Das Fremde in der Literatur: Zur Grundlegung einer responsiven Literaturdidaktik 9783839434222

The foreign considered as an underlying instance of the literary: what are the resulting conditions of a »responsiveness

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Das Fremde in der Literatur: Zur Grundlegung einer responsiven Literaturdidaktik
 9783839434222

Table of contents :
Zwischen Cover und Text
Inhalt
Vorwort
1. Vorgeschichte
2. Responsive Literaturdidaktik
3. Das Fremde als Eigenes
4. Das Fremde als Unheimliches
5. Das Fremde als das, was den Tod berührt
6. Elf Schlussthesen zu einer Responsiven Literaturdidaktik
Literaturverzeichnis
Danksagung

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Nicola Mitterer Das Fremde in der Literatur

Lettre

Nicola Mitterer (Dr. phil. habil.), geb. 1980, lehrt und forscht als Assoziierte Professorin am Institut für Deutschdidaktik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen das frühe literarische Lernen, Phänomene des Fremden in der zeitgenössischen Literatur (darunter v.a. das Unheimliche und der Tod), Bild/Sprachlichkeit im Bilderbuch sowie hermeneutische Prozesse im Unterrichtsgespräch über Literatur.

Nicola Mitterer

Das Fremde in der Literatur Zur Grundlegung einer responsiven Literaturdidaktik

Veröffentlicht mit Unterstützung des Forschungsrates der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt aus den Förderungsmitteln der Privatstiftung Kärntner Sparkasse.

Mit freundlicher Unterstützung der Raiffeisenbank Leogang.

Mit freundlicher Unterstützung des Instituts für Deutschdidaktik der AlpenAdria-Universität Klagenfurt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Stefan Gimpl, Leogang, 2015 Copyright: Nicola Mitterer Satz: Francisco Braganca, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3422-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3422-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Zwischen Cover und Text

An dieser Stelle möchte ich in ein paar Worten die Geschichte des Titelbildes erzählen. Ein Bild zu finden, das die Responsive Literaturdidaktik repräsentiert, war nicht einfach. Nachdem ich bereits über viele Motive nachgedacht und alle Ideen wieder verworfen hatte, habe ich mit meiner Tochter eine Wanderung durch einen Wald unternommen, der in der Nähe meines Elternhauses liegt. Bald fanden wir erste Skulpturen, die sich in den Wald einfügten, aber doch klar als Kunstwerke erkennbar waren. Schließlich stolperten wir beinahe über eine eigenartige »Stufe«, wie sie zwar oft auch auf naturbelassenen Wanderwegen vorkommt, aber eben nicht ganz in dieser Höhe. Ich drehte mich um und sah ein Waldwesen, das sich vollkommen in die es umgebende Natur einfügte und doch als ein fremdes Wesen erschien. Die Form dieses Wesens fügte sich in die Rundung des Waldweges, in die graugrünen Farben des regnerischen Herbsttages und die Materialität des Waldes mit seinen teils glatten, teils gekerbten und dann auch wieder ganz rauen Oberflächen ein. Es war, als hätte der Wald selbst dieses Wesen hervorgebracht, und doch behauptete es sich als ein eigenständiges Anderes. Der Wald ohne das Wesen, das Wesen ohne den Wald – beides wäre ohne einander nicht zu denken. Nach der langen Zeit der Suche hat mich diese Skulptur an den Prozess des responsiven Lesens und Interpretierens erinnert. Der Text als ein Fremdes »ereignet« sich in der Leserin und bringt seine Bedeutung hervor – die er doch nirgendwo anders als in der einzigartigen, unvorhersehbaren und unendlichen Begegnung mit ebendieser Leserin, ebendiesem Leser entfalten kann. In diesem Hervorgehen aus dem jeweils Anderen, in dem doch beide Teile ihre Eigenständigkeit und Authentizität behaupten, scheint mir eine tiefe Verbundenheit zwischen der responsiven Lektüre und dem Wald/Wesen zu bestehen. Die Perspektive auf diese Skulptur und ihre Verbundenheit mit dem Wald hat der ehemalige Profi-Snowboarder und Fotograf Stefan Gimpl gefunden.

Inhalt

Vorwort  | 13 1. Vorgeschichte. Die Suche nach einem Ausgangspunkt oder Wir befinden uns hier  | 27 1.1 1.2 1.3 1.4

Das Selbe Töten | 31 Die Möglichkeit eines Ausgangs | 36 Batemans Wunsch, »stabile Zeichen« zu produzieren | 39 Noch eine Standortbestimmung: Wo wir uns befinden | 42

2.

Responsive Literaturdidaktik. Zugänge und Voraussetzungen  | 45

2.1 Pathos und responsive Ethik bei Bernhard Waldenfels. Ansätze eines Responsiven Literaturunterrichts | 49 2.2 Wege zu einer Responsiven Didaktik für den Literaturunterricht | 54 2.2.1 Against Interpretation – Susan Sontag | 57 2.2.2 Klaus Maiwalds Konzept zur Aneignung literarischer Alterität und die Wahrnehmung des poetisch vermittelten Anderen bei Ulf Abraham | 60 2.2.3 Konzepte der Transversalität und Transkulturalität nach Wolfgang Welsch und Werner Wintersteiner | 66 2.2.4 Lothar Bredellas Ansatz einer rezeptionsästhetischen Literaturdidaktik | 71 2.2.5 Die skeptische Hermeneutik Hans Hunfelds | 76 2.2.6 Fazit | 81 2.3 Theoretische Grundannahmen eines Responsiven Literaturunterrichts. Eine Standortbestimmung | 82

3. Das Fremde als Eigenes. Überlegungen zur Rolle der Responsivität in postmodernen Identitätsverhandlungen  | 97 3.1 »These border and frontier conditions« – Grenzgänge zwischen Eigenem und Fremdem. Eine responsive Lektüre von J.M. Coetzees Waiting for the Barbarians | 100 3.1.1 Grundelemente der Identitätskonstruktion in Waiting for the Barbarians | 101 3.1.2 Das Barbarenmädchen | 104 3.1.3 Die geheime Schrift als Fetisch | 107 3.1.4 Graben und Erinnern | 111 3.1.5 Abschließende Überlegungen zur Fremdheit des Eigenen in Waiting for the Barbarians | 116

4.

Das Fremde als Unheimliches. Überlegungen zu einem responsiven Umgang mit dem Unwägbaren  | 119

4.1 Nachhaltige Maßnahme zur Ausschaltung des Unheimlichen: Freud revisited. Hélène Cixous und Freuds Studie über das Unheimliche | 123 4.2 Die Angst vor dem Nichts – Martin Heidegger | 137 4.3 Postmoderne Wege des/zum Unheimlichen | 139 4.4 »We are all haunted houses« – das Unheimliche als Bastion der Fremdheit des Ästhetischen. Eine responsive Lektüre von Jutta Heinrichs Unheimliche Reise  | 144 4.4.1 Die göttliche Schöpfung in Menschenhand – Mary Shelleys Frankenstein or The Modern Prometheus am Ende des 20. Jahrhunderts | 145 4.4.2 Jenseits des Humanismus | 150 4.4.3 Die Wurzel alles Unheimlichen | 160 4.5 Fazit | 166

5.

Das Fremde als das, was den Tod berührt. Überlegungen zu einem responsiven Umgang mit dem Unfasslichen  | 169

5.1 Arten, den Tod zu denken, im 20. und 21. Jahrhundert – von Sigmund Freud bis Hannah Arendt | 173 5.1.1 Sigmund Freud | 173 5.1.2 Maurice Blanchot | 179 5.1.3 Und wieder zurück – Jacques Derrida und Martin Heidegger | 190 5.1.4 Gespräche über den Tod – Vladimir Jankélévitch | 201 5.1.5 Eine Gegenstimme. Vita activa – Hannah Arendt und die abendländische Todesversessenheit | 206 5.2 »Das heulende Gesicht, das Unversöhnliche, das Nicht-als-ob der Dinge«. Der Tod als literarisches Prinzip. Eine responsive Lektüre von Judith Hermanns Alice | 213 5.2.1 »Wahrscheinlich ist es sehr schön« – die Ästhetik der Distanz in Alice als Grund und Abgrund der Erzählung | 217 5.2.2 Die Vergangenheit der Gegenwart – Alice als Reflexionsraum eines diesseitigen Lebens nach dem Tod | 228 5.2.3 Innen und Außen – Judith Hermanns Landschafts- und Raumbeschreibungen als Schwellentopographien zwischen Sein und Nichtsein | 239 5.2.4 Was bleibt, was bedeutet. Abschließende Versuche, das Sein vor dem Nichts zu retten | 250 5.3 Eine Art Fazit. Sterben lehren – Plädoyer für eine unmögliche Didaktik des literarischen Todes | 255 5.3.1 Literatur ist Sterben lernen? Über den Zusammenhang von Tod, Literatur und die Verantwortung des Literaturunterrichts | 258 5.3.2 Den Tod lesen lehren oder das tröstliche Paradoxon einer literarisch vermittelten Kontinuität des Endlichen | 263

6.

Elf Schlussthesen zu einer Responsiven Literaturdidaktik  |  271



Das Fremde (in) der Literatur | 271 Der responsive Habitus | 272 Der responsive Literaturunterricht | 275

Literaturverzeichnis  | 277

Primärliteratur | 277 Sekundärliteratur | 278

Es gibt keine Welt, in der wir je völlig zu Hause sind, und es gibt kein Subjekt, das je Herr im eigenen Haus wäre. Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden, 1997

Ich kann nichts unternehmen, wenn ich nicht von dem, was ich weiß, absehe. E. M. Cioran, Die verfehlte Schöpfung, 1969

Die Bücher und die Menschen sind alle verschieden. Nur ich nicht. Mia-Sophie, fast 3 Jahre, 2013

Vorwort

»Literatur soll gelehrt werden, weil sie nicht lehrbar ist« – so formuliert Michael Baum die fundamentale Paradoxie der Literaturdidaktik, die von dieser bisher weitestgehend übergangen und verdeckt worden sei (vgl. Baum 2010, 119). Baum konstatiert im Anschluss an die Untermauerung dieser These ein »erhebliches Theoriedefizit der Literaturdidaktik« (ebd. 120), das in den letzten Jahrzehnten verhindert habe, dass dieser Wissenschaftszweig sich in eine Richtung entwickelt hätte, die sowohl seinem Gegenstand, dem literarischen Text, als auch den Akteurinnen des Unterrichtsgeschehens gerecht werden hätte können. Die ausführlichen theoretischen Überlegungen dieses Bandes sind folglich nicht als Selbstzweck zu betrachten, sondern als eine Notwendigkeit, die jeder ernsthaften literaturdidaktischen Überlegung vorangehen muss. Einerseits deshalb, weil eben die gemeinsame theoretische Basis dieser Wissenschaft noch nicht existiert, andererseits deshalb, weil eine »für alle Fälle gültige« Theorie auch niemals existieren wird. Die Ansprüche des jeweiligen Textes fordern theoretische Vorüberlegungen ein und setzen diese voraus, wenn ein didaktischer Umgang daraus erwachsen soll, der als seiner literarischen Grundlage angemessen betrachtet werden kann. Dies ist auch unabdingbarer Teil eines responsiven, also antwortenden Umgangs mit dem Text, für den ich in diesem Buch plädieren möchte. Die vielfältigen Konnotationen des Begriffs einer literaturdidaktisch gefassten Responsivität wird sich im Laufe meiner Ausführungen entfalten, jedoch ist er seinem Wesen nach der Frage nicht entgegengesetzt noch trägt er gar zu deren Auslöschung bei. Responsivität in diesem Sinne trägt vielmehr die Paradoxie eines Antwortens in sich, das die Fragen, die der Text aufwirft, wahrnimmt und auf diese nicht nur reagiert, sondern sich vor allem von diesen ergreifen und den hermeneutischen Prozess von diesen vorantreiben lässt. Ein »Verstehen« der in diesem Buch näher betrachteten literarischen Texte im engeren Sinne soll damit nicht behauptet werden, ihre Rezeption verändert vielmehr die jeweilige Perspektive und wissenschaftliche Ausgangslage. Ein solches Vorgehen braucht Zeit, nur so können die teils verschlungenen Wege der Entwicklung grundlegender Gedanken in ihrem Entstehen nachvollzogen und deren notwendige Beschrän-

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Das Fremde in der Literatur

kungen reflektiert werden. Damit ist auch ein bestimmtes Verhältnis zwischen Theorie und Praxis verbunden, das allen in dieser Arbeit angestellten didaktischen Überlegungen zu Grunde liegt. Kern einer so verstandenen Responsiven Literaturdidaktik ist die Vermittlung einer ästhetischen Wahrnehmungsfähigkeit, die das Fremde des Textes nicht absorbiert. Dieses ist essenzieller Bestandteil nicht nur jener Texte, die Fremdheit inhaltlich thematisieren, sondern Teil des literarischen Textes und Teil jeglichen poetischen Verstehens an sich. Im Text begegnet uns die Welt als das, was sie nicht ist, aber zu sein vermöchte. Sie ist die Möglichkeitsform schlechthin und damit das, worüber Robert Musil in seinem Mann ohne Eigenschaften eigentlich spricht, wenn er das Sein im »Conjunctivus Potentialis« (vgl. Musil 2004, 19) zum Ideal erhebt, das sich nicht ins reale Leben übertragen lässt. Die Sprache »tötet«, was ist, indem sie es auf den Begriff bringt, aber die literarische Sprache sucht das Lebendige, das tief im Wort ruht, und spricht somit in einer fremden Sprache zu uns. Die Bedeutungsspur allerdings, der die Literatur bis auf den Grund, wo das Bezeichnete liegt, zu folgen versucht, ist unendlich und kann nicht ans Ziel gelangen. Schreiben und Lesen sind insofern als korrelierende Prozesse zu betrachten, als sie beide uns von der Welt, unseren Wahrheiten und Maximen, entfernen. Diesen Zuwachs an Fremdheit muss man annehmen können, als Schreiberin wie als Leser, auch wenn er eine Zumutung ist. Die Welt, die der Text uns »stattdessen« eröffnet, bietet keine Sicherheiten. Sie ist der Abgrund, den die alltägliche Sprache verdeckt, und doch liegt nur in diesem Abgrund das, was wir noch denken, tun, beginnen könnten, wenn wir von den Begrenzungen dessen, was wir Realität nennen, einmal absehen. Das utopische Potenzial der Literatur, das allerdings immer in seiner Negativität (also als Abwesenheit von) und Destruktivität (im Sinne einer Bedrohung des Bestehenden) anerkannt werden muss, kann nirgendwo ersatzweise gefunden oder entwickelt werden. Deshalb sollte die Fähigkeit zum Umgang mit Literatur in Anerkennung ihrer radikalen Fremdheit ein Menschenrecht sein; ein Bestandteil jeglicher Bildung, wie »basal« auch immer sie sein mag. Literatur ist kein elitäres Bildungsgut, sondern die Möglichkeit einer alternativen – wenn auch nicht notwendigerweise besseren – Welt. Das vorliegende Buch ist vor allem dem Nachdenken über die Bedingungen und Möglichkeiten einer dementsprechenden Literaturdidaktik gewidmet. Ein solches Ansinnen kommt ohne die Frage nach den Grundlagen und Bedingungen sowie nach der Lehr- und Lernbarkeit poetischen Verstehens nicht aus. Mit dem Begriff des poetischen Verstehens hat Ulf Abraham in seinem gleichnamigen Sammelband im Jahr 2010 eine längst fällige Infragestellung gängiger, meist impliziter Definitionen des Verstehensbegriffs grundgelegt und eingefordert. Die Vorstellung von der »Erschließung« eines Textes betrachtet er dabei als eine »Kolonialmetapher«, die einen Habitus zum Ausdruck bringt, der den Text als eine eventuell erbauliche Kuriosität und eine Quelle historischen und

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kulturellen Wissens nutzt, diesen aber in seiner Eigenheit und Fremdartigkeit nicht wirksam werden lässt (vgl. Abraham 2010a, 15). Einem solchen Modell der »Texterschließung« setzt Abraham die Notwendigkeit eines Lektüreerlebnisses entgegen, das sich vom Fremden (des Textes) in einer Weise ergreifen lässt, die die Kontinuität des Eigenen gefährdet: »Niemand garantiert mir, dass ich nach der Lektüre noch derselbe bin wie vor der Lektüre. Poetisches Verstehen hat die Kraft, den Verstehenden zu verändern, sein Denken, sein Fühlen, seine Vorstellungsbilder.« (Ebd. 16) Nur in einem Unterricht, der zu einer solchen Wahrnehmung von Literatur befähige, sei der Text als eine »Parallelaktion« zur Wirklichkeit erlebbar, wie Werner Wintersteiner es formuliert, und allein unter diesen Bedingungen könne der literarische Text auch eine Instanz »des Geheimnisvollen und Magischen in einer Welt der Vernunft« (Wintersteiner 2010a, 25) bleiben. Da ich meinen eigenen Ansprüchen an eine Wissenschaft, die um ihre eigene Bedingtheit weiß, gerecht werden möchte, ist dieser Arbeit die Geschichte ihres Enstehungsprozesses eingeschrieben. So ist ein Kapitel entstanden, das sich zwischen Vorwort und Kapitel 2 einreiht und dort an Hand der Auseinandersetzung mit einem literarischen Text die Genese der Grundidee, die ich in diesem Buch entwickle, erzählt. Die grundsätzliche Fragestellung, der dieses Buch nachgeht, ist aber nicht nur die nach den Möglichkeiten und ethischen Notwendigkeiten poetischen Verstehens, sondern auch die nach den Repräsentationen des Fremden in der zeitgenössischen Literatur. Diese Auseinandersetzung mit dem Gegebensein des Fremden im literarischen Text dient als Ausgangspunkt einer Theorie der Literaturvermittlung, die die Unberechenbarkeit und »Andersheit« des Kunstwerks in ein kreatives Verhältnis zum Eigenen setzt, anstatt Unbekanntes oder Irritierendes zu tilgen und in steinernes »Gewusstes« zu transformieren. »Das Fremde«, definiert als eine inhaltliche Kategorie der Auseinandersetzung mit interkultureller Fremdheit oder als strukturelle Kategorie eines vermeintlich besonderen Gesetzen unterworfenen »migrantischen Schreibens« soll dabei bewusst nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Die Rede vom »Fremden« als einer hauptsächlich kulturell definierten Kategorie hat in der Literaturdidaktik, aber auch im literaturwissenschaftlichen Diskurs bisher viel dazu beigetragen, ein Nachdenken über die inhärente Fremdheit der Literatur und deren Bedeutung für das Nicht-Verstehen und die Vermittlung zu verhindern. Der im deutschsprachigen Raum wohl bekannteste Theoretiker des Fremden, Bernhard Waldenfels, hat hingegen mit den »Steigerungsgraden des Fremden« einen theoretischen Rahmen gesetzt, innerhalb dessen sich das Fremde als eine diverse und dem menschlichen Bewusstsein zutiefst eingeschriebene Kategorie verstehen lässt. Das kulturell Fremde ist hier nur eine Spielart des Fremden; dieser übergeordnet ist etwa der Tod als ein »radikal Fremdes«, dem

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man nicht »begegnen«, das man als Mensch aber auch nicht verleugnen kann. Das grundlegende Konzept, das Bernhard Waldenfels hier innerhalb seiner »Phänomenologie des Fremden« entwickelt hat, wurde in der Auslandsgermanistik bereits rezipiert und auch auf literarische Texte angewendet. Es hat auch an der ein oder anderen Stelle bereits im deutschdidaktischen Diskurs Erwähnung gefunden,1 ist aber insgesamt weitgehend wirkungslos geblieben. Dabei sind die Steigerungsgrade des Fremden gerade für eine vom »VerstehenWollen« beseelte Literaturdidaktik, wie man sie sowohl auf der theoretischen Metaebene als auch in der Praxis häufig findet, höchst relevant, da dieses Modell nicht nur drei Modi des Fremden unterscheidet, sondern auch eine wesentliche Grundlage für die daraus hervorgehenden unterschiedlichen Bedingungen des Verstehens schafft. Knapp zusammengefasst lassen sich die »Steigerungsgrade des Fremden« nach Waldenfels wie folgt definieren: 1. Das alltägliche Fremde: Dieses stellt eine wenig bedrohliche und leicht zu überwindende Form der Fremdheit dar. Darunter ließe sich etwa die relative Fremdheit eines Beamten vorstellen, mit dem man aus einem bestimmten Grund zu tun hat, den man aber in seiner Individualität nicht »kennt«. Diese Form der Fremdheit setzt dem »Verständnis« der Situation keine nennenswerte Hürde entgegen. Die Funktion, die der Beamte hier ausübt, ist uns und ihm geläufig; die üblichen, pragmatisch definierten Routinehandlungen können ausgeführt werden, ohne dass ein tieferes Ver1 | Andrea Leskovec bezieht sich in ihrer 2009 erschienenen Dissertationsschrift Fremdheit und Literatur. Alternativer hermeneutischer Ansatz für eine interkulturell ausgerichtete Literaturwissenschaft (vgl. Leskovec 2009, 35ff.) auf dieses Modell der Waldenfels’schen Steigerungsgrade des Fremden und verwendet es als Grundlage ihrer eigenen Textanalyse. Petra Büker und Clemens Kammler erwähnen die Waldenfels’sche »Klassifizierung« des Fremden im Vorwort zu ihrem 2003 erschienenen Sammelband Das Fremde und das Andere: Interpretationen und didaktische Analysen zeitgenössischer Kinder- und Jugendbücher (vgl. Büker, Kammler 2003). In ihren Überlegungen zu »Lektüre und Alteritätserfahrungen« bezieht sich außerdem auch Cornelia Rosebrock gelegentlich auf die von Waldenfels entwickelten Steigerungsgrade des Fremden (vgl. Rosebrock 2001, 85ff.). Ohne direkte Bezugnahme auf Bernhard Waldenfels entwickelt auch der Erziehungswissenschaftler und Politologe Ortfried Schäffter ein Modell verschiedener »Erfahrungsmodi des Fremderlebens« (Schäffter 1991, 14). Hier finden sich – in leicht abgewandelter beziehungsweise ausdifferenzierter Form – die Waldenfels’schen Graduierungen des Fremden wieder und es gibt auch bei Schäffter die Kategorie eines »radikal Fremden«, das er als » das letztlich Unerkennbare« (ebd.) bezeichnet. Schäffter leitet aus dieser Kategorisierung – nunmehr in direkter Bezugnahme auf Bernhard Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden – vier Ordnungsschemata ab, denen ein je eigenes Deutungsmuster von Fremdheit (Das Fremde als tragender Grund und Resonanzboden von Eigenheit, Das Fremde als Negation von Eigenheit etc.) zu Grunde liegt (vgl. ebd. 15).

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ständnis des jeweils anderen notwendig ist. Auch die Fremdheit einer Stadt, die man mittels Landkarte dennoch recht einfach erkunden und »kennen lernen« kann, fällt bei Waldenfels unter den Begriff der alltäglichen Fremdheit. 2. Die strukturelle Fremdheit: Sie dringt bereits in wesentlich tiefere Schichten des Fremderlebens vor. Unter diesen Begriff fallen etwa die unbekannte Sprache, die andere Religion, das fremde Ritual. Diese Form der Fremdheit ist bereits schwerer zu überwinden, aber auch sie kann bis zu einem gewissen Grad durch die Aneignung von Metawissen und durch die unmittelbare Erfahrung zumindest reduziert – wenn auch selten ganz aufgehoben – werden. Waldenfels definiert 3. die ganz wesentliche Dimension der radikalen Fremdheit: Sie ist absolut zu denken, kann unter keinen Umständen überwunden werden und betrifft Phänomene, die außerhalb unseres rationalen Fassungsvermögens liegen; universelle Grenzphänomene also, wie sie beispielsweise Schlaf, Rausch oder Tod darstellen. Auch Umbruchsphänomene, wie etwa Revolutionen, werden von Waldenfels unter diesem Begriff subsumiert, wobei er in diesem Fall als radikal fremd nur jene Phase des Übergangs beschreibt, in der die alte Ordnung zwar zerstört, die neue aber noch nicht etabliert ist (vgl. Waldenfels 1997, 35f. sowie Waldenfels 2006, 30). Die Radikalität des Fremden besagt dabei nicht, »daß Fremdes ganz anders ist als das Eigene oder Vertraute, es besagt aber sehr wohl, daß es weder aus Eigenem hergeleitet noch ins Allgemeine aufgehoben werden kann« (Waldenfels 2006, 57). Wenn man das Vorhandensein eines radikal Fremden als grundlegende menschliche Disposition annimmt (im Nachdenken über meinen eigenen Tod etwa bin ich mit der radikalen Fremdheit meiner selbst konfrontiert), so hat das nicht nur Konsequenzen für die Möglichkeiten des Verstehens, sondern auch ethische Konsequenzen. Jenes unergründliche »Rätsel«, das der Andere für mich darstellt (vgl. Lévinas 1983, 242ff.),2 bin ich mir dann auch selbst. Ein absolutes Verstehen wäre somit weder in Bezug auf die eigene Existenz noch auf die eines Anderen möglich. Schlicht undenkbar ist unter dieser Prämisse auch ein umfassendes Verständ2 | Ganz zu Beginn des Kapitels »Der Untergang der Vorstellung« findet sich das vielleicht bekannteste und sicherlich eines der aussagekräftigsten Zitate Emmanuel Lévinas’: »Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten werden.« (Lévinas 1983, 120) Die Annahme einer »radikalen« Fremdheit des realen Anderen wie auch des literarischen Textes, auf der die folgenden Ausführungen basieren, ist aus der Rezeption einer Auseinandersetzung mit dem Anderen/Fremden, wie sie Lévinas und vor allem Waldenfels vertritt, hervorgegangen. Wie tief die Angst vor der Unergründlichkeit des Anderen in unserem kollektiven kulturellen Gedächtnis verwurzelt ist, lässt sich erahnen, wenn Lévinas schreibt: »Die abendländische Philosophie fällt mit der Enthüllung des Anderen zusammen; dabei verliert das Andere, das sich als Sein manifestiert, seine Andersheit. Von ihrem Beginn an ist die Philosophie vom Entsetzen vor dem Anderen, das anders bleibt, ergriffen, von einer unüberwindbaren Allergie.« (Ebd. 211)

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Das Fremde in der Literatur

nis des schriftlichen Ausdrucks, den ein mir per se unergründlicher Anderer niedergeschrieben hat und der sich dann auch noch in den Strukturen seines einzigartigen Zeichen- und Bildergeflechts von seiner »Erzeugerin« entfremdet und mir in diesem Sinne als ein eigenständiger Anderer gegenübertritt. Die Folgen dieser Voraussetzungen für das literarische Verstehen werden in dieser Arbeit einen zentralen Bezugspunkt für alle Überlegungen bilden. Besonders möchte ich auf zwei Formen des Fremden eingehen, nämlich das Unheimliche und den Tod. Sie sind in der zeitgenössischen Literatur häufig ein expliziter Bezugspunkt der literarischen Erzählung, die ja schon an sich vom Unheimlichen, das auf den Tod verweist, strukturiert ist. Besonders deutlich ist dieser Zusammenhang von Maurice Blanchot herausgearbeitet worden, auf dessen Literaturtheorien ich immer wieder zurückgreifen werde. In diese Teile der Arbeit, die also das Unheimliche und den Tod und deren Bedeutung für den Umgang mit literarischen Texten betreffen, sind auch Analysen literarischer Texte eingeflochten. Diese sind keine literaturwissenschaftlichen Analysen im klassischen Sinne, sondern aus einer responsiven Lektüre der Texte hervorgegangen, die allerdings im Rahmen dieses Buches zusammenfassend und daher nicht konsequent dargestellt wird. Die Darstellung einer responsiven Lektüre im engeren Sinne würde wesentlich mehr Raum einfordern, als im Rahmen dieses Buches gegeben ist. Hier habe ich darauf zu Gunsten einer theoretischen Darstellung der Responsivität verzichtet. Responsiv zu lesen bedeutet, den eingenommenen Standpunkt im Moment des Erreichens wieder zu verlassen und eine neue, vom Text zugelassene, vorgeschlagene, aufgedrängte Perspektive einzunehmen. Es bedeutet auch, dem Text den Primat über den Verstehensprozess einzuräumen und sich »führen« zu lassen, soweit das im Rahmen eines immer bereits vorhandenen Verstehensrahmens eben möglich ist. Ein Ziel kann dabei per se nicht erreicht werden. Eine responsive Lektüre geht vom Wesen der Literatur aus, das Blanchot so charakterisiert sieht, »daß in dieser Sprache die Beziehung zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat oder auch zwischen dem, was man Form nennt, und dem, was man zu Unrecht Inhalt nennt, unendlich wird. […] Form und Inhalt verhalten sich so zueinander, daß jedes Verstehen, jeder Versuch […] sie verändert und zwangsläufig scheitern muss.« (Blanchot 1991, 167) Die Textanalysen können diesen umfangreichen Prozess nur unzureichend darstellen, sie können aber vielleicht eine Vorstellung von diesem Prozess vermitteln, der vielen Leserinnen ja in der privaten Lektüre ohnehin eine geläufige Form des Umgangs mit Literatur ist. Weiters soll die jeweils einzigartige Darstellung des Fremden in den ausgewählten literarischen Texten die theoretischen Teile in ihrem Absolutheitsanspruch relativieren und sich, wenn es der Text zulässt, mit diesen verbinden. So soll den Rezipienten dieser Arbeit eine Sicht auf die jeweilige Thematik ermöglicht werden, in der wissenschaftliche und ästhetische Komponenten

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ineinanderfließen und am Ende des Kapitels noch einmal einen Perspektivenwechsel ermöglichen. Die Auswahl der Texte lässt sich als willkürlich bezeichnen. Es gäbe zahlreiche andere Texte, die sich ebenso gut für eine Analyse in den jeweiligen Kapiteln geeignet hätten. Die Reduktion auf die zeitgenössische Literatur war der Notwendigkeit geschuldet, den Rahmen der Habilitationsschrift, aus der dieses Buch hervorgegangen ist, einzugrenzen. Die Reduktion auf Texte der Gegenwartsliteratur war der Tatsache geschuldet, dass diese zumindest im deutschsprachigen Raum literaturdidaktisch vergleichsweise weniger Beachtung erfahren haben als bereits kanonisierte Texte. Dies bringt auch den Vorteil mit sich, dass die sekundären Diskurse der Literaturwissenschaften auf den im vorliegenden Buch betrachteten Texten nicht so schwer lasten. Selbstverständlich sind aber auch diese Texte in einem bestimmten gesellschaftlichen Umfeld, zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt und unter bestimmten theoretischen Einflüssen entstanden. Da diese Texte aber zumindest im deutschsprachigen Raum nicht sehr bekannt sind, können sie leichter in ihrer Diversität und inneren Widersprüchlichkeit in Bezug auf die fokussierten Phänomene (Das Fremde als Unheimliches; Das Fremde als das, was den Tod berührt) wirksam werden und sind einstweilen befreit von der Zuordnung zu literaturgeschichtlichen Kategorien. Grundsätzlich eignen sich allerdings Texte aus anderen Epochen ebenso gut für eine responsive Lektüre. Das einzige tatsächlich wesentliche, mir aber erst im Laufe der Niederschrift sich enthüllende »Prinzip«, das der Auswahl der Texte zu Grunde lag, war eine ausgeprägte, in der postmodernen Literatur besonders häufig vorkommende Selbstreferenzialität der Texte. Sie thematisieren alle in besonderem Maße auch das Schreiben und das Literarische an sich und damit ihr Angrenzen an das Unheimliche und den Tod. Des Weiteren habe ich Texte gewählt, die ich auch in der Originalsprache lesen konnte, da ich die unheimlichen Verfremdungen, die jede Übersetzung mit sich bringt, in diesem Kontext weder ignorieren noch angemessen berücksichtigen hätte können. Das Thema dieses Buches ist mit dem Ansinnen, die Idee einer Responsiven Literaturdidaktik zu entwickeln, ein dezidiert literaturdidaktisches. Dabei möchte ich jedoch nicht nur die schulische Literaturvermittlung als Bezugspunkt meiner Überlegungen setzen, sondern auch andere Formen institutioneller Vermittlung, wie etwa die universitäre, mitbedenken. Da ich mich theoretisch dennoch hauptsächlich auf den schulbezogenen literaturdidaktischen Diskurs beziehe, möchte ich dazu auch eine kurze entsprechende Stellungnahme voranstellen: Die deutschsprachige Literaturdidaktik befindet sich seit ihrer Herausbildung als wissenschaftliche Disziplin in einem Prozess permanenter Transformation. Die Notwendigkeit des Wandels ihrer Grundlagen eignet den meisten

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geisteswissenschaftlichen Disziplinen,3 auch wenn die Heftigkeit dieser Veränderungen stark von den jeweiligen Fächern und deren Selbstverständnis abhängt. Die Erschütterung, die etwa die Etablierung konstruktivistischer, später dann dekonstruktivistischer Ansätze in sämtlichen geisteswissenschaftlichen Fächern ausgelöst hat, war in Teildisziplinen wie den Altphilologien weniger stark spürbar als in den Literaturwissenschaften oder der Pädagogik. Einer inneren Logik gemäß hätten derartige Einschnitte die Literaturdidaktik besonders drastisch verändern müssen, da sie als Wissenschaft sowohl von seiten der fachwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen (allen voran der Literatur- und Kulturwissenschaften) als auch (wie eben die Pädagogik) durch ihre enge Anbindung an das kulturelle und soziale Handlungsfeld Schule unmittelbar von den mit diesen Theorien verbundenen Infragestellungen betroffen war. Zumindest eine intensive theoretische Debatte über die Grundlagen des Fachs, etwa die gängigen hermeneutischen Praxen oder die Kanonfrage, wären erwartbar gewesen. Zu einer tiefgreifenden Infragestellung des eigenen Tuns und einer daran anschließenden Neuorientierung ist es jedoch nur in Ausnahmefällen gekommen.4 Seit Jürgen Kreft in den 1970er Jahren einen nur selten tiefgehend analysierten (gerade in letzter Zeit aber wieder häufig erwähnten) und unter anderem auch deshalb recht kryptisch gebliebenen Anlauf unternommen hat, die Literaturdidaktik theoretisch zu verorten und daran anknüpfende Maximen ihrer wesentlichsten Handlungsfelder zu entwickeln, hat es keinen solchen großen Positionierungsversuch mehr gegeben.5 Insgesamt be3 | Von einer Krise der gesamten Geisteswissenschaften ist ja spätestens seit Mitte der 1990er Jahre die Rede, wobei für diese weitgehend andere Gründe verantwortlich gemacht werden, als das in der Literaturdidaktik der Fall ist. Siehe dazu die Publikation von Jürgen Mittelstraß (1996) und die daran anschließenden Debatten, vor allem die kritische Auseinandersetzung von Aleida Assmann mit der von Mittelstraß geforderten normativen Richtungsänderung innerhalb der Geisteswissenschaften, der sie vehement widerspricht (vgl. Assmann 2004). Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich viele der hier genannten Argumente auch gegen eine quantitativ-empirische Ausrichtung der Literaturdidaktik ins Treffen führen ließen. 4 | Siehe dazu beispielsweise Ivo 1994, Abraham 1998 und 2012, Härle 2004, Baum und Bönnighausen 2010, Wintersteiner 2006a und 2006b. 5 | Zur Geschichte des Verstehensproblems in der Literaturdidaktik vgl. Baum 2010. Einige grundlegende Überlegungen zum Problem der Interpretationskompetenz und ihrer Überprüfung, beziehungsweise ihrer Überprüfbarkeit, stellte in jüngster Zeit auch Clemens Kammler an und nimmt dabei Bezug auf Jürgen Krefts Grundprobleme der Literaturdidaktik. Die Conclusio seines Aufsatzes besteht in der Forderung nach einer empirischen Literaturdidaktik, die überprüft, ob die Interpretation literarischer Texte im Rahmen der Kompetenzorientierung tatsächlich ein »schematisches Abarbeiten unspezifischer Einzelaspekte« (Kammler 2012, 247) befördere. Die Frage, ob eine Litera-

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trachtet hat die (deutschsprachige) Literaturdidaktik im Laufe ihrer bisherigen, vergleichsweise kurzen Wissenschaftsgeschichte nur selten den Versuch unternommen, einen Theorierahmen zu entwickeln. So intensiv sie an der Entwicklung verschiedener Unterrichtsmodelle und theoriebasierter Konzepte gearbeitet hat, so rar sind die Versuche geblieben, diesen Unternehmungen ganz grundsätzliche Überlegungen voranzustellen. Den empirischen Untersuchungen, die heute den größten Teil der literaturdidaktischen Forschung ausmachen, merkt man dieses Defizit häufig an, das im Rahmen eines konkreten empirischen »Tuns« nun am wenigsten behoben werden kann. Gerade deshalb habe ich die Ausarbeitung einer Responsiven Literaturdidaktik diesem Zwang des »konkreten Bezugs zur Praxis« enthoben und betrachte dieses Vorhaben als einen Beitrag zu einer in der Literaturdidaktik bisher stark vernachlässigten, aber derzeit besonders notwendigen theoretischen Debatte. Denn wenn der Literaturunterricht nicht in der Lage ist, sich grundsätzlich, also als eine theoretisch fundierte und von anderen Wissenschaften erheblich differenzierte Wissenschaft zu etablieren, dann wird die Legitimation des Literaturunterrichts auf lange Sicht nicht mehr möglich sein: Messen, werten und an der Optimierung sogenannter Kompetenzen arbeiten können andere Disziplinen besser, daran besteht kein Zweifel. Wenn der Literaturunterricht seine Existenz rechtfertigen muss, indem er zum Beispiel den Nachweis erbringt, dass »literarische Texte der Entwicklung der Empathie« zuträglich sind (vgl. Hammond 2014, Olsen 2011), dann ist er über kurz oder lang verloren. Die Legitimation des Literaturunterrichts kann nur im besonderen Bezug und der einzigartigen, also unersetzlichen Auseinandersetzung mit den existenziellen Kategorien unseres Lebens gefunden werden. Eben dazu möchte die Responsive Literaturdidaktik einen Beitrag leisten. Die Beziehung zwischen Literaturdidaktik und Theorie ist dabei krisenhaft. Michael Baum, der insbesondere die Einflussnahme dekonstruktivistischer Theoreme auf die Literaturdidaktik untersucht hat, kommt zu dem Schluss, dass die behauptete »Auseinandersetzung« mit theoretischen Konzepten, die die Literaturdidaktik beeinflussen, verändern und bereichern turdidaktik, die sich von der Diskussion ihrer eigenen Begrifflichkeiten und Werte weitgehend verabschiedet hat, gut damit beraten ist, hauptsächlich empirisch zu forschen, drängt sich mir an dieser Stelle auf. Das derzeit »unumstößliche Gesetz«, wonach empirische (literatur-)didaktische Forschung vor allem, also häufig vor einer fundierten theoretischen Verortung, stattzufinden habe, scheint mir äußerst fragwürdig. Kammler hat jedoch Recht, wenn er moniert, dass unsere Einschätzungen dessen, was im Literaturunterricht seit der Kompetenzwende tatsächlich passiert, hauptsächlich auf »Einzelbeobachtungen und fragwürdigen Verallgemeinerungen« (ebd. 248) beruhen. In diesem Sinne wäre eine empirische Forschung, die an fundierte theoretische Überlegungen anschließt, durchaus notwendig und sinnvoll.

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Das Fremde in der Literatur

könnten, meist in der Übernahme einzelner, den bestehenden Gewohnheiten nicht allzu sehr zuwider laufender und noch dazu nur oberflächlich rezipierter Versatzstücke endet. Ein derartig beliebiger Umgang mit theoretischen Grundlagen, die von anderen Disziplinen, hauptsächlich Teildisziplinen der Philosophie und der Kulturwissenschaften, »entlehnt« werden, ist letztlich als Aneignung zu verstehen, die dem »Anderen« – dessen Ansprüche und Einflussnahmen auf das Eigene im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehen sollen – keinen Platz einräumt und diese Tilgung noch dazu verschleiert. So ist die Diagnose von Baum nicht nur hinsichtlich der literaturdidaktischen Rezeption des Dekonstruktivismus zutreffend, sondern lässt sich als ein Paradigma des Umgangs mit Theorien, die sich nicht innerhalb der eigenen Disziplin entwickelt haben, betrachten: »Diese Einpassung poststrukturalistischer Theoreme in vertraute Konzepte ist eine Eigenart der literaturdidaktischen Aneignung der Dekonstruktion. Sie beruht zumeist auf der nur sehr zögerlichen, kaum ernsthaften Auseinandersetzung mit den Texten Foucaults, Derridas, Millers, de Mans und anderer. Zitate aus entsprechenden Texten und längere Auseinandersetzungen mit denselben sucht man im Diskurs der Literaturdidaktik vergeblich.« (Baum 2010a, 114) Als hauptsächliche Ursache für diese Eingemeindung einer Theorie, die ja im Falle des Dekonstruktivismus auch noch die Theorie des Inkommensurablen par excellence ist, macht Baum das Spannungsfeld Theorie-Praxis aus, in dem sich die Literaturdidaktik bewegt. Während sie an den wissenschaftlichen Diskursen ihrer Bezugsdisziplinen teilhaben will und muss, möchte sie die »leitenden Axiome (Lehrbarkeit, normative Bildungsziele, gesellschaftliche Verantwortung)« (ebd. 116) nicht aufgeben, wobei die daraus resultierenden Widersprüche bisher kaum reflektiert wurden. Was Baum hier als die »Verdrängung der Paradoxien« des Fachs bezeichnet, hat sich in dessen Strukturen längst niedergeschlagen. In literaturdidaktischen Seminaren, Zeitschriften und sogar auf wissenschaftlichen Tagungen werden »Theorie« und »Praxis« fein säuberlich voneinander getrennt, wobei damit die Tatsache verschleiert wird, dass letztere ja längst nicht die der Schule ist. Was hier als »Praxis« bezeichnet wird, ist die Pseudo-Praxis einer Disziplin, die entgegen aller empirischen Erfahrungen immer wieder vergisst, die mehrdimensionale und in vieler Hinsicht irreduzible Fremdheit ihres Bezugspunktes – das heißt also »des Unterrichts« mit all den Individuen, die diesen konstituieren – in ihre Überlegungen als grundlegende, wenn auch höchst inkonstante Konstante miteinzubeziehen. Die relative »Fremdheit« der Lehrenden und Lernenden wird häufig nicht oder nicht in ausreichendem Maß als konstitutiver Bestandteil der literaturdidaktischen Selbstdefinition gedacht. Diese ist jedoch als eine anwendungsbezogene wissenschaftliche Disziplin von zweierlei Arten der Fremdheit bestimmt, nämlich einerseits jener der Literatur gegenüber dem institutionellen Rahmen und andererseits jener des lebendigen Gegenübers, die allen ihren Überlegungen eingeschrieben ist,

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ganz unabhängig davon, ob sie nun reflektiert wird oder nicht. Ein wesentliches Desiderat nicht nur literaturdidaktischer Forschung wäre es somit auch, ein tragfähiges Konzept von Fremdheit zu entwickeln, das nicht nur auf die sehr gut aufgearbeiteten kulturellen Aspekte beschränkt bleibt.6 Ein solches Konzept muss dem Anspruch gerecht werden, literaturdidaktische Fragestellungen und Antwortmöglichkeiten aus der Perspektive eines komplexen Zusammenspiels zwischen Eigenem und Fremdem zu betrachten. Dieses in der Literaturdidaktik auf mehrere Arten gegebene dialektische Verhältnis muss dabei in jedem Moment literaturdidaktischen Denkens und Handelns mitbedacht werden. Das lässt sich nicht nur, aber vor allem auf die doppelte Bezogenheit des Fachs – auf die Literatur als eine Instanz des Fremden einerseits und auf einen Ort intersubjektiven Austauschs über literarische Texte (vgl. Härle 2011, 39) andererseits – zurückführen. Das Ziel des vorliegenden Buches ist es somit, ein Modell literarischen Verstehens und unterrichtlichen Handelns zu entwickeln, das den Ansprüchen des Fremden zumindest seinem Bemühen nach Priorität einräumt und sich dabei der eigenen Gewaltsamkeit bewusst ist, die in der Begegnung zwischen Eigenem und Fremdem notwendigerweise am Werk ist – notwendigerweise auch für das Fremde, weil dieses sonst ebenfalls einsam bleiben würde und der Text ungelesen (vgl. Lévinas 1983, 241). Gemeint ist dennoch kein beliebiges Lesen, sondern eines, das fast jenem Anspruch gleichkommt, den die Produktion eines literarischen Textes an seinen Verfasser stellt, wenn er schreibt: »Ebenso wie der Dichter nur spricht, indem er hört […] ebenso ist derjenige, der hört, der ›Leser‹, derjenige, durch den das Werk erneut gesagt wird, nicht in einer ewigen Wiederholung noch einmal gesagt, sondern aufrechterhalten in seiner Entscheidung des neuen, anfänglichen Wortes.« (Blanchot 1991, 51) Literatur zu lehren bedeutet dann auch die 6 | Im Bereich der inter- beziehungsweise transkulturellen Literaturdidaktik ist die Fremdheit, oder besser gesagt deren kulturelle Komponente, schon seit längerer Zeit bewusst wahrgenommen worden. Dadurch haben sich in einigen Fällen auch eine Sensibilität für die Literatur als Trägerin und Vermittlerin des über den kulturellen Aspekt weit hinausreichenden Einflusses des Fremden sowie die Verschränkungen zwischen Eigenem und Fremdem im Unterrichtsgeschehen ergeben (vgl. das von Werner Wintersteiner vertretene Konzept einer »Transkulturellen Literaturdidaktik«). Aus anderen Diskursen, die sich aus dem Anspruch, eine »Interkulturelle Literaturdidaktik« etablieren zu wollen, herausgebildet haben, ist jedoch die Fremdheit der Literatur völlig verschwunden und hat einer Art landeskundlichen Aufarbeitung literarischer Texte Platz gemacht, die sich mit dem Pragmatismus der »Kulturvermittlung« durch Literatur im DaF-Unterricht vergleichen lässt. Eine solche Didaktik nimmt, bei aller guten Absicht, die damit verbunden ist, die Literatur in Geiselhaft, um kulturelle Unterschiede zu reflektieren, die in den meisten Fällen der Komplexität realer und literarischer Hybridisierungen ohnehin nicht gerecht werden können (vgl. dazu auch Rosebrock 2001, 80f.).

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Einführung in die Praxis eines Lesens, das diesen Prinzipien zumindest nicht fundamental widerspricht. Eine Literaturdidaktik, die sich den mannigfaltigen Verschränkungen zwischen Eigenem und Fremdem verpflichtet fühlt, muss also einige theoretische Aspekte in besonderem Maße berücksichtigen: • Grundlage einer Responsiven Literaturdidaktik ist der Verzicht auf Gewissheiten, die »Beurlaubung seiner selbst sowie jeglicher subjektiver Sicherheit und der Wahrheit der Welt« (w 52). Weil die Literatur selbst dieses Prinzip erfüllt, ist sie der Ort einer Sprache, die im alltäglichen Gebrauch notwendigerweise der »skrupellosen Benennung« und damit der »Mortifizierung des Lebendigen« im Sinne Maurice Blanchots dient.7 Eine solche Definition schließt auch die Achtung vor der Literatur als Sinn- und Bedeutungsreservoir ein, das Wahrhaftigkeit, nicht aber Wahrheit vermitteln kann. Der Sinnbildungsprozess ist im Rahmen eines solchen Literaturverständnisses nicht nur als nicht abschließbar zu denken; dieser steht als Einzigartiges und Inkommensurables, als ein Geschehen, das weder kontrolliert noch geordnet werden kann, in Frage. Literatur ist Fraglichkeit, und auf diese kommt es ebenso an wie auf das Geschehen des Antwortens, das aber nicht gleichzusetzen ist mit den Antworten selbst. Das bedeutet für die folgende theoretische Arbeit, dass sich die betrachteten Aspekte des Fremden (das Unheimliche, der Tod) nicht als etwas Absolutes den Texten gegenüberstellen lassen; vielmehr müssen deren einzigartige literarische Manifestationen den Prozess der Annäherung lenken. • Das erklärte Anliegen der nun folgenden Ausführungen ist die Erstellung eines literaturdidaktischen theoretischen Rahmens, der die Fremdheit der Literatur und jene, die innerhalb und zwischen den Individuen besteht, die die Textauslegung teils alleine, teils miteinander vollziehen, ins Zentrum seiner Überlegungen stellt. Eine der größten Schwierigkeiten eines solchen Vorhabens besteht darin, weder eine beliebige noch eine manipulativ gesteuerte Lektüre die Oberhand gewinnen zu lassen. Um Lösungsansätze jenseits dieser Extreme zu finden, sind einerseits die bereits skizzierten, nicht zu hintergehenden Ansprüche der Literatur selbst zu bedenken und präsent zu halten, andererseits ist die Unterscheidung zwischen Literaturdidaktik und einer literaturdidaktischen Praxis notwendig. Dieser müsste das notwendige Eingeständnis der Literaturdidaktik vorangehen, dass sie ohnehin immer nur eine theoretische Bezugnahme auf die innerhalb ihres Handlungsspielraums notwendigerweise abstrahierte Situation des 7 | Selbst der literarischen Sprache wohnt eine gewisse Brutalität inne: »Die Gewalt ist allgegenwärtig, auch im Erzählten selbst (und dort nicht allein auf der Ebene des Erzählten).« (Ette 2012, 511) Auch diesen Umstand gilt es im Rahmen eines responsiven Literaturunterrichts bewusstzumachen.

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Unterrichts leisten kann. Die Literaturdidaktik kann und soll dabei die Ansprüche des lebendigen Gegenübers mitzudenken versuchen, auch wenn sie diese selbstverständlich weder kontrollieren (im Sinne eines normativcurricularen Zugangs) noch erschöpfend darstellen oder »deuten« (im Sinne eines empirisch-deskriptiven Zugangs) kann. Die Unterrichtspraxis selbst hingegen ist eine einzigartige und weder vorhersagbare noch rekonstruierbare Situation, die auch durch eine noch so genaue Unterrichtslehrforschung niemals gänzlich erfasst werden kann. • Die Maximen einer Literaturdidaktik des Fremden – und damit, wie ich ausführe, von Literaturdidaktik schlechthin – müssen konsequent als Prinzipien ihrer eigenen Vorgehensweise sichtbar werden. Eine Literaturdidaktik, die den Anspruch erhebt, literarischen Texten und wissenschaftlichen Theorien die ihnen zustehende Aufmerksamkeit als etwas Fremdes einzuräumen, ohne deren genuine Bedeutsamkeit von bereits vorhandenen Rezeptions- und Denkgewohnheiten absorbieren zu lassen, muss sich Zeit für ihre eigene Grundlegung nehmen. Damit ist vor allem die Suche nach Bedeutungs-Spuren gemeint, die sich in den sprachlichen und formalen Strukturen literarischer Texte finden lassen. Die Literatur beansprucht als jenes Medium, das den Anspruch des (Nicht-)Verstehens an seine Rezipientinnen stellt, eine absolute Vorrangstellung. Die wesentlichsten Teile dieses Buches, also die Lektüren literarischer Texte, haben die Fragen, die in den theoretischen Teilen bearbeitet werden, erst aufgeworfen beziehungsweise hervorgebracht. Die Theoreme, die ich zu den gewählten Themen hinzufüge, scheinen mir also für die Fraglichkeiten, die sich aus der Lektüre ergeben haben, angemessen. Sie ermöglichen vor allem, und das scheint mir ihre wichtigste Funktion zu sein, zusätzliche Perspektiven auf das Thema. Ich unterziehe diese Theoreme ebenfalls einer genauen Lektüre, die nur so weit »professionell« ist, als es mir als nicht ausgebildete Philosophin, Kulturwissenschaftlerin, Linguistin etc. eben möglich ist. Das ist ganz allgemein die Crux einer interdisziplinären Lektüre, wobei eine Wissenschaft, die auf einen sich ständig wandelnden, inhomogenen Ort bezogen ist, auf eine solche nicht verzichten kann. Daher sind die Unzulänglichkeiten, die zwangsläufig Teil eines solchen Vorgehens sind, immer mitzubedenken und werden an manchen Stellen der Arbeit thematisiert. Mein Anspruch war es, keine der verwendeten Theorien auf ein paar Zitate zu reduzieren. Jede literarische oder theoretische Auseinandersetzung hat somit Spuren hinterlassen und das zuvor und danach Geschriebene zum Teil erheblich verändert. Diese Genese aus literarischen Texten, literaturtheoretischen und literaturdidaktischen Theorien und Diskussionen heraus – nicht aus einem übergeordneten Standpunkt – hat das vorliegende Buch als ein angewandtes Prinzip geprägt.

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Das sind, kurz gefasst, die wichtigsten Überlegungen, die von einer literaturwissenschaftlichen Fragestellung, nämlich dem Verhältnis zwischen Eigenem und Fremde in der literarischen Darstellung verschiedener Dimensionen des Fremden und in hermeneutischen Prozessen ausgehen, um diese dann auf einen literaturdidaktischen Kontext zu beziehen. Die Entwicklung und Darlegung der Bedingungen einer »responsiven« Haltung der Literatur, ja ganz generell dem Kunstwerk gegenüber, betreffen die Ansprüche an Wissenschaft und Schule gleichermaßen, insofern ist die Unterscheidung zwischen Theorie und »theoretischer Praxis« im eigentlichen Sinne hier gar nicht mehr relevant. Weitere zwei Punkte scheinen mir für das Verständnis des vorliegenden Buches wesentlich zu sein. Das ist zum einen die Wahl der Terminologie, die sich notwendigerweise mit den Texten verändert, wobei ich versuche, auf die jeweils relevanten definitorischen Zuschreibungen einzugehen. Für die gesamte Arbeit gilt, dass ich die Verwendung des Begriffs »das Fremde« zwar nicht dogmatisch, aber doch tendenziell jenem der »Alterität« vorziehe. Diese Wahl ist durch persönliche Eindrücke entstanden, die mir das Gefühl vermittelt haben, der Neologismus »Alterität« lege ein Denken in binären Strukturen oder ein Oppositionsdenken nahe, auch wenn das in seiner Begriffsgeschichte nicht angelegt ist. Mir scheint, dass der Begriff »Alterität« bei den meisten Sprecherinnen/Lesern unwillkürlich den Gedanken an eine dieser Alterität entgegenstehende »Identität« hervorruft. Das »Fremde« kann zwar ebenfalls als bloßes Gegenteil eines »Eigenen« gesetzt werden, es hat aber auch als eigenständiger Begriff eine längere Tradition und ist daher vielleicht auch definitorisch weiter. Zwar ist das dialektische Verhältnis zwischen Identität und Alterität auch im Begriff der Alterität enthalten, aber die Ableitung des Begriffs von »alterare« (ändern, verändern) ist erfahrungsgemäß den meisten Sprecherinnen weniger bewusst als seine Herkunft von »alter« (der/die/das Andere). Zum anderen möchte ich am Ende dieses Vorworts auch noch darauf hinweisen, dass in dieser Arbeit auf »geschlechtsneutrale« Formulierungen – deren Existenz mir ohnehin zweifelhaft und auch nicht wünschenswert erscheint – verzichtet wird. Weibliche und männliche Nominalformen werden abwechselnd und unabhängig vom jeweiligen Thema, also gleichberechtigt, verwendet.

1. Vorgeschichte

Die Suche nach einem Ausgangspunkt oder



Wir befinden uns hier ABANDON ALL HOPE YE WHO ENTER HERE is scrawled in blood red lettering on the side of the Chemical Bank near the corner of Eleventh and First and is in print large enough to be seen from the backseat of the cab as it lurches forward in the traffic leaving Wall Street and just as Timothy Price notices the words a bus pulls up, the advertisement for Les Misérables on its side blocking his view, but Price who is with Pierce & Pierce and twenty-six doesn’t seem to care because he tells the driver he will give him five dollars to turn up the radio »Be My Baby« on WYNN, and the driver, black, not American, does so. […] »I’m resourceful«, Price is saying. »I’m creative, I’m young, unscrupulous, highly motivated, highly skilled. […] I mean am I alone in thinking we’re not making enough money?« […] »In one issue, – in one issue –, let’s see here … strangled models, babies thrown from tenement rooftops, kids killed in the subway, a Communist rally, Mafia boss wiped out, Nazis« – he flips through the pages excitedly – »baseball players with AIDS, more Mafia shit, gridlock, the homeless, various maniacs, faggots dropping like flies in the streets, surrogate mothers, the cancellation of a soap opera, kids who broke into a zoo and tortured and burned various animals alive, more Nazis … and the joke is, the punch line is, it’s all in this city – nowhere else, just here, it sucks, whoa wait, more Nazis, gridlock, gridlock, baby-sellers, black-market babies, AIDS-babies, baby junkies, building collapses –« His voice stops, he takes in a breath and then quietly says, his eyes fixed on a beggar at the corner of Second and Fitfh, »That’s the twenty-fourth one I’ve seen today. I’ve kept count.« Ellis 1991, 3f.

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Das Fremde in der Literatur

Dieser Textauszug entstammt dem 1991 erschienenen Buch American Psycho von Bret Easton Ellis. Man kann diesem äußerst kontrovers diskutierten Roman auf der Inhaltsebene gewiss keine sensible Einstellung dem Fremden gegenüber nachsagen, vielmehr ist der Protagonist so politisch unkorrekt, wie es sich nur denken lässt. Patrick Bateman nennt Schwarze grundsätzlich »nigger« und Homosexuelle »fagotts«. Unter seinen Mordopfern befindet sich auch ein Obdachloser, auf den er seinen Hass gegenüber niedrigen sozialen Schichten und gesellschaftlich Geächteten projiziert. Es stellt sich also die berechtigte Frage, wieso man sich gerade diesem Text zuwenden soll, wenn es um die Frage nach der Bedeutung des Fremden in der Literatur und für die Literatur geht. Eine mögliche Antwort darauf ist die Rezeptionsgeschichte dieses Romans. American Psycho erzielte eine Wirkung, die weit über das hinausgeht, was die meisten literarischen Texte, die eine so grundlegende Kritik an der westlichen Kultur, an deren hegemonialen Ansprüchen und dem Kapitalismus verfolgten, auch nur ansatzweise erreichen konnten. Nicht nur, dass der Roman – vor allem nach seiner Verfilmung im Jahr 2000 mit Christian Bale in der Hauptrolle – zumindest als Film von einer breiten Masse rezipiert wurde; er hat zudem den Diskurs um die Auswirkungen des amerikanisch-imperialistischen Machtanspruchs erstmals auf einem Niveau stattfinden lassen, das nicht nur der intellektuellen Elite vorbehalten blieb (und deren Selbstbestätigung diente). Dieser wurde sogar durch die herausragende Rolle populärkultureller Phänomene im Text, durch die exzessiven Gewaltszenen und die grobe Ausdrucksweise der gewohnte Boden entzogen. Auf Grund der Anhäufung an brutalen Szenen und verbaler Gewalt ist American Psycho auch eines der meistbeschimpften Bücher in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geworden. Nichtsdestotrotz gibt es heute in der westlichen beziehungsweise westlich sozialisierten Welt und sogar weit darüber hinaus kaum jemanden, der diesen Roman oder zumindest seine Verfilmung nicht kennt. Die heftigen und teils hoch emotionalen Reaktionen auf American Psycho lassen vermuten, dass dieser Roman einen Nerv getroffen hat. Es scheint sich etwas Wesentliches widerzuspiegeln in diesem fiktiven Universum aus aalglatten, empathielosen Anzugträgern, die völlig skrupellos und mit wissenschaftlicher Präzision ihre Umwelt sezieren, um diese dann von dem »Schmutz« zu befreien, der sich den Maximen ihres neoliberalen Handelns widersetzt. Die Opfer der jungen, männlichen Upper-Class-Mörder sind dabei ebenfalls nicht als Individuen gezeichnet; sie sind in ihrer Einfältigkeit und Klischeehaftigkeit kaum der Rede wert. Als Identifikationsfiguren sind sie ebenso ungeeignet wie ihre Peiniger. Der Protagonist ist kein vielschichtiger Charakter, aber er tötet auch nicht (nur) zum bloßen Zeitvertreib, er verkörpert nicht das pure und grundlos Böse. Bateman hat selber Angst vor dieser Welt, die sich in vieler Hinsicht als abgründig erweist. In diese Abgründe droht er vor allem dann zu stürzen, wenn sich der Wunsch nach Bedeutung, nach Wahrhaftigkeit, nach einem Erleben

Vorgeschichte

abseits des klinisch Reinen und logisch Nachvollziehbaren in ihm regt. »Einem Lebewesen, das den Logos hat, ist im Grunde nichts mehr fremd« (Waldenfels 1990, 34), sagt der Phänomenologe Bernhard Waldenfels in Der Stachel des Fremden und weist damit auf die Identitätsproblematik hin, wie sie in American Psycho und zahlreichen anderen zeitgenössischen Romanen dargestellt wird. Identität kann nur durch eine partielle Identifizierung mit und einer Abgrenzung von Anderen, vom jeweiligen »Anderen« stattfinden und ist deshalb »stets mit Momenten der Nicht-Identität durchsetzt« (Waldenfels 1997, 69). Der Umgang mit diesen fremden Anteilen ist von vielen Faktoren bestimmt, er hat aber auch eine kollektive Dimension und ist in dieser Hinsicht ein Zeichen der allgemeinen Verfasstheit einer Gesellschaft oder eines Kulturkreises zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt. Die Figuren in American Psycho sind zumindest in Hinblick auf ihr berufliches Tun in der Lage, die Welt mittels ihres Logos zu beherrschen und nach ihrem Willen zu gestalten. Sie geben sich der Illusion hin, das Unerwartete und »Andere« (also Undenkbare, Unberechenbare) aus ihren Geschäften verdrängen zu können, und dieses Wollen wird zu einer Obsession. So werden sie zu austauschbaren Identitätsmonolithen, denen es nicht mehr möglich ist, die Erfahrung des Fremden überhaupt noch zu vollziehen. Diese ist ihnen als Grenze, an die die eigene Verfasstheit stößt, unerträglich und wird als eine tödliche Bedrohung wahrgenommen, die den Wunsch nach Vernichtung auslöst. Die daraus resultierende Einsamkeit ist allerdings der Abgrund, dem Bateman nicht entkommen kann, und letztlich ebenso unerträglich wie das Fremde selbst. In Anbetracht der Radikalität der Darstellung in American Psycho wird deutlich, dass es gerade in literaturdidaktischen Zusammenhängen nicht um die Frage gehen kann, wie das Fremde in literarischen Texten dargestellt sein soll, um bei den Rezipienten bestimmte Wirkungen hervorzurufen.1 Es geht 1 | Die Interkulturelle Literaturdidaktik zeigt allerdings eine deutliche Tendenz, solche »Nützlichkeitsüberlegungen« anzustellen und damit dem literarischen Kunstwerk noch vor der Rezeption ein Korsett überzustreifen, in dessen Enge jegliche Vieldeutigkeit verloren geht. »Markiert ein Autor das Fremde vorwiegend positiv, um das eigene Bild zu ›korrigieren‹, oder markiert er es negativ, um die Überlegenheit des Eigenen zu propagieren?« (Blioumi 2007, 69), fragt etwa Aglaia Blioumi in ihrem Aufsatz »Literatur und Interkulturalität. Ansätze zur Verschwisterung von Texthermeneutik, Didaktik und interkulturellen Kompetenzen«. Wie naiv und irreführend diese Fragestellung ist, wird spätestens im Zuge eines Vergleichs mit oben angeführtem Textzitat deutlich. Hier – so wie auch im Rest des Romans – wird kein »Fremdes« jemals positiv konnotiert, ganz im Gegenteil, die Beschimpfungen und Erniedrigungen des anderen Geschlechts, anderer Lebensentwürfe, anderer gesellschaftlicher Schichten und schließlich auch anderer Kulturen (»a black, not American«) nehmen in diesem Buch kein Ende. Und nirgendwo findet sich eine Erzählinstanz, die dieses aus der Sicht des Protagonisten Fremde

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Das Fremde in der Literatur

vielmehr darum herauszufinden, in welcher Weise das Fremde in verschiedenen Texten repräsentiert wird oder seine Präsenz entfaltet, wie es narrativ gestaltet ist und welche Rolle es spielt, wenn es um die Konstruktion oder Dekonstruktion von kulturellen und oftmals auch transkulturellen Identitäten geht. Diese Art der Fragestellung ist aber auch aus einem literaturinhärenten Grund interessant: Wenn das grundsätzlich unverständliche und sich gegen den rationalen Zugriff sperrende Fremde doch in die »Logik« der Erzählung gelangt, muss damit etwas passiert sein; es kann nicht mehr völlig fremd sein, sonst wäre es sprachlich gar nicht erst fassbar. Es drängt sich also die Frage auf, ob die Darstellung des beziehungsweise die Auseinandersetzung mit dem Fremden bereits einer Aneignung gleichkommt, ob hier vielleicht sogar gewaltsame Strukturen der Bewältigung gefunden werden oder sich in diesen Texten narrative und imaginative Auswege aus einem, das Fremde letztlich absorbierenden, Erzählen finden lassen. In American Psycho widerfährt dem Fremden keine Gerechtigkeit, es wird auf inhaltlicher Ebene ebenso getilgt wie in den narrativen Strukturen des Textes, der die Perspektive seines bis in ihre schizophrenen Persönlichkeitsstrukturen hinein kannibalischen Protagonisten einnimmt. Der Diskurs, der sich später um Buch und Film gebildet hat, spiegelt diese Struktur jedoch keineswegs wider. Dieser Roman ist weder multiperspektivisch noch kritisch in einem vordergründigen Sinn; Patrick Batemans Absolutheitsansprüche werden nur durch Ironie gebrochen. Nichtsdestotrotz stellt dieser Text die Lebensweise und insbesondere das Sein seines Protagonisten, als Vertreter einer weißen, gebildeten, betont männlich agierenden Oberschicht, fundamental in Frage. Der Text bleibt der sich kaum verändernden Perspektive des Protagonisten Patrick Bateman bis zum Schluss verhaftet: Auf intradiegetischer Ebene wird dazu kein Gegengewicht geschaffen. Gerade durch dieses obsessive Festhalten an der als einheitlich und unantastbar imaginierten Identität, wird aber dieser Standpunkt nicht nur in all seiner Härte und bis zur letzten Konsequenz gezeigt, sondern auch der Lächerlichkeit preisgegeben.

verteidigen, aus einer anderen Perspektive darstellen oder durch andere Mittel der Darstellung ins Recht setzen würde. Das Unrecht bleibt, auch auf formaler Ebene, ungesühnt, die eigenkulturelle Perspektive wird beibehalten und doch hat man hier einen der massenwirksamsten und eindringlichsten Romane vor sich, was die Kritik an der westlichen Vorstellung von Identität betrifft.

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1.1 D as S elbe T öten Das Fremde ist in American Psycho eine sehr präsente, ja von den Protagonisten geradezu als übermächtig empfundene Kategorie. Die Taxifahrt am Beginn des Buches macht bereits deutlich, dass Bateman und Price die sie umgebende Umwelt als fundamental fremd und feindselig wahrnehmen. Die Umwelt der beiden männlichen Figuren, die sich in ihren Ansichten und ihrem Lebensstil kaum voneinander unterscheiden (und deren Bekanntenkreis aus austauschbaren Personen besteht), scheint äußerst bedrohlich. Die Bilder, die die Stadt beschreiben, sind geradezu apokalyptisch. Dieser Eindruck wird durch die Schlagzeilen, die Price vorliest, noch verstärkt und seine eingestreuten Hinweise darauf, wie unzufrieden er mit seinem Leben ist, offenbaren einen alles durchdringenden Ekel. Die Welt außerhalb des Taxis, die weiblich konnotierte Stadt, wird nicht als Behausung, sondern als schmutzige, von Armut, Krankheit und verschiedensten Formen der »Bastardisierung« geprägte Sphäre empfunden. Transvestiten, Homosexuelle, AIDS-Kranke und herumlungernde Bettler prägen das Straßenbild in Batemans Wahrnehmung und er versucht sich und seinen Körper mit allen Mitteln rein und unverletzbar zu halten, um eine Affizierung durch dieses »Fremde« zu verhindern. Eine Möglichkeit, sich vor dem ihn täglich umgebenden »Unreinen« zu schützen, sieht Bateman im Training seines weißen, glatten »hard body«, in den nicht einmal der gefürchtete AIDSVirus eindringen könne, so die Einschätzung des Protagonisten und seiner Freunde: »›Guys just cannot get it.‹ ›Well, not white guys.‹« (Ellis 1991, 34) Die verwendeten Metaphern, die den Unterschied zwischen dem Eigenen, das als rein und gesund imaginiert wird, und dem Fremden, Schmutzigen und Krankhaften klarmachen, sind vor allem räumlich definiert. Sogar die Kapitelüberschriften bezeichnen oft lediglich den Ort, an dem sich die Szenen abspielen. Bateman möchte den unüberschaubaren »Stadtkörper« von allen schadhaften Elementen gereinigt wissen, sein eigenes Leben vollzieht sich hauptsächlich in abgeschotteten Räumen, in denen klinische Reinheit herrscht und kaum noch ein »Anderes«, geschweige denn ein Fremdes sichtbar wird. Die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, dass Bateman seine ihm und einander so ähnlichen Geschäftspartner und Freunde kaum noch voneinander unterscheiden kann, durchziehen den gesamten Roman und kommentieren satirisch den Gleichheits- und Reinheitswahn des Protagonisten und seiner Umwelt. Julian Murphet spricht in diesem Zusammenhang von Batemans »latent wish to convert all of Manhattan into a consumer playground unspoiled by ›otherness‹« (zit.n. Moser 2005, 116) und bringt diesen Wunsch mit der Kommerzialisierung und ökonomischen Strukturierung des urbanen Raums in Verbindung. Armut und Elend sollen aus den sicht- und im Sinne des Finanzkapitals nutzbaren Teilen der Städte vertrieben werden, doch selbst das bloße Wissen um deren Existenz erfüllt Bateman mit Hass.

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Die Kritik an den grenzenlosen Aneignungsbestrebungen des (vor allem virtuellen) Kapitals wirkt plakativ und spielt sich nur an der Textoberfläche ab. Batemans Konsumwahn ist das Ergebnis und nicht die Ursache seiner obsessiven, umfassenden Aneignungsbestrebungen. In einer der Schlüsselszenen des Textes, in dem es zum (imaginierten?) Mord an seinem Ebenbild und Konkurrenten Paul Owen kommt, erweist sich die Identitätsproblematik als Patrick Batemans eigentliches Problem: Owen ist ebenso jung, erfolgsorientiert und skrupellos wie Bateman, dem er auch äußerlich zum Verwechseln ähnlich sieht. Die Unmöglichkeit, die genormten Körper und Persönlichkeiten noch voneinander zu unterscheiden, führt dazu, dass die Szene, in der Patrick Bateman seinen Kontrahenten und Doppelgänger schließlich ermordet, zur Satire wird. Zuerst kündigt Bateman an, dass er Paul Owen zum Dinner treffen werde, dann verwechselt er ihn aber von Anfang an mit Marcus Halberstam, mit dem Owen seinerseits Bateman verwechselt: »[…] where I’m going to meet Paul Owen for Dinner. […] ›This is really a beehive of, uh, activity, Halberstam,‹ Owen says, gesturing toward the near-empty room. […] ›Hey, I’m a child of divorce. Give me a break‹, I say, shrugging, thinking: Oh Halberstam you are an asshole.« (Ellis 1991, 214f.) Die Verwechslungen kulminieren schließlich darin, dass Patrick Bateman selbst nicht mehr zu wissen scheint, wer er eigentlich ist: »[…] and I have suddenly resorted to making comments such as ›Is that Ivana Trump over there?‹ then, laughing ›Jeez, Patrick, I mean Marcus, what are you thinking? Why would Ivana be at Texarkana?‹« (Ebd. 215) In der folgenden Szene, in der das Bewusstsein beider Protagonisten stark beeinflusst ist – auf Seiten des Opfers von Alkohol, auf Seiten Batemans von zwei Stück Valium und dem Blutrausch, in dem er sich befindet –, wird nie klar, wer nun tatsächlich wer ist. Noch in dem Moment, in dem Bateman mit erhobener Axt vor Owen steht, spricht dieser ihn zögernd als »Halberstam?«, an und so entsteht der paradoxe Eindruck, dass hier gar kein Mord im eigentlichen Sinne begangen, sondern ein Spiegel zerschlagen wird. Doch selbst die Tötung des Anderen/ Eigenen ist kein affektiver, sondern ein durchaus kontrollierter Vorgang, der vor allem »sauber« von statten gehen soll. Der selbst diese Szene noch dominierende Reinheitswahn des Protagonisten lässt die Schilderung des »Mordes« schließlich ins Groteske abgleiten. Bateman legt sorgfältig Zeitungen aus, um seine teuren Böden vor Blutspritzern zu schützen, über seine teure Designerkleidung streift er mangels besserer Alternativen eine Regenpellerine, die er immer noch trägt, als er später in die Wohnung des Opfers fährt, um dort eine Nachricht auf dem Anruf beantworter zu hinterlassen. Selbst nach dem Mord ist Owens Ähnlichkeit mit Bateman noch ein Thema: »My voice sounds similar to Owen’s and to someone hearing it over the phone probably identical.« (Ebd. 218) Wie Christian Moser in seiner Studie über die kannibalistischen Aspekte in American Psycho feststellt, ist nicht einmal die kannibalische »Katharsis«,

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die bei zahlreichen anderen (amerikanischen) Massenmördern funktioniert, für Bateman möglich. Er kann sich von den Dämonen, die ihn quälen, nicht befreien, sein Tun führt zu keiner tieferen Selbsterkenntnis und bewirkt daher auch nicht die erhoffte Reinigung (vgl. Moser 2005, 115). Bateman ist ein Getriebener, niemals ein Ankommender, obwohl er ganz klare Ziele verfolgt. Sein Wunsch danach, alles zu vereinheitlichen und das, was fremd oder anders ist, auszulöschen, richtet sich letztlich gegen die eigene innere Leere. Der unangreifbare »hard body«, der eigentlich einen kostbaren inneren Kern schützen soll, erweist sich immer wieder als eine Hülle ohne Inhalt. Je mehr Bateman um sich schlägt, je mehr »schmutzige Elemente« er beseitigt, ohne dabei ein Gefühl der Befreiung zu verspüren, desto klarer erkennt er die Sinnlosigkeit seines Tuns. Sein völlig abgeschottetes, alles Fremde annihilierende Ich ist im Innersten substanzlos, weil es das Andere noch nicht einmal mehr als Grenze seiner selbst anerkennen kann. Die von ihm zum bloßen Objekt degradierten Wesen, denen Bateman auf der Straße begegnet und zu denen er keinerlei Beziehung auf bauen kann, dienen nicht einmal mehr als Projektionsfläche, an der sich die eigene Identität abarbeiten könnte. Jene Menschen, die ihm ähnlich und damit in seiner Wahrnehmung nicht gänzlich entmenschlicht sind, eignen sich ebenso wenig als Grenzlinie seiner Einzigartigkeit. Sie sind, wie die Szene mit Paul Owen deutlich macht, zu ähnlich. Die spiegelnden Oberflächen der »hard bodies« lassen nur noch Projektionen zu, aber keine Grenzen mehr erkennen. Batemans Alptraum einer »Mischgesellschaft«, in der das Individuum sich nicht mehr klar von allen Anderen und allem Anderen abgrenzen kann, erweist sich schließlich als die Wahrheit seines sozialen Umfelds. Das autonome Subjekt, das er auf ideale Weise im »hard body« realisiert sehen möchte, löst sich nicht in der Masse, wohl aber als Massenware auf und verliert jegliche Kontur. Das männliche weiße Subjekt, dessen Ziel es in der abendländischen Kultur seit Plato ist, seine Identität an einem Ort jenseits des Kreatürlichen aufzubauen, hat in Patrick Bateman seinen postmodernen Antihelden gefunden. In American Psycho ist die Tragik dieser »gereinigten Existenz« durchaus spürbar. Kritik wird allerdings nur satirisch und somit auch ohne Gegenentwurf geäußert, wobei insbesondere die Bezugnahme auf die Austauschbarkeit und den Mangel an Individualität der »hard bodies« auf diese Weise erfolgt: »I squint, put on my Oliver peoples nonprescription glasses and realize that Evelyn, her vision clouded by the cassis-riddled Cristal, not only has mistaken Norris Powell for Ivana Trump but has mistaken Steve Rubbell for Brooke Astor, and I can’t help it, I almost explode.« (Ellis 1991, 121) Satirische Textstellen wie diese spitzen die Identitätsproblematik zu und weisen diese als Dreh- und Angelpunkt der Erzählung aus: Bateman und sein soziales Umfeld, insofern ein Opfer der von ihm immer wieder gepriesenen Marktlogik seine Identität nur noch in den Kategorien des spätkapitalistischen Warenfetisches

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erfassen lässt. Die Ware »stellt ihren eigenen Wert aus« (Moser 2005, 119) und »biegt sich autoreferentiell auf sich zurück« (ebd.), wodurch sie letztlich nur noch eine spiegelnde Oberfläche ohne tatsächlichen Gehalt und damit die pure Illusion von Wert darstellt. American Psycho wird auf Grund des 1980er-Jahre-Settings, in dem die Figuren agieren, und auf Grund der zahlreichen Anspielungen auf populärkulturelle Phänomene dieses Jahrzehnts immer wieder als ein zwar bedeutender, aber doch sehr zeitgebundener Roman bezeichnet. Das boulevardeske Weltwissen, das die Lektüre von American Psycho voraussetzt, ist auch gewiss schon heute bei vielen Lesern nicht mehr vorhanden, aber zahlreiche Motive und Themen des Romans stehen in einer langen Tradition. So gehört etwa das zentrale Doppelgängermotiv in American Psycho bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum klassischen Repertoire, wenn es um die literarische Darstellung der spezifisch männlichen Identitätsproblematik geht (vgl. Rank 1993). Das Problem der zunehmend brüchig werdenden männlichen weißen Identität hat seinen Ursprung in der Literatur des Fin de siècle und Ellis nimmt immer wieder auf die damals entstandenen Diskurse Bezug, auch wenn er sie in einen – an sich kurzlebigen – boulevardesken Kontext stellt. Die Ursprünge der Bateman’schen Identitätsproblematik lassen sich als Aktualisierungen tradierter Männlichkeits- und Souveränitätsmythen aber noch viel weiter zurückverfolgen als zum Beginn des 20. Jahrhunderts. So beschreibt etwa Luce Irigaray in Das Geschlecht, das nicht eins ist in Anlehnung an Marx die Ware als ein Doppeltes, bestehend aus Naturalform und Tauschwert, wobei sie letzteren aber nur im Verhältnis zu einer anderen erhalten kann. Irigaray vergleicht dies mit der weiblichen Identität, die innerhalb des patriarchalen Systems ebenfalls nur durch die Beziehung zu einem Anderen, einem männlichen Anderen, erworben werden kann. Die Frau befinde sich somit innerhalb patriarchaler Strukturen in einem Zustand permanenter Maskerade. Sie muss, genau wie die Ware auch, ihren eigenen Wert propagieren, der nur vom Mann bestimmt werden kann (vgl. Irigaray 1979, 187). Dieser hingegen, so Irigaray, habe sich eine Philosophie geschaffen, die es ihm erlaubt, sich aus der kreatürlichen Abhängigkeit zu befreien und stattdessen einen Diskurs zu etablieren, in dem das männliche Subjekt als alleiniger Schöpfer und Herrscher einer Ideenwelt gilt, wobei als Ursprung dieses Mythos das platonische Höhlengleichnis ausgemacht werden kann (vgl. Irigaray 1980, 303ff.). Spätestens in der Moderne wird jedoch diese Form der (männlichen) Identitätsbildung prekär und es tauchen letzte Angriffe gegen eine grundlegende Grenzüberschreitung und Verschmelzung der Geschlechter auf. Androgyne Bilder bevölkern die Literatur und misogyne Abwehrreaktionen, die Kunst und Literatur zu dieser Zeit beherrschen, sind ebenfalls eine deutliche Reaktion auf die zunehmenden Verunsicherungen (vgl. Aurnhammer 1986). Spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Vermischung und Durchdringung aller vorher klar

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voneinander abgegrenzten Kategorien kaum noch zu leugnen. Die Überschreitung stereotyper Geschlechtergrenzen ist dabei besonders einflussreich, weil die Aufhebung des geschlechtlichen Urdualismus eine essenzielle Erschütterung bedeutet. In American Psycho scheinen die Geschlechterrollen zwar klar zugeordnet zu sein,2 doch entspricht Patrick Bateman dem Bild des »metrosexuellen« Mannes, für den allerdings erst Mitte der 1990er Jahre, also einige Jahre nach Erscheinen des Buches, ein eigener Begriff geprägt worden ist. Bateman ergeht sich zwar mit seinen Freunden in langen, vor psychischer und sexueller Gewalt strotzenden Gesprächen über Frauen, aber die sexuelle Ausbeutung und Erniedrigung, die den Frauen und Liebhaberinnen der Yuppies zuteil wird, unterscheidet sich nicht wesentlich von der, die sie erfolgloseren männlichen Mitgliedern der Gesellschaft entgegenbringen. Diese Verachtung allem als weiblich Imaginierten gegenüber wird – genau wie Batemans Machtphantasien und sein Bedürfnis nach Klarheit und Reinheit – ad absurdum geführt. Abgesehen von seiner Fixierung auf den makellosen Zustand des eigenen Körpers und seinen ständigen Überlegungen zu Frisur und Kleidung, die ihn selbst als Ware ausweisen, benimmt er sich in zahlreichen Szenen so, wie man es von den stereotypen Frauenfiguren seines sozialen Umfelds erwarten würde. Das wird etwa dann offensichtlich, wenn Bateman – unmittelbar nach dem Mord an Paul Owen – mit seiner Freundin telefoniert und ihr von der Begegnung mit einer gemeinsamen Bekannten erzählt: »›What was Kitty wearing?‹ ›An off-the-shoulder ball gown with velvet bodice and a floral-patterned lace skirt by Laura Marolakos, I think.‹« (Ellis 1991, 220) Oder wenn es wie in folgender Szene lediglich um einen Tisch im Restaurant geht: »I’m on the verge of tears by the time we arrive at Pastels since I’m positive we won’t get seated but the table is good, and relief that is almost tidal in scope washes over me in an awesome wave.« (Ebd. 39) Wie an diesem Beispiel sichtbar wird, sind die gängigen Parameter westlicher Identitätsorientierung (Rasse, Klasse, Geschlecht) in American Psycho von Anfang an außer Kraft gesetzt. Die Geschlechtergrenzen werden nur scheinbar scharf gezogen, erweisen sich aber letztlich als ebenso unzuverlässig wie jede andere Grenze in diesem Roman. Orientierungslosigkeit spielt in American Psycho daher in vieler Hinsicht eine Rolle, so ist etwa die zeitliche Einordnung für Bateman immer schwierig, meist kann er nur sehr ungefähre Angaben dazu machen, wie viel Zeit seit einem markanten Ereignis (bei2 | Angesichts der Darstellung von Frauen in American Psycho verwundert es erst einmal wenig, dass amerikanische Frauenrechtsorganisationen bei Erscheinen des Buches heftig protestiert haben. Das Buch wurde auch in Deutschland eine Zeit lang auf den Index für jugendgefährdende Schriften gesetzt, weil der Roman Gewaltverherrlichung betreibe und pornographische Szenen beinhalte.

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spielsweise dem letzten Mord) vergangen ist. Das Problem betrifft aber nicht Bateman alleine, auch andere Figuren nehmen immer wieder darauf Bezug, dass sie nicht wissen, wie lange etwas gedauert hat oder wie lange ein Ereignis her ist. Eine der meistdiskutierten Fragen in Zusammenhang mit American Psycho ist heute noch die, ob die Morde auf intradiegetischer Ebene tatsächlich stattfinden, oder ob sie nur in Batemans Phantasie vollzogen werden. Dass sich diese Frage nicht endgültig klären lässt, ist darauf zurückzuführen, dass sogar die Grenzen zwischen Realität (des Romans) und Fiktion sowohl für die Figuren als auch für die Leserinnen nicht mehr erkennbar sind. Bei genauerer Betrachtung ist Batemans Wunsch nach Klarheit, also nach einer Welt, die sich in dualistische Prinzipien fassen lässt, sowie der Wunsch nach Stabilität – vor allem nach identitären Ordnungssystemen – weder erfüllt noch jemals erfüllbar. Die Welt, in der er lebt, widersetzt sich diesen Prinzipien auf allen Ebenen; Einheit und Autonomie lassen sich selbst mit Gewalt nicht mehr herstellen. Am Ende des Romans setzt sich Bateman noch einmal auf der für ihn typischen unreflektierten Ebene mit der schmerzhaften Abwesenheit von Sinn auseinander und gelangt dabei zu einer Art postmoderner Standortbestimmung: […] someone asks, simply, not in relation to anything, »Why?« and though I’m very proud that I have cold blood and that I can keep my nerve and do what I’m supposed to do, I catch something, then I realize it: Why? And automatically answering »[…] I’m twentyseven for Christ sakes and this is, uh, how life presents itself in a bar or in a club in New York, maybe anywhere, at the end of the century and how people, you know, me, behave, and this is what being Patrick means to me, I guess, so, well, yup, uh« […] and above one of the doors covered by red velvet drapes in Harry’s is a sign and on the sign in letters that match the drape’s color are the words THIS IS NOT AN EXIT. (Ebd. 399)

1.2 D ie M öglichkeit eines A usgangs Patrick Bateman wird als eine Figur gezeigt, die sich in den Fängen der (Tausch-)Warenlogik verloren hat und keinen Ausweg mehr findet. Es gibt allerdings in American Psycho auch keine Hinweise darauf, dass er die Suche danach – abseits seiner Phantasien von einer gewaltsamen Auslöschung des Fremden – jemals betrieben hätte. Batemans Leben scheint auf Grund seiner Herkunft, seiner Sozialisation innerhalb eines elitären amerikanischen Schulsystems sowie seines beruflichen und privaten Umfelds vollkommen determiniert. Das wiederum führt dazu, dass jegliche Vorstellung eines alternativen Umgangs mit dem Fremden für ihn unmöglich ist. Inwiefern der Mensch aber einem solchen Determinismus generell unterworfen ist, ist immer noch fraglich. Die Antworten auf diese Frage nach der Determiniertheit des Menschen

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haben eine lange Geschichte, die auch mit neurobiologischen Erkenntnissen noch nicht klar beantwortet werden konnte.3 Inwiefern der Mensch inneren und äußeren Einflüssen ausgeliefert ist oder sich über diese hinwegsetzen kann, soll an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Theoretische Ansätze, die einen solchen Determinismus behaupten beziehungsweise bestreiten, stehen einander schon seit langem unversöhnlich gegenüber. Die postkoloniale Theorie jedenfalls verpflichtet sich größtenteils einer anti-deterministischen Tradition, die dem Menschen große Freiheit zugesteht, mit der allerdings auch große Verantwortung für das eigene Handeln einhergeht. Homi K. Bhabhas Theorie lässt sich dieser Denktradition, zu der etwa auch Jean-Paul Sartres Existenzialismus gehört, zuordnen. Bhabhas anti-fatalistisches Denken eröffnet dabei völlig neue Perspektiven auf das Zusammenspiel des Eigenen und des Fremden. Es mag auf den ersten Blick also seltsam erscheinen, dass gerade Bhabha sich immer wieder auf Louis Althusser bezieht, der, was die Selbstbestimmungsmöglichkeiten des Menschen betrifft, eine fatalistische Auffassung vertritt.4 Im Jahr 1977 entwickelt Althusser in Ideologie und ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie das Theorem der »Anrufung« (Interpellation), welche den Menschen bereits vor seiner Geburt erreiche und sein ganzes weiteres Dasein bestimme. Jeder Mensch werde, so Althusser, bereits durch die Erwartungshaltung, mit der die Familie die Ankunft des Kindes als Subjekt vorbereitet, in die Ideologie eingeführt, noch bevor er selbst darüber entscheiden könne. Dies sei also die erste Entscheidung, die im eigenen Namen, aber dennoch nicht von einem selbst getroffen werde. Auf ähnliche Weise wirke die Ideologie im Leben jedes Menschen fort. Es sei also gänzlich unmöglich, der Interpellation zu entgehen, nicht-ideologisch zu denken, zu 3 | Die mediale und damit populärwissenschaftliche Debatte zu diesem Thema wurde in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum vor allem von Gerhard Roth (Neurobiologe) und Wolfgang Singer (Physiologe), die einen starken Determinismus des menschlichen Willens bewiesen zu haben meinten, angeführt. Fundierte Kritik daran wurde von vielen Seiten laut u.a. haben sich der Schriftsteller und Philosoph Peter Bieri (vgl. Bieri 2007), der Bielefelder Philosoph Ansgar Beckermann (zahlreiche Publikationen und Vorträge zum Thema unter www.uni-bielefeld.de/philosophie/personen/be c​k ermann/) und der Berliner Philosoph Herbert Schnädelbach in teilweise ebenfalls sehr öffentlichkeitswirksamen Beiträgen dazu geäußert. 4 | Die Überzeugung von der Determiniertheit des menschlichen Seins wird nicht nur von Louis Althusser vertreten, sie hat innerhalb der linken Philosophie eine lange Tradition. Diese begann mit Marx (literarisch gesehen mit Georg Büchner) und diente im 20. Jahrhundert zahlreichen Philosophen als Bezugspunkt, von der sich ihre Theorien abheben konnten (Walter Benjamin, Jean-Paul Sartre) oder auf deren Prämissen sie letztlich wieder zurückkamen (Theodor W. Adorno).

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fühlen und zu handeln: »Die Existenz der Ideologie und die Anrufung der Individuen als Subjekte ist ein und dasselbe.« (Althusser 1977, 143) Das besonders Heimtückische an der Ideologie, so Althusser weiter, sei ihre Unsichtbarkeit, ihre Selbstverständlichkeit, die es schwierig, ja geradezu unmöglich mache, ihrem übermächtigen Einfluss entgegenzuwirken: »In der Tat ist es die besondere Eigenart der Ideologie, die Evidenzen als Evidenzen aufzudrängen […] wir können uns nicht weigern, sie anzuerkennen.« (Ebd. 141) In den Staatsapparaten und Institutionen besitzt die Ideologie, wie Althusser sie definiert, eine materielle Existenz und da sie innerhalb dieser Einrichtung durch regelhafte Praktiken und Rituale legitimiert wird, ist sie unserem eigenen Wollen immer schon einen Schritt voraus. Was bei Althusser »Ideologie« genannt wird, wird bei Jacques Lacan, dessen Theorien für die postkoloniale Theorie ebenfalls von großer Relevanz sind, aus einer etwas anderen Perspektive in den Blick genommen und als »symbolische Ordnung« bezeichnet. Dieser kann das Individuum auch bei Lacan nicht entfliehen, weil es nur in jenen Registern (sprachlich) zu handeln imstande ist, die diese vorgibt. Einige Aspekte der Althusserschen »Anrufung«, auf die Homi K. Bhabha direkt Bezug nimmt, wurden von der postkolonialen Theorie durchaus als richtig anerkannt und weitergedacht. So ist es auch dieser zufolge eine unumstößliche Tatsache, dass wir in ein Netz aus symbolischen Repräsentationen hineingeboren werden, in das wir uns im Zuge des Spracherwerbs noch stärker verstricken und dessen implizite Voraussetzungen wir nur unter allergrößten Anstrengungen begreifen und verändern können. Der Fatalismus von Althussers Theorem der Ideologie scheint allerdings in erster Linie dem Einfluss der teleologisch ausgerichteten marxistischen Geschichtsphilosophie zuzuschreiben zu sein. Gegen diese wiederum haben Judith Butler und Homi K. Bhabha heftigen Widerspruch eingelegt. Butlers wichtigstes Argument gegen die Endgültigkeit der Setzungen, die die Ideologie vornimmt, ist deren performativer Charakter. Der Fortbestand jedweder Ideologie, und sei sie auch noch so wirkmächtig, müsse stets durch performative Akte gesichert werden. Je autoritärer die Ideologie sei, desto mehr habe sie es nötig, durch eine wiederholende und zitathafte Praxis immer wieder bestätigt und aufs Neue zur Wirkung gebracht zu werden. Jede derartige kommunikative Praxis könne jedoch subversiv unterlaufen werden, die Macht der Anrufung sei daher, so Butler, nur eine relative (vgl. Butler 2001). Homi K. Bhabha verhandelt die Frage des Determinismus über den Begriff des »Dritten Raumes« (third space), den er von Frederic Jameson übernimmt, definitorisch allerdings neu bestimmt. Bhabhas Dritter Raum ist eine Art sprachliches Unterbewusstsein, das zwar immer schon vorhanden ist, das aber durch die postmodernen und postkolonialen Verhältnisse ins Bewusstsein gelangt. Die Verhandlungen des 20. Jahrhunderts über Identität und Nation haben Zugang zu Dritten Räumen gewährt, in denen sich jeder kommunikative

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Akt als eine unweigerliche Infragestellung seiner selbst präsentiert. Dies geschieht, weil die Äußerung der performativen und institutionellen Strategien, die mit jeder Aussage mittransportiert werden, eine Bedeutungsveränderung bewirkt, die der Andere allein nicht entschlüsseln kann. Sender und Empfänger der Botschaft müssen mit dieser »Ambivalenz im Akt der Interpretation« (Bhabha 2000, 55) leben und das wird ihnen gerade in einer »kleiner« werdenden Welt, in der immer mehr und ganz unterschiedlich codierte Informationen zugänglich sind, bewusster. Diese Ambivalenz ist insofern der Ausgangspunkt allen postkolonialen (Ver-)Handelns, als sie verbürgt, dass »die diskursiven Bedingungen der Äußerung, […] dass die Bedeutung und die Symbole von Kultur nicht von allem Anfang an einheitlich und festgelegt sind und dass selbst ein und dieselben Zeichen neu belegt, übersetzt, rehistorisiert und gelesen werden können« (ebd. 57). Die Verhandlungsmöglichkeiten des Dritten Raumes waren demzufolge auch für jenen Prozess entscheidend, in dem im Laufe des 20. Jahrhunderts die althergebrachten Kategorien der Identität in Frage gestellt wurden. Die früher auch literarisch wirkmächtigen Parameter Geschlecht, nationale Zugehörigkeit, sozialer Status und Religion sind mittlerweile obsolet geworden. Je deutlicher diese Brüche sichtbar werden, desto vehementer bemühen sich jene, die diese zerfallende Bastion retten wollen. Genau in diesem historischen Moment wird laut Bhabha die Kluft spürbar, die in ruhigeren Zeiten, beispielsweise vom Phantasma der Nation, verdeckt wird: Die Nation bezeichnet einerseits das Volk als genuine Gemeinschaft, die keiner Rechtfertigung bedarf (sujet de l’énonciation), andererseits bezeichnet dieser Begriff offensichtlich auch ein Volk, das »im performativen Vollzug einer Erzählung von Nation konstruiert ist« (Bronfen, Marius 1997, 13) und das durch weitere Erzählungen und die Tradierung beziehungsweise Neubildung von Mythen seinen Forstbestand ständig absichern muss. In der Lücke, die dieses Paradoxon aufreißt, öffnet sich nun laut Bhabha ein Dritter Raum, der den Determinismus des Ewig-Gleichen sprengt und neue Formen des Lebens, Denkens und der Positionierung für das Individuum ermöglicht.

1.3 B atemans W unsch , » stabile Z eichen « zu produzieren »Nachdenken ist zwecklos, die Welt ist sinnlos« – so fasst Patrick Bateman seine Sicht auf die Welt zusammen. Über »Werte« aller Art äußert er sich nur zynisch. Das gilt sowohl für die monetären Werte seines Berufes, die nie manifest werden, sondern nur virtuell vorhanden sind, als auch für moralische Werte und die Idee des Transzendenten ganz generell: Moral können sich die

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Erfolgreichen nicht leisten, Gott existiert nicht, Liebe ist die mühselige Aufrechterhaltung einer Illusion, so lauten die Grundsätze des Patrick Bateman. Was den meisten Kritikern von American Psycho entgangen ist, ist das eigentlich Subversive an diesen Aussagen. Bateman nimmt hier die Haltung jener Kulturkritikerinnen ein, die angesichts technischer und medialer Entwicklungen den Untergang des Abendlandes herannahen sehen. Wie Oliver Kohns feststellt, entspricht die Medienkritik, die den gesamten Text durchzieht (und die in wissenschaftlichen Arbeiten häufig positiv hervorgehoben wird), einer bestimmten »kulturkritischen« Lesart, die eigentlich für das Feuilleton typisch ist (vgl. Kohns 2001, 430). Bateman sieht zwar regelmäßig Talkshows, doch nur um sie ebenso verächtlich zu »rezipieren« wie die ihn umgebenden Menschen, die er ebenfalls nur noch als Darsteller ihrer selbst wahrnimmt. Er ist in der Lage, allem Bedeutung zuzuschreiben, aber nichts ist mehr bedeutsam. Bateman sucht nicht nach Sinn, aber er interpretiert um der Interpretation willen und nicht weil er sich erhofft, dadurch Bedeutung generieren zu können. Diese Art der Rezeption könnte man, wie Kohns richtig feststellt, als ein »pathologisches Lesen« bezeichnen, wie es der Allegoriker im Sinne Benjamins, der Überinterpretierende im Sinne Ecos leistet. Die Welt ist nicht mehr ein Rätsel, hinter dessen kryptischen Zeichen sich echte Bedeutung verbirgt, die es zu entdecken und zu bewahren gilt, vielmehr wird alles zu einem beliebig interpretierbaren Zeichen. Das Thema der beliebigen Rezeption wird in dem Kapitel »Genesis« ganz explizit behandelt, in dem sich Bateman der Interpretation des Werdegangs, der Musik und der Texte der gleichnamigen Band widmet. Im Zuge seiner Reflexionen spricht er beispielsweise über einen »touching love song«, in dem es um eine geschiedene Frau geht, die um das Sorgerecht für ihr Kind kämpft (Ellis 1991, 133). Im wahren Leben »berührt« Bateman jedoch überhaupt nichts. Er interpretiert das Lied nach seinem Gutdünken, völlig beliebig, ohne jeglichen Bezug zur Realität und schafft so illusionären und äußerst flüchtigen Sinn. Die Aussagen, die er hier generiert, haben keinerlei Tiefenstruktur, sie sagen nichts über die Dinge aus, sondern werden diesen lediglich als eine Art Bildermantel übergestreift. Das dekorierte Nichts scheint für Bateman allemal leichter zu ertragen zu sein als die ungeschönte Leere. Dennoch ist Bateman mit diesem Zustand unzufrieden, er beklagt sich immer wieder darüber, wie gehalt- und bedeutungslos alles um ihn herum sei, zieht aus dieser Feststellung jedoch keine Konsequenzen. Die Ausübung von Gewalt hat in American Psycho unter anderem auch die Funktion, Sinn zu produzieren, die sich ständig entziehende Bedeutung festzuhalten und für einen Moment Eigentlichkeit herzustellen. Der Wunsch nach einem intensiven und unmittelbaren Erleben ist das eigentliche Ziel von Batemans Handeln, auch wenn er es nie erreicht, oder zumindest nur für einen Augenblick. Die Funktion der Gewalttätigkeiten wird nicht in jedem von Batemans Morden deutlich, doch sie lässt sich beispielsweise an jener grau-

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samen Szene ablesen, in der Bateman einen Obdachlosen erst in ein längeres Gespräch verwickelt, um ihm dann die Augen auszustechen und ihn sterbend zurückzulassen. Hier geht es dem Protagonisten darum, seine Interpretation der Welt als die überlegene zu beweisen, und er zwingt den hungernden Bettler, dem er zu Beginn des Gesprächs eine 5-Dollar-Note in Aussicht gestellt hatte, zur Einsicht über die »Wahrheit« seiner Existenz: »It’s cold out too,« I say. »Isn’t it?« […] »Why don’t you get a job?« I ask, the bill still held in my hand but not within the bum’s reach. […] »You reek,« I tell him. »You reek of … shit.« I’m still petting the dog, its eyes wide and wet and grateful. »Do you know that? Goddamnit, Al – look at me and stop crying like some kind of faggot,« I shout. My rage builds, subsides, and I close my eyes, bringing my hand up to squeeze the bridge of my nose, then I sigh. »Al … I’m sorry. It’s just that … I don’t know. I don’t have anything in common with you.« (Ebd. 130f.)

Die eigentliche Frage, die Bateman stellen und beantworten will, bricht erst kurz vor dem ersten Übergriff aus ihm heraus: »I reach out and touch his face gently once more with compassion and whisper, ›Do you know what a fucking loser you are?‹« (Ebd. 131) Auf diese Frage hin nickt der Bettler und Bateman sticht ihm mit einem Messer erst das eine, später auch noch das andere Auge aus. In seiner Deutung der kannibalischen Aspekte des Romans stellt Kohns fest, dass Bateman stets versucht, »stabile« Zeichen zu produzieren, indem er sich in den Augen seiner Opfer spiegelt und sich daraus »eine nicht-allegorische Selbstfindung verspricht« (Kohns 2001, 434). Dem ist noch hinzuzufügen, dass Bateman nicht irgendeine »Wahrheit« festschreiben möchte, sondern den Mythos seiner eigenen Überlegenheit und damit auch die Hegemonie seiner Welt- und Selbstbetrachtung. So nimmt er etwa, nachdem er dem Bettler die Augen ausgestochen hat, dessen Platz ein: »So I decide to go somewhere Al would go, the McDonald’s in Union Square. Standing in line, I order a vanilla milk shake […] and take it to a table up front, where Al would probably sit, my jacket, and its sleeves, lightly splattered with flecks of his blood.« (Ellis 1991, 132) Bateman nimmt also die Perspektive seines Opfers ein, nachdem er dieses der Möglichkeit beraubt hat, noch irgendeinen Standpunkt in der Welt einzunehmen, und setzt sich selbst beziehungsweise seine Deutungsmacht damit absolut. Lange dauert dieser Rausch allerdings nicht an, dann beginnt Bateman, den Fluss der Zeichen und das beständige Ineinanderfallen des Widersprüchlichen erneut zu verspüren, und er wird wieder in den Wirbel des Unbeständigen und Uneindeutigen gezogen, den er als so quälend empfindet.

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1.4 N och eine S tandortbestimmung : W o wir uns befinden Das literarische Beispiel Patrick Bateman, das ich in den vorangegangenen Kapiteln immer wieder als Markierung »unseres«, das heißt des westlichen Standpunkts herangezogen habe, ist stark überzeichnet und in seiner konkretgesellschaftsanalytischen Dimension nicht mehr ganz aktuell. Bateman lebt in den 1980er Jahren und kann noch nicht als Repräsentant des westlich sozialisierten Menschen des 21. Jahrhunderts gesehen werden. Phänomene der Transgression und Hybridisierung können mittlerweile noch nicht einmal mehr theoretisch ausgeblendet oder gar ausgelöscht werden. Und dennoch sind Batemans Einsamkeit, die panische Angst vor dem »unreinen« Fremden, der Verlust der Einzigartigkeit in der Logik der Massenware und vor allem das Fehlen einer unmittelbaren Begegnung mit einem »Anderen« sowie das Fehlen von Sinn jene Probleme, die unsere Gesellschaft immer noch beschäftigen. Zwar ist die Gewissheit der Überlegenheit des westlich aufgeklärten Logos grundlegend in Frage gestellt worden, nicht aber der Wunsch, diese Phantasmen aufrechtzuerhalten. Dieser hat sich vielmehr gerade durch die Zunahme an Unsicherheit noch verstärkt und führt zu jenen zahlreichen reaktionären Bestrebungen, die sich großer Beliebtheit erfreuen. So betrachtet ist die Grausamkeit Batemans »zeitlos« und resultiert aus einem absoluten Verfügen über den – seiner Inkommensurabilität beraubten – Anderen. Aus einem Beherrschen, Einordnen, Auslöschen des Fremden und Unverständlichen. Sobald die Andersheit des Anderen vollständig ausgelöscht ist, tut sich allerdings eine ebenso unerträgliche Leere auf. Daraus ließe sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Anerkennung der Kontingenz und Heterogenität des menschlichen Seins sogar (überlebens-)notwendig geworden ist. Das würde bedeuten, dass unsere Fähigkeit, auf ein irreduzibles Fremdes zu antworten, zu einer Überlebensfrage geworden ist und sich immer mehr als eine solche erweisen wird. Das Fremde tritt uns nicht zuletzt im literarischen Text gegenüber. Wir werden zwar am Text nicht wie Patrick Bateman zum Mörder, denn der Text überlebt immer: »Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber« (Kakfa 1995, 230), heißt es bei Kafka und aus dieser Perspektive betrachtet kann eine eventuelle Aneignung des Textes durch eine Leserin, die ihre subjektive Sichtweise eben nicht zu Gunsten des Textes aufgibt, diesem nichts anhaben. Jedoch geraten wir durch einen beherrschenden Umgang mit ihm in Gefahr, auf die Möglichkeiten zu verzichten, die er uns nicht nur als Text, sondern auch als der Entwurf einer anderen Welt bietet. Und so geraten wir unter Umständen zu rasch ans Ende – no exit – und in die Einsamkeit, die die Ausgrenzung des Fremden, abgesehen von ihren ethischen Implikationen, immer auch bedeutet. In der Kunst hat und hatte die Hybridisierung stets einen anderen Stellenwert, weil diese eines

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ihrer Lebenselixiere darstellt. Das ändert zwar nichts daran, dass auch der Kulturbetrieb stark hierarchisiert ist und wirtschaftliche wie politische Machtstrukturen widerspiegelt; aber das Kunstwerk kann ohne die Vermischung mit einem Anderen, Fremden nicht sein. Das geht weit über das Vorhandensein inter- oder transtextueller Phänomene hinaus. Auch die Tatsache, dass Texte ihre Bedeutungsvielfalt über verschiedene Medien hinweg ausbreiten, ist lediglich eine neue Spielart der konstitutiven Hybridität, die die Kunst auszeichnet. Das bedeutet wiederum, dass wir, wenn wir in der Auslegung eines Textes auf ein abgeschlossenes Ganzes abzielen, dessen Wesen notwendigerweise verfehlen. Patrick Bateman lässt sich deshalb auch als eine Parodie des Betriebs der Kunst- und Literaturkritik lesen, die sich an den selbst aufgestellten Maximen eine Festung errichtet hat, die zu scheinbar unumstößlichen, absoluten Urteilen befähigt. Diese Scheinsicherheit des Verstehens und Urteilens ist nicht nur eine Falle, in der die literarische Kritik sich längst verheddert zu haben scheint, sie ist ebenso die Crux eines Literaturunterrichts, der auf »messbare Kompetenzen« abzielt.

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2. Responsive Literaturdidaktik

Zugänge und Voraussetzungen

»Was ist herrlicher als Gold?« fragte der König. »Das Licht,« antwortete die Schlange. »Was ist erquicklicher als Licht?« fragte jener. »Das Gespräch,« antwortete diese. Johann Wolfgang von Goethe, Das Märchen

Der Roman American Psycho ist voller Dialoge, enthält aber kein einziges Gespräch. Abgesehen davon, dass die Phrasen, die hier ausgetauscht werden, keiner Antwort bedürfen, ja eine solche noch nicht einmal ermöglichen, werden diese Monologe in Anwesenheit Zweiter und Dritter auch gar nicht gehört. Was der Eine sagt, kommt beim Anderen nie an und das empfinden alle Beteiligten als Normalität, weshalb sich auch niemand daran stört. Die Geschichte des Patrick Bateman und seines Umfelds lässt sich – nicht nur, aber auch – als das Szenario einer hermeneutischen Apokalypse lesen. Bateman und seinen Pseudo-Gesprächspartnern ist es nicht mehr darum zu tun, Andere zu verstehen oder sich selbst verständlich zu machen. In ihrem solipsistischen Universum scheint noch nicht einmal mehr der Wunsch nach oder die Hoffnung auf eine solche Art des Austausches zu existieren. Die Welt ist hier tatsächlich zu einem unendlichen Strom ausschließlich ökonomisch »bedeutender« Zeichen geworden, die ausdrucksseitig zwar viel, inhaltsseitig aber nichts mehr zu bieten haben. Die Anderen sind da, Bateman ist zwar in der Lage sie wahrzunehmen, allerdings ist es ihm unmöglich, mit ihnen in einen tatsächlichen sprachlichen Austausch zu treten, denn seine zwanghafte Vorstellung einer ungebrochenen Individualität lässt eine Affizierung durch das Andere noch nicht einmal auf dieser grundlegenden Ebene zu. Die Welt hat den Protagonisten in American Psycho im wahrsten Sinne des Wortes nichts mehr zu sagen, sie entzieht sich allerdings auch seinem verstehenden Zugriff, was zu der für den Roman so typischen Verwirrtheit und Orientierungslosigkeit führt, der auch die Rezipientin ausgesetzt ist. In American Psycho wird dieser Verzicht auf jegliches Verstehen, den Bateman nicht nur akzeptiert, sondern geradezu kultiviert,

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als ein der Logik seiner Waren-Welt durchaus adäquates Verhalten dargestellt. Bereits Friedrich Schleiermachers Hermeneutik hat den antithetischen Zusammenhang zwischen der Existenz des reinen Tauschwerts des Geldes und eines einzigartigen persönlichen Werts, der sich in dem je eigenen Sprachstil ausdrückt, als relevant empfunden. Nur in einer Sprache, die sich aus der Starre der vorgeprägten Form befreien und ihre irreduzible Besonderheit zur Geltung bringen kann, findet nämlich die Einzigartigkeit Ausdruck, die über den bedeutungslosen Austausch vorgefertigter Sprachschablonen hinausführt und Sinn stiftet. Bolz beschreibt den Stellenwert der literarischen Sprache als fundamental für Schleiermachers Verständnis von Kunst und Geselligkeit, wobei er damit eine Form des Zusammenlebens meint, die um ein tiefes Verständnis der Welt und des Anderen bemüht ist: »Das Poetische ist die immanente Transzendenz der Sprache, kraft der sie die Inkommensurabilität von Einzeln-Innerem und starrem Sprachelement überbrückt – es ist die sprachliche Kunst des Übergangs.« (Bolz 1982, 116) Einen echten Austausch könne es laut Schleiermacher nur im Gespräch geben, in dem der Einfluss des Einen auf den Anderen zur Wirkung komme und diesen auch verändere. Der Wille zur Hermeneutik, das Interesse am Dunklen, das der Andere mit seinen Worten immer transportiere, sei notwendig, um authentische Bedeutung entstehen zu lassen, die sich der Bedeutung des Nicht-Verstehens als eines nicht zu hintergehenden Bestandteils jedes Versuchs zu verstehen dennoch bewusst ist. Maurice Blanchot geht in seiner Definition eines Gesprächs, das »echte Gedanken« hervorbrächte, noch einen Schritt weiter. Echte Gedanken, Gedanken also, die nicht bloß Vorhandenes und die Schimäre der alltagssprachlich verfügbaren Wirklichkeit bezeichneten, ließen sich nicht entwickeln (vgl. Blanchot 1991, 157). Sie verlangen nach einer gewissen Passivität, denn sie »scheuen […] jene Gewalt, die in der Kunst des Beweisens und Argumentierens liegt« (ebd.). Ein Sprechen, das »echte Gedanken« hervorzubringen in der Lage ist, verzichte notwendigerweise auf das letzte Wort (vgl. dazu auch Härle 2010b, 112f.) und anerkennt, »daß das Sprechen notwendig pluralisch ist, fragmentarisch, fähig, jenseits von Vereinheitlichungen stets die Differenz zu behaupten« (ebd. 157f.). Batemans redundante Pseudo-Dialoge, die außer (Marken-)Namen kaum Informationen beinhalten, zeigen keinerlei Spuren eines solchen Sprechens mehr. Sie sind die musealen Ausstellungsstücke einer Wirklichkeit, derer die (uniformierten) Sprecher zwar Herr geworden sind, die aber nur noch als Leere des Verstanden-Habens fassbar wird. Der Anspruch des Verstehens wirft ethische Fragen auf. Das wird nicht nur im Roman sichtbar, darauf wurde und wird auch im germanistischen Kontext immer wieder verwiesen. Seit jedoch Fragen des Umgangs mit literarischen Texten im literaturdidaktischen Bereich fast ausschließlich unter den

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Vorzeichen eines kompetenzorientierten Unterrichts diskutiert werden,1 ist dieser Aspekt des Sprechens über Literatur fast gänzlich verschwunden. Dabei müsste eigentlich bereits das Wissen darum, dass Hermeneutik und Ethik in ihrer gesamten Geschichte in einem engen Zusammenhang gedacht wurden, die immense Bedeutung eines solchen Verstehens-Diskurses auch und gerade für das Unterrichtsgespräch verdeutlichen (vgl. Scholtz 2003, 138f.).2 Für den Literaturunterricht wäre wohl außerdem die Überlegung relevant, ob der Umgang mit dem Text nicht auch ein Paradigma dessen schafft, wie dem Fremden auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene begegnet wird. Ästhetisches Verstehen und psychologisches Fremdverstehen folgen zweifellos ihren je eigenen Gesetzmäßigkeiten. Dennoch scheint es mir einsichtig, dass ein Umgang mit literarischen Texten, der dessen unverständliche, spröde und widersprüchliche Komponenten dem eigenen Horizont assimiliert, anstatt dieses wirksam werden zu lassen, einen ethisch bedenklichen Weg beschreitet. Der Text als ein lebendiges, sinnstiftendes Gewebe, das nicht einfach in vorgefertigte Sprachstrukturen »rückübersetzt« werden kann, ist kein »Gegenstand«, mit dem zweckmäßig verfahren werden könnte, ohne dass dabei ethische Grenzen verletzt würden. Begriffe wie »Divination« und »Tact«, die Schleiermacher in die hermeneutische Diskussion eingebracht hat, weisen auf diesen Umstand hin

1 | Eine Ausnahme im literaturdidaktischen Bereich bildet hier der Kreis um Gerhard Härle, der sich um die Wiedereinführung des Gesprächs als Ort der hermeneutischen Auseinandersetzung im Literaturunterricht bemüht. Selbstverständlich wird in diesem Kontext auch immer wieder auf Schleiermacher Bezug genommen, der dem Gespräch eine so herausragende Rolle im hermeneutischen Prozess zumisst (vgl. etwa Härle, Steinbrenner 2010). Steinbrenner skizziert die Geschichte des Verstehensbegriffs im didaktischen Diskurs und konstatiert dabei nicht nur die konsequente Vermeidung einer Auseinandersetzung mit diesem Grundlagenbegriff des Fachs, sondern auch eine generelle Skepsis dem Verstehensbegriff gegenüber (vgl. ebd. 26ff.). Er führt die Randständigkeit der Versuche, Grenzen und Aporien des Verstehens in den literaturdidaktischen Blick zu nehmen und gerade diese als »Herausforderung, Aufgabe und besonderen Wert für die Literaturvermittlung« (ebd. 28) zu sehen, auf den derzeitigen Einfluss von Studien wie PISA zurück, die einer funktionalistischen Auffassung von Bildung Vorschub leisten. 2 | Bei Schleiermacher wird der Zusammenhang zwischen Hermeneutik und Ethik in Hinblick auf den historischen Kontext konstruiert, den man zu kennen habe, um einen Text zu interpretieren. Die Ethik wird so als eine Geschichtstheorie betrachtet, die hilft, den historischen Sub- beziehungsweise Kontext eines literarischen Textes besser zu verstehen. Ein Zusammenhang zwischen Hermeneutik und Ethik, wie ich ihn behaupte und wie auch Scholtz ihn herstellt, findet sich in Schleiermachers Schriften allerdings nur implizit wieder.

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(vgl. Schleiermacher 1977, 169).3 Der Schleiermacher-Experte Gunter Scholtz schreibt in Bezug auf den von Schleiermacher als selbstverständlich angenommenen Konnex zwischen Ethik und Hermeneutik: »Im Verstehen wird der Rede oder Schrift des Anderen die Ehre erwiesen, gehört und vernommen zu werden, und nicht nur als Kuriosum oder Reihe sinnloser Laute beziehungsweise Schriftzeichen, sondern als gemeinter und nachvollziehbarer Sinn, und damit als Äußerung der Vernunft.« (Scholtz 2003, 140) Damit ist allerdings auch bei Schleiermacher nicht gesagt, dass das Verstehen ein Prozess wäre, der jemals ein Ende finden könnte, denn auch wenn die Sprache aus der Gemeinschaft erwächst und in diesem Sinne als Möglichkeit zur Teilhabe am Kollektiven in jedem Menschen angelegt ist, schöpft die Sprache ihre Bedeutsamkeit doch nur aus der einzigartigen Ausdrucksweise des Individuums, deshalb gilt letztlich doch auch hier Wilhelm von Humboldts hermeneutischer Imperativ: »Die Unübertragbarkeit ist die Grenze der Gemeinschaft.« (Zit.n. Schleiermacher 1990, 25)4

3 | Was Schleiermacher »Tact« nennt und als die Fähigkeit zur (divinatorischen) Einfühlung in einen Text (Schleiermacher meint damit in erster Linie einen historischen Zeitpunkt und die Situation der Autorin) beschreibt, kehrt bei Gadamer als eine wesentliche, wenn auch schwer definierbare Voraussetzung für die Textauslegung wieder. Er verweist allerdings darauf, dass die Rede von einem solchen »Taktgefühl« im hermeneutischen Diskurs schon sehr früh geführt wurde. Konkret verweist er dabei auf J.J. Rambachs Institutiones hermenuticae sacrae aus dem Jahr 1723, wo dem Interpreten »subtilitas« abverlangt werde, wobei Gadamer das als einen Hinweis darauf versteht, dass die Auslegungskunst »Urteilskraft verlangt, die nicht wieder selbst durch Regeln gesichert werden kann« (Gadamer 1993a, 97). 4 | Schleiermachers Diktum, wonach der Interpret letztlich in der Lage sein müsse, den Text besser zu verstehen als die Autorin, ist als Antithese zu dieser immer wieder formulierten Grundüberlegung seiner hermeneutischen Schriften viel diskutiert worden. Ich kann dieser Diskussion nichts Wesentliches hinzufügen. Meiner persönlichen Einschätzung nach hat sich aber Schleiermacher hier lediglich auf die historische Dimension der Textauslegung bezogen, die die Rezipientinnen immer besser überblicken als der Schriftsteller selbst. Das hermeneutische Bemühen sollte dem gemäß auch die Rezeptionsgeschichte eines bestimmten Textes/einer Theorie umfassen und über den Zeitpunkt der Textentstehung hinausreichen. Das sagt nichts über die Vollkommenheit des Verstehens aus und steht daher für mich nicht in Widerspruch zum betreffenden Zitat.

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2.1 Pathos und responsive E thik bei B ernhard W aldenfels . A nsätze eines responsiven L iter aturunterrichts Wie sollte nun also eine Begegnung zwischen Text und Leser aussehen, die auf das Prinzip der Auslöschung alles Unzugänglichen verzichtet und dennoch »in der Gemeinschaft«, also kommunizierbar bleibt? Die Grundlagen eines solchen Herangehens an die Welt, die uns immer als ein Anderes, zum Teil sogar radikal Fremdes begegnet und der gegenüber wir uns dennoch nicht anders als verstehend verhalten können, wenn wir den Solipsimus nicht zur einzig möglichen Existenzform erklären, scheinen mir bei Bernhard Waldenfels theoretisch sehr klar, damit aber auch in all ihrer Abgründigkeit, gefasst zu sein. Ein zentrales Element seiner Ausführungen ist stets die Fähigkeit, dem Fremden unvoreingenommen zu begegnen. Eine Stelle aus J.M. Coetzees Roman Warten auf die Barbaren scheint mir sehr gut zu verdeutlichen, was diese Problematik ausmacht: »›Wenn du lernen willst, wie man es macht, frag deinen Freund mit den schwarzen Augen […] Aber wenn du mich lieben willst, musst du dich von ihm abwenden und anderswo lernen‹ […] wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre, hätte ich mir ein Jahr mit verwirrten und sinnlosen Gesten der Sühne ersparen können.« (Coetzee 1982, 249) Dieser vom Protagonisten imaginierte Dialog zwischen ihm und dem Mädchen, einer Gefangenen vom Stamm der »Anderen«, steht am Ende des Romans und fasst das Scheitern der Begegnung zwischen dem hohen Staatsbeamten, der seine Identität in der Gegnerschaft zu einem mehr oder minder unbekannten Feind – den »Barbaren« – begründet hat, und der Gefangenen noch einmal zusammen. Dem Magistraten wird am Ende klar, dass er nie dazu in der Lage war, das Mädchen als eine Fremde – und das bedeutet vor allem in ihrer Fremdheit – anzuerkennen. Seine vermeintliche Annäherung war lediglich ein Versuch, in sie einzudringen (sie zu »lesen«), um endlich verstehen zu können, was die Barbaren im Innersten ausmacht. Diesen Akt der Einverleibung kleidete er anfangs in das Gewand von Zuneigung, doch letztlich entlarvt sein Handeln den Ich-Erzähler als »Seinesgleichen«. Sein Volk aber wird im Roman von denjenigen repräsentiert, die das Mädchen foltern und seine Existenz auslöschen wollen, die sie bloß als ein für das Kollektiv stellvertretendes, nicht als ein individuelles Wesen anerkennen (der »Freund mit den schwarzen Augen« ist Oberst Joll, der stets schwarze Sonnenbrillen trägt). Der einzige Zugang zu dem Mädchen/zum Fremden, den der Magistrat finden kann, trägt ebenfalls gewaltsame Züge und so bleibt er am Ende – trotz aller Ereignisse, die ihn verändert haben – einsam zurück. Die Begegnung mit dem Fremden hat nie wirklich stattgefunden, die Leere, mit der das Mädchen stets in Zusammenhang gebracht wird, deutet darauf hin. Der Text wirft also die Frage auf, wie eine Begegnung aussehen müsste, von der am Ende etwas übrig bleibt, die sich

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also nicht in Wiederholungen des Ewig-Gleichen erschöpft und die existenzielle Einsamkeit erträglich macht, von der nicht nur bei Coetzee, sondern auch bei Schleiermacher, Heidegger, Gadamer, Derrida oder Waldenfels immer die Rede ist, wenn es um das Verstehen geht. Bernhard Waldenfels nähert sich einer Antwort(möglichkeit) auf diese Frage, indem er auf der irreduziblen Andersartigkeit des Fremden beharrt: »Fremdes ist nicht deshalb unvergleichlich, weil es ganz anders ist, sondern weil der Anspruch des Fremden sich jedem Ausgleich und Vergleich entzieht.« (Waldenfels 1997, 13) Ich schließe mich der, auf diesem Grundsatz auf bauenden Annahme Waldenfels’, dass das Fremde weder verstanden noch gelehrt werden kann, dass aber die Kultur eines Antwortens auf dessen Ansprüche etabliert werden kann und soll, an. Um überhaupt auf die Ansprüche des Fremden eingehen zu können, bedarf es gewisser Voraussetzungen. So wie nichts Fragliches auftaucht, wo alles beim Alten bleibt und sich kein Widerstand regt, ist der Umgang mit dem Fremden nicht aus der gewohnten Routine des Alltags ableitbar. Waldenfels zieht den Unfall im ersten Kapitel des Mannes ohne Eigenschaften heran, um seinen Gebrauch des Begriffs »Pathos« in diesem Zusammenhang zu beschreiben. Der Unfall reißt die Menschen, die direkt daran beteiligt sind oder als Vorbeigehende unwillkürlich zu einem Teil des Geschehens werden, aus ihren (Wahrnehmungs-)Gewohnheiten und Gewissheiten heraus. Ihren eigentlichen Intentionen stellt sich plötzlich etwas in den Weg, das weder vorhersehbar noch kontrollierbar ist (was natürlich in besonderem Maße für das Unfallopfer gilt, für alle weiteren Figuren dieser Szene jedoch ebenso, allerdings in abgeschwächter Form). Dieses Ereignis bezeichnet Waldenfels als prototypisch für alles, »was uns einfällt, auffällt, was sich aufdrängt, uns anlockt, abschreckt, auffordert, was uns verletzt, uns zu denken gibt und uns im äußersten Fall als ›denkendes Schilfrohr‹ vernichtet« (Waldenfels 2006, 41). All das also, was nicht auf eigenes Wollen und Planen zurückgeführt werden kann, fasst er unter dem Begriff des »Pathos« zusammen, den man auch als idealtypischen Ausgangspunkt einer jeden ästhetischen Betrachtung beschreiben könnte. Laut Waldenfels wird das Subjekt erst durch einen pathetischen Vorgang in seiner Autonomie in Frage gestellt, das heißt, es muss sich dem Geschehnis, von einer ichfremden Kraft (der eines Kunstwerks beispielsweise) affiziert worden zu sein, unterwerfen und ist in diesem Moment – alle positiven wie negativen Konnotationen dieses Ausdrucks miteingeschlossen – »von etwas getroffen«. Dieser Moment ist an sich noch nicht gut oder schlecht, er lässt viele Handlungsmöglichkeiten offen. Die meisten Figuren, die der Geburtsstunde des Mannes ohne Eigenschaften beiwohnen, lassen sich nicht lange aus ihrer Routine reißen. Der männliche Teil des Paares etwa, das den Unfall beobachtet hat, versucht die Geschehnisse in den Parametern Masse und Geschwindigkeit zu erfassen (vgl. Musil 1978, 11) und bringt das Ereignis somit wieder in eine bereits bekannte Ordnung. Re-

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gister, wie in diesem Fall die Statistik, mit deren Hilfe das Ungewohnte in die Bahnen des bereits Bekannten zurückgeleitet werden kann, stehen in großer Zahl zur Verfügung. Wer diese Register nutzt, fällt jedoch wieder zurück in die – für das alltägliche Handeln notwendige – Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen, lässt sich nicht wirklich »treffen« und ist somit auch nicht in der Lage, Sinn zu erfahren. Pathos hingegen, so Waldenfels, bedeutet immer einen Zugewinn an Wissen und Erfahrung, es ist »ein Lernen durch Leiden, nicht aber ein Erlernen des Leidens« (ebd. 42). Ein solches »pathetisches Erlebnis« liegt auch der ästhetischen Erfahrung zugrunde und bedingt die eine, nämlich vonseiten des Kunstwerks herkommende Unvorhersagbarkeit, Unberechenbarkeit und auch – was für die empirische Forschung im Bereich der Literaturdidaktik schließlich ganz wesentlich ist – auf eine indirekte, nachträgliche Art der Beobachtung reduzierte Zugänglichkeit des ästhetischen Rezeptionsprozesses.5 In der Auseinandersetzung mit Literatur eröffnet sich uns aber auch eine ungeheure Möglichkeit, denn es ist »die Sprache, die Erfahrung der Sprache – die Schrift – die uns anleitet, ein ganz anderes Verhältnis zu erahnen, ein Verhältnis der dritten Art« (Blanchot 1991, 131). Ein solches Verhältnis, das Blanchot als »neutral« bezeichnet, zeichnet sich dadurch aus, dass es weder das Eigene noch das Fremde privilegiert, sondern beides zueinander in ein nicht auflösbares und daher echte Dialogizität garantierendes Spannungsverhältnis treten lässt, das »nichts anderes ist als das Verhältnis selbst« (ebd. 133). Voraussetzung dafür ist bei Blanchot ebenso wie bei Waldenfels nicht die Herstellung von Nähe, sondern die Anerkennung der Distanz, einer unendlichen Distanz bei Blanchot, in der der Mensch »als absolut Anderer und radikal Fremder, als derjenige, der sich weder dem Selben ergibt noch sich in der Einheit der Einzigartigkeit ergeht« (ebd.), sichtbar wird. Das Fremde als Pathos verstanden, als etwas, das mein Ich in Frage gestellt, indem ich es erleide und nicht aktiv »bewältigen« kann, stellt eine massive Infragestellung des Bestehenden dar und provoziert somit in der Auseinandersetzung mit Literatur häufig die Reaktion einer Flucht zum Vertrauten. So ist auch das Projekt einer von Waldenfels vorgeschlagenen »responsiven Ethik«, die sich vom Moment des Pathos leiten lässt, eine herausfordernde Maxime. Den Begriff der Responsivität hat Waldenfels zwar nach eigenen Angaben in der Medizin und der nichtbehavioristischen Verhaltenspsychologie entlehnt (vgl. ebd. 57), er verweist aber auch auf den Bedeutungsumfang von »répon5 | Der pathetische Aspekt des Vorgangs dürfte übrigens sogar auf der Produktionsseite eine ganz wesentliche Rolle spielen. So äußern nicht nur Kinder bereits den Eindruck, dass sich ihre ästhetischen Erzeugnisse ganz von allein geschaffen hätten und erst nachträglich von ihnen mit Bedeutung versehen werden könnten, auch erfahrene Schriftstellerinnen äußern immer wieder den Verdacht, dass der Text sich weitgehend selbst hervorbringe.

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dre« im Französischen, der seiner Verwendung allerdings nicht in vollem Umfang entspricht. »Répondre« bedeutet Antworten, »répondre de« bedeutet, dass man sich für etwas oder jemanden verantwortet. Lévinas, der ebenfalls von einer radikalen Andersartigkeit des Anderen ausgeht, stützt sich auf diese doppelten semantischen Bezüge in seiner Arbeitssprache. Waldenfels hingegen definiert die Responsivität als eine »Antwortlichkeit«, die »der Verantwortung für das, was wir tun und sagen, unwiderruflich vorauseilt« (ebd.). Das »Ergreifen« einer Verantwortung ist für die Vorstellung, die Waldenfels bezüglich einer responsiven Ethik im Sinn hat, schon viel zu sehr von Aktivität geprägt. Antworten auf das Fremde bedeutet innerhalb seiner Theorie zuallererst ein Geschehen, das nicht bei sich selbst beginnt, und es bedeutet damit auch »den Verzicht auf ein erstes – und somit auch auf ein letztes Wort« (ebd. 65). Das Worauf des Antwortens, ist also im Kontext einer literaturwissenschaftlichen Hermeneutik der Text – er muss das Zentrum dieses Prozesses sein, nicht etwa das Antworten selbst oder die Generierung von Sinn. Man könnte die responsive Ethik vielleicht auch als ein gesteigertes Interesse am Fremden bezeichnen, das alles Eigene vergessen, vor allem die eigenen Ansprüche in den Hintergrund rücken lässt. Abgesehen davon, dass das Fremde ohnehin viel zu oft in erster Linie als kulturell Fremdes verstanden wird, ist von diesem Standpunkt aus betrachtet jede Aufforderung zu einem inter- oder transkulturellen Dialog fragwürdig. Dieser (Auf-)Forderung ist bereits ein zielgerichtetes Wollen eingeschrieben, das vor allem in didaktischen Modellen zu diesem Thema offensichtlich wird. Jenes »déreglement de sens«, das vom Pathos geleitete Prozesse auszeichnet, ist damit gar nicht mehr möglich, weil von vorne herein feststeht, wohin die »Begegnung« mit dem Fremden führen soll. Waldenfels betrachtet diese Problematik von der Instanz eines Dritten aus, mit der die des Fremden, im Falle eines bewusst herbeigeführten inter- oder transkulturellen Dialogs verschmilzt: »Angesichts eines unvordenklichen und unentrinnbaren Anspruchs des Fremden ist die Rede von einem interkulturellen oder gar transkulturellen Dialog mit einem großen Fragezeichen zu versehen.« (Waldenfels 1997, 123) Eine »responsive Ethik« lässt sich letztlich also nur durch das Paradoxon einer Antwort fassen, in der wir »geben, was wir nicht haben« (ebd. 53). Die Forderungen einer »responsiven Ethik« haben damit auch weitreichende Konsequenzen für einen Literaturunterricht, wie wir ihn heute kennen. Dieser liefert Interpretationsmodelle oder »Fragen zum Text« meist gleich mit, die unmittelbare Wirkung des Textes wird somit stark abgeschwächt, weil sie von Anfang an »gezähmt«, also in einen strukturellen Zusammenhang gebracht wird. Wollte man dem Text im Rahmen des Literaturunterrichts »Gerechtigkeit« widerfahren lassen, so müssten zuallererst diese antizipierten Antworten, die Fragen und Interpretationsansätze bereitstellen, beiseitegelassen werden. Sollte die Fremdheit des Textes als Kategorie des Literaturunterrichts

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anerkannt und erhalten werden, so müsste dieser die Stelle der Lehrperson (so wie wir sie heute kennen, als jene paradoxe Instanz also, die Fragen stellt und alle Antworten kennt) einnehmen dürfen und die Hierarchie des Unterrichts zumindest zeitweilig außer Kraft setzen. Der Text selbst müsste die einzige Frage sein, die im Raum steht, diese müsste hörbar werden (etwa durch lautes Vortragen) und sich aufdrängen dürfen, wofür die Stille, das bedeutet wiederum auch Zeit, eine bedeutende Rolle spielt. Dass diese zeitweilige Aufhebung der Autorität der Lehrperson aufrechtzuerhalten ist, ist unwahrscheinlich, abgesehen davon spricht gegen alle empirischen Erfahrungen des Unterrichtens, dass daraus Aufmerksamkeit gegenüber dem Text und Gerechtigkeit gegenüber seinen Ansprüchen erwächst. Die Phase jedoch, in der diese Hierarchie zugunsten des Textes aufgegeben wird, ist in einem responsiven Literaturunterricht unabdingbar und muss authentisch sein, das heißt, die Priorität des Textes müsste auch von der Lehrperson anerkannt werden. In weiteren Phasen des Unterrichts wäre es dann der Text, der mit seinen je eigenen Fragen im Mittelpunkt stehen bleibt, auch wenn eine Autorität den Diskurs, der sich dazu entwickelt, koordinieren und vor allem immer wieder an die literarische Vorgabe, aber auch an die Tradition, also sowohl die Rezeptionsgeschichte als auch überlieferte Modelle der Textauslegung, zurückbinden sollte. Dieser Punkt ist ganz wesentlich, weil er auch eine bestimmte ethische Komponente enthält, die den Umgang mit der Gewordenheit von Wissen und Meinungen (zu einem Text) betrifft. Die Rezeption eines Textes hat eine Geschichte, die der Lehrperson meist bekannt ist und auch von deren Perspektive geprägt ist. Die Interpretations- und Rezeptionsgeschichte eines Textes beeinflusst und verändert auch diesen selbst, wie man beispielsweise an religiösen Texten gut beobachten kann. Diese »Geister« eines Textes zu kennen, bedeutet nicht, sich diesen überlieferten Meinungen unhinterfragt anzuschließen. Fertige Antworten im Sinne von vorgegebenen Interpretationsmodellen und auf eindeutige Antworten abzielende »Leitfragen«, die den Zugang zum Text steuern, sind in einem Unterricht, der sich den Prinzipien der Responsivität verpflichtet fühlt, ohnehin kontraproduktiv, weil sie das, was wir nicht haben, zu wissen vorgeben. Die langfristigen Konsequenzen einer solchen Konditionierung von Schülerinnen auf »richtige« Antworten sind fatal und kommen einer Beschneidung der menschlichen Fähigkeit, den Dingen und vor allem den/dem Anderen Aufmerksamkeit entgegenzubringen und sich vom Erfahrenen einnehmen, mitreißen und verändern zu lassen, gleich. Die – sehr zeitintensive – Erfahrung, dass aus einem im ersten Moment überfordernden und befremdlichen Lektüreerlebnis Sinn erwachsen kann, wird Schülern heute kaum noch ermöglicht. Das liegt nicht so sehr an den Lehrerinnen, als vielmehr an der Struktur unseres Bildungssystems, das zunehmend als Ausbildungssystem verhandelt und in ein solches überführt wird. Jedes Tun verfolgt hier einen bestimmten, also klar benennbaren, Zweck. Die Kunst des (stets unzureichenden) Antwortens

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auf die Ansprüche eines unberechenbaren Fremden entspricht nicht der Logik eines solchen Systems, sie könnte diesem aber als systemimmanenter »Fehler« eingeschrieben sein. Diese Idee scheint mir vor allem angesichts der Tatsache realistisch zu sein, dass der Literaturunterricht den Rahmen des Lehr- und Überprüf baren, den die Institution Schule selbst darstellt, immer schon gesprengt hat. Aber nicht nur das: Die Literatur als letztlich in ihrer Wirkung unkontrollierbares und gegen jegliche Form der Einvernahme widerständiges Medium war immer schon der von diesem akzeptierte systemimmanente »Fehler«. Das bedeutet nicht, dass die Literatur jeden zweckgerichteten Unterricht unmöglich gemacht hätte, wie wir wissen, hat sie sich für die Etablierung und Festigung des Phantasmas eines nationalen Charakters sehr gut instrumentalisieren lassen. Dennoch wohnt der Literatur immer ein »revolutionärer« Kern inne, der sich dort finden lässt, wo der Sinn des Textes sich nicht in die eine Bedeutung überführen lässt und Zweifel an der Bestimmtheit und schließlich der Bestimmbarkeit der literarischen Aussage, einer jeden Aussage, dem Vorhandensein von »Wahrheit« aufkommen lässt. Dieses Potenzial wohnt jedem Literaturunterricht inne, selbst dem, der dazu anleitet, über den Text hinwegzulesen. Das System Schule hat diesen »Widerspruch[, der] im System selbst verankert ist« (Wintersteiner 2010a, 26) und auch als Korrektiv fungieren kann, immer verkraftet und das wird auch in Zukunft so sein. Ein Verzicht auf das sinnstiftende und utopische Potenzial, das die Literatur mit sich bringt, wäre hingegen kaum zu verkraften.

2.2 W ege zu einer R esponsiven D idak tik für den L iter aturunterricht Hermeneutische Überlegungen zum Wesen des Fremden und zu dessen Verbindungen zum Eigenen hat es in der Literaturdidaktik in den letzten Jahrzehnten vor allem im Kontext eines »interkulturellen« Literaturunterrichts immer wieder gegeben. Viele einschlägige Publikationen zum Thema haben allerdings nicht den Text und das poetische Verstehen ins Zentrum ihres Interesses gestellt, sondern das pädagogische Ansinnen, ein friedliches und konstruktives Zusammenleben der Kulturen in einer zunehmend globalisierten Gesellschaft zu ermöglichen. Dieses an sich sehr wichtige Anliegen geht mit dem Literaturunterricht und den kulturunabhängigen Ansprüchen literarischer Texte häufig eine unglückliche Synthese ein. »Les beaux livres sont écrits dans une sorte de langue étrangère« (Proust 1971, 299), schrieb Proust. Es ist eben jene über die kulturelle Dimension weit hinausreichende ästhetische Fremdheit jedweder Literatur, die gerade in Ansätzen, die das »kulturelle« Fremde in den Fokus stellen, oft in Vergessenheit gerät. Das in solchen Fällen häufig unhinterfragt bleibende Primat des Inhalts über die Form und die De-

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gradierung des Textes zu einem Trägermedium moralischer Botschaften hat das Stichwort »interkultureller Literaturunterricht« mit einer problematischen Konnotation versehen, gegen die man komplexere Konzepte von Fremdheit und literarisch vermittelter Kultur nur schwer zur Geltung bringen kann. Am Klagenfurter Institut für Deutschdidaktik haben wir bisher zwei Anläufe unternommen, das Thema »Weltliteratur« in einem Projekt mit Lehrerinnen sämtlicher Schultypen und Schulstufen empirisch zu erforschen. In beiden Fällen hat sich der interkulturelle Habitus der großteils sehr engagierten Lehrer als fast unüberbrückbare Hürde für die ästhetische Wahrnehmung der Texte erwiesen. Die Publikationen, die im Rahmen dieser Projekte entstanden sind, lassen diese Problematik deutlich erkennen (vgl. Wintersteiner 2010c). Es scheint fast, als habe das Interesse am »kulturell Fremden« jede andere Vorstellung von Fremdheit, die gerade in Zusammenhang mit Literatur augenscheinlich wird, vergessen lassen. Das problematische Potenzial, das die Engführung von Literatur und interkultureller Verständigung birgt, wird auch in Anbetracht der Geschichte der sogenannten »Migrationsliteratur« in den Literaturwissenschaften, sowie deren literaturdidaktische Rezeption, offensichtlich (vgl. ebd. 39f.). Fremd ist und bleibt der literarische Text dabei selbst innerhalb des eigenen Kulturkreises, alleine schon durch seine Sprache, die immer ihren eigenen und originären Gesetzmäßigkeiten folgt. So nimmt etwa Chiellini an, dass jede Schriftstellerin eine gewisse Fremdheit der eigenen Herkunftskultur gegenüber fühlt, und zwar unabhängig davon, wo diese zu verorten ist: »[…] denn auch ein deutscher Autor ist letztlich irgendwo fremd; wäre er nicht fremd, hätte er sich nicht auf dieses Abenteuer eingelassen zu schreiben.« (Amirsedghi 1997, 38) Mit der Nutzung des Textes für ein Ziel, das sich aus äußeren, also textexternen, Bedürfnissen oder Notwendigkeiten ergeben hat, gerät die Beziehung zu diesem in eine Schieflage. Den Spezifika des Literarischen und deren inhärenter Fremdheit ist auch Derek Attridges’ The Singularity of Literature gewidmet. Eines der Beispiele, an Hand derer er die Essenz des Literarischen zu beschreiben versucht, ist dabei das Gedicht The Sick Rose von William Blake. In Anlehnung an strukturalistische Positionen definiert Attridge es als einzigartig auf Grund der Anordnung von formalen und strukturellen, klanglichen und semantischen sowie inhaltlichen Elementen, die es in dieser Weise nirgendwo zuvor gegeben habe und nie mehr wieder so geben werde (vgl. Attridge 2004a, 65ff.). Die Aussage des Gedichts ist nicht in die Alltagssprache überführbar, sie kann mit anderen Worten nicht in »unsere« (gewohnte) Sprache übersetzt werden. Abgesehen davon gehören zur Rezeption dieses Gedichts auch eine bestimmte Gefühlslage, ein bestimmter Erfahrungshintergrund sowie eine Offenheit gegenüber dem fremden Laut- und Bedeutungsgebilde. Die Fremdheit des Gedichts wird in der Analyse als ein sprachliches Ereignis offensichtlich, das keine Bestäti-

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gung in außertextuellen Bezügen braucht. Insofern es in vieler Hinsicht von der Alltagssprache abweicht, deren »Material« aber verwendet, verfremdet und schließlich zu einem eigenen, einzigartigen Bedeutungsraum zusammenfügt, ist also jede Art von Literatur eine Mischung aus Fremdem und Vertrautem. Das Spiel mit verschiedenen Sprachen oder Motiven aus unterschiedlichen Kulturkreisen kann den Facettenreichtum eines Textes dabei erhöhen, es ist aber längst keine Garantie für ein erhöhtes Potenzial an Mehrdeutigkeit.6 Der Einsatz von literarischen Texten zu pädagogischen Zwecken aber muss dessen innere Gesetzmäßigkeiten, vor allem aber seine irreduzible Fremdheit schon aus der Logik des eigenen Vorhabens heraus ignorieren (vgl. Hunfeld 2004, 172f.). Als Kontrapunkt zu allem bisher Gesagten muss erwähnt werden, dass die inter- und transkulturelle Literaturdidaktik eine durchaus wichtige Aufgabe erfüllt, die hier keineswegs in Frage gestellt werden soll. Der Deutschunterricht war bis zum Ende des 20. Jahrhunderts einem Kanon verpflichtet, der sich aus dem Phantasma der nationalen Einheit heraus entwickelt hat. Zwar wurden die Klassiker anderer »Kulturnationen« hin und wieder in den Deutschunterricht miteinbezogen, aber an eine Auseinandersetzung mit Texten aus Afrika oder Asien war gar nicht zu denken. Die Kriterien für »gute« Literatur wurden aus den deutschsprachigen Klassikern abstrahiert und Texte, die an solchen Maßstäben nicht zu messen waren, wurden automatisch aus dem Lektürekanon ausgeschlossen. Es ist das Verdienst der inter- und transkulturellen Literaturdidaktik, diese verhärtete Sichtweise aufgeweicht zu haben und Texte, die entweder in anderen Kulturen entstanden sind oder auf einen zwei- oder mehrsprachigen Hintergrund der Autorin verweisen, in die Klassenzimmer gebracht zu haben. Im Rahmen der nun folgenden Ausführungen ist es mir leider nicht möglich, genauer auf die Konzeptionen des Fremden einzugehen, die sich innerhalb des Interkulturalitäts- und Migrationsdiskurses in der Literaturdidaktik entwickelt haben. Ich möchte meinen weiteren Überlegungen aber eine Art Bestandsaufnahme voranstellen, die eine (sehr selektive) Auseinandersetzung mit bereits entwickelten und zum Teil auch im Unterricht erprobten literaturdidaktischen Konzepten darstellt, die sich explizit mit den Verschränkungen zwischen Eigenem und Fremdem innerhalb des literarischen Rezeptionspro6 | Selbstverständlich soll damit nicht in Abrede gestellt werden, dass kulturelle Implikationen im Text, wie etwa die Bezugnahme auf bestimmte Erzählformen, Motive oder auch geschichtliche Ereignisse, eine ganz wesentliche Rolle für den hermeneutischen Zugang spielen. Die Unkenntnis solcher Zusammenhänge kann zu gravierenden Missverständnissen führen (vgl. Niederle 2009); die Fremdheit des Textes liegt aber weder in diesen begründet, noch erschöpft sie sich in ihnen.

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zesses beschäftigen. Dabei habe ich vor allem solche Ansätze ausgewählt, die für die Ausdifferenzierung meiner eigenen Kriterien und Begrifflichkeiten wesentlich waren. »Wesentlich« bedeutet dabei einerseits die Möglichkeit einer klaren Abgrenzung vorgefunden zu haben, andererseits auch die Orientierung an bestimmten Konzepten oder die Übernahme einzelner Theoreme.

2.2.1 Against Interpretation – Susan Sontag Susan Sontags Essay hat bis heute tiefe Spuren in den Literaturwissenschaften hinterlassen, deren Orientierung in Richtung kultur- und sozialwissenschaftlicher Theorie letztlich dem Einfluss einer radikalen Kritik an der hermeneutischen Praxis zuzuschreiben ist, wie sie Susan Sontag hier betrieben hat. Die breite Aufmerksamkeit, die dieser Essay auf sich gezogen hat, ist selbstverständlich nicht zuletzt dem provokanten Titel zuzuschreiben. Susan Sontag hat dabei nicht »gegen das Interpretieren« angeschrieben, was auch bedeutet hätte, dass sie zuallererst ihre eigenen (sehr zahlreichen) Literatur- und Kunstinterpretationen verwerfen hätte müssen. Das hat sie ebenso wenig getan, wie sie den verstehenden Zugang zu literarischen Texten an sich abschaffen wollte. Sontag übt vielmehr radikale Kritik an einer gängigen Interpretationspraxis, die sich nicht nur »am Primat des Inhalts« (Hecker 1998, 11), sondern vor allem an den Methoden einer Literaturkritik und Literaturwissenschaft orientiert hat, die sich aus Sontags Sicht unter dem Deckmantel des Dekonstruktivismus der Beliebigkeit verschrieben hat und paradoxerweise über den Umweg des »flottierenden« Zeichens erklärt, »that X is really – or, really means – A« (Sontag 1981, 5). Die Literaturwissenschaft, vor allem aber die mächtigere Literaturkritik erlaube sich, so Sontag, Zeichen zu verschieben, allerdings nicht dorthin, wo sie der Text führt, sondern ganz nach eigenem Gutdünken. Diese Ignoranz dem Text gegenüber entspricht jener »Bindung des Textes an das Meinen des Fragenden« (Waldenfels 2007, 135), die auch bei Waldenfels immer wieder kritisiert wird. »The interpreter, without actually erasing or rewriting the text, is altering it. […] he claims to be only making it intelligible, by disclosing its true meaning« (Sontag 1981, 6), moniert Sontag, wobei sie derartige Interpretation als eine Art Rache des rationalen Geistes an der Kunst betrachtet, die dessen Fähigkeiten übersteigt. Ähnlich argumentiert auch Adorno, wenn er sich um das »Rätsel« der Kunst besorgt zeigt, das durch die hermeneutische Interpretation zerstört werde (vgl. Adorno 1972, 193f.). Die Abschwächung der Sinneswahrnehmung in einer Gesellschaft, die ihr Erleben ununterbrochen am Superlativ ausrichtet und der diese Dominanz des Grellen von frühester Kindheit an als Normalität verkauft wird, ist unbestreitbar. Dennoch ist es Tatsache, dass eine gewisse Ignoranz dem originären Sinnsystem des jeweiligen Textes gegenüber nicht nur in dieser Abstumpfung zu suchen ist – diese hat vielmehr ein tiefer liegendes Fundament, das lange vor

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dem Entstehen einer allgegenwärtigen »Bespaßungsindustrie« gelegt wurde. Gerade in der Wissenschaft hat die bewusste Abkehr von der für Sontag so bedeutenden »sensory experience« als Teil des hermeneutischen Prozesses eine viel weiter zurückliegende Ursache, die in der Überhöhung des Geistes und der Ratio in der abendländischen Kultur zu suchen ist. Die Abwertung alles Körperlichen, die auch die Ablehnung des Inkommensurablen, der Kontingenz und letztlich der eigenen Sterblichkeit nach sich zieht, hat eine lange Geschichte, mit der sich beispielsweise Adorno und Horkheimer in einem Entwurf, der den Titel »Interesse am Körper« trägt, ausführlich beschäftigen: »Der Körper wird als Unterlegenes, Versklavtes […] verhöhnt und gestoßen und zugleich als das Verbotene, Verdinglichte, Entfremdete begehrt. Erst Kultur kennt den Körper als Ding, das man besitzen kann, erst in ihr hat er sich vom Geist, dem Inbegriff der Macht und des Kommandos, als der Gegenstand, das tote Ding, ›corpus‹ unterschieden.« (Horkheimer, Adorno 2004, 246) Diese Degradierung alles Körperlichen zu einer verachtungswürdigen Nebensächlichkeit, liegt der Aufwertung und Überhöhung der Verstandeskräfte zu Grunde, die so weder eine Grenze (die des Fremden) noch eine Einschränkung (die Perspektivierung, die allem Leiblichen eignet) akzeptieren. Die Postmoderne hat diese Arroganz des Verstandes zunichte gemacht, doch die sinnliche Erfahrung und die damit verbundene unvoreingenommene und unmittelbare Aufmerksamkeit dem Fremden (des Textes) gegenüber hat in vielen Disziplinen nur eine geringe Aufwertung erfahren. In der Literatur kann der wissenschaftliche und literaturkritische Mainstream heute also keine Wahrheit mehr finden, dafür lassen sich Texte beliebig verwenden, um bestimmte Meinungen, Ideen und Ideologien zu vermarkten. Susan Sontag stellt dieser Konsumation und Vermarktung von Literatur die Forderung entgegen, Texte »within a historical view of human consciousness« (Sontag 1981, 7) zu lesen. Interpretation in der heutigen Zeit sei aber ein reaktionärer Vorgang, der das Werk auf seinen Inhalt reduziere und Kunst »managable and comfortable« (ebd. 8) mache. Dabei gäbe es mehr oder weniger »kooperative« Autorinnen, ja sogar solche, die auf ihrer besonders hohen Kooperationsbereitschaft mit einer derartigen Literaturkritik ihren Ruhm begründet hätten. Man könnte Susan Sontags Essay nun einfach damit abtun, dass seine Entstehung lange zurückliegt und sich inzwischen Vieles verändert hat. Die grundlegende Kritik trifft aber auch heute noch zu: Die Notwendigkeit der Selbstvermarktung von Autorinnen über die Medien war noch nie zuvor so stark gegeben, der Aufstieg und Fall von Schriftstellern hängt zu oft von einer wohlwollenden oder vernichtenden Kritik ab, als dass deren literarisches Schaffen immer ganz unbeeinflusst davon sein könnte. Und die Kritik des Feuilletons folgt nicht in allen, wohl aber in den meisten Fällen einer gewissen

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Mode, der gemäß der Text wenig, die Deutungsmacht hingegen so gut wie jede Autorität hat. »In place of hermeneutics, we need an erotics of art« (ebd. 14) – mit dieser Forderung endet Against Interpretation. Noch einmal wird hier deutlich, dass es eben nicht jedwede, sondern eine ganz bestimmte Form der Interpretation ist, gegen die sich ihre Aussagen richten. Die Begegnung mit dem Kunstwerk, für die Sontag plädiert, entspricht in vieler Hinsicht der Forderung nach »Pathos«, die Waldenfels im Umgang mit dem Fremden an sich und in der Betrachtung von Kunst im Besonderen stellt. Sowohl der Begriff »erotics of art« als auch der Sprachgebrauch Waldenfels’ in Zusammenhang mit dem pathetischen Erleben, weisen darauf hin, dass die Einbeziehung der leiblichen Wahrnehmung eine wesentliche Komponente der »Auslegekunst« ist. Dies stellt insofern eine besondere Provokation dar, als gerade die Wissenschaft immer schon darum bemüht war, die unkontrollierbaren und nicht-objektivierbaren Komponenten der menschlichen Existenz zu minimieren. Auch die Hermeneutik war lange Zeit – wie man an Gadamers Wahrheit und Methode noch deutlich erkennen kann – eine Wissenschaft, die den Menschen aus der leiblichen Beschränktheit seines individuellen (körperlichen) Daseins in die geistige Traditionslinie des Kollektivs erheben wollte. Die Miteinbeziehung des Leibes in das Denken des Wahrnehmens und Verstehens setzt der Allmacht-Phantasie des Menschen über seinen Geist ein Ende und sie gibt – was heute noch viel wichtiger ist – dem literarischen Text eine gewisse Autorität über die Deutungsmacht der Rezipientinnen wieder. Man mochte unter der Vorherrschaft der Vernunftmaxime noch so darum bemüht sein, das negativ konnotierte Fremde zu beseitigen, die leibliche Erfahrung, die mit der Rezeption von Kunst unweigerlich verbunden ist, war diesem Fremden immer schon ausgesetzt und unauflöslich in dieses verwoben: »Der ›eigene Leib‹ ist von Beginn an von Fremdheit durchsetzt, angefangen mit der Geburt, die immer schon geschehen und nie abgetan ist, sich wiederholend mit jeder Wiedergeburt, in der das Leben sich erneuert.« (Waldenfels 1999, 51) Man ist »der Welt bewusst durch das Mittel des Leibes« (Merleau-Ponty 1966, 106), wie Maurice Merleau-Ponty treffend formuliert hat, und das bedingt eine Relativierung des eigenen Standpunkts. Phantasmen von der eigenen Allmacht oder Allwissenheit sind aus dieser Perspektive nur um den Preis der Verleugnung möglich. Der Blick des Auges, der mir »ein Gesichtsfeld erschließt, ist nicht Teil des Gesichtsfeldes« (Waldenfels 1999, 24), das Sehen also ohne blinde Flecken nicht zu denken. Die Leiblichkeit veranlasst uns dazu, »Fremdheit nicht zu denken als das, was uns noch nicht bekannt und noch nicht verständlich ist, sondern als das, was sich als Fernes, Abwesendes zeigt, was da ist, indem es sich unserem Blick entzieht, was ›leibhaft abwesend‹ ist« (ebd. 29). Die Beschränktheit der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit und ihre Infragestellung durch den Perspektivenwechsel, den das ästhetische Erlebnis bedingt, ist also unabdingbare Grundlage für eine

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Begegnung mit dem Fremden, die dieses bestehen lässt und als solches akzeptiert. Eine in diesem Sinne verstandene »Hermeneutik des Fremden« erklärt das Staunen, nicht das durchdringende Verstehen, zu ihrer Grundlage und schafft damit völlig veränderte Bedingungen für die Deutung von Literatur und die Begegnung mit dem Fremden in einem noch umfassenderen Sinn. Ein solcher Umgang mit dem Text und dem Fremden muss behutsam kultiviert werden und zwar dort, wo die Annäherung an Literatur eingeübt und verhandelt wird, also in unseren Bildungsinstitutionen.

2.2.2 Klaus Maiwalds Konzept zur Aneignung literarischer Alterität und die Wahrnehmung des poetisch vermittelten Anderen bei Ulf Abraham Die deutschsprachige Literaturdidaktik hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit dem Thema Fremdheit vor allem dann explizit beschäftigt, wenn es um kulturelle Fremdheitserfahrungen ging, die in einer immer stärker von Migrationsbewegungen geprägten Welt schließlich auch die Realität der Klassenzimmer verändert hat. Das war eine notwendige, wenn auch gerade im Sinne der Anerkennung eines irreduziblen Anderen nicht immer hilfreiche Entwicklung. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Thema Alterität hat es zu Beginn des 21. Jahrhunderts einerseits in den Arbeiten von Klaus Maiwald gegeben, andererseits in einigen einzelnen Arbeiten anderer Autoren, die leider zu keinem Ganzen gebündelt wurden. Hier sind vor allem Arbeiten Ulf Abrahams erwähnenswert. Zudem ist auch die Arbeit des Heidelberger Kreises anzuführen, der seine Forschungsarbeiten im vergangenen Jahrzehnt vor allem der Etablierung des Literarischen Unterrichtsgesprächs gewidmet hat. In den Publikationen des Heidelberger Kreises um Gerhard Härle kommt der Begriff Alterität zwar selten vor, dennoch entsprechen die Arbeiten, die in diesem Kontext entstanden sind, dem Anspruch einer Auseinandersetzung mit dem Anderen (das im Gespräch einerseits als reales Gegenüber, andererseits als textuelles Gewebe vorhanden ist) als einer Form der Fremd-Begegnung, die das Eigene auf unvorhersehbare Weise zu verändern imstande, aber dennoch niemals vollständig (er)fassbar ist. Auf diese gemeinsame Grundlage all derer, die sehr unterschiedliche und oft auch divergierende Zugänge zum Literarischen Unterrichtsgespräch entwickelt haben, verweisen auch Steinbrenner und Härle im Vorwort des Sammelbandes Kein endgültiges Wort, wenn sie die »glückende literarische Erfahrung« (Härle, Steinbrenner 2010, 12) mit Jürgen Belgrad als »das spezifische Verhältnis des Kunstrezipienten […] [beschreiben], sich gewaltlos an das Kunstwerk zu verlieren, in ihm aufzugehen, sich ihm hinzugeben« (Belgrad 1996, 95; zit.n. ebd.). Das Thema der Fremdheit war also innerhalb der Literaturdidaktik zumindest im Kontext des Literarischen

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Gesprächs in letzter Zeit durchaus präsent, wobei jedoch die Wechselwirkungen zwischen Eigenem und Fremdem hier selten explizit besprochen wurden. Eine Fokussierung auf Fragen des Eigenen und Fremden in Zusammenhang mit literarischen Rezeptionsprozessen hat im deutschsprachigen Raum – abseits der inter- und transkulturell orientierten Literaturdidaktik – vor allem in den Arbeiten von Klaus Maiwald stattgefunden. Bereits im Jahr 1999 hat Maiwald unter dem Titel Literarisierung als Aneignung von Alterität einen literaturdidaktischen Ansatz vorgeschlagen, der der Förderung literarischer Verstehensprozesse ebenso dienlich sein sollte wie der Steigerung der Lesemotivation. Genau genommen scheint mir der Wunsch, Kinder und Jugendliche trotz zahlreicher anderer medialer Angebote weiterhin für das Buch zu interessieren, Maiwalds eigentliches (und zweifellos wichtiges!) Anliegen zu sein. Auch wenn ich die kulturpessimistischen Einschätzungen über die Folgen einer Entwicklung, die vom Buch weg und zu anderen Typen der Mediennutzung hin führt, nicht teile,7 so ist das Anliegen, die ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen zu verbessern, sicherlich von grundlegender Bedeutung. Nichtsdestotrotz kommt in Maiwalds Abhandlungen zum Thema Alterität/Literarisches Lernen/Leseförderung8 ein Problem zum Tragen, das gerade in dieser versuchten Engführung zwischen Leseförderung und Literaturdidaktik zu wurzeln scheint. Maiwald bekennt sich offen dazu, Schülern den Zugang zu literarischen Texten »erleichtern« zu wollen, wobei er diese Zugänglichkeit über die »Aneignung« von Alterität erreichen zu können hofft. Zwar spricht auch er sich deutlich gegen die Annahme einer »einzig richtigen Lektüre« aus, wie sie oft genug in klassischen Interpretationen ge7 | Fragwürdig scheinen mir vor allem Maiwalds Rückschlüsse, die von der Lesesozialisation auf soziale Kompetenzen und die Entwicklung einer gefestigten Persönlichkeit mit hoher Ambiguitätstoleranz gezogen werden. Besonders Studien wie jene von Wardetzky gehen meines Erachtens nach von Voraussetzungen aus (»Leseland« DDR versus »Kabelfernsehland« BRD), die bereits starke Wertungen enthalten, denen die – ebenfalls fragwürdige – Auswertung der Studienergebnisse dann nur noch »Recht gibt« (vgl. Maiwald 2001, 8ff.). Mir scheint hier die Unterstellung, ein besserer Leseunterricht brächte auch »bessere« Menschen hervor, mitzuschwingen, die ich für äußerst problematisch halte. 8 | Damit nehme ich vor allem Bezug auf die beiden Monographien Maiwald 1999 und Maiwald 2001. Die theoretischen Grundlagen seines Ansatzes sind in der 1999 erschienenen Publikation mit dem Titel Literarisierung als Aneignung von Alterität umfassender dargelegt, ebenso wird die Positionierung innerhalb bestehender literaturdidaktischer Ansätze hier vorgenommen. In diesem Kapitel beziehe ich mich dennoch größtenteils auf die später erschienene Publikation, weil diese genauer auf die Verwendung der Texte im Unterricht und deren Ergebnisse eingeht, wodurch der hier vertretene Alteritätsbegriff in seiner ganzen Problematik offensichtlich wird.

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fordert und behauptet wird, jedoch tritt er für eine Abschwächung jener Alteritätserfahrung ein, die das Lesen komplexer literarischer Texte erst einmal bedeute (Maiwald 1999, 234). Folglich kommt es in seinen Publikationen zum Thema – vor allem in den praxisnahen Teilen – auch immer wieder zu Formulierungen, in denen das Fremdheitspotenzial des Textes auf den Begriff eines »Alteritätsproblems«9 (Maiwald 2001, 38) gebracht wird, das durch »Aneignung« behoben werden könne. Dabei erweist es sich als verhängnisvoll, dass Maiwald den Alteritätsbegriff an sich theoretisch nur unzureichend definiert. In seiner insgesamt rund 400 Seiten umfassenden Monographie zum Thema Alterität und Literarisierung sind der »Erfassung von Alteritätsparametern« nur wenige Seiten gewidmet, in denen kaum Bezugnahme auf Sekundärliteratur erfolgt (vgl. Maiwald 1999, 160ff.). Einzig das Modell von Ladenthin wird erwähnt, dann aber »im Hinblick auf die Planung von Literaturunterricht [als] zu abstrakt« (ebd. 161) abgelehnt. Schließlich erfolgt eine Auflistung des Autors selbst, die allerdings hauptsächlich sprachlich-ästhetische »Alteritätsparameter« literarischer Texte betrifft und keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Nicht nur die außertextuellen Parameter – etwa das, was bei Waldenfels unter den Begriff der strukturellen Fremdheit fällt – werden hier weitgehend ausgeblendet, die Kategorie einer »radikalen Fremdheit« wird noch nicht einmal in Betracht gezogen. So entsteht eine Auflistung von »Parametern«, die zweifellos an literarischen Texten nachweisbar sind, über deren tatsächliches »Alteritätspotenzial« (fraglich ist allerdings auch, ob sich von einem solchen überhaupt sprechen lässt) aber keineswegs Auskunft geben können. Maiwalds eigene Annahmen darüber, was bei den Schülerinnen auf Widerstand und Ablehnung stoßen könnte, werden folglich unter der Hand zu objektiven Parametern, über die längst nicht nur das Maß an intratextueller Alterität bestimmt wird, sondern auch ungesicherte Urteile über das Alteritätsempfinden der Schülerinnen und deren Beurteilung des Textes getroffen werden. Das wird vor allem an Hand der Beispiele sichtbar, die Maiwald auch im Unterricht erprobt hat. Hier geht es etwa um die Lektüre inhaltlich-thematisch einander ähnlicher Bücher, von denen jeweils eines ein »höheres Alteritätspotenzial« aufweise, das andere ein entsprechend geringeres. Als »Alteritätspotenzial« wird hier vor allem der ästhetische Anspruch des Textes bezeichnet, wobei die Aussagen der Schülerinnen deutliche Hinweise darauf liefern, dass Maiwalds Annahmen so nicht stimmen. Der Schüler Gerber etwa wird durchwegs als interessanter empfunden als der angeblich »leichter« verständliche Text Die Sache mit Christoph, der – dem Schema klassischer Problemtexte der 9 | An anderer Stelle ist bei Maiwald auch von »Alteritätsüberschüssen« des Textes die Rede, die die Schülerinnen zu »bewältigen« hätten (vgl. Maiwald 2001, 120). Die durchgehend negative Konnotierung des Alteritätsbegriffs, dessen Bedrohlichkeit durch »Aneignung« gemildert werden sollte, betrachte ich als sehr problematisch.

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Jugendliteratur folgend – die Vorgeschichte eines Schülerselbstmords schildert. Charakteristisch für diesen Text ist die Explizitheit, in der die Ereignisse und Motivationen der handelnden Figuren geschildert werden, so dass es am Ende so aussieht, als gäbe es selbst für den Suizid eine plausible Erklärung. Die Tatsache, dass den Schülerinnen ein solcher Text mehrheitlich langweilig erscheint, dürfte wohl nicht nur, wie Maiwald mutmaßt, in der Fernseh- und Videospiel-induzierten (Sehn-)Sucht nach ständiger Höchstspannung zu finden sein (vgl. ebd. 132f.), sondern vielleicht in eben jener Darlegungsneurose jugendliterarischer Texte, von der auch Die Sache mit Christoph stark gezeichnet ist. Wenn Maiwald angesichts der größtenteils stereotypen Figurenzeichnung von einer »Reduktion des Alteritätspotenzials« (vgl. Maiwald 2001, 103) spricht, so hat das mit Alterität im Sinne einer Erfahrung des Fremden nichts mehr zu tun. Das weitgehend sehr simpel gezeichnete Figureninventar lässt vielmehr eben jene Realitätsnähe vermissen, die Maiwald zuvor als Signum eines Lektüreerlebnisses betrachtet hat, das angeblich besonders nahe an der Alltagserfahrung der Schüler sei (vgl. ebd. 104). Maiwalds Vorannahmen über die beiden Texte strukturieren seinen Umgang mit diesen, denn, wie er selbst anmerkt, sind bereits die ersten Fragen zum Text Die Sache mit Christoph keineswegs offen formuliert. Formulierungen wie »Würdest du dich um Christophs Freundschaft bemühen?« oder »Würdest du bei einer Klassensprecherwahl für Christoph stimmen?« (ebd. 121) legen nicht nur eine »emphatische Rezeption« (ebd. 122) nahe, sie lassen den Schülerinnen de facto gar keine Wahl mehr, sie müssen den fiktiven Charakter des Textes ignorieren, um Antworten finden zu können. Die »mimetisierende Leseweise« (ebd.), die die Schülerinnen hier vollziehen, ist also nicht weiter verwunderlich und kann wohl kaum als Beweis für eine tatsächlich empfundene Nähe zum Text herangezogen werden. Die suggestive Kraft, mit der hier einem Text, der die Wahrnehmung seiner Leserinnen ohnehin stark einengt, sein ästhetisches Potenzial genommen wird, ist für einen Unterricht, in dem die Kategorie der Alterität nicht differenziert genug wahrgenommen wird, typisch. Ebenso bezeichnend ist, dass dieser Umgang mit der Fiktionalität des Textes auch auf den »schwierigeren« Text übertragen wird, wo sie sich in der Aufgabenstellung, das »weitere Leben« von Lisa Berwald zu beschreiben, wiederfindet (ebd. 141). Wie Maiwald anmerkt, hat ein Großteil der Schülerinnen den weiteren Lebensverlauf Lisa Berwalds negativ geschildert, wobei er das als einen Hinweis darauf deutet, dass sie »die Textdaten über die Figur realisiert« (ebd.) hätten. Bereits der Ausdruck »Textdaten« demaskiert die Annahme, die hinter einem solchen interpretativen Zugang steckt und – entgegen Maiwalds theoretischer Positionierung gegen eine »einzig richtige Interpretation« – doch vom Vorhandensein semantisch eindeutiger Informationen im Text ausgeht. Alterität bleibt in diesem Kontext in all ihren unterschiedlichen Facetten immer nur ein Durchgangsstadium, das letztlich, über den Umweg »eindeutigerer« Texte,

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zu einem gesicherten Lektüreergebnis führt. Semantische Mehrdeutigkeit wird also letztlich in Wissen überführt, sogenannte »Textdaten« werden in zugängliche Informationen verwandelt. Die Rede von der »Aneignung« der Alterität ist in diesem Sinne mit all ihren höchst problematischen Implikationen durchaus gerechtfertigt. Es sei unbestritten, dass man aus solchen Textzugängen einen Unterricht entwickeln kann, der den Schülerinnen das Gefühl vermittelt, hier sei man von einem verunsichernden oder verstörenden Leseerlebnis zu einem abgesicherten »Verständnis« gelangt. Möglich ist allerdings auch, dass man gerade damit eine gelingende – und das bedeutet vom NichtVerstehen ausgehende – ästhetische Alteritätserfahrung untergräbt. Weshalb ein solches Lektüreerlebnis von den Schülern später auch außerhalb des schulischen Rahmens angestrebt werden sollte, bleibt fraglich.10 Die von Maiwald so bezeichnete »Reduktion von Alterität« scheint mir letztlich auf eine Auslöschung der Fremdheitserfahrung hinaus zu laufen, die jede gute ästhetische Erfahrung mit sich bringt und die gleichzeitig deren Gratifikation ist. Diesen Zusammenhang erlebbar zu machen, wäre nun aber gerade das Bestreben eines responsiven Literaturunterrichts. Eine an Maiwald anknüpfende, aber sich nicht in dessen Positionierung dem Fremden gegenüber erschöpfende Publikation von Ulf Abraham scheint mir in diesem Zusammenhang sehr erhellend. In dieser untersucht Abraham die Möglichkeiten und Beschränkungen des Literaturunterrichts, was die Ausbildung der Fähigkeit, »das a/Andere W/wahr[zu]nehmen« betrifft. Dabei spielt der Begriff der ästhetischen Wahrnehmung eine große Rolle, die als ein »sich Ereignendes« verstanden wird, das von der literarischen Erfahrung ausgelöst werden kann und als eine Aufforderung »diesseits (oder, wenn man will, jenseits) der Begriffe, mit deren Hilfe wir uns im Alltag pragmatisch die Welt einteilen und erklären« (Abraham 2000, 11), wirksam wird. Unter Bezugnahme auf Wiater geht Abraham davon aus, dass ein solches Erlebnis, wenn es denn von der Literatur in Gang gesetzt werden kann, durchaus in der Lage ist, spezifische Formen der Bedeutungserzeugung und Sinnbildung anzuregen. Die vom Text ausgehenden »Anmutungen«, die ein solcher Ästhetik-Begriff 10 | Maiwald hat in einigen Klassen, mit denen er an Texten gearbeitet hat, im Anschluss an die Unterrichtsphasen Fragebögen verteilt, die das private und schulische Leseverhalten der Schüler erfassen und mögliche Synergieeffekte sichtbar machen sollten. Ein für Maiwald erstaunliches Ergebnis war, dass selbst ein als positiv erlebter Literaturunterricht die private Lesemotivation offensichtlich nicht zu steigern imstande war (vgl. Maiwald 1999, 294ff. und Maiwald 2001, 171f.). Es wäre vermessen zu behaupten, man würde den Grund dafür kennen, aber dieses Ergebnis lässt zumindest die Frage zu, ob das nicht weniger mit der Art der Vermittlung, als vielmehr mit der in diesen Modellen implizit transportierten Aussage darüber, was Literatur sei und leisten könne, in Zusammenhang steht.

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meint, haben mit der traditionellen Wahrnehmung des (und der Suche nach dem) Schönen nicht mehr viel gemein. Das ästhetische Erleben kann vom Schönen wie vom Hässlichen gleichermaßen hervorgerufen beziehungsweise gelenkt werden, und es dient als Ausgangspunkt einer oft gerade sprachlich schwer fassbaren Widerfahrnis von Bedeutsamkeit, wie sie etwa durch imaginative Eindrücke erreicht werden kann (vgl. ebd. 12 und 20 sowie Kapitel 4.3.2.4). Abraham stellt weiter fest, dass das »Fremde, als das uns der Text zunächst gegenübersteht, […] im ästhetischen Prozess gleichsam herübergesetzt in Eigenes« (ebd. 15) werde, wobei diese Aussage einerseits zu einem gewissen Teil unzweifelhaft richtig ist, andererseits auch leicht missverstanden werden kann. Wenn diese Seite des Interpretationsprozesses – also jene, die vom Eigenen her kommt und seine Dominanz bis zum Ende hin behauptet – als vorrangig betrachtet wird, dann ist die Gefahr einer maßlosen Extension des Eigenen ins Fremde groß. Cornelia Rosebrock nimmt auf diese häufig anzutreffende Grundannahme der Deckungsgleichheit zwischen einem bekannten Eigenen und einem lediglich verdrängten Fremden Bezug und macht auf die Brutalität eines solchen Denkens aufmerksam: »Dieses Verständnis von Alterität ist zwar seit der politischen und sozialen Konjunktur des Themas gang und gäbe, aber es ist bei näherer Betrachtung ungeheuerlich: Es beinhaltet schon in der Begrifflichkeit einen identifizierenden Zugriff mit dem Gestus des Totalitären, der Auflösung des Anderen im Eigenen.« (Rosebrock 2001, 85) Abraham ist sich dieser Gefahr bewusst und stellt – bei all dem Interesse, das er an den subjektiven und subjektzentrierten Aspekten des Interpretationsprozesses hat – dem Einfluss des Eigenen immer wieder die unberechenbare Macht des Fremden im literarischen Text und seine Wirkung auf die Rezipientin gegenüber. Bei Maiwald hingegen scheinen mir einige Thesen über die mögliche Zugänglichkeit des Fremden einen (vom Autor unbemerkten) Widerspruch zu einer von ihm vertretenen ethischen Haltung darzustellen, die darum bemüht ist, sowohl dem Text als auch dem realen Anderen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Abraham hingegen erklärt die Bereitschaft zu einer tatsächlichen »Fremderfahrung« in der Auseinandersetzung mit dem Text zu einer »literarischen Kompetenz« von höchster Priorität: »Die Fähigkeit und Bereitschaft, sich irritieren zu lassen, ist für mich geradezu der Gradmesser ästhetischer Erfahrung im Literaturunterricht.« (Abraham 2000, 17) Rosebrock betont ebenfalls die Bedeutung einer solchen Erfahrung der Irritation durch den Text und erwähnt noch eine andere wesentliche Facette des Lektüreprozesses, nämlich die einer vollständigen Einlassung auf eine fremde Perspektive (zumindest) für die Dauer des Lektüreprozesses. Dieser brächte »die Abwesenheit des Selbstbewusstseins und die Anwesenheit des Anderen für das Wahrnehmungsbewusstsein« (Rosebrock 2001, 85) mit sich, was einer temporären Vorherrschaft des Fremden über das Eigene gleichkäme. Diese Erfahrung in das Bewusstsein der Rede, die sich über den Text äußert, oder das Bewusstsein des

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Schreibens, das ebenfalls eine Außenperspektive auf den Text und die Lektüreerfahrung erfordert, mitzunehmen, ist, aus rezeptionsästhetischer Perspektive betrachtet, das Ziel des responsiven Literaturunterrichts.

2.2.3 Konzepte der Transversalität und Transkulturalität nach Wolfgang Welsch und Werner Wintersteiner Der Begriff der Transkulturalität hat sich in der Muttersprachdidaktik noch nicht in dem Maße durchgesetzt, wie das in der Fremdsprachendidaktik der Fall ist, aber er wird immer öfter als Gegenmodell einer interkulturellen Literaturdidaktik angeführt. Die grundlegende Konzeption der Transkulturalität (noch ohne didaktische Bezüge) stammt von Wolfgang Welsch, die seinerseits wiederum auf philosophischen Modellen auf baut, wie sie etwa Lacan, Deleuze oder auch Derrida in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt haben. Ähnlich wie Luce Irigaray bezieht sich aber auch Welsch in Anwendung seiner eigenen wissenschaftlichen Maximen nicht nur auf jene Theorien, die seinem Konzept einer »transversalen Vernunft« Vorschub leisten, sondern vollzieht einen Durchgang durch die gesamte Geschichte der abendländischen Philosophie, aus dem heraus sich sein eigener Standpunkt langsam entwickelt. Die Spuren der »anderen« Thesen sind in seiner Theorie der Transkulturalität enthalten – insofern zeichnet sich seine wissenschaftliche Vorgehensweise durch die besondere Fähigkeit aus, einander scheinbar widerstrebende und feindselig gegenüberstehende Diskurse teils zu einer Synthese zu bringen, teilweise aber auch in ihrer (unüberbrückbaren) Differenz nebeneinander bestehen zu lassen. Diese Art des nicht-essentialistischen, verschränkenden Denkens und Handelns betrachtet Welsch als eine grundlegende Notwendigkeit des zeitgenössischen wissenschaftlichen Denkens.11 Zunächst möchte ich auf Welschs Grundlagentext Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft eingehen, weil ich hier ein klar umrissenes Konzept der dialektischen Beziehung zwischen Eigenem und Fremdem gefunden zu haben meine. Selbstverständlich lässt sich der Gehalt dieses Buches im Rahmen dieser Ausführungen nicht annähernd erschöpfend behandeln, folglich werde ich mich auf jene Punkte konzentrieren, die ich im Zusammenhang mit dem Thema (literarische) Fremdheit als besonders wesentlich erachte. In den meisten Texten, die sich den wissenschaftlichen Strömungen des Vernetzungs- und Verschränkungsdenkens gegenüber zustimmend äußern, findet man als Gegenmodell einer »alternativen«, also beispielsweise dekonstruktivistischen, Auffassung einen instrumentellen Vernunftbegriff vor. 11 | Zur berechtigten Kritik an Welschs umfassender Ausblendung der gewalt- und konfliktreichen Seite transkultureller Entwicklungen siehe Wintersteiner 2010b, 36f.

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Dieser wurde von Adorno und Horkheimer in Dialektik der Auf klärung unter Bezugnahme auf mythologische Beispiele entwickelt und zum einzigen Vernunft-Paradigma der abendländischen Kultur erklärt. Welsch fängt mit seinen philosophischen Dekonstruktionen nun aber ausgerechnet bei der Dialektik der Auf klärung an. Er setzt der Odysseus-Interpretation Horkheimers und Adornos seine eigene Lesart entgegen, die einen anderen als den instrumentellen Vernunfttypus in diesem Urtext der abendländischen Literatur ausmacht: »Die Vernunft des Odysseus ist nicht, wie die Autoren sie konstruieren, eine kompromisslose Zielvernunft, sondern eher – die nautischen Manöver wären ernst zu nehmen – eine Art Manövriervernunft.« (Welsch 1996, 92) Welsch gibt wohl zu, dass es in der kanonisierten deutschsprachigen Literatur nicht viele Beispiele für den Entwurf alternativer Vernunfttypen und des Bezugs auf ein inkommensurables Fremdes gibt, aber ein paar wenige kann er dann doch ausfindig machen. Bereits ganz zu Beginn von Vernunft stellt Welsch also die mittlerweile durchaus üblich gewordene Unterstellung einer (fremdheitsfeindlichen) Homogenität des abendländischen Vernunftideals in Frage. Bei genauerer Betrachtung der einflussreichsten Philosophien des 19. und 20. Jahrhunderts fallen Welsch zahlreiche Vernunfttypen, etwa die Heidegger’sche »Besinnlichkeit«, auf, die er durchaus als Ausgangspunkt einer Theorie der Differenz und Andersheit versteht. Weniger überraschend ist dann die (durchaus kritische) Bezugnahme auf das »schwache Denken« Gianni Vattimos12 oder Derridas »Denken der Präsenz«. In diesen philosophischen Ansätzen sieht Welsch einen Umbruch, der nicht dem Sinn, wohl aber der instrumentellen Vernunft eine Absage erteilt und die klassischen Dichotomien und Dualismen weitgehend hinter sich lässt. In der Konzeption einer rhizomatischen Vernunft nach Deleuze und Guattari findet Welsch schließlich sein Modell einer Vernunft vorgebildet, die anerkennt, dass das Unterschiedliche selber schon durch Kreuzungen, durch laterale und transversale Operationen entsteht, dass die Differenzen also nicht in einem grundsätzlichen Gegensatz zu den Verbindungen stehen, sondern sich »mittels ihrer bilden und weiterhin solche Verbindungen einschließen und neue eröffnen« (ebd. 365). Anhand von Wittgensteins Sprachspiel demonstriert Welsch schließlich, dass die Diversität bis in die sprachlichen Strukturen hineinreicht, wo sie »ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen« (ebd. 405), entstehen lässt. Welsch macht hier auf einer Ebene, die noch gar nichts mit kultureller Vermischung zu tun hat, deutlich, dass die Vorstellung klar abgrenzbarer Einheiten in allen Bereichen des Denkens und Handelns eine Schimäre ist und nur 12 | In Unsere postmoderne Moderne plädiert Welsch auch für einen »schwachen Subjektbegriff«, den er dem proklamierten »Tod des Subjekts« gegenüberstellt (vgl. Welsch 1993, 316f.).

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durch die bewusste Ausklammerung von Vermischungs- und Überlagerungserscheinungen behauptet werden konnte. Diese Überlagerungen reichen laut Welsch weit in das Konstruktionsprinzip des menschlichen Geistes hinein, wo unterschiedliche »Rationalitätstypen« verankert sind. Er übernimmt das Standardmodell von der Dreiteilung der Rationalität in kognitive, moralisch-praktische und ästhetische Rationalität, wie es bei Kant vorgebildet ist. Dieses Modell verschiedener Formen von Rationalität lasse jedoch, so Welsch, immer noch eine geordnete und voneinander scharf getrennte Struktur erkennen, die man gründlich hinterfragen müsse: »Der Nachweis, dass die diversen Rationalitätstypen in Wahrheit nicht autonom und separat verfasst, sondern konstitutiv durch Verflechtungen mit anderen Rationalitätstypen bestimmt sind, entzieht beiden den Boden.« (Ebd. 444) Einen Beweis für die Unhaltbarkeit der »Ordnungsthese« sieht Welsch in der internen Pluralisierung der Rationalitätstypen, die jeweils von verschiedenen Paradigmen13 besetzt werden. Diese widersprechen einander zum Teil, sind miteinander verflochten oder überschreiten die Grenzen »ihres« jeweiligen Rationalitätsbereichs. Das Prinzip der rhizomatischen Verflechtung ist also auch der Vernunft inhärent, wobei Welsch diese Behauptung an Hand zahlreicher Beispiele aus Philosophie, Kunst und Musik erläutert.14 Der springende Punkt ist nun aber, dass die eben beschriebenen Rationalitätsbereiche in all ihrer »Unreinheit« und Verwobenheit die »Operationsmasse der Vernunft« (ebd. 631) bilden. Ebenso wie Derrida nicht – wie vielfach unterstellt wird – auf Sinn verzichtet, ist auch Welsch nicht an der Abschaffung der Vernunft oder der Vorherrschaft des Irrationalen interessiert. Der Begriff der Vernunft aber muss seiner Ansicht nach neu definiert werden. Das folgende Zitat soll Welschs Begriff einer »transversalen Vernunft«, auf der sein Konzept der Transkulturalität dann auch fußt, näher erläutern: Der Typus von Vernunft, den ich vorstehend bestimmt habe, bezeichne ich als »transversale Vernunft«. Weshalb? Weil es sich um eine Vernunft handelt, die im Wesen eine Vernunft der Übergänge ist – mit allen Konsequenzen. Übergänge bilden die zentrale Tätigkeit und die Domäne dieser Vernunft. Und »transversal« bezeichnet eben einen solchen Operationsmodus der Übergänge, bezieht sich auf die Erstellung querlaufender Verbindungen zwischen unterschiedlichen Komplexen. (Ebd. 761)

Erst aus den Überlegungen zur »transversalen Vernunft« heraus hat Welsch später sein Konzept der Transkulturalität entwickelt. Bedauerlich ist, dass seine frühe und äußerst komplexe Darstellung eines allgemeiner definierten Fremdheitsbegriffs, wie er in Vernunft erkennbar ist, von didaktischer Seite 13 | Zum Begriff des Paradigmas vgl. Welsch 1996, 543ff. 14 | Weiters geht Welsch auf die unterschiedlichen Verflechtungsarten der Paradigmennetze ein. Siehe dazu: Welsch 1996, 594.

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kaum rezipiert wurde, sondern lediglich sein Konzept der Transkulturalität. Das hatte wiederum eine Fokussierung auf Aspekte der kulturellen Fremdheit zur Folge, aus der die Verbindung zwischen Vernunft, Hermeneutik und literarischer Interpretation weitgehend ausgeklammert blieb. Das Konzept der Transkulturalität nach Wolfgang Welsch basiert auf einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Prinzip der Interkulturalität, das er als ein zweistufiges betrachtet. Auf der Primärebene gründe die Theorie der Interkulturalität immer noch auf der Vorstellung von wohlgeordneten, klar voneinander geschiedenen Kulturen. Auf der Sekundärebene vertrete sie das, an sich durchaus zu unterstützende, Anliegen, zu erforschen, wie diese möglichst gut miteinander kommunizieren und in Frieden miteinander leben könnten (vgl. Welsch 1992, 5). Diese Ansicht entspreche nun aber nach der Auffassung von Welsch einem allgemeinen Kulturbegriff, der von Herder begründet worden sei und – vor allem angesichts der gesellschaftlichen Realität – durch einen neuen ersetzt werden müsse. Herders Konzept, das dieser vor allem in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit ausgearbeitet hat, sieht Welsch wesentlich von drei Parametern bestimmt: Der sozialen Homogenität, die »das Leben des Volkes im ganzen wie im einzelnen« (ebd. 6) prägt; einer ethnischen Fundierung, die besagt, dass die Grenzen des Volkes politisch (durch die Grenzen der Nation) und sprachlich bestimmt seien, und schließlich einer starken interkulturellen Abgrenzung, die sich vor allem in Herders Kugelvergleich ausdrückt: »[…] jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt! […] Alles was mit meiner Natur noch gleichartig ist, was in sie assimiliert werden kann, beneide ich, strebs an, mache mirs zu eigen.« (Herder 1967, 44f.)15 Analog zu seiner Theorie der »transversalen Vernunft«, entwickelt Welsch nun Argumente, die gegen eine derartige Monadisierung der Kulturen gerichtet sind, wie Herder sie annimmt. Dabei geht es Welsch auch immer wieder darum, dass gerade heute eine solche »Kulturfiktion« der Reinheit und Abgrenzung nach außen nicht mehr vorstellbar sei. Sämtliche Entwicklungen in Wirtschaft, Technik und auf demographischer Ebene ließen eine solche Sichtweise gar nicht mehr

15 | In Zusammenhang mit der Argumentation Welschs für ein transkulturelles Paradigma, das ein Modell der interkulturellen Abgrenzung ersetzen solle, wird oft der Kugelvergleich Herders zitiert, der den Kern der Sache auch tatsächlich sehr gut trifft. Gleichzeitig tut man Herder Unrecht, wenn man ihn immer nur an Hand dieser Textausschnitte in den Diskurs einbringt. Herders Philosophie ist durchaus nicht von Grund auf xenophob, auch wenn sie auf der Nationenidee aufbaut und sämtliche Formen der Vermischung negativ bewertet. Das Nachwort Hans-Georg Gadamers zur Suhrkamp-Ausgabe von Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit bietet eine komplexe Analyse und damit gewichtige Argumente gegen diese pauschale Verurteilung Herders.

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zu: »Die Trennschärfe zwischen Eigenkultur und Fremdkultur ist dahin. Man wird umdenken müssen.« (Ebd. 11) Gerade für didaktische Zugänge zur Transkulturalität16 scheint mir besonders wichtig zu sein, dass Welsch nicht von einer »natürlichen« Entwicklung in Richtung kulturelle Hybridisierung ausgeht. Aus seiner Argumentation geht immer wieder klar hervor, dass man zur positiven Entwicklung der nunmehr offensichtlich gewordenen Vermischungstendenzen etwas beitragen müsse. Der Multikulturalismus hat das, seiner Meinung nach, nicht geschafft, ebenso wenig wie der interkulturelle Ansatz (vgl. ebd. 14). Das betont den performativen Charakter des Konzepts: Transkulturalität ist nicht, sie muss erst geschaffen werden. Als Beispiel für ein gelungenes transkulturelles Projekt führt Welsch die architektonische Gestaltung des Institut du Monde Arabe in Paris durch Jean Nouvel an. Hier sei etwas gelungen, was über die patchworkartige Zusammensetzung des Europäischen und Arabischen hinausgeht (Welsch wendet sich im Übrigen auch mehrfach gegen die rein positive Besetzung des Begriffs »bricolage«). Man habe hier »Formen erfunden, die zweifach (europäisch wie arabisch) lesbar sind« (ebd. 17). Eine solche Form der Doppelcodierung entspricht genau dem, was Welsch unter Transkulturalität versteht. Diese müsste seiner Vorstellung nach auch auf gesellschaftspolitischer Ebene irgendwann durchgesetzt werden; erst einmal werde diese zeitgemäße Ausdrucksform aber in Kunst und Literatur ihren Niederschlag finden. Der Didaktik, insbesondere der Kunst- und Literaturdidaktik, obliegt dabei die Vermittlung der Fähigkeit, solche neuen, mehrfach codierten ästhetischen Darstellungsformen »lesen« zu lernen. Das bedeutet einerseits eine Schulung der ästhetischen Wahrnehmungsfähigkeiten, andererseits aber auch ein gewisses Maß an Metawissen über kulturwissenschaftliche Theorien. Beides wird derzeit in der Lehrerinnenbildung nicht als prioritäres Ausbildungsziel erkennbar. Dort spielt allenfalls

16 | Werner Delanoy hat darauf hingewiesen, dass die Behauptung einer scharfen definitorischen Trennung zwischen interkultureller und transkultureller Didaktik der Heterogenität des interkulturellen Diskurses nicht gerecht werde (vgl. Delanoy 2008, 97). Dieser Vorwurf ist vor allem dann gerechtfertigt, wenn man so wie Delanoy die schon viel länger andauernden Bemühungen der (englischsprachigen) Fremdsprachendidaktik um eine adäquate Ausformung des interkulturellen Prinzips berücksichtigt. Innerhalb der Deutschdidaktik wird die Interkulturalitätsdebatte noch nicht so lange geführt und ist entsprechend homogener. Abgesehen davon werden trans- und interkulturelle Ansätze häufig nach wie vor nicht klar voneinander unterschieden. Ich betrachte diese Situation, wie sie sich im Kontext der deutschsprachigen Didaktik darstellt, allerdings als vorteilhaft: Hier sollte das Ziel nicht eine Abschottung der beiden Diskurse gegeneinander sein, sondern ein beständiger Austausch, der die Konturen beider theoretischen Strömungen schärft.

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eine »interkulturelle Didaktik« eine (Neben-)Rolle, die oft mehr pädagogischen als literaturdidaktischen Zielen verpflichtet ist. In den vergangenen Jahren hat innerhalb der deutschen Muttersprachdidaktik vor allem Werner Wintersteiner zur Etablierung des Konzeptes einer transkulturellen Literaturdidaktik beigetragen. Im Gegensatz zu anderen (vor allem interkulturellen) Ansätzen bezieht sein didaktisches Konzept die ästhetischen Eigenschaften des Kunstwerks nicht nur mit ein, sondern begreift diese sogar als Grundlage einer Poetik der Verschiedenheit (vgl. Wintersteiner 2006a, 116ff.). Somit erfährt in dieser Theorie eines transkulturellen Literaturunterrichts eine weitere Facette der Fremdheit – nämlich jene der Fremdheit des sprachlichen Kunstwerks – Berücksichtigung. Die von Wintersteiner in diesem Kontext formulierte Warnung, dass der Begriff »interkulturelle Literatur« davon ablenken könne, dass »jede Literatur […] bereits per definitionem ›transkulturell‹ und ›fremd‹ gegenüber der eigenen Kultur (im Sinne der Gesamtheit der Symbolisierungen der Welt) ist« (ebd. 121), ist noch längst nicht genügend beachtet worden, obwohl sie zur Beseitigung einiger Irrtümer eines inter- oder multikulturell ausgerichteten Ansatzes hätte beitragen können. Der Hinweis auf die Fremdheit jeder noch so »monokulturellen« Literatur mag aber auch deshalb überhört worden sein, weil die literarischen Beispiele, die Wintersteiner immer wieder anführt, einer engen Definition dessen, was als »interkultureller« Text zu gelten hat, nicht unbedingt widersprechen (vgl. Wintersteiner 2006b, 143). Dennoch ist das Textrepertoire, aus dem er schöpft, insofern umfangreicher und differenzierter, als hier auch Literaturen von Minderheiten und Weltliteratur berücksichtigt werden. Wintersteiner geht es mit seinem Konzept einer transkulturellen Literaturdidaktik vor allem darum, einen »ästhetischen Beitrag zur Weltgesellschaft« zu leisten, sein Konzept betrifft daher nicht nur die Literaturdidaktik, sondern hat es sich letztlich zum Ziel gesetzt, einen generellen Paradigmenwechsel des Konzepts von Unterricht und Schule herbeizuführen, und gewinnt somit vor allem als ein zeitgemäßer Neuentwurf des gesamten Bildungssystems Bedeutung.

2.2.4 Lothar Bredellas Ansatz einer rezeptionsästhetischen Literaturdidaktik Obwohl Lothar Bredellas Theorien aus Überlegungen zur Fremdsprachendidaktik entstanden sind, ist sein Konzept einer rezeptionsästhetischen Literaturdidaktik in vielen Ländern auch in der Muttersprachendidaktik wirkkräftig geworden. Dazu hat unter anderem die federführende Rolle Bredellas im Gießener Graduiertenkolleg »Didaktik des Fremdverstehens« beigetragen, das eine eigene, sehr umfangreiche Publikationsreihe hervorgebracht hat. Die Beiträge Bredellas zu Literaturdidaktik und Fremdverstehen haben ein Publikum

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weit über die Grenzen seines eigentlichen Fachbereichs hinaus erreicht, was für die Bedeutsamkeit des Themas und des Autors spricht. Der Beitrag Lothar Bredellas zur Etablierung einer interkulturellen Literaturdidaktik sollte in der Folge auch nicht in Frage gestellt werden, dennoch ist eine kritische Auseinandersetzung mit seiner Theorie gerade deshalb unumgänglich, weil sie so große Wirkung erzielt hat. Die Aufmerksamkeit Bredellas kreist beständig um das literarisch vermittelte Fremde und die Frage, ob dieses überhaupt verstanden werden kann oder soll. Ein Aufsatz aus dem Jahr 1993 trägt sogar den Titel Ist das Verstehen fremder Kulturen wünschenswert?. Dieser Beitrag ist insofern charakteristisch für Bredella, als er hier, wie auch in vielen seiner umfangreicheren Publikationen, Bezug auf andere Theorien nimmt, die er nach ihrer Einstellung dem Fremd-Verstehen gegenüber befragt und dann entsprechend ablehnt oder in seine eigene Theoriebildung miteinbezieht. Das ist an sich ein gängiger und legitimer Zugang, doch die Darstellung sämtlicher umfangreicher und in sich heterogener Theorien ist in vielen Fällen – ganz anders als etwa bei Wolfgang Welsch – äußerst einseitig, wenn nicht gar irreführend.17 Bredella baut seine, an John Dewey orientierte hermeneutische Literaturdidaktik grundsätzlich auf dem Gedanken auf, dass der Rezipient ebenso an der Entstehung des Kunstwerks beteiligt sei wie die Autorin. So wie ein Kochrezept auf den Koch angewiesen ist, entstehe auch der Text erst durch die Beteiligung der Rezipientinnen, die mit all ihren Emotionen, ihrem Vorwissen, ihrer kulturellen und sozialen Vorprägung etc., an der jeweiligen Entstehung des Textes beteiligt seien (vgl. Bredella, Burwitz-Melzer 2004, 44). Auch die Werturteile, die über ein Anderes gefällt werden (müssen), werden aus dieser Außenperspektive getroffen, die allerdings durch eine Innenperspektive ergänzt werden soll. Die Innenperspektive verweist auf die Fähigkeit der Rezipienten, die Perspektive »der Anderen« einzunehmen und die Welt mit ihren Augen zu sehen (vgl. Bredella 2002, 147). Die Problematik der Annahme, es wäre prinzipiell möglich, die Perspektive einer/eines Anderen einzunehmen, ist Bredella dabei durchaus bewusst. Er bezieht sich in Ausarbeitung seiner Theorie immer wieder auf die »Kritiker des Verstehens«, die ebendiese Möglichkeit in Zweifel ziehen, und widerspricht diesen vehement. Bereits an dieser Stelle ist ein grundlegender Irrtum Bredellas unübersehbar: Die sogenannten »Kritiker des Verstehens«, unter die er die Dekonstruktivisten ebenso einreiht wie etwa Umberto Eco oder Vertreter des (radikalen) Konstruktivismus und des Formalismus, ziehen nämlich nicht die Möglichkeit jeglichen Verstehens in 17 | So ist etwa Bredellas scharfe Kritik am Dekonstruktivismus (auch) insofern nicht gerechtfertigt, als er diese für das 21. Jahrhundert äußerst wichtige Strömung in wenigen Zügen so darstellt, dass man es nicht nur als verkürzt, sondern schlicht als falsch bezeichnen muss.

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Zweifel, sondern nur die eines absoluten Verstehens. Dass es ein solches nicht geben kann, ist jedoch auch eine der Grundannahmen Bredellas. Es mutet auch seltsam an, dass Bredella sich immer wieder auf Bernhard Waldenfels beruft, allerdings stets so, dass das »radikal Fremde« – ein entscheidendes Element von Waldenfels’ Theorie – nirgendwo auftaucht. Eine solche Bezugnahme wäre aber insofern sinnvoll, als sich die grundlegenden Probleme, die Bredella mit den »Kritikern des Verstehens« hat, durch eine solche eventuell lösen ließen. Nicht nur in seinen hermeneutischen Überlegungen, sondern stärker noch an seinen praktischen Beispielen wird deutlich, dass das Fremde bei Bredella stets als kulturelle Kategorie gedacht wird. Die Abstufungen des Fremden in alltägliches, strukturelles/kulturelles und radikal Fremdes, wie sie Waldenfels vornimmt, macht aber deutlich, dass eine Definition des Fremden nach kulturellen Parametern nicht genügen kann. Das radikal Fremde wird bei Waldenfels als eine universale Kategorie gedacht, die dem Verstehen des Menschen gewisse intrakulturelle Grenzen setzt: Schlaf, Rausch, Eros oder Tod, all diese Phänomene begrenzen unser Verstehen, selbst wenn wir dem kulturell Fremden niemals begegneten. Ob man diese Grenzen mitbedenkt oder nicht, ob man das radikal Fremde als Teil jeder Begegnung mit einem Anderen betrachtet oder nicht, hat vor allem ethische Konsequenzen. Ein Überwältigt-Werden durch das unvorhergesehen auftretende Fremde, wie es Waldenfels vorsieht, oder eine Unantastbarkeit des Anderen, wie sie Lévinas definiert, wird jedoch von Bredella (zumindest implizit) abgelehnt. Er beharrt vielmehr auf der Ansicht, dass Dekonstruktivismus und Formalismus die Welt für vollkommen nichtig erklären wollten, und behauptet sogar, dass die Betonung jedweder »radikalen« Form von Fremdheit »nicht so sehr zu ihrer Anerkennung« führe, als vielmehr »zur Verleugnung unserer gemeinsamen Menschlichkeit« (Bredella 2002, 83). Schon eine genaue Lektüre von Waldenfels macht deutlich, dass Bredellas Vermutung keinesfalls zutreffend ist, geht es doch bei der Andersheit des Anderen nicht um die Verleugnung eines gemeinsamen Menschlichen, sondern vielmehr darum, dass das menschliche Bewusstsein auch etwas umfasst, das unbegreiflich bleibt, und dass sich ebendieser »Anspruch des Fremden […] jedem Ausgleich und Vergleich entzieht« (Waldenfels 1997, 13). Damit schließt Waldenfels an Lévinas an, der ebenfalls davon überzeugt ist, dass nur die Annahme einer inkommensurablen Differenz eine unzulässige Vereinnahmung des Anderen ausschließt. Dennoch ist eine der Grundannahmen seines extremen Humanismus die, dass gerade aus dieser unüberwindbaren Differenz zwischen dem Einen und dem Anderen eine existenzielle Verantwortung erwächst: »Zwischen dem Einen, der ich bin, und dem Anderen, für den ich verantwortlich bin, klafft eine abgrundtiefe Differenz, eine Differenz, die zugleich die Nicht-Indifferenz der Verantwortlichkeit ist, das Bedeuten der Bedeutung, unzurückführbar auf irgendein System.« (Lévinas 2005, 5) Wie an diesen beiden Beispielen offensichtlich

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wird, lässt sich also gerade den Theoretikerinnen eines radikal Fremden nicht die Verleugnung einer gemeinsamen Menschlichkeit anlasten. Was sie allerdings wohl in Zweifel ziehen, ist die Möglichkeit der Einnahme eines »dritten Standpunkts«, von dem aus zwei gegensätzliche Positionen objektiv zu betrachten wären. Bredella hingegen geht von dieser Möglichkeit einer übergeordneten Position aus: »Es gibt auch Situationen, in denen interkulturelles Verstehen als Rekonstruktion des Produktionskontextes beziehungsweise als das Einnehmen einer Innenperspektive nicht ausreicht, weil wir eine Verständigung zwischen den Anderen und uns anstreben und somit einen ›dritten Standpunkt‹, der Eigenes und Fremdes überschreitet.« (Bredella 2002, 124) Dies scheint mir einen grundlegenden Gedanken Bredellas zu treffen, der stets davon ausgeht, dass die Beschäftigung mit Literatur darauf abzielt, »das Außerordentliche verständlich zu machen« (Bredella, Burwitz-Melzer 2004, 70). Daraus resultiert unter anderem ein sehr eingeschränkter Literaturbegriff, der durch seine pragmatische Ausrichtung und die Bedeutung der Bezugnahme auf die »wirkliche Welt« nur gewisse Texte in den Blick nimmt und experimentelle oder vieldeutige Formen der Literatur ausblendet.18 Ein NichtVerstehen oder Missverstehen ist in der Rezeptionsästhetik Bredellas negativ konnotiert und soll nach Möglichkeit vermieden werden.19 Die Konfrontation mit »interkulturellen Texten« (dieser Definition wohnt, wie ich bereits an anderer Stelle betont habe, eine aus meiner Sicht unzulässige Kategorisierung inne) müsse didaktisch gut vorbereitet, kulturelle Unterschiede oder historische Fakten müssten erst erklärt werden. Mit anderen Worten: Interkulturelles Verstehen wird erst dann möglich, wenn das Andere zum Zeitpunkt der Lektüre schon gar nicht mehr so anders ist. Das Erlebnis einer Begegnung mit dem Unvorhersehbaren, Unkontrollierbaren, das Waldenfels als Basis einer »responsiven Ethik« begreift, kann im Rahmen einer solchen Didaktik kaum 18 | So ist etwa die Annahme, dass Texte ihre Rezipientinnen von einer bestimmten Sicht auf die Welt überzeugen wollten, höchst fragwürdig und trifft nur auf eine ganz bestimmte Art von Literatur zu. Auf jene nämlich, die man mit Sartre als littérature engagée bezeichnen kann und die ganz sicher nicht das Gros der literarischen Texte ausmacht. 19 | Gerade der »Schock« des Nicht-Verstehens und das damit verbundene Innehalten werden in der Literaturdidaktik immer wieder als ein wesentliches Moment der Sinnstiftung beschrieben. Zum Prinzip erhoben wird das vor allem im Umfeld des Heidelberger Literarischen Gesprächs, wo der Ausgangspunkt des Sprechens über einen Text nur in den seltensten Fällen das Verstandene und Eindeutige ist. Kaspar Spinner verbindet die Unsicherheiten, die literarische Verstehensprozesse stets begleiten, mit einer Aufforderung zur »Inszenierung von Pausen« (Spinner 1998, 51), in denen erst ein bewusst herbeigeführtes »Innehalten der Vorstellungskraft Raum gibt« (ebd.) und vorher unbeachtet gebliebene Dimensionen des Textes zur Geltung zu bringen vermag.

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noch eine Rolle spielen. Die Bedeutung einer »gelenkten Lektüre« für Bredella wird vor allem dann deutlich, wenn er auf Textbeispiele zu sprechen kommt, die seine Theorie illustrieren und praktisch anwendbar machen sollen. Sämtliche der von ihm verwendeten Textausschnitte sind nicht nur sehr realitätsnah, sondern verweisen auch auf einen konkreten historischen Hintergrund. Das verwundert vor allem angesichts seiner immer wiederkehrenden Kritik daran, dass literarische Texte gerade im Fremdsprachenunterricht viel zu häufig als bloße Trägermedien landeskundlicher Information benutzt wurden. Bredella selbst kümmert sich jedoch zumindest in seinen praktischen Beispielen wenig um die ästhetische Dimension der Texte (vgl. Bredella 2002, 268ff.). Ihm kommt es lediglich auf die Involviertheit der Rezipientinnen in den Prozess der Lektüre, auf die daraus entstehende Spannung zwischen Produktions- und Rezeptionskontext und auf den Weltbezug an. All dies deutet er als inhaltliche Kategorien, die wenig Raum für eine Auseinandersetzung mit den formalen Aspekten des Kunstwerks schaffen. Abschließend möchte ich noch auf die Auseinandersetzung Bredellas mit Julia Kristeva eingehen, weil mir diese prototypisch für seinen Umgang mit Theorien scheint, die seinen eigenen Annahmen widersprechen.20 Kristeva wird bei Bredella nur kurz erwähnt, allerdings gerade in Zusammenhang mit der Fremdheit dem Eigenen gegenüber, die in ihrer Theorie eine entscheidende Rolle spielt. Der Titel eines ihrer Bücher, Fremde sind wir uns selbst, ist durchaus programmatisch zu verstehen. Bredella zeigt sich zunächst der Idee gegenüber aufgeschlossen, dass »wir uns selbst fremd sind« und es »allein dieser Rückhalt [ist], von dem aus wir versuchen können, mit den anderen zu leben« (Kristeva 1990, 184). Dies ist ein Aspekt, auf den Bredella aber lediglich in einigen seiner Aufsätze näher eingeht, in den umfassenderen und grundlegenden Darstellungen seiner literaturdidaktischen Theorien wird er gänzlich ausgeblendet. Julia Kristeva betrachtet die Fremdheit dem eigenen Selbst gegenüber als den paradoxen und verdrängten Ursprung der aggressiven Abwehr des externalisierten Fremden. In äußerst verkürzender Sichtweise unterstellt Bredella nun, dass die von Kristeva vorgeschlagene intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Fremdheit »zu einem extremen Individualismus, wenn nicht Solipsismus« (Bredella 1993, 21) führen würde. Eine derartige Behauptung ist wissenschaftlich unhaltbar und auch die von Bredella vertretene Meinung, dass Kristevas Theorie kulturelle Unterschiede zu Gunsten einer obsessiven Beschäftigung mit der eigenen Fremdheit nivelliere, kann man so nicht gelten lassen (vgl. ebd.). Titelgebendes Vorhaben in Fremde sind wir uns selbst ist nun einmal die Betrachtung der jedem »Individuum« innewohnen20 | Seine Missverständnisse der Theorie Jan Mukařovský gegenüber, die ähnlicher Art sind, hat bereits Andrea Leskovec in ihrer Dissertationsschrift Fremdheit und Literatur ausführlich dargestellt (vgl. Leskovec 2009, 161f.).

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den Verwobenheit zwischen Eigenem und Fremdem. Die temporäre Setzung eines bestimmten Fokus ist die Grundlage jeder wissenschaftlichen Arbeit. Das mag man natürlich als obsessiv bezeichnen, eine solche »Besessenheit« wäre dann allerdings auch Bredellas eigenen Arbeiten vorzuwerfen. Zwar gesteht Bredella letztlich doch zu, dass »wir uns selbst nicht durchsichtig sind« (ebd.), aber selbst diese Erkenntnis wird einer pragmatischen Argumentation unterworfen und nicht weiter verfolgt: Durch die Einsicht, dass das Fremde in uns und nicht außerhalb unserer selbst beginnt, könne man vielleicht davon überzeugt werden, »das Fremde im Anderen nicht zu verfolgen« (ebd.). Es ist sehr fraglich, ob die Einsicht allein dazu genügt. So bleibt zusammenfassend nur die Feststellung, dass Bredellas »Theorie des Fremdverstehens« markante blinde Flecken dem Fremden im Eigenen gegenüber aufweist. Sieht man sich die Unterrichtsvorschläge Bredellas an, so wird deutlich, dass es durchaus noch einiger theoretischer Arbeit bedürfe, um der auch hier festzustellenden Fixierung auf die kulturelle Fremdheit etwas entgegenzusetzen.

2.2.5 Die skeptische Hermeneutik Hans Hunfelds Der didaktische Ansatz Hans Hunfelds, der Manfred Schreiner zufolge »seit Beginn der Neunzigerjahre unwidersprochen eine kopernikanische Wende in der Didaktik des Fremdsprachenunterrichts« (zit.n. Ghirardo 2009, 175) ausgelöst hat, ist in der Muttersprachendidaktik wesentlich weniger beachtet worden. Generell ist festzustellen, dass sich Fremdsprachendidaktik und Auslandsgermanistik bisher intensiver um die Frage des Fremden gekümmert haben, als das in der deutschsprachigen Fachdidaktik der Fall war. Die Theorie Hans Hunfelds wäre allerdings auch für die Fachwissenschaft äußerst relevant, weil er einen der wenigen Versuche unternommen hat, eine skeptische Hermeneutik des Fremdverstehens zu entwickeln. Dabei geht er nicht nur von einem kulturellen, sondern von einem weit umfassenderen Fremdheitsbegriff aus, der seinem Modell besondere Tiefe und Komplexität verleiht. Wenn Hunfeld in zahlreichen Aufsätzen versucht, seine Grundlagen einer skeptischen Hermeneutik zu erläutern, kehrt ein Beispiel immer wieder. Es ist dies ein Zitat Columbus’, der in einem seiner Briefe erst ein durchaus positives Urteil über das von ihm entdeckte Volk fällte und dann anmerkte: »Wenn es unserem Herrn gefällt, werde ich bei meiner Abfahrt von hier sechs Leute für Eure Hoheit mitnehmen, auf dass sie sprechen lernen.« (Zit.n. Hunfeld 2004, 35) Die hier erkennbare Annahme, dass das Eigene das Wahre sei, der natürliche Zustand der Dinge, läuft Hunfelds theoretischen Annahmen zuwider, und gegen eine solche Weltsicht wendet sich seine Didaktik des Fremdverstehens. Hunfelds Kritik richtet sich aber auch gegen die Einverleibung des Fremden durch einen Verstand, der alles, was ihm an Fremdem begegnet, seinen eige-

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nen Kriterien unterwirft. Das Auf begehren gegen eine solche »Begegnung« mit dem Fremden, die zur bloßen Bestätigung eines vorher schon dagewesenen Eigenen missrät (in der das Fremde also im wahrsten Sinne an-geeignet wird), verbindet die Theorie Hans Hunfelds mit der Philosophie von Bernhard Waldenfels. Diese Übereinstimmungen lassen sich auch, wie wir noch sehen werden, bis ins Detail verfolgen. Erst einmal lässt sich aber festhalten, dass Hunfeld der Möglichkeit des vollzogenen oder gelungenen Verstehens generell kritisch gegenübersteht – ja er sieht in den Abgründen des Miss- oder Nichtverstehens die Wurzel eines neuen und zeitgemäßen Verstehensprinzips verankert. Natürlich ist dieses Scheitern des Verstehens auch kulturell determiniert: »Jede Kultur hat Schwierigkeiten damit, andere Kulturen zu verstehen, und es ist gerade unsere Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur, die uns diese Schwierigkeiten bereitet.« (Kapuściński 2006, 121) Im Gegensatz zu vielen anderen Wissenschaftlern, die sich der interkulturellen Verstehens-Problematik verschrieben haben, sucht Hunfeld allerdings kein Heilmittel gegen diesen blinden Fleck im eigenen Verständnis, sondern spricht sich dezidiert für eine Bewahrung der Andersartigkeit des Fremden aus. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass nichts verstanden werden soll, kann oder muss, sondern lediglich, dass diesem Verständnis gewisse Grenzen gesetzt sind, derer sich die Rezipienten immer bewusst sein sollten. Es scheint mir also auch in Hunfelds Denken – auch wenn er es nie explizit ausspricht – die Kategorie des radikal Fremden zu geben. Hunfeld thematisiert immer wieder die verschiedenen Dimensionen der Fremdheit, die innerhalb seines eigenen Fachgebiets eine entscheidende Rolle spielen. Das betrifft nicht nur die relative Fremdheit, mit der sich Fachwissenschaft und Fachdidaktik teilweise gegenüberstehen, sondern auch die Fremdheit verschiedener Fachdidaktiken untereinander. Zwischen muttersprachlicher und fremdsprachlicher Didaktik klafft der Abgrund – seiner Ansicht nach – hingegen nicht ganz so tief. Die größte Fremdheit bestehe stets da, wo Praxis und Theorie aufeinander treffen.21 Kaum jemals gibt es so viele Vor21 | Besondere Bedeutung gewinnt der Zusammenhang zwischen theoretischer Annäherung (an eine andere Sprache/Kultur) und praktischer Umsetzung (in der – tatsächlichen oder antizipierten – Begegnung mit deren Akteurinnen) im Fremdsprachenunterricht. Neva Šlibar merkt dazu an, dass sowohl die gängigen Lehrwerke als auch ihre lang jährige Erfahrung im Unterrichten von Deutsch als Fremdsprache zeigen, dass »im Vermittlungsalltag des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts Literatur gänzlich domestiziert« (Šlibar 2009, 326) würde. Diesem praktizistischen Zugang zu Literatur setzt sie ein Modell der »siebenfachen Fremdheit im DaF-Kontext« entgegen, in dem sie zwischen folgenden Aspekten unterscheidet: 1. diskursive, 2. kulturelle, 3. systemische, 4. funktionale, 5. strukturelle, 6. rezeptive, 7. situative Fremdheit (vgl. ebd. 329). Je nach Alter, Sprachniveau und Bildungshintergrund der Lerner sollte die siebenfache

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urteile, so viel (bewusst herbeigeführte) Distanz und Misstrauen. Gerade diese Fremdheit möchte Hunfeld aber doch zu einem gewissen Grad abbauen, auch wenn Theorie und Praxis bei ihm zwei voneinander deutlich unterschiedene Bereiche sind.22 Die Theorie der Fachdidaktik versteht Hunfeld als ein Paradoxon, nämlich als »die kurzzeitige Entfernung von der Praxis« (ebd. 42), die aber letztlich eine »intensive Hinwendung zur Praxis« (ebd.) bedeutet. Die Möglichkeit, Schule und alle mit dieser Institution verbundenen Routinen neu zu denken, könne nur aus einer Distanzierung heraus entstehen, die notwendig reflexiv und daher theoretisch sein müsse. So begründet Hunfeld auch die Notwendigkeit, der Theorie in der Lehrerinnen-Aus- und -Weiterbildung eine grundlegende Rolle zukommen zu lassen. Dieser Hinweis auf das progressive Potenzial der Theorie ist gerade in Zeiten wie diesen, in denen »die Universität selbst immer mehr verschult wird« (ebd. 43) und die Vermittlung zweckgerichteter Kompetenzen die Vermittlung der Fähigkeit zu eigenständigem Denken oft vollständig verdrängt, besonders wichtig. Die Normierungs- und Standardisierungstendenzen, die das Schul- und Universitätssystem mittlerweile auch in Österreich voll erfasst haben, kritisiert Hunfeld an Hand des Beispiels »Europäischer Referenzrahmen«. Ein Lernen, das auf dessen Zielsetzungen gerichtet sei, könne nach Hunfelds Ansicht das Fremde und Fremdartige niemals angemessen berücksichtigen, weil alles Unvertraute und potenziell Missverständliche hier bewusst ausgeschlossen werde. Ebenso wie Bernhard Waldenfels räumt auch Hunfeld dem Staunen und Überwältigt-Werden durch das Fremde einen hohen Stellenwert ein. Eine tatsächliche Begegnung mit dem Fremden könne ohne diese pathetischen Momente Fremdheit der Literatur nicht nur als implizites Prinzip die Konzeption des DaF-Unterrichts bestimmen, sondern auch als explizites Wissen vermittelt werden. 22 | Diese Haltung ist keineswegs selbstverständlich. Viele Didaktiker tun so, als stünden sie in der Praxis und wüssten genau, wie diese beschaffen ist. Umgekehrt lehnen Lehrerinnen theoretische Zugänge manchmal als »elitär« und »wirklichkeitsfremd« ab. Hunfeld betont immer wieder, dass er aus Sicht der Wissenschaft arbeite und – auch wenn er immer darum bemüht ist, »die Praxis« mitzudenken – keinen Zugang zur tatsächlichen, in sich wiederum äußerst vielfältigen Praxis habe. Dies bringt eine ganz klare Position mit sich, die nicht behauptet, über die Praxis triumphieren, sie beherrschen und »durchschauen« zu können. Gerade die derzeit so weit verbreiteten und beliebten Ansätze der qualitativen und quantitativen empirischen Unterrichtsforschung verfügen oftmals nicht über diese Bescheidenheit. Nicht in allen, wohl aber in vielen Fällen wirkt diese »Kolonialisierung« des Unterrichts wie eine moderne Psychoanalyse des Klassenzimmers. Der Einfluss hierarchischer Strukturen, der Situation des Beobachtens beziehungsweise Beobachtet-Werdens an sich und vor allem der Fragestellungen, die die Untersuchung steuern, wird dabei oft wie eine vernachlässigbare Größe behandelt oder unterschlagen.

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(die Hunfeld allerdings nicht so nennt) gar nicht erfolgen. Methoden, die die Standardisierung von Lehrinhalten und deren Überprüf barkeit im Auge haben, lassen aber genau diesen »Überraschungseffekt« des Fremden nicht zu: »Das Aushalten der Unvertrautheit von Phänomenen […] überraschende Impulse, unbekannt Neues oder Fremdartiges wird in diesen Vorschlägen zur Methode als Störung verstanden.« (Ebd. 57) Hunfeld geht es allerdings nicht um die Durchsetzung einer grundlegend anderen Methode, er spricht sich dezidiert für einen Methodenpluralismus aus, der jedoch dem Fremden (in der Logik des Schulsystems ist auch der Fehler ein »Fremdling«) immer seinen Platz einräumt. So belegt er an Hand zahlreicher Beispiele, dass man auch aus traditionellen Text- oder Lehrbuchvorgaben durch kleine Änderungen durchaus etwas machen kann, was die gewöhnliche Wahrnehmung bricht und ein Tor zum unerwartet Neuen öffnet (vgl. ebd. 97ff.). Der Bezug Hunfelds zur Rezeptionsästhetik ist durchaus zwiespältig, auch wenn er sich selbst als einen Vertreter dieser Richtung bezeichnet. Grundsätzlich geht seine Hermeneutik davon aus, dass derselbe Text im Erwartungs- und Erfahrungshorizont unterschiedlicher Leserinnen verschiedene Bedeutungen entfaltet, die durchaus ihre Berechtigung haben, auch wenn sie einander widersprechen. Andererseits ist Hunfeld sich durchaus der Problematik bewusst, dass ein solcher Ansatz dem beliebigen Umgang mit literarischen Texten Vorschub leisten könnte. Eine wirkliche Lösung für das Problem bietet Hunfeld nicht an, vielmehr scheint er zu hoffen, dass sich durch die Konfrontation verschiedener Meinungen und Perspektiven letztlich doch die besseren (also vom Text gestützten) Argumente durchsetzen. Doch auch wenn Hunfeld die Differenz zwischen den grundlegenden Ansichten der Rezeptionsästhetik immer wieder problematisiert, bleibt sein eigener Standpunkt in dieser Debatte eigenartig unscharf. Er flüchtet an diesen kritischen Stellen immer wieder in die Position des Fremdsprachenlehrers, der sich von Positionen und Problemstellungen der Muttersprachdidaktik durchaus distanzieren darf, da er der »Advokat eines besonderen Lesers [und wohl auch eines besonderen Verstehens, Anm. N.M.]« (ebd. 343) sei. Dieser besondere Leser dürfe »auf die Anrede eines deutschen Gedichts nicht nur anders reagieren als der deutsche Leser« (ebd.), er füge diesem sogar noch »Verständnisse hinzu, die dem deutschen Leser verborgen bleiben« (ebd.). Seine Aussagen bezüglich des hermeneutischen Zugangs der Leserinnen zum Text und deren Berechtigung dürften sich gerade an dieser Stelle nicht in einer Argumentation des kulturellen Unterschiedes flüchten, zumal Hunfelds Theorem von einer grundlegenden Fremdheit aller Literatur ausgeht. Nimmt man diese ernst, so gilt immer und nicht nur in der Situation des fremdsprachlichen Unterrichts, dass »es […] nicht mehr darum [geht], was ein literarischer Text ein für alle Mal ist, sondern was er, aus wechselnder Leserperspektive gesehen, dem unterschiedlichen Leser bedeuten kann« (ebd.).

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Bis auf wenige Passagen hält sich Hunfeld jedoch an den Grundsatz der Priorität des literarischen Textes und plädiert für die »Normalität des Fremden«, die er wie folgt definiert: »Nie war das Fremde normal. Jedenfalls nicht für den, der fremd das nennt, was von der eigenen Norm abweicht. Und doch ist Anderssein die Regel, nicht die Ausnahme. Denn dass man selbst anders ist als andere, macht ja das eigene Selbstverständnis aus. Naheliegend wäre entsprechendes Verhalten: Mit der eigenen und der fremden Andersheit unbefangen und wie selbstverständlich umzugehen.« (Ebd. 365) Die Selbstverständlichkeit des Fremden entspricht nicht der Realität, das ist Hunfeld durchaus bewusst, aber er sieht sie trotzdem als ein lohnenswertes didaktisches Ziel. Literaturunterricht müsse allerdings in erster Linie darum bemüht sein, »die Rätselhaftigkeit des Fremden« zu bewahren, wobei Hunfeld gerade dieses Bemühen in den meisten didaktischen Ansätzen der letzten Jahre und Jahrzehnte nicht ausmachen kann: »Diese Rätselhaftigkeit des Fremden ist antiquiert; wohl auch, weil sie so unpraktisch ist. Denn sie passt nicht zu einer Ideologie, nach der man nur den guten Willen, das kulturelle Wissen und die fremde Vokabel brauche, um sich das Fremde und dem Fremden verständlich zu machen.« (Ebd. 366) Damit ist natürlich auch eine Kritik an der Zweckhaftigkeit eines bloß aus pragmatischen Gründen »interkulturellen« Unterrichts formuliert, die der kommunikative Ansatz dem Fremdsprachenunterricht in sämtlichen Ländern beschert hat. Es ist an dieser Stelle nicht der Ort, näher auf diese Kritik einzugehen, allerdings ist sie insofern wesentlich, als sie die Infragestellung grundlegender Tendenzen der momentanen Reformen an Schulen und Universitäten vorwegnimmt. Im Gegensatz zu diesem möglichst einfachen, zweckgerichteten Sich-verständlich-Machen fordert Hunfeld aber eine Haltung, die sich vom Eigenen distanziert, dieses als fremd wahrzunehmen lehrt und so die Grenzen des Verstehens, aber auch die Schöpfung von tatsächlich Neuem erfahrbar macht. Es mag verwundern, dass Hunfeld diese Hermeneutik, die interkulturelles Verstehen in gewisser Weise sogar als ein dem intrakulturellen Verstehen überlegenes Verstehen einschätzt, von Gadamer ableitet. Dieser betrachtet das Verstehen über die kulturelle Grenze hinweg ja als höchst problematisch, wenn nicht sogar unmöglich. Diese Widersprüchlichkeit wird bei Hunfeld weder thematisiert noch aufgelöst. Ein weiterer wesentlicher Baustein von Hunfelds Theorie ist die »Hermeneutik der Stille«, die ihn wiederum mit Ansätzen Waldenfels’ verbindet. Die Stille wird von Hunfeld als eine Möglichkeit betrachtet, dem Fremden unvoreingenommen und ohne Aneignungsbestrebungen zu begegnen: »Denn da die Stille […] die freie Öffnung in die Dimension des Anderen bewirken kann, bereitet sie jene Haltung vor, die verhindert, dass das jeweils Andere mit eigener Begrifflichkeit vereinnahmt wird.« (Ebd. 472) Es ist also nicht die mit heutigen Lern- und Lehrideologien durchaus kompatible »Fertigkeit Hören«, der Hunfeld hier eine so herausragende Stellung einräumt, sondern

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die essenzielle menschliche Fähigkeit des Zuhörens. Diese ist offensichtlich nicht so ohne weiteres in Beispiele, Prüfungsfragen und Zwecke übersetzbar und ist deshalb der Aufmerksamkeit schulischen und universitären Unterrichtens zunehmend entgangen. Zu Recht betont Hunfeld allerdings, dass ohne diese grundlegende Fähigkeit des Zuhörens eine tatsächliche Begegnung mit dem Fremden nicht stattfinden kann. Die von ihm geforderte »Askese des Zuhörens« könnte man vielleicht als das Gegenstück der sokratischen Mäeutik betrachten. Diese war die Kunst des Fragens, die Antworten des Gegenübers hatten in ihr hingegen wenig Bedeutung. Das sokratische Gespräch endet stets dort, wo der bereits Wissende es haben will, es endet also stets im bereits Gewussten. Der Antwortende muss sich am Ende wohl oder übel der Meinung des Fragenden anschließen, nur dann ist ein solches Gespräch erfolgreich verlaufen. Eine ähnliche Dynamik hat das klassische Unterrichtsgespräch, das ja ohnehin meist nur eine Pseudo-Dialogizität zulässt (vgl. Rumpf 1981, 102f. und 109). Gerade der Umgang mit fiktiver Literatur fordert aber Stille. »Lesen heißt Sprechen lassen« (ebd. 477), heißt es bei Hunfeld, und Lesen bedeutet damit auch, ein Anderes zu Wort kommen zu lassen. Auf einen solchen Ansatz kann eine Hermeneutik des Fremden nicht verzichten. Die Befähigung zu dieser Stille muss allerdings erworben werden. Dazu ist es nötig, dass »die Haltung des Zuhörens und der Zurücknahme des Eigenen früh angelegt und stetig weiter herausgebildet werden« (ebd. 480).

2.2.6 Fazit Die Auseinandersetzung mit dem Fremden ist innerhalb der Literaturdidaktik in den letzten Jahrzehnten, wenn man von wenigen Ausnahmen absieht, über das Thema der kulturellen (Un-)Zugehörigkeit abgehandelt worden. Das ist durchaus verständlich, angesichts der gravierenden Veränderungen, mit denen sich Schulpraxis und fachdidaktische Theorie konfrontiert sehen. Umso wichtiger ist allerdings meiner Einschätzung nach eine klare Aufgabenteilung zwischen den Disziplinen: Es ist wichtig, dass die Pädagogik Modelle des interkulturellen Zusammenlebens und der Konfliktlösung entwirft. Ebenso ist es von höchster Bedeutung, dass die Sprachdidaktik Methoden erarbeitet, die zeigen, wie sich Mehrsprachigkeit in den Unterricht integrieren und als Wert vermitteln lässt. Die Wissenschaften Deutsch als Zweitsprache und Deutsch als Fremdsprache sind gefordert, Konzepte zu erarbeiten beziehungsweise zu verbessern, die Kindern nichtdeutscher Muttersprache die Teilnahme am deutschsprachigen Unterricht rasch und ohne Versagensängste ermöglichen. Der (Literatur-)Unterricht an sprachpolitisch umkämpften Grenzen muss ebenfalls neu überdacht werden. Das alles sei völlig außer Frage gestellt. Die Aufgabe der Literaturdidaktik ist aber eine andere. Sie muss sich den Fragen der Fremdheit und Identität auf einer prinzipiellen Ebene stellen, die

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kurzfristig zwar weniger dazu angetan ist, die momentanen Schwierigkeiten effizient zu lösen, die aber dennoch von immenser Bedeutung ist. Sprachen sind, wie Hubert Ivo in Anlehnung an Wilhelm von Humboldt richtig feststellt, »unterschiedliche Organe des Denkens« (Ivo 1994, 20). Für die Sprache der Literatur gilt dies ist in besonderem Maße, da in ihr die Fremdheit der eigenen Muttersprache Ausdruck findet. Der Literaturunterricht stellt damit immer auch eine Lehre von der Distanzierung dem Eigenen gegenüber dar. Ausgehend von dieser grundlegenden Verbindung der Literatur (der Kunst an sich) mit dem Fremden lassen sich viele Abstufungen und Arten des Fremden im Text ausmachen. Diese betreffen stets Grundfragen der menschlichen Existenz, unserer Sprache und Selbstwahrnehmung. Für den Einzelnen sind diese Fragen zu groß, nach Antworten im alltäglichen Sinne sucht man hier vergebens – dafür kann durch den literarischen Text eine sinnstiftende, authentische Auseinandersetzung mit dem (radikal) Fremden erfolgen, das allen zweckgerichteten Notwendigkeiten des menschlichen Daseins vorangeht. Es scheint mir außer Frage zu stehen, dass gerade diese Dimension des Lehrens und Lernens einen besonderen Stellenwert in unserem Bildungssystem erhalten sollte. Die »Hermeneutik der Stille«, wie sie Hans Hunfeld vorschlägt, kann vor allem in didaktischer Hinsicht als Ausgangspunkt eines »schwachen« Verstehens gesehen werden, das einen Zugang zur Fremdheit des Textes ermöglicht. Das Erlernen von Stille und die Anerkennung des Fremden als einer Instanz, die dem Eigenen innewohnt und dieses gleichzeitig zu verändern imstande ist, hat selbstverständlich auch gesellschaftliche Auswirkungen. Diese Fähigkeiten sind aber auch (An-)Forderungen, die der Text an uns richtet. Ein Literaturunterricht, der das vermittelt, hat seine – über aktuelle Erscheinungen und Notwendigkeiten weit hinausreichende – Legitimation gefunden.

2.3 Theore tische G rundannahmen eines responsiven L iter aturunterrichts . E ine S tandortbestimmung »Understanding is a process which comes from the other and can never be completed.« Diese Aussage Susan Sontags lässt sich als Grundlage eines Literaturunterrichts betrachten, der den Forderungen einer »responsiven Ethik« gerecht wird. Um mich einer bestimmten Tradition innerhalb einer Literaturdidaktik, die sich in besonderem Maße Gedanken über das Problem des Verstehens literarischer Texte gemacht hat, zu positionieren, werde ich die Grundlagen eines solchen Literaturunterrichts in Anlehnung an das sehr bekannt gewordene vierstufige Modell des literarischen Verstehens skizzieren,

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das Jürgen Kreft 1982 als Alternative zu Karlheinz Fingerhuts Sequenz-Modell des Literaturunterrichts formuliert hat. Die Theorie Krefts dient mir dabei als Referenzpunkt, auf den ich mich sowohl affirmativ als auch kritisch beziehe. Kreft versucht an Hand der vier Phasen, in die der Prozess des literarischen Verstehens sich seiner Ansicht nach gliedern lässt, eine Strukturierung des Lernprozesses vorzuschlagen, wie sie idealerweise erfolgen sollte, um poetische und literarische Kompetenzen entwickeln zu können. Diskussionswürdig erscheint mir dabei Krefts Bezugnahme auf Hegel, mit dem er die Makro-Struktur von Bildungsprozessen in der Weise beschreibt, dass »sich das Subjekt einem ›Objektiven‹ zuwendet, sich ihm hingibt, seine bornierte Subjektivität an ihm abarbeitet und sich dabei das ›Objekt‹ (seiner Struktur nach) ›aneignet‹, es sich ›anverwandelt‹ und als selbst Verwandeltes zu sich zurückkehrt« (Kreft 1982, 376). Dieser Aussage kann als Norm und Ideal zugestimmt werden, wenngleich Kreft nicht hinzufügt, dass dieses Ziel nicht durch jede Form der Lektüre erreicht werden kann. Eine bloß »aneignende« Lektüre etwa, die das Fremde des Textes dem Verstehenshorizont des Subjekts unterordnet, birgt kaum Veränderungspotenzial. Kreft beschreibt das Verhältnis zwischen Leserin und Text nur sehr vage und die Art dieser »Aneignung«, die an sich notwendigerweise auch die Züge von Gewalt an sich trägt, wird an keiner Stelle näher hinterfragt. Kreft sieht diese Problematik im Prozess der schrittweisen Aufweichung eines »subjektiv-bornierten« Zugangs im Unterricht aufgehoben, dessen Ausschließlichkeit nach und nach durch andere, differenziertere Formen des Textzugangs aufgehoben wird. Andererseits ist die Frage, was mit diesen subjektiven, »bornierten«, die Ansprüche des Textes also zumindest teilweise ignorierenden Anteilen im Prozess der Lektüre geschieht beziehungsweise geschehen soll, damit nicht ausreichend beantwortet. Wie das Fremde des Textes vor einer völligen Vereinnahmung durch das Eigene geschützt werden kann, ohne dass diese wichtige, Authentizität und Originalität der Interpretation begründende, erste Phase ganz ausgeschaltet und vom sekundären Metawissen getilgt wird, geht aus Krefts Theorie nicht klar hervor. Gewiss scheint für Kreft aber die Möglichkeit der stufenweisen Entwicklung kognitiver Operationen und sozialer Handlungsmuster zu sein, wobei er diese Grundannahme in Anlehnung an Jean Piaget und das Modell einer Entwicklung der interaktiven Kompetenz nach Kohlberg und Habermas entwickelt (vgl. ebd. 86ff.). In seinem »Nachwort zum 4-Phasen-Schema« kommt Kreft allerdings selbst zu dem Schluss, dass eine klare Abgrenzung zwischen den »Stufen« seines Modells des literarischen Verstehens nicht in dieser Schärfe möglich ist und auch gar nicht als Ziel guten Literaturunterrichts verstanden werden soll (vgl. ebd. 400ff.). Hier wie an anderer Stelle besteht die Leistung Krefts vor allem darin, einige zu seiner Zeit durchaus noch gängige Wissenschaftsmythen kritisch zu betrachten. Besonders deutlich wird das etwa in seiner Auseinandersetzung mit Hannelore

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Links aus heutiger Sicht geradezu absurder Theorie eines »idealen Lesers«, der letztlich einzig der Autor selbst wäre (vgl. ebd. 137ff.). Kreft fordert stattdessen eine Hermeneutik, die den Verstehenshorizont und die Sozialisation des notwendigerweise in seiner eigenen Zeit verwurzelten Individuums nicht als nachteilig für die Interpretation historischer Texte sieht. Der Interpretationsprozess wird dabei als dialogisch und abschließbar betrachtet, allerdings nur insofern, als »die textvermittelnde Kommunikation zwischen Menschen stattfindet, die niemals, solange sie leben, endgültig die condition humaine bestimmt, ihr Dasein gedeutet haben und doch nur leben können, sofern sie es deuten« (ebd. 144). Hier zeichnet sich nun doch die Annahme eines – wenn auch nur in der Theorie möglichen – »idealen« Verstehens ab. Deutlicher wird diese Sichtweise dann, wenn Kreft Freuds Ödipus-Lektüre als eine dem Autor überlegene »Bearbeitung« des Stoffes versteht: »Er [gemeint ist S. Freud, Anm. N.M.] hat gewiß, wie Einstein, den Autor nur verstehen können, indem er ihn nicht nur anders, sondern besser, tiefer verstand.« (Ebd. 141) Aus dieser Annahme leitet Kreft schließlich die Tatsache ab, dass der Text, den er noch dazu mit dem Autor in eins setzt, eine verbessernde Interpretation nötig habe: »Was ein Autor sagt, der Text, ist immer nur eine vorläufige, überholbare, ja notwendig […] zu überholende, zu verbessernde Deutung. […] Nicht den Autor nur, sondern das Problem, über das er mit uns kommunizieren will, sollen wir verstehen, und zwar eins über das andere vermittelt.« (Ebd. 144) Diesen Grundannahmen gemäß sind dann auch die Intentionen, die Kreft dem Literaturunterricht unterstellt, erzieherisch ehrgeizig und zielen letztlich auf die Entwicklung einer im politischen Sinne mündigen Persönlichkeit ab. Von einem responsiven Umgang mit dem bei Kreft an vielen Stellen zu einer Art Problemaufriss degradierten Text kann hier keineswegs die Rede sein, vielmehr wird der Text in seiner Darstellung unter der Hand immer wieder zum bloßen Vehikel ideologiekritischer Sichtweisen auf die Gesellschaft.23 Dennoch ist Kreft zugutezuhalten, dass er eine umfassende theoretische Deutung des Literaturunterrichts vornimmt und auf diesem Wege immer wieder auf die Bedeutsamkeit der unberechenbaren Veränderung des Subjekts durch das angeeignete Objekt zurückkommt; dies ist ein Aspekt der Begegnung mit dem Fremden, der erst dank des Einflusses der Postcolonial Studies stärkere Verbreitung erfahren hat, davor – und damit auch zur Entstehungszeit von Krefts Grundproblemen der Literaturdidaktik – aber häufig ausgeblendet wurde. Der Hinweis Krefts auf diese Wechselwirkung zwischen Eigenem und Fremdem

23 | Das ist auch Krefts Anmerkungen über die Verwendung »trivialer Literatur« im Unterricht deutlich anzumerken (vgl. Kreft 1982, 326ff.).

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zeugt von jenem besonderen Gespür für die Machtverhältnisse des Lehrens und Verstehens, das seiner Theorie zugrunde liegt.24 Das vierstufige Verstehensmodell, das Kreft ausgearbeitet hat, grenzt sich auch noch in anderer Weise von den Vorgaben vieler seiner theoretischen Bezugspunkte, etwa der Philosophie G.W.F. Hegels, Jürgen Habermas’ und der Entwicklungspsychologie Jean Piagets, ab. Während hier die »bornierte Subjektivität« durchwegs negativ konnotiert wird, gesteht Kreft dieser ersten Phase der Auseinandersetzung mit einem literarischen Text eine grundlegende Bedeutung zu. Die emotionale Verstrickung der Rezipientinnen sei, so Kreft, ein äußerst wichtiger und für alle weiteren Sequenzen des literarischen Verstehens essenziell notwendiger Prozess. Dabei spiele es kaum eine Rolle, ob die Art der emotionalen Verstrickung nun auf positive (also gegenüber dem Text affirmative) oder negative Weise erfolgt, die sich in Form von Widerstand gegen das Gelesene äußert. Krefts Annahme, dass die Involviertheit in den Text sogar größer sein kann, wenn dieser eine abwehrende Reaktion auslöst, scheint mir durchaus plausibel (vgl. ebd. 380). Eine gänzlich affirmative Reaktion auf den Text kommt laut Kreft meist durch eine Ignoranz des Fremden und das Beharren auf bereits bekannten Wahrnehmungsmustern zustande, die »Rezeptionsgewohnheit [deckt] die neue Textstruktur mit der gewohnten alten zu« (ebd. 377). Kreft legt ausführlich dar, inwiefern Lehrer dieser und anderen Formen der inadäquaten Rezeption begegnen müssen.25 Trotz dieser notwendigen Korrekturen, die die Phase der bornierten Subjektivität überwinden helfen, sei diese von eminenter Wichtigkeit: Einerseits, weil in dieser Phase das Subjekt mit seinen gesamten Voraussetzungen, seinen emotionalen, biographischen und auch rezeptionstypischen Besonderheiten ins Spiel kommt, andererseits auch deshalb, weil die »daraus hervorgehenden Fragen der Schüler […] kein anderer für sie formulieren [kann]« (ebd. 382). Wenn man diese Phase der Annäherung an einen Text aus der Perspektive eines responsiven Literaturunterrichts betrachtet, so enthält diese – ebenso wie bei Kreft – wesentliche, in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Aspekte der Begegnung mit dem Text. In ihr ist jener Moment anzusetzen, in dem sich das Pathos im Sinne Waldenfels’ (vgl. Waldenfels 2006, 34ff.) entfalten kann, indem der Text und das mit ihm transportierte Fremde die Rezipientinnen unvorbereitet trifft. Hier ist die »Beunruhigung durch das Fremde« am größten, was, wie ja auch Kreft betont, ebenso eine Abwehrreaktion auslösen kann wie 24 | Es ist auch zu vermuten, dass Krefts intensive Gadamer-Lektüre ihn in dieser Hinsicht stark geprägt hat. 25 | Ein solches Eingreifen kann beispielsweise bedeuten, dass die Lehrperson in einer späteren Phase des Unterrichts auf Elemente des Textes verweist, die nicht mit der ursprünglichen Sicht auf den Text übereinstimmen oder dieser Sicht Widerstand entgegensetzen.

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eine unvoreingenommene Offenheit, vielleicht sogar Faszination. Ein solchermaßen »pathetischer Prozess« muss von Lehrerinnenseite als erwünscht deklariert werden, weil er von den gewohnten und damit von den Schülern »anerkannten« Unterrichtsszenarien deutlich abweicht. Generell ist festzuhalten, dass ein responsiver Literaturunterricht von gewohnten Beurteilungen und Ansprüchen abweichen muss, um den Ort, den das Literarische im Unterricht einnimmt, zu einem Ort zu machen, an dem diese überhaupt wirksam werden kann. Dafür spielt die Gesprächsführung eine wichtige Rolle, die den bei Blanchot skizzierten »echten Gedanken« (vgl. Blanchot 1991, 159) einen Raum öffnen kann, der sich durch vorhandene Gesprächsroutinen nicht öffnet. In anderen Kontexten verpönte Formen des Antwortens können hier hingegen zu unverzichtbaren Bestandteilen des Sprechens werden. Der Zugang zur Sprache, der Umgang mit der Sprache muss sich dabei vom alltagssprachlichen Sprechen (und Schreiben) auch strukturell weit entfernen. Das wird etwa dann deutlich, wenn Maurice Blanchot über die Bedeutsamkeit der Wiederholung für den »echten Gedanken« spricht: »Eine Wiederholung, die wiederholt [gemeint ist das vom Gegenüber Gesagte, Anm. N.M.], nicht um in ihren Bann zu schlagen, sondern um das Sprechen vom Zauber des Sprechens selbst zu befreien und es zu mildern statt einzuhämmern. […] Die Wiederholung löscht das Sagen aus und entmystifiziert es.« (Ebd. 160) Doch nicht nur das, die Aktivität, Progressivität, Positivität des Lernens und des didaktischen Settings, das uns zu einer unhinterfragten Selbstverständlichkeit geworden ist, muss seine Macht verlieren, wenn darin ein »echter Gedanke« Platz haben soll: So kämen wir doch zu der Vorstellung, dass »echte Gedanken« sich nicht entwickeln, sondern sich wiederholen? […] 1. Echte Gedanken entwickeln sich nicht, weil es echte Gedanken nur am Ende einer langen Entwicklung gibt, die sie zusammenfassen, indem sie sie aufheben: Grenz-Gedanken, Gedanken vom Ende einer Welt. 2. Echte Gedanken entwickeln sich nicht, weil sie die unendliche Entwicklung, die ihnen innewohnt, bewahren. 3. Echte Gedanken werden diskret ausgesprochen, im doppelten Sinne des Wortes: sie drängen sich nicht auf und wenn sie einmal gesagt sind, brechen sie ab; fragmentarische, diskontinuierliche Aussagen, die zwischen Sein und Nichts die Möglichkeit einer diskreten Vernunft einräumen. Unverbundene, der Zusammenhanglosigkeit preisgegebene Aussagen. Nicht ohne Verbindung, denn der Zwischenraum kann auch zu einer Beziehung werden. (Blanchot 1991, 159)

Damit sich eine solche Beziehung zum Text etablieren kann, muss eine von fertigen Interpretationsmodellen (oder -ansprüchen), pädagogischen Absichten und sogar der Hierarchie des Unterrichtsraumes befreite Begegnung erfolgen. Die Priorität des Textes in dieser Phase ist unabdingbar, der Text muss sich den Lesern aufdrängen dürfen, jegliche Form von Beeinflussung durch die

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Lehrperson würde hier störend wirken.26 Auf Grund der Erwartungshaltung und bereits erlernter Verhaltensmuster wird eine solche Form des Unterrichts vorerst in niedrigeren Schulstufen leichter zu vollziehen sein als in höheren. Die Bedeutung dieses ersten, unvoreingenommenen Aufeinandertreffens der Rezipientinnen mit dem Text sollte daher immer wieder geübt werden, in höheren Schulstufen ist es dann auch sinnvoll, die Hintergründe dieser Art der Textbegegnung explizit zu machen. Krefts Bezeichnung dieser ersten Phase der Textbegegnung als jene der »bornierten Subjektivität« verweist einerseits auf deren Bezug zum Entwicklungsmodell von Piaget, andererseits aber auch auf die Rolle des Individuums, das hier seinen subjektiven Eindrücken, Vorurteilen und Deutungen erst einmal freien Lauf lassen kann und soll. Vor dem Hintergrund von Waldenfels’ responsiver Ethik betrachtet, stellt dieser erste Schritt im Umgang mit dem Text also auch ein Risiko dar: »Die Fremderfahrung bedeutet keinen Akt, den wir uns zuschreiben können, sie besteht aus singulären Ereignissen, die unseren Intentionen zuvorkommen, sie durchkreuzen, von ihnen abweichen, sie übersteigen.« (Waldenfels 1997, 51) Dies ist nun wiederum ein Aspekt der Textbegegnung, der durchaus gelehrt werden muss und erlernt werden kann. Etwas vereinfacht gesagt, muss es in einem solchen Literaturunterricht von Anfang an nicht darum gehen, wie ich den Text finde, sondern was dieser mir zu sagen hat. Dabei geht es darum, einen Weg zu einem tatsächlichen Textverständnis zu finden, das nicht von vorneherein vom bereits Erlebten, Gedachten und Gewussten bestimmt wird. In diesem Sinne möchte ich die erste Phase der Textbegegnung als die des »Pathos« in jenem ursprünglichen Sinn des Wortes bezeichnen, auf den sich Waldenfels bezieht. Was die Darbietung des Textes betrifft, darf diese nicht dogmatisch in immer derselben Art erfolgen, da dies der Grundannahme widerspricht, dass jeder Text eine völlig neue, einzigartige Begegnung mit dem Fremden bedeutet. Nicht nur Waldenfels, sondern die Phänomenologie ganz allgemein betont allerdings die Rolle der Leiblichkeit für den Verstehensprozess,27 der nur durch die bewusste Beteiligung des Körpers zu einem unmittelbaren Erlebnis werden kann. Das Erfassen von Sinn wird so auch als sinnlicher, damit perspektivierter und subjektiver Prozess 26 | Schüler sind meist daran gewöhnt, sich literarischen Texten mittels sogenannter Leitfragen zu nähern. Diese empfinden sie oft als hilfreich, um den Text besser »verstehen« zu können. Bei genauerem Nachfragen wird allerdings deutlich, dass sich die Schülerinnen von diesen Leitfragen (zu Recht) Hinweise darauf erwarten, wie die Lehrperson wünscht, dass sie den Text verstehen, oder darauf, was der Text eigentlich bedeutet. 27 | Ganz wesentlich ist hier auch die Rolle des Vorlesens, die immer, und nicht nur im Kindergarten- und Grundschulbereich, ein wesentlicher Teil der Vermittlung poetischen Verständnisses bleiben soll (vgl. dazu auch Abraham 2010b, 12; Kruse 2012 und 2013).

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kenntlich gemacht. Die Illusion, dass es der von den Begrenzungen und Aporien des Leiblichen völlig freie Logos sei, der den »Untersuchungsgegenstand« auf bricht, um diesem objektiven Sinn zu entnehmen, wird durch eine Miteinbeziehung des Körperlichen ebenfalls als solche erlebbar. Dies wiederum ermöglicht es, jegliches Verstehen als relativ zu erfassen, was das Fremde in dessen genuiner Unzugänglichkeit in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Der Anteil des Leiblichen am hermeneutischen Prozess wird selbstverständlich durch die Inszenierung des Textes offensichtlicher, als wenn dieser nur still gelesen wird. Aus diesem Grund sollte dem Vorlesen auch auf höheren Schulstufen wieder mehr Raum gegeben werden. Der Prozess des Zuhörens verlangt den Rezipientinnen nicht nur Aufmerksamkeit ab, sondern bringt auch mit sich, dass »ich einen Anspruch vernehme, der nicht von mir ausgeht und auch nicht geradewegs von einem Dritten« (Waldenfels 2007, 192), der mich aber dennoch in die Pflicht nimmt, insofern ich mich diesem Anspruch nicht entziehen kann. Die Basis einer responsiven Ethik kann (und soll) aber durchaus auch im einsamen Lesen gelegt werden, schließlich ist es die Stille, die dem Anderen erst Raum gibt. Das Vorlesen oder Vorspielen eines Textes soll dennoch zumindest zeitweilig in allen Schulstufen Bestandteil des Literaturunterrichts bleiben.28 Von Lehrerseite aus ist in der ersten Phase der Textbegegnung vor allem eine Einschätzung darüber zu treffen, inwiefern das Fremde tatsächlich als solches wahrgenommen und anerkannt wurde. Wie auch Kreft bemerkt, liegt die Gefahr hier vor allem in einer unbewussten Umdeutung des Textgehalts von Seiten der Rezipientinnen, so dass das Störende und Beunruhigende des Fremden ignoriert wird, die Aussage des Textes so verdreht wird, dass sie ohnehin mit den eigenen Annahmen, Kenntnissen und Bedürfnissen übereinstimmt. Meist handelt es sich dabei um den Versuch, den Lektüreprozess leichter zu machen, dem Fremden sozusagen seinen Stachel zu ziehen. In der ersten Phase, die weitgehend von der Lehrperson unbeeinflusst bleiben soll, muss diese Haltung erlaubt sein. In der zweiten Phase, die Kreft als jene der »Objektivierung« bezeichnet, wird dieser individuellen Auseinandersetzung mit dem Text nun allerdings etwas entgegengesetzt. Kreft zufolge wäre dies eine Konfrontation verschiedener Perspektiven auf den Text, wobei diese sich nicht nur aneinander, sondern am Text »abarbeiten« sollen, um so zu einem besseren Verständnis desselben zu gelangen. Die Fragen und Ansätze, die an eine genauere Analyse des Textes heranführen sollen, werden dabei von den Schülern selbst ausgearbeitet und nicht von der Lehrperson vorgegeben. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag – diese Phase ist schon nicht mehr rein textimmanent. Sie soll den Text letztlich auf eine Wahrheit 28 | Dazu muss allerdings auch gesagt werden, dass jede Form des Vorlesens immer auch schon eine Interpretation ist.

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hin »transzendieren«, die Kreft als die »normativ-relevante Interpretation der Lebenspraxis, der conditio humana« (Kreft 1982, 384) beschreibt. Wie genau ein derart ungesteuerter Unterricht, wie ihn Kreft hier skizziert, von den Annahmen der ersten Phase des Verstehens zu jener kryptischen »Wahrheit« gelangen soll, die ebenfalls nicht ausreichend definiert wird, bleibt rätselhaft. Er nimmt dabei wohl einen Grad an Selbstreflexivität der Schüler an, den man sicherlich nicht als gegeben voraussetzen kann. Die Konfrontation der unterschiedlichen Standpunkte hingegen scheint durchaus geeignet, ein besseres Textverständnis entwickeln zu können. Allerdings geht Kreft dabei von Fragen aus, an Hand derer die Schülerinnen sich kollektiv an den Text annähern können. Bernhard Waldenfels steht dem Primat der Frage prinzipiell sehr skeptisch gegenüber. Diese Skepsis erwächst aus der unmittelbaren Wirkung des Fremden (in diesem Fall des textuellen Fremden), die durch eine Frage bereits wieder abgeschwächt werden kann: »Sinn entsteht also primär nicht durch Sinngebung, sondern durch Sinnwirkung; uns stößt etwas zu, das seine Bedeutung sucht.« (Waldenfels 2007, 123) Das bedeutet nun natürlich nicht, dass im Literaturunterricht keine Fragen gestellt werden dürfen. Wesentlich ist, dass es sich dabei nicht um vorgefertigte Fragen handelt, sondern dass gerade jene Fragen gefunden werden, die nicht von vorneherein gegeben waren. Die eigentliche Aufgabe eines responsiven Literaturunterrichts wäre es also, jene Fragen zu finden, die der Text aufwirft, sowohl als singulärer Text als auch für die (als Einzelne und Kollektiv) einzigartigen Indidivuen. Wenn man davon ausgeht, dass der literarische Text ein Sinngewebe darstellt, das von vielen bekannten Elementen zusammengehalten wird, dann wären für ein Gespräch über den Text gerade jene Stellen bedeutsam, die dieses Sinngewebe aufreißen, die aus dem Bekannten heraus das Fragliche entstehen lassen.29 Nur wenn diese Fraglichkeit, die unmittelbar aus dem Fremden erwächst, im Mittelpunkt der zweiten Phase steht, kann eine Überlagerung des Neuen und Unbekannten mit dem bereits Gesagten und Getanen vermieden werden. Der 29 | Es gibt zahlreiche zeitgenössische Autorinnen, deren Texte eine solche Lesart einfordern, ja geradezu erzwingen. Sprache ist eine mögliche Manifestation dieser Kultivierung von Sinnverschiebung und sinnhafter Heterogenität, aber eine solche kann auch über Bilder erfolgen. Der australische Künstler Shaun Tan etwa verwendet in vielen seiner Bücher gar keine Worte, zwingt die Betrachter aber zur Aufgabe ihrer Wahrnehmungsroutinen, indem der vermeintlich kausale Zusammenhang gerade in dem Moment, in dem die Rezipientinnen ihn herzustellen versuchen, gebricht. Bei entsprechender didaktischer Aufbereitung der teils sehr umfangreichen und hoch komplexen Bilderzählungen haben wir im Rahmen eines Projekts erlebt, wie bereits fünfjährige Kinder ohne spezielle Vorbildung oder Vorbereitung in der Lage sind, diese Erzählungen und ihre Brüche wahrzunehmen und daraus ihre jeweils eigene Geschichte (Interpretation) entstehen zu lassen.

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Lohn einer solchen mühevollen Auseinandersetzung mit dem Text ist der Impuls, der vom Fremden ausgeht und neue, ungeahnte Möglichkeiten des Redens und Tuns eröffnet: »Nun ist es weder der Optativ noch der Imperativ, der den Frageton angibt, sondern der Potentialis, das posset (peut-être, maybe) als das, was sein kann und nicht bloß sein möge oder soll.« (Ebd. 170) Es ist also diese spezielle Art der Fraglichkeit, die in einem responsiven Literaturunterricht eine zentrale Position einnimmt. Um diese noch einmal klar von der Frage zu unterscheiden, auf der der traditionelle Literaturunterricht basiert, differenziert Waldenfels in Anlehnung an Merleau-Ponty zwischen »fragenden« und »gefragten« Fragen.30 Erstere sind für einen responsiven Umgang mit Texten entscheidend, denn sie bewegen sich außerhalb eines »bereits bestehenden Frageboden[s]« (ebd.). Zu ihnen gibt es noch keine vorgefertigten Antworten und sie alleine sind in der Lage, tatsächlich Neues hervorzubringen. Die Fraglichkeiten, die in einem responsiven Literaturunterricht besprochen werden, sind somit Fragen, die ihrem Wesen nach Antworten auf den Text, nicht auf die eigenen Fraglichkeiten, sind. Die entscheidende didaktische Herausforderung der zweiten Phase ist also nicht zuletzt die Schulung der Aufmerksamkeit,31 die die Voraussetzung darstellt, um jene nicht offensichtlichen und oft auch schwer zu formulierenden Fragen hören zu können. Die Aufmerksamkeit spielt bereits in der ersten Phase der Auseinandersetzung mit dem literarischen Text eine entscheidende Rolle. Sie ist als eine Grundkomponente der Responsiven Literaturdidaktik zu verstehen, die die ganze Zeit über aufrechterhalten bleibt. Das eigentlich Neue der zweiten Phase ist die Entwicklung des »Möglichkeitssinns«, wie ihn Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften beschreibt: »Trotzdem werden es in Summe oder im Durchschnitt immer die gleichen Möglichkeiten bleiben, die sich wiederholen, so lange bis ein Mensch kommt, dem eine wirkliche Sache nicht mehr bedeutet als eine gedachte. Er ist es, der den neuen Möglichkeiten erst ihren Sinn und ihre Bestimmung gibt, und er erweckt sie.« (Musil 2004, 17) Nur wer »fragende Fragen« an den Text stellt, kann Möglichkeitssinn entwi30 | »Dabei müssen wir unterscheiden zwischen Schlüsselfragen, die ein Feld erstmals erschließen, und sekundären oder normalen Fragen, die sich auf einem bereits bestehenden Frageboden bewegen und sozusagen durch ihre eigene Ordnung eingeholt werden.« (Waldenfels 2007, 172) 31 | Die »Phasen« des responsiven Literaturunterrichts sind, wie bereits erwähnt, nur als eine grobe Markierung für unterschiedliche Schwerpunktsetzungen zu sehen. Sie durchdringen einander in vielfacher Weise, so ist etwa bereits die erste Phase mit ihrem Anspruch, den Text in seiner Wirksamkeit auf das Eigene wahrzunehmen, auch eine Schulung der Aufmerksamkeit. Diese ist, insgesamt gesehen, die wesentlichste Voraussetzung der Responsiven Literaturdidaktik und spielt somit auf allen Ebenen eine entscheidende Rolle.

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ckeln und erkennen, dass die bestehende Ordnung nicht die einzig gültige ist. Insofern verfügt ein responsiver Literaturunterricht in besonderem Maße über das von Kreft geforderte, revolutionäre Potenzial, auch wenn dieses noch deutlicher außerhalb einer jeden Ordnung steht, als das bei Kreft angenommen wird, und ein déreglement des sens erforderlich macht, das sich mit klaren pädagogischen Zielvorgaben nicht mehr vereinbaren lässt. Da diese Dimension der Erfahrung im Mittelpunkt der zweiten Phase steht, möchte ich diese als die »utopische Phase« bezeichnen. Hier soll herausgearbeitet und verglichen werden, was am Text besonders fragwürdig, merkwürdig, eindrucksvoll, unverständlich, widersprüchlich oder absurd erscheint. Alles, was aus der Norm fällt, soll in dieser Phase im Mittelpunkt des Interesses stehen und schließlich zu ersten Thesen über den Text führen. Die reflexive Auseinandersetzung damit, was sich am Text (positiv oder negativ) aufgedrängt hat und weshalb das so war, ist nun vorrangig, wobei die subjektive Empfindung bei der ersten Textbegegnung nun langsam durch Thesen und Theorien ergänzt werden kann, die den Text und seinen Charakter, also Sprache, Form und Inhalt (der jeweiligen Schulstufe angepasst) zu beschreiben versuchen. Die dritte Phase stellt Kreft unter das Motto der »Aneignung« und »reflektierten Subjektivität«, wobei hier eine Rückwendung des Subjekts zu sich selbst erfolgen soll. Die durch die Konfrontation mit anderen Perspektiven und Meinungen korrigierte Sichtweise der »bornierten Subjektivität« soll hier nun in individueller Auseinandersetzung mit dem Text überdacht werden. Ergebnis dieses intensiven Studiums sei im Idealfall die Entwicklung neuer »Einsichten, Einstellungen, Wahrnehmungs- und Denkweisen, Selbstinterpretationen« (Kreft 1982, 385). Diese Aufgabe reicht, wie Kreft richtig feststellt, weit über den eigentlichen Unterricht hinaus und kann daher von der Lehrperson auch nur bis zu einem gewissen Grad angeleitet werden. Eine Aufgabenstellung, die in dieser Phase besonders hilfreich ist, so Kreft, sei das Verfassen eigener Texte, wobei besonders der Essay zu einer vertieften Auseinandersetzung mit sich selbst führe. Die vierte Hauptphase des literarischen Verstehens ist dann die der »allgemeintheoretischen Applikation« (vgl. ebd. 379), in der die Schüler dazu aufgefordert werden, das Erlernte in einen historischen und gesellschaftlichen Kontext zu stellen und innerhalb dieses Horizonts zu verstehen. Auch der Vergleich mit anderen Texten ist in dieser Phase vorgesehen, wobei sich durch diese Auseinandersetzung vermutlich neue Aufgabenstellungen entwickeln werden, die dann das zentrale Thema weiterer Unterrichtssequenzen darstellen. Wie Kreft richtig feststellt, kommt diese Phase im traditionellen Literaturunterricht noch am ehesten zu ihrem Recht, »soweit nicht überhaupt die Texte bloß zur Anwendung und Erlernung von Methoden dienen« (ebd. 386). Die dritte Phase ist, in der Form, wie sie bei Kreft vorgesehen ist, auf den ersten Blick insofern problematisch für einen responsiven Literaturunterricht,

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als hier von einer »Phase der Aneignung« die Rede ist. Allerdings wird dieser Begriff bei Kreft auf eine spezielle Weise verwendet: »Im Zurückwenden auf sich selbst sollen die Schüler, was die Arbeit am Text an ihnen bewirkt hat, sich weiter auswirken lassen.« (Ebd. 385) Die »Aneignung« soll sich also als ein »Lernen von …« vollziehen, das auch eine Veränderung des Subjekts durch das Gelesene und Gehörte miteinschließt. Es kommt allerdings im Laufe der Lektüre von Krefts Grundproblemen der Literaturdidaktik immer wieder der Verdacht auf, dass der von ihm vorgeschlagene Literaturunterricht doch ein ganz konkretes Ziel, nämlich jenes der Ausbildung eines kritischen politischen Bewusstseins durch (eine diesem Ansinnen besonders dienliche) Literatur, verfolgt. In dem Kapitel, das sich der Kanon-Frage widmet, nennt er etwa die Parameter »Geschichtsmächtigkeit« und »emanzipatives Potenzial«, die über die Relevanz eines Textes für den unterrichtlichen Gebrauch zu entscheiden hätten (vgl. ebd. 315). Abgesehen davon, dass der Begriff der »Geschichtsmächtigkeit« von ihm nicht ausreichend klar definiert wird, sind diese beiden Kategorien, so weit man sie auch fassen mag, noch längst nicht in der Lage, die Qualität aller Texte zu erfassen, die ein vertretbares Anrecht auf Aufnahme in den Kanon erheben können. Die Kanondebatte führt an dieser Stelle zu weit weg vom ursprünglichen Thema, als dass sie ausführlich behandelt werden könnte, es bleibt aber festzuhalten, dass die dritte Phase des Kreft’schen Unterrichtsmodells die Befähigung der Schülerinnen zu einer ideologiekritischen Haltung als ein wesentliches Ziel des Literaturunterrichts propagiert. Ob der literarische Text seine unvorhersehbare Wirkung tun kann, wenn er unter dieser Prämisse gelesen wird, bleibt fraglich. Ein responsiver Literaturunterricht muss diese letzten beiden Phasen in jedem Fall umformulieren. Wenn die erste und zweite Phase die volle Aufmerksamkeit auf den Text gelenkt und geholfen haben, diesen so zu lesen, dass seine Fragestellungen und die in ihm verborgenen Möglichkeiten offensichtlich werden, kann eine dritte Phase auf dieser Grundlage auf bauen. Die Beschäftigung mit dem »Eigenen« wird damit nicht obsolet, sie erhält aber einen anderen Fokus, als das bei Kreft der Fall ist. Waldenfels weist darauf hin, dass »die Erfahrung des Fremden die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem in Bewegung [bringt], und dies umso mehr, je näher uns das Fremde rückt« (Waldenfels 1997, 44). Die dritte Phase bedeutet also durchaus wieder eine Rückwendung auf sich selbst, und hier soll im Sinne der Responsivität auch hinterfragt werden, inwiefern das Fremde des Textes das Eigene32 verändert 32 | »Das Eigene« ist hier in einem sehr umfassenden Sinn zu verstehen, damit ist also nicht nur der von Kreft hervorgehobene intellektuelle Zugang zur Welt gemeint, sondern auch dessen emotionale Basis, die sich aber schwerer in Begriffe fassen lässt. Abgesehen davon beschreibt Waldenfels die Wirkung des Fremden auf das Eigene als einen »Exzess«, ein unerhörtes und undurchschaubares Ereignis, das niemals zur Gänze in die

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hat. Das Hauptaugenmerk ist aber weiterhin auf den Text und seine Fragestellungen zu legen, die nun allerdings in größere Zusammenhänge eingebettet werden können. Damit sind nicht nur intertextuelle Bezüge gemeint, sondern auch die Bezugnahme auf theoretische Ansätze aus den Literatur- und Kulturwissenschaften, die auf den jeweiligen Text »antworten« oder (sofern vorhanden) gängige Interpretationsmodelle des Textes sowie auch dessen Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte. Das Modell eines responsiven Literaturunterrichts kommt also mit drei Hauptphasen aus, wobei ich die letzte in Anlehnung an Kreft als die Phase der »allgemeintheoretischen Applikation und des kreativen Antwortens« bezeichnen möchte. Wesentlich ist, dass die Bezüge, die hier hergestellt werden, unmittelbar aus dem Text selbst erwachsen und nicht etwa aus einer wie auch immer gearteten pädagogischen Ideologie33 heraus diesem aufgezwungen werden. Die Vorbedingung für das Gelingen dieser Phase, die den Text mit seiner Geschichte in Verbindung bringt, sind die ersten beiden Phasen, in denen das Fragefeld, die der jeweilige Text erschließt, erkundet wird. Wenn das gelungen ist, die Fraglichkeit als Anspruch des Textes an die Leser begriffen wird, wird dieser auch in der Lage sein, passende Bezugspunkte zu finden. Wesentlich ist, dass die Erschließung des Textsinns immer nur als eine partielle Erschließung und als eine Möglichkeit von vielen verstanden wird. In diesem Sinne sind »kreative Antworten« auf den Text zu geben, der sich in diesen dennoch nie erschöpft: »Berücksichtigen wir die Möglichkeit, dass im Antworten nicht bloß ein bereits existierender Sinn wiedergegeben, weitergegeben oder vervollständigt wird, sondern dass im Gegenteil Sinn im Antworten selbst entsteht, so stoßen wir auf das Paradox einer kreativen Antwort, in der wir geben, was wir nicht haben.« (Ebd. 53, Herv. i O.) »Kreative Antworten« in diesem Sinne sind Reaktionen auf den Text, die aus der engen Verbindung zwischen Text und Leserin entstehen und neue Denkstrukturen etablieren helfen, anstatt bereits Gewusstes und Gedachtes Sprache des Logos übersetzt werden kann. In diesem Sinne sind einer intellektuellen Auseinandersetzung mit der Wirkung des Textes auf das Eigene Grenzen gesetzt, die im Literaturunterricht auch thematisiert werden sollen. 33 | Als »pädagogische Ideologie« bezeichne ich hier in Zusammenhang mit dem Literaturunterricht den Wunsch, an Hand literarischer Texte Erziehung zu einem bestimmten Zweck/auf ein bestimmtes Ziel hin zu betreiben. Nicht nur der Literaturunterricht, auch die Kinderliteratur fühlten sich lange Zeit dazu bemüßigt, nicht nur »selbstzweckhaft« zu arbeiten, sondern mit allem Sprechen und Tun die Erreichung eines pädagogischen Ziels zu verfolgen. Dieser Gedanke ist auch heute noch präsent, wenn etwa angenommen wird, dass der Literaturunterricht Kompetenzen zu entwickeln und zu fördern habe, die nicht einem tieferen Verständnis von Literatur oder der Ausbildung der ästhetischen Wahrnehmung dienen, sondern etwa der Entwicklung von Empathie oder anderer gesellschaftlich besser »verwertbarer« Fähigkeiten.

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lediglich zu wiederholen. Es sind dies also Antworten, die vom Fremden des Textes her kommen und nicht darauf abzielen, dieses zu »verstehen« und ins Eigene zu integrieren. Dementsprechend betrachte ich das Fremde des Textes im Gegensatz zu Kreft nicht nur als den Ausgangspunkt, sondern auch als das Ziel des literarischen Verstehens. Wie dieser Weg zur »kreativen Antwort« didaktisch vorbereitet oder angeleitet werden kann, ist stark vom jeweiligen Text abhängig, dafür kann es keine allgemein gültigen Rezepte geben. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass sich nicht für alle dieselben Fragestellungen auftun werden. Folglich muss in einem responsiven Literaturunterricht genug Raum für die eigene Begegnung mit dem Text geschaffen werden. Diese kann ebenso in stillem Nachdenken, etwa während des Vortrags der Lehrperson zu einem bestimmten Aspekt des Textes, wie auch in alleiniger, selbstständiger Textproduktion erfolgen. Diese Auseinandersetzung findet unter Umständen aber auch in Form eines Dialogs statt, in dem der Zuhörer allerdings in der ersten und zweiten Phase tatsächlich Zuhörer bleiben muss, um die Herausbildung der Fragen, die der Text an die Anderen stellt, nicht zu behindern. Diese Form des Zuhörens kann ohne eine Zeit der Einübung und ohne die kontinuierliche Etablierung einer Routine nicht vorausgesetzt werden. Erst wenn diese Fähigkeit entsprechend ausgebildet ist – was bereits im Kindergartenalter möglich ist –, kann eine individuelle Bindung zwischen Text und Leser entstehen. Auf höheren Schulstufen kann eine Auseinandersetzung mit dem Text in dieser dritten Phase auch schriftlich erfolgen, wobei der Essay sich dafür besonders gut eignet. Dieser ist an sich schon eine hybride Textsorte, die Wissenschaftlichkeit und Literatur miteinander verbindet, ohne die Vorrangigkeit des Einen gegenüber dem Anderen zu behaupten. Die Schulung der Aufmerksamkeit dem Text gegenüber, die vor allem in der ersten und zweiten Phase von grundlegender Bedeutung ist, umfasst auch die genaue Betrachtung sprachlicher und formaler Eigenheiten des Textes. Dies sind Komponenten, die über den eigentlichen Literaturunterricht hinausgehen und ein zumindest rudimentäres Wissen über linguistische Sachverhalte erfordern. Dieses Wissen muss dabei nicht von Anfang an als Metawissen vorhanden sein, auf niedrigeren Altersstufen genügt es, wenn die meist ohnehin durch den noch nicht vollständig abgeschlossenen Spracherwerb vorhandene Aufmerksamkeit für grammatikalische, semantische, visuelle, auditive, haptische, kurz, die ästhetische Wirkung hervorbringende Phänomene gefördert und als wesentlich bestätigt wird. Dieser Bereich einer gesteigerten Aufmerksamkeit für sprachliche und formale Phänomene in Text und Bild ist abgesehen davon vielleicht das am besten lehrbare und modellhaft darstellbare Element des responsiven Literaturunterrichts.34 34 | Im Bereich der Kunstpädagogik gibt es zahlreiche Ansätze zur Intensivierung der bei Kindern ohnehin sehr ausgeprägten ästhetischen Wahrnehmungsfähigkeit, die sich

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Die drei Phasen der Textbegegnung in einem responsiven Literaturunterricht: • Phase des »Pathos«: Erste, von jeglichen auf Verständnis zielenden Vorgaben auf Lehrerinnenseite unbeeinflusste Begegnung mit dem Text; Rolle der Leiblichkeit, des lesenden Aufnehmens oder Zuhörens; erste unmittelbare Reaktion auf das Fremde des Textes (abwehrend oder affirmativ); Phase des Staunens; besondere Aufmerksamkeit dem Text gegenüber, so dass die Fragwürdigkeit sich aufdrängt, die das Netz des Fraglosen zerreißt. • Phase der »Utopie und Theorie«: Entwicklung des »Möglichkeitssinns«, Erlernen der Aufmerksamkeit für das Fremde und Neue, das der Text darstellt, und Verbalisieren der neuen Sichtweisen, Ideen, Emotionen und Veränderungen, die sich daraus ergeben; Erarbeitung eigener und kollektiver Thesen/Theorien zum Text. • Phase der »allgemeintheoretischen Applikation und des kreativen Antwortens«: Erarbeitung des Zusammenhangs der durch den Text aufgeworfenen Fragen mit Theorien und gesellschaftlichen Hintergründen; kreatives Antworten in schriftlicher und/oder mündlicher Form, indem man »gibt, was man nicht hat«, also ein immer unzureichendes Antworten auf die Ansprüche des Textes.

gut auf den Literaturunterricht übertragen lassen. Vgl. dazu etwa die im Literaturverzeichnis angegebenen Publikationen von Pierangelo Maset, Petra Kathke und Andrea Sabisch.

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3. Das Fremde als Eigenes

Überlegungen zur Rolle der Responsivität



in postmodernen Identitätsverhandlungen

Kommen wir noch einmal auf die Figur des Patrick Bateman in American Psycho zurück: Diese ist ein postmoderner Alptraum, gezeichnet als Zerrbild skrupelloser Börsenritter, denen er jedoch nichts »sagen« möchte. Die Warnungen, die dieses Buch enthält, sind wesentlich subtiler und die darin formulierte Kritik trifft in erster Linie intellektuelle Eliten. Jene etwa, die sich auf der Suche nach einem klar definierbaren Sollzustand dem »Alten« zuwenden und dabei eine Haltung entwickeln, die den kannibalischen Umtrieben Batemans entspricht. Oder aber jene, die sich ganz der Beliebigkeit verschrieben haben, die über die endlose Bedeutungsverschiebung zum Relativismus und schließlich zum Nihilismus gelangt sind. Identität im Sinne des Vorhandenseins von »nicht-beliebige[n], vertraute[n] Strukturen« (Bronfen, Marius 1997, 1) ist nach wie vor ein menschliches Grundbedürfnis, das gerade in schulischen Kontexten nicht ignoriert werden sollte – die Suche nach einem relativ stabilen Ausgangspunkt, der sich vielleicht immer noch am besten mit dem Begriff der hybriden Identität fassen lässt, gestaltet sich heute allerdings mit Sicherheit anders als noch zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Ob als orale oder schriftliche Tradition, Literatur war immer schon ein wesentlicher Bestandteil des Identitätsbildungsprozesses und das längst nicht nur im Sinne der Herauf beschwörung nationaler Werte und Charakteristika. Lebensgeschichten und daraus resultierende Erfahrungen, die natürlich jeden Schreibprozess beeinflussen, haben sich im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allerdings drastisch verändert. Die Erfahrung von Grenzüberschreitungen ist, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn, zu einer existenziellen Erfahrung des neuen Jahrtausends geworden. Die zeitgenössische Literatur reflektiert diesen Paradigmenwechsel und so mutmaßt Homi K. Bhabha: »Während einst die Weitergabe nationaler Traditionen das Hauptthema einer Weltliteratur war, können wir jetzt möglicherweise annehmen, dass transnationale Geschichten von Migranten, Kolonisierten oder politischen Flüchtlin-

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gen – diese Grenzlagen – die Gebiete der Weltliteratur sein könnten.« (Bhabha 2000, 19) Man muss wohl ein wenig abstrahieren, um diese Aussage für gültig erklären zu können, denn mit Sicherheit ist es auch heute nicht notwendig, in einem Text explizit auf die Situation von Migranten, Kolonisierten oder politischen Flüchtlingen einzugehen, um Weltliteratur im Sinne einer weltweit relevanten Literatur schaffen zu können. Wie Bhabha an anderer Stelle ausführlich darlegt, ist der Zustand »post-kolonial, post-modern« heute ein universal gültiger (vgl. ebd. 267). Andernfalls wäre eine Bezugnahme auf die postkoloniale Theorie in Ländern, die keine koloniale Vergangenheit oder im politischen Sinne postkoloniale Gegenwart haben, gar nicht zulässig.1 Der in Großbritannien geborene und später nach Frankreich emigrierte Künstler, Schriftsteller und Essayist John Berger beschreibt ähnlich wie Homi K. Bhabha die Emigration und damit verbundene Erlebnisse existenzieller Entwurzelung als »l’expérience essentielle de notre temps« (Berger 2013). Die »Exilsituation«, die zu einer Massenerfahrung geworden ist, bringe weitaus größere Veränderungen mit sich, als einen bloßen Orts- und Sprachwechsel. Der Verlust des »foyer«, des Heims als Zentrum individueller und kollektiver Identität, bewirke einen Sinn- und Sicherheitsverlust, der letztlich nur durch neue Formen der Solidarität aufgefangen werden könne (vgl. ebd.; vgl. dazu auch Wintersteiner 2006a, 37-39). Mein Fokus in der Auseinandersetzung mit dem nun folgenden Text liegt also – das ist mein selbst gewählter Ausgangspunkt – auf den identitären Überlebensstrategien im Umgang mit der äußeren und inneren Fremdheit, die in diesem Text auf sämtlichen Ebenen der Erzählung entwickelt werden. 1 | Wie Babka, Malle und Schmidt in der Einleitung ihres Sammelbandes Dritte Räume ausführen, sind die beiden Hauptargumente, die gegen die Miteinbeziehung der Postkolonialen Theorien in die germanistische Literaturwissenschaft angeführt werden, auch heute noch die, dass Deutschland keine koloniale Vergangenheit habe und postkoloniale Situationen daher in deutschsprachigen Texten selten eine Rolle spielen. Dieser Behauptung setzen sie die Überzeugung entgegen, dass die postkoloniale Theorie ein äußerst differenziertes Instrumentarium zur Verfügung stellt, wenn es darum geht zu einem »reflektierten Umgang mit Konzepten wie ›Identität‹, ›Alterität‹, ›das Eigene‹ und ›das Fremde‹ zu finden« (Babka, Malle, Schmidt 2012, 11). Dem möchte ich noch hinzufügen, dass die »postkoloniale Situation« eine globale Situation ist, von deren tiefgreifenden strukturellen Veränderungen auch jene Länder stark betroffen sind, die selbst keinen direkten Anteil am Kolonialismus hatten. Ebenso hat etwa die Abschaffung der Apartheid in Südafrika längst nicht nur Denken und Handeln in diesem Land verändert. Man muss gerade von der Wissenschaft verlangen dürfen, auf die so entstehenden Ansprüche einer entgrenzten Welt zu reagieren. Eine Miteinbindung der Postcolonial Studies in Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik lässt sich als eine solche angemessene Reaktion betrachten.

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Der literarische Text, mit dem ich mich hier näher befassen möchte, stammt von einem südafrikanischen Autor. John Maxwell Coetzees Erzählung Warten auf die Barbaren lässt keine Einordnung in Bezug auf Zeit und Ort zu, doch allein Coetzees Nationalität hat ihm den Ruf eines »postcolonial writers« eingebracht. Die Erzählung ist ohne die (post-)koloniale Erfahrung, die zum Leben des Autors gehört, wohl auch nicht zu denken. Dennoch ist Warten auf die Barbaren in erster Linie eine Parabel auf den Umgang mit dem Fremden und dessen Auswirkungen auf das davon vermeintlich scharf abgegrenzte Eigene. Der Protagonist dieses Textes ist ein hoher Beamter an einem fiktiven Ort, der seine Identität hauptsächlich aus der Abgrenzung gegenüber seinen Feinden schöpft, über die die Einwohner allerdings nur wenig Kenntnis besitzen. Der Magistrat, so die Bezeichnung des Protagonisten, der nur über seine berufliche Tätigkeit definiert wird und nie einen Namen erhält, hat gelernt sich auf seine klar definierten Aufgaben zu beschränken und sich von allen anderen Vorgängen in der Stadt abzuschotten. Etwas anderes will er zu Beginn der Erzählung eigentlich auch nicht, es genügt ihm, in Ruhe leben zu können und einem anerkannten Beruf nachzugehen. Eines Tages aber bringen Soldaten Gefangene in die Stadt und der Magistrat sieht, wie die »Barbaren« misshandelt werden, was ihm innerlich widerstrebt. Die Gefangenen kommen nach kurzer Zeit wieder frei, nur ein Mädchen bleibt zurück. Der Magistrat ist nun für die Gefangene verantwortlich und begibt sich in immer größere Nähe zu der auf ihn einerseits bedrohlich, andererseits äußerst anziehend wirkenden »Fremden«. Die vage, asymmetrische Beziehung, in die er zu ihr tritt, lässt schließlich jedoch alle bisherigen Gewissheiten seines Daseins ins Wanken geraten. Die Dichotomien, als deren Hüter er von Amts wegen auftreten soll, werden fraglich und beginnen an seiner Identität, an seinen Vorstellungen von Identität ganz generell, zu nagen. Freund und Feind, richtig und falsch, erlaubt und verboten, das sind Kategorien, die das Leben des Magistraten bisher bestimmt haben und durch die neue Situation erst unscharfe Ränder bekommen, sich schließlich aber ganz aufzulösen beginnen. Dieser Text zeigt vor allem die ambivalenten und für beide Seiten unberechenbaren Verschränkungen zwischen Eigenem und Fremdem, die die postkoloniale Theorie erstmals in ihrer Abgründigkeit anerkannt und in Begriffe gefasst hat. Die parabelhafte Form der Erzählung verweist auf die Allgemeingültigkeit dieser Geschichte, deren vielfaches Bedeuten sich längst nicht auf die Aufarbeitung der Geschichte Südafrikas beschränkt. Die Gefahr, Aspekte eines Textes, die weit über konkrete politische Bezüge hinausgehen, zu übersehen, ist jedoch gerade bei »etikettierter« Literatur gegeben. Das stellt auch Nadine Gordimer fest, wenn sie in einem Interview die Rezeption ihres Romans The House Gun dahingehend kritisiert, dass nur die eindeutig postkolonialen Aspekte rezipiert worden seien, während alle andere Facetten des Romans einfach ausgeblendet wurden: »Some critics of my latest novel, The House Gun, focus on the fact that the familiy employs

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a black advocate, who is recommended as the best. The critics see this crisis of employing a black advocate as the focus of the book. But what about the relationship between the parents and the son? What about the responsibilities of love between people who say they love each other?« (Gordimer 2000, 4) Um den Kern ihres literarischen Schaffens zu beschreiben, zitiert Gordimer immer wieder einen Satz des indischen Schriftstellers und Filmemachers Satyajit Ray: »It is the presence of the essential thing in a very small detail which one must catch in order to expose larger things.« Die von Satyajit geforderte Aufmerksamkeit gegenüber den scheinbar nebensächlichen Dingen, die doch Wesentliches enthalten, erhebt Gordimer zum Prinzip literarischen Schaffens, wenn sie schreibt: »I think if you are really a writer you can make anything – even the death of a pet dog or a canary – significant.« (Ebd. 5) Die nun folgende Auseinandersetzung mit Waiting for the Barbarians ist darum bemüht, dem Bedeutungsgefüge innerhalb des Textes und dessen Details zu folgen. Die politischen Umstände der Entstehung dieses Romans bleiben dabei weitgehend außer Acht.

3.1 »These border and frontier conditions « 2 – G renzgänge zwischen E igenem und F remdem . E ine responsive L ek türe von J.M. C oe tzees Waiting for the B arbarians Die Texte des südafrikanischen Nobelpreisträgers John Maxwell Coetzee werden seit dem Erfolgszug der postcolonial studies in sämtlichen wissenschaftlichen Disziplinen zur Illustration entsprechender Thesen herangezogen. Diese wissenschaftliche »Kolonialisierung« ist nicht spurlos an Coetzees literarischem Schaffen vorübergegangen. Die erste Phase seiner schriftstellerischen Tätigkeit, während der auch Waiting for the Barbarians entstanden ist, zeichnet sich durch eine Reihe vermeintlich allegorischer Erzählungen aus, die sich bei genauerer Betrachtung als anti-allegorisch entpuppen. Das bedeutet, dass diese Texte stets auch die Bedingungen ihrer Rezeption reflektieren, wobei Coetzees kritisches Interesse an dekonstruktivistischen und poststrukturalistischen Theorien seine Auseinandersetzung mit Fragen des Bezugs zwischen Wirklichkeit und Fiktion noch verstärkt haben. Seine späteren Romane Youth und Boyhood könnten als autobiographisch (miss-)verstanden werden, sie leiten im Grunde jedoch eine Phase höchst kritischer Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Erinnerns und Erzählens ganz generell und dem autobiographischen Schreiben im Besonderen ein.

2 | Bhabha 2000.

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Waiting for the Barbarians nimmt insofern eine besondere Stellung in Coetzees Schaffen ein, als dieser Roman seinen weltweiten Ruhm begründete. Zeit und Ort der Erzählung sind nicht mehr markiert, die Figuren bleiben namenlos und in vieler Hinsicht rätselhaft, der Verlauf der Geschichte ist zwar noch einigermaßen linear, aber doch von zahlreichen Brüchen und Widersprüchlichkeiten gekennzeichnet. Das Alltägliche, scheinbar Nebensächliche kann selbst in dieser Erzählung über Macht und Folter bestehen und wird zu einem ebenso wesentlichen Bestandteil des Textes wie jene Aspekte, die die Handlung unmittelbar vorantreiben. Gerade in Waiting for the Barbarians ist »the scrupulous avoidance of any sense of an authorial presence«(Attridge 2004b, 32) spürbar, die viele der späteren Texte des Autors auszeichnet. Dennoch ist der Impuls der Leserschaft und auch der Kritik, Coetzees Erzählungen allegorisch zu deuten, erhalten geblieben. Gegen diese Art der Lektüre ist vor allem Derek Attridge zu Felde gezogen, der in Anlehnung an Susan Sontags Against Interpretation, seinen Essay über Waiting for the Barbarians »Against Allegory« nennt. »Reading as an event« (ebd. 39), so seine Hauptthese, solle im Mittelpunkt jeglicher Interpretation stehen, selbst wenn er traditionelle Formen der Textanalyse nicht rundweg ablehnt, sondern diesen sogar einen wichtigen Erkenntnisgewinn zuschreibt, der im Diskurs um einen literarischen Text nicht völlig fehlen darf. Waiting for the Barbarians ist in besonderem Maße ein Ereignis im Sinne Sontags, viele Erfahrungen, die die Rezipienten während der Lektüre machen, können auch gar nicht in Wissenschaftssprache übersetzt werden. Nichtsdestotrotz ist J.M. Coetzee ein postmoderner poeta doctus, der die Theorien, vor deren Hintergrund seine Texte gelesen werden, genau kennt und dieses Wissen auch souverän einsetzt. So finden sich etwa in Waiting for the Barbarians zahlreiche Passagen, in denen die Deutbarkeit von Zeichen – Metaphern und Allegorien im Besonderen – zur Disposition stehen. Die folgende Lektüre von Waiting for the Barbarians fühlt sich dieser Mehrdeutigkeit des Textes als ereignishaft und selbstreflexiv verpflichtet. Die komplex ineinander verwobenen Ebenen weisen auf eine Hybridisierung auch im Hinblick auf die Bedeutungszuschreibungen hin, die der Text nicht nur zulässt, sondern geradezu einfordert.

3.1.1 Grundelemente der Identitätskonstruktion in Waiting for the Barbarians Der Ich-Erzähler dieses Textes ist ein hoher Beamter, der »Magistrat« einer ort- und namenlosen Stadt, die sich vor allem über ihr feindliches Verhältnis einem Barbarenstamm gegenüber definiert. Der Titel des Buches verweist bereits auf die identitätsstiftende Bedeutung der Barbaren für die Stadt, denn er nimmt Bezug auf ein Gedicht des griechischen Dichters Konstantinos Kavafis.

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Dieses erzählt ebenfalls von einer Stadt, die die Ankunft der »Barbaren«3 erwartet, wobei der Daseinszweck aller Anwesenden in ebendiesem Warten zu liegen scheint. Die Barbaren treffen aber niemals ein, ein paar der entsandten Bewohner berichten schließlich, dass das Volk der Barbaren gar nicht mehr existiere. Das Gedicht endet mit den Zeilen: »And now what shall become of us without any barbarians?/Those people were some kind of solution.« (Kavafis 1997, 73)4 So weit ist es zu Beginn der Erzählung aber noch nicht gekommen, die Barbaren sind vielmehr zum ersten Mal wirklich präsent in jener Stadt, deren Verwaltung dem Magistraten obliegt. Oberst Joll, Vorstand der Abteilung III, »the most important division of the Civil Guard nowadays« (Coetzee 1982, 2), ist zu einem Kontrollbesuch gekommen und seine obsessive Beschäftigung mit den wenigen Gefangenen führt zu Folterungen und den ersten erzwungenen Geständnissen. Es geht dabei um harmlose Delikte wie um den Diebstahl eines Huhns. Der Magistrat ist von Anfang an von der Sinnlosigkeit des 3 | Das Wort »Barbar« hat schon früh eine Pejorisierung erfahren, ursprünglich wurde das griechische Wort »bárbaros« aber lediglich als Bezeichnung für diejenigen verwendet, die nicht Griechisch sprachen. Diese wurden aber durchaus auch positiv dargestellt und als Helden verehrt, etwa in Homers Ilias. Als »bárbaros« wurden schließlich auch jene Griechen bezeichnet, die schlecht Attisch sprachen. Das Wort wurde dann von den Römern übernommen und breitete sich von dort in die Volkssprachen aus, wo die Bedeutung erweitert und verschlechtert wurde (vgl. Kluge 2002, 90). Die kulturgeschichtliche Bedeutung des Barbaren-Konstrukts lässt sich unter anderem an Hand des Medea-Mythos verfolgen, der über die Jahrhunderte hinweg unzählige Male sowohl in der bildenden Kunst als auch literarisch bearbeitet wurde. Die Amalgamierung der Begriffe »Barbarin« und »Frau« wurde vor allem von Christa Wolf herausgearbeitet und indirekt auch kritisiert, indem sie als bewusste Strategie des im Aufstieg begriffenen Patriarchats enttarnt wird. Die Darstellung Medeas als selbstbewusste, durchaus rational handelnde und denkende Frau, die aus politischen Gründen des Mordes bezichtigt wird, greift teilweise auf Motive zurück, die älter sind als die berühmt gewordene Bearbeitung des Stoffes durch Euripides. Dieser hat mit seiner Medea-Figur jedoch einen weiblichen Topos geschaffen, der in Literatur und Gesellschaft weite Verbreitung gefunden und tiefe Spuren hinterlassen hat. 4 | Kein so unmittelbarer Bezug wie auf das Gedicht von Kavafis, aber doch gewisse Ähnlichkeiten lassen sich auch zwischen Coetzees Waiting for the Barbarians und Dino Buzzatis 1940 erschienenem Roman Die Tartarenwüste feststellen. Im Mittelpunkt von Buzzatis Roman steht ebenfalls ein Beamter, der seinen Daseinszweck in einer monotonen Aufsichtstätigkeit gefunden hat, deren Zweck als fiktives Konstrukt gekennzeichnet ist. Die Legende von der Existenz der Tartaren wird dem Protagonisten Giovanni Drogo zur Legende seiner eigenen Daseinsberechtigung, wobei er diese (im Gegensatz zu Coetzees Magistrat) bis zum Ende seines Lebens aufrechterhalten kann.

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brutalen Vorgehens überzeugt, greift aber nicht ein: »Of the screaming which people afterwards claim to have heard from the granary, I hear nothing.« (Ebd. 5) Die Präsenz Oberst Jolls – und damit auch der offensichtlichen Gewalt – bleibt aber bestehen und bald schon beschließt dieser mit einem Soldatentrupp auszuziehen, um noch mehr Gefangene zu machen und einen angeblichen Großangriff der Barbaren abzuwenden. Der Magistrat versucht ihn davon abzuhalten – zum Teil um seiner eigenen Bequemlichkeit Willen, zum Teil wohl auch deshalb, weil ihm die gefolterten Gefangenen leid tun –, er scheitert aber. Besonders dieser erste Teil der Erzählung ist von zahlreichen Visionen und Träumen durchsetzt, die bis zum Ende ein wesentlicher Bestandteil des Textes bleiben. Diese surrealen Elemente der Erzählung bilden eine erste Metaebene. Eine weitere ist durch die Kommentare gegeben, die in Klammer gesetzt sind und meist die Situation des Ich-Erzählers betreffen. Dieser »eingeklammerte« Text fügt sich bis zum Ende zu einem ungeschönten, metadiegetischen (vgl. Genette 1998, 163) Kommentar des Magistraten über seine eigentlichen Motive und Gefühle zusammen. Der Ich-Erzähler glossiert mit Hilfe dieses Klammertexts beständig seinen eigentlichen Text und diese Technik ist das offensichtlichste metanarrative Element der Erzählung, das sich auf die Grenzen von Deutung und Bedeutung bezieht. Eine dritte Ebene ist schließlich durch die Naturbeschreibungen des Magistraten gegeben. Diese kontemplativen Momente unterbrechen die eigentliche Handlung – oft gerade in besonders dramatischen Momenten. Die Natur steht dabei in einem kommentierenden Verhältnis zum äußeren Geschehen. Mikro- und Makrokosmos ergänzen sich allerdings nicht harmonisch, vielmehr sind die Erlebnisse des Magistraten einfach zu intensiv, als dass er sie auf einer rationalen Ebene verarbeiten könnte. Seine Naturerfahrungen sind zumindest zum Teil Projektionen seines Innenlebens, das er von dem Zeitpunkt an, zu dem Oberst Joll und die Abteilung III Einfluss auf sein Leben nehmen, nicht mehr unter Kontrolle hat. Die Natur wird dem Magistraten somit zu einer Leinwand, die seine Projektionen reflektiert – genau dieses Bild evozieren übrigens auch die mörderischen Aktivitäten von Patrick Bateman. Doch der Magistrat ist streng zu sich selbst, er lässt diese Metaphorisierung der Umwelt – man könnte auch sagen ihre Zurichtung durch seinen Geist – nicht zu: The space about us here is merely space, no meaner or grander than the space above the shacks and tenements and temples and offices of the capital. […] But as for me, sustained by the toil of others, lacking civilized vices with which to fill my leisure, I pamper my melancholy and try to find in the vacuousness of the desert a special historical poignancy. Vain, idle, misguided! How fortunate that no one sees me! (Ebd. 17)

Doch allein darin erschöpft sich die Funktion der Naturbeschreibungen in Waiting for the Barbarians noch nicht. Sie sind Beobachtungen eines Men-

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schen, der im Grunde davon überzeugt ist, dass jede das Recht darauf haben sollte »a quiet life in quiet times« (ebd. 8) zu führen. Die Naturphänomene und die Spiele der Kinder scheinen einzig frei vom Grundgedanken des Reichs, »that has located its existence not in the smooth recurrent spinning time of the cycle of the seasons but in the jagged time of rise and fall, of beginning and end, of catastrophe« (ebd. 133). Die Entfremdung, die der Magistrat durch sein Amt, die Begegnung mit dem Barbarenmädchen und schließlich die eigene Folter erfährt, ist in diesen Beobachtungen aufgehoben. Je schwieriger und schmerzhafter seine Situation wird, desto mehr befreien ihn seine Naturbeobachtungen von der grausamen Dialektik zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Herr und Knecht. In diesen Bildern, die nun nicht mehr semantisch aufgeladen sind, verliert sich jegliche Bedeutung und damit auch die Existenz des Magistraten, der nie bei seinem Namen genannt wird und folglich nur als Amtsträger präsent ist (vgl. ebd. 14).

3.1.2 Das Barbarenmädchen Die Welt des Magistraten gerät in Unordnung, als das Barbarenmädchen in sein Leben tritt. Sie wird von ihren Mithäftlingen zurückgelassen und der Magistrat findet sie bettelnd, mit Verletzungen am ganzen Körper, vor allem aber an den Augen und Füßen, vor. Aus Gründen, die ihm selbst nicht wirklich klar sind, beschließt er, sie mit zu sich nach Hause zu nehmen, wo er mit ihr von diesem Zeitpunkt an in einer eigenartigen, für beide Seiten quälenden Symbiose lebt. Die Stadtbewohner nehmen es mit Misstrauen zur Kenntnis, dass nun einer der ihren eine Fremde zu sich geholt hat, auf Grund seines Status kann es sich der hohe Beamte aber leisten, diese Beziehung aufrechtzuerhalten. Die Ankunft des Barbarenmädchens geschieht nicht plötzlich, sondern wird durch die Träume des Magistraten antizipiert. Die rohe, unverhüllte Präsenz der Gewalt gegen »die Anderen«, die mit Oberst Joll in die Stadt kommt, verursacht ihm größtes Unbehagen und die Frage nach Mitgefühl und Gerechtigkeit lässt ihm keine Ruhe mehr. Doch er will sich ganz bewusst von den Ereignissen rund um ihn fernhalten, seine Rolle in dieser Erzählung scheint ihm vielmehr von einer fast schicksalhaften Macht aufgezwungen zu werden. Der »Schatten des Anderen«, der immer schwerer auf dem Magistraten und der Stadt lastet, und die unmittelbare Konfrontation mit den feindlichen Fremden präfiguriert schließlich in einem Traum: »I am aware of my bulk, my shadowiness, therefore I am not surprised that the children melt away on either side as I approach. All but one. […] I stand behind her and watch. She does not turn. I try to imagine the face between the petals of her peaked hood but cannot.« (Ebd. 10) Das gesichtlose Mädchen kehrt in späteren Träumen wieder und der Zusammenhang zwischen der Beziehung zu dem Barbarenmädchen

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und einer sich entsprechend entwickelnden Verbindung zwischen dem IchErzähler und dem Kind in seinem Traum zeichnet sich ab. Die Tragödie hat ihren Höhepunkt bereits erreicht, als das Barbarenmädchen aus Fleisch und Blut die Szene betritt. Der Magistrat hat die Gewissenskämpfe bereits ausgefochten (und doch nicht viel gegen die unwürdige Behandlung der Gefangenen unternommen), seine Illusionen von der eigenen Gutherzigkeit und Unschuld lassen sich nicht mehr aufrechterhalten: »›They will not run away but I do not want idlers coming in to stare at them.‹ […] I spend hours watching them from the upstairs window (other idlers have to watch through the gate).« (Ebd. 18f.) Die Beschreibungen, die das Barbarenmädchen betreffen, zeichnen das Bild einer gequälten Kreatur, die auf ihre Peiniger stets gleichzeitig abstoßend und anziehend wirkt. Homi K. Bhabha bezeichnet derartige Figuren als typische Begleiter des Menschen der Post-Aufklärung, der »an seine dunkle Widerspiegelung gekettet ist, statt mir ihr konfrontiert zu werden: an den Schatten des kolonisierten Menschen, der seine Präsenz spaltet, seine Konturen verzerrt, seine Grenzen auf bricht, seine Handlungen aus der Ferne wiederholt und sogar die Zeit, in der sich sein Sein abspielt, erschüttert und auseinanderdividiert« (Bhabha 2000, 65). Man fühlt sich bei dieser Beschreibung unwillkürlich an eine andere literarische Figur erinnert, die auch Coetzee mit Sicherheit gut bekannt war5 – die des Lucky in Becketts Warten auf Godot. Doch der Magistrat verhält sich anders als Pozzo, er nimmt die Rolle, die ihm in diesem Spiel zukommt, nicht umfassend an. Zwar fühlt er sich noch auf unbestimmte Art an seinen »Schatten« gebunden, aber er möchte diese Abhängigkeit auflösen, zu einer wie auch immer gearteten Symmetrie im Verhältnis zu dem Barbarenmädchen gelangen. Die Vergeblichkeit dieses immer wieder aufflackernden Wunsches wird von Beginn an durch die Ich-Perspektive offensichtlich, aus der die Geschichte erzählt wird. Die Stimme des Barbarenmädchens ist dadurch »unter-repräsentiert« (vgl. Gutjahr, Hermes 2011, 7), wobei diese auch erzähltechnisch verankerte Asymmetrie zahlreichen (post-)kolonialen Romanen eingeschrieben ist. Coetzee geht sehr bewusst mit den Verschränkungen aus Macht, Begehren und (beidseitiger) Aggression um, er inszeniert diese in all ihrer Abgründigkeit in dem Verhältnis des alternden Magistraten und seiner jungen, körperlich überlegenen »Gefangenen«, die diesem Status innerhalb des kolonialen Szenarios dennoch nie entkommen kann. Beide Figuren tragen die »Masken« ihrer jeweiligen Rolle (vgl. Gutjahr 2011) und der Magistrat will diese letztlich auch nicht ablegen. Er ist sich der subtilen Verschränkungen von Angst und Begehren im Verhältnis zu dem Barbarenmädchen allerdings bewusst und artikuliert immer wieder eine diffuse Sehnsucht danach, dieser für beide Seiten quälenden Dauerinszenierung eine andere Form der Beziehung entgegenzusetzen, in der das monolithische »Andere« als 5 | J.M. Coetzee promovierte mit einer Arbeit zu Samuel Becketts frühen Texten.

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ein originäres Anderes zugänglich wird. Wie aussichtslos dieses Unterfangen ist und wie sehr er seiner eigenen Rolle verhaftet ist, scheint dem Ich-Erzähler aber von Anfang an klar zu sein: »The distance between myself and her torturers, I realize, is negligible; I shudder.« (Coetzee 1982, 27) Was sich zwischen dem Beamten und dem Barbarenmädchen abspielt, ist komplizierter als jene Form der Herr/Knecht-Dialektik, wie sie Hegel einst beschrieben hat. Julia Kristeva versucht eine Definition dieser postmodernen, postkolonialen Form gegenseitiger Abhängigkeit und diese erhellt auch die rätselhafte Beziehung, die im Zentrum von Waiting for the Barbarians steht: Jeder Einheimische fühlt sich mehr oder weniger »fremd« an seinem »eigenen« Ort, und dieser metaphorische Wert des Begriffs »fremd« führt bei dem eingesessenen Bürger [den in diesem Fall der Magistrat verkörpert, Anm. N.M.] zunächst zu einer gewissen Verlegenheit hinsichtlich seiner sexuellen, nationalen, politischen, beruflichen Identität. Dann aber verleitet er ihn zu einer – sicher sporadischen, aber gleichwohl intensiven – Identifikation mit den Anderen. Diese Regung ist natürlich nicht frei von Schuldgefühl, das freilich angesichts eines gewissen verhohlenen Stolzes vergeht, auch ein wenig wie diese anderen »Metöken« zu sein, von denen man mittlerweile weiß, daß sie, wie benachteiligt auch immer, den Wind im Rücken haben. Ein Wind, der stört, der durcheinanderbringt, aber der uns dem uns noch unbekannten Eigenen und einer noch verborgenen Zukunft entgegenträgt. Auf diese Weise stellt sich zwischen den neuen »Herren« und den neuen »Knechten« eine geheime Komplizenschaft her. (Kristeva 1990, 29)

Diese Komplizenschaft, so Kristeva weiter, sei allerdings eine trügerische und sühnt weder geschehenes Unrecht, noch trägt sie dazu bei, kein neues entstehen zu lassen. Es kommt dennoch zu einer Verwirrung der Begriffe, zur Destabilisierung der Herren-Identität und damit auch zur Unmöglichkeit einer vollkommenen Abgrenzung, wie sie in der kolonialen Logik noch versucht wurde. In ebendieses Fahrwasser des Unbekannten und Unkontrollierbaren gerät der Magistrat und sein Wunsch, sich daraus wieder zu befreien, lässt ihn eine Beziehung zu dem Barbarenmädchen eingehen. Durch sie hofft er, das Rätsel der »Anderen« lösen zu können, das ihn und die gesamte Stadt in Aufruhr versetzt hat. Doch die Fremde rächt sich. Sie rächt sich auf die einzige Art, die jenen zur Verfügung steht, denen eine eigene Identität verwehrt wird: Das Barbarenmädchen ist präsent und doch nicht greif bar, sie will noch nicht einmal reden, und gerade ihre Stummheit, die jede rationale Erklärung verweigert, macht sie unantastbar. Letztlich verwehrt das Mädchen sogar den Blick, durch den die Angreifer in sie eindringen könnten. Aus ihrer ursprünglichen Unterlegenheit, die ihr nicht den Status eines Menschen, sondern lediglich den eines Tieres einräumt, bezieht sie nun ihre Macht: »›They tell me you are blind‹. ›I can see‹, she says. Her eyes move from my face and settle somewhere behind me to my right.« (Coetzee 1982, 26) Die Unterdrückte kann sehen, aber

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sie, der kein Blick zugestanden wurde, ist unsichtbar. Homi Bhabha zitiert ein Gedicht von Meiling Jin, in dem ebendiese Macht der Blick-Verweigerung thematisiert wird: »Eines Tages lernte ich/eine geheime Kunst/Unsichtbarkeit nannte man sie./Ich denke, sie hatte Erfolg,/denn sogar jetzt schaust du/und siehst mich nie […].« (Zit.n. Bhabha 2000, 69) Der Blick des Mädchens ist für den Beamten von Anfang an eine Quelle des Unheimlichen: »She sits staring eerily ahead of her.« (Coetzee 1982, 26) »When she does not look at me I am a grey form moving about unpredictably on the periphery of her vision. When she looks at me I am a blur, a voice, a smell.« (Ebd. 29) »I look into the eye. Am I to believe that gazing back at me she sees nothing –.« (Ebd. 31) Wenn das Barbarenmädchen in den Träumen auftaucht, ist es ebenfalls ihr leeres Gesicht, das den Magistraten nicht mehr loslässt. Sie, die Unberührbare, Unsichtbare, die ja eigentlich nur dazu da sein sollte, seine unversehrte Identität zu bestätigen, verweigert den Blick zurück. Das Gesicht des Barbarenmädchen konfrontiert den Magistraten so mit einer abgrundtiefen Leere, ihre Augen sind ein Spiegel, in dem der Magistrat lediglich seine grundlose Einsamkeit bewundern kann: »[…] and with a shift of horror I behold the answer that has been waiting all the time offer itself to me in the image of a face masked by two black glassy insect eyes from which there comes no reciprocal gaze but only my doubled image cast back at me.« (Ebd. 44)6

3.1.3 Die geheime Schrift als Fetisch Da er sich dem Barbarenmädchen weder über ihren Blick 7 noch über ihre Sprache – den Insignien des abendländischen Subjekts – annähern kann, versucht es der Magistrat auf einem anderen Weg, nämlich über ihren Körper. Die Wundmale der Folter sind diesem wie Schriftzeichen eingebrannt und über sie versucht sich der Magistrat Zugang zur Wahrheit des Mädchens zu verschaffen. Als zum Objekt degradierter Körper steht sie ihm bis zu einem gewissen Grad zur Verfügung, denn als ein solcher ist sie immer schon ge- und behandelt worden. Der junge Frauenkörper scheint den Magistrat jedoch nicht auf eine sexuelle Art zu interessieren, wobei er sich selbst darüber verwundert zeigt: »From the beginning my desire has not taken on that direction, that directedness.« (Ebd. 34) Der Körper des Mädchens ist für ihn interessant als 6 | Die Einsamkeit ist nicht nur ein beständiges Thema des Magistraten, der zu niemandem in seiner Umgebung eine echte Beziehung aufbauen kann. Viele andere Figuren Coetzees teilen dieses Schicksal, wie Michael Canepari-Labib in seiner Arbeit nachgewiesen hat (vgl. Canepari-Labib 2005, 28ff.). 7 | Zur Bedeutung des Blicks in Romanen, die koloniale Machtgefüge thematisieren, vgl. Gutjahr 2011, 43ff.

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»Schriftzeichen«, als ein Zeichen, das das Rätsel der Gewalt seines eigenen Volkes birgt.8 Seine obsessive Aufmerksamkeit ist daher gerade auf jene Stellen ihres Körpers gerichtet, die die Misshandlung erfahren haben und dadurch deformiert worden sind: »›Show me your feet‹, I say in the new thick voice that seems to be mine. ›Show me what they have done to your feet.‹ […] I wash slowly, working up a lather […] I lose myself in the rhythm of what I am doing. I lose awareness of the girl.« (Ebd. 28) Vor allem die Füße des Mädchens fungieren hier als eine Art Fetisch, auf den sich die gesamte Aufmerksamkeit des Magistraten konzentriert. Die täglichen rituellen Waschungen lassen einerseits an Rituale der Versöhnung und der demütigen Wiedergutmachung denken, andererseits wird deutlich, dass sie einen Wunsch des Magistraten erfüllen, nicht einen des Mädchens. Der Ich-Erzähler weiß darüber Bescheid, gegen Ende des Textes erfährt er auch, dass seine Vermutungen richtig waren und das Barbarenmädchen stets unglücklich bei ihm war. Seine intensive Beschäftigung mit ihrem Körper ist ihm selbst als eine Form des Missbrauchs bewusst, gegen den sie sich ebenso wenig wehren kann wie gegen die Folter: »I feed her, shelter her, use her body, if that is what I am doing, in that foreign way.« (Ebd. 30) Die immer wiederkehrende Fetischisierung einzelner (misshandelter) Körperteile lässt an eine Stelle aus Homi K. Bhabhas Die Frage des Anderen denken, einem Aufsatz, in dem er sich mit dem rassistischen Stereotyp beschäftigt, das er ebenfalls als einen Fetisch deutet. Seine These besagt, dass die Anerkennung sexueller Differenz durch »die Fixierung auf ein Objekt, das jene Differenz kaschiert« (Bhabha 2000, 110), vermieden wird – eine Strategie, die auch in allen anderen Bereichen zur Anwendung kommen kann, in denen es um Differenz geht. Das Verlangen nach »ursprünglicher Präsenz« (ebd.) ist der abendländischen Philosophie und Kultur zutiefst eingeschrieben, das belegen bereits die Urerzählungen der griechischen Mythologie – hier wiederum vor allem jene, die mit androgynen Motiven durchsetzt sind. Das rassistische Stereotyp sei, so Bhabha, ein Phantasma, das versuche, die Ursprünglichkeit wiederherzustellen, die durch die Unterschiede von Rasse, Hautfarbe und Kultur bedroht ist. Natürlich nicht im Sinne einer erschöpfenden Erklärung, auch nicht im Sinne einer »eigentlichen Bedeutung«, wohl aber im Sinne einer im Text angelegten Möglichkeit, scheint mir dieser Bezug zur postkolonialen Theorie im Falle von Waiting for the Barbarians plausibel.

8 | Die Beziehung zwischen dem Mädchen und dem Magistraten ist trotz allem sexuell konnotiert und zeugt auch von der Macht über den weiblichen Körper, die der Beamte vor allem den Prostituierten gegenüber ausübt. Eine Interpretation der Beziehung als »paternal«, wie Canepari-Labib sie vornimmt, scheint mir diese Machtverhältnisse und die damit verbundene Gewalt zu verschleiern (vgl. Canepari-Labib 2005, 39).

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Nach der Beschäftigung mit dem misshandelten Mädchenkörper versinkt der Magistrat jedes Mal in tiefe Müdigkeit – auch dies weist auf die Anstrengungen des »anderen Bewusstseinszustandes« hin, die dieses Ritual mit sich bringt. Das Mädchen bleibt während dieser Handlungen völlig passiv, sie scheint hier besonders deutlich eine Objektrolle inne zu haben, die sie erst mit der Trennung vom Magistrat ablegen kann. Gleichzeitig ist die Passivität des Mädchens in der Zeit der Gefangenschaft eine Form des Entzugs, durch den sie sich dem Zugriff der Anderen entzieht. Diese Form der Nicht-Teilhabe macht ihre Unantastbarkeit deutlich und löst auch beim Magistraten häufig Angst und Hilflosigkeit aus. Hier wird sichtbar, was Lévinas als die »Illeität« bezeichnet, die »ganze Unendlichkeit des absolut Anderen« (Lévinas 2005, 54), die seine Unzerstörbarkeit selbst noch im Tode garantiert. Der Magistrat lässt sich als einziger auf diese Unantastbarkeit des Fremden ein, allerdings kann er seine existenzielle Angst dadurch nicht bewältigen, sie verstärkt sich im Gegenteil im Laufe seines Zusammenlebens mit dem Mädchen. Er flüchtet sich in eine Phantasie, die deutlich macht, wie sehr ihn die Unvermeidbarkeit von Gewalt unter den gegebenen Bedingungen quält: »It would be best if this obscure chapter in the history of the world were terminated at once, if these ugly people were obliterated from the face of the earth and we swore to make a new start, to run an empire in which there would be no more injustice, no more pain.« (Ebd. 24) Der eigentliche Wunsch des Magistraten ist also letztlich nicht so anders als der des Oberst Joll. Auch er will die »Fremden« ausrotten, um den ständig präsenten, wühlenden Schmerz zu vergessen, der ihn – genau wie viele andere koloniale literarische Figuren, man denke etwa an den Elfenbeinhändler Kurtz in Joseph Conrads Heart of Darkness – nicht mehr loslassen will. Die eigentlichen Beweggründe seiner Annäherung an das Barbarenmädchen gesteht sich der Magistrat erst spät ein, nachdem er schon alle Hoffnung aufgegeben hat, ihr »Geheimnis« jemals in Erfahrung bringen, das heißt ihre Andersartigkeit auf ein Eigenes reduzieren zu können: »So I begin to face the truth of what I am trying to do: to obliterate the girl. […] How ugly, I say to myself. My mouth forms the ugly word.« (Ebd. 47) Die opaken Bilder des Mädchens, die den Magistraten in seinen Träumen heimsuchen, weisen auf das hin, was sich am Fremden immer entzieht und was letztlich seinen Hass auf das Mädchen auslöst. Bhabha nennt dies »die Spur des Fehlenden, der Absenz« (Bhabha 2000, 116), Waldenfels nennt es das »radikal Fremde«, das sich jeder Form der Aneignung entzieht, und Emmanuel Lévinas gründet seine Philosophie eines radikalen Humanismus auf dieses »Unantastbare« des fremden Antlitzes, das die Wurzel der Verantwortung eines jeden Menschen für jeden anderen Menschen bildet: […] ist der ursprüngliche Zugang zum Einzelnen als einzelnem Menschen, weit entfernt davon, sich auf eine bloße Objektivierung eines Einzelnen unter anderen reduzieren zu

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Das Fremde in der Literatur lassen, ein charakteristischer Zugang, bei dem der Hinzutretende selbst der Konkretheit der Begegnung angehört, ohne die für den objektivierenden Blick unabdingbare Distanz einnehmen zu können, ohne sich von der Beziehung freimachen zu können, und wobei dieses Sich-nicht-entziehen-können, diese Nicht-Gleichgültigkeit (Non-In-Differenz) in Bezug auf die Andersheit oder Differenz des Anderen – diese Unwiderruflichkeit – nicht einfach das Scheitern einer Objektivierung bedeutet, sondern eben das Recht, das der Differenz des Anderen eingeräumt wird, des Anderen, der in dieser Non-In-Differenz keine formale und austauschbare Andersheit darstellt, unzureichend in der Vielfalt der Einzelnen eines Genus, sondern die Andersheit des Einzigen, außerhalb jedes Genus, jedes Genus transzendierend. (Lévinas 1995, 235)

Eine Ahnung dieses Lévinas’schen Prinzips von der Unantastbarkeit des jeweils Anderen gewinnt der Magistrat im Laufe seiner Beziehung zu dem Barbarenmädchen dann doch – wenn auch nur für Momente. Der vorrangig bleibende Wunsch, die Substanz der »Anderen« zu begreifen und diese auszulöschen, verbindet ihn mit Oberst Joll und seinen Soldaten. Doch die Einsicht in die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens unterscheidet ihn von den Anderen: »[…] how natural a mistake to believe that you can burn or tear or hack your way into the secret of the body of the other!« (Coetzee 1982, 43) Diese Einsicht löst auch beim Magistraten das Gefühl einer absoluten, vor jeder Begründbarkeit liegenden Verantwortung für den Anderen aus, die für Lévinas’ Philosophie so grundlegend ist: »[…] this body in my bed, for which I am responsible, or so it seems, otherwise why do I keep it?« (Ebd.) Der Magistrat verspürt zwar die Pflicht, für das Mädchen zu sorgen, doch er weiß auch, wie bedingungslos die Konsequenzen eines eventuellen Eintretens für ihr Wohlergehen sind. Folglich versucht er erst, Distanz zu ihr zu gewinnen – er beachtet sie kaum noch und verbringt die Nächte wieder bei einer Prostituierten, die er schon vor dem Auftauchen des Barbarenmädchens häufig aufgesucht hat. »I must assert my distance from Colonel Joll! I will not suffer for his crimes!« (ebd. 44) – in diesem Ausruf verdichtet sich schließlich die Not, die der Magistrat empfindet. Einerseits quält ihn das Gefühl seiner eigenen Schuldhaftigkeit, andererseits möchte er weiterhin seinem Grundbedürfnis nachkommen – einem unbehelligten, komfortablen Leben. Doch die Erkenntnisse, die er über das Mädchen – das Fremde an sich – gewonnen hat, lassen ihm keine Ruhe mehr. In Träumen, Visionen und Überlegungen, die er im Wachzustand ständig anstellt, verfolgt ihn das Mädchen, »[who] is as much a prisoner now as ever before« (ebd. 55). Kurz bevor sich der Magistrat entschließt, sie zu ihrer Familie und ihrem Volk zurückzubringen, stellt er zum ersten und einzigen Mal eine Überlegung über die Perspektive des Mädchens an, über ihren Zugang zu diesem misshandelten Körper, der für ihn nie etwas anderes war als eine Chiffre, die es aufzulösen galt: »While I have not ceased to see her as a body maimed, scarred, harmed, she has perhaps by now grown into it and become that new deficient

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body, feeling no more deformed than a cat feels deformed for having claws instead of fingers.« (Ebd. 56) Das Kapitel endet mit der Anerkennung der »Normalität« des Mädchens, der Magistrat gesteht ihr zum ersten Mal einen Blick auf sich selbst, vor allem aber auf ihn zu und er fügt noch einmal hinzu: »I would do well to take these thoughts seriously.« (Ebd.) Der einzige Wunsch des Mädchens, den er je kennen gelernt hat, ist jener nach der Rückkehr zu ihrer Familie. Das nächste Kapitel beginnt ohne weitere Erklärung mit dem Aufbruch zu dieser gefährlichen Reise, für die der Magistrat sich nicht nur über seine eigenen Prinzipien, sondern auch über die seiner Vorgesetzten hinwegsetzen muss.

3.1.4 Graben und Erinnern Während der Reise, die den Magistraten, das Mädchen und zwei Gefolgsleute weit in unbekanntes Gebiet führt, ändert sich die Rolle des Barbarenmädchens. Sie erträgt die Strapazen der Reise problemlos, während der Magistrat und auch die beiden Gefolgsleute leiden und auf Grund ihrer Unerfahrenheit in diesem Gebiet in gefährliche – zum Teil sogar lebensbedrohliche – Situationen geraten. Zum ersten Mal tauchen in diesem Abschnitt des Textes Zeitangaben auf. Während das Reich und seine Existenz aus der Sicht des IchErzählers zeitlos und keiner Begründung bedürfend erscheinen (die Nation, das Volk, wird immer als etwas Naturwüchsiges begriffen, das keine weitere Legitimation braucht), werden hier Angaben, die zumindest ein gewisses Maß an Orientierung verschaffen, wichtig. Hier ist nun das Mädchen in seinem ursprünglichen, also einem relativ bekannteren Umfeld, und je weiter sie in die karge Wüstenlandschaft vordringen, die den Männern lebensbedrohlich erscheint, desto lebendiger wird sie. Hat sie vorher nur das Nötigste in Worte gefasst, findet sie nun ihre Sprache wieder und wird auch in den Augen des Magistraten zu mehr als einem Körper, der ein Geheimnis birgt. Dennoch sind die alten Strukturen nicht vergessen, der Magistrat fragt sich immer noch, ob es das Mädchen ist, das er will, oder »the traces of a history her body bears« (ebd. 64). Je weiter die kleine Truppe in das unbesiedelte Land vordringt, desto allgemeiner werden die Überlegungen, die der Magistrat anstellt. Nicht mehr so sehr das Mädchen steht nun im Vordergrund, sondern die Geschichte zwischen den Barbaren und dem Reich: »We have crossed the limits of the Empire. It is not a moment to take lightly.« (Ebd. 70) Die Begegnung mit den Barbaren rückt in greif bare Nähe und man möchte meinen, dass sich ein Akt der Versöhnung ankündigt, der Ich-Erzähler formuliert den Sinn seiner Reise aber bescheidener. Er spricht lediglich von einer Vermittlung zwischen Feinden, die einander fremd und gefährlich bleiben: »And here I am patching up relations between the men of the future and the men of the past, returning, with

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apologies, a body we have sucked dry – a go-between, a jackal of Empire in sheep’s clothing!« (Ebd. 72) Während sich der Magistrat zumindest zu Beginn der Erzählung noch Illusionen hingibt, was die Motive seines eigenen Interesses an dem Mädchen betrifft, sind seine Schilderungen von Beginn an klar und unverbrämt, wenn es um die Geschichte seines Volkes geht. Das wird bereits in einigen Szenen zu Beginn des Textes deutlich, in denen der Magistrat mit Oberst Joll und seinen Soldaten verhandelt.9 Sein geschichtliches Interesse, vor allem aber seine archäologischen Tätigkeiten – auf die an anderer Stelle noch genauer einzugehen sein wird – verhelfen ihm zu einem ungewöhnlich klaren Blick auf die Verhältnisse, unter denen das Reich entstanden ist und auf denen sein Fortbestehen basiert. Er ist sich in diesem abstrakten Zusammenhang auch der Gewalt bewusst, die er allerdings in einem anderen Kontext (so etwa in der Beziehung zum Barbarenmädchen) selbst ausübt. Seine Haltung gegenüber der Geschichte und gegenüber den aktuellen politischen Ereignissen zeugt dennoch von einer Sehnsucht nach Gerechtigkeit, die sämtlichen anderen Figuren des Textes fehlt. Die große Bedeutung, die er der Erinnerung beimisst, lässt vor allem an die Geschichtsphilosophie Paul Ricœurs denken. Die Szene der Begegnung mit den Barbaren ist, wie die Aussagen des Magistraten deutlich machen, eine Art Gründungsszene, eine Episode, die »in die Geschichte eingehen« und von der Nachwelt erinnert werden soll. Ricœur sagt über die Gründungsereignisse im Allgemeinen: »Was wir als Gründungsereignisse feiern, sind im wesentlichen gewaltsame Akte, die von einem unsicheren Rechtsstaat nachträglich legitimiert werden […] Was für die einen Ruhm bedeutete, war für die anderen Erniedrigung.« (Ricœur 2004, 100) Jedes Gründungsereignis, das der nationalen Identität ihre Festigkeit verleiht, ist in diesem Sinne auch ein Akt des »verletzten Gedächtnisses«. Dieses ist im Sinne Ricœurs jener unausgesprochene und unaussprechliche Teil des kollektiven oder individuellen Gedächtnisses, der von Traumata und Missbrauch gezeichnet ist. Wo das verletzte Gedächtnis ist, ist keine Erinnerung im traditionellen Sinn möglich, der »Wiederholungszwang« füllt diese Lücke, für die es keine Sprache gibt. Dieser Subtext aller Riten, die die Nation (das Reich) begründen, muss immer mitbedacht werden, vor allem dann, wenn die Worte »Versöhnung« oder »Wiedergutmachung« in den Mund genommen werden und die Möglichkeit einer Auslöschung von Geschehenem suggerieren. Für ein Verhältnis zwischen den Menschen und Völkern, das nicht von einem beständigen offensichtlichen oder latenten Kampf und den Verletzungen, die dieser verursacht, geprägt ist, sei das Zur-Sprache-kommen-Lassen der jeweils 9 | Es gibt zahlreiche Textstellen, die dies belegen, die folgende sei hier nur als Beispiel erwähnt: »›I ask‹, I continue, ›only because if you get lost it becomes our task here to find you and bring you back to back to civilization.‹ We pause, savouring from our different positions the ironies of the word.« (Coetzee 1982, 12)

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Anderen notwendige Bedingung: »Das Schwierigste ist nicht, ›anders zu erzählen‹, oder sich ›von den Anderen erzählen zu lassen‹, sondern die Gründungsereignisse unserer eigenen kollektiven, vor allem aber nationalen Identität anders zu erzählen; aber das weitaus Schwierigste ist und bleibt, diese Gründungsereignisse ›von den Anderen erzählen zu lassen‹.« (Ebd. 124) Der Magistrat ist sich dieser komplizierten und fragilen Verhältnisse zwischen ihm und den Anderen bewusst, und immer wieder versucht er, das »verletzte Gedächtnis« der Barbaren, das gleichzeitig das ständig bedrohte Identitätskonstrukt seiner eigenen Nation ist, zu »bearbeiten«. In seiner Freizeit gräbt er Ruinen aus, »that date back to times long before the western provinces were annexed and the fort was built« (Coetzee 1982, 14) und die ihm die Auseinandersetzung mit der Vorgeschichte der scheinbar ewiglichen Grenze zwischen hier und dort ermöglichen. Die Spuren der Vergangenheit, die der Magistrat hier findet und ans Tageslicht befördert, lassen auch wieder die Frage nach Interpretation und Bedeutung aufleben, die den Text durchzieht wie ein roter Faden. In den Ruinen findet der Magistrat Täfelchen, auf denen Buchstaben in einer ihm unbekannten Schrift verzeichnet sind. Der Magistrat sammelt diese Täfelchen, ohne genau zu wissen, was er damit anfangen wird. Das Bewahren der Geschichte der »Anderen« ist ihm aus ebenso unbestimmten Gründen ein Anliegen, wie er sich um das Barbarenmädchen kümmert – die Lösung des Geheimnisses scheint ihm im Fall seiner archäologischen Tätigkeit allerdings weniger erstrebenswert. Es ist vielmehr so, dass man sich durch das Verhalten des Beamten an einen Satz erinnert fühlt, den Coetzee selbst in einem seiner Essays über Literatur geschrieben hat, in dem er über die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart nachdenkt: »Historical understanding is understanding of the past as a shaping force upon the present. Insofar as that shaping force is tangibly felt upon our lives, historical understanding is part oft the present.« (Coetzee 2001, 15) Diesem Verstehen des Einflusses der Geschichte auf die Gegenwart sind die Grabungs- und Sammlerarbeiten des Beamten gewidmet. Doch selbst dieser Wunsch, der Vergangenheit ein Recht in der Gegenwart einzuräumen, wird vom Ich-Erzähler kritisch gesehen. Der Magistrat wird dadurch nicht zum Helden der Geschichte, seine Sünden werden ihm nicht verziehen. Mehrfach zeigt er sich selbst verwundert über sein Engagement und betrachtet es als einen paradoxen Teil seines Lebens: »Ridiculous, I thought: a greybeard sitting in the dark waiting for spirits from the byways of history to speak to him before he goes home to his military stew and his comfortable bed.« (Coetzee 1982, 16) Die Täfelchen werden zu Beginn der Erzählung öfter erwähnt, geraten dann aber in Vergessenheit. Sie spielen erst im letzten Drittel des Textes wieder eine Rolle, in der die Zeit nach der Festnahme des Protagonisten beschrieben wird. Als dieser von seiner Reise zurückkehrt, wird er der Kollaboration mit den Feinden verdächtigt und ins Gefängnis geworfen. Nun ist er selbst den

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Qualen der Folter und der Gefangenschaft ausgesetzt, zu einem gewissen Teil ist er damit selbst »ein Anderer« geworden. Die Aggressionen ihm gegenüber nehmen weiter zu, als ein Damm bricht und die Stadt überschwemmt wird. Man schiebt den Barbaren diesen »Anschlag« in die Schuhe und rüstet sich für weitere Angriffe, während die Situation in der Stadt immer kritischer wird. Die Ernten der Bauern sind vernichtet, Hunger und Elend wachsen stetig und die Angst vor Überfällen schürt den Hass der Bewohner. Das Haus des nach wie vor inhaftierten Beamten wird in dieser krisengeschüttelten Zeit durchsucht, und als die Täfelchen zum Vorschein kommen, bittet ihn Oberst Joll zum Verhör: Er solle die »geheimen Botschaften« der Barbaren übersetzen. Der Magistrat war nie in der Lage gewesen, die Hieroglyphen auf den Täfelchen zu entschlüsseln, er weiß nicht einmal, ob es sich um Piktogramme oder um Schriftzeichen handelt. Folglich kann er keine Übersetzung vornehmen, aber er nutzt seine Position, um den Vertretern des Reiches seine eigene Botschaft zu übermitteln: »Now let us see what the next one says. […] It is the barbarian character war, but it has other senses too. It can stand for vengeance, and, if you turn it upside down like this, it can be made to read justice. There is no knowing which sense is intended. That is part of barbarian cunning.« (Ebd. 112) Der arbiträre Zusammenhang zwischen Signifikat und Signifikant, dessen Beliebigkeit der Magistrat hier benutzt, um die Deutungsmacht des Reiches zu verhöhnen, ruft sofort ein ganzes Repertoire an Theorien in Erinnerung, die der Poststrukturalismus in diesem Zusammenhang hervorgebracht hat. Jacques Derrida trifft sich in seiner Auffassung der unendlichen Verweisungsbewegung mit dem Psychoanalytiker Jacques Lacan. Claude Lévi-Strauss hat ebenso über die unendliche Aufschiebung des Bedeutens geschrieben, die die Auffassung der flottierenden Signifikanten als Konsequenz mit sich bringt. Roland Barthes hat den Mythos schließlich als Gipfel jener Spiegelung ins Leere betrachtet, auf der die Sprache, unser vermeintlich privilegierter Zugang zur Welt, basiere (vgl. Barthes 1964, 115ff.). Ob man Waiting for the Barbarians nun vor dem Hintergrund dieser Theorien liest oder nicht, es wird deutlich, dass nicht die Barbaren verschlagen und unzuverlässig sind, wie es der Magistrat behauptet. Es ist die Sprache selbst, der nicht zu trauen ist. Jene Sprache, auf der die Philosophie des Reiches und dessen Identität gegründet wurde, ist verschlagen und hinterhältig, schließt am Ende gar einen Pakt mit den Barbaren. »Allegorical sets like this one can be found buried all over the desert« (Coetzee 1982, 112), meint der Magistrat am Schluss seiner Interpretationen und macht die Vergeblichkeit des Unterfangens deutlich, eine endgültige Bedeutung zu generieren. Dieses Vorhaben ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, des Rätsels Lösung lässt sich niemals finden. Das ist einerseits als Absage an eine absolute Machtausübung zu verstehen, denn vollkommene Kontrolle setzt unbedingtes Wissen voraus. Andererseits nimmt der Magistrat hier unmittelbar auf die Deutung der Geschichte Bezug, die, seinem Zeichenbegriff zufolge, als ebenso willkürlich

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verstanden werden muss: »[…] sometimes when you have difficulty in falling asleep it is because your ears have been reached by the cries of the dead which, like their writings, are open to many interpretations.« (Ebd.) Diese Sätze lassen den Abgrund spürbar werden, der zwischen der Unmittelbarkeit des kreatürlichen Leids, die »das Reich« heraufbeschworen hat, und den Versuchen, dieses sprachlich zu erfassen, klafft. Einerseits deutet dies natürlich auf die Unmöglichkeit einer objektiven Geschichtsschreibung hin, andererseits aber auch auf die Schwierigkeiten des Versuchs einer Wiedergutmachung. Diese kann, so erfährt es auch der Magistrat in seiner Beziehung zum Barbarenmädchen, der Pluralität und Tiefe des Erlebten niemals gerecht werden. Die Aussagen des Magistraten zu den Täfelchen verweisen allerdings auch darauf, dass die Figur des Ich-Erzählers selbst eben nicht als Allegorie zu verstehen ist. Sie oszilliert zwischen verschiedensten Bedeutungen und letztlich bestimmt dieses Schwanken den gesamten Text und lässt keine eindeutigen Zuschreibungen zu. Das Mädchen erscheint dem Magistraten im Laufe der Erzählung nicht nur als Sklavin, Hieroglyphe des Fremden, Frau, sondern auch als das Gegenteil und alles Mögliche zwischen diesen binären Zuordnungen. An der Figur des Magistraten wird diese Unbestimmtheit und Deutungsohnmacht noch wesentlich klarer ersichtlich. Er ist Beamter des Reichs und dessen Feind, Folterer und Gefolterter, Reisender und Zurückbleibender (am Ende der Erzählung verlassen nicht nur Oberst Joll und seine Truppen die zu Grunde gehende Stadt, sondern auch die meisten der Bewohner. Der Magistrat bleibt zurück), Widerstandskämpfer und Opportunist. Er ist sogar – das treibt dieses Spiel der Verweisungszusammenhänge auf die Spitze – sein größter Feind, Oberst Joll: »I was the lie that Empire tells itself when times are easy, he the truth that Empire tells when harsh winds blow.« (Ebd. 135) Diese unüberschaubaren Bedeutungsvernetzungen haben dennoch nichts Relativistisches an sich. In Waiting for the Barbarians wird vielmehr spürbar, dass es eine Position zwischen Essentialismus und Relativismus geben kann. Allerdings – und das ist eine bedeutende Einschränkung, die dem Text letztlich doch einen pessimistischen Unterton verleiht – ist diese Position nur in den Kommentaren des Magistraten zu seinem eigenen Handeln erkennbar. Hier gibt es eine Vorstellung des ethisch Richtigen, dessen, was getan und gedacht werden müsste. Die Klammern betreffen aber jene Teile des Textes, die bloße Theorie darstellen. Nur in dieser, so scheint es, ist ein »richtiges Handeln« möglich – zumindest für den Protagonisten. Er lebt am Ende des Textes wieder in der Stadt, hat sein ehemaliges Amt erneut inne und versucht aus dem Wenigen, das geblieben ist, etwas zu machen, zumindest ein friedliches und ruhiges Leben für die, die noch da sind. Er hat, so seine Selbsteinschätzung, in diesem ereignisreichen Jahr, nicht mehr begriffen »than a baby in arms« (ebd. 155).

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Zuletzt beobachtet der Magistrat, wie Kinder einen Schneemann bauen – eine Szene, die er oft in seinen Träumen gesehen hat, in denen häufig auch ein Mädchen vorkam, das gewisse assoziative Bezüge zum Barbarenmädchen aufwies. Diese Szene hat nun keine metaphorische Bedeutung mehr, der Magistrat wendet sich von ihr ab und überlässt sich seinen Gedanken, die so weit geführt haben, um nirgendwo zu enden: »This is not the scene I dreamed of. Like much else nowadays I leave it feeling stupid, like a man who lost his way long ago but presses on along a road that may lead nowhere.« (Ebd. 156)

3.1.5 Abschließende Überlegungen zur Fremdheit des Eigenen in Waiting for the Barbarians Angesichts dieses für die postkoloniale Theorie so prägenden Textes, geraten einige ihrer grundlegenden Theoreme in ein anderes Licht. Man denke etwa an Clifford Geertz’ berühmt gewordenes Bild einer Welt, die »[…] at each of its local points [is coming] to look more like a Kuwaiti bazaar than like a an English gentleman’s club« (Geertz 1986, 121).10 Sich nicht auf den Anderen einzulassen verhindere, so Geertz, »[…] even to conceive, amid the mystery of difference, how one might get round an all-too-genuine moral assymmetry« (ebd. 117). Doch was, wenn der Wunsch nach diesem Einlassen auf den Anderen gar nicht vorhanden ist, was, wenn das Gefühl der Verantwortung nicht eintritt oder – wie im Fall des Magistraten – auch nichts an der Asymmetrie ändert? Die Geschichte des Magistraten in Waiting for the Barbarians zeigt, ohne jegliche Beschönigung, was hinter den Phantasmen der Unterdrückung und Vernichtung des »Fremden« steht, ohne sich über den Wunsch nach einer gefestigten, unzerstörbaren Identität zu erheben. Die Konstituierung einer solchen Identität hat zumindest auf theoretischer Ebene in der abendländischen Kultur meist über die Abgrenzung von einem als feindlich imaginierten Anderen stattgefunden, und daran hat sich nach wie vor nicht viel geändert. Selbst jene, die sich für eine Anerkennung der Hybridität im Sinne jenes »Bazars« einsetzen, den Geertz im Auge hatte, entkommen der Falle dichotomer Festschreibung nur in den seltensten Fällen. Die Anerkennung des Anderen als eines irreduziblen Anderen ist auf gesellschaftlicher Ebene noch längst nicht vollzogen, aber sie ist zumindest zu 10 | Obwohl Geertz’ Konzept auf den ersten Blick wesentlich pragmatischer zu sein scheint als die Philosophie eines radikalen Humanismus bei Lévinas, entdeckt Sieber auch hier eine theologische Komponente (vgl. Sieber 2002, 73). An diesem Beispiel lässt sich gut erkennen, dass das »frei von …« – Ideologie, Theologie, Stereotypen etc. –, das viele Theorien dieser Art für sich in Anspruch nehmen, sich meist als ebenso phantasmatisch erweist, wie die Annahme »natürlicher« oder zumindest »richtiger« scharfer Grenzziehungen.

Das Fremde als Eigenes

einem großen Thema geworden, das nicht mehr nur die ohnehin marginalisierten Bereiche der Gesellschaft und den Kunstbetrieb beschäftigt. In den Theorien von Clifford Geertz, Richard Rorty und Charles Taylor wird ebenfalls immer wieder darauf verwiesen, dass die Anerkennung der Differenz gerade unter den Bedingungen eines stark ausgeprägten Individualismus und den wachsenden Ansprüchen eines zunehmend heterogenen öffentlichen Raums zugleich schwieriger und notwendiger geworden ist. Die Anerkennung einer irreduziblen Differenz ist für ein menschenwürdiges und friedliches Zusammenleben unabdingbar, so weit sind sich alle einig, auch wenn der eine (Geertz) die individuellen Aspekte gerne etwas hinter das Allgemeinwohl zurückstellen möchte, während die Anderen diese voll zur Geltung kommen lassen möchten. Ein theoretischer Ansatz, der dieser Spannung zwischen (notwendiger) Aufhebung und Anerkennung von Differenz gerecht zu werden versucht, ist jener der »Transdifferenz«. Diese aus dem Graduiertenkolleg »Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz« der Universität Erlangen-Nürnberg hervorgegangene, noch sehr junge Theorie, betrachtet die Differenz zwischen Individuen, aber auch zwischen Kulturen, als eine unentbehrliche Ordnungskategorie. Während Ansätze der Interkulturalität und Transkulturalität das Hauptaugenmerk auf die positive Beziehung zwischen unvereinbaren Gegensätzen beziehungsweise das Verschwinden von Differenz legen, fühlt sich die Transdifferenztheorie dem Wechselspiel zwischen fester und verschwimmender Grenze verpflichtet. Die Betonung irreduzibler Differenzen befördert allerdings nicht, wie man vielleicht auf den ersten Blick meinen könnte, eine neue Form des kulturellen Essentialismus. Die Konstruiertheit von Differenzsetzungen gilt ebenso als Grundlage dieser Theorie wie die Annahme, dass sich gerade durch die Infragestellung von Identitäten in einer globalisierten Welt binäre Differenzkonstruktionen auflösen und neuen Erfahrungen Platz machen müssen – »Phänomene irritierender Mehrfachzugehörigkeit, nicht synthetisierbarer Überlagerungen, unentschieden oszillierender Zwischenbefindlichkeit« (Kauffmann, Kley, Paul 2010, 10) gewinnen so an Bedeutung und Normalität. Die Infragestellung des klassischen hermeneutischen Zirkels durch diese Phänomene wurde ebenfalls als Ergebnis dieses interdisziplinären Kollegs genannt, das den Begriff des Verstehens »statt in einer weltlosen Innerlichkeit in der stets auch leibhaften Interaktion und sozial prädisponierten Kommunikation« (ebd.) verortet wissen möchte. Letztlich kommt die in diesem Kolleg geleistete Arbeit einer Erweiterung, Ausdifferenzierung und Verankerung von Alteritäts- und Differenzkonzepten, die in den Postcolonial Studies schon vor geraumer Zeit entwickelt wurden, in sämtlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen gleich. Die Ergebnisse dieses interdisziplinären Projekts belegen die Notwendigkeit einer Neuinterpretation

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des Verstehens an sich und der Wechselwirkungen zwischen Eigenem und Fremdem für eine zeitgemäße Forschung.11 Im Verlauf dieser Arbeit werden neue Formen von (literarisch konzipierter) individueller und kollektiver Differenz und Fremdheit, aber auch die Notwendigkeit zumindest temporärer stabiler Identitätskonzepte immer wieder eine Rolle spielen. Vorläufig sei aber festgehalten, dass eine Verschiebung des Blickwinkels von der Grenzüberwindung hin zu positiv konnotierten Formen der Grenzziehung gerade durch die Zunahme von Kontingenz in der postmodernen Welt in Theorie und künstlerischer Praxis als eine große Sehnsucht des beginnenden 21. Jahrhunderts offensichtlich wird. Homi Bhabha hat die Bedeutsamkeit derartiger Grenz- und Identitätsimaginationen immer wieder betont. Diese lassen sich als verschiebbare, aber dennoch feste Knotenpunkte in einem Netz, dessen Fäden unauflösbar miteinander und ineinander verwoben sind, vorstellen. Bedauerlicherweise ist jedoch gerade dieser Aspekt in der Rezeption seiner Schriften und der postkolonialen Theorie ganz generell weniger hervorgehoben worden.12 Das Gedicht, dem der Titel von Waiting for the Barbarians entlehnt ist, erzählt von der Angst, keine Feinde, keine Abgrenzungsmöglichkeiten und keine daraus ableitbare Identität mehr zu haben – so wie der Magistrat tun vermutlich auch wir gut daran, diese Angst vor einem völligen Identitätsverlust ernst zu nehmen.

11 | Beteiligt waren an diesem von 2001 bis 2010 laufenden, durch die Deutsche Forschungsgesellschaft finanzierten, Projekt folgende Fachgebiete: Amerikanistik/Kanadistik, Anglistik, Systematische Theologie, Soziologie, Sinologie, Medienwissenschaften und Politische Wissenschaften. Trotz der Miteinbeziehung all dieser Disziplinen mit ihren unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, hat es bedauerlicherweise keine Versuche der Anwendung dieser Theorie auf didaktische Bereiche gegeben. 12 | Britta Saal setzt dem die Selbsteinschätzung Homi K. Bhabhas entgegen, der die Differenzen in ihrer beständigen Wandelbarkeit, die immer wieder auch zu etwas Stabilem führen, stets als einen Kernpunkt seiner Theorie betrachtet hat (vgl. Saal 2007, 32).

4. Das Fremde als Unheimliches

Überlegungen zu einem responsiven Umgang



mit dem Unwägbaren »The uncanny entails another thinking of the beginning: the beginning is already haunted.« Royle 2003, 1

Diesen Satz stellt Nicholas Royle an den Beginn einer der wenigen großen Abhandlungen über das Unheimliche, die in den letzten Jahren erschienen sind. Die meisten literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten zu dieser Thematik stammen aus dem englischsprachigen Raum, womit die Omnipräsenz Sigmund Freuds in diesem Kontext bereits zu einem gewissen Grad erklärt wäre. Keine nennenswerte wissenschaftliche Publikation über das Unheimliche, die nicht mit einer eingehenden Analyse von Freuds Abhandlung aus dem Jahr 1918 beginnt, auch wenn diese bloß vorgenommen wird, um seine Thesen später in Frage zu stellen, wenn nicht gar zu verwerfen. Die vorliegenden Ausführungen über das Unheimliche setzen diese Tradition fort und werden ebenfalls mit dieser unheimlich mächtig gewordenen Studie Freuds beginnen. Diese wird allerdings an Hand der Lektüre vorgestellt, die Hélène Cixous an diesem Text vorgenommen hat. Eine grundlegende wissenschaftliche Erklärung und »Entlarvung« des Unheimlichen, wie sie sich Freud erhofft hatte, kann daraus nicht abgeleitet werden. Was Freud aufzudecken meint, »is already haunted«, es sagt mehr über den Autor und seine Zeit aus als über das Wesen des Unheimlichen. Die Hindernisse und Doppelgänger, Irr- und Umwege, die double binds und das immer wieder auf sich selbst Zurückgeworfen werden, der Blick in den Abgrund, der sich sofort wieder schließt, und der Wunsch nach einem Ausweg, all das ist nicht nur Freud in seinem »Untersuchungsgegenstand« begegnet: Jede, die sich mit dem Unheimlichen beschäftigt, wird auf diese thematischen Eigenschaften stoßen. Wer gegen die Unergründlichkeit seines »Gegenstandes« ankämpft, wird verlieren, das ist es, was Freuds Studie uns an Grundlegendem über das Unheimliche zu sagen hat. Royle weist darauf hin, dass schon der Beginn der Ab-

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handlung einen bemerkenswerten Stolperstein für die eigene Theorie enthält, wenn Freud schreibt: »Der Psychoanalytiker verspürt nur selten den Antrieb zu ästhetischen Untersuchungen«. Was aber bedeutet es, fragt Royle, wenn der Autor eines Textes, der die Selbstgewissheit und Erhabenheit des zivilisierten Mannes als Triumph über das Unheimliche feiert, zu Beginn auf sich selbst in der dritten Person referiert (vgl. Royle 2003, 7)? Laut Royle bedeutet es das Eingeständnis einer Fremdheit im Eigenen, die niemals eingeholt werden kann. Dieses »Eingeständnis« ist in der Struktur von Freuds Text ständig präsent, doch sein Umgang mit dieser inneren Fremdheit – die bei ihm ja nicht zuletzt auch vom Individuum abrückt, indem sie zur Fremdheit der Vorfahren erklärt wird – gleicht der vermeintlichen Überlegenheit des Kolonialherrn über die Unterdrückten und weist dieselbe Problematik auf. Das Unheimliche ist eine stark zeitabhängige Kategorie, es ist allerdings unmöglich, an »den Anfang« des Unheimlichen zurückzugehen. Ängste und Unheimliches hat der Mensch wohl zumindest seit der Enwicklung der Fähigkeit, den eigenen Tod zu antizipieren, immer schon gekannt und es ist im Rahmen dieser Arbeit unmöglich, die Genese des Unheimlichen von den Ursprüngen an näher zu betrachten, auch wenn das sowohl ein ethnologisch als auch literaturwissenschaftlich lohnendes Unterfangen wäre. In den folgenden Kapiteln möchte ich allerdings einen genaueren Blick auf die Entwicklung werfen, die das Unheimliche seit der Romantik in der westlichen Kulturgeschichte vollzogen hat. Die Infragestellung des Subjekts und seiner Verstandeskräfte hat das literarische Unheimliche offenbar in besonderem Maße herauf beschworen – nicht zufällig ist E.T.A. Hoffmanns Sandmann das »heimliche« Zentrum der Freud’schen Abhandlung. Die Romantik mit ihrer bewussten Rebellion gegen das aufklärerische Vernunftideal hat die literarische Ausgestaltung des Unheimlichen, Abgründigen, ja sogar des Hässlichen und »Abjekten«1 erstmals zum ästhetischen Programm erhoben. Im englischsprachigen Raum hat diese Entwicklung symbolträchtig und teils auch blutrünstig stattgefunden, etwa mit der »Gothic Novel«. Auf leiseren Sohlen und in etwas subtilerer Ausformung fand das Grauenhafte Eingang in die deutschsprachige romantische Literatur. E.T.A. Hoffmanns unheimliche familiäre Verstrickungen in Die Elixiere des Teufels oder Wilhelm Tiecks todessehnsüchtiger William Lovell beispielsweise sind bis heute als Topoi wirkmächtig geblieben. Bei genauerer Betrachtung der sehr zahlreichen unheimlichen Texte die-

1 | »Abject. It is something rejected from which one does not part, from which one does not protect oneself as from an object. […] It is thus not lack of cleanliness or health that causes abjection but what disturbs identity, system, order. What does not respect borders, positions, rules. The in-between, the ambiguous, the composite.« (Kristeva 1982, 4)

Das Fremde als Unheimliches

ser Epoche2 wird deutlich, dass das Unheimliche stets einer Folie bedarf, von der es sich abheben kann. Der philosophische Hintergrund der Aufklärung mit seiner Überbetonung des Rationalen und der Verwerfung all dessen, was als wissenschaftlich nicht erfassbar, als irrational oder schlicht als Aberglaube gilt, scheint eine künstlerische Auseinandersetzung mit den Abgründen des menschlichen Seins sehr begünstigt, wenn nicht sogar erzwungen zu haben. Einer der Gründe dafür mag wohl sein, dass die von Max Weber 1919 proklamierte »Entzauberung der Welt«, die Horkheimer und Adorno später noch einmal in ihrer unheimlichen Wirkung auf die beginnende postmoderne Gesellschaft untersucht haben, als ein ausschließlich an den menschlichen Verstandeskräften orientiertes Programm früher oder später den Niedergang aller Kunstformen bedeuten würde. Nicht von der Hand zu weisen ist der Umstand, dass die Verdrängung dessen, was der Verstand nicht durchdringen kann, die Wirkung dieses Unterdrückten deutlich verstärkt: »[…] the more we seek enlightenment, the more alienating our world becomes; the more we seek to free ourselves, Houdini-like, from the coils of superstition, mystery and magic, the more tightly, paradoxically, the uncanny holds us in its grip.« (Castle 1995, 15) Die Gespenster des rationalen Denkens wurden durch die Aufklärung erst recht zum Leben erweckt und bevölkern später vor allem die Literatur des 20. Jahrhunderts. Mit der Jahrhundertwende sieht sich die westliche Welt mit der Infragestellung aller geltenden Werte konfrontiert. Starke Migrationsbewegungen und der Zusammenbruch der alten gesellschaftlichen Ordnung, nicht zuletzt auch zwei Weltkriege mit ihren traumatischen Auswirkungen, führen zu Identitätskrisen, die sich von der nationalen Ebene auf die Geschlechtergrenzen ausdehnen und schließlich selbst noch das System der Sprache und deren Vermittlungsfähigkeit in Frage stellen. Die Welt gerät aus den Fugen und wird zunehmend unheimlich, alles Äußere scheint bloß noch ein vages Konstrukt, das auf zweifelhaften Parametern gründet, und so wenden sich Kunst und Wissenschaft dem Inneren zu: »[...] denn das Wesen der Moderne 2 | Der Epochenbegriff ist immer problematischer, was sich in diesem Fall schon an einer uneinheitlichen Terminologie zeigt. Die Begriffe »Gothic Novel« und »Schauerroman« werden in unterschiedlichsten Bedeutungen, also entweder als Gattungsbegriff, als Epochenkennzeichnung oder als Stilbegriff, der auf bestimmte Motive, Figurenkonstellationen und sprachliche Eigenarten hindeutet, verwendet. Auffällig ist auch, dass sogar Klassiker der romantischen Schauerliteratur, man denke etwa an Abraham Stokers Dracula, außerhalb des zeitlichen Rahmens entstanden sind, der für diese in sich durchaus heterogene »Epoche« angegeben wird. In diesem Fall deutet der Begriff »romantische Epoche« lediglich einen Zeitraum an, der vom Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das 19. Jahrhundert hineinreicht und in dem im europäischen Sprachraum auffällig viele jener Texte produziert wurden, die heute als Klassiker des unheimlichen Genres gelten.

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überhaupt«, so Simmel, »ist Psychologismus, das Erleben und Deuten der Welt gemäß den Reaktionen unseres Inneren und eigentlich als einer Innenwelt, die Auflösung der festen Inhalte in das flüssige Element der Seele« (Simmel 1983, 152). Das kulturelle Krisengefühl schwappt über ins Private, manifestiert sich dort in Mustern, die in pathologische Kategorien gefasst und mit Begriffen wie Nervosität oder Hysterie belegt werden. Ihre unheimliche Wirkung geht durch diese Überführung in eine Ordnung des Krankhaften jedoch nicht verloren. Otto Weininger beklagt die »Verweiblichung des Jahrhunderts«, Ernst Mach proklamiert die Unrettbarkeit des Ich3 und die Sprachkritik Fritz Mauthners stellt das Begreifen durch Sprache nicht nur in Frage, sondern macht die Begriffe und Worte sogar zum Feind jeder Erkenntnis, zu der man lediglich in der sprachlosen Unmittelbarkeit des Erlebens gelangen könne.4 Von dieser Aufdeckung der heimlichen Zweifel an der Gültigkeit etablierter Haltungen und Gewissheiten ist es kein weiter Weg mehr zu postmodernen Verfahrensweisen wie etwa der Dekonstruktion, die der Eindeutigkeit endgültig den Garaus macht und das Zwei- und Mehrdeutige, Dazwischenliegende, rhizomatisch Wuchernde, das niemals Fassbare und aller Ordnung Entzogene zum paradigmatischen Denk- und Handlungsmodus erhebt. Die folgenden einleitenden Kapitel stellen einen Versuch dar, die Geschichte und man kann wohl auch sagen den Siegeszug des Unheimlichen im 20. Jahrhundert nachzuzeichnen. Es versteht sich von selbst, dass diese Beispiele nur relativ willkürlich gewählte Schlaglichter (und diese werfen besonders lange Schatten) auf ein Thema sein können, das sich eben nicht im Evidenten, sondern im Abwesenden und Ungesagten zu erkennen gibt.

3 | In seiner 1885 erstmals erschienenen Abhandlung Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen stellt Ernst Mach seine Überzeugung dar, dass die Welt eine zusammenhängende Masse sei, das Ich darin nicht mehr als ein Punkt, an dem diese Masse eine stärkere Konsistenz aufweist. Das Ich sei also keine reale Einheit, bloß eine, die man aus pragmatischen Gründen erfunden habe. Mach ist auf Grund eines Initialerlebnisses zu dieser Einsicht gelangt, die er als eine späte Reaktion auf die Lektüre von Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik betrachtete: »Etwa 2 oder 3 Jahre später empfand ich plötzlich die müßige Rolle, welche das ›Ding an sich‹ spielt. An einem heiteren Sommertag im Freien erschien mir einmal die Welt samt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, nur im Ich stärker zusammenhängend.« (Mach 1911, 24) 4 | Vgl. Mauthner 1999.

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4.1 N achhaltige M assnahme zur A usschaltung des U nheimlichen : F reud re visited . H élène C ixous und F reuds S tudie über das U nheimliche Kaum ein Thema in der Literaturgeschichte wird so von einem dominanten sekundären Diskurs bestimmt wie das des Unheimlichen. Die Dominanz dieser Freud’schen Schrift über das Thema des Unheimlichen mutet seltsam an, weist doch der Autor selbst darauf hin, dass »das Unheimliche der Fiktion – der Phantasie, der Dichtung – […] in der Tat eine gesonderte Betrachtung [verdiene]« (Freud 1997, 271) und von »berufenen Ästhetikern« (ebd. 274) auch gewiss schon hinreichend untersucht worden sei.5 Nichtsdestotrotz spielen literarische Beispiele – vor allem jenes des Sandmanns von E.T.A. Hoffmann – in Freuds Aufsatz die Hauptrolle. Die Abhandlung über das Unheimliche scheint Freud fast wider eigenen Willen »passiert« zu sein, merkt Freud doch schon ganz zu Beginn an, dass er sich »einer besonderen Stumpfheit in dieser Sache« (ebd. 244) anklagen müsse, hätte er doch selbst die Empfindung des Unheimlichen in seinem Erwachsenenleben nur selten verspürt. Betrachtet man Freuds Aufsatz genauer, könnte einen durchaus ein unheimliches Gefühl beschleichen, es scheint, als wäre der Autor bezüglich dieser Thematik mit sich selbst nicht ganz im Reinen und als wäre deshalb sein Text voller Widersprüche. Wenn es den Aufsatz Hélène Cixous’ nicht schon gäbe, müsste also erst einmal mit einer eingehenden Analyse dieser Studie, die so grundlegend für die Rezeption der unheimlichen Literatur geworden ist, begonnen werden. In Fiction and its Phantoms unterzieht Hélène Cixous den Aufsatz Freuds einer kritisch-präzisen Lektüre, wobei sie sämtliche der darin enthaltenen Behauptungen und Interpretationen an den von Freud selbst aufgestellten und vermeintlich rein rationalen Postulaten misst. Was sich ihr dabei offenbart, ist keineswegs die wissenschaftliche Offenlegung des Geheimnisses des Unheimlichen, sondern vielmehr eine »disquieting method to track down the concept das Unheimliche« (Cixous 1976, 525), die ihr Ziel aber verfehlt und sich selbst (notwendigerweise) in den Fängen ihres »Untersuchungsgegenstands« hoffnungslos verheddert. Da Cixous’ Text meist bloß ausschnittsweise zitiert wird, seine Vorgehensweise aber für jegliche wissenschaftliche Reflexion über das Unheimliche grundlegend ist, möchte ich an dieser Stelle zumindest eini5 | Ein Grund für die starke Freud-Rezeption in diesem Zusammenhang ist sicherlich die Tatsache, dass es wenig theoretische Texte gibt, die sich explizit mit dem Unheimlichen befassen. Abgesehen davon ist die Auseinandersetzung mit diesem Thema bisher weniger im deutschsprachigen als im anglophonen Raum betrieben worden, insbesondere in den USA. Die Psychoanalyse als Instrument der literaturwissenschaftlichen Analyse hat in dieser Tradition einen hohen Stellenwert und ist noch nicht so grundlegend in die Kritik geraten, wie das in Europa der Fall ist.

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ge der Überlegungen nachvollziehen und kommentieren, die Hélène Cixous in ihrem Artikel anstellt. In der editorischen Vorbemerkung zur Studienausgabe von Freuds Psychologischen Schriften wird darauf verwiesen, dass der Aufsatz Das Unheimliche in engem Zusammenhang mit seinen anderen Schriften über Kunst und Literatur steht. So hat der Autor selbst diese Arbeit in einen kleinen Sammelband mit dem Titel Dichtung und Kunst aufgenommen, in dem auch noch andere Beiträge, etwa zu weiteren Texten E.T.A. Hoffmanns, enthalten sind. Cixous besitzt genaue Kenntnis der Schriften Freuds und sie sieht – wie der Titel ihres Aufsatzes bereits ankündigt – seinen engen Bezug zur Literatur als die notwendige Voraussetzung für seine intensive Beschäftigung mit dem Unheimlichen. Doch Freuds Interesse an der Dichtung sei, so Cixous, in erster Linie Faszination für die Macht des Dichters, wie vor allem seinen Überlegungen in Der Dichter und das Phantasieren deutlich anzumerken sei (vgl. ebd. 528). In Das Unheimliche, so Cixous, versuche Freud nun selbst den Platz des Dichters einzunehmen und die Geister nach seinem Willen leben zu lassen: »What unfolds […] is a kind of puppet theater in which real dolls or fake dolls, real and simulated life, are manipulated by a sovereign but capricious stage-setter. […] the scenes are centered and dispersed; narratives are begun and left in suspension.« (Ebd. 525)6 Jedem, der Freuds Abhandlung schon einmal gelesen hat, wird dieser Eindruck vermutlich recht vertraut sein, vor allem aber ist wohl jedem, der schon einmal versucht hat, die Studie über das Unheimliche für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema fruchtbar zu machen, bereits aufgefallen, dass die Grenzen zwischen Fiktion und (wie Freud behauptet durchgehender) Wissenschaftlichkeit ununterbrochen verschwimmen, ja sich zum Teil ganz auflösen, ohne dass dies klar gekennzeichnet wäre: »What in one instance appears a figure of science seems later to resemble some type of 6 | An anderer Stelle wird Cixous noch deutlicher und beschreibt das starke Interesse Freuds am »Geheimnis«, das hinter gelungener Dichtung stehe, als »Neid«: »There arise here the mystery of literary creation and the secret of this enviable power possessed by it’s creator who manages to seduce us.« (Cixous 1976, 527) Es sei die Freiheit des Dichters, die Freud beneide, die Möglichkeit der Dichtung, Emotionen hervorzurufen oder zu unterdrücken, oder »to lift or impose censorship« (ebd.). Cixous verweist in diesem Zusammenhang auch auf Freuds Theorie von der »Verlockungsprämie«, die es dem Dichter erlaube, durch eine gelungene (Schreib-)Technik die natürliche Abstoßung zu überwinden, die das Phantasma des Anderen immer auslöse, insofern es eben ein anderes ist. Durch des Dichters Hilfe werde es dann vielleicht auch dem Leser ermöglicht, über den Umweg des Anderen besser mit den eigenen Phantasmen umgehen zu können. Dichtung könne also auf diese Weise der Seele tatsächlich Linderung verschaffen (vgl. Cixous 1976, 528 und Freud 1966, 213-223). Sie erreicht damit in Freuds Augen relativ einfach ein Ziel, das die Therapie, seinen eigenen Erfahrungen zufolge, oft nicht erreicht.

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fiction.« (Ebd. 526) Die vielen Umwege, Abwege und Volten, die Freuds Aufsatz nimmt, beginnen schon ganz zu Beginn, wobei dieser Anfang so ungewöhnlich und auffällig ist, dass nicht erst Royle, sondern schon viele Kritikerinnen vor ihm darauf eingegangen sind. Cixous beschreibt Freuds lange und doch recht unergiebige Erklärung dafür, dass er sich nun nach anfänglichem Zögern doch einem Thema widme, das ja eigentlich gar nicht in den Zuständigkeitsbereich der Psychoanalyse falle, als einen verzweifelten Rechtfertigungsversuch »to the point of exonoration« (ebd. 527). Wie bereits erwähnt, ist es aus Cixous’ Sicht ein gewisser Neid auf die Macht des Schriftstellers, der Freud in seiner Auseinandersetzung mit der Literatur antreibe, die doch eigentlich weder in sein Fachgebiet falle, noch eine zuverlässige Quelle für Aussagen über die Realität sei. Freud hat aber in seinem Aufsatz über das Unheimliche zwei Kontrahenten: einmal seinen »undurchsichtigen« Untersuchungsgegenstand und andererseits einen Kollegen, den Psychiater Ernst Jentsch, der sich bereits vor Freud Gedanken über das Unheimliche gemacht und 1906 eine entsprechende Abhandlung veröffentlicht hat. Jentsch hat sich in dieser Publikation, in der er zu dem Ergebnis gelangte, dass das Unheimliche einer intellektuellen Unsicherheit entspringe, ebenfalls mit E.T.A. Hoffmanns Sandmann auseinandergesetzt. Freud erklärt nun zu Beginn seines Aufsatzes, dass es zwei Wege gäbe, sich dem Phänomen des Unheimlichen anzunähern: Zum einen könne man das auf linguistische Weise tun, indem man also versucht, Wortbedeutung und Sprachgebrauch des Begriffs »unheimlich« nachzuzeichnen und so nähere Informationen über dessen Bedeutung zu gewinnen. Zum anderen könne man alles zusammentragen, »was an Personen und Dingen, Sinneseindrücken, Erlebnissen und Situationen das Gefühl des Unheimlichen in uns wachruft, und den verhüllten Charakter des Unheimlichen aus einem allen Fällen Gemeinsamen erschließen« (Freud 1997, 244). Wie Cixous richtig anmerkt, ist es inkonsequent und wissenschaftlich unredlich, trotz dieser anfänglichen Darlegung und nach einem »overlong, delirious discours« (Cixous 1976, 530)7 über die lexikalische Bedeutung der Begriffe »heimlich« und »unheimlich«, schließlich ohne nähere Erklärung doch wieder auf ein – nämlich

7 | Über das recht willkürliche, dafür sehr umfangreiche Sammelsurium an Lexikoneinträgen in Freuds Aufsatz schreibt Cixous: »The lexical continuation, a voyage of reference through foreign languages, constitutes a polylinguistic dictionary article. Through such a display of definitions, the world returns, a sampling of everyday experience, of home economics, of domestic problems. And yet … this lumber room, far from winning us over, this chain of quotations which Heimliche or Unheimliche threads together, appears to us an overlong, delirious discourse in which the world is seen as a deceptive reduction, not without polymorphic perversity gleaned from a ›child-dictionary‹ [dictionnaire-enfant].«

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jenes von Jentsch bereits untersuchtes – literarisches Beispiel zurückzugreifen.8 Was jedoch als Conclusio aus diesen »Untersuchungen des Sprachgebrauchs«, wie Freud es nennt, hervorgeht und für die Fortsetzung des Auf8 | Ich möchte an dieser Stelle auch auf einen Irrtum Hélène Cixous’ aufmerksam machen, der meines Wissens in der bisherigen Debatte um Fiction and its Phantoms noch nicht bemerkt worden ist. Der Beobachtung, die Cixous in ihrer Arbeit über Freud beschreibt, dass nämlich seine Auseinandersetzung mit Ernst Jentsch und dessen Erkenntnissen keineswegs rein wissenschaftlich, sondern von Rivalität und einem geradezu kindischen Wettbewerb um die Vorherrschaft über das Thema geprägt sei, ist an sich wenig entgegenzuhalten. Zwar bemüht Freud sich anfangs sehr darum, seine Kritik möglichst »objektiv« und neutral zu formulieren, doch irgendwann wird durch die direkte Anrede des Lesers deutlich (vgl. Freud 1997, 251), wie sehr sich der Autor diese Zustimmung und damit den »Sieg« über die Jentsch’sche Theorie wünscht. Nichtsdestotrotz geht Cixous von falschen Bedingungen aus, wenn sie meint, dass Freud eine subjektive und letztlich diffamierende Behauptung aufstelle, der zufolge Jentsch sich nicht genügend mit der zum Thema gehörigen Literatur auseinandergesetzt und sich bloß mit der Beobachtung alltäglicher Erfahrungen zufrieden gegeben habe (vgl. Cixous 1976, 529). Diese Behauptung ist nun aber wiederum eine (diffamierende) Unterstellung Freud gegenüber, der nicht seinen Kontrahenten, sondern vielmehr sich selbst anklagt, nicht genügend Zeit und auch nicht die Gelegenheit gefunden zu haben, die in Jentschs Beitrag zitierte Literatur zu recherchieren: »Allerdings muß ich gestehen, daß aus leicht zu erratenden, in der Zeit liegenden Gründen die Literatur zu diesem kleinen Beitrag, insbesondere die fremdsprachige, nicht gründlich herausgesucht wurde, weshalb er denn auch ohne jeden Anspruch auf Priorität vor den Leser tritt.« (Freud 1997, 243) Freud gesteht also gerade an dieser Stelle durchaus eigene Unzulänglichkeiten ein, wobei die »in der Zeit liegenden Gründe« den Ausbruch des Ersten Weltkriegs meinen und somit nicht den Autor persönlich zur Verantwortung ziehen. Von einer Ausrede kann man aber wohl in diesem Fall dennoch nicht sprechen, vielmehr möchte Freud hier die Relativität seiner Behauptungen deutlich machen und versucht gerade an dieser Stelle keineswegs, wie Cixous es unterstellt, durch die Setzung von Prioritäten eine, nämlich seine, Hierarchie zu etablieren (vgl. Cixous 1976, 529). Da Cixous streng über Freud urteilt und seine bewussten und unbewussten Fehlurteile ahndet, muss man an dieser Stelle auch von ihrem eigenen Text Gerechtigkeit fordern dürfen. Das bedeutet in diesem Fall zuzugeben, dass auch Cixous’ Freud-Lektüre blinde Flecken aufweist und die eigene, ebenfalls notwendigerweise »subjektive« Position nicht immer als solche markiert. Freuds Kontrahent und »Double« ist, insoweit kann und möchte ich der Argumentation Cixous’ gerne folgen, Ernst Jentsch. Ihr Kontrahent in Fiction and its Phantoms ist Freud. Auch ihr Text wird damit wieder vom Unheimlichen in anderer Form heimgesucht, mehr als sie selbst es behauptet, wahrnimmt und zugibt. Nicht nur der Tod, den sie selbst als eigentlichen Gegner Freuds ausmacht, ist in Cixous’ Text anwesend, sondern auch ein »untoter« Gegner, Freud selbst mit seiner ganzen Macht und Autorität eines männlichen

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satzes ganz entscheidend sein wird, ist ein Schelling-Zitat: »Un-h. nennt man Alles, was im Geheimnis, im Verborgnen … bleiben sollte und hervorgetreten ist.« (Zit.n. Freud 1997, 248) Dieses Zitat führt Freud schließlich zu der stark rezipierten Schlussfolgerung, dass »heimlich« ein Wort sei, »das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt« (ebd. 250). Freud scheint diese Tatsache, die ihn allerdings bis zum Ende seines Aufsatzes weiter beschäftigen und verfolgen wird, recht gelassen hinzunehmen, doch Cixous merkt richtig an, dass die beunruhigende und für Freuds Studie äußerst »ungünstige« Eigenschaft des Unheimlichen, sich jeglicher Deutung und definitorischen Festlegung zu entziehen, hier erste Schatten wirft: Thus, from one point of view, the lexicographical undertaking is undermined by the article which functions as the metaphor of its own setting. […] when one makes contact with the other, it closes again and closes the history of meaning upon itself, delineating through this gesture the figure of the androgyne. The world joins itself again, and Heimliche and Unheimliche pair off. (Cixous 1976, 530)

Diese Einsicht ist durchaus bemerkenswert und auch tief bedeutsam, denn das Ineinanderverschmelzen der beiden Begriffe kommt einer völligen Grenzauflösung gleich und besiegelt bereits an dieser Stelle der Studie die Unmöglichkeit des Freud’schen Vorhabens, die Unmöglichkeit der Erfassung des »Charakters« des Unheimlichen. Doch bleiben wir noch eine Weile bei dem Begriff der Androgynie und dessen Zusammenhang mit dem Unheimlichen stehen. Androgynie, so hat es Elisabeth Badinter einmal formuliert, sei die Infragestellung, die tiefe Erschütterung des »Paradigmas« der abendländischen Kulturgeschichte (vgl. Badinter 1988, 21ff.). Wenn es etwas zwischen Mann und Frau gibt, zwischen diesen beiden Polen, zwischen denen unsere Sprache ein Netz aus Dualismen und damit vermeintlich sicheren Grenzziehungen errichtet hat, dann steht unsere gesamte Geistesordnung zur Disposition. Die Anerkennung eines androgynen Wesens geht also, aus dieser Perspektive betrachtet, weit über die Frage nach der Akzeptanz eines individuellen Lebensentschlusses hinaus und es ist anzunehmen, dass die Androgynie deshalb noch einen der letzten wirksamen Tabubrüche in unserer Gesellschaft darstellt.9 Immer noch und immer schon ist also das »Zwischen« ein Zustand, der Wissenschaftlers, der zum oft unhinterfragten Gewährsmann sämtlicher Disziplinen geworden ist. 9 | Ein Beispiel für die zwischen Faszination und Abscheu changierende Anziehungskraft des Androgynieverdachts in der populären Kultur ist die Sängerin und Kunstfigur Lady Gaga. Ihre Musik ist äußerst beliebt und durch und durch massenkompatibel, ihr Image baut jedoch auf einer biographischen Legende auf, deren Kernstück ein medien-

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die Ordnungsprinzipien unseres Handelns und Denkens bedroht und der deshalb auf Aggression und Abwehr stößt, wo immer er auftaucht. Das hat bereits Michel Foucault in seiner Abhandlung über Herculine Barbin10 nachgewiesen und lässt sich auch an den vielen androgynen Gestalten nachvollziehen, die die Literaturgeschichte bevölkern (vgl. Mitterer 2007, 20-33). Ihnen allen ist eine gewisse unheimliche Wirkung gemeinsam. Auf dieses »Charakteristikum« (um nun doch zumindest eines zu nennen) der Grenzverwirrung und Grenzzersetzung, der Bedrohung einer, auf dem Denken in bipolaren Gegensätzen basierenden Ordnung trifft man nicht nur bei Hélène Cixous. Doch kehren wir wieder zurück zu Cixous’ Text und dem Schluss, den sie aus der Beobachtung zieht, dass Freuds lexikalische Festschreibungsversuche sich im Kreis drehen und schließlich wieder zu ihrem Ausgangspunkt, dem »Heimlichen«, zurückgelangen, um diesen an sich unverdächtigen Begriff nun auch noch mit in die Sphäre des Unerklärlichen und Verdächtigen zu ziehen. Die androgyne Verfasstheit des Begriffs, der kein Gegenteil zu haben scheint, sondern mit diesem vielmehr eins wird, sei, so Cixous, bereits ein Hinweis auf die nun folgenden Ausführungen Freuds, in der die Verbindung zwischen dem Unheimlichen und dem Sexuellen schließlich in den Vordergrund tritt. Freuds Text nimmt nach den lexikalischen Untersuchungen, die zu keinen für ihn zufriedenstellenden Ergebnissen geführt haben, den zweiten von ihm vorgeschlagenen Weg, jenen also, der ihn direkt in die Alltagswelt und die dort für jedermann erlebbaren Begegnungen mit dem Unheimlichen wirksam gestreutes und aufwändig inszeniertes Gerücht über die geschlechtliche Ambivalenz der Sängerin ist. Der Beginn dieser Karriere und der anhaltende spektakuläre Erfolg ihrer Musik und ihrer Selbstinszenierungen – beides ist ohne einander wohl nicht vorstellbar – wären ohne diesen stark polarisierenden Hintergrund kaum möglich gewesen. 10 | Während der Recherchearbeiten für seine Studien über die Sexualität fielen Foucault die tagebuchartigen Aufzeichnungen des Hermaphroditen Herculine Barbin in die Hände, denen er eine eigene Studie widmete. Barbin hatte im 19. Jahrhundert gelebt und war in einem französischen Kloster großgezogen worden, wo man auf die geschlechtliche Zuordnung weitgehend verzichtet hatte. Man nannte das Kind allerdings »Alexina Barbin« und auch das zum überwiegenden Teil weibliche Umfeld, in dem Barbin aufwuchs, ließ keine dezidiert männliche Prägung in ihm/ihr entstehen. Barbin empfand sich als einen glücklichen Menschen, bis eine Untersuchung »ihn« auf Grund seiner Sexualorgane als »wahren Jungen« deklarierte. Das juristische Geschlecht musste daraufhin entsprechend geändert werden und fortan sollte Barbin als Junge erzogen werden. Die Aufzeichnungen beginnen lange nach diesem Vorfall und nach dem Beginn einer »Erziehung zum Manne« mit den Worten: »Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und obwohl ich noch jung bin, nähere ich mich zweifellos dem verhängnisvollen Ende meiner Existenz.« (Foucault 1998, 21)

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führt. Doch die Wahl eines »glücklichen ersten Beispiels« (Freud 1997, 250) führt postwendend wieder zurück zu den Automaten, den Puppen und Wachsfiguren – kurz, zu Jentsch und dem von ihm gewählten literarischen Beispiel. Jedoch bleibt Freud nicht beim Jentsch’schen Beispiel der Puppe Olimpia stehen, sondern verbannt diese als marginalen Teil der eigentlich tragenden Sandmann-Geschichte in den Hintergrund. Dies folgt, so sieht es zumindest die Lektüre Cixous’, einer bestimmten Strategie. Freud verbannt die für ihn, wie es der Anfang des Kapitels nahelegt, ebenfalls unheimliche Puppe – und setzt an ihre Stelle den auf seine Theorie der Kastrationsangst »zurechtgekürzten« Sandmann. Dabei versichert Freud sich der Komplizenschaft des Lesers (vgl. ebd. 251). Cixous begreift allerdings die vermeintlich dialogische Struktur dieses Abschnitts als reine Attitüde, die auf keinerlei Antwort wartet, sondern diese vielmehr vorgefertigt im Ärmel trägt, bereit, sie im rechten Moment dem staunenden Publikum zu präsentieren. Olimpia ist vergessen, Freud wird Herr und Dichter der von ihm entworfenen Szene: »From then on, it is a matter, without further delay, of turning the episode involving Olimpia into satire, thus managing to eclipse and obscure it. We get sand thrown in our eyes, no doubt about it.« (Cixous 1976, 532) Cixous’ Text reproduziert mit voller Absicht die Charakteristika des Freud’schen Textes, allerdings ohne (wie dieser) von sich zu behaupten, dass er objektiv, linear oder gar nicht-fiktional sei. Einige der angeführten Thesen mögen daher auch bei einer wohlwollenden Leserin durchaus auf Kritik stoßen oder abwegig erscheinen, doch in vielen Punkten bleibt Fiction and its Phantoms ganz nahe an Freuds Studie und kratzt vor allem an jenen Stellen, die ihre eigenen Maßstäbe zum Absolutum erheben, ohne dafür ausreichende Argumente zu liefern. Derart überzeugend ist Cixous’ Text vor allem dann, wenn es um die »Nutzung« des Sandmann-Textes durch Freud geht, der generell wenig Respekt vor der Literatur zeigte, wenn er diese zur Unterstützung seiner psychologischen Thesen heranziehen wollte. Cixous vollzieht schrittweise nach, wie Freud vor allem durch manipulative Zitate und Auslassungen aus dem Sandmann eine auf Nathaniel und seine kindliche Phantasie fokussierte »FallGeschichte« macht. Aus dieser ist nun alles Fantastische und Unheimliche verbannt, der Text trägt nach Freuds Bearbeitung die Züge einer linearen und vollständigen Anamnese (vgl. ebd. 533). Es versteht sich von selbst, dass dafür zahlreiche Eingriffe in die Erzählung notwendig sind, vor allem stellt Freud kausale Bezüge her, die im Sandmann keineswegs als solche ausgewiesen werden. Jegliche Zweifel an der »Autorenintention« (und von einer solchen geht Freud wie selbstverständlich aus) werden ausgemerzt, und was übrig bleibt, ist das bloße Skelett einer Geschichte, die keine Erzählung mehr ist und die ein Psychiater wohl hätte besser schreiben können. Die derart zurechtgestutzte Geschichte wurde vor allem ihrer »narrative structure«, der »heterogeneity of its points of view« und der vermeintlich überflüssigen Details be-

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raubt. Vor allem hat Freud die für Hoffmanns Erzählung so überaus wichtige »role of pantomime« (ebd. 534) »herausgeschnitten«: »for it is indeed a question of cutting rather than one of summarizing« (ebd.). Diese Beobachtungen Hélène Cixous’ sind bemerkenswert und für jede theoretische Arbeit über das Unheimliche, ja in gewisser Weise sogar für jede literaturwissenschaftliche Analyse von größter Relevanz. Was Freud mit dem Text E.T.A. Hoffmanns anstellt, entspricht einer immer noch gängigen Praxis der Literaturwissenschaften. Diese entpuppt sich, wie Cixous’ Wortwahl an dieser Stelle verdeutlicht, als ein gewaltsamer Akt. Die Methode, die hinter dieser Ausmerzung des Fremden, in diesem Falle des Unheimlichen, steckt, ist in Cixous’ Worten so einfach wie präzise dargelegt: »His [Freuds, Anm. N.M.] elaboration begins, in reality, from a conclusion which returns the analysis to the still intraanalytic circle.« (Ebd. 535) Was der Analytiker beziehungsweise die Interpretin im Text vorgeblich »findet«, ist von Anfang an da, der Text dient in diesem Fall lediglich als eine Art Materialiensammlung, aus dem herausgefiltert wird, was immer gerade nötig ist, um eine bereits vorgefertigte Theorie zu stützen. Cixous zeichnet diese Vorgehensweise Freuds in Das Unheimliche präzise nach und zeigt, wie er dort, wo Differenz ist, vermeintliche Identität schafft, indem er beispielsweise die Figuren Coppelius und Coppola schlicht gleichsetzt, was vom Text in dieser Weise keinesfalls vorgegeben wird. Die Art, in der Freud sich dieser Erzählung bemächtigt, kommt dabei selbst einer Kastration gleich, die Figur des Sandmannes wird um ihre ganze unheimliche Dichte und Komplexität gebracht, übrig bleibt lediglich die literarisch kümmerliche, aus Sicht der Psychoanalyse aber durchaus gewinnbringende Gleichsetzung: Sandmann = Verlust der Augen = Kastrationsangst. Zu allem Überfluss stellt Freud diese, den eigenen Bedürfnissen gemäß, zurechtgestutzte Geschichte und deren Auslegung noch nicht einmal als eine mögliche Art der Lektüre dar, sondern verabsolutiert seine Deutung. Dies lässt sich, selbst wenn man die Einschätzungen Hélène Cixous’ nicht zur Gänze teilt, als das krasse Gegenteil einer responsiven Lektüre betrachten. Dennoch muss man sich um die Literatur, um den »benutzten« und unter Umständen missbrauchten Text keine Sorgen machen, er weiß sich zu »wehren«. Das Unheimliche eines Textes ist nicht in den großen Figuren, nicht in der linear nacherzählbaren »Haupthandlung« zu suchen, es versteckt sich in den Lücken der Handlung, es lauert dort, wo die Erzählstimmen brüchig und unscharf werden, es bahnt sich seinen Weg und lässt sich nicht einfach »wegschneiden«. Das Unheimliche ist – und davor hatte Freud unter Umständen wesentlich mehr Angst – nicht kastrierbar. Was also passiert in Freuds Text mit dem Unheimlichen? Wenn wir der Sichtweise Hélène Cixous’ weiter folgen, taucht es beispielsweise in einer Fußnote wieder auf, in der Freud nun doch wieder auf die scheinbar so unbedeutende Olimpia zu sprechen kommt (vgl. Freud 1997, 255f.). Noch einmal versucht Freud ausführlich darzulegen,

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dass Olimpia zumindest keine eigenständige Rolle zukommt, sondern dass sie vielmehr ein, von Nathaniel losgelöster Ich-Komplex sei, »nothing else than a personification of Nathaniel’s feminine attitude toward his father in his infancy« (Cixous 1976, 538). Wenn dem aber so ist, fragt Cixous, weshalb werden dann all die Elemente, die in Hoffmanns Erzählung auf das Engste mit der Puppe verbunden sind, etwa Tanz und Lied, zurück auf den Plan gerufen und in die Interpretation eingebracht? Weil diese Elemente nicht zu Freuds Erklärung passen, so Cixous, weil sie verdecken, was nicht an die Oberfläche kommen soll, was aber doch quälend und aufdringlich genug ist, um Freud noch einmal – in Form ebendieser Fußnote – zu einem Umweg zu zwingen. Was diese tatsächlichen Ängste sein könnten, ist leicht zu erraten. »And what if the doll became a woman?« (ebd.), fragt Cixous. Was, wenn sie tatsächlich durch bloßes Anschauen zum Leben erweckt werden könnte, was, wenn die Frau gar kein kastrierter Mann ist, sondern tatsächlich ein beseeltes, eigenständiges Wesen? Diese Fragen sind für den Autor zu unheimlich, als dass er sie ans Licht bringen wollte und doch schwingen sie gerade in Freuds hartnäckigem Beharren auf dem Kastrationskomplex und seiner grundlegenden Bedeutung für den Sandmann-Text mit. Auf Freuds Auseinandersetzung mit dem Sandmann folgen seine Überlegungen zu Doppelung und Doppelgängertum. Cixous versucht Ordnung in den Wust an Themen, Figuren, Begebenheiten und Namen zu bringen, die Freud hier ins Spiel bringt, indem sie drei große Bereiche (»cluster«) ausfindig macht, nämlich 1. die Manifestationen des Doppelgängertums, 2. »Erforscher« des Doppelgängertums (Otto Rank, E.T.A. Hoffmann, Freud selbst) und 3. eine Serie von anekdotenhaften Beispielen (vgl. ebd. 539). Diese unterschiedlichen Elemente werden nun wieder, wie schon die Sandmann-Erzählung, auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, der selbstverständlich einer Theorie Freuds entspricht. Die Angst vor jeglicher Form von Doppelung sei, so Freud, auf den primären Narzissmus zurückzuführen, »welcher das Seelenleben des Kindes wie des Primitiven beherrscht, und mit der Überwindung dieser Phase ändert sich das Vorzeichen des Doppelgängers, aus einer Versicherung des Fortlebens wird er zum unheimlichen Vorboten des Todes« (Freud 1997, 258). Auch in diesem Abschnitt seiner Studie zitiert Freud zahlreiche literarische Beispiele, unter anderem taucht auch Hoffmann wieder auf und wird, wie Cixous zu denken vorschlägt, zu Freuds eigenem Doppelgänger: Der Dichter und der Psychoanalytiker ringen um das Unheimliche, die Begegnung mit dem Doppelgänger bedeutet immer den Tod, und Freud schreibt um sein Leben. Vielleicht hat Cixous Recht, wollen wir ihr in diesem Gedankengang weiter folgen. Tatsächlich tauchen zwei merkwürdige anekdotenhafte Erzählungen Freuds in der Studie auf, die beide mit dem Motiv der Doppelung zu tun haben. Die zweite Begebenheit führt Hélène Cixous zur Conclusio ihres Beitrags und ist deshalb von besonderer Bedeutung. Freud erzählt die Geschichte, anders

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als die erste, in der es um die Wiederkehr an ein und denselben Ort (dem er eigentlich entfliehen wollte) geht, nicht in der Ich-Form. »Man« könne selbst als Mensch, der sich vor dem Unheimlichen sicher wähne, in Zweifel geraten und die »Idee des Verhängnisvollen, Unentrinnbaren« könne sich durchaus auch einem vernünftigen Menschen aufdrängen, wenn es zu einer Wiederholung von Begebenheiten kommt, in der ein und dasselbe Element immer wieder auftaucht. Das von Freud gewählte Beispiel ist die Wiederkehr der Zahl 62: »Man findet das ›unheimlich‹, und wer nicht stich- und hiebfest gegen die Versuchungen des Aberglaubens ist, wird sich geneigt finden, dieser hartnäckigen Wiederkehr einer Zahl eine geheime Bedeutung zuzuschreiben, etwa einen Hinweis auf ein bestimmtes Lebensalter.« (Ebd. 260f.) Wie einer Fußnote in der Studienausgabe zu entnehmen ist, ist Freud selbst ein Jahr vor Erscheinen der Abhandlung 62 Jahre alt geworden. Cixous nimmt auf eben jenen Zusammenhang Bezug, wenn sie mutmaßt, dass Freud an dieser Stelle das »Ich« nicht zufällig gegen das unpersönliche »Man« eingetauscht hat: […] if you have been born in 1856 and if you are writing in 1919 a text which the instinct [Trieb] of death haunts, then you will be the reprieved author, who escapes the announcement of his end, masked by a you where the I becomes identifiable with the reader. Freud is palming off his own death on us, and the reader has become the substitute; and isn’t the one who has lived a year beyond the age foreseen for his own disappearance in some way a ghost? (Cixous 1976, 541)

Spätestens ab diesem Zeitpunkt, so Cixous, wird deutlich, wie sehr Freuds Nachdenken über das Unheimliche eine Auseinandersetzung mit dem Tod ist, dem er sich allerdings nicht annähert, sondern den er abzuwehren versucht. Nach diesen sehr persönlichen und an der »Alltagswelt« orientierten Beispielen greift Freud nun auch fast hektisch wieder zurück auf ein literarisches Beispiel. Er wählt eines, das, wie er meint, den Bereich der schwierig zu beurteilenden Phänomene hinter sich lasse und es dem Autor erlaube, »unzweifelhafte Fälle des Unheimlichen« (Freud 1997, 261) zu analysieren, von denen man sich entsprechend eindeutige Untersuchungsergebnisse erwarten dürfe. Freud wendet sich dem Ring des Polykrates zu, der von Schiller bearbeitet wurde, jedoch bereits auf einen Stoff von Herodot zurückgeht: Ein Gast wendet sich mit Grausen von seinem Gastgeber ab, weil er bemerkt, dass dessen Wünsche alle in Erfüllung gehen. Der unheimliche Eindruck werde in der Dichtung selbst damit begründet, dass »der allzu Glückliche den Neid der Götter zu fürchten habe« (ebd. 262). Cixous erscheint dies als »a beautiful example of a silent ›dialogue‹ with death which claims its due; that is to say, it is always a question of an exchange with life itself and with the most alive« (Cixous 1976, 541). Man mag Cixous in dieser Beobachtung Recht geben oder auch nicht, fest steht jedenfalls, dass diese Stelle der Studie aufs Neue eine seltsame und

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unerklärliche sowie unerklärte Wendung nimmt. Eben noch glaubte Freud durch das literarische Beispiel sicheren Boden unter seinen Füßen zu haben, schon lässt er selbiges erschrocken wieder fallen und wendet sich der Krankengeschichte eines Zwangsneurotikers zu. Diese führt ihn zur Auseinandersetzung mit dem Animismus, der mit der »narzißtischen Überschätzung der eigenen seelischen Vorgänge« (Freud 1997, 263) zu erklären sei. Das Unheimliche käme also unter anderem auch dadurch zustande, dass es an Reste dieser animistischen Seelentätigkeit rühre (vgl. ebd.). Es ist kaum zu übersehen, dass Freud hier, wie Cixous es behauptet, einen weiteren Umweg nimmt, weil er dem eigentlich Unheimlichen (dem also, was, seiner eigenen Argumentation zufolge, unterdrückt ist und eigentlich nicht an die Oberfläche kommen darf oder soll) nicht begegnen will: »Thus the strange underground empire is mapped by intersections derived from mythological and clinical studies running the gamut from the most commonplace to the most theoretical through a bizarre fan of examples.« (Cixous 1976, 541f.) In der Erklärung des Zusammenhangs zwischen Animismus und dem Unheimlichen ist es nun einmal mehr das bereits Bekannte, Vertraute und Überwundene, das den unheimlichen Effekt auslöst. Und dennoch, wie schon die lexikalische Untersuchung des Wortes deutlich gemacht hat, verschwindet das Unheimliche nicht durch das Insistieren auf das Heimliche, Vertraute, sondern ganz im Gegenteil, es »fällt mit diesem zusammen«. Wie Freud selbst erklärt hat, ist es so immer schon und immer noch anwesend: »Unheimliche: the intensity of a vibration which passes over to (rather than causes) the same turn. What ›made‹ this Unheimliche something else is nothing new or foreign, but simply the repressive process.« (Ebd. 542) Freud setzt sich jedoch mit dieser Verdrängung der eigenen Sterblichkeit – und wer könnte ihm diese vorwerfen – direkt auseinander, er nimmt nicht nur Umwege und Auswege, wie Cixous behauptet. »Der Satz: alle Menschen müssen sterben, paradiert zwar in den Lehrbüchern der Logik als Vorbild einer allgemeinen Behauptung, aber keinem Menschen leuchtet er ein, und unser Unbewußtes hat jetzt so wenig Raum wie vormals für die Vorstellung der Sterblichkeit.« (Freud 1997, 264) Alle Kultur ist ein Ankämpfen und Verleugnen der eigenen Sterblichkeit, jede noch so umfassende Analyse der menschlichen Seele muss auf die Ergründung dieses tiefsten Geheimnisses verzichten – das gesteht Freud an dieser Stelle seiner Abhandlung über das Unheimliche relativ unvermittelt ein (vgl. ebd. 265). Eine »dazzling section« (Cixous 1976, 542) nennt Cixous die nun folgenden Ausführungen Freuds über die zum Scheitern verurteilten Versuche der gesellschaftlichen Instanzen Politik und Religion, den Tod zu regulieren, ihn vollständig in das eigene System zu integrieren und Profit aus dem signifiant ohne signifié zu schlagen. Freud nähert sich an dieser Stelle dem Eingeständnis an, dass der Tod als unheimlichster und dabei doch ständiger Gefährte des Lebens seinem Versuch, die Charakteristik

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des Unheimlichen zu durchleuchten, eine Grenze setzt. Aber so leicht gibt er den Kampf nicht auf, wieder schlägt Freud einen unerwarteten rhetorischen Haken und beschäftigt sich mit allerhand anderen Aspekten seines Themas: Der böse Blick, die Fallsucht, der Wahnsinn – alle unheimlichen und doch noch erfassbaren, zumindest benennbaren Phänomene scheinen ihm recht, um der eigentlichen Thematik, die sich nun mehr und mehr Bahn bricht, zu entgehen. Und doch entgeht das Unheimlichste Freud nicht – entgeht Freud dem Unheimlichsten nicht. Freud schließt seine »Beispielsammlung« mit der Anmerkung ab, dass neurotische Männer oft von einer großen Angst vor dem weiblichen Genital berichten würden. Wie die Erklärung, die Freud hierfür gibt, beweist, sind es wohl nicht nur Neurotiker und nicht nur Männer, die sich mit der Angst, die dahinter steckt, konfrontiert sehen: Dieses Unheimliche ist aber der Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes, zur Örtlichkeit, in der jeder einmal und zuerst geweilt hat. »Liebe ist Heimweh«, behauptet ein Scherzwort, und wenn der Träumer von einer Örtlichkeit oder Landschaft noch im Traume denkt: Das ist mir bekannt, da war ich schon einmal, so darf die Deutung dafür das Genitale oder den Leib der Mutter einsetzen. Das Unheimliche ist also auch in diesem Falle das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe »un« an diesem Wort ist aber die Marke der Verdrängung. (Freud 1997, 267)

Cixous liefert zu dieser Stelle in Freuds Studie, die als Kristallisationspunkt sämtlicher seiner Überlegungen zur Thematik des Unheimlichen gelten kann, eine auch für die vorliegende Arbeit wesentliche Ergänzung: »[…] any analysis of the Unheimliche is in itself an Un, a mark of repression and the dangerous vibration of the Heimliche.« (Cixous 1976, 545) Die Literatur an sich ist ein »Phänomen des Fremden« insofern sie die Sprache, die wir täglich benutzen und gut zu kennen glauben, in der wir uns heimisch fühlen, verfremdet und uns so mit der – unheimlichen – Brüchigkeit des Bodens konfrontiert, auf den wir unsere Überzeugungen gestellt haben. Vielleicht ist das der Grund dafür, weshalb Freud, obwohl er es mehrfach versucht, in seiner Studie einfach nicht von seinen literarischen Beispielen loskommt. Gegen Ende der Abhandlung wird seine Auseinandersetzung mit dem Fiktiven allerdings immer allgemeiner und scheint auf eine Theorie der Dichtung zuzusteuern. Freud zufolge gibt es prinzipiell zwei Formen des Unheimlichen, wobei die eine davon eng mit dem animistischen Weltbild unserer Urahnen zusammenhängt, die von »der Allmacht der Gedanken, der prompten Wunscherfüllung […] [und] der Wiederkehr der Toten« (Freud 1997, 270) überzeugt waren. Diese Ausprägung des animistischen Denkens und die damit verbundenen Formen des Unheimlichen hätten wir, so Freud, überwunden. Wenn gewisse Zufälle sich häufen, könne es zwar passieren, dass sich diese alten Überzeugen wieder regen, jedoch gewänne die Realität rasch wieder die

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Oberhand. Die meisten Menschen aber seien für diese Form des Unheimlichen gar nicht mehr zugänglich: »Wer im Gegenteil diese animistischen Überzeugungen bei sich gründlich und endgültig erledigt hat, für den entfällt das Unheimliche dieser Art.« (Ebd.) Anders hingegen verhielte es sich laut Freud mit jenen Erscheinungsformen des Unheimlichen, die von verdrängten Komplexen, wie etwa dem Kastrationskomplex oder der Mutterleibsphantasie ausgingen. Diese Ängste können nicht so wie die vom Animismus herrührenden Ängste »einfach« durch Konfrontation mit der, wie Freud es nennt, »materiellen Realität« ausgeschaltet werden, da ihre Wurzel ja in der psychischen Realität liege. Ein bestimmter »Eindruck« könne diese alten Ängste wiederbeleben und so die unheimliche Empfindung hervorrufen, vor der nun selbst der »Kulturmensch« nicht ganz gefeit sei. Und schließlich, so Freud, dürfe man sich »durch die Vorliebe für glatte Erledigung und durchsichtige Darstellung nicht vom Bekenntnis abhalten lassen, daß die beiden hier aufgestellten Arten des Unheimlichen im Erleben nicht scharf zu sondern sind.« (Freud 1997, 271) Das ist nun allerdings ein entscheidender Einwurf, der schwerer wiegt, als es im ersten Moment vielleicht ersichtlich ist. Zum ersten Mal gesteht Freud an dieser Stelle explizit ein, wovon ohnehin alle seine bisherigen Versuche, das Unheimliche dingfest zu machen, geprägt sind. Das ist einerseits die Eigenart des Unheimlichen, sich jedweder Beschreibung augenblicklich zu entziehen, indem es die Seiten wechselt, also vom Heimlichen zum Unheimlichen wird. Noch offensichtlicher wird hier allerdings ein anderer charakteristischer Zug des Unheimlichen, nämlich der, sich niemals eindeutig einer Kategorie zuordnen zu lassen. Das Unheimliche ist per se mehrdeutig und in einem »Zwischen« beheimatet, das sich dem definitorischen Zugriff unentwegt entzieht. In Fiction and its Phantoms verweist Cixous immer wieder auf diese Schwierigkeiten, ja die durch die Strategien von Freuds Text eindeutig erwiesene Unmöglichkeit, das Unheimliche abzugrenzen. In Bezug auf das »überwundene« und das »unterdrückte« Unheimliche stellt sie fest: »Their limits intermingle. Is not the distinction that is made itself a product of fiction?« (Cixous 1976, 546) Freud selbst kommt jedenfalls unmittelbar nach der versuchten und dann doch wieder (von ihm selbst) in Frage gestellten Definition zweier Grundmodi des Unheimlichen auf die Fiktion zurück. Und diese neuerliche Wendung bringt nun erst recht wieder alles ins Wanken, denn das Unheimliche der Fiktion werfe Freud zufolge alles eben Gesagte wieder durcheinander und müsse daher einer gesonderten Betrachtung unterzogen werden. Freud attestiert dem Unheimlichen der Fiktion zuallererst eine größere Reichhaltigkeit als dem des Erlebens. Einmal mehr rechtfertigt er hier seine zahlreichen literarischen Beispiele, die er ja eigentlich zu Beginn der Studie noch den »Experten« überlassen wollte. Viel wichtiger allerdings ist, dass die Funktionsweisen des Unheimlichen, des eben beschriebenen »überwundenen« und des »unterdrückten« Unheimlichen, in der Fiktion vertauscht scheinen: »Das

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paradox klingende Ergebnis ist, daß in der Dichtung vieles nicht unheimlich ist, was unheimlich wäre, wenn es sich im Leben ereignete, und daß in der Dichtung viele Möglichkeiten bestehen, unheimliche Wirkungen zu erzielen, die fürs Leben wegfallen.« (Freud 1997, 271f.) Und doch, so macht Freud selbst in seinen abschließenden Ausführungen über die Literatur deutlich, sind Fiktion und Realität auf zahlreiche, vom Autor durchaus lenkbare Art und Weise miteinander verbunden. Cixous vergleicht diese im wahrsten Sinne des Wortes unfassbare, an ein Möbiusband erinnernde Verbindung zwischen Realität und Fiktion mit jener, die zwischen dem Heimlichen und dem Unheimlichen besteht: »[…] a link as undeniable and ambiguous as that which passes from the Unheimliche to the Heimliche: it is not unreal; it is the ›fictional reality‹ and the vibration of reality. The Unheimliche in fiction overflows and comprises the Unheimliche of real life […] just as death overflows into real life.« (Cixous 1976, 546) Wieder tauchen die zahlreichen Doppelgänger Freuds in diesem Text auf, die Dichter, der Tod und die Fiktion. Die Studie Das Unheimliche ist – insoweit schließe ich mich der Meinung Hélène Cixous’ an – nicht nur ein Versuch, das Geheimnis des Unheimlichen zu enthüllen, sondern auch jenes der Fiktion und hier wiederum deren »privileged relationship« (ebd.) zum Unheimlichen. Die Fiktion erweist sich dabei als ein Reservoir des Unheimlichen, in dem dieses nicht nur bestehen bleiben, sondern auch auf blühen, also reichhaltiger werden kann, wie Freud selbst anmerkt. Wenn allerdings nun das »überwundene« Unheimliche in der Dichtung beziehungsweise durch die Dichtung, wieder belebt werden kann, so ist dies nur möglich, weil es eben niemals vollkommen überwunden ist: »The impossible could then represent itself as the possible.« (Ebd. 547) Und wenn dem so ist, dann kann die Literatur tatsächlich Unmögliches möglich machen, dann ist sie ein Reservoir nicht nur des Unheimlichen, sondern des Fremden, auch des radikal Fremden und ist in letzter Konsequenz auch für Cixous mit dem Tod verbunden. Fiktion ist also, wie Freuds Studie es uns nahelegt, ein Hort des (verdichteten) Verdrängten und wie sich herausstellt ist es in seiner Verbindung zum Unheimlichen resistent gegen jegliche Form der Analyse: »Neither real nor fictious, ›fiction‹ is a secretion of death, an anticipation of nonrepresentation, a doll, a hybrid body composed of language and silence that, in the movement which turns it and which it turns, invents doubles, and death.« (Ebd. 548) Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Hélène Cixous in ihrer Auseinandersetzung mit Freuds Unheimlichem auch zu einer Doppelgängerin geworden ist, wenn auch mit vollem Bewusstsein. Ihre Relativierung des Freud’schen Standpunktes war und ist, wie man gesehen hat, weder fehlerfrei noch durchwegs gerecht und doch ist sie höchst notwendig, um der Thematik des Unheimlichen wieder neuen Raum zu verschaffen. Dort, wo einmal das Unheimliche in der Literatur und den Bildenden Künsten war, ist heute im sekundären Diskurs allzu oft nur noch Freud zu finden, dessen Standpunkt zum Absolutum erho-

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ben und dessen nur allzu offensichtliche Unzulänglichkeiten in der Darstellung eines »Charakters« des Unheimlichen einfach ausgeblendet wurden und werden. Hélène Cixous hat einen wichtigen Beitrag zur Befreiung des Unheimlichen aus dieser theoretischen Geiselhaft geleistet, auch wenn ihre Relektüre der Freud’schen Studie leider weit weniger Beachtung gefunden hat als diese selbst. Fiction and its Phantoms weist auch auf die notwendigen Selbstbeschränkungen einer jeden theoretischen Auseinandersetzung mit dem Unheimlichen hin und es ist eben jene Grenze, die das Denken Martin Heideggers bestimmt hat, mit dessen Ausführungen über das Unheimliche ich mich im folgenden Kapitel auseinandersetze.

4.2 D ie A ngst vor dem N ichts – M artin H eidegger Eine der wenigen, allerdings im literaturwissenschaftlichen Bereich wenig beachteten theoretischen Alternativen zu Freuds Studie über das Unheimliche findet sich in Martin Heideggers Sein und Zeit. Dort wird in § 40 »Die Grundbefindlichkeit der Angst11 als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins« (Heidegger 2006, 184) bezeichnet, womit der Thematik der Angst beziehungsweise des Unheimlichen bereits eine andere Bedeutung zugeschrieben wird als bei Freud; zudem ist auch die Haltung dem Unheimlichen gegenüber eine vollkommen andere. Heidegger sieht in der Angst ein »ursprüngliches Phänomen«, das, wie alle Phänomene dieser Art, einzig dazu in der Lage sei, das Sein des Daseins zu erschließen. Das Gegenteil des der Angst verfallenen Seins ist das Verfallen des Daseins an das Man, das Heidegger als die »Seinsart der Alltäglichkeit« (ebd. 127) definiert. Das Man macht es dem Einzelnen leichter, ja es macht es ihm sogar erst möglich, sein tägliches Leben zu vollziehen, insofern es diesem einen bestimmten Rahmen gibt, in dem nicht jede einzelne Handlung erst neu bestimmt, entschieden und beurteilt werden muss. Der Einzelne geht seinen täglichen Beschäftigungen nach, wie »man« ihnen eben nachgeht, und diese Simplifizierung ist einerseits notwendig, andererseits setzt sie unweigerlich auch einen Mechanismus der Abstumpfung in Gang, der den Einzelnen seiner Verantwortung entbindet und ihn seiner Authentizität beraubt: »Diese Durchschnittlichkeit in der Vorzeichnung dessen, was gewagt werden kann und darf, wacht über jede sich vordrängende Ausnahme. Jeder Vorrang wird geräuschlos niedergehalten. Alles Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet.« (Ebd.) Die »Angst« als Gegenteil des Ver11 | In Anlehnung an Sören Kierkegaard unterscheidet Heidegger zwischen »Angst« und »Furcht«. Die »Angst« ist ein unbestimmtes Phänomen, sie ist »etwas, das Nichts ist« (Kierkegaard 1992, 51). Die »Furcht« hingegen ist auf ein bestimmtes Objekt oder Phänomen in der Welt gerichtet.

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fallenseins an das Man ist also keineswegs in einem alltagssprachlichen Sinn zu verstehen, sondern wird als von der materiellen Welt und ihren Zusammenhängen und Erscheinungen unabhängiges Phänomen verstanden: »Nichts von dem, was innerhalb der Welt zuhanden und vorhanden ist, fungiert als das, wovor die Angst sich ängstet. […] Die Welt hat den Charakter völliger Unbedeutsamkeit.« (Ebd. 186) Die Bedrohung ist folglich nirgends, es ist auf keine erdenkliche Art und in keiner Weise möglich, dem Wovor dieser Angst habhaft zu werden, denn, so Heidegger […] das Wovor der Angst ist die Welt als solche. Die völlige Unbedeutsamkeit, die sich im Nichts und Nirgends bekundet, bedeutet nicht Weltabwesenheit, sondern besagt, daß das innerweltlich Seiende an ihm selbst so völlig belanglos ist, daß auf dem Grunde dieser Unbedeutsamkeit des Innerweltlichen die Welt in ihrer Weltlichkeit sich einzig noch aufdrängt […] wovor die Angst sich ängstet, ist das In-der-Welt-sein selbst. (Ebd. 187)

Was hier einigermaßen bedrohlich und wenig wünschenswert anmutet, erfährt bei Heidegger eben durch jene (zumindest zeitweilige) Ausschaltung des Herrschaftsbereichs des »Man« eine Wendung ins Positive: »Die Angst dagegen holt das Dasein aus seinem verfallenden Aufgehen in der ›Welt‹ zurück. Die alltägliche Vertrautheit bricht in sich zusammen. Das Dasein ist vereinzelt, das jedoch als In-der-Welt-sein. Das In-Sein kommt in den existenzialen ›Modus‹ des Un-zuhause. Nichts anderes meint die Rede von der ›Unheimlichkeit‹.« (Ebd. 189) Auch bei Heidegger gelangen wir also an jenen Punkt, an dem das Unheimliche zum Un-heimlichen, zum Nicht-Vertrauten und damit zum Fremden wird; allerdings vollzieht sich das Unheimlich-Werden hier auf noch existenziellere Weise als etwa bei Bhabha oder Vidler. Das »Man«, so Heidegger, ist der alltägliche Fluchtpunkt des Menschen vor dem existenzialen Modus des Un-Zuhause, dort kann man, wie Robert Musil es im Mann ohne Eigenschaften ausdrückt, in scheinbarer Vertrautheit umherwandeln »in der feinen Unterwäsche […] [seines] Bewusstseins« (Musil 2004, 10). Doch diese vermeintliche Sicherheit ist ständig bedroht, die geschwätzige Durchschnittlichkeit des »Man« kann die Angst zwar überdecken, aber niemals ganz ausschalten. Die Angst ist einerseits eine grausame Macht, denn sie bedeutet eine direkte Konfrontation mit der grenzenlosen Nichtigkeit der Welt, auch das »Mitsein der Anderen« wird in ihr unbedeutend und sie führt somit zur Vereinzelung, zu einer maßlos einsamen Konfrontation mit dem Nichts. Dieser unverstellte Blick in den Abgrund ist jedoch an sich nicht nichtig, er bringt die sich Ängstende vielmehr zu ihrem authentischen Sein, ihren Möglichkeiten und zur Freiheit der Wahlmöglichkeit: »Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens. Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für … (propensio

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in …) die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ist.« (Heidegger 2006, 188) Das Unheimliche als Chance? Nein, keinesfalls. Heideggers Philosophie bietet keinen Trost, die Nichtigkeit der Welt und des Daseins bleibt grenzenlos, aus der Angst und dem Unheimlichen gibt es kein Entrinnen, sie bilden den Un-Grund, auf dem wir alle stehen. Wohl aber gibt es bei Heidegger mehrere Arten, mit diesen Tatsachen umzugehen, wobei er jene zwei Modi des Umgangs mit dem Nichts als »Eigentlichkeit« und »Uneigentlichkeit« bezeichnet. Das uneigentliche Sein überlässt sich der Zerstreuung durch das Man und leistet willig Dienst unter dessen Vorherrschaft, das eigentliche Sein hingegen stellt sich dem Tod, der Leere, dem Nichts und gewinnt so eine zumindest dem uneigentlichen Sein gegenüber relative Freiheit und Würde. Heideggers Auseinandersetzung mit der Angst und dem Unheimlichen begegnet auch in literarischer Gestalt immer wieder, etwa wenn Thomas Glavinics Protagonist Jonas in Die Arbeit der Nacht in einer Welt erwacht, aus der nicht nur alle Anderen, sondern auch jeglicher sekundäre Diskurs und damit das »Man« verschwunden sind.

4.3 P ostmoderne W ege des/zum U nheimlichen Die umfangreichste theoretische Auseinandersetzung mit dem Unheimlichen in den letzten Jahren wurde von Nicholas Royle unternommen, der in seiner Studie The Uncanny – selbstverständlich – auch auf Freud Bezug nimmt, allerdings unter Miteinbeziehung kritischer Stimmen, wie etwa jener Hélène Cixous’. Nichtsdestotrotz bauen die Ausführungen Royles auf der grundlegenden Erkenntnis auf, die Freud durch seine etymologischen Untersuchungen des Wortes »unheimlich« gewonnen hat.12 Royle bezieht sich in der Entwicklung seiner eigenen Theorie vor allem auf die von Freud zitierte Definition, der zufolge das Wort »heimlich« »seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich« (Freud 1997, 250). Royle betrachtet diese Einsicht als grundlegend und nimmt sie als Ausgangspunkt seiner eigenen Analysen, die allerdings nicht das Ziel verfolgen, dem Unheimlichen »auf die Schliche zu kommen«, sondern die eine Grundlage 12 | Eine fundierte Kritik an der – teils unvollständigen – Etymologie, die sich in Freuds Aufsatz findet, und einige aufschlussreiche Hinweise zu der damit einhergehenden Problematik der Übersetzung und Rezeption dieser Studie im anglophonen Raum findet sich in Falkenberg 2005. Falkenberg unternimmt ebenfalls eine genaue Untersuchung der manipulativen und auf die »Bedürfnisse« seiner Theorie über die Kastrationsangst genau zugeschnittene Sandmann-Lektüre bei Freud (siehe dazu ebd. 70ff.).

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für einen fundamentalen Wandel im Denken schaffen möchte. Royle meint damit ein Denken, das alle Bereiche unseres Lebens umfasst, vom Privaten über das Politische bis hin zum (Natur-)Wissenschaftlichen. In der Einleitung seines Buches beschreibt der Autor seine Absichten so: »As I hope to suggest in the pages that follow, the uncanny can perhaps provide ways of beginning to think in less dogmatic terms about the nature of the world, ourselves and a politics of the future.« (Royle 2003, 3) Wie dringlich und grundlegend ein solch »anderes«, wie Royle es nennt, »undogmatischeres« Denken ist, geht aus seinen weiteren Ausführungen hervor, die sich unter anderem ausführlich mit der Bedeutung des Unheimlichen als notwendige (ethische) Instanz des Lehrens und Lernens befassen. Nicholas Royles Ausführungen sind postmodern in dem Sinne, dass sie sich nicht mehr zu einer kohärenten und homogenen Theorie des Unheimlichen zusammenfügen. Seine Überlegungen sind bruchstückhaft und einzelnen Themenbereichen zugeordnet, die klassischerweise mit dem Unheimlichen verbunden werden. So geht es etwa um die Stille, die Dunkelheit, den Doppelgänger oder das Lebendig-begraben-Werden, um Themen also, die auch in Freuds Studie eine zentrale Rolle spielen. Royle geht allerdings ganz anders mit seinen Fragestellungen um, er nähert sich ihnen meist in essayistischer Weise, folglich findet bereits das Schreiben über das Unheimliche in einem Zwischenraum statt und bewegt sich unablässig zwischen Wissenschaftlichkeit und Literatur hin und her. Vielfach schreibt Royle auch an literarischen Texten »entlang«, ohne diesen jedoch ihr »Geheimnis« entreißen zu wollen. Royles Reisen durch verschiedene Fahrwasser des Unheimlichen gründen stets in der Einsicht, dass jene Phänomene, die wir als unheimlich bezeichnen, nicht für sich stehen, sondern mit existenziellen Themen verbunden sind und aus diesen (eben nicht eindeutigen) Kategorien unserer Weltordnung ihre unheimliche Wirkung beziehen: »This applies not only in relation to issues of sexuality, class, race, age, imperialism and colonialism – so many issues of potentially uncanny ›otherness‹ […] but also, for example, in relation to notions of automation, technology and programming.« (Royle 2003, 23) Royles Ausführungen über das Unheimliche gründen also in einer gewissen Überzeugung, die die Natur des Unheimlichen betreffen. Sie lassen sich aber nicht »zusammenfassen«, wie etwa Freuds Studie, weil sie weder einen abgrenzbaren Untersuchungsgegenstand haben noch teleologisch auf ein Ergebnis hin ausgerichtet sind. Die Betonung der fundamentalen Unsicherheiten, die unsere Welt bestimmen, wie etwa die Zweifel an der Sprache als Instrument der Welterschließung im Sinne Derridas, weist Royle als Vertreter eines typisch postmodernen Diskurses aus. Es verwundert somit wenig, dass er zu ähnlichen Ansichten über das omnipräsente Unheimliche gelangt wie zahlreiche andere Wissenschaftlerinnen, die sich etwa mit den unheimlichen Auswirkungen des postkolonialen Zeitalters beschäftigt haben. Zu nennen wäre hier etwa Homi K. Bhabha,

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der ebenfalls von einer zunehmenden »Unheimlichkeit« als »unhomeliness« spricht. Bhahba verwendet diesen Begriff in einem ambivalenten Sinn,13 während beispielsweise Anthony Vidler, Autor von The Architectural Uncanny: Essays in the Modern Unhomely, die negativen Ausprägungen dieser Erscheinungsform des Unheimlichen beschreibt: »Estrangement and unhomeliness have emerged as the intellectual watchwords of [the twentieth] century, given periodic material and political force by the resurgence of homelessness itself.« (Vidler 1992, 9) Ebenso wie die Schriften Royles und Vidlers, plädieren auch jene von Homi K. Bhabha für ein Verständnis des Unheimlichen als einen Grundzustand der postmodernen Gesellschaft. Die Omnipräsenz des Unheimlichen sei auf mehrere Faktoren zurückzuführen, vor allem aber auf die bewusste und explizite Infragestellung kultureller Differenzen ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So geht beispielsweise Bhabhas Mimikry-Konzept davon aus, dass die eigentliche Krux des kolonialen Diskurses seine Unfähigkeit sei, Differenz anzuerkennen, wodurch dem Kolonialherrn kein anderer Weg offensteht als die dauernde Abwehr jenes Anderen (und den diesen betreffenden Zuschreibungen), den er doch als ähnlich anzuerkennen gezwungen ist: »Denn das Szenario des Fetischismus ist auch das Szenario der Reaktivierung und Wiederholung der Primärphantasie – des Verlangens des Subjekts nach einem reinen Ursprung, welcher indes immer durch seine Aufspaltung bedroht ist, da es unumgänglich ist, daß das Subjekt ein Geschlecht besitzt (be gendered), damit es gezeugt werden kann (be engendered), damit es als solches (an)gesprochen werden kann.« (Bhabha 2000, 111) In diesem Abgrund, der zwischen einem Verlangen nach ursprünglicher Einheit, also Identität, und dem fetischisierten Unterschied, der – nicht nur, aber vor allem im kolonialen Diskurs – durch Rasse, Kultur und Hautfarbe behauptet werden muss, öffnet sich dem Unheimlichen ein breiter Raum. Übrigens sind Kolonialisierter und Kolonialherr von diesem in gleicher Weise betroffen, steht doch der Weg zur Anerkennung der Differenz beiden nicht offen. Die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Abhängigen und Machthabern sind dabei ebenso prädestiniert dafür, Unheimliches zu generieren, wie die fehlende Aufarbeitung dieses (zumindest was die 13 | Doch nicht erst bei Homi K. Bhabha, bereits bei Goethe findet sich eine Anmerkung, die nicht nur den Begriff der Weltliteratur prägt, sondern auch die Durchmischung von Eigenem und Fremdem als menschliche Grunderfahrung erkennt, noch lange bevor von einer »globalisierten Gesellschaft« die Rede sein konnte: »Es ist schon einige Zeit von einer allgemeinen Weltliteratur die Rede und zwar nicht mit Unrecht: denn die sämtlichen Nationen, in den fürchterlichsten Kriegen durcheinander geschüttelt, sodann wieder auf sich selbst einzeln zurückgeworfen, hatten zu bemerken, dass sie manches Fremdes gewahr worden, in sich aufgenommen, bisher unbekannte geistige Bedürfnisse hie und da empfunden.« (Goethe 1949, 934)

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Apartheid betrifft) mittlerweile historischen Gefüges. Nadine Gordimer oder Toni Morrison hauchen dem, was Bhabha theoretisch ausführt, in ihren Texten fiktives Leben ein, etwa wenn die Vergangenheit in Morrisons Beloved in Gestalt eines Kindes wiederkehrt, dessen Geschichte die klare Grenze zwischen Täter und Opfer verschwimmen und schließlich verschwinden lässt. Oder wenn in Nadine Gordimers Roman The House Gun die Frage von Schuld und Sühne gerade am Schicksal einer liberalen, am System der Apartheid nicht aktiv beteiligten Familie neu gestellt werden muss. Diese Erzählungen haben, so unterschiedlich sie in ihrer konkreten Ausprägung auch sein mögen, eine Gemeinsamkeit. Sie zeigen das Individuum als ein von (Macht-)Strukturen und den Spuren und Geistern der nicht aufgearbeiteten Vergangenheit geprägtes Wesen, das keineswegs souverän über sich und seine Beziehung zu Anderen entscheiden kann. Bhabha selbst zieht zur Illustration seiner Thesen immer wieder literarische Beispiele heran, ein besonderer Stellenwert kommt in seiner Arbeit den Texten Frantz Fanons zu. So schreibt Bhabha etwa über sein Konzept der Mimikry: »Was ich damit sagen will, ist glänzend in Fanons Titel Schwarze Haut, weiße Masken eingefangen, wo die Verleugnung der Differenz das koloniale Subjekt in eine Art Monstrum verwandelt – eine groteske Mimikry oder ›Doppelung‹, die Seele und Ganzheit (soul and whole) der undifferenzierten Haut des Ich aufzuspalten droht.« (Ebd.) Die Angst vor dem personifizierten Fremden, der ab der Moderne zunehmend eine zumindest als homogen imaginierte Gesellschaft heimsucht, ist dabei, wie etwa John Berger anmerkt, schon vor langer Zeit zu einem literarischen Topos geworden (vgl. Berger 2013). Bereits in Charles Baudelaires Les Fleurs du Mal ist von einer »Fourmillante cité, cité plein de rêves/où le spectre, en plein jour, raccroche le passant«14 die Rede und es entsteht ein einprägsames Bild der unheimlichen Präsenz von »Fremden« und dem Fremden in den großen europäischen Städten. Die Zunahme an »Unheimlichkeit« im eben beschriebenen Sinne der »unhomeliness« ist ebenso kennzeichnend für unsere Zeit wie ein Schwinden der »Heimlichkeit« im Bereich der Bioethik, auf die vor allem Royle immer wieder zu sprechen kommt: Last month scientists announced the decoding of the first of 23 human chromosomes. It is, as yet, only a rough sketch, but they will be reading the entire genome soon enough, decoding every human characteristic, working out the genes or combinations of genes 14 | Diese Verszeilen entstammen dem Gedicht Les Sept Vieillards/Die Sieben Greise aus Charles Baudelaires Sammlung Les Fleurs du Mal/Die Blumen des Bösen, die 1857 zum ersten Mal erschienen ist (wenn auch noch nicht in vollem Umfang). Das Gedicht Die Sieben Greise ist Victor Hugo gewidmet und beginnt in der deutschen Übersetzung mit den Zeilen: »Du Stadt Gewimmels voll! Du Stadt erfüllt von Träumen,/Wo hell am Tage das Gespenst den Gänger greift!« (Baudelaire 1976, 133)

Das Fremde als Unheimliches which are responsible for musicality, schizophrenia, left-handedness, height, athletic prowess and aggression. It feels uncannily as though human beings are finally getting to the roots of the tree of knowledge. (Guardian, no. 47696, 1 January 2000), […] The world is uncanny. Within the Guardian’s tacitly Biblical metaphor of ›finally getting to the roots of the tree of knowledge‹ is a strong evocation of the uncanny as what should have remained hidden but has come to light: we are taking ourselves, and our world, to pieces; and this is happening in ways and at speeds that are beyond our control. (Royle 2003, 3)

Diese beiden gesellschaftspolitischen Dimensionen des Fremd- beziehungsweise Unheimlichseins wirken selbstverständlich bis in individuelle Identitätsfragen hinein, wie etwa ein Blick auf die Filmindustrie deutlich macht, die in den letzten Jahrzehnten einen Blockbuster nach dem anderen auf den Markt gebracht hat, der sich – zwischen Angst und Faszination schwankend – mit den allmächtig-unheimlichen Zügen des künstlichen Menschen und der Suche nach einem »Zuhause« in einer derart transparent gewordenen und gerade deshalb entfremdeten Welt auseinandersetzt.15

15 | Man denke hier etwa an Andrew Niccols Gattaca oder den Film Alles, was wir geben mussten von Mark Romanek, der auf der gleichnamigen literarischen Vorlage von Kazuo Ishiguro basiert. Filme wie Terminator oder Artificial Intelligence: AI, die sich mit dem Thema Robotik beschäftigen, sind mit bioethischen Fragestellungen und den Konsequenzen der Grenzüberschreitung zwischen Mensch und Maschine »unterfüttert«. Dasselbe gilt für zahlreiche Erfolgsserien der letzten Jahre, man denke etwa an Heroes. Als wenig anspruchsvoll, aber äußerst publikumswirksam hat sich auch Dan Browns neuester Bestseller Inferno erwiesen, der gerade verfilmt wird und im Dezember 2015 in die Kinos kommen soll. Hier geht es um eine Verschwörung, deren Ziel die Ausstattung der Menschheit mit einem Gendefekt ist, der für eine Dezimierung der Bevölkerung sorgen soll. Der Protagonist des Romans ist Universitätsprofessor und arbeitet auf dem Gebiet des »Transhumanismus«, einer auch in der Realität existierenden Wissenschaft, die sich der »Verbesserung« des menschlichen Wesens durch technische und medizinische Eingriffe verschrieben hat. Als kommerziell wenig erfolgreich erwies sich die Verfilmung von Michel Houellebecqs Science-Fiction-Roman La possibilité d’une île, die sich allerdings weit von der literarischen Vorlage entfernt. Der Film beschäftigt sich jedoch ebenso wie der Roman mit den möglichen Konsequenzen des Klonens menschlicher Lebewesen. Obwohl zumindest der Roman auch einige ethische Fragestellungen aufwirft, ist er letztlich – wie die meisten von Houellebecqs Romanen – eine Auseinandersetzung mit der zunehmenden menschlichen Unfähigkeit zu lieben. Die Klone des einsamen »Originals« Daniel1 riskieren für die ihnen nur noch aus Erzählungen ihrer Vorgänger bekannte emotionale und sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit ihr »unendliches«, also immer wieder reproduzierbares Leben.

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4.4 »W e are all haunted houses « 16 – das U nheimliche als B astion der F remdheit des Ä sthe tischen . E ine responsive L ek türe von J utta H einrichs U nheimliche R eise Wie bereits im vorigen Kapitel offensichtlich wurde, bietet sich das Unheimliche in vielen Facetten als inhaltliche Kategorie der romanesken oder lyrischen Auseinandersetzung an und tatsächlich scheint die zeitgenössische Literatur von zahlreichen unheimlichen Themen, Gestalten und Gestaltungsformen bevölkert zu werden. Dieses Phänomen beschränkt sich auch nicht auf die Hochliteratur, wie etwa die Beliebtheit von Vampirbüchern und -serien oder der Erfolg von Büchern, die die technische Reproduzierbarkeit des Menschen thematisieren, belegen (vgl. Moser 2015). Auffallend ist auch, dass gerade in Texten, die das Unheimliche zu ihrem Gestaltungsprinzip erheben, häufig auch Fragen der Autorschaft und des Schreibens verhandelt werden. Das ist einerseits selbstverständlich, denn was könnte unheimlicher sein als ein toter Autor? Die Unheimlichkeit des Schreibens bleibt aber nicht an dieser Schwelle der den Text produzierenden, regierenden Kraft, die ihre Souveränit verloren hat, stehen, sondern bezieht das Wesen der Literatur und den Rezipienten mit ein. Daraus entwickelt sich im Falle von Jutta Heinrichs Unheimliche Reise eine grundlegende und gewollte Zweideutigkeit des Erzählten, das so nicht mehr auf der Inhaltsebene allein lesbar ist. Die Leserin wird folglich gezwungen, ihr an den unheimlichen Ort, jenen Abgrund zu folgen, der (auch) die Literatur selbst ist. Weshalb die Literatur so eine besondere Nähe zum Fremden, insbesondere zu den unheimlichen Aspekten des Fremden aufweist, scheint mir bei Blanchot besonders präzise gefasst zu sein. Obwohl es schwierig ist, diese komplexen Überlegungen zusammenzufassen, möchte ich doch versuchen, zwei wesentliche Bezugspunkte zwischen dem Fremden, dem Unheimlichen und der Literatur kurz zu skizzieren. Blanchot nimmt auf die spezifische Aufgabe der Literatur Bezug, »schöpferisch« zu sein. Schöpferisch im Sinne dessen, was Waldenfels unter dem Begriff der »Kreativität« als die Hervorbringung eines wahrhaftig Neuen fasst und was, wie Blanchot herausarbeitet, gegenläufig zum »Sammeln« und »Bewahren« ist, das unsere Kultur charakterisiert. Insofern hat die Literatur also ein großes Potenzial an »Negativität« und ist schon alleine durch ihre Funktion des sprachlichen Repräsentierens eng mit der Absenz verwoben. Dies entspricht eben nicht dem angesichts literarischer Texte häufig geforderten (didaktischen) Anspruch, etwas mit diesem zu tun, ihn zu deuten und zu verstehen, sondern ist vielmehr mit einem symbolischen Verschwinden(-Lassen) verbunden, wie es etwa in dem Film Under the Skin von Jonathan Glazer visuell in all seiner abgründigen Kraft inszeniert ist. Gera16 | Readings 1996.

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de diese Negativität birgt auch eine besondere Faszination: »Von daher erklärt sich, daß das Interesse, welches wir der Literatur entgegenbringen, heute mehr dem gilt, was sie an kritischer Potenz, sagen wir besser: an geheimnisvoll negativen Kräften hat. Schon Nietzsche, für den das Wort Schöpfer noch seine ganze Anziehungskraft bewahrte, hat gesagt, der wahre Schöpfer habe das Antlitz eines Zerstörers und die Bosheit eines Verbrechers.« (Blanchot 1991, 171) An das Fremde gebunden ist diese Spezifität des Literarischen deshalb, weil es »in der Literatur um eine Aussage geht, die auf keinen vereinheitlichenden Prozeß zurückführbar ist, die sich nicht vereinheitlichen läßt, die selbst nicht vereinheitlicht und nicht zur Einheit provoziert. Deshalb können wir sie nur über den Umweg einer Folge von Negationen erfassen, denn auf einer bestimmten Ebene stellt das Denken seine positiven Bezüge stets in Einheitsbegriffen zusammen.« (Ebd. 177) Die Protagonistin in Jutta Heinrichs Roman verabschiedet sich von der ihr bekannten Welt, als sie ihre Reise antritt, und gleichzeitig bleibt sie »in der Nähe«. Sie muss nicht weit gehen, um dort anzukommen, wo das Vertraute und Alltägliche die Grenze zum Unheimlichen überschreitet und »lebensbedrohlich« wird. Aber es erfordert einen bewussten und willensstarken Schritt. So wie jede Lektüre, die bereit ist, sich tatsächlich auf einen Text einzulassen.

4.4.1 Die göttliche Schöpfung in Menschenhand – Mar y Shelleys Frankenstein or The Modern Prometheus am Ende des 20.Jahrhunderts Der Text Unheimliche Reise stammt von der deutschen Schriftstellerin Jutta Heinrich und hat wenig mediales Interesse erregt. Das ist nicht nur insofern erstaunlich, als Heinrichs Text auf sprachlicher und formaler Ebene neue Möglichkeiten des unheimlichen Erzählens auslotet, sondern auch weil Unheimliche Reise einer der ersten deutschsprachigen Romane abseits des bloßen Unterhaltungs- und Horrorgenres war, die sich mit dem Thema der künstlichen Reproduzierbarkeit des Menschen und dessen Auswirkungen auf die Begriffe Frau/Mutterschaft/Menschlichkeit auseinandergesetzt hat. Unheimliche Reise ist ein Alptraumszenario. Das kündigen bereits die Motti an, das wird aber mit Sicherheit auch für jene Leserinnen schon auf den ersten Seiten ersichtlich, die diese überblättert haben. Eine Ich-Erzählerin, deren Beruf das Schreiben ist, begibt sich auf eine Reise, deren Ziel ihr im Grunde gleichgültig ist; Hauptsache weg an einen schwer erreichbaren Ort. Diese Reise erfüllt die Erwartung der Ich-Erzählerin, die Abstand vom Gewohnten sucht. Bereits die Zugfahrt beschert ihr unheimliche Mitreisende und grauenhafte Assoziationen. Mit ihrer Ankunft gerät die Protagonistin erst recht an einen düsteren Ort, der außer Unfreundlichkeit, Geheimniskrämerei und einer unentrinnbaren Atmosphäre der Bedrohung nicht viel zu bieten hat. Weshalb

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die Ich-Erzählerin trotzdem bleibt, wird nicht explizit erklärt, doch sie beginnt sich für die Hintergründe der Misanthropie, die hier allerorts zu bemerken ist, zu interessieren und stößt dabei tatsächlich auf Ungeheuerliches. Die Wurzel der feindseligen Haltung, der Heinrichs »Alice« in diesem Anti-Wunderland begegnet, sind die Machenschaften eines Ärzteteams, das an diesem abgelegenen Ort versucht, den perfekten künstlichen Menschen zu schaffen. Nur eine kleine Gruppe von Demonstranten, deren Vorgehensweise mindestens ebenso brutal ist, wagt es, den Wissenschaftlern die Stirn zu bieten. Die sogenannten »Tiermenschen« kämpfen für die Rechte der Tiere und gegen alles Künstliche, sie schrecken für die Durchsetzung ihrer Ideale auch vor roher Gewalt nicht zurück. Die Ich-Erzählerin wird mit der dunklen Seite beider Interessengruppen konfrontiert und sie gerät in deren Visier. Schließlich landet sie in einer Art Internierungslager der Ärzteschaft, wo sie unter Drogen gesetzt und gefangen gehalten wird. Nur ihr unbedingter Wille, die Machenschaften aufzudecken und die Aufzeichnung des Geschehenen für eine Freundin, Doralis Krempe, die »im Notfall« ihre Arbeit fortsetzen soll, lassen sie das Martyrium überstehen. Schließlich gelingt ihr sogar die Flucht, das Gesehene und Erlebte verliert damit aber nicht an Bedeutung. Am Ende prophezeit die Protagonistin uns allen eine Zukunft, in der die Dystopien dieses zeit- und ortlosen Szenarios Teil unseres Alltags sein werden, womit die »Umschreibung unserer menschlichen Schöpfungsgeschichte in eine künstliche« (Heinrich 1998, 192) kurz bevor stehen würde. Die Eckpfeiler dieses Romans – die kritische Auseinandersetzung mit den möglichen Konsequenzen des wissenschaftlichen Fortschritts und die Konfrontation eines individuellen Schicksals mit den Machtansprüchen einer ethisch skrupellosen Elite – erinnern an Mary Shelleys Frankenstein or The Modern Prometheus.17 Shelley schuf mit der Geschichte eines künstlich erzeugten Monsters ein narratives Paradigma für die vernichtenden Auswirkungen des absoluten Primats wissenschaftlicher Fortschrittsgläubigkeit. Als Shelley zu Beginn des 19. Jahrhunderts während eines Aufenthalts in Lord Byrons Villa Diotati ihren Roman Frankenstein zu schreiben begann, ahnte sie wohl, dass das von ihr gewählte Thema die Zeit überdauern würde. Mary Wollstonecraft Shelley war als Tochter einer der ersten Feministinnen und eines gebildeten Mannes über den Stand der zeitgenössischen Forschung informiert. Ihr Freundeskreis war, wie sie selbst, an sämtlichen Bereichen der Wissenschaft interessiert. Wie aus ihren Tagebüchern hervorgeht, hatte sie William Smellies The Philosophy of Natural History gelesen. Den Studien Anne Mellors zufolge können wir vermuten, dass sie auch die Vorlesung A Discourse, Introductory to a Course of Lectures on Chemistry des Sir Humphrey Davy aus dem Jahr 1802

17 | In weiterer Folge werde ich diesen Roman als Frankenstein zitieren.

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kannte (vgl. Mellor 1988, 91).18 Davys Beschreibungen der naturwissenschaftlichen Errungenschaften seiner Zeit haben Mary Shelley unter Umständen sogar dazu angeregt, jene Geschichte eines Mannes zu erfinden, der zum Schöpfer eines mutterlosen Wesens wird und damit nicht nur sein eigenes Schicksal, sondern auch das aller ihm nahestehenden Personen besiegelt. Mary Shelley übernahm jedoch nicht die euphorisch-positivistische Sichtweise Davys, sondern begann die, wenn auch noch als Utopie formulierten Gedanken, auf die sie hier gestoßen war, weiterzudenken. Sie folgte dieser bis in die Abgründe des technischen Fortschritts hinein, wo sie schließlich das erbarmungswürdige Monster fand, das ihr zu literarischem Ruhm verhelfen sollte. Frankenstein ist, nicht zuletzt durch einige mehr oder wenige erfolgreiche Verfilmungen und die US-amerikanische Serie The Munsters, einer der meist rezipierten und adaptierten Schauerromane überhaupt. Shelleys Roman hat auch in der deutschen Literatur Spuren hinterlassen – besonders bemerkenswert ist der intertextuelle Zusammenhang mit Heinrichs Roman aus dem Jahr 1998, der trotz hoher literarischer Qualität und trotz seiner gesellschaftspolitischen Relevanz von der Kritik weitgehend ignoriert wurde. Jutta Heinrichs Unheimliche Reise ist allerdings weit mehr als eine Neubearbeitung des Frankenstein-Stoffs, auch wenn der gesamte Text von Anspielungen auf Figuren und Zitaten aus Shelleys Roman durchzogen ist. Heinrich stellt ihrem Roman unter anderem ein Zitat aus Frankenstein voran, das im Laufe der Erzählung leitmotivisch immer wieder auftaucht: »Das Schicksal war übermächtig, und in seinen unumstößlichen Gesetzen lag meine vollständige und furchtbare Vernichtung beschlossen.« Nicht nur hier, sondern vor allem gegen Ende, wo die Reproduktionsmedizin als das prototypische Milieu des postmodernen Unheimlichen offenbart wird, verdichten sich die Anspielungen auf Mary Shelleys Frankenstein. Zu Beginn der Unheimlichen Reise scheint der Bezugstext allerdings noch nicht sehr präsent zu sein. Wir lernen die Ich-Erzählerin kennen, eine Schriftstellerin, die ankündigt, sie werde eine im wahrsten Sinne des Wortes unglaubliche Geschichte erzählen. Sie habe diese selbst erlebt, als sie eines Tages beschloss, nicht nur zu ihrem beruflichen, sondern auch zu ihrem gesellschaftlichen alltäglichen Sein eine Weile Abstand zu suchen. Zu diesem Zweck hätte sie sich auf eine »unheimliche Reise« begeben, die allerdings nicht sehr weit von ihrem Zuhause weg führen sollte.

18 | Der Einfluss der Erfindung der Elektrizität auf Mary Shelleys Roman ist natürlich ebenfalls nicht zu unterschätzen. Im Gefolge von Luigi Galvani führten zahlreiche Wissenschaftler Experimente an toten Tier- und Menschenkörpern durch, wobei vor allem Laien die Muskelzuckungen, die der Strom in den Leichnamen hervorrief, oft mit einer kurzzeitigen »Wiederbelebung« verwechselten (vgl. Engar 2000, 141).

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Auf den ersten Blick erinnert an dieser Grundstruktur der Geschichte nichts an Shelleys Frankenstein, doch bei genauerem Hinsehen lässt sich bereits hier eine Parallele erkennen: Betrachtet man Mary Shelleys Vorrede aus dem Jahr 1817, so fällt auf, dass die Glaubwürdigkeit jener Begebenheiten, auf die der Roman Bezug nimmt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, noch bevor die Geschichte überhaupt erzählt wird. Shelley beruft sich auf anerkannte wissenschaftliche Instanzen (»Dr. Darwin«), die dem Geschilderten jederzeit attestieren würden, dass es nicht im eigentlichen Sinne unmöglich sei (vgl. Shelley 2008, 3). Dennoch verwahrt sich die Autorin entschieden dagegen, den ernstlichen Glauben an solche Ausgeburten menschlicher Fantasie zu hegen: »I shall not be supposed as according the remotest degree of serious faith to such an imagination.« (Ebd. 3) Ebendiese Frage der Glaubwürdigkeit taucht bereits im ersten Satz der Unheimlichen Reise auf, wobei die Ich-Erzählerin bekundet, selbst an die Wahrheit des Erzählten zu glauben, gleichzeitig aber die Hoffnung als verloren sieht, dass ihr jemals geglaubt werde: »Niemand wird mir glauben. Und doch wird es für mich zur lebensnotwendigen Aufgabe, die Geschehnisse zu beschreiben, ehe ich in Gleichgültigkeit versinke.« (Heinrich 1998, 9)19 Während die Last des Erzählten bei Shelley auf drei (männliche) Erzählinstanzen aufgeteilt ist, bleibt das Geschilderte bei Heinrich ganz der Ich-Erzählerin überantwortet, die nicht nur Protagonistin der Geschehnisse, sondern auch deren narrative Vermittlerin ist. Diese unterschiedlichen Erzählsituationen entsprechen der Verfassung der handelnden Figuren: Frankenstein bringt nicht nur auf inhaltlicher Ebene immer wieder die Sehnsucht nach Freundschaft und menschlicher Nähe zum Ausdruck, sondern auch formal: So zeugen die Briefform, in die der Roman eingebettet ist, und der direkte Bericht Viktors an Walton von dem Wunsch nach menschlicher Nähe und Kontakt zu einer Gesellschaft, aus der die beiden Männer und das Monster ausgeschlossen sind.20 Die Unheimliche Reise hingegen ist von Anfang an eine Geschichte 19 | Die Glaubwürdigkeit der Erzählinstanz spielt in allen unheimlichen Erzählungen eine entscheidende Rolle. Die implizite oder explizite Reflexion über die Verlässlichkeit oder Wahrhaftigkeit der Erzählstimme wirft dabei immer auch die Frage nach der Grenze beziehungsweise der Möglichkeit einer Grenzziehung zwischen Fiktion und Wirklichkeit auf. 20 | Durch das intensive Bemühen, die Gefahren des die eigene Macht überschätzenden Forschergeistes möglichst drastisch darzustellen, mutet die Beschreibung der Durchschnittsgesellschaft bei Mary Shelley zuweilen idyllisierend und geradezu konservativ an, etwa wenn sie Frankenstein zu Walton sagen lässt: »Learn from me, if not by my precepts, at least by my example, how dangerous is the acquirement of knowledge, and how much happier that man is who believes his native town to be the world, than he who aspires to become greater than his nature will allow.« (Shelley 2008, 35)

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der Abgrenzung. Die Ich-Erzählerin gibt an, »seit geraumer Zeit […] eine unerklärliche Sinnesstumpfheit« (ebd. 7) in sich zu fühlen, was umso schlimmer für sie sei, als sie Schriftstellerin und somit von der Empfindsamkeit ihrer Sinne abhängig ist. Sie entscheidet sich nicht wie die männlichen Protagonisten in Frankenstein, weit von zuhause fortzugehen, sondern wählt ganz bewusst einen »Aufenthalt im eigenen Land« (ebd.). Sie möchte sich nicht allzu weit entfernen, denn auf eine ihr selbst sehr rätselhafte Art scheint das seltsame Unbehagen seine Wurzel im Innersten der Ich-Erzählerin zu haben: »[es ist,] als lebte sich eine dunkle Bodenlosigkeit, Nichtliebe, ein Verrat in meinem Körper hoch« (ebd.). Die Gesellschaft oder einzelne Personen sind in Heinrichs Text nicht wirklich von Bedeutung, ihr soziales Umfeld bietet zuerst nur den Rahmen jenes Bildes, das sich die Erzählerin von ihrem entfremdeten Inneren machen möchte. Folglich hat die Begegnung mit den monströsen Auswüchsen des Fortschritts in beiden Romanen grundlegend andere narrative Voraussetzungen, die auch die jeweiligen Gegebenheiten der außerliterarischen Wirklichkeit widerspiegeln. Mary Shelley las in dem Zeitraum, in dem auch ihr Roman Frankenstein entstand, gerade John Lockes Essay Concerning Human Understanding (Feldman 1987, 146). Auf diese Weise und durch die Überzeugungen ihres Umfelds war sie immer wieder mit den Ideen der Aufklärung konfrontiert, deren Schattenseiten sie allerdings schon damals erahnte. Diese Ahnung entsprach auch den Ängsten eines romantischen Diskurses, in dem die Aufklärung und ihre Helden – darunter auch der bereits im Titel genannte Prometheus – äußerst kritisch betrachtet wurden. Shelleys Protagonist Viktor Frankenstein ist ein Kind der Aufklärung. Er hat in seinem Leben ausreichend Bildung genossen, ist stets darum bemüht, seine Kenntnisse zu erweitern, und überzeugt von der Überlegenheit des menschlichen Verstandes über Aberglaube und Religion. Der Glaube an die Wirkmächtigkeit des eigenen Intellekts geht bei ihm sogar so weit, dass er die Rolle des Schöpfers21 einzunehmen versucht, wobei er damit nicht nur Gott, sondern auch die Frau als Trägerin des Lebens tötet – und das nicht nur im übertragenen Sinn: Schließlich ermordet das Monster seine junge Ehefrau in der Hochzeitsnacht. Frankensteins Hybris zerstört jegliche Form von menschlicher Nähe, die er sich dennoch sehnlich wünscht. In dieser Hinsicht entspricht sein Schicksal dem seines ebenfalls 21 | Der Begriff des Schöpfers oszilliert bei Shelley zwischen vielen verschiedenen Bedeutungen. Es ist keineswegs nur der Schöpfer des kreatürlichen Lebens gemeint, Frankensteins Monster wird von diesem auch vielfach als »Werk« wahrgenommen, was auch an die Schöpfer der romantischen Literatur und Kunst denken lässt, von deren autoritärem Hochmut Shelley Zeit ihres Lebens umgeben war. Viktor Frankenstein wird sowohl als Schöpfer im Sinne eines »missratenen« Gottes als auch als Urheber seines eigenen Schicksals dargestellt.

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vom Forschergeist beseelten Beichtvaters Walton.22 Die Idee der Gemeinschaft, die durch narzisstische männliche Allmachtsphantasien zerstört wird, ist der zumindest in der Negation vorhandene positive Kern von Shelleys Roman. Ein solches Zusammenleben fordert die radikalen Verstandeskräfte der Aufklärung zur Selbsteinschränkung auf: Der Frau und der in ihr symbolisch verkörperten Geburt sollte man ihr Geheimnis lassen. Was passiert, wenn diese markante Grenze der Schöpfung überschritten wird, führt Shelley in Frankenstein drastisch vor Augen: Sobald der Mensch zu einem technisch reproduzierbaren Gegenstand wird, ist jede Form menschlichen Zusammenlebens auf eine Art und Weise hierarchisiert, die notwendigerweise einen Überlebenskampf hervorruft. Das Mindeste, das die (Natur-)Wissenschaft tun kann, wenn sie den Verstand nicht über den Menschen stellen und somit Unmenschliches (also Monströses) riskieren will, ist es also ihrem Tun Schranken zu setzen. Diese ethischen Grenzen müssen von außen hinzukommen und können selbstverständlich nicht aus den Maximen des jeweiligen Forschungsgebietes hergeleitet werden. Geschieht dies nicht, wird die Ethik dem Fortschritt geopfert: Wenn Humes These vom »naturalistischen Fehlschluss« gilt, dann kann die Ethik nicht in Beweisen sprechen. Der Einwand Humes gegen den »naturalistischen Fehlschluss« stellt die Bedingung der Möglichkeit der Ethik dar, die zwar gebieten, auffordern und richten kann, aber nur, wenn dasjenige, was man tut, sich nicht logisch aus natürlichen Tatsachen ergibt. (Vattimo 2009, 189)

4.4.2 Jenseits des Humanismus Jutta Heinrich befindet sich mit ihrem Roman bereits jenseits der humanistischen Ideale, als deren Verfechterin Shelley seit der Niederschrift von Frankenstein gilt. Die Welt, in die es Heinrichs Protagonistin nach einer nicht allzu langen Zugfahrt verschlägt, hat jedoch sämtliche Konzepte von Gemeinschaft, die außerhalb des Nutzbarkeitsprinzips liegen, verabschiedet. Die Frau und ihre nicht mehr länger exklusive Fähigkeit, neues Leben hervorzubringen, steht dabei von Anfang an im Zentrum des Erzählens. Das macht bereits jene Szene deutlich, die die Entscheidung der Protagonistin, aus dem Zug auszusteigen und ihre Reise zu beenden, einleitet:

22 | Walton schreibt zu Beginn des Romans vier Briefe an seine Schwester Mrs. Seville in Großbritannien. Bereits hier wird deutlich, dass Walton sich nach jener menschlichen Gesellschaft sehnt, die er für sein Forschungsvorhaben aufgegeben hat: »But I have one want which I have never yet been able to satisfy; and the absence of the object of which I now feel as a most severe evil. I have no friend, Margaret: when I am glowing with the enthusiasm of success, there will be none to participate my joy.« (Shelley 2008, 8)

Das Fremde als Unheimliches Im Abteil saßen mir ein Mann und eine Frau gegenüber. […] Es mochten Stunden vergangen sein, als sie sich von ihm die ebenfalls neue Handtasche herunterreichen ließ, die bis zum Bügel vollgestopft und so ausgebeult war, daß sie danebengriff. […] Ihm entlockte der Vorgang keine Regung. Stocksteif, vielleicht ein wenig weiter von ihr abgerückt, schaute er dem Fall, dem Ausbruch der Unordnung, dem Aufsammeln in solcher Verachtung zu, als hätte sie das Abscheuliche ihres Unterleibs vor ihm ausgebreitet. (Heinrich 1998, 10f.)

Ohne genau zu wissen weshalb, entschließt sich die Protagonistin, dem Paar, das kurz darauf aussteigt, zu folgen. Die Schriftstellerin scheint durch die Anteilnahme an dieser Szene schon ein wenig lebendiger zu sein als noch vor ihrer Abreise und nimmt sich selbstironisch vor,23 irgendwann einmal »etwas Tiefsinniges darüber zu denken« (ebd. 119). Die Ich-Erzählerin betrachtet sich zu diesem Zeitpunkt noch als Subjekt ihres eigenes Tuns, sie wird aber, je länger ihr Aufenthalt in der geheimnisvollen Stadt andauert, immer mehr gewahr, dass nicht sie es ist, die hier denkt, sondern dass sie vielmehr »denken gemacht wird«. Wie alle Figuren, denen die Ich-Erzählerin begegnet, ist sie vom ersten Moment das Objekt geheimnisvoller Vorgänge, die ihre Gedanken und ihr Fühlen auf Bahnen lenken und schließlich zu ihrem entfremdeten Schicksal werden.24 Schon kurz nach ihrem Eintreffen wird deutlich, dass die Protagonistin an diesem ganz undefiniert bleibenden Ort gar nicht erst dazu kommt, sich vorzustellen, sich eine Identität zu geben, vielmehr wird sie feindselig und trotz aller Einwände mit einer solchen ausgestattet: »›Reporter, oder? Klar, was anderes kommt ja hier sowieso nicht her.‹ Wegen meiner Versponnenheit reagierte ich nicht auf diese sprachlichen Züchtigungen.« (Ebd. 12) Die Protagonistin wird hier, wie an zahlreichen anderen Stellen des Textes, als passive Zuseherin ausgewiesen und sie kann diese Haltung erst gegen Ende in offenen Widerstand umwandeln. Die Ich-Erzählerin setzt sich einige Male mit ihrem abwartenden Verhalten auseinander und verweist in diesem Kontext immer wieder auf ihre Profession. Durch diese fühle sie sich 23 | Selbstironie und Humor der Erzählerin blitzen in der Unheimlichen Reise immer wieder auf, während die männlichen Protagonisten in Frankenstein sich ganz der Tragik ihrer Situation hingeben und keine Relativierungen zulassen. Was sich in Shelleys Roman abspielt, ist eine Tragödie, die Situation in Heinrichs Text ist eher grotesk zu nennen. Die Groteske kann hier im Sinne Bachtins definiert werden, denn worüber gelacht wird, ist »[…] die Unmaßstäblichkeit, das ungewohnte Zusammenfügen von Dingen, die scheinbar nicht zusammengehören, die unserer gewohnten Ordnung und Wahrnehmung zuwiderlaufen« (Bachtin 1995, 79f.). 24 | Dies ist ganz im Sinne des Frankenstein entlehnten Zitats zu verstehen, das Heinrich dem Roman voranstellt: »Das Schicksal war übermächtig und in seinen unumstößlichen Gesetzen lag meine vollständige und furchtbare Vernichtung beschlossen.«

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in die Pflicht genommen, Ereignisse genau zu beobachten und dann niederzuschreiben. Selbst diese Niederschrift betrachtet sie nicht als einen eingreifenden Akt, sondern schlicht als ihre Aufgabe – vielleicht könnte man auch sagen ihr Schicksal. Sowohl die genaue Beobachtung der Ereignisse, als auch deren Dokumentation wird von der Protagonistin nicht so sehr als ein Kampf gegen bestehendes Unrecht, sondern als eine Überlebensstrategie wahrgenommen: »[Ich] ließ mich freiwillig an einem Ort nieder, dem ich auf der Stelle hätte entfliehen können, wurde nicht nur in einen Strudel erschreckender Vorgänge hineingezogen, sondern bin inzwischen gezwungen, Berichterstatterin einer dunklen Gesetzmäßigkeit zu werden, um nicht auch noch die Reste von Orientierung zu verlieren.« (Ebd. 13) Die Orientierung in diesem Roman fällt nun aber zumindest dem Leser äußerst schwer. Während sich bei Mary Shelley immerhin drei Erzählinstanzen an der Rekonstruktion der Geschichte beteiligen, ist man hier auf eine einzige Stimme verwiesen, die noch dazu gleich zu Beginn darauf aufmerksam macht, dass sie sich ihrer eigenen Unglaubwürdigkeit durchaus bewusst ist. Ebenso wie die geistige Gesundheit Viktor Frankensteins in Zweifel gezogen werden kann (vgl. Preuß 2003, 118ff.), ist auch bei Heinrich eine Erzählerin am Werk, deren Zurechnungsfähigkeit im Verlauf der Geschichte immer fragwürdiger scheint. So wie sich Frankenstein in die Abgeschiedenheit seines Labors zurückzieht, ist auch die Ich-Erzählerin auf der Suche nach einem Rückzugsort, an dem sie »sich an den Vorrat der Seele« (Heinrich 1998, 17) heranmachen kann und an dem nicht einmal schriftliche Aufzeichnungen sie von ihrem egozentrischen Vorhaben ablenken können. Zeitsprünge sowie widersprüchliche Aussagen und Wahrnehmungen der Protagonistin führen schließlich dazu, dass die Leserin bald ebenso orientierungslos in der fremden Stadt umherirrt wie die Erzählerin selbst. Während das Grauen bei Shelley über Briefe und Erzählungen vermittelt wird und somit in eine Kommunikationssituation eingebettet ist, die Rituale und Konventionen einer vertrauten und funktionierenden menschlichen Gesellschaft anklingen lässt, steht die Erzählerin der Unheimlichen Reise von Anfang an außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung und lehnt jegliche Rituale und die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit der Außenwelt sogar explizit ab (vgl. ebd. 9ff.). Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass Heinrichs Protagonistin ebenso ausschließlich auf ihr professionelles Tun konzentriert ist wie Viktor Frankenstein, schließlich will sie sich ihrem mit Leidenschaft betriebenen Beruf zuliebe von allen gesellschaftlichen Ansprüchen abschotten. Doch während Frankenstein seine Allmachtsphantasien ausleben und sein Ziel erreichen kann, wird Heinrichs Protagonistin von Ereignissen überwältigt, deren Urheberin nicht sie selbst ist. An Hingabe an die eigene »Schöpfung« mangelt es Heinrichs Protagonistin ebenfalls nicht, jedoch stellen sich die Eigenheiten ihres Berufs – die aus ihrer Sicht im Einlassen auf das (zufällig begegnende Fremde) bestehen – ihrem ur-

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sprünglichen Vorhaben einer radikalen Abgrenzung entgegen. Die Ich-Erzählerin betrachtet das Schreiben als einen großteils passiven Dienst am Fremden, das jegliches aktive, teleologische Streben unterbindet. Die Passivität der Protagonistin wird damit in einer paradoxen Wendung zum Movens ihres Eintretens für eine »andere«, also an ethischen Prinzipien orientierte, Gesellschaft. Abgesehen von der Vertrauten der Protagonistin, Dr. Doralis Krempe,25 wird keine einzige Figur im gesamten Text mit Namen bezeichnet. Die Stadt scheint dadurch lediglich von unterschiedlichen Gruppierungen, nicht aber von Individuen bevölkert zu sein. Die Personen, mit denen die Ich-Erzählerin Kontakt aufnimmt, beschreiben auch stets allgemeine menschliche Befindlichkeiten, die individuellen Lebensumstände spielen in dieser Umgebung, in der alles auf das Gelingen der Forschung ausgerichtet ist, keine Rolle mehr. Diese Vorrangigkeit der Gemeinschaft vor dem Individuum sehen einige Wissenschaftlerinnen bereits in unserem gesellschaftlichen Status quo und in zunehmendem Maße in einer Zukunft verwirklicht, in der die genetische Information des Menschen wichtiger ist beziehungsweise sein wird, als seine je eigene Verfasstheit. Schon stellen einige Forscher begeistert fest, dass das Aufkommen neuer Biotechnologien und ihrer Anwendungen, namentlich Gentests und Biobanken, die Bioethik in den letzten zehn Jahren in zunehmendem Maße veranlasst haben, ihre alten, am Individuum ausgerichteten Grundsätze […] aufzugeben und sich an der Gemeinschaft zu orientieren […] Im Entstehen dieser neuen ethischen Prinzipien sehen Chadwick und Knoppers das Anzeichen einer »kommunitaristischen Wende« in der Ethik. (Weiß 2009, 35)

25 | Dr. Doralis Krempe ist genau genommen die einzige Figur, die mit Vor- und Nachname ausgestattet ist. Ansonsten werden nur die Wissenschaftler Dr. Waldmann und Dr. Clerval mit Titel und Nachname bezeichnet. Alle drei Namen stammen aus Frankenstein, wobei Krempe dort jener Universitätsprofessor ist, an den sich Frankenstein zuerst wendet. Krempe macht Viktor Frankenstein deutlich, dass er seine bisherigen Studien für reine Zeitverschwendung hält, ja er fordert ihn sogar dazu auf, diese veralteten Kenntnisse ein für allemal aus seinem Gedächtnis zu streichen: »I little expected in this enlightened and scientific age to find a disciple of Albertus Magnus and Paracelsus. My dear Sir, you must begin your studies entirely anew.« (Shelley 2008, 29) Frankenstein lässt sich jedoch durch Krempes Kritik nicht beirren, er möchte seine »chimeras of boundless grandeur« nicht eintauschen gegen »realities of little worth« (ebd. 30), in der er Krempe und sämtliche seiner zeitgenössischen Kollegen gefangen sieht. Neben Krempe hält auch ein gewisser Prof. Waldmann Vorlesungen an der Universität von Ingolstadt. In ihm findet Frankenstein schließlich jenen Lehrer, den er sich immer schon gewünscht hat und mit dessen Hilfe er letztlich seinen Traum, künstliches Leben zu erschaffen, erfüllen kann.

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Die zynische Form einer »kommunitaristischen Wende« ist in Heinrichs Roman durchaus erkennbar. Die Stadt, in der die Ich-Erzählerin landet, ist zum Experimentierfeld einer Gruppe von Forschern geworden, die Experimente an Menschen und Tieren durchführen. Die Einwohnerinnen der Stadt haben ihr gesamtes Sein auf dieses gewaltsame Treiben, das hinter verschlossenen Türen stattfindet und dessen Sinn sie nur bruchstückhaft erahnen, ausgerichtet. Die Protagonistin trifft nur selten auf Menschen, die ihr freundlich gesonnen sind, und auch die öffentlichen Instanzen, wie etwa die Polizei, an die sie sich einmal in höchster Not wendet, agieren im Sinne der Forscher. Auch wenn die großteils ungebildeten und naiven Einwohner der Stadt die wissenschaftlichen Hintergründe des Geschehens nicht verstehen, so haben sie doch wesentlich mehr Angst vor den in Tierhäuten gekleideten Demonstranten als vor den Machenschaften der Wissenschaftler. In einem Gespräch zwischen der Protagonistin und einem Einwohner fällt schließlich ein Satz, der die Mehrheitsmeinung abzubilden scheint: »Wir haben ein feines Gefühl – lange vor den Wissenschaftlern, die erst jetzt drauf kommen, den lupenreinen, astreinen Menschen zu schaffen … saubere Gene, dafür bin ich, ein für allemal … stimmt’s Goldie?« (Heinrich 1998, 151) Die Hervorbringung eines »perfekten Menschen« hat Viktor Frankenstein vorerst nicht sonderlich beschäftigt; ihm ging es vor allem darum, in die tiefsten Geheimnisse des menschlichen Lebens vorzudringen: »[…] more, far more will I achieve: treading in the steps already marked, I will pioneer a new way, explore unknown powers, and unfold to the world the deepest mysteries of creation.« (Shelley 2008, 214)26 Das Betreiben wissenschaftlicher Bestrebungen, im Sinne genauer Beobachtung und Aufzeichnung, ist für Shelley eine durchaus ehrenwerte Aufgabe. Die Offenlegung und Beherrschung der »tiefsten« menschlichen Geheimnisse, also die technische Hervorbringung biologischen Lebens, bleibt allerdings für sie eine Grenze, die nicht überschritten werden darf. In Heinrichs Roman gibt es ebenfalls eine Gegenbewegung zu den Aktivitäten der Forscher in der Stadt. Jenen, die für die Hervorbringung »sauberer Gene« plädieren, stehen die »Tiermenschen« gegenüber, die das Recht der Kreatur, die Herrschaft des Natürlichen über das kulturell Hervorgebrachte einfordern. Sie tauchen meist überfallsartig und in größeren Gruppen auf. Die Einwohner scheinen ebenso wie die Protagonistin Angst vor ihnen zu 26 | Diese Textstelle ist in der urprünglichen Version von 1818 nicht enthalten, sondern wird erst 1831 von der Autorin hinzugefügt. Zu diesem Zeitpunkt ist Mary Wollstonecraft Shelley bereits eine wesentlich geübtere Schriftstellerin und sie schafft einen noch viel elaborierteren Text, dem viele reflexive Passagen – so auch die oben angeführte – hinzugefügt werden. Die 2008 erschienene Ausgabe, die in der Reihe Oxford World’s Classics erschienen ist, umfasst den Text von 1818, führt aber sämtliche Änderungen und Ergänzungen der Autorin in drei übersichtlichen Appendizes an.

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haben. Das Prinzip, das »die Perversen«, wie sie von den Einheimischen auch genannt werden, vertreten, wird der Protagonistin eines Tages während einer Demonstration verdeutlicht, in die sie zufällig gerät. Während sich die Ich-Erzählerin gemeinsam mit einer anderen Passantin ängstlich versteckt, hört sie die »Tiermenschen« skandieren: »Wir sind die letzten Zeugen der Tierheit! Die Rächer der Tiere! Gott ist erzürnt! Gott ist nicht tot! Gott ist wach und lebendig! Gott verstößt euch und holt die Tiere heim ins himmlische Reich! Hört, hört alle!«27 (Heinrich 1998, 87) Szenen wie diese erinnern daran, dass der Kampf der Wissenschaftler für die Reproduktionsmedizin auch einen Kampf gegen das Kreatürliche bedeutet, dessen »Unzulänglichkeiten« durch die Erfindung des neuen, besseren Menschen ausgelöscht werden sollen. Wie auch im Falle von Frankenstein behaupten die Wissenschaftler damit nicht nur ihren eigenen Überzeugungen gemäß und für ihren Ruhm zu arbeiten, sondern brüsten 27 | Im Laufe der Erzählung ist immer wieder festzustellen, dass die Protagonistin sich auf gewisse Weise zu den »Tierrechtlern« hingezogen fühlt, auch wenn diese ihr ebenso Angst machen wie den anderen Einwohnerinnen der Stadt. Das grundsätzliche Anliegen der Protestanten scheint der Ich-Erzählerin aber zu gefallen – der tiefere Grund hierfür wird nie explizit benannt, er lässt sich aber doch an Hand einzelner Aussagen rekonstruieren. »Gott ist nicht tot!« Diese Parole der Tierschützer trägt den Kerngedanken der Bewegung in sich, die sich vor allem gegen die Tätigkeit der Forscher als Nachahmer des göttlichen Schöpfungsprozesses richtet. Selbst als die Protagonistin von diesen Machenschaften noch nichts ahnt, zeigt sie sich von diesem Ausruf tief getroffen. »Gott ist nicht tot«, diese Aussage hat auch für sie als Schriftstellerin und vor allem als Hüterin des geschriebenen Wortes in der Stadt eine besondere Bedeutung. Ästhetisches Schaffen ist eine besondere Form der Sinnfindung, die einen privilegierten Zugang zur Dimension des Göttlichen eröffnet. Die Annahme, Gott wäre abwesend, gefährdet die Überlieferung der (sinnhaften) Tradition und macht bedeutendes Denken und Schreiben unmöglich: »[…] wo Gottes Gegenwart keine haltbare Voraussetzung mehr ist und wo seine Abwesenheit kein erlebtes, ja überwältigendes Gewicht mehr hat, bestimmte Dimensionen des Denkens und schöpferischen Tuns nicht mehr zugänglich sind. […] Wir müssen lesen, als ob.« (Steiner 1990, 299) Die Protagonistin der Unheimlichen Reise agiert die ganze Zeit über auf zwei Ebenen: Einmal erforscht sie die »neue Unheimlichkeit« der Reproduktionsmedizin auf einer Ebene, die vor allem gesellschaftspolitische Relevanz besitzt. »Das Unheimliche« wird hier weder im psychologischen Sinne untersucht, wie etwa Freud es getan hat, noch auf einer existenziellen Ebene, wie es etwa bei Heidegger der Fall ist. Auf einer zweiten Ebene aber handelt die Unheimliche Reise von den Abgründen des kreativen Schaffensprozesses in der Postmoderne. Die Bedrohung der Sinnlosigkeit, das Flüchtigwerden der Zeichen und die damit verbundene Unmöglichkeit, Bedeutung zu generieren, sind für die Schriftstellerin, die letztlich nicht einmal mehr ihr Spiegelbild wiedererkennen kann, eine ebenso unerträgliche Folter wie jene, die sie im Krankenhaus erfährt.

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sich damit, im Sinne der gesamten Menschheit zu agieren. Die Ich-Erzählerin der Unheimlichen Reise schleicht sich am Ende des Romans in eine Versammlung der Wissenschaftler und hört dabei, wie der Vorsitzende der Zusammenkunft ausführt, auf welche Weise ihre Forschungen das Glück und die Freiheit der menschlichen Spezies befördern könne: […] er und die anderen leiden darunter, daß sie, er und alle auf der Welt, machen können, was sie wollen, daß sie so schön sein können wie der Morgentau, so klug wie die Eule, so reich wie Dagobert Duck, so entdeckerisch wie Columbus, so lange leben können wie die Eiche vor ihrem Haus – und doch ihrer Urmutter, ihrem Urvater, die noch hässlicher sind als der, der jetzt eine Erdnuß isst, niemals entkommen. (Ebd. 205)

Die Reproduktionsmedizin soll dem Determinismus der natürlichen Fortpflanzung ein Ende setzen. Die Frage, ob diese Freiheit tatsächlich als solche zu sehen ist oder ob sie zur Knechtschaft des Menschen führt, der sich nun seiner eigenen Idealisierung voll und ganz zu unterwerfen hat, wird in jüngster Zeit in vielen wissenschaftlichen Disziplinen diskutiert. Diese Debatte kann und soll an dieser Stelle nicht ausführlich erläutert werden, dennoch ist Heinrichs Roman von einigen Gedanken durchdrungen, die eben jene »neue Freiheit« sehr fragwürdig erscheinen lassen. Gleich nach ihrer Ankunft in der unheimlichen Stadt mietet sich die Ich-Erzählerin in einer Pension ein, in der sie fast der einzige Gast und dennoch nicht sehr willkommen ist. Weshalb das so ist, wird eines Nachts deutlich, als in ein Nebenzimmer einige Männer einziehen, die offensichtlich eine junge, schwangere Frau in ihrer Gewalt haben. Später stellt sich heraus, dass dieses Mädchen ihren Körper für Experimente zur Verfügung gestellt hat. Wann immer sie in dem Roman auftaucht, wird ihre Rolle überdeutlich beschrieben: Sie ist das »Objekt« dieser Forschungsarbeit, ihre körperliche und emotionale Verfasstheit werden nicht als Ausdruck individueller menschlicher Empfindungen, sondern als Faktor innerhalb einer Versuchsanordnung wahrgenommen. Wieder taucht der Gedanke eines zynischen Genkommunitarismus auf, der das Wohl der Gemeinschaft in einem neuen Sinn über das Recht des Einzelnen stellt: Denn beinahe jede Spielart künstlicher Befruchtung ruft sofort und auf der Stelle einen Vater, eine Mutter, einen Erzeuger, einen Brutbauch auf den Plan und läßt jede dieser epochemachenden wissenschaftlichen Errungenschaften zu einem Familienstreit, einem Familienbesitz verkommen! […] die guten nützlichen Tiere wissen gottlob nichts von ihren biologischen Eigentumsverhältnissen, sind keine eitlen Stammzellen- und Eibesitzer. (Ebd. 201)

Mit dieser Sicht auf den Menschen geht eine völlige Dekonstruktion des Subjekts einher. Dies geschieht sowohl im Sinne einer Aberkennung jeglicher

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Handlungs- und Entscheidungsfreiheit durch die Wissenschaftler als auch im Sinne einer Negation der körperlichen Einheit des Menschen, der, wie aus oben genanntem Zitat deutlich hervorgeht, nur noch als Trägermedium biologischer Informationen und Substanzen wahrgenommen wird. Der Diskurs um die Auflösung des autonomen Subjekts ist in der Unheimlichen Reise aber auch noch auf einer anderen Ebene präsent: Die Ich-Erzählerin reflektiert immer wieder ihre Position als Schriftstellerin. Sucht sie noch zu Beginn des Romans die völlige Ablösung von ihrem geschaffenen Werk und ihrem momentanen Schreiben, kehrt später der Wunsch nach einer traditionellen Rolle als Urheberin eines Werks wieder zurück. Bereits nach der skurril-unheimlichen Begegnung mit dem Ehepaar im Zug verspürt sie plötzlich den dringlichen Wunsch zu schreiben, der sich aber gleich darauf wieder verflüchtigt und auf eine unbestimmte Zukunft verschoben wird. Als die Protagonistin mit der unfreundlichen Atmosphäre in der Stadt und der aufkeimenden Unsicherheit über das, was sich hinter dieser verbirgt, konfrontiert wird, schlägt sich das Nicht-Schreiben als Orientierungslosigkeit und Ungenauigkeit in der Beobachtung nieder: »Die Anstrengung allerdings hatte zur Folge, daß ich noch immer nichts begriff, all die Andeutungen, die offenen Sätze, die außergewöhnliche Stimmung versanken ohne Zeichen und Folgen.« (Ebd. 16) Was in diesem Moment noch kein allzu großes Problem darstellt, wird später von der Ich-Erzählerin explizit als Grund dafür genannt, dass sie die Machenschaften nicht rasch genug durchschauen und sich somit auch nicht retten konnte: »[…] ich glaube, daß ganz in den Tiefen der Ereignisse dieser Wille, mich mit keiner schriftlichen Mitteilung zu trösten, dazu beigetragen hat, die Schweiß- und Nahtstellen der Ungeheuerlichkeiten nicht rechtzeitig zu erkennen.« (Ebd. 19) Die Protagonistin entscheidet sich endgültig dafür, das Schreiben wieder aufzunehmen, nachdem sie einen Mord beobachtet hat und ihr zum ersten Mal der Gedanke kommt, dass sie selbst aus ihrer aktuellen Lage eventuell nicht lebend entkommen wird. Das Kapitel, in dem sie erstmals wieder schreibt, trägt die Überschrift »Der Brief« und ist auch als solcher abgefasst. Es ist das einzige Kapitel, das in jener Erzählform verfasst ist, die für Frankenstein von so grundlegender Bedeutung ist. Der Brief ist aber nicht wie bei Shelley an eine daheimgebliebene, im Grunde handlungsunfähige Frau gerichtet, sondern an eine Freundin der Ich-Erzählerin. Dr. Doralis Krempe ist Anwältin und die Protagonistin traut ihr zu, dass sie im Falle des schlimmsten Ausgangs der Geschehnisse, also im Falle ihres Todes, die Aufklärung der Ereignisse übernehmen könnte.28 Abgesehen von dieser rein formalen Parallele wird in diesem Kapitel Mary Shelleys Frankenstein mehrfach erwähnt, wobei 28 | An dieser Stelle wird die Doppeldeutigkeit der Situation, in der sich die »Erzählerin« befindet, besonders deutlich. Nicht nur die Ereignisse, denen sie begegnet, sondern der Akt des Schreibens an sich birgt das Risiko eines letalen Ausgangs.

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das dem Roman vorangestellte Zitat hier ebenfalls wieder auftaucht. Auch in diesem Zusammenhang geht es um die Rolle des Subjekts, denn die Protagonistin gibt an, sich nicht mehr daran erinnern zu können, wie das Zitat aus Frankenstein genau heißt: Ich glaube, ich sagte ihn nur einmal laut: »Das Schicksal ist übermächtig, und in seinen unumstößlichen Gesetzen lag eine vollständige und furchtbare Vernichtung beschlossen.« Mit diesem Satz wurde ich hochgehoben und gebettet, und mit ihm fiel ich in einen Winterschlaf gegen das Grausame der Welt […] Heißt es eine vollständige und furchtbare Vernichtung oder, was das Rätsel auf mich zurückwürfe: meine!??? (Ebd. 109f.)

Diese Stelle ist allein schon durch die Erwähnung des von Frankenstein entlehnten Mottos als eine entscheidende Passage des Textes markiert; auch hier wird wieder aus einer anderen Perspektive die Frage nach dem Stellenwert des Subjekts gestellt. Heinrichs Protagonistin befindet sich nach eigenen Angaben bereits in der »Kühle des Abgrunds« und sie entscheidet sich für die Schrift, die Aufzeichnung und die Autorinnenschaft, auch wenn sie damit (natürlich) ihr Leben gefährdet. Diese Stelle des Romans treibt nicht nur die Handlung entscheidend voran, sie macht auch auf einer Metaebene staunen. Es passiert, was man vom Text einer deklarierten Feministin und Anhängerin des Dekonstruktivismus am wenigsten erwarten würde: Gott und der Autor – in diesem Fall aber doch eher Göttin und Autorin – sind nicht tot. Zumindest setzt sich die Protagonistin sehr für deren Überleben ein. »Über die Gott-Hypothese läßt sich nicht ohne Kosten spotten« (Steiner 2004, 343), sagt George Steiner und scheint damit den Eindruck der Ich-Erzählerin zu bestätigen. Nur indem sie auf ihrem Schreiben als originären Schöpfungsakt und damit als sinnhaft besteht, kann sie gegen die Wissenschaftler und deren Praktiken ankämpfen. Gegen die moralische Beliebigkeit ihres Tuns setzt sie feste Zeichen, das Bewusstsein wandernder Signifikanten-Ketten hingegen kann gegen eine solche Übermacht nichts ausrichten. Die klaren, aussagekräftigen Aufzeichnungen der Ich-Erzählerin, die ja notfalls auch als Dokumentation der Geschehnisse von einem Gericht anerkannt werden sollten, werden von den Wissenschaftlern als eine echte Gefahr betrachtet. Darauf deutet etwa die Tatsache hin, dass während einer kurzen Abwesenheit sämtliche Notizen, die sich die Protagonistin seit ihrer Ankunft gemacht hat, aus ihrem Zimmer entwendet werden. Unmittelbar nachdem sie den Brief an Doralis Krempe verfasst hat, gelangen diese jedoch wieder zu ihr zurück und sie kauft sich daraufhin sogar eine Schreibmaschine (vgl. Heinrich 1998, 111). Die Aufzeichnungen, die sie dann zu Papier bringt, sind unsortiert und fügen sich noch nicht zu einer kohärenten Geschichte zusammen (wie es letzten Endes ja offensichtlich passiert ist). Die Ich-Erzählerin beginnt aber immerhin wieder zu schreiben, »um eine

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Anzahl von Ereignissen schwarz auf weiß zu haben, falls ich mir erneut selbst verloren gehen würde« (ebd. 116). Das Bedürfnis nach »objektiver« Beobachtung und Dokumentation der Geschehnisse löst nicht nur den für die Ich-Erzählerin überlebensnotwendigen Wunsch zu schreiben aus, sondern auch eine gewisse Brutalität ihrerseits, die wiederum in Verbindung mit der traditionellen Idee des Schöpfers (literarischer Werke) gesehen werden kann: »Ich hatte eine Aufgabe, ich mußte den Virus der erkrankten Stadt ausfindig machen, eindringen in das Wundmal, dessen Teil ich unversehens geworden war.« (Ebd. 119) Die Protagonistin möchte nun der unheimlichen Stadt ihr Geheimnis gewaltsam entringen, wobei gerade jener Wunsch sie in die Nähe ihrer Gegner rückt. Die aufklärerische Aufgabe, derer sie sich annimmt, indem sie die unheimliche Stadt bis in ihren innersten Kern hinein durchdringen und verstehen möchte, wird nun allerdings nicht mehr analog zum Prozess des Schreibens, sondern zu jenem des Lesens gesetzt. Sie agiert insofern klassisch hermeneutisch – und damit wie jede innerhalb des westlichen Bildungssystems erzogene Leserin eines Textes –, als sie auf das Fremde nur eingeht, indem sie »schon durch die Art des Umgangs seine Wirkungen, seine Herausforderungen und seine Ansprüche zu neutralisieren oder zu verleugnen [versucht]« (Waldenfels 2006, 9). Der Leser fühlt sich durch jene Stellen, die verdeutlichen, mit welcher Vehemenz die Protagonistin ihre Ziele verfolgt, möglicherweise an Shelleys aufklärungskritische Mahnungen erinnert. Doch Shelleys Vision ist heutigen Verhältnissen nicht mehr angemessen: Die lückenlose Aufklärung der Geheimnisse aus dem Menschen selbst heraus ist gar nicht mehr möglich, die Protagonistin muss sich eingestehen, dass alles in Auflösung begriffen ist, auch wenn sie es noch so sehr festzuschreiben versucht: »›Jawohl, das geschieht dir recht‹, sagte es in mir: ›Alles was du nicht wolltest, alles; nichts, was du wolltest, nichts, nichts: Paß weg, Zimmer weg, Beweise weg, Besinnung weg und alle Zeichen in Auflösung.‹« (Heinrich 1998, 124) Der Mensch, so wie er sich in Heinrichs Roman und damit am Ende des 20. Jahrhunderts zeigt, ist längst schon nicht mehr in der Lage, die Offenlegung aller Mysterien zu bewerkstelligen, ja nicht einmal seine Frankenstein’schen Monster kann er noch alleine erschaffen: […] daß es den Wissenschaftlern vielleicht unerträglich wäre, den Vorsprung als Schöpfer des Menschen aufgeben zu müssen? […] Nur eines: Kein Frankenstein, kein künstlicher Mensch spricht und rächt sich mehr an seinem Schöpfer. Sie entspringen lautlos den Maschinen, die selbst Hirne sind. Vielleicht müssen wir nur aufpassen, daß wir nicht eines stillen Tages ihre wandelnden Organersatzteillager geworden sind! (Ebd. 107)

Die eigentliche Bedrohung geht also zumindest in der Unheimlichen Reise nicht mehr von den geistigen Eliten der Geistes- und Naturwissenschaften aus – wie das noch zu Mary Shelleys Zeiten der Fall war. Tatsächliche Macht besit-

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zen allein jene, denen es gelingt, die Grenze zwischen Mensch und Maschine zu verschieben – eine wahrlich unheimliche Grenzüberschreitung, die schon E.T.A. Hoffmann im Sandmann beschrieben hat.

4.4.3 Die Wurzel alles Unheimlichen Sigmund Freud veröffentlichte im Jahr 1918 jenen einflussreichen Aufsatz, in dem er für eine Neudefinition des Unheimlichen plädierte, die die Argumentation seines Kollegen Ernst Jentsch entkräften sollte, »[…] denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.« (Freud 1997, 264) Nicht die »intellektuelle Verunsicherung«29 sei es also, die laut Freud den Effekt des Unheimlichen am stärksten hervorrufe, sondern jene Aspekte unseres Denkens und unserer Persönlichkeit, die wir verdrängt haben, die aber im Unbewussten immer noch ihre Wirkung tun und auf einen bestimmten Anlass hin aus dieser Tiefe ans Licht geholt werden. So sei etwa der Glaube an die Wiederkehr von Toten zwar aus unserem rationalistisch aufgeklärten Bewusstsein verschwunden, aber als emotionale und irrationale Komponente unseres Denkens stets vorhanden. Tritt nun ein Ereignis ein, das diese zwar vergrabenen, aber immer noch vorhandenen Vorstellungen zu bestätigen scheint, kommen diese rasch wieder an die Oberfläche des Bewusstseins und tun dort ihre unheimliche Wirkung (vgl. ebd. 270). In besonderer Weise unheimlich ist die Frau, wie Freud feststellt. Allerdings wirke sie beziehungsweise »das weibliche Genital« (ebd. 267) lediglich auf »neurotische Männer« unheimlich, was darauf zurückzuführen sei, dass »dieses Unheimliche […] der Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes« (ebd.) ist. Die Macht, die mit der weiblichen Fähigkeit, Leben hervorzubringen verbunden ist, wird in sämtlichen Werken der Kunst und Literatur auch als eine »unheimliche« Macht beschrieben. In Shelleys Frankenstein und Heinrichs Unheimlicher Reise ist sie der heimliche Dreh- und Angelpunkt jener (unheimlichen) Atmosphäre, die beide Texte umgibt. Die Frau ist jedoch in Jutta Heinrichs Text nicht nur als »Schöpferin« neuen Lebens im engeren und weiteren Sinne präsent, sondern vor allem als symbolische Trägerin des Kreatürlichen. Auf symbolischer Ebene gibt es in der abendländischen Kultur von jeher eine Verbindung zwischen dem Weiblichen und dem Körperlichen, Irrationalen und Unberechenbaren. Nicht umsonst führen Horkheimer und

29 | Jentschs Meinung zufolge war es vor allem die intellektuelle Unsicherheit darüber, ob Olimpia nun ein belebtes Wesen oder ein unbelebter Gegenstand sei, die den Effekt des Unheimlichen auslöste.

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Adorno den Widerstand des Odysseus gegen die Anziehungskraft der Sirenen als Urszene des auf klärerischen Denkens an: Die Sirenen haben das ihre, aber es ist in der bürgerlichen Urgeschichte schon neutralisiert zur Sehnsucht dessen, der vorüberfährt. […] Seit der glücklich-mißglückten Begegnung des Odysseus mit den Sirenen sind alle Lieder erkrankt, und die gesamte abendländische Musik laboriert an dem Widersinn von Gesang in der Zivilisation, der doch zugleich wieder die bewegende Kraft aller Kunstmusik abgibt. (Horkheimer, Adorno 2004, 67)

Die Protagonistin in Heinrichs Roman wird eines Tages von einem Unbekannten zum Essen eingeladen, was in der feindseligen Umgebung an sich schon sehr ungewöhnlich ist. Es stellt sich heraus, dass der Mann Augenarzt ist, wobei er gleich zu Beginn darauf hinweist, dass er, um in Begleitung einer so klugen (!) Frau essen gehen zu dürfen, für zwei Tage sein Augenlicht hergeben würde (vgl. Heinrich 1998, 77). Schon diese Begegnungsszene ruft zahlreiche Assoziationen hervor, mit denen die Literaturwissenschaftlerin Jutta Heinrich sehr geschickt zu spielen weiß: Einerseits verweist das Augenlicht in diesem Fall auf die Aufklärung und den in dieser Strömung sehr ausgeprägten Wunsch, klar und deutlich zu sehen. Andererseits sind die Augen ein zentrales Motiv in einem der bekanntesten unheimlichen literarischen Texte überhaupt, dem Sandmann von E.T.A. Hoffmann. Hier werden sie von Freud vor allem als Symbole der Kastrationsangst gedeutet. All diese Bilder – der unheimliche und böswillige Coppola, die Puppe Olimpia, die dieser erschaffen hat – und auch sämtliche dazu erschienenen Sekundärtexte treten schon bei dieser Szene ins Bewusstsein der Leserin. Die Fixierung des namenlosen Mannes auf das Augenlicht bleibt auch noch im weiteren Verlauf des Gesprächs erhalten, allerdings vertritt er hier eine konstruktivistische Perspektive, die der Zuverlässigkeit des Sehsinns misstraut: »… Sie wissen, daß mit jedem Sehen der Irrtum sich in dem Maße vergrößert, ja, verunheimlichen kann, in dem die Brennschärfe steigt! Warten Sie! … und da wären wir im Zentrum unserer Geschichte, unserer Stadt: Die Grauzone brennt!« (Ebd. 79) Das Sehen ist in dieser Szene nicht mehr Quell der Erkenntnis, sondern vielmehr ein unzuverlässiges Instrument, das am Versuch, eine scharfe dichotome Unterscheidung zu treffen, scheitert. Das Paradigma der Dichotomie ist der Geschlechterunterschied und auf diesen, beziehungsweise auf die Übermacht des Weiblichen, kommt der Augenarzt auch gleich zu sprechen: »[…] selbst der unzivilisierte Mann ahnt in der Schreckenskammer des Inneren, daß beinahe alle Lebewesen vom weiblichen X-Chromosom bedroht bleiben.« (Ebd. 80) Im weiteren Gesprächsverlauf stellt sich heraus, dass es ebendiese drohende »Verweiblichung« ist, vor der sich der Augenarzt am meisten fürchtet. Seine Angst davor geht sogar so weit, dass er es als das Glück seiner Gesprächspart-

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nerin betrachtet, dass sie diesen »Prozess der Feminisierung« bereits überstanden hat. Die »Feminisierung« scheint in der Vorstellung des Augenarztes in letzter Konsequenz zum Aussterben der Menschheit, aber auch der Tierwelt zu führen. Betrachtet man die Vehemenz, mit der der Arzt die Verteufelung alles Weiblichen, vor allem aber die Übernahme weiblicher Charakteristika durch männliche Lebewesen betreibt, so fühlt man sich unwillkürlich an Otto Weininger erinnert, der ebenfalls von jener »tiefsten Furcht im Manne« gesprochen und sie so erklärt hat: »[…] die Furcht vor dem Weibe, das ist die Furcht vor der Sinnlosigkeit: das ist die Furcht vor dem lockenden Abgrund des Nichts« (Weininger 1997, 399). Auch für Weininger steckte das Grauen in der Vorstellung einer Verschmelzung von Mann und Frau, einer Androgynie, die er bereits zu seiner Zeit wahrzunehmen glaubte und von der er fürchtete, sie könne sich noch weiter ausbreiten. Es wird also deutlich – und zwar sowohl bei Weininger als auch bei jenem mysteriösen Augenarzt, den Heinrichs Protagonistin trifft –, dass es letztlich eben nicht die Unterschiede zwischen Mann und Frau sind, die einen unheimlichen Effekt ausüben, sondern gerade die »Grauzone«, die eine strikte Trennung verhindert. Wie Elisabeth Bronfen feststellt, ist es vor allem die Weiblichkeit, die jedem Konzept von Männlichkeit immer als ein »intimer Fremdkörper inne [wohnt]« (Bronfen 2001, 123), der diese Angst auslöst. Doch die Uneindeutigkeit seiner eigenen geschlechtlichen Identität ist nicht die Wurzel dessen, was den Arzt bekümmert und seine Aggressionen auslöst. Im Grunde richtet sich sein Hass auf das vermeintlich »kuschelige Krankenhaus« (Heinrich 1998, 82), in dem Dinge vor sich gehen, die ohnehin »den Menschen in den allermeisten Bedürfnissen ersetzen« (ebd.) und die Genforschung an jene Stelle setzen, die früher Darwin mit seiner Theorie besetzt hielt. Die Ich-Erzählerin selbst wird von diesen Ausführungen weiter dazu angespornt, das ihr Widerfahrene aufzuzeichnen, auch wenn ihr die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens immer deutlicher bewusst wird und sie zunehmend den Wunsch verspürt, sich einfach zurückzuziehen und vor dem Grauen zu flüchten. Sie möchte am liebsten »nichts anderes tun als auf dem Bett zu liegen, den Geräuschen zu folgen, zu lesen, nichts als zu lesen, einzutauchen in andere Welten, die mich davon erlösen würden, in einer trügerischen Realität herumzustolpern« (ebd. 84). Doch die Protagonistin setzt diesen Rückzugsplan nie in die Tat um, ja sie riskiert sogar ihr Leben für die Aufklärung der dunklen Geheimnisse, die sie umgeben, und landet schließlich in jenem »kuscheligen Krankenhaus«, das der Augenarzt zum ersten Mal erwähnt hat und das sich als Zentrum der Forschungsarbeiten entpuppt. Das Pflegepersonal dieser Einrichtung, deren innerster Kern hermetisch abgeriegelt ist, ist hauptsächlich weiblich, und trotz anfänglicher Widerstände gelingt es der Protagonistin schließlich, eine der Schwestern auf ihre Seite zu ziehen. Deutlich wird allerdings auch, dass die Hierarchie innerhalb des Krankenhauses streng festgelegt ist, oberhalb der

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»Kaste« der Krankenschwestern gibt es nur noch Männer. Die patriarchale Logik beherrscht diese Welt voll und ganz und so nehmen die Pflegerinnen einiges in Kauf, in der Hoffnung eines Tages ihren Wunsch nach sozialer Anerkennung erfüllen zu können: »Ach – herzig, es kam auch gleich heraus, daß der Flor der Anfängerinnen die krasse Unterbezahlung beinahe vergisst, in der Hoffnung, aus diesem erlesenen Teil einen lebenslänglichen Unterhaltsausgleich zu finden […].« (Ebd. 171) Da die patriarchale Macht innerhalb der Forschungseinrichtung noch weitgehend ungebrochen scheint, ist die unheimliche Atmosphäre, die allen Passagen anhaftet, die in der Stadt spielen, scheinbar verschwunden. Die Reproduktion menschlichen Lebens liegt hier ganz allein in Männerhand und soll nicht nur einem rein wissenschaftlichen Zweck, sondern auch dem Lustgewinn des Mannes dienen: »[…] ja, bald werden wir uns, meine Herren … eine schöne, junge Geliebte so oft herstellen lassen können, wie wir wollen, wir sind nicht mehr hilfloser Teil einer biologischen Evolution, wir sind Baumeister und Wunschleiter eines gigantischen Entwicklungssprungs.« (Ebd. 200) Einerseits spiegelt diese Szene des Romans die gesellschaftliche Realität wider: Die Forschungselite auf sämtlichen Gebieten der Wissenschaft ist nach wie vor männlich und dementsprechend orientieren sich die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit häufig an männlichen Perspektiven. Andererseits reagieren Ansprüche der Genetik auf die Wünsche beiderlei Geschlechts, wobei diese Facette des Themas bei Heinrich ausgeblendet wird. Eine der wenigen Rezensionen, die zu diesem Buch erschienen sind, kritisiert, dass es in der von Heinrich dargestellten Welt sehr plakativ zuginge, dass also die Ausländer ausgebeutet und ermordet, die Frauen zu Objekten gemacht und die Ordnungshüter grundsätzlich als korrupt und frauenfeindlich dargestellt würden (vgl. Köhler 2000). Die Verhältnisse an dem Ort, den Heinrich hier beschreibt, sind tatsächlich stereotyp. Dennoch kann man Jutta Heinrich nicht der SchwarzWeiß-Malerei bezichtigen, damit würde man der Komplexität dieses Romans nicht gerecht werden. Das eigene Dokumentations- und Forschungsverhalten der Ich-Erzählerin wird schließlich genauso kritisch hinterfragt, sie (!) ist letztlich jene Figur, die am ehesten Shelleys Viktor Frankenstein entspricht. Ihre Unzufriedenheit mit einem durchschnittlichen Leben, das sie als stumpf und leer empfindet, hat die Protagonistin in die Stadt geführt, und ihr Wunsch, das Wissen über die geheimnisvollen Vorgänge dort zu vergrößern, hat sie bleiben lassen. Die Frau kann also auch innerhalb der Logik des Textes nicht moralische Überlegenheit auf Grund ihres Geschlechts beanspruchen. Warnungen enthält der Roman allemal, aber als »richtige Seite« wird weder die der Tiermenschen, die mit ungeheurer Brutalität vorgehen, noch jene der Forscher, noch die der Protagonistin selbst ausgewiesen. Im Zusammenspiel dieser drei Antagonistinnen zeichnet sich jedoch letztlich – und das ist die eigentliche Enthüllung dieses Textes – eine positive Utopie ab. Diese ist in

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besagter Grauzone zu finden, ja sie ist jene Grauzone selbst, die »brennt«, wie es der Augenarzt formuliert. Ein möglicher Ausweg aus der Misere lässt sich in diesem Roman, der ein sehr offenes Ende findet, nur dann konstruieren, wenn es gelingt, die festen Strukturen des Denkens aufzuweichen, ohne damit ethischer Willkür Vorschub zu leisten. Sowohl die Tiermenschen als auch die Forscher halten strikt an der Dichotomie der Geschlechter und damit auch am dichotomen Denken fest. Sie vertreten lediglich unterschiedliche Positionen in dem Kampf, in den auch die Ich-Erzählerin hineingeraten ist. Sie versucht nun in dem Ordnungsgefüge beziehungsweise der diskursiven Ordnung der Stadt, in die sie verstrickt ist, eine eigene Position zu finden. Während sie nie dazu tendiert, sich mit den Forschern zu solidarisieren, kann sie eine gewisse Sympathie für die Tiermenschen nicht verleugnen. Diese zeitweilige Annäherung wird jedoch durch einen Überfall der Tiermenschen beendet, während dem auch die Protagonistin die Gewalt zu spüren bekommt, die für diese Bewegung ebenso charakteristisch ist wie für die Gruppe der Forscher. Eine Alternative dazu zeichnet sich also nur in einem nicht-dualistischen Denken ab (vgl. Mitterer 1999),30 wobei das im Text nur implizit gesagt wird. Grundlegend für ein solches Denken wäre selbstverständlich die Auflösung, ja zumindest Aufweichung des Geschlechterdualismus. Eine in diese Richtung weisende Utopie lässt sich in Heinrichs Roman zumindest zwischen den Zeilen immer dann erkennen, wenn die Beziehungen der Protagonistin zu jenen weiblichen Personen beschrieben werden, die ihr helfen zu überleben. Dr. Doralis Krempe ist hier die Figur, die am meisten herausragt. Sie wird von der Ich-Erzählerin durchaus analog zum »strahlenden Helden« imaginiert, der dem weiblichen Opfer in patriarchalen Mythen stets zu Hilfe kommt. Die Protagonistin gibt sich ihrer Unterlegenheit aber nicht hin, wie das in der gängigen Ausprägung dieses Motivs der Fall wäre, vielmehr trägt der Gedanke an Doralis Krempe schließlich zu ihrer eigenen Stärkung bei: »… wie schrecklich, sobald ich be30 | In Die Flucht aus der Beliebigkeit und Das Jenseits der Philosophie entwickelt Josef Mitterer die Grundlagen eines nicht-dualistischen Denkens, das die Konstruiertheit und Kontingenz des eigenen Standpunktes anerkennt und nicht – wie in der dualistischen Philosophie üblich – unter der Hand zu Axiomen erklärt. Der Begriff der Wahrheit erfährt auf diese Weise eine grundlegende Neubestimmung: »Die dualistische Argumentationsweise kann die Eigenauffassung der Beliebigkeit nicht entziehen. In der Eigenauffassung fallen für wahr halten und wahr sein zusammen: Im dualistischen Wahrheitsdiskurs haben wir keine andere Möglichkeit, als die Eigenauffassung für die eher wahre zu halten: das heißt sie als jene zu bestimmen, die mit dem Objekt in Einklang steht. […] In einer nicht-dualistischen Denkweise ist der Versuch, den Tisch von der Beschreibung des Tisches zu unterscheiden, der Versuch die Beschreibung so far/ der Tisch/von der Beschreibung from now on ›Der Tisch ist aus Holz‹ zu unterscheiden.« (Mitterer 1999, 147 und 153)

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droht werde, bricht alles wieder auf! Hilfe … Doralis, warum sind Sie nicht hier … ich würde in Ihre Arme sinken … und schlafen, schlafen … Ade … Ade … ich muß mich mit Wasser abkühlen, und ich muß stark werden, stark, stark …« (Heinrich 1998, 177) Das androgyne Prinzip, das sich hier abzeichnet, ist nicht als eine bloße Gleichmacherei zu verstehen, es ist eine Gleichberechtigung jener Kategorien des Denkens und Handelns, die bisher von der patriarchalen Logik verdrängt wurden. Insofern als die Frau innerhalb dieses Systems ohnehin nie Subjekt im eigentlichen Sinne sein konnte, wird hier auch eine Lösung des Problems offensichtlich, die den Text als Sub-Text wie ein roter Faden durchzieht: Nicht die Auflösung des Subjekts in einen genetischen Code, sondern seine Auflösung zwischen den Polen Subjekt-Objekt ist die Antwort auf die (Subjekt-)Frage, die sich der Protagonistin die ganze Zeit über stellt. Eine solche Haltung würde jede Form von starrer Identität ausschließen und ein ständiges Sich-Wandeln nötig machen, das die Grenzen des Logozentrismus überschreitet. In eben jener ständigen Verwandlung und Neubestimmung würde die »Seelenstumpfheit«, unter der die Protagonistin leidet, wohl einer Sinnesfrische weichen. Im dichotomen Denken hingegen, so Adorno und Horkheimer, verliert das Ich notwendigerweise seine Lebendigkeit und erstarrt: »Geht es, positivistisch, im Registrieren von Gegebenem auf, ohne selbst zu geben, so schrumpft es zum Punkt, und wenn es, idealistisch, die Welt aus dem grundlosen Ursprung seiner selbst entwirft, erschöpft es sich in sturer Wiederholung.« (Horkheimer, Adorno 2004, 198) Die Ich-Erzählerin, die Tiermenschen und die Forscher leiden, wenn auch auf ganz unterschiedliche Art und Weise, unter ihrer Einsamkeit und Erstarrung. Eine von ethischen Überlegungen begleitete Überschreitung der Grenzen ihres kategorialen Denkens, wie sie die Wissenschaft in ihrer Skrupellosigkeit schon längst hinter sich gebracht hat, wäre vielleicht die Rettung. Gerade durch diese abschließende Wendung hin zum nicht-dualistischen Prinzip wird deutlich, wie unterschiedlich der gesellschaftliche und wissenschaftstheoretische Hintergrund war, auf den Jutta Heinrich und Mary Wollstonecraft Shelley in ihren Texten Bezug genommen haben. Nichtsdestotrotz ist beiden Texten eine Warnung davor eingeschrieben, den Menschen in die Position des Schöpfers zu versetzen. Die damit verbundene Macht, ebenso wie die daraus resultierende Einsamkeit, so die Aussage beider Texte, wird sich am Ende als vernichtend für den Menschen erweisen. Zumindest dann, wenn sich dessen Denken nicht gravierend verändert und die Kategorien von Subjekt und Objekt eine gänzliche Neubestimmung erfahren.

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4.5 F a zit Abschließend noch eine Zusammenfassung der wesentlichen Punkte, die die Bedeutung des Unheimlichen für Bildung im Allgemeinen und die literarische Bildung im Besonderen darstellen: • Das Unheimliche ist inhärenter Bestandteil des Literarischen, aber es ist keine »Erfindung« der Literatur, sondern die Literatur lässt damit bloß die condition humaine sichtbar werden. Wäre das nicht so, würden wir das Unheimliche gar nicht als unheimlich empfinden, weil es nichts mit uns zu tun hätte. Die Literatur lässt die Pseudo-Vertrautheit der Sprache zutage treten und versetzt in Metonymie und Metapher das Koordinatensystem der Begriffe in eine uneinholbare Bewegung. Die »Inszenierung des Unheimlichen« durch die Literatur erfolgt dadurch, dass sie den sprachlichen Grund, auf dem wir zu stehen gewohnt sind, erschüttert und damit etwas Essenzielles über die Strukturen unseres Denkens und Handelns, vor allem über die Aporien unseres Seins aussagt. Dies zu verdeutlichen muss vorrangiger Sinn und Zweck des Literaturunterrichts bleiben, andernfalls wird dieser auf Dauer keine Legitimationsgrundlage mehr haben. • Das Unheimliche ist Teil unserer Bildungstraditionen, insofern diese von den Geistern ihrer (ideengeschichtlichen) Vergangenheit bevölkert sind. In einer Zeit, in der die Ideale dieser Vergangenheit uneinholbar geworden sind, helfen weder Nostalgie noch strikte Abwendung von dieser gegenwärtigen Vergangenheit weiter. Die einzig aufrichtige Möglichkeit, die uns bleibt, ist die ständige de- und rekonstruktivistische Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte der heute geltenden Parameter. • Das Unheimliche ist Teil jeder zwischenmenschlichen Beziehung,31 insbesondere aber jener zwischen Lehrenden und Lernenden. Die kommunikative Situation, die durch vorformulierte Lehr- und Lernziele, durch Prüfungen, Standardisierungsprozesse und Evaluationen zu einer weitgehend 31 | Die »unheimlichen« Aspekte der Lehre erschöpfen sich selbstverständlich nicht in den hier bereits erwähnten Dimensionen des Geworden-Seins von Individuum und Kollektiv, sondern sind auch in dem zu suchen, was unmittelbar, also präsent ist. Darauf nimmt etwa Roland Barthes Bezug, wenn er schreibt: »Die Aufgabe [des Literaturunterrichts, Anm. N.M.] berührt jedoch nicht nur die Inhalte; sie betrifft auch die Beziehung, das Zusammenleben von Körpern; ein gelenktes und zum großen Teil durch den institutionellen Rahmen verfälschtes Zusammenleben. Das eigentliche Problem besteht darin, wie man in den Inhalt, in den Zeitraum einer Stunde sogenannten Literaturunterrichts Werte und Begierden hineintragen kann, die von der Institution nicht vorgesehen sind oder sogar von ihr verdrängt werden. Wie lassen sich darin Affekt und Feingefühl (im Sade’schen Sinne) vermitteln?« (Barthes 2002, 258)

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unaufrichtigen und fingierten solchen geworden ist, ist in besonderem Maße »gespenstisch«, weil sie nur noch bereits vorhandene Strukturen wiederholt. Die Fähigkeit, selbstständig einen Gedanken zu entwickeln, der nicht in der Beliebigkeit des eigenen Dafürhaltens versandet, ist jedoch wesentlich nicht nur als Grundlage einer demokratischen Gesellschaft, sondern auch als ein weit darüber hinaus gehender ethischer Anspruch. Der Wert dieses Vermögens, eine authentische Antwort zu geben, und der Wert der Aufmerksamkeit, die dafür vonnöten ist, muss innerhalb des Bildungssystems anerkannt werden, alles andere bedeutet über kurz oder lang die Abkehr vom Sozialen und von den Werten, zu denen sich unser Bildungssystem bekennt. • Das Unheimliche zu seinem Recht kommen zu lassen, bedeutet auf die Ansprüche eines zwar nicht radikal unzugänglichen, aber doch bedrohlichen Fremden zu antworten, das als Teil der menschlichen Existenz stets vorhanden ist, aber in der Kunst besonders deutlich in Erscheinung tritt. Diese Formen des beängstigenden Fremden nicht zu ignorieren, sondern sich ihnen antwortend zu stellen, ist immer auch eine Frage der Ethik. Inwiefern ihm auf der intersubjektiven und institutionellen Ebene unserer Bildungslandschaft Gerechtigkeit widerfährt, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit allen anderen Fragen des menschlichen Zusammenlebens.

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5. Das Fremde als das, was den Tod berührt

Überlegungen zu einem responsiven Umgang



mit dem Unfasslichen

Der Versuch, die Endlichkeit des Menschen zu begreifen, ist einerseits zum Scheitern verurteilt, andererseits eine nicht delegierbare menschliche Grundaufgabe. Über die Jahrhunderte hinweg ist daraus eine unüberschaubare Flut an literarischen, aber auch philosophischen Texten entstanden, die sich mit dem Tod befassen. Das ist in Anbetracht der Zurückhaltung, die Philosophie und Wissenschaft in der Auseinandersetzung mit dem Unheimlichen an den Tag gelegt haben, erst einmal erstaunlich. Als Gründe für das mangelnde Interesse an Phänomenen des Unheimlichen von Seiten der Wissenschaft sind schließlich vor allem die Flüchtigkeit und Opazität der Thematik genannt worden, ebenso wie deren inhärente Eigenschaft, sich dem analytischen Zugriff zu entziehen. Dem Unheimlichen scheint also mit den Mitteln der Ratio nicht beizukommen zu sein und die Gefahr, an dieser für die Vernunft uneinnehmbaren Festung zu scheitern, hat den wissenschaftlichen Tatendrang bisher beträchtlich eingeschränkt. Der Tod setzt dem intellektuellen Zugriff allerdings eine noch drastischere Grenze. Er ist, wenn man einmal von seiner Beschreibbarkeit in rein medizinischen Kategorien absieht, weder sprachlich noch sinnlich fassbar und entzieht sich dem rationalen Zugang damit absolut. Selbst ein streng dualistisches Weltbild hat seine Schwierigkeiten mit dem Tod, denn das »Gegenteil« von Leben ist schwer festzumachen, zumal die meisten Philosophen zumindest vor dem 20. Jahrhundert auf die Idee einer unsterblichen Seele nicht verzichten wollen. Bei Bernhard Waldenfels firmiert der Tod als exemplarischer Vertreter des radikal Fremden, das sich jeglichem Einordnungsversuch widersetzt und doch jede Ordnung mitbestimmt. Jeder Mensch ist sterblich, das ist eine grundlegende Einsicht, die für das subjektive Erleben dennoch uneinholbar ist. Objektiv unterscheidet sich der Mensch vom Tier darin, dass er Bewusstsein über den eigenen Tod besitzt, und durch dieses Wissen ist das Leben geprägt

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vom radikal Fremden, das jedem Einzelnen als sterbliches Wesen eingeschrieben ist: Radikal Fremdes ist genau das, was durch keine subjektiven Erwartungen und durch keine transsubjektiven Möglichkeitsbedingungen vorweggenommen werden kann. Die überschießende Erfahrung, die über bestehende Ordnungen hinausführt, verbindet sich schließlich mit einer zeitlich-räumlichen Verschiebung, die darauf beruht, daß der Selbstbezug sich nie mit sich zusammenschließt, daß der Ort der Rede nie mit dem beredten Ort, die Zeit der Rede nie mit der beredten Zeit zusammenfällt. (Waldenfels 2006, 30)

Diese Definition des radikal Fremden verdeutlicht einen Aspekt des Zusammenhangs zwischen der Literatur und dem Tod. Sie stößt, ebenso wie die Philosophie, in seiner Thematisierung an eine Grenze, die, wiewohl immer vorhanden und spürbar, hier besonders deutlich wird. Wohl gerade weil der Tod ein Prüfstein der Sprache an sich und jeder Philosophie im Besonderen ist, gibt es in der abendländischen Tradition kaum eine nennenswerte Theorie, die nicht auch versucht hätte, den Tod zu denken. Das sichere Wissen, daran scheitern zu müssen, wurde im westlichen Denken als Argument gegen derartige Versuche nicht anerkannt: Der Tod als die conditio sine qua non der bewussten menschlichen Lebensbetrachtung wurde vielmehr zum schicksalhaften Bestimmungsort, an dem das Denken ankommen muss, wenn es tief genug in die Strukturen des Lebens vorgedrungen ist. Die Befürchtung, die Sprache stelle in der Auseinandersetzung mit dem Tod kein adäquates Instrumentarium zur Verfügung, hat in anderen Kulturen zu einer von Ratio und Sprache abgewandten Auseinandersetzung mit dem Tod geführt und es ist beispielsweise die Meditation an die Stelle eines bewussten Nachdenkens über den Tod getreten. In Philosophie und Literatur hat die Auseinandersetzung mit dem Tod aber auch in der abendländischen Kultur immer an die Grenzen der Sprache gerührt. Die moderne Sprachskepsis war metaphorisch oft mit dem Tod verbunden, in der Postmoderne hat man die radikale Fremdheit der Worte schließlich als ein inhärentes Element der Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem akzeptiert. »Kein Sterbenswort,/Ihr Worte!« (Bachmann 1964, 64), heißt es bei Ingeborg Bachmann, wobei der Tod hier einerseits als Teil der alltäglichen Sprache begriffen wird, insofern das Gesagte eben gesagt und nicht mehr lebendig ist, andererseits aber auch als Gegenspieler der literarischen Sprache, die in der Lage ist, gerade das Unsagbare, Vergessene und Übersehene zu Wort kommen zu lassen und dem, was »totgeredet« wurde, wieder eine Sprache zu geben. Doch der Tod ist in jedem Fall eine unüberwindliche Grenze: »zum Tod fall dir nichts ein« (ebd. 63). Er ist, was auch immer gesagt oder geschrieben wird, stets nur das Andere, und dabei keineswegs ein Gegenteil, sondern

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anders, noch fremder, radikal fremd. Dennoch ist gerade die Literatur in den Tod so sehr verstrickt, dass sie nicht nicht an ihm vorbeischreiben oder -denken kann. Ihn auszusparen, heißt ebenfalls nicht, ihm zu entkommen. Wo die Literatur nicht vom Tod erzählt, da tut sich eine markante Leerstelle auf, die oft mehr bestimmende Kraft auf einen Text ausübt als das, was schwarz auf weiß zu lesen ist. Doch der Zusammenhang zwischen Literatur und Tod ist auf dieser oberflächlichen Ebene nur unzureichend erfassbar. Einer jener Theoretiker, der das Wesen der Literatur in ihrer Bezüglichkeit zum Tod eingehend analysiert hat – und in dieser Dimension seines Denkens auch von Jacques Derrida intensiv studiert wurde –, war Maurice Blanchot. Seinen Theorien zu diesem Thema ist daher auch ein eigenes Kapitel in diesem Buch gewidmet. Der Zusammenhang zwischen der Literatur, dem Fremden und dem Tod ist bei ihm unabkömmlicher Bestandteil einer Theorie des Literarischen, die die Produktionsseite ebenso miteinbezieht wie die Rezeptionsseite und den Text an sich. Als Schriftsteller kommt Blanchot immer wieder darauf zu sprechen, wie schwierig und dem Tod nahestehend die Aufgabe des Schreibens an sich ist: »Was der Mensch wagt, wenn er dem Werk angehört und das Werk die Suche nach der Kunst ist, ist das Äußerste, was er wagen kann: nicht nur sein Leben oder nur die Welt, inder er sich aufhält, sondern sein Wesen, sein Recht auf die Wahrheit und mehr noch, sein Recht auf den Tod.« (Blanchot 1991, 66) Blanchot bezieht sich hier auf den Tod »von jemandem« (ebd. 70), also den unpersönlichen, ereignishaften Tod, der im alltagssprachlichen oder auch medizinischen Denken und Handeln durchaus vorhanden ist, gedacht als der Endpunkt eines (verstehbaren, begreif baren) Lebens, das hier, am Ende seiner Möglichkeiten die letzte Möglichkeit ausspricht, ohne in einen Abgrund zu stürzen. Die Schriftstellerin muss dieses Verhältnis der Gewissheit zum Leben wie zum Tod aufgeben und sich einlassen auf das, was näher an den eigentlichen, den eigenen Tod heranführt. Die Aufgabe des Schriftstellers ist somit keine geringere als die, das »Wort Tod ohne Negation zu lesen, das heißt, ihm die Schärfe der Entscheidung und die Kraft zu negieren zu entziehen, das heißt, sich von der Möglichkeit und dem Wahren abzuschneiden, aber das heißt auch, sich abzuschneiden vom Tod als wahrem Ereignis, sich dem Undeutlichen und Unbestimmten auszuliefern, dem leeren Jenseits, wo das Ende die Schwere des Wiederbeginns hat« (ebd. 72). Auf diese Weise ist der Tod als ein radikal Fremdes dem literarischen Schreiben eingeschrieben, das per se und in jeder denkbaren Dimension immer ein Anderes zum uns Geläufigen darstellt. Daraus – und nicht aus einem wie auch immer gearteten aufgeschobenen oder nur in der Theorie erreichbaren Wissen – leitet sich auf Seiten der Rezeption die Unabschließbarkeit des Interpretationsprozesses ab. »Das Gedicht ist die Abwesenheit einer Antwort« (ebd. 78), schreibt Blanchot, und das bedeutet mehr, als dass es bloß Fragen aufwirft, die ohne eine klare, eindeutige Antwort bleiben müssen. Es bedeutet die Ungeheuerlichkeit des Anspruchs,

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dass wir, die Leserinnen, in der Lektüre ebenfalls an der Aufgabe unserer Gewissheiten und damit letztlich an der Vorstellung unseres »sicheren Todes« teilhaben müssen, um auf das Eine, dasselbe, das uns immer wieder aus der literarischen Welt fallen lässt, verzichten zu können: »[…] man muß versuchen das Andere zu denken, zu sprechen, indem wir uns zum Anderen verhalten, ohne Bezugnahme auf das Eine, ohne Bezugnahme auf das Selbe.« (Blanchot 1991, 122) Bliebe die dritte Dimension, der Text selbst und die ihm inhärente Todesbezogenheit. Der Tod, in diesem Sinne gedacht, ist das Aussetzen von Aktivität und Gerichtetheit, eine unendliche Passivität den Worten gegenüber, die sich niemals in den Dienst einer Sache (weder der pädagogischen, noch einer ideologischen) stellen lässt. Es wird hervorgebracht durch ein »Schreiben ohne Entwickeln« (ebd. 160), das durch die Vertiefung in die ausgehöhlte Phrase etwas Fremdes erfahrbar werden lässt: »Eine Wiederholung, die wiederholt, nicht um in Bann zu schlagen, sondern um das Sprechen vom Zauber des Sprechens selbst zu befreien und es zu mildern statt einzuhämmern […] Die Wiederholung entspricht dem ›Todestrieb‹ […] das heißt, sie entspricht der Notwendigkeit oder dem Rat jener Diskretion, die zwischen Sein und Nichts den dem Sprechen eigenen Zwischenraum einrichtet.« (Ebd.) Dort, in diesem Zwischenraum des Literarischen, ist ein anfängliches Wort im Sinne Hannah Arendts erst möglich. Der Text ließe sich demnach beschreiben als das Paradox eines Anfangs, der sich aus dem Einlassen auf den Tod heraus entwickelt. Die Fixierung Blanchots auf die Bedeutsamkeit des Todes in diesem Prozess macht manches Mal vergessen, dass er auch geschrieben hat: »Das Werk sagt: Beginn« (ebd. 52). Die untrennbare Verbindung des Gegensätzlichen in der Literatur, das ist vielleicht ihr eigentliches Wesen. Wenn es in der Folge nun um das Literarische und seine Bezüglichkeiten zum Tod geht, so wäre also dessen Kehrseite, die Anfänglichkeit, die ebenfalls eine Spielart des radikal Fremden ist, stets mitzubedenken. Doch, dies sei bereits im Voraus festgehalten, auch die nun folgenden Kapitel tun dies zu wenig. Die von Arendt zu Recht kritisierte Fixierung auf den Tod und die Vernachlässigung der Anfänglichkeit hat in der abendländischen Geschichte eine lange Tradition, auf die wohl auch meine eigene Perspektive zurückzuführen ist. Eine enzyklopädische Darstellung sämtlicher Thanatologien der abendländischen Geschichte, wie sie etwa Philippe Ariès mit seinem monumentalen (allerdings auch sehr tendenziösen) Werk versucht hat, und die genaue Auseinandersetzung mit deren Wirkungen sind an dieser Stelle nicht möglich. Dennoch soll an Hand einiger prototypischer Beispiele nachvollziehbar werden, welche Formen des Nachdenkens über den Tod in der westlichen Kultur im 20. und 21. Jahrhundert besonders wirkmächtig geworden sind und welche Implikationen die jeweiligen Denkweisen mit sich bringen.

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5.1 A rten , den Tod zu denken , im 20. und 21. J ahrhundert – von S igmund F reud bis H annah A rendt Aufklärung und Romantik haben auf ihre sehr unterschiedliche Weise bereits begonnen, den Tod ohne Gott und damit ohne ein Jenseits zu denken. Die Aufklärer hatten sich in ihrer Auseinandersetzung mit dem Tod vielfach in eine Objektivierung des Sterbeprozesses und eine Ausblendung der darüber hinausgehenden und eben nicht mehr im Leben verankerten Todesthematik geflüchtet. Die Romantikerinnen holten die Religion durch das Hintertürchen einer nicht über das Kollektiv, sondern ein qua Entgrenzung Unsterblichkeit erlangendes »Dividuum« wieder herein und nahmen dem Gedanken an den Tod so seine Spitze. Flucht und Todesverliebtheit wurden jedoch schon in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch die Allgegenwart des Todes in zwei Weltkriegen unmöglich. Die Verwerfung bis dahin geltender Paradigmen, mit denen oder gegen die der Tod bis zu diesem Zeitpunkt gedacht worden war, geschah unfreiwillig und hatte eine Abkehr von den »Grundfesten« des Unsagbaren und Undenkbaren zur Folge, die bis heute nachwirkt und deren Erschütterungen gerade in der Literatur immer noch spürbar sind. Das folgende Kapitel muss zwangsläufig lückenhaft sein, es kann die Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten des Todes, wie sie das 20. und beginnende 21. Jahrhundert entwickelt hat, nicht einmal annähernd in ihrer Gesamtheit darstellen. Dennoch möchte ich hier auf einige repräsentative Denkmodelle eingehen, denen der Tod als zentrales Moment eingeschrieben ist und die die Philosophie und Literatur gleichermaßen nachhaltig beeinflusst haben. Der Fokus liegt dabei auf den ihnen zu Grunde liegenden Annahmen über die Fremdheit des Todes.

5.1.1 Sigmund Freud Es ist heutzutage fast in Vergessenheit geraten, dass Sigmund Freuds Trieblehre nicht nur das allseits bekannte Lustprinzip definiert und ausführlich untersucht hat, sondern dass auch dessen Widerpart, der Todestrieb, in seinen Schriften immer wieder eine Rolle spielte. Zu Freuds Zeit allerdings hatte die Annahme eines »Todestriebes« besonderes Gewicht, weil sie vor dem Hintergrund eines Weltkriegs, also dem erzwungenen, allgegenwärtigen Tod, wahrgenommen wurde. Von den Eindrücken des Ersten Weltkriegs tief betroffen, formulierte Sigmund Freud 1915 erste vorsichtige Ansätze eines Konzepts, das in Richtung eines »Todestriebs« wies und in Zeitgemäßes über Krieg und Tod veröffentlicht wurde. Die Ideen, von denen hier erstmals die Rede ist, sind unverkennbar in der Erfahrung des Kriegs verwurzelt, deren detaillierte Ausarbeitung in Jenseits des Lustprinzips dürfte auf den intensiven Eindruck, ja vielleicht

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auch eine Art Traumatisierung zurückzuführen sein, die die Jahre zwischen 1914 und 1918 bei ihm verursacht hatten. Freud prägt in diesen kriegsbezogenen Schriften einerseits den Begriff des »Kulturgehorsams«, mit dem er jenen fragilen Schutzwall bezeichnet, den der Mensch um seine destruktiven Kräfte herum aufgebaut hat. Dem gegenüber stellt er die »Kulturheuchelei«, die eine allgegenwärtige Gefahr bezeichnet, die unter der Oberfläche einer derartigen hart erworbenen und seiner Natur im Grunde zuwiderlaufenden »Sittlichkeit« des Menschen lauert. Der Tod des Anderen werde Freud zufolge auch nicht unbedingt mit dem eigenen, zukünftigen Tod in Zusammenhang gebracht, schließlich sei im Grunde »jeder von uns von seiner eigenen Unsterblichkeit überzeugt« (Freud 1921, 49). Freud betrachtet das Verhältnis des Menschen zum Tode als vom Prozess der Verdrängung gekennzeichnet, der Krieg aber mache diese Ignoranz weitgehend unmöglich. Eine gesteigerte Todesbezogenheit entwickelt sich auch in Freuds eigenen Arbeiten, schließlich ist die erst zaghafte Annahme eines in der menschlichen Natur angelegten Todestriebes in Jenseits des Lustprinzips in den Jahren des Kriegs zu einem zentralen Aspekt dieser Abhandlung geworden. Zahlreiche Einschränkungen und Abschwächungen begleiten dieses für Freud selbst offenbar schwierige »Eingeständnis«, dass »es eigentlich unrichtig [sei,] von einer Herrschaft des Lustprinzips« (ebd. 5) zu sprechen. Als dessen Widerpart hat Freud dabei nicht so sehr das von ihm so bezeichnete Realitätsprinzip im Auge, das ja, wie er selbst anmerkt, nur für einen »geringen und nicht für den intensivsten Teil der Unlusterfahrungen« (ebd. 6) verantwortlich sei. Worum es ihm aber tatsächlich zu tun ist (nämlich den Todestrieb), sagt er noch lange nicht: Erst auf Seite 13 seiner Abhandlung kommt er langsam auf den Kern der hier angestellten Überlegungen zu sprechen, wenn er nämlich die berühmt gewordene Beobachtung des Kinderspiels schildert, das von Wiederholungen, dabei durchaus auch von Wiederholungen des Unangenehmen und Furchteinflößenden, geprägt ist. Der Wiederholungstrieb wird später das Zentrum seiner Analyse bilden, aber zu diesem Zeitpunkt schwächt er seine Bedeutung noch einmal ab, fast so, als wolle er selbst die Auseinandersetzung mit dem Todestrieb noch eine Weile aufschieben. »Indem das Kind aus der Passivität des Erlebens in die Aktivität des Spielens übergeht, fügt es einem Spielgefährten das Unangenehme zu, das ihm selbst widerfahren war« (ebd. 13), so beschließt Freud diesen Gedanken, verliert kein Wort über den Tod und schlägt noch einmal einen Haken, der jedoch bald wieder auf die Fährte der (zwanghaften) Wiederholungen zurückführt.1 1 | Ein »Nebenschauplatz« der ersten Kapitel von Jenseits des Lustprinzips ist die Unterscheidung zwischen »Angst«, »Furcht« und »Schrecken«. Die Abgrenzung zwischen den ersten beiden Begriffen ähnelt jener bei Heidegger sehr, allerdings ist Freuds Interesse am Einfluss des Schreckens auf Angst und Furcht von rein psychologischer Na-

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Bemerkenswert ist, wie Freud den zentralen Teil seiner Arbeit einleitet: »Was nun folgt, ist Spekulation, oft weit ausholende Spekulation […] Im Weiteren ein Versuch zur konsequenten Ausbeutung einer Idee, aus Neugierde, wohin dies führen wird.« (Ebd. 21) Es sieht so aus, als würde Freuds Rhetorik hier nicht so sehr der vorauseilenden Verteidigung einer sehr angreif baren These dienen, sondern vor allem der Verortung eines eigenen Standpunkts, der ihm zu entgleiten droht. Wie er selbst in Jenseits des Lustprinzips bemerkt, haben die Kritikerinnen der Psychoanalyse dieser immer schon vorgeworfen, alle menschlichen Regungen und Eigenheiten auf die Sexualität zurückführen zu wollen. Nun aber – das sagt Freud selbst nicht, aber das scheint auf der Hand zu liegen – ist er selbst, der Begründer seiner Zunft, dabei, deren Grundannahmen in Frage zu stellen. Doch das wird längst nicht so offensichtlich, wie es anzunehmen wäre, dafür sind Freuds weiterführende Überlegungen zu ausschweifend. Erst einmal unternimmt er einen Ausflug in die Neurowissenschaften seiner Zeit, was ihn letztlich wieder zu der in der traumatischen Neurose ausbleibenden Angstentwicklung und dem damit verbundenen Wiederholungszwang zurückführt. Dann erst, in der Kombination aus von der Biologie abgeleiteten Erkenntnissen und einer neuerlichen Hinterfragung der menschlichen Triebstruktur, findet Freud langsam zu seinem eigentlichen Thema: Ursache und Bedeutung des Todestriebs. Die Annahme, die hier im Mittelpunkt steht und Freud selbst als geradezu ungeheuerlich erscheint, ist die, dass er dem »Charakter der Triebe, vielleicht alles organischen Lebens überhaupt« (ebd. 35) auf die Schliche gekommen wäre. Die daraus gezogene Conclusio scheint auf den ersten Blick wenig spektakulär: »Ein Trieb wäre also ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes.« (Ebd.) Die Konsequenz dieser Annahme ist jedoch skandalös, auch wenn dieser Skandal in der Moderne zur Normalität geworden ist.2 Der Gedanke, den Freud hier zum ersten Mal in aller Deutlichkeit tur. Er behauptet vor allem, dass seinen Beobachtungen zufolge (vor allem jener von Kriegstraumatisierten), Angst nicht zu neurotischen Zuständen führen kann, weil ihr das Moment des Schreckens definitionsgemäß fehlt. Dieser aber verhindere eine Position der »Überlegenheit« dem gegenüber, was an Negativem widerfährt, so dass eine Verarbeitung dieses Geschehens nicht erfolgen kann. Selbstverständlich betrachtet Freud es als die Aufgabe des Arztes, das Geschehen, das durch die Schreckneurose meist vollkommen verdrängt wird, ins Gedächtnis zu holen (wo es auf Grund des Schreckens keine Spuren hinterlassen konnte) und es dort einer Verarbeitung durch den Patienten zugänglich zu machen (vgl. Freud 1921, 9f. und 16). 2 | Freud selbst verweist etwa auf die Philosophie Schopenhauers (vgl. Freud 1921, 49), die auf der Annahme beruht, dass der Tod das Ziel alles Lebens sei. Otto Weininger, der vorschlägt, ganz auf die geschlechtliche Fortpflanzung zu verzichten, ehe man eine »Durchmischung« der Geschlechter riskiere, vertritt eine ähnlich todesaffine Position,

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entwickelt, ist der einer Triebstruktur, die darauf ausgerichtet ist, vergangene Zustände wiederherzustellen oder das Bestehende zu konservieren. Jegliche Form von Fortschritt, die dem übergeordneten Wunsch nach Regression entgegensteht, wäre dem zufolge nicht vom Menschen selbst gewollt und erwirkt, sondern von äußeren Umständen erzwungen: »Die konservativen organischen Triebe haben jede dieser aufgezwungenen Abänderungen des Lebenslaufes aufgenommen und zur Wiederholung auf bewahrt und müssen so den täuschenden Eindruck von Kräften machen, die nach Veränderung und Fortschritt streben, während sie bloß ein altes Ziel auf alten und neuen Wegen zu erreichen trachten.« (Ebd. 36) Diese Annahme kratzt an der Sicht des Menschen auf seine eigene Spezies und dem damit verbundenen Narzissmus. Das höchste unter den Tieren, zur Vervollkommnung aus eigenem Antrieb und eigenen Kräften ausersehen, will also im Grunde bloß immer dahin zurück, wo es hergekommen ist,3 und alles, was wie Fortschritt wirkte, war nichts als ein (erzwungener) Umweg in den unendlichen Regress. Dieser aber bedeutet in letzter Konsequenz die Vorherrschaft des Todes über das Leben: »Das Ziel alles Lebens […] [ist] der Tod.« (Ebd.) Dies ist nun an der individuellen Entwicklungsgeschichte eines Menschen schwer nachvollziehbar, denn es ist ja eine vielfach kritisierte und zumindest zweifelhafte Annahme, dass die Zeit vor der Geburt mit dem Tod vergleichbar sei. Die menschliche Gattung allerdings hat sich aus dem Leblosen entwickelt und als Gattung beziehungsweise in dem Ausmaß, wie jeder Einzelne seine Spezies repräsentiert, könnte sie auch wieder dorthin zurückstreben. Die Bedeutung, die Freud hier dem Todestrieb zumisst, scheint übertrieben, wenn man ihm die anderen, lebensbejahenden Triebe gegenüberstellt, die die Psychoanalyse schließlich selbst auf den Begriff gebracht hat. Doch Freud scheint dazu bereit, alles über Bord und die Todesversessenheit der modernen Literatur, man denke etwa an die Gedichte Georg Trakls oder die Romane Thomas Manns, ist ohnehin bekannt. Es ist übrigens auffällig, dass die von Frauen verfasste Literatur dieser Zeit sich weit weniger intensiv mit dem Tod beschäftigt. Im Fokus dieser Literatur standen häufig sozialkritische Themen, wie sich etwa an den Texten Else Feldmanns, Else Jerusalems oder Mela Hartwigs erkennen lässt. Doch selbst das weit weniger realitätsgebundene lyrische Königinnenreich Else Lasker-Schülers ist dem Leben verpflichtet, der Tod bleibt darin ein ungeliebter Fremdling. 3 | Das ist selbstverständlich, auf die individuelle Entwicklungsgeschichte bezogen, der Leib der Mutter. Der Skandal liegt also nicht nur in der Aufwertung des Todestriebs, sondern in der Ausweitung der mütterlichen respektive weiblichen Macht, die unter Umständen stärker sein könnte als der (männlich konnotierte) Fortschrittstrieb. Freud geht in Jenseits des Lustprinzips an keiner Stelle auf diesen Zusammenhang ein, doch der Wunsch nach einem Regress in den vorgeburtlichen Zustand ist in seiner Psychoanalyse ohnehin dem Wunsch zu sterben gleichgesetzt.

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zu werfen angesichts dieser Neuentdeckung des Todes, zu der ihn Krieg und Wissenschaft (wohl in dieser Reihenfolge) gezwungen haben. In einem einzigen kurzen Absatz werden Selbsterhaltungs-, Macht- und Geltungstriebe zu Nebenerscheinungen degradiert, die einzig dazu dienen, »den eigenen Todesweg des Organismus zu sichern« (ebd. 37). Dies ist nun ein Teil von Freuds Abhandlung, den er leider nicht sehr ausführlich behandelt, der aber einen äußerst interessanten Aspekt der Feindschaft zwischen Mensch und Tod beschreibt. Nicht dass er sterblich ist, kränke den Menschen, sondern dass er sich nicht aussuchen kann, wie er stirbt. Dieses Ausgeliefertsein an den eigenen Körper, die Macht seiner Feinde oder aber – vielleicht am schlimmsten von allem – an einen bloßen Zufall, ist nicht nur ein immer noch hochaktuelles literarisches Thema, sondern führt auch zu den zentralen Fragestellungen der lebensverlängernden Medizin und der Sterbehilfe. Es ist mir hier nicht möglich, näher auf diesen Zusammenhang einzugehen, für Freud jedenfalls ist es (zumindest an dieser Stelle) eine Tatsache, dass die meisten Triebe, die der Durchsetzungskraft des Menschen zugeordnet werden können, eine freie Wahl des Todeszeitpunkts und der Todesart, nicht aber eine unendliche Verlängerung des Lebens anstreben. Doch selbst wenn sich die Partialtriebe zumindest für die Dauer des in Jenseits des Lustprinzips angestellten Gedankenexperiments dem Todestrieb unterordnen lassen, so bleibt immer noch das Lustprinzip selbst als dessen Widersacher bestehen. Darüber geht Freud nun selbst in diesem todesversessenen Aufsatz nicht einfach hinweg, vielmehr sieht er die Psyche des Menschen von einem unauflösbaren inneren Widerspruch bestimmt: »Es ist wie ein Zauderrhythmus im Leben der Organismen; die eine Triebgruppe schnellt nach vorwärts, […] die andere schnellt an einer gewissen Stelle dieses Weges zurück.« (Ebd. 39) Immer wieder äußert Freud sein erstauntes Entsetzen über die Erkenntnisse, die er hier schreibend gewinnt, immer wieder drängt sich ihm die Frage auf, ob es nicht, abgesehen von den Sexualtrieben, doch auch noch andere Triebe gibt, die nicht dem Todestrieb untergeordnet sind und sich gegen den Regress wenden. Diese Frage wird jedoch durchwegs negativ beantwortet und Freud gelangt so schließlich an jenen Punkt, an dem er vor dem Glauben an die Vervollkommnung des Menschen warnt und diesem die Theorie des Todestriebs entgegenstellt: »Vielen von uns mag es auch schwer werden, auf den Glauben zu verzichten, daß im Menschen selbst ein Trieb zur Vervollkommnung wohnt […] von dem man erwarten darf, daß er seine Entwicklung zum Übermenschen besorgen wird.« (Ebd. 41) Noch einmal bringt Freud hier seine Überzeugung auf den Punkt: Der Weg zurück – sowohl in der individuellen Entwicklungsgeschichte als auch in jener der Gattung – ist abgeschnitten, daher bleibt dem Menschen nichts anderes übrig als voranzuschreiten. Sein eigentliches Ziel wird er auf diesem Wege aber nie erreichen, alle Fortschritts-

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handlungen, die dieser Theorie zufolge Ersatzhandlungen sind, führen nicht zur vollen Befriedigung des Bedürfnisses, das sie hervorgerufen hat. Der Freud’schen Psychoanalyse lässt sich vieles vorwerfen, nicht zuletzt eine gewisse Kontingenz in der eigenen Argumentation, die aber meistens von sich behauptet, streng wissenschaftlichen Kriterien gefolgt zu sein. Für Jenseits des Lustprinzips stellt Freud keine derartigen Behauptungen auf und tatsächlich springt er hier von einem Gebiet der Wissenschaft, über das er offensichtlich kein vertieftes Wissen besitzt, zum nächsten, wobei immer wieder willkürlich Argumente aneinandergereiht und assoziative Gedankengänge als Kausalketten ausgegeben werden. Die Stärke von Jenseits des Lustprinzips ist dabei jene intuitive Weitsicht, mit der Freud hier die moderne Todesproblematik auf den Punkt bringt. Zu dieser gehört auch die erstmalige explizite Infragestellung der Natürlichkeit des Todes, wobei diese selbst heute noch nicht »erwiesen« und somit Gegenstand gentechnischer Utopien, aber auch ein obligater Topos zahlreicher Science-Fiction-Texte und Filme geworden ist. Tatsächlich scheint es so, als besitze der Tod des Lebendigen keine unbedingte Notwendigkeit, auch wenn sich dies bisher lediglich an einzelligen Lebewesen nachweisen lässt. Das Nachdenken über die Unsterblichkeit liegt somit nicht völlig jenseits aller biologischen Möglichkeiten, wohl aber jenseits der menschlichen. Freud lässt auch diesen Gedanken an einen eventuellen »Sieg« des Menschen über den Tod noch kurz anklingen, dann wendet er sich aber wieder seinem Kernthema, den Todestrieben zu. In Bezugnahme auf Barbara Low, die das sogenannte »Nirwanaprinzip« erstmals beschrieben hat, stellt sich Freud nochmals auf die Seite derer, die davon ausgehen, dass die Psyche des Menschen auf ein möglichst niedriges Niveau an Reizspannung zielt und damit den konservativen Kräften zutiefst verbunden ist (vgl. ebd. 55). Wenn dem so ist, dann gibt es auch so etwas wie den »Todestrieb«. Es fragt sich nur, ob dieser richtig bezeichnet ist, oder vielleicht doch die Sehnsucht nach einem möglichst gleichförmigen, also jenseits von Raum und Zeit liegenden Sein meint, das von der Last des Ich-Gefühls entbunden ist, in dem alle Bedüfnisse befriedigt sind. Dies entspräche allerdings nicht dem Tod, über den wir kein solches Wissen besitzen können, sondern dem pränatalen Zustand. Freud geht jedenfalls davon aus, dass das, was er als das »Ziel« der menschlichen Psyche definiert, der Tod sei und er bleibt einem streng dualistischen Denken verhaftet, auch wenn er dafür in seiner Argumentation wenig Beweise findet. Dennoch geht er davon aus, dass einem Todestrieb auch Lebenstriebe entgegenstehen müssten, allerdings arbeitet er hier »an einer Gleichung mit zwei Unbekannten« (ebd. 57). An dieser Stelle nimmt die Abhandlung dann auch noch einmal eine überraschende Wendung, kommt Freud doch von den zu seiner Zeit neuesten Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften und der psychoanalytischen Forschung zurück auf Platons Symposion. Dort entwickelt Aristophanes die Legende von den ursprünglich drei Geschlechtern,

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von denen das »vollkommenste« das androgyne war, das sich selbst genügte. Erst die Teilung dieser ursprünglichen Ganzheitswesen habe zum Sexualtrieb und der damit verbundenen Abhängigkeit von einem gegengeschlechtlichen Anderen geführt. Freud beschließt seine Reflexionen über dieses Thema mit einer recht merkwürdigen Überlegung: »Sollen wir, dem Wink des Dichterphilosophen folgend, die Annahme wagen, daß die lebende Substanz bei ihrer Belebung in kleine Partikel zerrissen wurde, die seither durch die Sexualtriebe ihre Wiedervereinigung anstreben? […] Ich glaube, es ist hier die Stelle, abzubrechen.« (Ebd. 57f.) Der letzte Absatz von Freuds Abhandlung wirkt dann wieder wesentlich nüchterner und es ist hier noch nicht einmal mehr die Rede vom Todestrieb, vielmehr wird das Lustprinzip nun doch wieder in seinen ursprünglichen hohen Rang versetzt. Alle vorhergehenden Argumente für das Vorhandensein eines starken Todestriebs scheinen nun relativiert, wenn nicht gar aufgehoben. Eine ausführliche Erklärung für diese Wendung gibt es nicht, den Abschluss von Jenseits des Lustprinzips bildet (wie so oft bei Freud) eine vage, aber dennoch selbstbewusste Behauptung: »Aber all dies, worüber das Lustprinzip noch keine Macht bekommen hat, brauchte darum noch nicht im Gegensatz zu ihm zu stehen, und die Aufgabe ist noch ungelöst, das Verhältnis der triebhaften Widerholungsvorgänge zur Herrschaft des Lustprinzips zu bestimmen.« (Ebd. 62)

5.1.2 Maurice Blanchot Die paradoxe, unauflösbare Verbindung zwischen Tod und Literatur ist in Blanchots Denken zentral, wobei zwei längere Abhandlungen bereits im Titel auf diese Thematik hinweisen. Einerseits handelt es sich dabei um das 1949 in La Part du Feu veröffentlichte Kapitel »La littérature et le droit à la mort«, andererseits um das vierte Kapitel seines erstmals 1955 erschienenen theoretischen Hauptwerks L’espace littéraire. Betrachtet man beide Abhandlungen zusammen, so eröffnet sich eine Sicht auf die Literatur als eines Bereichs, der in jeder seiner Dimensionen vom Tod gekennzeichnet ist, in vieler Hinsicht diesem sogar sein »Leben« verdankt. Das ist der erste und grundlegende Widerspruch in Blanchots Auseinandersetzung mit Literatur und Tod: Jene die Welt und die Idee vernichtenden Aspekte des schriftstellerischen Prozesses sind gerade das, was Leben hervorbringt und was etwa Rose Ausländer mit der Rede vom Schreiben als Überleben gemeint hat. Das ist von der Idee eines Schreibens als Therapie weit entfernt und bezieht sich auf die existenziellen Fragen, die das Tun der Schriftstellerin aufwirft und mit der eigenen Abgründigkeit konfrontiert. Die Paradoxie literarischen Schaffens betrifft nun laut Blanchot alle Bereiche, auch die reale Existenz des Schriftstellers, der sich als einen Schreibenden definiert und sich damit nicht nur in die größte denkbare Unsicherheit

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begibt, sondern auch die eigene »Auslöschung« besiegelt. Der Schriftsteller weiß nicht, ob er ein solcher ist, er muss schreiben, um es zu erfahren, und selbst das fertige »Produkt« wird seine Unsicherheit nicht reduzieren. Diese Erfahrung ragt auch in den im Entstehen begriffenen Text hinein, der sich ebenso wenig festschreiben, also definieren lässt und sich erst im Tun offenbaren wird: »[…] sie hängt von ihm ab, von seinem Suchen, Abhängigkeit, die ihn jedoch nicht zum Herrn dessen macht, was er sucht, sondern ihn seiner selbst unsicher und gleichsam inexistent werden lässt.« (Blanchot 2012, 85)4 Die Forderung, die der Text an seinen Verfasser stellt, ist dabei fundamental: Sie nimmt das Leben des Autors unwiderruflich in die Pflicht und verlangt nach der Annullierung des schreibenden Ich, das ganz Gegenstand seines Schreibens werden muss und doch weder über dieses verfügen noch dieses selbst werden kann. Der Text als Tod des Autors, Schreiben als Einübung ins Sterben, in ein zufriedenes Sterben, so sieht Blanchot den Kern des Verhältnisses zwischen Autor und Text: »[…] doch man muss fähig sein, sich mit dem Tod zufrieden zu geben, in der höchsten Unzufriedenheit die höchste Befriedigung zu finden und im Augenblick des Sterbens die Klarheit des Blicks zu bewahren, die von einem solchen Gleichgewicht kommt.« (Ebd. 90)5 Mit dem Tod in eine »Beziehung der Freiheit« (ebd. 95) treten zu können, das ist laut Blanchot das einzig erreichbare Ziel des Autors und das meint wohl auch Heidegger, wenn er die Auseinandersetzung mit der Angst als die einzige Möglichkeit beschreibt, zu einem jemeinigen und eigentlichen, also würdevollen Sein zu gelangen.6 Doch selbst in der Flucht vor der Auseinandersetzung mit dem Tod, die Heidegger als solche verachtet, sieht Blanchot keinen Ausweg. Der Tod ist unumgänglich und zwar nicht nur als Ende des Daseins, sondern als ständige Präsenz der Absenz. Diese zu empfinden, wird keinem menschlichen Wesen mit einem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit erspart bleiben. Sie ist nicht nur relevant für diejenigen, die sich der (literarischen) Auseinandersetzung mit jenem Abgrund, den die Sprache bedeutet, von Berufs wegen verschrieben haben: »Das zeigt bereits, dass die Menschen, wenn sie im Allgemeinen nicht an den Tod denken, sich ihm entziehen, ebendies zweifellos tun, um ihm zu entfliehen und sich vor ihm zu verbergen, doch dieses Ausweichmanöver ist 4 | »[…] elle dépend de lui, de sa recherche, dépendance qui toutefois ne le rend pas maître de ce qu’il cherche, mais le rend incertain de lui-même et comme inexistant.« (Blanchot 1955, 102) 5 | »Oui, il faut mourir dans le mourant, la vérité l’exige, mais il faut être capable de se satisfaire de la mort, de trouver dans la suprême insatisfaction la suprême satisfaction et de maintenir, à l’instant de mourir, la clarté de regard qui vient d’un tel équilibre.« (Blanchot 1955, 108) 6 | Blanchot nimmt an dieser Stelle keinen direkten Bezug auf Heidegger.

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nur möglich, weil der Tod selbst immerwährende Flucht vor dem Tod ist, weil er die Tiefe des Verbergens ist. So ist das Sich-vor-ihm-Verstecken in gewisser Weise ein Sich-in-ihm-Verstecken.« (Ebd. 94)7 Der Tod, der bei Blanchot nicht nur oder am wenigsten als Lebensende gedacht wird, sondern als stets präsente Kehrseite alles Seienden und damit Sagbaren, gewinnt in dieser Perspektive, die eine Abwendung unmöglich, eine bewusste Hinwendung aber zu einem lebensbejahenden Akt macht, eine gewisse Vertrautheit. Jeder, der spricht, der also Worte benutzt, die das Ding töten und es in einem kommensurablen Begriff erstarren lassen, ist Vertrauter und Handlanger des Todes. Jedes Sagen, vielmehr noch jedes Festschreiben führt auf die Spur des Leblosen, vorerst zumindest, denn das literarische Sagen und Schreiben nimmt noch einmal eine andere Wendung, der Blanchot in La Part du Feu seine ganze Aufmerksamkeit widmet. So scheint der Tod, der bei Blanchot als des Lebendigen und der Lebenden und Sprechenden bedürftig gezeigt wird, erst einmal an Fremdheit zu verlieren und als eine alltägliche Erfahrung betrachtet zu werden, wenn auch in einem ganz anderen Sinne, als das etwa bei Philippe Ariès geschieht. Doch von einer beruhigenden Vertrautheit mit dem »eigentlichen Ja-Sager« (vgl. Rilke 1991, 269) will Blanchot schon im nächsten Moment nichts mehr wissen. Ergreifen oder besitzen lässt sich der Tod, so wie er ihn versteht, nicht. Die Vorstellung eines Todes, der die unbefriedigten Bedürfnisse der Lebenden erfüllt und diesen Anlass zu Hoffnung und Freude gibt, betrachtet er als illusorisch und der irreduziblen Fremdheit des Todes unangemessen: »Ein Tod, frei, nützlich, bewusst, den Lebenden angenehm und sich selbst treu, ist ein Tod, der dem Tod nicht begegnet ist, in dem viel vom Leben die Rede ist, in dem jedoch nicht die Sprache ohne Vernehmen vernommen wird.« (Blanchot 2012, 100)8 Jeder Versuch, sich den Tod gefügig zu machen, nähert sich Blanchot zufolge von der Seite, die am wenigsten dazu geeignet ist, ihn zu erreichen, nämlich von der des Lebens. Aus dieser Logik heraus betrachtet Blanchot auch den Selbstmord als eine Hommage an das Präsens, die das Unmögliche versucht, nämlich das, was abwesend ist und niemals ergriffen, also in eine bewusste Tat verwandelt werden kann, zu »erfassen«: »Der Suizid ist darin nicht das, was den Tod empfängt, er ist vielmehr das, was ihn als Zukunft abschaffen 7 | »Cela montre déjà que, si les hommes en général ne pensent pas à la mort, se dérobent devant elle, c’est sans doute pour la fuir et se dissimuler à elle, mais cette dérobade n’est possible que parce que la mort elle-même est fuite perpétuelle devant la mort, parce qu’elle est la profondeur de la dissimulation. Ainsi se dissimuler à elle, c’est d’une certaine manière se dissimuler en elle.« (Blanchot 1955, 114) 8 | »Une mort libre, utile, consciente, agréable aux vivants et fidèle à soi-même, est une mort qui n’a pas rencontré la mort, où il est beaucoup parlé de la vie, mais où ne s’entend pas le langage sans entente à partir duquel parler est comme un don nouveau.« (Blanchot 1955, 123)

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möchte, ihm jenen Anteil an der Zukunft entwenden, der wie sein Wesen ist, ihn oberflächlich machen, konsistenzlos und gefahrlos.« (Ebd. 104)9 Aus dieser Perspektive betrachtet wird der Selbstmord zu einem höchst widersprüchlichen Akt, der versucht, das absolute Geschieht-mir in ein Ich-lasse-Geschehen zu verwandeln. Blanchot betrachtet dies als einen Versuch, der zum Scheitern verurteilt ist und dennoch als denkbarer Ausweg für viele eine Notwendigkeit darstellt. Blanchot zufolge ist der Selbstmord der Versuch einer Setzung des eigenen Willens dort, wo es keine Aktivität mehr geben kann, wo es per definitionem keinen Entschluss, schon gar keinen bewusst getroffenen mehr geben kann. Ein Versuch also, dem absolut Fremden das Gepräge des Eigenen zu verleihen; dies mache, so folgert Blanchot, den Selbstmord der Kunst wesensverwandt (vgl. ebd. 105). Die Dichtung ist also in ihrer Absicht von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Dieser »Absicht« des Schriftstellers widmet sich Blanchot in La Part du Feu und beschreibt sie dort vorerst als einen Versuch, das unantastbare Innerste der Dinge, das wahre Wesen der Welt in seiner (Leben und Tod umfassenden) Ganzheit zu berühren. Mit Mallarmé macht Blanchot deutlich, dass dieser Versuch eines Erfassens der Absenz – ein in sich widersprüchliches Unterfangen – die Vergeblichkeit der schriftstellerischen Absicht bedeutet, »[…] nicht weil im Unwirklichen etwas fortbestünde, weil die Ablehnung nicht ausreichend gewesen wäre und die Arbeit der Negation zu früh beendet, sondern weil es das ›nichts‹ [rien] ist, das, wenn es nichts gibt, nicht mehr negiert werden kann« (ebd. 111).10 Unmittelbarkeit, tatsächlich vergangenheits- und zukunftslose Präsenz scheint für den Menschen kaum erreichbar zu sein, wenn überhaupt, dann nur durch lange meditative Einübung und als ein temporärer Zustand der Alleinheit, der unio mystica, wie sie sich etwa Robert Musils Protagonist im Mann ohne Eigenschaften als Lösung seiner »individuellen« Probleme erträumt. Aber ein absolutes Jetzt ist zumindest als utopischer Zustand denkbar, vielleicht sogar in einer dauerhaften oder iterativen Form. Die Absenz dagegen ist für das menschliche Bewusstsein unzugänglich – Ende jeglicher Vorstellung. Wenn aber alles vernichtet ist, alle Worte verstummt sind – was in literarischen Texten durchaus geschehen kann –, dann wird dieses Nichts zumindest erahnbar, ja es drängt sich bisweilen sogar auf. Solche Momente in der Literatur lassen sich schwer ertragen. An dieser Grenze eines radikal Fremden scheitert jegliche Repräsentation, die literarischen Strategien mit dieser Gren9 | »Le suicide en cela n’est pas ce qui accueille la mort, il est plutôt ce qui voudrait la supprimer comme future, lui ôter cette part d’avenir qui est comme son essence, la rendre superficielle, sans épaisseur et sans danger.« (Blanchot 1955, 127) 10 | »[…] non pas parce que dans l’irréel subsisterait quelque chose, parce que la récusation aurait été insuffisante et le travail de la négation arrêté trop tôt, mais parce que, quand il n’y a rien, c’est le rien qui ne peut plus être nié.« (Blanchot 1955, 136)

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ze umzugehen aber sind zahlreich. Mallarmé, de Sade und auch Lautréamont haben mehrfach versucht, sie zu überschreiten, und sind auf großartige Weise daran gescheitert. Blanchots Bewunderung gilt diesem Scheitern, weshalb er sich in seinen theoretischen Texten auch immer wieder mit diesen Schriftstellern beschäftigt. Suchte man eine literarische Antithese zu den Werken des Comte de Lautréamont, Donatien Alphonse François de Sades oder jenen Stéphane Mallarmés, so würde einem nicht zuletzt Rainer Maria Rilke einfallen – und doch ist gerade er Blanchots letzter literarischer Bezugspunkt in La tâche de mourir et la tâche artistique.11 Der Gedanke, den er aus Rilkes intensiver literarischer Auseinandersetzung mit dem Tod herausarbeitet, ist jener eines »guten Todes«, der eng mit der Vorstellung einer »Jemeinigkeit des Todes« zusammenhängt, wie sie Heidegger entwickelt. Er stellt dieser den »schlechten« Tod gegenüber, einen Tod also, der nicht authentisch ist und über jene kommt, die den Gedanken an die eigene Sterblichkeit bis zum Schluss verdrängen und so unvorbereitet vom Tod getroffen werden. Die gegenteilige Vorstellung eines solchen Übermannt-Werdens wäre die eines Todes, den der Sterbende bereits kennt, begrüßt und dem er sich freiwillig überlässt. Eine seltsame, gerade nach den vorangegangenen Ausführungen unmöglich erscheinende Todesvorstellung, die Blanchot hier mit Rilke darlegt. Doch die absolute Fremdheit des Todes bleibt auch in dieser asymptotischen Annäherung erhalten, die nicht einem erreichbaren Ziel zustrebt, sondern eine wahrgenommene Verantwortlichkeit für den eigenen Tod bedeutet: »Für diese Intimität, der ich mich nähern kann, bleibe ich verantwortlich.« (Ebd. 126)12 Die Idee einer letztlich uneinlösbaren Verantwortung gegenüber einem Anderen, dessen Fremdheit unantastbar bleibt und doch einen unabweisbaren Anspruch stellt, erinnert an Emmanuel Lévinas, der den anderen Menschen als Träger dieser Verantwortlichkeit sieht. Blanchots Rilke-Lektüre verlegt aber den Schauplatz der Begegnung zwischen dem Eigenen und den Ansprüchen eines radikal Fremden ins Innere des Menschen, wo das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit stets Fragen aufwirft, die niemals beantwortet werden können: »[…] doch dieses Werk ist jenseits von mir, es ist jener Teil von mir, den ich nicht erhelle, den ich nicht erreiche und

11 | Wesentlich subtiler und unspektakulärer als die hier genannten Schriftsteller bewegt sich auch Judith Hermann mit ihrem Erzählband Alice zwischen diesen beiden Polen: einer kompromisslosen Annäherung an das Nichts, die sich an dieses verliert, und der Rilkeschen Vorstellung eines guten Umgangs mit dem eigenen und dem fremden Tod, für die man gleichermaßen Verantwortung trägt. 12 | »De cette intimité que je ne puis approcher, je demeure responsable.« (Blanchot 1955, 160)

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dessen Herr ich nicht bin.« (Ebd. 127)13 Wer diese nie zu erfüllende Aufgabe in seinem Leben betreibt, der könne zu einem Tod gelangen, der immer noch fremd, aber nicht entfremdet ist. Der Tod als die immer mit-anwesende Kehrseite des Lebens erfährt hier noch einmal eine neue Betrachtung, insofern seine Immanenz im Leben nicht als automatisch gegeben angenommen wird, sondern erst mühevoll erreicht werden muss. Jene, die den Tod verdrängen und über seine stille Gegenwart hinwegleben, leben nicht mit dem Tod, sondern im Tod, wie Blanchot ausführt, sie verleihen gerade durch diese Ignoranz dem Tod eine Macht, die das Leben selbst mortifiziert. Dem Tod begegnen bedeutet hingegen eine Haltung zu finden, deren »Tun« reine Passivität ist und deren Hingabe an ein Unbekanntes absolut ist: »[…] in ihm muss man das absolut Fremde vernehmen, dem gehorchen, was uns übersteigt, und dem treu sein, was uns ausschließt.« (Ebd. 128)14 Die Sprache reißt das Ding aus seinem unmittelbaren Kontext und tötet es damit erst einmal, indem es das, was lebendig ist und atmet, was unfassbar reich und in eine Exteriorität verwoben ist, von seiner Einzigartigkeit auf einen allgemeinen Begriff bringt. Die literarische Sprache tötet genauso, aber im Gegensatz zur Alltagssprache ist ihre Geste eine – wenn auch von vorneherein vergebliche – der Wiedergutmachung. Blanchot beschreibt diese Eigenschaft der Literatur, dem durch das Sagen zum Objekt degradierten Lebendigen wieder einen Sinn – einen ihm angemessenen und damit unfassbaren Sinn – zu verleihen, als eine Für-Sorge: »Die Sorge der Literatur gilt dann der Realität der Dinge, ihrer unbekannten, freien und stummen Existenz.« (Blanchot 1982, 99)15 Die Schriftstellerin ist so betrachtet eine Übersetzerin, die sich von der Unmittelbarkeit des Erlebens abwenden muss, um im »Weltinnenraum« das eigentliche Sein der Dinge zur Sprache kommen zu lassen. Die Unterscheidung zwischen einer »guten« und einer »schlechten« Form dieser Innerlichkeit wird von Blanchot dahingehend getroffen, dass der literarische Zugriff auf die Welt als »gute« Innerlichkeit nicht darauf hinausläuft, sich in ein Inneres zurückzuziehen, um das Außen abzuwerten. Die für die schriftstellerische Tätigkeit notwendige Verinnerlichung der Außenwelt betrachtet er vielmehr als einen Dienst an den Dingen, der diesen ihre Eigentlichkeit, die ihnen von den Worten gewaltsam entrissen wurden, wiederzugeben bemüht ist. Der Dichter lässt sich dafür von den Dingen in parasitärer Weise befallen, sein Ansinnen 13 | »J’ai quelque chose à faire pour la faire, j’ai tout à faire, elle doit être mon œuvre, mais cette œuvre est au-delá de moi, elle est cette partie de moi que je n’éclaire pas, que je n’atteins pas et dont je ne suis pas maître.« (Blanchot 1955, 160) 14 | »[…] il faut entendre en elle l’absolument étrange, obéir á ce qui nous dépasse et être fidèle à ce qui nous exclut.« (Blanchot 1955, 163) 15 | »La littérature est alors le souci de la realité des choses, de leur existence inconnue, libre et silencieuse.« (Blanchot 1949, 319)

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ist es, »[…] um sie an dieser Verinnerlichung teilhaben zu lassen, wo sie ihren Gebrauchswert verlieren, ihre verfälschte Natur, und wo sie auch ihre engen Begrenzungen verlieren, um in ihre wahre Tiefe vorzustoßen.« (Blanchot 2012, 142)16 Diese Aufmerksamkeit dem eigentlichen Sein der Dinge gegenüber bedeutet eine Auseinandersetzung mit dem, was nicht offensichtlich zutage tritt, mit dem, was verborgen und dem menschlichen Bewusstsein nicht unmittelbar zugänglich ist. Rilke beschreibt dieses Verhältnis zwischen dem Schriftsteller und den Dingen, denen er verpflichtet ist, in einem berühmt gewordenen Satz, den auch Blanchot zitiert: Verwandelt? Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, daß ihr Wesen in uns ›unsichtbar‹ wieder aufersteht. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l’accumuler dans la grande ruche d’or de l’Invisible [Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen]. (Rilke 1991, 376)17

Dieser Zugang zum Unsichtbaren fordert völlige Hingabe, die Selbstaufgabe eines schreibenden »Ich«, er fordert »[g]enau das: unsere Schnelligkeit im Entschwinden, unsere Fähigkeit zu vergehen, unsere Zerbrechlichkeit, unsere Hinfälligkeit, unsere Todesbegabung.« (Blanchot 2012, 143)18 Wieder lässt sich die Forderung, die in diesem Fall an die Dichterin gestellt wird, nur in paradoxen Wendungen fassen. Diese Aufgabe erfordert Mühe, aber eine Mühe, die nicht »unternommen« werden darf. Es ist ein sinnvolles Unterfangen im wahrsten Sinne des Wortes, aber dieser Sinn ist niemals fassbar. Die Worte werden im Zuge dieses Prozesses klar und gerecht, in dem sie sich im Schreibenden verinnerlichen und wieder an die sprachliche Oberfläche gelangen, aber sie lassen sich nicht mehr auf den Punkt bringen. Sie werden beweglich und führen den, der sie zu ergreifen meint, anderswohin und immer weiter, nicht in einer Kausalkette, sondern in Schleifen, letztlich weisen sie auf sich selbst zurück, werden ihr eigener Inhalt. »[…] und diese Verwandlung, diese Erfüllung des Sichtbaren im Unsichtbaren, deren Last wir tragen, ist die Auf-

16 | »Pour les faire participer à cette intériorisation où elles perdent leur valeur d’usage, leur nature faussée et où elles perdent aussi leurs étroits bornes pour pénétrer dans leur vraie profondeur.« (Blanchot 1955, 180) – So ließe sich auch der literarische Anspruch beschreiben, der sich in Alice langsam entwickelt. 17 | Rilke schreibt diesen Satz in einem Brief an den polnischen Dichter, Verleger und Übersetzer Witold Hulewicz. Er bezieht sich dabei auf die Duineser Elegien. 18 | »Cela précisément: notre promptitude à disparaître, notre aptitude à périr, notre fragilité, notre caducité, notre don de mort.« (Blanchot 1955, 182)

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gabe zu sterben selbst« (ebd. 143),19 so zitiert Blanchot Emmanuel Lévinas, der einmal mehr die ethische Komponente dieses Geschehens betont, in dem den Dingen, die nicht mehr als Objekt, sondern als »Andere« betrachtet werden, Gerechtigkeit widerfährt. Das also sei die Aufgabe des Schriftstellers, einen Raum zu öffnen,20 in dem es keine Präsenz mehr gibt und wo auch das Repräsentieren ein Ende findet in der sich bis auf den (Ab-)Grund ihres Seins entziehenden Absenz der Dinge. Nicht das schreibende Ich erfüllt also den literarischen Raum mit Sprache, sondern die Dinge selbst finden ihre Worte und dehnen sich aus, über die Grenzen des Seienden hinweg in jene Domäne, die der Tod beherrscht. Rilke hatte bekanntermaßen zwei prägende Erlebnisse, die gemeinhin als mystisch bezeichnet werden und für die die beiden Orte Capri und Duino stehen. Dort erfuhr er, wie er über sich selbst in der dritten Person schreibend erklärt, die Nähe des Todes, der ihn gerade deshalb nicht erschreckte, weil er dessen Reich bereits kennen gelernt hatte. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass er dieses »darüber hinaus«, den Verlust des Ich und das Existieren in einem Außen, das dem Wesen der Dinge näher steht, als es die alltägliche Erfahrung und die damit verbundene Sprache jemals könnte, in seiner Dichtung kennen gelernt hat. Die Kunst wählt nicht, sie »macht« nichts, sondern sie nimmt auf, ist pures Empfangen, wie es etwa auch Hélène Cixous in Anlehnung an Clarice Lispector beschreibt. Blanchot stellt den Zusammenhang zwischen dieser absoluten Passivität des künstlerischen Schaffens und jener des Todes gegen Ende des Kapitels noch einmal in aller Deutlichkeit dar: Dieser interesselose Blick, ohne Zukunft und wie aus dem Schoß des Todes, durch den »sich alle Gegenstände […] entfernter und zugleich irgendwie wahrer g[e]ben«, ist der Blick der mystischen Erfahrung von Duino, doch ist es auch der Blick der »Kunst«, und es ist richtig zu sagen, dass die Erfahrung des Künstlers eine ekstatische Erfahrung ist und dass sie, wie diese, eine Erfahrung des Todes ist. […] die Dinge bieten sich nun dar in der unerschöpflichen Fruchtbarkeit ihres Sinnes, den unsere Sichtweise für gewöhnlich nicht kennt, sie, die nur zu einer Ansicht fähig ist […]. (Blanchot 2012, 154ff.) 21 19 | »[…] et cette transformation, cet accomplissement du visible en l’invisible dont nous avons la charge, est la tâche même de mourir« (Blanchot 1955, 182f.). 20 | Das Werk, aus dem der zitierte Text stammt, heißt aus gutem Grund L’espace littéraire. 21 | »Ce regard désintéressé, sans avenir, et comme du sein de la mort, par lequel ›toutes les choses se donnent d’une manière à la fois plus éloignée et en quelque sorte plus vraie‹, et le regard de l’expérience mystique de Duino, mais c’est aussi le regard de ›l’art‹, et il est juste de dire que l’expérience de l’artiste est une expérience extatique et qu’elle est, comme celle-ci, une expérience de la mort. […] les choses s’offrent alors dans la fécondité inépuisable de leur sens que notre vision habituellement ignore, elle qui n’est capable que d’une seul point de vue […].« (Blanchot 1955, 198)

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Mallarmés Suche nach der Unmittelbarkeit des literarischen Erlebens und Rilkes Vorstellung von einem Raum, den nur die Kunst zu öffnen imstande ist und der in eine Dimension hineinragt, die nicht mehr von dieser Welt ist, bilden die Koordinaten des Netzes, das Blanchot zwischen der Literatur und dem Tod aufspannt. Sprache ist hier kein Benennen mehr, sie wird vielmehr zu einem Ereignis ohne Autor, das sich selbst perpetuiert und negiert, um aus dieser Asche wieder aufzuerstehen. In La Part du Feu bereitet Blanchot die Gedankengänge vor, die er in L’espace littéraire wieder aufgreift und weiterverfolgt. Einige der Überlegungen, die er hier entwickelt, passen in seine hauptsächlich entlang der Dichtungen von Mallarmé und Rilke entwickelten Überlegungen zur Todesnähe der Literatur nicht mehr hinein, sie sind für die vorliegende Arbeit aber dennoch von besonderer Relevanz und sollen deshalb noch kurz zusammengefasst werden: Ein bemerkenswerter Gedanke, den Blanchot in La part du feu entwickelt, betrifft zwar nicht direkt den Tod, aber doch die Fremdheit, der die Autorin in allen Dimensionen ihres künstlerischen Seins ausgesetzt ist. Die Notwendigkeit der Aufgabe des schreibenden Ichs, man könnte auch sagen die Selbstaufgabe, oder, stärker noch, die Selbstauslöschung, die eine Grundvoraussetzung jeglichen künstlerischen Tuns darstellt, wird als eine radikale Selbstentfremdung beschrieben, die jedoch im Moment des Schaffens nicht als solche empfunden wird. Doch die Fremdheit, die das Verhältnis zwischen Autorin und Werk bestimmt, setzt sich auf einer anderen Ebene weiter fort, wenn der Text beendet und gedruckt, von zwei Buchdeckeln begrenzt und dem Lesepublikum preisgegeben ist. Das Interesse, das diesem Werk nun entgegengebracht wird, verändert auch die Perspektive des Autors auf das, was er – in Selbstaufgabe und Entäußerung an das innerste Wesen der Dinge – hervorgebracht hat. Nach dem Prozess des Schreibens, wenn die Schreiberin wieder in die alltägliche Sprache zurückkehrt und die Welt und das fertige Buch unter einem notwendigerweise perspektivierten Aspekt betrachtet, beginnt ein neuerlicher Entfremdungsprozess, der auf den Blick der Anderen in einem Sartre’schen Sinne zurückzuführen ist: »Das Werk ist ihm entschwunden, ist das Werk anderer geworden.« (Blanchot 1982, 24)22 Der Schriftsteller sieht sein Werk, das unabgeschlossen und dennoch vollendet in sich selbst geruht hat, von den Blicken der Anderen entfremdet: Sein bloßes »da sein« verwandelt sich in ein »wird gelesen«; die Lektüre aber findet zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt statt, der die Rezeption beeinflusst, es also seiner ästhetischen Zeitlosigkeit beraubt. Das Werk, das unter so großen Anstrengungen der Welt enthoben wurde, wird von dieser wieder in Anspruch genommen, »seine Gleichgültigkeit nimmt heuchelnd an der Leidenschaft aller teil« 22 | »L’œuvre pour lui a disparu, elle devient l’œuvre des autres.« (Blanchot 1949, 298)

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(ebd. 37).23 Der Schriftsteller selbst, der an all dem teilhat, der sich weder vor den Ansprüchen seiner Kunst noch vor jenen der Welt schützen kann, wird so zum Verhandlungsort« einander widerstrebender und (radikal) fremder Kräfte. Blanchot betrachtet das Leben der Dichter daher als einen schizophrenen Zustand, der sich niemals aufheben lässt. Leben und Schaffen der Schriftstellerin sind dieser Widerspruch, der eine immense Spannung erzeugt, die aus der Absolutheit dieser mannigfaltigen Ansprüche resultiert: »Die Schwierigkeit liegt darin, daß der Schriftsteller nicht nur mehrere Personen in einer einzigen vereinigt, sondern ein jedes seiner Momente alle anderen verneint […] In ein und demselben Augenblick hat der Schriftsteller mehreren absoluten und absolut verschiedenen Geboten zu entsprechen.« (Ebd. 42)24 Das bedeutet einerseits, dass die Schriftstellerin, ganz abseits jeder Psychologie, man könnte vielleicht sagen aus den handwerklichen Bedingungen ihres Tuns heraus, einen privilegierten Zugang nicht nur zum Fremden, sondern auch zum Absoluten hat. Andererseits verweist Blanchot in seinen Reflexionen über die Zerrissenheit der dichtenden Existenz auf die Gewaltsamkeit, die diesem Prozess des immer wieder Aus-der-Welt-Tretens und wieder In-diese-Zurückkehrens innewohnt. Es ist dies eine Gewalt, die auch den schöpferischen Umgang mit der Sprache als ein im Ursprung brachiales Tun vorstellbar werden lässt, insofern es die Strukturen, die es transformiert und schließlich transzendiert, erst einmal zerstören muss: »Um zu schreiben, muß er die Sprache in der Gestalt, in der er sie vorfindet, zertrümmern und ihr neue Wirklichkeit geben.« (Ebd. 49)25 Dieses destruktive Moment, aus dem heraus ein Neues erwachsen soll, das aber noch nicht definiert ist und nicht prognostizierbar sein kann, das nicht gemacht wird, sondern zu einem guten Teil aus seiner eigenen (jeder Logik gegenüber widerständigen) Prozesshaftigkeit heraus entsteht, gleicht einer Revolution. Blanchot verfolgt diesen Vergleich eine Zeit lang weiter und diese Überlegungen begründen schließlich einen Zusammenhang, den auch Waldenfels zwischen dem absolut Fremden und der Revolution herstellt. Waldenfels nennt nicht viele Beispiele für das radikal Fremde, aber die Revolution und der Tod sind stets darunter. Ihre Wesensverwandtschaft erklärt Blanchot, der in Literatur und Revolution auch ein Moment des Größenwahns ausmacht, das von deren radikaler Abgrenzung zur Realität herrührt, folgendermaßen: »Die 23 | »[…] et son indifférence se mêle hypocritement à la passion de tous.« (Blanchot 1949, 302) 24 | »La difficulté, c’est que l’écrivain n’est pas seulement plusieurs en un seul, mais que chaque moment de lui-même nie tous les autres […] L’écrivain doit en même temps répondre à plusieurs commandements absolus et absolument différents.« (Blanchot 1949, 303) 25 | »Pour écrire, il lui faut détruire le langage tel qu’il est et le réaliser sous une autre forme.« (Blanchot 1949, 305)

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revolutionäre Aktion entfesselt sich mit derselben Macht und derselben Leichtigkeit wie der Schriftsteller, der nur einige Wörter aneinanderzufügen hat, um die Welt zu verändern.« (Ebd. 65)26 Schriftsteller und Revolutionärinnen gleichen sich also darin, dass sie sich ihrer Sache in einem Maß verschreiben, das eine völlige Selbst-zerstörung erforderlich macht. Da der Tod des »Ich« in »ich schreibe« oder »ich handle« in der Produktion von Literatur ständig riskiert und auch realisiert werde, sei das Tun der Autorinnen dementsprechend »kalt und unerbittlich und hat es die Freiheit eines abgeschlagenen Haupts« (ebd. 67).27 Einmal mehr ruft Blanchot die Literatur de Sades als Zeugen dieser kompletten Negierung aller Autoritäten und Sicherheiten, aller Werte und realen Maßstäbe auf. Betrachtet man sein Schreiben unter dem Gesichtspunkt der radikalen Fremdheit, aus der die Kunst erwächst und mittels derer die literarische Sprache sich von der gewöhnlichen unterscheidet, so lässt sich de Sades negatives Universum auch tatsächlich als ein kompromissloser Versuch lesen, diesem Anspruch gerecht zu werden. Die literarische Sprache zerstört die Idee des Verweischarakters von Sprache, sie stellt die Verbindung zwischen signifiant und signifié, die in der alltäglichen Sprache gegeben scheint, fundamental in Frage und lässt so den »Sinn« unsicher werden. Literatur verschiebt und verselbständigt den Sinn der Worte, der stets wieder auf anderen Sinn, schließlich auf sich selbst verweist und Unsinn wird, bloße Absenz, die aber nicht aufhört weiter zu verweisen. Wo der Inhalt sich derart verflüssigt und unantastbar wird, eine Spur nur noch, die eher zu erahnen als zu verfolgen ist, da tritt die Materialität der Sprache in den Vordergrund. Die grundlegende Bedeutung der Materialität der Schrift und der Zeichen, ebenso das In-den-Vordergrund-Treten ihres Klangs (das Blanchot an dieser Stelle zu erwähnen vergisst), all das steht ebenfalls in Beziehung zum Nicht-Sein. Die literarische Sprache verliert ihre repräsentative Funktion zur Gänze, sie verliert ihren Bezug zum Seienden und wird zum bloßen Sein: »Sie [die Literatur, Anm. N.M.] sagt: Ich repräsentiere nicht mehr, ich bin; ich bedeute nicht, ich präsentiere.« (Ebd. 93)28 Im sinngebenden Sinnverlust, den die Literatur in ihrer Bearbeitung der Alltagssprache vollzieht, findet Blanchot schließlich sogar etwas Tröstliches. Die Sprache, die das Ding aus seiner Un26 | »L’action révolutionnaire se déchaine avec la même puissance et la même facilité que l’écrivain qui pour changer le monde n’a besoin que d’aligner quelques mots.« (Blanchot 1949, 309) – Es versteht sich von selbst, dass eine solche Theorie, die von der Notwendigkeit einer absoluten Realitätsvergessenheit jeder Literatur ausgeht, mit der Idee einer littérature engagée, wie sie Jean-Paul Sartre vertreten hat, in Konflikt geraten musste. 27 | »[…] froide, implacable, elle a la liberté d’une tête coupée« (Blanchot 1949, 310). 28 | »Elle [la littérature, Anm. N.M.] dit: Je ne représente plus, je suis; je ne signifie pas, je présente.« (Blanchot 1949, 317)

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mittelbarkeit hebt, es damit zur Idee werden lässt und seiner Inkommensurabilität beraubt, bedingt zugleich das menschliche Bewusstsein der (eigenen) Endlichkeit. Die Sprache gewinnt damit paradoxen Charakter: Sie ist Trägerin von Tod und Leben, das eine ohne das andere nicht denkbar und nicht zu haben. Blanchot sieht die Aufgabe des Menschen in der Auseinandersetzung mit dieser Verbindung, die in der Sprache begründet liegt und den Tod selbst zum Ursprung des Lebens werden lässt: »[…] durch den Menschen […] ruht der Sinn auf dem Nichts.« (Ebd. 143)29 Das menschliche Bewusstsein verdankt sich dem Tod, und wenn es aufhört zu sein, verschwindet auch der Tod: »[…] wenn wir das Sein verlassen, aus der Möglichkeit des Todes fallen, und im Entkommen die Möglichkeit des Entkommens zergeht.« (Ebd.)30

5.1.3 Und wieder zurück – Jacques Derrida und Martin Heidegger Jacques Derridas Philosophie ist für das Denken des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, in dem man nun keine Hemmungen mehr hat, die Vorstellung eines souveränen Subjekts aufzugeben, prägend. Derrida sieht dessen Ende schon lange vor dem Tod gekommen. Ein solches typisch postmodernes Denken schließt in vieler Hinsicht – gerade was Derridas literaturwissenschaftliche Theorien betrifft, lässt sich das deutlich erkennen – an Blanchot an und verortet jene Aporie, die der Tod darstellt, ebenfalls mitten im Leben. Ähnliches gilt für Heidegger, der das ideale Leben als auf den Tod hin entworfen betrachtet. In der Folge möchte ich mich nun kurz mit den Gemeinsamkeiten und produktiven Differenzen zwischen Derridas und Heideggers Thanatologien auseinandersetzen. In Aporien. Sterben – Auf die »Grenzen der Wahrheit« gefaßt sein nimmt Derrida direkten Bezug auf die Paragraphen 49 bis 53 aus Heideggers Sein und Zeit. Es sind dies jene Stellen aus Heideggers Hauptwerk, in denen er seine Thanatologie, die in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen breit rezipiert worden ist, entwickelt. Verständlicherweise, denn Heideggers Philosophie will 29 | »[…] par l’homme […] le sens repose sur le néant.« (Blanchot 1949, 331) 30 | »[…] si nous sortons de l’être, nous tombons hors de la possibilité de la mort, et l’issue devient la disparition de toute issue.« (Blanchot 1949, 331) – Dieser Trost ist, wenn auch originell in seiner Herleitung, keineswegs neu. Bereits Epikur begründete seine Annahme, dass die Angst vor dem Tod grundlos sei, damit, dass der Tod entweder irrelevant sei, weil man ja noch lebe, oder aber bereits geschehen und damit auch jeder Angst enthoben. Bei den Epikuräern führte diese Schlussfolgerung zur Ablehnung einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Tod, Blanchot allerdings fordert genau das Gegenteil. Der Tod im Leben und in der Sprache ist für ihn die grundlegendste (und vielleicht einzige) Wahrheit der menschlichen Existenz, die Meditation dieses Faktums in der Kunst ist für ihn daher auch die würdevollste Aufgabe des Menschen.

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eine »existenziale« Analytik des Todes sein, eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Frage also, was der Tod ist und wie er im Dasein gegeben ist beziehungsweise wie weit er dieses beherrscht. Es lässt sich erahnen, dass Derridas Befragung dieses Anspruchs in eine Dekonstruktion desselben überführt wird. Bei all seiner offensichtlichen Wertschätzung für Sein und Zeit erteilt Derrida letztlich auch der Thanatologie Heideggers eine Absage. Es lohnt sich allerdings, einen genaueren Blick auf den Weg zu werfen, den er dabei nimmt. Weder reichen meine philosophischen Kenntnisse aus, um Derrida auf allen seinen teils sehr anspielungsreichen Umwegen zu folgen, noch ist es mir möglich, an dieser Stelle die vielen anderen »Grenzthemen«, die er in diese Abhandlung einbindet – so etwa seine nicht minder wichtigen Überlegungen zu den Grenzen zwischen Nationen, Kulturen oder Philosophie und Politik –, zu berücksichtigen. Ich möchte mich daher auf die in der Auseinandersetzung mit Heidegger sehr deutlich hervortretende Frage nach der Möglichkeit einer solchen »existenzialen« Annäherung an den Tod beschränken. Zu Beginn von Aporien berührt Derrida mit einem Zitat aus Senecas De Brevitate Vitae eine Thematik, die an Jean-Paul Sartre und seine Sicht des Todes als eine Enteignung erinnert: Auch aus Senecas Perspektive betrachtet erscheint das Leben als ein Eigentum, dessen Besitzer ein gewisses Recht darauf erheben darf, denn »die Grenze (finis) dieses Eigentums wäre insgesamt betrachtet wesentlicher, ursprünglicher und eigentlicher als jene aller anderen Territorien der Welt« (Derrida 1998, 17). Die weiteren Überlegungen, die aus dieser Grundlegung bei Seneca hervorgehen, sind allerdings eher dazu angetan, eine Brücke zu Heideggers Denken zu schlagen. Seneca schließt nämlich aus der Bedeutung dieser fundamentalsten aller Grenzen, dass lediglich ein Mitbedenken des Todes in allen Lebenslagen, vor allem aber in allen Grenzlagen des Lebens, die Voraussetzung eines menschenwürdigen und wahrhaftigen Lebens sei (vgl. Seneca 1971, 183ff. und 185). Heidegger entwirft das Leben mit unvergleichlicher Kompromisslosigkeit auf den Tod hin, daher wohl auch die immense Bedeutung, die Sein und Zeit für alle nachfolgenden Thanatologien erhalten hat. Dabei formuliert er in Paragraph 4931 noch recht vorsichtig: »Der Tod im weitesten Sinne ist ein Phänomen des Lebens.« (Heidegger 2006, 246) Ein erster interessanter Gedanke, den Derrida nun zu dieser Lebensimmanenz des Todes entwickelt, ist der, dass diese die Gegenwart des Jetzt, die Unmittelbarkeit des Präsens, schwächt: »Das Jetzt ist, aber es ist nicht das, was es ist. […] In dem Maße, wie es gewesen ist, ist es nicht mehr. Aber in dem Maße, wie es sein wird, als Zukunft oder Tod […] ist es noch nicht.« (Derrida 1998, 31)

31 | Dieser ist nicht der erste Paragraph, in dem er sich mit dem Tod auseinandersetzt, aber er rückt ihm hier begrifflich bereits näher, während er davor noch hauptsächlich damit beschäftigt ist, die dafür notwendige Terminologie zu entwickeln.

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Diese Entmachtung des Präsens durch die immerwährende Gegenwart des Todes (und des zukünftigen Lebens) wird in literarischen Texten vor allem im Kontext der Trauer relevant, wenn also die Gegenwart der zentralen Figur von der Abwesenheit eines Gegenübers bestimmt und ihre Lebenszeit durch diese Absenz strukturiert wird. Ein Text, der fast ausschließlich von dieser Gegenwartslosigkeit, die durch den Tod (des Anderen) bedingt wird, handelt, ist Don DeLillos The Body Artist. Hier manifestiert sich die Zeitlosigkeit der Trauer, die zumindest zu einem gewissen Teil auch eine temporäre Anwesenheit der Abwesenheit der eigenen Sterblichkeit ist, in einer eigenen Figur, die weder ganz der Realität noch ganz dem Irrealen zuzurechnen ist. »Mr. Tuttle«, dessen Sprache die Gegenwart mittels Wort- und Satzfetzen zerhackt und so eine jeglicher Syntax und temporalen Ordnung widerstrebende Dominanz des Vergangenen im Leben der trauernden Protagonistin verkörpert, ist Literatur gewordenes Nichtjetzt-Sein. Die Protagonistin des Buches, eine Performancekünstlerin, deren künstlerisches Rohmaterial in erster Linie ihr Körper ist, war mit einem um Vieles älteren Regisseur liiert, der aus heiterem Himmel Selbstmord beging. Mr. Tuttle taucht während ihrer Trauerarbeit in einem Sommerhaus auf, das fern jedes gesellschaftlichen Trubels (jenseits des »Man«) liegt, und bleibt eine Weile bei ihr wohnen. Seine Herkunft ist ungeklärt, er kann sich nicht ausreichend artikulieren, um irgendwie verortet werden zu können, jedoch erlebt ihn die Protagonistin als die Spur des gemeinsam gelebten Lebens, die sich aus der Vergangenheit in eine schwache Gegenwart herüberzieht. Von Präsenz kann aber in diesem Text überhaupt nur dann die Rede sein, wenn die Protagonistin ihren Körper trainiert und durch meditative Atemübungen, die in ihrer Härte durchaus auch einen gewaltsamen Zug aufweisen,32 die Grenzen ihres Ich überschreitet. Mr. Tuttle wird zum Mittelpunkt ihres völlig isolierten Lebens. Obwohl er im Laufe der Zeit sogar einige neue Worte von ihr übernimmt, also die Vergangenheit nach Rays Tod ebenfalls reproduziert, verwehrt er sich jedem verstehenden Zugriff. Er ist nicht, sondern er wurde getan, er wurde »gewest«. Mr. Tuttle verkörpert das reine Waldenfels’sche Pathos. Sein Blick reflektiert nichts und er ist auch nicht reflektierbar, direkter als Mr. Tuttle kann eine literarische Figur kaum an den Tod rühren, das erklärt auch seine privilegierte Beziehung zur Absenz, die den gesamten Text strukturiert: »Schlafend ergab er mehr Sinn für sie als leicht glubschäugig ihr gegenüber am Tisch, oder sogar in ihrer Fantasie.« (DeLillo 2003, 65f.) 32 | Blanchot hat ja bereits den Masochismus beschrieben, den jegliche künstlerische Tätigkeit erfordert. Die Aufgabe des Selbst ist unhintergehbare Bedingung dieser Arbeit, wobei eben diese Form der Selbst-überwindung zugunsten des Kunstwerks, das die Grenzen des alltäglichen Sprechens/Wahrnehmens/In-der-Welt-Seins überschreitet, in The Body Artist in ein Extrem gesteigert wird. Nicht nur der Geist, sondern die pure Materialität des Körpers (der Protagonistin) ist von diesem Anspruch betroffen.

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An den Tod rühren, bedeutet nicht tot sein: »Die nächste Nähe des Seins zum Tode als Möglichkeit ist einem Wirklichen so fern als möglich.« (Heidegger 2006, 262)33 Und dennoch muss nach Heideggers Ansicht die existenziale Analytik des Todes unternommen werden als ein Denken, das die Art und Weise hinterfrägt, in der »das Wesen des Todes ausgehend vom Wesen des Lebens« (Derrida 1998, 54) bestimmt wird. Heideggers Instrument des Zugriffs auf ein Phänomen, und sei es noch so ungreif bar und sprachlos, ist die Begrifflichkeit, die er in seiner Thanatologie zuerst in Form einer Differenzierung der Arten und Annäherungsweisen an den Tod unternimmt. Diese Unterscheidung, die auch in Derridas Aporien zentral wird, ist jene zwischen »Verenden«, »Ableben« und »Sterben«. »Das Ende von Lebendem nannten wir Verenden« (Heidegger 2006, 247), so Heidegger. Er meint damit exemplarisch das Sterben des Tieres, das im Grunde nicht stirbt, weil es kein Bewusstsein von der eigenen Sterblichkeit hat und diese somit auch nicht als Moment, auf den hin es seine Existenz entwerfen könnte, zu evozieren imstande ist. Das Dasein, so wie Heidegger es definiert, kann folglich nicht verenden.34 Das Dasein, das ebenfalls »seinen physiologischen, lebensmäßigen Tod hat« (ebd.), verlangt also nach einer anderen Bezeichnung, Heidegger nennt es das »Ableben«. »Sterben aber gelte als Titel für die Seinsweise, in der das Dasein zu seinem Tode ist« (ebd.), so die Terminologie, derer sich Heidegger in der Folge bedient. Wesentlich daran ist nicht nur die Betonung des Unterschieds, der darin liegt, ob ein Wesen im Bewusstsein seiner eigenen Endlichkeit lebt und stirbt, sondern vor allem die in diese Unterscheidung implizierte Bestimmung des menschlichen Lebens vom Tode her.35 Heidegger reduziert den Abstand zwischen Leben und Tod noch einmal weiter, indem er letzteren als die »schlechthinnige« Projektion bestimmt, auf 33 | Vladimir Jankélévitch meint dasselbe, wenn er sagt: »Aber in dem Maße, wie ich ihn [den Tod, Anm. N.M.] denke, bin ich nicht drinnen, sondern bin ich draußen. Ich bin drinnen in dem Maße, in dem ich sterben werde, aber als einer, der ich den Tod denke, bin ich nicht drinnen, sondern draußen.« (Jankélévitch 2003, 44) 34 | So sieht es zumindest Heidegger selbst: »Dasein verendet nie« (Heidegger 2006, 247). Es ist unter ethischen Aspekten betrachtet durchaus bedenklich, dass »das Dasein«, welches ja eine intellektuelle Leistung im Sinne eines Bewusstseins seiner selbst voraussetzt, hier offensichtlich mit Mensch-Sein gleichgesetzt wird, während die der sprachlichen Selbstreflexion unfähige Existenz als »tierhaft« betrachtet wird. 35 | An dieser entscheidenden Stelle von Sein und Zeit, in der Heidegger die Grundlagen dafür legt, das Leben als ein vom Tode her bestimmtes zu betrachten, lässt er in einer Fußnote einige »Zeugen« dieser Sichtweise zu Wort kommen. Er setzt dabei bei der christlichen Tradition an und zitiert Wilhelm Dilthey, Karl Jaspers und noch einige mehr, die dieses intuitive Gefühl, dass der Tod es sei, der dem Leben Wert verleiht und damit unauflöslich mit diesem verbunden ist, theoretisch untermauert hätten. Eine derartige Unterstützung seiner Thesen durch namhafte Zeugen sucht Heidegger eher selten,

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die hin das Leben sich entwirft: »Das äußerste Noch-nicht hat den Charakter von etwas, wozu das Dasein sich verhält. Das Ende steht dem Dasein bevor. Der Tod ist kein noch nicht Vorhandenes, nicht der auf ein Minimum reduzierte letzte Ausstand, sondern eher ein Bevorstand.« (Ebd. 250) Bevorstehen kann vieles, doch der Tod bestimmt das Leben insofern auf eine absolut einzigartige Weise, als dieser Bevorstand sich nicht »im Mitsein mit Anderen begründet«, sondern die eigenste und unteilbare Aufgabe des Daseins, des jemeinigen Daseins ist. Der Tod wird somit nicht zu einer Aufgabe unter anderen, die übernommen werden muss, sondern zu dem einzigen Ereignis,36 für das der Einzelne, und nur dieser, auserkoren ist: »Der Tod ist eine Seinsmöglichkeit, die je das Dasein selbst zu übernehmen hat. Mit dem Tod steht sich das Dasein selbst in seinem eigensten Seinkönnen bevor […] So enthüllt sich der Tod als die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit.« (Ebd.) Derrida zeigt sich fasziniert von diesem Gedanken einer absoluten Bezogenheit des Lebens auf ein Unerwartbares, dem es völlig ausgeliefert ist, »einzigartig ausgeliefert in unserer absoluten Einmaligkeit und absolut nackt, das heißt entwaffnet, dem anderen ausgeliefert, unfähig, selbst hinter dem Schutz zu suchen, was noch die Innerlichkeit eines Geheimnisses bewahren könnte« (Derrida 1998, 29). »Wie konnte sich so ein Übermaß an Verletzlichkeit allein auf der Welt befinden?« (DeLillo 2003, 109), fragt sich die Protagonistin in DeLillos The Body Artist im Nachdenken über Mr. Tuttle. Heideggers letztlich trostlose Thanatologie schreibt uns allen dieses Übermaß an Verletzlichkeit als Lebensprinzip ein, sie ist auch das Werk einer großen Desillusionierung, die tief in sich nicht die Hoffnung auf einen Anderen oder ein Anderes (beispielsweise ein Weiterleben in welcher Form auch immer), sondern solipsistische Züge trägt. Inwiefern hier der Andere noch eine Rolle spielen kann, das wird vor allem das Thema Emmanuel Lévinas’ sein. Derrida begegnet dieser Frage auf subtile Weise. Er folglich ist diese Fußnote bemerkenswert und scheint auf eine gewisse Unsicherheit in dieser für ihn so grundlegenden Frage hinzuweisen. 36 | Es wäre naheliegend, das ebenso exklusive Ereignis der Geburt dieses Einzelnen zumindest zu erwähnen, das ebenso eine unumkehrbare Grenze markiert. Vielleicht ist Heidegger dieses Ereignis suspekt, insofern das »Mitsein mit Anderen« aus diesem Ereignis nicht völlig ausgeklammert ist, vermutlich ist aber die fehlende, weil noch im Sinne einer sprachlichen Beteiligung unmögliche intellektuelle Anteilnahme an dieser ersten Grenzüberschreitung ein Grund für seine völlige Ignoranz dieses einzigen Phänomens, das gewisse Parallelen zum Tod aufweist. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die meisten jener (immer noch zum überwiegenden Teil männlichen) Philosophen, die die Bedeutung der »ersten und letzten« Dinge betonen, immer nur über die letzten Dinge sprechen. Ein »Denken der Geburt«, das vom biologischen und medizinischen Vorgang natürlich völlig abgekoppelt zu behandeln wäre, hat es in der abendländischen Kultur nur sehr selten gegeben.

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bezeichnet die Begegnung mit dem Tod stets als eine Begegnung mit diesem absolut »Anderen« und hält damit implizit den Gedanken an ein Gegenüber, ein »mich« bestimmendes Anderes, immer gegenwärtig. Die genaue Betrachtung des Satzteils »mein Tod« bildet schließlich auch den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung Derridas mit Heideggers Todeskonzept. Einerseits sei, so Derrida, der Ausdruck »mein Tod« weit weniger exklusiv, als es den Anschein hat,37 denn jeder kann sich ihn zu eigen machen, vorausgesetzt man geht von der (immer hypothetischen) Annahme aus, dass tatsächlich alle Menschen sterblich sind.38 Gleichzeitig ist der Tod, insoweit scheint Heidegger unwiderlegbar zu sein, Angelegenheit jedes Einzelnen je für sich; kein Anderer kann mich hier vertreten, und daraus folgt, dass, wie Derrida sagt, »der Tod eines jeden, all derer, die ›mein Tod‹ sagen können, […] unersetzbar« (Derrida 1998, 45) ist. Der Satzteil »mein Tod« alleine spiegelt also jenes Paradoxon wider, das allen Aussagen über den Tod wesenhaft eignet und das Blanchot und in vielen seiner Schriften auch Derrida zum Prinzip seines Zugangs zu Sprache und Welt erhebt. Nichts ist allgemeingültiger und nichts exklusiver als die Rede von »meinem Tod«. Gleichzeitig, so Derrida weiter, stellt dieser Satzteil eine Konjunktion zwischen einer Möglichkeit und Unmöglichkeit her, nämlich jener Möglichkeit, »mein« zu sagen, und jener absoluten Unmöglichkeit, das Denotat »Tod« definitorisch zu erfassen: »›Mein Tod‹«, diesen Satzteil, der hier das Mögliche auf das Unmögliche bezieht, kann man wie eine Art von Signallicht an einem Zollposten zwischen all den Grenzen blinken sehen.« (Ebd. 47)

37 | Heidegger sieht den Zusammenhang zwischen dem eigenen und den vielen und zum Großteil anonymen Toden der Anderen aus der Perspektive des »Man«. So gewendet ist jedermanns Tod nicht eines jeden, sondern niemandes Tod, insofern als die Aufgabe des Todes auf »alle Anderen« abgeschoben und damit verkannt beziehungsweise bewusst negiert wird: »Das ›man stirbt‹ verbreitet die Meinung, der Tod treffe gleichsam das Man. Die öffentliche Daseinsauslegung sagt: ›man stirbt‹, weil damit jeder andere und man sich selbst einreden kann: je nicht gerade ich; denn dieses Man ist das Niemand. Das ›Sterben‹ wird auf ein Vorkommnis nivelliert, das zwar das Dasein trifft, aber niemandem eigens zugehört.« (Heidegger 2006, 253) 38 | Eine weitere Dimension dieses Satzes wird von Derrida erst später angeführt, sie ist aber auch an dieser Stelle schon spürbar. Es handelt sich dabei um die Tatsache, dass zwar niemand seinen eigenen Tod erleben kann (wenn dieser tatsächlich da im Sinne von präsent ist, ist das Dasein immer schon vorüber), wohl aber den Tod der Anderen. Notgedrungen und logischerweise werde ich also meinen eigenen Tod immer von dem der Anderen her denken, da ich keine andere (Erfahrungs-)Grundlage habe, auf der mein Wissen über den Tod aufbauen könnte. Heidegger negiert diese Tatsache und bezieht sich stets auf die Idealvorstellung eines jemeinigen Todes, der zu dem der Anderen völlig verschieden ist.

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In Derridas Heidegger-Lektüre entwickelt sich eine absolute Offenheit gegenüber dem Phänomen des Todes, die auch offen dafür ist, den Tod als radikal fremd zu betrachten. Dennoch weigert sich Derrida, den Tod als grundlegend anders im Vergleich zu jeder möglichen anderen Grenzerfahrung zu sehen. Auch Heidegger findet einen Bezugspunkt des Todes im Leben, diesen definiert er allerdings nicht als eine Grenzerfahrung, sondern als das Erlebnis der (existenziellen) Angst: »Die Geworfenheit in den Tod enthüllt sich ihm [dem Menschen, Anm. N.M.] ursprünglicher und eindringlicher in der Befindlichkeit der Angst. […] Sie ist […] als Grundbefindlichkeit des Daseins, die Erschlossenheit davon, daß das Dasein als geworfenes Sein zu seinem Ende existiert.« (Heidegger 2006, 251) Die Angst hat Heidegger bereits in Zusammenhang mit dem Unheimlichen als eine grundlegende Kategorie betrachtet, die eng mit der latenten Bedrohung durch den Tod verknüpft ist. Das Dasein, das sich dieser Angst überlässt, ist nach Heidegger ein ausgezeichnetes Dasein, doch meist wird das menschliche Sein vom Ausweichen vor dem Denken des Todes bestimmt, wobei diese Flucht in das allgemeine Beruhigungsgebrabbel so weit geht, dass die grundlegende, gegenstandslose Angst, die Heidegger als Angst vor dem Tod charakterisiert, den meisten Menschen als Feigheit und Unsicherheit gilt: »Das Man läßt den Mut zur Angst vor dem Tode nicht auf kommen.« (Ebd. 254) Nur in der Überwindung dieser allgemeinen Ansichten und in der Konfrontation mit der ausgezeichneten Unmöglichkeit seines Daseins könne der Mensch zu seinem eigensten Dasein gelangen, das nicht in Entfremdung erstarrt (vgl. ebd. 254). Der prägenden Wirkung des Todes auf das Leben aber kann sich niemand jemals entziehen, denn selbst das »alltäglich verfallende Ausweichen vor ihm ist ein uneigentliches Sein zum Tode. Uneigentlichkeit hat mögliche Eigentlichkeit zum Grunde.« (Ebd. 259) Während Heidegger in der Auseinandersetzung mit dem jeweils eigenen Tod die Angst als die einzige Möglichkeit ausweist, zu einem eigentlichen Dasein zu gelangen, versucht Derrida, sich dieser Problematik von einer anderen Seite her zu nähern. Er begibt sich dafür, wie bereits erwähnt, auf die semantische Spur des Wortes »Grenze«, diesmal allerdings im Zusammenhang mit der Aporie (die der Tod ja zweifellos darstellt). Das Erlebnis einer Aporie könne, so Derrida, mit einem einfachen Darüber-Hinweggehen beantwortet werden, auch wenn die Beunruhigung, die sich in dem Moment, in dem »eine Weglichkeit unweglich« (Derrida 1998, 60) wird, eine unauslöschliche Spur hinterlassen wird. Während Heidegger das Darüber-Hinweggehen eindeutig negativ konnotiert, bleibt Derrida unentschieden in seiner Beurteilung und nennt zahlreiche Möglichkeiten, wie die Begegnung mit einer Aporie vonstatten gehen kann (vgl. ebd.). Wie seine weiteren Ausführungen deutlich machen, geht es letztlich gar nicht um die Art und Weise, in der diese Begegnung bewältigt wird. Die scharfe Unterscheidung zwischen einer eigentlichen oder uneigentlichen Auseinandersetzung mit dem Tod wird bei Derrida zur Frage nach der Gefasstheit

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(und deren Bedingungen) auf ein Geschehnis, das immer erst Ankommendes ist und sich durch seine Unerwartbarkeit auszeichnet. Die Verortung einer solchen Ankunft in den Grenz- und Fremdheitserfahrungen (der Sprache, der Kultur, des Geschlechterunterschiedes), die das Leben ohnehin für alle Menschen bereit hält, lässt dabei die Vorbereitung der Gefasstheit auf den Tod als eine Komponente des Lebens erscheinen, zu der man sich, oder besser: ich mich, schlechthin verhalten muss. Die Stelle, an die Heidegger den Begriff der Angst setzt, wird bei Derrida vom Begriff »l’arrivant« besetzt, der ein Geschehnis bezeichnet, das immer pathetisch (im Sinne von Waldenfels) ist: Was ist das Ereignis, das am meisten geschieht? Was ist das Geschehende, das ein Ereignis geschehen macht? […] Der/das neu Ankommende: dieser Name kann gewiß die Neutralität dessen bezeichnen, was geschieht, aber auch die Einzigartigkeit desjenigen, der ankommt, desjenigen oder derjenigen, die kommen, wobei sie dort ankommen, wo man sie nicht erwartet, erwartet ohne zu erwarten, ohne darauf gefaßt zu sein, ohne zu wissen, was oder wen man erwarten soll, was oder wen ich erwarten soll, was oder wen ich erwarte – und das ist gerade Gastfreundschaft, die dem Ereignis entgegengebrachte Gastlichkeit. […] das Ankommende par excellence, das ist dasjenige, derjenige oder sogar diejenige, die beim Ankommen keine Schwelle überschreiten, die zwei identifizierbare Orte trennt […] Nein, ich spreche vom absolut/unbedingten Ankommenden, der nicht einmal ein Gast (guest) ist. Er überrascht den Gastgeber, der noch nicht einmal Gastgeber (host) ist oder einladende Gewalt, sosehr, daß er all die unterscheidenden Zeichen einer vorhergehenden Identität bis hin zu ihrer Vernichtung oder zu ihrem Unbedeutend-werden in Frage stellt, angefangen bei der Grenze selbst, die ein legitimes Zuhause abgrenzte. (Ebd. 60ff.)

Der Untertitel von Derridas Abhandlung weist bereits auf die elementare Grenzerfahrung hin, die der Tod für ihn evoziert: Sterben – Auf die »Grenzen der Wahrheit« gefaßt sein. Wenn der Tod dieses »Ankommende par excellence« am Ende eines jeden Lebens darstellt, dann kann man sich durchaus auf ihn »vorbereiten«, indem man Grenzerfahrungen bewusst erlebt, indem man sie also nicht »macht«, sondern sich von ihnen »machen lässt«. Die Grenzen und Aporien der eigenen Sprache auszuloten ist eine, vielleicht die alltäglichste und notwendigste dieser Grenzerfahrungen, insbesondere wenn sie die Grenzen des Sagbaren und jene der Wahrheit berührt. In all diesen Grenzerfahrungen bleibt einem noch die Macht dessen, der Gastlichkeit ausübt, auch wenn diese Gastlichkeit sich zur reinen Passivität steigert – je nachdem, wie unerwartbar der »Gast« ist. Es ist jedenfalls dieser Andere, der (ungebetene) Gast, der diesen Prozess auf mich zukommen macht und von dem her dieser zu denken ist. Heidegger denkt diesen Zusammenhang völlig anders, betrachtet er doch gerade die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod als ihrem Wesen gemäß »unbezüglich«: »Die im Vorlaufen verstandene Unbezüglichkeit des Todes

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vereinzelt das Dasein auf es selbst. Diese Vereinzelung ist eine Weise des Erschließens des ›Da‹ für die Existenz.« (Ebd. 263) Ob allerdings der Vorwurf, den Lévinas Heidegger macht, nämlich dass dieser den eigenen Tod privilegiere und vom Anderen völlig abspalte, richtig ist, sei dahingestellt. Für Derrida entspringt dieser Vorwurf einem Missverständnis, das darin besteht, dass Heidegger tatsächlich vom »Sterben«, und eben nicht vom Tod als dem Jemeinigen spricht. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, habe er insofern Recht, als noch niemand erwiesenermaßen einem Anderen sein Sterben hätte abnehmen können (vgl. Derrida 1998, 68). Tatsächlich ist es so, dass Heidegger selbst gegen Ende von Paragraph 53 den Faden, der das Verhältnis eines für ihn so grundlegenden Denkens des eigenen Todes mit dem Mit-Sein mit Anderen verbindet, wieder aufnimmt. Es wird gerade an dieser Stelle von Sein und Zeit offensichtlich, wie sehr die Angst vor der Vorherrschaft des »Man« bei Heidegger ein Denken des Anderen verhindert: Diese Vereinzelung [die ein eigentliches Sein zum Tode voraussetzt, Anm. N.M.] […] macht offenbar, daß alles Sein bei dem Besorgten und jedes Mitsein mit Anderen versagt, wenn es um das eigenste Seinkönnen geht. […] Das Versagen des Besorgens und der Fürsorge bedeute jedoch keineswegs eine Abschnürung dieser Weisen des Daseins vom eigentlichen Selbstsein. […] Das Dasein ist eigentlich es selbst nur, sofern es sich als besorgendes Sein bei … und fürsorgendes Sein mit … primär auf sein eigenstes Seinkönnen, nicht aber auf die Möglichkeit des Man-selbst entwirft. (Heidegger 2006, 263)

Aus diesen Zeilen sprechen Aspekte eines Denkens des Anderen bei Heidegger, die nur selten hervorgehoben werden, was wohl auch als eine Nachwirkung seines würdelosen Verhaltens während des NS-Regimes betrachtet werden muss. Für dieses allerdings lässt sich in Sein und Zeit keine Rechtfertigung finden, auch wenn dieses Werk den Anderen längst nicht ins Zentrum aller Überlegungen stellt. Die Vorrangigkeit des Einzelnen, in Hinblick auf dessen Auseinandersetzung mit seinem Tod, ist allerdings keine Denkweise, die das Mit-den-Anderen-Sein entwertet, sondern eine, die eine absolute Ernsthaftigkeit des Subjekts in der Konfrontation mit seiner Endlichkeit einfordert: »Die eigenste, unbezügliche Möglichkeit ist unüberholbar. Das Sein zu ihr läßt das Dasein verstehen, das ihm als äußerste Möglichkeit der Existenz bevorsteht, sich selbst aufzugeben.« (Ebd. 264) Je tiefer Heidegger in seine Fragestellung hineingezogen wird, desto mehr spricht aus seinen Worten eine Demut, die sowohl die Macht und Bedeutung der eigenen Existenz betrifft als auch das darüber hinaus wirkende Sein der (überlebenden) Anderen. Sich mit seinem Tod auseinanderzusetzen bedeutet in dieser Hinsicht auch sich zu bescheiden, Einsicht zu erlangen in die eigenen Grenzen und die Grenzen des Eigenen: »Als unbezügliche Möglichkeit vereinzelt der Tod aber nur, um

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als unüberholbare das Dasein als Mitsein verstehend zu machen für das Seinkönnen der Anderen.« (Ebd.) Auffällig ist bei Heidegger allerdings, dass diese Einsichten eine gewisse Trauer über diese enge Begrenztheit erkennen lassen, innerhalb derer sich der Mensch seine Freiheit so schwer erkämpfen muss.39 Was diejenige gewinnen kann, die aus dem Denken des Man heraustritt und sich vorlaufend der Grenze ihres Daseins stellt, ist das Privileg einer »von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstenden F r e i h e i t z u m To d e « (ebd. 266). Das ist kein Heilsversprechen, obwohl für die Erreichung dieses Ziels die Ernsthaftigkeit einer Religion vonnöten ist. Diese Gratifikation eines Seins zum Tode wäre in der Weise, wie Heidegger es formuliert hat, noch nicht einmal ein Trost. Wenn man die in sich schlüssige Logik des Systems, das Sein und Zeit errichtet, einmal außer Acht lässt und die hier gestellten Postulate an den Bedürfnissen des sich in seiner Verletzlichkeit verloren fühlenden Menschen misst, dann drängt sich die Frage auf, wer an einem solchen Denken zu einem besseren, einem würdigeren Mensch-Sein gelangen könnte. Derridas (immer implizite) Forderung nach einer Auseinandersetzung mit dem Tod im Sinne eines »Gefaßt-Seins« auf die äußerste Grenze der Gastlichkeit und ein Einüben derselben, ebenso wie seine daraus abgeleitete Möglichkeit der Einsicht in die Unmöglichkeit der Grenzziehung (also der »Wahrheit« im weitesten Sinne), lässt in dieser Hinsicht einen ganz anderen Eindruck entstehen. Der Tod wird in seiner Philosophie nicht mehr (in erster Linie) als ein Gegner betrachtet, der notwendigerweise siegen wird und somit die Spitze des Narzissmus schon im Leben kappt, sondern als eine äußerste Erfahrung, der andere Erfahrungen ihrer Art vorangehen. Das Sterben und der Tod werden bei Derrida somit nicht mehr als ein exklusives Ereignis gesehen, sondern als die Begegnung mit einer letzten und unvergleichlichen Grenze, die sich als eine unsichtbare und doch deutlich fühlbare Spur in jedem Leben abzeichnet. Die Reflexion dieser ultimativen Grenze ist bei ihm somit ein unumgänglicher Teil des Lebens, der eine verantwortungsvolle Haltung den Anderen gegenüber einfordert. Heidegger stellt den Anspruch, eine existenziale Analytik des Todes ins Werk zu setzen, die sich jenseits aller anthropologischen, historischen oder sonstigen Bestimmungen befindet. Ein solch »unverstellter« Blick auf den Tod mag erstrebenswert erscheinen, allerdings scheint mir Derridas Relativierung 39 | Viele der materialistischen Theorien, die gerade heute so aktuell sind, haben es (machen es sich) sicherlich leichter als Heidegger, weil es ihnen nicht mehr im Kern darum geht, einen irreduziblen Unterschied zwischen Mensch und Tier auszumachen, vielmehr wird gerade dieser Unterschied im neurowissenschaftlichen und biologistischen Umfeld zunehmend nivelliert. Heidegger aber geht es durchaus um die Aufrechterhaltung zumindest einer Grenze, nämlich jener zwischen Mensch und Tier.

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dieses Anspruchs gerechtfertigt. Die gänzlich unvoreingenommene Einstellung, die Heidegger seinem Untersuchungsgegenstand gegenüber behauptet, werde allein schon von der Leidenschaftlichkeit widerlegt, mit der er ein eigentliches von einem uneigentlichen Dasein zum Tod unterscheidet: »In der Tat hat die existenziale Analytik des Todes […] nichts zu diesem Sujet zu sagen, das nicht ihr Sujet ist – sagt sie jedenfalls, denn es ist keineswegs sicher, daß Heidegger uns nicht doch letztlich einen Diskurs über den besten, das heißt den eigentlichsten und authentischsten Bezug zum Sterben vorschlägt: also de bene moriendi.« (Derrida 1998, 101) Es bleibt also fraglich, inwiefern Heidegger den eigenen Anspruch des »existenzialen«, also einer von jeder Voraussetzung befreiten Analyse des Phänomens einlösen konnte.40 Derrida ist die bei Heidegger implizierte Kritik an den anderen Disziplinen und deren Fragestellungen, denen er eine fehlende beziehungsweise mangelnde Grundlage ihres gerichteten Fragens unterstellt, äußerst wichtig.41 Dennoch unterzieht er den Anspruch des »existenzialen« im Sinne des »voraussetzungslosen« Philosophierens selbst einer genauen Analyse und stößt dabei auf Aporien, die Heideggers Philosophie längst nicht zum Verschwinden gebracht hat: »[…] der Tod ist im Grunde genommen der Name für die unmögliche Gleichzeitigkeit und für eine Unmöglichkeit, die wir dennoch gleichzeitig wissen, auf die wir zusammen gefaßt sind.« (Ebd. 109) Dieses Gefasst-Sein ist selbstverständlich nicht nur dadurch etwas anderes als bei Heidegger, als es von Derrida um das »zusammen« ergänzt wird und damit sein Kriterium der Vereinzelung verliert; es ist auch wesensmäßig verschieden. Das Gefasst-sein anstelle des Seins-zum-Tode wird dem (von Heidegger selbst) formulierten Zugeständnis an die irreduzible Fremdheit des Todes gerecht (vgl. Heidegger 2006, 262). Es ist dem Menschen qua Sprache möglich, das Mögliche als Unmögliches zu denken, und in ebendieser Fähigkeit verortet Derrida die Ausgezeichnetheit des Menschen (vgl. Derrida 1998, 115). Der Tod manifestiert sich aus dieser Perspektive gesehen als eine Unmöglichkeit, die man erwarten kann. Ein Paradoxon an sich, das aber noch weitere Kreise zieht. Durch dieses »als« nämlich, 40 | Derrida gibt sich hier freilich nur den Anschein, über diese Frage unentschieden zu sein. Im Grunde betrachtet er den Anspruch einer »existenzialen« Analyse eines Phänomens als uneinlösbar. Er ist vielmehr der Ansicht, dass »weder die Sprache noch die Vorgehensweise dieser existenzialen Analytik des Todes möglich sind ohne die christliche, ja sogar die jüdisch-christlich-islamische Erfahrung mit dem Tode, von dem sie Zeugnis ablegt; dasselbe ließe sich mutatis mutandis vom Denken Freuds und Lévinas’ sagen« (Derrida 1998, 128). 41 | Vgl. dazu Derridas mit von Heidegger entlehnten Argumenten geführte fundamentale Kritik an zwei großen abendländischen Abhandlungen zum Thema Tod, nämlich der Geschichte des Todes von Philippe Ariès und der Anthropologie de la Mort von LouisVincent Thomas.

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das die dichotomen Begriffe »Möglichkeit« und »Unmöglichkeit« miteinander verbindet, sind alle Begriffe, auch jene der Wahrheit und jene der Unwahrheit (aber eben auch als Möglichkeit der Wahrheit) letztlich untrennbar aneinander gekoppelt. Das Dasein, das man in dieser Weise tatsächlich nur dem Menschen zurechnen kann, bleibt also (vorerst) auch bei Derrida ein ausgezeichnetes, insofern es in der Lage ist, seinen Tod zu erwarten und das Paradoxon einer Möglichkeit als Unmöglichkeit zu denken (vgl. ebd. 120). Doch selbst dieser scheinbare Schlusspunkt wird bei Derrida nicht endgültig gesetzt, denn: »Wer wird uns versichern, daß der Name, den Tod zu benennen (als das andere, und das ist das gleiche), nicht ebenso an der Verheimlichung des ›Als-solchen‹ des Todes wie an seiner Enthüllung teilhat und daß die Sprache nicht gerade der Ursprung der Nicht-Wahrheit des Todes wäre? Und des anderen?« (Ebd. 122) Wenn also der Tod die Möglichkeit der Unmöglichkeit wäre, diesen als solchen zu reflektieren, dann hätte der Mensch ebenso keinen Zugriff auf seinen eigenen Tod, sondern lediglich auf das Ableben der Anderen. »Wenn …«, Derrida legt sich nicht fest, aber er denkt auch in die Richtung weiter, die Heidegger ausgeschlossen hat. Wenn dem also so ist und der Zugang des Menschen zum Tod kein privilegierter ist, sondern nur einer, der sich erst über die eigene Illusion aufklären muss, dann »wird er [der Tod, Anm. N.M.] zur uneigensten und ent-eignendsten [ex-propriante], zur uneigentlichsten [inauthentifiante] Möglichkeit. Fortan sieht sich das Eigene des Daseins […] durch das Uneigenste kontaminiert, überlagert und geteilt.« (Ebd. 124) Ob man den Tod mit Heidegger (Derrida denkt niemals »gegen« dessen Philosophie) in die eine oder andere Richtung weiterdenkt, ob man über diese Einsichten, die sich im Grundlosen verlieren, Trauer empfindet oder ob man ihre vorläufigen Spuren in den Grenzerfahrungen des täglichen Lebens wiederfindet, wird damit letztlich zu einer Frage der Perspektive: »Es geht darum, allein zu wissen, in welchem Sinn (im Sinne der Richtung und des Wegs) man den Ausdruck ›Möglichkeit der Unmöglichkeit‹ liest.« (Ebd.)

5.1.4 Gespräche über den Tod – Vladimir Jankélévitch Das philosophische Reich des Todes im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert ist nahezu unermesslich, es lässt sich jedenfalls kaum von einem einzelnen Menschen abschreiten – und schon gar nicht im Rahmen einer Arbeit wie dieser. Wenn es aber darum geht, Stimmen hörbar zu machen oder in Erinnerung zu rufen, die das Nachdenken über den Tod entscheidend beeinflusst haben, so schuldet man dem Namen Vladimir Jankélévitch gewiss eine Erwähnung, auch wenn diese seinem Werk, das Geduld und Hingabe verlangt, nicht gerecht werden kann. La Mort, so der schlichte Titel seines umfangreichen Hauptwerks, das Mitte der 1960er Jahre in Frankreich erschienen ist, präsentiert sich der Leserin keineswegs gefällig. Als hermetisch, mystisch,

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übertrieben schwierig wurde es bezeichnet, und doch zitieren die meisten wissenschaftlichen Arbeiten aus dem Bereich der Geisteswissenschaften, die sich mit dem Tod beschäftigen, zumindest einen Satz, eine berühmt gewordene Formulierung von Jankélévitch. Ich möchte Jankélévitch etwas mehr Aufmerksamkeit widmen als mit diesem obligaten Zitat, das in seiner Zusammenhangslosigkeit meist mehr Missverständnisse als Verständnis für Jankélévitchs Thanatologie schafft. Eine genauere Analyse von La Mort würde allerdings eine eigene Abhandlung erforderlich machen und ist im Rahmen dieses Buches nicht zu leisten. Dennoch möchte ich Jankélévitchs Theorie nicht ganz aussparen und werde daher auf die veröffentlichten Gespräche zurückgreifen, die er zum Thema Tod geführt hat und die, ganz im Gegensatz zu seinen philosophischen Schriften, erstaunlich luzide sind. Ich werde mich dabei auf die deutsche Übersetzung durch Jürgen Brankel beziehen, die 2003 unter dem Titel Kann man den Tod denken? erschienen ist. Was Jankélévitch etwa von Heidegger unterscheidet, ist die zentrale Stellung des Todes des Anderen in seiner Thanatologie. Er rechtfertigt diese aber nicht wie etwa Emmanuel Lévinas mit einem ethischen, sondern mit einem phänomenologischen Argument: »Was den Tod in der ersten Person betrifft, das heißt meinen eigenen, nun gut, ich kann darüber nicht mehr reden, weil es mein Tod ist. […] Es bleibt der Tod in der zweiten Person, der Tod eines Nahestehenden, der die privilegierte philosophische Erfahrung ist, weil er die beiden anderen Arten berührt.« (Jankélévitch 2003, 12) Der Tod eines Menschen, den ich gut kenne und der mir lieb und teuer ist, in anderen Worten die Trauer, ist also bei Jankélévitch der Ausgangspunkt des Nachdenkens über den Tod. So betrachtet ist der Tod an sich weiterhin vollkommen unzugänglich, ich erfahre schließlich auch nicht den Tod des Anderen, ich kann diesem Geschehen, das mit dem Tod endet, höchstens beiwohnen. Dieses Nachdenken-Über betrachtet Jankélévitch als etwas grundlegend anderes als das Denken des Todes selbst, das er für fast unmöglich, gewiss aber für sinnlos hält. Es sei schließlich, wenn überhaupt, nur in jenem unfassbar kurzen Augenblick möglich, indem ich in den Tod übergehe, aber noch nicht ganz bei diesem angekommen bin, also in dem ich gerade noch existiere.42 Das »Denken über den Tod« sei von diesem letzten Moment im Sterbeprozess nicht zu trennen.43 Da es aber kein »danach« gibt, das man von einem diesseitigen Standpunkt aus reflektieren könnte, ist 42 | Thomas Macho legt bereits im Vorwort von Todesmetaphern diesen Gedanken nahe: »Vielleicht ist die einzige Antwort auf die offene Frage – unser Tod; eine Antwort vielleicht wie der Blitz, der einen Augenblick erhellt und wieder verlischt; eine Antwort, die zugleich kommt und entschwindet.« (Macho 1987, 22) 43 | Eine literarische Auseinandersetzung mit dem Übergang zwischen Leben und Tod gibt es in der jüngsten Literaturgeschichte in Thomas Lehrs Frühling. In einer ganz eigenen, den üblichen erzählerischen Chronologien zuwiderlaufenden Kunstsprache, ent-

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das Nachdenken über ein Jenseits obsolet: »Die Mutation im Tod mündet in die Leere des Nicht-seins und in den Nullpunkt der Nichtigkeit des Wesens: der diesseitige Abhang der Verwandlung findet keine Fortsetzung im Jenseits; das Danach folgt nicht auf das Davor, um so ein Gleichgewicht herzustellen. […] Dieses unvermittelte Innehalten, das den Vorgang abbrechen läßt, ist der Beginn der großen schwarzen Stille posthumen Nichtseins.« (Jankélévitch 2005, 295f.) Wogegen sich Jankélévitch ebenfalls verwehrt, ist die Vorstellung einer Symmetrie zwischen Geburt und Tod,44 wobei sich in der Ablehnung dieses Gedankens auch seine Vorstellung einer radikalen Fremdheit des Todes ausdrückt: »[D]er Tod ist von einer ganz anderen Ordnung; der Tod ist keine umgekehrte Geburt, noch ist die Geburt ein richtig herumgedrehter Tod. […] Vorsicht vor den Mythen der Symmetrie!« (Jankélévitch 2003, 14 und Jankélévitch 2005, 381ff.) Der Tod ist und bleibt also unantastbar in seiner fundamentalen Andersheit, gleichwohl begründet diese Unzugänglichkeit bei Jankélévitch eine Aufwertung des Lebens und des Mensch-Seins an sich. Diesen paradoxen Schluss erklärt er aus einer phänomenologischen Perspektive heraus, indem er davon ausgeht, dass das Mittel, welches einen Zugang zu einem bestimmten Phänomen ermöglicht, immer zugleich auch die Begrenzung dieses Zugangs darstellt (vgl. ebd. 15). Das Leben ist das »Mittel«, mit dessen Hilfe wir überhaupt in der Lage sind, den Tod wahrzunehmen, gleichzeitig ist es aber auch ein unüberwindbares Hindernis, wenn es darum geht, Zugang zu ihm zu finden. Nichtsdestotrotz ist es diese Grenze, die der Tod in Bezug auf unseren menschlichen Standpunkt darstellt, die dem Leben Sinn verleiht. Es sei die Gegenwart des Todes, die »die großen Existenzen hervorruft, die ihnen ihre Inbrunst verleiht, ihr Feuer, ihren Tonus« (ebd.).45 Jankélévitch geht dabei mit faltet Lehr hier den Bewusstseinsstrom-Monolog des Ich-Erzählers an der unmittelbaren Grenze zwischen Leben und Tod (vgl. Lehr 2001). 44 | Damit wendet er sich gegen eine lange Traditionslinie, die bei Epikur beginnt. Dieser meint, man müsse sich vor dem Tod auch insofern nicht fürchten, als man das NichtSein ja bereits kenne, nämlich von der unendlich langen Zeitspanne, während der man vor seiner Geburt ja auch nicht war. Schopenhauer stellt häufig eine ähnliche Analogie her, etwa wenn er schreibt: »Der Zustand […], in welchen uns der Tod zurückversetzt, ist unser ursprünglicher, d.h. ist der selbsteigene Zustand des Wesens, dessen Urkraft in der Hervorbringung und Unterhaltung des jetzt aufhörenden Lebens sich darstellt. Es ist nämlich der Zustand des Dinges an sich, im Gegensatz der Erscheinung.« (Schopenhauer 1919, 290) 45 | An anderer Stelle sagt Jankélévitch zu diesem Thema auch: »Ich schließe mich all denen an, die gesagt haben, daß es der Tod ist, der dem Leben einen Sinn gibt, obwohl er ihm zugleich diesen wegnimmt. Er ist der Un-Sinn, der dem Leben einen Sinn gibt.« (Jankélévitch 2003, 31) Anders, aber doch an Derrida erinnernd, formuliert Jankélévitch hier ebenfalls ein Paradoxon, das einen positiven Zusammenhang zwischen Leben

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Jacques Madaule, den er selbst als Referenz nennt, und auch Freud – auf den er sich an dieser Stelle allerdings nicht direkt bezieht – davon aus, dass wir uns im Grunde alle für unsterblich halten, weil die sichere Annahme unserer Sterblichkeit uns schlicht überfordern und das Leben unlebbar machen würde. Nur durch eine gewisse Distanz wird der Tod überhaupt erträglich und nur in ihr können wir uns auf ihn zubewegen. Aus dieser schützenden Distanz heraus, die wir als Lebende haben und auch nicht ständig zu überwinden bestrebt sein sollen – wie es ja etwa die Philosophie Heideggers nahelegt –, sei es jedoch durchaus notwendig und kann es auch dem Leben sehr zuträglich sein, über den Tod nachzudenken. Die Ironie, die Jankélévitch hier in der Art und Weise seines philosophischen Zugangs zum Tod an den Tag legt, ist zumindest in der abendländischen Kultur einzigartig. Sie eröffnet in ihrem ständigen Oszillieren zwischen Spiel und Ernst einen Zwischenraum,46 in dem man sich für die Betrachtung des Phänomens Tod tatsächlich bequem einrichten kann. Mit ebendieser sich vorsichtig, aber niemals ganz vollzogenen Annäherung arbeiten auch viele literarische Texte, gerade wenn sie schwer zugängliche Themen behandeln. Jankélévitch geht in seinen Texten über den Tod essayistisch vor und errichtet dabei kein Denksystem im eigentlichen Sinne. Nicht zufällig scheitern an seinem Werk sämtliche Klassifizierungsversuche. Die essayistischen Züge seines Schreibens verhindern eine Festlegung selbst noch auf die sich ständig entziehenden, sich selbst widersprechenden und widerlegenden und Tod begründet. Stärker noch als die Dichotomie Möglichkeit/Unmöglichkeit, auf die Derrida sich bezieht, ist das Gegensatzpaar Sinn/Unsinn an die Sprache gekoppelt. Die Literatur als der kulturell institutionalisierte Umschlagplatz von Sinn und Unsinn ist auch in diesem Bild wieder der Verhandlungsort nicht nur des Lebens, sondern auch des Todes. 46 | Jankélévitch scheint mir, den ironischen Grundton nicht willkürlich für die Betrachtung des Todes gewählt zu haben, die Ironie erwächst vielmehr aus dem Gegenstand selbst. In seiner Abhandlung über die Ironie meint Jankélévitch: »L’Ironie, c’est la justice de coéxistence et la justice de succession.« (Jankélévitch 2011, 114) Diese Gerechtigkeit der Koexistenz von Gegensätzen wäre wohl kaum einem Thema angemessener als dem Tod. Dennoch behandelt Jankélévitch den Tod immer mit absoluter Ernsthaftigkeit, der Ernsthaftigkeit eines Agnostikers. Gerade den Gläubigen wirft Jankélévitch ja vor, den Tod zu banalisieren und, wie er es nennt, auch zu »frivolisieren«, indem sie das Jenseits einfach als Extension des Diesseits mit einer Art neuer Gesetzgebung denken: »Nun, sehr oft behandeln die Gläubigen, die naive Glaubensvorstellungen im Verhältnis zum Jenseits haben, den Tod wie ein Überleben, das Jenseits wie eine Verlängerung des Diesseits unter bequemeren Formen. Es gibt keine Begrenzungen mehr, jeder wird die Glückseligkeit kennen, es wird keine Krankheiten mehr geben, man wird nicht mehr sterben können, da man nicht mehr leben wird. Dieses alles ist nicht sehr ernst: es bedeutet, den Tod zu ›frivolisieren‹.« (Jankélévitch 2003, 39)

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Züge des Dekonstruktivismus. Letztlich ist Jankélévitchs Thanatologie pragmatisch in dem Sinne, dass sie eng an die Bedürfnisse und Möglichkeiten des Menschen gebunden und diesen verpflichtet ist. Was die Auseinandersetzung mit dem Tod betrifft, so Jankélévitch, sei der Mensch aber nun einmal nicht für Gewissheiten geschaffen, schon gar nicht für die des eigenen Todes. Selbst dem Todkranken müsse noch dieser entscheidende »Spalt für die Hoffnung« (ebd. 23) gewährt werden, die Hoffnung, dass er überleben wird, der Tod also auch für ihn noch keine unausweichliche Notwendigkeit besitzt.47 Man könnte die Art, wie Jankélévitch mit dem Tod umgeht, vielleicht als eine dem Menschen zuträgliche beschreiben, als eine, die die Aporie, die der Tod darstellt, zwar nicht ausblendet, aber auf ein erträgliches und »zumutbares« Maß reduziert. Das kommt keineswegs einer Verharmlosung des Todes gleich, in dessen radikaler Fremdheit sieht Jankélévitch sogar den Grund dafür, dass man sich ohnehin nicht auf unvermittelte Weise denkend zu ihm verhalten kann: »Denn der Gedanke des Nichts ist ein Nichts an Gedanke. Der Gedanke annulliert sich, wenn er versucht, das Nichts zu denken […] Aber der Tod ist da, monströs, einzigartig in seiner Art, ohne Beziehung auf überhaupt irgend etwas.« (Ebd. 89f.) Jankélévitchs Thanatologie bietet eine Perspektive auf den Tod an, die zwar über dessen allzeit präsenter Absenz meditiert, dies aber nur im Hinblick auf das Leben tut. Ein Leben, das durch den auf Distanz gehaltenen, aber dennoch ungezähmten Gedanken an den Tod an Kraft und Unmittelbarkeit gewinnt. Dieses Leben darf jedoch, diese Warnung ist Jankélévitchs Theorie immer eingeschrieben, nicht zu einer Zeit der bloßen Vorbereitung auf das, was ohnehin nicht erwartet werden kann, verkümmern.

47 | Jankélévitch schreibt auch, dass es unmenschlich sei, diese, wenn auch noch so geringe Hoffnung auf ein Überleben zu zerstören oder zu verweigern, wie es etwa bei einem zum Tode Verurteilten passiere. Es wäre dies eine durchaus bedenkenswerte Überlegung für die Medizin, die heute die schonungslose Aufklärung des Patienten über den anzunehmenden Zeitpunkt seines Todes (der vom tatsächlichen Zeitpunkt, an dem dieser eintritt, oft beträchtlich abweicht) schon alleine aus rechtlichen Gründen für notwendig hält. Heidegger würde dieses Vorgehen vermutlich begrüßen, spricht er sich doch eindeutig gegen eine Vertröstung der unheilbar Kranken oder Sterbenden auf eine vielleicht doch noch erlebbare Zukunft aus (vgl. Heidegger 2006, 262). Eine literarische Auseinandersetzung mit der Frage nach den Auswirkungen eines genau vorhergesagten Todesdatums hat Elias Canetti in dem Theaterstück Die Befristeten unternommen. In dem Stück, das eine Welt vor beziehungsweise nach der Offenbarung des Todeszeitpunkts an jeden Menschen zeigt, wird diese Thematik vor allem als die Grundfrage nach den Auswirkungen eines (offensichtlichen oder verborgenen) Determinismus gezeigt.

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5.1.5 Eine Gegenstimme. Vita activa – Hannah Arendt und die abendländische Todesversessenheit In seinem Werk Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung konstatiert Thomas Macho eine seit der Moderne paradigmatisch alle (philosophische ebenso wie literarische) Diskurse durchdringende »Sehnsucht nach dem Tode« (Macho 1987, 15). Diese betrachtet er als Nebenwirkung einer »Schweigewut«, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgebrochen sei und nie mehr gemildert werden konnte. Der Eindruck einer inhärenten Unangemessenheit aller (wissenschaftlichen) Begrifflichkeiten und die Angst davor, dass die Welt dem sprachlichen Zugriff völlig entzogen sein könne, hätte, so Macho, eine Hoffnung bestärkt: jene nämlich, dass zumindest am Ende eines Sagens beziehungsweise Schreibens, das sich seiner eigenen Unzulänglichkeiten bewusst ist, be-deutende Stille eintreten könnte. Das »ersehnt-gefürchtete Nullzeichen des Schweigens« (ebd. 14) korrespondiert dabei mit dem Tod, der ebenso wie das Nicht-Sein der Sprache zum Hoffnungsträger wird und laut Macho den »primären Masochismus« einer ganzen Epoche begründet, der in Heideggers Thanatologie seine gelungenste (philosophische) Darlegung erfährt. Die Genealogie dieses engen Zusammenhangs zwischen Todes- und Schweigesehnsucht sei nicht geklärt, jedoch kenne sie, so Macho, ein Motiv, das ihren geradezu exzessiven Aufstieg im 20. Jahrhundert begründet habe: »Es ist die Aufladung mit dem unbegriffenen und unbegreiflichen Schrecken unserer jüngsten Geschichte, die einen verzweifelten Wunsch potenziert: den Wunsch, sich auf die Seite der Opfer zu stellen, gleichsam die einzig vertretbare Position einzunehmen, die im Chaos der perfektionierten Mordlust übrig geblieben ist – die Position der schweigenden Toten.« (Ebd. 17) Der Zusammenhang, den Macho hier zwischen der Faszination am Verstummen des sprachlichen Ausdrucks und einer Auffassung des Todes als prioritärem Phänomen herstellt, scheint durchaus plausibel. Bis in die philosophischen Strömungen des späten 20. Jahrhunderts hinein ist die Auswirkung dieser Vorrangigkeit des Todes spürbar und auch die literarischen Liebeserklärungen an das Schweigen sind immer noch zahlreich. Jedoch stellt diese Omnipräsenz des Todes, selbst wenn sie tatsächlich der Ausdruck einer »quälenden Solidarität mit den Toten« (ebd.) sein sollte, keine ethische Notwendigkeit dar. Das beweist die Philosophie von Hannah Arendt, die ihr Denken als Gegenpol der abendländischen Todesversessenheit verstanden wissen möchte und für eine Philosophie der Anfänglichkeit plädiert: »Es ist, als haben die Menschen seit Plato das Faktum des Geborenwerdens nicht ernst nehmen können, sondern nur das des Sterbens. Im Geborensein etabliert sich das Menschliche als ein irdisches Reich, auf das hin sich ein Jeder bezieht, in dem er seinen Platz sucht und findet, ohne jeden Gedanken daran, dass er selbst eines Tages wieder weggeht.« (Arendt 2002, 463) Der Gedanke, den Arendt

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hier fast nebensächlich anführt, birgt im Grunde revolutionäres Potenzial, wenn man ihn konsequent auf den Mainstream der abendländischen Philosophie anwendet. Ebendies hat Hannah Arendt getan – sie hat das Postulat, das sie schon als 22-Jährige in ihrer Dissertationsschrift gestellt hatte und das ein Denken der Anfänglichkeit, ein Eingedenk-Sein der Gebürtlichkeit des Menschen fordert, selbst in all ihren Schriften eingelöst, daran konnten selbst die Erfahrungen des Nationalsozialismus nichts ändern. Mit dieser zentralen Stellung der Anfänglichkeit in ihrem Denken wandte sich Arendt nicht nur gegen einen allgemeinen Diskurs, sondern sie emanzipierte sich damit auch im Besonderen von ihrem Lehrer Martin Heidegger. Entsprechend ihrer bewussten Hinwendung zur Gebürtlichkeit beschäftigte sich Arendts Nachdenken über den Menschen und sein – ihrzufolge niemals auch nur annähernd fassbares oder existenzial beschreibbares – Wesen hauptsächlich mit den Lebensäußerungen, so beispielsweise dem Sprechen und Handeln. Ihrem Denken, wie sie es etwa zu diesem Thema in Vita Activa ausbreitet, ist eine gewisse Eigenständigkeit und Originalität in jeder Zeile anzumerken, die »Gesetze« der Philosophie des 20. Jahrhunderts scheinen für sie außer Kraft gesetzt zu sein. Wo andernorts die Unzulänglichkeit der Sprache im Vordergrund steht, stellt Hannah Arendt deren grundsätzlichen Wert explizit außer Frage. Ein von aller Eitelkeit der Welt befreites, absolut »wahrhaftes« Leben, wie es viele ihrer Kollegen letztlich fordern, müsste auf beides, die Sprache und das (Miteinander-)Leben, verzichten. Diesen Preis, der letztlich einem Verzicht auf das Leben selbst gleichkommen würde, ist sie nicht bereit zu zahlen: »Ein Leben ohne alles Sprechen und Handeln […] wäre buchstäblich kein Leben mehr, sondern ein in die Länge eines Menschenlebens gezogenes Sterben.« (Arendt 1960, 165) Arendts Überlegungen setzen dort an, wo der Mensch sich der Welt und seinen Mitmenschen in seiner Einzigartigkeit mitzuteilen beginnt, wobei sie diese Mitgestaltung der Welt durch den Einzelnen durch Sprache und Handeln als einen Prozess versteht, dem die Kraft einer zweiten Geburt innewohnt. Diese bestätigt aber nicht nur die erste Geburt und einen in ihr sich äußernden Lebenswillen, sondern zeugt auch von einer Bewusstheit seiner Selbst und der Anderen, die mit einer bestimmten Verantwortung einhergeht. Die Besonderheit des Menschen ist für Arendt wohl auch mit seiner SelbstBewusstheit verbunden, mehr aber noch mit seiner »Kreativität«. Darunter versteht sie die in ihm veranlagten und durch sein (erwartetes, aber immer unerwartbares) In-die-Welt-Kommen bereits bestätigte Eigenschaft, ein Anfang zu sein und im Sprechen und Handeln immer wieder aufs Neue anzufangen: »[…] das, was vor dem Menschen war, ist nicht Nichts, sondern Niemand; seine Erschaffung ist nicht der Beginn von etwas, das, ist es erst einmal erschaffen, in seinem Wesen da ist, sich entwickelt, andauert oder auch vergeht, sondern das Anfangen eines Wesens, das selbst im Besitz der Fähigkeit ist anzufangen:

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es ist der Anfang des Anfangs oder des Anfangens selbst.« (Ebd. 166) Bereits die biblische Geschichte erzählt davon, dass die Möglichkeit des Anfangens mit der Erschaffung des Menschen von der exklusiven Macht eines Gottes zur Fähigkeit des einzelnen Menschenwesens wurde. Die Bewusstheit, mit der dieses einen Anfang, also eine Handlung, einen Sprechakt, setzen kann, entspricht dieser ursprünglich göttlichen Fähigkeit etwas zu schaffen. Diese Möglichkeit anzufangen bedingt einerseits Verantwortung (für diesen Anfang), andererseits aber auch Freiheit.48 Die bewusste Setzung neuer Anfänge ist eine wundersame Kraft, die selbst dem alltäglichen Menschenleben innewohnt, meist aber nur dann offensichtlich wird, wenn ein radikaler Neuanfang die Routine (die von vielen kleinen Anfängen durchsetzt ist) unterbricht: »Der Neuanfang ist immer das unendlich Unwahrscheinliche; er mutet uns daher, wo wir ihm in lebendiger Erfahrung begegnen […] immer wie ein Wunder an. Die Tatsache, daß der Mensch zum Handeln im Sinne des Neuanfangs begabt ist, kann daher nur heißen, daß er sich aller Absehbarkeit und Berechenbarkeit entzieht.« (Ebd. 167) Diese Schlussfolgerung ist geradezu ungeheuerlich, weil sie nicht nur jene Freiheit, die der Mensch mit seiner Bewusstheit und damit der Wahlmöglichkeit erworben hat, ins Unermessliche vergrößert, sondern ihm auch Anlass zu einer Hoffnung gibt, die die Grenzen des rational Erwartbaren weit übersteigt. Die »Radikalität des Fremden« kommt bei Arendt sozusagen durch die leuchtend helle Hintertüre herein; die höchst überraschende Erkenntnis nach der langwierigen Suche in der tröstenden, dann aber immer wieder höchst bedrohlichen Stille des Todes ist, wenn man diesem Gedankengang Arendts folgt, diese: Die radikale Fremdheit, die wir am Tod so fürchten, tritt im Wundersamen der Anfänglichkeit ganz offensichtlich zutage. Wir alle sind geboren als Unabsehbare und Unberechenbare (die wir auch zeitlebens bleiben, Arendt verweigert sich jeglicher Definitionsmöglichkeit eines menschlichen »Wesens«), wir selbst sind diese Unwahrscheinlichkeit des radikalen Neuanfangs und dieser wiederum garantiert unsere unhintergehbare

48 | In Heideggers Philosophie wird dem Menschen nur die Freiheit eingeräumt, sich in der Vereinzelung eines »Seins zum Tode« auf diesen hin zu entwerfen. Der Unterschied zu Arendt ist gerade in diesem Zusammenhang eklatant. Dennoch ist ihre Philosophie, was den Aspekt der Anfänglichkeit betrifft, bis heute nicht auf breiter Basis rezipiert worden. Heideggers Thanatologie aus Sein und Zeit hingegen hat bis heute enormen Einfluss auf sämtliche Disziplinen der Geistes- und Kulturwissenschaften, es scheint also offensichtlich, dass seine Art, das Leben und den Tod zu denken, unserer (im Übrigen immer noch ganz und gar männlich geprägten) Kultur wesentlich näher steht. Es lohnt sich allerdings darüber nachzudenken, wie umwälzend die Veränderungen wären, die eine konsequente Anwendung einer Philosophie der Gebürtlichkeit hätte.

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Einzigartigkeit.49 Diese ist – deshalb scheint mir hier der Begriff des »radikal Fremden« gerechtfertigt zu sein – inkommensurabel, wobei die Entzogenheit des Wesens einer Anderen unserer Alltagserfahrung durchaus entspricht. Sobald wir versuchen, einen uns auch noch so vertrauten Menschen zu beschreiben und uns dabei notwendigerweise allgemeiner Begriffe bedienen, werden wir feststellen, dass es uns niemals gelingen kann, diesen Anderen sprachlich zu fassen. So weit die Kunst eines Dostojewski, das Porträt eines Menschen zu entwerfen, auch fortgeschritten sein mag, niemals wird daraus das Ebenbild eines Menschen aus Fleisch und Blut. Diese Unbeschreiblichkeit des Menschen gründet laut Arendt darin, dass ebendiese Einzigartigkeit nicht die Summe gewisser aufzähl- und benennbarer Eigenschaften ist, sondern vielmehr auf dem »Faktum der Natalität« beruht, »der Gebürtlichkeit, kraft derer jeder Mensch einmal als ein einzigartig Neues in der Welt erschienen ist. Wegen dieser Einzigartigkeit […] ist es, als würde in jedem Menschen noch einmal der Schöpfungsakt Gottes wiederholt und bestätigt.« (Ebd. 167) Während das Denken des Todes also die radikale Fremdheit in der Aporie eines uns selbst bevorstehenden Nicht-Geschehens ver- beziehungsweise entortet, sitzt der Stachel dieses irreduziblen Fremden vom Leben aus gedacht im lebendigen Anderen, dem gegenüber wir qua Verwobenheit in das Bezugssystem des Handelns und Sprechens,50 das ja ohne diesen Anderen nicht denkbar ist, Verantwortung tragen. Zu Beginn dieses Kapitels über den Tod hat Blanchot die Aufgabe des Selbst und die Hingabe an seinen Gegenstand als eine der Voraussetzungen für die Entstehung von Literatur, von Kunst im Allgemeinen, angenommen. 49 | Wiederum sticht hier ein fundamentaler Unterschied zum Heidegger’schen Paradigma ins Auge: Das »Man«, das in seiner Philosophie einen so zentralen Platz einnimmt und letztlich auch, wie ich zu zeigen versucht habe, immer wieder den Zugang zum »Anderen« gefährdet, wird von diesem Entwurf einer Einzigartigkeit, die im wahrsten Sinne des Wortes angeboren ist und nicht erst erworben werden muss, in die Schranken verwiesen. Wenn wir mit Arendt das Einzigartige als vorgängig und die Macht des unbedeutenden Allgemeinen als sekundär betrachten, dann werden sämtliche »Sicherheitsvorkehrungen«, die Heidegger der Kraft des »Man« entgegensetzt, mit einem Mal obsolet. 50 | Erwähnenswert ist auch noch der Unterschied, den Arendt zwischen Handeln und Sprechen in Bezug auf die Logik der Anfänglichkeit macht. Das Handeln sei in diesem Zusammenhang als der Geburt des Jemand äquivalent zu denken, es »realisiert in jedem Einzelnen die Tatsache des Geborenseins« (Arendt 1960, 167). Das Sprechen hingegen entspricht in ihrem Denken der Einzigartigkeit dieses Jemand oder, anders ausgedrückt, es realisiert die »spezifisch menschliche Pluralität, die darin besteht, daß Wesen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer Umgebung von ihresgleichen befinden« (ebd.).

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Diese Vorstellung einer Entgrenzung des Selbst, die, wenn man sie konsequent weiterdenkt, in Hinblick auf die Sprache im Verstummen, in Hinblick auf die Existenz im Tod gipfelt, gehört spätestens seit der Romantik zum fixen Repertoire der Definition von Kreativität, und so wird es in Philosophie und Literatur weiter perpetuiert. Diese Vorstellung von der Notwendigkeit einer schmerzhaften Selbstaufgabe – mit der auch der Verzicht auf (individuelle) Einzigartigkeit verbunden ist – ist uns zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Hannah Arendt bricht die Vertrautheit, mit der wir diesem Gedanken begegnen, und schlägt damit die Einnahme einer revolutionären Perspektive vor. Sie fasst die Einzigartigkeit des Menschen, die selbstverständlich auch negative Aspekte umfasst, als ein Gut auf, dem wir verpflichtet, mit dem wir aber auch (fast) unauflöslich verbunden sind. Dieses »Wer«, wie Arendt es nennt, teilt sich, ganz ohne unser Zutun und ob wir es wollen oder nicht, in allem mit, was wir sagen oder tun, woraus folgt, dass: »Nur vollkommenes Schweigen und vollständige Passivität […] dieses Wer vielleicht zudecken [können], den Ohren und Augen der Welt entziehen, aber keine Absicht der Welt kann über es frei verfügen, ist es erst einmal in Erscheinung getreten.« (Ebd. 168) Arendt stellt damit in Frage, ob ein solches Auflösen der »Wer«-Grenzen überhaupt möglich ist, solange es noch irgendeine Lebensäußerung (hinter der Kunst) gibt, andererseits nimmt es der (künstlerischen) Selbstaufopferung ihren Nimbus. Dieses »Wer«, auf seine Weise ebenso unberührbar wie der Tod, aber im Gegensatz zu diesem keineswegs fern, ist, von der Anfänglichkeit her gedacht, schließlich das Wertvollste, das Signum seiner Auszeichnung, über das der Mensch nicht verfügen kann, wohl aber zu wachen hat. Eine Entgrenzung des Selbst erscheint aus dieser Perspektive fast schon moralisch fragwürdig, zumindest aber wenig erstrebenswert. Dabei unterwirft aber ein solches Denken den Anderen (oder die Objekte der künstlerischen Auseinandersetzung) nicht dem »Wer«, sondern ist ihnen verpflichtet.51 Mit dieser Einzigartigkeit, in der Welt zu sein und sich mit dem Leben der Anderen zu verbinden – so lautet die Aufgabe des Menschen in Hannah Arendts Philosophie. Die Erfüllung dieser Aufgabe birgt auch ein Risiko, nämlich das, sich ganz auf die Anderen einzulassen. Das wiederum setzt die Bereitschaft voraus, sich als ein Jemand unter Seinesgleichen zu betrachten und sich in seiner ganzen Verletzlichkeit, die Anfang und Ende des menschlichen Lebens nun einmal bedingen, auf diese Verwobenheit mit den Anderen einzulassen. Das bedeutet auch den Verzicht 51 | Das bedeutet bei Arendt allerdings nicht »zur Aufopferung verpflichtet«. Die Begriffe »Verantwortung« und »Verpflichtung« dem Anderen gegenüber erinnern an Emmanuel Lévinas. Die Verantwortung für den Anderen gerät bei ihm immer in Gefahr, zum Anspruch einer Selbstaufopferung, ja sogar einer Selbstopferung zu werden. Dieser Idee steht Hannah Arendt generell sehr kritisch gegenüber, allerdings nimmt sie dabei nie direkten Bezug auf Lévinas.

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auf die »ursprüngliche Fremdheit«, mit der der Mensch geboren wird und die ich nur so lange behalten kann, wie ich mich nicht in authentischen Taten und in meiner einzigartigen Sprache zur Welt verhalte: »Diesen Verzicht aber kann sich weder das Für- noch das Gegeneinander leisten; die Tatkraft der Güte wie der des Verbrechens entspringen einer Distanz, in der die ursprüngliche Fremdheit des durch die Geburt in die Welt Gekommenseins festgehalten wird, wobei es in unserem Zusammenhang gleichgültig ist, daß diese Fremdheit in dem einen Fall sich im Selbstopfer und im anderen in einer absoluten Selbstsucht realisiert.« (Ebd. 169f.) Dies ist ein gefährliches Zitat für das Vorhaben dieser Arbeit, denn es stellt den Begriff der Fremdheit in einen so negativen Kontext, dass es die Idee einer positiv konnotierten radikalen Fremdheit – die als die Grenzerfahrung im Sinne einer Verweigerung des Zugriffs auf den Anderen zu denken wäre – in den Schatten zu stellen, also zu verdunkeln droht. Gleichzeitig ist es ein immens wichtiger Satz, weil er den eingenommenen Standpunkt im Sinne der bisherigen Perspektive auf das Fremde verändert. Hannah Arendts Misstrauen gegenüber dem Fremden ist gewissermaßen die das Ich mit seinen Ansprüchen zur Demut zwingende Grenze, von der anderen Seite her betrachtet. Sie wendet sich folglich auch nicht gegen einen positiven Fremdheitsbegriff (die Fremdheit des Anderen im Sinne einer Einzigartigkeit, die jedem Menschen eignet, ist ja gerade bei Arendt von großer Bedeutung), vielmehr verweist sie uns auf die Notwendigkeit einer Grenze in dieser positiven Bezugnahme auf die Fremdheit. Wenn diese nämlich als Ausgangs- und Bezugspunkt jeder Betrachtung zu einem archimedischen Punkt erhoben wird, der sie ja ihrem Wesen nach eigentlich nicht sein kann, so ist der Weg zu einem – notwendigerweise – unmoralischen Solipsismus nicht mehr weit. Blanchot muss einen besonderen Zusammenhang zwischen seiner Philosophie und den Schriften de Sades empfunden haben, ansonsten hätte er diese wohl nicht zu einem der wichtigsten Referenztexte seines eigenen Schaffens werden lassen. De Sades literarische Texte aber sind Huldigungsschriften einer ausschließlich destruktiven Fremdheit, einer bewusst gesteigerten Beziehungs- und Bezugslosigkeit in dieser Welt. Gleichzeitig setzen sie alle Grenzen außer Kraft. Die literarischen Figuren, die de Sade schafft, sind keinem Gott mehr Rechenschaft schuldig, sie pervertieren alle Werte, die das »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« (ebd. 171) geschaffen hat und betrachten sich, bezogen auf diese Gesellschaft, als absolut fremd. Hier gibt es keine Sprache mehr, die verbindet oder auch nur ansatzweise darauf aus wäre, Wahrhaftiges zu sagen. Die gesetzten Handlungen sind Verbrechen am Anderen, der ein absolut Fremder bleibt, was auch jegliche Empathie ausschließt. De Sades Texte lassen sich somit als ein Ausdruck tiefer Trauer um die verlorene Vertrautheit zwischen den Menschen lesen und setzen damit einer ins Absolute gesteigerten Fremdheit, die sich nicht mehr auf ein Miteinander-Sein hin durchbrechen lässt, ein literarisches

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Denkmal. Vielleicht hat Blanchot so oft Bezug auf diese Texte genommen, weil er sich dieser Gefahr eines Denkens der Fremdheit, das zu einem Denken der aggressiv abgrenzenden und ausschließlichen Fremdheit werden kann, immer bewusst war. Ich schließe aus Arendts Definition der Anfänglichkeit für diese Arbeit und den in ihr so wesentlichen Begriff der Fremdheit, vor allem jenen der radikalen Fremdheit, Folgendes: Die Begrifflichkeiten, die Phänomene des Fremdseins zu fassen versuchen, allen voran jener der radikalen Fremdheit, können nicht per se positiv oder negativ gesetzt werden. Die ihnen innewohnende Gefahr lässt sich etwa an dem Begriff der Entfremdung ablesen, der auf ein Fremdwerden selbst noch des Eigensten und die Verantwortungslosigkeit (gegenüber der eigenen Einzigartigkeit und jener der Anderen) hinweist. Das Bemühen, dem Eigenen im Sinne jenes Einzigartigen, wie es Arendt beschreibt, und dem Anderen im Sinne einer Aufeinander-Bezogenheit (nicht der Selbstaufopferung) verbunden zu bleiben, muss aller Auseinandersetzung mit der Fremdheit übergeordnet sein, wenn es nicht in den Abgründen einer monadischen Existenz enden soll. Die Priorität des Mit-den-Anderen-Seins vor der Erkenntnis einer Fremdheit in ihnen oder ihnen gegenüber entspricht auch unserer Alltagserfahrung, in der wir einen Menschen erst einmal kennen lernen müssen, bevor er uns »fremd wird«, sie entspricht außerdem auch einer ethischen Notwendigkeit. Anders gesagt, stellt die radikale Fremdheit keinen Fluchtpunkt dar, auf den hin ich mein Leben ausrichten kann, anstatt es auf das Mitsein mit Anderen auszurichten. Sie ist vielmehr die Grenze, auf die ich in diesem Mitsein früher oder später stoße und zu der ich mich wohl oder übel verhalten muss. Ähnliche Charakteristika weist das Phänomen des Todes auf, das uns alle angeht und als solches eine Haltung einfordert. Niemand kann sich diesem Anspruch entziehen, er lässt sich vielleicht eine Weile aufschieben, aber früher oder später kommt er unbarmherzig wieder, meist in Form der Trauer um einen nahestehenden Menschen. Insofern ist der Tod also durchaus bedenkenswert, auch wenn er – in dieser Hinsicht hat Hannah Arendt unzweifelhaft Recht – in der abendländischen Kulturgeschichte ein Übermaß an Beachtung erfahren hat, wenn man ihm die Ignoranz der Anfänglichkeit gegenüberstellt. Ich möchte deshalb in Bezug auf den Text Alice von Judith Hermann, der im Mittelpunkt des folgenden Kapitels stehen wird, nicht nur die Repräsentationen des Todes, sondern auch jene der Anfänglichkeit – sofern sie in den Kontext einer radikalen Fremdheit gestellt werden können – betrachten. Auf diese Weise soll der hier vertretene theoretische Anspruch einer Vorrangigkeit des lebendigen Bezugs auf einen in seiner Einzigartigkeit nicht nur fremden, sondern auch zutiefst vertrauten Anderen vor jeglicher Erfahrung einer (radikalen) Fremdheit eingelöst werden.

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5.2 »D as heulende G esicht, das U nversöhnliche , das N icht - als - ob der D inge « 52 . D er Tod als liter arisches P rinzip. E ine responsive L ek türe von J udith H ermanns A lice In seiner Ästhetik der letzten Dinge bezeichnet Hart Nibbrig die »Nichtdarstellbarkeit des Endes als stärkste Herausforderung für die ästhetische Vernunft« (Hart Nibbrig 1989, 9). Es ist intuitiv sofort nachvollziehbar, dass diese Aussage richtig ist, dass also der Tod, diese Antipode der (ästhetischen) Darstellbarkeit schlechthin, jenes »Unthema« ist, an dem zumindest die erzählende Literatur eigentlich nur scheitern kann. Dennoch gibt es von Beginn der Literaturgeschichte an kaum eine Erzählung, die nicht auch vom Tod handelt; dies gilt gerade für das Gilgamesch-Epos, die oft noch mündlich tradierten Mythen oder die homerischen Epen. Die Literatur hatte offensichtlich lange Zeit kaum Schwierigkeiten mit der Beschreibung des Todes. Die Inhalte dieser ersten großen Erzählungen der Menschheitsgeschichte waren das Leben in seiner nicht-alltäglichen Heldenhaftigkeit, Grausamkeit, Wundertätigkeit und Abgründigkeit. Diese Vorrangigkeit des Aporetischen wurde von einem Götterreich aufgefangen, das über alles Unerklärliche herrschte und sich von der Menschheit oft nur durch ein paar besondere Befugnisse unterschied, die es möglich machten, das zu regieren, was dem Menschen unzugänglich blieb und dem er somit ausgeliefert war. Eine radikale Fremdheit den Sterblichen gegenüber können aber beispielsweise die griechischen Götter nicht beanspruchen, ähnlich den heutigen, die Zeiten eben nicht mehr überdauernden, sondern sich den neuen Entwicklungen und Moden stetig anverwandelnden Superhelden, wurden sie von ihren literarischen Schöpfern (damals wie heute sind sie meistens Schöpfungen eines Kollektivs, auch wenn sie einem Autor zugeordnet werden) meist in Analogie zu den Menschen gestaltet, bereichert um ein paar durchaus wesentliche Befugnisse und Fähigkeiten. Dieser fiktive Zugriff auf Phänomene, denen der Mensch ausgeliefert ist, durch ein Figureninventar mit Superkräften scheint eine der ursprünglichsten Funktionen von Literatur gewesen zu sein. Literatur hat in diesem Sinne Fremdheit reduziert, selbst der Tod bekam in ihr ein Gesicht, eine Topographie, ja er wurde sogar einer bestimmten Gesetzmäßigkeit unterworfen. Die Unbefangenheit im literarischen Umgang mit dem Tod ist – zusammen mit den Göttern – aus zeitgenössischen Texten weitgehend verschwunden, anzutreffen ist sie nur noch in den meist oral tradierten Märchen sämtlicher Kulturen (vgl. Heindrichs 1993). Der Tod ist in dem Maße ein (ästhetischer) Abgrund geworden, wie religiöse Vorstellungen von Gott und Jenseits ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt haben und zunehmend obsolet geworden sind. Während etwa die deutschspra52 | Mayröcker 1987

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chige Literatur vor 1945 noch mit der Abwesenheit eines Gottes haderte und diese zum literarischen Untersuchungsgegenstand erster Ordnung erhob, war dieses Thema in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg großteils verschwunden. Göttliche Allmacht war zu einem ethischen und ästhetischen Problem geworden, die zuvor zumindest noch mit dem Sakralen verbundenen Zeichen entzogen sich jeder Herrschaft. Ihr ketzerisches Eigenleben eröffnete eine neue Dimension der Fremdheit, in der Literatur entäußerte sich die radikale Unvertrautheit einer Welt, die nun endgültig sich selbst überlassen war. Die ästhetische Darstellung des Todes wurde unter diesen Prämissen zum Versuch, sich diesem endlosen Abgrund anzunähern, ohne sich in ihm zu verlieren. Darstellbarkeit bedeutet einen zumindest temporären Sieg über den Tod: »Solange ich schreibe, bin ich noch nicht tot«, könnte die Parole dieser »gottlosen« Literatur lauten. In dieser reduzierten Form ist der Tod in der zeitgenössischen Literatur noch immer sehr präsent, gestorben wird in Romanen ohnehin fast immer, aber die unmittelbare Thematisierung des Todes hat stark abgenommen. Judith Hermanns Text Alice kann entweder als Roman oder aber als eine Aneinanderreihung von Erzählungen gelesen werden, die allesamt durch dieselbe Protagonistin, Alice, miteinander verknüpft sind. Alice erlebt in fünf sehr unterschiedlichen Szenarien das Ableben eines ihr nahestehenden Menschen mit. Diese Nähe, die in diesen Momenten ein Ende findet, ist ebenfalls ganz unterschiedlich definiert. Die Reaktion der Protagonistin auf die fünf Tode scheint jedoch auf den ersten Blick gar nicht so unterschiedlich zu sein. Es ist ein äußerst distanziert erzähltes Zurückbleiben, das kaum Einblicke in die Gefühlswelt der Protagonistin zulässt, dem als erzählerisches Gegengewicht jedoch eine präzise und symbolisch aufgeladene Beschreibung von Alices Umwelt gegenübergestellt wird, die sich in der Erfahrung des nahenden Todes weiter steigert und eine originäre Sprache, schließlich sogar eine eigene Erinnerungskultur hervorbringt. Der Tod selbst wird vom Text zwar beständig umkreist, der Erzählfluss bricht aber dort ab, wo der Tod beginnt. Die so entstehenden Leerstellen bewirken in paradoxer Umkehrung der sicht- und logisch nachvollziehbaren erzählerischen Strategie eine ständige Präsenz des Todes in den herauf beschworenen, vor Leben strotzenden Bildern. Hermanns Text ist dennoch von einem zutiefst ernsten Ton bestimmt, der nichts Tröstliches erkennen lässt, dafür aber in einzigartiger Weise zeigt, dass die Kultur des Todes, insofern als diese eine Kultur des Abschiednehmens, Loslassens und gleichzeitigen Erinnerns ist, die Bedingung von Sinnhaftigkeit und Bedeutung ist. Judith Hermanns Alice ist ein radikal anderer Text, das bezeugt selbst noch seine Außenwirkung, das stark polarisierende mediale Echo, das diesen Schwellentext krampfhaft einzuordnen versucht – wenn schon nicht in der deutschen Literaturgeschichte, so zumindest im Werk der Autorin. Die Limi-

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nalität, die ein derartiges Unterfangen schwierig, wenn nicht sogar unmöglich macht, ist Alice in jeder Facette eingeschrieben. Egal aus welcher Perspektive man sich diesem Text annähert, seine geradezu blendende sprachliche Klarheit und die vielfach kritisierte Geschliffenheit der Begriffe entziehen sich jedem, vor allem dem emotionalisierten Zugriff, den das Thema Tod zu erfordern scheint. Dieser durch und durch grenzwertige Text ist noch nicht einmal einer Gattung eindeutig zuzuordnen, die fünf Episoden sind zwar nicht nur durch ihre Protagonistin, sondern auf verschiedenen isotopischen Ebenen miteinander verbunden, doch sie lassen sich auch als in sich abgeschlossene Erzählungen lesen. Judith Hermann selbst bezeichnet Alice in Interviews bewusst nicht als Roman, sie setzt einer Lektüre des Textes als Roman aber auch nichts entgegen (vgl. Hugendick, Porombka 2009, 3). Alice erzählt fünf Episoden, die in durchnummerierte Kapitel unterteilt sind, jedes von ihnen trägt den Namen eines Mannes. In vier der fünf Erzählungen stirbt der Namensgeber des Kapitels, die vorletzte Episode, »Malte«, fällt erzählerisch und inhaltlich aus dem Rahmen: Hier stirbt niemand, vielmehr geht es um die Bedeutung eines Namens, die Quelle für wirkmächtige Erinnerungsbilder eines beendeten Lebens, das in die erzählte Gegenwart herüberreicht. Alice tritt in allen fünf Episoden auf, auch wenn diese nicht aus ihrer, sondern aus einer auktorialen Perspektive geschildert werden. Sie steht in enger Verbindung zu den Männern, deren Sterben geschildert wird, wobei »die Grenzen zwischen Vertrautheit und Liebe fließend« (Lovenberg 2009, 2) sind und die Beziehungen zwischen sämtlichen Figuren generell kaum geklärt werden. Erinnerungen an die Vergangenheit und das Leben derer, die entweder schon tot sind oder aber auf der Schwelle zwischen Leben und Tod verharren, tragen in Alice stets die Züge einer subjektiv-imaginativen Reinszenierung, die zwar eine bestimmte Form von Authentizität, dafür aber keinerlei Faktizität aufweisen kann. Im Mittelpunkt der Erzählungen stehen die geschilderten Figuren, steht das Sein, mehr noch das Mit-Sein auf der Schwelle zwischen Leben und Tod. Die sprachliche Spuren- und Bildersuche findet allerdings nicht im Inneren der Protagonistinnen, sondern in der Reflexion der städtischen beziehungsweise landschaftlichen Umgebung statt. Dort scheint die Sprachlosigkeit, mit der die Figuren dem Tod, der sich mitten im noch jungen und durchaus erfüllten Leben breit macht, begegnen, in bildhaften Projektionen wieder zu einzelnen Worten und Eindrücken (mehr als Ausdrücken) zu finden, die in teils archaischen Mythen wurzeln, ohne diese jedoch zu reproduzieren. Tatsächlich sieht sich die Leserin in Alice mit einer teils in privaten und/oder kollektiven Mythen verwurzelten, teils originären Bilderflut konfrontiert, die die Grenze zwischen Sprache und Bild zunehmend verschwimmen lässt. Die fünf Erzählungen, die ich als Schwellenerzählungen, als Narrative des Zwischen bezeichnen möchte, entfalten sich allesamt in der Dialektik zwischen Drinnen und Draußen. Diese entspricht der Grenz-

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erfahrung, der alle Figuren ausgesetzt sind, und setzt deren Haltlosigkeit immer wieder etwas Festes, Konturiertes entgegen, das aus der Tiefe dieser glasklaren und nur vermeintlich einfachen Sprache aufsteigt. »Der Philosoph denkt, wenn er Drinnen und Draußen sagt, an Sein und Nichtsein« (Bachelard 2007, 211), so Gaston Bachelard in seiner Poetik des Raumes, in der er aus dieser Grundidee eine Metaphysik literarischer Topographien ableitet, die mir in ihren Grundannahmen auch für Alice zutreffend erscheint. Der von der Kritik vielfach vorgebrachte Vorwurf der Nüchternheit, die nichts weiter als eine »Wohlfühltraurigkeit« (Radisch 2009, 3)53 zulasse, liest an diesem für Alice konstitutiven Zusammenhang zwischen einem narrativ unangetasteten Innen und einem scharf konturierten Außen (an dem sich weit mehr erkennen lässt als subjektive psychologische Vorgänge) vorbei. Tatsächlich wird die Grenzlage der menschlichen Existenz in Alice in eine Sprache übersetzt, die jedes noch so kleine und unbedeutend scheinende Detail der Außenwelt mit dem Tod und seiner permanenten Bedrohung für alles Seiende verbindet. Diese Perspektive lässt eine Welt hinter der Welt sichtbar werden, in der Zeit und Raum, folglich auch Begriffe wie Nähe und Distanz, eine völlig neue Dimension gewinnen. Eine der letzten Szenen von Alice entwirft ein Bild dieser nicht im psychologischen, sondern im räumlichen Sinne projektiven Poetik: »Später ging sie nach Hause. Durch die sehr freundliche Nacht. Sie winkte noch ein ganzes Stück lang, winkte, ohne sich umzusehen, sie sah ihrem Schatten auf der Straße zu, ein expliziter Schatten, scharf geschnitten, die winkende Hand viel zierlicher als ihre eigene.« (Hermann 2009, 188f.) Alice ist in der Sprache einer Erzählerin verfasst, die um die Grenzen dieser Sprache weiß und sie anerkennt, sie aber trotzdem zu ihrem ureigensten Gebiet macht. Ob es der großen Worte und literarischen Gesten tatsächlich bedarf, sobald es um den Tod geht, ist fraglich. Alice scheint mir das Gegenteil zu beweisen. Im Folgenden möchte ich in einem ersten Schritt eine Annäherung an eine in Alice deutlich erkennbare Ästhetik der Distanz versuchen, die – in meiner Lesart – Alice einen Grundton der Unnahbarkeit gibt, der sich letztlich jedoch als eine tiefgründige und äußerst ernsthafte Suche nach einer Sprache erweist, die der Vergänglichkeit angemessen ist. Ein weiteres Kapitel wird den Erinnerungsräumen gewidmet sein, die Alice erst kaum, dann aber immer mehr bewohnbar zu machen vermag und die eng mit der Entwicklung einer originär-bildhaften Sprache verbunden sind. Diese ist als narrativer Grundmodus für Alice nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich von größter Bedeutsamkeit, weshalb den räumlichen Schwellentopographien dieses Erzählbandes 53 | In dieselbe Richtung geht auch die Rezension von Ina Hartwig, deren Fazit lautet: »Was hier zählt, sind bloß Stimmungskonstellationen und ein situativer Existenzialismus.« (Hartwig 2009, 2)

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und ihren sprachlichen Auswirkungen ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Die Frage, was bleibt und was bleiben kann von einem wohl oder übel zu Ende gelebten Leben, ist in Alice vom ersten Kapitel an zentral und wird vom Ende des Textes her noch einmal neu zu beantworten sein. Deshalb wird sich ein abschließendes Kapitel zu diesem Text mit der »Raymond«-Episode und der hier verdichteten imaginativen Erinnerungs- und Sprachkultur beschäftigen.

5.2.1 »Wahrscheinlich ist es sehr schön« – die Ästhetik der Distanz in Alice als Grund und Abgrund der Erzählung Der Einstieg in Judith Hermanns Text ist abrupt, so übergangslos plötzlich, dass man versucht ist, von einer gewissen Brutalität des Anfangs zu sprechen. Nicht jede der fünf Episoden beginnt so radikal wie die erste, in der es ganz einfach heißt: »Aber Micha starb nicht.« (Ebd. 5) Einige der Erzählungen beginnen ganz und gar banal, aber der Leser wird stets ohne Vorbereitung oder Warnung mit einer Welt konfrontiert, in der der Tod auf die eine oder andere Weise die Vorherrschaft übernommen hat. Die knappe, glasklare Sprache ist in diesem Zusammenhang ungewohnt, sie wirkt an manchen Stellen geradezu provokativ und das spiegelt sich auch in der gespaltenen, zum Teil recht harschen Kritik an diesem Text wider, dem es angeblich an Tiefgang, »an Vorgeschichte, Psychologie, an seelischer Tiefe, Zuspitzung und Konflikt« (Hartwig 2009, 2) fehle. Tatsächlich werden die seelischen Regungen von Alice, die vier der fünf geschilderten Tode begleitet, erzählerisch ausgespart, es ist fast so, als halte die Distanz, die die Nähe des Todes und die damit verbundene Traurigkeit schaffen, auch die Erzählinstanz auf Abstand zu den beschriebenen Figuren. Dieses Wahren des Abstands erfüllt im Text eine komplexe Funktion und erscheint auch als eine Geste des Respekts vor der Unnahbarkeit des individuellen Abschiednehmens und der unteilbaren Aufgabe des Zurückbleibens. Das damit verbundene existenzielle Leid wird mit dieser Erzählweise als absolut anerkannt, als etwas, das in einen Abgrund blickt, dem nichts und niemand gewachsen ist und das vor allem sprachlich nicht mehr fassbar ist. Die daraus resultierende narrative Distanz wird im Text mehrfach thematisiert, etwa dann, wenn Alice vom letzten Besuch bei ihrem sterbenskranken Freund Richard und dessen Lebensgefährtin zurückkehrt, unfähig, das eben Erfahrene selbst noch mit dem Menschen zu teilen, der ihr am nächsten steht: »Es schien etwas um sie herum zu sein, das Raymond davon abhielt, sie anzufassen. Zu umarmen, wie sagt man, ihr ist das Wort Umarmung abhanden gekommen, sie wünschte sich, er würde jetzt gehen.« (Hermann 2009, 123) Die relativ zu den Erfahrungen der Figuren distanzierte, also auktoriale Erzählinstanz in Alice wahrt ebenfalls diesen Abstand, sie unterlässt jegliche Psychologisierung und bleibt ganz einem Außen verhaftet. Dieses wird jedoch nicht als ein Äußeres, im Sinne eines zur Wahrnehmung der Figuren konträren Diesseits

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des Ausnahmezustands geschildert, sondern bleibt der gesteigerten Wahrnehmung, die die Todesnähe bewirkt, verhaftet. Was unter diesen Voraussetzungen zur Sprache kommt, ist eine Art Bestandsaufnahme des Dinglichen und Räumlichen, die in ihrer Kargheit ein wenig an das Kriegsgedicht Inventur von Günther Eich erinnert. Dort reduziert das lyrische Ich sich ebenfalls auf das Überlebensnotwendige, das in einer – wenn auch ganz anders als in Alice bedingten – Ausnahmesituation und unter dem Eindruck extremer Todesnähe das Einzige zu sein scheint, was noch sprachlich fassbar ist. Der auf den ersten Blick nüchtern wirkende, sprachlich präzise, aber von jeder Emotionalität befreite Reduktionismus dieses Gedichts rührt dabei an etwas Tieferes als das Gefühl der Empathie oder des Mitleids, das einer solchen Situation vielleicht angemessen erschiene. Die unkommentierte Aufzählung der Habseligkeiten hat in ihrer Einfachheit etwas Kindliches an sich, es scheint, als gäbe es für das lyrische Ich keine Metaebene mehr, von der aus es die Kategorien des Seins betrachten und ordnen kann. Ich, Meins, die Dinge und über allem der Tod, die drohende Enteignung – die scheinbare Nüchternheit entpuppt sich als ein Regress in das Stadium einer ersten (und letzten) Orientierung in der Welt. Der Mensch, angesichts einer absoluten Lebensbedrohung wieder auf diese Grundkategorien des Denkens und Seins zurückgeworfen, offenbart sich in seinem ganzen Ausgeliefertsein und seiner Fragilität. Diese Form der sprachlichen Reduktion zeigt die ungeheure Verletzlichkeit des Menschen, der sich in größter Not noch an die einfachen Begriffe, das, was »greif bar« scheint, klammert, weil er weiß, dass sie die letzte Bastion seines Ich-Gefühls und seiner Zugehörigkeit zu einem Ganzen sind, das vielleicht größer ist als der Einzelne. In diesem Versuch eines Wiedergewinnens und Festhaltens der Dinge durch den (einfachen) Begriff und dessen ästhetische Gestaltung, der ihm eine gewisse Musikalität und damit eine ursprüngliche Unschuld verleiht, erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten zwischen Alice und Inventur. Festzuhalten bleibt, dass der protokollarisch-knappe Stil bei Judith Hermann weder neu ist noch als literarische Attitüde abgetan werden kann. In der ersten Erzählung, die in vielerlei Hinsicht die Grundlage für den Erzählband schafft, gibt es eine Urszene, die dem sprachlichen Reduktionismus des gesamten Buches eine Begründung gibt. Alice und Maja, die Frau des sterbenden Micha, leben gemeinsam mit der kleinen Tochter des Paares in einer Wohnung nahe des Krankenhauses, in das Micha zum Sterben verlegt wurde. Maja erhält mitten in der Nacht einen Anruf und wird über Michas Tod informiert: »Warte. Ich stehe auf, sagte Alice. […] Das Kind saß am Tisch, den Daumen im Mund, ohne Schlafsack, in einem blauen, kleinen Hemd mit Druckknöpfen auf der Schulter. Petit Bateau. Alice rieb sich die Augen. Maja stand einfach da, mitten im Raum. Astronauten, dachte Alice, wir sind wie Astronauten, es gibt nirgends einen Halt.« (Hermann 2009, 43f.) Hermanns Figuren befinden sich in Alice häufig in dem hier beschriebenen Zustand zwischen Schlafen und Wachen,

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Weiterleben und (baldigem) Tod und der Schwindel, der diese Grenzszenarien dominiert, macht selbst die Besinnung auf einfache Begriffe und das, was zu tun nötig ist, zu einer großen Anstrengung. Angesichts des Todes, der ohnehin nicht begriffen, auf den man ohnehin nicht vorbereitet sein kann, mit dem eine »Begegnung« im eigentlichen Sinne völlig ausgeschlossen ist – es sei denn, man stürbe selbst und selbst dann ist von einer »Begegnung« vermutlich nicht mehr zu sprechen –, bleibt kaum etwas übrig, als die Dinge zu benennen, zu sortieren und ganz langsam wieder einen Bezug zu ihnen und den Worten, die sie bezeichnen und gleichzeitig fernhalten, zu entwickeln. Diese absolute Zerstörung der Koordinaten eines Lebens, die jeder der fünf geschilderten Tode für eine andere Figur in der Erzählung bedeutet, lässt die sprachliche Besonderheit dieses Textes, der immer wieder die Syntax zu Gunsten des einzelnen, einfachen Wortes aufgibt, durchaus angemessen erscheinen. Ein Bild, das etwas über diese Struktur der Erzählung und sein Funktionieren aussagt, ist das der Spinne. Sie ist ein in allen fünf Erzählungen wiederkehrendes Motiv und dient als komplexer semantischer Bezugspunkt. In der ersten Erzählung sprechen Maja und Alice abends über die gemeinsame Vergangenheit von Alice und Micha. Hier kommt auch das Spinnenmotiv zum ersten Mal vor: Alice zögerte, dann sagte sie, am letzten Abend dieser Reise haben wir so zusammengesessen wie du und ich jetzt. Mit zwei Flaschen Bier gemeinsam an einem Tisch […] Und dann hatte eine Spinne zwischen den Bierflaschen ihr Netz gesponnen, sagte Alice. Zwischen den Flaschenhälsen, die ersten Fäden. Sie deutete die Größe der Spinne an mit Daumen und Zeigefinger, ein Reiskorn. Und das feine Seil zwischen den beiden Flaschen wie über einen Abgrund hinweg. […] Der kleinen Spinne eine Weile zugesehen, wie gelassen, selbstvergessen sie webte. Ihm tat’s leid, sagte Alice. Es tat ihm leid, ihr Werk zerstören zu müssen. Und, hat er es zerstört, sagte Maja. Na. Einmal darfst du raten, sagte Alice. Sie lachten beide darüber, leise, jede für sich. (Ebd. 42f.)

Das narrative Weben der Erzählstimme in Alice bewegt sich, ebenso wie das Werk der Spinne, über einem Abgrund. Genauso traumwandlerisch sicher, so selbst- und weltvergessen wie sie, webt auch die Erzählinstanz der »Micha«Episode an den ersten feinen Fäden eines Netzes, das sich am Ende des Textes in all seiner Fragilität und Durchlässigkeit über die Kluft spannt, die Leben und Tod nicht nur voneinander trennt, sondern eben auch miteinander verbindet. Die Arbeit des Worte- und Sätze(ent)spinnens ist, angesichts der Bedrohung durch das Nichts, eine so kraftraubende und gleichzeitig konzentrierte, meditative Arbeit, dass sie auch alle Verbindungen zwischen den lebenden Figuren zu kappen droht. Am Beispiel von Maja und Alice wird besonders deutlich, wie sehr die Einsamkeit des grenzwertigen Erlebnisses, jemanden vom Leben in

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den Tod zu begleiten, an den Möglichkeiten eines Miteinanders rührt. Diese Grenze zwischen Leben und Tod ist dabei auch jene, an der die Literatur sich in jedem Fall, das heißt unabhängig vom gewählten Thema, entlang bewegt. Judith Hermann macht dies vor allem durch die immer wiederkehrenden Reflexionen über das Wort und seiner Ohnmacht einer vom Sterben ständig bedrohten Welt gegenüber deutlich. Die Unerzählbarkeit der Dinge, umso mehr jene der Beziehungen und Ereignisse, ist dabei ebenso ständig präsent, allerdings als Ungesagtes und Leerstelle. Als unüberhörbarer Subtext dieser Erzählungen, die das Wesentliche nicht verschweigen, sondern präzise umschreiben. Die existenzielle Einsamkeit und ihre schwächeren Ausprägungen werden nicht nur auf der Ebene sprachlicher Reflexionen, sondern auch auf der Inhaltsebene, ständig thematisiert. Alle Figuren in Alice sind – und das mag wohl auch einer postmodernen Daseinsverfassung geschuldet sein – nur sehr lose in meist freundschaftliche Beziehungen verstrickt, familiäre Zusammenhänge spielen kaum noch eine Rolle. Maja scheint, abgesehen von ihrer Ehe mit Micha, alleine zu sein, denn sie ruft Alice, die Ex-Freundin ihres Mannes, an, als es darum geht, jemanden zu finden, der auf ihre kleine (namenlos bleibende) Tochter Acht gibt, während sie bei Micha im Krankenhaus ist. Obwohl es kein familiäres Eingebundensein mehr gibt, reichen zumindest die freundschaftlichen Beziehungen weit. Man erfährt zwar nie, was ihre Beweggründe dafür waren, aber Alice erfüllt Majas Bitte und macht sich umgehend auf den Weg in eine unbekannte Stadt, um dort mit einer ihr fast gänzlich fremden Frau und deren Kind auf das Sterben eines Mannes zu warten, mit dem sie vor langer Zeit einmal etwas verbunden hat, das man als kaum mehr als »eine Anekdote« (vgl. ebd. 14) bezeichnen kann. Trotz dieser grundsätzlichen Bereitschaft, für eine Andere da zu sein, erweist sich auch das Zusammenleben von Maja und Alice als durchaus wohlwollendes und loyales, aber dennoch von einer unüberwindbaren Distanz geprägtes Nebeneinanderherleben. Diese Assoziation legen einige Aussagen immerhin nahe, so etwa der Hinweis von Alice in der letzten Erzählung, dass der Koffer mit Michas Sachen, den ihr Maja zur einstweiligen Auf bewahrung zurück nach Berlin mitgegeben hat, noch immer nicht abgeholt worden ist. Die Gemeinschaft von Maja und Alice ist trotz des pragmatischen Grundes ihres Zustandekommens keine Zweck-, wohl aber eine Krisengemeinschaft, die sich nach deren Höhepunkt wieder auflöst, allerdings nicht ohne Spuren hinterlassen zu haben. Dennoch sind es nicht die menschlichen Beziehungen und schon gar nicht die Kommunikation, die die erzählerischen Fäden dieses Textes zusammenhalten. Gerade die Kommunikation erweist sich hauptsächlich als Ausdruck der Fragilität und Verunsicherung ihrer Sprecherinnen, denen, je näher (Michas) Tod ihnen rückt, die Bedeutungen zunehmend abhanden kommen oder zumindest ins Schlingern und Ausufern geraten: »Sie war trotzdem losgefahren. Micha war nicht gestorben. Nicht während sie im Zug saß, die Zeitung las, einschlief, wieder auf-

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wachte, Kaffee trank, einen sauren Apfel aß, aus dem Fenster sah, weinte, auf die Toilette ging, zweimal den Platz wechselte. Alles als ein Zeichen empfand und falsch deutete.« (Ebd. 12) Der Grund für das hin und wieder geradezu solipsistisch anmutende Aneinander-vorbei-Reden der Figuren ist weder in Gefühllosigkeit noch in mangelnder Empathie zu suchen, sondern einzig und allein in der sprachzersetzenden Wirkung, die die unmittelbare Gegenwart des Todes mit sich bringt. Diese tiefste Verunsicherung, die nicht zur Sprache gebracht werden kann, bewirkt auch jene vermeintliche Sicherheit, mit der gerade die (zukünftigen) Witwen in Alice ausgestattet sind. So heißt es etwa in dem Dialog, in dem Alice Maja den letzten Abend ihres Zusammenseins mit Micha schildert: »Und, hat er es zerstört, sagte [Herv. N.M.] Maja« und nicht etwa »fragte« Maja. Ganz ähnlich der sprachliche Gestus von Conrads Witwe Lotte, deren Kommunikationsstil ebenfalls als assertiv beschrieben wird: »Sie stellte Fragen im Ton von Feststellungen, erwartete aber trotzdem eine Antwort.« (Ebd. 53) Ein wenig erinnern Maja und Lotte, die selbst noch in der Lage scheinen, dem Tod in einer Art Mimikry der sprachlichen Versteinerung die Stirn zu bieten, auch an die kraftvollen Frauenfiguren bei Alice Munro, die oft schon alleine durch ihren Pragmatismus, der aus ihren zahlreichen täglichen Verpflichtungen resultiert, davon abgehalten werden, sich von den metaphysischen Abgründen ganz verschlingen zu lassen, die sich in ihren Leben auftun. Judith Hermann nennt Alice Munro immer wieder als eines ihrer literarischen Vorbilder und so gesehen mag diese Ähnlichkeit durchaus auch diesem traditioneller- und gezwungenermaßen weiblichen Pragmatismus geschuldet sein.54 Ebenso wird in Alice die Nähe von Kindern, so etwa die der kleinen Tochter von Micha im ersten Text, als eine Art vorsprachlicher Schutzwall dargestellt, der eine völlige Überwältigung durch den Tod verhindert: »Das Kind erwiderte nichts. Es sah Alice an, ein langer Blick voll rätselhafter Bedeutung. An seinem kleinen Kinn zitterte ein klarer Tropfen Spucke. Es war Michas Kind, und es sah seinem Vater sehr ähnlich.« (Ebd. 7f.)55 Einen metaphysischen Grund oder gar einen Trost für den Tod gibt es in Alice nicht, dennoch scheint die bloße Präsenz des sich fortsetzenden Lebens, wie sie durch die 54 | Viele der Erzählungen, die Alice Munro unter einem gemeinsamen Titel veröffentlicht hat, sind ebenfalls nicht klar gattungstypologisch einordenbar und überlassen es den Leserinnen, sie als einen Roman oder als mehrere, lose nebeneinander stehende Erzählungen zu rezipieren. 55 | Noch offensichtlicher wird die »magische« Erhabenheit des Kindes über den Tod in jener Szene, in der Maja und Alice nach Michas Tod voller Angst, weil sie schließlich zum ersten Mal in ihrem Leben einen Toten sehen sollten, ins Krankenhaus kommen: »Das Kind hatte auf dem Schoß einer Nonne gesessen und neue Worte vor sich hingesagt, immer wieder und stolz, schwer zu verstehen, eigentlich hatte es sich angehört wie: Aba. Ka. Dabra: Abakadabra. Tatsächlich.« (Hermann 2009, 47)

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klassischen, aber niemals klischeehaften Bilder einer vor- oder nichtsprachlichen, also der Zeitlichkeit enthobenen Unmittelbarkeit ausgedrückt wird, den Figuren eine gewisse Ruhe wiederzugeben, die man vielleicht sogar als heiter bezeichnen könnte. Diese Ruhe, die zwar keinen Trost im eigentlichen Sinne, wohl aber eine zeitweilige Aufhebung des individuellen Schmerzes in einem größeren Zusammenhang bedeutet, wird in einigen knapp skizzierten Szenen, die sich zwischen Alice und dem Kind abspielen, spürbar, aber auch in einer der ersten Begegnungen zwischen Lotte und Alice nach Conrads Tod: Komm, sagte Lotte, ich zeige dir etwas. […] Lotte zog den grünen Wasserschlauch aus der Trommel heraus, stellte das Wasser an. Sie hielt den flirrenden, weit gefächerten Strahl in die Lavendelbüsche hinein, es dauerte einen kleinen Moment, Lotte sagte, warte. Dann stürzten aus den Lavendelbüschen die Feuerkäfer heraus, hunderte, eine rotschwarz gesprenkelte Flut von flüchtenden Käfern, nicht enden wollend, sie überschwemmten die Terrasse, rannten überall hin. (Ebd. 89)

Es ist vielleicht auch, wie beispielsweise Iris Radisch mutmaßt, eine Art stoische Gelassenheit, die Lotte hier an Gefühlsausbrüchen hindert, aber weder bei ihr noch bei den anderen Figuren des Erzählbandes kann man insgesamt gesehen von einer »poetische[n] Ausgeruhtheit […] [der] extrem gelassenen weiblichen Überlebenden« (Radisch 2009, 2) sprechen. Die durchaus befremdende, wenn auch nur scheinbare Souveränität der weiblichen Figuren in Alice ist vielmehr deren besonderer Fähigkeit zu verdanken, ihre konsequente (vermutlich auch von männlichen oder familiären Ansprüchen geformte) Haltung dem Leben gegenüber selbst noch angesichts äußerster Bedrohung aufrechtzuerhalten.56 Beobachtung und unmittelbare Teilnahme changieren dabei, 56 | Die Leben der Frauen in Alice sind, wenn man einmal von Lotte absieht, durchaus zeitgemäß, also im konventionellen Sinne emanzipiert und abgesehen davon urban, also eingebettet in ein Geflecht großteils anonymer, aber immerhin sehr weitläufiger sozialer Strukturen. Mit den Lebenssituationen der Frauen, die in Munros Erzählungen dargestellt werden, sind diese weiblichen Existenzen nicht vergleichbar. Dennoch gibt es auch in Alice einen sehr leisen, aber durchaus spürbaren Subtext, der die Leben der Frauenfiguren als in mancher – und grundlegender – Hinsicht »anders« erzählt. Das wird vor allem in Anbetracht der beiden Mütter Maja und Lotte deutlich, denen immer wieder eine gewisse Kontrolliertheit, ein Funktionieren unter allen wie auch immer gearteten Bedingungen attestiert wird: »Maja sah nach dem Kind, kurz und pflichtbewußt, sie schien immer genau die Kraft zu haben für Dinge, die gedacht oder getan werden mußten, nicht mehr und nicht weniger, präzise und richtig.« (Hermann 2009, 39) In Munros Texten ist noch die von ihr selbst erlebte und in Interviews immer wieder beschriebene, geradezu absurde Kluft spürbar, die sich zwischen einem ganz und gar geregelten und von Routinen geprägten hausfräulichen Dasein und den großen Fragen des

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lassen aber genug Raum für eine sprachlose Passivität, die sich ganz den Dingen hingibt und das Individuum in manchen Momenten mit einem größeren Ganzen verschmelzen lässt. Das passiert allerdings nie in der Form, dass eine ursprüngliche Haltung ganz aufgegeben würde. In der Beschreibung durch die Erzählstimme ist Maja immer als Maja, Lotte immer als Lotte erkennbar. Diese Kontinuität in der Figurenbeschreibung huldigt aber keineswegs einem wie auch immer gearteten Essentialismus, sondern weist die weiblichen Figuren schlicht als diejenigen aus, die für die Weiterführung des Lebens zuständig und damit in einem sehr weitläufigen – keineswegs auf ihre reproduktive Funktion beschränkten – Zusammenhang Wächterinnen über das Ungewisse, auch eine nicht prognostizierbare Zukunft sind. Diese zeitliche Dimension scheint in Alice die geringste Bedeutung zu haben, schließlich spielen sich die Erzählungen hauptsächlich in einer fast schon überpräsenten und dadurch manchmal zeitlupenartig ablaufenden Gegenwart ab und umfassen mit Fortschreiten der Erzählung zunehmend auch die Vergangenheit, die in einer seltsam lebendigen und daher gleichberechtigten Weise mit dem Gegenwärtigen koexistiert. Die Nähe des Todes bewirkt eine Fokussierung auf ein in die Vergangenheit ausuferndes, die Chronologie überlistendes Hier und Jetzt, die in gewissem Sinne das Lebendig-Halten der Erinnerung und der Toten ermöglicht. Eine Beobachtung, die fast alle Rezensentinnen von Alice festhalten, dass nämlich die letzten beiden Erzählungen (»Malte« und »Raymond«) an Tiefe und Lebendigkeit gewinnen, hängt eng mit diesem Zugang zur Vergangenheit zusammen, den die Protagonistin sich erst langsam schaffen muss. Eine Möglichkeit, diese Erzählungen zu lesen, ist die, sie als eine Art unkonventionellen, ateleologischen Entwicklungsroman zu begreifen, der Alices Annäherung an Lebens, die in diese Einfachheit ebenso eindringen, auftut. Diese Diskrepanz wird von einem erzähltechnischen Gesichtspunkt aus betrachtet zur Herausforderung, denn die von Munro stets in die Erzählungen miteingeflochtenen Beschreibungen der häuslichen Pflichten ihrer Protagonistinnen »are disruptive in a way that challenges the narrative line« (Redekop 1992, 22f.). Bei Munro wird die familiäre Versorgungsroutine, die ihre Protagonistinnen meist zu gewährleisten haben, zum subversiven Potenzial, das die großen Fragen, die in ihren Texten verhandelt werden, immer wieder mit dem Alltäglichen kollidieren lässt. Daraus ergeben sich nicht zuletzt tragisch-komische Effekte, die als Munros narratives Markenzeichen gelten. Alice hingegen ist ein völlig humorfreier Text. Dennoch zeigen die fünf Erzählungen immer wieder auch Frauenfiguren, die, genau wie Munros Hausfrauen-Mütter, an ihre durchaus banalen Routinen und Verpflichtungen gebunden sind und »unter diesen Bedingungen« dem Tod ihrer Männer begegnen müssen. Alice selbst hat keine familiären Pflichten zu erfüllen, aber sie steht in der Logik der Erzählungen auf der Seite dieser Frauen, die dem Weiterleben verpflichtet sind und das nicht nur aus den Bedingungen eines individuellen Lebens, sondern aus der Kulturgeschichte ihres Geschlechts heraus.

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den Tod nachzeichnet, von der ersten Begegnung mit dem Sterben Michas, die sie in eine Art Schockstarre versetzt, bis hin zum Anfang des Trauerprozesses um ihren Lebensgefährten Raymond, der sie als eine Weggefährtin des Todes ausweist, die keinerlei Herrschaft, wohl aber eine die Erfahrung endgültigen Verlusts miteinschließende Souveränität im Leben besitzt. Michas Tod führt Alice dahin, die Welt als ein Jammertal zu begreifen, aus dem sie sich nur in einen magischen Realismus retten kann, der ihr die Unverwüstlichkeit der Genealogie in Form des Kindes, das den Text wie ein Prinzip, nicht wie ein Individuum beherrscht, als Flickzeug für die sich zunehmend auflösenden Bedeutungen anbietet. Schwankend versucht sie sich an der »tapfere[n] Standhaftigkeit der Dinge, ihre[n] eindeutigen Namen« (Hermann 2009, 38) festzuhalten, doch letztlich spiegelt alles, Sprache wie Bilder, jene »zentrierte Leere« (ebd. 28) wider, mit der Alice ihre aktuelle Lage beschreibt. Der Sog der Todesnähe erweist sich als nahezu vernichtend: »Wenn wir nicht aufpassen, dachte Alice, dann verschwinden wir auch. Maja und das Kind und ich, wir verschwinden in Zweibrücken, spurlos.« (Ebd. 45) Das Erzählen stößt in dieser ersten Erzählung an seine äußersten Grenzen, bis auf die einzelnen, von allergrößter Simplizität gekennzeichneten Worte des Kindes scheint nichts mehr übrig zu bleiben. Ein Leben nach Michas Tod zeichnet sich nur als (schwer zu erfüllende) Notwendigkeit, nicht als etwas Sinnhaftes ab. Nur in einer Erinnerung, die Alice einmal an Maja weitergibt und die die Überfülle und Sinnlichkeit des Sommers herauf beschwört, nähert sich Alice einmal kurz jenem Prinzip an, das später im Text von größter Bedeutung sein wird. »Wie bildhaft, die Worte hinter den Worten« (ebd. 41), denkt sie am Ende der Erzählung und hier blitzt bereits der Zugang zu jener originären Bildersprache auf, den Alice schon in der »Conrad«-Episode zu vertiefen suchen wird. Die »Conrad«-Episode erzählt bereits eine völlig andere Geschichte, so etwa wird die Grundstimmung dieses Kapitels von der üppigen Landschaft und dem gleißenden, hochsommerlichen Licht geschaffen, das Alice und ihre beiden Freunde am Gardasee empfängt, wo sie das alte Ehepaar Lotte und Conrad, Freunde von Alice, besuchen wollen. Die Distanz zu den Dingen, die die Figur Alice auszeichnet, bleibt aber vorerst selbst in der verdichteten Unmittelbarkeit der sommerlichen Atmosphäre erhalten. Es klingt wie eine Bestandsaufnahme, wenn Alice mit ihrer Freundin Anna die Umgebung zum ersten Mal betrachtet, noch von einem erhöhten Punkt aus, der Überblick und Distanz fast schon bedingt: »Palmen. Zitronenbäume. Die Berge düster. Es gab überhaupt nur die Berge, dann die Straße, dann das Wasser, eigentlich keine Landschaft, wenig Raum für Menschen, eng und weit zugleich. Findest du das schön, sagte Anna. Ich weiß nicht, sagte Alice.« (Ebd. 51) Dieses »sagte«, das hier den Rahmen um diesen kleinen Dialog legt, lässt selbst noch die Sprachmelodie dieses Gesprächs im weitesten Sinne monoton und emotionsarm wirken. Die Ankunft von Alice und ihren Freunden ist eher ein sprach-

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liches Bild denn eine lebendige Szene und so wird es von dem zweiten Freund, den Alice mitgebracht hat, auch festgehalten: »Der Rumäne, irgendwo hinter ihnen, drückte auf den Auslöser seiner Kamera. Sie konnten das hören. Panorama: Anna und Alice am See.« (Ebd.) Das Postkartenidyll ist »eigentlich gar nicht auszuhalten« (ebd. 57), es scheint fast, als würde es die Menschen und selbst noch Conrads Tod zu einer Art Stillleben degradieren, einem hitzeflimmernden, starren Bild, das jegliche Weiterentwicklung verhindert. Dennoch verändert sich Alices Umgang mit dem Tod gerade hier, in diesem symbolisch stark aufgeladenen, bildhaften Brutkasten, wieder auf entscheidende Weise. Die Lebendigkeit, die man gerade in dieser Episode an den Figuren tatsächlich vermissen kann, ist ausgelagert in die Natur, in der eine blühende, fast schon wuchernde Landschaft von zahlreichen Insekten belebt ist, die dem bloß bildhaften Spektakel langsam ein archaisches Bedeutungsgeflecht einschreibt. Die Grille etwa, ein durchgängiges und wesentliches Symbol dieses Textes, ist ein aus dem Altertum bekanntes Symbol für Unsterblichkeit, wobei sie diese im kollektiven Gedächtnis verankerte Bedeutung hier ebenso mittransportiert wie neue Bedeutungsebenen, die in Alice hinzukommen. Die Grille ist, mitsamt ihrem symbolischen Gehalt, kunstvoll und subtil in die Erzählung hineinverwoben. Der Text verlangt nach einer oftmaligen, genauen Lektüre, dann löst sich auch seine sprachliche Distanz langsam in unaufdringliche, aber berührende Bedeutungsdichte auf. Bereits bei der Ankunft auf Lottes und Conrads Grundstück fällt Anna die Geräuschkulisse auf, die sie hier allerdings noch als von Zikaden verursacht vermutet: »Man kann ja Tatsache die Zikaden hören« (ebd. 52), sagt sie und das Thema wird an dieser Stelle nicht weiter vertieft. Etwa in der Mitte der »Conrad«-Episode, als bereits klar, wenn auch nicht explizit geworden ist, dass Conrads Erkrankung keineswegs harmlos, ja vermutlich sogar lebensbedrohlich sein könnte, kehrt das Zikaden-Grillen-Thema57 wieder. Während Lotte im Krankenhaus ist, gehen Alice, Anna und der Rumäne, der wie das Kind in der »Micha«-Episode namenlos bleibt, schwimmen: Aha, sagte Anna […] Sie sah über das Wasser hin und hielt die Hand vor die Augen. Ich glaube, Zikaden sind groß und Grillen sind klein. Zikaden sind grün und Grillen sind grau? Nur die Weibchen singen? Wie heißt der Berg da auf der anderen Seite? […] Monte Baldo, sagte der Rumäne. […] Bei uns sagen sie Kopfgrille, sie kriecht dir in den Schädel und bringt Wahnsinn und Tod. Wir sind umgeben davon. Zedern und Grillen, wohin man sieht. (Ebd. 73)

57 | Zikaden wurden früher auch für die Herstellung eines Präparats gegen Fieber eingesetzt, was wiederum semantisch eine enge Verbindung zu Conrads Krankheit herstellt, der schließlich an einem tropischen Fieber stirbt.

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Hier wird die Grille in symbolische Nähe nicht nur zum Tod gerückt, sondern auch zum Wahnsinn, der seine Begründung im Textganzen in der bloßen Tatsache findet, dass der Tod als alles vernichtende Wahrheit dem Lebendigen stets eingeschrieben ist. Schon in der »Micha«-Episode wird deutlich, wie existenziell die Bedrohung ist, die für Alice von der Konfrontation mit dem Tod ausgeht. In der letzten Episode des Bandes, in der sie um Raymond trauert, fasst sie den Anspruch, den dieser Verlust an sie stellt, lapidar zusammen: »Es galt, sein Andenken zu bewahren, ohne dabei verrückt zu werden.« (Ebd. 179) In der »Conrad«-Episode ist Alice immer noch ganz damit beschäftigt, sich den Tod vom Leib zu halten, aber auf symbolischer Ebene rückt er ihr bereits näher. Am Ende der Erzählung, nachdem Conrad gestorben ist, kehrt die Grille/Zikade noch einmal zurück, als totes Insekt, das in Alices Latte Macchiato schwimmt und noch einmal das Zentrum ihres Sprechens, ihres immer prekär scheinenden Zugangs zur Welt, befällt: Alice hatte es auf der Zunge gehabt, so leicht, ein vielgliedriger Körper verborgen in weißem Schaum. Sie hatte ausgespuckt, mit weit aus dem Mund gestreckter Zunge, würgend, zurück auf den Löffel gespuckt. […] Alice hatte gesagt, wenn es eine Spinne ist, muß ich schreien. Es war keine Spinne. Es war etwas anderes, eine Grille vielleicht, eine Zikade? Klein, schwarz, rührend, mit zerknickten Beinchen und glänzendem Bauch. (Ebd. 92)

Alices Auseinandersetzung mit dem Tod wird hier, wie in allen fünf Erzählungen, nicht über das Eindringen in ihr Inneres geführt, sondern über die Symbole und Bilder, die im Außen auf diese Grenzsituation antworten beziehungsweise unter deren Einfluss verändert und bedeutungstragend erscheinen. Auch in diesem Zusammenhang gibt es eine erzählerische Grundsatzentscheidung, die den ganzen Band über durchgehalten wird: Die Symbole sind archaisch, aber sie kommen nie mit dieser mythologischen Wucht daher, die etwa die apokalyptischen Romane eines Cormac McCarthy auszeichnet. Die Nähe des Todes wird in ihrer Alltäglichkeit geschildert, die Auseinandersetzung mit der unauflöslichen Verbundenheit zwischen Leben und Tod an einer Figur, Alice, exemplifiziert, die weitgehend als durchschnittlich beschrieben wird und die auch keinerlei privilegierten Zugang zur Thematik behaupten kann. Jede Form von Pathos im klassischen Sinne wird somit vermieden und die »großen« Symbole in Alice kommen dem gemäß nur am Rande vor, sind gänzlich unspektakulär in ihrem Erscheinen und bewegen sich mit Leichtigkeit innerhalb des alltäglichen Handlungsrahmens. Der Skandal ist das Faktum der Sterblichkeit an sich, von dem alle anderen Realitäten berührt und durchzogen werden. Das ist Aufruhr, Last und Schicksalshaftigkeit genug, es bedarf bei Judith Hermann keiner privaten oder kollektiven Weltuntergangsstimmung, um diese zarte und doch unerbittliche Verwobenheit zwischen

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Leben und Tod zu beschreiben: »Alice […] dachte: in einem Bett in einem Zimmer in dieser Wohnung in diesem Haus in dieser Straße liegt einer, den ich kenne, und stirbt. Alle anderen machen was anderes.« (Ebd. 104) Diese Szene, die der »Richard«-Episode entstammt, beschreibt den Skandal der alltäglichen Gegenwart des Todes und seiner Simultanität zum Leben, so wie er in zumindest vier Erzählungen – die »Malte«-Episode folgt etwas anderen Gesetzen – im Zentrum steht. »Das zu denken, war so ähnlich, wie ein Gedicht aufsagen« (ebd.), heißt es weiter, »nichts, was man begreifen konnte«. Die Unfassbarkeit des Todes liegt in seiner Simultanität zu einem sich in Banalitäten ergehenden Leben, das von einem Streben vorangetrieben wird, das »trotz allem« etwas will, unbedingt will, und das, ohne sich dieses »trotz allem« bewusst zu sein. Dieser Abgrund des menschlichen Seins in seiner alltäglichen, wie bereits Freud gemutmaßt hat, wohl auch notwendigen Ignoranz der eigenen Sterblichkeit und des Todes im Allgemeinen wird Alice in der »Conrad«-Episode erstmals in vollem Umfang bewusst. Der Prozess dieser Bewusstwerdung geschieht langsam und ist auch auf Alices Begegnung mit Conrad und die gedankliche Auseinandersetzung mit seinem Tod zurückzuführen, die mit dem genussreichen, von sinnlichen Erlebnissen geprägten Zusammensein mit ihren Freunden alterniert: Während. Zu denken, daß während sie an der Tankstelle gehalten hatten, der Rumäne in den Himmel geschaut hatte, ein Falke ein Adler ein Bussard. Während Alice die Tür der Eistruhe aufgeschoben, Anna das Wort Cornetto gesagt hatte, der Tankwart mit den Fingern auf dem Tresen und Lotte im Auto, ihr Profil vor dem Berg […] da war Conrad gegangen. […] Während sie zahlten, gingen, hinaustraten auf den staubigen Platz vor den Zapfsäulen, Brennesseln und Gras zwischen den Steinen. Darüber nachdenken. Wieder und wieder. Ich kann dir nicht sagen wie Conrad gewesen ist. Ich kann es dir nicht mehr sagen. (Ebd. 93f.)

Die Subjunktion »während« ordnet sich hier scheinbar dem Tod unter, oder sind vielleicht alle Äußerungen des Lebens, die einfachen wie die komplexen, dem Tod untergeordnet? Diese Frage ist entscheidend und stellt sich im Text wieder und wieder. Von Lotte und Maja lernt Alice die banalen Notwendigkeiten des Lebens über den Tod zu stellen und damit ein zumindest oberflächliches Weiterleben zu gewährleisten. Von Conrad bekommt sie eine indirekte Antwort auf die Frage, ob das Leben dem Tod unterzuordnen sei oder umgekehrt: »Er hatte gesagt, der See sei immer eiskalt, sie werde sich überwinden müssen, ins Wasser zu gehen. Er hatte gesagt, du wirst aber trotzdem ins Wasser gehen. Und du wirst es nicht bereuen. Das bereust du nie.« (Ebd. 95) Die Entwicklung, die Alice hier in ihrer Einstellung dem Tod gegenüber vollzieht, ist nicht teleologisch, aber sie ist kontinuierlich. Motive, einzelne Sätze und (Rand-)Figuren kehren in den fünf Erzählungen immer wieder und diese

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redundante Struktur weist darauf hin, dass sich der Tod weder »überwinden« noch erzählerisch »abhandeln« lässt. Es lässt sich wohl auch keine Meisterschaft im Umgang mit dem Tod erreichen, aber es gelingt Alice, die Schockstarre der ersten Erzählung und die schmerzhafte, die Dinge und Beziehungen ihrer ganzen Lebendigkeit beraubende Distanz, von der die »Micha«-Episode noch ganz eingenommen ist, langsam und momenthaft ein wenig zu lösen. Mehr als dieses »ein wenig« würde den Text zerstören, der von der Betrachtung des Abgrundes zwischen Unmittelbarkeit des Erlebens und dem drohenden Nichts seine fragile erzählerische Kraft bezieht. Wie Alice und Anna auf der Brücke, sieht man von den fünf Erzählungen auf die seltsame Verfasstheit des menschlichen Lebens hinunter, aus einer immer nur vorgetäuschten Distanz heraus, von der man weiß, dass sie sich demnächst wohl oder übel wieder in Teilhabe verwandeln wird. »Findest du das schön […] Ich weiß nicht, sagte Alice. Wahrscheinlich ist es sehr schön.« (Ebd. 51)

5.2.2 Die Vergangenheit der Gegenwart – Alice als Reflexionsraum eines diesseitigen Lebens nach dem Tod Die Verwobenheit der Erzählungen in Alice auf allen Textebenen ist so offensichtlich, dass es wohl gerechtfertigt ist, den Band als eine zusammenhängende Erzählung zu lesen, so wie ich es bisher getan habe und auch in der Folge tun möchte. Die Autorin selbst legt gegen diese Art der Lektüre – wie erwähnt – auch kein Veto ein (vgl. Hugendick, Porombka 2009, 3) und Judith Hermann scheint mir in der Gattungsfrage einem ihrer literarischen Vorbilder Alice Munro – deren Vorname die titelgebende Figur schließlich auch trägt – gefolgt zu sein. Zahlreiche von Munros Texten lassen sich als voneinander unabhängige Erzählungen oder auch als Teile einer großen Erzählung lesen.58 Liest man nun also Alice als eine Geschichte, die zwar nicht auf der Ebene der Handlung, wohl aber thematisch, motivisch, symbolisch sowie auch stilistisch zusammenhängt, dann wird deutlich, dass die Abnahme der Distanz zu den Dingen und Menschen, das, was der Erzählung schließlich mehr Leben verleiht und sie vor dem – in der »Micha«-Episode noch befürchteten – Verschwinden rettet, die festigende Kraft der Erinnerung ist. Alice kann in der »Micha«-Episode noch nicht auf eine eigene Ethik der Erinnerung zurückgreifen, daher ist die Gegenwart von geradezu dämonischer Dominanz. Diese Privilegierung des Präsens ist zu einem gewissen Teil auch durch die Ausnahmesituation, die Michas Sterben für alle Beteiligten bedeutet, bedingt. Dennoch erscheint die Tatsache, dass Alice die aus der Vergangenheit stammende »Verantwortung« gegenüber Maja und dem Kind wahrnimmt, seltsam. Sie steht in Widerspruch zu Alices 58 | Dies gilt insbesondere für den 1971 erschienenen Erzählband Lives of Girls and Women.

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Betrachtungsweise der Trennung, die sie damals als ein endgültiges Ende sah, wie das die wenigen Rückblenden in die Vergangenheit deutlich machen: »Als wäre er gestorben – sie hatte gedacht, das also habe ich hinter mir.« (Hermann 2009, 41) Eine Andeutung im Text lässt darauf schließen, dass Alice den Kontakt zu Micha zwar nicht gänzlich abgebrochen hat – oder abbrechen konnte, schließlich haben sie ja, wie das abschließende Gespräch mit dem Rumänen in der »Raymond«-Episode beweist, einen gemeinsamen Freundeskreis –, dass sie aber kein Interesse daran hatte, mehr über ihn oder sein Leben zu erfahren oder an diesem in irgendeiner Weise teilzuhaben. Die Endgültigkeit, mit der Alice Abschied nimmt, scheint zu einem solchen Szenario, wie es die »Micha«Episode beschreibt, in Widerspruch zu stehen. Tatsächlich kristallisiert sich im Laufe der Erzählungen heraus, dass sie mit der Entscheidung für eine dieser beiden Haltungen, einem endgültigen Zurücklassen der Vergangenheit und einem Festhalten an dieser, hadert. Die Polarität dieser beiden Haltungen zu Beginn des Bandes weicht sich jedoch allmählich auf und wird durch das Zerfließen der Zeit zu einem Zusammenspiel von Vergangenheit und Gegenwart. In der ersten Abschiedsszene in Alice aber, die die letzte Begegnung zwischen Alice und Micha beschreibt, scheint die Zeit still zu stehen und einer so dichten Präsenz Platz zu machen, dass sie niemals in Vergangenheit beziehungsweise Erinnerung, verwandelt werden kann: »Alle Geschichten, die zwischen ihm und ihr gewesen waren, waren auch weg. Nichts mehr da. Es war vorbei, sie durfte sich jetzt verabschieden. Reine, leuchtende Gegenwart.« (Ebd. 27) Wie schon in der (Erinnerungs-)Szene, die ihre Trennung als Paar beschreibt, schwingt auch hier, bei aller Trauer und Angst, die die Szenen des Abschieds in Alice auslösen, eine gewisse Erleichterung mit. So, als würde das Verschwinden eines Menschen auch die Befreiung von einer Last bedeuten, vielleicht der Last jener Verantwortung, die sie aus ihr selbst nicht ganz nachvollziehbaren Gründen nach Zweibrücken geholt hat. Die Degradierung der Vergangenheit zu völliger Bedeutungslosigkeit hat allerdings einen Preis, hängt sie doch auf das Engste mit dem Bedeutungsverlust zusammen, den Alice erfährt. Immer wieder scheinen ihr die Begriffe, der »Sinn« der Dinge abhanden zu kommen und das scheint angesichts des Todes nicht verwunderlich. Dieser Bedeutungsverlust ist jedoch auch auf ein existenzielles »Schwinden« zurückzuführen, das die Welt durch das (scheinbar) spurlose Verschwinden eines anderen Menschen erfährt: »Maja wäre noch geblieben, aber Alice hatte das Gefühl, sie würde verrückt werden, wenn sie auch nur eine Nacht länger in dieser Wohnung verbringen müßte mit dem Blick auf das Krankenhaus, in dem niemand mehr lag. Das Krankenhaus war hohl. Ein stilles Gehäuse.« (Ebd. 45) Die Bilder des Grauens, die Alices Leben in Zweibrücken beherrschen, zeigen deutlich, dass es sich bei diesem »stillen Gehäuse« um eine abgründige Leere handelt, die dort entsteht, wo einst der Andere war und die Dinge mit Sinn erfüllt hat. In der »Richard«-Episode wird Alice auf diese einprägsame Erfahrung – auch eine

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Erinnerung, aber eine, die hier traumatischen Charakter hat – zurückkommen und sie bis ins kleinste Detail wiederholen, lediglich ihre Protagonisten sind ausgetauscht.59 Auf dem Weg zu Richard, der in seiner Berliner Wohnung im Sterben liegt, und dessen Lebensgefährtin Margaret geht Alice noch in einen Kiosk, um dort ein paar Dinge für ihre Freundin zu besorgen. Die Beschreibung des Verkäufers gleicht bis in einzelne Phrasen hinein der des Vermieters im »Micha«-Kapitel. Sofort wird auch in dieser Szene wieder der drohende Bedeutungsverlust thematisiert: Barrikaden aus Plastikboxen mit Süßigkeiten, Vampirgebisse, weiße Mäuse, Lakritzschnecken, und dahinter der dicke Kioskbesitzer, schwache Regung, Atmen und Rascheln, ein schweres Tier in seiner Höhle. […] Alice legte ihren Geldschein auf das Schälchen im Zentrum aller Dinge. […] Hatte Margaret das Wasser für sich oder für Richard haben wollen? Und spielte das eine Rolle, sie war sich nicht sicher, alles konnte voller Bedeutung oder ohne jegliche Bedeutung sein. (Ebd. 102)

Kurz darauf kehrt der Gedanke des Verlustes von Sinn durch den Tod als proleptische Vision zu Alice zurück: »[…] und Alice fand es plötzlich auch schön, so unerwartet noch einmal hier sitzen zu dürfen, in diesem Zimmer, dessen Beständigkeit in genau dem Augenblick enden würde, in dem Richard aufhörte zu atmen, und wann er damit aufhörte, das wusste niemand, und solange er noch atmete, war alles da.« (Ebd. 106) Diese beiden Textauszüge machen noch einmal deutlich, dass die Distanziertheit, die dem Erzählen in Alice anhaftet und bis zum Ende zwar an Intensität, aber keineswegs an Gültigkeit verliert, nicht in Gelassenheit oder einer egozentrischen Haltung der Welt und den Menschen gegenüber wurzelt, sondern einer tiefempfundenen Verbundenheit zwischen Bedeutung und Beziehung zuzuschreiben ist. Dieser Zusammenhang wiederum ist tatsächlich nur auf die zwischenmenschliche Beziehung beschränkt, weil sie eben jene von Arendt beschriebene Einzigartigkeit betrifft (vgl. Kapitel 4.2.7), die Alice nicht über die absolute Schwelle zwischen Lebendigkeit und Tod eines Menschen »hinüberzuretten« vermag. Die Erinnerung an bestimmte sinnliche Erfahrungen ist dagegen leicht, diese meist banalen Eindrücke garantieren auch zumindest eine gewisse Kontinuität in der Selbstwahrnehmung von Alice, die sie vor dem Verfallen in den Wahnsinn bewahrt: »Alice erinnerte sich genau, sie wußte noch genau, wie das gewesen war – das zarte Ziehen am Bändchen der Zellophanfolie, dann das knisternde Silberpapier, das Zupfen an der ersten Zigarette. Virginia und Orient. Eine 59 | Die Austauschbarkeit der Personen in einem solchen Szenario ist auch in der Hinsicht logisch und konsequent, dass Alice mit dem Verschwinden-Lassen der Person (übrigens auch ein »Zaubertrick« und um solche geht es sehr oft in diesem Erzählband) auch dessen Einzigartigkeit verliert oder verloren glaubt.

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Welt.« (Ebd. 105) Eine weitere Möglichkeit, etwas Festigkeit in dieser haltlosen Erfahrung des Zurückbleibens zu finden, sind für Alice die Narrative, die mit bestimmten Menschen in Verbindung stehen, diese wohl auch in gewisser Weise charakterisieren, die aber dennoch keine Eigenschaft bezeichnen. Allen Sterbenden/Verstorbenen des Bandes werden Anekdoten zugeordnet, manchmal sind es auch einzelne Sätze, etwa die letzten Worte Conrads, die Alice als eine Art Schatz an seine Frau weitergibt. Von besonderer Bedeutung für den gesamten Text ist aber eine Erinnerung, die Alice mit der einzigen weiblichen Verwandten verbindet, die im Text (mehrfach) erwähnt wird, ihrer Großmutter. Diese wird insgesamt nur zweimal erwähnt, einmal davon an äußerst prominenter Stelle, nämlich im Zentrum des »Malte«-Kapitels, das an sich schon einige Besonderheiten aufweist. Judith Hermann selbst bezeichnet diese Erzählung, die von der Begegnung mit dem einstigen Liebhaber ihres Onkels handelt, der sich schon vor ihrer Geburt das Leben genommen hat, als ihre Lieblingsgeschichte in Alice. Sie betrachtet diese erste der fünf Episoden, die in Berlin angesiedelt ist, als eine »Heimkehr« für ihre Protagonistin (vgl. Hugendick, Porombka 2009, 1). Als Leserin kann man diesen Eindruck insofern nachvollziehen, als »Malte« in vieler Hinsicht besonders stimmig und dicht und vor allem hinsichtlich der Bildhaftigkeit der Sprache sehr ausgereift erscheint. Wenn Alice als Text so etwas wie ein Gedächtnis besitzt, dann ist die »Malte«-Episode das Zentrum dieser Erinnerungen und alles, was sich vorher in einzelnen Bildern und teils nur sehr schwach gezeichneten Figuren angekündigt hat, gelangt hier zu voller Ausdrucksstärke. Dem entspricht auch die Grundidee dieser Erzählung, in der Alice sich zum ersten Mal »freiwillig«, also ganz ohne aktuellen Todesfall, und mit einer für sie ungewöhnlich intensiven emotionalen Beteiligung mit der Vergangenheit auseinandersetzt. So ist es in diesem Fall nicht die »leuchtende Gegenwart«, die Alices Denken und Handeln bestimmt, sondern eine intendierte Auseinandersetzung mit der eigenen, nicht aber individuellen, sondern familiären Vergangenheit. Die Dominanz der Gegenwart verliert in dieser Erzählung ihre überwältigende Macht angesichts dieser bewussten Wahrnehmung jener Spuren, die von der Vergangenheit in die Gegenwart reichen und hier eine Wirkung entfalten, die jegliche Chronologie in Frage stellen: »Worum geht es also? […] Alice hätte auch sagen können, Friedrich, wissen Sie was, in Wirklichkeit geht es um mich. Aber sie hatte es nicht gesagt, und sie würde es auch nicht sagen. Friedrich wußte das sowieso.« (Ebd. 131) Dieses Eingeständnis der immanenten Wirkung einer Vergangenheit, deren Protagonist gar nicht mehr lebt, auf das eigene Leben ist angesichts der präsentischen Manie, mit der Alice bis zu dieser Erzählung hin gezeichnet wird, sehr bemerkenswert. Gegen Ende der »Malte«-Episode entsteht dann auch eine ungewohnte Nähe zur Figur der Alice, wenn es heißt: »Und sie begriff verwundert, daß Malte ihr fehlte, daß sich sein Abschied bis in ihr Leben hineingezogen hatte, und sei es nur als

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Täuschung, eine fast bis ins Nichts gezielte Projektion.« (Ebd. 149) Die unmittelbare Teilhabe an der erstaunten Einsicht, die Alice hier in ihre eigene Existenz gewinnt, wird noch im selben Satz wieder durch die Beurteilung dieser plötzlichen und intuitiven Erkenntnis auf einer Metaebene auf die gewohnte narrative Distanz gebracht. Dennoch wird deutlich, dass sich etwas Entscheidendes im Laufe dieses Kapitels verändert hat. Diese Veränderung vollzieht sich in mehreren Schritten, wobei der Kern dieser »Erinnerungsmetamorphose« an den sprachlichen Bildern erkennbar wird, die in der »Malte«-Episode zwar nicht neu hinzukommen, aber doch an Intensität und Bedeutung gewinnen. Was in »Malte« entsteht, ist eine ungeheure Verdichtung bisher fragmentarisch auftauchender Sprachbilder, kein anderes Kapitel ist so durchzogen von/zusammengesetzt aus motivischen, symbolischen und sprachlichen Versatzstücken wie dieses. Maurice Halbwachs hat darauf hingewiesen, dass der Mensch als Teil eines Kollektivs nicht in der Lage ist, außersprachlich zu denken. (Versprachlichtes) Denken aber bedeutet in einem gewissen Maße die Unterwerfung unter ebendieses Kollektiv (vgl. Halbwachs 1985, 231). Das episodenhafte Kammerspiel Alice, das stets von solipsistischen Tendenzen und damit einhergehenden sprachlichen Fragmentierungs- und Zerfallstendenzen bedroht ist, wendet sich in »Malte« der bindenden, festigenden und identitätsstiftenden Kraft dieser durch Sprache bedingten Unterwerfung zu, der auch ein gefährliches Potenzial innewohnt. Um dieses müssen sich die Figuren in Alice, diese urbanen Einzelgänger mit ihren in mehrerer Hinsicht kurzlebigen Lebensabschnittsgefährtinnen und den flüchtigen, oft zufälligen Bekanntschaften allerdings wenig Sorgen machen. Auf Alice wirkt die Verwurzelung in ihrer eigenen Vergangenheit, die durch die Begegnung mit Friedrich zustande kommt, heilsam, ja vielleicht sogar lebensrettend. Dabei ist es nicht erst die unmittelbare Konfrontation mit Friedrich, die diese Erdung und die gleichzeitige erzählerische Sicherheit und Verdichtung auslöst, sondern bereits die Absicht, dieses Treffen zustande kommen zu lassen. Was Alice durch diese bloße Bereitschaft widerfährt, lässt sich als eine Mischform zwischen einer »mémoire involontaire« beschreiben, die durch sinnliche Eindrücke ausgelöst wird und etwa in Prousts Suche nach der verlorenen Zeit eine entscheidende Rolle spielt, und als eine Form der Erinnerung, die »vom Bewußtsein geformt und vom Willen gelenkt« (Assmann 2010, 238) ist. Einerseits tritt Alice hier aktiv in Erscheinung und schafft die Bedingungen für eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, indem sie Kontakt zu Friedrich aufnimmt und ihn um ein persönliches Treffen bittet. Andererseits wird sie, nachdem dieser erste Schritt einmal getan ist, von Erinnerungen und semantischen Verstrickungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und einer möglichen Zukunft überwältigt. Ein großer Teil der FriedrichErzählungen ist somit auch den Bewusstseinsströmen von Alice gewidmet,

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die sich durch keinerlei Metadiskurs einebnen lassen, sondern sich jeglicher »Bearbeitung« entziehen: Wie hatte er sich umgebracht? Mit Schmerztabletten. Barbiturate, ein Wort fast so klingend wie Maori, […] Feine Fäden zwischen ihr in dem japanischen Auto im Halteverbot vor dem Hotel mit der Tasche auf den Knien und den Fingerkuppen auf den pochenden Augenlidern und Friedrich, der in dem Zimmer mit Blick aufs Wasser auf das Klingeln des Telefons wartete, und Malte, für den am Ende keiner ein Licht in der Dunkelheit gewesen war. Spinnwebfeine Fäden. Gekappt in dem Moment, in dem sie versuchte, irgend etwas darüber zu denken. (Hermann 2009, 140)

Alice ist nun im »Wunderland« angekommen, war die Bedeutung der Dinge gerade noch der Abgrund, in den sie zu stürzen drohte, so werden ihr jetzt die Namen und Begriffe zu klingenden Sinnsentenzen, die selbst noch eine unbekannte Vergangenheit intuitiv erfassbar machen. Die Welt verwandelt sich so in eine unheimlich-heimelige Märchenlandschaft, in der alles ein Übermaß an Bedeutung trägt, das weit über den semantischen Rahmen des Alltagsbegriffs hinausragt und in einer individuellen Geschichte verankert ist. Die Menschen, denen Alice nun begegnet, erinnern ebenfalls eher an Märchenfiguren denn an Menschen aus Fleisch und Blut und sind dementsprechend auch mit großem symbolischem Potenzial ausgestattet. Alice verdichtet sich meiner Ansicht nach in genau diesem Moment zu einer Erzählung: Der Hotelangestellte, auf den Alice in der Rezeption trifft, als sie Friedrich abholen möchte, ist ein Wiedergänger des Vermieters aus der »Micha«-Episode und des Kioskbesitzers, der in der »Richard«-Episode einen kurzen Auftritt hatte. Er gibt sich sowohl durch ein körperliches Merkmal – »Der Hotelangestellte hatte ein verkrüppeltes Ohr, die Ohrmuschel verbogen und verkümmert, seine Haare wie mit der Nagelschere geschnitten.« (Ebd. 141) – zu erkennen als auch durch eine geradezu lächerliche und indirekt gegen Alice gerichtete Dienstbeflissenheit. Doch nicht mehr Alice ist in diesem latent aggressiven Szenario gefangen, in dem die Serviermädchen, die in einem angrenzenden Raum mit dem Abräumen des Geschirrs beschäftigt sind, die passiv-abwehrende Haltung übernehmen, die ehemals Alice inne hatte. Ihre Geste aus der »Micha«-Episode wiederholend, ziehen sie sich »die geflochtenen Zöpfe straff mit beiden Händen« (ebd. 144). Alice jedoch scheut die Auseinandersetzung mit dem Hotelangestellten nicht mehr – dies bildet einen deutlich erkennbaren Kontrast zu ihrem Verhalten dem Vermieter gegenüber, zu dem sie nicht in direkte Opposition gegangen ist, den letztlich »die Traurigkeit« des Szenarios verscheuchen musste. Nun heißt es: »Alice wehrte wütend ab, sie hätte ihn beinahe berührt, seine Hand mit dem Telefon weggestoßen« (ebd. 142) – die Gewissheit, so nahe an ihrer eigenen Geschichte zu sein, in pragmatischer und existenzieller Hinsicht zu wissen, warum sie hier ist und was sie hier tun

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möchte (eine Zukunftsperspektive, die zu dieser Vergangenheitssuche plötzlich hinzutritt), verleiht ihr erstmals ein entschiedenes, starkes Auftreten: kein Zittern in der »Malte«-Episode. Unmittelbar nach der Szene, in der die Begegnung mit dem Rezeptionisten und dem Hotelangestellten60 den gesamten Bilder-Kosmos des »Micha«Kapitels wieder auferstehen lässt, wird Alice von einer neuerlichen »mémoire involontaire« erfasst, die aus der Beobachtung der Serviermädchen aufsteigt, die gerade die Tische im Frühstücksraum in Ordnung bringen. Einmal mehr gewinnt man an dieser Stelle den Eindruck, dass Alice dieser Reminiszenz mehr oder weniger unterworfen beziehungsweise ausgeliefert ist, dass »die Erinnerung […] selbst zum Agens« (Assmann 2010, 239) wird. Dabei ist diese Szene nicht so sehr für die erzählte Gegenwart bedeutend, sondern für die traumhaft verwobenen Insektenszenen, die den gesamten Erzählband durchziehen. Nun, kurz vor der Begegnung mit ihrer eigenen, im individuellen Sinn aber ganz und gar fremden Geschichte, an der Schwelle zwischen den Zeiten und Kategorien, wird Alice von einem Bild überwältigt, das offensichtlich ihr ganzes Leben begleitet. Es ist allerdings – auch darin offenbart sich wieder die Untrennbarkeit von Eigenem und Fremdem – kein Bild, das aus ihrem eigenen Erleben hervorgegangen wäre, sondern eine ihr notwendigerweise »fremde« Traumsequenz ihrer Großmutter: […] ihre Großmutter, die ihr Leben lang immer wieder geträumt hatte, sie säße in einem großen Saal an einer nur für sie festlich gedeckten Tafel vor einer Terrine aus feinstem Porzellan, in deren heller Schale sich, als sie den Deckel hob, ein schwarzes, vielgliedriges, außergewöhnlich komplex ausgestattetes Insekt auseinanderstreckte und die glänzenden Fühler emporschnellen ließ. Tentakel. Schlingen wie aus Draht. […] Alices Großmutter hatte es geliebt, im Herbst das Laub der Nußbäume im Garten zusammenzuharken, die ledrigen Blätter, der Geruch von Erde und Öl; die Nüsse, in jedem zweiten Jahr, waren verschrumpelt, aber zahlreich, sie lagen am Fenster […] Alices Großmutter war im Krankenhaus gestorben, obwohl sie ausdrücklich darum gebeten hatte, zu Hause sterben zu dürfen. Sie hatte, in der letzten Stunde, unentwegt und dringlich gesprochen, und Alice hatte kein einziges Wort verstanden, weil die Schwestern sich weigerten, der Großmutter die Zähne wieder einzusetzen, sie hätte im Krampf ersticken können. (Hermann 2009, 144f.)

60 | Von ihm heißt es auch: »Der Hotelangestellte gähnte wie ein müdes Kind. Er wickelte einen Kaugummi aus dem Silberpapier und schob es sich in den Mund. Sog nachdenklich daran.« (Hermann 2009, 144) Sowohl das Vermieterehepaar, als auch Michas Kind werden also in diesem Kapitel in Erinnerung gerufen und auch das trübe, regnerische Wetter, das durch die hochsommerliche Atmosphäre in allen anderen Kapiteln konterkariert wird, verbindet »Micha« und »Malte« miteinander.

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Die vermeintlich pure Gegenwart der Naturbetrachtung in den vorangegangenen Kapiteln ist das, was sie ist; sie bedeutet nicht diese Traumsequenz. Aber einer jener »spinnwebenfeinen Fäden«, durch die Alice mit der Welt und den Dingen verbunden ist, führt auch zu diesem in sich wiederum komplexen Bild, das zur Vergangenheit, zum Leben eines anderen Menschen gehört und darin wieder in ein Gefüge verwoben war, das nicht rekonstruierbar, nicht auflösbar und schon gar nicht in die lineare Logik einer Erklärung überführbar wäre. Dennoch hat der erzählte Traum der Großmutter seine mächtige suggestive Wirkung nicht verloren; diese wird vielmehr durch die Kraft, die sie in Alices Leben gewinnt, wieder verstärkt und mit neuen Bedeutungen gefüllt. Die Klarheit und Stärke dieses Traumbildes ist aber ohne die Geister der gelebten Leben, mit denen er verbunden ist, nicht zu haben, auch nicht ohne die Erinnerung an eine Urszene in Alices Todeserleben, den Tod der Großmutter. In der Schilderung dieser, wie auch in anderen Sterbeszenen scheint Alice Ariès’ Thesen über die Unwürdigkeit des medizinischen Todes zunächst Recht zu geben. Das Sterben im Krankenhaus wird als ein Vegetieren zum Ende hin dargestellt. So erzählt etwa Maja Alice, dass ihre kleine Tochter Micha nicht mehr wie einen Menschen wahrnehmen könne, an anderer Stelle wird er auch einmal mit einer Pflanze verglichen (vgl. ebd. 17). Conrads Sterben ist kein langer Prozeß, solange er im Krankenhaus liegt, ist er noch bei vollem Bewusstsein und kann selbstbestimmt handeln. Raymonds Tod wird überhaupt nicht erzählt, sondern als ein bloßes Faktum an den Textanfang gestellt, bei dem es auch bleibt. Das einzig positive Gegenbeispiel zu Michas Tod ist jener Richards, der ebenfalls an Krebs leidet und einen langen, angekündigten Sterbeprozess durchmacht. Dieser wird genauso medikamentös beeinflusst, aber Richard kann zu Hause sterben, begleitet von seiner Lebensgefährtin, was seinem Tod ein friedliches und zumindest in gewissem Rahmen selbstbestimmtes Gepräge verleiht. Es ist also nicht wie bei Ariès die Medikalisierung, die hier als unwürdig dargestellt wird, sondern die Fremdbestimmtheit durch Ärzte, deren Verhalten und Prognosen oft von rechtlichen oder statistischen Normen bestimmt wird und dabei dem individuellen Tod und dessen einzigartigen Ansprüchen nicht gerecht werden kann. Alices Großmutter wurde gar der Möglichkeit beraubt, ihre letzten Worte zu äußern, also das in Worte zu fassen, was sie an die, die zurückbleiben, weitergeben möchte.61 Das, was blieb, waren in diesem Fall keine Worte, sondern »Wäsche, eine Strickjacke, ein Paar Schuhe und der Bronzereif. Das Angebot, am Tag darauf im Kühlraum noch 61 | Wie ebenfalls erst im Gespräch mit Friedrich deutlich wird, trägt Alice den Namen ihrer Großmutter: »Alice ist schon lange tot, sagte Alice. Sie stolperte innerlich, aber nur über das kurze, trockene Wort, es war nicht so, als würde sie über sich selbst sprechen, war nie so gewesen. Sie ist seit fast zwanzig Jahren tot. Das war ungeheuer, sie mußte es noch einmal sagen.« (Hermann 2009, 149)

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einmal Abschied zu nehmen, hatte Alice ausgeschlagen« (ebd. 145f.). Es gibt also weder Worte noch Gesten für das Sterben in dieser Welt, die Alice hier beschreibt und die zumindest für das westlich urban geprägte 21. Jahrhundert Allgemeingültigkeit besitzt. Aus diesen unpersönlichen, austauschbaren Versatzstücken einer Existenz eine würdige Erinnerungskultur zu entwickeln, ist tatsächlich keine leichte Aufgabe. Alices Treffen mit Friedrich ist ein wesentlicher Schritt in dem Versuch, eine solche zu etablieren. Das Zusammentreffen von Friedrich und Alice löst eine Art Stillstand der Zeit aus, man könnte vielleicht auch sagen eine Synthese der zeitlichen Dimensionen. Die Vergangenheit entwickelt hier erstmals eine gewisse Dominanz in diesem Text, der zu Beginn so sehr der öden oder üppigen, immer aber seltsam schwerelosen Gegenwart verpflichtet ist. Das ändert sich bereits zu Beginn der »Malte«-Episode, die Synthese der zeitlichen Dimensionen wird aber besonders in der Szene deutlich, in der Alice und Friedrich gemeinsam zu einem Spaziergang auf brechen: »Sie gingen gemeinsam am Fluß entlang. Von den Ausflugsdampfern klangen die Stimmen der Fremdenführer über das Wasser, verweht und zerstückelt, stand einmal, ist früher gewesen, wird sein und ist heute.« (Ebd. 147) Doch die Stimmen, die die Synthese verkünden, sind nicht umsonst »verweht und zerstückelt«. Einerseits wird Alice durch die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit und dem Tod ihres Onkels, der ihr Leben vom Tod aus berührt, verwurzelt. Andererseits ist diese Verwurzelung Fiktion, eine Erzählung über Malte, die, wie jede Erzählung, einer Perspektivierung bedarf, die den verschlungenen Wegen der Gedächtnisleistung ausgesetzt ist und dann auch noch vom momentanen Zustand derer, die erzählen, mitbestimmt wird. Einen weiteren Bedeutungsaspekt erhält diese Szene dann, wenn man sie mit den (zahlreichen) touristischen Szenen und deren mythenschaffender/mythenbrechender Wirkung auf die Orte, die sie betreffen, in der Literatur von Alice Munro in Bezug setzt. Besonders intensiv ist Munros Auseinandersetzung mit diesem Thema in der 1973 erstmals erschienenen Sammlung Something I’ve been meaning to tell you, die vor allem auf die Zusammenhänge zwischen ruralen und urbanen Lebensformen – ebenfalls ein Thema in Alice – und dem damit verbundenen Mythos der Dauerhaftigkeit/Vergänglichkeit viel wissenschaftliches Interesse auf sich gezogen hat. Hier ergibt sich wiederum eine Parallele, denn auch die Beständigkeit oder Unbeständigkeit der Dinge ist ein Thema, das die Erzählungen in Alice begleitet, ja ihnen sogar jenen Grundton verleiht, der noch im kleinsten Detail an die existenzielle Frage des Sein oder Nichtsein des Menschen selbst rührt. Der Versuch, das zu erzählen, was Malte ausgemacht hat und was zu seinem Selbstmord führte, bewirkt notwendigerweise eine Festschreibung und Mythologisierung des Geschehenen. Diese Gefahr wohnt jedoch nicht nur diesem Kapitel inne, sondern der Literatur an sich, das macht Munros kritische Narrativierung des LandStadt-Mythologems ebenso deutlich wie Alices Auseinandersetzung mit den

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Möglichkeiten, ein Menschenleben und seine (Ab-)Gründe zu erzählen. Dabei ist sich die Erzählinstanz in Alice, ebenso wie die Figur Alice selbst, bewusst, dass es so etwas wie ein authentisches Erzählen nicht geben kann. Auch das verbindet sie mit Munros Figuren, die erkennen müssen, dass das »Wesen« eines Ortes weder in seiner alltäglichen und unmittelbaren Erfahrung (durch die Einheimischen) noch durch seine touristische Vermittlung in einem vermeintlich überzeitlichen Raum gefunden werden kann: »Fiction risks endless re-presentation of a model which is itself simultaneously a distortion, a consolidation and a paralysing of a rurality with no original.« (McGill 2002, 12) Alice ist offensichtlich angezogen von der Idee, mehr über »ihre« Vergangenheit zu erfahren und sich dadurch eine gesichertere Position, auch dem Tod gegenüber, zu verschaffen. Sie widersteht aber der Versuchung, Friedrich zu ihrem Fremdenführer in der eigenen Familiengeschichte zu machen. Die Fragilität seiner Erinnerung, deren notwendige Affiziertheit durch die Fiktion, die jede Erinnerung mit sich bringt, ist ihr klar und sie behandelt ihn wie eine Geschichte: behutsam, interessiert und mit dem Wissen, dass alles, was ist, von der Unbeständigkeit und Unzuverlässigkeit der Zeichen bedroht ist. Und dennoch ist Friedrich alles, was Alice hat, wenn sie die spinnwebenfeinen Fäden zu einer, irgendeiner und nicht der Geschichte zusammenführen will: »Alice dachte, wenn sie den Schirm nicht über ihn hielte, würde er sich auflösen. Zerfließen wie Tusche, verschiedene Töne von Blau, Marine, Hyazinthe, Hortensie.« (Hermann 2009, 147) Während Alice sich mit Friedrich über Malte und die Vergangenheit unterhält, wird immer wieder klar, dass ihre Erzählungen voneinander abweichen, dass die Festigkeit, die vom Wissen über Maltes Geschichte und seine Gründe herrühren soll, auf unsicherem Boden steht: »Sie war sehr sanft. Deine Großmutter. Eine sehr sanfte, kluge und geduldige Frau, außerordentlich geduldig dafür, daß sie es schwer gehabt hat. Nicht nur mit Malte. Alices Großmutter war nicht sanft gewesen. Nicht geduldig […] Aber Alice widersprach nicht, sie hatte sie als Maltes Mutter nicht gekannt.« (Ebd. 149f.) Das Gespräch zwischen Alice und Friedrich macht aus den Versatzstücken und den Momenten, die Alice bereits aus der Familiengeschichte kennt, kein Ganzes. Was sich aus dem Zusammentreffen an Erinnerungen ergibt, ist zum größten Teil in Alices Kopf und nicht im Gespräch entstanden, aber das macht es keineswegs zu einem misslungenen Treffen. Eine Erkenntnis im eigentlichen Sinne gibt es dann vielleicht auch im »Malte«-Kapitel nicht, aber Alices Verbindung zur Vergangenheit und damit auch zu den Toten gewinnt an Kontur. Es ist nicht die Kontur einer sprachlich vermittelten Geschichte, sondern die einer Bilderflut, einer keineswegs chronologisch geordneten oder logischen, dafür aber umso symbolträchtigeren Aneinanderreihung von teils nur visuellen, teils auch mit anderen sinnlichen Eindrücken verbundenen Bildern. Diesen ist im Sinne einer objektiven Wahrheit nicht zu trauen. Im Sinne einer verlässlichen, klaren Verbindung zu dem, was war und denen, die ge-

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wesen sind, sind sie jedoch das Verlässlichste, was ein Mensch haben kann. Fiktion und Realität, Vergangenheit und Gegenwart, auch die Ahnung einer Zukunft vermischen sich zunehmend in dieser bildhaften Spurensuche, das wird auch in jener Szene deutlich, in der Alice Friedrich davon erzählt, wie sie einmal Maltes alte Wohnung aufgesucht hat. In diesem Moment hatte sie plötzlich den Eindruck, dass Malte gar nicht gestorben wäre, »alles war möglich […] es schien alles mit allem verbunden zu sein, und so gesehen war es auch nicht erstaunlich, daß das, was zwischen den Pflastersteinen direkt vor der Haustür blinkte, eine unversehrte goldene Patrone war. […] Vor der Tür lag eine Patrone, sagte Alice. Neun Millimeter Parabellum. Für dich, sagte Friedrich. Er sagte, einfach so. Ja, für mich, sagte Alice. Warum auch immer. Wirst du sehen, sagte Friedrich. Das wirst du sehen.« (Ebd. 154f.) Es sind Eindrücke und Zufälle wie diese, die sich ins Gedächtnis einprägen und dort eine Verbindung zwischen den Zeiten, zwischen Realität und Fiktion herstellen und so der Kontingenz des menschlichen Lebens eine im doppelten Wortsinne imaginäre Kontinuität entgegensetze. Fiktion und Realität gewinnen in dieser Verschränkung eine Dialektik,62 in der Alice sich einrichtet, ohne nach einem absoluten Trost zu suchen. So ist ihr eigentliches Vorhaben, das nicht klar definiert war, aber »etwas mit Aufräumen und Ordnen zu tun [hatte], mit dem Wunsch, zu wissen, welche Vermutungen man künftig beiseite lassen konnte« (ebd. 136) gleichzeitig geglückt und unwesentlich geworden. Ob sie Maltes Briefe, die Friedrich ihr am Ende überreicht, überhaupt noch lesen wird, bleibt dahingestellt: »Sie hielt die Tüte mit Maltes Briefen darin fest in der Hand und stieg die Stufen zum Bahnhof hoch. Und nun. Die Briefe jetzt lesen oder später oder auch gar nicht. Was immer darin stand – es würde nichts ändern. Aber etwas hinzufügen, einen Ring mehr um eine unkenntliche, beständige Mitte.« (Ebd. 156)

62 | Dazu scheint mir ein äußerst wichtiger Satz aus McGills wissenschaftlicher Abhandlung über Something I’ve been meaning to tell you sehr gut zu passen: »Fiction and non-fiction are each a set of conventions within the other’s space, which generate meaning only by pushing at the boundaries of those conventions. Tourists and readers alike may see things through frames such as the Orientalist and the Gothic, but they come to learn through violations or distortions of these frames. And if fiction is a set of conventions rather than an ontological category – no text is intrinsically ›fictional‹ but only functions fictionally – then we must treat this function as the utmost importance.« (McGill 2002, 22)

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5.2.3 Innen und Außen – Judith Hermanns Landschafts- und Raumbeschreibungen als Schwellentopographien zwischen Sein und Nichtsein Ein auffälliges Merkmal aller fünf Erzählungen in Alice ist die große Diskrepanz zwischen der (geringen) Detailliertheit, mit der Menschen beschrieben, und der großen Genauigkeit, mit der Orte und Räume der Leserin einsichtig gemacht werden. Bereits in »Micha« wird dieser aufzählende, oft als protokollarisch bezeichnete Stil offensichtlich, etwa in der Beschreibung des Hauses und der Wohnung, in die Alice mit Maja und dem Kind zieht: Das Haus stand am Hang, die Wohnung war nur zur Hälfte im Keller und ging nach hinten zum Garten raus. Auf den ersten Blick war alles in Ordnung. Eine gewisse Gemütlichkeit, großer Raum mit Einbauküchenzeile und in der Mitte ein Tisch aus hellem Holz, Regale mit Kochbüchern und Nippes, ein Fernseher und eine Sofaecke, und von diesem Raum ging ein Zimmer ab und ein zweites, beide mit Betten darin, und das Bad, mit Badewanne und Waschmaschine. (Ebd. 22)

Derartige Beschreibungen finden sich im gesamten Text immer wieder, und sie lassen die atmosphärisch dichte Vorstellung eines Außen entstehen, das jenen Platz einnimmt, der anderen Texten für die inneren Befindlichkeiten der Figuren reserviert ist. Während also völlig unklar bleibt, wie Alice aussieht oder welchen Beruf sie ausübt, erfährt die Leserin alles über die mit Krimskrams vollgestopften Schubladen einer Mietwohnung, in der sich Alice und Maja nur ein paar Tage lang aufhalten, oder sie bekommt detaillierte Informationen zur Vegetation und Insektenwelt am hochsommerlichen Gardasee. Der Erzählfluss wird in anfangs sehr kurzen, später ein wenig länger werdenden Abständen von derartigen Inventuren des Bestehenden unterbrochen, und die Figuren werden ganz automatisch von der Landschaft und den Dingen, die immer wieder in den Vordergrund rücken, konturiert. Der Rahmen dieser Grenzerzählung verschwimmt auf diese Weise langsam mit dem Bild, und der Rezipient wird so zu einem Betrachter-Leser, der die gewohnten räumlichen Koordinaten immer wieder verliert und mit einzelnen Begriffen konfrontiert ist, die inhaltlich kaum bedeutsam erscheinen, aber dadurch, dass sie aus dem Erzählfluss herausragen, eine starke Wirkung entfalten. Wäre der Text aus der Ich-Perspektive erzählt, man hätte wenig Zweifel daran, dass Judith Hermann sich hier der »pathetic fallacy« bedient hätte, jenes stilistischen Prinzips also, das die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt, als Gleiches und doch gerade deshalb niemals wirklich erfahr- oder begreif bares Anderes abbildet.63 Doch die 63 | Jean Bessière beschreibt die innere Struktur der vor allem in romantischen Texten sehr häufig vorkommenden Landschaftsbeschreibungen nach dem Prinzip der »pathetic

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Erzählungen sind allesamt nicht aus der Ich-Perspektive geschildert und die Beschreibungen einer auktorialen Erzählinstanz lassen keine Rückschlüsse auf das Innere von Alice oder einer der anderen Figuren zu, wodurch schließlich auch diese befremdende Distanz weitgehend erhalten bleibt, die sich zwischen Leser und erzählte Welt schiebt. Die Art und Weise, in der Äußeres und Inneres (der Figuren) in Alice zueinander in Bezug gesetzt werden, verletzt offensichtlich Lesegewohnheiten und ist dabei so dominant, dass sie eine nähere Betrachtung verdient. Judith Hermann lässt in Interviews wenig Metadiskurs über ihre Texte zu und auch in den Texten selbst finden sich wenig Anhaltspunkte dafür, ob und wenn ja, an welche theoretische Diskurse sie anknüpft oder welche intertextuellen Beziehungen relevant sein könnten. Der Name »Malte«, dem das in vieler Hinsicht so bedeutende vierte Kapitel gewidmet ist, führt assoziativ aber fast zwangsläufig zu Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in denen es nicht nur einige sehr einprägsame Sterbe- und Todesszenarien gibt, sondern in denen auch die Dialektik zwischen dem menschlichen Innen und einer notwendigerweise vom menschlichen Bewusstsein hervorgebrachten Wahrnehmung des äußeren Raumes eine wesentliche Rolle spielt. Rilke lässt dabei das Subjekt zwar nicht verschwinden, so wie es bei Judith Hermann immer wieder geschieht, aber es muss den äußeren Erscheinungen zumindest Platz machen und erzählerisch hinter diese zurücktreten. Die paradoxe Zurückdrängung des Subjekts durch die Entgrenzung des inneren Erlebens in den äußeren Raum ist ein Zusammenhang, mit dem sich Rilke zeitlebens intensiv beschäftigt hat. Dabei wurde ihm das Hineinragen der äußeren Welt in sein inneres Erleben zu einer schier unerträglichen Qual, die nicht zuletzt seine Identität als Dichter in Frage stellte. Ortrud Gutjahr schreibt dazu: »Die Objektwelt bricht mit solcher Wucht in ihn ein, […] ihn ergreift eine geradezu panische Angst vor dem Neuen und Unbekannten […] Er fürchtet, von den neuen Eindrücken vernichtet zu werden, und droht zur literarischen Makulatur zu werden, wenn es fallacy« als paradoxal: »[…] elle suppose l’idée d’une objectivité du paysage, qui se comprend essentiellement comme le paysage naturel, et elle implique, sans que cette implication puisse être dissociée de la supposition qui vient d’être citée, que cette description repose entièrement sur la réaction émotive du sujet au spectacle du paysage.« (Bessiére 2007, 41) Obwohl die Selbstentfremdung des Subjekts also unabdingbare Voraussetzung für eine derartige Landschaftsbeschreibung ist, dient sie doch der Selbsterkenntnis, die als möglich und wünschenswert erachtet wird, auch wenn dafür ein vorhergehendes Sich-selber-fremd-Werden notwendig ist. Judith Hermanns Figuren sind nicht mehr einer solchen »égologie romantique« (ebd. 47) verhaftet, ihre Distanz zu den Dingen ist nicht künstlich oder gar aus ästhetischen Gründen herbeigeführt, sie ist eine A-priori-Bedingung ihres Seins und tritt durch die Nähe des Todes lediglich stärker ins Bewusstsein.

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ihm nicht gelingt, die Aufgabe des Erzählens zu bewältigen.« (Gutjahr 2004, 47) Dieser Zusammenhang zwischen den (Todes-)Ängsten eines sich in Auflösung befindlichen Individuums und der als fremd und »krankhaft« erfahrenen, dominanten Außenwelt scheint mir auch für Alice relevant. In einem Aufsatz mit dem Titel Von der Landschaft zeichnet Rilke die Entwicklung der westlichen Kulturgeschichte unter diesem Aspekt der In-Bezug-Setzung zwischen Innerem und Äußerem, Mensch und Natur, nach. Die Anfänge dieser Entwicklung sind bereits für ihn, mehr noch für den postmodernen Menschen kaum noch nachvollziehbar, ihnen liegt ein aus heutiger Sicht geradezu märchenhaftes Bild vom Menschen und den Dingen, die ihn umgeben, zu Grunde. Rilke bezieht sich auf die Vasenmalereien des Altertums, wenn er von jener Zeit schreibt, in der der Mensch noch so fasziniert und entzückt von sich selbst war, dass er gar nicht anders konnte, als sich seine Umgebung dieser grandiosen menschlichen Erscheinung untergeordnet vorzustellen: »Alles war Bühne und leer, solange der Mensch nicht auftrat und mit seines Leibes heiterer oder tragischer Handlung die Szene erfüllte. Ihn erwartete alles und wo er kam, trat alles zurück und gab ihm Raum.« (Rilke 1965, 517) Diese Phase der höchsten Wertschätzung alles Menschlichen, die Leib und Bewusstsein gleichermaßen umfasste, endete, so Rilke, mit dem Einfluss des Christentums, das dem Menschen seine Vorrangstellung, dem Ort seine Einheit nahm und ihn dabei metaphorisierte: »Nun da es auf einmal drei Orte gab, drei Wohnungen, über welche viel Redens war: Himmel, Erde und Hölle, – war eine Bestimmung der Örtlichkeit dringend notwendig geworden und man mußte sich sie ansehen und sie darstellen; in den frühitalienischen Meistern wuchs diese Darstellung, über ihren eigentlichen Zweck hinaus, zu großer Vollkommenheit.« (Ebd. 518) Die Kunst sei, so Rilke, über diesen Zweck einer der christlichen Kartographie des Guten und Bösen dienenden Naturbetrachtung weit hinausgelangt und habe sich der Unmittelbarkeit und sinnlichen Schönheit der Landschaft nicht entziehen können: »Man meinte keinen Ort mehr damit, auch den Himmel nicht, man stimmte die Landschaft an wie ein Marienlied, das in hellen, klaren Farben erklang. Aber damit war eine große Entwicklung geschehen: man malte die Landschaft und meinte doch nicht sie damit, sondern sich selbst.« (Ebd. 519) Aus diesem Stadium der Anthropomorphisierung der Natur heraus habe sich, so Rilke, mit Leonardo da Vinci und lange nach ihm noch eine Kunst entwickelt, die sich durch großes Unabhängigkeitsstreben auszeichnete und die Landschaft nicht mehr als Spiegel benutzen, sondern über den Menschen hinausreichende Fragen in der Auseinandersetzung mit dieser ergründen wollte. Eine solche Landschaftsbetrachtung machte einen entfremdeten Blick notwendig, der nicht mehr sich selbst im Äußeren suchte, sondern eine andere Welt, die in der Lage ist, »unserem Dasein eine neue Deutung zu geben mit ihren Dingen« (ebd. 520). Je mehr der Mensch sich von dem überlegenen Bildnis seiner selbst entfernte, das sich auf antiken Vasenbildern noch erkennen

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lässt, so Rilke, desto mehr hat er in der Ferne und Fremdheit eines unbelebten Außen ein größeres Gesetz und eine stetere Bedeutung gesucht, an der er sich orientieren konnte. Die Landschaft sollte letztlich also doch wieder vom Menschen erzählen, aber aus ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten heraus, eine fremde Geschichte, die als sinnhaft erfahrbar ist: […] so entstanden die Bilder von Landschaften, in denen nichts geschieht. Leere Meere hat man gemalt, weiße Häuser in Regentagen, Wege, auf denen keiner geht, und unsäglich einsame Wasser. Immer mehr entschwand das Pathos und je besser man diese Sprache verstand, in desto schlichterer Weise gebrauchte man sie. Man versenkte sich in die große Ruhe der Dinge, man empfand, wie ihr Dasein in Gesetzen verging, ohne Erwartung und ohne Ungeduld. […] Und als der Mensch später in diese Umgebung trat, als Hirte, als Bauer oder einfach als eine Gestalt aus der Tiefe des Bildes: da ist alle Überhebung von ihm abgefallen und man sieht ihm an, daß er Ding sein will. Der Inhalt dieser Bilder, der so absichtslos aus Schauen und Arbeit entsprang, spricht uns davon, daß eine Zukunft begonnen hat mitten in unserer Zeit: daß der Mensch nichtmehr der Gesellige ist, der unter seinesgleichen im Gleichgewicht geht, und auch derjenige nichtmehr, um dessentwillen Abend und Morgen wird und Nähe und Ferne. Daß er unter die Dinge gestellt ist wie ein Ding, unendlich allein und daß alle Gemeinsamkeit aus Dingen und Menschen sich zurückgezogen hat in die gemeinsame Tiefe, aus der die Wurzeln alles Wachsenden trinken. (Ebd. 522)

Die Figuren in Alice verkörpern die hier beschriebene Haltung, »Ding unter Dingen« zu sein, geradezu exemplarisch, und die ständigen Aufzählungen der Objekte ihrer Umgebung stellen vor allem für die Protagonistin eine essenzielle Notwendigkeit, in gewisser Weise auch eine Reduktion ihrer tiefen Einsamkeit dar. Dabei geht die Auseinandersetzung mit den Gegenständen und dem Gegenständlichen weit über eine Attitüde der Langeweile und der melancholischen Kontemplation des Unwesentlichen, wie so oft von Seiten der Kritik unterstellt wurde, hinaus. Die Inventuren von Alice, die sie über alle fünf Texte hinweg vornimmt, kommen einer intensiven Auseinandersetzung mit der »tapfere[n] Standhaftigkeit der Dinge« (Hermann 2009, 38) gleich, die sie auch – und nur insofern ist hier noch ein Ich-Bezug vorhanden – für sich selbst erlangen möchte. In keiner Episode ist sie weiter davon entfernt als in der ersten, wobei hier die protokollarischen Aufzählungen den weitaus größten Raum einnehmen. Als Maja mit dem neuen Vermieter telefoniert, in dessen Wohnung Alice und sie mit dem Kind einziehen wollen, taucht ein Landschaftsbild auf, ein Foto allerdings, das an Rilkes menschenleere Landschaften erinnert: »Drei Zimmer. Mit Garten. Waschmaschine auch, ja, selbstverständlich. Nicht weiter weg vom Krankenhaus als dieses eine Zimmer jetzt: künstliche Forsythien in der Vase auf der Einbauschrankwand, über dem Fernseher ein gerahmtes Foto, auf dem die Sonne unterging in einem leeren

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See.« (Ebd. 7) Die erkenntnisfördernde Ästhetik der Romantik, die auch Rilke in Von der Landschaft im Sinn hatte, ist aus diesem Szenario, das ja auch bloß noch eine Fotografie zeigt, gänzlich verschwunden. Die Menschenleere, die die Figuren in den Stand von Dingen erhebt, erweist sich als der Ist-Zustand, als eine Konstante aller fünf Erzählungen, in denen Alice durch die Nähe des Todes mit der Frage des in dieser kühlen Gegenständlichkeit offenbar abwesenden Sinns konfrontiert wird. An einen Gott ist nicht mehr zu denken, die Idee einer religiös gedachten »Heilung« kommt gar nicht mehr auf, sie findet nur noch am Rande der »Micha«-Episode Erwähnung, als eine Art anachronistische Fußnote. Hier wird deutlich, dass die Nonnen, die das Krankenhaus bevölkern, den klinischen Tod im wahrsten Sinne des Wortes niemals mehr in eine Wartehalle für die herrlichen Verheißungen des Jenseits verwandeln können. Das Kind, das in der betreffenden Szene bezeichnenderweise auf dem Schoß einer Nonne sitzt, ist das einzige Wesen, das hier noch Wunder wirken kann, wobei diese ihre metaphysische Dimension ganz und gar verloren haben. »Aba Ka Daba. Abakadabra« (ebd. 47), sagt das Kind vor sich hin und seine Zauberkräfte liegen in der einfachen Benennung der Dinge, in der Beschwörung ihrer »tapfere[n] Standhaftigkeit« also, die der Tod in Frage stellt und die Alice zitternd wiederzuerlangen bemüht ist.64 Die aufzählenden Beschreibungen von privaten und öffentlichen Räumen, die sich in Alice finden, bleiben aber nicht statisch und karg, sie schaffen vielmehr eine eigene narrative Architektonik innerhalb der Rahmenhandlungen, die jeweils simultan eine eigene Geschichte erzählen. Die Narrative des Räumlichen, die so entstehen, drängen sich nicht auf, man könnte Alice sogar problemlos lesen, ohne diese »Parallelwelt« wahrzunehmen, aber sie sind, wenn man ihnen Beachtung schenkt, geradezu spektakulär, weil sie eine subtilere und offenere, gleichzeitig begrifflich äußerst klare Form des Erzählens erahnbar machen. In der Ruhe dieser inventarischen Dingbetrachtungen entfalten sich tatsächlich Geschichten, die in ihrer Struktur nicht linear, sondern rhizomatisch sind und somit ein vielfältiges Beziehungsgeflecht zwischen Motiven und inhaltlichen Strukturen entstehen lassen, die auf den ersten Blick kaum etwas miteinander verbindet. Diese Geschichten, die oft einfach aus der äußerst kargen begrifflichen Auseinandersetzung mit der Dialektik zwischen 64 | Alices körperliche Erscheinung bleibt in den Erzählungen weitgehend unwesentlich und auch ihre Körpersprache wird selten beschrieben. Umso auffallender ist es, dass es in allen fünf Erzählungen einen Moment gibt, in dem Alice zu zittern beginnt. Die konventionellen mimetischen Figurenbeschreibungen werden also hier zu Gunsten einer Körpersprachlichkeit aufgegeben, die sich in Gesten und Zuständen, oftmals auch in unkontrollierbaren, momentanen Reaktionen auf Situationen und Menschen äußern. Der Körper wird also von der Last, etwas »darstellen« zu müssen, die er auch in konventionellen zeitgenössischen Romanen noch trägt, befreit.

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Innen und Außen entstehen, weisen zahlreiche Leerstellen auf, ja das Fehlende ist geradezu ein konstitutiver Bestandteil dieser Rhizom-Narrative, die eine Art Poetik des Todes »im Untergrund« von Alice entstehen lassen. Das beginnt bereits in der »Micha«-Episode, wo Innen- und Außenraum gleich fremd und kalt zu sein scheinen und fast die gesamte Aufmerksamkeit von Alice beanspruchen. Die Vision eines persönlichen Raumes, der dem haltlosen und an der Sinnlosigkeit der Welt leidenden Ich eine Behausung bieten kann, existiert bereits und Alice gelingt es vor allem dann eine Ahnung davon zu entwerfen, wenn sie sich in ihrer reduziert-luziden Sprache an das Kind wendet:65 »Wir ziehen um, sagte Alice zu dem Kind. Wir ziehen woandershin. Da wird es ganz schön sein, wirst du sehen. Es gibt eine Badewanne. Einen Garten, wir können jeden Morgen rausgehen. Bäume. Wiese. Vielleicht Hasen, mal sehen, vielleicht fangen wir einen.« (Ebd. 7) Doch diese Hoffnung auf einen postmodernen locus amoenus am Rande jener Provinzstadt, in der Michas Tod allgegenwärtig ist und die die Trostlosigkeit und entstellte Menschlichkeit dieses ausschließlich medizinisch betreuten Todes in allen ihren Facetten widerzuspiegeln scheint,66 erweist sich einmal mehr als vergeblich. Bereits die Ankunft weist den erhofften »besseren« Ort als wenig einladend aus: Der Taxifahrer hustete gräßlich. Nummer zwölf, sagte Maja von der Rückbank aus. […] Der Fahrer räumte die Sachen aus dem Kofferraum und nuschelte dabei vor sich hin. Dann fuhr er weg. Alice, Maja und das Kind standen auf der Straße und sahen zum Haus hin, ein weißer, flacher Neubau mit einem Wintergarten, in dem sich riesige Azaleen an die beschlagenen Scheiben preßten. Vor dem Buntglasfenster der Eingangstür hing eine rustikale Hexe auf einem Strohbesen, schaukelte und raschelte im Wind. (Ebd. 16) 65 | Die Gespräche, die Alice mit dem Kind und auch erwachsenen Figuren des Romans führt, wirken allesamt wie Selbstgespräche. Der relativ hohe Anteil an Dialogizität erweist sich also als trügerisch. Hier sehe ich ebenfalls eine Paralle zu Rilkes monologischem Erzählen in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Dieses führt »den Ich-Erzähler in Todesfurcht, da er der sozialen Welt ebenso entrissen wird wie der symbolischen mit ihren vertrauten Bedeutungen« (Gutjahr 2004, 49). Im Gegensatz zu Brigge trauert aber Alice den »gewohnten Bedeutungen« nicht nach, die ihr ohnehin nie vertraut geworden sind. Aus dieser Haltung erwächst auch der nüchtern-resignative Ton, der den Roman – wenn man den Text als solchen lesen möchte – über weite Teile kennzeichnet. 66 | Ortsbeschreibungen wie die Folgende kommen in der »Micha«-Episode sehr häufig vor: »Was für eine Gegend. Die Straße ging über die Autobahn, dann durch einen Park, in dem zerzauste Enten auf einem brackigen Teich schwammen, dann weiter in die ausgestorbene Innenstadt bis zum Krankenhaus, zwanzig Minuten zu Fuß mit dem Kinderwagen und dem Kind.« (Hermann 2009, 13)

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Das Ehepaar, das ihnen die Tür öffnet – dies geschieht im Übrigen nicht unmittelbar nach der Beschreibung der Ankunft, wieder schiebt sich Michas Sterben kurz zwischen die Bilder vom scheinbar sicheren, behaglichen Innenraum – ist unheimlich und grotesk zugleich. Während die Frau, die die oben erwähnte Hexe auch als Schlüsselanhänger trägt, eine Art zwangsdomestizierte Baba-Jaga-Figur zu sein scheint, verkörpert ihr Mann die ganze Brutalität dieser Welt, in der es keinen sicheren Zufluchtsort mehr gibt: »[…] seine Hände waren rauh und abgeschürft und sein Händedruck fest, die Trainingshose ziemlich dreckig, auf dem breiten kahlen Schädel heftige Narben an beiden Seiten, als hätte sein Kopf mal in einer Zwinge gesteckt.« (Ebd. 21) Die patriarchal dominierte »Baba Jaga« und »Frankensteins Monster« geleiten die beiden Frauen und das gebetsmühlenartige das Wort »Hase« wiederholende Kind in den Keller des Hauses, wo sich die neue Unterkunft befindet. Die Semantik des Hauses, wie sie Gaston Bachelard beschreibt, scheint mir zu der hintergründigen Wirkung dieser Szene, die genauso kühl und distanziert beschrieben wird, wie etwa Alices Kofferinhalt oder Majas alltägliche Gepflogenheiten, zu passen: »Das Haus ist ein Verband von Bildern, die dem Menschen eine Stabilität beweisen oder vortäuschen. […] Und der Keller? Gewiß wird man ihn nützlich finden. Man wird ihn rationalisieren, indem man seine Bequemlichkeiten aufzählt. Zuerst ist er jedoch das dunkle Wesen des Hauses, das Wesen, das an den unterirdischen Mächten teilhat.« (Bachelard 2007, 43) Die archaischen Ängste, die in der »Micha«-Episode ganz und gar die Vorherrschaft übernommen haben, sind schon so oft literarisch bearbeitet worden, dass es kaum möglich scheint, sie fernab von Kitsch und Klischee zu beschreiben, es sei denn unter Zuhilfenahme des Mittels der Ironie. Manche Schriftsteller lassen sich allerdings dennoch auf eine pathetische Sprache ein, etwa der amerikanische Schriftsteller Cormac McCarthy in seinen apokalyptischen Todesszenarien. Judith Hermann wählt einen ganz anderen Weg, der jegliches Pathos streng vermeidet, ebenso wie ihre Sprache auch keine Psychologisierungen zulässt. Das, was da im Keller wohnt und mit dem Tod zu tun hat, wird in der größten denkbaren Reduktion beschrieben und bleibt im Hintergrund der Erzählung, ja es wird von der Handlung sogar völlig abgekoppelt. Die schnörkellose Sprache und ihre Unaufgeregtheit stehen in krassem Gegensatz zur Symbolkraft dieser Bilder, die hier mit Leichtigkeit herauf beschworen werden und dadurch an Kraft, man könnte vielleicht auch sagen an Gewalt und Brutalität verlieren. Die Begegnung mit dem monströsen Ehepaar etwa wird als »eigenartig« beschrieben, aber »ohnehin war alles eigenartig, mußte hingenommen werden, wie es kam, und Alice trug ihre Tasche in den Garten hinein« (ebd.). Man könnte Alice, wie an dieser Szene offensichtlich wird, auch als eine im höchsten Maße passive, vielleicht mehr noch kontemplative Figur beschreiben, die sich der Unausweichlichkeit des Todes ebenso wie seiner radikalen Fremdheit ganz und gar bewusst ist und nicht gegen diese

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ankämpft. Ihre Entwicklung, die sie von der ersten bis zur letzten Erzählung durchläuft, ist daher auch keine aktiv betriebene Auseinandersetzung, aus der eine größere Gelassenheit dem Tod gegenüber resultieren würde, es ist vielmehr eine Hingabe an die Bilderflut, die sich durch die Konfrontation mit dem Tod der ihr nahestehenden Menschen ergibt. Diese führt sie schließlich an einen geschützten Ort, der in der letzten Erzählung beschrieben wird. Hier führt sie auf der Dachterrasse seines Wohnhauses ein wichtiges Gespräch mit dem Rumänen, einer Figur, die bereits in der »Conrad«-Episode auftaucht. In diesem Gespräch und der daran anschließenden Schlusssequenz findet Alice zu einer existenziellen Ruhe, an der es ihr ansonsten den ganzen Text hindurch mangelt. Diese Szene steht in krassem Gegensatz zu dem, was Alice in der »Micha«-Episode erlebt. Hier wird die Behausung und das Leben des auf Maja und Alice geradezu unecht wirkenden Paares als eine »vorgetäuschte Beständigkeit« (ebd. 25), beschrieben. Das bedrohliche Potenzial dieser unheimlich-unechten Heimeligkeit entfaltet sich auf der Handlungsebene, vor allem in jener Szene, in der sich der Vermieter Alice körperlich zu nähern versucht. Die »Micha«-Episode findet in dieser Hinsicht keinen versöhnlichen Ausgang, ja sie variiert ihr Thema noch nicht einmal, der Schrecken, der allen Dingen hier angesichts des Todes innewohnt, bleibt bis zum letzten Satz, in dem Maja mit dem Kind in dem Haus des Paares verschwindet und die Tür hinter sich schließt, bestehen. Auch in der nächsten Episode, die den Namen des mit einem tödlichen Virus infizierten Conrad trägt, steht die Betrachtung des Raumes, in diesem Fall der Landschaft, am Beginn der Erzählung. Gleich nach der Ankunft am Gardasee beziehen Alice und ihre Freunde das Haus, in dem Conrad und seine Frau Lotte früher gewohnt haben und das ebenfalls zum Gegenstand ausführlicher und im Vergleich zur »Micha«-Episode auch von sehr viel sinnlicheren Eindrücken geprägten Beschreibungen wird: »Das gelbe Haus hatte drei Stockwerke und sechs Zimmer. Alice nahm das Zimmer unter dem Dach, das Zimmer, in dem früher Conrad gewohnt hatte […] Das Zimmer war quadratisch, zwei Fenster zu zwei Seiten, ein schmales Bett darin, ein Schrank, ein roter Teppich mit schwarzem Webmuster und genau in der Mitte ein Tisch, von dem aus Alice die Gipfel der Berge sehen konnte auf der anderen Seite des Sees.« (Ebd. 55f.) Nicht nur der Raum und die darin befindlichen Gegenstände gewinnen hier an Farbe und Detail, auch die Kleidung der Figuren wird in diesem Kapitel ganz genau geschildert, so dass man fast den Eindruck bekommt, diese blühende südliche Gegend könne selbst noch den Tod in ein warmes, dem Lebendigen wohlgesonnenes Licht tauchen. Wenn man davon ausgeht, dass die Figuren in Alice in einem im Vergleich mit Rilke noch gesteigerten Sinne zu einem Ding unter Dingen geworden sind, dann ist dieser Eindruck wohl auch richtig. Alice jedenfalls hat sich nun im Dachboden einquartiert, einem Ort also, der sie mit dem ihr sehr nahestehenden Freund verbindet und

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außerdem eine Fülle an Assoziationen herauf beschwört, die in diesem »architektonischen« Text eine besondere Wirkung entfalten. Wieder scheint die topographische Typologie Bachelards zur »Psychologie« des Hauses zu passen: »Das Dach spricht sofort seinen Daseinszweck aus: es beschirmt den Menschen, der den Regen und die Sonne fürchtet. […] Wenn es sich um das Dach handelt, sind alle Gedanken klar. Im Dachboden sieht man mit Vergnügen das starre Gerippe des Balkenwerks bloßgelegt. Man hat teil an der soliden Geometrie des Zimmermanns.« (Bachelard 2007, 43) Die »Conrad«-Episode handelt tatsächlich von der Verbindung zwischen Mensch und Natur – sofern man eben im städtisch geprägten Milieu, in dem alle Alice-Erzählungen alleine schon durch die Sozialisation ihrer Hauptfiguren angesiedelt sind, noch von einer solchen sprechen kann. Zwar ist die Art dieser Verbundenheit nicht mehr vom Zusammenspiel zwischen Mensch und Natur, schon gar nicht einem symbiotischen Zusammenleben, bestimmt, aber die äußeren Vorgänge, vor allem eine durch das Klima bedingte schwere und doch durch und durch lebendige Atmosphäre, sowie die Dichte an sinnlichen Eindrücken, geben der Sprache in diesem Kapitel ihren eigenen, unverwechselbaren Klang. Der Lebensdrang, der Alice in der »Micha«-Episode abhanden gekommen ist und nur noch ab und zu im unmittelbaren Kontakt mit dem Kind auf blitzt, scheint hier in Landschaft und insektisches Gewimmel geronnen zu sein und alle Szenen, selbst noch Conrads Tod, als Grundton zu beherrschen. Die pure Freude an Farben, Gerüchen und Geschmäckern, die die Figuren hier empfinden, steht in krassem Gegensatz zu Majas »absolut salzarm[em]« (Hermann 2009, 27) Essen, das man »fade oder pur« (ebd.) finden konnte. Die Kraft, die aus diesen Eindrücken hervorgeht, scheint eine Art Lebenswillen in Alice zu wecken, der ihr bis zum Ende des Textes nicht mehr abhanden kommt. Noch in der »Raymond«-Episode sind es Dinge wie die Erdbeeren, die sie sich am Heimweg von ihrem täglichen Ausflug ins Bad, in dem Raymond als Kind viel Zeit verbracht hat, kauft, oder die Kirschmarmelade, die ihr der Rumäne zu ihrem Gespräch auf der Dachterrasse serviert, die sie auf eine ganz und gar banale und doch wesentliche, existenzielle Art an das Leben binden und trösten. Diese lebensbejahende Kraft einer sinnlichen Präsenz, die sich als Schutzwall gegen die nichtende Macht des Todes erweist, ist der Boden, auf dem die »Conrad«-Episode gedeihen kann. Das Sprechen der Figuren ist hier unwesentlich, auch wenn die Dialoge häufiger sind als in der ersten Erzählung, was auch auf eine Verlebendigung der menschlichen Beziehungen hindeutet. Wesentlicher als diese aber ist die Topographie dieses in gewisser Weise magischen Ortes, der in aller Ausführlichkeit beschrieben wird (vgl. z.B. ebd. 57f.), wobei die Charakteristika der Landschaft und vor allem des Hauses immer wieder auch auf den Menschen verweisen. Dies geschieht allerdings nicht in Form einer simplen Analogie, es entwickelt sich durch diese Ortsbeschreibungen vielmehr eine Simultan-Erzählung zu Conrads individuellem Sterben, die vom Vergehen der

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Zeit handelt und über einen Umweg eine kollektive Verbundenheit zwischen den Menschen suggeriert. In diesem Kapitel, das den Käfern, Spinnen und Zitronenbäumen ebenso viel Aufmerksamkeit schenkt wie den handelnden Personen, müsste man vielleicht sogar von einer kollektiven und gleichsam existenziellen Verbundenheit zwischen den Lebewesen sprechen. Die Öffnung der solipsistischen Eingeschlossenheit, die in der ersten Erzählung noch deutlich spürbar ist, wird in einer Szene explizit, in der Alice in Conrads Zimmer liegt und einen Lichtfleck beobachtet, der durch die geschlossenen Fensterläden dringt: Der Lichtfleck war golden. […] Eine Sonnenuhr. Alice lag mit offenen Augen. Sie dachte, daß Conrad, wenn er bei geschlossenen Läden in seinem Zimmer auf diesem Bett gelegen hatte – […] als er jünger gewesen war und die Kinder klein und das Haus am Hang noch ein Stall voller Schafe und Ziegen, als er so alt gewesen war wie Alice jetzt –, diesen Lichtfleck hatte wandern sehen, so wie sie ihn nun wandern sah. Er hatte damals das gleiche gesehen wie Alice jetzt, hinter dieser simplen Tatsache schien sich etwas Ungeheuerliches zu verbergen. (Ebd. 83)

Auch wenn Alice, wie es im Text heißt, »nicht gleich darauf[kam], was das sein könnte« (ebd.), so ist dies die erste Szene, in der sie sich tatsächlich in die Nähe eines anderen Menschen begibt. Diese Annäherung beginnt mit der Antizipation des eigenen Todes, den Alice in diesem Moment als ein kollektives Schicksal alles Lebendigen begreift. So fremd und feindlich sich die Figuren in der »Micha«-Episode gegenüberstehen, so ähnlich und einander verbunden erscheinen sie in dieser Szene. Bevor Alice dann das Zimmer wieder verlässt, geht sie zum Fenster und blickt auf das Sujet des leeren, von der Sonne beschienenen Sees, das nun allerdings vollständig verwandelt erscheint und eine Intensität gewinnt, die nur noch vage an das gerahmte Foto neben den künstlichen Forsythien erinnert: »Sie tastete sich zum Fenster und stieß die Läden auf, die Berge auf der anderen Seite des Sees leuchteten schwach rosafarben, und die Sonne war weg, aber es war immer noch hell.« (Ebd. 83) Die Nähe zu den Dingen und Menschen, die Alice nun empfindet, verdichtet sich in der darauffolgenden Szene noch weiter, die in der Küche des Hauses angesiedelt ist. Hier wird die gewohnte Aufzählung der Dinge erstmals zu einer genussvollen Inventur, in der nicht nur Gegenstände, sondern auch Gerüche und Farben ihren Platz beanspruchen. Auch das Begehren, das Alice dem Rumänen gegenüber empfindet, fügt sich in dieses Bild ein, das sich noch nicht ganz real anfühlt und immer noch von Alices Schläfrigkeit in eine Art Traumszenario verwandelt wird: »[…] sie war matt und wie betäubt, es war unmöglich, von dem Rumänen wegzugehen. […] Sie zog sich einen Hocker an die Küchentür und setzte sich darauf, halb drinnen, halb draußen, den Rücken an die Wand gelehnt. Über die Schwelle eilten unzählige Ameisen.« (Ebd. 85)

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Wiederum lohnt sich ein Blick auf Bachelards Poetik des Raumes, wenn es um diese Schlüsselszene in Alice geht, die in weiterer Folge auch noch die Nachricht über Conrads Tod beinhaltet. Diese Szene wird, ebenso wie die vorhergehende, aus einem Halbbewusstsein heraus geschildert, Traum und Wachsein sind hier ebensowenig klar voneinander getrennt wie Drinnen und Draußen. Alices Positionierung an der Schwelle legt ihre Lage nicht nur für diesen Moment, sondern für den gesamten Erzählband fest, in dem jede einzelne Episode eine andere Grenzlage, eine andere Form der Auseinandersetzung mit Sein und Nichtsein schildert. Die »Conrad«-Erzählung ist in dieser Hinsicht ein Kristallisationspunkt, einerseits weil hier das Bewusstsein der Figuren oft in einem für die äußeren Einflüsse besonders empfänglichen Zwischenzustand – zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Nüchternheit und Rausch – verharrt. Andererseits ist die »Conrad«-Episode aber auch in topographischer Hinsicht eine Erzählung des Zwischen, insofern als die beiden beschriebenen Häuser, jenes von Alice und ihren Freunden und jenes von Lotte und Conrad, als äußerst durchlässig beschrieben werden. Türen und Fenster sind immer geöffnet, auch die Räume selbst sind offen, selbst das Krankenlager von Conrad ist nur durch einen Paravent vom Wohnraum abgetrennt. Der Übergang zwischen Gärten, Terrassen und den Innenräumen scheint fließend zu sein, wo sich also in der »Micha«-Episode Türen schließen, scheint hier alles offen und durchlässig. Bachelard spricht vom Entstehen eines literarischen »Kosmos des Halboffenen«: »Die Tür! Sie ist ein ganzer Kosmos des Halboffenen – zum mindesten ist sie darin das Leitbild, der eigentliche Ursprung einer Träumerei, in der sich Wünsche und Versuchungen ansammeln, die Versuchung, das Sein in seinen Untergründen zu erschließen, der Wunsch, alle verschlossenen Wesen zu erobern.« (Bachelard 2007, 221) So teleologisch wie Bachelard es hier beschreibt, ist Alices Streben nicht, aber die »Conrad«-Episode öffnet ihr tatsächlich die Tür zu einer anderen Wahrnehmung des Todes, die ein wenig an die tellurische Poetik im Roman Eine Zeit ohne Tod des portugiesischen Schriftstellers José Saramago erinnert. Der Tod ist hier wie dort Teil des Bandes, das zwischen den Menschen und allen anderen Lebewesen existiert und eine Relativierung dieser alles zersetzenden, nichtenden Macht bedeutet. Wenn man von der Vorstellung eines Gottes absehen möchte oder muss, dann ist diese Relativierung des individuellen Todes nur denkbar, wenn man von einem größeren Ganzen ausgeht, in dem die Nichtung des Einzelnen aufgehoben ist und, nach dessen Tod, aufgehoben wird. Während das »Conrad«-Kapitel die Auseinandersetzung mit dem größeren Ganzen im Zwischen betreibt, ist die »Malte«-Erzählung der Erinnerung gewidmet, die die Absolutheit des Todes ebenfalls in Frage stellt. Mehr Trost als diese beiden Komponenten, die Kraft der sinnlichen Präsenz und die diesseitige Utopie eines Weiterlebens in der Erinnerung, hat das »nüchterne« Buch Alice seinen Lesern nicht anzubieten. Für Alice reicht es am Ende für ein Weiterleben nach dem Tod jenes

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Menschen, der ihr, so behauptet es die Erzählung, am nächsten gestanden ist. Das ist, möchte man meinen, selbst nüchtern betrachtet, eine ganze Menge.

5.2.4 Was bleibt, was bedeutet. Abschließende Versuche, das Sein vor dem Nichts zu retten Das fünfte Kapitel stellt den Tod jenes Menschen, der Alice am nächsten steht, den ihres Lebensgefährten Raymond, als eine schlichte, aber dadurch nicht weniger ungeheuerliche Tatsache an den Beginn der Erzählung: »Nachdem Raymond gestorben war, begann Alice damit, seine Sachen wegzuschaffen.« (Ebd. 159) Der Ausdruck »wegschaffen« klingt in diesem Zusammenhang geradezu brutal, dieses Leerräumen und Wegwerfen scheint der Gegensatz der sorgsamen Inventuren zu sein, die Alice den ganzen Text über sowohl innerhalb ihres räumlichen Mikrokosmos als auch in der sie umgebenden Landschaft durchgeführt hat. Nun ist diese Welt, das lässt sich erahnen, auch wenn es im Text nur auf die gewohnt zurückhaltende Art ausgedrückt wird, so sehr aus den Fugen geraten, wie noch niemals zuvor und Alice wird alles, was sie über das Sterben gelernt hat, brauchen, um zu überleben. Raymonds Tod hat sich, zumindest aus Sicht der Leserin, nicht angekündigt, er wird weder als krank noch als selbstmordgefährdet beschrieben. Der Text liefert bis zum Schluss keinen noch so kleinen Anhaltspunkt für die Todesursache und so entsteht dort, wo es in allen anderen Episoden zumindest einen Abschied, ein Letztes gibt, eine ständig spürbare Leere. Die »Raymond«-Episode bekommt so auch aus der Leserperspektive etwas Schwankendes, Unsicheres, der spinnwebenfeine Faden der Erzählung ist besonders hier über einen allzeit präsenten Abgrund gespannt, der seine schwindelerregende Wirkung entfaltet. Worauf die »Räumungsarbeiten« von Alice hinauslaufen, scheint dabei schon ganz zu Beginn klar zu sein: »Zuletzt würde es nichts zu bergen geben, nichts außer der Tatsache, daß Raymond gestorben war, darauf lief es hinaus. Es war nicht die schlechteste Arbeit.« (Ebd.) Doch der Ausgang dieser äußerst pragmatischen Abschiedszeremonie, in der Alice Raymonds Sachen in Schachteln verpackt und zur Altkleidersammlung bringt oder wegwirft, ist für die Protagonistin unvorhersehbar, sie wird in den Sog ihrer Trauer hineingezogen, deren »Aufarbeitung« sie viel weniger in der Hand hat, als sie anfangs denkt. In keinem anderen Kapitel spielt die »mémoire involontaire« eine so entscheidende Rolle wie hier, nirgendwo sonst findet sich eine solche Dichte an Bildern wie in dieser letzten Erzählung, die das bildsprachliche Konzept dieses Textes zu voller Geltung bringt. Die Sprache wird dabei aus ihrer Verankerung im »Man« gerissen und beginnt, in dieser Hinsicht der radikalen Fremdheit des Todes zu ähneln, die auch eine radikale Eigenheit im Sinne von Einzigartigkeit ist. Die Tode in Alice lassen sich nicht vorhersagen und planen, weder von den Ärzten noch von den Nahestehenden, sie haben ihren Eigensinn. Sie führen jenes un-

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beugsame Eigenleben, das in Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge beschrieben wird, wo jeder Mensch nicht irgendeinen, sondern »seinen« Tod stirbt: Diese Männer, die ihn in der Rüstung trugen, innen, wie einen Gefangenen, diese Frauen, die sehr alt und klein wurden und dann auf einem ungeheueren Bett, wie auf einer Schaubühne, vor der ganzen Familie, dem Gesinde und den Hunden diskret und herrschaftlich hinübergingen. Ja die Kinder, sogar die ganz kleinen, hatten nicht irgendeinen Kindertod, sie nahmen sich zusammen und starben das, was sie schon waren, und das, was sie geworden wären. (Rilke 1997a, 464)

Bei Rilke wie auch bei Hermann verfügt der Tod über die Zeit und lässt sich nicht drängen, in dieser Hinsicht ähnelt er den bildhaften Erinnerungen, über die es bei Judith Hermann heißt: »Alice dachte, daß sie sich die Erinnerungen nicht aussuchen konnte, sie kamen, wie sie wollten.« (Hermann 2009, 162) Schon die Erinnerung der ersten Begegnung von Alice und Raymond, die ganz am Anfang durch das Verpacken der Kleidung herauf beschworen wird, ist dabei ganz vom Visuellen dominiert: »Raymond hatte eine Zigarette gedreht und Alice angesehen. Nichts weiter. Dieser Blick auf Alice war seine ganze Dauer lang vollkommen gewesen. Das war alles.« (Ebd. 161) Es bleiben dann auch im weiteren Verlauf des Kapitels die Bilder, die »das Geschehen«, das fast ausschließlich inneres Geschehen ist, beschreiben. Selbst das ist aber noch zu wenig gesagt, denn die Bilder beschreiben hier über weite Strecken des Textes nicht mehr, sie sind das Geschehen selbst und bestimmen seinen (kontemplativen) Verlauf, wobei die erinnerte Vergangenheit die Gegenwart überlagert. Die Darstellung der Themenkomplexe Tod/Selbst-Bewusstsein menschlicher Vergänglichkeit in einer sehr bildhaften Sprache ist ein weiterer Aspekt, der Rilke und Hermann miteinander verbindet, auch wenn daraus bei beiden eine völlig andere Erzählsprache erwächst. Auch wenn Roswitha Kant die Bildsprache in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge dahingehend interpretiert, dass Rilke sie einsetzt, um »darauf aufmerksam zu machen, daß die Wortkultur die Bilder verstellt, den Menschen somit von einer originären, bildlich vermittelten Erfahrung entfremdet« (Kant 2002, 237), lassen sich gewisse Parallelen zu Alice kaum bestreiten. Hier ist die Vorrangstellung des bildhaften Erzählens ein Resultat des Ungenügens an einer Sprache, die angesichts des Todes und der ganzen Welt, die hier mit jedem einzelnen Menschen stirbt, keine Bedeutung mehr zu geben und zu fassen vermag. Rilkes Brigge begreift vor allem seine Mutter, mit der ihn eine sehr enge Beziehung verbunden hatte, als dem Zugriff von Worten entzogen. Seine intensiv erlebte Verbindung zu ihr, »in [der] sich die Einmaligkeit einer Persönlichkeit in ihrem fließenden Dasein eröffnet« (ebd. 241), macht es ihm unmöglich, ihr Wesen den regelhaften Strukturen der konventionellen Sprache zu unterwerfen. Wenn er versucht,

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sie als »isolierte, konstante Entität« (ebd.) zu beschreiben, entzieht sich ihm die Erinnerung eher, als dass er sie festhalten könnte. Alice zieht aus ebendiesen beiden Gründen, der sprachlichen und affektiven Angemessenheit an die Einzigartigkeit des Erlebens und Erinnerns, die bildhaften Eindrücke den bewusst gesteuerten, von syntaktischen mehr als vom ikonographischen Symbol geprägten Reminiszenzen vor. Das verleiht den unbelebten Gegenständen Kraft, es lässt jeden Blick in eine Schublade oder eine Jackentasche zu einer potenziellen »Wiederauferstehung« werden: »[…] etwas Kleines, ein wenig so, als hätte Raymond ihr das dagelassen: es war eine zerknitterte Papiertüte aus einer Bäckerei mit dem Rest eines Mandelhörnchens darin. Der letzte runde Bogen des Hörnchens, schon fast versteinert, so alt, und wie eine Muschel in der Versteinerung die glatte Scheibe einer Mandel darauf.« (Hermann 2009, 162f.) Weder Eigenschaften noch die ganze Gestalt von Raymond werden in diesem Erinnerungsbild sichtbar, vielmehr fühlt Alice den »lebendigen, einfachen Hunger« (ebd. 163), den Raymond hatte und nicht mehr hat. Eigenheiten, Vorlieben, Gewohnheiten, Dinge, die mit der banalen wie existenziellen Einzigartigkeit Raymonds verbunden sind, tauchen mit diesem Gegenstand aus der Jackentasche auf, wobei die Symbolhaftigkeit der Assoziationen »Muschel, Bogen, Versteinerung« diese Bruchstücke eines Menschenlebens momenthaft zusammenhält und zu einem ganzen Erinnerungskosmos werden lässt. Die Bedeutung der Dinge ist in jenen Momenten, in denen die Bildhaftigkeit das Erleben und die Erinnerung dominieren, geradezu ausufernd, ihre Dauer scheint ewig und nicht, wie der Name, das einzelne Wort, ständig von der Auflösung ins Nichts bedroht. Das fällt beispielsweise dann auf, wenn Alice sich im Raymond-Kapitel an den Sommer am Gardasee und ihre Freundin erinnert: »[…] das war wirklich lange her. Die Erinnerung daran war sehnsüchtig und ziehend, liebevoll, ein Zustand, nichts würde sich an dieser Liebe jemals ändern. Annas Haare stumpf von der Sonne, die Augen glänzend schwarz, rauhe Hände wie ein Kind.« (Ebd. 170) Die unkontrollierbare, plötzlich hereinbrechende Bild-Erinnerung, die Alice im fünften Kapitel zum Grundmodus ihres Wahrnehmens und Erinnerns wird, scheint die Zeit nicht mehr linear verlaufen zu lassen. Die Welt schrumpft zusammen auf ein paar unendlich bedeutungsreiche und symbolträchtige Situationen, Begebenheiten, Gegenstände und Menschen, mit denen alles zusammenhängt, die allem Zusammenhang verleihen. Anna etwa steht für diese Dauerhaftigkeit, auch die Szene, in der Margaret Alice erzählt, dass die Vorhänge in Richards Sterbezimmer noch aus ihrem Mädchenzimmer stammen, weist bereits auf diesen Zusammenhang hin: »Eine Mädchenzeit. Was eigentlich, dachte Alice, ist dann der ganze Rest.« (Ebd. 116) Die einzigartige, aus Erlebnissen und Eindrücken, manchmal auch einer nichtigen Bemerkung erwachsene Bedeutung der Dinge erweist sich in Alice als kontingent in ihrem Zustandekommen, aber dauerhaft und kraftvoll in ihrer Wirkung. Die Bedeutung der Welt, das ist das Andere,

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das sind die Anderen, so könnte man das Prinzip dieses imaginativen Erinnerungs-Lexikons zusammenfassen, in dem die originäre »innere Sprache« der Anderen die Wahrnehmung der Welt strukturiert und festlegt. Diese Erinnerungssemantik wird im Text auch das ein oder andere Mal explizit, etwa wenn Alice im »Richard«-Kapitel mit dem hier noch lebenden Raymond einfach dasitzt und den Himmel betrachtet: […] weit entfernt zog ein spätes Flugzeug hoch in den Himmel, und sie dachte daran, wie Raymond in einer der ersten Nächte, die sie so zusammensaßen, gesagt hatte, das Geräusch eines Flugzeugs in der Nacht mache ihn traurig. Wieso, hatte Alice gesagt. Weil es so ist, als wäre es das letzte mögliche Flugzeug gewesen. Für mich, hatte Raymond gesagt, und Alice hatte etwas daran verstanden und etwas anderes nicht, und etwas hatte sie auch gekränkt. Wann immer sie ein Flugzeug sah in der Nacht, mußte sie daran denken. Ob sie wollte oder nicht, ihr fiel es jedesmal ein. Eine Art Preis. Und wofür? (Ebd. 116f.)

Alices Wahrnehmung der nächtlichen Flugzeuge, die durch Raymonds Blick auf die Welt ausgelöst und festgelegt wurde, kehrt auch im Text wieder (vgl. ebd. 183), so wie alle bedeutenden Motive und Szenen wiederkehren. Am Schluss des Textes, als Alice mit dem Rumänen auf der Dachterrasse sitzt und in beiderseitigem Einverständnis ganz bewusst »an den Dingen vorbeiredet«, hat sich die anfängliche Erinnerungslosigkeit des Textes in ihr Gegenteil verwandelt. Das Leben scheint aus kurzen Momenten der Präsenz, des intensivsten, unmittelbaren Erlebens zu bestehen und aus diesen bildhaften Augenblicken entsteht eine einzigartige, individuelle, aber dennoch mitteilbare Bedeutung, die selbst noch über den Tod hinaus Bestand hat – zumindest für die, die weiterleben. Die Poetik der Distanz, die Alice so sehr charakterisiert, verkehrt sich für Momente in ihr Gegenteil, dann wird selbst eine fremde Katze zu einem existenziellen Trost: »Alice sah die Katze an, das rotbraune Fell der Katze, die weiße Schwanzspitze zuckte ganz leicht. Malte, Friedrich, Pumi. Es war beruhigend, alles, was sie hatte, in Gedanken zueinanderzustellen. Zueinanderzustellen und zu sehen, was das ergeben würde. Und wie dann weiter.« (Ebd. 174) Es ist die Angst vor dem Nichts der Worte, der völligen Nichtung alles Seienden durch den Tod, der die Distanz zwischen Alice und den Dingen und Menschen reduziert. Insofern gibt ihre Entwicklung Heideggers Ansicht, dass der Tod erst die Eigentlichkeit des Seins enthülle, recht. Alice findet, je näher ihr der Tod rückt, immer mehr zu einem originären Weltzugang, der sich in der Bildhaftigkeit der Eindrücke und Erinnerungen, in einer ästhetischen Symbolik, die sich über die kollektive Bedeutung der Zeichen legt und dem, was sie bedeuten, seine Lebendigkeit wiedergibt. Nicht umsonst kommt die Zauberei immer wieder im Text vor, angefangen beim »Aba. Ka. Daba« von Majas und Michas Kind bis hin zu den indischen Köchen, die den Keller von

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Alices Wohnhaus mit Leben erfüllen und »Vierauge« unter sich haben, der »schließlich auch ein Zauberer« ist, wie Alice im vorletzten Satz des Textes bemerkt. Die Kontexte, in denen die Zauberei erwähnt wird, sind denkbar unterschiedlich, aber der wiederkehrende Begriff verweist auf die ureigene Sprache, in der sich Alice die Welt zunehmend erschließt, weil sie den Zauber der Dinge nicht in einen allgemeinen Begriff überführt, sondern bewahrt.67 Diese sinngebenden, bedeutsamen Erinnerungen sind das, was bleibt, und sie müssen, wenn sie nicht ohnehin von selbst auftauchen, immer wieder in die Gegenwart hereingebeten, angerufen werden, wie durch ein Gebet. Das Gebet, schließlich auch eine Form der menschlichen Beschwörung jenes Zauberers, der aus den Dingen ihren Sinn und höhere Bedeutung herausholt, ist in Alice sehr bescheiden und persönlich geworden, aber es ist immer noch da. In Form von Merksätzen68 beispielsweise, etwa jenem, den sich Conrads Frau Lotte neben die Tür gehängt hat: »[…] komme gleich wieder. Alice suchte etwas Ähnliches für sich und Raymond. Sie fand es nicht, war trotzdem sicher, daß es das gab. Sie würde es finden, eines Tages, per Zufall, bestimmt.« (Ebd. 184) Ein anderer »Merksatz«, den der Rumäne zusammen mit Anna in der Nacht aufgesagt hat, bevor Conrad gestorben ist, kehrt am Ende des Textes auf ihren eigenen Wunsch hin zu Alice zurück: »Jeden Sonntag erklärt mein Vater mir unsere neun Planeten. Sie sprachen es zusammen. Jupiter, Saturn, Erde, Mars, Venus, Merkur, Uranus, Neptun und Pluto. Der gilt nicht mehr, der Satz, sagte der Rumäne. Das weißt du hoffentlich. Pluto ist abgeschafft. Dafür gibt es jetzt zwei andere Planeten. Weiß ich, sagte Alice. Wir können uns ja einen neuen 67 | Rainer Maria Rilkes Gedicht Weltinnenraum beschreibt bereits, wenn auch mit einigen (schwerwiegenden) inhaltlichen Unterschieden, das Grundgefühl, zu dem Alice am Ende gelangt: »Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen/aus jeder Wendung weht es her: Gedenk!/Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen,/entschließt im Künftigen sich zum Geschenk./Wer rechnet unseren Ertrag?/Wer trennt uns von den alten, den vergangnen Jahren?/Was haben wir seit Anbeginn erfahren,/als dass sich eins im Anderen erkennt?/Als dass an uns Gleichgültiges erwarmt?/O Haus, o Wiesenhang, o Abendlicht,/auf einmal bringst du’s beinah zum Gesicht/und stehst an uns, umarmend und umarmt./Durch alle Wesen reicht der eine Raum:/Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still/durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,/ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum./Ich sorge mich, und in mir steht das Haus./Ich hüte mich, und in mir ist die Hut./ Geliebter, der ich wurde: an mir ruht/der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.« (Rilke 1998, 878f.) 68 | Raymond hat einen solchen Satz, das Bibelzitat »die Ersten werden die Letzten sein«, in Form einer Tätowierung in seine Haut eingebrannt. Diese »Zeichnung« Raymonds wird mehrfach im Text erwähnt, aber auch dieser Satz bleibt unausgelegt, der Leser erfährt nur, dass Alice ihn darum gebeten hat, ihr nicht zu sagen, wo dieser Satz herkommt und was er für ihn bedeutet.

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Satz ausdenken.« (Ebd. 188) Die väterlichen Merksätze sind schön und beruhigend, aber überholt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben sie ihre Gültigkeit verloren, aber es lassen sich ja zum Glück neue finden, »Zauberworte«, die es jenen, die zurückbleiben, ermöglichen, dem Tod ein wenig Sein zu entreißen.

5.3 E ine A rt F a zit. S terben lehren – P l ädoyer für eine unmögliche D idak tik des liter arischen Todes Der König: »Sie sind beide zur Stadt gegangen. Guck doch die Straße hinab und sag mir, ob du einen von beiden sehen kannst.« »Ich kann niemanden auf der Straße sehen«, sagte Alice. »Ich wünschte, ich hätte solche Augen«, sagte der König in einem schnippischen Ton. »Fähig zu sein Niemanden zu sehen! Und dazu noch in solcher Entfernung!« Lewis Carroll, Alice im Wunderland

Die Möglichkeit, »Niemanden« zu sehen, ist uns allen gegeben und doch sehen wir immer »Etwas«. Das »Nichts« übersteigt die menschliche Vorstellungskraft, zeichnet sich aber dennoch an der Grenze unserer Verstandeskräfte ab, dort, wo wir um das Ende unseres (Er-)Lebens, so wie wir es jetzt kennen, Bescheid wissen und dort, wo wir dem Vergehen anderer Leben beiwohnen. »Die Grenze«, sagt Heidegger, »ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt« (Heidegger 1954, 149). Wenn wir diesem Gedanken folgen, so ist das Nichts die eigentliche Bestimmung des menschlichen Seins. Man muss diesem Gedanken nicht in aller Konsequenz folgen wollen, um der Annahme Recht zu geben, dass die Auseinandersetzung mit dem Nicht-mehr-Sein eine wesentliche Aufgabe des Menschen ist. Eine wesentliche und große Aufgabe, deren Verleugnung oder Banalisierung einen hohen Preis fordert. Wie der IchErzähler aus Thomas Glavinics Die Arbeit der Nacht werden wir mit der Zumutung des Nicht-mehr-Seins der Anderen und damit auch mit der Antizipation unseres eigenen Todes immer (wenn auch nicht ganz so radikal) konfrontiert sein, egal, wie sehr wir uns dagegen auflehnen. Die Begegnung mit dem Tod der Anderen macht uns abgesehen davon auch bewusst, dass wir selber (noch) lebendig sind. In diesem Sinne ist die Erfahrung des Todes (der Anderen) auch eine Begegnung mit dem Leben selbst. Bildung sollte, ja sie muss daher, wenn sie Menschen bei der Bewältigung ihrer Daseinsaufgabe unterstützen und nicht bloß Arbeitskräfte heranziehen soll, auch diese äußerste Grenze berühren. Der privilegierte Zugang der Literatur zu Grenzphänomenen im Allgemeinen und dem des Todes im Besonderen ist hier mehrfach thematisiert worden. Vor allem Blanchot, der seinen Blick mit aller Konsequenz auf das Verhältnis zwischen Tod und Literatur gerichtet

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hat, hat den literarischen Text als eine Spur betrachtet, die uns den Weg zu dieser Grenze weist, die uns eine Annäherung an unser innerstes Wesen erlaubt und so die Entfremdung gegenüber unserem Leben und dem Tod reduzieren kann. Die enge Verbundenheit zwischen Literatur und Tod spiegelt sich in der didaktischen Literatur und auch den Schulbüchern der letzten zehn Jahre nicht wider. Die Schulbücher kommen allein durch die Präsenz des Themas in sämtlichen Primärtexten nicht ganz daran vorbei – schließlich handeln gerade die Klassiker der (deutschen) Literatur oft ganz explizit vom Tod –, doch in der Bearbeitung und Didaktisierung der Texte wird darauf wenig Bezug genommen. Der Tod wird in Unterrichtsvorschlägen zu politischen Texten, wie etwa Georg Büchners Dantons Tod, so vehement und ausschließlich als ein historisches Ereignis dargestellt, dass man auf die Idee kommen könnte, das Sterben wäre schon längst nicht mehr zeitgemäß. Während das angesichts des Primärtextes zumindest noch eine gewisse Logik haben mag, ist die in Schulbüchern oder didaktischen Zeitschriften vorgeschlagene Herangehensweise an Texte wie Paul Celans Todesfuge durchaus kritisch zu sehen. Der Tod wird vielfach als eine »Nebenerscheinung« des nationalsozialistischen Regimes dargestellt und scheint der Erfahrungswelt der Schülerinnen nicht anzugehören. Der Tod ist in vielen Gedichten, die auf die erzwungenen Tode des Nationalsozialismus Bezug nehmen, aber auch als ein Phänomen präsent, das Täter und Opfer in ihrem existenziellen Ausgeliefertsein (eben an den Tod) einander ähnlich macht. Von diesem Tod, dem Tod als allgemein-menschlichem Phänomen, findet man allerdings in aktuellen Schulbüchern keine Spur. Wenn aber literarische Texte, in denen das Thema »Tod« eine zentrale Rolle spielt, lediglich in ihrer politischen oder historischen Dimension dargestellt werden, dann steht das Töten, nicht der Tod im Vordergrund. Dessen überzeitliche Bedeutung verschwindet durch eine solche Herangehensweise und entsprechende Didaktisierung aus dem Blickfeld. Ein Vorbereitet-Sein auf den Tod ist schwer zu definieren, schon gar nicht ist es in die Parameter eines Bildungsziels zu bringen, die ja schließlich auf eine Aktivität und ein »Können« im Sinne einer erlangten Fähigkeit abzielen. Wenn Blanchot die Bezüglichkeit des Menschen zum Tod jedoch als eine Verantwortlichkeit beschreibt, die niemals berührt, niemals im Sinne eines »Habens« erlangt werden kann, dann wird zumindest deutlich, unter welchen Vorzeichen das Erlernen des Umgangs mit der eigenen Sterblichkeit stehen müsste. Die Idee der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den Bedingungen des eigenen Lebens und dessen inhärenter Grenzwertigkeit gewinnt auch dann an Kontur, wenn man sie mit Derridas Definition des Sterbens als eines »auf die Grenzen der Wahrheit Gefasst-Seins« in Zusammenhang bringt. Die Reflexion des eigenen endlichen und noch dazu in höchstem Maße kontingenten Standpunktes, der bis an seine eigene (Lebens-)Grenze, aber keineswegs

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darüber hinausreicht, beinhaltet eine Forderung an jede Form der Wissensvermittlung. Die Grenzlage, als die das Leben sich darstellt, wenn man den Tod mitbedenkt, wird bei Derrida, wie ich bereits ausgeführt habe, als Grundverfassung des menschlichen Seins überhaupt betrachtet. Die Vorläufigkeit und Fragilität alles Lebendigen in Anbetracht des (diesem bereits eingeschriebenen) Todes verlangt nach einer Gefasstheit auf ein Geschehnis, das immer erst Ankommendes ist und sich durch diese Unerwartbarkeit auszeichnet (vgl. Derrida 1998, 60). Diese Eigenschaft des Lebens, eine Grenzerfahrung zu sein, wird durch das Verhältnis zum Tod grundgelegt. Sie findet letztlich in allen anderen Grenzerfahrungen Ausdruck und beansprucht eine Bereitschaft/ Fähigkeit der passiven Offenheit dem Fremden gegenüber. Erfahrungen kultureller Unterschiede, wie sie ja im Deutschunterricht sowohl in Bezug auf die Literatur als auch durch die biographischen Erfahrungen der Schülerinnen immer eine Rolle spielen, verlangen eine besondere Haltung, die ich in dieser Arbeit als Responsivität bezeichnet habe. Eine Grenzerfahrung par excellence, nämlich jene der Begegnung mit der literarischen Sprache, die unseren Wahrnehmungsgewohnheiten zuwider läuft und damit Geschichten von einer anderen, möglichen Welt entwirft, ist ohnehin Bestandteil jedes Deutschunterrichts. Allein durch die Lektüre literarischer Texte kommt also der Tod ins Klassenzimmer, ob er nun bewusste Aufmerksamkeit erfährt oder nicht. Das Bewusstsein dafür, dass die Sprache dort anfängt, wo das lebendige, inkommensurable Wesen aufhört, also stirbt, muss aber in den Schülerinnen sicherlich erst geweckt werden. Dann erst kann auch die literarische Sprache als eine versöhnliche Geste dieser Auslöschung der Einzigartigkeiten der Dinge durch die Benennung erfahren werden. Wo eine solche Wahrnehmung des Kunstwerks ihren Ausgangspunkt nimmt, da ist der Tod auf eine sehr grundlegende Art präsent. Von dort aus kann eine existenzielle Auseinandersetzung mit dem Tod erfolgen, die eine Todesbegegnung auf einer Metaebene möglich werden lässt. Damit werden den Schülern nun aber noch keine literarischen Perspektiven auf den Tod eröffnet. Solche sind nur dann offensichtlich, wenn die Heranführung an eine Ästhetik des Todes gelingt, die Unterschiede/Gemeinsamkeiten und Entwicklungslinien wahrnehmbar werden lässt, die dem Tod einen bildhaft-sprachlichen Ausdruck verleihen. In der Begegnung mit den (sprachlich vermittelten) Bildern dessen, was über die Grenze des Sagbaren hinausreicht, liegt nicht nur die Möglichkeit der Vorbereitung eines eigenen, eines »guten« Todes, sondern auch jene Möglichkeit, gerade im Wissen um dessen Abgründigkeit, Vertrauen in das Leben zu finden. Ein Vertrauen, das eine Alternative zur beständigen Verdrängung der Todesgewissheit, wie sie Freud angenommen hat, bietet und die Literatur in einer ihrer wichtigsten Funktionen zeigt, nämlich als eine Bildbrückenbauerin zwischen den Abgründen, über denen die (Lebens-)Fäden eines jeden Menschen aufgespannt sind. Im nun folgenden Kapitel möchte ich versuchen, die Vorbedingungen

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und Phasen eines responsiven Literaturunterrichts zu skizzieren. Dieser gesteht dem Tod als einer elementaren Grenzerfahrung besonderen Stellenwert zu, die in der Literatur ihren prototypischen Ausdruck findet. Ästhetische Wahrnehmung und das Antworten auf die Ansprüche des Fremden werden in diesem Rahmen als ein – bis zu einem gewissen Grad – lehr- und lernbares Erlebnis begriffen.

5.3.1 Literatur ist Sterben lernen? Über den Zusammenhang von Tod, Literatur und die Verantwortung des Literaturunterrichts Mit seinem Essay über den Tod, dessen Überschrift »Philosophieren heißt sterben lernen« lautet, hat es Michel de Montaigne geschafft, bis heute in nahezu jedem geisteswissenschaftlichen Text über den Tod Erwähnung zu finden. Was diese Behauptung genau bedeutet, aus welchen Prämissen er sie ableitet und wo sie ihn letztlich hinführt – nicht zuletzt nämlich in Widersprüche –, das wird jedoch seltener gefragt. Wesentlich an Montaignes Ausführungen ist für den hier zur Debatte stehenden Zusammenhang zwischen Literatur/ Lernen und dem Themenkomplex Sterben/Tod zunächst einmal die Tatsache, dass »Philosophieren«, so wie Montaigne den Begriff benutzt, jede Form reflektierenden Umgangs mit der Welt meint und nicht nur eine im engeren Sinn philosophische Praxis. In diesem Sinne wäre also jede Rede über das Sein der Dinge und die Existenz der Menschen eine philosophische Rede und damit auch Teil des »Sterben-Lernens«. Der Deutschunterricht wäre, dieser Argumentationslinie folgend, ein Fach, das mit dem sprachlichen Zugang zur Welt auch das Sterben lehrt. Was das allerdings bedeutet, »Sterben lernen«, und ob ein solcher Prozess überhaupt erstrebenswert ist, da gibt sich Montaigne erst einmal unsicher. Das Ziel unseres Lebens, so meint er zu Beginn seines Essays, sei »das Vergnügtsein« (Montaigne 2011, 126). Das Glücksgefühl, das aus dem Vergnügen des Nachdenkens resultiere, sei so umfassend und nachhaltig, dass man es getrost als »Lust« bezeichnen könne – was Montaigne mit einem Seitenhieb auf die Philosophen, denen dieser Begriff so sehr widerstrebt, auch tut. Der größte Vorteil dieses genussvollen philosophischen Zugangs zur Welt sei nun aber »die Verachtung des Todes« (ebd. 128), so Montaigne weiter, denn niemand kann sich seines Lebens erfreuen, solange der Tod als sicher bevorstehendes Übel in seinen Gedanken Unwesen treibt. Montaigne geht, genauso wie ein Großteil der Philosophen nach ihm, davon aus, dass ein Großteil der Menschen sich nur durch mehr oder minder erfolgreiche Verdrängungsstrategien durchs Leben »schummelt«: »Der Notbehelf des gemeinen Volkes besteht darin, nicht an ihn zu denken.« (Ebd.) Die Verdrängung wird auch bei Freud zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch als allgemein-menschliche Strategie gegen die Bedrohlichkeit des Todes betrachtet, doch schon Montaigne

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betrachtet sie als wenig erstrebenswert. Die Angst, die aus eben jener Verdrängung des immer und überall Gegenwärtigen resultiere, mache jene, die sich ihrer bedienen, zu unfreien und in gewissem Sinne auch verantwortungslosen Menschen (vgl. ebd. 130). Der Tod sei aber abgesehen davon niemals »fern«, selbst wenn wir das noch sehr wünschen, er kann uns jederzeit überraschen, was Montaigne mit zahlreichen Anekdoten über unerwartbare Tode berühmter Leute belegt. Seine Schlussfolgerung aus der Omnipräsenz des Todes lautet: »Man muss sich […] beizeiten auf den Tod gefaßt machen. Jene tierische Sorglosigkeit kommt dem Menschen allzu teuer zu stehen.« (Ebd. 133) Montaignes Anleitung, wie ein zur allgemeinen Verdrängung alternativer Umgang mit dem Tod aussehen könnte, ist beinahe ebenso berühmt geworden wie der Titel seines Essays über den Tod. Es sei gerade nicht die Distanz, sondern die Nähe zum Tod, die einen besseren Umgang mit ihm ermögliche: »Berauben wir ihn seiner Unheimlichkeit, pflegen wir Umgang mit ihm, gewöhnen wir uns an ihn, bedenken wir nichts so oft wie ihn! Stellen wir ihn in jedem Augenblick und in jeder Gestalt vor unser inneres Auge. […] Es ist ungewiß, wo der Tod uns erwartet – erwarten wir ihn überall! Das Vorbedenken des Todes ist Vorbedenken der Freiheit!« (Ebd. 134) Der Freiheitsbegriff, den Montaigne nun entwirft, mutet auf den ersten Blick seltsam an, denn er zeichnet sich vor allem dadurch aus, allzeit mit der Ankunft des Todes zu rechnen. Diese ständige Erwartungshaltung wird bei Montaigne mit der Möglichkeit gleichgesetzt, jederzeit für einen Abschied ohne Reue und Bitterkeit über das, was man auf der Welt zurücklässt, bereit zu sein. Was seine eigene Person betrifft, so behauptet Montaigne, kurz vor der Realisierung einer solch idealen Haltung zu stehen: »Noch nie hat ein Mensch sich resoluter und rückhaltloser auf das Verlassen der Welt vorbereitet und ihr vollkommener entsagt, als ich es zu tun gedenke.« (Ebd. 137) Wenn aber die Vorstellung eines jenseitigen Paradieses nicht die Kompensation für eine solche freiwillige Entsagung darstellt, dann ist es fraglich, was den Menschen dazu bringen könnte, sich seine Befreiung von der Todesangst derart viel kosten zu lassen. Montaigne führt auf den folgenden Seiten zahlreiche Argumente an, in denen er sowohl die bisherige Philosophiegeschichte zitiert, als auch Gedanken vorwegnimmt, die erst lange nach seiner Zeit entstanden sind: Der Tod als nicht mit dem Leben zu vergleichendes Phänomen, das den Toten selbst gar nicht mehr betreffen kann; der Tod als natürlicher und sinnvoller Teil des Weltengangs; der Tod als Grenze, die dem Leben erst Sinn und Bedeutung verleiht; der Tod als etwas radikal Fremdes, dem man unvoreingenommen gegenübertreten soll, weil man ohnehin nichts darüber wissen kann (vgl. ebd. 142ff.). Letztlich sei der Tod, so Montaigne, eine von den unwissenden Lebenden viel zu theatralisch inszenierte Angelegenheit, die erst durch diese Überzeichnung so angsteinflößend wirke. Der authentische und von sämtlichem Brimborium befreite Tod sei schließlich erstrebenswert:

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»Gepriesen und dreimal gepriesen sei ein Tod, der zur Vorbereitung von derart aufwendigem Drum und Dran keine Zeit läßt!« (Ebd. 147) Das sind die letzten Zeilen aus Montaignes Essay und sie lassen uns mit der Frage zurück, ob Philosophieren, das wir an dieser Stelle mit Nachdenken über die Welt und alle möglichen Welten übersetzen wollen, nun tatsächlich eine Vorbereitung auf das Sterben und den Tod sein könne. Der Essay nimmt einige Wendungen, wobei diese anspielungsreichen Wege seines Denkens gut untersucht sind und hier nicht noch einmal im Detail nachvollzogen werden sollen.69 Der Gedanke, der schon kurz nach dem Anfang auftaucht und dann durchwegs erhalten bleibt, ist der, dass das Nachdenken über den Tod eine grundsätzliche Aufgabe des Menschen ist, die ihm weder von einem Anderen abgenommen werden kann, noch durch ritualisierte Sterbe- und Totenkulte zu ersetzen wäre. Ein »Erlernen« des Todes ist nach Montaigne nur insofern möglich, als man durch intensive Auseinandersetzung mit diesem Thema eine eigene Haltung dem Tod gegenüber entwickeln kann, die sich am Ende des Lebens in einem authentischen Sterben äußert, das dieses akzeptiert und sich nicht dagegen auflehnt. Aus dieser Perspektive betrachtet kann das Sterben in gewisser Weise vorbereitet und von einem angsteinflößenden zu einem folgerichtigen Prozess umgedeutet werden. Montaigne zufolge lehrt uns also das Nachdenken über das Sterben sowohl die Wertschätzung jedes einzelnen Tages als auch die Nichtigkeit unserer individuellen Existenz, die sich letztlich dem Kreislauf alles Lebendigen wird fügen müssen. Das sind wesentliche Erkenntnisse über das Leben, die auch heute noch unzweifelhaft Wert für die Schüler haben. Betrachten wir die Sache aber noch aus einer anderen Perspektive: Montaignes Überlegungen zum Tod in »Philosophieren heißt sterben lernen« werden nämlich heute vor allem deshalb als sehr bedeutend angesehen, weil sie zu einer Reihe von Versuchen gehört, den Tod zu »modernisieren«, das heißt, ihn zu einem intersubjektiv verhandelbaren Thema zu machen. Das bedeutet nun in erster Linie, dass Montaigne den Themenkomplex Sterben/Tod auf ein menschliches Maß bringt und von Absolutheitsansprüchen befreit. Damit ist aber keineswegs Mittelmäßigkeit oder Anbiederung an das gängige Denken seiner Zeit gemeint, ganz im Gegenteil – Montaigne verwehrt sich gegen jede Form von (wissenschaftlichem) Dogmatismus, ebenso wie gegen die alltägliche Unwissenheit und Ignoranz. Diesen beiden ausgetretenen Pfaden setzt er ein Denken entgegen, das die menschlichen Eigenschaften ohne jede Beschönigung, aber auch ohne Vorurteil in den Blick nimmt und von diesen Gesetzmäßigkeiten und Möglichkeiten für ein erfüllteres, oder, wie Rilke sagt, »besseres« Leben, abzuleiten versucht. Montaignes gesamte Argumentationslinie bleibt nah am »Menschenmöglichen«, sie verlangt weder eine bereits im 69 | Siehe dazu etwa Keel 2008 und Polmans 2009.

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Leben vorbereitete Loslösung des Körpers von der Seele, wie das bei Platon der Fall ist, noch eine völlige Ignoranz des Todes, wie sie etwa Epikur einforderte. Bernhard Taureck fasst die Todesvorstellung Montaignes folgendermaßen zusammen: »Sterbenlernen heißt, sich der Vorstellung des Lebensverlöschens auf dem Weg der Gewöhnung anzunähern, und heißt gleichzeitig zu erkennen, dass es unseren Wünschen widerspräche, ein nicht-sterbliches Leben zu besitzen.« (Taureck 2004, 136) Montaigne verabschiedet sich also in seiner Todesbetrachtung von den Vollkommenheitsidealen und -ansprüchen seiner Vorgänger und reduziert das Thema des Todes auf ein menschlich fassbares Maß, ohne ihm seine Fremdheit zu nehmen. So wird, wie Taureck zeigt, der Weg bereitet, um mittels sprachlicher Bilder einen für den Menschen denkbaren Bezug zum Tod zu entwickeln. Andererseits stellt Montaigne die Metapher der Maske in den Vordergrund, um die Angst vor dem Tod in ihrer (möglichen) Unbegründetheit zu zeigen (vgl. ebd. 147). Montaignes Metaphorik des Todes endet nicht an dieser Stelle, und sie nimmt in anderen Essays, in denen er sich mehr oder weniger intensiv mit dem Tod beschäftigt, auch noch zahlreiche unterschiedliche und einander widersprechende Formen an. Ohne an dieser Stelle genauer auf diese Wendungen eingehen zu wollen, lässt sich festhalten, dass aus all dem eine prinzipielle Unzugänglichkeit des Todes abzuleiten ist, der Montaigne jedoch durch die Erzeugung sprachlicher Bilder entgegenarbeitet. Diese sprachlichen »Todes-Bilder« hat es immer schon gegeben, neu ist jedoch, dass sie nun auf ein menschliches Maß hin entworfen werden. Montaigne begründet damit eine Tradition, die sich in der Literatur bis in die Gegenwart fortgesetzt hat. Die übergroße Produktion literarischer Todesbilder, die zu bestimmten Zeiten, so etwa in der Moderne, ins Extrem gesteigert wurde, lässt sich als ein Kompensationsversuch und gleichzeitig als Index der vielbeklagten neuzeitlichen Todesamnesie betrachten. Die große Leserschaft, die diese Todesbilder zu allen Zeiten gefunden haben, sind ein Beweis dafür, dass die Auseinandersetzung, vor allem die annähernde Auseinandersetzung mit der (eigenen) Sterblichkeit, einem tiefen Bedürfnis entspricht. Selbst wenn Gott und Teufel tot sind, der Tod bleibt ein Mysterium und er verlangt gerade in religionsfernen Zeiten nach einer bildhaften Bearbeitung, die den Menschen als Maß, nicht jedoch als Grenze akzeptiert. Die Literatur ist in diesem Zusammenhang unter allen Künsten von besonderer Bedeutung, weil sie es übernimmt, den Tod (und seine Auswirkungen auf die Überlebenden) bild-sprachlich zugänglich zu machen. Philippe Ariès betrauert in seiner umfangreichen Abhandlung über die Todeskulte der Vergangenheit und Gegenwart die Todesvergessenheit der Moderne, und damit steht er längst nicht alleine da. Ob dies ein realistisches Bild der Vergangenheit ist oder eine bloße Idealisierung derselben, sei dahingestellt; dennoch ist auch diese Form des Erzählens von einer (fiktiven) Vergangenheit, in der der Tod noch einen Namen, ein Ritual, einen festen Platz im Leben jedes

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und jeder Einzelnen gehabt hätte, ein Ausweg aus der Misere des entfremdeten Todes. Selbst diese dogmatische und rückwärtsgewandte Form der Todesbetrachtung hilft zumindest dabei, Bilder entstehen zu lassen, die den Tod denk- und verhandelbar machen. Fraglich ist nur, ob sich nicht eine zeitgemäßere Form dieser Trauer über den »Tod des Todes« in der (medial inszenierten) Öffentlichkeit finden ließe. Die bereits erwähnten Bilderbücher, die es mittlerweile ja zuhauf gibt, versuchen auf ganz unterschiedliche Weise und mit unterschiedlich hohem ästhetischen Anspruch der Todesamnesie entgegenzuarbeiten. Tatsächlich bringen auch viele von ihnen eine Metaphorik des Todes hervor, die den Horizont der Lebenden als ihre Grenze akzeptiert und dem Unsagbaren dennoch eine Sprache zu geben vermag. Die ist im literarischen Idealfall eine Sprache, die die radikale Fremdheit des Todes akzeptiert, dieser nicht mit Verniedlichungen und Verharmlosungen entgegenarbeitet und so der Gefahr entgeht, sich selbst zu einem bloßen Ablenkungsmanöver zu degradieren.70 Der Wunsch danach, das Ende des Lebens in irgendeiner Weise erzähl- und damit besprechbar zu machen, rührt dabei an die Bedeutung von Literatur überhaupt. Durch ihre Fähigkeit, die Worte nicht in einer leeren, dafür aber fixierten Bedeutung erstarren zu lassen, sondern sie in Fluss zu versetzen und damit an die Kontingenz und Einzigartigkeit der Dinge und Menschen zurückzubinden, wird sie zum Hort des Lebendigen (vgl. Blanchot, Barthes). Sie gibt den Menschen und Dingen, die in der Sprache und durch die Sprache auf ein Allgemeines reduziert werden, ihre Würde zurück und bringt jene Lust der Sprache und des »Verstehens« in das karge Leben der festgeschriebenen Begriffe, von der Montaigne spricht. Dieser in ihrem Innersten verankerte Bezug der Literatur zum Einzigartigen macht sie auch zum Medium der »Anfänglichkeit« im Sinne Hannah Arendts. Als solches ermöglicht die Literatur auch einen, den einzig menschen-möglichen Bezug zur Endlichkeit. Diese existenzielle Funktion der Literatur, die Eröffnung eines Zugangs zu den ersten und letzten Dingen und der Lebendigkeit, die diesen innewohnt, sind wir unseren Schülerinnen schuldig. Um nichts Geringeres geht es im Literaturunterricht und damit geht es auch darum, zu lernen, über die eigene Vergänglichkeit zu reden. Nicht zuletzt deshalb, weil ein Reden über das Leben ohne den Tod immer nur oberflächlich und unwahr, eine Flucht vor dem Eigentlichen sein kann. Das nächste Kapitel ist daher auch der spezifisch literarischen Bildsprachlichkeit als Tor zur eigenen Anfänglichkeit und Endlichkeit gewidmet.

70 | Ein gelungener ästhetischer Zugang zu diesem Thema im Bereich der Kinderliteratur gelingt etwa Schubiger, Berner 2011 und Erlbruch 2007.

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5.3.2 Den Tod lesen lehren oder das tröstliche Paradoxon einer literarisch vermittelten Kontinuität des Endlichen Das Leben ist nicht ein Gut, sondern es kann, teils durch glückliche Umstände, teils immer auch durch uns, Sinn gewinnen; kann, muß aber nicht. Ernst Tugendhat, Über den Tod

Die Rede vom Sterben als Lernen ist nur dann sinnvoll, wenn man sie metaphorisch begreift. Wörtlich genommen ist sie absurd, eine unter den Bedingungen, die wir Sterblichen kennen, nicht zu erfüllende Anforderung und das aus vielerlei Gründen. Gerade wenn wir den Tod, wie ich es bisher stets getan habe, als ein radikal Fremdes annehmen, ist die Vorstellung eines »Erlernens« eigentlich abwegig. Wie sollte man schließlich etwas erlernen, das sich jeglicher Ordnung entzieht, etwas, das »unseren Intentionen zuvorkommen, sie durchkreuzen, von ihnen abweichen, sie übersteigen« (Waldenfels 1997, 51) und damit den Rahmen des Vermittelbaren sprengen muss. Bernhard F. Taureck versucht gleich zu Beginn seiner im Jahr 2004 erschienenen Abhandlung Philosophieren: Sterben lernen? zu widerlegen, dass es in irgendeiner Weise Sinn machen könnte, den Satz vom Sterben als »Lerngegenstand« wörtlich zu nehmen. Er tut dies, indem er nachweist, dass Sterben und Tod in keinen logischen Zusammenhang mit unserer Definition des Begriffs Lernen zu bringen sind: »Denn zu jedem Lernvorgang gehören zumindest zwei Bedingungen: Erstens muss der Lernende eine Erfahrung eines gegenwärtigen Gegenstandes oder Vorganges machen. Wir nennen diese Bedingung: Lernen a. Zweitens muss der Lernende danach diese Erfahrung auswerten und sich aneignen. Wir nennen diese Bedingung: Lernen b.« (Taureck 2004, 29) Beide Bedingungen seien in Zusammenhang mit dem Themenkomplex Sterben/Tod nicht erfüllt beziehungsweise unerfüllbar. Dieser Argumentation lässt sich allerdings einiges entgegensetzen und zwar gerade dann, wenn man die »Forderungen«, die das Fremde – in gesteigerter Form das radikal Fremde – an den von ihm Getroffenen stellt, ernst nimmt. Vorausahnen oder erlernen, im Sinne von »aneignen«, kann man sich das Fremde nicht, aber dieses kann durchaus auf unterschiedliche Haltungen treffen. Im negativen Fall prallt es an aggressiver Abwehr oder Ignoranz ab. Solange das Fremde dabei als ein Teil des Lebens auftritt, wirkt sich eine solche Fremdbegegnung auf das menschliche Zusammenleben aus und verbannt die Macht der Begegnung zwischen dem Eigenen und dem Fremden in einen unbewussten, von Ängsten und Zwang beherrschten Teil des eigenen Innen- oder Miteinanderlebens. Der Tod überschreitet diese Grenze zwischen Eigenem und Fremdem früher oder später und nimmt somit unter den Fremd-Begegnungen, von denen unser aller Leben täglich geprägt ist, eine Sonderstellung ein. In diesem Fall kann der vom Fremden am stärks-

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ten »Getroffene«, der Tote, nicht mehr auf die Ordnungsmechanismen des Lebens zurückgreifen, er fällt aus allen Kategorisierungen heraus. Dies war der Grund dafür, dass beispielsweise die Epikuräer entschieden, der Tod ginge den Menschen schlichtweg nichts an. Da aber der Tod als Wissen um unsere eigene Existenz und deren Bedingungen stets anwesend ist, hat er – wenn auch nur als Phantasma – enorme Auswirkungen auf das Leben. Dieses kann sich, wie im Verhalten zu weniger radikalen Formen des Fremden auch, in Ignoranz flüchten – was allerdings niemals vollständig gelingen wird – oder aber in eine Abwehrhaltung. Dazwischen haben sich, wenn man der bisherigen Philosophiegeschichte folgt, wenige Möglichkeiten aufgetan. Die von Bernhard Waldenfels vorgeschlagene »antwortende« Haltung dem Fremden gegenüber stellt jedoch eine Alternative zum völligen Ausschluss des Todes aus dem Leben und zur, von vorne herein vergeblichen, Abwehr der (eigenen) Endlichkeit dar. Ein solches Antworten bedeutet eine Passivierung des eigenen Tuns und Wollens allem gegenüber, was die Grenzen des Individuums überschreitet, diesem also als ein, wie auch immer geartetes Fremdes gegenübertritt. Es bedeutet aber auch eine (aktive) Vorbereitung auf ein Ereignis, das sich weder vorausahnen noch eindeutig bestimmen oder einer Absicht unterordnen lässt. Auf eine solche Form des empfangenden Umgangs mit dem Fremden kann man sich vorbereiten, sie lässt sich auch bis zu einem gewissen Grad erlernen, wenn auch nicht auf ein klar umrissenes »Lernziel« hin festschreiben. Waldenfels schreibt: »Berücksichtigen wir die Möglichkeit, daß im Antworten nicht bloß ein bereits existierender Sinn wiedergegeben, weitergegeben oder vervollständigt wird, sondern daß im Gegenteil Sinn im Antworten selbst entsteht, so stoßen wir auf das Paradoxon einer kreativen Antwort, in der wir geben, was wir nicht haben.« (Waldenfels 1997, 53) Ob wir in der Lage sein werden, auf den Tod zu antworten, das werden wir im Leben nicht herausfinden. Dennoch ist ein »Erlernen« des Sterbens im Sinne einer Vorbereitung auf diese äußerste Fremdheitserfahrung gemäß dieser Definition durchaus vorstellbar. Eine Einübung in ein solches Antworten ergibt sich in jeder Fremdheitserfahrung, die wir im Leben machen. Eine besondere, die Tiefe unseres Seins berührende Fremdheitserfahrung ist die Begegnung mit der Literatur. Werfen wir noch einmal einen Blick zurück auf Taureck und seine Skepsis gegenüber der Möglichkeit des Sterben-Lernens. So gewichtig die Argumente sind, die er gegen einen lehrenden/lernenden Umgang mit dem Tod ins Treffen führt, auch für ihn gilt die Möglichkeit einer annähernden Auseinandersetzung mit dem Tod als unhintergehbare Bedingung für ein gutes Leben. Seine Überlegungen finden unter dem Vorzeichen der Unantastbarkeit des Todes im Sinne einer absoluten Unzugänglichkeit für die Lebenden statt, die jedoch zu Gunsten eines intersubjektiven Erzählens vom Tod zumindest fiktiv, das heißt durch einen fiktiven Zugang zum Thema, aufgehoben werden kann. Taureck versucht auf Basis dieser Überlegungen einen Zusammenhang

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zwischen einer metaphorischen Bedeutung des »Sterbenlernens«, wie es in literarischen Texten zum Ausdruck kommt, und einer nicht-metaphorischen, also auf pragmatische Art in unserem Leben wirksamen Form des »Sterbenlernens« zu konstruieren. Durch einen solchen könne man, so hofft er, eine »Modernisierung unseres Todesbezuges« (Taureck 2004, 31) erwirken, der weder bei Epikurs Beschneidung des sprachlichen Zugangs zur Endlichkeit stehen bleibt noch eine Ausrichtung des Lebens auf den Tod hin postuliert, wie das bei Montaigne und vielen Philosophinnen des 20. Jahrhunderts der Fall ist. Beide Ansichten, sowohl der völlige Ausschluss des Todes aus dem Leben als auch die Bestimmung desselben von seinem Ende her, verlangen vom Menschen letztlich Unmögliches. Das tut allerdings auch der Tod, indem er dort ein Ende setzt, wo es dem Denken unmöglich ist, eines zu setzen, nämlich bei sich selbst. Wie Taureck feststellt, liegt die einzige Möglichkeit des Menschen, sich dieser Ungeheuerlichkeit gedanklich anzunähern darin, Kontinuität zu konstruieren, wo es diese nicht mehr gibt. Als Lebende betrachten wir den Tod aus einer zeitlichen Perspektive, die ein Davor, ein Eintreten und ein Danach zulässt. Dennoch wissen wir alle, dass für den Sterbenden/Gestorbenen selbst eine solche Kontinuität mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gegeben ist. Die religiösen Vorstellungen eines jenseitigen Reichs haben dem menschlichen Wunsch nach einer imaginären Kontinuierung entsprochen, indem sie ihm mit der Jenseitsvorstellung die Möglichkeit gegeben haben, dort Kontinuität zu konstruieren, wo eigentlich »Nichts« ist. Für diese Vorstellung – die den Gläubigen allerdings nicht als fiktives Konstrukt, sondern als Wahrheit gegolten hat – hat der Mensch viel in Kauf genommen. Die Vorstellung von Fegefeuer und Jüngstem Gericht ist offensichtlich leichter zu ertragen als die eines Nichts. Letzteres ist eben gar nicht vorstellbar und eine derart absolute Abgründigkeit nimmt dem Menschen alles, woran sich seine Vorstellungen von Sicherheit, Geborgenheit und Glück festmachen lassen. In dieser namenlosen Form erhält der Tod seinen größten Schrecken. Ohne die Vorstellung einer – wie auch immer gearteten – Kontinuität tritt er als ein monolithisches Fremdes auf, von dem man sich kein Bildnis machen kann. Mit diesem namen- und gesichtslosen »Nichts« ist nicht gut leben. Wie vor allem Jankélévitch immer wieder betont hat, ist der Mensch einem solchen »Bevorstand« (dieser Begriff wurde von Heidegger geprägt) nicht gewachsen. Er muss irgendeine Vorstellung, zumindest aber die Illusion von Kontinuität haben dürfen, um nicht von der Sinnlosigkeit seines Seins überwältigt zu werden und damit jegliche Freude am Leben zu verlieren (vgl. Jankélévitch 2003, 40). Taureck zieht aus dieser menschlichen Unfähigkeit, das unvorstellbare Nichts zu ertragen, einen Schluss, der die Literatur in den Rang einer »Lebensretterin« erhebt. Dieses »Nichts« wäre nämlich, so Taureck, noch niemals und von Niemandem

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ertragen worden,71 selbst von jenen nicht, die sich scheinbar ganz der Unzugänglichkeit des Todes ergeben haben. Die Texte von Epikur und Montaigne sind jedoch voll von Todes-Metaphern. Das »Nichts« bleibe also, so Taureck, auch hier nicht bestehen, »›Nichts‹ im Sinn von ›im Hinblick auf etwas besteht keine Information‹ ist ein Anlass, Bilder einzuführen, die die Abwesenheit von Information mildern« (Taureck 2004, 168). Die Bilder, die die Literatur in einem thanatologischen Kontext entstehen lässt, sind also ein Trost an sich, in Judith Hermanns Alice etwa werden sie auch ganz klar in dieser Funktion ersichtlich. Aus dieser Perspektive betrachtet scheint Alice die literarische Illustration von Taurecks These über die Notwendigkeit einer sprachlichen Ikonographie des Todes zu sein, die sämtliche Ideologien, Religion und Esoterik ersetzt und eine (inter-)subjektive Annäherung an den Tod denkbar werden lässt. Die fragilen und von kontingenten Eindrücken geprägten Bilder, die das Erleben der Protagonistin in Alice mit der Einzigartigkeit der Dinge und Menschen verbinden und letztlich zur Auflösung des Raum-Zeit-Kontinuums in dieser Bildhaftigkeit führen, zeigen exemplarisch, wozu die Literatur an dieser Stelle, an der das Wort gebricht, im Stande ist. Sie schafft mit Hilfe der Bilder, die sie produziert, das Paradoxon einer »Kontinuierung im Diskontinuierlichen« (ebd. 173). Diese zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie – wie Literatur ganz generell – eine angekündigte Schimäre ist, dass sie also nicht zu wissen vorgibt, was sie niemals wissen kann, sondern die Annäherung an den Tod als fiktiv, also eigentlich »unwahr« ausweist und gerade darin ganz wahrhaftig ist. Diese sich selbst entlarvende Versprachlichung des Sprachlosen scheint mir auch Taureck im Sinn zu haben, wenn er schreibt: »Die Bilder bringen uns im thanatologischen Kontext das Nichts nicht näher, sie verschaffen uns keine Informationen über es, sondern sie verschaffen uns Möglichkeiten des Anschlusses, die wir nicht besäßen, wenn wir die Informationsabwesenheit nicht zum Anlass ihrer Benutzung wählten.« (Ebd. 173) Taureck wählt zur Illustration dieser These ein besonders berühmtes literarisches Beispiel, den Monolog Hamlets, in dem dieser die bis heute (übrigens gerade in der Kinder- und Jugendliteratur sehr beliebte) Metapher vom Tod als (traumreichem) Schlaf benutzt. Die Herstellung einer Kontinuität zwischen Leben und Tod liegt hier auf der Hand: Der Schlaf, ein uns bekanntes und durchaus zum Leben gehörendes, wenn auch in besonderem Maße unverfügbares Phänomen, wird mit der radikalen Fremdheit des Todes in Zusammenhang gebracht. So entsteht eine »Kontinuierung im Diskontinuierlichen«, die dem Tod dennoch nichts von seiner Fremdheit nimmt. Das ist deshalb so, weil die Art dieses Zusammenhangs 71 | Im Buddhismus gelten die »Arahats« – erleuchtete Menschen gemäß buddhistischer Auffassung – als fähig, das »Nichts« zu ertragen. Taureck bezieht sich in dieser Abhandlung nur auf die westlich geprägte Philosophiegeschichte und klammert somit Perspektiven der östlichen Philosophie aus.

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zwischen Schlaf und Tod in ihrer spezifisch literarischen Form »weniger als Folgerung […] und mehr als Assoziation […]« (ebd. 173) vorhanden ist. Selbstverständlich ist diese (implizite) Anerkennung der Differenz zwischen Bild und tatsächlichem Phänomen nicht neutral, in den meisten literarischen Texten erfahren sie durchaus eine Bewertung. So auch im Hamlet-Monolog, wo durch den Vergleich zwischen Schlaf und Tod letzterem eine friedliche Komponente zugeordnet beziehungsweise unterstellt wird. Dennoch vereinnahmen diese Bilder den Tod nicht, sie versuchen auch nicht, ihn aus einer Analogie mit lebensnahen Phänomenen heraus zu erklären. Ihre Wirkung spielt sich an unterschiedlichen Stellen zwischen Folgerung und Assoziation ab, die Taureck als ihr – einzig beschreibbares – Charakeristikum angeführt hat. Diese Bilder speisen sich aus der Fremdheit des Todes und sind doch nicht diese selbst, das gestehen sie alleine schon durch ihre Zugehörigkeit zum Reich der Fiktion ein. Thanatologische Metaphern sind so betrachtet Zugeständnisse an ein Fremdes, auf das sie eine Antwort suchen – eine »kreative Antwort, in der […] [sie] geben, was sie nicht haben« (Waldenfels 1997, 53). Gerade wenn sie auf die Ansprüche eines radikal Fremden zu antworten versuchen, erfordern sie von Produzentinnen- wie Rezipientinnenseite aus eine Einübung in die »Passivität«, die nötig ist, um eine solche Begegnung überhaupt stattfinden und wirksam werden zu lassen. Mit der materiellen Seite ihres zeichenhaften Ausdrucks ragen sie direkt in das Leben hinein und geben der fiktionalen Erfahrung eine realitätsgebundene Form. Durch diese wird eine aktive Auseinandersetzung mit dem Gehörten/Gelesenen möglich, es kann auch eine Beurteilung der »Todesbilder« erfolgen, der oft sogar eine gewisse Brutalität anhaftet. Die schöpferische oder rezeptive Auseinandersetzung mit literarisch vermittelten Todesmetaphern lässt sich in dieser Dialektik zwischen passiv und aktiv, zwischen kompromisslosem Sich-Überlassen und einer darauf folgenden urteilenden Distanzierung in den Begriff des Sterben-Lernens fassen. Die Parameter Aktivität und Passivität, die in einer solchen Lektüre eine große Rolle spielen, sind, wie bereits dargelegt, immer entscheidend, wenn es um die Begegnung zwischen Eigenem und Fremdem geht. Die Möglichkeit des Menschen, sich dem Fremden gegenüber aktiv oder passiv zu verhalten, bestimmen folglich wesentliche Aspekte des Lebens, der Tod ließe sich als die extremste Form dieser Dialektik betrachten. Insofern kann man sich diese passiv-erwartende Haltung dem (radikal) Fremden gegenüber durchaus als einen schrittweisen Prozess vorstellen, eine niemals endende Annäherung. Was die Passivierung des Subjekts durch den Tod betrifft,72 so prägt auch die Tatsache, dass das Leben nach dem Tod eines jeden Einzelnen ohne diesen 72 | Dieser Teil der Lektüre ist unseren (kulturell geprägten) Gewohnheiten gemäß sicherlich am schwersten zu »erlernen«. Die erste Phase des responsiven Unterrichts sollte daher ganz intensiv mit der Entwicklung einer »passiven« Rezeptionshaltung befasst

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Das Fremde in der Literatur

weitergeht, unser Leben. »Mourir, c’est être condamné […] à ne plus exister que par l’Autre« (Sartre 1993, 628), schreibt Jean-Paul Sartre und diese vollständige Auslieferung an das Urteil der Anderen ist zu einem großen Teil für unseren Wunsch verantwortlich, im Leben »Spuren« zu hinterlassen, die nach unserem Tod sozusagen als unsere Fürsprecher fungieren. Auch wenn wir nichts über den Tod an sich wissen, wir wissen doch, dass er uns die aktive Beteiligung am Leben vollständig versagen wird. Da dieses aber weitergeht, die Lebenden also zumindest noch eine Weile fortfahren werden, über die Verstorbenen zu reden, kommt das einer Passivierung gleich, die wir in der Wahrnehmung durch unser lebendiges Bewusstsein nur schwer ertragen können. Ein Leben, das sich ohne unser Beisein fortsetzt, ist leichter vorstellbar als der Tod, und wir versuchen daher alle in irgendeiner Weise künftige Urteile, die zu einem Zeitpunkt über uns gefällt werden, wenn wir keinen Einfluss mehr darauf haben, möglichst milde ausfallen zu lassen. Dennoch wissen wir, dass diese Hinterlassenschaften, wenn sie unserem Einfluss erst einmal entzogen sind, nicht mehr kontrollierbar sind. Der Wandel der Zeit und der gesellschaftlichen Werte lässt sich kaum vorhersehen und so sehen selbst die sorgsamst gezogenen Spuren einer ungewissen Zukunft entgegen. Taureck schlägt nun eine Alternative zu dieser aktiven – und immer in gewissem Sinne vergeblichen – Bemühung vor, sich mit dem Leben, das sich nach dem eigenen Tod fortsetzt, auszusöhnen. Er bezeichnet diese Haltung gegenüber der eigenen Vergänglichkeit, die auch Züge des Waldenfels’schen Pathos trägt, aber weit über den damit verbundenen Ausnahmezustand hinausreicht, als »Einübung in die Passivität« (Taureck 2004, 190). Die Kultur und Gesellschaft, in der wir leben, ist weit davon entfernt, die Passivität an sich als einen Wert anzuerkennen. Selbst die zeitweilige Aufhebung der eigenen Aktivität in Form von – aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissenen – »Entspannungstechniken«, die sich in letzter Zeit großer Beliebtheit erfreuen, ist nur ein Mittel, das dem Zweck einer danach umso größeren Leistungsfähigkeit dienen soll. Aus dieser Perspektive betrachtet ist unsere Gesellschaft tatsächlich »todesvergessen«, wenn auch nicht in dem Sinne, den Ariès gemeint hat. Eine positive Beurteilung von Passivität findet jedenfalls kaum statt.73 Was den schulisch vermittelten Zugang zu Literatur betrifft, so hat eine mittlerweile als überholt geltende Wahrnehmung klassischer Texte als etwas geradezu Sakrales, die Annahme, dass diese Werke »unantastbar« seien, zu einer Selbstverständlichkeit gemacht. Ein kontemplativer Zugang zu diesen Texten war aus dieser Logik sein, die den Text auf sich wirken lässt und diesen nicht sofort dem verstehen-wollenden Zugriff aussetzt. 73 | Mitunter lässt sich diese noch in der Kindergartenpädagogik finden, wo in vielen neueren Ansätzen dem »Nichtstun« ein großer Stellenwert eingeräumt wird. Mit dem Eintritt ins Schulalter scheint dieses Recht auf Passivität allerdings zu verlöschen.

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heraus der einzig mögliche. Dies hat sich nach 1945 drastisch verändert: Literarische Texte haben ihren Nimbus verloren und mit diesem Verlust der überhöhten Aura des Künstlertums ist auch ein Schritt gegen die Passivierung des Subjekts in der Auseinandersetzung mit der Kunst erfolgt. Spätestens seit Mitte der 1980er Jahre darf man mit Literatur in der Schule auch etwas »tun«, also selber literarisch handeln und »produzieren«. Das hat viele Vorteile und hinter die gegenwärtige gesellschaftliche Wahrnehmung von Literatur kann (und soll) man auch nicht mehr zurück. Man muss sich jedoch der Tatsache bewusst sein, dass ein solcher aktiver Umgang mit Literatur die Idee der Responsivität, eines Antwortens auf die Ansprüche des Textes also, untergräbt. Der Leseunterricht wurde zwar gerade im vergangenen Jahrzehnt intensiviert, aber das Vorlesen-Lassen und verstehende Wahrnehmen literarischer Texte steht meist nicht im Fokus solcher Lesetrainings. Sämtliche Formen des »Kreativen Schreibens«, die sich ebenfalls größter Beliebtheit erfreuen, sind zweifellos wichtig und eröffnen neue Zugänge zu einer Sprache, die allzu oft schon in jungen Jahren in bloßer Formelhaftigkeit erstarrt ist. Dennoch fördern auch solche Methoden des Schreibunterrichts in erster Linie einen aktiven Umgang, ein An-eignen des Textes. Eine Annäherung an literarische Texte, die den Schülerinnen erlaubt und gebietet sich zurückzunehmen und eine Wirkung des Gehörten/still Gelesenen zu erfahren, wird hingegen selten ermöglicht. Daraus resultiert, dass Schülerinnen kaum noch in der Lage sind, die Lektüre von literarischen Texten als etwas zu erfahren, dem man ausgesetzt ist, das etwas »mit einem tut«. Dabei ist die Vorbereitung auf die spätere Passivierung unseres Selbst durch den Tod ein Teil unserer Aktivität. In sämtlichen Akten, mit denen wir etwas schaffen, ist sie, die Auslieferung unseres Selbst an die Anderen durch den Tod, als Antriebskraft spürbar. Es wäre ein recht aufwendiges und wohl auch unnötiges Unterfangen, sich alle diese menschlichen Unternehmungen ständig als »Todesprophylaxe« vor Augen zu führen. In der Begegnung mit Literatur aber macht eine solche Bewusstheit Sinn, denn sie lässt einerseits den Text erst seine Wirkung auf uns tun und ermöglicht uns andererseits die Wahrnehmung der Passivität als Modus eines existenziellen Trostes. Die Kontinuierung im Diskontinuierlichen, die literarisch vermittelte Todesbilder mit sich bringen, machen ihre Rezipientinnen auf eine erträgliche Weise mit der Grenze vertraut, die ihr gesamtes Leben umspannt und diesem Sinn gibt, sie lassen aber andererseits auch eine Distanz zu den menschlichen Beurteilungen entstehen, die in Satrtes Huis Clos zur Hölle, der Hölle des jeweils Anderen, werden. Literaturunterricht ist insofern immer schon ein »anderes« Fach gewesen, als es durch die Eigenschaften seines Gegenstands die Grenzen des institutionellen Rahmens gesprengt hat. Selbst wenn man glaubte, ihn in diesen integrieren zu können, war es tatsächlich nie möglich, den Literaturunterricht ausschließlich an momentanen Vorgaben bildungspolitischer Anforderungen

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zu orientieren. Die Frage, ob der Tod als Thema im Literaturunterricht eine Rolle spielen darf oder soll, ist obsolet, denn er tut es ohnehin. Entscheidbar ist allerdings, ob man den Umgang mit thanatologischer Metaphorik im Schulunterricht lehrt und damit den Schülerinnen die Mittel in die Hand gibt, über die Grenzbereiche und damit die Bedingungen ihres Lebens zu kommunizieren. Es ist erstaunlich, dass sich diese Frage überhaupt so stellt. Dass es eine notwendige Frage ist, zeigt allerdings die Abwesenheit des Themas in sämtlichen Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien.74 Die Vermittlung des Umgangs mit und des Zugangs zu einer bildhaften Sprache, die dort beginnt, wo der Tod uns alles nimmt, ist eine große, nicht normierbare Aufgabe. Ihr sollte deshalb, so wie etwa auch der Lehre über das Wesen der Literatur, eine Sonderstellung innerhalb des Lehrplans zugewiesen werden. Nur dann kann das Überleben eines Literaturunterrichts gesichert werden, der dem Menschen, seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten, die aus seiner selbst-bewussten Grenzlage erwachsen, gerecht wird. Was die (literarische) Auseinandersetzung mit dem Tod für den Menschen bedeutet, drückt sich am besten in den Worten von Hofmannsthals Tod aus dem Dramolett Der Tor und der Tod aus: Wie wundervoll sind diese Wesen, Die, was nicht deutbar, dennoch deuten, Was nie geschrieben wurde, lesen, Verworrenes beherrschend binden Und Wege noch im Ewig-Dunklen finden Hugo von Hofmannsthal 1999, 3175

74 | Ausnahmen lassen sich natürlich finden, so etwa die Handreichung von Sonja Vukovich zu Michael Köhlmeiers Erzählung Sunrise (vgl. Vukovich 2010, 93-112). 75 | Dieses Zitat findet sich auch in Taureck 2004, 214.

6. Elf Schlussthesen zu einer Responsiven Literaturdidaktik

Zum Abschluss dieses Buches möchte ich einige Thesen formulieren, in denen die Grundgedanken der Responsiven Literaturdidaktik noch einmal zusammengefasst werden. Das Buch selbst ist schreibend und handelnd entstanden, es hat sich im Zuge seiner Entstehung über mehrere Jahre hinweg stark verändert und die Wege, die meine Überlegungen zur Bedeutung des Fremden in der Literatur und für die Beziehung zwischen Text und Leser genommen haben, haben mich immer wieder auf Um- und Abwege geführt. Ich betrachte den nicht-linearen Verlauf dieses Entstehungsprozesses als wesentlichen Bestandteil der formulierten »Erkenntnisse«. Gerade deshalb aber scheint es mir sinnvoll, die Kerngedanken, zu denen diese teils verschlungenen Wege geführt haben, noch einmal herauszuarbeiten. So betrachtet ist dieses Schlusswort ein Vorwort, das für mich selbst, für die Leserinnen und Leser, einige (vorläufige) Ergebnisse zusammenfasst und so hoffentlich neue, wesentliche Fragen, die das Thema des Fremden und seines Verständnisses betreffen, aufwirft:

Das Fremde (in) der Literatur • Das Fremde ist keine rational vollständig fassbare, aber eine erfahrbare Kategorie, zu der sich jeder Mensch täglich verhalten muss. Da essenzielle Erfahrungen des Menschseins – die zwischenmenschliche Begegnung, das Lernen, die Geburt, der Tod – vom Fremden strukturiert sind, sollte die explizite Auseinandersetzung mit der Fremderfahrung unabdingbarer Bestandteil des institutionalisierten Lernens sein. Das Fremde (in) der Literatur erweist sich dabei insofern als »radikal«, als es hermeneutisch niemals vollständig fassbar und zugänglich ist und sich den erlernten Verstehensroutinen widersetzt. Die Kunst als gesellschaftliches Reservoir des Fremden ermöglicht ein Wahrnehmen, das über das Bestehende und bereits Gewusste hinausgeht und das je eigene utopische Potenzial der Rezipientinnen wirksam werden lässt. In diesem Sinne ist die Beschäftigung

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Das Fremde in der Literatur

mit Kunst und Literatur im schulischen Kontext ein zentrales Bildungsanliegen. • Die Literatur ist eine Instanz des Fremden in vielfacher Hinsicht. Sie trennt sowohl die Schriftstellerin als auch den Leser vom Sein, weil die sekundäre Welt des Textes einen Verzicht auf die Unmittelbarkeit der Erfahrung, aber auch den Verzicht auf die formelhaften Routinen des Sprechens, Handelns und Denkens bedeutet. Insofern, als die Schrift der Inkommensurabilität des Lebendigen nicht gerecht werden kann, ist sie eine »mortifizierende« Instanz und dem Tod zutiefst verbunden. Gleichzeitig bringt sie in diesem und durch dieses Exil, das sie darstellt, eine neue Welt hervor: »In diesem [dem dichterischen, Anm. N.M.] Sprechen werden wir nicht mehr auf die Welt zurückverwiesen […] In ihm zieht sich die Welt zurück und die Zwecke haben ein Ende gefunden; in ihm verstummt die Welt […] es scheint, dass das Sprechen allein zu sich spricht.« (Blanchot 2012, 36f.)1 Das »Verstehen« von Literatur ist teleologisch ausgerichtet und stellt seinem Wesen nach eine Unmöglichkeit dar. Die Alternative zu einem auf das Verstehen zielenden Umgang mit Literatur ist der »antwortende« Zugang, der sich auf die Fraglichkeiten dieser jeweils neuen und fremden Welt des Textes ein- und diesem die Führung überlässt. Die tiefe Fremdheit der Literatur, die zugleich deren höchsten Wert darstellt, bedingt eine vom Alltagsverständnis und der Routine grundlegende Abweichung, die auch in der Praxis des Literaturunterrichts ihren Platz beansprucht.

Der responsive Habitus • Eine Haltung der »Responsivität« bedeutet eine bewusste sekundäre Positionierung des Eigenen, das sich von seiner (imaginierten) Souveränität zeitweilig löst und sich dem Fremden, das der literarische Text darstellt, überlässt. Daraus ergibt sich die Haltung eines paradoxen »antwortenden Fragens«, wobei die Fragen vom Text her kommen und die Antworten das Gegenteil einer Beantwortung sind. Responsivität setzt eine »passive« Haltung voraus, die erst von den Ansprüchen des Textes, seinen Fraglichkeiten, zur Aktivität veranlasst wird. Die dieser Aktivität des Antwortens vorausgehende Hingabe an den Text ist in erster Linie eine sinnliche Erfahrung, die es ermöglicht, die erzählte Geschichte/die Worte eines Gedichts/ die Szenen eines Dramas als ein »Erlebnis« wahrzunehmen. Der Prozess des Antwortens kann unterschiedlich gestaltet werden: mündlich, etwa nach dem Modell des Heidelberger Literarischen Gesprächs oder schrift1 | »En cette parole, nous ne sommes plus renvoyés au monde […] le monde recule et les buts ont cessé; en elle, le monde se tait […] mais il semble que la parole seule se parle.« (Blanchot 1955, 38f.)

Elf Schlussthesen zu einer Responsiven Literaturdidaktik

lich, nicht zuletzt auch durch selbst gewählte, kreative Ausdrucksformen. Wichtig ist, dass verschiedene Wege zu einer Antwort auf den jeweiligen Text eröffnet werden und diese Phase des Unterrichts keiner Beurteilung unterliegt. Alle folgenden, theoriebasierten Auseinandersetzungen mit dem Text werden durch diesen ersten, unmittelbaren Zugang strukturiert. Das »literarische Erlebnis« beansprucht in diesem Sinne Vorrangigkeit gegenüber der rationalen Auseinandersetzung. • Das Fremde spielt im Literaturunterricht in mehrerlei Hinsicht eine entscheidende Rolle. Es tut dies a.) als inhärente Eigenschaft der Literatur, die die Sprache des alltäglichen Gebrauchs verfremdet und sie so wieder in einen lebendigen Bezug zu den (inkommensurablen) Wesen und Dingen setzt, die sie beschreibt. Das Fremde erweist sich b.) in der Beziehung zwischen Text und Leserin, die immer ein Moment des Verstehen-Wollens enthält, als eine Kategorie, die einerseits Fragen der Machtverhältnisse aufwirft, andererseits aber auch als sinnstiftend erfahrbar wird. Letzteres ist darauf zurückzuführen, dass »Sinn« nur in der bestätigenden/abgrenzenden/überwältigenden Auseinandersetzung entstehen kann, die in »bedeutenden« Beziehungen erfolgt. Dabei reicht die Erfahrung, die das Fremde ist, über das Eigene hinaus und stellt dessen Geltungsansprüche in Frage. Das Fremde des Textes kann dabei auf vielerlei Arten »ausgeschaltet« werden. Dies kann etwa sowohl durch eine völlige Identifikation mit dem Textgeschehen erfolgen als auch durch eine Überlagerung der Textansprüche durch eine an diesen vorbeilesende, »radikal-subjektive« Lesart. Die Fähigkeit, dem Fremden des literarischen Textes »antwortend« zu begegnen, ist ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit, die Gratifikation eines solchen ZuWort-kommen-Lassens des Textes ist dessen utopisches Potenzial, das neue Perspektiven und Denkmöglichkeiten (Lebens-Möglichkeiten) erahnbar werden lässt (vgl. dazu auch Punkt 5). Die Begegnung mit dem Text ähnelt der Begegnung mit einem lebendigen Gegenüber und weist Parallelen zu anderen Prozessen der Sinnfindung – etwa in der zwischenmenschlichen Kommunikation – auf, auch wenn sie diesen nicht äquivalent ist. Das Fremde ist im Literaturunterricht c.) als eine zwischenmenschliche Kategorie präsent. Diejenigen, die sich über den Text austauschen, sind Individuen mit ihren je eigenen Sprach-, Begriffs- und Erlebnis- sowie Erlebensbiographien. Auch der theoretische Hintergrund, vor dem diese Individuen, Lehrer wie Schüler, Informationen aufnehmen und verarbeiten, ist unterschiedlich, zum Teil widersprüchlich und in vieler Hinsicht dem jeweils anderen fremd. Diese Strukturierung des Unterrichtsgeschehens durch das Fremde – also die eigenen und anderen Zugänge, die ihre »Geister« mit sich bringen und vieles in das Unterrichtsgeschehen miteinbringen, was nicht klar zu benennen, aber doch spürbar und wirksam ist – als Unheimliches ist gerade in literaturdidaktischen Zusammenhängen immer mitzubedenken.

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Das Fremde in der Literatur

• Die responsive Haltung und der damit verbundene Zugang zum Text sind nur als grundsätzliche Haltungen von Lehrpersonen, nicht als explizites Wissen in den Literaturunterricht einzubringen. Der ästhetische Modus der Responsivität wird nicht als Theorie wirksam – auch wenn die dem Handeln vorangehende theoretische Auseinandersetzung für die Lehrperson unabkömmlich ist –, sondern als ein Habitus, der sich durch den Rahmen, den die Lehrenden legen, auf die Schüler überträgt. Diesem Prinzip gemäß, kann ein solcher Zugang zur Literatur schon im Kindergarten beziehungsweise Vorschulalter eingeübt werden. • Die Auseinandersetzung mit dem Fremden in literarischen Texten enthält eine ethische Komponente, insofern als hier ein paradigmatischer Umgang mit dem Unverständlichen, Überwältigenden und teils auch Unzugänglichen eines mir begegnenden Fremden – das durch Anfänglichkeit und Endlichkeit tief im Eigenen verwurzelt ist – erlernt werden kann. Die Gewalt, die dem Verstehensprozess innewohnt, kann niemals völlig ausgeschaltet werden, da ohne den verstehenden Zugriff keine Nähe möglich wäre, aber sie kann bewusst gemacht werden. Das Wissen darum, dass die Begegnung mit dem Fremden ein Risiko birgt, weil sie das Eigene auf eine Weise (be)treffen wird, die weder vorhersagbar noch in ihren Auswirkungen einschätzbar ist, spielt in diesem Prozess eine genauso wesentliche Rolle. Dieses Risiko einzugehen und damit auf die Ansprüche des Fremden zu »antworten«, ist nicht unbedingt von Anfang an eine positive Erfahrung. Aber sie stiftet Sinn, weil sie das Individuum mit dem verbindet, das sich seiner Herrschaft entzieht, sein Dasein aber grundlegend und vom ersten Moment an strukturiert. Die Gratifikation der Bereitschaft, ein solches Affiziert-Sein durch das Fremde (wieder) zuzulassen, ist im literaturdidaktischen Kontext die Beziehung zum Text, der einen Anfang setzt, gerade dort, wo das Alltagsverständnis und das Bekannte endet. Daraus ergibt sich im besten Fall ein noch nie dagewesener Blick auf die Welt/die Mitmenschen/das eigene Leben. So gesehen bedeutet die Bereitschaft des Eigenen, sich auf das Fremde einzulassen, immer das Wahrnehmen einer Verantwortung für dieses Fremde. • Eine Haltung der »Responsivität« bedeutet eine bewusste sekundäre Positionierung des Eigenen, das sich von seiner (imaginierten) Souveränität zeitweilig löst und sich dem Fremden, das der literarische Text darstellt, überlässt. Daraus ergibt sich die Haltung eines paradoxen »antwortenden Fragens«, wobei die Fragen vom Text her kommen und die Antworten das Gegenteil einer Beantwortung sind. Responsivität setzt eine passive Haltung voraus, die erst von den Ansprüchen des Textes, seinen Fraglichkeiten, zur Aktivität veranlasst wird. Die dieser Aktivität des Antwortens vorausgehende Hingabe an den Text ist in erster Linie eine sinnliche Erfahrung, die es ermöglicht, die erzählte Geschichte/die Worte eines Ge-

Elf Schlussthesen zu einer Responsiven Literaturdidaktik

dichts/die Szenen eines Dramas als ein »Erlebnis« wahrzunehmen. Alle folgenden, theoriebasierten Auseinandersetzungen mit dem Text werden durch diesen ersten, unmittelbaren Zugang strukturiert. Das »literarische Erlebnis« beansprucht in diesem Sinne Vorrangigkeit gegenüber der rationalen Auseinandersetzung.

Der responsive Literaturunterricht • Ein erhofftes Ergebnis eines responsiven Literaturunterrichts ist die Entwicklung von »Möglichkeitssinn«. Dieser bezeichnet die Fähigkeit, die Begegnung mit einem (literarischen) Kunstwerk als ein Widerfahrnis zu erleben, das Sinn stiftet und der Rezipientin die Möglichkeit bietet, tatsächlich »Neues« zu denken und zu fühlen, das den bisherigen Erfahrungs- und Wissenshorizont überschreitet. Die Voraussetzung des Möglichkeitssinns ist, wie Musil es im Mann ohne Eigenschaften näher ausführt (vgl. Musil 2004, 17), die Anerkennung einer (noch) nicht realisierten – und möglicherweise auch abstrus erscheinenden – Idee als der Realität gleichwertig. Das bedeutet eine Anerkennung fiktionaler Welten als eines »Bedeutungsreservoirs« für die Wirklichkeit. Der Möglichkeitssinn lässt sich ebenso wenig wie die Erfahrung des Textes selbst in seiner konkreten Ausprägung festlegen. • Die drei Phasen der Textbegegnung in einem responsiven Literaturunterricht (siehe Kapitel 2.3). Dieses Modell ist nicht als ein Konzept zu denken, in dem eine Stufe »abgearbeitet« und die nächste erreicht wird. Auch Jürgen Kreft hat zu seinem vierstufigen Modell, aus dem heraus das vorliegende Modell entwickelt wurde, angemerkt, dass jede Phase des Unterrichts in den anderen enthalten sei, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Für die konkrete Durchführung eines responsiven Literaturunterrichts wird es besonders wichtig sein, diese Durchdringung aller Phasen durch die ihnen vorhergehenden/nachfolgenden Phasen als notwendig und wichtig zu betrachten. • Wenn der literarische Text und seine Ansprüche im Fokus des Unterrichts stehen sollen, dann muss die Methode zweitrangig sein und von der Lehrperson auch als sekundär angesehen werden. Im Rahmen eines responsiven Literaturunterrichts können so gut wie alle Methoden sinnvoll eingesetzt werden. Deren »Eignung« lässt sich aber nicht ein für allemal festlegen, sie ergibt sich aus den jeweiligen Vorgaben des Textes sowie den Bedingungen, unter denen Schülerinnen und Lehrerinnen in der konkreten Situation miteinander kommunizieren. Der Text, die spezifische Gruppe der Lernenden und die Persönlichkeit und das Wissen der Lehrperson bedingen die Methode, umgekehrt kann keine Methode einen bestimmten Textzugang garantieren.

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Das Fremde in der Literatur

• So wie die Methode von den Lehrpersonen, müssen bildungspolitische Vorgaben von den Literaturdidaktikerinnen als sekundär betrachtet werden, wenn das Primat der Literatur und ihrer Ansprüche nicht in Frage gestellt werden soll. Eine aktuell dringliche Aufgabe der Literaturdidaktik besteht allerdings auch darin, Verständnis für die Sonderstellung des Literaturunterrichts in bildungspolitischen Kontexten zu schaffen. Der Literaturunterricht bietet einzigartige Möglichkeiten, erste und letzte Fragen des Menschseins zu verhandeln. Eine »Antwort« auf diese Fragen kann niemals gefunden werden, doch der Umgang mit ihnen ist von essenzieller Bedeutung für die Entwicklung des Menschen, seine Orientierung in der Welt und das ihm in ihr unablässig begegnende Fremde. Nur wenn sich der Literaturunterricht dieser besonderen und unersetzlichen Aufgabe bewusst ist und diese nicht von kurzlebigen bildungspolitischen Ansprüchen bestimmen lässt, wird er seinen Fortbestand und seine Stellung innerhalb des Curriculums behaupten können.

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Literatur verzeichnis

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Das Fremde in der Literatur

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Danksagung

Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen am Klagenfurter Institut für Deutschdidaktik, die mich auf dem Weg zu meiner Habilitation und der Schrift, aus der diese Monographie hervorgegangen ist, begleitet haben. Besonderer Dank gilt Professor Werner Wintersteiner, der mich in zahlreichen, selten einmütig verlaufenden Gesprächen zu vielen wichtigen Überlegungen und vor allem zu der Einsicht geführt hat, dass es auch im Austausch über wissenschaftliche Positionen responsive Prozesse des Denkens geben kann und soll. Ich danke auch meiner Kollegin Hajnalka Nagy, ohne die ich mir die Arbeit der letzten Jahre weder denken könnte noch wollte und mit der ich hoffentlich noch viele weitere gemeinsame wissenschaftliche Ideen werde realisieren können. Ich bedanke mich bei den vielen Kolleginnen und Kollegen, die ich im Laufe der Arbeit an der Theorie der Responsiven Literaturdidaktik kennen gelernt habe und die mir geholfen haben, diese weiterzuentwickeln. Mein besonderer Dank gilt Professor Michael Baum und Professor Gerhard Härle, die mit ihren Publikationen und Vorträgen mein Denken wesentlich geprägt haben. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit den vielen Menschen, die sich bereits für diese Theorie interessiert haben und die mit mir gemeinsam weiter daran arbeiten wollen. Mein besonderer Dank gilt den Swabidu-Kindern des Kindergartens Rauscherpark, an denen ich die Theorie erstmals in der Praxis erproben durfte. Nicht zuletzt danke ich meiner Familie und meinen Freundinnen und Freunden, die mich auch in der Zeit, als die wichtigsten Gedanken zu diesem Buch entstanden sind, nicht allein gelassen haben, auch wenn es mir an der notwendigen Zeit fehlte, derer Freundschaften so dringend bedürfen. Es gibt viele Menschen, die zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben. Ohne Marlies Ulbing, der ich auch sonst viel zu verdanken habe, wäre es aber niemals fertig geworden. Vor allem aber danke ich meinem Lebensgefährten, ohne den es dieses Buch nicht gäbe. Ich danke unserer Tochter Mia-Sophie, die vielleicht das Meiste zur Entstehung meiner Überlegungen zur Responsivität beigetragen hat.

Lettre Alexandra Millner, Katalin Teller (Hg.) Transdifferenz und Transkulturalität Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns Januar 2017, ca. 500 Seiten, kart., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3248-4

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie September 2016, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

Metin Genç Ereigniszeit und Eigenzeit Zur literarischen Ästhetik operativer Zeitlichkeit Juli 2016, ca. 326 Seiten, kart., ca. 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3372-6

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Lettre Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.) Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt Juli 2016, ca. 290 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-3266-8

Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.) Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 2015, 406 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3078-7

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Csongor Lörincz Zeugnisgaben der Literatur Zeugenschaft und Fiktion als sprachliche Ereignisse

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Svenja Frank, Julia Ilgner (Hg.) Ehrliche Erfindungen Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne

Torsten Voß Körper, Uniformen und Offiziere Soldatische Männlichkeiten in der Literatur von Grimmelshausen und J.M.R. Lenz bis Ernst Jünger und Hermann Broch

Juni 2016, ca. 440 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3319-1

Raluca Radulescu, Christel Baltes-Löhr (Hg.) Pluralität als Existenzmuster Interdisziplinäre Perspektiven auf die deutschsprachige Migrationsliteratur Juni 2016, ca. 200 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3445-7

Anne Bertheau »Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung Rezeption – Reflexion – Produktion Juni 2016, ca. 280 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3268-2

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Jennifer Clare Protexte Interaktionen von literarischen Schreibprozessen und politischer Opposition um 1968 Januar 2016, 310 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3283-5

Anja Utler »manchmal sehr mitreißend« Über die poetische Erfahrung gesprochener Gedichte Januar 2016, 218 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3357-3

April 2016, 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3442-6

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)

Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Gesine Lenore Schiewer, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6. Jahrgang, 2015, Heft 2

Dezember 2015, 204 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-3212-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-3212-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die ZiG - als print oder E-Journal - kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 27,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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