Das Groteske in der Literatur Spaniens und Lateinamerikas 9783737002318, 9783847102311, 9783847002314

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Das Groteske in der Literatur Spaniens und Lateinamerikas
 9783737002318, 9783847102311, 9783847002314

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Jörg Türschmann / Matthias Hausmann (Hg.)

Das Groteske in der Literatur Spaniens und Lateinamerikas

Mit 7 Abbildungen

V& R unipress Vienna University Press

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0231-1 ISBN 978-3-8470-0231-4 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0231-8 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, des Rektorats der Universität Wien und der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. T 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: »Der Mann mit der Maske«, gezeichnet von Gaspar Becerra, Kupferstich von Nicolas B8atrizet, in: Juan de Valverde de Amusco, »Anatomia del corpe humano«, Rom 1560, S. 64. Courtesy of the US National Library of Medicine. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, D-96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Einleitung Matthias Hausmann / Jörg Türschmann Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Spanien Wolfram Aichinger Geburt, Inzest, Endogamie und das Monströse im Werk Calderjns . . . .

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Helmut C. Jacobs Die Groteske als aufklärerisches Programm in Francisco de Goyas Capricho 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jörg Türschmann Das allegorische Groteske in der spanischen Populärliteratur des 19. Jahrhunderts: Pobres y ricos j la bruja de Madrid von Wenceslao Ayguals de Izco (1849–1850) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Matei Chihaia Der groteske Pygmalion als Provokation der vergleichenden Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Wolfram Nitsch »¡Pim! ¡Pam! ¡Pum!« Groteske Mechanik in Valle-Incl#ns Martes de Carnaval . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Marlen Bidwell-Steiner »Mino/tauromaquia«: Spurensuche eines Wiedergängers der spanischen Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

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Inhalt

Lateinamerika Michael Rössner »Grenzzeichen Macedonio«: Groteske und Innovation . . . . . . . . . . . 165 Friedrich Frosch Norah Langes exzentrische Estimados cong8neres und die Brindis-Event-Kultur der Avantgarde am R&o de la Plata . . . . . . . . . . 181 Christian Wehr Kritische Groteske im lateinamerikanischen Diktatorenroman. Miguel ]ngel Asturias: El SeÇor Presidente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Natascha Ueckmann Revolutions- und Sklavereigeschichte als Groteske im Werk von Reinaldo Arenas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Matthias Hausmann Groteske Medienverquickungen in Adolfo Bioy Casares’ Dormir al sol . . 255 Folke Gernert Philipp II., Celestina und Tlazoteotl: groteske Körperlichkeit und Hybridisierung in Carlos Fuentes’ Roman Terra Nostra . . . . . . . . . . 281 Erik Hirsch Manuel Mujica Lainez’ Un novelista en el Museo del Prado als groteske Ekphrasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Einleitung

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Einführung

I Das Groteske ist in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum eingehend untersucht worden, wobei man insbesondere die Habilitation von Dorothea Scholl Von den »Grottesken« zum Grotesken. Die Konstituierung einer Poetik des Grotesken in der italienischen Renaissance (2004) und die Dissertation von Peter Fuß Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels (2001) hervorheben muss. Neben diesen Studien unterstreicht die Neuausgabe der integralen Version von Wolfgang Kaysers Standardwerk Das Groteske (1957) durch Günter Oesterle im Jahr 2004, welche Bedeutung der Kategorie des Grotesken in der Ästhetik weiterhin zukommt. Dabei gilt nach wie vor, dass Kaysers bewusst auf die kunstund literaturimmanente historische Entwicklung beschränkte Darstellung häufig Michael Bachtins Theorie des Karnevalesken gegenüber gestellt wird, die letzterer in kulturanthropologischer Perspektive in Rabelais und seine Welt (1965) entwickelt. Diese neue Aufmerksamkeit für das Groteske mag auch durch die Erfahrung der Krise bedingt sein; Wolfgang Kayser beobachtet in seiner Studie bekanntlich einen engen Zusammenhang von Krise und Groteskem, und möglicherweise besteht dieser Zusammenhang ebenso im Hinblick auf die Erforschung der ästhetischen Kategorie, da gerade in der Gegenwart, in der Phänomene der Krise allgegenwärtig scheinen, ein solch tiefgehendes Interesse am Grotesken zu konstatieren ist. Im Hinblick auf dieses zuletzt so ausgeprägte Interesse überrascht indes, dass in der deutschen Forschung, abgesehen von gängigen Erwähnungen des Don Quijote, das Groteske in der spanischsprachigen Literatur bisher wenig beachtet wurde; so werden sowohl in den Studien von Scholl und Fuß als auch im umfangreichen Literaturverzeichnis, das Oesterle seiner Neuausgabe Kaysers beifügt, spanische und lateinamerikanische Texte kaum erwähnt, was in gleicher Weise für den umfassenden Überblicksartikel samt Bibliographie zum Grotesken von Elisheva Rosen, Autorin einer auf Französisch verfassten Monographie

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zum Thema, im Historischen Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe gilt (2001). Selbstverständlich mag diese Auslassung auf das jeweilige Korpus zurückgehen, das die vorgenannten Autoren genauer untersucht haben. Dennoch ist diese Lücke bedauerlich, weil gerade die spanischsprachige Literatur besonders viele aufschlussreiche Beispiele grundlegender Art wie Gjngora, Quevedo oder Graci#n bietet, und überdies ihre Bedeutung für das Groteske schon frühzeitig erkannt wurde. So wies bereits 1788 Karl Friedrich Flögel in seiner Geschichte des Grotesk-Komischen darauf hin, dass die Spanier »im Groteskekomischen alle Völker in Europa übertroffen« hätten,1 was kurz darauf von Jean Paul aufgegriffen wurde, der den Spaniern eine besondere Begabung für das Groteske zusprach.2 Diese Ansätze aus dem 18. Jahrhundert wurden indes von der neueren Forschung im deutschsprachigen Raum kaum aufgegriffen, und dies obwohl auch Kayser sein Standardwerk zum Grotesken sicher nicht zufällig im Prado in Madrid beginnen lässt. In der spanischsprachigen Forschung gibt es sicherlich eine ganze Reihe von Beiträgen zu einzelnen Autoren oder Werken,3 weniger aber im Sinne einer Übersicht über das Phänomen in der Breite seiner literaturhistorischen Dimension.4 Der vorliegende Band setzt sich zum Ziel, diese Lücke in der deutschsprachigen Publikationslandschaft zumindest ansatzweise zu schließen und zu ohne Zweifel notwendigen Folgearbeiten anzuregen, welche etwa die ganz aktuelle Literatur untersuchen könnten, in der sich unter anderem die Frage stellt, wie der für das Groteske stets als wesentlich erachtete Aspekt der Körperlichkeit behandelt wird, im Hinblick auf die permanent steigende Bedeutung von virtuellen Welten und Simulationen, die »echte« Körper zunehmend zu verdrängen scheinen. 1 Karl Friedrich Schlögel, Geschichte des Grotesk-Komischen. Ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit, Leipzig 1788, S. 73. 2 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, hg. von Wolfhart Henckmann, Hamburg 1990. 3 Vgl. u. a. Gastjn Celaya, »Desahogo emocional y humor grotesco en El Buscjn de Quevedo«, in: Divergencias: Revista de Estudios Lingü&sticos y Literarios 3 (2005), S. 47–54; Mar&a A. Salgado, »La visijn grotesca de la sociedad en el teatro de Miguel ]ngel Asturias«, in: Eugenio Bustos Tovar (Hg.), Actas del cuarto Congreso Internacional de Hispanistas, Salamanca 1982, S. 579–586; Milagros Torres, »Re&r de mujeres: m#s g8rmenes de la comicidad en el primer teatro de Lope: lo femenino, lo grotesco y lo h&brido (primera parte)«, in: Christoph Strosetzki (Hg.), Teatro espaÇol del Siglo de Oro: Teor&a y pr#ctica, Frankfurt/M. 1998, S. 355–369; L#szlj Vasas, »La tradicijn de lo grotesco en la literatura espaÇola y los esperpentos de Valle-Incl#n«, in: Sa´ndor Laczko´, La´szlo´ Scholz (Hg.), El 98 a la luz de la literatura y la filosof&a, Szeged 1999, S. 232–236. 4 Für die Komparatistik und Literaturanthropologie seien folgende Werke genannt: R8mi Astruc, Le renouveau du grotesque dans le roman du XXe siHcle: essai d’anthropologie litt8raire, Paris 2010; Alain Faudemay, Le grotesque, l’humour, l’identit8: vingt 8tudes transversales sur les litt8ratures europ8ennes: XIXe–XXe siHcles, Paris 2012; Alexander Scheidweiler, Maler, Monstren, Muschelwerk: Wandlungen des Grotesken in Literatur und Kunsttheorie des 18. und 19. Jahrhunderts, Würzburg 2009.

Einführung

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Im Blick zurück kann die Publikation an das Werk The Grotesque Æsthetic in Spanish Literature. From the Golden Age to Modernism (2009) von Paul Ilie anknüpfen, der dort eine summa seiner Forschungen zum Grotesken bündelt, wobei er dem vielgestaltigen Phänomen durch eine Vielzahl methodologischer Herangehensweisen Herr zu werden sucht, sich indes ganz auf Spanien konzentriert. In unserem Band soll die Literatur Lateinamerikas gleichberechtigt berücksichtigt werden, wobei der Brückenschlag von Werken aus dem spanischen siglo de oro hin zu Texten der lateinamerikanischen »Boom-Literatur« durch einen wichtigen Aspekt des Phänomens selbst möglich wird, weil das Groteske, hier speziell in der (neo-)barocken Tradition der spanischsprachigen Literatur, als »transhistorisches Phänomen« (Scholl) bis heute literarisch stets aufs Neue ausgehandelt wird.5 Generell scheint der Barock bzw. Neobarock wesentliche Verbindungslinien zum Grotesken aufzuweisen,6 die gerade über spanischsprachige Beispiele beleuchtet werden können, was auch in der Hinsicht eine Lücke schließt, dass weder Kayser noch Bachtin diesen Epochen weiterführende Aufmerksamkeit zollen. Das Groteske ist Teil eines kulturellen Aushandelns von Bildern, Motiven und narrativen Elementen auf der Grundlage einer überzeitlichen BarockKonzeption, die gleichermaßen den historischen Barock und den Neobarock in den Blick nimmt.7 Dies kann man zudem mit Überlegungen verbinden, den Barockbegriff für Lateinamerika neu zu konturieren, wie es etwa Santiago Cevallos in seiner rezenten Dissertation El Barroco, marca de agua de la narrativa hispanoamericana (2012) vorschlägt. Cevallos betont, dass »deb[e] ser repensado […] el Barroco«,8 und schlägt ein neues Konzept für den »barroco literario hispanoamericano« vor, für das er vier Kategorien vorsieht: den »Barroco dominante«, »manifiesto«, »latente« und »como manifestacijn«. Möglicherweise kann eine solche Neubestimmung auf die gesamte spanischsprachige Literatur ausgedehnt und um das Konzept des Grotesken ergänzt werden, das wie der

5 Scholl sieht das Groteske als para-ästhetisches Prinzip, dessen fortwährende Modernität durch Kombinationsfähigkeit, Integrationsfähigkeit und Aktualisierbarkeit gesichert ist (vgl. Dorothea Scholl, Von den »Grottesken« zum Grotesken. Die Konstituierung einer Poetik des Grotesken in der italienischen Renaissance, Münster 2004, S. 18). 6 Zur Beziehung zwischen Monströsem, Barock und Groteskem in der spanischen und französischen Literatur vgl. Christian Grünnagel, Klassik und Barock – Pegasus und Chimäre: französische und spanische Literatur des 17. Jahrhunderts im Dialog, Heidelberg 2010, S. 101–133. 7 Vgl. dazu u. a. Severo Sarduy, »Barroco«, in: Ders., Obra completa, hg. von Gustavo Guerrero und FranÅois Wahl, Bd. 2, Madrid 1999, S. 1195–1262 und Samuel Arriar#n, Barroco y neobarroco en Am8rica Latina, M8xico D.F. 2007. 8 Santiago Cevallo, El Barroco, marca de agua de la narrativa hispanoamericana, Madrid 2012, S. 38.

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Barock als zutiefst anti-klassisch gilt,9 zumal Scholl betont, dass sich »vom Lachen der Groteske« ausgehend »ein anderer Zugang zu Epochenkonzepten wie dem Barock« ergibt.10 Auch scheint die spanischsprachige Literatur für die Erforschung des Grotesken über die Bedeutung des (Neo-)Barock hinaus wichtige Spuren zu legen, da dort etwa die Erstarrung der Sprache und die Sichtbarmachung dieses Prozesses ein geläufiges Thema ist, das sich beispielsweise in Sprichwörtern äußert, die wortwörtlich genommen in Texte oder ins Theater überführt werden.11 Durch die große Bedeutung der refranes im Spanischen sind so neben einer Kritik an erstarrter Sprache (und damit oft auch erstarrten Konventionen) vielfache groteske Effekte möglich, die speziell durch einen Medienwandel sichtbar gemacht werden – etwa wenn das Sprichwort auf die Bühne kommt. Die Bedeutung der Medienbeziehungen für das Groteske wird ohnehin von Günter Oesterle in seiner Neuausgabe von Kaysers Werk explizit herausgestellt, wobei er darauf verweist, dass diese bisher kaum beschrieben worden sind.12 Auf solche intermedialen Beziehungen (etwa zu Bühne und Film) wird in den folgenden Beiträgen des Öfteren eingegangen, wofür sich die spanischsprachige Literatur wiederum besonders anbietet, schließlich ist hier die Verbindung zur bildenden Kunst besonders stark, nicht zuletzt da letztere im spanischen Raum besonders viele Werke ausgebildet hat, die dem Grotesken Ausdruck verleihen, wobei Goyas Caprichos das wohl prominenteste Beispiel bilden. Als Abschluss dieser kleinen tour d’horizon zum Grotesken kann man anmerken, dass es noch immer keine allumfassende Definition dieser so schwer fassbaren Kategorie gibt, wie Dorothea Scholl (»Es gibt keine befriedigende Definition des Grotesken, oder aber es gibt so viele Definitionen, wie es Erscheinungsformen gibt, die in irgendeiner Weise als ›grotesk‹ bezeichnet werden können.«13) ebenso festhält wie Peter Fuß (»Was das Groteske ›ist‹, läßt sich nicht

9 Vgl. dazu die vielfältigen Überlegungen zu einem zyklischen Barockverständnis, pointiert formuliert etwa von Irlemar Chiampi: »el barroco como una forma que resurge, no importa cu#ndo ni djnde, para negar el esp&ritu cl#sico« (Barroco y modernidad, M8xico D.F. 2000, S. 11). 10 Scholl, Von den »Grottesken« zum Grotesken, S. 583. 11 Diese Tendenz, groteske Effekte durch ein allzu wörtliches Verständnis von Ausdrücken zu erzielen, kann man auch am aktuellen spanischen Film erkennen: ]lex de la Iglesia etwa, einer der wichtigsten Vertreter einer grotesken Ästhetik im Kino, beginnt sein Schaffen mit dem Kurzfilm Mirindas asesinas (1991), in dem eine skurrile Mordserie daran ihren Ausgang nimmt, dass der Mörder jegliche Aussage wortwörtlich auffasst. 12 Vgl. die programmatisch betitelte Einführung von Günter Oesterle zur Neuausgabe Kaysers: »Zur Intermedialität des Grotesken« (in: Wolfgang Kayser, Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, hg. von Günter Oesterle, Tübingen 2004, S. VII–LII, insbesondere die Seiten XIX und XX). 13 Scholl, Von den »Grottesken« zum Grotesken, S. 585.

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sagen. […] Eine definite Definition des Grotesken ist […] unmöglich.«14). Nach wie vor sind hier mithin theoretische Desiderata zu erkennen. Umso wichtiger scheint daher die Analyse konkreter Fallbeispiele, wie sie die Beiträge dieses Bandes unternehmen, die Werke aus Spanien wie aus Hispanoamerika vom siglo de oro bis in die 1980er Jahre in den Blick nehmen und chronologisch angeordnet sind, um Entwicklungen innerhalb des jeweiligen Raums nachvollziehen zu können.

II Zum Auftakt der 13 Fallstudien und zu Beginn des Teils zum Grotesken in der spanischen Literatur widmet Wolfram Aichinger seinen Beitrag einer Motivsuche in den Theaterstücken von Calderjn de la Barca aus dem 17. Jahrhundert: der Geburt eines Kindes, das aus einer inzestuösen Beziehung hervorgegangen ist. Die Wendung ins Groteske findet sich hier in mehrfacher Hinsicht, denn dem Neugeborenen mangelt es an gesellschaftlicher Legitimität. Wie um diesen Makel zu kompensieren, greift Calderjn auf ein Bildinventar des Monströsen zurück, dämonisiert die neue Kreatur oder denunziert die mütterliche Leibeshöhle als Höllenschlund. Weil die junge Generation nicht anerkannt wird, hat sie schließlich eine ambivalente Position im Umfeld des Herrscherhauses. Aichinger zeichnet die Parallelen nach zwischen den Protagonisten aus der griechischen Götterwelt, die Calderjn in seinen Stücken in Szene setzt, und den zeitgenössischen Akteuren aus dem Hause Habsburg. In diesem Zusammenhang weist er auf eine Suprematie des spanischen Barocktheater gegenüber dem Theater der französischen Klassik hin. Helmut C. Jacobs setzt sich mit Goyas Caprichos auseinander und geht von dem erstaunlichen Befund aus, dass noch keine der insgesamt 80 Radierungen systematisch unter dem Aspekt des Grotesken analysiert worden ist, obgleich der Zyklus seit der Romantik fortwährend als grotesk bezeichnet wird. Jacobs nimmt nun eine solche gezielte Analyse für das Capricho 4 (El de la rollona) vor, das schon aufgrund seiner Struktur und Proportionen geradezu als strukturelle Groteske erscheint. Er kann dabei auf eindrucksvolles Quellenmaterial zurückgreifen, das er im Rahmen eines groß angelegten Forschungsprojekts zu Goya zusammengetragen hat und das es ihm erlaubt, bisher nicht erkannte 14 Peter Fuß, Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln/Weimar 2001, S. 13. Vgl. dazu auch das ähnliche Fazit von Elisheva Rosen: »In der Tat fehlt bis heute eine wirklich maßgebende Definition des Begriffs, was zweifelsohne auch daran liegt, daß das Groteske auf einem Prinzip aktiver Schöpfung beruht und sich nicht auf eine Formel festlegen läßt.« (Elisheva Rosen, »Grotesk«, in: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, S. 880).

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Bedeutungsnuancen aufzudecken und so eine Gesamtdeutung dieses Blattes zu erzielen, die bislang ein Desiderat der Forschung dargestellt hat. Dafür sind die handschriftlichen Kommentare, die von Zeitgenossen verfasst wurden und die früheste Rezeption der überaus anspielungsreichen Caprichos darstellen, ein erster Orientierungspunkt, der durch die genaue Entschlüsselung der vier Amulette auf der Radierung ergänzt wird; gerade letztere haben bis heute maßgeblich zu vielen Fehleinschätzungen des Blattes beigetragen, die Jacobs mit seiner Analyse endgültig ausräumen will. Man muss den Amulettgürtel, den der in Kinderkleider gesteckte Erwachsene im Zentrum des Bildes trägt und an dem u. a. eine Dachspfote und ein Glöckchen hängen, als Element des Kampfs gegen den Aberglauben ansehen. Dieser Kampf ist bei Goya organisch eingebettet in eine beißende Adelssatire und eine scharfe Polemik gegen überkommene pädagogische Konzepte, welche in Zusammenhang mit der in Spanien seit den 1780er Jahren virulenten Diskussion um die richtige Erziehungsmethoden zu sehen ist, wie sie nahezu zeitgleich auch in Morat&ns Drama El s& de las niÇas zu beobachten ist. So erweist sich Capricho 4, unzweifelhaft eine der komplexesten Radierungen der Sammlung, als unter dem Zeichen des Grotesken realisiertes Blatt mit dezidiert aufklärerischer Zielsetzung. Jörg Türschmann widmet sich dem Roman Pobres y ricos j la bruja de Madrid (1849/1850) des Autors, Journalisten, Verlegers und Politikers Wenceslao Ayguals de Izco. Wie in vielen anderen seiner Werke stellt Ayguals eine weibliche Figur in den Mittelpunkt, deren seelische Reinheit auf groteske Weise mit der Misere kontrastiert, in der sie leben muss. Im Fall von Pobres y ricos begründet der Anachronismus der Protagonistin in mehrfacher Hinsicht eine allegorische Funktion: Die Hexe, für die im Spanischen auch der Ausdruck hechicera existiert, steht – in einer Übertragung der Etymologie des deutschen Wortes, die Peter Fuß in seinem Buch über das Groteske hinsichtlich der Beziehung zwischen »Hexe« und »Hecke« als Grenze zwischen Natur und Kultur erörtert – für die Schwelle zwischen Zivilisation und Barbarei. Darüber hinaus verkörpert die Hexe die Undurchschaubarkeit der umfangreichen Geschichte, die in den zahlreichen Strängen erzählt wird. Ayguals setzt mit dem Schrecken, den das verstümmelte Gesicht der Bruja hervorruft, auf die Neugier seiner Leserschaft, um einmal mehr dem immensen Publikumserfolg von Les mystHres de Paris (1842/1843) seines französischen Vorbilds EugHne Sue nachzueifern und im Sinne des philanthropischen Paternalismus christliche Nächstenliebe zu predigen. Die Darstellung der sozialen Extreme auf engstem und unübersichtlichem Raum, die aus Verstädterung und Industrialisierung herrühren, gerät zu einem Spektakel, dessen grotesker Charakter sich in einer mäandernden Erzählstruktur niederschlägt. Der zelebrierte Manichäismus von Gut und Böse ist Ausdruck einer politischen Ambivalenz, der zufolge Kunst und Kommerz keinen Gegensatz bilden, und einer widersprüchlichen Position in der Literatur-

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geschichte, die Ayguals einerseits am Anfang des realistischen Romans sowie als Vorläufer von Benito P8rez Galdjs (Fortunata y Jacinta) und Leopoldo Alas alias Clar&n (La Regenta), andererseits als Vertreter einer international gängigen Schauerromantik sieht. Matei Chihaia wendet sich dem Grotesken als »kultureller Figur« im Feld der Intermedialität zu, die Oesterle im Vorwort zu Kaysers Groteske-Buch im Sinn einer zu den Grenzen der Künste quer gelagerten »Kombination heterogener Elemente« in den Blick nimmt. Er möchte Jacinto Graus avantgardistisches Theaterstück El SeÇor de Pigmalijn (1921) weder in der »intertextuelle[n] Tradition unterschiedlicher Mythenstoffe« (S. 126) noch in der Theatergeschichte der Avantgarde analysieren, sondern hinsichtlich der Differenz, die sich zwischen den involvierten Medien im Laufe der Aufführungsgeschichte aufspannt. Im Fall von Graus Theaterstück sind diese Medien das Theater und das Kino, deren Differenz durch die Puppen in Szene gesetzt werden, die statt der Schauspieler auftreten und durch ihre Lebensechtheit in die wirkliche Welt hinüber zu wandeln scheinen: »In diesem Zusammenhang erscheinen die sprechenden Puppen als die utopische Weiterentwicklung eines bestehenden Mediums, des Marionettentheaters, mit Hilfe des neuen Mediums Kino« (S. 128). Chihaia berücksichtigt im Zuge dieser Argumentation eine Vielzahl heterogener Kontexte, darunter das spanische Barocktheater, Goyas Capricho 43 (El sueÇo de la razjn produce monstruos), Charlie Chaplin und die US-amerikanischen Freak-Shows. Die »Revolte der Geschöpfe«, ihre »Infiltration« in die Wirklichkeit, stützt sich »weder auf die Metalepse noch die Allegorie, sondern die Antonomasie und die theatralische Typisierung«. Diese Kreaturen, die die Praxis der Verkörperung reflektieren, sind durch die Heterogenität ihrer Bezüge groteske intermediale Körper, versagen sich jenseits von Gattung und Motiv ihrer Einbettung in ein homogenes philologisches Korpus, wie es die vergleichende Literaturwissenschaft untersucht, und gerinnen zum »Konvergenzpunkt kultureller Praxis«, für den sich die Kulturwissenschaft interessiert. Praktisch zeitgleich mit Graus Text entsteht mit Valle-Incl#ns Luces de Bohemia (1920) einer der emblematischen Texte des Grotesken in Spanien. Die Bestimmung des esperpento als »una deformacijn grotesca de la civilizacijn europea« trifft aber mehr noch als auf dieses berühmte Stück auf die Trilogie Martes de carnaval (1930) zu, wie Wolfram Nitsch herausarbeitet. Nitsch stellt den zweiten Einakter der Trilogie, den Esperpento de los cuernos de Don Friolera ins Zentrum seiner Betrachtungen, in dem Valle-Incl#n groteske Komik und grausiges Geschehen besonders prägnant verbindet. Auf ein Puppenspiel um einen Ehrenhändel im Prolog folgt eine Schauerposse in Prosa, die wiederum um den Verlust der Ehre dreht, wobei sich nicht nur das Thema wiederholt, sondern sich auch deren Handlungsträger annähern, da die Schauspieler ähnlich marionettenhaft agieren wie die Puppen zuvor. So führen auf tragischen Ver-

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wechslungen beruhende Gewalttaten nicht zur traditionellen Rührung (die im Stück durch die Lektüre eines Fortsetzungsromans als Gegenfolie aufscheint), sondern erzeugen groteske Komik. Mit dieser verzerrten Tragik verweist ValleIncl#n auch auf die Sonderentwicklung Spaniens im 20. Jahrhundert, wobei die außerliterarischen Referenzen in den beiden anderen Stücken von Martes de carnaval mehr in den Vordergrund treten, in denen das Spanien Primo de Riveras schließlich wirkt »wie ein grotesker Operettenstaat irgendwo in der Neuen Welt, wo Valle-Incl#n mit Tirano Banderas (1926) zum Wegbereiter des Diktatorenromans wurde« (S. 147), einer Gattung, deren groteskem Potential sich in diesem Band Christian Wehr mit seinem Beitrag zu Asturias widmet. Im letzten Beitrag zur spanischen Literatur konzentriert sich Marlen Bidwell-Steiner wie zuvor Wolfram Aichinger auf das Motiv des Inzests. Der an Goyas El gran buco erinnernde Mäusezüchter Muecas aus Luis Mart&n Santos’ Roman Tiempo de silencio (1961), der in »chabolas, den Wohnhöhlen des Lumpenproletariats am Madrider Stadtrand« (S. 152) wohnt, vergeht sich an seiner Tochter, die nach einer Abtreibung stirbt. Diese Gewalttaten und auch eine Vergewaltigung, für die die Hauptfigur Pedro verantwortlich ist, finden an Orten statt, die als Höhlen charakterisiert sind. Das Monströse ist in diesem Roman auch mit Ortega y Gasset gegenwärtig, dessen Philosophie für die Anhänger der 1914er-Generation und für Pedro indirekt durch seine phänomenologisch anmutenden Überlegungen zum paternalistischen Vorbild wurde und wird. Schließlich sieht Bidwell-Steiner den Roman in der Tradition der grotesken Züge von Graci#ns Criticjn und vergleicht den in beiden Werken mit Bezug auf Hieronymus Bosch indizierten Charakter des Disparaten hinsichtlich der Unüberschaubarkeit urbanen Lebens. In Tiempo de silencio macht der Autor die Stadt wegen ihrer Vielgestaltigkeit zum Minotaurus, zeigt aber, anders als Graci#n oder auch Borges in Casa de Asterijn oder Cort#zar in Los reyes, für den Protagonisten keine Versöhnung der Gegensätze zwischen Mensch und Tier bzw. Mensch und Maschine auf. Mit dem Beitrag von Michael Rössner wendet sich der Band dem Grotesken in Lateinamerika zu. Rössner geht in seinen Überlegungen von den Thesen Peter Fuß’ aus und erprobt diese am großen Vorbild vieler argentinischer Autoren Macedonio Fern#ndez. Dieser verfolgt von Anfang an den Versuch, eine Metaphysik zu schaffen, die die Grenzen des üblichen Denkens sprengt und, im Sinne Fuß’, stabile Dichotomien in Ambiguität und Ambivalenz überführt. Rössner zeichnet dies zunächst an den beiden kurzen cuentos »El Zapallo que se hizo cosmos« und »Donde Solano Reyes era un vencido y sufr&a dos derrotas cada d&a« nach, die – wie viele Texte von Macedonios gelehrigem Schüler Borges – das Thema der konkreten Erfahrung der Unendlichkeit durchspielen, indes in einem deutlich weniger nüchternen Stil als bei Borges. In der ersten Erzählung findet sich das Groteske nicht nur auf der Ebene der histoire, mit

Einführung

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einem in unglaublichem Tempo wachsenden Kürbis, sondern vor allem auch auf der des discours, indem sich eine chimärische Vermischung der Textsorten ergibt, die generell typisch für das Werk von Macedonio ist und nach Fuß’ Kategorien als Liquidierung von Ordnungsmustern beschrieben werden kann. In einem weiteren Schritt wendet sich Rössner dem »Doppelroman« Adriana Buenos Aires und Museo de la Novela de la Eterna zu, in denen die Kategorien des Grotesken ihre konsequenteste Realisierung in Macedonios Werk finden. Dies wird etwa am Verfahren der Verkehrung deutlich, die in Museo de la Novela de la Eterna die Hierarchie zwischen Haupttext und Paratexten betrifft, da nicht weniger als 56 Prologe dem nur knapp 20 Kapiteln umfassenden Roman vorausgehen, in dem im Übrigen keinerlei durchgängige Handlung zu finden ist, sondern vielmehr Leser und Autor fortwährend miteinander im Gespräch stehen und im Gefolge dieses paradoxalen Erzählens die Grenzen zwischen den diegetischen Ebenen verschwimmen. So kann man in Macedonios Werk verschiedene groteske Verfahren erkennen, die insbesondere auf der Ebene des discours derart ausgeprägt sind, »dass hier eine Liquidation kultureller Formationen ihren Anfang nimmt, die – direkt oder über die Vermittlung von Borges – das, was wir heute faute de mieux postmoderne Literatur nennen, maßgeblich beeinflusst hat« (S. 178). Friedrich Frosch geht dagegen von klassischen Definitionen des Grotesken aus und wendet diese auf eine Textform an, die nur selten im Fokus der literaturwissenschaftlichen Forschung steht: die Tischrede. Norah Lange, die »Muse des Ultra&smo«, verfasste in einer Art Lebensprojekt von 1934 bis 1964 eine Vielzahl solcher Reden, die schließlich unter dem Titel Estimados cong8neres publiziert wurden. Frosch erläutert zunächst den spezifischen kulturhistorischen Kontext, in dem diese so genannten brindis im Buenos Aires der Avantgarde entstanden, und wendet sich dann den skurrilen Reden selbst zu, die ihre – oft große – Unterhaltsamkeit aus dem gezielten Bruch der Konventionen ziehen. Lange erweist sich als Meisterin grotesker Beschreibungen, in der sie Biographisches, Psychisches und Physisches verquickt, und so Miniaturen entwirft, in denen man einen Widerhall der grotesken Porträts eines Torres Villarroel erkennen mag, wobei diese indes für Lange keine Herabsetzung des Porträtierten implizieren, sondern vielmehr eine bewusste Persiflage der seit der Antike etablierten Gattung der Lobrede. Dabei kann man eine doppelte Verbindung zu Bachtin erkennen, da der Porträtierte nicht verspottet wird, sondern Teil der Lachenden ist, so dass sich gewissermaßen eine »Bachtin’schen Narrengesellschaft [bildet], die sich kollektiv über Konventionen einer banalen Spießbürgermentalität amüsiert« (S. 193). Zudem tritt in den Reden immer wieder ein Kennzeichen des karnevalesken Grotesken im Sinne Bachtins auf, nämlich eine Verbindung exzessiver Körperlichkeit mit einem spielerischen-provozierenden Normenbruch. Da Lange auch keineswegs mit Kritik an Autoritäten geizt, sieht Frosch vielfache Belege, dass sie

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»intuitiv im Geiste ihres geographischen Antipoden und Zeitgenossen Bachtin dachte, handelte, schrieb und sprach« (S. 201). Mit dem Diktatorenroman wendet sich Christian Wehr einer deutlich ernsteren, und für Lateinamerika höchst bedeutsamen, Gattung zu, wobei er zunächst das dessen Genese erklärende historische apriori des caudillismo beschreibt, da er mit seiner Analyse eine verbreitete Lesart korrigieren will. Wehr führt die grotesken Tendenzen im Diktatorenroman weniger – wie es sonst häufig erfolgt – auf traumatische historische Erfahrungen zurück, sondern richtet sein Augenmerk vielmehr auf machtanalytische Fragestellungen, wodurch das Groteske als transgressives Darstellungsverfahren gedeutet werden kann, welches das irrationale Wesen des caudillismo selbst reflektiert, der als politische Spielart des für Lateinamerika so wichtigen »messianischen Überschusses« gelesen werden kann. Die lateinamerikanischen Diktatoren werden oft als böse Götter stilisiert, wobei gerade das Groteske als Stilmittel für ihre Darstellung zwischen Heilsgeschichte und Verdammung dient. Als Beispiel für seine These dient Wehr Asturias’ El SeÇor Presidente, in welchem die schon im gattungsprägenden El matadero vorhandene Tendenz zur blutigen Groteske bis zur surrealistischen Verfremdung gesteigert wird, was auf Verfahren des magischen Realismus verweist, die in Hombres de Ma&z noch stärker zutage treten werden. Wehr konzentriert sich in seiner Lektüre auf heilsgeschichtliche Bezüge, die schon durch den zentralen Schauplatz der Handlung, die Pforte der Kathedrale, in den Vordergrund treten. Man findet sich vor einer grotesk-paradoxen Heiligung der Tyrannei, die sich insbesondere in der Rolle des Diktators, der hier interessanterweise kaum je direkt in Erscheinung tritt, als böser Gott manifestiert. Diesem Weg Asturias werden weitere lateinamerikanische Diktatorenromane folgen, wie etwa Gabriel Garc&a M#rquez, der in El otoÇo del patriarca (1975) ebenfalls den Messianismus des titelgebenden Herrschers mit einer Semantik des Bösen grotesk durchkreuzt. Natascha Ueckmann analysiert in zwei Romanen von Reinaldo Arenas ebenfalls Machtstrukturen, nämlich auf Kuba zu Zeiten der Sklavenhaltergesellschaft und des Castrismus. El mundo alucinante (1969) und La Loma del #ngel (1987) sowie Arenas’ Autobiographie Antes que anochezca (1992) sind das Ergebnis einer »reescritura bereits vorhandener Texte«, deren grotesker Charakter und Respektlosigkeit gegenüber dem kulturellen Ansehen der adaptierten Originale von den Zweifeln zeugt, die Arenas gegenüber der Aufklärung, deren Konzept eines autonomen Subjekts und eines sinngeprägten Geschichtsprozesses hegt. Der hybride Status, den El mundo alucinante auszeichnet, geht auf die doppeldeutige Klassifizierung der Lebensgeschichte des Fray Servando zurück, die sich in Arenas’ Fassung als »eine revolutionäre Mönchs-Biographie und eine postrevolutionäre fiktive Autobiographie« präsentiert. Der Autor plädiert für Mündlichkeit und Leiblichkeit und schreibt gegen die Behauptung

Einführung

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einer Sinnstiftung durch die schriftlich niedergelegte Historiografie an. Auf diese Weise ist der Roman Ausdruck des Grotesken zweiter Potenz, weil es, mit Bachtin als karnevalesk gefasst, selbst in Frage gestellt wird – in den zitierten Worten von Sabine Schlickers: »una parodia de esta visijn carnavalesca«. Die groteske Leiblichkeit verkörpert die Schlüsselfigur des in einer Höhle wohnenden Riesen Borunda, »ein schwabbeliges Fleischgebirge«. Er reiht sich, wenn auch in anderem Kontext, in eine Reihe von Episoden über Körperwucherungen ein, die verdeutlichen, »dass es in El mundo alucinante zumeist um den ambivalenten maskulinen Körper geht, der entweder potenter Phallus oder gequälter Leib ist« (S. 234). Arenas feiert letztlich trotz aller geschilderten Widerwärtigkeiten das Komödiantische im Moment der Verzweiflung. Er verzichtet zwar auf Utopien und Ideale, doch inszeniert er die Vorzüge einer permanenten Revolution. In La Loma del #ngel, der Transformation des kubanischen Literaturdenkmals Cecilia Vald8s o La Loma del #ngel (1839/1882) wird der Anspruch des Originals, die Realität wiederzugeben, konterkariert durch die ökonomische Rationalisierung und das Optimierungsbestreben, welche die Figur der Isabel an den Tag legt, die sogar noch die Todesarten der Sklaven in ihr Kalkül einbezieht. Es entsteht dadurch auch auf der Ebene der Figurencharakterisierung der Eindruck von Oberflächlichkeit, der beim Lesen keine Empathie zulässt. Während Rössner mit Macedonio Fern#ndez ein wesentliches Vorbild von Jorge Luis Borges behandelt, setzt sich Matthias Hausmann mit dessen wichtigstem Freund und häufigem Co-Autor Adolfo Bioy Casares auseinander und zeigt auf, wie sich in dessen Werk die vielgestaltigen hybriden Figuren der histoire-Ebene mitunter auf der discours-Ebene in einer ebenso hybriden filmischen Schreibweise spiegeln, durch die Bioy auf die Herausforderung der Literatur durch den Film reagiert. Am Beispiel des bislang nur wenig untersuchten Romans Dormir al sol, in dem es zu einer Kreuzung von Hunden und Menschen kommt, weist Hausmann nach, wie sich die für das Groteske wichtige Form des Karnevals nicht nur innerhalb der Fabel, sondern auch im Hinblick auf verfremdet eingebaute Intertexte zeigt, wobei sich letztere Dimension auf den Film ausdehnen lässt, was zu stark filmisch geprägten Szenen führt. In vergleichbarer Weise wie Matei Chihaia analysiert Hausmann das Potential intermedialer Bezüge zur Erzeugung des Grotesken und diskutiert die auftretenden Spiegelungen im Kontext der kürzlich erstellten Systematisierung paradoxaler Erzählverfahren durch eine von Klaus Meyer-Minnemann geleitete Forschergruppe. Im Anschluss an die skizzierten Phänomene wird auch über eine Einordnung Bioys in den Neobarock reflektiert und die Frage aufgeworfen, ob nicht gerade durch die grotesken Elemente kritisches Potential im Hinblick auf die außerliterarische Welt aufscheint, das man bisher eher selten mit dem Schaffen dieses argentinischen Autors verbunden hat. Folke Gernert beschäftigt sich mit Terra Nostra von Carlos Fuentes (1975),

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Matthias Hausmann / Jörg Türschmann

einem Text, der bis dato noch nicht unter Rekurs auf das Groteske als dominanter Analysekategorie betrachtet worden ist, was erstaunen kann, da in diesem monumentalen Roman Aspekte der Körperlichkeit und der Hybridisierung zentralen Raum einnehmen, worauf Gernerts Lektüre fußt, die den Text als kritische Groteske auslegt, »die durch einen alternativen Geschichtsentwurf eine Identitätsformel entwickelt, die das Prinzip des mestizaje als grotesk-chimärenhafte Vermischung präsentiert« (S. 283). Der mexikanische Autor setzt Mittel der Groteske auf vielfältige Weise ein und kritisiert mit diesen das Aztekenreich, vor allem aber die spanische Habsburgermonarchie, etwa indem er der Leibfeindlichkeit der letzteren, die nach Fuentes’ Verständnis in Philipp II. einen Höhepunkt findet, den explizit beschriebenen körperlichen Verfall von El SeÇor gegenüberstellt, einer Kompositgestalt, die in erster Linie auf eben jenen Philipp II. verweist. Eine besondere Rolle kommt der Figur der Celestina zu, die in den verwickelten Erzählsträngen in verschiedenen Erscheinungsformen auftritt, wobei sie stets durch ihre tätowierten Lippen zu erkennen ist; die im zweiten Romanteil auftretende SeÇora de la mariposas, eine ähnliche Kompositgestalt wie der oben geschilderte König, trägt auch diese tätowierten Lippen, es bleibt aber unentscheidbar, ob sie der Neuen oder der Alten Welt zuzuordnen ist, wodurch sie bewusst zwischen spanischer Literatur und indigener Mythologie schwebt. Gerade über diese Figur finden Elemente des indigenen Glaubens, etwa der Göttin Tlazoteotl, in den Roman Eingang, deren Bedeutung für eine genuin lateinamerikanische Ausprägung des Grotesken wohl von besonderer Bedeutung sind und ein Desiderat für künftige Forschungen darstellen, die unter anderem die Verbindung des »real maravilloso« mit dem Grotesken näher profilieren könnten. Den Abschluss der Fallstudien bildet der Beitrag von Erik Hirsch, womit sich zugleich eine Klammer schließt, denn dieser kehrt mit seinen Überlegungen zu Manuel Mujica Lainez nach Spanien, und genauer in den Prado zurück, einen Ort, der, wie oben erwähnt, schon für Kayser emblematisch für das Groteske war. Hirsch geht im Erzählband Un novelista en el Museo del Prado dem vielgestaltigen Phänomen der »grotesken Ekphrasis« nach, das Mujica Lainez, seines Zeichens nicht nur Autor, sondern auch langjähriger Kunstkritiker und Museumsmitarbeiter, in seinem zwölf Texte umfassenden Band von 1984 ausarbeitet. Des Nachts verlassen die Figuren die Kunstwerke des Prado und kommen zu – meist humorvoll gestalteten – Treffen und Unterhaltungen zusammen, mit denen Mujica Lainez die Fantasie der bildenden Künstler fortführt. Dabei werden etwa 50 Künstler mit mehr als 100 Kunstwerken namentlich genannt, wobei von einem großen Teil der Werke, und speziell der auf ihnen dargestellten Figuren, pointierte Bildbeschreibungen geliefert werden. Die literarische Wiedergabe von Werken der bildenden Kunst wird somit zum Inhalt eines gesamten Textes, weshalb Hirsch den Blick auf die Besonderheiten der Ekphrasis beim argentinischen Autor lenkt. Dieser verbindet eine Dekomposition der allen Kunstkennern geläufigen Ordnung

Einführung

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der Bilder mit einer Rekombination, von der der im Titel genannte »novelista«, der in vielerlei Hinsicht ein alter ego seines Autor ist, berichtet, wobei Hirsch dieses Verfahren nach den Überlegungen zum Grotesken von Peter Fuß analysiert, dessen Thesen ihn, wie zuvor schon Michael Rössner, bei seiner Analyse leiten. Zur Erzeugung der grotesken Dimension sind im Erzählband des Argentiniers vor allem zwei Vermischungen entscheidend: die von Hohem und Niederem, da sich Figuren der Hochkultur über banale Dinge austauschen, sowie die verschiedener Zeitebenen, da die Figuren mit Widerparten aus anderen, früheren oder späteren, Gemälden zusammentreffen und zudem über die Museumsbesucher auch mit der aktuellen Gegenwart konfrontiert werden, da »Mujica Lainez’ Spiel zu einem Gutteil auf der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ruht« (S. 326). Vor einigen Jahren setzte sich Titus Heydenreich mit Un novelista en el Museo del Prado auseinander und fokussierte dabei die durch die Malerei angeregten Phänomene der Immersion und Infiltration.15 Dies sei hier erwähnt, da sich Titus Heydenreich am vorliegenden Band beteiligen wollte und zwar wiederum mit der Analyse eines Textes, in dem Kunstwerke von Spaniens wichtigstem Museum lebendig werden, nämlich Albertis Noche de guerra en el Museo del Prado (1956). Der geplante Aufsatz mit dem Arbeitstitel »Dem Gabriel verschlägt’s die Sprache. Der Prado im Blick Rafael Albertis«, der den Sammelband ohne Zweifel auf höchst gewinnbringende Weise bereichert hätte, konnte aufgrund des Todes von Titus Heydenreich nicht mehr beendet werden. Der Band geht auf eine Tagung zurück, die im Dezember 2012 an der Universität Wien stattfand. Als Herausgeber danken wir herzlich allen Referentinnen und Referenten für ihre gedankenreichen Vorträge und die angeregten Diskussionen, die sich an diese anschlossen, sowie insbesondere für die Mühe, mit der sie ihre Gedanken zu Papier gebracht haben. Die Einrichtung der Druckvorlage ist das Verdienst von Alexandra Paar und Ruth Steindl, deren Überführung in das fertige Buch das der kompetenten und engagierten Mitarbeiter der Vienna University Press, denen ebenfalls unser Dank gilt. Ganz besonders möchten wir der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien danken, die Tagung und Drucklegung der Beiträge gefördert hat, sowie dem Rektorat der Universität Wien und der Österreichischen Forschungsgemeinschaft für die großzügige Unterstützung bei der Veröffentlichung des vorliegenden Bandes. Wien im Februar 2016, Matthias Hausmann und Jörg Türschmann 15 Titus Heydenreich, »Un novelista en el Museo del Prado (1984). Madrids Kunstschätze im Blick des Argentiniers Manuel Mffljica Lainez«, in: Birgit Tappert, Willi Jung (Hg.), Heitere Mimesis, Tübingen 2003, S. 789–803.

Spanien

Wolfram Aichinger

Geburt, Inzest, Endogamie und das Monströse im Werk Calderóns

1.

»nace la noche«

Calderjn phantasiert immer wieder von Gefangenen, die an Toren, Eingängen, Ketten rütteln, angezogen von der Musik der Welt, die auf der anderen Seite erklingt; die aus Türmen, Gefängnissen, Höhlen ans Licht kommen, geblendet von der Schönheit des Himmels, der Sonne, der Blumen oder des Menschen, der in dem Moment von Felsen und Pferd in ihr Schicksal stürzt.1 Segismundo tritt so in den Blick der moskovitischen Edeldame Rosaura, die im Jünglingsgewand ihre verlorene Ehre wiedererlangen will. Staunenswert ist es, wie Rosauras Verse allmählich und im Näherkommen des Beobachters die Vision eines Kerkers, einer Tür, eines »lebendigen Kadavers« schließlich, der in Ketten liegt, freigeben und ins Licht der furchtsamen Abenddämmerung stellen. Rosaura

¿Qui8n ha visto sucesos tan extraÇos? Mas, si la vista no padece engaÇos que hace la fantas&a, a la medrosa luz que affln tiene el d&a me parece que veo un edificio […] Rfflstico nace entre desnudas peÇas un palacio tan breve que el sol apenas a mirar se atreve.

1 Die Studie entstand im Rahmen des Projekts »Geheimnisse und Geheimhaltung in Calderjns Komödien und im Habsburg-Spanien«; mit einer kritischen Ausgabe von El secreto a voces (Das laute Geheimnis) von Don Pedro Calderjn de la Barca (Fördergeber : Wissenschaftsfonds FWF, Projektnummer : P 24903-G23 und Jubiläumsfonds der ÖNB, Projektnummer : 14725), geleitet von Wolfram Aichinger.

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Wolfram Aichinger

[…] La puerta, mejor dir8 funesta boca, abierta est#, y desde su centro nace la noche, pues la engendra dentro2

Als Geburt der Nacht erscheint schließlich Segismundo: »vivo cad#ver«, »en traje de fiera«, »esqueleto vivo«, »animado muerto«, »monstruo de su laberinto« (Calderjn, La vida, S. 89–90, V. 94, 96, 201, 202, 140). Segismundo ist nicht der einzige, der so oder ähnlich ein zweites Mal geboren wird. Blanca de los R&os und Don Cruickshank3 haben mehr als ein Dutzend Segismundos aufgespürt: Sem&ramis etwa ist eingeschlossen im geheimen Tempelbezirk des Sehers Tiresias. Heraclio und Leonido (En la vida todo es verdad y todo mentira) wachsen in einer Gebirgswildnis auf, bevor sie an den Hof kommen. Irene ist Gefangene ihres Vaters, des Königs Polemjn in Las cadenas del demonio. Auch die Unglückskinder der Mythologie treten aus Höhlen und Grotten auf die Bühne. Sie wurden fern der Gesellschaft der Menschen aufgezogen, um dem Unglück der Liebe und eines geweissagten Schicksals zu entrinnen: Achill, Sohn der Tethis in El monstruo de los jardines, Adonis in La pfflrpura de la rosa; Narziss in Eco y Narciso, Climene in Apolo y Climene. Zu den Motiven der Höhle, der Gefangenschaft, der Erziehung in wilder Natur und der »zweiten Geburt« gehört die Klage über den Stern, der unheilvoll über der Geburt aufging. Mal ist es der Erzieher, der berichtet, mal sind es die Hauptfiguren selbst. In La vida es sueÇo ist es der König und Vater Basilio, der Vergangenes wachruft und dabei die dunklen Träume der Mutter und ihre Vision der Unglücksstunde, in der Welt und Kosmos wie von einem Fieberanfall erfasst werden, die Sonne blutgetränkt, in Wahnsinn rasend mit dem Mond in Zweikampf tritt, der Himmel sich verfinstert, Mauern erzittern, Steine aus den Wolken regnen, Blut in den Flüssen rinnt. Geboren wird eine menschliche »Viper«, die im Geborenwerden die Eingeweide der Mutter zerreißt und sich damit in seinem ersten Handeln als Mensch gebärdet: […] el delito mayor del hombre es haber nacido. (Calderjn, La vida, S. 91, V. 111–112)

Der Erzieher und Kerkermeister Clotaldo zögert nicht, Segismundos Isolation von der Welt und Gefängnis zu rechtfertigen, indem er darauf verweist.

2 Pedro Calderjn de la Barca, La vida es sueÇo, hg. v. Ciriaco Morjn, Madrid 1991, S. 87–88, V. 49–72. 3 Blanca de los R&os de Lamp8rez, »La vida es sueÇo« y los diez Segismundos de Calderjn, Madrid 1926, S. 18–26. Don William Cruickshank, Don Pedro Calderjn, Cambridge et al. 2009, S. 35, S. 51–52.

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Si sabes que tus desdichas, Segismundo, son tan grandes, que antes de nacer moriste […] ¿por qu8 blasonas? (Calderjn, La vida, S. 98, V. 319–327)

2.

Clorilene

Die angelsächsische und französische Calderjn-Forschung wagt mehr als die spanische und sieht daher mehr als diese, so eine merkwürdige Homonymie, die in den meisten Editionen von La vida es sueÇo übersehen oder missmutig für bedeutungslos erklärt wird. Es geht um den Namen Clorilene.4 Clorilene heißt die Königin, die Gemahlin Basilios und Mutter Segismundos. Nur als Erinnerungsbild ist sie auf der Bühne präsent, da sie wie ausgeführt die Entbindung des Prinzen nicht überlebt. Clorilene wird nun aber im selben Akt auch als Name der Mutter von Estrella genannt, auch sie ist nicht mehr unter den Lebenden. Estrella ist die Nichte des Königs Basilio, sie ist wie ihr Cousin Astolfo an den Hof von Polen gekommen, um angesichts der vermeintlichen Kinderlosigkeit Basilios Anspruch auf die Krone zu erheben. Daraus folgt, nicht nur die verstorbene Ehefrau Basilios hieße Clorilene, sondern auch seine Schwester. Nun, warum sollte das nicht so sein? Auch könnte schlicht ein Versehen Calderjns vorliegen.5 Ich kenne allerdings kein Stück des Poeten, in dem Schlüsselpositionen in der Figurenkonstellation mit demselben Namen besetzt sind. Auch ein bloßer Lapsus ist bei einem Autor unwahrscheinlich, der Blatt um Blatt beschrieb und verwarf, bevor er sich mit der Reinschrift zufrieden gab.6 Es lässt 4 Calderjn übernimmt den Namen aus Eustorgio y Clorilene. Historia Moscovica von Enrique Su#rez de Mendoza y Figueroa, einem Roman der 1629 in Madrid erschien. 5 Die Debatte unter Experten ist recht verwickelt, ich zitiere als Beispiel dafür eine persönliche Mitteilung von Don Cruickshank (26. 3. 2012): »It’s true that Astolfo calls Estrella’s mother Clorilene (line 521), and Basilio gives the same name for his wife (660). The first version of the play also has those names (or rather, it has ›Clorileme‹ at 660). But I’ve always assumed that this was a slip on Calderjn’s part (a Freudian slip, if you like…). As a further complication, the second use of the name involves one of the press-variants in the Primera parte: the Sorbonne copy reads ›Claribene‹ (which would knock the whole incest argument on the head, if correct), while the Vatican, Munich and BNP copies have ›Clroilene‹ [sic]. I don’t know the reading in the copy Pepe Ruano discovered in Rochegude, which is somewhere in the S of France. Back in 1973 (!) I concluded, from other press-correction evidence, that Clroilene was an attempted correction of Claribene. I could be wrong, but even if not, this is a slender foundation for a large edifice, although it’s quite true that Calderjn is interested in brother-sister incest.« 6 Metaliterarische Kommentare zum Prozess des Schreibens finden sich in mehreren Komödien Calderjns. S. Simon Kroll, »¿Cu#ntas versiones ofrece un autjgrafo? Las intervenciones de autor en el autjgrafo de El secreto a voces de Calderjn«, in: Hipogrifo 2.2 (2014), Don William Cruickshank, »Algunos hitos en la evolucijn de lo cjmico en Calderjn«, in: Anuario calderoniano 4 (2011), S. 99–116, hier S. 106–107.

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sich daher mit Maurice Molho oder Frederick de Armas vermuten, dass Calderjn mit der Namensgleichheit, vielleicht unbewusst, den Subtext einer Geschwisterliebe und verbotenen Beziehung einführte, deren Sprössling Segismundo ist.7 Sein Schicksal – vorgetäuschte Totgeburt seitens des Vaters, Gefangenschaft und Erziehung fern vom Hof und an einem geheimen Ort – käme dann nicht nur von den Sternen und der übermäßigen Sterndeuterei, sondern vom »Unglück« eines Inzests. Vielleicht rührt daher auch die Dramatik der Karriere am Hof: Segismundos Scheitern an dem, was die Etikette fordert, wie auch nicht?, er steht unter dem Einfluss von Rauschmitteln, seine erneute Verbannung und Gefangenschaft, die Usurpation der Herrschaft durch einen Aufstand des gemeinen Volkes. Spekulationen auf dünnem Boden? Möglich. Es ließe sich jedoch anführen, dass Calderjn im Drama und seinen Bezügen zu Orten und Namen der historischen Wirklichkeit nur andeutet, was in einem anderen Genre offen ausgesprochen ist, dem drama mitoljgico, welches Calderjns letzte Schaffensperiode bestimmt. Dort treffen wir auf Figuren, die das Unglück ihrer Geburt ausdrücklich mit dem Unglück ihrer Zeugung verbinden. Schlüsselmotive sind Ehebruch, Gewalt und Inzest. Betrachten wir etwa La hija del aire mit der Protagonistin Sem&ramis. Sem&ramis’ Mutter ist die Nymphe Arceta. Diese wird von einem nicht näher umrissenen Täter zur Liebe gezwungen, tötet ihn mit einem Dolch, bringt neun Monate später eine Tochter zur Welt, deren Geburt in der Wildnis und ohne Beistand Lucinas, Schutzgöttin der Gebärenden, der Mutter das Leben kostet: Semíramis

Desta especie de bastardo amor, de amor mal nacido fui concepto. ¿Cual ser# mi fin, si este es mi principio?8

7 S. Maurice Molho, Mitolog&as. Don Juan. Segismundo, Madrid 1993, S. 240–248, Frederick A. de Armas, »Papeles de Zafiro: Signos pol&tico-mitoljgicos en La vida es sueÇo«, in: Anuario calderoniano 2 (2009), S. 75–96, hier 85–86; Fausta Antonucci, »La vida es sueÇo, una obra cumbre del teatro europeo«, in: Pedro Calderjn de la Barca, La vida es sueÇo, hg. v. Fausta Antonucci, Barcelona 2008, S. 7–108. 8 Pedro Calderjn de la Barca, La hija del aire, hg. v. Francisco Ruiz Ramjn, Madrid 1998, S. 98, V. 831–834. Es würde lohnen, Bezüge in der Form genauer zu untersuchen. Sowohl Basilios als auch Sem&ramis’ Geburtserzählung sind in Romanzen abgefasst und assonieren auf &-o.

Geburt, Inzest, Endogamie und das Monströse im Werk Calderóns

3.

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Myrrha und Adonis

La pfflrpura de la rosa handelt von der Liebe zwischen Venus und Adonis,9 der Eifersucht des Kriegsgottes und dem unglücklichen Tod des Jünglings; dieser wird von einem Eber, dem die Rachegöttin Megäre ihren Furor leiht, aufgespießt. Der Beginn des Unglücks liegt wiederum in der Stunde der Geburt und in einem frevlerischen Beilager. Myrrha, die Mutter Adonis’, liebt ihren Vater Kinyras, Herrscher von Paphos, über das Maß hinaus, das einer Tochter zugestanden wird. Mit Hilfe der Amme überlistet sie den König, wird erkannt, nachdem die Tat vollzogen ist, vom Vater verstoßen und von den Göttern in einen Baum verwandelt, der »weinend« wohlriechende Myrrhe hervorbringt und auch den Sohn Adonis gebiert. Das in Blutschande empfangene Kind war unter der Rinde weitergewachsen und suchte einen Weg, die Mutter zu verlassen und sich zu befreien. Auf halber Höhe des Baumes verrät eine Schwellung den schwangeren Leib; unter ihrer Bürde leidet die Mutter, doch hat sie für ihren Schmerz keine Stimme und kann in ihren Wehen Lucina nicht rufen. Trotzdem scheint sie gebären zu wollen: es krümmt sich der Baum, lässt immer wieder ein Ächzen vernehmen und ist naß von strömenden Tränen. Endlich naht den gepeinigten Zweigen gütig Lucina, berührt sie mit den Händen und spricht entbindende Worte. Da öffnet sich der Baum und gibt durch die gespaltene Rinde die lebendige Bürde frei. […]10

Calderjn fasst diese Geburt so zusammen: Adónis

[n]ac& bastardo embrijn, maldecido de mis padres, y con tan gran maldicijn como que de un amor muera. Considere tu atencijn, si en mi horjscopo primero aborto de un tronco soy, si despu8s llevo tras m& el heredado temor de que de un amor muera, puedo no aborrecer al amor.11

In der Tragödie Los cabellos de Absaljn treffen sich Gewalt und Inzest, der Stoff kommt aus dem Alten Testament. Amjn, Sohn des Königs David, vergewaltigt 9 Das Paar findet sich auf Gemälden von Tizian, Paolo Veronese, Annibale Caracci oder Peter Paul Rubens. 10 Ovid, Metamorphosen. Lateinisch-deutsch, hg. v. Gerhard Fink, Düsseldorf/Zürich 1999, S. 289. 11 Pedro Calderjn de la Barca, La pfflrpura de la rosa, hg. v. Tom#s de Torrejjn y Velasco, Don Cruickshank, Martin Cunningham, Kassel 1990, S. 170, V. 620–630.

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seine Halbschwester Tamar, diese rächt sich mit Hilfe ihres Vollbruders Absaljn.12 Unglücksschwanger sind Calderjns Höhlen.13 Es sind Höhlen, in denen Gifte und schreckliche Visionen dräuen, oder in denen Monstren hausen, so die Grotte, in der das Ungetüm wohnt, dem Andromeda geopfert werden soll, um den Zorn der Göttin Venus und ihre Meernymphen zu besänftigen (Andrjmeda y Perseo). In La pfflrpura de la rosa dringt Mars in die Höhle der Eifersucht ein und sieht dort in einem Spiegel, eigentümlicher Effekt auf einer barocken Bühne, das Liebesspiel von Venus und Adonis. Die Höhle ist auch eng assoziiert mit dem Motiv der Geburt, immer wieder beschreibt Calderjn ein plötzliches Erscheinen, Auftreten, Hervorbrechen als parto, als aborto, als embrijn.14

4.

Das höfische Fest

In den letzten Jahrzehnten seines Lebens schrieb Calderjn für religiöse Feste und für den Hof der Habsburger ; sie zählte nicht mehr viele Mitglieder diese casa de Austria in ihrem spanischen Zweig: 1653 waren es Philipp IV., seine zweite Frau und Nichte Mariana de Austria, seine Tochter aus erster Ehe, Mar&a Teresa; eingeführt am Königshof und anerkannt als Königssohn war Juan Jos8 de Austria, er war vermutlich 1629 aus der Verbindung Felipes mit der Schauspielerin Mar&a Calderjn entsprungen. In dem Jahr wurde am Hof die F#bula de Andrjmeda y Perseo gegeben, wir kommen darauf zurück.15 1680 leitete Calderjn seine letzte Vorstellung in Madrid: Hado y Divisa de Leonido y Mafisa. In 12 S. zum Inzest-Motiv im Theater des Siglo de Oro Evangelina Rodr&guez Cuadros, »El incesto y el protagonismo femenino en el espacio de la tragedia: literatura, retjrica y escena«, in: F. Mundi Pedret (Hg.), Estudios sobre Calderjn y el teatro de la Edad de Oro. Homenaje a Kurt y Roswitha Reichenberger, Barcelona 1989, S. 369–391; Adri#n J. S#ez, »Entre el deseo y la voz de la sangre: aproximacijn al incesto en la comedia #urea«, en prensa. 13 Dazu genauer und inspiriert an Lacan Robert Folger, »Narciso: la econom&a de los g8neros en Calderjn y Sor Juana«, in: Manfred Tietz, Gero Arnscheidt (Hg. in Zusammenarbeit mit Beata Baczyn´ska), Calderjn y su escuela: variaciones e innovacijn de un modelo teatral. XV Coloquio Anglogermano sobre Calderjn, Wrocław, 14–18 de julio de 2008, Stuttgart 2011, S. 171–195. 14 Ruth Anthony zeigt in ihrer Studie, dass Geburt als Bildspender zahllose Metaphern in La vida es sueÇo fundiert, bis zum Ende, bis zu der Stelle, an der Basilio ausruft, durch nobles Handeln sei der Sohn in seinem (des Königs) Inneren ein zweites Mal gezeugt worden (s. Ruth Anthony, »Violante: The Place of Rejection«, in: Frederick A. de Armas (Hg.), The Prince in the Tower : Perceptions of La vida es sueÇo, Lewisburg 1993, S. 165–182). S. dazu auch und zum historisch-dynastischen Hintergrund von La vida es sueÇo Jing Xuan, Der König im Kontext. Subversion, Dialogizität und Ambivalenz im weltlichen Theater Calderjn de la Barcas, Heidelberg 2004, hier S. 171. 15 Pedro Calderjn de la Barca, Andrjmeda y Perseo, in: Ders., Comedias, VI, hg. v. Jos8 Mar&a ViÇa Lista, Madrid 2010, S. 19–155.

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dem Jahr lebten am spanischen Hof noch zwei Mitglieder der spanischen Habsburger : Mariana, die Witwe von Philipp IV. und ihr unglücklicher Sohn Carlos II. In Paris lebte Mar&a Teresa, nunmehr Königin von Frankreich und Gemahlin von Ludwig XIV., sie starb 1683. Man hat sich darüber gewundert, dass die Habsburger in jenen Jahrzehnten solche Neigung für die blutige Antike zeigten und überdies von den Poeten ausdrücklich mit den Helden dieser Erzählungen gleichgesetzt wurden.16 Blicken wir ein wenig genauer in das Leben der Menschen, für die Calderjn seine Verse und Bilder komponierte. Anlässe der Theaterfeste waren Hochzeiten, Geburtstage, Namenstage, die Erholung der Königin von den Windpocken, die Erholung der Königin von einer Fehlgeburt, das erste Erscheinen nach einer glücklichen Geburt, die Taufe eines Infanten oder einer Infantin, begleitet von Ballet, Feuerwerken, Tänzen und Wein, der umsonst aus Stadtbrunnen floss. Die Untertanen sollten, so die »Introduccijn y dedicatoria« zu Andrjmeda y Perseo,17 den Schmerz und die Freuden des Königshauses teilen. Wie nahe beisammen dolor und alborozo lagen, das ist heute nur mehr schwer vorstellbar und was damals »alltäglich« war, gilt heute als seltener Schicksalsschlag. Infantinnen und Infanten, deren Geburt eben noch Freudenfeste ausgelöst hatten, ruhten wenige Tage oder Wochen später im Pantheon des Escorial, die Spanne zwischen Freude und Trauer war sehr kurz. Mariana de Austria, nehmen wir ein Beispiel, brachte am 6. November 1661 den letzten spanischen Habsburger zur Welt, den späteren König Carlos II. Wenige Tage zuvor hatte sie ihren Sohn Felipe Prjspero verloren, er war am 1. November verstorben, noch keine vier Jahre alt. Auch aus den Briefen des Königs wird die Erschütterung durch diese Wechselfälle spürbar. Das mythologische Drama La pfflrpura de la rosa wurde 1660 aufgeführt, als die älteste Tochter Philipps IV. ihren Cousin, Ludwig XIV. von Frankreich heiratete. Die Verbindung war Vorbedingung für den mit Kardinal Mazarin ausgehandelten Pyrenäenfrieden gewesen. Mar&a Teresa und Ludwig XIV. waren double first cousins, so der Begriff der Kulturanthropologie für einen Grad der Verwandtschaft, der sich ergibt, wenn vier Kinder miteinander über Kreuz verheiratet werden und in der nächsten Generation erneut die Kinder dieser beiden Ehen. In unserem Fall heiratete zunächst Ana Mauricia de Austria, Schwester von Felipe IV., Ludwig XIII. von Frankreich und Isabel de Borbjn, Schwester von Ludwig, den Bruder Anas, den späteren König Felipe IV.18 Ana 16 S. Luis Iglesias Feijoo, Alejandra Ulla, »La violencia en las fiestas mitoljgicas de Calderjn«, in: Manfred Tietz, Gero Arnscheidt (Hg.), Actas del Coloquio Anglogermano sobre Calderjn (Utrecht 2011) »Calderjn y la violencia«, Vigo 2014, S. 318–321. 17 Calderjn, Andrjmeda, S. 21. 18 Ausführlich zu Eheschließungen unter Verwandten im Spanien des Mittelalters und der Frühen Neuzeit und dem nachlassenden Druck kirchlicher Verbote Michael Mitterauer,

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und Ludwig waren in der Folge die Eltern von Ludwig XIV., Felipe und Isabel diejenigen von Mar&a Teresa. Die genetische Affinität dieser beiden Kinder, die wiederum zusammenfinden mussten, war gleich wie bei leiblichen Geschwistern, (sofern wir nicht bezweifeln, dass die königlichen Väter auch die leiblichen waren). Sah der Hof, sahen die Habsburger, solche ehelichen Gemeinschaften als inzestuöse an? Oder sahen sie sich als Bewahrer und Träger reinsten Blutes als berechtigt, ja verpflichtet, solche zu schließen, abgesehen einmal von politischen Interessen? Das Konzil von Trient nahm die großen Fürstenhäuser vom Verbot der Verwandtenehen aus19, der Papst erteilte Dispens gegen entsprechende Zahlungen.20 Auch das Theater berührt die Frage möglicher Heirat unter Verwandten: So bittet Tamar, wir verwiesen schon auf diese Tochter des Königs David, ihren Bruder Amjn, beim Vater David um ihre Hand anzuhalten, denn das Gesetz der Hebräer erlaube die Heirat von Halbgeschwistern. Die Stelle findet sich in Los cabellos de Absaljn, die wir bereits erwähnt haben.21 Juan Jos8 de Austria wurde 1642 von Philipp IV. als Sohn anerkannt und an den Hof geholt. Als Feldherr in Katalonien und bei der Niederschlagung des Aufstands von Neapel, erlangte er Ansehen, in Flandern und beim Versuch, Portugal nach 1640 wieder für die spanische Krone zurückzuerobern, blieb er erfolglos. Von seinem Leben am Hofe wird folgende Begebenheit berichtet: Juan Jos8 malte eigenhändig ein Bildchen, auf dem er sich selbst als Jupiter darstellte, seine Halbschwester Margarita Teresa als Juno, dem gemeinsamen Vater war folglich die Gleichsetzung mit Saturn beschieden. Tatsächlich hielt Juan Jos8 eine Hochzeit mit seiner Halbschwester für möglich. Dem König ging das zu weit, er verwehrte zürnend dem Vermessenen den Zutritt an sein Sterbebett22. Das war im Jahr 1665. Schon zwölf Jahre zuvor, im Jahr 1653, hatte man am Hof das Stück Andrjmeda y Perseo aufgeführt und Calderjn darin versucht, die Position des

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»›Spanische Heiraten‹. Dynastische Endogamie im Kontext konsanguiner Ehestrategien«, in: Ders., Historische Verwandtschaftsforschung, Wien/Köln/Weimar 2013, S. 158–200. Margareth Lanzinger, »Verwandtschaftskonzepte und Eheverbote, Verwandtenheiraten und Ehedispensen. Katholische Norm und Praxis«, in: Historische Sozialkunde 2/2011, S. 17–33, hier S. 19. Das Theater und die Zeitgenossen feierten die Verbindungen zwischen Graz, Wien und Madrid, Calderjn etwa in den Komödien Mejor est# que estaba oder Gu#rdate del agua mansa. Forscht man gründlicher, so fehlen auch nicht die Warnungen vor der Folgen solcher Heiraten. Auch in der spanischen Literatur finden sich skeptische Kommentare, allerdings wenige. Die allermeisten Stücke, die an Fürstenhöfen spielen, präsentieren die Verheiratung von Cousins oder auch von Onkel und Nichte als üblich und angemessen. Und doch heißt Hamlet im selben Zeitalter seinen Onkel einen »incestuous, murderous, damned Dane«. Pedro Calderjn de la Barca, Los cabellos de Absaljn, hg. v. Evangelina Rodr&guez Cuadros, Madrid 1989, S. 176, V. 963–965. S. Margaret R. Greer, »Los reflejos del poder : Eco y Narciso«, in: Anuario calderoniano, Vol. extra 1, 2013: Fiestas calderonianas, hg. v. Alejandra Ulla Lorenzo, Madrid/Frankfurt am Main, 2013, S. 203.

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illegitimen Sohnes am Hof zu bestimmen. Held ist Perseus, Sohn Jupiters und Danaes. Perseus weiß nicht um seine göttliche Abstammung, erst ein Traum, der Gold auf die Bühne regnen lässt, eröffnet sie ihm. Würdiger Sohn seines Vaters wird Perseus erst, als er das Monstrum besiegt, das die Insel Trinacria plagt und dem Andromeda geopfert werden soll. Die Analogie zwischen dem illegitimen Sohn und der Erzählung aus der Antike wird niemandem am Hofe entgangen sein, umso mehr, als er erfolgreich gegen die Rebellionen in Katalonien und Neapel gekämpft hatte.23 Überdies war er in dem Jahr genauso alt wie ein berühmter Vorfahre, der ebenfalls im Bett einer Maitresse gezeugt worden war. Juan Jos8s Urgroßonkel Juan de Austria, Sohn des Kaisers Karl V., war 24 Jahre alt, als er 1571 die osmanischen Soldaten und Schlachtschiffe bei Lepanto besiegte.24 1653 spricht nun der Schlusschor von Andrjmeda y Perseo die Heldentaten Juan Jos8s an: Todos

¡Viva, viva la gala del gran Perseo que, de Jfflpiter hijo, merece serlo, cuando a padre tan grande ponen sus hechos, con dos monstruos vencidos, en paz dos reinos!25

Zu der Zeit war der Sohn von Philipp IV. bereits Teil der Hofgesellschaft. Doch seine Stellung blieb immer unbestimmt und volle Anerkennung des großen Hauses erfuhr er nie. Um 1670 schrieb Kaiser Leopold I., der zwischenzeitlich seine spanische Nichte geheiratet hatte, an den Botschafter im Madrid, Graf Pötting: Die Kaiserin [Margarita] thuet ihm auch schreiben, aber lateinisch und eben auf Weis und Manier als ich und hoffe ich, Don Juan werde es nicht übel aufnehmen, indeme die regula iuris klar ist, quod uxor sequatur forum mariti, und also die Kaiserin sich nit [hispanici] sondern des Kaisers styli bedienen thuet, und wird ihm doch der parentesco geben, indeme sie ihn consanguineum nennt, dann mit der Bruderschaft hat es andere Absätz und wollte ich nit gern introduciren, dass man solche Junker vor Brüder erkennen solle.26 23 S. dazu Adolfo de Castro y Rossi, Discurso acerca de las costumbres pfflblicas y privadas de los espaÇoles en el siglo XVII fundado en el estudio de las comedias de Calderjn, Madrid 1881, S. 48. 24 S. Die Habsburger. Ein biographisches Lexikon, hg. v. Brigitte Hamann, Wien 1988, S. 197–198. 25 Calderjn, Andrjmeda, S. 154. 26 Kaiser Leopold I., Privatbriefe Kaiser Leopold I. an den Grafen F.E. Pötting. 1662–1673, hg. v. Alfred Francis Pribram, Moritz Landwehr von Pragenau, Wien 1903, S. 295. Es wäre lohnend, Kommentare zum Thema in den Komödien der Zeit zusammenzutragen. Im vermutlich ersten Stück von Calderjn, La selva confusa, verteidigt etwa der »Bastard« Fadrique seine noble Geburt durch den Hinweis auf Pferdezucht, der Hengst sei es, der seine Natur vererbe (Calderjn de la Barca, La selva confusa, hg. v. Erik Coenen, Kassel 2011, S. 81, V. 196–197).

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Und ein Chronist der Zeit vermerkt: D. Juan, nacido como el alba de los esplendores del sol y las sombras de la noche, volvij # nacer segunda vez # la edad de trece aÇos [im Jahr 1642] en la declaracijn de su padre con casa y circunstancias reales todas; y cuando no llamemos este segundo nacimiento monstruosidad pol&tica, podemos por lo m8nos juzgarle nacido con una nueva naturaleza indefinible, pues con la declaracion ilustre en que le pusieron, ni nacij Rey, ni Pr&ncipe, ni Infante, ni al parecer vasallo, sino en una postura subextraÇa, peligrosa # la monarqu&a 8 infeliz a su persona.27

Juan Carlos galt als Monstrum in sozialer und dynastischer Hinsicht, als Verbindung von Elementen, die sich nicht zum harmonischen Ganzen zusammenfügten. Monstrum trug im Barock auch die Bedeutung des »Gezeigten«, des außergewöhnlichen Phänomens, das Schrecken und Staunen auslösen sollte und Träger einer Botschaft war.28 Hier liegt auch ein Grund dafür, dass Menschen mit außergewöhnlichen körperlichen Merkmalen am Hofe lebten, um die Königsfamilie zu unterhalten. Ihre beispielhafte Deformation und Hässlichkeit sollte mit Glanz und Würde der königlichen Figuren kontrastieren. Es entbehrt nicht der Ironie, dass Carlos II., Sohn Felipes und seiner Nichte Mariana de Austria, von seiner körperlichen Erscheinung und, wenn wir Berichten glauben, auch von seinen Gebärden her, durchaus in das Gewand eines grotesken Hofnarren gepasst hätte.

5.

Schluss und ein Blick nach Frankreich

Was ist das Theater Calderjns? – Rechtfertigung der Gegenwart durch Abgleichen mit dem Mythos? – Ein Versuch, die Alpträume einer eisernen Zeit ästhetisch zu überhöhen? – Auseinandersetzung mit den Folgen des unerbittlichen Anspruchs auf Machterhalt einer Dynastie? – Versteckte Ermahnung und Warnung, die sich der Dichter erlauben konnte, sofern er die Gegenwart in den fernen Spiegel der Mythologie verlegte? – Darstellung einer irrwitzigen Zeit, aus der uns Könige, Infantinnen und Prinzen, gefangen im Netz ihrer Deutungen und Rollen, nur als besonders 27 Mariano Tom#s, Menor edad de Carlos II, in: Coleccijn de documentos in8ditos par la historia de EspaÇa, t. 67, Madrid 1877, S. 3–68, hier S. 54. 28 S. Folke Gernert, »La devocijn de la Cruz desde la fisiognom&a. La violencia de Eusebio entre predeterminacijn y libre albedr&o«, in: Actas del Coloquio Anglogermano sobre Calderjn (Utrecht 2011) »Calderjn y la violencia«, Vigo 2014, S. 229–250 und Folke Gernert, »Relaciones de sucesos monstruosos y las Histoires prodigieuses de Pierre de Boaistuau«, in: Pedro M. C#tedra, Mar&a Eugenia D&az Tena (Hg.), G8neros editoriales y relaciones de sucesos en la Edad Moderna, Salamanca 2013, S. 191–209.

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anschauliche Fälle entgegentreten? Ihre Schicksale berühren besonders, weil sich Prunk und Glanz einerseits, Krankheit, Dekadenz und Tod andererseits, besonders scharf voneinander abheben. Damit sehen wir auf den Bühnen Calderjns aber auch extreme Möglichkeiten der conditio humana. Was die Ausdruckskraft der Bilder und Symbole anlangt und die Tiefe der Auseinandersetzung mit anthropologischen Konstanten, scheint mir das Theater Calderjns dem der französischen Zeitgenossen überlegen zu sein. Auch Corneille und Racine schreiben über Inzest, Gewalt und Ehebruch, in Heraclius, in Rodogune, in Mithridate oder Oedipe. Aber Dramatik und Agon ereignen sich im Feld des Sprechens und Debattierens, im Logos. In Oedipe von Corneille ist das Inzestmotiv von dem der Liebe zwischen Th8s8e und Dirc8e in den Hintergrund gedrängt. Rodogune und Heraclius führen das Motiv der Geburt ein; Geburt ist jedoch nicht dargestellt als tragische Geburt eines »Monstrums«, das im Labyrinth der Welt scheitert (oder beinahe scheitert), wie in so vielen Werken Calderjns, sondern Anlass für Täuschung und Geheimhaltung. So rettet in Heraclius die Amme dem verratenen Königssohn das Leben, indem sie ihn gegen ihr eigenes Kind vertauscht. Es fehlt die Symbolik des Blutes, der Sonnenfinsternis, des kosmischen Fieberwahns, der von menschlicher Viper zerrissene Körper der Mutter. Die Heroen Corneilles reihen Alexandriner an Alexandriner, um dabei den Wettstreit zwischen Brüdern, den Gehorsam der Prinzessin gegenüber der Königin, die Rachsucht der Königin gegen die Geliebte des Königs zu erörtern. Calderjns Figuren dagegen rufen dunkle Traumbilder auf die Bühne, Monster, die der Schlaf der Vernunft hervorbringt oder wer weiß, das Wachen tieferer Weisheit.

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Die Groteske als aufklärerisches Programm in Francisco de Goyas Capricho 4

Die 80 Radierungen mit dem Titel Caprichos, die Francisco de Goya im Jahre 1799 in Madrid zum öffentlichen Verkauf anbot, aber nach kurzer Zeit auf Druck der Inquisition zurückzog, wurden dennoch unter der Hand verkauft und auf diese Weise auch in Paris im Kreise der Romantiker bekannt. So spielten die Caprichos in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts insbesondere auf die Herausbildung der romantischen Ästhetik in Frankreich einen nicht zu unterschätzenden Einfluss aus. Für die Generation der Romantiker, für die Schriftsteller ebenso wie für die bildenden Künstler, entsprach Goyas graphisches Werk den neuen ästhetischen Prämissen, die Victor Hugo (1802–1885) in seiner programmatischen Pr8face de Cromwell (Vorwort zu Cromwell) von 1827 formuliert hatte, insbesondere die Verbindung des Grotesken mit dem Sublimen, die man in Goyas Radierungen in der Konfrontation von extrem gegensätzlichen Aspekten erkannte. Obwohl insbesondere Goyas Caprichos seit der französischen Romantik als grotesk bezeichnet werden, ist keine der 80 Radierungen unter diesem Aspekt je einmal systematisch befragt und analysiert worden, und selbst in den Standardwerken zur Begriffsbestimmung, Ästhetik und Geschichte der Groteske taucht Goyas Name keineswegs immer auf. Heinrich Schneegans (1863–1914), der all die Dinge, die »amüsant und merkwürdig«1 erscheinen, unter der Groteske subsumiert, sucht seine Beispiele in der Literatur, vor allem bei FranÅois Rabelais oder Th8ophile Gautier, und erwähnt Goya kein einziges Mal.2 Dagegen nimmt Wolfgang Kayser (1906–1960) in seinem 1957 veröffentlichten Buch Das Groteske. Seine Gestalt in Malerei und Dichtung immer wieder Bezug auf Goya, indem er ihn namentlich nennt, ohne aber eines seiner Werke genauer zu untersuchen. Er geht nur kurz auf Goyas Radierung Desastres de la Guerra 71 (Contra el bien general) ein, wobei es ihm um die phantastische Deformierung des in einem Buch lesenden Mannes durch Animalisierung geht, die im Kontrast 1 Heinrich Schneegans, Geschichte der Grotesken Satire, Straßburg 1894, S. 10. 2 Zu Schneegans’ Begriff des Grotesken vgl. Peter Fuß, Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 65–69.

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zur realistischen Darstellung der vom Elend und den schlimmen Folgen des Kriegs geplagten Menschen im Hintergrund steht.3 Goyas Zyklus Desastres de la Guerra hält Kayser für »weithin tendenziös«, doch: »Seine eigentliche Tiefe aber bekommt er, wie wir meinen, erst durch die – in völlig verschiedenem Maße wirksame – groteske Perspektive«4. Immerhin eröffnet Kayser mit Goya und anderen Malern der Forschung zur Groteske eine intermediale Perspektivierung, ging doch der Begriff der Groteske in der italienischen Renaissance zunächst von der Malerei aus, nämlich von den um 1480 in Rom durchgeführten Ausgrabungen in Neros Palast (Domus Aurea), auf dessen Gewölben, die wie eine sonderbare Höhle (grotta) wirkten, eine ungewöhnliche, arabeskenhafte Ornamentik entdeckt wurde, eine Mischung aus Mensch, Tier und Pflanze.5 Wie Schneegans konzentriert sich Michail Bachtin (1895–1975) in seinem 1965 erschienenen Buch Rabelais und seine Welt, das als weiteres Standardwerk der Forschung zur Groteske gilt, wiederum nur auf die Literatur und ebenfalls speziell auf Rabelais, ohne Rekurs auf Goya.6 Bachtin betont die subversive, beängstigende Funktion der Groteske, vor allem als deformierte Körperlichkeit.7 Auch in der 2001 erschienenen Studie Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels von Peter Fuß wird Goya nicht genannt. Fuß sieht die Groteske als »ein Medium der Transformation kultureller Formationen«8, als »Produkt der Dekomposition symbolisch kultureller Ordnungsstrukturen sowie der Permutation und modifizierten Rekombination der im Zuge dieser Dekomposition freigesetzten Elemente«9.

1.

Capricho 4 (El de la rollona) als groteske Radierung

Wenn dasjenige als grotesk gilt, was fremdartig, deformiert, possenhaft ist, was außerhalb des Regulären und Normalen steht, aber dennoch eine große Faszination auf den Betrachter ausübt, so gilt dies sicherlich für Capricho 4 als eines 3 Vgl. Wolfgang Kayser, Das Groteske. Seine Gestalt in Malerei und Dichtung, Oldenburg 1957, S. 18–19. 4 Kayser, Das Groteske, S. 208, Anm. 15. 5 Vgl. Dorothea Scholl, Von den ›Grottesken‹ zum Grotesken. Die Konstituierung einer Poetik des Grotesken in der italienischen Renaissance, Münster 2000, S. 15 und 65–127. 6 Vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt am Main 1995. 7 Zu Bachtins Begriff der Groteske vgl. Scholl, Von den ›Grottesken‹ zum Grotesken, S. 24–28. Fuß, Das Groteske, S. 74–80. Elisheva Rosen, »Grotesk«, in: Karlheinz Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, 2. Bd., Stuttgart/Weimar 2001, S. 879. 8 Fuß, Das Groteske, S. 13. 9 Ebd.

Die Groteske als aufklärerisches Programm in Francisco de Goyas Capricho 4

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der ersten Blätter der Caprichos. Es wirkt schon auf den ersten Blick befremdlich, obwohl es eine einfache Struktur aufzuweisen scheint, die leicht zu überblicken ist, und tatsächlich handelt es sich, entgegen dem ersten Anschein von Simplizität, um ein von extremen Gegensätzen geprägtes Blatt, das auch inhaltlich eine komplexe Tiefenstruktur aufweist und viele Lesarten erlaubt.

Abbildung 1: Francisco de Goya: Capricho 4

In einem undefinierten, undefinierbaren, nach allen vier Seiten offenen Raum sieht man im Vordergrund zwei Personen und im Hintergrund zwei Objekte, von denen das vordere ein Korb zu sein scheint. Ein nach vorne strebender bärtiger Mann in der Kleidung eines Kindes, mit einer merkwürdigen Kopfbedeckung, wird von einem anderen Mann an zwei Gängelbändern in die Gegenrichtung gezogen. Beide stemmen sich einander entgegen, da jeder von ihnen in die entgegengesetzte Richtung laufen will, in die der andere strebt. Der Bärtige steckt wie ein Kleinkind seine Finger in den Mund; um die Taille trägt er einen breiten Gürtel,

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an dem einige merkwürdige Dinge festgemacht sind, die daran herabhängen. Die Bildlegende lautet »El de la rollona«. Welche Bedeutung diese Radierung samt Bildlegende hat und was sie so grotesk erscheinen lässt, erschließt sich sicherlich nicht auf den ersten Blick und ohne Kontextwissen, und bereits die ersten französischen Kommentatoren der Caprichos im 19. Jahrhundert beschreiben zwar die Radierung, geben aber offen zu, dass sie nicht wissen und verstehen, um welches Thema es hier geht. EugHne Piot (1812–1890), der Verfasser des ersten Goya-Werkkatalogs von 1842, schreibt: »Nous n’avons pas la clef de cette caricature«10 (Uns fehlt der Schlüssel für diese Karikatur), und Pierre-Gustave Brunet (1805–1896), der 1865 eine der ersten Monographien über Goya veröffentlichte, vermutet: »Il y a l/ quelque allusion insaisissable aujourd’hui«11 (Darin enthalten ist irgendeine heute nicht mehr verständliche Anspielung). Danach sind in der Goya-Forschung viele kontextuelle Informationen über die Radierung zusammengetragen worden, doch eine Gesamtdeutung des Blattes ist bisher nicht zustande gekommen.12 Zu Capricho 4 ist eine Vorzeichnung erhalten, auf der die beiden Gestalten, bis auf wenige Details, schon so strukturiert und platziert sind wie in der Radierung.13 Außer der Vorzeichnung sind noch drei Probedrucke bekannt.

2.

Die Bildlegende El de la rollona

Geklärt werden muss zunächst, was die Bildlegende »El de la rollona« bedeutet. Sie war keineswegs die ursprüngliche, denn die Kommentierung des Probedrucks [KP04a] lautet »Que Bruto Soy« (Was für ein Flegel ich doch bin). Dies lässt sich als Äußerung des auf Capricho 4 abgebildeten Erwachsenen deuten, der sich wie ein Kind verhält. In diesem Fall muss man von einer reflektierten Aussage ausgehen, was bedeutet, dass sich der Erwachsene bewusst und in hinterhältiger Weise dazu entschieden hat, Kind zu bleiben, um die Vorzüge des Kindseins 10 EugHne Piot, »Catalogue raisonn8 de l’œuvre grav8 de Francisco Goya«, in: Le Cabinet de l’amateur 1 (1842), S. 347–355, hier S. 347. 11 Pierre-Gustave Brunet, Ptude sur Francisco Goya. Sa vie et ses travaux. Notice biographique et artistique accompagn8e de photographies d’aprHs les compositions de ce ma%tre, Paris 1865, S. 31. 12 Zu Capricho 4 vgl. Roberto Alcal# Flecha, »El tema del niÇo malcriado en el Capricho 4, El de la Rollona, de Goya«, in: Goya. Revista de Arte 198 (1987), S. 340–345. Jos8 Manuel B. Ljpez V#zquez, »La necesidad de educacijn y su importancia en los niÇos y jjvenes en Los Caprichos de Goya«, in: Homenaje a Jos8 Garc&a Oro, Edicijn a cargo de Miguel Roman& Mart&nez, Mar&a ]ngeles Novoa Gjmez, Santiago de Compostela 2002, S. 475–492. 13 Vgl. Javier Blas, Jos8 Manuel Matilla, Jos8 Miguel Medrano (Hg.), El libro de los Caprichos. Francisco de Goya. Dos siglos de interpretaciones (1799–1999). Cat#logo de los dibujos, pruebas de estado, l#minas de cobre y estampas de la primera edicijn, Madrid 1999, S. 73, Abb.

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Abbildung 2: Francisco de Goya: Vorzeichnung zu Capricho 4

genießen und ausnutzen zu können. Erst in den beiden weiteren Probedrucken erscheint dann die Bildlegende, die sich in der Endfassung findet, nämlich im kommentierten Probedruck [KP04b] in der orthographischen Variante »El de la Royona«, die der Aussprache des Worts Rollona entspricht, und im kommentierten Probedruck [KP04c] »El de la Rollona«, wobei hier ebenfalls, jedoch anders als in der Endfassung, das Wort rollona groß geschrieben wird. Tatsächlich handelt es sich hierbei um eine sprichwörtliche Wendung, die sich bereits im Siglo de Oro nachweisen lässt. Sebasti#n de Covarrubias Horozco zitiert im Tesoro de la lengua castellana o espaÇola von 1674 das Sprichwort: »El niÇo de la Rollona, que ten&a siete aÇos y mamaba« (Das Kind der Rollona, das sieben Jahre alt war und säugte), und ergänzt: »hay algunos muchachos tan regalones que con ser grandes no saben desasirse del regazo de sus madres; salen estos grandes tontos o grandes bellacos viciosos«14 (es gibt einige so verwöhnte 14 Sebasti#n de Covarrubias Horozco, Tesoro de la lengua castellana o espaÇola, Edicijn in-

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Jungen, dass sie sich, obwohl sie groß sind, nicht vom Schoß ihrer Mütter lösen können; diese werden zu großen Dummköpfen oder großen lasterhaften Schuften). Mit der Rollona ist in der Regel nicht die Mutter, sondern die Amme oder das Kindermädchen gemeint. In der Erstausgabe des Akademiewörterbuchs findet sich zum Begriff Rollona folgender Eintrag im dritten Band von 1737: ROLLONA. adj. que se aplica en estilo festivo # la muger rolliza y fuerte: y solo tiene uso en la phrase el NiÇo de la Rollona.15 ROLLONA, Adjektiv, das man in scherzhafter Weise für eine pummelige und dralle Frau verwendet: und es wird nur gebraucht in der Wendung das Kind der Rollona.

Demnach wurde das von einem Kindermädchen, einer Kinderfrau oder Amme betreute und verhätschelte Kind als »NiÇo de la Rollona« oder »El de la Rollona« bezeichnet. Als Übersetzung der Bildlegende von Capricho 4 »El de la rollona« bietet sich also im Deutschen an: Das vom Kindermädchen oder Das Kind vom Kindermädchen. Sehr verbreitet war das Motiv im spanischen Theater des 17. und 18. Jahrhunderts, vor allem in den kurzen Theaterformen der farcenhaften Maskenspiele und Zwischenspiele (mojiganga, entrem8s oder sainete).16 In einigen Stücken taucht der Begriff Rollona sogar im Titel auf. El de la Rollona zeichnet sich durch seine Größe und meist durch Gefräßigkeit aus.17 Es ermangelt jeglicher Erziehung, weil es nur verzogen wurde. In dem anonymen, 1720 erschienenen Sainete del NiÇo de la Rollona werden eigens die Gängelbänder genannt, in einer Regieanweisung, die in frappanter Weise Goyas Darstellung in Capricho 4 entspricht: »La NiÇa ser# un hombrjn con colores en la cara, unas sayas y un mandil y lo traer# una mujer de los andadores, y el NiÇo tambi8n ser# otro hombre y lo traer# una mujer rid&culamente«18 (Das Mädchen soll ein grobschlächtiger Kerl mit einem bunt bemalten Gesicht sein, einem Kleiderrock und einer Schürze, und eine Frau soll ihn mit Gängelbändern ziehen, und der Junge soll ebenfalls ein Mann sein und ihn soll eine Frau auf lächerliche Weise ziehen).

tegral e ilustrada de Ignacio Arrelano y Rafael Zafra, Madrid 2006, S. 1313. 15 Diccionario de la lengua castellana, 3. Bd., Madrid 1737, S. 634. 16 Vgl. Christiane Faliu-Lacourt, »El NiÇo de la Rollona«, in: Criticjn 51 (1991), S. 51–56. Catalina Buezo, »El niÇo rid&culo en el teatro breve, plasmacijn dram#tica de una pr#ctica festiva«, in: Criticjn 56 (1992), S. 161–178. 17 Vgl. Catalina Buezo (Hg.), La mojiganga dram#tica: de la fiesta al teatro. II. Edicijn, Kassel 2005, S. 149. 18 Ebd., S. 53.

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3.

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Die strukturelle Groteske

Capricho 4 wirkt schon aufgrund der befremdlichen Hauptfigur irritierend, doch ein genauerer Blick auf die strukturellen Parameter und die Proportionen des Bildes lässt es geradezu als strukturelle Groteske erscheinen. Claudette D8rozier, die 1973 erstmals die Struktur von Capricho 4 untersucht hat, weist darauf hin, dass die beiden Gestalten nicht einmal die Hälfte des Bildraumes ausfüllen, der zum größten Teil vom Schwarz der Aquatinta angefüllt ist und in dem jegliche Orientierungsmöglichkeit fehlt, die sie zu der Frage veranlasst: »OF sommes-nous?«19 (Wo befinden wir uns?). Der Erwachsene in Kinderkleidung befindet sich »dans un 8quilibre pr8caire« (in einem labilen Gleichgewicht), obgleich festgebunden an den Schultern des Dieners: »L’oblique de son corps est suspendue au-dessus du n8ant represent8 par l’horizontale avec laquelle elle est constamment sur le point de se confondre, si ce n’8tait la force contraire des deux obliques des bretelles parallHles qui la retiennent dans ce d8s8quilibre permanent, sans toutefois lui communiquer le moindre mouvement; ce sont deux forces qui s’annulent; […]«20 (Die schräge Lage seines Körpers wird über dem Nichts festgehalten, das von der Horizontalen repräsentiert wird, in die überzugehen sie ständig im Begriff steht, wenn da nicht die Gegenkraft der beiden schrägen parallelen Bänder wäre, die die Gestalt in einem permanenten Ungleichgewicht halten, ohne ihr jedoch die geringste Bewegung zu gestatten; dies sind zwei Kräfte, die sich gegenseitig aufheben; […]). Werner Busch kommt in seiner Strukturanalyse von 1986 zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie D8rozier, weist aber darüber hinaus darauf hin, dass in Capricho 4 ein Bruch mit der traditionellen Zentralperspektive vollzogen wurde, da die Gängelbänder so platziert sind, dass es so scheint, als wären sie am Henkelkorb befestigt, und überhaupt Objekte und Subjekte in ungewöhnlichen Abständen und Perspektiven zueinander gestellt worden sind: Im Vordergrund sehen wird das garstige, viel zu groß geratene Kind, das extrem, fast in einem Winkel von 45o zur linken Seite geneigt ist und dennoch nicht umzufallen scheint. […] Hinter dem Kind, von ihm halb verdeckt, erscheint eine andere, wohl erwachsene Figur in Gegenrichtung geneigt, sie scheint an zwei über die Schulter gelegten Stricken etwas zu ziehen. Man könnte den Eindruck gewinnen – und offenbar ist auf das Erzielen dieses Eindrucks auch Wert gelegt –, daß diese Figur das Kind, das sich dagegen sträubt, zieht und so in der Schräglage hält. Doch das kann nicht sein, die zweite Figur ist räumlich um einiges hinter dem Kind zu denken. Sie scheint sich noch hinter einem großen Topf, offenbar einem überdimensionalen Breitopf zu befinden, auf 19 Claudette D8rozier, »Essai d’approche des Caprices de Goya par l’analyse formelle (signification des fonds et des d8cors)«, in: Hommage / Georges Fourrier, Paris 1973, S. 141–152, hier S. 146. 20 Ebd.

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den sich nun wieder das Kind mit seinen Ellenbogen zu stützen scheint, optisch so in seiner seltsamen Schräglage festgehalten. Aber auch das ist in Wirklichkeit unmöglich; der Topf befindet sich eindeutig hinter dem Kind. Optisch wird die Verankerung des Ganzen, die gewaltsamen Stillstand zu bewirken scheint, erreicht durch die in gleichem Winkel sich vollziehende Neigung der beiden Figuren. Der obere Rand des Topfes bildet dazu die Waagerechte. Der Schnittpunkt dieser drei Bewegungsrichtungen liegt genau im Ellbogen des extrem hellen linken Armes des Kindes. Die Beleuchtung ist höchst sonderbar : Kopfschmuck, Gesicht und die beiden entblößten Unterarme des Kindes sowie der Rock der zweiten Person zeigen verschiedene Abstufungen von Grau zu Weiß, alles andere verschwindet im Dunkel. Dreiviertel des ganzen Blattes überzieht dieses Dunkel, das auf den Personen lastet und in deutlichem Gegensatz zu den wenigen Helligkeitswerten steht. Die Dunkelpartien liefert die Aquatintatechnik, die Detailzeichnung besorgt die Radierung. Der beunruhigende Eindruck des Ganzen entsteht dadurch, daß die Beziehung der sichtbaren Gegenstände zueinander völlig unklar bleibt, andererseits diese Gegenstände fo[r]mal sehr eng verzahnt sind. […] Entscheidend ist, daß wir durch die formale Verklammerung die Gegenstände in Beziehungen zu sehen vermeinen, die sie in Wirklichkeit nicht haben können. […] Körper- und Raumerfahrungen sind außerordentlich verunsichert, wir finden uns nicht mehr zurecht. Und diese optisch erfahrene Verunsicherung projizieren wir unmittelbar auf den gezeigten Gegenstand. Also nicht mehr das garstige Kind als abschreckendes Beispiel für Erziehungsversäumnisse ist das eigentliche Thema, sondern das Thema wird durch die Ausdrucksqualität des gesamten Blattes gegeben; […] Das transformierte Thema ließe sich hier etwa bestimmen als »Besinnungsloses Widerstreben«. Damit ist das vorgegebene Thema keineswegs verzichtbar, erst die Transformation des Konventionellen legt die Dimension des Psychischen frei. Nur so werden die von Goya im Geiste gesehenen Formen und Gebärden auch anschaulich, wird die Realität des Irrealen sichtbar. Die einzelne Linie ist zugleich gegenstandbezeichnend wie auch Ausdrucksträger im Rahmen autonomer Formgebilde, sie gewinnt Doppelfunktion.21

Für meine eigene Strukturanalyse von Capricho 4, die im Folgenden durchgeführt werden soll, gehe ich von den diagonalen Kräften aus, die von den beiden antagonistischen Gestalten ausgehen, von denen diejenige im Vordergrund nach links, diejenige im Hintergrund nach rechts strebt. Im Gegensatz zu Capricho 43, in dem der linke Bildrand (zumindest im unteren Teil aufgrund der viereckigen Schriftplatte vor dem Arbeitstisch des schlafenden Künstlers) eine Orientierung bietet,22 ist Capricho 4 in alle Richtungen offen, unbegrenzt, grenzenlos, so dass weder der untere und obere Rand noch die seitlichen Ränder eine Orientie21 Werner Busch, »Goya und die Tradition des capriccio«, in: Max Imdahl (Hg.), Wie eindeutig ist ein Kunstwerk?, Köln 1986, S. 41–73 und 172–174, hier S. 62–63. 22 Vgl. Helmut C. Jacobs, Der Schlaf der Vernunft – Goyas ›Capricho 43‹ in Bildkunst, Literatur und Musik, Basel 2006, S. 43. Ders. »El sueÇo de la razjn. El ›Capricho 43‹ de Goya en el arte visual, la literatura y la mfflsica«, Traduccijn de Beatriz Gal#n Echevarr&a y de Helmut C. Jacobs, Madrid 2011, S. 36–37.

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rungsmöglichkeit bieten würden. Dies gilt auch für den dunklen Hintergrund, der ebenfalls keine Möglichkeit bietet, sich zu orientieren, im Unterschied zur Vorzeichnung zu Capricho 4, auf der der Hintergrund durch eine senkrechte Linie, die fast in der Mittelachse des Bildes liegt, zweigeteilt ist, links in einen etwas größeren, aufgrund von Schraffierungen dunkleren Bereich, rechts in einen etwas schmaleren hellen Bereich. Bereits in der Vorzeichnung ist der Boden ebenso undeterminiert wie in der Radierung. Auch der Schatten rechts neben den beiden Personen ist hier schon vorhanden. Doch Capricho 4 ist nicht nur nach allen Seiten hin offen, auch die Gesetze der Zentralperspektive sind – wie Busch gezeigt hat – offensichtlich außer Kraft gesetzt, was an der Lage der Gängelbänder offensichtlich wird, deren Diagonalität so verschoben ist, dass man den Eindruck gewinnt, nicht der als Kind gekleidete Erwachsene, sondern der Henkelkorb werde gezogen, dessen Lage sich zudem im Verhältnis zu den beiden Personen auch nicht genau bestimmen lässt. Die abgebildeten Personen und Objekte wirken wie willkürlich hingestellt, da die Relationen zwischen ihnen nicht den Parametern der akademischen Zentralperspektive entsprechen. Goya bricht hier bewusst traditionelle Sehgewohnheiten auf und irritiert den Blick durch ungewöhnliche Perspektiven und Proportionen. Die bestimmenden Kräfte im Bildraum von Capricho 4 sind jedoch, wie man bei genauerer Betrachtung sehen kann, starke diagonale Kräfte, die die diffuse Dynamik der beiden auseinanderstrebenden Personen nach zwei konträren diagonalen Richtungen hin ausrichtet, die gleichzeitig wirken und sich überlagern oder überschneiden. Starke diagonale Kraftlinien werden durch die beiden Gängelbänder konstituiert. Verlängert man die durch diese vorgegebenen diagonalen Linien, so schneidet die untere die linke untere Bildecke. Setzt man eine weitere diagonale Linie an, die die gegenüber liegende rechte obere Bildecke schneidet und parallel zu den beiden anderen Diagonalen verläuft, so zeichnet diese dritte Diagonale die oberen Konturen des schräg gehaltenen Oberarms des als Erwachsenen in Kinderkleidung nach und schneidet die rechte Ecke des Korbs. Für diese Diagonalität sind also offensichtlich nicht die Bildränder, aber die sich diagonal gegenüberliegenden Bildecken (links unten und rechts oben) wichtige Orientierungspunkte. Ähnliches gilt offensichtlich für die andere, gegensätzliche Diagonalität, die durch die sich gegenüberliegenden übrigen Bildecken (links oben und rechts unten) Schnitt- und Orientierungspunkte finden: Die Diagonale, die die linke obere Bildecke schneidet, zeichnet die Rückenpartie der nach links geneigten vorderen Gestalt und insbesondere die hintere Konturlinie des nach vorne geneigten linken Beins nach. Die Diagonale, die die rechte untere Bildecke schneidet, zeichnet die Konturen der Zierborte am Ärmel der hinteren Gestalt nach. Im Falle der beiden konträren Diagonalitäten sind also jeweils die

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Abbildung 3: Francisco de Goya: Capricho 4 (mit Diagonalen)

sich gegenüberliegenden Bildecken die einzigen Orientierungspunkte, die sich ausmachen lassen, wohingegen der Rahmen oder zumindest eine einzelne Seite des Rahmens, wie es in Capricho 43 der Fall ist, vollständig getilgt wurde und deshalb als Orientierungsmöglichkeit entfällt.23 Im Vergleich mit den diagonalen Kräften sind die Bildmitte und die sie durchkreuzende Horizontale und Vertikale von erheblich geringerer Bedeutung: Die Mittelhorizontale durchschneidet das Gesicht des Erwachsenen in Kinderkleidung; auf ihr liegt gleichsam dessen Nase auf, und ebenso die Gesichtskontur der hinteren Gestalt. Die Mittelvertikale dagegen schneidet links die Konturen des Büchleins, des einzigen Objekts, das sich in einer parallelen Lage zu den Bildrändern befindet. 23 Zur Funktion des Rahmens bei Goya vgl. Vera Beyer, Rahmenbestimmungen bei Goya, Vel#zquez, van Eyck und Degas, München 2008.

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Abbildung 4: Francisco de Goya: Capricho 4 (mit Horizontale und Vertikale)

Die Orientierungslosigkeit, auf die D8rozier wie Busch als strukturelle Eigentümlichkeit von Capricho 4 hinweisen, sowie der Bruch mit der traditionellen Zentralperspektive, auf den Busch aufmerksam macht, reichen schon hin, um die Struktur der Radierung als grotesk zu charakterisieren, denn als strukturelle Groteske entspricht Capricho 4 exakt Kaysers Definition der Groteske, die den Verlust der Weltorientierung zum Ausdruck bringt: »Das Groteske ist eine Struktur. Wir können ihr Wesen mit einer Wendung bezeichnen, die sich uns oft genug aufgedrängt hat: das Groteske ist die entfremdete Welt«24. Auch die Orientierungslosigkeit ist für Kayser eine wesentliche Konstituente der Groteske: »Zur Struktur des Grotesken gehört, daß die Kategorien unserer Weltorientierung versagen. […] Die verfremdete Welt erlaubt uns keine Orientierung, sie 24 Kayser, Das Groteske, S. 198.

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erscheint als absurd«25. Im Falle von Capricho 4 gibt es zwar eine strukturelle Orientierung durch die vier Bildecken, aber sie ist so verborgen, dass sie zwar im Bild wirkt, aber nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann.

4.

Die zeitgenössischen handschriftlichen Kommentare zu Capricho 4

Die Caprichos sind so vieldeutig und voller verborgener Anspielungen, dass sich schon Goyas Zeitgenossen veranlasst sahen, zu den Radierungen handschriftliche Deutungen und Kommentare zu verfassen, die wie die Blätter selbst lange Zeit unter der Hand kursierten und durch Abschriften verbreitet wurden. Diese in zahlreichen Varianten überlieferten Versionen der handschriftlichen Kommentare zu den 80 Caprichos stellen deren nachweislich früheste Rezeption dar. In dem seit einigen Jahren laufenden DFG-Projekt Die zeitgenössischen Kommentare zu Goyas ›Caprichos‹ – Edition, Übersetzung, Deutung arbeiten wir an einer kritischen Edition dieser zahlreichen, zum größten Teil noch unveröffentlichten Manuskripte.26 Begrifflich unterschieden wird im Folgenden zwischen Kommentar zur Bezeichnung des gesamten Textes und Kommentierung zur Bezeichnung des auf ein bestimmtes Capricho bezogenen Textabschnitts aus einem Kommentar. Die erste und älteste handschriftliche Kommentierung Ayala [A04] lautet: [A04:] 4…. Los hijos de los Grandes se atiborran de comida, se chupan el dedo y son siempre niÇotes / aun con barbas, y as& necesitan que los lacayos los lleven con andadores. Die Söhne der Granden stopfen sich mit Essen voll, lutschen am Daumen und sind immer noch große Kinder, selbst mit Bärten, und so brauchen sie Lakaien, die sie mit Gängelbändern herumschleppen.

ViÇaza gibt in seiner Druckfassung der Kommentierung Ayala [A2–04] statt des Wortes andadores (Gängelband) den synonymen Begriff andaderas an:

25 Kayser, Das Groteske, S. 200. Vgl. ders., »Versuch einer Wesensbestimmung des Grotesken«, in: Ulrich Weisstein (Hg.), Literatur und bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes, Berlin 1992, S. 173–179, hier S. 176–177. Zu Kaysers Begriff des Grotesken vgl. Scholl, Von den ›Grottesken‹ zum Grotesken, S. 20–23. Fuß, Das Groteske, S. 69–74. Rosen, »Grotesk«, S. 878. 26 Für zahlreiche Hinweise und fruchtbringende Diskussionen danke ich den beiden Wissenschaftlichen Mitarbeitern im DFG-Projekt Herrn Mark Klingenberger und Frau Dr. Nina Preyer.

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[A2–04:] 4.a Los hijos de los grandes se ativorran de comida, se chupan el dedo y son siempre niÇotes, aun con barbas, y as& necesitan que los lacayos los lleven con andaderas.27 Die Söhne der Granden stopfen sich mit Essen voll, lutschen am Daumen und sind immer noch große Kinder, selbst mit Bärten, und so brauchen sie Lakaien, die sie mit Gängelbändern herumschleppen.

Die Kommentierung Ayala [A04] bezieht sich im ersten Teil auf das Leben der verwöhnten Söhne von Granden, aus dem die beiden Details genannt werden, dass sie sich mit Essen vollstopfen und am Daumen lutschen, obwohl sie längst Bärte tragen und es somit Erwachsene sind, sich aber so verhalten, als wären sie Kleinkinder geblieben. Im zweiten Teil der Kommentierung Ayala [A04] wird ausgeführt, welche Konsequenzen sich daraus ergeben, dass die Kinder der Granden nie erwachsen geworden sind: Sie sind nicht fähig, allein durchs Leben zu gehen, sondern auf die Unterstützung ihrer Bediensteten angewiesen. Lakaien führen sie an Gängelbändern herum. Nicht nur der Bart war ein typisches Attribute der niÇos de la Rollona,28 sondern auch die Gängelbänder. Die Kritik an der Erziehung ist keine allgemeine, sondern sie wird speziell auf den Hochadel bezogen, auf die Folgen eines schlechten Erziehungskonzepts der Granden, das dazu führt, dass ihre Söhne unfähig sind, ihr Leben selbstständig und eigenverantwortlich zu meistern. Die Grandes (Granden) bildeten den höchsten Rang der der Hierarchie des spanischen Adels. Geschaffen und institutionalisiert wurde diese Klasse 1520 von König Karl V. Zu ihr gehörten alle Duques (Herzöge) und die vom König für diese Klasse eigens bestimmten Adligen. Ende des 18. Jahrhunderts zählten etwa 120 Personen zu den Granden.29 Sehr ausführlich und kritisch beschreibt Anton Kaufhold die Granden in seinem Buch Spanien wie es gegenwärtig ist (Gotha 1797): […] sie leiten größtentheils alle ihre Abkunft von königlichem Geblüthe ab, und besitzen deswegen einen grenzenlosen Hochmuth; um diesen eingebildeten, zweideutigen Vorzug zu behaupten, verschwenden sie ungeheure Summen, und bemühen sich durch äußern Glanz, die Augen der Welt zu blenden, und tiefe Verehrung und Bewunderung zu erregen; […]. So affectiren die Granden in ihren Häusern ein königliches Leben, und verschwenden ihr Geld größtentheils mit Tanz und Flitter. […] Sie haben fast mit Niemanden Umgang als mit Leuten von ihrem Stande […] vielmehr ist ihre Selbstgenügsamkeit, ihr Stolz und ihre Großheit (grandeza) Ursache, daß sie sich um Fremde so wenig bekümmern; und das ist nun einmal so bei ihnen zur Sitte 27 Cipriano MuÇoz y Manzano, Conde de la ViÇaza, Goya. Su tiempo, su vida, sus obras, Madrid 1887, S. 328–329. Entweder hat ViÇaza diese Änderung bewusst vorgenommen oder ihm ist ein Transkriptionsfehler unterlaufen oder ihm lag ein uns unbekanntes Manuskript vor. 28 Vgl. Faliu-Lacourt, »El NiÇo de la Rollona«, S. 55. 29 Vgl. Blas/Matilla/Medrano, El libro de los Caprichos, S. 72.

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geworden. […] Wenn man die besondern Vorzüge der Granden, die Pracht, mit der sie leben, und ihren großen Reichthum betrachtet: so wird man anfangs von dem äußern Glanze fast geblendet; welch ein Abstand findet sich hier nicht gegen den demüthigen Bürger und Bauer! und doch sind alle nichts als Unterthanen, ja fast nichts als Sklaven eines und eben desselben Fürsten, von dessen Wink, Freiheit und Glück des Granden so wie des Bauers abhängt; ihren äußern wichtigen Glanz, ihre Titel und Reichthümer hat man ihnen zwar gelassen, aber ihre würklichen Vorzüge, ihren Einfluß in die Verwaltung des Staats hat man ihnen längst entwunden, und sie unterscheiden sich von dem Bürger nur durch die goldenen Ketten, womit ihr Sclavenstand umwunden ist.30

Die Kommentierung Kollektiv [K04] ist die direkte, im Umkreis Goyas entstandene Reaktion seiner Freunde auf die Kommentierung Ayala [A04]: [K04:] 4. La negligencia, la tolerancia y el mismo31 hacen # los niÇos anto-/jadizos, obstinados, sobervios, golosos, perezosos 8 insufribles; llegan # / grandes, y son niÇos todavia, tal es la Rollona. Die Nachlässigkeit, die Nachgiebigkeit und die Verhätschelung machen die Kinder launenhaft, eigensinnig, hochmütig, naschhaft, faul und unerträglich. Sie werden groß und sind immer noch Kinder. So ist das Kindermädchen.

Die Kommentierung Prado [P04], Goyas eigenhändige Abschrift der Kommentierung Kollektiv [K04], lautet: [P04:] 4 La negligencia, la tolerancia y el mimo hacen / los niÇos antojadizos obsti-/ nados soberbios golosos perezosos e insufribles. llegan / grandes y son niÇos / todavia, Tal es el de la rollona. Die Nachlässigkeit, die Nachgiebigkeit und die Verhätschelung machen die Kinder launenhaft, eigensinnig, hochmütig, naschhaft, faul und unerträglich. Sie werden groß und sind immer noch Kinder. So ist das vom Kindermädchen.

Zwischen den Kommentierungen Kollektiv [K04] und Prado [P04] lässt sich ein signifikanter Unterschied feststellen. In der Kommentierung Kollektiv [K04] heißt es am Schluss: »tal es la Rollona« (So ist das Kindermädchen), so dass, würde man es wörtlich verstehen, das Kindermädchen als Erzieherin und damit als Verantwortliche der Erziehung der Kinder des spanischen Hochadels in den Vordergrund gerückt würde, was aber im traditionellen Kontext von El de la Rollona nicht gemeint sein kann. Goya hat dies in bei seiner Abschrift der Kommentierung Kollektiv [K04] offensichtlich präzisiert und korrigiert, denn in der Kommentierung Prado [P04] lautet der letzte Satz in korrekter Weise: »Tal es el de la rollona« (So ist das vom Kindermädchen), womit der Fokus hier ganz eindeutig auf die schlecht erzogenen Kinder gelegt wird. Da sich die Lesart der Kommentierung Kollektiv [K04] in keiner einzigen nachfolgenden Kommen30 Vgl. Anton Kaufhold, Spanien wie es gegenwärtig ist, Gotha 1797, S. 386, 389, 390 und 406. 31 Recte: mimo.

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tierung findet, kann man davon ausgehen, dass der Kommentar Kollektiv [K] ausschließlich Goya für die autographe Abfassung des Kommentars Prado [P] zur Verfügung stand. In der Kommentierung Kollektiv [K04], der Kommentierung Prado [P04] sowie allen Abschriften der auf diese nachfolgenden Prado-Linie werden drei bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen der Erzieher genannt, aufgrund derer die Kinder nicht zu eigenverantwortlichen Menschen heranwachsen können: Nachlässigkeit, Nachgiebigkeit und Verhätschelung. Stattdessen behalten sie ihre schlechten Eigenschaften bis ins Erwachsenenalter bei. Diese werden in einer Abfolge von sechs Adjektiven präzisiert: Es sind Launenhaftigkeit, Eigensinn, Hochmut, Naschhaftigkeit, Faulheit und schließlich der Umstand, dass sie aufgrund dessen unerträglich sind. Im letzten Satz wird die Bildlegende als Sinnbild für das Resultat dieses schlechten Erziehungskonzepts zitiert: Ein solches Kind ist das vom Kindermädchen. Doppeldeutig ist die Wendung »llegan a grandes«: erstens kann sie im Sinne von sie werden groß gemeint sein, doch liest man die Kommentierung Kollektiv [K04] als Replik auf die Kommentierung Ayala [A04], so könnte zweitens auch gemeint sein sie werden Granden. Aufgrund dieser Doppeldeutigkeit könnte also auch die Kommentierung Kollektiv [K04] nicht nur als Kritik an einer Erziehung zur Unmündigkeit, sondern auch als Kritik an der Erziehung, die die Granden ihren Söhnen zuteilwerden lassen, verstanden werden, was eigentlich auch eine Kritik am Hochadel impliziert. In der Ekphrasis der Kommentierung Rauch [R04] heißt es zwar richtig, dass es sich bei der zentralen Gestalt um einen Erwachsenen handelt, dessen Verkleidung als Kind wird allerdings fälschlicherweise als Frauenrock und Turban gedeutet: [R04:] 4.a Lamina quarta Representa un hombre de bastante edad, / con los dedos en la boca, figura extraÇa, / vestido con saya corta, y un turbante en / la cabeza, y otra figura de hombre tras 8l, / que tira una cesta con unas cuerdas. Explicacion La negligencia, la tolerancia y el mimo, / hacen # los NiÇos antojadizos, obstinados, / sovervios, golosos, perezosos, 8 insufri-/bles: llegan # grandes, y son NiÇos toda-/via; tal es el de la Rollona.

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4. Vierte Radierung Dargestellt wird ein Mann in recht hohem Alter, mit den Fingern im Mund, eine merkwürdige Gestalt, mit einem kurzen Frauenrock bekleidet und einem Turban auf dem Kopf, dahinter eine weitere männliche Gestalt, die einen Korb an Seilen zieht. Erklärung Die Nachlässigkeit, die Nachgiebigkeit und die Verhätschelung machen die Kinder launenhaft, eigensinnig, hochmütig, naschhaft, faul und unerträglich. Sie werden groß und sind immer noch Kinder. So ist das vom Kindermädchen.

Tatsächlich wird in der Ekphrasis der Kommentierung Rauch [R04] der Mann rechts in keine direkte Beziehung zu dem zentralen, als Kind gekleideten Erwachsenen gesetzt, sondern von ihm heißt es, er ziehe den Korb an Seilen. Der anonyme Autor dieser handschriftlichen Kommentierung ist der einzige, der dies so sieht und die Verzerrung der traditionellen Zentralperspektive nicht als solche erkennt, während alle anderen davon ausgehen, dass der Erwachsene in Kinderkleidung von dem Mann rechts an den Gängelbändern gezogen wird. Die Kommentierungen der Prado-Linie, Gruppe III, enthalten in Klammern den Zusatz »La Grandeza de EspaÇa« (Das Grandentum von Spanien), was eindeutig von der Kommentierung Ayala [A04] inspiriert wurde. Mit einer sehr eigenständigen Formulierung greift die Kommentierung Norton Simon IV [NS4–04] einige Details der Radierung auf und deutet sie ganz im Sinne der Kommentierung Ayala [A04]: [NS4–04:] Los hijos de los grandes se crian como niÇas mimadas; / se chupan los dedos, se atracan de alimentos, no andan / sino arrastrados por lacayos, y cargados de dijes; tie-/nen barbas y conservan aun todas las credulidades / de la infancia. (Atribuido # Goya) Die Söhne der Granden wachsen wie verhätschelte Mädchen auf; sie lecken sich die Finger, sie fallen über die Speisen her, sie gehen nicht, außer wenn Lakaien sie hinter sich herzuziehen und mit Amuletten beladen; sie haben Bärte und bewahren dennoch die ganze Leichtgläubigkeit der Kindheit. (Goya zugeschrieben)

Es wird zunächst spezifiziert, dass die Söhne der Granden wie verhätschelte Mädchen aufwachsen, wodurch suggeriert wird, dass einer der Erziehungsfehler auch die Verweiblichung ist. Betont werden ihre Naschhaftigkeit und Gefräßigkeit, was dadurch veranschaulicht wird, dass sie alle Konventionen guten Benehmens und die Tischsitten auf plumpe Weise missachten, indem sie sich die Finger lecken und über die Speisen herfallen. Hervorgehoben wird ihre Immobilität, denn sie gehen nur, wenn sie von den Lakaien gezogen und mit

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Amuletten behängt werden. Warum es der Amulette bedarf, damit sie sich in Bewegung setzen, wird nicht weiter ausgeführt. Die Kommentierung Norton Simon V [NS5–04] gibt der Radierung eine politische Deutung als Anspielung auf die Regierungszeit von König Karl IV. Hier wird das Motiv der Gängelbänder aus der Radierung aufgegriffen und auf die Monarchie bezogen, die solcher Gängelbänder bedurft habe. Auf welche politischen Ereignisse oder Maßnahmen sich dies beziehen könnte, wird nicht konkretisiert, sondern völlig offen gelassen: [NS5–04:] Alucion32 # la monarquia que bajo el cetro de / Carlos IV necesitaba andadores. (Otro comentario) Anspielung auf die Monarchie, die unter dem Zepter Karls IV. Gängelbänder benötigte. (Anderer Kommentar)

Die Kommentierung Stirling-Maxwell [SM04] unterscheidet sich trotz ihres deutlichen Bezugs zur Kommentierung Ayala [A04] dennoch von ihr : [SM04:] 4. Los hijos de los grandes seÇores, se atiborran de comida, se / chupan el dedo, y son siempre niÇotes, que necesitan q.e / un lacaio les lleve con andadores Die Söhne der hohen Herrschaften stopfen sich mit Essen voll, lutschen am Daumen und sind immer noch große Kinder, die es nötig haben, dass ein Lakai sie mit Gängelbändern herumschleppt.

Im Gegensatz zur Kommentierung Ayala [A04] ist hier nicht von Granden, sondern von »hijos de los grandes seÇores« (Kinder der hohen Herrschaften) die Rede. Damit entfällt die explizite Adelskritik, da hier alle sozial hochstehenden Personen gemeint sein können. Auffällig ist, dass in allen Kommentierungen der Stirling-Maxwell-Linie, Gruppe I, die Referenz auf die Granden wieder aufgenommen wird. Zudem wird hier ausdrücklich auf die Amulette hingewiesen, die der als Kind gekleidete Erwachsene am Gürtel trägt. Als Beispiel sei die Kommentierung Biblioteca Nacional de EspaÇa [BNE04] genannt: [BNE04:] 4. Los hijos de los Grandes se crian siempre ni-/Çotes, chupandose el dedo, atiborrandose de comida, arrastrados por los Lacayos, llenos de dixes supersticio-/sos, aun cuando y# son barbados. Die Söhne der Granden werden immer als verhätschelte große Kinder aufgezogen, wobei sie am Daumen lutschen, sich mit Essen vollstopfen, von Lakaien gezogen werden, voller abergläubischer Amulette, obwohl sie schon bärtig sind.

In den Kommentierungen der Stirling-Maxwell-Linie, Gruppe II, wird wie in der Kommentierung Stirling Maxwell [SM04] die Wendung »hijos de los grandes 32 Recte: Alusijn.

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seÇores« (Kinder der hohen Herrschaften) übernommen und damit die spezifische Adelskritik weitgehend ausgespart, beispielsweise in der Kommentierung S#nchez Gerona [SG04]: [SG04:] 4. Los hijos delos grandes SeÇores siempre sonniÇotes, se chupan el dedo, se atiborrar/n de comi-/da, ynecesitan que unlacayo les traiga con andadores. Die Söhne der hohen Herrschaften sind immer große Kinder, lutschen am Daumen und stopfen sich mit Essen voll, und so brauchen sie Lakaien, die sie mit Gängelbändern herumschleppen.

Die Attribute Bart und Gängelbänder werden hier weggelassen. Nur in der englischen Kommentierung Dobree [DOe2–04], die den Kommentierungen der Stirling-Maxwell-Linie, Gruppe II, am nächsten steht, findet sich noch ein konkreter Hinweis auf den Adel: [DOe2–04:] 4 The sons of noblemen are like infants: they suck their fingers, gormandize, and / require a servant with leading strings Die Söhne von Adligen sind wie Kinder : Sie lutschen an ihren Fingern, schlemmen und benötigen einen Diener mit Gängelbändern.

Die Kommentierung Art Gallery of South Australia I [AGA04] lautet: »Well done by fear!« (Wohlgeraten aus Angst!). Hier wird darauf angespielt, dass der Aberglaube bewusst als Erziehungsmittel eingesetzt wird, um Kindern Angst einzuflößen. Ihr angepasstes Verhalten ist also nicht das Resultat einer kindgerechten Erziehung, sondern ihrer Angst. In diesem Sinne entspricht die Kommentierung dem Erziehungskonzept der Aufklärung.

5.

Die Amulette

Auffällig sind die vier Gegenstände, die an einem breiten Gürtel, den der Mann in Kinderkleidung um die Taille trägt, hängen. Allein in der Kommentierung Norton Simon IV [NS4–04] und in den Kommentierungen der Stirling-MaxwellLinie, Gruppe I, werden sie als Amulette bezeichnet, mit der Söhne von Granden beladen seien, ohne dass hier weiter spezifiziert wird, um welche Amulette es sich handelt und welche Funktion und Bedeutung ihnen zugeschrieben wird. Allein Juan Antonio Llorente (1756–1823) identifiziert in einem handschriftlichen französischen Kommentar, der vermutlich in seinem Exil in Frankreich entstanden ist,33 drei der vier Amulette, die er als Reliquien bezeichnet: 33 Juan Antonio Llorente, den Goya zwischen 1810 und 1811 porträtierte, wurde 1779 zum Priester geweiht und machte in der Kirchenhierarchie rasch Karriere. 1793 erhielt der als Kommissar und Sekretär der Hofinquisition den Auftrag zu einem Gutachten über die

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[LL04:] Celle du n.8 4, un petit enfant d’un seigneur, nourri / par une femme du vulgaire, et charg8 de reli-/ques, du livre des evangiles, d’une sonn8tte, / de la main du Taju & c.a Die der Nummer 4, ein kleines Kind eines hohen Herrn, genährt von einer Frau aus dem gemeinen Volk und behängt mit Reliquien, dem Evangelienbuch, einem Glöckchen, der Dachspfote etc.

Dass Llorente mit »la main du Taju« eine Dachspfote meint, ist zweifelsfrei: In Spanien sind die dialektalen Bezeichnungen für den Dachs (tejjn) vielfältig,34 und auch die Varianten taju oder tajffl lassen sich regional nachweisen.35 Es ist ungewöhnlich, dass Llorente hier statt der französischen Bezeichnung für den Dachs (blaireau) eine dialektale Form benutzt hat. Im Folgenden werden die vier Amulette, in ihrer Abfolge von rechts nach links, genauer untersucht.36 Die Amulette haben zu zahlreichen Fehldeutungen und sachlichen Fehlern Anlass gegeben, die hier richtiggestellt werden sollen.37

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Inquisition, in dem er deren Missbräuche darstellte und das er Gaspar Melchor de Jovellanos (1744–1811) anvertraute. Als Anhänger der jansenistischen Reformbewegung wurde er 1801 seiner Ämter enthoben und unter Hausarrest gestellt. Unter der französischen Herrschaft in Spanien schlug er Napoleon die Säkularisierung des Klerus und die Auflösung der kirchlichen Orden vor. 1813 musste er nach Frankreich fliehen, wo er ab 1814 in Paris lebte und dort 1817 und 1818 seine vierbändige Histoire critique de l’Inquisition veröffentlichte. Die spanischen Bezeichnungen für den Dachs (tejjn) sind regional sehr unterschiedlich; einige Varianten, abgeleitet vom lateinischen taxus lauten: tejo, tajjn, tajubo, tajudo etc. Zu diesen Varianten vgl. Jabi Zabala Albizua/Marta SaloÇa Bordas, »Bases para una etnozoolog&a del tejjn (Meles meles L.) con especial referencia en el #mbito cultural vasco«, in: Cuadernos de Etnolog&a y Etnograf&a de Navarra 80 (2005), S. 319–328, hier S. 320 und 322. Zur Bezeichnung »manos de tasugo« vgl. Guillermo Joaqu&n de Osma y Scull, Cat#logo de azabaches compostelanos. Precedido de apuntes sobre los amuletos contra el aojo, las im#genes del apjstol-romero y la cofrad&a de los azabacheros de Santiago, Madrid 1916, S. 25. Vgl. Jos8 Mar&a Pastor Blanco, »Caracteres lingü&sticos de la Rioja (I): Claves fjnicas y claves morfosint#cticas«, in: Berceo 146 (2004), S. 7–65, hier S. 12 und 20. Zu den weiteren Varianten tajjn, tajudo, tasugo, tazugo vgl. ebd., S. 10, zu tajubo und tajugo vgl. ebd., S. 21. Casariego hat drei der Amulette identifiziert (als Dachspfote, Glöckchen und Evangelienbüchlein) und auch darauf hingewiesen, ihre Funktion sei es gewesen, den bösen Blick abzuhalten. Vgl. Rafael Casariego (Hg.), Francisco Goya Lucientes, Los Caprichos. Coleccijn de ochenta y cinco estampas en las que se fustigan errores y vicios humanos, Edicijn facs&mil, Estudio preliminar por Rafael Casariego, Madrid 1978, unpag. [Text zu Capricho 4]): »De la faja cinturjn del niÇo (?), ya con barbas, cuelgan una mano de tejjn, como dije supersticioso, una esquila y el libro de los ›evangelios‹, amuletos frecuentes para evitar ›el mal de ojo‹«. Diese Fehldeutungen sollen im Folgenden kurz aufgelistet werden: Paas erkennt unter den Amuletten eine Rassel, die in Capricho 4 aber nicht vorhanden ist. Vgl. Sigrun Paas (Hg.), Francisco de Goya, Die ›Caprichos‹. Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe vom 10. Dezember 1976 bis zum 20. Februar 1977, Karlsruhe 1976, S. 38: »eine Rassel und ein paar Amulette«. – Busch deutet die Amulette irrtümlich als Spielzeug, er spricht von dem »vom Gürtel hängenden Spielzeug« (Busch, »Goya und die Tradition des capriccio«, S. 62). – Alcal# Flecha schreibt, unter den Amuletten befinde sich ein Skapulier, also ein geweihtes Band, oder ein Druck mit wunderbaren Effekten, was aber nicht der Fall ist. Vgl. Alcal# Flecha, »El tema del niÇo malcriado en el Capricho 4, El de la Rollona, de Goya«, S. 340: »un escapulario o estampa

58 5.1.

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Die Dachspfote

Bei dem Amulett ganz rechts handelt es sich um eine in eine Metallhülse aus Silber eingefasste Dachspfote, die an einem Kettchen hängt, das an einer im Zentrum des runden Deckels der Metallhülse angebrachten Öse befestigt ist. Die Dachspfote war in Spanien ein beliebtes Amulett gegen den bösen Blick.38 Blicke können im kommunikativen Akt auch Machtverhältnisse implizieren: Der direkte Blick auf den anderen fixiert das betrachtete Subjekt und verdinglicht es in gewisser Weise. In extremer Form wird dies in den abergläubischen Vorstellungen vom ›bösen Blick‹ (im Spanischen aojo, aojadura, aojamiento) deutlich, der Macht über jemanden gewinnt: Man glaubte, dass Menschen wie Tiere, aber auch übernatürliche Wesen oder Götter, den ›bösen Blick‹ besitzen können, mit dem sie bewusst und willentlich oder auch ohne ihr Wissen und Wollen durch bloßes Anblicken dem Menschen, den Tieren, manchmal auch leblosen Objekten, Schaden zufügen können.39 Enrique de Villena (1384–1434) beschreibt in seinem Tratado de fascinacijn o de aojamiento (Abhandlung über Verzauberung und bösen Blick) (um 1411) den bösen Blick, der vor allem auf kleine Kinder wie ein Gift wirke, und zählt zahlreiche Amulette auf, die den Kindern umgehängt werden, um sie vor dem bösen Blick zu bewahren.40 Enrique de Villena erwähnt auch das Dachsfell oder de efectos milagrosos«. – Gumbrecht zitiert die von ViÇaza 1887 veröffentlichte Kommentierung Ayala II [A2–04], übersetzt aber andaderas nicht mit Gängelbändern, sondern irrtümlich mit »Sänften« (Hans Ulrich Gumbrecht, ›Eine‹ Geschichte der spanischen Literatur, 2. Bd., Frankfurt am Main 1990, S. 1224). Doch im Spanischen bezeichnet man Sänften nicht als andaderas, sondern als andas oder literas oder, wenn es sich um Tragsessel handelt, als palanquines. Dieser Übersetzungsfehler führt dazu, dass Gumbrecht offensichtlich Capricho 4 nicht genau betrachtet hat und irrtümlich davon ausgeht, dass dort eine Sänfte vorhanden sei, was aber nicht der Fall ist: »[…] das verängstigte, daumenlutschende ›Kind‹ hat das ältliche Gesicht eines Kretins, es ist verschwenderisch reich gekleidet und stützt sich auf eine Sänfte, die seiner Körpergröße entspricht.« (ebd., 1. Bd., S. 589–590). 38 Zu den etnozoologischen und kulturhistorischen Aspekten des Dachses vgl. Zabala Albizua/ SaloÇa Bordas, »Bases para una etnozoolog&a del tejjn (Meles meles L.) con especial referencia en el #mbito cultural vasco«. Zur Dachspfote im spanischen Volksglauben des 17. und 18. Jahrhunderts als Mittel zur Abwendung des bösen Blickes vgl. Osma y Scull, Cat#logo de azabaches compostelanos, S. 19–27. Zum Amulett der Dachspfote vgl. Carmen Baroja, Trabajos y materiales del Museo del Pueblo EspaÇol, Cat#logo de la coleccijn de amuletos, Madrid 1945, S. 17 und L#m. XV, Nr. 7376 und Nr. 7815. Liselotte Hansmann/Lenz KrissRettenbeck, Amulett und Talisman. Erscheinungsform und Geschichte, München 1966, S. 87, Abb. 186; S. 93. 39 Zur europäischen Kulturgeschichte des ›bösen Blicks‹ vgl. Siegfried Seligmann, Der böse Blick und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte des Aberglaubens aller Zeiten und Völker, 2. Bd., Berlin 1910. Thomas Hauschild, Der böse Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen, Berlin 21982. 40 Vgl. Enrique de Villena, »Tratado de fascinacijn o de aojamiento«, in: Ders., Obras completas, Edicijn y prjlogo de Pedro M. C#tedra, 1. Bd., Madrid 1994, S. 325–341, hier S. 330–332.

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Dachshaar, das man den Tieren umhängt, um sie vor schädlichen Einflüssen zu bewahren: »Ponen eso mesmo a las bestias cuero con pelo de tasugo en el collar e cabeÅadas«41 (Man legt ebenfalls den Tieren ein Lederstück mit Dachshaar auf Halsband und Zaumzeug). Es handelt sich hierbei um einen Aberglauben, der seit der Antike international überliefert und praktiziert wurde.42 Wie tief verwurzelt der Aberglaube der Dachspfote in Spanien verwurzelt war, zeigen zahlreiche literarische Darstellungen: In dem Lesedrama Celestina von Fernando de Rojas von 1499 wird die Dachspfote (»pie de tejjn«43) von P#rmeno als Gegenstand genannt, den man im Hause der Kupplerin Celestina finden kann. Auch in dem Theaterstück El encanto es la hermosura y el hechizo sin hechizo. La segunda Celestina des spanisch-mexikanischen Dichters und Theaterautors Agust&n de Salazar y Torres (1642–1675) findet sich die Dachspfote. Der Diener beschreibt Celestina (im Versmaß der Redondilla), wobei auch die Dachspfote als Attribut der Celestina erwähnt wird: Hace tan raro jabjn con el sebo y con la hiel, que har# mano de papel una mano de tejjn.44 Sie macht so seltene Seife mit dem Talg und mit der Galle, dass sie eine Papierhand aus einer Dachshand machen wird.

Gaspar Lucas Hidalgo erwähnt in seinen Di#logos de apacible entretenimiento (Brüssel 1610) die Dachspfote als Amulett: No ayais miedo que me empache, En poneros dixezicos Colgados en los pechicos, De tasugo, ni azabache. 41 Villena, »Tratado de fascinacijn o de aojamiento«, S. 332. 42 Vgl. Seligmann, Der böse Blick und Verwandtes, S. 114–115: »Dachs. – Im Altertum hängte man seine Pfoten um den Hals der Tiere gegen die Faszination. In Pommern trägt man sie bei sich. In Baden und in der Schweiz befestigt man am Kummet ein Dachsfell; ähnlich in Italien. Der neapolitanische Kutscher schützt seine Pferde gegen die Jettatura auch durch ein Büschel Dachshaare. In Spanien befestigt man an die Schulter der Kinder Dachspfoten«. 43 Fernando de Rojas, La Celestina, Edicijn de Bruno Mario Damiani, Madrid 71980, S. 77. 44 Agust&n de Salazar y Torres/Juan de Vera Tassis y Villarroel/Sor Juana In8s de la Cruz, El encanto es la hermosura y el hechizo sin hechizo. La segunda Celestina, Critical Edition, Introduction, and Notes by Thomas Austin O’Connor, Binghamton/New York 1994, S. 22 (V. 419–422). Das unvollendete Werk wurde 1675 oder 1676 mit der Fortsetzung von Juan de Vera Tassis y Villarroel in Madrid uraufgeführt und erschien 1681 in Madrid im Druck. Eine weitere Fortsetzung des Werks wurde vermutlich von Sor Juana In8s de la Cruz (1651–1695) verfasst.

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Que vuestra hermosura rara, Os haze en qualquier enojo, Seguros de mal de ojo Pero no de mal de cara.45 Habt keine Furcht, dass es mir nicht behagte, euch Amulettchen umzuhängen auf die kleinen Brüste, vom Dachs oder aus Gagat. Da eure seltene Schönheit euch in jeglichem Ärger sicher vor dem bösen Blick macht, aber nicht vor einen unfreundlichen Gesicht.

Tirso de Molina (1579–1648) erwähnt in seinem 1627 erschienenen Theaterstück La celosa de s& misma das Amulett einer Dachspfote: »cierta mano de tejo / Que hemos engastado en oro«46 (eine gewisse Dachspfote, die wir in Gold eingefasst haben). Auch in literarischen Texten des 18. Jahrhunderts wird dieser Aberglaube dargestellt, beispielsweise in der Tierfabel El lobo y el pastor (Der Wolf und der Hirte), die in der 1782 in der Sammlung der F#bulas literarias von Tom#s de Iriarte (1750–1791) erschienen ist, findet sich eine Anspielung auf den Aberglauben, die Dachspfote könne den bösen Blick abwenden. Der Wolf will den Hirten davon überzeugen, dass er kein schlechtes Tier sei, indem er ihm aufzählt, welche guten Eigenschaften er für den Menschen habe, beispielsweise sein Fell, das den Menschen als Mantel schützen und vor Krankheiten oder Flohstichen bewahren könne. Die dritte Strophe der Fabel, die die Fortsetzung seiner guten Eigenschaften enthält, lautet: Mis uÇas no trueco por las del tejjn, que contra el mal de ojo tienen gran virtud; mis dientes ya sabes cu#n ffltiles son, y a cu#ntos con mi unto he dado salud.47 Meine Krallen tausche ich nicht gegen die des Dachses, die gegen den bösen Blick so große Wirkung haben; du weißt bereits, wie nützlich meine Zähne sind, und wie vielen ich mit meinem Fett Gesundheit geschenkt habe.

Im Museo del Pueblo EspaÇol in Madrid werden fünf Amulette in Form von solchen in Silberhülsen eingefassten Dachspfoten aufbewahrt, die aus unter45 Gaspar Lucas Hidalgo, Di#logos de apacible entretenimiento, que contiene unas Carnestolendas de Castilla, Brüssel 1610, S. 31. 46 Tirso de Molina, Comedias escogidas de Fray Gabriel T8llez (El Maestro Tirso de Molina), juntas en coleccion 8 ilustradas por D. Juan Eugenio Hartzenbusch, Madrid 21850, S. 133. 47 Tom#s de Iriarte, F#bulas literarias, Edicijn de ]ngel L. Prieto de Paula, Madrid 1992, S. 159.

Die Groteske als aufklärerisches Programm in Francisco de Goyas Capricho 4

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schiedlichen Regionen Spaniens (Salamanca und Lejn) stammen und so auf eine weite Verbreitung schließen lassen.48 Ein ähnliches Amulett, das aus dem 19. Jahrhundert aus Kastilien und Lejn stammt, wird in der Coleccijn Etnogr#fica Caja EspaÇa aufbewahrt.49 Die Dachspfote hatte eine apotropäische Funktion und sollte seinen Träger vor dem bösen Blick bewahren,50 ein Aberglaube, der in Spanien eine lange Tradition aufwies und sehr verbreitet war.51 Als einer der ersten Autoren behandelt Goya hat dieses Amulett also, wie die übrigen auch, in seiner authentischen Form realistisch abgebildet.

5.2.

Das Büchlein

Eines der Amulette, das Goya abbildet, ist ein Büchlein. Auch ein solcher abergläubischer Brauch war im Volksglauben tief verwurzelt. So berichtet Enrique de Villena in seinem Tratado de fascinacijn o de aojamiento (um 1411), dass bei den Arabern (»los moros«) den Kindern Büchlein als Amulette umgehängt wurden: »[…] e pjnenles libros pequeÇos escriptos de nombres e d&zenles tahalil; […]«52 ([…] und sie behängten sie mit kleinen Büchern, mit Namen beschrieben, und man nennt sie tahalil). Llorente gibt in seiner Kommentierung [LL04] an, es handelte sich auf Capricho 4 um ein Evangelienbüchlein. Solche als Amulette verwendeten Evangelienbüchlein, die Vermischung christlicher und profaner Elemente zeigen, enthielten nicht den gesamten Text, sondern in der Regel nur den Anfang der vier Evangelien; auch sie sollten, wie die Dachspfote, den bösen Blick abwenden.53 Alle elf Evangelienbüchlein, die im Madrider Museo del Pueblo EspaÇol aufbe48 Vgl. Concepcijn Alarcjn Rom#n, Cat#logo de amuletos del Museo del Pueblo EspaÇol, Madrid 1987, S. 84 [Nr. 7815], 56 [Nr. 1836], 61 [Nr. 1919], 79 [Nr. 7376 (A)], 135 [Nr. 13723]. 49 Signatur : 1989/034–491. Abbildung in: Zabala Albizua, SaloÇa Bordas, »Bases para una etnozoolog&a del tejjn (Meles meles L.) con especial referencia en el #mbito cultural vasco«, S. 325. Auch Amulette aus Gagat in Form einer Dachspfote waren im 17. und 18. Jahrhundert sehr beliebt. Vgl. Mar&a ]ngela Franco Mata, »Azabaches del M. A. N.«, in: Bolet&n del Museo Arqueoljgico Nacional 4 (1986), S. 131–167, hier S. 140. 50 Über Amulette gegen den bösen Blick vgl. Thomas Hauschild, »Abwehrmagie und Geschlechtssymbolik im mittelmeerischen Volksglauben«, in: Baessler-Archiv Neue Folge 28 (1980), S. 73–104. 51 Über den Glauben an den bösen Blick in Spanien vgl. Julio Caro Baroja, »La magia en Castilla durante los siglos XVI y XVII«, in: Ders.: Algunos mitos espaÇoles, Madrid 31974, S. 185–295, hier S. 258–270. Alarcjn Rom#n, Cat#logo de amuletos del Museo del Pueblo EspaÇol, S. 11–15. 52 Villena, »Tratado de fascinacijn o de aojamiento«, S. 332. 53 Vgl. Alarcjn Rom#n, Cat#logo de amuletos del Museo del Pueblo EspaÇol, S. 41–42.

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wahrt werden, sind kunstvoll ausgestattet und mit Stickereien reich verziert.54 Das ist bei dem auffallend schlicht gestalteten Büchlein, das in Capricho 4 abgebildet ist, nicht der Fall, und es ähnelt keinem der erhaltenen prachtvoll verzierten Evangelienbüchlein. Dagegen gleicht es einem Exemplar der Benediktinerregel (Regla de San Benito) im Madrider Museo del Pueblo EspaÇol, das ebenso schlicht gestaltet ist wie das auf Capricho 4 dargestellte Büchlein.55 Es handelt sich hier also wohl eher um ein Büchlein, das die Benediktinerregel (Regula Benedicti) enthält, als um ein Evangelienbüchlein, wie Llorente angibt.56 Übrigens zählt Goyas Freund Leandro Fern#ndez de Morat&n (1760–1828) in der Anmerkung 33, die er gegen Ende des 18. Jahrhunderts zum Auto de LogroÇo geschrieben hat, in einer Reihe zahlreicher Amulette außer der Dachspfote auch »la regla de San Benito«57 (Die Regel des Heiligen Benedikt) auf.

5.3.

Das Glöckchen

Die Glocken sollten generell vor den Naturgewalten schützen. Dies war ein Aberglaube, über den Gaspar Melchor de Jovellanos (1744–1811) am 10. Mai 1795 in seinem Tagebuch notiert: »aqu& se cree que las campanas mandan sobre todos los accidentes naturales del clima y la estacijn«58 (hier glaubt man, dass die Glocken vor allem die natürlichen Unfälle durch Klima und die Jahreszeit befehligen). Insbesondere waren Glöckchen aus Ton beliebte Amulette, die vor allem den Blitz abhalten und so vermeiden sollten, dass derjenige, der ein solches Tonglöckchen trug, vom Blitzschlag verletzt oder getötet wurde.59 Leandro Fern#ndez de Morat&n schreibt über solche Amulette: 54 Vgl. Alarcjn Rom#n, Cat#logo de amuletos del Museo del Pueblo EspaÇol, S. 88 [Nr. 8484], 89–90 [Nr. 8485–8488], 119 [Nr. 11497], 65 [Nr. 2034], 71 [Nr. 3191(B-C)] 74 [Nr. 4073], 77 [Nr. 6451], 78 [Nr. 6453]. 55 Vgl. Alarcjn Rom#n, Cat#logo de amuletos del Museo del Pueblo EspaÇol, S. 42 und 71 [Nr. 3192]. Im Madrider Museo del Pueblo EspaÇol ist zudem nur ein einziges Exemplar einer Basiliusregel (Regula Basilii) erhalten. Basileus war der Vater der Ostkirche, und das Amulett geht vermutlich auf ein Kloster von Basilianermönchen zurück. Vgl. Alarcjn Rom#n, Cat#logo de amuletos del Museo del Pueblo EspaÇol, S. 42 und 102 [Nr. 10359]. 56 Dies hat bereits Sayre als Möglichkeit vorgeschlagen. Vgl. Eleanor A. Sayre, »El de la rollona«, in: Goya y el esp&ritu de la Ilustracijn, Madrid 1988, S. 210–212, hier S. 211: »un librito con p#ginas de los Evangelios (o tal vez la Regla de San Benito)«. 57 Fern#ndez de Morat&n, Nicol#s/Leandro Fern#ndez de Morat&n, Obras de D. Nicolas y D. Leandro Fernandez de Moratin, Madrid 1871, S. 623. Bereits Casariego wies auf Gemeinsamkeiten zwischen der Anmerkung 33 und Goyas Capricho 4 hin. Vgl. Casariego, Los Caprichos, unpag. [Text zu Capricho 4]. 58 Gaspar Melchor de Jovellanos, Obras completas, 7. Bd., Edicijn cr&tica, prjlogo y notas de Mar&a Teresa Caso Machicado y Javier Gonz#lez Santos, Oviedo 1999, S. 216. 59 Zu Glöckchen als Amulette vgl. Alarcjn Rom#n, Cat#logo de amuletos del Museo del Pueblo EspaÇol, S. 45 [Nr. 1519], 52 [Nr. 1765], 99 [Nr. 9894], 101 [Nr. 10110], 122 [Nr. 11977], 124

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El poner en rid&culo la creencia tonta de que una campanilla de barro nos pueda librar de los truenos, ¿es pecar contra la fe?60 Wenn man sich über den dummen Aberglauben lustig macht, dass ein Tonglöckchen uns von allen Blitzen befreien kann, ist das etwas, womit man sich gegen den Glauben versündigt?

Auch sollte das Glöckchen mit seinem Klang böse Geister von dem Kind abhalten.61 Es hatte nicht die Funktion, wie einige angenommen haben, dafür zu sorgen, dass der kindische Erwachsene stets in Hörweite des Dieners blieb,62 dies war allenfalls ein unbeabsichtigter Nebeneffekt.

5.4.

Die Jakobsmuschel aus Gagat

Das ganz links hängende Amulett auf Capricho 4, das Llorente in seiner Kommentierung [LL04] nicht erwähnt, ist eine Jakobsmuschel aus Gagat, die an einer Metallhülse mit einem Kettchen befestigt ist. Gagat, benannt nach der Stadt Gagas in Kleinasien, ist ein Schmuckstein, bestehend aus tiefschwarzer Braunkohle, die ursprünglich ein »stark mit Bitumen durchtränktes Holz, strukturlos, sehr zäh«63 war. Gagat ist »eine schwarz-glänzende gut schnitzbare Kohlenart«64, ein Material, das sich relativ einfach zu Schmuckstücken und Amuletten verarbeiten lässt. Muscheln wurden seit der Antike als Amulette benutzt, wegen ihrer angeblichen apotropäischen Wirkung gegen den bösen Blick und gegen Verzauberungen und Krankheiten aller Art.65 Sebasti#n de Covarrubias Horozco verzeichnet den Aberglauben an die Amulette aus Gagat in zwei Einträgen seines

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[Nr. 12232], 129 [Nr. 12785], 134 [Nr. 13389]. Zum Glöckchen, bei dem heidnische Traditionen in christliche eingeflossen sind, vgl. Hansmann, Kriss-Rettenbeck, Amulett und Talisman, S. 182. Leandro Fern#ndez de Morat&n, La comedia nueva. El s& de las niÇas, Ediciones, introducciones y notas de John Dowling y Ren8 Andioc, Madrid 51990, S. 176, Anm. 17. Es handelt sich um ein Manuskript in der Biblioteca Nacional in Madrid (Signatur : Ms. 18666/2). Vgl. Natalia Horcajo Palomero, »Amuletos y talismanes en el retrato del Pr&ncipe Felipe Prjspero de Vel#zquez«, in: Archivo EspaÇol de Arte 288 (1999), S. 521–530, hier S. 522. Vgl. Alcal# Flecha, »El tema del niÇo malcriado en el Capricho 4, El de la Rollona, de Goya«, S. 340: »una campanilla para que no escape al cuidado constante de sus criados« (ein Glöckchen, damit er nicht der ständigen Sorgen seiner Diener entkommen kann). Vgl. Sayre, »El de la rollona«, S. 211: »una campanilla quiz#s para que el lacayo pueda seguirle la pista« (ein Glöckchen, vielleicht damit der Lakei ihm folgen kann). Kurt Köster, Pilgerzeichen und Pilgermuscheln von mittelalterlichen Santiagostraßen. SaintL8onard, Rocamadour, Saint-Gilles, Santiago de Compostela. Schleswiger Funde und Gesamtüberlieferung, Neumünster 1983, S. 145, Anm. 211. Ebd., S. 145. Vgl. ebd., S. 142.

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Tesoro de la lengua castellana o espaÇola von 1674. Zum Lemma azabache (Gagat) schreibt er : Es una piedra negra lustrosa y no muy dura y en EspaÇa hay algunos minerales della, de la cual en Santiago de Galicia hacen algunas efigies del Apjstol, cuentas de rosarios, higas para colgar de los pechos a los niÇos, sortijas con sus sellos y otras muchas cosas.66 Es ist ein glänzender schwarzer Stein und nicht sehr hart, und in Spanien gibt es etliche dieser Mineralien, aus denen man in Santiago in Galicien Abbildungen des Apostels anfertigt, Rosenkranzkügelchen, Amulette, um sie Kindern umzuhängen, Siegelringe und viele andere Dinge.

Zum Lemma higa (Amulett) heißt es: Colgar a los niÇos del hombro una higa de azabache es muy antiguo, y comfflnmente se inora su principio. Pudo tener origen de la misma materia, porque el succino o #mbar, y el azabache escriben tener propiedad contra el ojo; […].67 Den Kindern um die Schulter ein Amulett aus Gagat zu hängen, ist von alters her üblich, und gemeinhin weiß man nicht, seit wann. Es könnte seinen Ursprung im Material selbst haben, denn Bernstein und Gagat wird ein Wirkung gegen den bösen Blick zugeschrieben; […].

Erst mit der Entwicklung des Pilgerwesens um Santiago de Compostela wurden sie in christliche Kontexte integriert. Seit dem Mittelalter trugen die SantiagoPilger Naturmuscheln - die Jakobsmuschel oder Jacobus-Muschel – an ihrer Kleidung, an Hüten, Taschen oder am Pilgerstab.68 Die Muscheln wurden zweimal im Wirbelbereich der Muschelklappe durchbohrt, so dass hier eine Schnur oder Kordel durchgezogen werden konnte, um sie an der Kleidung zu befestigen.69 Als Jakobsmuscheln waren sie zunächst das Symbol der Santiagopilger und wurden im Laufe der Zeit zum typischen Attribut eines Pilgers schlechthin (signum peregrinationis) und fanden internationale Verbreitung. 66 Covarrubias Horozco, Tesoro de la lengua castellana o espaÇola, S. 260. 67 Ebd., S. 1953. 68 Zur Jakobsmuschel allgemein vgl. Robert Plötz, »Signum peregrinationis. Heilige Erinnerung und spiritueller Schutz«, in: Hartmut Kühne, Lothar Lambacher, Konrad Vanja (Hg.), Das Zeichen am Hut im Mittelalter. Europäische Reisemarkierungen. Symposion in memoriam Kurt Köster (1912–1986) und Katalog der Pilgerzeichen im Kunstgewerbemuseum und im Museum für Byzantinische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin, Frankfurt am Main/ Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2008, S. 47–70, hier S. 57–70. Zu den natürlichen Pilgermuscheln und den europaweiten Funden als Wallfahrtsdevotionalien vgl. Köster, Pilgerzeichen und Pilgermuscheln von mittelalterlichen Santiagostraßen, S. 119–155. 69 Es handelt sich hierbei um die Muschelsorte Pecten maximus, die im Atlantik verbreitet ist, nicht allerdings – wie es der biologische Name nahelegen würden – um Pecten jacobaeus, »eine auf das Mittelmeer beschränkte Art von Kammuscheln mit kantigen Rippen« (Köster, Pilgerzeichen und Pilgermuscheln von mittelalterlichen Santiagostraßen, S. 119 und 121).

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Außer Nachbildungen der Pilgermuscheln aus Metall waren vor allem solche aus Gagat gebräuchlich.70 Auch Hände aus Gagat wurden in Metallringe eingelassen, um sie sich als Amulette umzuhängen.71 In Santiago de Compostela gab es seit dem Mittelalter Handwerksbetriebe, in denen Amulette aus Gagat für die Pilger des Jakobswegs angefertigt wurden.72 Erhalten sind solche Jakobsmuscheln aus Gagat mit einer Silberfassung, an der ein Kettchen befestigt war,73 die genauso aussehen wie diejenige, die Goya auf Capricho 4 dargestellt hat.

5.5.

Der Amulettgürtel als Attribut der niños de la Rollona und der Kampf der spanischen Aufklärer gegen den Aberglauben

Dass die Amulette noch an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert keineswegs aus der Mode gekommen waren, sondern allenthalben benutzt und den Kindern umgehängt wurden, bezeugt der in Spanien reisende Deutsche Christian August Fischer (1771–1829) in seinem Reisebericht Gemälde von Valencia, der 1804, also fünf Jahre nach der Publikation der Caprichos, in Leipzig erschienen ist: Ein anderer auch in Valencia sehr gewöhnlicher Aberglaube scheint das sogenannte Mal de Ojos zu seyn, worunter man aber nicht etwa Ophthalmien, sondern Behexungen mit den Augen verstehen muß. Ist es nicht sonderbar, daß man den schönsten und edelsten Organen des Menschen von jeher einen so schädlichen Einfluß zugeschrieben hat? – Worauf indessen auch immer diese Meinung gegründet seyn mag; in Valencia hat man unzählige Mittel, gegen das gefährliche Mal de Ojos erdacht. Am meisten sucht man sich durch Amulet[t]e zu schützen, worunter die sogenannte Manecillas oder kleine Händchen von Elfenbein, die Maulwurfspfoten und Schar70 Zur Jakobsmuschel aus Gagat vgl. Jos8 Filgueira Valverde, »Azabaches compostelanos del Museo de Pontevedra«, in: El Museo de Pontevedra 2 (1943), S. 17. Köster, Pilgerzeichen und Pilgermuscheln von mittelalterlichen Santiagostraßen, S. 145. Franco Mata, »Azabaches del M. A. N.«, S. 140–141 und 143. Alarcjn Rom#n, Cat#logo de amuletos del Museo del Pueblo EspaÇol, S. 78 [Nr. 6828], 94 [Nr. 8927], 133 [Nr. 13216]. ]ngela Franco Mata, »El azabache en EspaÇa«, in: Compostellanum. Revista de la Archidiocesis de Santiago de Compostela 34 (1989), S. 311–336, hier S. 321–322, und dies., »Valores art&sticos y simbjlicos del azabache en EspaÇa y Nuevo Mundo«, in: Compostellanum. Revista de la Archidiocesis de Santiago de Compostela 36 (1991), S. 473 und 476, Abb. 71 Vgl. Osma y Scull, Cat#logo de azabaches compostelanos, S. 21, mit Abb. Zu den Amulette aus Gagat vgl. Valent&n Monte CarreÇo, El azabache. Piedra m#gica, joya, emblema jacobeo, Gijjn 2004. 72 Vgl. Jos8 Ferrandis, Marfiles y azabaches espaÇoles, Barcelona/Buenos Aires 1928, S. 232–233. Über die magische Wirkung des Gagats im Aberglauben in Spanien vgl. Alarcjn Rom#n, Cat#logo de amuletos del Museo del Pueblo EspaÇol, S. 27–28. 73 Vgl. Filgueira Valverde, »Azabaches compostelanos del Museo de Pontevedra«, S. 17, Nr. 1325.

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lachbüschel die vorzüglichsten sind. Im äußersten Nothfall indessen braucht man nur dem giftigen Basiliskenauge eine sogenannte Feige zu stecken, und die Behexung wird augenblicklich vernichtet seyn. Auf jene bekannte Stellung des Daumens zwischen den beyden Mittelfingern, kommt es auch bey den ebengenannten Manecillas an, die man besonders Kindern umzuhängen pflegt.74

Die Bekämpfung des Aberglaubens der Amulette war eines der Hauptanliegen der spanischen Aufklärer. Zudem war es üblich, die Kinder mit einer Vielzahl solcher Amulette zu versehen, die an einem Amulettgürtel befestigt waren. Erhalten ist ein Exvoto de La Peregrina eines anonymen Künstlers im Monasterio Madres Benedictinas de Sahagffln in Lejn, von 1748, auf dem ein drei Monate altes Kind dargestellt wird, das einen solchen Amulettgürtel trägt: mit einer Kastanie,75 einem Glöckchen, einer Rassel mit Schellenglöckchen, einer Dachspfote, einem Reliquienmedaillon.76 Solche Amulettgürtel sind auch im Museo Sorolla in Madrid vorhanden.77 Einer von ihnen enthält sogar insgesamt vierzehn Amulette, darunter auch eine Dachspfote in einer Silberhülse.78 Die Amulette sind ein traditionelles Attribut des Typus El de la Rollona. Am Ende der erstmals 1670 veröffentlichten, Calderjn zugeschriebenen Mojiganga del p8same de la viuda (Stück über das Beileid für die Witwe) taucht die Amme mit einem erwachsenen »NiÇo de la Rollona« namens Morales auf.79 In der Ausgabe der Entremeses von 1722 steht die Regieanweisung, dass Morales von seiner Amme an einem Gängelband, an dem Amulette hängen, auf die Bühne geführt wird: »Saca la niÇa a Morales con dijes rid&culos de los andadores«80 (An den Gängelbändern zieht das Mädchen Morales mit lächerlichen Anhängerchen). Die Amme sagt zu dem Kind an den Gängelbändern: 74 Christian August Fischer, Gemälde von Valencia, Zweyter Theil, Leipzig 1804, S. 39–40. 75 Zum Amulett der Kastanie vgl. Alarcjn Rom#n, Cat#logo de amuletos del Museo del Pueblo EspaÇol, S. 46 [Nr. 1524], 51 [Nr. 1715], 98 [Nr. 9884]. 76 Dargebracht wurde das Bild der oben links abgebildeten Schutzpatronin des Klosters von Sahagffln, der Divina Peregrina. Die rechte Hand des Kindes ruht auf einer Tafel, auf der die Namen seiner Eltern angegeben werden und der Grund der Votivgabe: Das Kind litt unter einem achttägigen Epilepsieanfall und wurde nach den Angaben des Textes von der Divina Peregrina vor dem Tode gerettet und geheilt. Vgl. Rafael Dom&nguez Casas, Museo Monasterio Madres Benedictinas de Sahagffln (Lejn), Trobajo del Camino 2001, S. 22; 25, Abb. Öl auf Leinwand (77 x 60 cm). 77 Vgl. Concha Herranz, »Amuletos y talismanes en un cinturjn m#gico del Museo Sorolla«, in: Iberjoya 14 (1984), S. 50–55. Franco Mata, »Valores art&sticos y simbjlicos del azabache en EspaÇa y Nuevo Mundo«, S. 503. 78 Ein ähnlicher Amulettgürtel wird im Convento de Santo Domingo el Antiguo in Toledo aufbewahrt. Vgl. Franco Mata, »Valores art&sticos y simbjlicos del azabache en EspaÇa y Nuevo Mundo«, S. 503 und S. 504, Abb. 79 Vgl. Pedro Calderjn de la Barca, »Mojiganga del p8same de la viuda«, in: Ders., Teatro cjmico breve. Edicijn cr&tica por Mar&a-Luisa Lobato, Kassel 1989, S. 287–288. 80 Ebd., S. 300.

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Anda, niÇo, anda, que Dios te lo manda.81 Lauf, Kind, lauf, um Gottes Willen.

In der im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts entstandenen mojiganga mit dem Titel Los niÇos de la Rollona y lo que pasa en las calles (NiÇos) von Simjn de Aguado,82 die zu Fronleichnam aufgeführt wurde, heißt es in der Regieanweisung des Stücks, in dem zwei »niÇos de la Rollona« auftreten: »Sale el Niño Primero vestido con dijes y rid&culo birrete y vestido, y saca un pan mordiendo d8l«83 (Das Erste Kind tritt auf, bekleidet mit Amuletten und einer lächerlichen Mütze und einem lächerlichen Gewand, aus dem es ein Brot herausnimmt, in das es beißt). Eines der beiden »niÇos de la Rollona« weist auf die Wirkkraft eines Amuletts gegen den bösen Blick hin: Maye, en la plaza me han dado las fruteras pan y queso, y una me puso esta higa, porque me mirj tan bello y dijo que me pod&an matar de ojo.84 Maye, auf dem Platz haben mir die Obstfrauen Brot und Käse gegeben, und eine hängte mir dieses Amulett um, weil sie mich für so schön ansah, und sie sagte mir, dass man mich mit dem Auge töten könnte.

Den Aberglaube, dass insbesondere schöne Kinder vom bösen Blick gefährdet sind, erwähnt auch der Benediktiner Fray Benito Jerjnimo Feijoo y Montenegro (1676–1764) in dem Essay Observaciones comunes (Allgemeine Beobachtungen) seines Teatro cr&tico universal: Cr8ese que los niÇos hermosos est#n m#s expuestos # este daÇo; porque la ternura de su edad es m#s capaz de recibir la maligna impresion, y la hermosura excita la envidia en los que la miran.85 81 Ebd. 82 Vgl. Emilio Cotarelo y Mori, Coleccijn de Entremeses, Loas, Bailes, J#caras y Mojigangas desde fines del siglo XVI # mediados del XVIII, 1. Bd., Madrid 1911, S. 222–226. Buezo, La mojiganga dram#tica, S. 139–156. 83 Buezo, La mojiganga dram#tica, S. 149. Vgl. Cotarelo y Mori, Coleccijn de Entremeses, S. 224. 84 Buezo, La mojiganga dram#tica, S. 150. Vgl. Cotarelo y Mori, Coleccijn de Entremeses, S. 224. 85 Fray Benito Jerjnimo Feijoo y Montenegro, Obras escogidas, 1. Bd., Madrid 1952, S. 244–245 [V, V].

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Man glaubt, dass die schönen Kinder diesem Schaden am meisten ausgesetzt sind, da die Zartheit ihres Alters es am meisten möglich macht, den schädigenden Einfluss aufzunehmen, und die Schönheit fordert die Missgunst derjenigen heraus, die sie erblicken.

Feijoo beschreibt auch die Praxis der Amulette, die den angeblichen bösen Blick von den Kindern abwenden sollen.86 Er war einer der ersten, der diesen Aberglauben durch Aufklärung und den Gebrauch kritischer Vernunft abschaffen wollte. Auch in literarischen Texten wurde der Aberglaube der Amulette satirisch dargestellt, mit der aufklärerischen Absicht, ihn zu bekämpfen und abzuschaffen. F8lix Antonio Ponce de Lejn veröffentlichte 1779 in Madrid den satirischen Roman Vida, hechos y aventuras de Juan Mayorazgo, in dem er die Amulette, die man den Kindern noch im 18. Jahrhundert umhängte, und ihre angebliche Funktion beschreibt: Haria sin duda el mas bello punto de vista que imaginarse puede, con su gran delantal de muselina floreada, mas largo que la cola de los enlutados de Viernes Santo. ¿Pues qu8 tambien seria verle con los dem#s equipages de su chupador de cristal, guarnecido el cabo superior, con su cerco de plata? uÇa de la gran bestia con igual cerco? con la circunstancia de que 8sta quanto mas peluda mejor ; su esquila de igual metal? Su higa de azabache y cor#l con la medalla de San Benito, y un ochavo segoviano con su agugero que es circunstancia? su cascabelero tambien de plata en forma de media luna, pendiendo del rededor del semicirculo de ella muchos cascabeles? y si podia ser que el cascabelero tubiese en s& la gracia de hacer tambien el papel de silvato major: al fin seria una delicia verle con mas carga que un Nav&o.87 Es würde ohne Zweifel den schönsten Blickfang darstellen, den man sich vorstellen kann, mit seiner großen Schürze aus geblümtem Musselin, länger als die Schleppe der mit Trauerkleidung Bekleideten am Karfreitag. Wie wäre es denn, wenn man ihn mit den anderen Ausrüstungsgegenständen zu seinem Kristallschnuller sieht, der am oberen Ende mit einem Silberring ausgestattet ist? Die Kralle des großen wilden Tieres mit einem ebensolchen Ring? Mit der Eigenschaft, dass diese umso besser ist, je behaarter sie ist; seinem Glöckchen aus demselben Metall? Sein Amulett aus Gagat und Koralle mit der Medaille des Heiligen Benedikt, und eine Kupfermünze aus Segovia mit ihrem Loch, das ihre Eigenschaft ausmacht? Seine Kinderklapper, auch aus Silber, halbmondförmig, wobei vom Rund ihres Halbkreises viele Schellen herabhängen? Und was wäre, wenn die Kinderklapper noch die Eigenschaft besäße, die Funktion einer großen Pfeife zu erfüllen: Schließlich wäre es eine Freude, ihn mit einer größeren Fracht zu sehen als die eines Schiffs.

Deutlich äußert Ponce de Lejn nach dieser Beschreibung seine Kritik an diesem Aberglauben, und er beschreibt die Reaktion der Gesellschaft gegenüber je86 Vgl. ebd., S. 245. 87 F8lix Antonio Ponce de Lejn, Vida, hechos y aventuras de Juan Mayorazgo, alusivos a la buena y mala crianza del SeÇorito en su Pueblo, y Cadete en la Milicia, Madrid 1779, S. 27–29.

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mandem, der versucht hat, den Aberglauben zu konterkarieren und in Frage zu stellen: Disputar con ellos sobre la virtud de la uÇa de la gran bestia, seria una bestialidad: ella espanta las brujas, de que (dicen ellos) abunda el pa&s, las que celebran sus festines y juntas con gran algaz#ra en los montes de Campos-verdes;88 es contra peste y otras mil epidemias. Si Plinio y dem#s Escritores naturalistas hubieran vivido en este tiempo lograrian sin duda las mas bellas noticias, que hubieran apetecido, para enriquecer sus libros. […] Previenese al Lector, que no todos los niÇos gastan estas zarandajas; es solo para aquellos que tienen los Padres hacendados, y que han obtenido oficios y empleos honorificos, como Alcalde, Regidor & c. No obstante hubo un sugeto que quiso exterminarlo, aun siendo de los hacendados, y mando89 poner # su hijo un cencerro, y quando debian darle gracias porque enseÇaba el camino de despreciar aprehensiones vanas, y cuentos de viejas, le censuraron de indiscreto, y aun se llevj muy # mal entre los conocidos (no tenia parientes en el pueblo) que faltase al modo y aparato de sus antecesores; este aparato de los hacendados, como que no es permitido # los dem#s, y suele verse # lo mas mas uno ffl otro que trahe chupador y campanilla, pero de metal y aquel de vidrio comun […].90 Mit ihnen über die Wirkung einer Kralle des großen wilden Tieres zu diskutieren, wäre eine Unverfrorenheit: Sie erschreckt die Hexen, von denen (wie sie sagen) das Land voll ist und die ihre Festgelage und Versammlungen mit großem Lärm in den Bergen des Hexensabbats feiern; sie ist gegen Pest und tausend andere Ansteckungskrankheiten. Wenn Plinius und andere Naturforscher in dieser Zeit gelebt hätten, hätten sie ohne Zweifel die schönsten Neuigkeiten erfahren, die sie gefallen hätten, um damit ihre Bücher anzureichern. […] Dem Leser sei gesagt, dass nicht alle Kinder diesen Firlefanz tragen; er ist nur für diejenigen vorgesehen, die begüterte Väter haben, die ehrenvolle Ämter und Berufe haben, wie Bürgermeister, Ratsherr etc. Dennoch gab es jemanden, der ihn ausrotten wollte, obwohl er sogar zu den Begüterten gehörte, und so ordnete er an, seinem Sohn eine Kuhglocke umzuhängen, und statt dass man ihm dafür dankte, dass er den Weg gewiesen hatte, um solche nutzlosen Vorurteile und Ammenmärchen despektierlich zu behandeln, kritisierte man ihn als taktlos, und er kam ganz schlecht mit seinen Bekannten zurecht (er hatte keine Verwandten im Dorf), da er gegen die Vorgehensweise und Vorrichtungen seiner Vorfahren verstoßen habe; diese Vorrichtungen der Begü88 Die spanische Bezeichnung aquelarre (Hexensabbat) entspricht dem baskischen Wort akelarre, in dem aker (Ziegenbock) und larre (Wiese) miteinander verbunden sind. Gemeint ist hier der Versammlungsort der Hexen, der im Baskenland auf Baskisch als Berdelanda oder Akerlarra bezeichnet wurde, was dem Kastilischen campo verde (grünes Feld) oder campo del cabrjn (Feld des Ziegenbocks) entspricht. Vgl. IÇaki Reguera Acedo, »La brujer&a vasca en la Edad Moderna: aquelarres, hechicer&a y curanderismo«, in: Revista internacional de los estudios vascos 9 (2012), S. 240–283, hier S. 248, Anm. 39. 89 Recte: mandj. 90 Ponce de Lejn, Vida, hechos y aventuras de Juan Mayorazgo, S. 29–31.

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terten, so wie sie den anderen nicht gestattet sind und man sie mehr allerhöchstens mal beim ein oder anderen sehen kann, der einen Schnuller oder ein Glöckchen trägt, aber aus Metall und ganz gewöhnlichem Glas […].

Goyas Freund Leandro Fern#ndez de Morat&n behandelt den Aberglauben der Amulette und Glücksbringer in satirischer Weise in dem Theaterstück El s& de las niÇas (Das Jawort der Mädchen), das 1801 beendet und 1805 erschienen ist und im folgenden Jahr uraufgeführt wurde. Die Glücksbringer sind hier Indizien für die von den Aufklärern heftig kritisierten Erziehungsmethoden, die darauf abzielen, bei den Kindern den Aberglauben zu befördern, anstatt ihn zu bekämpfen. Als der ältere Don Diego der jungen DoÇa Francisca begegnet, die ihm von ihrer Mutter DoÇa Irene als künftige Ehefrau zugeführt wird, zeigt ihm das junge naive Mädchen stolz die Anhänger, mit der die Nonnen des Klosters Santa Catalina, in dem es seine Erziehung erhalten hat, sie behangen haben: DoÇa Francisca […] Pero mire usted, mire usted (Desata el paÇuelo y manifiesta algunas cosas de las que indica el di#logo) cu#ntas cosillas traigo. Rosarios de n#car, cruces de cipr8s, la regla de S. Benito, una pililla de cristal… Mire usted qu8 bonita. Y dos corazones de talco… ¡Qu8 s8 yo cu#nto viene aqu&!… ¡Ay!, y una campanilla de barro bendito para los truenos… ¡Tantas cosas! DoÇa Irene Chucher&as que la han dado las madres. Locas estaban con ellas. […] DoÇa Francisca Toma (Vuelve a atar el paÇuelo y se le da a Rita, la cual se va con 8l y con las mantillas al cuarto de D.a Irene), gu#rdamelo todo all&, en la escusabaraja. Mira, ll8valo as& de las puntas… ¡V#lgate Dios! ¡Eh! ¡Ya se ha roto la santa Gertrudis de alcorza!91 DoÇa Francisca […] Aber schauen Sie, schauen Sie, (Sie knüpft das Taschentuch auf und zeigt einige von den Dingen vor, die im Dialog bezeichnet werden), wie viele kleine Dinge ich trage. Rosenkränze aus Perlmutt, Kreuze aus Zypressenholz, die Regel des Heiligen Benedikt, ein Kügelchen aus Kristall … Schauen Sie, wie hübsch. Und zwei Herzen aus Talgstein … Was weiß ich, wieviel hier noch kommt! … Ach! und ein Glöckchen aus gesegnetem Ton gegen die Blitze … So viele Sachen! DoÇa Irene Anhängerchen, die ihr die Nonnen gegeben haben. Verrückt waren sie mit denen. […] 91 Fern#ndez de Morat&n, La comedia nueva. El s& de las niÇas, S. 176–177.

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DoÇa Francisca Nimm (Sie bindet das Taschentuch nochmals zusammen und gibt es Rita, die damit und mit den Mantillen in DoÇa Irenes Zimmer geht), bewahr mir dies alles dort auf, im Weidenkorb. Schau, nimm es so an den Spitzen … Um Gottes willen! Ach! Schon ist die Heilige Gertrud aus Zuckerguß zerbrochen!

Mit dem Hinweis auf ihre Anhängerchen offenbart DoÇa Francisca ihr noch kindliches, naives, unschuldiges Gemüt. Ihre Mutter DoÇa Irene nennt die Anhängerchen »chucher&as«. Leandro Fern#ndez de Morat&n hat handschriftlich folgendes zu dieser Passage notiert: No es de lo m#s p&o ni ben8volo aquella entrada de D.a Paquita con el paÇuelo lleno de Stos.92 de alcorza, estampas y dem#s que en la comedia se llaman chucher&as de monjas con cierto tono que maldita la cosa me gusta.93 Weder von der frommsten noch günstigsten Art ist jener Auftritt der DoÇa Paquita mit dem Taschentuch voller Heiligenfiguren aus Zuckerguss, Heiligenbildchen und anderem, die in dem Stück in einem gewissen Ton Nonnentand genannt werden, was mir ausnehmend gut gefällt.

Ein Indiz dafür, dass der Aberglaube der Dachspfote in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich offensichtlich an Aktualität verlor, ergibt sich daraus, wie lange er in den verschiedenen Auflagen des Akademiewörterbuchs verzeichnet wurde. In der ersten Auflage wird der Aberglaube der Dachspfote nicht erwähnt, sondern erstmals in der vierten Ausgabe von 1803 unter dem Lemma higa (Amulett): La mano derecha cortada al topo, j tejon, j una pieza de azabache en figura de mano, que entre otros dixes se pone # los niÇos, creyendose supersticiosamente por algunos, que tiene virtud para preservar del mal de ojo. Amuletum contra fascinum vulgo creditum.94 Die rechte Hand, die einem Maulwurf oder Dachs abgeschnitten wurde, oder ein Stück Gagat in Form einer Hand, die man den Amuletten der Kinder hinzufügt, da einige abergläubischer Weise glauben, dass sie einen vor dem bösen Blick bewahren können. Amuletum contra fascinum vulgo creditum.

Dieser Eintrag findet sich auch in den nachfolgenden Auflagen von 1817 und 1822. Ab der Auflage von 1832 wird die Dachspfote nicht mehr erwähnt, was

92 Abkürzung für : Santos. 93 Zitiert nach Fern#ndez de Morat&n, La comedia nueva. El s& de las niÇas, S. 177, Anm. 18. Es handelt sich um ein Manuskript in der Biblioteca Nacional in Madrid (Signatur : Ms. 18666/ 2). 94 Diccionario de la lengua castellana, Madrid 1803, S. 461.

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darauf hindeutet, dass um diese Zeit der Aberglaube allmählich in Vergessenheit geraten war.95

6.

Goya und Rousseau – Capricho 4 im Kontext der Diskussion der Aufklärung über die Erziehung der Kinder

Aber darüber hinaus geht es Goya ohne Zweifel noch um mehr : Zum aufklärerischen Programm von Capricho 4 gehört außer der Kritik am Aberglauben auch die Kritik an Missbräuchen der Erziehung im Allgemeinen und an traditionellen, längst überkommenen Erziehungskonzepten, die gegen die Natur der Kinder gerichtet waren, denn Capricho 4 steht im Kontext der Diskussion über die Erziehung der Kinder, die seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts in Spanien intensiv geführt wurde und auch zur Gründung verschiedener Erziehungsinstitutionen und Schulen führte.96 Insbesondere der pädagogische Roman Pmile von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) beeinflusste die spanische Diskussion, trotz des 1764 ausgesprochenen Verbots seiner Schriften in Spanien.97 Rousseau beschreibt in seinem Erziehungsroman, wie die Kinder mit Windeln oder Tüchern eingewickelt wurden und auch ihre engumwickelten Beine ihre Bewegungsfreiheit einschränkten. Pmile n’aura ni bourrelets, ni paniers roulants, ni chariots, ni lisiHres ; ou du moins, dHs qu’il commencera de savoir mettre un pied devant l’autre, on ne le soutiendra que sur les lieux pav8s, et l’on ne fera qu’y passer en h.te.98 Emil wird also weder Fallhaube, noch Laufkorb, weder Laufstuhl noch Gängelband haben. Man wird ihn, wenn er schon die Füße setzen kann, höchstens an gepflasterten Stellen stützen, über die man ihm rasch hinweghilft.99

Auch gegen die Unsitte, die Kinder unnötig mit Stoffen zu umwickeln, wehrt sich Rousseau: Les membres d’un corps qui cro%t doivent Þtre tous au large dans leur vÞtement ; rien ne doit gÞner leur mouvement ni leur accroissement, rien de trop juste, rien qui colle au 95 Zu den Lexikoneinträgen zu higa vgl. Osma y Scull, Cat#logo de azabaches compostelanos, S. 26–27. 96 Vgl. Alcal# Flecha, »El tema del niÇo malcriado en el Capricho 4, El de la Rollona, de Goya«, S. 340. 97 Vgl. Jefferson Rea Spell, Rousseau in the Spanish World before 1833. A Study in Franco-Spanish Literary Relations, New York 1969. Alcal# Flecha, »El tema del niÇo malcriado en el Capricho 4, El de la Rollona, de Goya«, S. 340–341. 98 Jean-Jacques Rousseau, Pmile ou de l’8ducation, Introduction, bibliographie, notes, et index analytique par FranÅois et Pierre Richard, Paris 1964, S. 60 (Livre Second). 99 Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, Vollständige Ausgabe. In neuer deutscher Fassung besorgt von Ludwig Schmidts, Paderborn/München/Wien/Zürich 121995, S. 54.

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corps ; point de ligatures. […] L’habillement de houssard, loin de rem8dier / cet inconv8nient, l’augmente, et pour sauver aux enfants quelques ligatures, les presse par tout le corps.100 Wachsende Gliedmaßen müssen Raum in ihren Kleidern haben. Nichts darf ihre Bewegung und ihr Wachstum hindern. Nichts darf abschnüren. […] Die Husarentracht hilft nicht, sie vermehrt das Übel, und um den Kindern ein paar Schnürbänder zu ersparen, schnürt sie den ganzen Körper ein.101

Rousseau fordert die äußere Bewegungsfreiheit für die Kinder, von Geburt an, als Befreiung aus der Sklaverei (»esclavage«102). Die Mehrzahl der von Rousseau genannten Zwangsobjekte wird von Goya auf Capricho 4 dargestellt, ebenso die eng umwickelten Beine, damit auch sie vor Stößen beim eventuellen Sturz bewahrt bleiben. Die Gängelbänder, oft zwei parallele Bänder, waren am rückwärtigen Ärmelansatz der Kinderkleidung angenäht oder wurden an dem Kind mit einem Geschirr, an dem sie hingen, befestigt.103 Sie dienten vor allem in gehobenen Schichten, vorzugsweise beim Adel und am Hofe, als Laufhilfen für die Kleinkinder.104 Der Maler Peter Paul Rubens (1577–1640) hat auf einem um 1635 entstandenen Gemälde sich zusammen mit seiner zweiten Frau H8lHne Fourment (1614–1673) und seinem kleinen Sohn Frans (1633–1678) abgebildet, der einen Fallhut trägt und an Gängelbändern gezogen wird.105 Rouanet identifiziert in einer sehr detaillierten, lebendigen Beschreibung von Capricho 4 die Kopfbedeckung des Erwachsenen in Kinderkleidung korrekterweise als Fallhut: »Ce monstre, coiff8 d’un bourrelet et faisant sonner / sa ceinture divers brimborions enfantins, se tra%ne auprHs d’une bassine«106 (Dieses Ungeheuer, das, mit einem Kopfpolster versehen, an seinem Gürtel verschiedene kleine Dinge zum Erklingen bringt, begibt sich in die Nähe einer Wanne). Der Fallhut, der meist einem Wulst aus Stoff oder Pelz aufwies, diente als Schutz vor 100 101 102 103

Rousseau, Pmile ou de l’8ducation, S. 129 (Livre Second). Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, S. 112. Rousseau, Pmile ou de l’8ducation, S. 13. Im Akademiewörterbuch findet sich folgende Definition des Begriffs andador im Sinne von Gängelband: »Una faxa que se ciÇe al niÇo por la cintfflra, / la qual est#n as&dos dos cordones, k cintas, por los quales le lleva alguna persjna, para que no c#iga y aprenda / andar« (Diccionario de la lengua castellana, 1. Bd., Madrid 1726, S. 284) (Eine Bauchbinde, die man dem Kind als Gürtel umlegt und an der zwei Schnüre oder Bänder befestigt sind, an der es von jemandem gezogen wird, damit es nicht fällt und Laufen lernt). Vgl. Esteban de Terreros y Pando, Diccionario castellano con las voces de ciencias y artes y sus correspondientes en las tres lenguas francesa, latina 8 italiana, 1. Bd., Madrid 1786, S. 368. 104 Zum Gebrauch des Gängelbands in der Kindererziehung seit dem 17. Jahrhundert vgl. Ingeborg Weber-Kellermann, Die Kindheit. Kleidung und Wohnen, Arbeit und Spiel. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt am Main 1979, S. 34–36. 105 Öl auf Leinwand, 204,2 x159,1 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York (Signatur: 1981.238). 106 L8o Rouanet, IntermHdes espagnols du XVIIe siHcle, Paris 1897, S. 134.

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Kopfverletzungen und war wie das Gängelband seit dem 16. Jahrhundert in der Aufzucht der Kinder ein beliebtes Requisit.107

7.

Capricho 4 als groteske Adelssatire

Außer der Kritik am Aberglauben und an der Erziehung enthält Capricho 4 noch einen weiteren wichtigen Aspekt: den der Adelssatire. Dass niÇos de la Rollona mit der Erziehung der Adligen in Zusammenhang gebracht wurden, konnte Alcal# Flecha anhand eines vom Oktober 1696 datierten Manuskripts nachweisen, mit dem Titel El Compadre. Carta de Antjn Chapado a sus compaÇeros Perico y Marica en que les dice algunas novedades de la Corte. Hierin werden verschiedene Adelshäuser durch den Vergleich mit unterschiedlichen Typen von Kindern, darunter auch die niÇos de la Rollona, charakterisiert: Osuna es niÇo fogoso, Pastrana es niÇo compuesto, y niÇos de la Rollona Arcos, Alburquerque y Lemus. Con este juego de niÇos y otro juego de estafermos, toda esta Monarqu&a es de la fortuna juego.108 Osuna ist ein wildes Kind, Pastrana ist ein artiges Kind, und Kinder des Kindermädchens sind Arcos, Alburquerque und Lemus. Mit diesem Kinderspiel und einem anderen Spiel von Kranken ist die ganze Monarchie ein Spiel des Schicksals.

Goyas Capricho 4 enthält also sicherlich eine politische Kritik an der Erziehung der Adligen. Dies wird auch an Goyas Gestaltung der rechten Gestalt deutlich, die in den handschriftlichen Kommentaren als Lakai identifiziert wird. Goya hätte sicherlich auch das Kindermädchen, die Rollona selbst, abbilden können, aber er hat einen Diener gewählt, so dass damit unterschiedliche Stände gezeigt werden, denn der Erwachsene in Kinderkleidung repräsentiert den Adel: Das 107 Zum Gebrauch des Fallhuts in der Kindererziehung seit dem 16. Jahrhundert vgl. WeberKellermann, Die Kindheit, S. 36–37. Helmut Heintel, »Die Fallhaube: eine Erfindung des 16. Jahrhunderts?«, in: Medizinhistorisches Journal 19 (1984), S. 273–276. 108 Zitiert nach Alcal# Flecha, »El tema del niÇo malcriado en el Capricho 4, El de la Rollona, de Goya«, S. 343.

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Volk muss den unfähigen Adligen mitziehen, mit ernähren und am Leben erhalten. Die Darstellung entspricht dem brisanten Capricho 42 mit der Bildlegende Tu que no puedes (Du, der du nicht kannst), auf dem zwei Männer aus dem einfachen Volk zwei Esel auf dem Rücken tragen müssen, die die höheren Stände repräsentieren. Goya knüpfte in Capricho 4 nicht nur an die Tradition der niÇos de la Rollona an, denn er greift mit dem Motiv des Amulettgürtels, den er sorgfältig ausgestaltet hat, auch auf die Traditon der Porträts der spanischen Königskinder des Siglo de Oro zurück. Dadurch dass er die Ikonographie der Infantenporträts zur Groteske verfremdet, stellt er den Aberglauben und die Erziehungskonzepte sowohl der vergangenen Jahrhunderte als auch seiner Gegenwart in satirischer Weise in Frage, was auch deutlich von den zeitgenössischen Autoren der handschriftlichen Kommentierungen zu Capricho 4 in Bezug auf die Granden zum Ausdruck gebracht worden ist. Die spanischen Habsburger hatten aufgrund ihrer eigenen Erfahrung mit zahlreichen frühverstorbenen Kindern eine große Angst um das Leben der Kinder ihrer Familie, denn nur deren Fortbestand war eine Garantie für die Thronfolge. Dass diese Angst durchaus berechtigt war, zeigt schließlich der Umstand, dass der letzte Habsburger König Karl II. im Jahre 1700 kinderlos verstarb und damit die direkte Linie der spanischen Habsburger erlosch. So ist es verständlich und nachvollziehbar, dass dieser Erfolgsdrang, die Nachfolge des Hauses Habsburg zu sichern, die Könige für alles empfänglich machte, was auch nur die geringste Hoffnung oder Aussicht zu bieten schien, die Gesundheit und das Leben ihrer anfälligen, kränklichen Nachkommenschaft zu beschützen und zu bewahren, und hierzu gehörten eben auch abergläubische Praktiken wie Amulette, auf deren apotropäische Wirkung man hoffte, um Unheil und schadbringende Einflüsse von den Kindern abzuwehren: sei es der böse Blick, der seltene, aber meist tödliche Blitzschlag, die Abwehr von Krankheit und weiteren denkbaren negativen Einflüssen jeglicher Art. In den abergläubischen Praktiken der Amulette oder den Amulettgürteln, die man den Kindern umhängte, verbanden sich tief verwurzelte heidnische Praktiken mit einem Aberglauben, der sich aus christlichen Quellen speiste: die angebliche Wunderwirkung von Reliquien, Heiligenbildchen oder der Heiligen Schrift in Form eines Evangelienbüchleins. Dokumentiert ist dieser Aberglaube in den Porträts der Infanten, Infantinnen und ihrer Geschwister, die die spanischen Hofmaler seit den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts und im Laufe des 17. Jahrhunderts im Auftrag der Könige angefertigt haben. Eines der ersten und frühesten Infantenporträts mit Amuletten ist das des früh an Pocken verstorbenen Don Diego (1575–1582), das Alonso S#nchez Coello (1531/32–1588) im Jahre 1577 gemalt hat, als ganzfiguriges Bildnis des

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zweijährigen Infanten.109 An einer Halskette hängen verschiedene Amulette: ein rotes Korallenherz in Goldfassung,110 eine schwarze, in Gold eingefasste schwarze Tigerpranke, ein Silberkreuz mit Totenkopf, ein Goldzahn, ein Medaillon mit der Jungfrau Maria mit Kind, ein Anhänger aus Malachit. An einer zweiten, etwas längeren Kette ist ein Reliquiar aus Glas befestigt.111 Juan Pantoja de la Cruz (1553–1608) malte eine ganze Reihe solcher Infantenporträts. 1602 porträtierte er die Infantin Ana (1601–1660), die älteste Tochter von König Philipp III. und Margarita von Österreich.112 Es handelt sich um ein »Säuglingsbild der Infantin«113 ; sie war am 22. September 1601 geboren und nur wenige Monate alt, wurde aber in der Haltung einer Erwachsenen dargestellt. Die Infantin sitzt auf einem roten Samtkissen mit großen Troddeln an den vier Ecken. Sie trägt ein Seidenkleid mit Spitzenschürze, -kragen und -manschetten. Sie hält in der rechten Hand ein rotes Korallenamulett. In der linken Hand befindet sich ein Kettchen mit einem Hörnchen, das in Silber eingefasst ist. Sie trägt um den Hals ein kleines und ein großes Kreuz, und an weiteren Bändern hängen zwei Reliquiare. An dem Band um die Taille hängen, von links nach rechts: eine Klapper, ein rautenförmiges Amulett, eine Hand aus Gagat,114 ein Glöckchen.115 109 Öl auf Leinwand, 111 x 91 cm. Winchester, Sammlung Lord Northbrook. Vgl. Stephanie Breuer, Alonso S#nchez Coello, München 1984, S. 129–131. Stephanie Breuer-Hermann, »Alonso S#nchez Coello: El Infante Don Diego«, in: Alonso S#nchez Coello y el retrato en la Corte de Felipe II, Madrid 1990, S. 145 (Nr. 26, mit Abb.). Maria Kusche, »Zeremoniell und Individuum. S#nchez Coello, Hofmaler Philipps II.«, in: Henrik Karge (Hg.), Vision oder gegen Wirklichkeit. Die spanische Malerei der Neuzeit, München 1991, S. 55–56 und 59, Abb. Horcajo Palomero, »Amuletos y talismanes en el retrato del Pr&ncipe Felipe Prjspero de Vel#zquez«, S. 524 und 525, Abb. 2. Maria Kusche, Retratos y retratadores. Alonso S#nchez Coello y sus competidores Sofonisba Anguissola, Jorge de la Rffla y Rol#n Moys, Madrid 2003, S. 332–333; S. 332, Abb. 110 Zu Korallenamuletten vgl. Hansmann/Kriss-Rettenbeck, Amulett und Talisman, S. 41–42. Franco Mata, »Valores art&sticos y simbjlicos del azabache en EspaÇa y Nuevo Mundo«, S. 498, Anm. 51. Zur Verbreitung und Funktion von Amuletten aus Koralle in Spanien vgl. Alarcjn Rom#n, Cat#logo de amuletos del Museo del Pueblo EspaÇol, S. 28–29. Zur Deutung vgl. Breuer-Hermann, »Alonso S#nchez Coello: El Infante Don Diego«, S. 145: »[…] el corazjn de coral rojo que simboliza el lugar, el comienzo y el fin de la vida«. 111 Vgl. Franco Mata, »Valores art&sticos y simbjlicos del azabache en EspaÇa y Nuevo Mundo«, S. 497, Abb.; S. 498, Anm. 51. 112 Öl auf Einwand, 93 x 76 cm. Descalzas Reales, Madrid. Vgl. Maria Kusche, Juan Pantoja de la Cruz, Madrid 1963, S. 83 und 158 [Nr. 29]; unpag., Abb. 26). Horcajo Palomero, »Amuletos y talismanes en el retrato del Pr&ncipe Felipe Prjspero de Vel#zquez«, S. 526. 113 Kusche, Juan Pantoja de la Cruz, 83. 114 Nicht, wie Kusche angibt: »eine Korallenhand« (Kusche, Juan Pantoja de la Cruz, S. 158). 115 Juan Pantoja de la Cruz (1553–1608) hat später drei weitere Bilder der Infantin Ana gemalt, aber die Amulette sind nur auf dem ersten Bild des Säuglings Ana abgebildet, nicht auf den Bildern des Kleinkinds. Zu den vier Bildnissen der Infantin Ana von Pantoja vgl. Kusche, Juan Pantoja de la Cruz, S. 83–87.

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Juan Pantoja de la Cruz malte 1607 im Alter von etwa sechs Monaten die Infantin Maria (1606–1646), die dritte Tochter von König Philipp III. und Margarita von Österreich.116 Beschrieben wird das Bild in der Rechnung des Malers an Königin Margarita für die Werke der Jahre 1600 bis 1607: – El dicho d&a, mes y aÇo117 entregu8 a Hernando de Rojas vn rretrato entero de Su AlteÅa la Ynfanta DoÇa Mar&a, bestida de blanco con sus diges, sentada sobre vna almoada de terÅiopelo carmesi, original que lleuj a Flandes el dicho Don Ricardo, entreguele en Madrid–118 Am gleichen Tag, Monat und Jahr übergab ich Hernando de Rojas ein ganzfiguriges Porträt Ihrer Hoheit, der Infantin DoÇa Mar&a, weiß gekleidet, mit ihren Amuletten, auf einem Kissen aus karmesinroten Samt sitzend, ein Originalbild, das der erwähnte Don Ricardo119 nach Flandern mitnahm, ich übergab es ihm in Madrid.

Die Infantin sitzt auf einem roten Samtkissen, gelehnt gegen eine Rückenrolle, die auf einer Bank liegt. In der rechten Hand hält sie ein rotes Amulett in Handform. An einer dicken Kette um den Hals hängt ein Medaillon mit der Aufschrift »M«. An dem Gürtel, den sie um die Taille trägt, hängen verschiedene Amulette.120 Santiago Mor#n el Viejo (um 1571–1626) malte die Infantin Margarita (1610–1617) um 1610, die Tochter von König Philipp III.121 Auch sie trägt einen Amulettgürtel um die Taille, an dem auch eine Dachspfote befestigt ist. An einer langen Schnur hängt ein goldenes Glöckchen. Bartolom8 Gonz#lez y Serrano (1564–1627) malte 1612 die drei Kinder von König Philipp III. Zwischen dem Kardinal-Infanten Ferdinand (1609–1641) und der Infantin Margarita sitzt in einem hölzernen Kinderstuhl mit Vorbau der Infant Alfonso (1611–1612), der um die Taille einen Gürtel trägt, an dem zahlreiche Amulette befestigt sind, darunter auch eine Dachspfote.122 Die Amulette konnten nicht verhindert, dass der Infant Alfonso nur ein knappes Jahr alt wurde. 116 Öl auf Leinwand, 82 x 64 cm. Kunsthistorisches Museum, Wien. Vgl. Kusche, Juan Pantoja de la Cruz, S. 86 und 162 [Nr. 34]; unpag., Abb. 27). Horcajo Palomero, »Amuletos y talismanes en el retrato del Pr&ncipe Felipe Prjspero de Vel#zquez«, S. 526. 117 Gemeint ist: 20. Februar 1607. 118 Zitiert nach Kusche, Juan Pantoja de la Cruz, S. 240. 119 Don Ricardo wird vorher als Schützenleutnant bezeichnet: »teniente de los archeros« (zitiert nach Kusche, Juan Pantoja de la Cruz, S. 240). 120 Vgl. Kusche, Juan Pantoja de la Cruz, S. 162. 121 Öl auf Leinwand, 100 x 72 cm. Museo Nacional del Prado, Madrid. 122 Derselbe Maler malte auch ein Einzelporträt des Infanten Alfonso, ebenfalls mit dem Amulettgürtel. Vgl. Francisco Javier S#nchez Cantjn/Jos8 Moreno Villa, »Noventa y siete retratos de la familia de Felipe III. por Bartolom8 Gonz#lez. Documentos del Archivo de Palacio transcritos por J. Moreno Villa. Con notas preliminares de »F. J. S#nchez Cantjn«, in: Archivo EspaÇol de Arte y Arquitectura 38 (1937), S. 127–157, hier S. 129, 143, 156.

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Abbildung 5: Bartolom8 Gonz#lez y Serrano: Kardinal-Infanten Ferdinand mit seinen Geschwistern Infant Alfonso und Infantin Margarita

Der zweite Vorname des Infanten Philipp Prosper (Felipe Prjspero) (28. November 1657–1. November 1661), des Sohns von König Philipp IV. und Königin Maria Anna, spiegelt die Angst der Habsburger um das Wohlergehen des Thronfolgers wider, da er den Wunsch zum Ausdruck bringt, er solle gut gedeihen. Das Porträt des Infanten Philipp Prosper, das Diego Rodr&guez de Silva y Vel#zquez (1599–1660) als eines der letzten Gemälde 1659 malte,123 zeigt, dass man den Prinzen mit etlichen Amuletten behängt hat.124 Das Gemälde des 123 Vgl. Hansmann/Kriss-Rettenbeck, Amulett und Talisman, S. 182 und 183, Abb. 585. Jos8 Ljpez-Rey, Vel#zquez, 1. Bd. (Maler der Maler), Köln 1996, S. 225; 2. Bd. (Catalogue Raisonn8. Werkverzeichnis), Köln 1996, S. 320 [Nr. 129] und S. 321 [Abb.]. Wolf Moser, Diego de Silva Vel#zquez. Das Werk und der Maler, 2. Bd., Lyon 2011, S. 698 und 700; S. 699, Abb. Auf Goyas Rekurs in Capricho 4 auf Vel#zquez’ Porträt des Infanten Felipe Prjspero ist zwar bereits hingewiesen worden, ohne dass dies aber für eine Interpretation der Radierung nutzbar gemacht worden wäre. Vgl. hierzu Sayre, »El de la rollona«, S. 212. Ljpez V#zquez, »La necesidad de educacijn y su importancia en los niÇos y jjvenes en Los Caprichos de Goya«, S. 488, Anm. 59. 124 Zu den Amuletten des Gemäldes vgl. Hansmann/Kriss-Rettenbeck, Amulett und Talisman, S. 182. Juli#n G#llego, Diego Vel#zquez, Barcelona 1983, S. 120. Horcajo Palomero, »Amuletos y talismanes en el retrato del Pr&ncipe Felipe Prjspero de Vel#zquez«.

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zweijährigen Infanten wurde als Geschenk an den Wiener Hof geschickt, zu Kaiser Leopold I., der die ältere Schwester von Philipp Prosper, die Vel#zquez auf dem Gemälde Las Meninas gemalt hat, geheiratet hatte und dem Madrider Hof so dynastisch verbunden war. Demnach konnte Goya dieses Bild nicht gesehen haben. Der Maler Antonio Acisclo Palomino beschreibt es zwar in dem 1724 erschienenen dritten Band seines Malereitraktats El museo pictjrico o Escala jptica, der Goya sehr vertraut war, erwähnt allerdings die Amulette nicht.125

Abb. 6: Diego Rodr&guez de Silva y Vel#zquez: Infant Philipp Prosper

Das Kind trägt ein rosa Kleidchen, darüber eine durchsichtige weiße Schürze. An dem oberen Band hängt ein Medaillon (auf der Brust des Kindes) und rechts eine Hand aus Gagat (an der linken Schulter des Kindes). An der roten Schnur um seinen Leib hängen drei Amulette, von links nach rechts: eine Dachspfote in

125 Vgl. Antonio Palomino de Castro y Velasco, El Museo pictjrico y Escala jptica, Prjlogo de Juan A. Ce#n y Bermffldez, Madrid 1947, S. 929.

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einem Goldrahmen,126 ein goldenes Glöckchen, eine Bernsteinkugel in einer Goldfassung, den Ljpez-Rey als »ein Apfel aus Bernstein, der vor Infektionen schützen sollte«127, identifiziert.128 In einem Dekret verfügte König Philipp IV. am 8. Oktober 1661, dass die Amulette, die den verstorbenen Infanten Ferdinand (Fernando) und Philipp Prosper gehört hatten, an den Infanten Karl (Carlos), den nachmaligen König Karl II., übergeben werden sollten.129 Am 1. Januar 1662 erhielt der königliche Goldschmied Juan de Villarroel von Philipp IV. den Auftrag, für den Infanten Carlos neue Amulette anzufertigen, darunter auch eine weitere Dachspfote.130

8.

Die beiden Objekte im Hintergrund

Welche beiden Objekte links im Hintergrund auf Capricho 4 zu sehen sind, bedarf ebenso der Klärung wie die Identifizierung der Amulette. In der Vorzeichnung zu Capricho 4 wird links nur ein einziges Objekt dargestellt: ein hölzerner Bollerwagen mit vier Rädern, in Seitenansicht dargestellt, so dass man von dem Wagen selbst nur einige senkrechte Holzstreben und zwei unterschiedlich große Räder sieht. Von den Amuletten sind in der Vorzeichnung erst zwei vorhanden: das Büchlein und die Dachspfote. In der Endfassung erscheinen anstelle des Bollerwagens zwei Objekte: ein Kessel oder ein Korb mit zwei Henkeln. Ein solcher Korb mit zwei Henkeln wird noch in weiteren Caprichos abgebildet: auf Capricho 25, wo er die Funktion eines Wäschekorbs erfüllt, und auf Capricho 50, wo er als Behältnis für die Nahrung dient, die ein Mann mit verbundenen Augen und Eselsohren mit einem großen Löffel den »Chinchillas«, zwei Adligen, deren Ohren mit großen Schlössern verschlossen sind, verabreicht. Es erscheint angesichts der Gefräßigkeit und Naschsucht der niÇos de la Rollona sinnvoll, dass es sich auch auf Capricho 4 um einen solchen Kessel mit Essen handelt. Bereits im 19. Jahrhundert führt Jules Delpit in einer handschriftlichen Kommentierung [DEL04] aus, dass es sich bei dem Korb um ein mit Leckereien gefülltes Gefäß handle, in das das Kind die Finger getunkt hat, um zu naschen:

126 Vgl. hierzu Jesffls Hern#ndez Perera, »Vel#zquez y las joyas«, in: Archivo EspaÇol de Arte 130/ 131 (1960), S. 251–286, hier S. 284. 127 Ljpez-Rey, Vel#zquez, 1. Bd., S. 225. 128 Zu den Amuletten in Vel#zquez’ Gemälde vgl. Hern#ndez Perera, »Vel#zquez y las joyas«, S. 251–286. 129 Vgl. Hern#ndez Perera, »Vel#zquez y las joyas«, S. 285. 130 Vgl. Hern#ndez Perera, »Vel#zquez y las joyas«, S. 285. Franco Mata, »Valores art&sticos y simbjlicos del azabache en EspaÇa y Nuevo Mundo«, S. 503.

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[DEL04:] Un laquais traine avec des lisieres un personnage d8j/ / ag8, vetu comme un enfant et sussant131 ses doigts / qu’il vient de tromper dans un vase auprHs duquel il / voudrait rester. Ein Lakai zieht mit Gurten eine Person fortgeschrittenen Alters, die wie ein Kind gekleidet ist und an ihren Fingern lutscht; diese hat er gerade in ein Gefäß getaucht, bei dem er verweilen wollte.

Rouanet identifiziert das vordere Objekt als »bassine«132 (Wanne). Beruete y Moret bestimmt ihn als einen mit Milch gefüllten Kessel, den hinteren Gegenstand als »unos cestos« (Körbe), ohne deren Verwendungszweck näher zu bestimmen.133 Sayre bestimmt das vordere Objekt als »un caldero de comida«134 (ein Kessel mit Essen) und das hintere als komfortabel ausgestatteten, gepolsterten tragbaren Abtritt, der dem Erwachsenen in Kinderkleidung als Toilette dient.135 Die Identifizierung des linken Objekts als Abtritt begründet Sayre lediglich mit anderen Darstellungen Goyas, auf denen er Defäkationen darstellt, bleibt aber weitere kontextuelle Belege schuldig, zumal es auch in Goyas Werk keine ähnliche Abbildung gibt. Kontextuell erscheint es viel wahrscheinlicher und sinnvoller, das Objekt als Laufkorb oder Gängelwagen zu identifizieren. Der Gängelwagen,136 also ein Korb- oder Holzgestell, fahrbar aufgrund der unter ihm befestigten Räder, wurde als Lauflernhilfe für Kleinkinder benutzt, mitunter auch mit einer Sitzvorrichtung für das Kind, oft mit einer Rückenlehne oder einer vor ihm installierten Querleiste, die als Tischchen dienen konnte.137 Juan Pantoja de la Cruz malte 1607 einen solchen hölzernen Gängelwagen mit Rädern und einem Tischchen, in dem sich der künftige Philipp IV. (1605–1665) befand, der zusammen mit seiner älteren Schwester Ana (1601–1661) abgebildet wurde.138 In seinem Essay Was ist Aufklärung? von 1784 vergleicht Immanuel Kant (1724–1804) den unaufgeklärten Menschen mit einem Kind im Gängelwagen. In den Wörterbüchern des 18. Jahrhunderts werden solche Gängelwägen beschrie131 Recte: suÅant. 132 Rouanet, IntermHdes espagnols du XVIIe siHcle, S. 134. 133 Vgl. Aureliano de Beruete y Moret, Goya grabador, 3. Bd., Madrid 1918, S. 39: »[…] en el fondo se ve un caldero con leche y unos cestos«. 134 Sayre, »El de la rollona«, S. 212. 135 Vgl. Sayre, »El de la rollona«, S. 212: »En el extremo izquierdo se muestra un asiento-retrete para que lo use el niÇo despu8s de su copiosa comida. En el siglo XVIII exist&a toda una variedad jer#rquica de comodidades para la defecacijn, casi todas ellas representadas por Goya. […] Los cojines circulares, lo m#ximo en cuanto a comodidad, estaban reservados a los poderosos, los ricos y los nobles«. 136 Im Deutschen werden solche Gängelwagen auch als Gehfrei, Laufwagen oder Rollwagen bezeichnet. 137 Vgl. Weber-Kellermann, Die Kindheit, S. 51–53. 138 Öl auf Leinwand, 118 x 124 cm. Kunsthistorisches Museum, Wien (Signatur : Inv.Nr. GG 3301).

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ben. Zum Begriff carretilla (Gängelwagen) findet sich im Akademiewörterbuch folgende Definition: Cierto instrumento de mad8ra de tres pi8s con ruedas en ellos, que se hace para poner delante / los niÇos: al qual se agarran por un palo que tiene atravesado, y estribando en 8l caminan seguros, con el qual se enseÇan / andar.139 Gewisses Gerät aus Holz mit drei Stützen mit Rädern daran, das man anfertigt, um die Kinder davor zu stellen: Daran klammern sie sich fest an einem querstehenden Stab, und wenn sie sich auf ihn abstützen, gehen sie sicher, so dass sie damit gehen lernen.

Im Akademiewörterbuch von 1770 findet sich zum Begriff andaderas eine ähnliche Beschreibung: Dos varas de madera largas y redondas, con sus pies, dentro de las quales est# puesto un aro como de cedazo, que corre por ellas, con dos anillos de hierro en que est# asido, y este ciÇe la cintura del niÇo que se enseÇa # andar, el qual camina por 8l sin riesgo de caerse.140 Zwei lange und runde Holzstangen, mit ihren Stützen, innerhalb derer ein Reifen befestigt ist wie ein Sieb, der um sie herumläuft, mit zwei Eisenringen, in denen der Gürtel des Kindes befestigt wird, und jener Reifen umgürtet das Kind, dem man das Laufen beibringt, und es läuft ohne das Risiko hinzufallen.

9.

Capricho 4 als Groteske mit aufklärerischem Programm

Strukturell und inhaltlich hat sich Capricho 4 ohne Zweifel als eine der komplexesten Radierungen der Sammlung erwiesen. Die Konfrontation von Normalem und Befremdlichem in einer Alltagsszene soll zur kritischen Reflexion und Diskussion über Aberglauben, über traditionelle, aber nicht kindgerechte Erziehungskonzepte und sogar über den Adel anregen. Bereits Desdevises du D8zert betont, dass es sich um eine der heftigsten Adelskritiken der Zeit handelt: »La noblesse n’a jamais trouv8 satirique plus impitoyable. L’ineptie des nobles est symbolis8e par un barbon g.teux, qui met les doigts dans sa bouche et que son laquais promHne / la lisiHre […]«141 (Der Adel hat noch nie einen uner139 Diccionario de la lengua castellana, 2. Bd., Madrid 1729, S. 197. Vgl. Terreros y Pando, Diccionario castellano, 1. Bd., S. 368: »para que anden los niÇos, especie de carretjn« (damit die Kinder gehen, eine Art Wägelchen). 140 Diccionario de la lengua castellana, Madrid 1770, S. 238. Ein entsprechendes Lemma wird in der Erstausgabe des Akademiewörterbuchs nicht verzeichnet. 141 Georges Desdevises du D8zert, L’Espagne de l’Ancien R8gime. La richesse et la civilisation, Paris 1904, S. 367. Nur Askew verweist auf die doppelte Kritik (erstens am Adel, zweitens an der Erziehung). Vgl. Mary Huneycutt Askew, The ›Caprichos‹ of Francisco Goya, Ann Arbor 1990, S. 487: »[…] Capricho 4, which criticizes both poor education and the decadence of the nobility«.

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bittlicheren Satiriker gefunden. Die Unfähigkeit der Adligen wird durch einen verzogenen alten Kauz symbolisiert, der die Finger in den Mund steckt und den sein Lakai am Gängelband herumführt […]). Die groteske Radierung Capricho 4 ist ein Indiz für die Transformation kultureller und sozialer Prozesse. So erfüllt Capricho 4 die Kriterien der Groteske auch in Hinblick auf eine Perspektivverzerrung im Sinne »einer virtuellen Anamorphose der symbolischen Ordnungsstrukturen«142, und das Blatt weist als weiteres wichtiges Charakteristikum des Grotesken unverkennbar »die Übertreibung, die monströse Maßlosigkeit«143 auf. Goya hat sicherlich nicht nur den spanischen Hochadel im Visier, worauf einige handschriftliche Kommentierungen zu Capricho 4 hinweisen, sondern auch die sich allmählich herausbildende bürgerliche Oberschicht, die sich sehr am Adel orientierte und seine Verhaltensweisen oft nachahmte. In diesem Zusammenhang erweist sich die zitierte Schilderung der Amulette in dem satirischen Roman Vida, hechos y aventuras de Juan Mayorazgo von Ponce de Lejn als aufschlussreich, denn hier ist der Hinweis auf die distinktive Funktion der Amulette im 18. Jahrhundert enthalten, die als Zeichen eines hohen sozialen Ranges innerhalb der Gesellschaft galten. Die Gepflogenheiten, die die Könige im 17. Jahrhundert mit ihren Kindern praktizierten, wurde also im 18. Jahrhundert als Zeichen sozialer Distinktion von den oberen bürgerlichen Gesellschaftsschichten übernommen, ohne dass man im Geringsten die Wirkung der Amulette in Frage gestellt hätte. Goya stellt diese gesellschaftliche Praxis in der grotesken Verzerrung von Capricho 4 in Frage und konfrontiert sie mit einem komplexen aufklärerischen Programm, das sich aber nur demjenigen Betrachter der Radierung erschließt, der ihren tieferen Sinn zu ergründen sucht.144

Verzeichnis der Abbildungen Abb. 1: Francisco de Goya: Capricho 4. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Morat-Instituts für Kunst und Kunstwissenschaft, Freiburg im Breisgau. Foto: Bernhard Strauss. Abb. 2: Francisco de Goya: Vorzeichnung zu Capricho 4, in: Francisco Javier S#nchez Cantjn (Hg.), Los Caprichos de Goya y sus dibujos preparatorios, Barcelona 1949, unpag. Abb. 3: Francisco de Goya: Capricho 4 (mit Diagonalen). Abb. 4: Francisco de Goya: Capricho 4 (mit Horizontale und Vertikale).

142 Fuß, Das Groteske, S. 13. 143 Ebd., S. 41. 144 Inzwischen ist eine spanische Fassung dieses Beitrags erschienen: Helmut C. Jacobs, »Lo grotesco como programa de la Ilustracijn en el Capricho 4 de Francisco de Goya«, in: Acta/ Artis. Estudis d’Art Modern 2 (2014), S. 69–95.

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Abb. 5: Bartolom8 Gonz#lez y Serrano: Kardinal-Infanten Ferdinand mit seinen Geschwistern Infant Alfonso und Infantin Margarita. Öl auf Leinwand, 138 x 119 cm. Kunsthistorisches Museum Wien, Österreich (Signatur: Inv.-Nr. GG 3219). Mit freundlicher Genehmigung des Kunsthistorischen Museums Wien. Abb. 6: Diego Rodr&guez de Silva y Vel#zquez: Infant Philipp Prosper. Öl auf Leinwand, 128,5 x 99,5 cm. Kunsthistorischen Museum Wien, Österreich (Signatur: Inv.-Nr. GG 319). Mit freundlicher Genehmigung des Kunsthistorischen Museums Wien.

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Jörg Türschmann

Das allegorische Groteske in der spanischen Populärliteratur des 19. Jahrhunderts: Pobres y ricos ó la bruja de Madrid von Wenceslao Ayguals de Izco (1849–1850)

1.

Das Groteske als narratives Rätsel

Die äußerliche Entstellung einer literarischen Figur lässt sich als Allegorie lesen. Die Verstümmelung bis zur Unkenntlichkeit kann ein Sinnbild für eine Verzögerungsstrategie sein, um nach und nach den roten Faden einer Geschichte, aufgehängt an der Identität dieser Figur, bloßzulegen. Damit einher geht die wohldosierte Vergabe von Informationen an den Leser, der spätestens seit dem 19. Jahrhundert als Konsument literarischer Presseprodukte, also als Kunde umworben wurde. Im Angebot stand eine moralisch erbauliche Belehrung, deren Scheinheiligkeit sich durch halbherzige Vorschläge zu Sozialreformen offenbarte und hinter Effekthascherei verbarg. Peter Fuß stellt in seinem Buch zur Groteske als »Medium des kulturellen Wandels« fest, dass sich schon Cervantes für die überraschendsten Episoden des Don Quijote der Mythen und ihrer Figuren vor seiner Zeit bediente, und ergänzt: Die Vermischung mit dem (diachron) Fremden vergangener Kulturen und ihren bedeutungslos gewordenen Symbolen ist nicht erst für die groteske Literatur konstitutiv. Schon der christliche Karneval, das Transpositionsfeld der grotesken Struktur zwischen ihren mythisch-religiösen und ihren ästhetischen Manifestationen, ist ein chimärisches Phänomen.1

Doch fehlt der so verstandenen karnevalesken Inszenierung des Anderen in der Populärliteratur des 19. Jahrhunderts das Heitere, Spontane und Befreiende, das Michael Bachtin seiner Vorstellung vom mittelalterlichen Karneval zugrunde legt.2 Eine Dämonisierung sozialen Elends, etwa durch die Figur der Hexe, ließ sich im katholischen Spanien mit seiner Pressepolitik durchaus als Textstrategie 1 Peter Fuß, Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln/Weimar/Wien (Böhlau) 2001, S. 353. 2 Vgl. Michael M. Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1995.

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einsetzen.3 Denn zwischen Märchenfigur und Repräsentantin sozialer Misere ist die Hexe zugleich eine historische und mythologische Figur, weil sie von der Gegenreformation und Inquisition zur dunklen Seite einer ewig währenden, manichäischen Weltordnung eine Brücke schlug. Wenn auch die Häufung von Theatercoups in der Massenliteratur des 19. Jahrhunderts heute spekulativ anmutet, so ist dies eher dem historischen Abstand zur Erstrezeption geschuldet als der zeitgenössischen Wirkung. Mit großer Selbstverständlichkeit verknüpften Autoren im Umfeld der 1848er-Revolutionen in Europa und den Kolonien phantastische Elemente mit sozialem Realismus. Es entstand eine Schauer-Romantik dicht am utopischen Sozialismus,4 in dessen Rahmen zum Teil äußerst inkohärente Gesellschaftsmodelle angesichts der Krise des Liberalismus vorgeschlagen wurden.5 Es ist also beachtlich, dass im Sinne von Max Webers Soziologie der bürgerlichen Gesellschaft im Moment der industriellen Revolution gegenüber dem Zweckrationalismus ein Wertrationalismus zum Tragen kam, der wegen seines hyperbolischen Modus als »grotesk« bezeichnet werden kann. Der Literatur bot sich in der Presse ein Forum, diese Werte zu versinnbildlichen, wozu sich die rätselhafte weibliche Figur der Heilerin und Hexe besonders eignete. »Grotesk« meint in diesem Zusammenhang nicht »unfreiwillig komisch«, sondern die vermutliche Faszination, die von einem rätselhaft fragmentierten Textmäander ausging und konsequent in der Hexe ihren allegorischen Niederschlag fand. Diese Personifikation der unüberblickbaren zahllosen Handlungsstränge und Hinweise auf einen möglichen Gesamtzusammenhang, die oft ins Leere führen, muss als Teil einer »Pseudo-Romantik« begriffen werden, um 3 Vgl. Jean-FranÅois Botrel, »La iglesia catjlica y los medios de comunicacijn impresos en EspaÇa de 1847 a 1917. Doctrina y pr#cticas«, in: Bernard BarrHre, Jean-FranÅois Botrel, G8rard Brey u. a., Metodolog&a de la historia de la prensa espaÇola, Madrid (Siglo Veintiuno) 1982, S. 119–176. Unter dem Eindruck der Ereignisse von 1848 schrieb der Diplomat und Staatsphilosoph Juan Donoso Cort8s, ein Nachfahre von Hern#n Cort8s, am 16. Juli 1849 aus Berlin an die Redaktionen von El Heraldo und El Pa&s: »Las sociedades modernas han conferido a todos la potestad de ser periodistas, y a los que lo son, el tremendo encargo de enseÇar a las gentes que Jesucristo confij a sus apjstoles« (zit. n. Jos8-Leonardo Ruiz S#nchez (Hg.), Prensa y propaganda catjlica (1832–1965), Sevilla (Universidad de Sevilla) 2002, S. 64). 4 Vgl. Iris M. Zavala, Rom#nticos y socialistas. Prensa espaÇola del siglo XIX, Madrid (Siglo XXI de EspaÇa Editores) 1972. Zur widersprüchlichen Positionierung des im Folgenden besprochenen Romanbeispiels zwischen Romantik und Realismus vgl. Russell P. Sebold, En el principio del movimiento realista. Credo y novel&stica de Ayguals de Izco, Madrid (C#tedra) 2007. 5 Zu Ayguals vgl. Francesc Andreu Mart&nez Gallego, »Democracia y repfflblica en la EspaÇa isabelina. El caso de Ayguals de Izco«, in: Chust Calero, Manuel (Hg.), Federalismo y cuestijn federal en EspaÇa, Castellj de la Plana (Universitat Jaume I) 2004, S. 45–90, sowie Jos8 Luis Calvo Carilla, »Utop&a y novela en el siglo XIX. Wenceslao Ayguals de Izco (1801–1873)«, in: Su#rez Cortina, Manuel (Hg.): Utop&as, quimeras y desencantos. El universo utjpico en la EspaÇa liberal, Santander (Universidad de Cantabria) 2008, S. 283–318.

Das allegorische Groteske in der Populärliteratur des 19. Jahrhunderts

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»eine stete Explizierung von stereotypen Tiefenstrukturen anzustreben, welche andere, subtilere ›Kunstrichtungen‹ zwar auch verwenden, aber durch stete Innovationen ›einzuwickeln‹ trachten.«6 Kitsch, Übertreibung, Gewalt, Inzest und Extremsituationen sind demnach also in der Literatur immer mehr oder weniger vorhanden. In der populären Literatur ist das Groteske aber nicht Ausdruck des Widerspruchs von traditioneller und innovativer Ästhetik wie in der künstlerisch ambitionierten Literatur, sondern die unumwundene Inszenierung dieser spektakulären Ingredienzen. Damit die körperliche Deformation als wesentliches Merkmal der Personifikation von seriellen Textbildungsverfahren deutlich wird, soll im Folgenden in einem close reading eine Romaneröffnung, die sich meist als elaboriertester Teil eines Populärromans erweist,7 hinsichtlich der Vergabe von Informationen zur Identität der Hauptfigur nachvollzogen werden. Dabei werden immer wieder Kommentare zur Bewertung der sozialhistorischen Positionierung des Autors eingeflochten. Es soll nicht versucht werden, die Wirkung der Textpassagen für den heutigen Leser nachzustellen. Dazu sind die Erkenntnisse der historischen Rezeptionsforschung zu lückenhaft. Vielmehr wird die Auflösung des Rätsels recht bald verraten, kann sie doch als Maßstab für die Wegstrecke gelten, die der Autor mit Hilfe von Verzögerungsstrategien in die Länge zu ziehen versuchte.

2.

Ein Feuilletonroman in Buchform

Wenceslao Ayguals de Izco veröffentlichte in erster Auflage seinen Roman Pobres y ricos j la bruja de Madrid zwischen 1849 und 1850 in seinem eigenen Verlagshaus Imprenta de Don Wenceslao Ayguals de Izco, das zuvor den nüchternen Namen Sociedad Literaria trug. Ungewöhnlich ist, dass der Roman nicht vorher bereits, wie oft üblich, im aufkommenden Massenmedium der Tagespresse veröffentlicht worden war. Denn ab 1840 wurden in Spanien die novelas por entregas zuerst im Feuilleton veröffentlicht, sei es in Tagesportionen oder auch als Heftchen, die zum Teil illustriert waren, und erst dann in Buchausgaben.8 Die 6 Walter A. Koch, Evolutionäre Kultursemiotik. Skizzen zur Grundlegung und Institutionalisierung von integrierten Kulturstudien, Bochum (Brockmeyer) 1986, S. 185. 7 »Las primeras entregas de todo follet&n tienden unos hilos argumentales que permiten improvisar las continuaciones; las primeras entregas est#n mejor escritas y en las finales todo desfallece« (Rub8n Ben&tez, Ideolog&a del follet&n espaÇol. Wenceslao Ayguals de Izco (1801–1873), Madrid (Jos8 Porrffla Turanzas) 1979, S. 155). Eine weniger detaillierte, dafür aber den gesamten Roman in den Blick nehmende Untersuchung bietet Mar&a Luisa Burguera Nadal, Wenceslao Ayguals de Izco. An#lisis de Pobres y ricos o La bruja de Madrid. Vinarks, Castelljn (Antinea) 1998. 8 Vgl. DolorHs Jim8nez, »1840–1850. Projections et valorisations du roman populaire en Espagne«, in: Migozzi, Jacques (Hg.), Le roman populaire en question(s), Limoges (PULIM)

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Editionsgeschichte von Pobres y ricos beginnt jedenfalls nach heutigem Forschungsstand mit der Erstauflage der zweibändigen Buchausgabe.9 Das Groteske zeigt sich bei diesem Roman im Wesentlichen in einem suspense paradoxal,10 weil das Immergleiche immer wieder spannend ist, obwohl es wenigstens in seiner Grundanlage bekannt sein dürfte wie den Kindern ein Märchen oder den Erwachsenen ein Pop-Song und die Kultfiguren einer Fernsehserie. In der Tat teilt der Roman viele Eigenschaften mit den publikumsträchtigen Feuilletonromanen seiner Zeit. So ist auch in Renate Reglins einschlägiger literatursoziologischer Studie von den »Spannungseffekte[n]« und der »Tendenz zur Fragmentierung« die Rede, und zwar in Zusammenhang mit der durch zeitliche Sequenzen gekennzeichneten äußerlichen Gestalt seines Transportmittels, dem Roman: das die Lektüre der in regelmäßigen Abständen erscheinenden entrega bedingende Moment. Nicht in der Gesamtschau also eröffnete sich dem Leser die Aussage des Textes, sondern in einem von periodischen Intervallen unterbrochenen Kontinuum, dem auf anderer Ebene infolge möglicher Vergessensmechanismen beim Leser entgegenzuwirken war.11 1997, S. 333–347, hier S. 337f.: »Ainsi, une fois le roman publi8 dans la presse quotidienne, un systHme de diffusion des textes s’8tablit, celui des romans par livraisons (novela por entregas): chaque journal 8dite ses propres collections de romans, auxquelles s’ajoutent d’autres collections de maisons d’8ditions importantes. Autrement dit, il semblerait bien, en partant d’une analyse de la r8alit8 8ditoriale espagnole de ces ann8es-l/, que le roman, une fois lanc8e par la presse quotidienne, passe dans le circuit des diff8rentes collections vendues sous formes de livraisons hebdomadaires, bi-mensuelles ou mensuelles / des prix abordables«. Eine genaue Beschreibung der entregas gibt Juan Ignacio Ferreras: Estudios sobre la novela espaÇola del siglo XIX. Bd. 4. La novela por entregas (1840–1900). Concentracijn obrera y econom&a editorial, Madrid (Taurus) 1972 (= Persiles 56). 9 Vgl. Ferreras, La novela por entregas, S. 124; Ben&tez, Ideolog&a del follet&n espaÇol, S. 205; Renate Reglin, Ayguals de Izco. Kleinbürgerliche Sozialkritik im Folletin-Roman, Frankfurt am Main (Vervuert) 1983, S. 322. 10 Vgl. Rapha[l Baroni, La tension narrative. Suspense, curiosit8 et surprise, Paris (Seuil) 2007, S. 255. 11 Reglin, Ayguals de Izco, S. 241. Pobres y ricos fällt in die Hochphase des follet&n. Die je nach Auffassung unterschiedlich angesetzten Phasen erstrecken sich spätestens bis in die Siebzigerjahre des 19. Jahrhunderts, insofern alles danach in den realistischen Roman mündet, wie Renate Reglin in ihrer Übersicht mit Romero Tobar (La novela popular espaÇola del siglo XIX, Madrid (Ariel) 1976) darlegt (Ayguals de Izco, S. 5f.). Ferreras unterscheidet zwei Phasen: die Hochphase 1840 bis 1860 und den Niedergang der novela por entregas ab 1870 (Ferreras, La novela por entregas, S. 82). Auch in der Literatur von Ayguals de Izco bildet der Roman einen letzten Höhepunkt, auf den keine vergleichbaren Erfolge nachrücken (vgl. Reglin, Ayguals de Izco, S. 176). Reglin weist auf den Untertitel der Erstausgabe von Pobres y ricos hin: Novela de costumbres sociales (Ayguals de Izco, S. 268), den die hier verwendete, vierte Auflage des Romans nicht trägt (Wenceslao Ayguals de Izco, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, 2 Bde. 4. Aufl. Madrid (Ayguals de Izco Hermanos) 1856). Möglicherweise geht der Verzicht auf diese Angabe auf eine veränderte Gattungsgliederung zurück, bei der der Costumbrismo nicht mehr die ausschlaggebende Rolle wie einst spielte – zumindest in den Augen des Autors und Verlegers Ayguals de Izco. Möglicherweise wählte Ayguals den Un-

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Also ist Ayguals’ Roman trotz seiner Buchform »la novela m#s claramente folletinesca de su autor, en el sentido de que le interesa primordialmente la an8cdota y no la historia«.12 Der Roman steht damit »en la l&nea del m#s puro follet&n«.13 Die Buchform passt gut zu Pobres y ricos, weil es einen allumfassenden Handlungsbogen gibt, der die Episoden, die sich um die Randfiguren spinnen, zusammenhält. Juan Ignacio Ferreras schreibt zum Aufbau: »[…] toda la novela est# organizada alrededor de una sola intriga […] con el fin de retrasar [un] desenlace final: nos encontramos ante la t&pica novela por entregas de tema escueto y estirado […] una pura novela dualista por entregas o folletinesca«.14 In Zusammenhang mit der Hauptfigur, der Bruja, und der Enthüllung ihrer Identität am Romanende spricht Reglin von der »Anagnorisis« als dem Kern der Erzählung.15 Rub8n Ben&tez hält in Zusammenhang damit die titelgebende Protagonistin für eine besondere schöpferische Leistung des Autors: »Ayguals ha creado con el personaje de la bruja una de sus m#s interesantes figuras: ha sabido mantenerlo en una constante zona de sombras sin develar en ningffln momento el secreto de su personalidad«.16 Die Bruja trägt ihren Namen aufgrund der Verstümmelungen, die sie sich im Gesicht und am Körper zugezogen hat. Sie tritt dabei als Hauptfigur in verschiedenen Erscheinungsformen auf, ohne dass es der Leser sofort bemerkt, und

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tertitel aber auch unter dem Eindruck des Erfolges des im Feuilleton zuerst veröffentlichten Romans La gaviota (Fern#n Caballero alias Cecilia Böhl de Faber, 1849), der den Untertitel Novela original de costumbres espaÇoles trägt. – Die zeitgenössische Orthographie der vierten Ausgabe ist hier im Zitat beibehalten worden. Mittlerweile ist ein Scan dieser Ausgabe im Internet Archive (archive.org) zugänglich. Dort ist auch der erste Band der ersten Ausgabe zu finden, ein von Google Books übernommener Scan. Unter Google Books sind wiederum der zweite Band der ersten Ausgabe sowie der erste Band der dritten Ausgabe (1851) einsehbar. Der Scan der vierten Ausgabe hat Faksimile-Qualität. Ein oberflächlicher Vergleich der ersten und vierten Ausgabe zeigt, dass die wenigen Fußnoten von enzyklopädischer Art im Prolog und ersten Kapitel der ersten Ausgabe in der vierten Ausgabe fehlen. Die vierte Ausgabe ist außerdem attraktiver und ›lesefreundlicher‹, weil sie illustriert ist. Die Wiedergabequalität, die Verfügbarkeit an einem einzigen Ort, die Illustrationen und der Umstand, dass die vierte Auflage vermutlich die einzige historische, originalsprachliche Ausgabe ist, die im Leihverkehr des deutschsprachigen Raums öffentlich zugänglich ist (Universitätsbibliothek Augsburg), waren ausschlaggebend dafür, ihr den Vorzug vor der ersten Ausgabe zu geben und sie im Folgenden zu zitieren. 1969 ist der Roman mit einem Vorwort von Joaquim Marco nochmals veröffentlicht worden (Wenceslao Ayguals de Izco, La bruja de Madrid, Barcelona (Taber) 1969). Joaquim Marco, »Prjlogo a La bruja de Madrid«, in: Wenceslao Ayguals de Izco, La bruja de Madrid, Barcelona (Taber) 1969, S. 7–22, hier S. 21. Felipe B. Pedraza Jim8nez, Milagros Rodr&guez C#ceres, Manual de literatura. Bd. 4. Ppoca rom#ntica, Tafalla (C8nlit) 1982, S. 244. Ferreras, La novela por entregas, S. 124f. Vgl. Reglin, Ayguals de Izco, S. 273. Ben&tez, Ideolog&a del follet&n espaÇol, S. 55.

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zeichnet sich durch ein ambivalentes Verhalten aus: Denn sie sorgt sich einerseits um das Schicksal eines Liebespaares, das aus Eduardo besteht, dem Sohn des Herzogs von Azucena, und Enriqueta, der Tochter eines bekannten Malers. Andererseits versucht sie, die sich anbahnende Beziehung zwischen ihnen zu verhindern. Weil Ayguals sich nicht direkt in der Politik engagierte, erinnert sein Roman für Ben&tez eher an die unterhaltsamen Fiktionen von Paul de Kock und weniger an die dezidierte politische Propaganda, die EugHne Sue in Les mystHres de Paris (1842–1843) offensichtlich betrieb.17 Ob dieser Unterschied zutrifft, ist fraglich, weil die Revolution von 1848 und die in Spanien als prägend gewertete Rolle von Sues Literatur der Auslöser von Ayguals’ Romanprojekt war. Außerdem übersetzte Ayguals Sues Romane ins Spanische, verlegte diese und schrieb seinen ersten großen Erfolg Mar&a j la hija de un jornalero (1845) unter dem Eindruck von Sues Les mystHres de Paris.18 Sue wiederum verfasst das Vorwort zur französischen Ausgabe von Mar&a.19 Beide Autoren stehen also im Austausch miteinander, wenn auch nicht klar ist, inwiefern Höflichkeit bzw. die Unkenntnis von Ayguals’ Romanen insbesondere Sues Einstellung gegenüber der Literatur seines spanischen Kollegen bestimmt hat.20 In Sues Feuilletonroman Les mystHres de Paris, der neben Ayguals eine ganze Welle von Epigonen über Europas Grenzen hinaus zu Imitationen animierte,21 17 Vgl. Ben&tez, Ideolog&a del follet&n espaÇol, S. 54. 18 Mar&a bildet den ersten Teil einer Trilogie, die der Autor allerdings ohne vergleichbaren Erfolg mit La marquesa de Bellaflor j el niÇo de la Inclusa (1846–1847) und El palacio de los cr&menes j el pueblo y sus opresores (1855) fortsetzte. Zu den sozialen Aspekten in diesen Romanen vgl. Sylvie Baulo, »Ayguals de Izco y el amparo de pobres«, in: Lissorgues, Yvan; Sobejano, Gonzalo (Hg.), Pensamiento y literatura en EspaÇa en el siglo XIX. Idealismo, positivismo, espiritualismo, Toulouse (Presses Universitaires du Mirail) 1998, S. 45–58. 19 Vgl. Jim8nez, »Projections et valorisations du roman populaire en Espagne«, S. 343. 20 Zu Ayguals’ Frankreich- und England-Erfahrungen vgl. Luis Felipe D&az Larios, »El viaje a Par&s y Londres de Ayguals de Izco«, in: D&az Larios, Luis Felipe, Enrique Miralles (Hg.), Del romanticismo al realismo. Actas del I Coloquio de la Sociedad de Literatura EspaÇola del Siglo XIX, Barcelona: Universitat de Barcelona, 1998, S. 307–330. Ben&tez hält es für wahrscheinlich, dass Sue das Spanische nicht beherrschte (vgl. Ben&tez, Ideolog&a del follet&n espaÇol, S. 46). Neuschäfer meint dagegen, dass Sue Mar&a »unter dem Titel Marie l’Espagnole, la victime d’un moine ins Französische übersetzte (1846)« (Hans-Jörg Neuschäfer, »Das 19. Jahrhundert«, in: Ders. (Hg.), Spanische Literaturgeschichte, Stuttgart/ Weimar (Metzler) 1997, S. 231–314, hier S. 271). Eine auf 1847 datierte, deutsche Übersetzung einer französischen Übersetzung befindet sich in Berlin im Ibero-Amerikanischen Institut, Preußischer Kulturbesitz. 21 Allein im Jahr 1844 wird in Frankreich eine ganze Reihe solcher Romane unbekannterer Autoren publiziert: Les mystHres de la Bastille, Les petits mystHres de Paris, Les mystHres de Londres, Les mystHres de Russie, Les mystHres de Bruxelles, Les vrais mystHres de Paris, Les mystHres du Grand Op8ra (vgl. Georges Jarbinet, Les mystHres de Paris d’EugHne Sue, Paris (Soci8t8 FranÅaise d’Editions Litt8raires et Techniques) 1932, S. 206f.). Daneben entstehen im weiteren Verlauf Mendiants de Paris (Cl8mence Robert), Viveurs de Paris (Mont8pin),

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werden handlungslogische Widersprüche, fehlende Kohärenz und gesuchte Effekte unterschiedlich bewertet: »Der Romantheorie als Kunsttheorie gilt der Roman deshalb als Monstrosität, der Medientheorie dagegen als frühes Beispiel einer medialen Ästhetik«.22 Aus Sicht der Literaturwissenschaft sind dieser und andere Feuilletonromane vielleicht »monströs«, aber deswegen nicht unbedingt grotesk: Allerdings stellen »grotesk« und »monströs« keinesfalls Synonyme dar, denn das Monströse erhält seine Bedeutung nicht aus sich selbst heraus, sondern in Hinblick auf seine Funktion im Bereich des Grotesken. Diese Funktion besteht darin, aus einer eben noch vertrauten eine fremde Welt zu machen, also Metamorphosen zu schaffen, an deren Ende ein Orientierungsverlust und das Gefühl stehen, daß unbekannte und unkontrollierbare Mächte das Universum beherrschen.23

Insofern hat allerdings die Monstrosität von Pobres y ricos sehr wohl mit dem Grotesken zu tun: Die Bruja verkörpert vielleicht die unbekannte Seite einer komplexer werdenden Gesellschaft, aber vielleicht auch die neue Unübersichtlichkeit einer überbordenden Romanproduktion in ihrer medialen Form der Massenpresse. Pobres y ricos gehört zur »Paraliteratur«,24 die von allen Arten der Literatur das größte Publikum erreicht. Die Medienwissenschaft sieht in der Paraliteratur eine Grundlage späterer Medienästhetik. Auffällig ist, dass die Paraliteratur den ambivalenten Status mit dem Grotesken teilt, zugleich in der Kunstgeschichte oft als künstlerisch marginal zu gelten und doch, bedingt durch Publikumspräferenzen, allgegenwärtig zu sein. So hat sich dem Grotesken wider Erwarten letztlich doch »seine unterhaltende und beruhigende Wirkung« als eine seiner »Konstanten in der ästhetischen Reflexion eingeschrieben«:25

22 23 24 25

Victimes de Paris (Claretie), Esclaves de Paris (Gaboriau), Mansardes de Paris (Zaccone), Puritains de Paris (Bocage) und Nouveaux mystHres de Paris (Scholl). Gleich ob nun die Metropole Paris oder die Geheimnisse im Titel auftreten, die Flut der Beispiele spricht für den weitreichenden Einfluss von Les mystHres de Paris Bände, in Spanien – um ein aktuelleres Beispiel zu nennen – der Roman Los misterios de Madrid von Antonio MuÇoz Molina (1992). Auch sind Romane direkt beeinflusst, die es nicht unmittelbar im Titel anzeigen, etwa L’algarabie von Jorge Semprun (1981; vgl. Jörg Türschmann, »Socialisme d8labr8 et fatalisme litt8raire: La ›Zone d’utopie populaire‹ dans L’Algarabie de Jorge Semprun (1981)«, in: Arend, Elisabeth; Reichardt, Dagmar ; Richter, Elke (Hg.), Histoires invent8es. La repr8sentation du pass8 et de l’histoire dans les litt8ratures franÅaise et francophones, Frankfurt am Main (Peter Lang) 2007, S. 254-269). Knut Hickethier, »Die Fernsehserie und das Serielle des Programms«, in: Giesenfeld, Günter (Hg.), Endlose Geschichten: Serialität in den Medien, Hildesheim u. a. (Olms) 1994, S. 55–71. Elisheva Rosen, »Grotesk«, in: Barck, Karlheinz; Fontius, Martin; Schlenstedt, Dieter u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 2. Stuttgart/Weimar (Metzler) 2001, S. 876–900, hier S. 878. Vgl. Daniel Cou8gnas, Introduction / la paralitt8rature, Paris (Seuil) 1992. Rosen, »Grotesk«, S. 884.

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Ob nun eine Kluft und/oder Spannung zwischen einem ernsthaften und einem komischen Pol (und in einem Atemzug zwischen einer randständigen und zentralen künstlerischen Produktion) vorhanden sein mag: Schon immer haben zwei Tendenzen im Grotesken koexistiert, die einer ganzen Reihe von späteren Argumentationslinien den Weg gebahnt haben.26

Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass in der Mitte des 19. Jahrhundert, als die Trennung zwischen populärer und Höhenkammliteratur noch nicht vollzogen und allenfalls durch Sainte-Beuves Verdikt über die »industrielle Literatur« gebrandmarkt war, ein Roman wie Pobres y ricos auch in Buchform seine Leser fand. Dadurch bekommt auch die These, dass es sich beim Grotesken um eine überzeitliche »Para-Ästhetik«, also besagte Pseudo-Romantik, handele,27 ihre historische Exemplifizierung, insofern die sich langsam ausdifferenzierende Paraliteratur im 19. Jahrhundert Unterhaltung, also den Rückzug aus dem Feld künstlerischen Anspruchs, mit einem Inventar viel älterer, immer wieder verwendeter Ausdrucksformen des Grotesken verband.

3.

Der Prolog: der philanthropische Paternalismus

Zu Beginn von Pobres y ricos wird, wie in Feuilletonromanen damals oft üblich, mit der Verbindung aus metatextuellen Passagen und Schilderungen von Ereignissen auf der Ebene der Erzählwelt gespielt. Der Roman beginnt mit einem Appell an die »¡Hombres del trabajo y de las virtudes!«, der die Überschrift »A los artesanos« trägt.28 Ayguals gibt vor, die »reconciliacion entre las diferentes clases« und die »fraternidad que el Evangelio prescribe« zu suchen. Es gehe ihm im Gefolge der 1848er-Revolution nicht um die Arbeiterschaft und auch nicht unmittelbar um den völligen Ausgleich gesellschaftlicher Unterschiede. Die Kritik an den sozialen Utopien und insbesondere am Kommunismus zeigt dies deutlich: »[…] no pueden los pueblos ser v&ctimas de estas sectas de insensatos demagogos, que adulan # las masas con lisonjeras utopias para esplotar su credulidad y buena f8?«.29 Ayguals sucht vielmehr einen widersprüchlichen Mittelweg, der im Wesentlichen der Anklage gesellschaftlicher Missstände nahe kommt, die Sue mit dem Ausruf »Si les riches savaient!« in Les mystHres de Paris

26 Rosen, »Grotesk«, S. 885. 27 Dorothea Scholl, Von den »Grottesken« zum Grotesken. Die Konstituierung einer Poetik des Grotesken in der italienischen Renaissance, Stuttgart/Weimar (Metzler) 2001, S. 17. 28 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 2. 29 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 10. Weitere Beispiele bei Reglin (Ayguals de Izco, S. 269).

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auf den Punkt brachte30 und anlässlich der Romanbesprechung durch einen Junghegelianer von Karl Marx in seiner einzigen Literaturkritik als scheinheilig bezeichnet wurde.31 Ayguals appelliert an die Einsicht der Wohlhabenden, sich um diejenigen zu kümmern, die Not leiden, und so einen Zustand der Versöhnung in der Gesellschaft herzustellen, in der jeder an seinem Platz steht, ohne krasses Elend durchleben zu müssen. Diesen Anfang, der nahezu den gesamten »Prjlogo« ausmacht, beschließt Ayguals mit den Worten: »Tal ser# la parte filosjfica de este libro«.32 Bereits hier kündigt sich der Charakter eines ausgeprägten Stückwerks aus verschiedenen Diskursformen an. Diese Heterogenität in der Literatur ist von Friedrich Schlegel halb ironisch, halb ernst begrüßt worden: »Das bunte Allerlei von kränklichem Witz gebe ich zu, aber ich nehme es in Schutz und behaupte dreist, daß solche Grotesken und Bekenntnisse noch die einzigen romantischen Erzeugnisse unseres unromantischen Zeitalters sind«.33 Tatsächlich beginnt der Prolog im Tonfall der Historiographie mit der recht genauen Angabe, die in einem einzigen Satz den ersten Absatz darstellt: »Desl&zase el aÇo de 1808«,34 um erst dann in weitschweifende Ausführungen über den Frühling und die erwachende Natur zu münden, wiederum der Ausgangspunkt, um von der Natur auf die Möglichkeiten einer zukünftigen sozialen Ordnung zu schließen, deren Errichtung allerdings die Grausamkeit und Machtgier der Menschen und ihrer Potentaten im Wege stehen, welche sich nicht die Harmonie zum Vorbild nehmen, die die Natur im Frühling vorführt. Am Ende des Prologes greift Ayguals die anfängliche Zeitangabe wieder auf und präzisiert sie: »Era el dos del mayo«.35 Die Anspielung auf den Volksaufstand in Madrid gegen die französischen Besatzer, der den Beginn des Unabhängigkeitskrieges bis 1814 bedeutete, dient zunächst nur der Einflechtung einer kurzen Schilderung im Zusammenhang mit den Kampfhandlungen in der Stadt. Eine Frau mit ihrem kleinen Sohn im Arm tritt auf die Straße, gefolgt von ihrem Diener. Sie steht plötzlich einer Truppenabteilung gegenüber und wird von einer Gewehrsalve getroffen. Der Diener tritt an sie heran und ruft entsetzt, dass Mutter und Kind tot seien. Ayguals fragt zum Schluss des Prologs:

30 Vgl. Brynja Svane, Le monde d’EugHne Sue. Bd. 3. Si les riches savaient!, Kopenhagen (Akademisk Forlag) 1988. 31 Vgl. dazu Jörg Türschmann, »Der Fall der MystHres de Paris. Literatur- und Sozialkritik als Moraldiskussion in der politischen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts«, in: Ertler, KlausDieter ; Himmelsbach, Siegbert (Hg.), Pens8es – Pensieri – Pensamientos. Dargestellte Gedankenwelten in den Literaturen der Romania, Wien (LIT) 2006, S. 377–394. 32 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 10. 33 Zit. n. Rosen, »Grotesk«, S. 889. 34 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 3. 35 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 11.

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¿Seria aquella cat#strofe un castigo de Dios? ¿Empezaria por ella la espiacion de algun amor criminal?36

Die Romaneröffnung bietet die Deutungsmöglichkeit, dass die Verankerung der Handlung vor dem historischen Hintergrund des Widerstandes gegen die Franzosen als Kampf gegen die Kulturhoheit des Nachbarlandes gelesen werden kann. Immerhin heißt es mit Blick auf den Einzug der napoleonischen Truppen in Spanien noch in der nationalen Literaturgeschichtsschreibung der 1850er Jahre: »La France a pris possession de notre litt8rature et elle finira par nous priver de notre nationalit8«.37 Entsprechend wäre der Tod der unbekannten Frau als Parabel für die Überwältigung der spanischen durch die französische Literatur zu interpretieren. Die vielen Übersetzungen und Ausgaben der Werke von Souli8, Sue und Dumas belegen die damals überwältigende Präsenz der französischen Feuilletonliteratur auf dem spanischen Markt. Doch profitieren die einheimischen Verleger von dieser Situation, ganz besonders Ayguals, der sich um die Übersetzung und Veröffentlichung von Sues Romanen bemühte. Somit hätte Ayguals nur billig auf den Chauvinismus seiner Leser spekuliert, indem er sich eines Erfolgsrezepts der verhassten französischen Autoren bedient. Dies wird dem Grotesken gerecht, insofern der Anziehungskraft des Abstoßenden in der Paraliteratur keine Grenzen gesetzt sind, wenn verlegerisches Kalkül die Leser etwas goutieren ließ, was sie bei nüchterner Betrachtung abgelehnt hätten. Der Kriegsschauplatz Madrid im Jahre 1808 wird im Prolog ins Paradigmatische überhöht. Denn zuvor schon erörtert Ayguals die menschlichen Unzulänglichkeiten und den verheerenden Willen zur Macht anhand einer Anekdote, die er aus einer nicht belegten historiografischen Quelle zitiert und die in der Zeit der Regentschaft von Philipp IV., also im 17. Jahrhundert, angesiedelt ist. Außerdem gleicht die Erzählung vom Tod der Frau und ihres Sohns einer Detailaufnahme eines großen historischen Prozesses. Es ist also nicht so, dass dadurch gleich von der Geschichtsschreibung übergegangen würde zur romanhaften Erzählung. So bildet die Begebenheit nur ein weiteres Glied in der Kette von Belegen für Ayguals’ Forderung, dass eine Neuordnung der Gesellschaft auf der Grundlage gegenseitiger Toleranz notwendig sei. Jedoch beschränken sich die beiden Fragen des Autors am Ende des Prologes keineswegs ausschließlich auf die Bitte an den Leser, seiner Philanthropie und seinem Glauben an eine ausgleichende Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen. Sie stehen vielmehr bereits kalkuliert im Dienst eines Erzählprogrammes, das ganz auf die Hauptfigur und ihre rätselhafte Existenz zugeschnitten ist. Denn 36 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 12. 37 Zit. n. Jim8nez, »Projections et valorisations du roman populaire en Espagne«, S. 334 (dort auch: »La Esmeralda, El follet&n. Art&culo II, 2 de Mayo de 1847. Ceci dit signalons au passage que le 2 Mai symbolise en Espagne la fÞte de la lib8ration du joug napol8onien«).

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schließlich verweisen sie durch die vorenthaltene Antwort auf den folgenden Text. Auch wirkt die Andeutung rätselhaft, dass gerade diejenigen, die das Opfer einer Gewalttat werden, der Strafe Gottes unterliegen und ihr Schicksal den Beginn einer lang dauernden Buße für eine Liebesbeziehung darstellt, die wohl außerhalb der mit dem Evangelium zuvor geäußerten Forderung »AMAOS LOS UNOS ] LOS OTROS« steht.38 Letztlich aber können die beiden Fragen im Augenblick der ersten Lektüre nicht anders gelesen werden als im Sinne einer Suche nach dem Verständnis des Lesers für das Anliegen des Autors, da der Fortgang der weiteren Erzählung noch nicht bekannt ist.

4.

Das erste Kapitel: historische Positionierung im Kaffeehaus

Auch das erste Kapitel mit dem Titel »El banquete« hilft bei der Beantwortung der beiden Eingangsfragen nicht weiter. Dieses beginnt gleich zu Anfang mit einem Dialog zwischen der fünfzehnjährigen Enriqueta und ihrer fünfunddreißigjährigen Mutter Cecilia, die sich in einem Caf8 aufhalten, das den Namen Cruz de Malta trägt und dadurch auf die Bergpredigt verweist. Die Tochter ist verstört, denn sie ist »v&ctima de la primera sensacion de amor«.39 In der Nähe befindet sich Eduardo, der Sohn des Herzogs von Azucena. Er ist der Grund für Enriquetas Verwirrung. Die drei kommen miteinander ins Gespräch, und Eduardo bietet den beiden Frauen, die das Caf8 verlassen möchten, seine Begleitung an. Höflich lehnen sie dieses Angebot ab, als Eduardo auch schon von einer Gruppe junger Männer herbeigerufen wird. Eduardo lässt die beiden Frauen gehen und gesellt sich zu den jungen Aristokraten, die alle Anhänger von Philipp VII. sind. Es folgt ein geschichtlicher Exkurs über die Ereignisse des Jahres 1823, in dem sich der König mit Hilfe der Unterstützung der Heiligen Allianz zum Absoluten Monarchen ausrufen lässt. In Zusammenhang damit fällt anfangs die genaue Angabe des Datums, an dem das Treffen der jungen Aristokraten stattfindet: der 23. November 1823, der Tag der »Santa Cecilia«.40 Somit befinden sich die beiden Gruppen aus unterschiedlichen Gründen im Cruz de Malta. Cecilia und Enriqueta feiern möglicherweise den Namenstag der Mutter, die Monarchisten begrüßen den Griff des Königs nach der uneingeschränkten Macht. Dazwischen steht Eduardo. »Debemos hacer presente # nuestros lectores, que aunque don Eduardo era amigo de todos los concurrentes, disentia de opinion

38 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 11. 39 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 13f. 40 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 16.

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pol&tica, porque hab&ase proporcionado de mejor instruccion«.41 Ein wichtiger Einwand des Autors gegen die radikalen Royalisten besteht darin, dass sie trinken und dass besonders einer von ihnen, Don Agapito, sich als Schriftsteller ausgibt, obwohl er eine gescheiterte Existenz darstellt und nur aufgrund des Einflusses seiner Familie in den Madrider Kreisen verkehren kann. Insofern tritt die Kritik des Autors an der Restauration immer gepaart mit der Forderung nach einem kulturellen Niveau auf, das schlicht als Form öffentlichen Umganges notwendig zu sein scheint, um sich gesellschaftlicher Privilegien würdig zu erweisen.42

5.

Der Auftritt der Bruja de Madrid

Die Versammlung versucht ein Schreiben an den König zu verfassen, in dem sie ihm ihre bedingungslose Loyalität ausdrückt. Bei den langwierigen Formulierungsversuchen kommt auch die Forderung auf, »de restablecer sin demora el santo tribunal de la inquisicion«.43 Schließlich mündet die Diskussion in eine Reihe von Repliken, deren einzelne Urheber oft nicht eindeutig angegeben sind. Die Hinweise zu den Sprechern beschränken sich auf Angaben wie »dijeron algunos« oder »gritaron varias voces«. Nur einer von ihnen, stark angetrunken, wird als »el de los anteojos verdes« bezeichnet. Er wiederholt am Schluss des ersten Kapitels den Ruf nach der Wiedereinführung der Inquisition: – […] ¡Viva la inquisicion! – ¡Viva! – ¡Mueran los constitucionales! – ¡Mueran! En este momento abri8ndose de repente las dos hojas de la puerta principal donde esta escena pasaba, como impelidas por una violencia irresistible, y aparecij una mujer desgreÇada, de rostro mutiladamente horrible, cubierto de negros andrajos, que tr8mula y desvaporida gritaba con furiosa despesperacion: – ¡Asesinos! ¡Asesinos! ¡Asesinos!44 41 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 20. 42 Bildung war allerdings ein wichtiger Punkt im politischen Programm des Autors, der darin die Grundlage für die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstiegschancen insbesondere von Frauen sah, die vermutlich einen wesentlichen Teil seines Lesepublikums ausmachten und mit der Figur der Bruja auch im Roman prominent vertreten sind; vgl. Bartomeu Mulet Trobat, »Wenceslao Ayguals de Izco: educacij i la dona com a liberal radical del segle XIX«, in: Annals del Patronat d’Estudis Histkrics d’Olot i Comarca 21 (2010), S. 77–98. 43 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 21. 44 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 23.

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Mit dem Auftritt der Frau, die auch dem Leser bis dahin nur durch den Titel angekündigt wurde, endet das erste Kapitel. Also liegt ein Cliffhanger (enganche) vor, der Fragen nach der Identität der Frau sowie dem Grund und der Art ihres plötzlichen Erscheinens aufwirft, ohne dass die Antworten unmittelbar im Anschluss im selben Kapitel gegeben werden. Es liegt im Auftritt der Bruja die besondere Form der Zäsur nach einem Kernereignis.45 Denn das Erscheinen der Unbekannten ist in keiner Weise vorbereitet. Da sich bis zu diesem Augenblick noch nicht angedeutet hat, dass sie eine Beziehung zu Eduardo haben könnte, ist ihre plötzliche Gegenwart mit der Erregung von Neugierde verbunden. Das Ereignis steht in diesem Sinne für sich und verlangt eine Erklärung im Nachhinein, da vorher scheinbar keine Informationen gegeben wurden, die es im Rückgriff erlaubten, ihren unkonventionellen Auftritt zu verstehen. Dieser plötzliche Einbruch des Unerwarteten darf durchaus als Teil des ästhetischen Programms verstanden werden, das Pobres y ricos mit der Romantik teilt: Leibliche Monstrosität nimmt in den Grotesken der Romantik einen breiteren Raum ein als die Inversion des Kollektivs. Auch dies ist ein Effekt der veränderten Rolle des Subjekts, das als zentrales Element der Kultur zum bevorzugten Objekt ihrer grotesken Dekomposition wird. Dies symbolisiert das Monströse besser als das Inverse, weil es stärker auf den Körper bezogen ist, der als Körper eines Individuums dem Subjekt auf den ersten Blick näher zu stehen scheint als die Strukturen des Gemeinwesens.46

Individuum und Kollektiv lassen sich in der Kaffeehausszene überdies als Pole der Veränderung und Stagnation begreifen. Die unansehnliche Unbekannte ist nicht nur die Trägerin einer dramatischen Wendung und dadurch Ausdruck von Veränderung, sondern die anderen sind auch Anhänger der Vergangenheit und Salonlöwen, die von ihrer Revolution am Kaffeetisch allenfalls träumen. 45 Die erzählerische Progression einer spektakulären Rekonstruktion von Figurenidentität kann nach den drei bekannten Kategorien der Aufmerksamkeitslenkung in Medienspektakeln nachvollzogen werden: Überraschung, Neugierde und Spannung (vgl. Baroni, La tension narrative, S. 253–313). Stark vereinfacht (vgl. Wiliam F. Brewer, »The Nature of Narrative Suspense and the Problem of Rereading«, in: Vorderer, Peter; Wulff, Hans J.; Friedrichsen, Mike (Hg.), Suspense. Conceptualizations, Theoretical Analysis, and Empirical Explorations, Hillsdale, N.J. (Erlbaum) 1996, S. 107–127, hier S. 110–112): Spannung stellt sich durch ein Eingangsereignis ein (Awirft eine Bananenschale auf einen Weg, B geht den Weg entlang, B stürzt). Überraschung ist das Ergebnis eines verdeckten Ereignisses (B geht einen Weg entlang, B stürzt); die vorangegangenen Ereignisse werden neu bewertet. Neugierde rührt aus einem Kernereignis oft zu Beginn einer Erzählung her, dessen Kontext völlig unbekannt ist (B stürzt auf einem Weg); die Erklärung des Vergangenen wird im folgenden Diskurs erwartet. Überraschung und Neugierde ähneln sich darin, weil auf Zurückliegendes verwiesen wird. Dagegen ist Spannung kataphorisch. 46 Fuß, Das Groteske, S. 325.

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Nach der Lektüre des gesamten Romans wird deutlich, dass bereits zu Beginn Informationen zur Identität der Unbekannten gegeben werden, deren Existenz aber eben erst am Ende erkennbar ist. Diese anfängliche Unsichtbarkeit des Offensichtlichen soll am Schluss des Romans für eine zusätzliche Überraschung sorgen, die nämlich darin besteht, dass man über wichtige Zusammenhänge hätte Bescheid wissen können, hätte man nur die Informationen richtig bewertet. Wenigstens lässt sich bis dahin aus den Angaben des Alters der beiden anderen Frauen und den geschichtlichen Jahresdaten 1808 und 1823 folgern, dass möglicherweise eine Beziehung zwischen dem Geschehnis, das am Ende des Prologes geschildert wird, und dem Moment der Ereignisse im Caf8 besteht. Denn Enriqueta ist fünfzehn Jahre alt. Ihr Alter drückt den zeitlichen Abstand zwischen den Jahren 1808 und 1823 aus. Das Geburtsjahr von Cecilia fällt dagegen zusammen mit dem Zeitpunkt der Inthronisierung von Karl IV. im Jahre 1788, dessen Herrschaft einen wechselhaften Abschnitt der spanischen Geschichte zur Folge hatte und letztlich zum Einmarsch der napoleonischen Truppen 1808 führte. Diese Epoche erwähnt Ayguals schließlich auch im dritten Kapitel.

6.

Im internationalen Vergleich: Kaffeehaus und Verbrecherhöhle

Die Bruja bewegt sich – nach den Informationen, über die der Leser bis dahin verfügt – auf einem für sie fremden Terrain. Pobres y ricos ist in Bezug auf den Ort, an dem die ersten Figuren auftreten, das Caf8 Cruz de Malta, ähnlich und unterschiedlich zugleich gegenüber anderen Fällen aus der französischen Feuilletonliteratur. Während in Sues Les mystHres de Paris (1842–1843), Paul F8vals Les mystHres de Londres (1843) und Alexandre Dumas’ Les Mohicans de Paris (1854–1859) der tapis-franc, ein Argot-Ausdruck für eine anrüchige Spelunke, für die Unterwelt stehen soll, ist das Caf8 in Ayguals’ Roman Treffpunkt adliger und bürgerlicher bzw. kleinbürgerlicher Kreise, deren spannungsreiches Verhältnis untereinander allerdings ebenfalls aus Standesunterschieden herrührt, wie sie in den anderen Romanen Konflikte auslösen.47 47 Dabei steht die Konfrontation der unterschiedlichen Parteien ganz im Dienst der weiteren Handlung, wie sich zeigt. Eine positive Bewertung des Caf8s als Handlungsort, wie im folgenden Fall eines anerkannten ›hochliterarischen‹ Beispiels, kommt daher nicht in Frage: »In diesem diskurskritischen Sinn [karikierende Darstellung der Werte und Normen der bürgerlich-restaurativen Gesellschaft] ist z. B. das Caf8 bei Cela [La colmena] nicht nur ein Symbol des Gewimmels von Menschen, sondern der Bachtinschen ›Redevielfalt‹ und grotesken Komik – ein Kommunikationszentrum, das dem Erzähler Gelegenheit bietet, die Vielfalt und Macht der Diskurse sehr genau und umfassend zu analysieren« (Volker Roloff,

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In den französischen Beispielen wird die Unterwelt mit einem Sumpf verglichen, dessen Bewohner Reptilien und Ungeziefer gleichen. Diese groteske Überzeichnung bringt neben der Verbrecherhöhle hier bereits den Vergleich der Großstadt Paris mit einem Dschungel ins Spiel. In Pobres y ricos wird die Gleichung zwischen Natur und Zivilisation zumindest zu Beginn des Romans aber anders aufgemacht. Die Dekadenz des Adels verweist auf eine verloren gegangene, moralisch noch integre Vergangenheit dieser Gesellschaftsschicht und ist in dieser Hinsicht nicht mit den tierähnlichen Besuchern des tapis-franc zu vergleichen, die an ihrem angestammten Platz in ihrem ›Milieu‹ dahinvegetieren. Dies hat wohl auch mit der Naturauffassung zu tun, die Ayguals vertritt. Gleich zu Beginn des Romans ist der Frühling ein Vorbild für den Umgang der Menschen miteinander. Die positive Seite der Natur wird später allenfalls zugunsten einer erweiterten Perspektive ergänzt, aus der das Böse auch seinen Platz hat, so dass die Natur gleichermaßen zu einem Wunder, aber auch zu einer Bedrohung wird. Dieses ›dialektische‹ Naturverständnis kommt in einem Zitat zum Ausdruck, das Ayguals Pierre-Jean B8ranger – dem Chansonnier, der seine Liedtexte gegen den unter der Restauration wieder erstarkten französischen Adel verfasst – zuschreibt und das dem neunten Kapitel vorangestellt ist, in dem zum ersten Mal die Bruja nach ihrer Verhaftung im Caf8 Cruz de Malta wieder im Mittelpunkt des Geschehens steht.48 Die Bruja kann, wie gesagt, als Allegorie der überbordenden Textstruktur aufgefasst werden. Sie figuriert die Grenze zwischen der menschlichen Kultur und dem viel bemühten Sumpf oder Großstadtdschungel, denn sie steht am Rand der Zivilisation und doch schon mit einem Fuß in der ungebändigten Natur mit ihren unheimlichen Bewohnern: Die wichtigste Differenz, die eine Kultur der primären Schicht einschreibt, ist die von Natur und Kultur selbst – um im Bild zu bleiben: die Hecke, die den Garten umgibt, ihn vor dem Einfall der umgebenden Natur schützt und die Vermischung des Getrennten verhindert. Zugleich ist die Hecke ein dunkles, undurchdringlich wirres Gestrüpp, die (etymologische) Heimat bedrohlicher grotesker Zwischenwesen wie der Hexe.49

In diesem Sinn stellt die Bruja einen sozialen Fremdkörper dar, der umgehend am Ende des zweiten Kapitels von der Ordnungsmacht entfernt wird. Dies gilt selbstverständlich nur aus der Sicht des Informationsstandes, über den der Leser »La colmena. Von der Lektüre des Romans zur Komplementärgeschichte des Films (Camino Jos8 Cela, 1951; Mario Camus, 1982)«, in: Albersmeier, Franz-Josef; Roloff, Volker (Hg.), Literaturverfilmungen, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1989, S. 522–543, hier S. 539). 48 »Combien la nature est f8conde / En plaisirs et en douleurs! / Béranger« (Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 96). 49 Fuß, Das Groteske, S. 167.

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an dieser Stelle verfügt. Der kurze Eintritt in eine andere gesellschaftliche Sphäre ist allerdings für die Bruja kein selbst gewählter Ausflug nach der Art der männlichen adligen Unterwelttouristen in den französischen Feuilletonromanen. Daher verwandelt sich ihre physische Anwesenheit nach ihrer Verhaftung in ihre permanente Gegenwart im Geiste Eduardos, und zwar in Form eines Auftrages, dessen Erfüllung der Leser aus Eduardos motivationsgeprägter Perspektive verfolgt. So kann auch behauptet werden, dass die Romaneröffnung erst in dem Augenblick abgeschlossen ist, als jeder seine Zugehörigkeit zu der sozialen Schicht, deren Merkmale er bis dahin nur im öffentlichen Raum des Caf8s zeigte, durch den Aufenthalt an einem seinem sozialen Rang entsprechenden Ort belegt. Dieser Nachweis wird im Fall der Bruja am Ende des zweiten Kapitels angekündigt, wo berichtet wird, dass die Polizei sie abführt. Und er wird vorgeführt im neunten Kapitel »La casa-galera«, als das Gefängnis, in dem sie sich nun befindet, im Mittelpunkt steht. Aus dieser schrittweisen Steigerung rührt der langfristig angelegte und effiziente Eintritt des Lesers in die Erzählwelt her.

7.

Das zweite Kapitel: die Bruja als Allegorie der kleinen und großen Geschichte

Zu Beginn des zweiten Kapitels mit der viel versprechenden Überschrift »Esplicaciones« wird das Äußere der Unbekannten eingehend beschrieben, vor allem dass ihr die rechte Hand fehlt.50 Ihr Spitzname La Bruja fällt zum ersten Mal 50 Ein Motiv, das sich eingehender analysieren ließe, setzte man es in Beziehung zum dem des amputierten oder gebrochenen Beines der Frau, wie die Figur der Tristana zeigt: Die Amputation »entsexualisiert nicht nur die Frau und macht sie zur Resignation bereit; sie kann zugleich als Maßnahme betrachtet werden, mit welcher der Ausbruchwilligen die Flügel gestutzt werden, in direkter Befolgung des grausamen (im Roman auch zitierten [Tristana von Benito P8rez Caldjs, 1892]) Sprichworts, wonach man der ehrbaren Frau lieber die Beine brechen sollte, als sie aus dem Haus zu lassen: ›Mujer honrada, pierna quebrada y en casa‹« (Hans-Jörg Neuschäfer, »Die amputierte Frau. Tristana bei Benito P8rez Caldjs (1892) und Luis BuÇuel (1970)«, in: Franz-Josef Albersmeier, Volker Roloff (Hg.), Literaturverfilmungen, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1989, S. 505–521, hier S. 508f.). Bemerkenswert ist also, dass Ayguals ein verwandtes Motiv in einem ähnlichen Zusammenhang lange vor dem bekannten Beispiel von Tristana verwendet. In dem weiteren Rahmen, den die wichtige Stellung der französischen Literatur in den 40er und 50er Jahren des 19. Jahrhunderts in Spanien mit sich bringt, ließe sich möglicherweise die Auswirkung von Einflüssen aus Frankreich untersuchen, die über die spanische Populärliteratur Eingang in die kanonisierten Werke der spanischen Literatur gefunden haben. Vgl. auch Jim8nez, »Projections et valorisations du roman populaire en Espagne«, S. 346 : »[…] du roman franÅais de ces ann8es-l/ et des imitations espagnoles na%tra le grand roman espagnol du XIXiHme siHcle avec des repr8sentants tels que Galdos, Clarin et bien d’autres«. – Das Motiv und seine Bedeutung tritt viel später immer wieder in der Geschichte des seriellen Erzählens auf.

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durch die Mitglieder der Versammlung im Cruz de Malta, die allesamt bis auf Eduardo beim Anblick der Frau auf die Straße stürzen: Arroj#ndose todos precipitamente # la calle, gritando: »¡LA BRUJA! ¡LA BRUJA!« apodo con que era ya conocida en Madrid como pordiosera la pobre mutilada, y con el cual, j el nombre de In8s, seguiremos design#ndola en la presente historia.51

Der Name der Heldin kommt also zum ersten Mal in Form der direkten Rede zum Ausdruck, auch wenn diese Äußerung Teil eines Ausdrucks aus einer auktorialen, von Mitleid geprägten Erzählperspektive ist und dadurch etwas von ihrer Abbildqualität eines scheinbar von selbst stattfindenden Ereignisses einbüßt. Die Fragen aus dem Prolog klären sich zum Teil dadurch, dass Eduardo der dem Leser noch unbekannten Frau länger schon versucht zu helfen. Es stellt sich nämlich heraus, dass er ihr schon früher seine finanzielle Hilfe angeboten hat, die sie aber immer vehement abgelehnt hat, auch wenn sie Eduardo als einzigen von den Adligen schätzt. Widersprüchlich sind die Angaben zum Informationsstand, über den Eduardo hinsichtlich der Identität seiner Gesprächspartnerin verfügt. Einerseits scheinen sich die beiden schon länger zu kennen, andererseits lässt sich Eduardo ausführlich ihre Lebensweise und das Schicksal ihrer Eltern schildern, die beide für ihre liberale politische Einstellung büßen mussten. Daher schwankt die dramaturgische Funktion der Aufmerksamkeitslenkung zwischen der besagten Form der Neugierde und der der Überraschung, bei der eine Neubewertung des bisher Erzählten notwendig ist. In diesem Zusammenhang ist die Groteske als narratives Rätsel entscheidend. Die Personifikation des Rätsels, sei es, was den Ausgang der Erzählung angeht, sei es, was die Vergangenheit der Bruja betrifft, lässt an eine komplexe semiotische Versetzung denken. Die Bruja steht durch ihre Fremdartigkeit und ihr Aussehen für verschlüsselte Zeichen, wie sie aus der ars memorativa bekannt ist. Sie sind häufig monströs, weil eben sprachliche Vorstellungen und Zusammenhänge in bildliche übersetzt monströs und unzusammenhängend wirken. Die monströsen und kryptischen Bilder der Gedächtniskunst scheinen auf den ersten Blick absurd; sobald sie jedoch entschlüsselt sind, ergeben sie einen konkreten Sinn.52 Beispielsweise in der wahrscheinlich mit 72 Jahren längsten Radio-, dann Fernsehserie, die es jemals gegeben hat, The Guiding Light (1937–2009), muss sich eine Darstellerin tatsächlich ein Bein amputieren lassen, was in den weiteren Folgen begründet werden muss: »[…] la actriz accedij a que ello [la pierna quebrada] se integrara al libreto como una desgracia de su personaje« (vgl. Tom#s Ljpez-Pumarejo, Aproximacijn a la telenovela. Dallas, Dinasty, Falcon Crest, Madrid (C#tedra) 1987, S. 84). 51 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 25. 52 Scholl, Von den »Grottesken« zum Grotesken, S. 40f.

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Man erfährt über die Bruja, dass der Vater tot ist und die Mutter im Gefängnis sitzt. Auch die Bruja selbst wird am Ende des zweiten Kapitels von der Polizei im Caf8 Cruz de Malta abgeführt. Unklar bleibt, warum sie am Ende des ersten Kapitels »¡Asesinos!« ruft. Als Eduardo sie während ihres im zweiten Kapitels wiedergegebenen Gesprächs fragt: »– […] ¿Por qu8 daba usted tan horrendos gritos al entrar aqui?«, antwortet sie: »– El or&gen de todos mis males, don Eduardo … est# # la vista. Soy pobre … mi presencia espanta … mi rostro repugna …«.53 Die Antwort stützt sich auf ihren gegenwärtigen Zustand und klammert die Vergangenheit aus. Ihr Aussehen ist aber das Ergebnis ihres Schicksals, von dem nicht die Rede ist. Das Fehlen der Angabe eines kurzfristigen Anlasses für den Aufsehen erregenden Auftritt wird also durch den Verweis auf eine langfristige Ursache verdeckt, deren Erklärung sich aber zunächst ausschließlich auf die Beschreibung des Äußeren der Bruja beschränkt. Diese Vergangenheit umgibt ein Rätsel. Denn die Frau weiß anscheinend auch über den Grund des ständigen Kummers Bescheid, der Eduardo – für ihn selbst unerklärlich – bedrückt. – A m& nada se me oculta, don Eduardo … La Bruja de Madrid lo sabe todo. Y esta fflltima frase la pronuncij en tono misterioso y solemne.54

Sie trägt schließlich die gesamte Geschichte in sich. Sie ist die Mutter von Eduardo und Enriqueta und war früher die Herzogin von Azucena. Sie ist auch die Frau, die 1808 von der Salve getroffen worden ist. Doch hat sie überlebt und trägt die Folgen dieses Angriffes als Verstümmelungen für jedermann sichtbar am eigenen Leib. Allerdings erfährt der Leser diese Zusammenhänge vollständig erst am Ende von Pobres y ricos. Somit führt dieser Abschnitt des zweiten Kapitels auf beispielhafte Weise die Verbindung der Verzögerung und Ankündigung von grundlegenden Informationen vor. Auch dieses Kapitel enthält wieder einen Exkurs über die Geschichte Spaniens. Diesmal geht es um die Repressionen, die die Liberalen unter der Herrschaft von Philipp VII. erleiden müssen. Wieder wird aus einer historiografischen Quelle zitiert, die Ayguals als eine Schrift des Paters Juliana Mariana ausweist.55 Ayguals ergänzt diese Passage vor allem mit

53 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 27. 54 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 26f. Die Allwissenheit der Bruja kann auch als Ausdruck für den Anspruch interpretiert werden, ein Panorama der Großstadt Madrid zu geben, den Ayguals schon vorher bei Mar&a j la hija de un jornalero (1845) erhoben hatte; vgl. Mercedes Ljpez Su#rez, »Wesceslao Ayguals de Izco. Notas sobre prensa perijdica, edicijn, literatura y publicidad«, in: Studi Ispanici 38 (2013), S. 153–184, hier S. 178. 55 Vgl. Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 31–33.

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dem Hinweis, dass sich die Kirche auf die Seite des Absoluten Monarchen geschlagen habe und nicht mehr dem Schutz des »herjico pueblo espaÇol« diene.56

8.

Zum politischen Stellenwert der historischen Exkurse

Dass die historischen Exkurse vor allem eine Verzögerungstaktik sind, zeigt sich daran, dass sie als Anspielungen und weniger als historiographische Erörterungen dienen: »En las novelas de follet&n no existe tiempo ni espacio: el tiempo y el espacio se acotan, como en el teatro; no se describen«.57 Dies hat damit zu tun, dass die »acotaciones«, also die Didaskalien eines dramatischen Textes, einen metatextuellen Charakter haben und die Strategie des Romaneinstiegs, mehrere Ebenen miteinander zu verknüpfen, immer wieder aufgreifen. Dadurch wird die Aussagekraft der historischen Angaben stark geschwächt. Dazu passend nennt Ferreras zwei Verfahren der raum-zeitlichen Charakterisierung einer Erzählwelt im Feuilletonroman: En la novela por entregas, el mundo de los objetos se transforma en una serie de acotaciones teatrales tambi8n tjpicas. La casa, el castillo, la mesa, no est#n descritos nunca, se dir# la pobre casa, el lfflgubre castillo, la pobre mesa […]. […] la primera [estratagema] […] consiste en trasformar las descripciones en acotaciones; la segunda en acotar el tiempo tambi8n por medio de una serie de referencias casi telegr#ficas. Eran las once de la noche, […] era el d&a 15 de mayo de 1649, […] etc.58

Und diese Beobachtungen fügen sich wiederum gut in einen weiteren Zug von Ayguals’ Roman: »Ayguals no se preocupa tanto por el desarollo lineal de la intriga como por el tratamiento de algunos detalles. Esto da a veces la sensacijn de que sus novelas est#n fragmentadas«.59 Ben&tez meint damit die Eigenart, beiläufige Kleinigkeiten unvermittelt eingehend zu beschreiben. In diesem Zusammenhang müssen auch die geschichtlichen Exkurse und moralischen Appelle an den Leser gesehen werden. Der Anlass für solche Exkurse ist oft nichtig und weniger durch die Komplexität der beschriebenen Charaktere gerechtfertigt als durch die konstruierte Koinzidenz von Lebensdaten und Geschichtsdaten. Dieses Aufspringen historischer Angaben, ausgelöst durch Detailbeobachtungen, zeugt eher von Desinteresse oder sogar Abscheu und erinnert an Larras Distanz zur Wirklichkeit, symbolized by a monocle, and this emblem provides the key to his grotesque aesthetic: »llevo conmigo un lente, no porque me sirva [para ver], pues veo mejor sin 8l, sino para 56 57 58 59

Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 33. Ben&tez, Ideolog&a del follet&n espaÇol, S. 156. Ferreras, La novela por entregas, S. 250. Ben&tez, Ideolog&a del follet&n espaÇol, S. 158.

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poder clavar fijamente mi vista en el objeto que m#s me choca, que un corto de vista tiene licencia para ser desvergonzado.«60

In Pobres y ricos erzeugt in der Tat die verblüffende Verbindung von Details in der Fiktion mit gesamtgesellschaftlichen Umwälzungen einen grotesken Effekt und ähnelt dem Blick durch solche »lenses of distortive magnification«.61 Das Schicksal der Figuren kann also nur eingeschränkt als eine konkrete Darlegung historischer Zusammenhänge angesehen werden, da sie einer Individualität entbehren, die einer mechanischen Übertragung geschichtlicher Konstellationen in Figurenkonstellationen aus dem Weg ginge. Eher handelt es sich um eine Geschichte, für deren Erzählung die abstrakten Akteure – beispielsweise politische Korporationen, Institutionen und Interessensgruppen – auf paradigmatische, literarische Handlungsträger eingeengt sind.

9.

Das dritte bis sechste Kapitel: Auftakt mehrerer Handlungsstränge

Das dritte Kapitel »Promesas de palaciegos« greift zunächst die geschichtlichen Ausführungen aus dem zweiten Kapitel auf, um dann überzugehen zum Schicksal der Marquesa von Verde-Rama, die ihre Jugend zur Zeit Karls IV. erlebte und sich auf einer Abendgesellschaft in ihrem Salon mit dem Herzog von Azucena über ihre gemeinsamen Heiratspläne unterhält sowie die Möglichkeit, ihre Kinder ebenfalls zu einer Eheschließung zu bewegen. Auch Eduardo besucht an diesem Abend den Salon der Marquesa, unterhält sich kurz mit ihrer Tochter Elisa, die sich aber bereits bereitwillig vom gleichfalls anwesenden Dichter Agapito umwerben lässt, und spricht mit verschiedenen Leuten, die sich um eine Entlassung der Bruja und ihrer Mutter aus dem Gefängnis bemühen wollten. Deswegen ist Eduardo überhaupt nur gekommen. Er muss aber erfahren, dass »todos ellos alegaron rid&culas disculpas, y sacj en limpio que habian dado un solo paso, despu8s de haberle colmado de promesas y seguridades«.62 Schließlich 60 Paul Ilie, The Grotesque Æsthetic in Spanish Literature. From the Golden Age to Modernism, Newark (Juan de la Cuesta) 2009, S. 112. 61 Ilie, The Grotesque Æsthetic in Spanish Literature, S. 127. Das Groteske ist Teil einer Lesart des Ästhetischen, das durchaus im Widerspruch zum politischen Engagement des Autors steht. In Hinblick auf diese Unvereinbarkeit teilt Ayguals viele Eigenschaften mit Blasco Ib#Çez; vgl. Mar&a ]ngeles Varela Olea, »Ideolog&a y retjrica en la novela popular rom#ntica y en la naturalista. La er&stica de Ayguals de Izco a Blasco Ib#Çez«, in: S#nchez Manzano, Mar&a Asuncijn (Hg.), Retjrica. Fundamentos del estilo narrativo en la novela rom#ntica, Berlin (Logos) 2015, S. 199–244, hier S. 208. 62 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 44.

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spricht ihn ein unbekannter Mann an, den Ayguals als »uno de los gefes de la polic&a secreta« identifiziert, und verabredet sich mit ihm um Mitternacht. Mit der Preisgabe der Identität dieses Mannes wird aber auf die Erzeugung von Spannung nicht verzichtet. Denn gerade durch den Wissensvorsprung muss der Leser befürchten, dass Eduardo in eine Falle geht, die ihm von seinen Gegnern gestellt wird. In diesem Sinn schließt das dritte Kapitel: »Las citas de medianoche son de mal agüero. Los siguientes cap&tulos nos esplicar#n este enigma«.63 Die Aufklärung des Rätsels besteht aber nicht in einer unmittelbaren Darlegung der Motive jenes Polizisten, der Eduardo zu einem Treffen um Mitternacht anstiftet. Vielmehr findet sich am Anfang der vierten Kapitels namens »La confianza« eine Gegenüberstellung von Eduardos und Enriquetas Motiven, sich an die Erlebnisse im Caf8 Cruz de Malta zu erinnern. Eduardo wird beschrieben als jemand, der zugunsten seines sozialen Engagements seine altersgemäßen Gefühle für die Frauen zurückstellt, eine Gemütslage, die Ayguals mit »¡Cosa admirable!« kommentiert.64 Eduardo beschäftigt nur die Frage, wie er den beiden inhaftierten Frauen, der Bruja und ihrer Mutter, helfen kann. An Enriqueta denkt er nicht. Ayguals nutzt die Beschreibung der politischen Einstellung des jungen Aristokraten als Ausgangspunkt, um in einem eingefügten Pamphlet die Kommunisten zu kritisieren und zu zeigen, dass der Adel mit einer angemessenen karitativen Haltung sich seines Standes würdig erweisen müsse. Auch die Worte aus dem Evangelium »AMAOS LOS UNOS ] LOS OTROS« werden erneut zitiert.65 Diese Stelle zeigt wie viele andere, dass Ayguals gewillt war, den Handlungsfluss immer wieder kurzen Appellen an die christliche Nächstenliebe zu opfern. Die groteske Heterogenität der Diskursformen, von der hier schon die Rede war, wirkt in eine affirmative Richtung, die dem Grotesken, sei es in Form grauenhafter Begebenheiten, monströser Figuren oder ketzerischer Revolutionsideale, seine dunkle Seite nimmt. So schrieb ein unbekannter Autor im April 1845 in seiner »Introduccijn« anlässlich des erstmaligen Erscheinens der Zeitung Siglo pintoresco, dass sie 63 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 45. Vgl. dazu Ben&tez, Ideolog&a del follet&n espaÇol, S. 174: »A veces el enigma se da en plano del personaje y no en el del lector : el personaje ignora cosas que el lector sabe. En estos casos el lector se llena de impaciencia al ver que el personaje persiste en el error. Dan ganas de gritarle la vertad para que lo advierta. Como ocurre con las pel&culas de aventuras«. Den Hinweis auf den Film präzisiert Ben&tez im Folgenden: »Los cap&tulos de la viejas pel&culas en serie terminaban tambi8n con una situacijn de peligro, insalvable para el protagonista; en el nuevo cap&tulo se descubre una posibilidad de salida« (ebd., S. 176). Im obigen Beispiel ist dies aber nicht der Fall, denn die Begegnung zwischen Eduardo und dem Chef der Geheimpolizei wird mit einer Verzögerung erst einige Kapitel später geschildert. 64 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 47. 65 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 51.

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tratar# de llenar su deber buscando lo bello, lo dulce y civilizador de la moral cristiana […]. El esp&ritu del Siglo ser# eminentemente social, ya que tan profundamente se remueven en nuestros d&as estas ideas; como quiera que a nuestro modo de entender todas estas cuestiones de la organizacijn del trabajo, del pauperismo, de la reforma de la legislacijn penal y del sistema carcelario, no son en el fondo m#s que la caridad cristiana aplicada a diferentes clases y establecimientos de la sociedad civil.66

Hier kommt Enriqueta als Antipode von Eduardo ins Spiel. Sie ist die ›süße‹, ›schöne‹, private Seite der Nächstenliebe, während Eduardo die politisch-gesellschaftliche verkörpert. Enriqueta träumt von der Begegnung mit Eduardo, muss aber erkennen, dass eine Beziehung mit ihm aufgrund der Standesunterschiede nicht in Frage kommt, worüber sie sich mit ihrer Mutter unterhält, die angesichts von Enriquetas Gefühlen »en profundas reflexiones« verfällt,67 ein Hinweis darauf, dass sie etwas weiß. Das Kapitel endet mit dem Absatz: »Madre 8 hija se dirigieron al estudio del pintor«.68 Das diskursive Schisma der grotesken Heterogenität schlägt sich also auch im Standesunterschied der beiden Liebenden nieder. Dieser letzte Absatz ist von Belang, insofern das folgende fünfte Kapitel »El insomnio« von Eduardos Vater in seinem Haus und das anschließende, sechste Kapitel »La revelacion« von dessen Begegnung mit seinem Sohn im eigenen Haus handelt. Daher wird die am Schluss des vierten Kapitels angekündigte Begegnung von Enriqueta mit ihrem Vater sozusagen wieder an einem anderen Ort aufgenommen. Es wird aber dabei eine auffällige Verzögerungstaktik angewendet. Die Bewegung von Cecilia und Enriqueta wird zwar fortgeführt mit der Beschreibung eines luxuriösen Esszimmers, in dem der Kamin brennt und ein sechzigjähriger Mann Holz nachlegt. Doch ist er der Diener des Herzogs von Azucena, der in einem inneren Monolog den Verlust seiner weit zurückliegenden Kindheit beklagt und auf die Rückkehr des Herzoges wartet, der dann auch kommt, seinen Namen »Ambrosio« ausruft und bemerkt, dass er es sich zu Recht bei der Kälte am Feuer bequem gemacht habe. Ambrosio antwortet, dass er diese Bemerkung des Herzogs – sollte sie als Rüge gemeint sein – nicht akzeptiere, da er nicht die ganze Nacht ohne ein Feuer warten könne, bis der Herzog vom Ball zurückkehre.69 Dieser Wortwechsel zeigt, dass Ambrosio die Vorrechte eines alt gedienten Hausangestellten genießt, der sich einen solchen Einwand gegenüber seinem Dienstherren erlauben kann. Hinsichtlich der Zeitangaben verfährt der Autor stringent. Er nutzt sie für 66 Zit. n. Verjnica de Hardo de San Mateo (Hg.), La historia de la prensa a trav8s de los perijdicos y las revistas de informacijn general. Seleccijn de art&culos para el estudio de la historia y del periodismo espaÇol, Murcia (Diego Mar&n) 2011, S. 53. 67 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 56. 68 Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 57. 69 Vgl. Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 60.

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eine Engführung der Erlebnisse aller beteiligten Figuren. Zu Beginn des vierten Kapitels heißt es: »Hab&anse deslizado algunos dias desde aquel en que Cecilia y Enriqueta recibieron los agasajos de duquecito don Eduardo en el caf8 de la Cruz de Malta«.70 Dieser Caf8besuch findet wie gesagt am 23. November 1823 statt. Nach diesem ersten Satz des vierten Kapitels geht es aber sofort um die Wichtigkeit von Eduardos Anstrengungen, die er für die Freilassung der beiden gefangenen Frauen, der Bruja und ihrer Mutter, unternimmt. Cecilia und Enriqueta sind dagegen zunächst nicht mehr das Thema. Das vorherige dritte Kapitel endet wie gesagt mit dem Wortwechsel zwischen dem Chef der Geheimpolizei und Eduardo während der Abendgesellschaft im Salon der Marquesa von Verde-Rama. Der Zeitpunkt der Feier wird nicht angegeben. Der erste kurze Absatz des fünften Kapitels lautet nun: »El mes de noviembre acababa de espirar«.71 Dieses Kapitel besteht vor allem aus einem Gespräch zwischen dem Herzog und seinem Diener Ambrosio. Dabei erwähnt der Herzog, dass er die Marquesa von Verde-Rama heiraten werde,72 und liefert damit einen Hinweis, dass er von jenem Ball zurückgekehrt ist, auf dem auch Eduardo anwesend war. Und zuvor schon fragt der Herzog den Diener, ob sein Sohn zurückgekehrt sei.73 Der Herzog deutet Ambrosio gegenüber an, dass die Frau, die er wirklich geliebt habe, tot sei. Es stellt sich für den Leser im Laufe des Gesprächs heraus, dass es sich um die Frau handelt, die am 2. Mai 1808 von den Franzosen getötet worden ist. Ambrosio ist der Diener, der ihren vermeintlichen Tod hat mit ansehen müssen. Allerdings weiß man bei der ersten Lektüre noch nicht, dass diese Frau überlebt hat und ihr Leben zu dieser Zeit als Bruja de Madrid führt.

10.

Tragik und Textkohärenz

Ayguals verknüpft demnach alle Begebenheiten, die die einzelnen Figuren betreffen, auf umfassende Weise miteinander. Doch sind ihre Schicksale letztlich Teile des Schicksals einer Familie, die auseinandergerissen wurde.74 Der Motor der Erzählung ist dabei die verborgene Identität der Hauptfigur, an deren Enthüllung alle meist unwissentlich mitwirken. Die gemeinschaftliche Anstrengung 70 71 72 73 74

Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 46. Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 58. Vgl. Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 67. Vgl. Ayguals, Pobres y ricos j la bruja de Madrid, S. 62. In dieser Hinsicht entspricht Pobres y ricos auch der Trilogie aus Mar&a j la hija de un jornalero (1845), La marquesa de Bellaflor j el niÇo de la Inclusa (1846–1847) und El palacio de los cr&menes j el pueblo y sus opresores (1855). Vgl. Colette Rabat8, »La familia popular en la trilog&a de Wenceslao Ayguals de Izco«, in: Soubeyroux, Jacques; Fern#ndez, Roberto (Hg.), Historia social y literatura. Familia y clases populares en EspaÇa (siglos XVIII–XIX), Lleida (Milenio), Saint-Etienne (Universit8 Jean Monnet) 2001, S. 209–230.

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kommt auch durch eine Reihe von Kapitelüberschriften zum Ausdruck, die beispielsweise »La revelacion«, »Esplicaciones« oder »La confianza« heißen. Zwar spielen diese immer auf die jeweiligen Fragen an, mit denen die Romanfiguren am Ende eines vorangegangenen Kapitels zu tun haben. Doch verweisen sie auch auf die Grundanlage der Erzählung, welche schließlich die Preisgabe der Identität der Bruja anvisiert. Ayguals deutet den tragischen Ausgang des Ganzen, der im letzten Kapitel geschildert wird, schon im »Prjlogo« mit Hilfe eines Wechsels der Jahreszeiten an: durch den Übergang von der euphorischen Beschreibung eines Frühlings im Mai zum Massaker und zur anschließenden Fortsetzung der Erzählung im November. Enriqueta und Eduardo können nicht heiraten, Eduardo bringt sich um, die Bruja stirbt, der Herzog wird verrückt, und Enriqueta geht ins Kloster. Diese unfreiwillig komisch anmutende, summarische Inhaltsangabe des Romanendes wird dem Erlebnis der Lektüre nicht gerecht. Denn der Leser verfolgt die längerfristige Entwicklung bis zum Ende auf der Grundlage der bis zum Schluss verschleierten Identität der titelgebenden Hauptfigur, die gerade besonders rätselhaft wirkt, weil sich letztlich alles um sie dreht. Im Romanende zeigt sich durchaus ein Standesdünkel, denn letztlich ist das soziale Milieu, in dem sich die Handlung abspielt, ein aristokratisches. Daher verliert der Roman seine Züge des Grotesken, die zwar nie heiter und karnevalesk, aber doch über weite Teile durch die das allegorische Monster der proletarischen Hexe prägend sind. »Die Vorstellung, daß das System der Tragik an den hohen Stand gebunden ist, ist eine der tradierten Doktrinen der Klassik und des Klassizismus. Im Paradigma des Grotesken relativiert sich diese Vorstellung«.75 Dies trifft auf die arme bettelnde Hexe als groteskes Element voll und ganz zu. Durch die offen gelegten Familienbande gehen aber sowohl das Monströse in grotesker Funktion als auch die Unterschichtenperspektive verloren, denn »In8s« stammt aus dem Adelsmilieu. Stärker als in manch anderem Fall der Feuilletonliteratur erstreckt sich ein Spannungsbogen über die gesamte Erzählung und verweist die Enganche und Techniken zur Verknüpfung der Kapitel auf eine untergeordnete Ebene.76 Aus diesem Grunde sind auch die Kapitelüberschriften vielfach als Hinweise auf ein 75 Scholl, Von den »Grottesken« zum Grotesken, S. 581. 76 Daran ändert auch nichts der Umstand, dass Pobres y ricos einen für Ayguals’ Romane beispielhaften Fall eines Enganche aufweist: »En Pobres y ricos j la bruja de Madrid hallo un ejemplo digno de antolog&a. Los personajes reciben un misterioso baffll; la idea del baffll despierta en el autor recuerdos de novelas terror&ficas. Lo cierto es que cuando se abre el baffll aparece un cad#ver. El hecho es realmente importante y, sin embargo, pasan varias entregas sin que se nos d8 explicacijn alguna. El autor no sabe qu8 hacer con el baffll: pertenec&a a un criado, nos explica el personaje; oculto en el baffll durante un robo, que no hemos visto, hab&a muerto en su interior de asfixia« (Ben&tez, Ideolog&a del follet&n espaÇol, S. 181).

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einziges großes Geheimnis zu verstehen, das hinter allen Ereignissen steht, die im Einzelnen geschildert werden. Dies hat auch damit zu tun, dass den Überschriften – kündigen sie doch einmal ein abgegrenztes Ereignis an – nicht befriedigend entsprochen wird und so über das Kapitel hinaus verweisen.77 Dagegen geben die Zitate, die regelmäßig den Kapiteln vorangestellt sind und aus Texten von zum Teil bekannten Autoren stammen, Aufschluss über die thematische Ausrichtung des jeweiligen Kapitels, weil diese Themen sehr vage bleiben. So stehen diese Paratexte beispielsweise im Prolog dem Thema des Frühlings zur Seite, im ersten Kapitel dem Thema der ersten Liebe und im zweiten Kapitel dem Thema des Trostes. Vorverweise enthalten neben den Kapitelüberschriften und den Kopfzitaten auch häufig die letzten Sätze eines Kapitels, wie oben schon gezeigt.

11.

Karikatur, Satire und das allegorische Groteske

Es heißt zum Grotesken der Literatur des 19. Jahrhunderts: Das Groteske wird in den Bereich der Karikatur übernommen, obwohl es ihm eigentlich nicht angehört. Eine Unterscheidung beider Begriffe scheint beinahe überflüssig. Und so kann es geschehen, daß im 19. Jh. Karikatur und Groteske zu unzertrennlichen Termini werden. […] Die rasante Entwicklung der Presse im 19. Jh. zieht einen ungeahnten Aufschwung der Karikatur nach sich und nimmt seither eine zentrale Position in der Massenkultur ein.78

Das generelle Interesse an der Karikatur zeigt sich 1844 in der Wiederveröffentlichung der Ausgaben der ersten Satirezeitschrift Spaniens El duende cr&tico de Madrid von 1735. Die schon im Original mit Karikaturen reich bebilderte Publikation versteht sich als Angebot nachzuvollziehen, »cu#n poco hemos adelantado cuando las mismas faltas que la criticaban en 1735 sean aun en el d&a criticables«.79 Doch nichts davon findet sich bei Ayguals, der in seinem erst in späteren Ausgaben illustrierten Roman mit dem Brustton der Überzeugung sowohl Ratschläge für den Alltag als auch philosophische Letztbegründungen gibt. Für ihn besteht kein Zweifel an der Richtigkeit der eigenen Auffassung und genauso wenig an der eigenen Person, ganz anders als bei Larra, offensichtlich durch dessen satirisches desdoblamiento in Form der Aliasnamen F&garo, el Probecito Hablador, el Bachiller Mungu&a oder Andr8s Niporesas.80 77 Vgl. Ben&tez, Ideolog&a del follet&n espaÇol, S. 177. 78 Rosen, »Grotesk«, S. 885. 79 Anonym, »Prjlogo«, in: Freire da Silva, Manuel, El duende cr&tico de Madrid (1735), Sevilla (Extramuros) 2011 [1844], S. 1–2, hier S. 1. 80 Vgl. Ilie, The Grotesque Æsthetic in Spanish Literature, S. 115.

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Satire und Karikatur spielen in Pobres y ricos keine Rolle, sondern das allegorische Groteske, das gemäß der zitierten etymologischen Verwandtschaft zwischen Hecke und Hexe für Schutz und Bedrohung zugleich, also für eine ›Nahferne‹ steht. Man muß oft an das Bild vom Kaninchen denken, das durch den Blick der Schlange gebannt wird, wobei der ›Schlangenblick‹ keineswegs bloß als Gefährdung, sondern durchaus auch als Faszination einer lustvollen Versuchung erscheint. Eben diese emotionale Zweideutigkeit macht das eigentliche Interesse des Feuilletonromans aus und eröffnet von vornherein die Möglichkeit einer doppelten Lektüre.81

In diesem Sinne ist schon seit den düsteren Gruselromanen des 18. Jahrhunderts, den Vorläufern des Feuilletonromans, das Verhältnis zwischen Autor und Publikum sado-masochistisch geprägt.82 Dieses Verhältnis ist im Fall von Pobres y ricos das Ergebnis der Inszenierung eines Zettelkastens, der durch das allegorische Groteske, die Bruja de Madrid, zusammengehalten wird.

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Matei Chihaia

Der groteske Pygmalion als Provokation der vergleichenden Literaturwissenschaft

1.

Groteske und Intermedialität

Die Erweiterung der Literaturwissenschaft um die Gebiete der Medien- und Kulturwissenschaft ermöglicht Begegnungen wie die unsere, in der es um das Groteske als kulturelle Figur geht – und nicht um eine Bestimmung grotesker Sujets oder Stile, die jeweils in bestimmten homogenen Korpora untersucht werden können. Dies charakterisiert schon Wolfgang Kaysers Versuch, das Groteske als »ästhetische[n] Begriff«, mithin als »übergreifende Struktur von Kunstwerken« zu bestimmen.1 Kayser selbst findet im Schlusskapitel seines Buchs unterschiedliche Formeln für dieses »Wesen« des Grotesken: »die entfremdete Welt«2, »die Gestaltung des ›Es‹«3, »das Versagen schon der physischen Weltorientierung«4, »ein Spiel mit dem Absurden« und »der Versuch, das Dämonische in der Welt zu bannen und zu beschwören«5. Solche allgemeinen Formulierungen lenken davon ab, dass der Wissenschaftler – wie Günter Oesterle in seinem Vorwort betont – in anderen Abschnitten seines Buchs Text-BildVerhältnisse, also intermediale Konfigurationen als »grotesk« bezeichnet, deren Reizpotenzial gerade in der »medientechnisch organisierte[n]« Begegnung von Heterogenem, von ideellem Zentrum und Ornamentgroteske, liegt.6 Die von Oesterle gestellte »Aufgabe«, diese Intermedialität des Grotesken, »die Kombination heterogener Elemente«, zu analysieren,7 ist alles andere als einfach. Die Herausforderung, heterogene Gruppen von Phänomenen zu untersu1 Wolfgang Kayser, Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung (1957), Tübingen 2004, S. 194. 2 Kayser, Das Groteske, S. 198. 3 Kayser, Das Groteske, S. 199. 4 Kayser, Das Groteske, S. 200. 5 Kayser, Das Groteske, S. 202. 6 Günter Oesterle, »Zur Intermedialität des Grotesken«, in: Wolfgang Kayser, Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung (1957), Tübingen 2004, S. VII–XXX, hier S. XX. 7 Oesterle, »Zur Intermedialität des Grotesken«, S. XX–XXI.

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chen, bleibt seitens der Kulturwissenschaft bisher noch wissenschaftstheoretisch unbewältigt; ihr ist aber auch eine mehrfache Wende zuvorgekommen: zumal die Rückbesinnung auf die hermeneutischen Tugenden der Geschichtswissenschaft, welche ihre Deutungshoheit über Diachronie verteidigen konnte – aber auch die Rückbesinnung auf die philologischen Tugenden der Literaturwissenschaft, welche ihre Deutungshoheit über Fragen der Poetik behauptet. Auf der einen Seite stehen universitäre Disziplinen, die sich mit homogenen – also untereinander vergleichbaren – Dokumenten der Kultur beschäftigen, auf der anderen Seite die Kulturwissenschaften, welche mit verschiedenen Methoden die Unterschiedlichkeit des analysierten Korpus – Klänge, Bilder, Medien, Gegenstände, fiktionale und nicht-fiktionale Texte – zu bündeln versucht. Während das Groteske für die einen lediglich ein Motiv oder Verfahren darstellt, gehört es für die anderen zu den Charakteristiken ihrer Tätigkeit: Die Kulturwissenschaft vergleicht Unvergleichbares. Die Kulturwissenschaft wird auf diese Weise zwar besser als die etablierten universitären Disziplinen der Heterogenität kultureller Praktiken gerecht, die eben nicht entlang der Trennlinien von Gattungen und Medien verlaufen, sondern diese Linien häufig überschreiten. Zu diesem Zweck ist Kulturwissenschaft allerdings auf Theorien angewiesen, die das Unvergleichbare zu beschreiben gestatten, die ihre Legitimation aber nicht mehr aus der Anwendung auf ein klar umrissenes Korpus ziehen können. Während die Literaturtheorie mit der vergleichenden Literaturwissenschaft ein Verhältnis wechselseitiger Anerkennung aufbauen konnte, ist dies nun schwieriger geworden. Ich möchte dies kurz an einem zentralen Mythos der europäischen Kunst und Kultur exemplifizieren, dem Mythos von Pygmalion. Als Annegret Dinter ihre scharfsinnige Arbeit über den Pygmalion-Stoff in der europäischen Literatur (1979) verfasst, kann sie sich dazu noch auf die disziplinäre Tradition der vergleichenden Literaturwissenschaft stützen: innerhalb dieses Rahmens ist eine Stoffgeschichte wie selbstverständlich eine Textgeschichte. Dass hierbei etwas fehlt, wird bei der Lektüre von Howard B. Segels Pinocchio’s Progeny (1995) deutlich: Das Thema der Marionette im Theater ist eng verzahnt mit dem Verständnis des Schauspiels und der bildenden Kunst, in welcher die Puppe eine eigene Darstellung erhält. Mit der Öffnung auf Bilder, Aufführungen und Institutionen, die zum Drama gehören, entsteht ein ganz anderes Ergebnis. Schließlich bleibt aber auch Segel auf den Bereich des Theaters und der traditionellen bildenden Künste beschränkt, die für das kulturelle Leben der von ihm analysierten Epoche nur in Teilen repräsentativ sind. Man muss so weit gehen wie Ana Rueda in Pigmalijn y Galatea. Refracciones modernas de un mito (1998) und Victor I. Stoichita in L’Effet Pygmalion (2008), um auch die Technik und das Kino in den Blick zu bekommen, die das Thema ab dem Ende des 19. Jahrhunderts transformieren. Diese Arbeiten ergänzen die literaturwissenschaftlichen und theaterwissen-

Der groteske Pygmalion als Provokation

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schaftlichen Abhandlungen zum Thema um unverzichtbare Aspekte und Fragestellungen. Aber je weiter man sich in eine kulturwissenschaftliche Perspektive begibt, desto weniger scheint das Unternehmen einer vollständigen Untersuchung, einer klaren Begrenzung des Korpus möglich. Nach der Lektüre der vier eindrucksvollen Werke erscheint der Mythos auch als eine Provokation der Wissenschaft selbst, die seiner nicht in einer einzigen Abhandlung habhaft werden kann. Pygmalion wirkt wie eine Personifikation dieser Kulturwissenschaft, deren unterschiedlichen Gegenstände in der kulturellen Erzeugung des Körpers konvergieren. Die künstlichen und natürlichen, inszenierten und diskursiv konstruierten Körper ersetzen das Korpus, mit dem die vergleichende Literaturwissenschaft befasst war : ihre Rede und die Rede über sie sind zwar Texte, ihre Gestalt jedoch ein Produkt der bildenden Kunst, ihre Bewegung wird durch Technik ermöglicht, ihre Kleidung durch Mode, ihre Stimme und ihr Spiel durch Theater, ihr Auftritt durch bestimmte kulturelle Einrichtungen … Diesen durch die Heterogenität seiner Bezüge grotesken Körpern werden die Begriffe der literarischen Gattung (Marionettentheater) oder des literarischen Motivs (Pygmalion, künstlicher Mensch) kaum noch gerecht.

2.

El señor de Pigmalión als Groteske

Ich werde im Folgenden stattdessen den Begriff der Intermedialität verwenden. Denn diese Heterogenität der Bezüge, die sich den disziplinären Traditionen der Wissenschaft entzieht, trifft sich mit dem, was Oesterle als »intermediale« Groteske beschreibt. Die Entstehung der Groteske aus einer markierten Mediendifferenz lässt sich etwa am bereits besprochenen Beispiel veranschaulichen. Der Mythos des Pygmalion bei Ovid ist in diesem Sinne so lange nicht grotesk, als er in eine Gruppe anderer homogener Texte – in die Metamorphosen – eingebettet bleibt; er wird zur Groteske sobald man ihn zur antiken Bildhauerei, zur antiken Erotik, zum religiösen Ritual in Beziehung setzt. Nicht die Metamorphosen sind grotesk, sondern ihr Vergleich mit der Metamorphose im Tierreich oder zur Transformation der Technik ins Leben. So kommt es, dass Kayser zwar den klassischen Pygmalion-Stoff zwar nicht in sein Korpus integrieren kann, aber die entsprechende Verwandlung zum Greifen nahe scheint: Zu den kennzeichnenden Motiven der Grotesken gehört weiterhin alles, was als Gerät ein eigenes, gefährliches Leben entfaltet. […] Die Vermischung des Mechanischen mit dem Organischen bietet sich ebenso an wie die Disproportion […]. Solche Sicht auf die Technik ist dem Menschen der Gegenwart derart geläufig, daß es ihm leicht fällt, eine »technische« Groteske zu entwerfen. Das Gerät würde zum Träger dämonischen Vernichtungsdranges und zum Herrn über den Schöpfer. Das Mechanische verfremdet

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Matei Chihaia

sich, indem es Leben gewinnt; das Menschliche, wenn es sein Leben verliert. Dauerhafte Motive sind die zu Puppen, Automaten, Marionetten erstarrten Leiber […].8

Zur Charakteristik des grotesken Pygmalion gehört diese »technische« und intermediale Dimension, die ihn aus der Homogenität der Mythenerzählung holt. Schon Rousseaus Melodrama von 1762/1770 ist in diesem Sinne eine Überlagerung von Pantomime, Bühnenbild, Musik und Rede, die sich den Kategorien der aristotelischen Poetik – als Lehre von bestimmten Gattungen und Hierarchisierung relevanter und irrelevanter Zeichen – entzieht.9 Auch in der Moderne lässt sich eine Dialektik beobachten, die Dru Dougherty am Verhältnis von Theater und Kino veranschaulicht: Auf der einen Seite führt die Begegnung der Medien zum Bestreben einer Ausdifferenzierung reinen, aristotelischen Theaters;10 auf der anderen Seite zu einer Kontamination und Grenzüberschreitung, die unterschiedliche Formen in ein heteromorphes Schauspiel zu integrieren sucht.11 Diese etwas spekulativen Vorbemerkungen sollen die Lektüre eines einzelnen Textes einleiten, der m. E. zu einer solchen grotesken Deutung einlädt und bei Dougherty selbst als Beispiel einer »polifan&a pl#stica« des Theaters erwähnt wird:12 Jacinto Graus El seÇor de Pigmalijn (1921).13 8 Kayser, Das Groteske, S. 197. 9 1762 verfasst und 1770 aufgeführt, steht Rousseaus Pygmalion. ScHne lyrique in vielfacher Weise am Anfang einer grotesken Tradition: in der Einführung ritueller Elemente, welche die künstlerische zu einer religiösen Inszenierung werden lassen (Victor Stoichita, Der Pygmalion-Effekt. Trugbilder von Ovid bis Hitchcock, München 2011, S. 127–128) ebenso wie sensualistischer Elemente, welche die bis dahin starre Figur der Galathea zur Protagonistin einer wechselseitigen Berührung und eines Tanzes macht, der an der Peripherie von Skulptur und Worttheater liegt (vgl. ebd., S. 130–131). 10 Dru Dougherty, »Pens#ndolo bien: el teatro a la luz del cine (1914–1936)«, in: Anales de literatura contempor#nea 26/1 (2001), S. 9–25, hier S. 10. Die Vorstellung von einer formalen »Reinigung« der Künste in der Moderne übernimmt Dougherty ausdrücklich von Clement Greenberg, »Modernist Painting«, in: Arts Yearbook 4 (1961), S. 101–108, hier S. 103. 11 Dougherty, »Pens#ndolo bien«, S. 17–22, zeigt, wie das Kino auch zu einer Re-Theatralisierung des Theaters Anlass gibt, bei welcher die visuelle und performative Seite gegenüber der aristotelischen Tradition des Worttheaters privilegiert wird. 12 Dougherty, »Pens#ndolo bien«, S. 21. Der Ausdruck »polifan&a pl#stica« bezieht sich in seinem engeren Kontext auf das Theater Federico Garc&a Lorcas, präsentiert dieses aber als »Erben« der heteromorphen Dramaturgie Graus und seiner Zeitgenossen. 13 Seit Ende des 20. Jhdts. betrachtet die Forschung Grau als eine der wichtigsten Figuren des spanischen Avantgarde-Theaters (vgl. z. B. Michael Kidd, Stages of Desire. The Mythological Tradition in Classical and Contemporary Spanish Theater, University Park, Pennsylvania 1999, S. 160). Die erste kritische und kommentierte Ausgabe von El seÇor de Pigmalijn durch William Giuliano, die noch zu Lebzeiten des Autors erscheint (New York 1963), enthält ein nützliches Glossar. Seit kurzem ist eine noch besser dokumentierte Ausgabe durch Emilio Peral Vega verfügbar (Madrid 2009), der in einem ausführlichen Vorwort alle Dimensionen dieses Stücks erkundet und insbesondere auch zur Aufführungsgeschichte und seiner Einbettung in die spanische Theatergeschichte kostbare Einsichten anbietet. Die Einordnung als »groteskes« Stück durch die Kritik ist sehr naheliegend und findet sich schon

Der groteske Pygmalion als Provokation

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El seÇor de Pigmalijn ist ein Stück in drei Akten, denen ein langer Prolog vorausgeschickt wird. Gegenstand des Dramas ist die Ankunft eines Puppenspielers mit Künstlernamen Pigmalijn in Madrid, dessen Schauspiel im Theater des Herzogs von Aldurcara aufgeführt werden soll. Nicht weniger als vier Theaterunternehmer organisieren dieses Ereignis, was zu einer ausführlichen Theatersatire mit etlichen Charakterporträts und einigen Diskussionen über Sinn und Zweck des Dramas Anlass gibt. Die Besonderheit von Pigmalijns Puppentheater, die ein glänzendes Geschäft verspricht, ist die Lebensnähe seiner Puppen. Genau genommen handelt es sich um künstliche Menschen, die nicht nur mit Sprache begabt sind, sondern auch spontan zu handeln in der Lage scheinen. Der Star dieser Truppe, eine Damenpuppe namens Pomponina, veranlasst den Herzog, sie zu entführen; die übrigen Puppen folgen auf dem gleichen Weg, um der Herrschaft ihres Schöpfers zu entkommen. Die Handlung beschleunigt sich im dritten Akt, sie entgleist jedoch auch: Als die eifersüchtige Verlobte des Herzogs sie dort aufspürt, wird sie erschlagen. Auch Pigmalijn, der sie verfolgt hat, zur Rede stellt, und zu züchtigen versucht, wird von einem der Kunstwesen, Pedro de Urdemalas, erschossen. Eine andere Marionette, der einfältige und praktisch sprachlose Juan el Tonto, gibt dem Künstler einen farcesken Gnadenstoß (mit dem Gewehrkolben). Soweit das Drama, das allerdings nicht getrennt von seiner merkwürdigen Aufführungsgeschichte betrachtet werden sollte. Das 1921 veröffentlichte Stück feiert seine ersten Erfolge im Ausland – also in Übersetzungen. Die erste Aufführung findet 1923 im Theatre de l’Atelier in Paris (unter der Regie von Charles Dullin) statt, 1925 ist es dann kein anderer als Karel Capek, der Erfinder der Roboterfiktion, der das Stück in Prag aufführt.14 Luigi Pirandello möchte es offenbar – gewiss mit Blick auf seine metatheatralischen Aspekte – im Teatro d’Arte in Rom inszenieren (auch wenn es letztlich nicht dazu kommt).15 Erst 1928 folgt die spanische Uraufführung durch die Truppe Meli# Cibri#n, die 30 Aufführungen im Madrider Teatro cjmico erreicht.16 El seÇor de Pigmalijn lässt sich insgesamt als programmatisches Metatheater bezeichnen: nicht nur der Prolog, sondern auch die drei folgenden Akte drehen sich um das neuartige Theater Pigmalijns und das skurrile Theaterleben Main relativ frühen Besprechungen (William Giuliano, »Jacinto Grau’s El seÇor de Pigmalijn«, in: The Modern Language Journal 34/2 (1950), S. 135–143, hier S. 143). Da mit diesem Begriff üblicherweise etwas anderes gemeint ist als die im Folgenden analysierte Heterogenität der Bezüge, gehe ich nicht weiter darauf ein. 14 Miguel Navascu8s, El teatro de Jacinto Grau. Estudio de sus obras principales, Madrid 1975, S. 96. 15 Emilio Peral Vega, »Introduccijn«, in: Jacinto Grau, El seÇor de Pigmalijn, hg. v. E.P.V., Madrid 2009, S. 9–104, hier S. 83–87. 16 Dru Dougherty, Mar&a Francisca Vilches, La escena madrileÇa entre 1926 y 1931. Un lustro de transicijn, Madrid 1997, S. 550.

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drids. Metatheatralisch ist etwa der Wechsel des Bühnenbilds, das im Prolog aus einer realistischen Kulisse – dem Büro des Impresarios –, in den drei Akten aus einem abstrakteren, avantgardistischen Hintergrund besteht. Diese auffälligen Kulissen sind viel kommentiert und zu Recht als Zeichen eines künstlerischen Programms gedeutet worden: Dougherty vermutet in seiner semiotischen Analyse, dass mit dem scharfen Schnitt die Abwendung vom konventionellen Theater und eine Wiederbelebung der Bühne mit Hilfe populärer Formen beabsichtigt seien.17 David Vela Cervera entdeckt einen Artikel Graus, der genau dies bestätigt und die antirealistische Absicht belegt: In »Escenograf&a. El decorado y la emocijn de la obra« (1926) plädiert der Autor für ein abstraktes Bühnenbild, welches ein starkes visuelles Erlebnis und damit die Erregung stärkerer Gefühle im Publikum gestatte.18 Bereits vor Erscheinen seines Stücks hatte Grau sich als Anhänger der Ideen Edward Gordon Craigs manifestiert und im Artikel »Teatro y escenograf&a« (1919) eine Rückbesinnung auf den Tempel als idealen Theaterraum gefordert.19 Die Pigmalijn selbst in den Mund gelegten Ideen über die Vorzüge von Marionetten gegenüber Schauspielern, wie auch die Revolte der Puppen gegen ihren Schöpfer, verraten eine Auseinandersetzung mit Craigs nietzscheanischem Essay »The Actor and the Über-marionette« (1907):20 Unter anderem betont der Künstler, sein Ziel sei es, »algo mejor que el hombre« zu erschaffen.21 Allerdings scheint mir die Pointe von El seÇor de Pigmalijn gerade in der Mischung heterogener Kontexte zu liegen: »Theatralische« und »reale« Räume nehmen Menschen und Marionetten auf. Der Untertitel des Stücks, »farsa tragicjmica de hombres y muÇecos«, unterstreicht diese Mischung. Diese Interaktion von Lebewesen und belebten Maschinen stellt die eigentliche Groteske, eine ernstzunehmende Provokation für die Kategorien der aristotelischen Kritik dar. Vela Cerveras Aufsatz unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass die Arbeit des Bühnenbildners – im Fall der Madrider

17 Dru Dougherty, »The Semiosis of Stage Decor in Jacinto Grau’s El seÇor de Pigmalijn«, in: Hispania 67 (1984), S. 351–357. 18 David Vela Cervera, »El estreno en Madrid de El seÇor de Pigmalijn de Jacinto Grau (18-V1928): La pl#stica esc8nica de Salvador Bartolozzi«, in: Anales de literatura espaÇola contempor#nea 20/3 (1995), S. 439–461, hier S. 441–442. 19 Vela Cervera, »El estreno en Madrid«, S. 440–441. 20 Vgl. Edward Gordon Craig, »The Actor and the Über-marionette«, in: J. Michael Walton (Hg.), Craig on Theatre, London 1983, S. 82–87. Der erste Hinweis auf diese Affinität findet sich bei Giuliano, »Jacinto Grau’s El seÇor de Pigmalijn«, S. 138. In Madrid werden die Ideen Craigs verbreitet durch Cipriano de Rivas Cherif (vgl. Juan Aguilera Sastre, »De La Reina Castiza a Divinas Palabras: Rivas Cherif ante el teatro de Valle-Incl#n«, in: Margarita Santos Zas (Hg.), Valle Incl#n (1898–1998): escenarios, Santiago de Compostela 2000, S. 449–498, hier S. 457). 21 Grau, El seÇor de Pigmalijn, S. 180.

Der groteske Pygmalion als Provokation

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Aufführung der Beitrag Salvador Bartolozzis – bereits von der zeitgenössischen Kritik ebenso gewürdigt wurde wie diejenige des Autors.22 Grau ist nicht der einzige spanische Literat seiner Zeit, der damit ein antiklassisches Theater entwirft, das in einer »medientechnisch organisierte[n]« Begegnung von Heterogenem mündet. Jacinto Benaventes Umwandlung der Commedia dell’arte und anderer populärer Theatertraditionen in unterschiedliche Puppendramen mit entsprechenden metapoetischen Reflexionen geht Grau darin voran23 – aber nicht alleine. Ein Vergleich der Prologe von El seÇor de Pigmalijn und Gregorio Mart&nez de la Sierras Hechizo de amor (1908) wäre schon deswegen interessant, weil in letzterem die Marionette selbst die zentralen poetologischen Ideen äußert.24 Bei diesen Vorgängern äußert sich die Suche nach einer Re-Theatralisierung des Theaters unter Rückgriff auf bestimmte Formen des Schauspiels, die eine heterogene Mischung oder sogar fließende Übergänge zwischen menschlicher, durch Rede vermittelter Handlung und den stumm, fremdbestimmt oder rudimentär agierenden Medien darstellen. Die zentrale Figur in dieser spanischen Tradition der Groteske ist Ramjn de ValleIncl#n, der drei zwischen 1910 und 1920 entstandene Marionettendramen später unter dem Titel Tablado de marionetas para educacijn de pr&ncipes (1926) herausgibt.25 Valle-Incl#ns bekanntestes Stück, Luces de Bohemia (1920) greift El seÇor de Pigmalijn nicht nur in der Satire auf den Kulturbetrieb, sondern auch in der grotesken Figurenzeichnung voraus, die der Dichter-Protagonist Max Estrella als Ziel der modernen Kunst schildert: »Los h8roes cl#sicos reflejados en los espejos cjncavos dan el Esperpento. El sentido tr#gico de la vida espaÇola sjlo puede darse con una est8tica sistem#ticamente deformada. […] Las im#genes m#s bellas en un espejo cjncavo, son absurdas.«26

Die groteske Gattung beruht auf der Begegnung von menschlichen Figuren und unbelebten Medien – den Zerrspiegeln. 22 Vela Cervera, »El estreno en Madrid«, S. 450–453. 23 Vgl. Harold B. Segel, Pinocchio’s progeny : puppets, marionettes, automatons, and robots in modernist and avant-garde drama, Baltimore 1995, S. 126–131. 24 Vgl. Segel, Pinocchio’s Progeny, S. 132–133. 25 Segel, Pinocchio’s Progeny, S. 36–37 unterstreicht den Gegensatz zwischen den »›marginal‹ genres« des Puppentheaters und der Tradition des akademischen Theaters; er betont dabei insbesondere die Miniaturisierung, die mit der »kleinen Literatur« zusammenhängt – und nicht das radikal antitheatralische Moment, das aus seinem Studiengebiet herausragt. Eine besondere Rolle wird für Grau auch das in Barcelona angesiedelte Marionettentheater »Quatre Gats« gespielt haben, das um die Jahrhundertwende zahlreiche Literaten und Künstler versammelt. 26 Ramjn de Valle-Incl#n, Luces de Bohemia (1920), hg. von Alonso Zamora Vicente, Madrid 4 1983, S. 132. Zum Thema des Zerrspiegels bei Valle-Incl#n vgl. Jesffls Rubio J&menez, ValleIncl#n, caricaturista moderno: nueva lectura de »Luces de bohemia«, S. 44. Zum Grotesken bei Valle-Incl#n vgl. auch den Beitrag von Wolfram Nitsch im vorliegenden Band.

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Anders als Valle-Incl#n fügt Grau jedoch der Metapher des Esperpento eine metonymische Motivation hinzu: Er zeichnet eine Satire, deren Figuren unmittelbar der Welt der Schausteller entnommen sind, zu der auch die Zerrspiegel gehören. Es sind nicht nur grotesk verzerrte menschliche Figuren, die auf seiner Bühne auftreten, sondern vor allem auch Figuren, die trotz ihrer iberisch-populären Herkunft an die Welt der Freak Shows und des Variet8s erinnern. Die Hauptfigur ist nicht Pygmalion: sie trägt den Namen »Pigmalijn« nur als Pseudonym, was einerseits seinen mehrmals wiederholten Anspruch, »Kunst« zu schaffen, unterstreicht, andererseits aber auch seine Zugehörigkeit zu einer Zirkuswelt, welche die Distanz zum traditionellen Theater nicht überwinden kann. Derart wirkt die Bewerbung auf enormen Plakaten im Theater wie ein Fremdkörper : »¡Pxito mundial! ¡Prodigio nunca visto de mec#nica! ¡Acontecimiento fflnico, sensacional&simo y maravilloso de los tiempos modernos!«27 Die Herkunft der Show aus den USA entspricht auch der geographischen Situierung der meisten Freak Shows und unterstreicht diesen Bezugshorizont.28 Programmatisch ist schließlich auch der Unterschied zwischen dem Prolog und den drei Akten. Ersterer gehört zur Tradition der Theatersatire, wie sie schon im 18. Jahrhundert, z. B. bei Leandro Fern#ndez de Morat&n, in La comedia nueva o el caf8 (1792) zu finden ist. Die drei Akte hingegen überschreiten bewusst die Grenze zum Variet8-Spektakel und treffen sich darin mit anderen Stücken der Avantgarde wie Wedekinds Erdgeist (1895), wo ein Zirkusdirektor mit Peitsche den Prolog spricht.29 Nicht zufällig ist eines der Attribute von Pigmalijn »un l#tigo de mango corto, muy pintado y barnizado«.30 Das Stück veranschaulicht beispielhaft die Öffnung des modernen Theaters auf andere, nicht-aristotelische Formen des Schauspiels; dieses Gegentheater wird nicht nur thematisiert, sondern auch vorgeführt. In dem Maße jedoch, in dem Grau die Pfade des Dramas verlässt, wird auch die Analyse in einem rein literarischen Kontext erschwert. Die bisherigen Interpretationen von Graus Stück betten es entweder in die intertextuelle Tradition unterschiedlicher Mythenstoffe ein31 27 Grau, El seÇor de Pigmalijn, S. 151. 28 Die Vereinigten Staaten erscheinen als das Land des Fortschritts, aus dem notwendigerweise auch der künstliche Mensch und diese innovative Form des Schauspiels kommen müsse (»de all& nos vienen ahora los grandes adelantos«, Grau, El seÇor de Pigmalijn, S. 163). 29 Auf die epochenspezifische Affinität zum Zirkus verweist Segel, Pinocchio’s Progeny, S. 39. Hier kann man den Hintergrund der Homologie beider Stücke sehen. Auf einer ästhetischen Ebene selbstverständlich auch das Groteske, das Kayser (Das Groteske, S. 141) an der Dompteurszene Wedekinds hervorhebt. 30 Grau, El seÇor de Pigmalijn, S. 255. 31 Der motivgeschichtliche Ansatz von Dinter unterstreicht die Offenheit von Graus immerhin dreiaktiger Farce zu anderen Motiven, die gelungen in die Pygmalion-Tradition integriert werden: Prometheus (mit der tragisch-ironischen Pointe, dass der Schöpfer von seinen eigenen unvollkommenen Geschöpfen umgebracht wird; Annegret Dinter, Der Pygmalion-

Der groteske Pygmalion als Provokation

127

oder aber – wie soeben ausführlich gezeigt – in die Theatergeschichte der Avantgarde mit ihrer besonderen Vorliebe für das Puppentheater ; beides wird, meine ich, der Besonderheit von Graus Groteske nicht vollständig gerecht. Glücklicher scheint mir die Analyse der intermedialen Dimension, also der Mediendifferenz, die in dem Stück verhandelt wird.

3.

Die groteske Infiltration: Konkurrenz von Theater und Kino

Ich möchte mich dabei vor allem auf das Thema der Infiltration, also des Heraustretens der künstlichen Figuren aus ihrem fiktionalen Zusammenhang,32 konzentrieren, und dieses mit der Mediendifferenz von Theater und Kino in Verbindung bringen. Dieses Heraustreten hat Dinter in komparatistischer Perspektive als das Motiv der Revolte der Geschöpfe gegen der Schöpfer eingeordnet, einem Thema, das häufig mit dem Marionettentheater verknüpft wird.33 Hier soll nun spezifischer auf die Besonderheit des heterogenen, grotesken Theaters eingegangen werden, in dem Menschen und Marionetten interagieren. Diese Art von Infiltration entsteht in einem Kontext, in dem das Kino als mediale Form in Konkurrenz zur Form des Theaters tritt und – wie Dougherty überzeugend gezeigt hat – zwei unterschiedliche Neubestimmungen des Theaters herausfordert: die Rückbesinnung auf die aristotelische Tradition und die Öffnung auf visuell-spektakuläre Arten des Schauspiels.34 Diese Konkurrenz fiktionaler Formen wird häufig in dem Motiv des künstlichen Menschen verhandelt – etwa in Der Golem, dessen erste Fassungen in der Zeit des ersten Weltkriegs entstehen,35 oder in den Kurzfilmen von Georges M8liHs (Pygmalion et Galath8e, 1898)36 – und in der Sphäre der Attraktionen, der Pigmalijns Freak

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Stoff in der europäischen Literatur, Heidelberg 1979, S. 144–146; vgl. Kidd, Stages of Desire, S. 161) und der künstliche Mensch, also Automat oder Roboter (Dinter, Der Pygmalion-Stoff, S. 147). Neben die konstitutive Verquickung von Liebe und Kunst drängen sich die Themen des Konkurrenzschöpfertums und der Technik. Die Integration des Roboters in die altehrwürdigen Pygmalion- und Prometheus-Mythen fällt bereits in den ersten Kommentaren auf (Vgl. z. B. Giuliano, »Jacinto Grau’s El seÇor de Pigmalijn«, S. 138). Diesen Begriff verwende ich in dem Sinne von Gertrud Koch, »Pygmalion – oder die göttliche Apparatur«, in: Gerhard Neumann, Mathias Mayer (Hg.), Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, Freiburg 1997, S. 423–441. Dinter, Der Pygmalion-Stoff, S. 144–146; vgl. Segel, Pinocchio’s Progeny, S. 40–41. Dougherty, »Pens#ndolo bien«. Der Hinweis auf die Verwandtschaft zum Golem findet sich z. B. bei Ana Rueda, Pigmalijn y Galatea: Refracciones modernas de un mito, Madrid 1998, S. 335. Im Zusammenhang mit der Groteske bei Kayser, Das Groteske, S. 154–156. Vgl. Gaby Wood, Edison’s Eve: a magical history of the quest for mechanical life, New York 2002, S. 189–190. Die einzige erhaltene Kopie von M8liHs’ Film wurde übrigens in Spanien gefunden.

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Show letztlich auch entspringt.37 Auch der Venus-Mythos wird umkodiert: »Venus ha nacido otra vez«, schreibt Antonio Espina 1927, »ha nacido en la espuma del haz luminoso y tomado carne lunar en la pantalla«.38 In diesem Zusammenhang erscheinen die sprechenden Puppen als die utopische Weiterentwicklung eines bestehenden Mediums, des Marionettentheaters, mit Hilfe des neuen Mediums Kino. Diese Weiterentwicklung überträgt Eigenschaften des Kinos auf das Medium Theater – vor allem den Eindruck der lebensechten Bewegung und ihre technische Animation – und entnimmt der Theatertradition im Gegenzug andere Eigenschaften, die das Kino in den 1920er Jahren noch nicht kannte – nämlich die dreidimensionalen, pseudospontan handelnden Akteure. Ergebnis dieses Austauschs ist eine intermediale Groteske, deren Eigenschaften sowohl über das technisch Machbare als auch über das ästhetisch Vertraute hinausragen. Die Infiltration künstlicher Figuren in die Realität und ihre Interaktion mit einigen Personen des Dramas erhält dabei eine besondere Funktion. Die Revolte der Geschöpfe – das meist besprochene Thema – wird gelegentlich als Zeichen einer kulturpessimistischen Modernitätskritik gedeutet: Los muÇecos se igualan a los personajes de carne y hueso y pasan a ser s&mbolo del hombre, convertido en robot por las fuerzas irracionales del mando moderno. Los muÇecos, al pretender destruir esas fuerzas, se rebelan y matan a su constructor que as& se constituye en s&mbolo de la mecanizacijn sin alma de la cultura […].39

Sehr früh wurde in der Forschungsliteratur auch der Einfluss von Metaliteratur wie Miguel de Unamunos Niebla (1914) signalisiert: im Motiv des Geschöpfs, das sich gegen seinen Schöpfer auflehnt, scheint die Kollision von Protagonist (Augusto P8rez) und Autor (Unamuno) gegenwärtig zu sein.40 Grundlage der Infiltration der Figuren ist allerdings weder die Metalepse noch die Allegorie, sondern die Antonomasie und die theatralische Typisierung. Aus der mythologischen und ernsten Dimension, die mit der Figur des Pygmalion angedeutet wird, ragen die Gestalten heraus, die der populären Redensart und verschiede37 Diese visuelle Tradition des frühen Kinos wird erläutert von Tom Gunning, »The Cinema of Attractions. Early Films, Its Spectator and the Avant-Garde«, in: Thomas Elsaesser (Hg.), Early Cinema: Space, Frame, Narrative, London 1990, S. 56–62. 38 Antonio Espina, »Venus Cynelya«, in: Jos8 Mar&a Conget, Viento de cine. El cine en la poes&a espaÇola de expresijn castellana, Madrid 2002, S. 60–61, hier S. 60. 39 Gerardo Rodr&guez Salcedo, »Introduccijn al teatro de Jacinto Grau«, in: Papeles de Sor Armadans 43 (1966), S. 13–42, hier S. 34f., zitiert bei Dinter, Der Pygmalion-Stoff, S. 147. 40 Wilma Newberry, The Pirandellian Mode in Spanish Literature from Cervantes to Sastre, Albany 1973, S. 151. Eine markante Stelle zur Herr-Knecht-Dialektik ist die folgende: »[…] Lo que m#s me gusta de todo en el mundo, son mis muÇecos. Yo los invent8 entre anhelos y fiebres, y ahora que viven y asombran cual un prodigio desconocido hasta el presente, ellos me poseen a mi, a su creador, y en lugar del amo, he pasado a ser el esclavo de mis juguetes.« (Grau, El seÇor de Pigmalijn, S. 175).

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nen Arten von Volkstheater entstammen: »Mis muÇecos«, sagt Pigmalijn, »son, en su mayor&a, grotescos. Tipos populares espaÇoles«.41 Auch das Personal ist in diesem Stück also nicht eine homogene Konstellation von Figuren, sondern scheint unterschiedlichen sozialen, künstlerischen und medialen Welten entnommen. Es verweist dabei weniger auf literarische und mythologische Traditionen als auf populäre Diskurse, auf die Rhetorik der Redensart mit ihrer Tendenz zu Personifikation und Typisierung. Zu einer ersten Gruppe von Personifikationen gehören Pero Grullo, von dem die sprichwörtliche »Perogrullada«, die Binsenweisheit, abgeleitet ist, »Bernardo el de la espada«, dessen Schwert weder sticht noch schneidet, »Periquito entre ellas«, ein junger Mann, der sich in Gesellschaft der Damen gefällt, »Lfflcas Gjmez«, die Figur des Egoisten, »El enano de la venta«, ein Hochstapler, »El t&o Paco«, die redensartliche Figur, die Übertreibungen als solche entlarvt (»Ya vendr# luego el T&o Paco con la rebaja«42) und schließlich Mingo Revulgo, der seit den »Coplas de Mingo Revulgo« aus dem 15. Jahrhundert eine Verkörperung des einfachen Mannes ist. Zum Personal volkstümlichen spanischen (und westeuropäischen) Theaters gehören hingegen »El Capit#n AraÇa«, der feige, aber aufschneiderische Offizier, Don Lindo, der galante und ungeschickte Liebhaber, und Juan el Tonto, der hirnlose Diener ; Juans »Cu cu« denunziert die Täuschung des Ehemanns, dem mit den Haaren auch die Ehre verloren geht.43 Die entscheidende Charakteristik ist jedoch seine differenzlose Redeweise, die Ana Rueda hervorgehoben hat: »La r8plica verbal ›cu, cu‹ neutraliza oposiciones, como primitivo versus civilizado, y es una burla de la re-produccijn humana«.44 Vor allem jedoch scheint mir der mechanische Stil dieser Replik bemerkenswert: Juan el Tonto ist also der Inbegriff des funktional beschränkten künstlichen Menschen, des Roboters. Pedro Urdemalas schließlich – auch er eine bekannte Figur aus dem Theater und der Narrativik des Siglo de Oro – steht über diesem Personal, weil er der Einzige ist, der als Gegen-Spielleiter Pigmalijn entgegentritt und den Künstler symbolisch (aber auch buchstäblich) umbringt. Die Figur des Urdemalas verdient eine etwas ausführlichere Betrachtung. Sie ist, wie Wolfram Nitsch schreibt, ein legendäres Vorbild »für den ausgeprägten Hang [des Dramenpersonals klassischer Comedia] zur Verstellung, Verkleidung und Verwandlung«.45 Sein Name ist nicht nur verkörpert, sondern auch sprechend, er liebt es, Intrigen anzuzetteln (urdir), ist aber auch vielseitig und zu Rollenwechseln geneigt wie der Joker im Kartenspiel (mala oder malilla). Lope de Vega und Cervantes beziehen sich in gleichnamigen Stücken auf diese Figur, 41 42 43 44 45

Grau, El seÇor de Pigmalijn, S. 177. Grau, El seÇor de Pigmalijn, S. 186. Kidd, Stages of Desire, S. 166. Rueda, Pigmalijn y Galatea, S. 343. Wolfram Nitsch, Barocktheater als Spiel-Raum, Tübingen 2000, S. 9.

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die Nitsch als »Referenzfigur barocker Spielinszenierung«46 präsentiert – als Muster eines lebensweltlichen Rollenspiels, das gerade deswegen so gut zur Täuschung dienen kann, weil es noch nicht im Rahmen der Theaterinstitution steht. Gerade an Cervantes’ Drama arbeitet Nitsch heraus, dass Urdemalas seinen Ursprung in der Sphäre außertheatralischen Spiels hat, auf welches noch sein Name verweist: »Wenn sein vortheatralisches Rollenspiel im Theater gipfelt, wurzelt es offenkundig in der mehr oder weniger anrüchigen Sphäre außertheatralischen Spiels.«47 Dies lässt sich für unsere Argumentation einfach übernehmen: Im Kontext von Graus Stück signalisiert die Figur des Urdemalas die Herausforderung des theatralischen Fiktionskonzepts durch die neue Form des Kinos, das zwischen der relativ verfestigten Institution des Theaters und der wilden Praxis der Variet8s und Kinos vermittelt. An dieser Stelle gilt es, die Theorie der Intermedialität als den eigentlichen Vergleichsgrund in Erinnerung zu rufen, vor dem dieses groteske Korpus, diese heterogene Praxis, ebenso wie die Konkurrenz von Kino und Bühne(n) analysiert werden können. Joachim Paech hat bereits ausführlich dargestellt, weshalb es bei der Intermedialität nicht um ein Verhältnis von unterschiedlichen Medien, sondern um eines von Formen handelt, die als Differenz dem Medium eingeschrieben sind: Da schon das Medium nur in seiner Formseite als Differenz zu fassen ist, bildet Intermedialität auf paradoxe Weise sowohl die Bedingung, um seiner bewusst zu werden, als auch eine Störung der regulären Funktion des Mediums, die auf der Unauffälligkeit seiner Form beruht.48 So macht auch in El seÇor de Pigmalijn die Formseite des Kinos, die dem avantgardistischen Theater – gemeinsam mit anderen Formen, wie z. B. der Pantomime, einbeschrieben wird, die Dysfunktion der Bühne und des theatralischen Spiels bemerkbar. Die Puppen handeln einerseits automatisch und fremdbestimmt, ohne den Umweg über ethische Fragestellungen; ihre Rollen geben ihnen das Handeln mit einer gewissen Festigkeit vor. Der Ausbruch aus dem Theater und die Infiltration der Wirklichkeit sind andererseits in ihrer Rolle zusammen mit der Spontaneität festgeschrieben, die ihnen Pigmalijn verliehen hat. Sie sind zur Transgression konstruiert; Beispiel einer selbstzerstörenden Maschine, eines Mediums, das sich im Funktionieren vernichtet und dabei seine Formseite hervorkehrt. Diese Intermedialität lässt sich in unterschiedenen Perspektiven analysieren, als eine objektästhetische, produktionsästhetische und rezeptionsästhetische Heterogenität, die jeweils durch die dysfunktionale Interaktion unterschiedlicher medialer Formen hervortritt. Zur ästhetischen Funktion des Objekts wird 46 Nitsch: Barocktheater als Spiel-Raum, S. 9–10. 47 Nitsch: Barocktheater als Spiel-Raum, S. 10. 48 Hier beziehe ich mich auf das Intermedialitätskonzept von Joachim Paech, »Paradoxien der Auflösung und Intermedialität«, in: Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg Christoph Tholen (Hg.), HyperKult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien, Basel 1997, S. 331–367.

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recht viel gesagt: Interessant ist in dieser Perspektive die Nähe der Puppen zu ihrem Gefährt, dem »carro-automjvil«, in dem sie transportiert wurden,49 und ihren jeweiligen, sargähnlichen Kisten. Aus diesen technischen und unbelebten Hintergründen treten die Marionetten zunehmend hervor; die Infiltration vollzieht sich, indem sie sich von den vorgesehenen Formen der Inszenierung ablösen und in unvorhergesehene Kulissen flüchten. Diese Mobilität vom zweiten zum dritten Akt, die vom Theater ins Innere der armseligen Unterkunft eines Straßenbauarbeiters führt, entspricht nicht so sehr einem weiteren Wechsel des Bühnenbilds als einer Auslöschung von »inszenierten« Orten durch einen »realen« Raum. Die neue Kulisse erinnert an die Produktion der Kunstfiguren, die Pigmalijn nicht alleine, sondern im Verbund mit einem armen Mechaniker erschaffen hat: »Cuando hace aÇos constru& el primer muÇeco con el auxilio de un pobre obrero mec#nico, yo estaba en la m#s negra de las miserias […]«.50 Auch er selbst ist nicht nur Künstler, sondern auch Wissenschaftler, der seinen Kreaturen Radium, magnetisierte Stahlfedern, ein Netz aus Textilfibern und, um die heterogen-groteske Bastelei auf die Spitze zu treiben, aus Tieren durch Vivisektion entnommene Herzen gibt.51 Aus den schönen Künsten vertraute Formen stoßen hier also mit ganz unkünstlerischen Verfahren zusammen. Beide Arten von Differenz werden jedoch in dem Maße ausgelöscht, in dem Pigmalijn die Konstruiertheit Pomponinas vergisst, und sich in sie verliebt. Nicht zuletzt durchkreuzt die Infiltration der Figuren die konventionellen Formen der Rezeption, als der Herzog sich als Zuschauer seinerseits in die künstliche Dame verliebt. Nachdem der Prolog in aller Ausführlichkeit die Krise des Theaters als eine Krise schauspielerischer Glaubwürdigkeit dargestellt hat, erscheint diese teils haltlos bewundernde, teils haltlos versunkene Reaktion als eine paradoxe Alternative. Das perfekte Theater erscheint bei Grau als ein Formverbund, in dem die Differenz von Schauspiel und Wirklichkeit ausgelöscht ist, der also nicht mehr als Theater wahrgenommen wird. Auf diese Weise manifestiert sich das Infiltrationssujet auf allen drei Ebenen – objekt-, produktions- und rezeptionsästhetisch betrachtet – als eine Unterbrechung der Funktion des Mediums, durch welche die darin vermittelten Formdifferenzen negiert (oder zumindest verfremdet) werden: die Objekte emanzipieren sich aus ihrem Sachzusammenhang, der Künstler vergisst die Produziertheit seines Werks, der Rezipient überschreitet die ästhetische Grenze. Bedenkt man die programmatische und metatheatralische Absicht des Stücks, die im vorigen Abschnitt erläutert wurde, so kann diese Entdifferen49 Lange im Voraus erkennen sie diesen Wagen am Geräusch (Grau, El seÇor de Pigmalijn, S. 253–254). 50 Grau, El seÇor de Pigmalijn, S. 173. 51 Grau, El seÇor de Pigmalijn, S. 181. Auch bei dem letzten grausigen Detail dösen die Impresarios, die der wissenschaftliche Diskurs langweilt, einfach weiter.

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zierung als Ausdruck einer intermedialen Figuration gedeutet werden, und zwar der Konkurrenz von Theater und Kino. In den zwanziger Jahren erlebt das spanische Theater eine Krise, die nicht nur mit der Qualität der Stücke, sondern auch mit den wirtschaftlichen Produktionsbedingungen verknüpft ist. Der Prolog baut auf dieser Krise auf. Das Kino ist dabei, ökonomisch betrachtet, einer der größten Konkurrenten des Theaters. Luis Linares Becerra fordert etwa 1925, die Steuern auf das Theater zu senken, die Mieten zu senken, die Fußballspiele an Feiertagen zu verbieten und nicht zuletzt – die Kinos abends zu schließen, um mehr Zuschauer ins Theater zu treiben.52 Dass dieses Argument ernst genommen wurde, zeigt sich in der polemischen Antwort eines Kritikers: No es el ›cine‹ el causante de la crisis teatral; otras son las causas determinantes de 8sta. Una, la falta de obras de positivo 8xito … En cambio, [el pfflblico] encuentra en el cinematjgrafo comedias y dramas antiguos y modernos, de indudable inter8s, suntuosamente presentados, e interpretados por celebridades mundiales, a costa de un sacrificio pecunario relativamente modesto, y, claro es, la eleccijn no es dudosa.53

Später kommt Linares in einer Art und Weise auf seine Kritik zurück, welche die Mediendifferenz in El seÇor de Pigmalijn deutlicher als eine intermediale Figuration erscheinen lässt; das Theater wird mit Füßen getreten, und zwar von den Geschöpfen eines neuen Mediums: Es intolerable que pueda patearse –perdjneseme que consigno el verbo en toda su grosera estridencia– una obra de Jacinto Benavente en un teatro, mientras en un cine no lejano se aplaude una pantomima repugnante hablada en un castellano vergonzoso, que demuestra el poco respeto que nos guardan y la poca consideracijn que nos guardamos.54

Das Bild des im schlechten Spanisch radebrechenden Mimen erinnert an Juan el Tonto: Figuration eines frühen Kinos, das zwar zu sprechen gelernt hatte, aber noch weit hinter dem Theater zurücklag. Der satirische Hinweis auf die Bedeutung der Reklame und der Kulturindustrie im Madrid der 1920er Jahre ruft die modernen Massenmedien in Erinnerung: Don Javier: D8jelo usted todo, vaya a Contadur&a y telefonee al de los anuncios luminosos. Queremos, desde maÇana, cuatro intermitentes y continuos en la Puerta del Sol, cinco en las Cuatro Calles, dos m#s en la calle Mayor, y otros dos en la de Carretas, y aqu&, en la plaza del teatro, tres cintas luminosas en la fachada y otra enfrente. […]55 52 Vgl. Dru Dougherty, Mar&a Francisca Vilches, La escena madrileÇa entre 1918 y 1926. An#lisis y documentacijn, Madrid 1990, S. 59–60. 53 El Imparcial, 18-IV-1925, S. 6, zitiert in Dougherty/Vilches, La escena madrileÇa entre 1918 y 1926, S. 60. 54 »Los autores y el cine hablado«, Informaciones, 7-XI-1930, S. 5, zitiert in Dougherty / Vilches, La escena madrileÇa entre 1926 y 1931, S. 39. 55 Grau, El seÇor de Pigmalijn, S. 161.

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Es ist aber vor allem die Vorstellung eines »beinahe wissenschaftlichen Weltereignisses« (»un acontecimiento mundial y hasta cient&fico«) zusammen mit dem Motiv des »hombre artificial«, welche indirekt auf damalige Diskurse über das Kino verweisen: dieses ist dem Theater Pigmalijns als Form eingeschrieben.56 Die formale Affinität zum Kino, näherhin zum Stummfilmkino lässt sich besonders gut an der Figur des praktisch sprachlosen Juan el Tonto zeigen: gemeinsam mit Pedro de Urdemalas wird er als eine metapoetisch besonders relevante Figur wahrgenommen. So zeigt etwa die Madrider Inszenierung, dass in seinem Kostüm nicht nur der Bezugshorizont der Pantomime, sondern auch der des Kinos mit aktualisiert wird. Der von Benito Cibri#n dargestellte Juan el Tonto (vgl. Abbildung) nähert sich in seinem Kostüm der Figur des Carlitos, also Charlie Chaplin an, dessen Bowlerhut als Markenzeichen des komischen Stummfilmgenres gelten kann. Alfonso Reyes schreibt in einer Notiz von 1920 über die »Erschaffung eines neuen Mythos«, der sich in verschiedene Gebiete der Kultur einprägt: »Yv8ase cjmo, en distintas aplicaciones, se saca partido de cada uno de los atributos del nuevo ente mitoljgico, del sombrero y del bastoncillo, del traje y aun las botas.«57 Dass die positive Gestalt des komischen Chaplin hier am Ende zu einem Mörder wird, bricht die Episodenhaftigkeit des Stummfilmkinos und führt in die groteske Ambiguität der Unvernunft ein. Die Schlussszene mit den beiden über dem toten Pigmalijn hinwegflatternden Fledermäusen zitiert Goyas Capricho 43 »El sueÇo de la razjn produce monstruos«58 ; wie diese Darstellung ist das Stück nicht eine Einforderung theatralischer Vernunft gegen die »wilden« und irrationalen Formen des Spiels, sondern eine Erneuerung des Theaters mit Hilfe nicht-theatralischer Gattungen. Wie die Goya-Radierung, die hier als kinematographisches Tableau vivant reproduziert wird, entfaltet die ästhetische Groteske ihr Transgressionspotenzial an der Grenze von Natur und Kunst, Leben und Tod oder von Vernunft und Wahnsinn.59 Diese Grenze lässt sich nun genauer bestimmen als eine intermediale Figuration, als in das avantgardistische Theater eingeschriebene Medien56 Ebd. Vgl. Daniel Mesa Gancedo, ExtraÇos semejantes: el personaje artificial y el artefacto narrativo en la literatura hispanoamericana, Zaragoza 2002, S. 268–290. Bei Clemente Palma findet sich ein Jahrzehnt später die Formulierung »romance grotesco de marionetes« für seinen Kinoroman XYZ (Novela grotesca) (1934) (vgl. Mesa, ExtraÇos semejantes, S. 284). 57 Alfonso Reyes (»Fjsforo«), »La creacijn de un mito« (1920), in: Ders., Obras completas IV, M8xico 1995, S. 226. 58 Grau, El seÇor de Pigmalijn, S. 262. Zur Goya-Renaissance bei Valle-Incl#n und seinen Zeitgenossen vgl. Carlos Jerez-Farr#n, »El car#cter expresionista de la obra esperp8ntica de Valle-Incl#n«, in: Hispania 73/3 (1990), S. 568–576, hier S. 569. Zur Einordnung von Goya in die Groteske vgl. Kayser, Das Groteske, S. 18–19. 59 Susanne Schlünder, Karnevaleske Körperwelten Francisco Goyas. Zur Intermedialität der »Caprichos«, Tübingen 2002, S. 130.

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differenz. Eine Analyse der Infiltration setzt diese Differenz voraus; der Übergang von Sprechtheater, Stummfilm und Marionettenshow als Begegnung von Heterogenem entzieht sich der vergleichenden Literaturwissenschaft. Der Körper als Konvergenzpunkt kultureller Praxis ersetzt bei dieser Untersuchung ein philologisches Korpus: und der groteske Leib des künstlichen Menschen, der als Konglomerat heterogener Formen in unterschiedlichen Medien der Avantgarde wiederkehrt, ist eine besonders markante Provokation der vergleichenden Literaturwissenschaft.

Abbildung: Pomponina und Juan el Tonto (aus: Teatro selecto de Jacinto Grau, hg. v. Luciano Garc&a Lorenzo, Madrid 1971, S. 481).

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Wolfram Nitsch

»¡Pim! ¡Pam! ¡Pum!« Groteske Mechanik in Valle-Incláns Martes de Carnaval

Das Groteske und das Komische sind verwandte Phänomene. Alle Definitionen des Grotesken kommen darin überein, dass es Lachen erregt, sei es ein befreiendes Lachen, wie Bachtin annimmt, oder ein abgründiges Lachen an der Grenze zum Grauen, wie Kayser vermutet . 1 Als Lachanlass werden dabei in erster Linie organische Erscheinungen im Zeichen der Auflösung, Verwandlung oder Vermischung benannt: unabgeschlossene Körper mit markanten Öffnungen und Extremitäten, chimärische Kreaturen an der Grenze zwischen menschlicher, tierischer und pflanzlicher Natur. 2 Nach Kayser gehört jedoch auch die »Vermischung des Mechanischen mit dem Organischen« zu den charakteristischen Ausprägungen des Grotesken, etwa »die zu Puppen, Automaten, Marionetten erstarrten Leiber und die zu Larven und Masken erstarrten Gesichter«3. Diese Bestimmung erinnert an die Definition des Komischen bei Bergson, derzufolge man grundsätzlich über mechanisch erstarrte Figuren und Situationen lacht, über »du m8canique plaqu8 sur du vivant«4. Bergson kennt allerdings nur das überlegene Lachen, nicht ein verlegenes oder gar ein ersticktes Lachen, wie es viele moderne Komödien erzeugen . 5 Ein Grund für eine derart verhaltene Heiterkeit mag darin liegen, dass die moderne Welt selbst im Zeichen einer »Herrschaft der Mechanisierung« steht, die komische Mechanisierung also nur eine allgegenwärtige Entwicklung spie-

1 Vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur [1965], hg. v. Renate Lachmann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, Kap. 5; Wolfgang Kayser, Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Oldenburg/Hamburg: Stalling 1957. 2 Vgl. hierzu Peter Fuß, Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln: Böhlau 2001 (Kölner Germanistische Studien, NF 1), S. 349–421. 3 Kayser, Das Groteske (Anm. 1), S. 197. 4 Henri Bergson, Le rire. Essai sur la signification du comique [1900], Paris: PUF 1993 (Quadrige, 11), S. 2. 5 Vgl. Wolfgang Iser, Die Artistik des Mißlingens. Ersticktes Lachen im Theater Becketts, Heidelberg: Akademie der Wissenschaften 1979.

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gelt. 6 Vor diesem Hintergrund möchte ich die groteske Mechanik in den esperpentos von Ramjn del Valle-Incl#n beleuchten . 7

1.

Das esperpento als groteske Komödie

Die Gattungsbezeichnung esperpento, die in der spanischen Umgangssprache ursprünglich so viel wie ›groteske Person‹ oder ›Unfug‹ bedeutet, hat der zunächst mit historischen Dramen hervorgetretene galicische Autor noch im Horizont des Trauerspiels geprägt. Zum ersten Mal erscheint sie in seinem bis heute berühmtesten Stück, dem düsteren Großstadtdrama Luces de Bohemia (1920). Dort verwendet sie der sterbende Protagonist, der verarmte und erblindete Madrider Poet Max Estrella, als zeitgemäßere und der eigenen Kultur angemessenere Alternative zum Begriff der Tragödie. In einer wahrhaft modernen Literatur, so sein poetologisches Testament, würden die klassischen Helden nurmehr verzerrt in Erscheinung treten – so als gingen sie an den Hohlspiegeln entlang, die zwecks Werbung und Volksbelustigung im sogenannten Callejjn del Gato bei der Puerta del Sol angebracht waren. Dies gelte in besonderem Maße für Spanien, wo solche grotesken Zerrbilder gewissermaßen zu Hause seien, und zwar nicht nur wegen einer von Goya begründeten Tradition der verzerrenden Darstellung, sondern auch deshalb, weil die spanische Kultur selbst nichts anderes sei als »una deformacijn grotesca de la civilizacijn europea«8. Auf Luces de Bohemia selbst passt diese Bestimmung des esperpento nur bedingt, da der sterbende Dichter durchaus noch Züge eines tragischen, zur Identifikation einladenden Helden aufweist. Besser kennzeichnet sie Valle-Incl#ns komische Trilogie Martes de carnaval (1930), eine neu arrangierte Folge dreier kürzerer esperpentos aus den zwanziger Jahren . 9 Wie der zweideutige Titel verrät, geht es darin um moderne Inkarnationen des Kriegsgottes Mars, die sich jedoch keineswegs heroisch-erhaben, sondern vielmehr skurril wie an einem »Faschingsdienstag« gebärden. Die deutsche Gattungsbezeichnung »Schauerposse«, vom Übersetzer Fritz Vogelgsang in Anlehnung an Nestroys

6 Vgl. Siegfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte (1948), Frankfurt a. M.: EVA 1982. 7 Die vorliegende Studie ist eine erweiterte Fassung meines Kapitels zu Valle-Incl#n in Volker Klotz, Andreas Mahler, Wolfram Nitsch u. a., Komödie. Etappen ihrer Geschichte von der Antike bis heute, Frankfurt a. M.: Fischer 2013, S. 689–701. 8 Ramjn del Valle-Incl#n, Luces de Bohemia, hg. v. Alonso Zamora Vicente, Madrid: EspasaCalpe 1992 (Austral), S. 168. 9 Ramjn del Valle-Incl#n, Martes de carnaval. Esperpentos (1930), hg. v. Jesffls Rubio Jim8nez, Madrid: Espasa-Calpe 2007 (Austral Teatro). Alle Zitate folgen dieser Ausgabe.

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»Zauberposse« geprägt, trifft den Ton dieser Einakter ganz ausgezeichnet . 10 Denn nicht nur kommen sie auf Formen des komischen Volkstheaters wie das entrem8s und vor allem das Puppenspiel zurück, das Valle-Incl#n ebenfalls als Modell für seine esperpentos genannt hat, weil es schon von seiner eigenen Mechanik her die Darstellung einer potentiell tragischen Situation als groteske Farce erlaube.11 Darüber hinaus verweisen die drei Stücke aber auch auf die Tradition der Schauerromantik, wo unheimliche Friedhofsszenen sowie Mord und Totschlag außerhalb des Schlachtfelds zum festen Themenbestand gehören – sei es in romantischen Dramen wie Don Juan Tenorio (1844) von Jos8 Zorrilla oder sei es in populären Melodramen wie den um 1900 grassierenden Schauerstücken des Pariser Grand-Guignol . 12 Besonders eindringlich tritt diese eigenwillige Verbindung von grausigem Spektakel und grotesker Komik im zweiten Einakter aus Martes de carnaval in Szene, den bereits 1921 gedruckten, doch erst 1933 in Rom uraufgeführten Esperpento de los cuernos de Don Friolera.

2.

Menschliche Marionetten

Das Mittelstück der Trilogie umfasst seinerseits drei Teile, die drei mehr oder weniger komische Versionen eines blutigen Ehrenkasus zeigen.13 Die komischste davon kommt gleich am Anfang, im sogenannten Prolog des einaktigen Stücks. Dort wird im Hof einer Herberge an der portugiesischen Grenze das Puppenspiel vom gehörnten Leutnant Don Friolera (»Firlefanz«) gegeben. Auch wenn die beiden Zuschauer eindeutig dem modernen Spanien entstammen, weist die Aufführung selbst weit in die Theatergeschichte zurück. Schon der Ort erinnert an das Theater des Siglo de Oro, dessen typische Bühne ebenfalls in einem Innenhof stand; erst recht jedoch die zweiköpfige, aus einem blinden Gaukler und einem unsichtbaren Puppenspieler gebildete Truppe, da solche Straßenkomödianten im Barocktheater während der Fastenzeit an die Stelle fester En-

10 Ramjn del Valle-Incl#n, Karneval der Krieger. Drei Schauerpossen, übers. v. Fritz Vogelgsang, Stuttgart: Klett-Cotta 1982. Sämtliche Übersetzungen folgen dieser Ausgabe. 11 So in einem Interview von 1921, wo er die esperpentos als »teatro para muÇecos« bezeichnet; zitiert bei John Lyon, The theatre of Valle-Incl#n, Cambridge: Cambridge UP 1983 (Cambridge Iberian and Latin American Studies), S. 210. 12 Zur Bedeutung des Grand-Guignol für Valle-Incl#n vgl. Jesffls Rubio Jim8nez, Valle-Incl#n, caricaturista moderno. Nueva lectura de »Luces de Bohemia«, Madrid: Fundamentos 2006. 13 Zum Aufbau des Stücks siehe Rodolfo Cardona; Anthony N. Zahareas, Visijn del esperpento. Teor&a y pr#ctica de los esperpentos de Valle-Incl#n, Madrid: Castalia 21987 (Literatura y sociedad), S. 115–162; ferner Walter Bruno Berg, »Ramjn del Valle-Incl#n: Esperpento de los cuernos de don Friolera«, in: Volker Roloff, Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Das spanische Theater. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Düsseldorf: Bagel 1988, S. 325–339.

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sembles traten . 14 So überrascht es nicht, dass der Gaukler im Stil eines alten bululffl sämtliche Rollen selber spricht, seine Stimme sowohl dem ständig eingreifenden Spielleiter als auch den beiden vom Assistenten manipulierten Figuren leiht . 15 Und noch weniger verwundert, dass es in dem derart dargebotenen, durchgängig in Versen abgefassten Zweipersonenstück wie so oft im älteren spanischen Drama um einen Fall von verlorener Ehre geht. Der von einer Marionette verkörperte Don Friolera sieht sich durch den althergebrachten, vom Spielleiter nochmals eingeschärften Ehrenkodex genötigt, seine von einer Stoffpuppe dargestellte Geliebte zu ermorden, weil sie in Verdacht steht, ihn mit einem Eselstreiber und Ölhändler betrogen zu haben. Als Ölgeruch an ihrem Hemd den Verdacht erhärtet, ersticht er sie kurzerhand mit der »cimitarra de Otello« (S. 127), dem im schmalen Fundus der Truppe offenbar gerade zuhandenen Krummsäbel des Mohren von Venedig. Allerdings bleibt es nicht bei diesem heftigen Ende. Mit dem Klang einer Goldmünze wird die Tote zum Leben erweckt, und die im Original so genannte »trigedia« (S. 128) kann wieder von vorne losgehen – mit der nächsten der drei Versionen. Zuvor aber kommt es zu einem aufschlussreichen Theatergespräch zwischen den Zuschauern des Puppenspiels, den feingeistigen Touristen Don Manolito und Don Estrafalario, zu Deutsch »Kandidat Überkandidelt«. Als CervantesLeser haben sie sich auf die Suche nach dem spanischen Wesen begeben und meinen in der »trigedia« zwei gegensätzliche Seiten davon zu erkennen. Während Don Friolera den kastilischen Ehrenkodex repräsentiere, eine zutiefst barbarische Institution von alttestamentarischer Strenge und »afrikanischer« Grausamkeit, stelle die eher nordspanische Spiellust des Gauklers ein sozusagen landeseigenes Mittel zu deren Unterwanderung dar. Denn in der Haltung des Spielleiters gegenüber den Puppen sieht Don Estrafalario eine distanzierte Zuschauerhaltung verwirklicht, die Valle-Incl#n andernorts dem esperpento zuschreibt.16 Selbst im Moment des Mordes wahre der Gaukler Abstand zu seinen Figuren und gestatte es dem Zuschauer, das Geschehen seinerseits mit kaltem Blick zu betrachten – sozusagen »con perspectiva de la otra ribera« (S. 124), wo ein durchbohrter Leib nicht mehr Mitleid errege als ein durchbohrter Felsen in einem Steinbruch. In dieser gewiss »überkandidelten« und doch abgründigen Reflexion werden zwei komiktheoretische Leitsätze von Valles Zeitgenossen 14 Vgl. John E. Varey, Historia de los t&teres en EspaÇa. Desde sus or&genes hasta mediados del siglo XVIII, Madrid: Revista de Occidente 1957. 15 Zum Einmanntheater des bululffl und seiner Nachbildung im Drama des Siglo de Oro vgl. Vf., Barocktheater als Spielraum. Studien zu Lope de Vega und Tirso de Molina, Tübingen: Narr 2000 (Romanica Monacensia, 57), S. 145f. 16 Vgl. das vielzitierte Interview vom 07. 12. 1928, wo er dem Zuschauer des esperpento im Gegensatz zum ›ebenerdigen‹ Tragödienzuschauer eine erhabene Position »levantado en el aire« bescheinigt; zitiert bei Lyon, The theatre of Valle-Incl#n (Anm. 11), S. 209.

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Bergson auf beklemmende Weise kurzgeschlossen: Das Lachen als »anesth8sie momantan8e du cœur« bewirkt, dass ähnlich wie beim belachten Objekt auch im lachenden Subjekt das Mechanische das Lebendige überlagert.17 Oder anders gesagt: Damit der Zuschauer einen Ehrenmord als komisches Marionettentheater genießen kann, muss er sich gewissermaßen selbst in einen toten Holzkopf verwandeln. Kaum sind diese unbequemen Gedanken verhallt, beginnt das eigentliche Stück, eine zwölf Szenen umfassende Schauerposse in Prosa. Auch sie handelt von der verlorenen Ehre des Don Friolera, rollt jedoch einen komplizierteren Kasus auf. Friolera, hier Grenzsoldat an der Straße von Gibraltar, erscheint nun als ausgesprochen unschlüssiger Ehrenmann. Obwohl er gleich anfangs einen anonymen Brief empfängt, der seine Frau des Ehebruchs bezichtigt, schreckt er lange vor den vom Ehrenkodex diktierten Konsequenzen zurück. Als sentimentaler Familienvater zieht er es eigentlich vor, mit seinem Töchterchen zu schäkern und im Garten zur Gitarre zu singen. Nicht minder unschlüssig wirkt seine Gemahlin DoÇa Loreta, eine stattliche, vom Nachbarn Pachequ&n umworbene Matrone, die sich durch dessen Ständchen zwar geschmeichelt fühlt, aber dennoch ziert, ihn zu erhören. Erst durch eine Art Hetzkampagne spitzt sich die Lage zu. Im lokalen Billardsalon verdichten sich die ehrenrührigen Gerüchte, angeheizt von der Intrigantin DoÇa Tadea, der mutmaßlichen Verfasserin des Anklageschreibens, und aufgegabelt von den Vorgesetzten des Leutnants, die ihm schon mit Ehrengericht und Entlassung drohen. Unter solchem Druck schreitet Don Friolera schließlich doch zur Tat, nunmehr zeitgemäß mit einer Pistole bewaffnet. Dabei unterläuft ihm jedoch ein schreckliches Versehen: Als DoÇa Loreta und Pachequ&n nachts durchbrennen wollen, erschießt er an ihrer Stelle die eigene Tochter. Diese durchaus tragische Verwechslung löst gleichwohl kein Jammern und Schaudern aus. Denn die von Schauspielern verkörperten Figuren in der zweiten Version des Ehrenkasus wirken kaum weniger marionettenhaft als die Stoff- und Holzfiguren der ersten.18 Aus den ausführlichen Regieanweisungen geht hervor, dass sie durchweg wie groteske Gliederpuppen agieren. Zum einen verleiht ihnen eine suggestive Lichtregie eine kantige, ja karikaturale Erscheinung. DoÇa Tadeas wie ein Haken (»garabato«) gekrümmte Silhouette vor den weißen Hauswänden gleicht der einer Eule (S. 140); Pachequ&n wiederum, mit einem »tajamar«, also einem »Wellenbrecherzinken« gesegnet, sieht im Mondlicht wie eine Vogelscheuche (»espantap#jaros«) aus und der Strohpuppe in Frioleras 17 Vgl. Bergson, Le rire (Anm. 4), S. 4. 18 Vgl. Jean Marie Lavaud, »Con M de marioneta y M de militar. En torno a Los cuernos de don Friolera«, in: Carlos Moya u. a. (Hg.), Homenaje a Jos8 Antonio Maravall, Madrid: Centro de Investigaciones Socioljgicas 1985, Bd. 2, S. 427–441.

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Garten zum Verwechseln ähnlich (S. 187). In Szenen wie diesen verlieren die Figuren jegliche Tiefe, so als handle es sich um Silhouetten eines Schattentheaters. Zum anderen artet ihre überzogene Mimik und Gestik nicht selten in regelrechtes Gehampel aus. Bei einem Ehezank laufen der Leutnant und seine Frau mit gespreizten Armen so oft hin und her, dass ihre Bewegung die faszinierende Wirkung einer Marionettentragödie entfaltet, »la sugestijn de una tragedia de fantoches« (S. 147); und der auf Bestrafung drängende Offizier im Billardsalon zieht eine derart finstere Miene, dass sein Glasauge herausspringt und herumkullert wie eine Kugel beim Karambol (S. 170). Das Puppenspielartige der szenischen Darstellung wird aber auch im Dramentext selbst betont. Don Friolera nimmt den widerstrebend und irrtümlich begangenen Mord mit Worten vorweg, die ihm von Anfang an den Anschein einer Jahrmarktsvergnügung geben. Auf seinem Weg ins Verderben imitiert er immer wieder lautmalerisch den zuletzt tatsächlich abgegebenen Schuss: »¡Pim! ¡Pam! ¡Pum!«. Dieser insgesamt sieben Mal ausgestoßene Schlachtruf aber gleicht dem Ruf, mit dem man die drei Versuche an einer Wurfbude begleitet. Don Friolera selbst erinnert daran, als er abends im Garten seine intrigante Nachbarin mit drei faulen Orangen bewirft: Unter Verwendung derselben drei Worte visiert er ihre Dachluke wie eine Zielscheibe an, »el blanco de un pim, pam, pum« (S. 182). So gewinnt schließlich auch die nachts an gleicher Stelle vollstreckte Gewalttat groteske Züge: (Don Friolera, dando traspi8s, irrumpe en el huerto, los pantalones potrosos, el ros sobre una oreja, en la mano un pistoljn.) DON FRIOLERA ¡Vengar8 mi honra! ¡Pelones! ¡Villa de cabrones! ¡Un militar no es un paisano! ¡Pim! ¡Pam! ¡Pum! ¡No me tiembla a m& el pulso! ¡Hecha justicia, me presento a mi Coronel! (Dispara el pistoljn, y con un grito los fantoches luneros de la tapia se doblan sobre el otro huerto. DoÇa Loreta reaparece, los pelos de punta, los brazos levantados.) DOLA LORETA ¡Pantera! (Nuevamente se derrumba. Algunas estrellas se esconden asustadas. En su buharda, como una lechuza, acecha DoÇa tadea. Y se aleja con una arenga embarullada el fantoche de Otelo.) DON FRIOLERA ¡Vengu8 mi honra! ¡Pelones! ¡Villa de cabrones! ¡Un militar no es un paisano! (S. 194–195)

Mechanisch wie ein Hampelmann (»fantoche«) führt Don Friolera aus, wozu ihn die öffentliche Meinung drängte, und spult entsprechend zweimal hintereinander die gleichen Drohformeln ab. Aber auch seine auf die Gartenmauer gekletterten Opfer ähneln Marionetten und purzeln nach dem Schuss wie Budenfiguren herunter. Bei Valle-Incl#n verläuft die Analogie zwischen gespielter und ausgeübter Erschießung somit genau umgekehrt wie in C8lines wenig später erschienenem Roman Voyage au bout de la nuit (1932), wo ein Schießbuden-

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besuch schlimme Kriegserinnerungen weckt . 19 Während sich dort ein Jahrmarktsgeschehen plötzlich verdüstert, gerät hier eine Mordstätte zum Rummelplatz. Die komische Störung möglicher Tragik setzt nicht einmal aus, als sich am Ende das wahre Ausmaß der Katastrophe enthüllt. Vom Tod seiner unschuldigen Tochter erfährt Friolera erst im Hause des Obristen, den er über seine Bluttat pflichtbewusst unterrichtet. Doch selbst dann bewirkt das Geschehen nicht jene Rührung, die der Oberst und seine Gattin vor dem Eintreten des Leutnants beim Lesen eines Fortsetzungsromans empfinden. Denn gleichzeitig mit dem tragischen Irrtum kommt im Stil einer Boulevardkomödie zum Vorschein, dass auch Frioleras Vorgesetzter zu den Gehörnten zählt. Die Schreckensnachricht wird überbracht vom Burschen des Obristen, den die nur leicht bekleidete Obristin anscheinend ohne größere Skrupel im Nebenzimmer empfängt. Damit aber steht schon der nächste Ehrenkasus ins Haus, zumal der Oberst eben noch betonte, der point d’honneur gelte für alle Dienstgrade, »desde Teniente a General« (S. 197). Auch ohne die nur im Puppenspiel mögliche Auferstehung des Opfers beginnt im menschlichen Marionettentheater wieder alles von vorn. Die dritte Version des Kasus im Epilog des Stücks schlägt freilich ganz andere Töne an. Nun lauschen die vormaligen Zuschauer des blinden Gauklers einem blinden Bänkelsänger, der den Ehrenmord am Schauplatz des Geschehens in einer schaurigen Romanze verherrlicht. Das lange Lied verbirgt die groteske Erscheinung des Leutnants und verleiht ihm stattdessen heroische Züge. Seine Gewalttat wirkt jetzt weniger arbiträr, da er Ehefrau und Liebhaber bei einer Kupplerin in flagranti erwischt; sie wirkt außerdem konsequenter vollstreckt, da er beide Ehebrecher enthauptet, als er seinen fatalen Fehlschuss erkennt. Zum Zeichen der Anerkennung wird er sogar vom König höchstpersönlich befördert und geht ruhmreich in die Geschichte ein – nicht unter dem nur von »lenguas de canalla« (S. 202) verwendeten Spitznamen Don Friolera, sondern unter seinem bürgerlichen Namen Pascual Astete. Die an der Straße von Gibraltar vorgetragene Romanze rückt somit im Namen der öffentlichen Ordnung zurecht, was das Puppenspiel an der Grenze zu Portugal in grotesker Verzerrung zur Schau gestellt hatte. Im ehrenbewussten Süden Spaniens, so scheint es, will man von der Spiellust des Nordens nichts wissen. Den beiden Zuhörern des Bänkelsängers bleibt nichts anderes übrig, als gegen das staatstragende Pathos des Heldengedichts den »sentido malicioso y popular« des Marionettenspiels zu beschwören (S. 203). In der Heimat des Leutnants hat man sie als mutmaßliche Anarchisten nämlich längst ins Gefängnis gesteckt.

19 Vgl. Louis-Ferdinand C8line, Romans, hg. v. Henri Godard, 4 Bde., Paris: Gallimard 1981–1993 (BibliothHque de la Pl8iade), Bd. 1, S. 58–60.

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3.

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Viel Lärm um nichts

Das marionettenhafte Gebaren der Figuren in der ersten und zweiten Version findet in ihrer Rede eine unüberhörbare Entsprechung. Gemäß Valle-Incl#ns Überzeugung, die spanische Bühnensprache eigne sich in erster Linie zum Schreien, kaum dagegen für gedämpfte Gespräche im französischen Stil, geht es dort vorwiegend lautstark zur Sache . 20 Dies gilt zunächst für den dramatischen Dialog, der ja seit alters her und zumal in der Komödie Gelegenheit zu heftigen Wortwechseln bietet. In der Schauerposse selbst kommt es laufend zu Verbalgefechten symmetrischer Art, wenn sich die Figuren in knappen Sätzen gegenseitig beschimpfen oder bedrohen. In der vierten Szene etwa geht ein lauter Schlagabtausch zwischen Don Friolera und DoÇa Tadea fast bruchlos in einen noch lauteren Ehekrach über, der allerdings im Gegensatz zum Streit mit der Intrigantin auf einem falschen Verdacht beruht: viel Lärm um nichts. Im einleitenden Puppenspiel hingegen überwiegt der laute Dialog in asymmetrischer Form. Hier erhebt vor allem der Gaukler die Stimme, um den behäbigen Leutnant zur Gewalt anzustacheln; erst daraus ergibt sich dessen Mordgeschrei und die heftige Gegenwehr der Geliebten: EL BULUL5

Dele usted, mi Teniente, baqueta. Zfflrrela usted, mi Teniente, el pandero. ]brala usted con la bayoneta, en la pelleja un agujero. ¡M#tela usted si huele a aceitero! LA MOLA Vertijseme anoche el candil al meterme en los cobertores: ¡De eso me huele el fogaril, no de andar en otros amores! ¡Ciego mentiroso, mira tffl de no ser m#s cabrjn, y no encismes el corazjn de un enamorado celoso! EL BULUL5 ¡Ande usted, mi Teniente, con ella! ¡Cjsala usted con un puÇal! Tiene usted, por su buena estrella, vecina la raya de Portugal. EL FANTOCHE ¡Me comer8 en albondiguillas el tasajo de esta bribona, y har8 de su sangre morcillas! EL BULUL5 Convide usted a la comilona. (S. 127)

Nicht von ungefähr vergleicht Don Estrafalario das Gespräch zwischen Gaukler und Holzkopf mit dem Dialog zwischen Jago und Othello. Wie bei Shakespeare soll ein Stück Stoff die Untreue bezeugen, auch wenn es hier nicht um ein Taschentuch, sondern um ein Unterhemd geht; und wie der Mohr von Venedig wird der Leutnant durch Einflüsterung zum Rasen gebracht, allerdings mit der besonderen Note, dass er sich vor dem Gemetzel wie ein Metzger gebärdet. Doch hält der aufmerksame Zuschauer auch einen wichtigen Unterschied fest: Anders als der rachsüchtige Jago agiert der Spielleiter ganz leidenschaftslos, wahrt ge20 Vgl. hierzu Valle-Incl#ns Interview von 15. 10. 1930, zitiert bei Lyon (Anm. 11), S. 207, sowie Gonzalo Sobejano, »Culminacijn dram#tica de Valle-Incl#n: el di#logo a gritos«, in: A. G. Loureiro (Hg.), Estelas, laberintos, nuevas sendas. Unamuno, Valle-Incl#n, Garc&a Lorca, Barcelona: Anthropos 1988, S. 111–136.

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genüber den Figuren die »Würde des Demiurgen«, der bloß zum Vergnügen brüllt. Dieser Lärmpegel sinkt nicht einmal in den Monologen des Helden. Das zeigt sich gleich am Anfang der Schauerposse, als Firlefanz nach Erhalt des anonymen Schreibens ein ebenso langes wie lautes Selbstgespräch über die dadurch geschaffene Zwangslage führt: Tu mujer piedra de esc#ndalo. ¡Esto es un rayo a mis pies! ¡Loreta con sentencia de muerte! ¡Friolera! ¡Si fuese verdad tendr&a que degollarla! ¡Irremisiblemente condenada! En el Cuerpo de Carabineros no hay cabrones. ¡Friolera! […] ¿y si cerrase los ojos para ese contrabando? ¿Y si resolviese no saber nada? ¡Este mundo es una solfa! ¿Qu8 culpa tiene el marido de que la mujer le salga rana? ¡Y no basta una honrosa separacijn! ¡Friolera! ¡Si bastase!… La galer&a no se conforma con eso. El principio del honor ordena matar. ¡Pim! ¡Pam! ¡Pum!… El mundo nunca se cansa de ver t&teres y agradece el espect#culo de balde. ¡Formulismos!… […] Yo matar8 como el primero. ¡Friolera! Soy un militar espaÇol y no tengo derecho a filosofar como en Francia. ¡En el Cuerpo de Carabineros no hay cabrones! ¡Friolera! (S. 131–134)

Hier zeigt sich sofort, wie weit der Leutnant bereits den Fremdzwang des Ehrengesetzes in einen Selbstzwang verwandelt hat. Gegen seinen Hang zur Bequemlichkeit beschwört er den Korpsgeist seiner Truppe durch einen eingehämmerten Leitsatz, den er am Ende nochmals mit Ausrufezeichen wiederholt. Mit ähnlichen Sätzen brüllt er ein in Frageform vorgebrachtes Gedankenspiel zu möglichen Auswegen sowie einige ehrenkritische Bemerkungen nieder. Gerade der Vergleich des vom Ehrenprinzip bestimmten Handelns mit einem ferngesteuerten »Puppentheater« (»t&teres«) verrät erstaunliche Selbsterkenntnis, wird aber gleich wieder abgekanzelt als allzu französischer, eines spanischen Soldaten unwürdiger Gedanke. In diesem Zusammenhang gewinnt auch der vielfach repetierte Ausruf »¡Friolera!« einen komischen Doppelsinn. Als bedeutungstragendes Wort (»Firlefanz«) kommt er einem Stoßseufzer über den Unfug der Ehre gleich, als identifizierender Eigenname einer Selbstermahnung zum ehrenbewussten Verhalten. Dabei bleibt der Hintergrund des Puppenspiels ständig präsent, nicht nur über die Schießbudenlosung »¡Pim! ¡Pam! ¡Pum!«, sondern auch durch das Zollhäuschen, in dessen Fenster der laute Selbstredner wie Kasperl auf der Puppenbühne erscheint. Das Hin und Her in Frioleras Monolog »a gritos« wirkt somit wie ein Gegenstück zum Wortgefecht im Marionettentheater ; allein ein Agitator wird nicht mehr benötigt, weil der Held dessen absurde Befehle inzwischen auswendig kennt.

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4.

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Zerrspiegel in Randlage

Eher verhalten spielt das esperpento vom betrogenen Leutnant auf einen tiefgreifenden Wandel Spaniens zu Beginn des 20. Jahrhunderts an. Die beiden Zuschauer des Puppenspiels gehören wie der Autor selbst zur sogenannten »generacijn del 98«, die nach dem Verlust der letzten Kolonien in Übersee darüber nachsann, wie weit sich Spanien auf seinem Sonderweg in die Neuzeit von Europa abgewandt hatte. Die Romanze im Epilog wiederum beleuchtet einen martialischen Heldenkult, der in der 1923 ausgerufenen Diktatur von Primo de Rivera einen ersten Höhepunkt erreichte und auch in anderen modernen Militärregimes Widerhall fand. Deutlicher treten diese historischen Referenzen in den beiden anderen Stücken aus Martes de carnaval hervor. ValleIncl#ns Gedanke, das esperpento passe zu Spanien als einer »grotesken Verzerrung der europäischen Zivilisation«, gewinnt dort in zwei verschiedenen Hinsichten Gestalt. Die Schauerposse Las galas del difunto (1926) handelt von merkwürdigen Eigenheiten der Kultur am Rand Europas, die der Untergang des spanischen Weltreichs besonders grell hervortreten lässt. Auch hier eskaliert ein Familiendrama im Zeichen unerbittlicher Ehrenrettung, geht nun aber direkt aus dem verlorenen Krieg um Kuba hervor. Dort nämlich fiel der Verlobte der Heldin, einer Kokotte aus gutem Hause, die wegen vorehelicher Schwangerschaft verstoßen wurde und sich jetzt brieflich um Versöhnung bemüht – vergebens, da den Vater der Schlag trifft, bevor er ihr Schreiben lesen kann. Diese durchaus melodramatische Handlung nimmt allerdings wiederum eine komische Wendung. Zum einen wird die verstoßene Tochter durch einen aus Kuba heimgekehrten Soldaten gerettet, einen Glücksritter alten Schlages, der wie Lopes »Caballero del milagro« mit fremder Kleidung Staat zu machen versteht und ebensowenig wie Tirsos oder Zorrillas Don Juan eine Grabschändung scheut, um seine zerlumpte Uniform gegen den Staatsrock des Verblichenen einzutauschen . 21 Das vom spanischen Ehrenkodex verschuldete Unglück mündet dank einer genuin spanischen burla also doch noch in ein glückliches Ende. Zum anderen erscheint der Tod auch hier in jahrmarktshafter Verzerrung. Als der hartherzige Vater mit dem Brief in der Tasche stirbt, klappt er laut Nebentext wie ein Hampelmann (»como un fantoche«) zusammen und erzeugt dadurch einen grotesken Hohlspiegeleffekt, »una sensacijn de espejo convexo« (S. 91). Das alte

21 Zu Lopes Caballero del milagro vgl. mein Kapitel in: Klotz, Nitsch, Mahler, Komödie (Anm. 7), S. 184-194; zur Friedhofsszene in Zorrillas Don Juan Tenorio siehe Maria Imhof, Schneller als der Schein. Theatralität und Beschleunigung in der spanischen Romantik, Bielefeld: Transcript 2013 (Machina), S. 231–241.

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Spanien mag mit einem Schlag endgültig niedergehen, gewinnt aber gerade dabei schaurig-komische Größe. La hija del capit#n (1927) nimmt dagegen das auf andere europäische Diktaturen vorausdeutende Militärregime Primo de Riveras aufs Korn . 22 Wie im esperpento von Don Friolera kreist das Geschehen um einen an sich tragischen Irrtum: Aus Versehen wird ein argloser Zocker ermordet. Die Tat geschieht im Haus eines Hauptmanns, wo sich ein General und andere hohe Tiere zum Glücksspiel treffen, aber auch die Tochter des Hauses auf Wunsch des Vaters mit dem General einlässt. Als deren eifersüchtiger Geliebter, ein armer Streuner, versehentlich den falschen Gast erschießt, ergreift man drastische Maßnahmen zur Ehrenrettung des Heeres – von der Zerstückelung der Leiche bis hin zu einem Putsch, um unerwünschte Presseberichte zu verhindern. Aus einem skandalösen Todesfall im Spielermilieu entsteht per Schneeballeffekt eine patriotisch begründete Militärdiktatur. 23 Dieses abgründige, eines schwarzen Kriminalromans würdige Sujet erscheint jedoch abermals in komischer Beleuchtung. Am Ende des Stücks platzt die Heldin geradezu vor Lachen darüber, wie man den von ihr ausgelösten Staatsstreich öffentlich akklamiert. Als sie an einem Bahnhof darauf wartet, mit ihrem Streuner das Weite zu suchen, zeitigt der einfahrende Sonderzug des Königs groteske Effekte. Die Dampflokomotive bläht das am Bahnsteig versammelte Jubelvolk auf wie Budenfiguren, und der König verkündet das Ende des alten Regimes mit einer mechanischen »voz de caÇa hueca«, so als tönte es aus einem hohlen Rohr (S. 249). Sogar der vom Militär instrumentalisierte Monarch zeigt demnach ein marionettenhaftes Verhalten. Das totalitäre Experimentierfeld Spanien wirkt am Ende wie ein grotesker Operettenstaat irgendwo in der Neuen Welt, wo Valle-Incl#n mit Tirano Banderas (1926) zum Wegbereiter des Diktatorenromans wurde.

Bibliographie Primärtexte C8line, Louis-Ferdinand, Romans, hg. v. Henri Godard, 4 Bde., Paris: Gallimard 1981–1993 (BibliothHque de la Pl8iade). Valle-Incl#n, Ramjn del, Karneval der Krieger. Drei Schauerpossen, übers. v. Fritz Vogelgsang, Stuttgart: Klett-Cotta 1982.

22 Vgl. Laura Lonsdale, »Valle-Incl#n’s dead bodies«, in: Modern Language Review 106 (2011), S. 448–462, hier S. 459ff. 23 Zum Schneeballeffekt als szenenübergreifender Form komischer Mechanik vgl. Bergson, Le rire (Anm. 4), S. 61ff.

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Wolfram Nitsch

Valle-Incl#n, Ramjn del, Luces de Bohemia, hg. v. Alonso Zamora Vicente, Madrid: Espasa-Calpe 1992 (Austral). Valle-Incl#n, Ramjn del, Martes de carnaval. Esperpentos (1930), hg. v. Jesffls Rubio Jim8nez, Madrid: Espasa-Calpe 2007 (Austral Teatro).

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»Mino/tauromaquia«: Spurensuche eines Wiedergängers der spanischen Kultur Jeder Versuch, die Welt, in der man lebt, in den Griff zu bekommen, sie zu gestalten, ist ein Kampf mit dem Minotaurus, daß man in diesem Kampf mit sich selber kämpft, leuchtet einem erst spät ein; gleichzeitig stellt dieser Kampf aber auch den ohnmächtigen Versuch des Minotaurus dar, das Labyrinth auf seine Weise zu begreifen. Friedrich Dürrenmatt

Wer versucht für Spanien eine Tradition des Grotesken nachzuzeichnen, nimmt eine eigentümliche Diskrepanz wahr : Einige wenige Artefakte sowie Autoren und Autorinnen stehen gleichsam paradigmatisch für das Genre, darüber hinaus gibt es aber viele Leerstellen. Wie Paul Ilie konstatiert, korrespondiert dieser Befund mit dem diskontinuierlichen Gebrauch des Begriffs: »The very word ›grotesque‹ has its own semantic development in Spain, and one that is complicated by the related terms capricho and esperpento.«1 Die langen Jahre des franquismo erschwerten nicht nur die innerspanische Rezeption grotesker Elemente der europäischen und lateinamerikanischen Moderne, sie bedingten außerdem eine etwas einseitige Fokussierung spanischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf den sogenannten realismo social. Dieses Paradigma wird erst in den Sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts abgelöst, was maßgeblich mit dem Erscheinen des Romans Tiempo de Silencio in Verbindung gebracht wird. Im vorliegenden Aufsatz möchte ich diesen Text, der für die literarische Groteske bislang allerdings eher »unverdächtig« war, in einem Close Reading auf intertextuelle und intermediale Entwicklungslinien zu den konstatierten wirkmächtigen Werken der literarischen und ikonographischen Groteske untersuchen. In Tiempo de Silencio, einem Roman des Schriftstellers, Psychiaters und klandestinen Politikers Luis Mart&n Santos aus dem Jahr 1961, sind Elemente der Verkehrung, der Verzerrung und der Vermischung allgegenwärtig. Laut Peter Fuß handelt es sich dabei um konstitutive Mechanismen des Genres.2 Um diese 1 Paul Ilie, The Grotesque Aesthetic in Spanish Literature. From the Golden Age to Modernism, Newark: Juan de la Cuesta Hispanic Monographs 2009, S. 9. 2 Vgl. dazu Peter Fuß, Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2001, S. 235–268.

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Strategien einer »virtuellen Anamorphose«3 nicht ausschließlich im Diskursiven zu verorten, soll Fuß’ Definition der Groteske um eine ältere ergänzt werden: Im Tesoro de la lengua castellana von Sebasti#n Covarrubias aus dem Jahr 1611 lesen wir unter dem Eintrag grutesco: Se dixo de gruta, y es cierto modo de pintura […] Este g8nero de pintura se haze con unos compartimientos, listones y follajes, figuras de medio sierpes, medio hombres, syrenas, sphinges, minotauros, al modo de la pintura del famoso pintor Gerjnimo Bosco.4

Diese ursprüngliche Begriffsbestimmung enthält zwei Elemente, die in gegenwärtigen Fassungen zur literarischen Groteske meiner Meinung nach manchmal etwas aus dem Blick geraten, die aber die ästhetischen Verfahren Mart&n-Santos’ dem Genre zuordnen lassen: Die etymologische Wurzel des Untersuchungsgegenstands – die Grotte, die Höhle – ist ein wiederkehrendes Motiv grotesker Literatur. Sie verweist darüber hinaus auf die ausgeprägte Räumlichkeit und architektonische Struktur vieler einschlägiger Texte. Die Art und Weise, wie diese Räume sprachlich ausgestaltet werden, bestätigt wiederum die bei Covarrubias beschriebene Ursprungs-Semantik der Malerei: Tropen werden – an dieser Stelle sei diese drastische Metapher erlaubt – dick aufgetragen, wodurch Ambientes visuell bzw. graphisch erfahrbar werden. So verarbeiten viele Texte der literarischen Groteske auch Werke bildender Kunst. Mart&n-Santos’ visuelle Strategien bedienen sich darüber hinaus im engeren Sinn einer Ekphrasis, die das in der barocken Definition ebenfalls genannte Mischwesen Minotaurus evoziert. Die Betrachtung des Bildes El gran buco bzw. El aquelarre von Francisco Goya, das im Text bezeichnender Weise als Poster in einem Jugendzimmer hängt, wird mit dem labyrinthischen Handlungsverlauf verwoben: Scene de sorcellerie: Le Grand Bouc – 1798 – (H.–0,43; L-0,30). Madrid. Mus8e L#zaro. Le grand bouc, el gran macho, el gran buco, el buco 8missaire, el capro hisp#nico bien desarrollado. El cabrjn expiatorio. ¡No! El gran buco en el splendor de su gloria, en la prepotencia del dominio, en el usufructo de la adoracijn centr&peta. En el que el cuerno no es cuerno ominoso sino signo de glorioso dominio f#lico. All&, con ojo despierto, mirando a la muchedumbre femelle que yace sobre su regazo en adem#n de auparishtaka y de las que los abortos vivos parecen expresar en sfflplica sincera la posible revitalizacijn por el contacto de quien (sin duda encarnacijn del protervo o simple magna posibilidad del hombre nocturno) se complace en depositar la pezuÇa izquierda benevolentemente sobre el todav&a no fr&o ya escu#lido, no suficientemente alimentado, cuerpo […].5 3 Fuß, Das Groteske, S. 14. 4 Sebastian de Covarrubias Horozco, Tesoro de la lengua Castellana, o EspaÇola, Madrid: Luis Sanchez 1611, fol. 451 vs. 5 Luis Mart&n-Santos, Tiempo de Silencio, Barcelona: Seix Barral 42005, S. 204–205.

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Dieses Zitat kommt – sowohl wörtlich als auch dramaturgisch – zentral, also ziemlich genau in der Mitte des Buchs vor, verdichtet die Klimax des Handlungsverlaufs und hilft weitere groteske Elemente des Textes herauszupräparieren. Kennerinnen und Kenner des Bildes werden nun vermutlich einwenden, dass el gran buco ein Ziegenbock, also kein Stier und schon gar kein Minotaurus sei. Sie haben recht: Ich lese Mart&n-Santos’ Deutung des gran buco in Paraphrase des Zitats als perverse Inkarnation, als »encarnacijn proterva« des Minotaurus, der gerade aufgrund seiner ambivalenten Doppelgestalt aus Mensch und Stier verschiedene Semantiken integriert. Einer der frühesten Belege für den Stiermensch in Spanien ist die sogenannte Bicha de Balazote, ein Artefakt aus dem 6. vorchristliches Jahrhundert, das in der Provinz Albacete gesichtet wurde. Laut ]ngel ]lvarez de Miranda steht sie im Zusammenhang mit dem Stierkult im Mittelmeerraum, respektive in Spanien, dessen ritueller Hintergrund als toro nupcial lesbar sei: Der Stier verkörpert zuallererst Zeugungskraft und Sexualität, was seine ikonographische Nähe zur jungen Frau und die häufige Betonung seines Genitals, insbesondere seiner cojones, erklärt.6 Nicht erst Pablo Picasso verknüpft die Semantik von Potenz und hombr&a mit schöpferischer Kraft: Seine Auseinandersetzung mit dem Motiv ist wiederum direkt von Goyas tauromaquia-Serie inspiriert, in der der Stierkampf als identitätsstiftende Metapher fungiert. Picasso beendet seine Minotauromachie aber, als in seiner Heimat die Lichter ausgehen. Und in Guernica, dem Werk, das wie kein anderes die Grauen der guerra civil symbolisiert, konfrontiert er uns mit der destruktiven Spielart maskuliner Potenz. Bei Goya ist die Nachtseite der mythologischen Figur im Teufelsbock des Hexensabbats dargestellt. Laut Antonio Santamar&a Pargada war Mart&n-Santos von dem Motiv geradezu betört: »La obsesijn es confesada por el propio autor, quiere que en todas sus novelas se de una Walpurgisnacht en la que se libere la tensijn sexual acumulada«. Folgerichtig rahmt die visuelle Repräsentation in Tiempo de silencio die samstäglichen »labyrinthischen Höhlenabstiege« des Protagonisten Pedro innerhalb der ausführlich beschriebenen Stadtgeographie Madrids.7 Pedro ist ein junger ambitionierter Mediziner, der an Mäusen nachweisen will, dass Krebs durch Viren übertragbar sei. Seine aus den Vereinigten Staaten importierten Versuchstiere sterben ihm allerdings weg und da die finanzielle Ausstattung seines Instituts wie alles im Spanien der späten Neunzehnvierziger Jahre desolat ist, steht seine wissenschaftliche Zukunft auf dem Spiel. Muecas, 6 ]ngel ]lvarez de Miranda, Ritos y juegos del toro, Madrid: Biblioteca Nueva 21998, S. 25ff. 7 Antonio Santamar&a Pargada, »Literatura y filosof&a: Sartre, Mart&n-Santos y Bartleby«, in: Arbor: Ciencia, Pensamiento y Cultura CLXXXII, 718 (2006), S. 257–263, hier: S. 260.

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ein Verwandter seines Mitarbeiters Amador, züchtet indes im Madrider Armenviertel angeblich Abkömmlinge der amerikanischen Labormäuse, die er Pedro verkauft. Zu diesem Zweck begeben sich Pedro und sein Begleiter Amador zu den chabolas, den Wohnhöhlen des Lumpenproletariats am Madrider Stadtrand. Ausgerechnet der marginalisierte Muecas stellt sich als eine von mehreren Verkörperungen des gran buco heraus, was durch die groteske Inkongruenz zwischen aufgeblasener sprachlicher Form samt disparater Neologismen und seiner Charakterisierung als Armenhäusler untermauert wird: Alegres transcurr&an los d&as en aquella casa. Sjlo pequeÇos nubarrones sin importancia obstru&an parcialmente un cielo por lo general rosado. Gentlemen-farmer Muecasthone visitaba sus criaderos por la maÇana donde sus yeguas de vientre de raza selecta, refinada por sapient&simos cruces endog#micos, daban el codiciado fruto purasangre.8

Das ästhetische Verfahren der sprachlichen Kontaminierung wird hier kontrastiert mit einer Rassenreinheitstheorie, die scheinbar die Mäuse meint und offenkundig als Allegorie auf den limpieza-Kult der Franco-Diktatur lesbar ist. Auf diegetischer Ebene sind die sapient&simos cruces endog#micos eine Prolepse auf die inzestuöse Gewalt, der Muecas Töchter ausgeliefert sind. Denn wenig später wird Pedro erneut zu Muecas Hütte hinabsteigen, um Florita – Tochter, Sexualobjekt und Opfer eines verpfuschten Abtreibungsversuchs von Muecas – zu retten. Freilich vergeblich. Das jungfräuliche Opfer innerhalb der wackligen Mauern der Armenbehausung verknüpft die mythologische Figur des Minotaurus mit dem Mythos des Übervaters der Urhorde, der alle Frauen für sich beansprucht: Kronos. Dieser Schlüsselszene des Texts geht Pedros Walpurgisnacht voran: Er zieht mit seinem Freund Matias an einem Samstagabend durch das nächtliche Madrid, vom Caf8 Gijon über das Atelier eines deutschen Malers und mehrere Bars an der Gran Via gelangen sie schließlich in ein Bordell. In dieser Passage zielt die Inkongruenz zwischen Aussagegegenstand und Aussagemodus zunächst auf einen komischen Effekt: (Matias:) »¡Triste Edipo, ya nunca ver8 m#s la luz del sol! He aqu& que me he arrancado ambos ojos […] y los siento en mis manos todav&a calientes aunque ya no me sirven para ver. ¡Electra, Electra, ven a mi! – Aunque la llames no viene hasta las seis. Pero DoÇa Luisa traer# un candil – tranquilizj la hija amante.«9

Doch die Situationskomik, die sich der buchstäblichen Lesart der Prostituierten verdankt, sowie die scheinbar spielerischen intertextuellen Verweise auf James 8 Mart&n-Santos, Tiempo, S. 119. 9 Mart&n-Santos, Tiempo, S. 163.

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Joyce’ Ulysses kippen angesichts der nachfolgenden Gewaltgeschehen ins Groteske.10 Denn noch bevor Pedro Muecas’ Verbrechen vertuschen helfen soll, wird er selbst zum Täter. In seiner Pension dringt er in das Zimmer Doritas ein. Er ist sich dessen bewusst, dass deren Großmutter, die Hausherrin und eine veritable Celestina-Figur, nur darauf gewartet hat, ihn endgültig an den Dreifrauenhaushalt zu binden: »No debe caer en esta flor entreabierta como una mosca y pringarse las patitas.«11 In der emotionalen Distanz des Chirurgen, die Pedros Triebbefriedigung begleitet, entwirft der Psychiater Mart&n-Santos das Psychogramm eines Vergewaltigers, dessen Abgespaltenheit und Unfähigkeit zur Empathie die ewige Bereitwilligkeit der Frau phantasieren muss: »Pero la conciencia de la mujer (siempre vigilante, aun en la hora de la violacijn en la alta madrugada a manos de un borracho irresoluto) le hiere exigiendo contestacijn a la pregunta esencial y previa: – ¿Me quieres?«12 Wie Stephen M. Hart treffend analysiert, herrscht in Tiempo de silencio eine phallocracy auf allen Ebenen:13 Florita wird von Muecas in der chabola vergewaltigt, Dorita von Pedro in der Wohnung ihrer Mutter und Großmutter, die dieser übrigens ebenfalls als Höhle imaginiert, was P8rez Firmat als Rückkehr in den Uterus deutet.14 Die beiden Täter sind letztlich »krebshafte« Auswucherungen des einen gran buco, der regelmäßig seine Opfer fordert: Franco, der sich wie der Bock im Bild Goyas als liebevoller Übervater stilisiert und »sus hijos«, wie er die Untertanen in Ansprachen häufig nennt, verhungern lässt. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Jo Labanyi in ihrer ausgezeichneten Studie von Tiempo de silencio: Para Mart&n-Santos, el chivo expiatorio sublima, no la culpa de la rebelijn, sino la de la sumisijn. Por no haber sido capaces de matar al padre, los hijos tienen que matar a un sustituto […] el an#lisis de la corrida de toros en la novela se refiere impl&citamente al cerramiento de sangre que tuvo lugar en la Guerra Civil.15

Martin-Santos’ visuelle Repräsentation des aquelarre gleitet aber von der Ekphrasis Goyas unvermittelt in eine böse Satire auf einen weiteren gran buco, den 10 Zu den intertextuellen Bezügen auf Ulysses und auf den Homerischen Urtext siehe Alison Ribeiro de Menezes, »Irony, the Grotesque, and the Dialectics of Reading in Luis Mart&nSantos’s Tiempo de Silencio«, in Hispanic Research Journal, 3/2 (2002), S. 123–137, v. a. S. 133. 11 Mart&n-Santos, Tiempo, S. 168. 12 Mart&n-Santos, Tiempo, S. 168. 13 Stephen M. Hart, The Other Scene: Psychoanalytic Readings in Modern Spanish and LatinAmerican Literature, Bolder : Society for Spanish and Spanish-American Studies 1992, S. 46. 14 Gustavo P8rez Firmat, »Repetition and Excess in Tiempo de Silencio«, in: PMLA, 96 (1981), S. 194–209, hier : S. 203. 15 Jo Labanyi, Iron&a e historia en »Tiempo de silencio«, Madrid: Taurus 1985, S. 105.

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Philosophen Jos8 Ortega y Gasset, der im Theater Barcelj zum Thema El hombre y la gente spricht – der historisch dokumentierte Vortrag wird im fiktionalen Text schlaglichtartig wiedergegeben. Die folgende Passage schwenkt von der bereits ausführlich zitierten Bildbetrachtung im Jugendzimmer auf die Beschreibung des Philosophen im Salon bzw. dessen vorangegangenen Auftritt im Theater, der Pedro und sein Freund Matias beigewohnt hatten: Y mientras su pezuÇa izquierda salva, indica con su mirada penetrante que es […] el aire puro sobre la sierra lejana que muestra la vinculacijn a la tierra de todos nosotros, hijos suyos que a ella volvemos. ¿Por qu8 fascinadas las auparisht#kicas vencidas? […] Inclinemos nuestras cabezas ante el gran matjn de la metaf&sica y dejemos chorrear lustrales sobre nuestras frentes sus palabras de hidromiel.16

Mit auparisht#kas werden im Kamasutra effeminierte Männer bezeichnet, die Oralsex praktizieren. Ortega y Gasset fungiert also gewissermaßen als sublimierte Inkarnation des Urvaters: ein Philosophengott, der die jungen Männer kastriert. Er doppelt damit die Allmacht des Diktators Franco. Diese Allmacht wurde mit dem Blutzoll des Bürgerkriegs erkauft, der Preis ist eine vaterlose Gesellschaft, wie sie denn auch im Roman gezeichnet ist: Kronos bzw. Saturn, der Gott der Zeit und Herrscher des Sabbats, frisst seine Söhne und die Gesellschaft versinkt in ohnmächtiges Schweigen und Stillstand: tiempo de silencio. Der Philosoph als »eitler Bock« im Damenflor bietet in dieser Lesart aufgrund seines Elitismus und seiner rassistischen Grundierung dem Regime ein intellektuelles Substrat, wodurch der einflussreiche Vordenker der generacijn 14 einen besonders hassenswerten Platzhalter des gran buco generalisimo darstellt: Das tu pezuÇa izquierda con gesto dadivoso pero amagas con la derecha, buco y una y otra vez te refieres personalmente al secretario de la docta corporacijn. […] Y puesto que de una m#s noble sustancia tffl est#s hecho, o buco, a todos nos desprecias […] Cantehondo, mediaverjnica, churumbeliportantes faraones, fidelidades de viejo mozo de estoques […] casta y casta y casta y no sjlo casta torera sino casta pordiosera, casta andariega, casta destripaterrjnica, casta de los siete niÇos siete, casta de los barrios chinos […].17

Die »siete niÇos siete« lese ich als Verweis auf die sieben jungen Frauen und Männer, die dem Minotaurus regelmäßig geopfert werden müssen. »Mediaverjnica«, »viejo mozo de estoques« und »casta torera« führen uns jedenfalls erneut in die Welt der Tauromaquia. Ortega y Gasset steht dieser tatsächlich reserviert gegenüber, wie das folgende Zitat verdeutlicht: El entusiasmo por lo popular […] arrebata a las clases superiores […] se aÇade en EspaÇa una vehement&sima corriente que debemos denominar »plebeyismo« […] 16 Mart&n-Santos, Tiempo, S. 206. 17 Mart&n-Santos, Tiempo, S. 208–209.

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Ejemplo de ello son las otras dos grandes dimensiones de la arrollada corriente »plebeyista« que inundj casi por entero a EspaÇa en torno a 1750. Se trata de las dos m#ximas creaciones art&sticas de nuestro pueblo en aquel siglo: las corridas de toros y el teatro.18

Dieses Zitat ist insofern aufschlussreich, als es sich in einer Aufsatzsammlung mit dem Titel Goya findet. Darin will Ortega y Gasset die Figur des Maler-Genies laut eigener Aussage von mythologischen Überfrachtungen befreien und bietet eine Charakterisierung des »wirklichen Goya« an. […] el contacto tard&o de Goya – a los cuarenta aÇos – con disciplinas de vida m#s elevadas produce en 8l efectos contrapuestos. Por un lado, disocia su persona, que queda escindida para siempre en un alma popular – no »popularista« – que era de nacimiento y juventud, y una confusa presencia de normas sublimes, un poco et8reas, que le arrancan de la espontaneidad nativa y le comprometen consigo mismo a vivir otra vida.19

Goya wird als relativ einfältiger und unkultivierter Landjunker dargestellt, der allerdings von einem »proyecto« beseelt gewesen sei, der Berufung zum Maler: »¿Qu8 ha pasado al mozancjn aragon8s al llegar a la cuarentena? Se trata, en efecto, de una conversijn […] Lo prjximo, al ser suspendida su espontaneidad habitual, se le hace distante y ajeno. Por lo mismo, Goya descubre entonces, en derredor de s&, lo espaÇol.«20 Im Lichte des herablassenden Psychogramms Goyas von Ortega y Gasset erscheint die Diatribe des heterodiegetischen Erzählers in Tiempo de silencio geradezu als poetische Gerechtigkeit. Jedenfalls ist es eine interessante groteske Intervention, Goya selbst auf die deformierenden Darstellungen des Chefintellektuellen der generacijn 14 antworten zu lassen. Noch interessanter ist, dass Luis Mart&n-Santos’ Schriften zur Psychoanalyse sowohl inhaltlich als auch terminologisch auffällige Parallelen zu Paradigmen Ortega y Gassets aufweisen: Un hombre es lo que sea su proyecto […] El flujo irracional de la vida tiene un norte orientador en el proyecto que tiende a realizar […] El cambio del proyecto constituye un salto irracional, una efectiva actualizacijn de lo que en el »para si« del hombre hay de ser libre. Se trata de un fenjmeno que puede denominarse conversijn.21

Einige LiteraturwissenschafterInnen22 haben versucht, das wuchernde Artefakt Tiempo de silencio über diesen wissenschaftlichen Text Mart&n-Santos’ zu er18 19 20 21

Jos8 Ortega y Gasset, Goya, Madrid: Revista de Occidente 1966, S. 45; S. 51. Ortega y Gasset, Goya, S. 70. Ortega y Gasset, Goya, S. 63. Luis Mart&n-Santos, Libertad, temporalidad y transferencia en el psicoan#lisis existencial, Barcelona: Seix Barral 1975, S. 43 und S. 53. 22 Beispiel wären etwa: Labanyi, Iron&a e historia, S. 85ff.; Elisabeth Schreiner, »Existenzialistische Psychoanalyse in Luis Martin-Santos Tiempo de silencio«, in: Literatur und Wis-

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schließen. Das ist einer von vielen möglichen, alleinstehend aber unzureichenden Interpretationsansätzen. Was er allerdings eröffnet, ist eine Kontextualisierung der Beziehung des Protagonisten Pedro, aus dessen Fokalisierung die Überblendung Goya/Ortega y Gasset erzählt wird, zu letzterem. Jos8 Ortega y Gasset war tatsächlich die Leitfigur vieler junger spanischer Intellektueller im Umfeld des Caf8 Gijon. Wie Alfonso Rey in der Einleitung zu seiner Edition von Tiempo de silencio anmerkt, belegen diesen Einfluss auch die phänomenologischen Erörterungen der Romanfiguren.23 Pedro ist also zunächst durchaus ein Adept des Philosophen. Die Mischung aus Aggression und Kastrationsangst, mit der dessen Performanz im Barcelj kommentiert wird, verweist aber auf Abspaltung, wie bereits in der Passage der Vergewaltigung konstatiert. Mart&nSantos befasste sich unmittelbar vor der Fertigstellung von Tiempo de silencio intensiv mit den Schriften Sigmund Freuds, die folgende Definition von »Abspaltung« war ihm daher vermutlich vertraut: Mit Hilfe der Regression auf eine orale Phase erscheint sie als Angst, vom Vater gefressen zu werden. Es ist unmöglich, hier nicht eines urtümlichen Stücks der griechischen Mythologie zu gedenken, das berichtet, wie der alte Vatergott Kronos seine Kinder verschlingt und auch den jüngsten Sohn Zeus verschlingen will und wie der durch die List der Mutter gerettete Zeus später den Vater entmannt.24

Im Roman wird der Komplex allerdings nicht aufgelöst. Nach seiner Verhaftung wegen der vermeintlichen Tötung Floritas manifestiert sich die Ich-Spaltung im inneren Monolog Pedros als Doppelung des Subjekts: »Tffl no la mataste. Estaba muerta. Yo la mat8. ¿Por qu8? ¿Por qu8? Tffl no la mataste. Estaba muerta. Yo no la mat8. Ya estaba muerta. Yo no fui.«25 Diese Ich-Spaltung wird nun mit eine weitere Referenz auf Goyas tauromaquia, die auf den Subtext Ortega y Gassets repliziert, enggeführt: Si […] el pintor genial pinta con los milagrosos pinceles majas y toreros, si efectivamente a lo largo y a lo ancho de este territorio tan antiguo hay m#s anillos redondos que catedrales gjticas, este debe significar algo. […] ¿Pero qu8 toro llevamos dentro que presta su poder y su fuerza al animal de cuello robust&simo que recorre los bordes de la circunferencia? ¿Qu8 toro llevamos dentro que nos hace desear el roce, el aire, el tacto r#pido, la sutil precisijn milim8trica segffln la que el entendido mide, no ya el peligro sino – segffln 8l – la categor&a art&stica de la faena? ¿Qu8 toro es 8se, seÇor?26

23 24 25 26

senschaft, Tübingen 1987, S. 407–424; Filiberto Fuentenebro (Hg.), Dr. Luis Mart&n-Santos, psiquiatr&a y cultura en EspaÇa en un tiempo de silencio, Madrid: Necodisne 1999. Alfonso Rey, »Prjlogo«, in: Mart&n-Santos, Tiempo, S. 7–43, hier: S. 27ff. Sigmund Freud, Schriften aus dem Nachlaß, Gesammelte Werke, Bd. 17, Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 1961, S. 57–62. Mart&n-Santos, Tiempo, S. 268. Mart&n-Santos, Tiempo, S. 273.

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Der unbewusste toro in der spanischen Seele offenbart, was der Protagonist abspalten muss: die eigenen innerpsychischen Anteile des Abjekts, ob es sich nun um Ortega y Gasset, die Madrider Bourgeoisie, die Frauen oder das Regime handelt. Das Ende der zitierten Passage changiert auffallend zwischen toro und torero. Damit verdeutlicht Mart&n-Santos, dass Täter und Opfer, omnipotenter buco und das Mängelwesen minotauro letztlich nur zwei Spielarten der immergleichen monströsen Befindlichkeit der Spanier repräsentieren. Die Rettung Pedros scheint darin zu liegen, einen Faden im kretischen Labyrinth seiner Psyche auszurollen: »[…] para conocer el [nfflmero] de su celda, lo que guiaba al compasivo socorredor a trav8s del enrevesado vericueto cretense.«27 Von einem »therapeutischen« enlace kann dennoch nicht die Rede sein. Und die Befreiung aus dem Gefängnis erfolgt durch ein weiteres monstruo: Muecas Frau. »Pl no fue«28 wird Ricarda dreimal wiederholen und viel mehr kann dieses tierhafte Wesen auch gar nicht artikulieren. Pedros Rettung durch »[…] este ser de tierra que no puede pensar, que no puede leer, que no sabe alternar […]«29 sehen manche KritikerInnen als Appellstruktur des Textes in Bezug auf eine ethische Botschaft: The strategy of presenting Mueca’s wife, the pariah, as the moral heroine of the novel can also be seen as a challenge to logocentralism. The novel denies the possibility of reifying a code of ethics or of centralizing its area of operation. The definition and location of ethical codes lie somewhere between the signifier and the signified, in the silent zone where meaning must be created by context rather than by custom or decree.30

Diese Lacan’sche Deutung konfligiert nicht nur mit dem völlig anders gelagerten – existenzialistischen-psychoanalytischen Programm von Mart&n-Santos; sie scheint mir auch angesichts des weiteren Verlaufs der Fabel als zu glatt. Denn Dorita, die inzwischen mit Pedro verlobt ist, wird von Cartucho, gitano und gewissermaßen das männliche Pendant zu Ricarda, getötet. Die im Text allgegenwärtige Kastration31 vollzieht sich am Protagonisten also gleich zweimal: Während der Feier anlässlich Pedros Freilassung ersticht Cartucho dessen Braut; gleichzeitig verliert Pedro seine Anstellung als Wissenschafter wegen des illegalen Abortusversuchs. Seine mäandrierenden Bewegungen vom Zentrum der Stadt an die Peripherie katapultieren ihn schließlich aus der Metropole in die 27 28 29 30

Mart&n-Santos, Tiempo, S. 274. Mart&n-Santos, Tiempo, S. 202. Mart&n-Santos, Tiempo, S. 202. Robert C. Spires, Post-Totalitarian Spanish Fiction, Columbia and London: University of Missouri Press 1996, S. 48. 31 Vgl. Marianela M. MuÇoz, »C#ncer, chabolas y castracijn: el Madrid de la posguerra en Tiempo de silencio, de Luis Mart&n-Santos«, in: Filolog&a y Lingu&stica XXXIV (2008), S. 83–94.

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Provinz, wo er als einfacher Landarzt praktizieren wird.32 Dieses proyecto hat nun gar nichts Befreiendes an sich und letztlich bleibt das Ende des Romans offen. Alison Ribeiro de Menezes ist meines Wissens die einzige, die Tiempo de silencio mit der literarischen Groteske in Verbindung bringt.33 Ihren Befund, wonach die politische Botschaft des Autors die grotesken Elemente unterminiere und daher lediglich einen konventionellen Text hervorbringe, kann ich nicht teilen. Um dies näher zu erläutern, sollen die grotesken Stilmittel des Textes resümiert und in der spanischen Tradition des Genres verortet werden. Ich hoffe ausreichend dargelegt zu haben, dass Architekturen sowohl als Strukturelement als auch als Motiv des Textes eine wichtige Rolle spielen: Beschreibungen der Straßenzüge im nächtlichen Madrid, höhlenartige Innenräume, wüste Ebenen, bis hin zu Schichtungen sozialer Räume, die mit der Trennung gesellschaftlicher Strata korrespondieren. Im Verlauf der Fabel vermischen sich diese Formationen aber : Grenzen zwischen realen und imaginären Räumen verschwimmen, Gesellschaftsklassen überschreiten die ihnen zugewiesenen Milieus, Sprachregister kollabieren. Die Stadt als unüberschaubares Durcheinander kommt schon in einem frühen, eindeutig der Groteske zugeordneten Werk vor, in Baltasar Graci#ns El Criticjn: »Cuando llegaron a ella, hallaron que lo que parec&a clara por fuera, era confusa dentro; ninguna calle hab&a derecha ni despejada: modelo de laberintos y centro de minotauros.«34 Im Roman aus dem Zwanzigsten Jahrhundert beziehen sich Stadtraum und Stadtbewohner metonymisch aufeinander : »De este modo podemos llegar a comprender que un hombre es la imagen de una ciudad y una ciudad las v&sceras puestas al rev8s de un hombre«.35 Die Individuen, deren minotaurischen Züge sich ineinander verstricken, wie dies etwa an den parallelen Vergewaltigungsszenen deutlich wird, sind Auswucherungen des einen, kranken, Organismus: Madrid bzw. Spanien. Während die Vertreter der unterschiedlichen Schichten in Tiempo de silencio immer mehr als Ausformungen einer einzigen Spezies lesbar werden, wird die Instanz des Erzählers immer fragwürdiger. Die Figuren amalgamieren zum monströsen Stadtkörper, die Widersprüche und Aus32 Zu der symbolischen Bedeutung der Stadtgeographie für die psychologische Entwicklung des Protagonisten vgl. Joan Ramjn Resina, »Madrid’s Palimpsest: Reading the Capital against the Grain«, in: Dies. (Hg.), Iberian Cities, New York: Routledge 2001, S. 56–92, hier S. 77 und Gustavo Faveron Patriau, »La m#quina de hacer muertos: enfermedad y nacijn en Tiempo de silencio de Luis Mart&n-Santos«, in: Colorado Review of Hispanic Studies, 1.1 (2003), S. 79–90, hier S. 85. 33 Alison Ribeiro de Menezes, »Irony, the Grotesque, and the Dialectics of Reading in Luis Martin-Santos’s Tiempo de silencio«, in: Hispanic Research Journal, 3/2 (2002), S. 123–137. 34 Baltasar Graci#n, El criticjn I [1651], hg. v. Santos Alonso, Madrid: C#tedra 2000, S. 158. 35 Mart&n-Santos, Tiempo, S. 16.

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schweifungen des Erzählers halten Leserinnen und Leser gleichzeitig auf Distanz. Der Text mutet ihnen zudem ein Sprachgewirr zu, das zwischen elaborierten Wissenschafts- und Techniktermini, Gaunerjargon und absurden Neologismen changiert. Die babylonische Sprachmischung korrespondiert mit einer Mischung von Stilebenen, geradeso wie es Lope de Vega in seiner Poetik an der Figur des Minotaurus festmacht: Lo tr#gico y lo cjmico mezclado, y Terencio con S8neca, aunque sea como otro Minotauro de Pasife, har#n grave una parte, otra rid&cula, que aquesta variedad deleita mucho; buen ejemplo nos da naturaleza, que por tal variedad tiene belleza.36

Die Mischung des Tragischen und Komischen, des Erhabenen und Vulgären, des Menschlichen und Tierischen wird vielfach lediglich als eine ästhetische Ausschweifung von Barock und Manierismus erklärt. Wichtig ist bereits hier das Element des Artifiziellen: Es geht ja um eine kunstfertige Mischung nach dem Vorbild der Natur, die eine Harmonie der Gegensätze erzeugen soll. Schon in der griechischen Mythologie war Minotaurus ja nicht bloß Produkt einer Verbindung von Tier und Mensch, es war auch ein Prothese im Spiel: die hölzerne Kuh des Meisterdemiurgen Dädalus. In der Groteske steht meiner Meinung nach das Disparate der artifiziellen Intervention im Vordergrund. Erst der radikale Kunstgriff bewirkt das Aufeinanderprallen von Gegensätzen und stellt die Dissonanz performativ zu Schau. Der Textdemiurg der Groteske bedient sich dabei der transfiguracijn, wie es Ignacio Gjmez de LiaÇo nennt.37 Bilder, Motive, Szenen werden gedoppelt und umgestaltet, wieder und wieder deformiert, gerade so wie ein bildender Künstler Permutationen eines Sujets erzeugt. Als Modell für eine barocke Spielart des Grotesken in Spanien wird meist Baltasar Graci#ns Criticjn herangezogen. Die prominentesten transfiguraciones sind darin Monster, seine Höhlen und Landschaften werden von Sphinxen, Hipogryphen und Zentauren bevölkert. Laut Gjmez de LiaÇo sind diese Mischwesen dem schon bei Covarrubias erwähnten offenbar stilbildenden Hieronymus Bosch nachgebildet. Im Text Graci#ns begegnet uns der niederländische Meister im Lob des Zentauren Quiron: »Haced cuenta – dijo Quirjn – que soÇais despiertos. ¡Oh, qu8 bien pintaba el Bosco!, ahora entiendo su capricho!«38 36 Felix Lope de Vega, Arte nuevo de hacer comedias [1609], hg. v. Enrique Garc&a Santo-Tom#s, Madrid: C#tedra 22012, vv. 174–180, S. 141. 37 Ignacio Gjmez de LiaÇo, La variedad del mundo, Madrid: Siruela 2009, S. 64–70. 38 Graci#n, Criticon, S. 133.

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Auch bei Mart&n-Santos findet sich eine direkte Referenz auf die »galas alucinatorias del jard&n encantado del Bosco«.39 Der intermediale Verweis wird allerdings mit einer grotesken Satire auf maschinelle Bestattungen verschnitten. Wie Faverjn Patriau treffend analysiert, ist das einzige Beispiel des Erzählers für einen produktiven Prozess im Madrid der Hungerjahre ausgerechnet die serielle Beerdigungspraxis.40 Durch diese Profanisierung der barocken Allegorie auf Sündenfall, Fegefeuer und Totentänze wird das Grauen gleichzeitig allgegenwärtig und banal. Diese doppelte Inkongruenz verabschiedet den Anspruch auf eine Harmonisierung der Gegensätze. Mischwesen und deren inkompatible Milieus reflektieren bereits bei Graci#n die ambivalente Gerichtetheit des Menschen zwischen Tier und Artefakt. Im Criticjn wie in Tiempo de silencio häufen sich daher neben vitalistischen auch auffällig viele maschinelle Metaphern.41 Beide Texte performieren die Entmenschlichung der Welt. Bei Graci#n kann das urwüchsig Wilde aber letztlich sublimiert werden. Das ist die zutiefst moralistische Botschaft des grotesken Bildungsromans des Barock. Es gibt eine Entwicklung in Hinblick auf einen individuellen Zivilisierungsprozess. In Tiempo de silencio hingegen laufen die labyrinthischen Bewegungen des Protagonisten ins Leere. Insofern finden Form und Inhalt gewissermaßen in einer »Poetik des Minotaurus« zu einer konsequenten Deckung. Dem Protagonisten in Tiempo de Silencio bleibt die Erlösung durch Tod versagt, die der Minotaurus in Jorge Luis Borges’ Casa de Asterijn erfährt.42 Für Pedro und letztlich wohl auch für Spanien scheint es keine Hoffnung auf schnelle Befreiung aus dem Irrgarten zu geben. Auch die poetische Transzendenz des humanistischen Antihelden, die der Figur des Minotaurus in Julio Cort#zars Los Reyes43 eingeschrieben ist, lässt sich auf Martin-Santos’ Protagonisten nicht anwenden. Stellenweise legt der Text nahe, dass die Spannung zwischen animalischen und prothetischen Anteilen gelebt werden muss. Über eine Vergemeinschaftung in dieser bewusst reflektierten deshumanisacijn kann dann vielleicht die menschliche Seite des Minotaurus realisiert werden. Die groteske Ästhetik des

39 Mart&n-Santos, Tiempo, S. 228. 40 Faverjn Patriau, M#quina, S. 88. 41 Zum Zusammenhang von Entmenschlichung und Repräsentation von Maschinen vgl. David Knutson, »Mechanized Imagery in Tiempo de silencio«, in: Hispania, 81.2 (1998), S. 278–286. 42 Jorge Luis Borges, El Aleph, Buenos Aires: Losada 1949 ist ein wichtiger Referenztext, wenn es um die Figur des Minotaurus geht. Intertextuelle Bezüge zu Mart&n-Santos lassen sich aber nicht feststellen. 43 Julio Cort#zar, Los reyes, Buenos Aires: Editorial Sudamericana 1970; die Erstausgabe ist im gleichen Jahr wie Borges’ Text erschienen, aber auch diese Verarbeitung des Mythos findet in Mart&n-Santos’ Werk kein Echo.

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Minotaurus erschöpft sich in Tiempo de silencio aber in einer Rhetorik des Krankhaften und des Scheiterns, ein liberatorisches proyecto ist nicht in Sicht.

Bibliographie Primärtexte Borges, Jorge Luis, El Aleph, Buenos Aires: Losada 1949. Cort#zar, Julio, Los reyes, Buenos Aires: Editorial Sudamericana 1970. Graci#n, Baltasar, El criticjn I [1651], hg. v. Santos Alonso, Madrid: C#tedra 2000. Lope de Vega, Felix, Arte nuevo de hacer comedias [1609], hg. v. Enrique Garc&a SantoTom#s, Madrid: C#tedra 22012. Mart&n-Santos, Luis, Tiempo de Silencio, Barcelona: Seix Barral 42005. Mart&n-Santos, Luis, Libertad, temporalidad y transferencia en el psicoan#lisis existencial, Barcelona: Seix Barral 1975.

Sekundärliteratur ]lvarez de Miranda, ]ngel, Ritos y juegos del toro, Madrid: Biblioteca Nueva 21998. Covarrubias Horozco, Sebastian de, Tesoro de la lengua Castellana, o EspaÇola, Madrid, Luis Sanchez 1611. Faveron Patriau, Gustavo, »La m#quina de hacer muertos: enfermedad y nacijn en Tiempo de silencio de Luis Mart&n-Santos«, in: Colorado Review of Hispanic Studies 1.1 (2003), S. 79–90. Freud, Sigmund, Schriften aus dem Nachlaß, Gesammelte Werke, Bd. 17, Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 1961. Fuentenebro, Filiberto (Hg.), Dr. Luis Mart&n-Santos, psiquiatr&a y cultura en EspaÇa en un tiempo de silencio, Madrid: Necodisne 1999. Fuß, Peter, Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2001. Gjmez de LiaÇo, Ignacio, La variedad del mundo, Madrid: Siruela 2009, S. 64–70. Hart, Stephen M., The Other Scene: Psychoanalytic Readings in Modern Spanish and Latin-American Literature, Bolder : Society for Spanish and Spanish-American Studies 1992. Ilie, Paul, The Grotesque Aesthetic in Spanish Literature. From the Golden Age to Modernism, Newark: Juan de la Cuesta Hispanic Monographs 2009. Knutson, David, »Mechanized Imagery in Tiempo de silencio«, in: Hispania 81.2 (1998), S. 278–286. Labanyi, Jo, Iron&a e historia en »Tiempo de silencio«, Madrid: Taurus 1985. MuÇoz, Marianela M., »C#ncer, chabolas y castracijn: el Madrid de la posguerra en Tiempo de silencio, de Luis Mart&n-Santos«, in: Filolog&a y Lingü&stica XXXIV (2008), S. 83–94.

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Ortega y Gasset, Jos8, Goya. Madrid: Revista de Occidente 1966. Resina, Joan Ramjn, »Madrid’s Palimpsest: Reading the Capital against the Grain«, in: Dies. (Hg.), Iberian Cities, New York: Routledge 2001, S. 56–92. Ribeiro de Menezes, Alison, »Irony, the Grotesque, and the Dialectics of Reading in Luis Martin-Santos’s Tiempo de silencio«, in: Hispanic Research Journal 3.2 (2002), S. 123–137. Spires, Robert C., Post-Totalitarian Spanish Fiction, Columbia and London: University of Missouri Press 1996.

Lateinamerika

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»Grenzzeichen Macedonio«: Groteske und Innovation

Der Titel meines Beitrags könnte den Verdacht aufkommen lassen, ich wollte Walter Bruno Berg plagiieren, der den Begriff »Grenz-Zeichen« als Titel seiner Monographie über Julio Cort#zar (1991) verwendet hat. Ich beziehe mich damit allerdings auf ein anderes Werk: auf die Dissertation von Peter Fuß (2001) mit dem Titel Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, die mir für den Kontext dieses Bandes ein wesentlicher, wenn nicht unerlässlicher Referenzpunkt zu sein scheint. Fuß versucht in seinem Buch nicht nur zum x-ten Mal eine Aufarbeitung der Begriffsdiskussion des Grotesken von Schneegans über Kayser und Heidsieck bis zu den neuesten Ansätzen, er entwirft geradezu eine universelle Kulturtheorie, die auf der Wechselwirkung zwischen einer von ihm – in sichtlicher Anlehnung an Nietzsche – »klassisch-apollinisch« genannten mit einer »grotesk-dionysischen« Tendenz beruht: »Nur das Zusammenspiel der grotesken Liquidation und der klassischen Stabilisation symbolischer Ordnungsstrukturen ermöglicht die kulturelle Formation.«1 Unter Liquidation versteht er da – durchaus im etymologischen Sinne – nicht einfach die Beseitigung, sondern die »Verflüssigung kultureller Ordnungsstrukturen«, die »Bedingung des freien manipulativen Umgangs« mit denselben ist, »der dann seinerseits die Liquidation (Tilgung) dieser Strukturen forciert«.2 Das Groteske wirkt so als Generator der Innovation durch »[…] die Dekomposition vorgefundener Strukturen und die modifizierte Rekombination ihrer Elemente (etwa durch Vermischung)«.3 Fuß fasst somit die Wirkung des Grotesken, das als fremd empfunden wird, ähnlich auf wie die der Translation oder kulturellen Übersetzung bei Homi Bhabha, die in seiner Location of Culture unter dem Kapiteltitel »How newness enters the world« auftritt.4 Eine solche 1 Peter Fuß, Das Groteske: Ein Medium künstlerischen Wandels, Köln/Weimar : Böhlau 2001, S. 15. 2 Fuß, Das Groteske, S. 155. 3 Fuß, Das Groteske, S. 126. 4 Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London, New York: Routledge 1994. S. 303–337.

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Translation bewirkt somit notwendigerweise eine Veränderung: Durch De- und Rekontextualisierung des Übersetzten kommt es zu einem konfliktiven Aushandeln alter und neuer Kontexte, das wiederum auf die Kontexte selbst einwirkt und somit Innovation schafft.5 Noch eines hat Peter Fuß bedacht: das übliche Zirkelargument gegen die Skepsis. Wenn er nämlich einerseits das Groteske »den dichotomischen Aufbau symbolisch kultureller Ordnungsstrukturen liquidieren« und »ihre Antagonismen durch Ambiguität ersetzen«6 lässt, muss er sich andererseits dem Vorwurf stellen, dass er dann auch keine Dichotomie klassisch/grotesk verwenden dürfe. Diesem Problem begegnet er wie folgt: Die Dichotomie klassisch/grotesk ist a-symmetrisch. Das dichotomische Prinzip entspricht einer ihrer Hälften: der klassischen, während die groteske Hälfte das jenseits dichotomischer Ordnung Angesiedelte denotiert, das mittels einer Dichotomie nicht adäquat beschreibbar ist.7

Dem entsprechend manifestiere sich diese A-Symmetrie der Dichotomie im fortgesetzten Wandel der Bezeichnung für den Antagonisten des Klassischen (grotesk, manieristisch, barock, romantisch, usw.). Wie auch immer : Das Groteske wird laut Fuß innerhalb der Ordnung, in der es liquidierend wirkt, als fremd empfunden. Allerdings ist für Fuß das Groteske ein Fremdes sui generis: »Es ist Teil jener Ordnung, deren (immanente) Dekomposition es betreibt. Es ist zugleich diesseits und jenseits der Grenzen seiner kulturellen Formation«8 und erscheint – so Fuß aufbauend auf Derrida – als »parergonaler Rahmen« (was einer Zone des In-Between oder einem Third space nach Bhabha zu entsprechen scheint) der Kultur, der von dieser selbst marginalisiert wird. Aber eben aus dieser Verdrängung entsteht ein »Sog, der das Marginalisierte ins Zentrum der Kulturordnung zurückzieht« und damit zur »Destabilisierung und Verwandlung« ihrer Ordnung »durch Rezentrierung des Marginalisierten« führt.9 So erklärt sich, warum ich das Groteske (in diesem Fall in Macedonios Werk) als »Grenzzeichen« zu fassen versuche: Es bezeichnet die von einer Kultur zur Selbstdefinition geschaffene Grenze, der zugleich eine Tendenz zur Auflösung dieser Grenzsetzung innewohnt. Fuß’ theoretischer Ansatz baut auf Nietzsche in dessen Interpretation durch Foucault und Deleuze ebenso auf, wie auf der Freud’schen Psychoanalyse in ihrer Weiterentwicklung durch Lacan. Letzteres zeigt sich bereits in den Prak5 Siehe dazu Michael Rössner, Federico Italiano (Hg.), Translatio/n. Narration, Media and the Staging of Differences, Bielefeld: transcript 2012. 6 Fuß, Das Groteske, S. 13, Anm. 6. 7 Fuß, Das Groteske, S. 15, Anm. 11. 8 Fuß, Das Groteske, S. 14. 9 Fuß, Das Groteske, S. 61.

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tiken, in denen er die Wirkung des Grotesken lokalisiert, dem es gelänge »durch die Dekomposition zentraler Elemente der symbolischen Ordnung ihrer Kulturformationen Unentscheidbarkeit zu produzieren und auf diese Weise deren Transformation zu forcieren«.10 Die drei Verfahren Verkehrung, Verzerrung, Vermischung erinnern an die Verfahren der Freudschen Traumarbeit und produzieren als Abarten des Grotesken das Inverse, das Monströse, das Chimärische.11 Diese knappe Vorstellung kann der Differenziertheit von Fuß’ Theorie in keiner Weise gerecht werden, aber sie sollte als Grundlage für die Erklärung der Anwendung Fuß’scher Begriffe in dieser Untersuchung ausreichen. Ein Punkt bleibt freilich nachzutragen: zwar fasst Fuß im Prinzip das Groteske als »anthropologische Konstante«12 auf, aber diese Konstante verlagert sich im Lauf der Zeit entsprechend den Veränderungen der Kultur, mit der sie als Grenzphänomen zu tun hat, aus einem Bereich in den anderen, so dass dieser umfassenden Kulturtheorie des Grotesken schließlich auch ein temporaler Aspekt hinzugefügt wird, eine Entwicklungslinie, die allerdings nicht aufsteigend und zielgerichtet zu sein scheint. Sie sieht im wesentlichen so aus: Während »in archaischen Kulturformationen« »Mythos und Ritus« »jene Unbestimmtheit, die Bedingung der Veränderung ist« »repräsentieren und realisieren«, sieht Fuß diese Funktion in der Neuzeit im Ästhetischen angesiedelt: »Im Rahmen neuzeitlicher Kulturformationen leistet die groteske Kunst und Literatur dies.«13 Im Lauf des 20. Jahrhunderts sieht er schließlich eine »postästhetische Transposition der grotesken Struktur« Platz greifen, wobei mit Nietzsche, Heidegger und Derrida das Groteske in die Philosophie transferiert (oder übersetzt) wird: so entstehe im Poststrukturalismus eine »Chimäre zwischen Philosophie und Literatur«, die eine Liquidation der Unterscheidung Signifikant-Signifikat bewirkt und statt Ja/ Nein ein Weder-Noch und ein Sowohl/Als auch setzt.14 Als Germanist rekurriert Fuß dabei nicht auf die Autoren, die sich dem Hispanisten dabei förmlich aufdrängen: Jorge Luis Borges und der von ihm »bis zum Plagiat imitierte« »größte Metaphysiker vom Rio de la Plata«, Macedonio Fern#ndez, dem mein Beitrag gewidmet ist. Ich will also im Folgenden versuchen, die Thesen von Peter Fuß in einer Anwendung auf das Werk von Macedonio Fern#ndez zu erproben – ohne mich damit in toto zum Adepten der Fuß’schen Kulturtheorie zu erklären. Macedonio Fern#ndez, Jahrgang 1874 und somit ein Angehöriger der Generation der Modernisten, tritt erst um 1920 mit fast 50 Jahren erstmals literarisch hervor. Er wird nach dem Tod seiner Frau vom unauffälligen Beamten und 10 11 12 13 14

Fuß, Das Groteske, S. 16. Fuß, Das Groteske, S. 16. Fuß, Das Groteske, S. 16. Fuß, Das Groteske, S. 482. Fuß, Das Groteske, S. 490.

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Familienvater zum Kaffeehausliteraten par excellence, zum Original in der Art etwa des Wieners Peter Altenberg. Vor allem wird der Recienvenido, wie er sich selbst nennt, zu einem Vollender der surrealistischen These von der Einheit zwischen Kunst und Leben, und daraus entwickelt sich eine Kunsttheorie, die in ihrer »aktionistischen Komponente« eine deutliche Verwandtschaft zu Dada aufweist; für eine solche gibt es noch zahlreiche weitere Indizien: insbesondere die absurde, auf Sprachspielen in der Tradition der Unsinnsliteratur beruhende Komik seiner Texte und die Tendenz zur Selbstaufhebung durch gleichzeitige Affirmation zueinander im Gegensatz stehender Behauptungen. Das bleibt aber nicht bloßes Spiel oder reine Sinndestruktion: Was hinzutritt, ist der Anspruch, eine Metaphysik zu schaffen, die die Grenzen des rationalen Denkens überschreitet, was schon im Titel seines im engeren Sinne als »Metaphysische Abhandlung« zu bezeichnenden Buches No toda es Vigilia la de los ojos abiertos auf eine surrealistische Tradition verweist, die z. B. in Bretons Vases communicants zum Hauptthema erkoren wird: die gegenseitige Relativierung der Realität von Traum und Wachzustand. In dem von Fuß entworfenen Wirksystem des Grotesken entspricht dies der Liquidation der Dichotomie: das Groteske »unterläuft« »das klassisch-apollinische System dichotomischer Stabilisation«, indem es die »Antagonismen zugunsten von Ambiguität und Ambivalenz liquidiert«.15 Damit wird das Entweder-Oder der klassischen Logik durch eine dreiwertige Logik ersetzt: »Ihr dritter Wert ist die unendliche Unentscheidbarkeit des Sowohl-Als auch, das zugleich ein Weder-Noch ist, die Dreiwertigkeit der Chimäre«16, und durch diese Produktion von Unbestimmtheit »wird Kreativität freigesetzt«.17 Wir wollen das nun zunächst an einem einfachen Beispiel betrachten: zwei Kurzerzählungen Macedonios erschienen in den Papeles de Recienvenido y Continuacijn de la Nada (1944) bzw. den Papeles de Buenos Aires (1945), deren Entstehung aber wohl wesentlich früher zu datieren ist: »El Zapallo que se hizo cosmos (Cuento del crecimiento)« und »Donde Solano Reyes era un vencido y sufr&a dos derrotas cada d&a«. Bekanntlich erfolgten ja die meisten Veröffentlichungen von Macedonios Texten durch den sanften Zwang seines Freundes Borges, nachdem die Texte längst der Primärrezeption am Kaffeehaustisch zugänglich gemacht worden waren. Borges hat mit diesen Texten auch sehr direkt zu tun, denn es geht hier um ein Thema, das auch in Borges’ Erzählungen immer wieder auftaucht: um das Gedankenexperiment der konkreten Erfahrung von Unendlichkeit, die ihrerseits als Grenzzeichen rationalen Denkens gedacht werden kann. 15 Fuß, Das Groteske, S. 193. 16 Fuß, Das Groteske, S. 194. 17 Fuß, Das Groteske, S. 195.

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Borges inszeniert diese Erfahrung in zahlreichen cuentos, von »El Aleph« bis zu »El libro de arena«, aber auch in seinen Essays. Macedonios hybrider Gattungsform am nächsten scheinen mir hier die Texte »La perpetua carrera de Aquiles y la tortuga« und »Avatares de la tortuga« aus dem Band Discusijn (1932) zu kommen. Borges trägt dort das Paradoxon des Zenon von Elea über den Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte vor, bei dem sich zeigt, dass Achilles aufgrund der unendlichen Teilbarkeit der Zeit der Schildkröte, der er zehn Meter Vorsprung gelassen hat, zwar unendlich nahe kommen, sie aber niemals einholen kann. Danach führt er – wie in den phantastischen Erzählungen – eine Reihe von beruhigenden Erklärungen an, d. h. in diesem Fall Widerlegungen des Zenon, die die gestörte Ordnung der »apollinischen Logik« in Fuß’ Termini wiederherstellen sollen, endet dann aber mit einer verblüffenden »Teil-Restitution« dieser Ordnung, die eine wenigstens teilweise Liquidation derselben mit sich bringt: Nosotros (la indivisa divinidad que opera en nosotros) hemos soÇado el mundo. Lo hemos soÇado resistente, misterioso, visible, ubicuo en el espacio y firme en el tiempo; pero hemos consentido en su arquitectura tenues y eternos intersticios de sinrazjn para saber que es falso.18

Borges bleibt dabei stets bei seinem nüchternen Stil, der an den barocken Conceptismo gemahnt: Kein Wort zu viel, ein hohes Maß an Verdichtung, ein virtuoses Management der Adjektive. Macedonio nimmt ein ähnliches Experiment in einem wesentlich weniger konzisen, scheinbar naiven und ein wenig verwirrten Stil in den zwei erwähnten Erzählungen vor : In »El Zapallo que se hizo cosmos (Cuento del crecimiento)«, das natürlich auch als phantastische Kurzerzählung gelesen werden kann, ist es ein Kürbis, der mit atemberaubender Geschwindigkeit wächst, so dass den geschockten Beobachtern, die vergeblich versucht haben, ihn von der Wurzel zu trennen, endlich nichts übrig bleibt, als zu seinem Teil zu werden: Llegaba demasiado urgente el momento en que lo que m#s conven&a era mudarse adentro. Bastante rid&culo y humillante es meterse en 8l con precipitacijn, aunque se olvide el reloj o el sombrero en alguna parte y apagando previamente el cigarillo, porque ya no va quedando mundo fuera del zapallo.19

Der Kürbis als Gegenstand erfüllt damit die Variante 2 der Verfahren der Groteske nach Fuß: die Verzerrung, deren Produkt das Monströse ist. Hier wird auch klar, weshalb Fuß in seiner Untersuchung wenigstens einmal eine gewisse Par18 Jorge Luis Borges, Obras completas, Barcelona: RBA 2005, S. 258. 19 Macedonio Fern#ndez, »El zapallo que se hizo cosmos: Cuento del crecimiento«, in: Papeles de Buenos Aires, Bs. As. 5, mayo de 1945, zitiert nach: Ders., Museo de la Novela de la Eterna, hg. von C. Fernändez Moreno, Caracas: Biblioteca Ayacucho 1982, S. 27.

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allele zwischen dem Grotesken und dem Phantastischen feststellt, diese aber nicht vertieft (gemeinsam wäre beiden Phänomenen die »Dekomposition des mit der herkömmlichen Erkenntnisordnung Erklärbaren«20, es bleibe aber nicht bei der Todorovschen h8sitation). Nun, tatsächlich kommt es auch in Macedonios Text kaum zu einer solchen, weil die Kürbisgeschichte eben nicht in einen realistischen Kontext eingebettet ist und durch den Stil und die Konkretheit der Beschreibung fast dekonstruiert wird; dieser vorgeblich naive Stil, der einen Ironieverdacht nahelegt, geht freilich zu Ende des Textes unvermittelt in eine »ernste« Passage über : Practicamos sinceramente la Metaf&sica Cucurbit#cea. Nos convencimos de que, dada la relatividad de las magnitudes todas, nadie de nosotros sabr# nunca si vive o no dentro de un zapallo y hasta dentro de un ataffld y si no seremos c8lulas del Plasma Inmortal […]: Totalidad todo Interna, Limitada, Inmjvil (sin Traslacijn), sin Relacijn; por ello Sin Muerte.21

Der darauf folgende Schluss wechselt noch einmal den Stil und damit die Textsorte: Von der »ernsten« philosophischen Argumentation wechselt er zum Stil eines Evangelisten der neuen Religion und legt damit den Verdacht nahe, das Ganze als symbolische Satire auf kollektive Massenbewegungen seiner Gegenwart zu werten (etwa in Analogie zu Ionescos Rhinoc8ros)22 : (El Zapallo me ha permitido que para vosotros – queridos cofrades de la Zapaller&a – yo escriba mal y pobre su leyenda y su historia. Vivimos en ese mundo que todos sab&amos pero todo en c#scara ahora, con relaciones sjlo internas y as&, sin muerte. Esto es mejor que antes.)23

Das Ende bleibt damit ambivalent, in einer Spannung zwischen den Textsorten; muss der Leser sich zwischen dem naiven Staunen des beschreibenden IchErzählers, dem scheinakademischen Ernst des Metaphysikers und dem deutlich ironisierten Ton des »beamteten Evangelisten« eine Orientierung suchen. Damit aber realisiert der Text auf der Ebene des discours ein anderes Verfahren der FußDefinition, die chimärische Vermischung (eben der Textsorten). Noch konkreter fällt jedenfalls die Darstellung des Grotesken auf histoireEbene in der Geschichte von Solano Reyes aus, die gar nichts Phantastisches mehr in Anspruch nehmen muss, um Unendlichkeit erfahrbar zu machen. Das 20 Fuß, Das Groteske, S. 133. 21 Fern#ndez, »El zapallo que se hizo cosmos«, S. 28. 22 Freilich könnte man hier auch den Ansatz zu einer – avant la lettre – poststrukturalistischen (und wohl auch wiederum ironischen) Antimetaphysik des »Größten Metaphysikers vom Rio de la Plata« sehen: Die »Schale« würde dann die Kürbisbewohner vom metaphysischen Ursprung abschneiden und sie auf lediglich relationale Verknüpfungen (»relaciones internas«) verweisen. 23 Fern#ndez, »El zapallo que se hizo cosmos«, S. 28.

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Wörtlich-Nehmen unserer die eigene Endlichkeit ausklammernden Sprache reicht hierfür aus, wenn der dahinsiechende Solano Reyes, der nie frisches Brot essen kann, weil er stets das vom Vortag aufessen muss, durch den Duft solch frischen Brots auferweckt und zugleich dadurch mit ewigem Leben versorgt wird, dass seine Nichte verspricht, sie werde von nun an jeden Tag am Nachmittag das alte Brot aufessen und Solano so zum Genuss des frischen am nächsten Morgen verhelfen; dazu kommt noch, dass der Autor auch sie ewig macht, indem er sie sich jede Woche einmal beim Nähen in den Finger stechen lässt, denn natürlich ist Solanos Unsterblichkeit von der Ihren abhängig. Mehr noch: Da es um eine rein textuell fixierte Unsterblichkeit geht, hängt sie auch von den konkreten Formulierungen ab. Wie Macedonio in mehreren, immer mehr von der Erzählung zur theoretischen Analyse übergehenden Kapiteln entfaltet, ist Voraussetzung für die Ewigkeit beider Personen nicht nur das WörtlichNehmen des Begriffs »jede/r« für Tag bzw. Woche, sondern auch der sonstigen Formulierungen, insbesondere der Tatsache, dass die Nichte im Unterschied zu Solano keinen Namen hat; all dies wird in Kapitel VI als Ergebnis einer »Übereinkunft« zwischen Onkel und Nichte bzw. zwischen Personen und Autor präsentiert: »Por tanto yo, autor, deb& suscribir y lo hice con mucho gusto, el compromiso de no-nombrarla en este cuento jam#s, como recordar# el lector que era condicijn de su eternidad.«24 Das mündet schließlich sogar in eine Copyright-Erklärung, in der Macedonio anderen Autoren verbietet, seine Personen in neuen Texten als Figuren aufzunehmen, um deren Unsterblichkeit nicht zu gefährden. Wieder ist es – wie ich an anderer Stelle genauer analysiert habe25 – im wesentlichen die Abfolge von Transgressionen zwischen unterschiedlichen Textsorten, die zu einer Ambiguität und Unentschiedenheit des Lesers beitragen; diese Chimäre auf der Ebene des discours kann dann durchaus mit Kategorien von Peter Fuß für das Groteske als Liquidierung von Ordnungsmustern erklärt werden. Das Werk, in dem Macedonio diese Technik der Liquidierung der »apollinischen Ordnung«, um es in Fuß’ Kategorien zu fassen, auf die Spitze treibt, ist freilich keine Kurzerzählung, sondern ein Roman, der eigentlich zwei Romane ist, die nach Macedonios Aussage nur im Doppelpack verkauft werden sollen: Adriana Buenos Aires (die »fflltima novela mala«) und Museo de la Novela de la Eterna (die »primera novela buena«). In einem – in der kritischen Ausgabe in den Anhang verbannten – Prolog zu letzterer, »Lo que nace y lo que muere«, wird die Wichtigkeit der Trennung beider betont, zugleich aber ihre Austauschbarkeit 24 Macedonio Fern#ndez, »Donde Solano Reyes era un vencido y sufr&a dos derrotas por d&a«, in: Papeles de Buenos Aires, Bs. As. 5, mayo de 1945, zitiert nach: Ders., Museo de la Novela de la Eterna, hg. von C. Fernändez Moreno, Caracas: Biblioteca Ayacucho 1982, S. 48. 25 Michael Rössner, »Textsortenlabyrinthe: Zu den Textstrategien bei Macedonio Fern#ndez, Jorge Luis Borges und Julio Cort#zar«, in: Iberoromania 39 (1994), S. 79–92.

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»cuando el viento hizo volar los manuscritos«, denn der Autor hätte beide parallel geschrieben, mit derselben Tinte auf identisches Papier und gleicher Nummerierung, so dass es der Mithilfe des Lesers bedarf, um sie auseinanderzuhalten: »es cuestijn de que el lector colabore y los desconfunda«26, denn das Nicht-Verwechseln – so heißt es auch im Prolog zu Adriana Buenos Aires, »Nota a la novela mala«, ist strikt geboten27 – ein ironischer Imperativ, der kaum einzuhalten wäre, wenn der Wind tatsächlich sein Spiel getrieben hätte. Allerdings sind beide Romane zu Macedonios Lebzeiten gar nicht – bzw. nur in Fragmenten – veröffentlicht worden, und auch nach seinem Tod nicht in dem von ihm gewünschten Doppelpack, so dass auch die angeführte confusijn nur eine virtuelle »Chimäre« geblieben ist. Andererseits verspricht Macedonio im Sinne des Bruchs, den der Schritt vom letzten schlechten zum ersten guten Roman zu insinuieren scheint, nun keineswegs ein Zeitalter der »novela buena«, sondern vielmehr eine »prjxima novela malabuena, primerfflltima en su g8nero, en la que se aliar# lo jptimo de lo malo de Adriana Buenos Aires con lo jptimo de lo bueno de Novela de la Eterna.«28 Schon allein diese Konstruktion und Dekonstruktion einer Dichotomie scheint diese Texte unter den Begriff der Groteske nach Fuß fallen zu lassen. Noch deutlicher wird es, wenn man den Inhalt betrachtet. Adriana Buenos Aires ist wie gesagt als »der letzte schlechte Roman« konzipiert, das soll wohl heißen, überhaupt noch als ein Roman mit feststehender Handlung und wohl auch mit dem angeblich für Romane konstitutiven Thema der Liebe. Die Liebe ist jedoch für den »größten Metaphysiker vom Rio de la Plata« etwas so Absolutes, dass sie alles, auch den Tod zu überwinden vermag, und damit auch zu Transgressionen Anlass gibt, die eine Liquidierung der »apollinischen Ordnung« zu betreiben scheinen: In einer der zahlreichen metaphysischen Diskussionen des Romans hält etwa dem Ich-Erzähler Eduardo seine Gesprächspartnerin entgegen, man könne doch am Anblick des »zerstörten Körpers« erkennen, dass der andere gestorben sei, und er antwortet ihr : »Aber wie können Sie jemals wissen, ob dieser zerstörte Körper nicht ihr eigener war, wenn Sie ihn Jahre hindurch beobachtet haben und jedes Mal, wenn dieser Körper gelächelt oder geweint hat, Sie selbst in Ihrer Seele aus Sympathie gelächelt oder geweint haben?«29 Der Einsatz des Romans ist jedoch ganz eindeutig »schlecht«, sprich: tradi26 Macedonio Fern#ndez, Museo de la Novela de la Eterna, edicijn cr&tica de Ana Camblong y Adolfo de Obieta, Paris, Madrid: Archivos 1993, S. 267; übersetzte Passagen stammen vom Autor dieses Artikels, M.R. 27 Macedonio Fern#ndez, Adriana Buenos Aires (5ltima novela mala), in: Obras completas V, Buenos Aires: Corregidor, 21988, S. 13. 28 Fern#ndez, Museo de la Novela de la Eterna, S. 268. 29 Fern#ndez, Adriana Buenos Aires, S. 227. Übersetzung hier und in der Folge M.R.

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tionell, aber wohl ebenso eindeutig parodistisch, den Anfang realistischer Romane bis zur Persiflage von Standesamtsakten verzerrend: Ich lernte sie im Februar 1921 kennen, als sie neunzehn war, ledig, Angestellte, und ich fünfundvierzig, ohne Lebensgefährtin, Gewerbetreibender mit aufgegebener Gewerbetätigkeit und eingeschränkten Finanzmitteln, mich eben in meiner Wohnung in der Libertad 44 aufhaltend, als sie, in Begleitung eines Kindes, vorbeikam, um das um die Ecke gelegene Zimmer in Augenschein zu nehmen, das sie allein bezog, nur für vier Tage, nach denen ich sie mehrere Wochen hindurch nicht zu Gesicht bekam.30

Wenn dieser atemlose informationsgesättigte Erzählstil in seiner syntaktischen Komplexität geradezu lächerlich erscheint, kontert der Ich-Erzähler wenig später mit dem Gegenteil, der extremen Verdichtung: Als die Heldin den IchErzähler bittet, sie zu einem Gespräch zu begleiten, sagt er ihr den entscheidenden Satz: »Sie sind die Liebe.«31 Eduardo wird so zunächst zum Beschützer der Liebenden, denn Adriana, die ein Kind von ihrem Geliebten Adolfo erwartet, will sich von ihm trennen, um ihn – der sein Vermögen verspielt hat – für eine Ehe mit einer reichen, aber ungeliebten Freundin freizugeben. Der Erzähler, der beide in sein Herz geschlossen hat, überzeugt sie, trotz allem zu ihrer Liebe zu stehen. Adolfo geht, um am Vorabend der Ehe sein Verlöbnis mit der anderen zu lösen; er kommt durch einen Streifschuss verwundet zurück und verfällt vorübergehend dem Wahnsinn. Adriana pflegt ihn, gibt sich zeitweise als ihre eigene Schwester aus und macht so den von Eduardo geschickten Zimmernachbarn aus der Provinz auch noch in sich verliebt. Endlich hält es Eduardo nicht mehr aus, entführt Adolfo aufs Land, wo es offenbar zu einer Auseinandersetzung kommt – hier ist der Text, der nie die Perspektive des offensichtlich einige Ereignisse verdrängenden Ich-Erzählers verlässt, bewusst unklar. Jedenfalls kehrt Eduardo mit Kratzspuren im Gesicht nach Buenos Aires zurück und vermeidet stets eine klare Aussage über das Vorgefallene. Nun kommt Adrianas Kind zur Welt, Adolfo wird vorübergehend geheilt, erleidet aber immer wieder Rückfälle, aus denen ihn nur ausgeklügelte Stimuli (etwa ein einwöchiger Roulette-Aufenthalt im Casino von Mar del Plata) zurückzuholen vermögen. Unterdessen beginnt in Eduardos Leben noch eine andere zu beschützende Frau eine Rolle zu spielen: die junge Estela, Tochter eines eben verstorbenen weiteren Pensionsnachbarn. Auch sie führt mit Eduardo tiefsinnige Gespräche über Liebe, Tod und Realität (wie das oben referierte), und schließlich fasst sie gemeinsam mit Eduardo und seinen Freunden den Entschluss, sich als »große Kurtisane« ganz der Liebe zu widmen; nachdem Adriana dem Protagonisten aber einmal anvertraut hat, dass sie in einer parallelen Welt nur ihm gehören würde, ist diese ideale Liebe Eduardos zu 30 Fern#ndez, Adriana Buenos Aires, S. 19. 31 Fern#ndez, Adriana Buenos Aires, S. 24.

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ihr auch durch das große Einverständnis mit Estela scheinbar nicht mehr zu erschüttern. Man sieht: Der »letzte schlechte Roman« hat tatsächlich jede Menge kolportageromanhaftes Material an Motiven und Rätseln zu bieten; allerdings werden diese Rätsel kaum aufgelöst, und dem Leser wird weder ein happy ending noch ein rührend-tragischer Schluss vergönnt. Im Gegenteil: Die letzten, vermutlich bei der Überarbeitung 1938 hinzugefügten Kapitel lassen alles offen: In XI heißt es: »Jetzt ist der Leser an der Reihe. Ab dem folgenden Absatz regiere allein der Leser.«32 Kein Wunder, dass Kapitel XII unter dem Titel »Schlüsse« mehrere solche vorschlägt, die im wesentlichen auf eine Desillusion hinauslaufen (Tod nicht durch Tod, sondern durch Aufhören der Liebe); dass in XIV. noch ein »Pos-fin«, ein »Nach-Schluss« folgt – die Aufforderung eines Lesers, diesen Roman zu verbieten, und dass das eigentliche Schlusskapitel (XV) mehr einen Kommentar zum Roman als einen Schluss bringt und in das Versprechen eines weiteren Romans, diesmal über die körperliche Liebe – oder besser über die »Skrupel und Tabus im Zusammenhang mit derselben« mündet.33 Adriana Buenos Aires kann ich in diesem Kontext nicht genauer analysieren, denke aber, dass man als erste Annäherung behaupten kann, dass hier ein ähnlicher Umgang mit Personen vorliegt, wie wir ihn in den Cuentos beobachtet haben, auch wenn die essayistischen und/oder metaliterarischen Textpassagen gegenüber der Romanhandlung nicht denselben Raum beanspruchen wie in den zuvor analysierten Erzählungen – und dass der ironisch-subversive Umgang mit den Konventionen des »schlechten Romans« – ganz besonders, was die paradoxe Verbindung von idealisierter Liebe und Erotik und die Torpedierung der Schluss-Konventionen betrifft – sehr nahe an Techniken und Wirkungen des von Peter Fuß beschriebenen Grotesken im Sinne einer Liquidierung der »apollinischen Ordnung« herankommt.34 Noch fruchtbarer für unseren Kontext erscheint allerdings der »erste gute Roman«, Museo de la Novela de la Eterna. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis offenbart ein weiteres Verfahren des Grotesken nach Fuß: die Verkehrung, denn wenn üblicherweise die Paratexte wie Prolog oder Epilog dem Haupttext 32 Fern#ndez, Adriana Buenos Aires, S. 232. 33 Fern#ndez, Adriana Buenos Aires, S. 240. 34 Natürlich könnte man hier zu Recht sagen, dass das auch bei den »Anti-Romanen« des 18. Jahrhunderts wie Lawrence Sternes Tristram Shandy oder Diderots Jacques le Fataliste et son ma%tre der Fall ist – und darüber hinaus in einer Reihe von Romanen der deutschen Romantik – oder geographisch und zeitlich näher, in Machado de Assis’ Memjrias Pjstumas de Br#s Cubas (1881). Aber das ist kein Argument gegen Macedonios Verwendung grotesker Techniken, sondern nur ein Beweis dafür, dass diese Methoden des Grotesken nicht mit der Barockepoche aufhören und im 20. Jahrhundert plötzlich wieder erstehen, sondern als »Grenzzeichen« die Mainstream-Entwicklung der europäischen – und lateinamerikanischen – Literatur auch weiterhin begleiten.

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nachgeordnet sind, was Umfang und Bedeutung betrifft, muss sich der Leser hier durch nicht weniger als 56 Prologe oder prologartige Texte durchfressen, ehe er endlich zu den 18 oder 20 Kapiteln (je nach Ausgabe) des Romans gelangt; den 127 Seiten Prologe entsprechen dann gerade einmal 119 Seiten Roman, ehe auf 8 Seiten 4 Epiloge (einer davon als »Prjlogo final« betitelt) den Text abschließen. Hier wird also die übliche Hierarchie gehörig auf den Kopf gestellt, was einige der Prologe (insbesondere die an den »sprunghaften« und den »fortlaufenden« Leser gerichteten) auch thematisieren. Das zweite Verfahren, die Verzerrung, findet sich in zahlreichen Episoden der histoire des Romans, dessen Figuren mit Macedonios Selbstinszenierungen in engem Zusammenhang stehen. Episoden ist zudem das richtige Wort, da es diesem Roman an einer kohärenten Handlung nun völlig gebricht. Aber Handlung, so Macedonio, gehört schließlich auch nur in den schlechten Roman, in jenen also, in dem die Welt der Leser von jener der Figuren völlig getrennt ist. Bei ihm dagegen diskutieren Leser und Autor munter mit den Figuren, werden die Figuren selbst zu Lesern, so dass eine wechselseitige Relativierung des Status von »lesender« und »gelesener« Person eintritt; die realen Leser, so der Autor, erleben dadurch mit, wie »die Linien ihrer Existenz sich zu verwischen beginnen«. Das war allerdings schon in den Prologen angekündigt. In »Neuer Prolog an meine Person als Autor« und »Prolog, der glaubt, etwas zu wissen« fordert der Autor den Leser auf, selbst Figur zu werden und definiert sein Ziel – ganz im Sinne von Peter Fuß’ Begriff des Grotesken – in der Zerstörung der »Sicherheit der eigenen Kontinuität als Person« beim Leser. Freilich geht Macedonio auch mit seinen Figuren nicht sehr freundlich um. Die meisten werden – wie bei Pirandello – einfach abgelehnt, am intensivsten ein »Bursche mit dem langen Stock«, der offenbar immer wieder in den Roman hinein will und vom Autor erfolgreich draußen gehalten wird, aber auch ganz banale Figuren wie das Paar Pedro Corto und Nicolasa Morenos, die er ablehnt, weil sie kochen bzw. das Gekochte essen müssen, bevor es kalt wird, und daher nicht ausreichend disponibel sind. Im Unterschied zu diesen beiden haben die Figuren des Romans eher ungewöhnliche Namen, die an Techniken allegorischer Literatur gemahnen, weil sie Eigenschaften oder Funktionen bezeichnen und damit auf Typen hinzudeuten scheinen, die aber zugleich paradoxerweise als unwiederholbare Individuen konzipiert sind – was man wohl als weitere Technik der grotesken Vermischung von Gegensätzen ansehen kann: da ist einmal die »Eterna«, die »Ewige«, die wohl als Abbild von Macedonios verstorbener Frau Elena de Obieta anzusehen ist, und der »Presidente«, ein alter ego des Autors, der 1927 eine dadaistische Kandidatur seiner Person zum Staatspräsidenten inszeniert hatte; dann ein kokettes Mädchen namens »Dulce Persona« (Süße Person), ein

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Bankangestellter mit dem sprechenden Namen »Quizagenio« (Vielleicht-einGenie), ein »Simple« (Einfaltspinsel), ein »Viajero« (Reisender), der »No-existente-caballero« mit Namen Deunamor (»Voneinerliebe«) und andere mehr. Sie alle haben sich auf die Estancia des Presidente zurückgezogen, die nicht allzu weit von Buenos Aires am Ufer des Rio de la Plata liegt und den schönen Namen »La Novela« trägt, was natürlich Anlass zu zahlreichen Wortspielen gibt. Auf diesem Gutshof lesen die Personen, diskutieren und entwerfen ihrerseits Romane, wobei sie oft in heftigen Streit mit Autor und Leser, ja sogar Lesern in der Mehrzahl geraten. Diese Romanprojekte sind allesamt experimentelle Ideen Macedonios, wie sie zum Teil auch schon in den Prologen vorgetragen wurden, und sie entsprechen im wesentlichen diesem Ziel »Romans auf der Straße«, in dem sich »Fetzen der Kunst« zwischen »Fetzen des Lebens« auf Straßen, in Lokalen, Bahnhöfen etc. mischen. Der Leser, der einen solchen Roman versteht, so Macedonio, wäre selbst ein »phantastischer Leser« und würde vom Leserpublikum gelesen werden;35 oder die Idee eines »reinen Bewusstseinsromans« (»novelismo de la conciencia« o »novela sin mundo«36), durch den der Leser die Möglichkeit der »weltlosen Bewusstseinsexistenz« vermittelt bekommen soll. Daneben fahren die Figuren Tag für Tag mit dem Vorortezug nach Buenos Aires und gehen ihren Geschäften nach, um am Abend wieder auf die Estancia zurückzukehren. In diese Routine kommt nur zweimal etwas Bewegung: Einmal, ganz zu Beginn, als der Presidente alle in die Stadt schickt, um bestimmte abstrakte Objekte zu holen, von denen dann bei der Rückkehr nicht mehr die Rede ist, und einmal in dem wohl zentralen Kapitel IX mit dem Titel »La Conquista de Buenos Aires«. In der Stadt gibt es nämlich zwei rivalisierende Gruppen: die »Hilarantes« (sie stellen überall Zerrspiegel auf, um die Leute zum Lachen zu bringen) und die »Enternecientes«, die aus allen Lautsprechern eine rührselige Geschichte über die hässliche Geliebte eines Blinden verlesen lassen, die sich aus Angst vor dem Erfolg einer Augenoperation an ihrem Geliebten selbst verbrennt. Der Presidente will nun beide Gruppen zu einer gemeinsamen Aktion für Schönheit verbinden. Diese Aktion läuft als eine Kette dadaistischer Inszenierungen ab: Ein duftender Topf mit einem Eintopfgericht wird durch die Bars getragen, Dicke ab 90 kg bekommen Freifahrt im Autobus und bemühen sich nun zu beweisen, dass sie wirklich so schwer sind; die Eterna schickt einen Boten mit Laterne durch die Stadt, ein atemloser Gelähmter mit Kerze verbrennt sich die Hand, weil keiner bereit ist, ihm die Kerze auszublasen, und die »Süße35 »Novela cuya existencia fue novelesca por tanto anuncio, promesa y desistimiento de ella, y ser# novelesco un lector que la entienda. Tal lector se har# c8lebre, con la calificacijn de lector fant#stico. Ser# muy le&do, por todos los pfflblicos de lectores, este lector m&o.« (Fern#ndez, Museo de la Novela de la Eterna, S.14f.). 36 Fern#ndez, Museo de la Novela de la Eterna, S. 223.

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Person« schenkt dem technisch unbegabtesten Einwohner der Stadt ein Radio, das sich nicht abdrehen lässt, was diesen fast zum Wahnsinn treibt, da er davor zurückschreckt, ein Geschenk zu zerstören, aber die dauernde Musikberieselung nicht mehr aushält. So ergibt sich in den Worten des Autors eine »belleza de la no-Historia«37 in einer »ciudad presentista«, in der jeder Tag nur noch »Hoy« heißt, ebenso wie die größte Prachtstraße der Stadt. Natürlich haben diese Aktionen etwas Karnevaleskes an sich: Sie kehren rationale Verhaltensweisen um, aber auch das nicht mehr in einer konzertierten, ja institutionalisierten Weise, wie das für Karnevalspraktiken typisch wäre; sie führen nun tatsächlich zu dieser Verflüssigung kultureller Formationen, von der Peter Fuß spricht, und damit auch zur Liquidation der Geschichte (im doppelten Sinn, als histoire und als Historizität), die durch eine allumfassende Gegenwärtigkeit plot wie Tod auslöscht. Aber dieses präsentistische Moment endet ebenso wie die unio mystica der Mystiker. Die »Eroberung von Buenos Aires«, so erfolgreich sie ist, vermag den Presidente nicht glücklich zu machen und das Schicksal der Bewohner der »Roman«-Estancia nicht zu verändern. So beschließt der Presidente eines Tages die Gesellschaft aufzulösen, traurig gehen alle auseinander und Macedonio schließt mit dem Bild von zahlreichen Rückenansichten (XVIII, »Cap&tulo de las espaldas«38) – das heißt, er schließt natürlich nicht, sondern geht über in vier epilogartige Texte. Im letzten derselben »Al que quiera escribir esta novela (Prjlogo final)«39 nennt Macedonio diesen Roman »das erste offene Buch der Literaturgeschichte« – immerhin ein halbes Jahrhundert vor Ecos »Opera aperta« – und fordert wie 6 Jahrhunderte vor ihm der Arcipreste de Hita im Libro de Buen Amor40 jeden Leser zum Überarbeiten, Ergänzen, Abändern auf. Dieser kurze Abriss der sprunghaften Abfolge der Texte in Macedonios Buch, das ja auch erst nach seinem Tod aus den zahlreichen Notizen zusammengestellt wurde, hat es hoffentlich erahnen lassen, worin hier die Elemente des Grotesken bestehen: natürlich auch in Metalepsen, mehr noch: in einer vollständigen (chimärischen?) Vermischung der Welten von Leser, Text und Autor, in der all diese Rollen aufgehoben sind – vielleicht kann man das als einen Super-GolemEffekt im Sinne Chihaias41 deuten? Klar scheint mir, dass Macedonios Vorgangsweise mehrere Varianten gro37 38 39 40

Fern#ndez, Museo de la Novela de la Eterna, S. 203. Fern#ndez, Museo de la Novela de la Eterna, S. 244ff. Fern#ndez, Museo de la Novela de la Eterna, S. 253f. Vgl. dazu Michael Rössner, »Rezeptionsästhetische Lektüre im Werk des Arcipreste de Hita: Zu den Leerstellen im Libro de Buen Amor«, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 221 (1984), S. 113–129. 41 Vgl. Matei Chihaia, Der Golem-Effekt: Orientierung und phantastische Immersion im Zeitalter des Kinos, Bielefeld: transcript 2011.

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tesker Verfahren anwendet und mischt, die bei Peter Fuß beschrieben sind; insbesondere im Bereich des discours, im Bereich der Textsorten, geschieht das mit solcher Intensität, dass man wohl zu Recht darauf schließen kann, dass hier eine Liquidation kultureller Formationen ihren Anfang nimmt, die – direkt oder über die Vermittlung von Borges – das, was wir heute faute de mieux postmoderne Literatur nennen, maßgeblich beeinflusst hat. Klar scheint mir aber auch, dass die »Liquidation«, die Macedonios Roman unternimmt, im Kontext eines avantgardistischen Programms zu lesen ist, wie er es in den Prologen ausspricht, wo die »conmocijn total de la conciencia del lector« als Ziel genannt wird. Zu diesem Ziel – das der »Grausamkeit« in Antonin Artauds »cruaut8«-Konzept oder der symbolischen Tötung des Lesers/Zuschauers in einigen Dada-Manifesten (z. B. Ribemont-Dessaignes’ »Manifeste / l’huile«, wo es heißt: »DADA est un cancer, et donne le cancer«42) vergleichbar ist, setzt er Praktiken ein, die man dem Grotesken im Sinne von Peter Fuß zuschreiben kann. Ein Groteskes, das Innovation schafft, indem es eine Liquidation symbolischer Ordnungsstrukturen vornimmt – allerdings in einer kompromisslosen Radikalität, wie sie dem Barock des 17. Jahrhunderts noch fremd ist.

Bibliographie Primärtexte Borges, Jorge Luis, Obras completas, Barcelona: RBA 2005. Fern#ndez, Macedonio, »El zapallo que se hizo cosmos: Cuento del crecimiento« und »Donde Solano Reyes era un vencido y sufr&a dos derrotas por d&a«, in: Papeles de Buenos Aires, Bs. As. 5, mayo de 1945, zitiert nach: Ders., Museo de la Novela de la Eterna, hg. von C. Fernändez Moreno, Caracas: Biblioteca Ayacucho 1982, S. 44–48 bzw. S. 26–28. Fern#ndez, Macedonio, Adriana Buenos Aires (5ltima novela mala), in: Ders., Obras completas V, Buenos Aires: Corregidor, 21988. Fern#ndez, Macedonio, Museo de la Novela de la Eterna, edicijn cr&tica de Ana Camblong y Adolfo de Obieta, Paris/Madrid: Archivos 1993. Ribemont-Dessaignes, Georges, »Manifeste / l’Huile«. Verlesen in der Soir8e du Th8.tre de la Maison de l’Oeuvre am 27. März 1920, in: Ders., Dada. Manifestes, poHmes, nouvelles, articles, projets, th8.tre, cin8ma, chroniques (1915–1929), Paris: Ivrea 1994.

42 Georges Ribemont-Dessaignes, »Manifeste / l’Huile«. Verlesen in der Soir8e du Th8.tre de la Maison de l’Oeuvre am 27. März 1920, in: Ders., Dada. Manifestes, poHmes, nouvelles, articles, projets, th8.tre, cin8ma, chroniques (1915–1929), Paris: Ivrea 1994, S. 16.

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Norah Langes exzentrische Estimados congéneres und die Brindis-Event-Kultur der Avantgarde am Río de la Plata

In landläufigen Verwendungen benennt der Begriff des Grotesken, sofern er nicht zur verwässerten Klassifizierung von Verschrobenheit und Abstrusität dient, bekanntlich Werke der bildenden Kunst (entsprechend der Etymologie) oder der drei Hauptgattungen der Literatur, vor allem aber erzählende, ereignishafte Texte. Signifikant unüblicher scheint eine Anwendung auf handlungsneutrale, also nicht auf Fiktionalität hin angelegte Textsorten, ein Fokus, der allerdings im Folgenden vorgeschlagen wird. Insofern scheint zur Erstellung einer operationalen Basis eine möglichst allgemeine Umschreibung des für den Begriff maßgeblichen semantischen Feldes wünschenswert, wie etwa die nachstehende. El t8rmino grotesco se refiere a cualquier cosa o idea que exceda lo regular o lo normal; incluyendo las cosas que no pertenecen al mundo ordinario, o sea las no comprendidas. Las ideas, la gente, los objetos que est#n incongruentemente compuestos o mal proporcionados, caben dentro del g8nero que abarca lo fant#stico, rid&culo, caprichoso, extraÇo y extravagante.1

Unschärfen in der Bedeutung sind dem Begriff inhärent und erschweren dabei einen präzisen Gebrauch. Indem sie dem Passepartout-Status (welcher hier nicht notwendig negativ zu fassen ist) Tür und Tor öffnen, integrieren sie auch, bei einem weit gefassten Verständnis von literarischer Rhetorik, Textsorten, denen die wesentlichen, immer wieder ins Treffen geführten Merkmale des Grotesken – das hier nicht als »un simple courant esth8tique 8troitement limit8 dans le temps«2 verstanden wird – eignen. Es scheint somit durchaus plausibel, den Hang zur Desakralisierung und zum Schwelgen in Körperlichkeit, mit allen ihren bisweilen monströsen Auswüchsen und Übertreibungen (im Sinn von 1 Henry K. Ziomek, Lo grotesco en la literatura espaÇola del siglo de oro, Madrid: IbaÇez Campos 1983, S. 207–208. 2 R8mi Astruc, Le renouveau du grotesque dans le roman du XXe siHcle: Essai d’anthropologie litt8raire, Paris: Pditions Classiques Garnier 2010, S. 13.

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Bachtins Rabelais-Lektüre3) in den Fokus zu rücken, ebenso wie eine Tendenz zum Hyperbolischen, zum Oxymoron, zu einem Diskurs sodann, dessen »Misstöne« in letzter Konsequenz den stillschweigenden Pakt mit der cartesianischen Logik aufkündigen. Auch der »unresolved clash of incompatibles«, von dem Philip J. Thomson spricht,4 verweist auf die dem Grotesken immanenten Paradoxa. Für Geoffrey Galt Harpham meint der adjektivisch gebrauchte Terminus – ein »concept without form« – zunächst eine »condition of overcrowding or contradiction in the place where the modifier should be«5. Präziser zur Sache äußert er sich hinsichtlich des Substantivs Groteske: mit ihm werde sowohl – ontologisch – der Umstand bezeichnet, dass »an object either occupies multiple categories or that it falls between categories« als auch – darstellungspraktisch – die Tatsache, dass das Objekt in seinem Verhalten nicht vorherseh- und -sagbar sei, dass es »just out of focus, just beyond the reach of language«6 sei. Harpham findet hier auch eine schöne Umschreibung des Phänomens: »It accommodates the things left over when the categories of language fail«7. Weiters, und auch hierin lässt sich diesem Autor uneingeschränkt folgen, führt er »the ambivalent and the anomalous«8 als Charakteristika an, als Beispiele gibt er die Ikonographie / Ikonologie der Versuchungen des Hl. Antonius, mit ihren aus unterschiedlichen, menschlichen und nicht-menschlichen Spezies zusammengesetzten Wesen, einem Monstruarium der »illegitimacy, bastardy, or hybridization«, geprägt von »structural confusion, reproductive irregularity, or typological incoherence«9. Victor Hugo seinerseits erweitert in seiner Pr8face de Cromwell (1827) den Begriff des modernen Grotesken so: »Il est partout; d’une part, il cr8e le difforme et l’horrible; de l’autre, le comique et le bouffon«10. Daraufhin definiert er es als »moyen de contraste, […] la plus riche source que la nature puisse ouvrir / l’art« und fasst es schließlich als »temps d’arrÞt, un terme de comparaison, un point de 3 Vgl. Michail Bachtin, L’œuvre de FranÅois Rabelais et la culture populaire au Moyen Age et sous la Renaissance, übers. v. Andr8e Robel, Paris: Gallimard 1982, S. 315, wo der russische Theoretiker von einem »corps monstrueux« in Bewegung, »en mouvement«, spricht – was in den hier untersuchten Texten in loco unmöglich scheint – die »Objekte« des Diskurses sitzen an der Festtafel –, was in extenso jedoch durchaus zutrifft, werden jene Personen, die Lange ins Zentrum des Interesses rückt, doch in anderen Situationen und Lebenslagen als Inbegriff der ungezügelten Vitalität gefasst. In Bewegung geraten jedenfalls die semantisch-logischen Beurteilungskriterien der Zuhörerschaft. 4 Philip J. Thomson, The Grotesque, London: Methuen 1972, S. 27. 5 Geoffrey Galt Harpham, On the Grotesque: Strategies of Contradiction in Art and Literature, Aurora, Colorado: The Davies Group Publishers 2006, S. 3. 6 Harpham, On the Grotesque, S. 3. 7 Harpham, On the Grotesque, S. 3. 8 Patrick McGrath spricht hier von »the fanciful, the bizarre, the absurdly incongruous«, vgl. ders., The Grotesque, London: Penguin 1989, S. 69. 9 Harpham, On the Grotesque, S. 4–5. 10 Victor Hugo, Cromwell, Paris: Garnier-Flammarion 1968, S. 71.

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d8part d’oF on s’8lHve vers le beau avec une perception plus fra%che et plus excit8e«11: ein Innehalten somit, eine abwägende Reflexion oder Meditation zum einen, und andererseits auch eine Katharsis zur künftigen intensiveren Wahrnehmung und (ästhetischen) Wertung. Es sei in diesem Zusammenhang erinnert an ein heutzutage wenig diskutiertes frühes Werk des französischen Romantikers und Parnassien Th8ophile Gautier, eine Feuilleton- und Aufsatzsammlung mit dem sprechenden Titel Les Grotesques (1843). Im Vorwort definiert Gautier sein Vorhaben,12 in dem es um die »difformit8s litt8raires« und die »d8viations po8tiques« einiger »types qui nous ont paru amusants ou singuliers«13 geht, denen er mit zahlreichen negativen Vorurteilen und Fehleinschätzungen14 gegenübertritt: »Nous avons model8 une dizaine de m8daillons litt8raires, plus ou moins grotesques ; la mine est loin d’Þtre 8puis8e [, … c]ertainement cette collection de tÞtes grimaÅantes n’est pas complHte.«15 – einer Galerie von – so Gautier – »auteurs de troisiHme ordre […] tomb8s en d8su8tude«16. Gautiers negative Konnotierung lässt sich tendenziell mit jener der Krisenhaftigkeit verbinden, die »grimassierenden Köpfe« sind oftmals Epochen des Umbruchs und der tiefgreifenden Verunsicherung zuzurechnen. So gilt diesbezüglich ein Diktum Thomsons: The present tendency is to view the grotesque as a fundamentally ambivalent thing, as a clash of opposites, and hence, in some forms at least, as an approximate expression of the problematic nature of existence. It is no accident that the grotesque mode in art and literature tends to be prevalent in societies and eras marked by strife, radical changes or disorientation.17

Die Wirkung des Grotesken mag in manchen Fällen, wie von Hugo angedeutet, bedrohlich ausfallen und zum Makabren tendieren,18 vielfach dient jenes Potenzial, das in Entauratisierung und Verfremdung liegt, jedoch unterhaltsameren Zwecken. Kaum von Bedeutung ist bei Norah Lange19 die eingangs erwähnte 11 Hugo, Cromwell, S. 72. 12 Er porträtiert, bisweilen mit sarkastischem Humor, folgende Autoren: FranÅois Villon, Scalion de Virbluneau sieur d’Ofayel, Th8ophile de Viau, Le PHre Pierre de Saint-Louis, SaintAmant, Cyrano de Bergerac, Colletet, Chapelain, Georges de Scud8ry und Paul Scarron. 13 Th8ophile Gautier, Les Grotesques, Paris: Michel L8vy FrHres 1856, S. V–VI. 14 Um solche handelt es sich vor allem, wenn es um Villon, Viau und Scarron geht, die seit geraumer Zeit zweifelsfrei zu den kanonischen Autoren Frankreichs zählen. 15 Gautier, Les Grotesques, S. V. 16 Gautier, Les Grotesques, S. VIII. 17 Thomson, The Grotesque, S. 11 (meine Hervorhebung). 18 Beziehungsweise eine disparate Verquickung des Angenehmem mit dem Abstoßenden bieten: »the vile and the comic, disgust and irony«, siehe Justin D. Edwards; Rune Graulund, Grotesque, London/New York: Routledge 2013, S. 2. 19 Geboren 1905 als Berta Nora Lange Erfjord, galt sie in den 1930ern als die argentinische »Muse des Ultra&smo«. Lokale Berühmtheit erlangte sie erstmals mit grotesken Reden, die sie

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und von Astruc für das Groteske im 20. Jahrhundert hervorgehobene Bedeutungsnuance des Bedrohlichen:20 diese Dimension geht Langes skurril-liebenswürdig-spöttischen Tischreden ab, die einen Teil ihrer Unterhaltsamkeit auch aus dem Konventionsbruch beziehen. Für die damit verbundene NichtEinhaltung der Stimmigkeit gilt insbesondere Harphams Befund: »Most grotesques are marked by […] an affinity/antagonism, by the co-presence of the normative, fully formed, ›high‹ or ideal, and the abnormal, degenerate, ›low‹ or material«21. Aus einer kulturellen Naheposition spricht – und der Standpunkt scheint mir erwägens- und erwähnenswert – der argentinische Dramatiker und Mit–Initiator des kubanischen Teatro Abierto, Osvaldo Dragffln (1929–1999), wenn er in einer knappen Gegenüberstellung nicht nur Europa und Argentinien, sondern auch das Groteske und das Absurde aufeinander zu beziehen sucht. [Q]uien pretenda ver en el Grotesco Argentino (y latinoamericano) un heredero directo del Absurdo europeo o norteamericano, errar# el enfoque. Las diferencias son fundamentales. El Absurdo europeo es un g8nero intelectual. El Grotesco Argentino es popular. El Absurdo europeo no tiene h8roes. El Grotesco s&. Grotescos, pero h8roes. El personaje del Absurdo europeo sabe que el destino humano no tiene sentido. Y racionalmente, deja de luchar. El h8roe del Grotesco tambi8n ha descubierto lo mismo. Pero irracionalmente, no deja de luchar. Lo que otorga al Grotesco Argentino (y latinoamericano) una vitalidad anarquista, llena de colorido, de pasiones extravertidas de im#genes dibujadas en trazos gruesos, sangu&neas.22

Da das in seinem Wesen polyvalente Konzept letztlich nicht präzise eingrenzbar erscheint, sind in der Anwendung des Terminus auf Langes Diskurse auch limitrophe Phänomene wie das Komische, die Satire, die Burleske, die Ironie oder das eben erwähnte Absurde mit einbeziehen (diese weit gefasste Auslegung ist bekanntlich jene, die Wolfgang Kayser in seiner wirkungsmächtigen Studie vorschlägt). Und es scheint angesichts des hier zur Debatte stehenden Korpus, das einem spezifischen, kulturhistorisch gut beschreibbaren Kontext entspringt, angebracht, das Umfeld, in dem die so genannten brindis, also Trinksprüche, mit der nach einem mehr oder minder offiziellen Bankett die Phase exzessiven Alkoholkonsums eingeleitet wird, als Praxis von Bohemiens, Bonvivants oder

in den Avantgardezirkeln der Hauptstadt hielt und die 1942 unter dem Titel Estimados cong8neres erschienen. Wichtig ist Lange aber vor allem als Verfasserin teils memorialistischer, teils romanhafter Werke wie Cuadernos de infancia (1937) oder Personas en la sala (1950). Sie starb am 4. August 1972 in ihrer Geburtsstadt Buenos Aires. 20 Bei Astruc heißt es: »C’est l’alliance de l’inoffensif et du dangereux, de l’innocent et du malin, du b8nin et du grave« (Le renouveau du grotesque, S. 11). 21 Harpham, On the Grotesque, S. 11. 22 Osvaldo Dragffln, »Cjmo contar historias en un pa&s que vive en la irrealidad: el teatro argentino«, in: Nueva Sociedad 66 (1983), S. 152.

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wohlsituierter Avantgardisten von Buenos Aires kurz unter die Lupe zu nehmen und das Phänomen in einen kulturhistorischen Zusammenhang zu stellen. Von unmittelbarer Bedeutung für die Kontextualisierung der Tischreden Norah Langes dort, wo diese gedanklich-verbale Anarchie suggerieren, sind zunächst einmal – Dragfflns Standpunkt zum Trotz – aus Europa bekannte Varianten des Absurden: Phänomene wie die Serate Futuriste Marinettis und seiner Mitstreiter sowie die Spektakel der Dadaisten, vor allem jener in Zürich und Paris. An ihnen orientiert sich eine kosmopolitisch-avantgardistische EventKultur (wie man sie heute wohl nennen würde), mit ihren »bullangueros festejos, las reuniones estridentes, absolutamente desprejuiciadas e informales –o con la fflnica formalidad: transgredir«23. An autochthonen Impulsen sind vorrangig zu nennen die Beiträge jenes großen Sonderlings und Ahnherrn jeglicher Avantgardebewegung in Argentinien, Macedonio Fern#ndez, die sich in einer Sektion seines Sammelbandes Papeles de Recienvenido publiziert finden.24 Während im Fall von Macedonio – von dem einer seiner geistigen Erben, Ricardo Piglia, sagt: »A veces pienso que la literatura argentina es Macedonio Fern#ndez«25 – Provokation und Absage an die Logik und Denkgewohnheiten des Durchschnittsbürgers von Beginn weg dominant gesetzt sind, verwundert eine solche Haltung bei der offensichtlich mit einem ähnlichen Naturell gesegneten Norah Lange doch etwas. Präsent in der argentinischen Literaturgeschichte ist sie ja vor allem aufgrund ihrer Empfindungs- und Liebeslyrik, ultraistisch inspiriert bloß in manchen Metaphernkaskaden, sowie durch die autobiographisch getönten Cuadernos de infancia (1937).26 In diesen durch überraschende subjektive 23 Mar&a Esther de Miguel, Norah Lange: Una biograf&a. Buenos Aires: Planeta 1991, S. 169. 24 Die ursprüngliche Ausgabe jener disparaten, extrem komischen und für einen logisch orientierten Zugang zum Teil undurchdringlichen Texte erschien 1929 in Buenos Aires unter dem Titel Papeles de Recienvenido bei den Cuadernos del Plata. Die erweiterte Fassung von 1944 (deren Abschnitt II die Brindis de Recienvenido bilden: Macedonio Fern#ndez, Papeles de recienvenido y Continuacijn de la nada, Buenos Aires: Corregidor 2007, S. 51–77) trägt einen Zusatz im Titel – y Continuacijn de la Nada – und fällt bereits in den Zeitraum, in dem Lange ihre Reden konzipierte, deren erster Teil unter dem Titel Discursos erstmals 1942 erschien und unter Mitwirkung der Autorin 1968 bei Losada in erweiterter Form wieder aufgelegt wurde. Macedonio wandte sich nicht nur wohlwollend mit einem Brindis an Norah Lange (ebd., S. 65–66), sondern auch, weniger positiv gestimmt, an den anlässlich einer Lateinamerika-Reise in Buenos Aires weilenden Begründer des Futurismus (»Brindis a Marinetti«, ebd., S. 60–63). Beim Mussolini-Sympathisanten geizte er nicht mit bissigen Seitenhieben auf dessen politische Einstellung. Zu Macedonio Fern#ndez siehe auch den Beitrag von Michael Rössner im vorliegenden Band. 25 In einem der ersten Off-Kommentare des von ihm und Andr8s di Tello für die Secretar&a de Cultura de la Nacijn Argentina produzierten Dokumentarfilms Macedonio Fern#ndez (1995, Dauer 43:20 min), abrufbar unter http://www.youtube.com/watch?v=qyRaDJwP1u4 (letzter Zugriff am 28. 10. 2013). 26 Ihnen folgte 1944 der memorialistische Band Antes que mueran. Ihre anfänglichen Prosawerke, den Briefroman Voz de la vida (1927) und das als Reisetagebuch in personaler Form

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Perspektiven und meisterlich herausgearbeitete Kulminationspunkte das gängige Memoiren-Genre transzendierenden fragmentarischen Episoden stellt sich ein Anflug von Humor bestenfalls dort ein, wo Lange der Wirklichkeit der »Erwachsenen« eine völlig anders geartete kindliche Erlebniswelt und der Realität somit ein oft paradoxes Pendant gegenüberstellt. Diesen Gegenentwurf einer unangepassten Weltsicht nimmt das über Jahrzehnte sporadisch gepflegte Tischreden-Ritual unter Gebrauch anderer Mittel wieder auf. War es in den Cuadernos der unverstellt idiosynkratische Blick auf innere und äußere Gegebenheiten, getragen von der in der Rekapitulation schlüssig nachempfundenen Originalität des Kindes im Umgang mit der »Wirklichkeit«, so ist es nun ein Ausloten der Möglichkeiten von Sprache, das die Grenzen der Kommunizierbarkeit sondiert, indem es diese bis ins Extrem dehnt. Die humoristisch ausgerichteten Experimente mit dem seit der Antike etablierten Genus der Lobrede ermöglichen es der Autorin, einen dem Geist der künstlerisch-intellektuellen BohHme entsprechenden Beitrag zu leisten. Und Lange perfektioniert das Präkarium jener unausgegorenen, in Teilen von fremden Einflüssen bestimmten Bewegung, indem sie dem von Macedonio Fern#ndez vorexerzierten Exempel Kontinuität und Kontur verleiht. Zu rigide spricht der Borges-Biograph Edwin Williamson den Innovatoren in Buenos Aires und somit auch Lange Eigenständigkeit und Profil ab, wenn er behauptet: »The Argentine avant-garde had remained an eclectic affair of halfassimilated revolutionary notions and a na"ve obsession with metaphor as the key poetic invention«27. Diese Einschätzung greift, wie sich in den Tischreden und dem späteren Prosawerk Langes nachweisen ließe, deutlich zu kurz, auch wenn ein Nachhall ultraistischer Metaphernfixierung in Langes Reden noch spürbar bleibt. Er steht nunmehr im Dienst einer dekonstruktiven Selbstironisierung und des unterhaltsamen Untergrabens der rhetorischen Praxis, etwa im Doppelsinn eines »cr&tico de arte que siempre utiliza arrepentimientos«, eines »aristarco que supone hallarse emparentado con el arte« und einer »poetisa suburbana [que] constru&a un suspiro chiquito y desalentador cual la corrida de una media«28. Verbale Exuberanz verbindet sich – und daran lassen auch die Vielzahl von Erwähnungen ausdauernder Trinkfestigkeit sowie eine veritable »Hydrophobie« konzipierte 45 d&as y 30 marineros (1933), lehnte die Autorin in späteren Jahren ab, ebenso wie ihre frühen Versbände: »Mis versos nunca llegaron a convencerme. Hoy pienso que mi poes&a no existe. Eran puras met#foras, tal como dictaba el ultra&smo.« (vgl. Beatriz de Nobile, Palabras con Norah Lange, Buenos Aires: Carlos P8rez Editor 1968, S. 25). Langes Lyrik ist vor allem intimistisch, ans Enigmatische rührend. 27 Edwin Williamson, Borges: A Life, New York: Viking Press 2004, S. 146. 28 Norah Lange, »Estimados cong8neres«, in: Dies., Obras completas, Tomo 2, Rosario: Beatriz Viterbo 2006 [1968], S. 462.

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keinen Zweifel – mit realen derartigen Eskapaden. Wiederum ist es Williamson, der nachzeichnet, wie am 10. Juli 1926 der Neustart der Zeitschrift Mart&n Fierro mit einem para-dadaistischen Zeremoniell begangen wurde: Evar M8ndez, Leopoldo Marechal and a few others enthroned Norah Lange in a chair they pinched from a caf8 and bore her on their shoulders to the basement of the Caf8 Tortoni, where they proceeded to break up a meeting of tango enthusiasts. Paco Luis Bern#rdez found his way to the Revista Oral at the Royal Keller and insisted on declaiming an »editorial« that ended in uproar when he started hurling insults at the audience.29

Nachdem die zunächst obstinat unorthodoxe Beziehung zu Girondo sich endgültig als dauerhaft etabliert hat – »sometime in 1934 […] the relationship between Norah and Girondo ›became stable‹«30 – scheint Lange ihren burlesken Anwandlungen zunehmend freien Lauf zu lassen, wodurch sich auch ihr Image einer Avantgardistin verfestigt. Girondo steht, wenig verwunderlich, im Zentrum dreier Discursos des hier diskutierten Werks31 und findet sich auch andernorts immer wieder erwähnt (meist in Zusammenhang mit der Zeitschrift Mart&n Fierro). Der von Lange für seine Exzentrik bewunderte Autor der Veinte poemas para ser le&dos en el tranv&a (1922) als treibende Kraft in diesem Prozess war – und das vor allem auch in den Augen von Norahs unglücklichem Verehrer Borges – das »embodiment of the iconoclastic spirit of the avant-garde«32. Der Zusammenhang zu Langes persönlicher Entwicklung scheint evident: [W]ith Oliverio’s encouragement, Norah had made something out of herself as an afterdinner speaker, though of the most unconventional kind: she would get up on a chair – when it was not the table itself – and deliver great, ranting orations, full of complicated conceits and rather labored humor. And, thanks to Girondo’s wealth and influence, she had become the reigning queen of literary bohemia, the cynosure of the fast set.33

Auch Mart&n Fierro, Hauptorgan der örtlichen Avantgarde,34 kultivierte ebenso wie Alberto Hidalgos legendäre Revista Oral eine zum Grotesken tendierende Burleske, wobei diese sich vor allem in scherzhafter Anlasspoesie äußert. »A much-loved feature was the burlesque ›epitaph‹ in verse attacking older writers like Leopoldo Lugones or poking fun at other martinfierristas«35. Ein gewichtiges Pendant dazu stellen Langes respektlose, zu diversen Gelegenheiten gehaltene Tischreden dar. 29 30 31 32 33 34

Williamson, Borges: A Life, S. 147. Williamson, Borges: A Life, S 202. Vgl. Lange, »Estimados cong8neres«, S. 372–375, S. 393–396, S. 410–414. Williamson, Borges: A Life, S. 227. Williamson, Borges: A Life, S. 228. »Proa was more sober, more selective in its acceptance of contribution« (Williamson, Borges: A Life, S. 130). 35 Williamson, Borges: A Life, S. 130.

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On special occasions – for the launch of a book or in honor of a visitor from abroad – a »banquet« was held, usually at the Hotel Marconi on the Plaza del Once, and there, as often as not, they would one and all get terribly drunk. Indeed, much was made of wining and dining foreign writers – Marinetti, Pirandello, and Ortega y Gasset were among the celebrities who visited Buenos Aires in the mid-1920s – and after the customary banquet, the distinguished guest would be treated to a tango session at the Caf8 Tortoni.36

Williamson erwähnt auch »Norah’s going to parties and banquets with Neruda, Lorca, and Girondo« und meint, dieses Divertissement sei durchaus »symptomatic of a more general hedonism, for, in the latter months of 1933, the Buenos Aires press noted the popularity of a new social phenomenon – the French-style nightclubs, or ›bo%tes‹, which, in the opinion of Noticias Gr#ficas, were appearing ›in response to the desire for social expansion‹«37. Somit setzt Lange mit ihrem auch durch Girondo inspirierten »anstößigen«, unkonventionellen Verhalten, gespeist aus einem Vergnügen und Vergnügungen zugetanen Naturell,38 für die Selbstverwirklichungs- und Selbstinszenierungsprojekte moderner argentinischer Frauen breitenwirksame neue Maßstäbe (da sie selbst nicht aus dem Großbürgertum stammt). Die Biographin Mar&a Esther de Miguel relativiert jedoch diesen Impetus, wenn sie Lange einem gemäßigten Anti-Establishment zurechnet: [C]on muchos de sus amigos pertenec&a, sin duda, a este tipo de bohemia m#s mesurado, digamos. Bohemia de gente dada a la jarana y al vino, s&, pero que en ellos promov&an la fraternidad y no el bochorno. [… E]l grupo o los grupos bohemios que integraba Norah ten&an sus encuentros en casa, en tertulias (como la de la Tronador39), en celebraciones y #gapes »que constitu&an verdaderos encuentros de la camarader&a, cataratas de vivo di#logo y de sano humor«. Macedonio Fern#ndez con sus brindis y Norah Lange con sus discursos, crearon un verdadero estilo para esa bohemia.40

Das Langzeit-Projekt Norah Langes (von 1934 bis 1964 reichend, überspannt es drei Jahrzehnte) verhält sich als Synthese des Unvereinbaren bis zu einem gewissen Grad ähnlich wie das Groteske Hugos und Gautiers. Lange geht es allerdings weniger darum, das Erhaben zu konterkarieren oder auch der Vergangenheit und dem Vergessen Kuriositäten und Abartiges zu entreißen – was 36 Williamson, Borges: A Life, S. 130–131. 37 Williamson, Borges: A Life, S. 199. 38 »There was a fun-loving, exhibitionistic side to her personality« (Williamson, Borges: A Life, S. 197). 39 Dieser setzte Leopoldo Marechal 1948 in Ad#n Buenosayres, einem monumentalen roman / clef, ein ironisches und Borges nicht eben gewogenes literarisches Denkmal. Hinter der Maske seiner Solveig Amundsen verbirgt sich Norah (vgl. Leopoldo Marechal, Ad#n Buenosayres, hg. von Jorge Lafforgue und Fernando Colla, S¼o Paulo: EdUSP, Coleccijn Archivos, ALLCA XX 1997 [1948], Libro Segundo, cap. II, S. 91–132). 40 Miguel, Norah Lange: Una biograf&a, S. 142–143.

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sie zu Illustrationszwecken nichtsdestoweniger fallweise durchaus tut –, sondern in der Regel ist es vielmehr ihr Anliegen, der Moderne und ihren Vertretern – die Rednerin selbst mit inbegriffen – durch verbale Akrobatik Tribut zu zollen und zu einer vielfach noch nicht vollzogenen Legitimierung des/der Geehrten beizutragen. Langes Biographin, Mar&a Esther de Miguel, situiert den überschäumenden Formulierungsdrang zwischen einer kindlichen Spiellust und einer durchaus klassisch zu nennenden satirischen Geisteshaltung (»ingenio … quevediano«41). Dabei trifft der rhetorische Scheinwerfer durchaus auch kleine Schwächen und Exzentrik, nicht nur jene der dergestalt Fokussierten, sondern auch die der Rednerin, um in jedem einzelnen der Diskurse zumindest in einer Sequenz an jenen Punkt zu gelangen, an dem Lob und Ehrerbietung ungekünstelt und echt sind. Grotesk ist insgesamt die Sprunghaftigkeit der Montage, das Unvorhersehbare der Assoziationen, ebenso wie die konsequente Verquickung des Biographischen, des Psychischen42 und des Physischen, all dies gefasst in eine burleske Interpretation der Topik der klassischen Rhetorik, etwa wenn es um die Wertung von Eigenschaften der Person geht, welche Gegenstand der Rede wird. Lange selbst weist in einem ihrer Brindis auf ihre »inveterada aficijn por la anatom&a« hin, die sie gleichzeitig ironisch selbst in Frage stellt: »[e]n alguna posteridad cercana quiz#s se me reprochar8«43. In einer Tischrede vom 7. Nov. 1936, gerichtet an den Autor und Mitbegründer der Zeitschrift Proa, Pablo Rojas Paz, erläutert sie ihren Penchant zur literarischen Vivisektion und stilisiert sich folgendermaßen zur unbarmherzigen Chirurgin einer besonderen Spezies menschlicher »Zell-Konglomerate«, der Dichter : Etimoljgicamente, la anatom&a implica el demorado entusiasmo de separar, por medio de instrumento –y no por mera distraccijn– , las diversas partes que componen un ser despierto, con el ambiguo prurito de husmear su a veces desordenada distribucijn. La literatura, o diseccijn, puede constituir ese instrumento que separe, con puntiaguda vehemencia, la porcijn m#s desnivelada del escritor o poeta, permitiendo que la posteridad seÇale, con mayor o menor criterio, la zona caracter&stica de su conglomerado humano.44

Im Unterschied zu einer dergestalt ironisch in Szene gesetzten »Innerlichkeit« ist Rojas Paz scheinbar vor allem Oberfläche (sowie auch, einem Hinweis auf derselben Seite zufolge, extravaganter Wasser-und-Whisky-Misch-Trinker45):

41 Miguel, Norah Lange: Una biograf&a, S. 169, Auslassungszeichen im Original. 42 Dieses unterliegt zumeist der humoristischen Deformation, wie in der Formulierung: »complejo de inferioridad en estado de ebullicijn« (vgl. Lange, »Estimados cong8neres«, S. 470). 43 Lange, »Estimados cong8neres«, S. 390. 44 Lange, »Estimados cong8neres«, S. 384. 45 Ihm eignet angeblich die »conyugalidad del agua, en grandes dosis, con el alcool«, Whisky

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»escribe con toda la epidermis, con toda la superficie cut#nea, subcut#nea o intramuscular, segffln la gravedad del caso«46. Abschließend charakterisiert ihn Lange zuerst als jemanden auf der Suche nach sich selbst – »se dirige, con paso resuelto, al encuentro de si mismo« – und sodann als »el hombre que explota su envoltura, como cualquier gragea en busca de neuralgias«47. Doch wird nun – mitten in der Aporie, ob nun der Angesprochene tatsächlich als umwickeltes Drag8e auf der Suche nach einer Nervenkrankheit bezeichnet wurde – eine Einsicht als sensationell präsentiert, die ansonsten als Normalität gelten würde: auch unter dieser Oberfläche, die Lange zufolge Rojas Paz cellophanartig – ja, er ist also doch das erwähnte Drag8e – einhüllt, gilt es noch eine nicht genauer bezeichnete Substanz zu entdecken: »[e]jerciste el hero&smo de descubrir tu celof#n, de mostrarnos lo que ocultabas tras supradicha envoltura«48. Und das solchermaßen entblätterte Innere des Autors findet sich ausgelagert auf den Seiten seines Buches, zu dessen Lektüre die Rednerin mittels solch aufwändiger rhetorischer Um- und Irrwege auffordert. Die triumphierende Epidermis des Autors gerät zur grotesken Apotheose und hat darin zum Widerpart die einmütige und »id8ntica satisfaccijn epitelial«49 seiner Tischrednerin. Ähnlich mystifikatorisch verfährt Lange in der Würdigung des Karikaturisten ToÇo Salazar, die sich in verschlungenen Assoziationen auf den Nabel als abgespaltenen und gemeinhin verkannten Spiegel des menschlichen Wesens konzentriert. El ombligo, no el can, ni el caballo –como bien lo afirma ToÇo Salazar en diferentes coyunturas– , es el mejor amigo del hombre. El ombligo no constituye ninguna delincuencia, ningffln arrepentimiento, ninguna tara, ningffln esfuerzo colectivo, ninguna fidelidad costosa, y por lo tanto no creo que el pudor justifique este obstinado silencio que merodea en torno suyo.50

In einem ironischen Gedankenspiel misst sie dem Nabel, stellvertretend für die Physis als solche, psychiatrische Bedeutsamkeit zu und »untermauert« ihre Ansicht durch die Erwähnung eines angeblich real existierenden grotesken Instruments, das, wie nicht anders erwartbar, eine nordamerikanische Erfindung sein soll: ein Nabelmessgerät: »ombliogjgrafo, o bien ombligjmetro, con aptitudes fotog8nicas o de perimetraje«51. Dessen Anwendung empfiehlt sie Salazar im Scherz als Panazee zur Herbeiführung allgemeiner Gerechtigkeit, könnte er

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konsumiert er, so Lange, in »reiteradas y encomiables cantidades« (»Estimados cong8neres«, S. 387). Lange, »Estimados cong8neres«, S. 387. Ebd., S. 388. Ebd. Ebd. Ebd., S. 390. Lange, »Estimados cong8neres«, S. 390.

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damit doch – in einer nächsten skurrilen Zuschreibung und ganz in der Tradition der altehrwürdigen Säftelehre – die »afluencia del ombligo en su significado introspectivo, moral e intelectual«52 vorhersagen und den Nabel somit zu einem nach ethischen Kriterien handelnden Vernunftwesen adeln. Nicht genug damit, wird der Nabel nun in weiterer Folge mittels einer Spitzer’schen enumeracijn cajtica zum Inbegriff alles Menschlichen, von den unmittelbar anwesenden Zuhörern über allfällige feministische Extrempositionen bis hin zu Scheidungsraten und Bandenunwesen. Und nicht mehr Phrenologie oder Graphologie geben nun Auskunft über den Charakter eines Individuums, sondern ein neuer und dabei urtümlich wirkender Ritus: die Nabelbeschau. Ya sospechaba el aludido [Salazar], que la calidad del oyente, los excesos feministas, la permanencia en los records, el censo de divorcios, los gangsters, toda manifestacijn, en suma, deber&a sujetarse a la ley umbilical, no en un sentido hereditario, malhumorado e implacable, sino ateni8ndose, simplemente, a las mismas caracter&sticas ejercitadas por grafjlogos …53

Der ominöse »Umbilicograph« soll zudem auch imstande sein, mittels eines »Nabelabdrucks« (einer »impresijn umbilical« anstatt »digital«), Auskunft zu geben über das »funcionamiento temperamental« sowie auch die »reacciones de su encef#lica permeabilidad«, ja sogar über die »recovecos filat8licos« und die »afiliacijn pol&tica« einer Person54. Natürlich ist diese Physiologie, welche zivilisatorische Schutz- und Ablenkungsmechanismen außer Kraft setzt, die hyperbolische Feder Salazars, und am Ende der scheinbar deliranten Rede fügt sich alles doch noch zu einem nachvollziehbaren Bild: der Gewürdigte hat aus eigener Kraft, »sin el auxilio de complementos escurridizos, las cabezas pobladas o no [sic!, FF] de los hombres que ha caricaturizado« dargestellt, um, dem Steinschneider auf einem rätselhaften Gemälde von Hieronymus Bosch (im Museo del Prado) gleich, in »cucharadas, todas las malas y buenas intenciones« zu extrahieren55. Die Allegorie des Nabels als Inbegriff der organischen Essenz des Menschen findet ihr Echo im darauf folgenden Diskurs, gerichtet an die Adresse Oliverio Girondos: Atareada en menospreciar cualidades y actitudes que no se avengan, directamente, con determinadas menudencias, no puedo dejar de musitar, con Huxley, que el ser es org#nico en cuanto es vivo, y ya que el protoplasma es el colchjn port#til de la existencia, culpable –en los no amorfos- de un despliegue de centros en procura de in52 Ebd., S. 391. Auf derselben Seite heißt es vom Nabel, er sei gleichzusetzten mit dem Temperament als solchem. 53 Lange, »Estimados cong8neres«, S. 390. 54 Ebd., S. 391. 55 Ebd., S. 392.

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muebles, o porciones fijas, vereis cjmo dicha veracidad de ombligo para adentro ribetea de eficacia los prolegjmenos de esta hfflmeda adquisicijn insular.56

Auch wenn Lange in den Discursos,57 die sie ab November 1934 bei Zusammenkünften der Künstler- und Intellektuellen-Zirkel im Umfeld der Gruppierung Florida und deren Organ Mart&n Fierro hielt, die Sexualität und Zweideutigkeiten im Umgang mit Erotik nicht zum vorrangigen Thema ihrer konventionelle Grenzen des Panegyrikus und der Laudatio sprengenden Exkurse macht, so widmet sie sich doch in einem grotesken »modo ambivalente donde es posible que se den en equilibrio, sin conflicto y de manera irreconciliable, extremos opuestos: admiracijn y risa«58 eingehend der Physis ihrer Adressaten. Und für gewöhnlich folgt sie dabei einer Darstellungsstrategie, die Bachtin jene des »corps ouvert, non clos«59 genannt hat und die tendenziell zur Deformation des Leibes neigt. Die Autorin selbst plant, wie sie in einer Lebensrückschau gegenüber Beatriz de Nobile erklärt, die Konstruktion ihrer Exkurse überaus genau und bis ins letzte der Öffentlichkeit zumeist verborgene Detail. Dieses lässt sich, wie der Tribut an Rafael Alberti scherzhaft zu verstehen gibt, jedoch bloß mit einem an Stalking und Voyeurismus erinnernden Vorgehen ans Licht befördern, denn »toda pirueta biogr#fica exige una dilu&da persecucijn, un lubrificado ojo de cerradura«60. Andernorts spricht Lange in diesem Sinne auch einmal von der Indiskretion eines »barjmetro de captacijn minuciosa con que suel[e] agredir a escritores amigos y cuyos resultados vocifer[a]«61 und auch vom »escrutinio de […] peculiaridades anatjmico-an&micas«, um »apoyar la obra del homenajeado en una minucia hep#tica, en algffln tic hereditario«62, um schließlich ein »cuadro an&mico celular«63 eines charakteristischen Alltagsverhaltens erstellen zu können. Wie akribisch Lange bei der Ausgestaltung dieser Dimension in der Phase der Inventio verfährt, um nahe an der karikaturhaft überzeichneten Wahrheit der Tatsachen zu bleiben, erklärt sie Nobile gegenüber selbst:

56 Lange, »Estimados cong8neres«, S. 393. Bei der »hfflmeda adquisicijn insular« handelt es sich um ein von Girondo erworbenes und renoviertes Anwesen (vgl. Miguel, Norah Lange: Una biograf&a, S. 167). 57 So der Titel der ersten Ausgabe der gesammelten Reden, 1942 erschienen bei den Ediciones C.A.Y.D.E. (Buenos Aires). 58 Eduardo Urbina, »El concepto de admiratio y lo grotesco en el Quijote«, in: Cervantes: Bulletin of the Cervantes Society of America 9 (1989), S. 21. 59 Bachtin, FranÅois Rabelais, S. 336. 60 Lange, »Estimados cong8neres«, S. 452. 61 Ebd., S. 446. 62 Ebd., S. 461. 63 Ebd., S. 463.

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Escrib&a mis discursos con una semana de anticipacijn. Los preparaba bien. Por lo general indagaba la anatom&a particular del homenajeado; hasta me documentaba con consultas a un m8dico, a nuestro amigo el doctor Juan Antonio Zuccarini. A esa clase de discursos los llam8 de ›mis ensayos anatjmicos‹64. Los dec&a subida en un cajjn de vino porque me gustaba dominar a la ›multitud‹.65

Die daraus entstehende Karikatur bedeutet für Lange nicht die willentliche Herabsetzung des Porträtierten und die Präsentation seiner zum Verlachen ermunternden physischen oder charakterlichen Züge, sondern vielmehr eine Persiflage der Textsorte Festrede, denn auch wenn den Angesprochenen nachgerade Monströses unterstellt wird (nicht in allen Fällen ist dies Langes Zugang zum selbst verordneten Thema – sie kann auch überaus charmant sprechen), so ist die groteske Übertreibung stets Anlass zu allgemeiner Heiterkeit, die das »Studienobjekt« auf jeden Fall mit einschließt. Die Wirkung ist dergestalt, als befänden wir uns inmitten einer geschlossenen Bachtin’schen Narrengesellschaft, die sich kollektiv über Konventionen einer banalen Spießbürgermentalität amüsiert, indem sie deren Praktiken ins Absurde übersteigert und auf die Spitze treibt. Die bereits erwähnte Würdigung von Pablo Rojas Paz konstruiert in diesem Sinne (und ganz im Ton des Karnevalesken) Gebilde aus Körperteilen, Krankheiten und sonstigen Befindlichkeiten, »dispersos escritores que escriben con el dedo meÇique, con las rodillas, con el v8rtigo, con la claustrofobia, con la arteriosclerosis, con el esjfago, con la cintura, con la tibia y el peron8«66. Die Exempla für diesen Autoren-Typus sind gleichzeitig ein Katalog der CrHme de la crHme heimischer Avantgarde: Macedonio Fern#ndez, Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges, Conrado Nal8 Roxlo, Amado Villar, Raffll Gonz#lez TuÇjn, und andere. Von ihnen erklärt Lange mit verqueren Worten, dass ihre »premeditadas anatom&as se dislocan, de pronto, y se las encuentra en desparramadas y aut8nticas sucursales entre las p#ginas de sus libros«67. Zum Theatermann Samuel Eichelbaum assoziiert sie einen stark der Physis verhafteten »esp&ritu volc#nico«68, dem sie – nachdem sie abstrakt über vier neue Temperamente reflektiert hat – einen physischen Steckbrief nachreicht, der an Preziosität und gewollt kakophonen Binnenreimen wenig zu wünschen übrig lässt: Color del tegumeno: moreno desganado; cabellos negros, reacios al rulo pero participantes activos de toda pol8mica; sistema piloso abundante, pero no contagioso: nervios vasomotores en constante disidencia renovadora; fisionom&a resuelta e inte64 Der Ausdruck findet sich in der Würdigung von Conrado Nal8 Roxlo, vom Juli 1941 (Lange, »Estimados cong8neres«, S. 467). 65 Nobile, Palabras con Norah Lange, S. 20. 66 Lange, »Estimados cong8neres«, S. 385. 67 Ebd. 68 Ebd., S. 449.

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ligente; musculatura vigorosa y #gil, opuesta a maltratos de bicicletas y otras actividades de morondanga; v&sceras principales en pleno conocimiento del deber cumplido; h&gado en distra&do af#n de prohibicionismo …69

Das erste verfremdende Element der Rede betrifft zumeist nicht jene, denen die Tischrede gilt, sondern richtet sich in bewährter rhetorischer Tradition zumeist an und gegen die Versammelten, das Publikum.70 Durch Substantive oder Adjektive, in denen, schelmisch inszeniert, Hyperbeln und kleingeistige Missbilligung, Tugenden und Untugenden aneinander geraten und einander neutralisieren, erzeugt Lange einen nonchalanten Schwebezustand, ein Oszillieren zwischen Lob und Tadel, Bekräftigung und Autoritätsentzug, die alle weiteren Ausführungen in eine trügerisch-spielerische Atmosphäre tauchen. Das wohlkalkulierte groteske Übermaß findet sich beispielsweise in folgender Anrede anlässlich eines Banketts zu Ehren des spanischen Lyrikers Rafael Alberti, der vor der Franco-Diktatur nach Argentinien geflohen war : »Copias fidedignas de la venus capitolina,71 efebos apol&neos y dem#s trasnochadores perseverantes que prestigi#is tan colmado mantel«72. Und dem Mittelpunkt des Geschehens, dem illustren Emigranten, wird programmatisch bloß dahingehend Rechnung getragen, dass Lange eine »reseÇa dom8stico-patoljgica de sus mimentos de ocio«73 in Aussicht stellt, womit implizit Dichten als nichtiger Zeitvertreib abqualifiziert wird (was angesichts der Tragik der Ereignisse in Spanien kaum verwundert). Maskenspiel als gesellschaftliche Praxis und die eitle (Selbst-)Täuschung werden in den Anreden des Öfteren herausgestellt, etwa bei den »[a]dolescentes, adultos y otros que tambi8n os arregl#is el calendario«74, die der Ehrung Samuel Eichelbaums (24. 08. 1940, anlässlich der Premiere seines Stücks P#jaro de barro) beiwohnen. Im ersten Oliverio Girondo gewidmeten Diskurs entwickelt Lange eine fortgesetzte Allegorie, die sich am nautischen Bild einer Brigantine,75 das

69 Ebd. 70 Manchmal gilt der Seitenhieb auch der rhetorischen Tradition an sich sowie auch der Journalistenzunft, samt dem ihnen unterstellten Hang zur Floskelhaftigkeit, welche im Zerrspiegel der Groteske erscheint: »Ub&canse en torno de una mesa seis o siete acariciados por las musas, como dir&a un funesto colaborador quincenal en un momento culminante de su carrera hacia el fracaso.« (Lange, »Estimados cong8neres«, S. 447). 71 Meine Hervorhebung. Die Anspielung auf die berühmte Formel in Marinettis Manifest von 1909 ist unübersehbar. 72 Lange, »Estimados cong8neres«, S. 451. 73 Ebd. 74 Ebd., S. 446. 75 Für dieses Wassergefährt prägt Lange den re-etymologisierenden Neologismus »hjspito maderamen« (»Estimados cong8neres«, S. 374). Der Bug erscheint dabei in der Auflistung einzelner nautischer Fachtermini gleichzeitig als Anspielung auf das Konkurrenzorgan: »La proa jam#s maniobrj divergencias con los cuatro puntos cardinales« (ebd., meine Her-

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der Zeitschrift Mart&n Fierro zugeschrieben wird,76 orientiert77, als Parallele zum Motiv der Trunkenheit. Die Engführung geschieht antithetisch: das Element Wasser – »desparramado e inusual elemento«78 – ist in diesem Zusammenhang sowohl Transportmedium des Schiffes als auch »Seuche« und unbekannte Gefahr : die Trinkgenossen werden angesprochen als »estimados hifdrjfobos«79. Von ihnen hatte es zunächst geheißen, sie seien »[t]ripulantes, grumetes, n#ufragos y dem#s ingredientes«80. Das letzte Glied dieser pantagruelischen Apostrophe birgt als scheinbarer Lapsus weiterführende groteske Aspekte: es suggeriert neben real nicht existierenden Vertilgern – »ingirientes« – die Idee von Übermaß (»ingentes«) und fokussiert dabei auf die Barriere, die ein guter Schluck Alkohol – sofern ein Cocktail, aus diversen Ingredienzen bestehend – auf seinem Weg in die Blutbahn überwinden muss: das Gebiss. Das Element Wasser erscheint in Langes Reden immer wieder unerwünschte und oftmals abscheuerregende Substanz, wie etwa in der Lobrede auf den Kunstsammler Rafael A. Crespo: »te perdono esa vocacijn acu#tica que nos obligaste a profesar«81. Die Rednerin selbst hingegen bedenkt sich, zumindest verbal, als punctum nach getaner Belobigung, mit einer »hilera ilimitada de acomentidas y regocijadas copas«.82 Die Isotopie des Rauschhaften und Exzessiven durchzieht Langes Texte von Beginn weg; schon im ersten der Diskurse, dem Dichter Amado Villar (eig. Amador Villar Amor) anlässlich des Erscheinens von dessen Band Marimorena gewidmet und gehalten im November 1934, werden die Versammelten unterschiedslos als »puntuales y adictos«83 tituliert. Die in einer (hier subtil ironisierten) bürgerlichen Weltsicht diametral entgegengesetzten Begriffe implizieren Verlässlichkeit (Pünktlichkeit) samt Normenkonformität, gleichzeitig aber

76 77 78 79 80 81 82 83

vorhebung) – eine Einigkeit, die sich auch dadurch erklärt, dass in bester Trinkermanier die Brigantine Mart&n Fierro durch eine »brffljula l&quida« (ebd., S. 375) auf Kurs gehalten wird. Natürlich bringt sich Lange damit auch selbst ins Spiel, als Autorin des drei Jahre zuvor publizierten von ihr später als naiv abgetanen Romanerstlings 45 d&as y treinta marineros (Buenos Aires: Tor, 1933). Lange, »Estimados cong8neres«, S. 372. Ebd. Ebd., S. 373. Lange, »Estimados cong8neres«, S. 372. Ebd., S. 379. Ebd., S. 450. Ebd., S. 357. In einer dem schriftstellernden Vizconde de Lascano Tegui – den sie erst im letzten Absatz des Textes direkt anspricht, vorgeblich, um nicht auszuufern – gewidmeten Rede sagt sie: »Necesitar&a diez semanas para proseguir hablando de ti y de tus libros« (ebd., S. 383) und wendet sie sich an die anderen Mitfeiernden mit den Worten: »muchedumbre arrepentida y espor#dica« sowie »comensales fortuitos« (ebd., S. 380), um so scherzhaft die spärliche Zuhörerzahl und deren widerwillige oder zufällige Präsenz anzudeuten. Die von Lange konstruierte groteske Diskrepanz zwischen angeblicher Bedeutung des Geehrten und dem Desinteresse der Öffentlichkeit ist überdeutlich.

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auch Dionysisch-Orgiastisches und Unzuverlässigkeit durch Abhängigkeit. Auch diese Andeutung ist schillernd: als präjudizierende captatio benevolentiae getarnt, fordert sie die gespannte Aufmerksamkeit jener, die quasi hypnotisiert, wie Abhängige, an den Lippen der attraktiven Rednerin hängen und unterstellt ihnen gleichzeitig subtil, sie seien, dem Anlass des Zusammenseins und den Gepflogenheiten der BohHme entsprechend, bereits Opfer des Alkoholismus. Auf beide Aspekte, dem der Faszination des Vortrags und dem der gewohnheitsmäßigen Trunksucht, kommt Lange im Verlauf der Tischreden vielfach und in allen nur denkbaren Variationen zurück. Hierin wird ein Kennzeichen der karnevalesken Groteske, wie Bachtin sie anhand des Rabelais’schen Werkes herausgearbeitet und diskutiert hat, quasi in Reinform ausgedrückt: der provokant-ludische Normenbruch, gepaart mit dem Schwelgen in exzessiver Körperlichkeit. Das Leibliche als solches ist in dieser eröffnenden und somit strategisch bedeutsamen Diskurspartie nicht dominant gesetzt, doch mittelbar muss es jedenfalls mitgedacht werden: Sucht stellt fast immer eine Verbindung von psychischer und physischer Abhängigkeit dar. Dem offiziell Geehrten Amando Villar wird eingangs unterstellt, er zeichne sich durch Indolenz und Faulenzerei aus. Ein Durchdeklinieren seiner Eigenschaften, wie standardisierte Lobreden es vorsehen, würde der Rednerin zufolge äußerst reduktiv ausfallen: nämlich als »recopilacijn de consagradas haraganer&as«84, womit vor allem wiederum die Philister zur Zielscheibe des darin enthaltenen, sich mit dem dermaßen Abqualifizierten solidarisierenden Spotts, werden. Lächerlich sind Menschen, die »malsanes ep&grafes, tales como: ›el trabajo ennoblece‹, ›ganar#s el pan‹ … y otras humedades de id8ntica aridez higi8nica«85 auf ihre Fahnen heften, und auch hier zeigt sich das groteske Oxymoron am Werk. Bürgerliche Arbeitsmoral wird mittels eines impliziten Widerspruchs mit einem Bibelzitat gepaart, »hygienische Dürre« wird dem Bereich des »Feuchten« zugeordnet, wobei die Assoziation mit »humores« und der antiken Säftelehre, als Ätiologie verstanden, durchaus angebracht ist. Dass Lange ihre Hommage mit der Erwähnung eines Treffens im beliebtesten Nachtlokal ihrer Clique beginnt, steht im Einklang mit ihrer despektierlichliebevollen Herangehensweise: »Conoc& a Amado Villar en el sjtano del Royal Keller«, um sogleich, gerahmt in die tabakrauchschwangere Luft, eine karikierende Präzisierung, die zwischen Leuchtturm und Gloriole oszilliert – folgen zu lassen: »[r]odeado de poetas y vigilantes,86 el sistema respiratorio sumergido en

84 Lange, »Estimados cong8neres«, S. 357. 85 Ebd. 86 Auch hier dominiert subtiler Witz – der Hinweis erinnert an das bekannte Klischee vom Redner, der sein Publikum einschläfert; er mag auch implizieren, dass die Diskussion sich bereits über die Maßen hingezogen hat und/oder die ganze Nacht über währte.

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espesa humareda, su cabeza reluc&a con ese fulgor importante que a veces concede la prematura calvicie«87. Die Strategie der Autorin erhellt sich aus folgender Passage und ihren humoristischen, nur zum Schein negativen Implikationen, die sich den beiden »Wesensmerkmalen« Villars widmen: seiner Brille (als eine Art von Rüstung oder Schutzpanzer wesentlicher Bestandteil seiner zuvor als steif gebrandmarkten Kleidung) und zunächst noch undefinierten Blumen, die zunächst ein blindes Motiv darzustellen scheinen und erst mit einiger Verzögerung, quasi schon außer Kontext und in höchst grotesker Perspektivierung, eine mögliche Motivierung finden. Los antojos revisten – no hay por qu8 ocultarlo – un car#cter moderno y no progresivo. Consisten en telefonear a horas alejadas de cualquier intento nutritivo, a fin de cerciorarse si uno arriesgar&a r#pida excursijn para comprobar si las cerezas han perdido su gusto pajizo e inffltil; si el sambayjn affln jadea dentro de recipiente de vidrio que conoce empleos mejores. Otras veces pregona ostras a las ocho de la maÇana, en un Tropezjn donde claudica toda inquietud espiritual, despu8s de una compartida inmersijn en campechano whisky. Ante nuestro atemperado insomnio, las ostras parecen descender hasta las rodillas con una lentitud agobiadora, para desparramar en el fondo de escarmentados organismos su ojo muerto, tumbado de cataratas y untura blanca.88

Das Bouquet der eben erwähnten »flores« (Ringelblumen, Geranien, Passionsblumen, Chrysanthemen, Gladiolen und Glyzinien89) als Widerpart der »toten Augen« von zur Unzeit verschlungenen Austern wird in einer vertrackten Formulierung auf den Schluckvorgang und durch entsprechende Kontiguität auf die in den Magen beförderten Substanzen bezogen. Die Rede ist, einigermaßen hermetisch, vom descenso de ocho hermanos genuinos, mediante gamop8tala cal8ndula; introduciendo en su esjfago ese innumerable papel secante – detrimento de todo patio – intitulado geranio; o habr8is observado cjmo su garganta se incorpora ante la inoportuna claustrofobia de rezagada pasionaria que se ha equivocado de horario y decide reabrirse al contacto de alcoholizadas am&gdalas. Las noches en que su desgano no se inclina demasiado hacia floriculturas de rechupete, sjlo realiza gargarismos con uno que otro crisantemo, algun elaborado gladiolo, o deglute, sin entusiasmo, distra&do manotjn de fatigosas glicinias.90

Kurz, die Rednerin unterstellt dem Ehrengast der Zusammenkunft eine »aficijn por convertir las flores en eventual vitamina«91. Was das darob in Verwirrung 87 88 89 90 91

Lange, »Estimados cong8neres«, S. 358. Lange, »Estimados cong8neres«, S. 358. Ebd., S. 359–360. Ebd. Ebd., S. 360.

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geratene Publikum rückschließen kann, ist eine gewisse ihrerseits in ihrer Widersprüchlichkeit grotesk anmutende Vorliebe Villars sei es für Naturlyrik, sei es auch für Kräuterliköre, die eben jene Ingredienzien enthalten. In der Folge gerät der trinkfreudige Blumenfreund zum Paradoxon, bestehend aus einem steifen, wenig geselligen Eigenbrötler und einem auch zu Unzeiten auf gemeinsame Aktivitäten erpichten Liebhaber von Alkoholika – ein Hang, der scherzhaft durch eine Assoziation mit chupeta in den »floriculturas de rechupete« nicht nur – unter Gebrauch einer verniedlichenden Bachtin’schen Leibesmetapher – als erquicklich, sondern auch zugleich auch als kindlich und unreif ausgewiesen wird. Kehren wir nochmals zu den im Regelfall überraschenden, komischen und durch ihre inneren semantischen oder pragmatischen Diskrepanzen grotesken Anreden der Zuhörerschaft zurück und führen wir ein weiteres illustratives Beispiel vor Augen. In den »sfflcubos extra-chatos«92 bedenkt sich die Rednerin mit einer selbstironisch dargebotenen Litotes, wenn die sie ihre eigene angebliche Geistlosigkeit, auch angesichts sonstiger »oradores concienzudos«, als bloße »tarea gutural« (389) ausgibt, der nichts Intellektuelles, sondern bestenfalls eine auf Akustisches und Gefühlhaftes beschränkte »emocionada vocalizacijn«93, anhaftet. Zudem kondensiert dieser Brindis mehrere Bedeutungsdimensionen: ein scherzhaft diabolisches, sexuell konnotiertes Substrat, das auf den Malleus Maleficarum und eine lange misogyne Tradition des Katholizismus verweist, die diskurskonforme positive Superlativierung im Element »extra« und schließlich eine Sprachgrenzen transzendierende Ambiguität in den »chatos«. Diese beziehen sich im Spanischen sowohl auf flache Trinkgefäße und – als Enallage – auf deren Inhalt, den Wein, als auch auf eine Harnflasche für Bettlägerige,94 ist somit als Ausdruck der Feierlaune gleichzeitig ein Echo des so gar nicht mehr Mallarmeisch klingenden Toasts in Salut. Das die Po8sies von 1899 einleitende Sonett bildet bei Lange die intertextuelle Folie zahlreicher Erwähnung von Alkoholika und den von ihnen verursachten Geisteszuständen. Zur Erinnerung sei es hier angeführt: Rien, cette 8cume, vierge vers f ne d8signer que la coupe; Telle loin se noie une troupe De sirHnes mainte / l’envers. 92 Ebd., S. 398, wobei Lange als Urheber der Invektive ihren Lebensgefährten Girondo vorschiebt. 93 Ebd., S. 389. 94 Dem Diccionario de la lengua espaÇola der RAE, 22a. ed., zufolge auch ein »bac&n plano, con borde entrante y mango hueco, por donde se vac&a. Se usa como orinal de cama para los enfermos que no pueden incorporarse«. http://lema.rae.es/drae/?val=chato (letzter Zugriff: 20. 11. 2013).

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Nous naviguons, i mes divers Amis, moi d8j/ sur la poupe Vous l’avant fastueux qui coupe Le flot de foudres et d’hivers; Une ivresse belle m’engage Sans craindre mÞme son tangage De porter debout ce salut. Solitude, r8cif, 8toile f n’importe ce qui valut Le blanc souci de notre toile.95

Und schließlich klingt im Wort vermutlich auch ein brasilianischer Sprachimport an, demzufolge dasselbe »chato« einen »Langweiler« bezeichnet. Exzessiv lustige Trinkkumpanen und unvermeidliches Harnlassen hier, üble Spaßverderber da, dies alles findet sich verklammert in einem konzisen Syntagma, das die personifizierte Fastenzeit, Quaresma, und Don Carnal, den Karnevalskönig, zusammenführt.96 Hyperbolische Uneigentlichkeit ist eines der unfehlbarsten Verfahren zur Evokation des Grotesken – und dieser Lektion folgt auch Norah Lange in ihren Reden. Dem Dramatiker Eichelbaum attestiert Lange eine bühnenwirksame Wortgewalt, die auch den gemeinsamen Trinkgelagen ihren Stempel aufdrücke. Sie äußert sich in der Personifizierung von »palabras no sujetas a jornadas de ocho horas«, die jederzeit »golpean las mesas, destapan las botellas, desprenden los botones de sumisos chalecos«97, in einem burlesken Oszillieren zwischen Denotat und Bildhaftigkeit, zwischen Enthusiasmus und physischer Gewalt, zwischen Gesamteindruck und quasi-mikroskopischer Präzision (jener des »bazillösen Geschehens«). Angedeutet wird zugleich auch eine Altes und Neues verbindende Travestie des antiken löwenhaften Kämpfers und seines modernen Gegenstücks, des Leinwandhelden / la Hollywood.98 Su voz enardecida, su voz que en una sola noche conoce las cuatro estaciones del aÇo, adquiere el aspecto de un mapa en relieve. Sus rugidos de lejn Metro Goldwyn, como fortalecidos por #rnicas y otros untisales,99 rechazan toda insinuacijn afjnica, mientras sus manos piruetean con tanto acierto, originan tales corrientes de aire, que los interlocutores provistos de acontecimientos bacilosos comienzan a suponer en sus 95 St8phane Mallarm8, Œuvres complHtes, hg. von Bertrand Marchal, Tome 1, Paris: BibliothHque de la Pl8iade 1998, S. 4. 96 Zu denken ist hier natürlich auch an die »Pelea que ovo don Carnal con la Quaresma«, zu finden im Libro de buen amor des Juan Ruiz, Arcipreste de Hita. 97 Lange, »Estimados cong8neres«, S. 448. 98 Filmisch inspiriert ist auch die verbalisierte »Nahaufnahme« der Haarsträhne über dem linken Auge. 99 Ein in jenen Jahren weit verbreitetes Rheuma-Mittel.

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antagjnicos esqueletos una decidida invulnerabilidad ante el estornudo y la pleuritis. Un mechjn de cabellos, conocedor de todos los grados de inclinacijn y de sacrificio, desciende, ruidosamente, sobre su p#rpado izquierdo.100

Groteske Dimensionen nimmt das inszenierte Spektakel auch an, wenn sich der Diskurs, wie im Fall von ToÇo Salazar (Hommage vom November 1936101), an einen Karikaturisten richtet, dessen künstlerische Leistung darin besteht, groteske Überzeichnungen der Porträtierten anzufertigen und dessen Tun bei Norah Lange gewissermaßen ein sprachliches Pendant findet. Diese Wesenseigenschaft spornt die Rednerin dazu an, sich im verbalen Bereich mit dem Objekt der Hommage zu messen. Ihr zufolge umgibt Salazar eine Aura, von der nicht zu entscheiden ist, ob sie bereits innerhalb seiner Leibesgrenzen fällt oder nicht und die als »enjundiosa periferia«102 definiert und etwas später als kontingentes Phänomen unter der Charakterisierung »obra enjundiosa, tonificante«103 wieder aufgenommen wird. Eine groteske Dimension eröffnet sich in der Gleichsetzung der Physis Salazars mit einer Geo- bzw. Orographie104, die sich wie in einer Expedition erforschen und als »cierto espacio comprendido entre dis&miles caderas«105 durchqueren lässt. Und schließlich äußert sich das Groteske auch im deformierenden Gebrauch von Syntax, in der Wortbildung sowie in der Schaffung von Neologismen und befremdlichen Phrasen. Ein Beispiel liegt etwa vor in einem an Borges’ Macedonio-Fern#ndez-Paraphrase nader&a de la personalidad106 (ursprünglich ein von Schopenhauer inspirierter Ausdruck metaphysischer Uneigentlichkeit) angelehnten Terminus, der bei Lange zu »personer&as jur&dicas«107 wird. Auch eine Wendung wie der »elefanti#sico error«108 gehört in diese Kategorie. Fassen wir kurz zusammen. Immer wieder spielt Lange in ihren Reden mit einem bewährten Mittel zur Erzeugung grotesker Effekte: der monströsen und insistenten Aufblähung einer fortgesetzten Allegorie, etwa im Diskurs an die Adresse von Oliverio Girondo oder die Blumen-Isotopie in jenem für Amado Villar. Parallel dazu durchzieht die Brindis eine Spur des Exzesses, der Trunkenheit und der verzerrenden Karikierung. Letztere zeigt sich besonders deutlich in der Serie der Anreden, welche sowohl die Zielgruppe der »Geehrten« als auch die als Mitfeiernde anwesenden Sympathisanten trifft. Ganz im Geiste der 100 101 102 103 104 105 106 107 108

Lange, »Estimados cong8neres«, S. 448. Ebd., S. 389–392. Ebd., S. 389. Ebd., S. 391. Ebd., S. 389–390. Ebd., S. 390. Gemeint ist der Aufsatz »La nader&a de la pesonalidad« in Inquisiciones (1925). Ebd., S. 375. Ebd., S. 469.

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grotesken Tradition unternimmt Lange mannigfache Ausgestaltungen der grotesken Leiblichkeit und spickt diese nicht nur mit private jokes sondern auch mit rhetorischen Aberrationen, die sich in der Regel aus Litotes und Hyperbel speisen. Auch sich selbst nimmt sie dabei nicht aus der Schusslinie, wenn sie ihr stilistisch gewollt fragwürdiges Neuerungsbestreben auf die Spitze treibt (und eine Kehle etwas niederschreiben lässt): »como mi garganta es incapaz de transcribir procesos emotivos, no leo la segunda parte de este alegato porque la emocijn causa estragos en mi accidentado organismo«109. So erfüllt die Darstellungsstrategie ihren tieferen Sinn: sie lässt nichts unberührt, weder die Zielpersonen der humorvoll-absurden Ehrung noch das anwesende Publikum Gleichgesinnter noch auch die Urheberin von Ratlosigkeit, Heiterkeit oder einfach Amusement. Wie das letzte hier angemerkte Beispiel zeigt, macht die desakralisierende Karnevalisierung auch nicht vor der Politik und somit der Autorität Halt – ein Beweis mehr dafür, dass Lange intuitiv im Geiste ihres geographischen Antipoden und Zeitgenossen Bachtin dachte, handelte, schrieb und sprach.

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109 Lange, »Estimados cong8neres«, S. 466, meine Hervorhebung, in einer Hommage an Mario Liliedal, »Secretario de la Legacijn Argentina en Colombia«, Dies., S. 461–466.

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Christian Wehr

Kritische Groteske im lateinamerikanischen Diktatorenroman. Miguel Ángel Asturias: El Señor Presidente

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Diktatur und Heilsgeschichte. Zum historischen apriori des caudillismo

Der Diktatorenroman gründet wie kein anderes Genre der lateinamerikanischen Literatur in der sozialen und politischen Wirklichkeit des Subkontinentes.1 Hinter seinem großen Thema steht die schon Jahrhunderte währende Tendenz zur Terror- und Willkürherrschaft einzelner Machthaber. Für diese auffällige Affinität der lateinamerikanischen Länder zum caudillismo werden immer dieselben Ursachen genannt: postkoloniale Krisen, die Erblasten der Unabhängigkeitskriege, der Großgrundbesitz, die Armut, der Rassismus und das Kazikentum. In den literarischen Gestaltungen des Themas kehren diese Begründungen regelmäßig wieder. Nahezu alle Diktatorenromane bergen ein Substrat historischer Erfahrung. Sie sind in der Regel eindeutig auf bestimmte geschichtliche Personen und Ereignisse beziehbar.2 Diesem authentischen Kern stehen jedoch unterschiedliche Verfahren der literarischen Stilisierung und Verfremdung entgegen, die fast durchwegs Affinitäten zu den gestaltenreichen Spielarten der Groteske aufweisen: sei es in surrealistischer oder tragischer Form, als karnevaleske Gegenwelt oder in der besonderen Gestalt des magischen Realismus, der wirklichkeitstreue und übernatürliche Aspekte der erzählten Welt untrennbar verschmelzen lässt.3 1 Eine frühere Version des Textes ist publiziert in Christian Wehr, »Allegorie – Groteske – Legende: Stationen des Diktatorenromans«, in: Romanische Forschungen 117 (2005), S. 310–343, hier S. 310–317 und S. 322–331. 2 Einen enzyklopädischen Überblick zur Gattungsgeschichte gibt Julio CalviÇo Iglesias, La novela del dictador en Hispanoam8rica, Madrid 1985. Vgl. zu den allgemeinen Charakteristika des Diktatorenromans auch Bernardo Subercaseaux, »Tirano Banderas en la narrativa hispanoamericana (La novela del dictador, 1926–76)«, in: Cuadernos Hispanoamericanos 359 (1980), S. 323–340, bzw. Adriana Sandoval, Los dictadores y la dictadura en la novela hispanoamericana (1851–1978), M8xico 1989, sowie Juan Antonio Ramos, Hacia »El OtoÇo del Patriarca«: La novela del dictador en Hispanoam8rica, San Juan 1983. 3 Karnevalesk-pikareske Züge trägt etwa die Historia de Per&nclito Epaminondas von Antonio

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Dieses spannungsreiche Verhältnis von geschichtlicher Erfahrung und grotesker Verfremdung verleiht der Gattung ihre spezifische Ambivalenz.4 Es soll auch im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. Sie wollen eine verbreitete Lesart korrigieren, nach der die irrealisierenden und grotesken Tendenzen des Diktatorenromans vor allem als Reflexe traumatischer historischer Erfahrungen zu deuten sind. Gemeinhin werden die übernatürlichen und hyperbolischen Züge des Genres einer Poetik der Deformation zugerechnet, die das Unfassbare der Schreckensherrschaft unmittelbar und eindringlich zur Anschauung bringt.5 Dagegen folgen die nachstehenden Lektüren keinen wirkungsästhetischen, sondern machtanalytischen Fragestellungen. In einer solchen Perspektive sind das Surreale und das Groteske nicht nur Mittel atmosphärischer Verdichtung. Sie werden vor allem als transgressive Darstellungsverfahren hervortreten, in denen sich das irrationale Wesen des caudillismo selbst reflektiert. Der charismatische Nimbus dieser besonderen Machtform gründet letztlich – so kann vorausgeschickt werden – in einem messianischen Verständnis politischer Führung.6 Diese metaphysische Besetzung macht die spezifische Aura des caudillo aus. Sie verbürgt einen mythischen, zutiefst anachronistischen und niemals ganz objektivierbaren Kern seiner Macht. Darüber hinaus mag sie die auffällige Konstanz und Akzeptanz dieses charismatischen Herrschaftstyps in den lateinamerikanischen Ländern erklären.7

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Jos8 de Irisarri (1863). Die groteske Übersteigerung ist ein typisches Verfahren der novela del dictador. Der wirkungsmächtigste Text ist in dieser Hinsicht sicher El SeÇor Presidente von Miguel ]ngel Asturias (1946). Dem realismo m#gico sind schließlich so unterschiedliche Romane zuzuordnen wie Alejo Carpentiers El reino de este mundo (1949) oder El otoÇo del Patriarca von Gabriel Garc&a M#rquez (1975). Die immer noch prägnanteste Bestimmung der schillernden Kategorie des magischen Realismus stammt von Irlemar Chiampi, O Realismo Maravilhoso: Forma e Ideologia no Romance Hispano-Americano, S¼o Paulo 1980. Nach dem Modell von Wolf-Dieter Stempel lassen sich literarische Gattungen als Komplexionen einzelner Komponenten bestimmen (vgl. Ders., »Gibt es Textsorten?«, in: Elisabeth Gülich, Wolfgang Raible (Hg.), Textsorten, Frankfurt 1972, S. 175–182). In diesem Sinne bildet auch der Diktatorenroman, der sich über rekurrente Verfahren der Sujetfügung definiert, ein eigenständiges Genre (vgl. zu diesen stereotypen Erzählmustern Stephan Leopold, Der Roman als Verschiebung. Studien zu Mythos, Intertextualität und Narratologie in »Terra Nostra« von Carlos Fuentes, Tübingen 2003, S. 119–133). So etwa bei CalviÇo Iglesias (La novela del dictador) oder Subercaseaux (»Tirano Banderas en la narrativa hispanoamericana«). Vgl. zu den historischen Repräsentanten des charismatisch-messianischen Machttyps die geschichtlichen Untersuchungen und Überblicke von Fernando D&az D&az, Caudillos y caciques, M8xico 1972, Barry Rubin, Modern Dictators, Third World Coup-Makers, Strongmen and Populist Tyrants, New York 1987, John Lynch, Caudillos in Spanish America, 1800–1850, Oxford 1992, Daniel Chirot, Modern Tyrants: The Power and Prevalence of Evil in Our Age, New York 1994, bzw. Hugh Hamill (Hg.), Caudillos: Dictators in Spanish America, Norman 1995. Die Historiographie beschränkt sich zumeist auf eine positivistisch-ereignisgeschichtliche Begründung des caudillismo, was seine erstaunliche Okkurenz kaum hinreichend zu erklären

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Die eschatologischen Hoffnung prägt das lateinamerikanische Geschichtsverständnis seit den Anfängen der conquista, wenngleich ihre Wirkungsmacht bis weit in das 20. Jahrhundert hinein kaum gebrochen scheint. An ihrem Beginn steht die biblische Besetzung des unberührten Subkontinentes, den schon Kolumbus zum neuentdeckten Garten Eden erklärt.8 Diese christliche Hermeneutik dient jedoch nicht nur der kulturellen Vereinnahmung des Fremden, sondern auch den Profilierungen des Eigenen. Sie manifestiert sich besonders augenfällig in den messianischen Überhöhungen der nachfolgenden Entdecker und Eroberer, die seit den ersten Tagen der conquista zu Heilsbringern und Verkündern des wahren Glaubens stilisiert werden.9 Es trägt entscheidend zur schnellen Durchsetzung dieses eschatologischen Führungsanspruches bei, dass er sich biblisch mehrfach legitimieren lässt. So stimulierten die Entdeckungen und ihre vorgebliche christliche Legitimität ein hypertrophes Sendungsbewusstsein, das durch die barbarischen Eskalationen der weiteren Kolonisierung jedoch schnell und unwiderruflich gebrochen wurde. Die Verkünder der Erlösungsbotschaft erwiesen sich als grausame Unterdrücker, die göttliche Providenz als weltliche Kontingenz, die vermeintliche Parusie als Terror. So entsteht eine enttäuschte Endzeithoffnung, die – nach der prägnanten Formel Mariano Delgados – einen »Überschuss an Messianismus«10 hinterlässt. Damit ist eine hartnäckig persistierende Heilserwartung benannt, die sich gerade aufgrund der verweigerten Erfüllung in antagonistischen, zutiefst widersprüchlichen Zyklen fortsetzt: Da die providentielle Hoffnung permanent widerlegt und durchkreuzt wird, kann sie sich an immer neuen Projektionsfiguren entzünden. So treibt das kollektive Trauma der conquista einen heilstheologischen Diskurs hervor, der von Beginn an im Zeichen einer paradoxen Negation seiner selbst steht. Seine inneren Wivermag. Eine Ausnahme bildet die kulturgeschichtliche Studie von Georg Eickhoff. Sie führt den besonderen Machttyp des caudillo in überzeugender Weise auf religiöse Begründungen politischer Herrschaft zurück (vgl. Ders., Das Charisma der Caudillos. C#rdenas, Franco, Perjn, Frankfurt 1999). 8 Insbesondere in Kolumbus’ Carta a los reyes vom 31. 8. 1498. Vgl. hierzu auch Tzvetan Todorov, La conquÞte de l’Am8rique. La question de l’autre, Paris 1982, S. 23ff., oder – vor allem im Hinblick auf die Konsequenzen der enttäuschten Paradieserwartung – Kirkpatrick Sale, Das verlorene Paradies. Christoph Columbus und die Folgen, München/Leipzig 1991. 9 Vgl. zu Kolumbus’ heilsgeschichtlicher Stilisierung aus der Perspektive eines bedeutenden Zeitgenossen Fray Bartolom8 de las Casas, Obras escogidas I, Madrid 1957, S. 229–232. Das missionarische Selbstverständnis der Eroberer fand bemerkenswerte Entsprechungen in den Verkündigungslehren indigener Bevölkerungen. So wurde etwa die Ankunft der Spanier auch auf Seiten der Azteken prädestinatorisch gedeutet, was maßgeblich zu Cort8s’ schnellem Sieg beitrug. Vgl. hierzu Tzvetan Todorov, La conquÞte de l’Am8rique, S. 69–103. 10 Welche historischen und geographischen Projektionsflächen dieser Überschuss fand, vollzieht Delgado in den verschiedenen Kapiteln seiner einschlägigen Untersuchung über Die Metamorphosen des Messianismus in den iberischen Kulturen nach.

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dersprüche artikulieren sich in einem ganzen Repertoire oxymoraler Formeln. Eine der prägnantesten stilisiert die Eroberung nachträglich zum »segundo pecado original«, zum zweiten Sündenfall, wie Hector Murena in einem einflussreichen Essay formuliert.11 Die beherrschende Instanz dieses korrumpierten Paradieses ist die paradoxe Figur des bösen Gottes.12 Sie opfert den Sohn, der zur Allegorie der unterdrückten Völker wird, in einem grausamen, sinnlos gewordenen Akt, der in keine Erlösung mehr führt und jede metaphysische Legitimation verloren hat.13 Diese Anthropologie des Opfers ist in der lateinamerikanischen Identitätsfrage allgegenwärtig. Sie liefert ein allegorisches Dispositiv, das vielfältige Überschreibungen der Macht- und Lebensverhältnisse eröffnet. Ihr Fluchtpunkt ist die biblische Besetzung – und damit auch die metaphysische Legitimation – einer kolonialen Herrenmoral: Großgrundbesitzer und politische Führer erscheinen als böse Götter, die ihre Untergebenen dem Profit und der Machterhaltung opfern.14 Die Allgegenwärtigkeit dieser mythischen Identifizierungen und allegorischen Codes erlaubt es, von einer regelrechten »Sakralisierung« der Unterdrückungsverhältnisse zu sprechen. Im caudillismo, der politischen Spielart des »messianischen Überschusses«, verdichten sich derartige Stilisierungen auf besonders intrikate und folgenreiche Weise.15 So umgibt die lateinamerikanischen Diktatoren immer wieder der charismatische Nimbus von bösen Göttern, die über eine Hölle auf Erden herrschen.16 Der Historiker Georg Eickhoff hat in dieser Perspektive die biblisch-archaischen Begründungen des caudillismo deutlich gemacht. So schei11 Vgl. Hector A. Murena, El pecado original de Am8rica, Buenos Aires 1965, S. 156. Vgl. zur Bedeutung des Essays im Rahmen der lateinamerikanischen Identitätsdiskussion auch Wolfgang Matzat, »Conquista und diskontinuierliche Geschichte: Alternative Identitätsentwürfe in der argentinischen Essayistik«, in: Ders., Lateinamerikanische Identitätsentwürfe: Essayistische Reflexion und narrative Inszenierung, Tübingen 1996, S. 49–58, bzw. Ders., »Der lateinamerikanische Roman zwischen Geschichtsentwurf und Negation der Geschichte: Zum Thema der soledad bei Ernesto S#bato und Gabriel Garc&a M#rquez«, in: Iberoromania 36 (1992), S. 73–94, v. a. S. 76f. 12 Vgl. Wolf Lustig, Christliche Symbolik und Christentum im spanischamerikanischen Roman des 20. Jahrhunderts, Frankfurt 1989, S. 38ff. 13 Die christologische Identifizierung der gepeinigten Urvölker mit dem leidenden Jesus geht bis in das 16. Jahrhundert zurück. Vgl. etwa Bartolom8 de las Casas, Obras escogidas II: Historia de las Indias, Madrid 1957, S. 511. 14 Vgl. hierzu – mit vielen weiterführenden Literaturverweisen – Hans-Jürgen Prien: Die Geschichte des Christentums in Lateinamerika, Göttingen 1978, S. 293ff. 15 Vgl. zum politischen Messianismus Delgado, Die Metamorphosen des Messianismus, S. 111, bzw. Jacques Lafaye, Mez&as, cruzadas, utop&as: El jud8o–cristianismo en las sociedades ib8ricas, M8xico 1984. 16 Bernardo Subercaseaux spricht in diesem Zusammenhang von der Diktatur als »cielo al rev8s« bzw. vom Diktator als »Dios al rev8s«. Vgl. Ders.: »Tirano Banderas en la narrativa hispanoamericana«, S. 327 sowie S. 338.

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nen sich die Erblasten der conquista – also das verratene Heilsversprechen sowie das doppelte Gesicht seiner Verkünder – selbst nach Jahrhunderten auf schicksalshafte Weise fortzusetzen. Auch in der nachkolonialen Ära lässt die Janusköpfigkeit von messianischer Überhöhung und diabolischer Grausamkeit viele caudillos wie späte Figurationen der frühen Eroberer erscheinen. Diese korrumpierte und invertierte Heilstheologie soll, als kulturgeschichtliches apriori der lateinamerikanischen Diktaturen, auch im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. Sie möchten die Groteske als Stilmittel herausstellen, in der sich die antagonistische Besetzung der caudillos zwischen Messianismus und Terror, zwischen Heilsgeschichte und Verdammung auf besondere Weise verdichtet. Vor diesem Hintergrund gewinnt der Diktatorenroman eine kritische Dimension, die in einem beinahe kantianischen Sinne lesbar wird: Er setzt die Groteske nicht nur als Mittel der atmosphärischen Verdichtung ein, sondern auch als stilistisches Medium, das auf die strukturellen Wiedersprüche und Anachronismen des caudillismo selbst verweist. Dies ließe sich an den wichtigsten Texten der Gattungsgeschichte des Diktatorenromans durchgehend deutlich machen, darunter Esteban Echevarr&as El matadero (1871), Ramjn del Valle-Incl#ns Tirano Banderas (1926), Miguel Angel Asturias’ El SeÇor Presidente (1946), Alejo Carpentiers El reino de este mundo (1949) und Gabriel Garc&a M#rquez’ El otoÇo del Patriarca (1975). Im folgenden beschränke ich mich auf die Lektüre eines wegweisenden Textes: Miguel ]ngel Asturias’ El SeÇor Presidente.

2.

Miguel Ángel Asturias: El Señor Presidente (1946)

2.1.

Die verbotene Pforte

Der Roman entstand im Pariser Exil des Autors, vor allem während der 1920er Jahre. Das historische Vorbild für den titelgebenden Präsidenten ist der Caudillo Estrada Cabrera. Er herrschte in Guatemala von 1898–1920. Asturias kannte diese Zeit aus eigener Erfahrung. Dennoch ist der Bezug nur erahnbar. Die Figur des Tyrannen erscheint blass, konturenlos, nahezu entpersonalisiert. Sie steht gewissermaßen für den Prototyp des Diktators schlechthin; ein Darstellungsprinzip, das in der weiteren Gattungsentwicklung Schule machen wird. Der Roman beginnt mit der Schilderung eines zufälligen Mordes. Vor dem Portal einer Kathedrale – die Stadt bleibt ungenannt – tötet ein geistesschwacher Bettler im Affekt den Major Parales. Fatalerweise handelt es sich dabei um den Lieblingsschergen des Präsidenten, und so löst das Ereignis im weiteren Verlauf der Handlung eine ganze Lawine der Gewalt aus. Der Mord dient dem Diktator als willkommener Vorwand einer umfassenden Säuberungsaktion, in deren Verlauf

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zwei seiner nächststehenden, aber in Ungnade gefallenen Günstlinge denunziert und eliminiert werden. Schon in Echevarr&as El matadero begegnet eine Tendenz zur blutigen Groteske, zur Hyperbolik und zur affektischen Unmittelbarkeit. All dies kennzeichnet auch den Roman von Asturias. Es wird dort aber in einer Weise gesteigert, die Effekte einer nahezu surrealistischen Verfremdung schafft und bereits Verfahren des magischen Realismus erkennen lässt, die dann in Hombres de Ma&z mit aller Deutlichkeit zutage treten.17 Die Form der Darstellung verrät auch die Nähe zu einem weiteren wichtigen Diktatorenroman: Tirano Banderas des Spaniers Ramjn del Valle-Incl#n aus dem Jahre 1926, der unter dem Einfluß einer Mexikoreise entstand. Der Text steht ganz im Zeichen des esperpento, der vom Autor selbst so genannten Ästhetik der grotesken Deformation. In Asturias’ Roman schafft dieses Darstellungsprinzip eine paranoid-alptraumhafte Stimmung, die zwischen detailgenauem Realismus und hemmungsloser Übertreibung eine virtuose Balance hält.18 Die wichtigste Parallele zu Echevarr&a ist schließlich in der Inszenierung heilsgeschichtlicher Bezüge zu sehen. Sie kann bereits am zentralen Schauplatz der Handlung und seiner versteckten Symbolik belegt werden. Gemeint ist der Portal del SeÇor, also die Pforte der Kathedrale, vor der die initiale Bluttat geschieht.19 Weitere wichtige Ereignisse und Peripetien finden hier statt. So steht das Portal unter strengster Bewachung. Es ist darüber hinaus der Ort konspirativer Gespräche, vor allem aber eines zweiten Mordes: Vor der Kirche wird der debile Mörder des Major Parales regelrecht exekutiert. Zwischenzeitlich wird die Pforte dann restauriert und mit bunten Malereien versehen, um die hässlichen Vorfälle im wörtlichen Sinne zu übertünchen. Der Epilog des Romans verrät schließlich, dass sie auf offizielles Geheiß niedergerissen wurde. Der Ort des primären Verbrechens kehrt also auf nahezu obsessive Weise wieder. Er bildet ein Gravitationszentrum der dargestellten Welt, zu dem der Leser immer wieder zurückgeführt wird. Man kann der assoziativen Dichte des Motives nur dann gerecht werden, wenn man die archaische Symbolik des Kirchenbaus in Anschlag bringt. Sie 17 Asturias verfasste den Roman unter dem unmittelbaren Einfluss des französischen Surrealismus. Vgl. hierzu Marc Cheymol, Miguel Angel Asturias dans le Paris des ann8es folles, Grenoble 1987; Daniel Campion, »Eye of glass, eye of truth: Surrealism in El SeÇor Presidente«, in: Hispanic Journal 3 (1981), S. 123–135 und Miguel Antonio Arango, El surrealismo, elemento estructural en »Leyendas de Guatemala« y »El SeÇor Presidente« de Miguel ]ngel Asturias, Bogot# 1990. 18 Wenngleich der Tirano Banderas in der Regel als Prätext zu El SeÇor Presidente betrachtet wird, so betonte Asturias selbst, dass sein Roman bereits vor dem Werk Valle-Incl#ns entstand. Vgl. hierzu die Introduccijn von Alejandro Lano[l-d’Aussenac in: Miguel ]ngel Asturias: El SeÇor Presidente, Madrid 2001, S. 9–97, hier S. 28. 19 Bereits das erste Kapitel des Romans trägt den Titel En el Portal del SeÇor.

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leitet sich letztlich vom alttestamentlichen Motiv des Tempels und seinen allegorischen Deutungen her. In diesem Sinne verweist das Kirchenschiff auf die Himmelsstadt Jerusalem und das Portal auf den Himmelseingang, die porta coeli.20 Geht man nun von einer impliziten Aktualisierung dieser sekundären Bedeutungen innerhalb des Romans aus, dann stellt sich eine ganze Vielzahl von Bezügen her. Das verschlossene Portal wird nämlich lesbar als allegorische Pforte des Paradieses. Die Tatsache, dass dieses Tor unpassierbar ist, verweist damit auf die Situation nach dem Sündenfall. So ist bereits der zentrale Schauplatz des Romans bildlich auf ein Geschichtsverständnis beziehbar, das sich auch in Echeverr&as El matadero abzeichnet: Die mythische Stilisierung der nachkolumbianischen Zeit als Ära eines zweiten Sündenfalls, aus der es keine Erlösung mehr gibt. Asturias gestaltet diesen Bezug hintergründig, aber unverkennbar. Die anfängliche Bluttat löst sukzessive eine ganze Flut des Bösen aus, die den Rückweg für immer versperrt. Derartige Besetzungen vertiefen sich noch in vielfältiger Weise. Selbst, wenn die Pforte passierbar wäre, so wird suggeriert, dann stünde in einer transzendenzlosen Welt hinter ihr nichts anderes als davor. Dies zeigt sich in einer ganzen Reihe von suggestiven Spiegelungen und Analogien. So kommt im weiteren Verlauf des Textes eine andere Pforte ins Spiel, die geradewegs in die Hölle führt: Das Tor des Regierungspalastes wird vom Erzähler zynisch »puerta de la augusta residencia«21 genannt. Es bleibt der hilfesuchenden Frau des gefolterten und hingerichteten Rechtsgelehrten Carvajal verschlossen, die verzweifelt Einlass begehrt, um für ihren Mann zu bitten.

2.2.

Der caudillo als böser Gott: groteske Allegorien

Diese allegorischen Besetzungen der Räume setzen sich in komplementären Stilisierungen des Personals fort. Auch bei Asturias begegnet die grotesk-paradoxe Heiligung der Tyrannei. Sie nimmt vor allem in der Rolle des Diktators als böser Gott Gestalt an.22 In einem programmatischen Essay mit dem Titel »El SeÇor Presidente como mito« bringt Asturias diese religiöse Besetzung auch argumentativ auf den Punkt. Der Schlüssel zum Mythos des Diktators sei letztlich darin zu sehen, so heißt es dort, dass er am »Sakralen der Autorität« partizipiere.23 Im Roman kommt diese Rolle des patriarchalischen Herrschers, 20 Vgl. Horst Jantzen, Kunst der Gotik. Klassische Kathedralen Frankreichs: Chartres, Reims, Amiens, Berlin 1987, S. 154f. 21 Asturias, El SeÇor Presidente, S. 331. 22 Vgl. Prien, Die Geschichte des Christentums in Lateinamerika, S. 293ff., bzw. Lustig, Christliche Symbolik und Christentum im spanischamerikanischen Roman, S. 38ff. 23 Miguel ]ngel Asturias: »El SeÇor Presidente como mito«, in: El SeÇor Presidente, Madrid

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der den leidenden Sohn – und damit allegorice das Volk – opfert, in einer emblematisch verdichteten Szene zum Ausdruck. Am Gründonnerstag betrachtet der Präsident eine Prozession, die vor dem Balkon der »augusta residencia« vorüberzieht: Por este camino fueron las im#genes de Jesffls y la Virgen de Dolores un jueves santo. Las jaur&as, entristecidas por la mfflsica de las trompetas, aullaron al pasar la procesijn delante del Presidente, asomado a un balcjn bajo toldo de tapices mashentos y flores de buganvilla. Jesffls pasj vencido bajo el peso del madero frente al C8sar y al C8sar se volvieron admirados hombres y mujeres. No fue mucho el sufrir, no fue mucho el llorar hora tras hora, no fue mucho el que familias y ciudades envejecieran de pena; para aumentar el escarnio era preciso que a los ojos del SeÇor Presidente cruzara la imagen de Cristo en agon&a, y pasj con los ojos nublados bajo un palio de oro que era infamia, entre filas de monigotes, al redoble de mfflsicas paganas. El carruaje se detuvo a la puerta de la augusta residencia.24

Hinter dem christlichen Prozessionszug konstituiert sich hier auf allegorischer Ebene versteckt, aber unverkennbar ein heidnisch-antiker Triumphzug. Der Präsident erscheint als Cäsar und antiker Feldherr, der vom erhabenen Standort auf die Vorüberziehenden hinabblickt. Dadurch gewinnt die hintergründige Begegnung des Herrschers mit seinem Volk eine aggressive, kriegerische Qualität. Sie wird auch als bildhaft-groteske Konfrontation zwischen einer geschlagenen Nation und dem siegreichen Triumphator dargestellt, der die Unterlegenen in einer Geste der Demütigung öffentlich zur Schau stellt. Dass in der Prozession Statuen des sterbenden Jesus und der leidenden Gottesmutter getragen werden, stiftet in diesem Zusammenhang wiederum verschiedene allegorische Sinneffekte. Der auffälligste besteht darin, dass sich der Diktator als imaginärer Bezwinger des Erlösers selbst, des Gottes der Unterdrückten, in Szene setzt. Die messianische Besetzung des caudillismo wird mit dieser Bildlichkeit dissoziiert. Sie spaltet sich in zwei Instanzen auf: einmal in den bösen, opfernden Vatergott, dessen komplementäre imago die des Cäsars ist, und zum anderen in den geopferten Sohn, der als Figuration des gepeinigten Volkes erscheint. Ein weiteres Mal wird in diesen emblematischen Posen die kulturhistorische Genese des caudillismo evoziert, also seine Begründung in einer pervertierten und verratenen Heilstheologie. Darüber hinaus stellt sich über das feierliche Nachschreiten der christlichen Passion – und hierin liegt ja der zeremonielle Ursprung jeder Prozession – eine 2001, S. 417–428, hier S. 425. Dort wird die Grausamkeit des Präsidenten auch auf das Vorbild präkolumbianischer Gottheiten bezogen, die blutige Menschenopfer verlangten (vgl. hierzu Teresita Rodr&guez, La problem#tica de la identitad en »El SeÇor Presidente« de Miguel ]ngel Asturias, Amsterdam 1989, S. 43–48). Im Zentrum der folgenden Deutung wird jedoch der – meines Erachtens – ungleich wichtigere christliche Subtext stehen. 24 Asturias, El SeÇor Presidente, S. 331.

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unmittelbare identifikatorische Beziehung zu den Marschierenden her. Das rituelle Begehen des Leidensweges dient somit nicht nur einer performativen Vergegenwärtigung der Kreuzigungsgeschichte.25 Es ist zugleich, wie insistierend betont wird, eine Zustandsbeschreibung ganzer Familien und Städte. Auf diese Weise werden die Prozession und ihr liturgischer Anlass, die Karwoche, aktualisiert und metonymisch auf die gegenwärtige Situation des gesamten Volkes geöffnet. Dessen Embleme sind der sterbende Erlöser und die mater dolorosa. Auch hier bleibt ein theologisches Substrat, das die imitatio Christi seit jeher als Weg des Nachleidens versteht, unzweifelhaft gewahrt. Die Agonie des Volkes wird durch diese christologischen Konnotationen jedoch keineswegs nobilitiert. Sie erscheint vielmehr in einem schonungslos realistischen, ausweglosen Licht, das an keine Erlösung mehr denken lässt.26 Wiederum offenbart sich hier die fundamentale Paradoxierung heilstheologischer Bezüge zur Groteske. Sie resultiert nicht zuletzt aus der Engführung einer widersprüchlichen Semantik: Allegorische Enthebung und nüchterne Wirklichkeitstreue, erhabener Anlass und trostlose Begehung, kirchlicher Festtag und heidnische Entgleisung bilden die Hauptgegensätze. Dabei ist die Passage trotz ihrer evasiven Bildlichkeit organisch in den Zusammenhang der Handlung integriert: Vor und nach der Beschreibung der Prozession wird erzählt, wie die Frau des Juristen Carvajal – der zu diesem Zeitpunkt bereits hingerichtet ist – verzweifelt versucht, Einlass in den Präsidentenpalast zu finden, um das Schicksal ihres Mannes in Erfahrung zu bringen. Das allgegenwärtige Thema des sinnlosen Opfers bestimmt also die Handlungsebene ebenso wie die allegorische Überformung der erzählten Welt. Bildliche Stilisierung und konkretes Exempel stehen in einem komplementären Verhältnis. Die Dynamik der doppelten Kodierung greift auch auf die örtliche Spezifizierung der Situation über. Deren theatralische Züge sind unübersehbar : Der Balkon des Präsidentenpalastes erscheint als Ort des Zuschauers, der davorliegende Platz als Bühne einer vorbeiziehenden Prozession. Die politische Symbolik dieses Szenarios erschließt sich vor allem vom Ort des Balkons her, der in der Geschichte des caudillismo allgegenwärtig ist: Dort findet die Akklamation des Alleinherrschers, die Einsetzung seiner Macht statt, dort präsentiert er sich den Massen und ist ihnen, im exponierten Grenzbereich zwischen innen und 25 Vgl. zu den performativen Aspekten der Prozessionskultur in kulturhistorischer Perspektive Ulrike Sprenger, »Gehen und Stehen. Zu Prozessionskultur und Legendenbildung im Spanien der Frühen Neuzeit«, in: Wolfram Nitsch, Bernhard Teuber (Hg.), Vom Flugblatt zum Feuilleton – Mediengebrauch und ästhetische Anthropologie in historischer Perspektive, Tübingen 2002, 97–12. 26 Vgl. hierzu auch die wiederholte Rede vom »pueblo […] condenado a la esclavitud y al vicio.« (Asturias, El SeÇor Presidente, S. 166) bzw. die bittere »poema de las generaciones sacrificadas« (S. 314f.).

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außen, dennoch enthoben.27 Georg Eickhoff hat in seiner Studie über den caudillismo die biblischen Wurzeln dieser performativen Gesten nachgewiesen. Zwar zitiert Asturias diese Gründungsszene der Diktatur unverkennbar an. Im selben Zug verzerrt er sie aber zur bitteren Groteske, denn statt der akklamierenden Menge versammelt sich das erniedrigte und verwahrloste Volk. Darüber hinaus wird der Diktator in einem nahezu spiegelbildlichen Arrangement mit der vorbeiziehenden Jesusstatue konfrontiert. Die räumliche Symmetrie bringt ein spekulares Verhältnis von politischem Führer und religiösem Erlöser zur Anschauung, das zum festen Bilderrepertoire lateinamerikanischer Diktaturen gehört. Es ist auf verschiedene, durchaus widersprüchliche Weise besetzbar. Einerseits ist die imaginäre Entsprechung identifikatorischer Natur, da sie der messianischen Überhöhung des caudillo Ausdruck verleiht. So wird der Präsident in einer weiteren Balkonszene auch explizit mit Jesus verglichen.28 Zum anderen ist die Christusfigur aber, wie zu sehen war, ebenso Emblem eines leidenden Volkes, das vom bösen Vatergott – der Allegorie des Herrschers – verlassen wurde. Auch diese Rollenverteilung begegnet im Roman immer wieder ; so etwa im sprichwörtlich wiederkehrenden Vergleich gefolterter Gefangener mit dem Gekreuzigten,29 vor allem aber in der grotesken Geschichte des blinden und schwachsinnigen Bettlers Pelele, der im ersten Kapitel den General Canales vor dem Portal der Kathedrale tötet. Auf seiner kopflosen, panischen Flucht wird er mit grausamen Verhöhnungen bedacht. Sie imitieren sein eigenes, kaum artikuliertes Gestammel und überführen es lautmalerisch in die Initialen des gleichfalls spöttischen Titels, welcher in der Passionsgeschichte dem Gekreuzigten verliehen wird: »¡I–N–R–Idiota! ¡I–N–R–Idiota!«30 Die Leidensgeschichte des Bettlers, die als regelrechter Stationenweg gestaltet ist, endet schließlich vor dem symbolträchtigen Portal der Kathedrale, wo er im Auftrag des Präsidenten exekutiert wird. Dass es eine Welt hinter der Pforte überhaupt gibt – und dass sie letztlich nur das Spiegelbild der äußeren Hölle ist – scheint einzig an dieser Stelle auf. Hinter dem Fenster des angrenzenden Palastes steht der Erzbischof. Er beobachtet die Hinrichtung des Bettlers und erteilt ihm die Absolution. Dabei wird sein Verhalten in beißendem Sarkasmus als feige Zurückhaltung lesbar, und seine vordergründig fromme Geste der Absolution erscheint in perfider Verkehrung als Sanktionierung des Bösen: Y nadie vio nada, pero en una de las ventanas del Palacio Arzobispal, los ojos de un santo ayudaban a bien morir al infortunado y en el momento en que su cuerpo rodaba 27 Vgl. zum Szenario der Akklamation Eickhoff, Das Charisma der Caudillos, passim. 28 »– El pueblo lo reclama en el balcjn, SeÇor Presidente! […] ¡Como Jesffls, hijo del pueblo …« (Asturias, El SeÇor Presidente, S. 207). 29 Asturias, El SeÇor Presidente, S. 212f. 30 Asturias, El SeÇor Presidente, S. 128.

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por las gradas, su mano con esposa de amatista, le absolv&a abri8ndole el Reino de Dios.31

2.3.

Verlorene Paradiese: der caudillismo als Sündenfall

Noch kurz vor seiner Exekution begegnet dem blinden Bettler die rechte Hand des Präsidenten. Er wird Cara de ]ngel genannt, da er von Gestalt und Erscheinung »bello y malo como Sat#n«32 ist, wie der Erzähler beständig hervorhebt. Namensgebung und Charakterisierung der Figur fügen sich konsequent in den heilstheologischen Subtext des Romans ein. So wie die biblischen Engel (und die platonischen Dämonen) Mittler zwischen Himmel und Erde sind, so hat Cara de ]ngel offenen Zugang zum Reich des bösen Gottes, findet aber auch den Kontakt zum einfachen Volk. Ihm wird letztlich zum Verhängnis, dass er sich in Camila Canales verliebt, die Tochter jenes Generals, den der Diktator in einer lang arrangierten Intrige aus dem Weg räumen möchte. Die vieldeutige Geschichte dieser besonderen Beziehung ist jedoch nicht nur auf der konkreten Handlungsebene mit der Hauptfigur verwoben. Schließlich bedeutet der unwiderstehliche Drang, diese Liebe zu verwirklichen, auch eine Auflehnung gegen den Präsidenten. Dies kommt auf allegorischer Ebene der Rebellion Luzifers gegen Gott gleich (auch das klingt im vieldeutig schillernden Beinamen der Figur an).33 So erscheint es nur konsequent, wenn das Scheitern der riskanten Beziehung ein weiteres Mal als Sündenfall in Szene gesetzt wird. Die Liebesgeschichte gewinnt dadurch tragische, schicksalshafte, nahezu heroische Züge. Nach der heimlichen Heirat verbringt das Paar einige einsame Tage an einem abgelegenen See, inmitten einer Natur, die deutliche Merkmale des biblischen Paradieses trägt. Die Zimmer der Hütte, die beide bewohnen, sind durch eine Tür verbunden, die »puerta del cielo« genannt wird.34 Ein weiteres Mal scheint hier die rekurrente Symbolik der Himmelspforte durch. Sie greift nunmehr auf eine Stilisierung des privaten Glückes zum Garten Eden über. Dass auch hier die Zeit befristet ist und eine unvermeidliche Vertreibung droht, zeigt ein Erzählerkommentar an, der von großer atmosphärischer und bildlicher Dichte ist: – Si el azar no nos hubiera juntado … – sol&an decirse. Y les daba tanto miedo haber corrido este peligro, que si estaban separados se buscaban, si se ve&an cerca se abra31 Asturias, El SeÇor Presidente, S. 160. 32 Dies geschieht zum ersten Mal auf S. 144. Hier wird schon das erste Auftreten zur Erscheinung eines Engels stilisiert. Es findet im dritten Kapitel des Romans statt, das auch »Cara de ]ngel« überschrieben ist (vgl. Asturias, El SeÇor Presidente, S. 135). 33 Vgl. Lustig, Christliche Symbolik und Christentum im spanischamerikanischen Roman, S. 99. 34 Asturias, El SeÇor Presidente, S. 351.

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zaban, si se ten&an en los brazos se estrechaban y adem#s de estrecharse se besaban y adem#s de besarse se miraban y al mirarse unidos se encontraban tan claros, tan dichosos, que ca&an en una transparente falta de memoria, en feliz concierto con los #rboles reci8n inflados de aire vegetal verde, y con los pedacitos de carne envueltos en plumas de colores que volaban m#s ligero que el eco. Pero las serpientes estudiaron el caso. Si el azar no los hubiera juntado, ¿ser&an dichosos? … Se sacj a licitacijn pfflblica en las tinieblas la demolicijn del inffltil encanto del Para&so y empezj el acecho de las sombras, vacuna de culpa hfflmeda, a enraizar en la voz vaga de las dudas y el calendario a tejer telaraÇas en las esquinas del tiempo.35

Die biblische Symbolik des Gartens ist überdeutlich. So wird auch hier die Idylle von einer drohenden Vertreibung überschattet, die sich in vielschichtiger Analogie zum Buch Genesis konstituiert: als Folge einer schuldhaften erotischen Versuchung, als boshafte List der Schlange, aber auch als Fall in die Zeit (der Zeitlosigkeit des Paradieses, dem ewigen Augenblick entspricht hier die Abwesenheit der Erinnerung). Eine zweite alttestamentliche Besetzung kommt mit der Kapitelüberschrift ins Spiel, die schlicht Cancijn de cancijnes lautet. Sie verstärkt die erotischen und spirituellen Konnotation der Paradiesenklave: Auch die Liebesgeschichte des Hoheliedes findet ja in einem orientalischen Garten statt, dessen sensus allegoricus seit jeher mit dem Paradies identifiziert wurde.36 Hinter dieser Fülle biblischer und mystischer Allusionen werden die theologischen Kausalitäten jedoch auf perfide Weise umgedeutet. Cara de ]ngels Treuebruch gegenüber dem Präsidenten, seine Verbindung mit Camila öffnet zwar für kurze Zeit die Paradiespforte. Sie führt aber zugleich in die unausweichliche Vertreibung: Hinter den Schlangen, die als traditionelle Figurationen des Bösen den »Fall abwägen«, stehen die allgegenwärtigen Spione des Diktators, wie sich wenig später zeigen wird. So steht die Paradiesepisode im Zeichen einer doppelten Paradoxie: Der Sündenfall gründet in einer Rebellion gegen das Böse, die ein abtrünniger Handlanger des Diabolischen selbst initiierte. Damit wird auch die Geschichte von Luzifers Höllensturz – Cara de ]ngels satanische Erscheinung weist ihn ja als gefallenen Engel aus37 – umgedeutet. Vielleicht of35 Asturias, El SeÇor Presidente, S. 356. 36 Dass der Präsident wenig später auf einem Regierungsball das Hohelied öffentlich vortragen lässt, zeigt zweierlei an: Er weiß vom Treuebruch seines Günstlings und macht zugleich deutlich, dass auch dieses Paradies bereits gefallen ist und seinem Einflussbereich untersteht (S. 362f.). 37 Cara de ]ngels bildliche Stilisierung zum gefallenen, bösen Engel greift auch auf Camila über. Ihr erster Auftritt wird vom Erzähler mit dem Kommentar begleitet, sie sei »como llovida del cielo« (S. 149). In einem Alptraum Cara de ]ngels wird sie gar zum Fronleichnamsfest in kleine Stücke zerteilt (S. 293). Hier findet eine weitere Identifizierung mit dem messianischen Opfer statt, die den Erlösungsgedanken radikal kappt: Liturgischer Anlass und religiöser Sinn des Corpus Christi (die sakramentale Einsetzung von Leib und Blut)

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fenbart sich hier die Inversion heilsgeschichtlicher Überlieferungen am prägnantesten. Sie mündet letztlich in die ebenso tautologische wie resignative Botschaft, dass Rebellionen im Reich des absoluten Terrors nur noch als folgenlose Auflehnungen des Bösen gegen sich selbst möglich sind. Zugleich zeigt sich im Hinblick auf die übergreifende Handlungsfügung, dass politischer und privater Sündenfall in Analogie zueinander gesetzt werden. So erscheint es nur konsequent, wenn am Ende des Romans beide Ebenen konvergieren. Hier gerät der Verräter und ehemalige Günstling selbst in die Folter- und Tötungsmaschinerie der Diktatur. Die Qualen, denen er dabei ausgesetzt wird – gefangen in einem tiefen Schacht und in den eigenen Exkrementen watend – lassen ein intertextuelles Vorbild erkennen, das vor dem Hintergrund der bisherigen Lektüre kaum noch überrascht. Bis in wörtliche Entsprechungen hinein ließ sich Asturias hier von den Schilderungen der Hölle aus Dantes Divina Commedia inspirieren, deren Jenseitsvisionen er zu den diesseitigen Schrecken der Diktatur transformiert.38 Die Dichte dieser Verweise und die Hyperbolik der Darstellung heben gegen Ende des Romans eine Literarizität ins Relief, die sich bereits zuvor mehrfach andeutet. Dies gilt vor allem für eine scheinbar beiläufige, bei näherer Betrachtung aber äußerst beziehungsreiche Episode, die zu Beginn des Romans spielt. Nach der Exekution des Bettlers Pelele, so wird erzählt, gewinnen auch die Aufführungen des Puppenspielers, der vor dem Kirchenportal das Volk unterhält, einen völlig neuen Charakter : Die Possen, welche er ursprünglich darbot, wandeln sich plötzlich zu Tragödien.39 Merkwürdigerweise tut dies der Erheiterung des Publikums jedoch keinen Abbruch. Nun weiß man seit dem Auftritt des Mase Pedro aus dem zweiten Teil von Cervantes’ Don Quijote eines: Puppenspieler können metafiktionale Figuren sein, in denen sich die Strukturen eines Werkes nochmals spiegeln.40 Diesbezüglich reflektiert Asturias’ titiritero zweifellos die Rolle des Präsidenten. Auch dessen Machthandlungen sind ja blutige Inszenierungen, die von seinen Schergen mit herzlosem Hohn und degenerieren zu einem blutigen Phantasma, in dem das eucharistische Opfer auf die körperliche Vernichtung reduziert wird. 38 Insbesondere vom achtzehnten Gesang des Inferno, der in die »malebolge« führt (Inf 18, 1). Vgl. hierzu die »Introduccijn« zu El SeÇor Presidente, S. 27 bzw. die entsprechenden Passagen im Roman selbst, S. 395ff. Die Feuer der Hölle scheinen im Roman wiederholt in metaphorischer Form auf; am eindringlichsten vielleicht in einem Vergewaltigungsphantasma Cara de ]ngels, das imaginäre Entsprechungen zwischen dem Auslöschen einer Kerze und eines (missbrauchten) Menschen herstellt (S. 193). 39 Es handelt sich um das achte Kapitel des Romans, welches den Titel El titiritero del Portal trägt (vgl. Asturias, El SeÇor Presidente, S. 161–164). 40 Vgl. zur Geschichte des Puppenspielers den zweiten Teil des Don Quijote, Kap. XXV–XXVII, bzw. zur metafiktionalen Besetzung des Motives Klaus Dirscherl, »Lügner, Autoren und Zauberer: Zur Fiktionalität der Poetik im Don Quijote«, in: Romanische Forschungen 94 (1982), S. 19–49.

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Schadenfreude quittiert werden. Darüber hinaus repräsentiert der Puppenspieler aber auch das fiktionale double eines Erzählers, der seinen Verdienst mit grausamer Unterhaltung bestreitet. In der vielschichtigen Episode konvergieren also zwei Ebenen: einmal die mise en abyme – also die literarische Selbstreflexion – und zum anderen die allegorische Darstellung der Diktatur.41 Die narrative Inszenierung der Macht wird damit auf charakteristische Weise geöffnet. Sie greift von der erzählten Geschichte auf die Ebene der erzählerischen Vermittlung über. Weitere Romane werden dem in anderer, oft noch komplexerer Form folgen. Das vielleicht bemerkenswerteste Beispiel für eine solche Verlagerung ist El otoÇo del Patriarca von Gabriel Garc&a M#rquez aus dem Jahre 1975; ein Roman, den der Autor erst nach jahrzehntelangen Überarbeitungen, Änderungen und Neufassungen fertigstellen konnte.42 Hier wird der charismatische Machttyp des caudillo gleichfalls mit einer orthodoxen Ethik der Sichtbarkeit inszeniert und der Messianismus mit einer Semantik des Bösen auf groteske Weise konterkariert.43

Bibliographie Primärtexte Asturias, Miguel ]ngel, El SeÇor Presidente, M8xico D.F. 1946. Asturias, Miguel ]ngel, »El SeÇor Presidente como mito«, in: Ders., El SeÇor Presidente, Madrid 2001, S. 417–428. Casas, Bartolom8 de las, Obras escogidas: Historia de las Indias, 2 Bde., Madrid 1957.

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41 Es liegt somit eine doppelte mise en abyme vor: Sie greift sowohl auf die erzählte Geschichte als auch auf die Ebene der narrativen Vermittlung über. Vgl. zur »mise en abyme de l’8nonc8« (bzw. »de l’8nonciation«) Lucien Dällenbach, Le r8cit sp8culaire. Essai sur la mise en abyme, Paris 1977. 42 Eigenen Aussagen zufolge begann er mit dem Roman noch vor der Niederschrift von Cien aÇos de soledad. Insgesamt erstreckte sich die Arbeit an dem Projekt über siebzehn Jahre (vgl. Gabriel Garc&a Marquez, Conversaciones con Plinio Apuleyo Mendoza – El olor de la guayaba, Bogot# 1982, S. 64). 43 Vgl. Christian Wehr, »Stationen des Diktatorenromans«, S. 331–341.

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Natascha Ueckmann

Revolutions- und Sklavereigeschichte als Groteske im Werk von Reinaldo Arenas

Im Gesamtwerk des Kubaners Reinaldo Arenas (1943–1990) bilden die beiden mit der Historie spielenden Romane El mundo alucinante (1969) und La Loma del #ngel (1987) sowie seine Autobiographie Antes que anochezca (1992), die von Julian Schnabel sehr erfolgreich unter dem Titel Before Night Falls (2000) verfilmt wurde, den Beginn und Abschluss seiner schriftstellerischen Karriere im Ausland. Sein Debütroman Celestino antes del alba (1967) ist der einzige Text, der in Kuba in einer geringen Auflage erscheinen durfte. Bis heute wurde kein weiteres Buch mehr von ihm auf der Insel veröffentlicht. In den Romanen El mundo alucinante und La Loma del #ngel setzt Arenas eine karnevaleske und ›kannibalistische‹ reescritura bereits vorhandener Texte als ästhetisch motiviertes Schreibverfahren in exemplarischer Weise um. Es sind literarische Verarbeitungen historischer Ereignisse anhand angeeigneter und eigener Texte, die im unaufhörlichen Dialog miteinander stehen und so eine originelle »recreacijn«1 erzeugen. Geschichte wird bei Arenas aber nicht nur fiktionalisiert und reaktualisiert, sondern vor allem grotesk überzeichnet. Arenas schreibt auf diese Weise gegen den herkömmlichen Aufklärungs- und Revolutionsdiskurs an, denn er stellt die Autonomie des Subjekts und des Geschichtsprozesses in seinen Romanen konsequent in Frage. Seine Romane sind Ausdruck unterschiedlicher Geschichtstraumata und illustrieren das Versagen einer aufklärerischen Bildungsidee wie ich im Folgenden zeigen werde.

1.

Aufklärung der Aufklärung: El mundo alucinante

In El mundo alucinante erzählt Arenas in grotesk-fantastischer Weise die Lebensgeschichte des mexikanischen Mönchs Fray Servando Teresa de Mier (1763–1827).2 Arenas’ fingierter historiographischer Bericht basiert auf auto1 Reinaldo Arenas, La Loma del #ngel, Miami: Ediciones Universal 21995 [1987], S. 9. 2 Der mexikanische Dominikanermönch wurde am 18. 10. 1763 in Monterrey, im damaligen

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biographischen und historischen Texten des Fray Servando, vornehmlich auf seinen Memorias.3 Dieses »intertextuelle Spiel mit doppeltem und dreifachem Boden«4 verwandelt Autobiographik und Historiographie in Phantastik. El mundo alucinante ist phantastischer Lebensbericht, Gesellschafts- und Klerussatire sowie grotesker Reisebericht zugleich. Arenas nennt seinen Text eine novela de aventuras – so der Untertitel – und referiert so auf ein Genre, welches eher ein zwangloses Verhältnis zur Geschichte hat. Bei Arenas impliziert der Untertitel freilich auch eine hyperbolische aventura de la escritura, denn er charakterisiert seinen Abenteuerroman als »esta suerte de poema informe y desesperado, esta mentira torrencial y galopante, irreverente y grotesca, desolada y amorosa, esta (de alguna forma hay que llamarla) novela«5. Arenas nimmt sich als impliziter Autor die Freiheit, die Schriften des Fray Servando parodistisch umzuschreiben, zu aktualisieren und übliche Genregrenzen (ob Autobiographie oder Abenteuerroman) zu überschreiten. Eine Zusammenfassung der Handlungs- und Bilderwelten des Romans ist angesichts der zahlreichen Verwicklungen, handelnden Personen und Szenen, des atemberaubenden Tempos, der vielfältigen literarischen Reminiszenzen kaum möglich. Bereits auf formaler Ebene führen das Fehlen von Absätzen über Nuevo Lejn, in Neu-Spanien geboren und starb nach zahlreichen Reisen u. a. auch durch Europa, am 17. 11. 1827. In einer berühmt gewordenen Predigt entzog er 1794 der spanischen Krone jegliche christlich-missionarische Legitimation zur Eroberung Amerikas, indem er behauptete, der Apostel Thomas habe in der Gestalt Quetzalcoatls bereits das Evangelium in Amerika vor Ankunft der Spanier gepredigt und außerdem den Guadalupe-Kult initiiert. Mit dieser These sprach der Mönch den Spaniern jeglicher Missionierung ihre Berechtigung ab, denn danach war Amerika weit vor der Ankunft der Spanier bereits ein christliches Land, vgl. Andrea Pagni, »De revoluciones y alucinaciones: La instancia inquisitorial de Fray Servando a Reinaldo Arenas«, in: Titus Heydenreich, Peter Blumenthal (Hg.), Glaubensprozesse – Prozesse des Glaubens? Religiöse Minderheiten zwischen Toleranz und Inquisition, Tübingen: Stauffenburg 1989, S. 143–145; Andrea Pagni, »Reinaldo Arenas: El mundo alucinante (Una novela de aventuras)«, in: Volker Roloff, Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Der hispanoamerikanische Roman, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1992, S. 157f.; Gudrun WogatzkeLuckow, »Die Darstellung des Phänomens ›Neobarock‹ und ein Beispiel eines neobarocken Autors nolens volens: Reinaldo Arenas’ El mundo alucinante«, in: Monika Bosse, Andr8 Stoll (Hg.), Theatrum mundi. Figuren der Barockästhetik in Spanien und Hispano-Amerika. Literatur-Kunst-Bildmedien, Bielefeld: Aisthesis 1997, S. 237. 3 Weitere Prätexte sind seine Apolog&a, die Historia de la revolucijn en la Nueva EspaÇa und die Carta de despedida a los mexicanos escrita desde el Castillo de San Juan de Ulffla. Charlotte Lange erwähnt auch noch die beiden Biographien über Fray Servando von Vito Alessio Robles und Artemio de Valle-Arizpe, vgl. Charlotte Lange, Modos de parodia. Guillermo Cabrera Infante, Reinaldo Arenas, Jorge Ibargüengoitia y Jos8 Agust&n, Oxford u. a.: Lang 2008, S. 96. 4 Ottmar Ette, »Reinaldo Arenas«, in: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.), Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur, 78. Nachlieferung, März 2009, 20 Seiten, München: Text + Kritik 1986, S. 4. 5 Aus dem Vorwort aus der von Arenas durchgesehenen Ausgabe von 1981, vgl. Reinaldo Arenas, El mundo alucinante. Una novela de aventuras, Barcelona: Tusquets Editores 21997, S. 21.

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Seiten hinweg sowie die Konstruktion komplizierter Schachtelsätze zu dem Eindruck dauernder Bewegung. Die chronologische Grundlage bildet die Lebensgeschichte des mexikanischen Priesters und Schriftstellers Fray Servando, welche »von Dantes Inferno bis ins Paradies der Azteken«6 reicht. Der Mönch flieht zunächst vor den Nachstellungen seiner Mutter, Schwester und seines Lehrers in ein Dominikanerkloster, in dem unentwegt die Scheiterhaufen der Inquisition brennen. Sein Fluchtweg führt ihn von Mexiko über Spanien quer durch Europa (Frankreich, Italien, Portugal, England), die USA, Mexiko, Kuba, wieder in die USA und zurück nach Mexiko. Selbst nach seinem Ableben hört er nicht auf zu reisen. Zunächst wird sein mumifizierter Leichnam nach Argentinien überführt, dort an einen Zirkusdirektor weiterverkauft, der ihn gegen Eintritt als »v&ctima de la inquisicijn«7 ausstellt und später wird er in einem »de los circos m#s fabulosos«8 in Belgien gezeigt. In El mundo alucinante erschafft Arenas eine zentrale Figur neu, die zur Befreiung Lateinamerikas von den Kolonialmächten beigetragen hat. Arenas verschmilzt dabei mit dieser historischen Figur zu einer Person, wie er im Prolog in Form eines fingierten Briefes an Fray Servando schreibt: »Lo m#s ffltil fue descubrir que tffl y yo somos la misma persona.«9 Auf diese Weise verwebt er zwei Zeitebenen miteinander – die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert mit dem postrevolutionären Kuba – und es gelingt ihm eine Doppelbiographie zu verfassen: eine revolutionäre Mönchs-Biographie und eine postrevolutionäre fiktive Autobiographie.10 Die Überlagerung der verschiedenen Zeitebenen zeigt, dass Unterdrückung und Machtmissbrauch nicht der Vergangenheit angehören, sondern zirkuläre Größen sind. Dieser Kunstgriff erlaubt ihm ferner seine eigenen postrevolutionären Erfahrungen im Kuba der 1960er Jahre – anhaltende staatliche Gewaltverhältnisse und Ausgrenzungsmechanismen – verschlüsselt zu Papier zu verbringen. Erstaunlich sind dabei die Parallelen zwischen der Mönchsvita und der des politischen Freidenkers und bekennenden Homosexuellen Reinaldo Arenas.11 Beiden Autoren ist gemein, dass sie ihre Werke ver6 Ette, »Reinaldo Arenas«, S. 4. Zur intertextuellen Parodie von Dantes La Divina Comedia und Lezama Limas Paradiso in Arenas’ Text vgl. Lange, Modos de parodia, S. 128–135. 7 Arenas, El mundo alucinante, S. 313. 8 Arenas, El mundo alucinante, S. 313. 9 Arenas, El mundo alucinante, S. 11. 10 Charlotte Lange spricht von einer »autobiograf&a ficticia« und einer »versijn ficticia« von Fray Servandos Memorias, vgl. Lange, Modos de parodia, S. 99f. El mundo alucinante ist somit Autobiographie und Biographie in einem, denn zwei der drei Erzähler sind die relativierenden Biographen des dritten Erzählers (yo Servando), vgl. ebd., S. 109. 11 Auch in seiner Autobiographie vergleicht er seine Gefängniserfahrungen mit denen der historischen Figur Servando: »En El mundo alucinante yo hablaba de un fraile que hab&a pasado por varias prisiones sjrdidas (incluyendo el Morro). Yo, al entrar all&, decid& que en lo adelante tendr&a m#s cuidado con lo que escribiera, porque parec&a estar condenado a vivir

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fassten »entre la soledad y el traj&n de las ratas voraces, […] entre la desolacijn y el arrebato, entre la justificada furia y el injustificado optimismo, entre la rebeld&a y el escepticismo, entre el acoso y la huida, entre el destierro y la hoguera«12. Bemerkenswert sind die zahlreichen Anspielungen im Roman auf die damalige, zeitgenössische kubanische Literatur, insbesondere auf Alejo Carpentiers Romane El reino de este mundo (1949) und El siglo de las luces (1962). Lüsebrink liest Arenas’ Roman als »Replik« und »Kontrafaktur« zu Carpentiers Romanen.13 Vergleichbar kontrastiert Andrea Pagni in metaphorischer Hinsicht Arenas »mundo alucinante« mit Carpentiers »siglo de las luces«: Frente al ›siglo de las luces‹ el ›mundo alucinante‹; frente al devenir y al progreso de la luz, de la razjn, el espacio de las alucinaciones. […] frente al racionalismo iluminista, la alucinacijn paraljgica que borra las fronteras entre lo real y lo irreal, lo verdadero y lo falso, trazadas por el discurso de la razjn; la alucinacijn que cuestiona la ljgica, el primado de la razjn y sus coordenadas.14

Carpentier interpretiere die Geschichte tendenziell noch eher im Prozess einer befreienden, wenn auch ambivalenten Revolutionsidee, die sich von der französischen über die haitianische, später über die lateinamerikanische bis hin zur kubanischen Revolution sukzessiv verwirklicht habe. Arenas hingegen insistiere auf dem wiederholten Scheitern dieser Fortschrittsidee.15 So erzählt der gefangene Mönch in El mundo alucinante: Pero ya con lo que conozco me es suficiente para comprender que todo est# disparatado … – Lo he visto todo – repitij el fraile visitador y se dirigij a la puerta –. Por eso no pretendo arreglar nada, puesto que las consecuencias de esos arreglos tambi8n las conozco. Vengo de lugares donde se han aplicado los cambios m#s violentos y radicales. Y vengo huyendo. Yo, que luch8 con mis manos para poder llevar a cabo esos cambios.16

Arenas bezweifelt Carpentiers Literaturbegriff als Instrument eines fortschreitenden Bewusstseins von Freiheit und kommt in seinem Roman zum Schluss, die wirkliche Revolution habe noch nicht stattgefunden bzw. die Aufklärung, gipfelnd in der Revolution, habe zu einseitig auf Vernunft und zu wenig auf Mündlichkeit

12 13 14 15 16

en mi propio cuerpo lo que escrib&a« (Reinaldo Arenas, Antes que anochezca. Autobiograf&a, Barcelona: Tusquets Editores 1992, S. 222). Arenas, El mundo alucinante, S. 9. Hans-Jürgen Lüsebrink, »›La Fascinacijn de la imprenta‹ – zur Wahrnehmung von Schriftlichkeit und Buchlektüre in den historischen Romanen von Alejo Carpentier und Reinaldo Arenas«, in: Birgit Scharlau (Hg.), Bild – Wort – Schrift, Tübingen: Narr 1989, S. 67. Andrea Pagni, »Palabra y subversijn en El mundo alucinante«, in: Ottmar Ette (Hg.), La escritura de la memoria. Reinaldo Arenas: Textos, estudios y documentacijn, Frankfurt a.M.: Vervuert 1992, S. 140. Pagni, »Reinaldo Arenas: El mundo alucinante«, S. 162. Arenas, El mundo alucinante, S. 94.

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und Leiblichkeit gesetzt. Auch wenn Carpentier – und darin sicherlich der Dialektik der Aufklärung vergleichbar – die Katastrophen und Barbareien dem Projekt der Aufklärung selbst als inhärent auffasst, so versucht er doch die Barbarei mit den Mitteln der Aufklärung zu bekämpfen. Arenas jedoch setzt der aufgeklärten Vernunft mit ihrem Fortschrittsdenken ein paralogisches Denken des Halluzinierens und eine spiralförmige Geschichtskonzeption entgegen. Carpentier sei für Arenas ein Schriftsteller, der mit seinen historischen Romanen einen Beitrag zur kubanischen historia oficial leistet, der die Fiktion in den Dienst der offiziellen, linearen Geschichtsschreibung stelle.17 Pagni spricht bei Arenas’ Text von einem postmodernen Roman, der mit einer Veränderung des historischen Standpunktes einhergehe: Er lasse die Opfer zu Wort kommen und mache die Paralogie zur Grundlage des Erzählens.18 Grausamkeiten, Tod, Folter, Schmerz, Widerwärtigkeiten in potenzierter und grotesk überzeichneter Form bestimmen bei Arenas das Dasein aller Lebewesen. Arenas entwirft zwei Optionen: Entweder bleibt der Mensch sich treu und wird zum Opfer/Gejagten oder er verrät sich selbst und wird zum Verfolger. Die Doppelgängergestalt des Mönches in der Gefängniszelle, el fraile prisionero und el fraile visitante,19 welche schließlich wieder eins wird, verkörpert exemplarisch die beiden Haltungen. Der Gefängnismönch wird fast gefressen, der Besuchermönch hingegen frisst die Ratten, bevor sie ihn fressen: No crea usted que mi hambre sea tanta como para llegar a esto – me dijo, despu8s de haber engullido al animal –. Lo hago para demostrarles a estas bestias qui8n se come a qui8n. Haga usted lo mismo y ver# como no lo molestar#n m#s. As& cambiar# su condicijn de v&ctima y se convertir# en agresor.20

Insgesamt geht Arenas mit Carpentier hart zu Gericht, denn er verkörpert für ihn die Wandlung vom Rebellen zum Opportunisten. Arenas schreibt in seiner Autobiographie: »¿Qu8 fue de la obra de Alejo Carpentier, luego de haber escrito El siglo de las luces? Churros espantosos, imposibles de leer hasta el final.«21 Er kritisiert dessen übertriebene Rhetorik und minutiöse Detailtreue, die versucht, die Realität durch Ausführlichkeit darzustellen. Im 34. Kapitel von El mundo alucinante findet sich eine aufschlussreiche Parodierung von Carpentiers Werk: Aquel hombre (ya viejo), armado de compases, cartabones, reglas y un centenar de artefactos extraÇ&simos que fray Servando no pudo identificar, recitaba en forma de letan&a el nombre de todas las columnas del palacio, los detalles de las mismas, el nfflmero y la posicijn de la pilastras y arquitrabes, la cantidad de frisos, la textura de las 17 18 19 20 21

Vgl. Pagni, »Reinaldo Arenas: El mundo alucinante«, S. 163. Vgl. Pagni, »Reinaldo Arenas: El mundo alucinante«, S. 167f. Arenas, El mundo alucinante, S. 96ff. Arenas, El mundo alucinante, S. 92. Arenas, Antes que anochezca, S. 116.

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cornisas de relieve, la composicijn de la cal y el canto que formaban las paredes, la variedad de #rboles que poblaban el jard&n, su cantidad exacta de hojas, y finalmente hasta las distintas familias de hormigas que crec&an en sus ramas. Luego hac&a un descanso, y con gran parsimonia anotaba todas las palabras pronunciadas en un grueso cartapacio en cuya tapa se le&a El Saco de las Lozas con letras tan grandes y brillantes.22

El siglo de las luces wird bei Arenas zum profanen Saco de las Lozas. Während Carpentier versucht, die historische Figur des Victor Hugues in El siglo de las luces trotz weniger Quellen so genau wie möglich wiederzugeben, konstruiert Arenas bewusst eine novela, »una puesta en escena«23, obgleich Fray Servandos Biographie gründlich dokumentiert ist. Doch Arenas »no le interesa la fidelidad respecto de los datos de la historiograf&a«24 ; für ihn sind multiple Perspektiven auf Geschichte möglich. Keinesfalls will er eine authentisch wirkende Geschichte erzählen. Er verspottet eine vermeintlich wirklichkeitstreue Beschreibung.

1.1.

Der Riese Borunda: Sincretismo vs. Aufklärung

Fray Servandos bewegtes Leben weist Parallelen zum p&caro-Held eines barocken Schelmenromans auf, ohne dabei das Streben nach Ehre als Schlüsselthema der Pikareske aufzugreifen.25 Bei Arenas’ Schelm begegnet uns vielmehr ein ausgegrenzter Querdenker, der die Durchsetzungskraft aufklärerischer Ideen zusehends in Frage stellt. Denn in der dominant oralen Kultur Lateinamerikas hatte Fray Servando die größte Wirkung freilich mit einer mündlichen Predigt, in der er die – als häretisch angesehene – Behauptung aufstellte, die Heilige Jungfrau von Guadalupe sei in Mexiko bereits weit vor der Ankunft der Spanier unter anderem Namen (Quetzalcjatl) verehrt worden. Durch die Verknüpfung von kanonisierter christlicher Legende und aztekischen Mythen entzieht der Mönch der spanischen Eroberung jede Missionierungsberechtigung. Beim spanischen Klerus in Ungnade gefallen, wird er aufgrund dieser Predigt von der Inquisition verfolgt und inhaftiert; er beginnt im Kerker Pamphlete und seine Autobiographie zu verfassen. Fray Servandos ketzerischen, hybriden Ideen stehen keinesfalls im Kontext europäischer Aufklärungsphilosophie, sondern verdanken sich in Arenas’ verfremdeter Biographie den (unveröffentlichten) Manuskripten des Gelehrten Borunda. Borunda ist ein in einer Höhle wohnender Riese, ein Entdecker yukatekischer Bil22 23 24 25

Arenas, El mundo alucinante, S. 284f. Pagni, »Palabra y subversijn en El mundo alucinante«, S. 144. Pagni, »Palabra y subversijn en El mundo alucinante«, S. 143. Vgl. Wogatzke-Luckow, »Die Darstellung des Phänomens ›Neobarock‹«, S. 237. Vertiefend zur »novela picaresca« siehe Klaus Meyer-Minnemann, Sabine Schlickers, La novela picaresca. Concepto gen8rico y evolucijn del g8nero (siglos XVI y XVII), Frankfurt a.M./Madrid: Vervuert/Iberoamericana 2008.

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derschriften, zapotekischer Inschriften, zakatekischer Stiche, chichimekischer Steine sowie Verfasser eines Cjdigo general de jerogl&ficos americanos.26 Borundas synkretistisches Wissen basiert maßgeblich auf der Analyse amerikanischer Hieroglyphenschrift und präkolumbischer Religiosität und verweist auf die kulturelle Eigenständigkeit Lateinamerikas. Bislang war es ihm aber nicht gelungen Publikationsmöglichkeiten zu finden, daher wendet er sich an Fray Servando als möglichen Multiplikator. Folgt man Metzlers Literaturlexikon oder Wilperts Sachwörterbuch der Literatur bricht hier das Groteske in Arenas’ Werk durch, denn in den Lexika lesen wir : Groteske [von ital. grottesco = wunderlich, verzerrt, zu grotta = Grotte], in der bildenden Kunst zuerst verwendet als Bez. für eine Ende des 15. Jh.s in Italien bei Ausgrabungen antiker Thermen und Paläste entdeckte Art von Wandmalereien, in deren flächenfüllender verschnörkelter Ornamentik Pflanzen-, Tier- und Menschenteile spielerisch miteinander verbunden sind […]. Die Darstellung des zugleich MonströsGrausigen und Komischen, des gesteigert Grauenvollen, das zugleich als lächerlich erscheint.27 […] Dichtart des Derbkomischen, Närrisch-Seltsamen, die teils humoristisch, teils ironisch scheinbar Gegensätzlichstes und Unvereinbares, bes. das Komische und das Grausige, in skurrilem Phantasiespiel in übermütiger, verblüffender Weise nebeneinanderstellt und kombiniert […]; Gegenströmung gegen jeden Vernunftglauben einerseits und Zeichen einer bizarren Verfremdung, Entstellung und Verfremdung der Welt bis ins Makabre, Bedrohliche andererseits. […] Kennzeichnend ist das Umschlagen der Form ins Formlose, des Maßvollen ins Sinnlose bis geradezu Dämonische, des Lächerlichen ins Entsetzliche, Monströse. Epochen, in denen das Groteske daher eine bevorzugte Stellung einnimmt, sind immer wieder diejenigen, denen der Glaube an eine heile Welt zerbrochen ist […] und in denen die bindungslos geworden Phantasie über das Mögliche hinaus in das noch Unfaßbare umschlägt, um die dämonische Zersetzung der Welt zu beschwören.28

Arenas hybridisiert mittels Borunda die Figur Fray Servandos und schließlich auch seine eigene Autorschaft. In einem Gespräch zwischen Borunda und Fray Servando geht es um diese Diskrepanz zwischen publizierten, übermittelten und zensierten Texten, denn »›¿cjmo se iban a conservar tantas obras valiosas como se conservan?‹ ›¿Y acaso sabes tffl las que se han perdido?‹«29 An anderer Stelle vermerkt Servando, dass seine besten Ideen stets die seien, die er nicht zu Papier 26 Vgl. Arenas, El mundo alucinante, S. 59. 27 Georg-Michael Schulz, »Groteske«, in: Metzler Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen, hg. von Günther und Irmgard Schweikle, Stuttgart: Metzler 1990, S. 186. 28 Gero von Wilpert, »Groteske«, in: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart: Kröner 2001, S. 320–321. 29 Arenas, El mundo alucinante, S. 60f.

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gebracht habe: »Las mejores ideas son precisamente las que nunca logrj llevar al papel, porque dicho y hecho ya les hace perder la magia de lo imaginado y porque el resquicio del pensamiento en que se alojan no permite que sean escudriÇadas.«30 Die Schrift ist somit nur unvollkommener Ersatz für das mündliche Wort. Indem Arenas als impliziter Autor das Reden und Schreiben von Fray Servando im Kontext apokrypher Texte und den begrenzten Wirkungsweisen des Gedruckten in dominant oralen Gesellschaften situiert, relativiert er seinen eigenen hypertextuell angelegten Roman. Seine ›durchlässige‹ Literatur verweist so augenzwinkernd auf einen Kanon der marginalisierten oder nie publizierten Werke. Fraglich bleibt – sofern man Arenas mit Michail Bachtin liest – ob es Arenas’ Roman nicht grundsätzlich an einer »utop&a 8tica«31 fehle, die laut Bachtin für ein groteskes Werk gegeben sein muss. Arenas’ Roman führt nicht in die »Welt der Ideale«32 oder »für einige Zeit ins utopische Reich der Universalität, der Freiheit, der Gleichheit und des Überflusses«33, eben zu einer utopischen Vision einer egalitären Gesellschaft oder zu einer Festlichkeit im Sinne von Bachtins Karneval. Bachtin charakterisiert das Lachen als gemeinschaftlichen, teils vulgär-obszönen und von einer Betonung der Leiblichkeit und Sinnlichkeit begleiteten Akt. Bei Arenas bedeutet Leiblichkeit aber primär Martyrium, wie Sabine Schlickers nachweist: Fray Servando tiene que sufrir tanta hambre, sed, violencia, oscuridad, fr&o, pobreza, etc. que su trayectoria se vuelve un martirio continuo. Si Bajt&n revaloriza en su modelo de mundo de carnaval lo corpjreo y la materia, reivindicando una funcijn liberadora en la cultura de la risa renacentista y en el humor carnavalesco de Rabelais, la representacijn de lo corpjreo en El mundo alucinante puede leerse como una parodia de esta visijn carnavalesca.34

Arenas’ von Karikatur, Verzerrung, Doppelung, Textwucherung und Intertextualität geprägte Schreibweise lassen ihn als neobarocken Autor im Sinne Severo Sarduys erscheinen.35 Genau wie im Siglo de Oro der Katholizismus angesichts von Inquisition nur vordergründig ein einheitsschaffendes Moment war,36 so 30 Arenas, El mundo alucinante, S. 72. 31 Sabine Schlickers, »La rebeld&a narrativa de Reinaldo Arenas en El mundo alucinante«, in: Annette Paatz, Burkhard Pohl (Hg.), Texto social. Estudios pragm#ticos sobre literatura y cine, Berlin: tranv&a 2003, S. 115. 32 Michail M. Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 57. 33 Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 57. 34 Schlickers, »La rebeld&a narrativa de Reinaldo Arenas en El mundo alucinante«, S. 116. 35 Vgl. Nina Preyer, Severo Sarduys Zeichenkosmos. Theorie und Praxis einer Romanpoetik des ›neobarroco cubano‹, Heidelberg: Winter 2013. 36 Mehr als drei Jahrhunderte, von 1480 bis 1820, war die Inquisition in Spanien aktiv. Aufgabe der Inquisition war es, so genannte Conversos und Moriscos aufzuspüren, die sich zwar

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wirkte für Arenas’ Gegenwart die kubanische Revolution angesichts von Castrismus ebenso wenig integrativ. Die Revolution als zentralen Pol anzusehen, ist für Autoren wie Arenas oder Sarduy aufgrund ihrer Marginalisierung bzw. ihres Exils nicht möglich. Arenas sieht nach dem »Absturz Gottes«37 in der kubanischen Dogmatisierung des Marxismus eine Fortsetzung der Bevormundung der Menschen. Arenas’ Werke repräsentieren das Aufbrechen geschlossener Systeme, anders formuliert: die dauernde Rebellion. Arenas füllt die sinnliche Leere der Revolution mit einer neobarocken Gegenrevolution. Seine Stilmittel sind vielfältig: Groteske Metamorphosen,38 Spiel mit den Figuren und der historischen Vorlage, Reinkarnationen jenseits eines historischen Determinismus,39 visionäre Träume, Eklektizismus, hyperbolische Wendungen, Wortwiederholungen in Form von Anaphern40 und Epiphora41 sowie Antithesen, Metonymien, Synästhesien42 und Oxymora43 haben ein gewaltiges Anschwellen des Textes zur Folge. Exemplarisch sei der Beginn des 16. Kapitels mit seiner antithetischen Überschrift genannt: »De mi llegada y no llegada a Pamplona. De lo que all& me sucedij sin haberme sucedido«, um dann wie folgt fortzufahren): Parto para Pamplona. Ahora parto para Pamplona. Voy rumbo a Pamplona. De modo que ahora voy para Pamplona ayudado por mis cl8rigos contrabandistas y a pie. […] Rumbo a Pamplona voy. Hacia Pamplona voy. […] Ya vamos rumbo a Pamplona. […] ¡Rumbo a Pamplona! ¡Hacia Pamplona! ¡A Pamplona! […] ¡Hacia Pamplona! […] y al paso de ese trotecillo continffla su rumbo a Pamplona. ¡Hacia Pamplona! ¡Con destino a Pamplona! Y ya estoy en Pamplona. Heme aqu&, en Pamplona. […] Heme aqu& en Pamplona baÇ#ndome con vino y bebiendo vino.44

37 38 39 40 41 42 43 44

nominell Christen nannten, in Wirklichkeit aber immer noch ihre alte Religion praktizierten, vgl. Norman Roth, Conversos, Inquisition, and the Expulsion of the Jews from Spain, Madison: University of Wisconsin Press 2002. Vgl. Ette, »Reinaldo Arenas«, S. 10. »Y la mujer soltj una carcajada. Y la carcajada se convirtij en un bufido de furia. Yel bufido convirtij a la mujer en un hombre barrigjn y mofletudo, de grandes colmillos y brazos como pilares« (Arenas, El mundo alucinante, S. 142). Verweis auf Simjn Rodr&guez, Samuel Robinson u. a., vgl. Arenas, El mundo alucinante, S. 169. »Y detr#s de los #rboles. Y detr#s de los #rboles la claridad« (Arenas, El mundo alucinante, S. 138). »Yentonces: ya bien rajaditas yo las cojo y se las tiro en la cabeza a mis Hermanas Iguales. A mis hermanas. A mis hermanas. A mis her« (Arenas, El mundo alucinante, S. 27). »[P]asaba la mano, que soltaba mfflsica« (Arenas, El mundo alucinante, S. 141). »[U]n mulo cantor« (Arenas, El mundo alucinante, S. 38), »infierno acu#tico« (edb., S. 71f.). Arenas, El mundo alucinante, S. 146–148. Diese Textstelle erinnert an das Volkslied »Pobre de m&«, welches am Ende des alljährlichen Festes zu Ehren des Schutzheiligen San Ferm&n in Pamplona gesungen wird. Die nordspanische Stadt ist bekannt für ihren berühmten jährlichen Stierlauf.

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Solche Worthäufungen, Paradoxien und Variationen entsprechen einer neobarocken Schreibweise der »Amplificatio, der Accumulatio, der Überdimensionierung und des Maskenspiels«45. Auch die Körper bzw. bestimmte Körperteile sind meist überproportioniert; so ist die Schlüsselfigur Borunda von groteskleiblichem Charakter. Er ist ein schwabbeliges Fleischgebirge (»como un gran pipa que se mov&a y hablaba, pero m#s gorda«46). Bei Arenas deutet seine Masse und Größe aber nicht bloß auf gesteigerte physische Kraft, sondern auf einen gesteigerten Intellekt und seinen gewaltigen Wissenshunger hin. Außerdem haben sinnliche Wahrnehmungen wie Riechen, Hören, Sehen oder Schmecken bei Arenas eine leitmotivische Funktion. Menschen und Tiere verbreiten ununterbrochen Gestank und Geschrei. Die häufige Erwähnung von Schreien aller Art ist besonders auffällig; exemplarisch seien hier verschiedene Beispiele genannt: – la voz fue multiplic#ndose47 – las voces volv&an a retumbar rompiendo t&mpanos y rajando paredes48 – [d]os monjas […] rompieron en exclamaciones de miedo49 – [c]ada pedazo del fraile ten&a sus propios gritos; de modo que por unos momentos en toda la celda se escuchj como una armon&a de gritos, roncos, estridentes, desafinados y alucinantes. Pero el hambre hizo a los animales engullir aquella carne chillona, y sus estjmagos se llenaron de resonancias50 – volvieron [las ratas] otra vez a su idioma de chillidos, de gritos y tambi8n de gruÇidos hambrientos51 – soltando un grito, que fue un aullido de terror52 – clamando por una tabla para salvar mi vida53

Diese Aufzählung ließe sich mühelos fortsetzen. Schreien verweist auf ein intensives körperliches Erleben und ist entweder Ausdruck von Schmerz oder Leidenschaft. Und es kann als Ersatz für die öffentliche Kommunikation durch Sprache betrachtet werden. Der Schrei steht in der karibischen Literatur, vielleicht sogar insgesamt in der postkolonialen Literatur, stellvertretend als Me-

45 Gudrun Wogatzke-Luckow, »Dekonstruktion und Rekonstruktion eines Textes. Reinaldo Arenas’ Version der Cecilia Vald8s von Cirilo Villaverde«, in: Romanistisches Jahrbuch 44 (1993), S. 350. 46 Arenas, El mundo alucinante, S. 57. 47 Arenas, El mundo alucinante, S. 90. 48 Arenas, El mundo alucinante, S. 90. 49 Arenas, El mundo alucinante, S. 97. 50 Arenas, El mundo alucinante, S. 97. 51 Arenas, El mundo alucinante, S. 99. 52 Arenas, El mundo alucinante, S. 155. 53 Arenas, El mundo alucinante, S. 213.

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tapher für das Unsagbare, für eine subjektive Artikulation der vielfältigen Geschichtstraumata.54

1.2.

Karnevalisierung des Schreckens

Arenas belässt es nicht bei der Darstellung des Schreckens, wie wir gesehen haben, sondern überzeichnet ihn grotesk. Dass das Groteske seit dem 16. Jahrhundert zu einem der zentralen narrativen Paradigmen der Neuzeit geworden ist und verstärkt in der Kultur der Gegenwart in den verschiedensten Ausprägungen in Erscheinung tritt, ist sicherlich unbestritten. Michail Bachtin hält fest: »Im 20. Jahrhundert erlebt die Groteske eine kräftige ›Renaissance‹ […].«55 Zu den wichtigsten Merkmalen des grotesken Stils erklärt er »Übertreibung, Hyperbolik, Übermaß und Überfluß«56. Slavoy Zˇizˇek spricht gar davon, dass wir in einem Zeitalter leben, welches von dem Übergang von der Tragödie zur Komödie geprägt sei.57 Reinaldo Arenas’ Texte liefern uns für diese Thesen reichhaltiges Material, denn statt auf »dramatisierte Authentizität«58 setzt er auf eine karnevaleske, groteske Inszenierung. So kommt Arenas’ Mönch bei einem seiner zahlreichen Fluchtversuche zu der Überzeugung: »que aun en las cosas m#s dolorosas hay una mezcla de iron&a y bestialidad, que hace de toda tragedia verdadera una sucesijn de calamidades grotescas, capaces de desbordar la risa …«59. Komik und Grauen sind in seinem Werk eng miteinander verbunden. In einem totalitären System bleibt mit dem Lachen auch das Chaotische und Irrationale im Leben ausgespart. Arenas’ Angriff auf die Lachfeindlichkeit des kubanischen Systems60 erinnert an Bachtins Analyse der 54 Man könnte den Schrei auch mittels Bibel interpretieren. Jesus starb am Kreuz mit einem Schrei, um seinem Leiden und seiner Hilflosigkeit Ausdruck zu verleihen. Und im Alten Testament steht geschrieben, dass Gott das Schreien seines unterdrückten Volkes erhörte und es dann aus Ägypten befreite. 55 Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 97. 56 Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 345. 57 Wobei Zˇizˇek diese These in Did somebody say Totalitarism? mit Bezug auf aktuelle Darstellungsformen der Shoa formuliert: »If we try to present their predicament as tragic, the result is comic; if we treat them as comic, tragedy emerges. We enter the domain that is outside, or rather beneath, the elementary opposition of the dignified hierarchical structure of authority and its carnivalesque reverse, of the original and its parody, its mocking repetition.« Slavoj Zˇizˇek, Did somebody say Totalitarism? Five Interventions in the (Mis)use of an Notion, London/New York: Verso 2001, S. 29. 58 Vgl. Peter Herr, »Neue Wege in der filmischen Auseinandersetzung mit der Shoa: La vita H bella und Train de vie«, in: Gisela Febel, Natascha Ueckmann (Hg.), Europäischer Film im Kontext der Romania. Geschichte und Innovation, Zürich: Lit–Verlag 2007, S. 232. 59 Arenas, El mundo alucinante, S. 166. 60 Arenas wirft den alten und neuen Machthabern in seiner Autobiographie vor, völlige Rationalität und eine lügnerische übergeordnete, zeitlose Wahrheit zu predigen und damit das

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Lachkultur wie er sie in Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur vorführt; ein Buch, welches in den 1930er Jahren, in der Stalinära, entstand. Das volkstümliche Lachen, welches in besonderer Weise bei Rabelais zum Vorschein komme, sei oppositionell, zuweilen utopisch und immer befreiend: Das mittelalterliche Lachen wurde in der Renaissance zum Ausdruck eines neuen, freien und kritischen Sinns für Geschichte.61 Das Lachen legt […] nahe, dass Angst überwindbar ist. Es erfindet keine Einschränkungen, und Verbote, Macht, Zwang und Autorität sprechen niemals seine Sprache. […] Der Sieg über die Angst ist nicht deren abstrakte Beseitigung, sondern ihre Entlarvung und Erneuerung, der Übergang zu Heiterkeit […].62 Das Lachen befreit nicht von der äußeren, sondern vor allem von der inneren Zensur, d. h. der in vielen Jahrhunderten im Menschen erzeugten Angst vor dem Heiligen, dem Verbot, der Vergangenheit und der Macht.63

Doch im Laufe der Neuzeit sei die Lachkultur und das Karnevaleske nach und nach aus dem Alltag verschwunden und fände heute, so Bachtins These, nur noch in der Literatur statt: »Diesen Vorgang der Übertragung des Karnevals in die Sprache der Literatur nennen wir die Karnevalisierung der Literatur.«64 Für Bachtin war das 16. Jahrhundert das »Jahrhundert des Lachens, und dieses erlebt seinen größten Triumpf in Rabelais’ Roman«65 : Rabelais’ Motive haben etwas prinzipiell und unausrottbar ›Nichtoffizielles‹: kein Dogmatismus, nichts Autoritäres, keine engstirnige Seriosität kann sie besetzen; sie widersetzen sich jeder Vollendung und Starrheit, jeder ungetrübten Seriosität und Abgeschlossenheit des Gedankens und der Weltanschauung.66

Das Lachen habe gar ein »neues, freies und kritisches Geschichtsbewusstsein«67 zu Tage befördert. Was Bachtin für Rabelais festhält, lässt sich auch auf Arenas’ Schreiben übertragen. Der Erzähler spricht in El mundo alucinante vom »veneno de la literatura« und von »ese pozo sin escapes que son las letras«68, also von einer der Literatur inhärenten subversiven Kraft. Arenas ist mit seinen

61 62 63 64 65 66 67 68

Lachen und die Revolte erstickt zu haben: »Una de las cosas m#s lamentables de las tiran&as es que todo lo toman en serio y hacen desaparecer el sentido del humor. Histjricamente Cuba hab&a escapado siempre de la realidad gracias a la s#tira y la burla. […] S&, las dictaduras son pffldicas, engoladas y, absolutamente, aburridas.« (Arenas, Antes que anochezca, S. 261f.). Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 123, Kursivsetzung im Original. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 140f. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 143, Kursivsetzung im Original. Michail M. Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt a.M.: Fischer 1990, S. 47. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 149. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 50. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 146, Kursivsetzung im Original. Arenas, El mundo alucinante, S. 52.

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hyperbolischen Ausgestaltungen sicherlich ein repräsentativer, in Rabelais’scher Tradition stehender Autor des 20. Jahrhunderts.69 Seine hier untersuchten Romane illustrieren Geschichte als Zyklus irrationaler, brutaler Fremdherrschaften bis in die kubanische Gegenwart hinein. Er zeichnet ein pessimistisches Bild von einer Revolution, die zwar Missstände der Vergangenheit behoben, aber dafür neue Deformationen hervorgebracht hat. Diesen Deformationen verleiht Arenas in grotesker Weise Ausdruck.70 Arenas beschreibt beispielsweise im 24. Kapitel über sechs Seiten die mühsame Einkettung und Einkerkerung seines Protagonisten, darin gipfelnd, dass die Wärter der Inquisition unfähig sind, ihn gedanklich gefangen zu nehmen, denn Servando lächelt in seinem Innersten über diese Behandlung: Algo hac&a que la prisijn siempre fuera imperfecta, algo se estrellaba contra aquella red de cadenas y las hac&a resultar mezquinas e inffltiles. »Incapaces de aprisionar …« Yes que el pensamiento del fraile era libre. Y, saltando las cadenas, sal&a, breve y sin traba, fuera de las paredes, y no dejaba ni un momento de maquinar escapes y de planear venganzas y liberaciones. […] De modo que todo resultaba inffltil. Yel fraile iba y ven&a m#s que nunca por donde se le antojaba, y repasaba el tiempo, y se adentraba en 8l y volv&a a salir, libre, como nunca en d&as de agobio (como lo hab&an sido todos) lo hab&a podido lograr. Y de no haber sido por aquellas odiosas cadenas que le apretaban las comisuras de los labios, introduci8ndose por los intersticios de los dientes y at#ndole la lengua, se hubiera visto dentro de aquella armazjn, semejante a un p#jaro fant#stico, la sonrisa de Servando, tranquila, agitada por una especie de ternura imperturbable…71

Sein unbeirrbares Lächeln und seine »audacia«72 vermögen die Ketten zu sprengen. Das Lachen ist hier eine Reaktion auf eine absurde Realität. Das Geflecht von Ketten um seinen Leib ergibt ein solches Gewicht, dass es schließlich das ganze Zuchthaus niederreißt: Y nuevas cadenas se agregaron a las nuevas cadenas. Y, por fflltimo, se le suprimij la comida al fraile y sjlo se le abastec&a de cadenas. La tarea era febril: d&a y noche no se 69 Ganz in der Tradition von Arenas steht Abilio Est8vez’ Roman Tuyo es el reino (1997), der ebenfalls ein halluzinatorisch anmutendes, extrem fragmentiertes Panorama von bizarren Gestalten und Lebensläufen aus einer Vielzahl von Erzählperspektiven enthüllt. Man könnte hier auch Autoren aus ganz anderen sprachlich-kulturellen, postkolonialen Räumen nennen, die ebenfalls ein Bachtin’sches karnevaleskes Konzept von Literatur in ihren Werken umsetzen wie z. B. den Kongolesen Sony Labou Tansi oder den Zimbabwianer Dambudzo Marechera. Ihre Werke werden nicht selten mit dem Begriff der »grotesque africain« bezeichnet (Daniel-Henri Pageaux, zit. nach Flora Veit-Wild, »The Grotesque Body of the Postcolony : Sony Labou Tansi and Dambudzo Marechera«, in: Revue de Litt8rature Compar8e 314 (2005), S. 228). 70 Arenas nennt den Prozess des Schreibens eine Art individuelle Teufelsaustreibung: »Para m&, escribir es un exorcismo. […] Escribir es tambi8n una comunicacijn. […] escribir es una liberacijn« (Ette, »Reinaldo Arenas«, S. 194). 71 Arenas, El mundo alucinante, S. 209–210, Kursivsetzung N.U. 72 Arenas, El mundo alucinante, S. 210.

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o&a m#s que aquel ascenso de cadenas que se arrojaban sobre un cuerpo ya remote … Y los carceleros segu&an temiendo … Hasta que llegj el momento: los aterrorizados guardianes oyeron el crujir y se refugiaron, abrazados, en las celdas m#s bajas. Luego oyeron de nuevo el nuevo crujir, y siguieron refugi#ndose. Yal momento se escuchj un estallido de las paredes, un estallido del piso y un estallido de toda la prisijn. Era el peso de las cadenas del fraile que, al fin, hab&a echado abajo toda la c#rcel, que ya no resist&a m#s.73

Der in Ketten gelegte Mönch reißt nicht nur die eigenen Gefängnismauern ein, sondern verwüstet als entfesseltes Geschoss Sevilla, Madrid, C#diz und die ganze Sierra de Lejn, um schließlich von den Ketten befreit im Meer zu landen. Eine ähnliche Transformation von der Fesselung zur Entfesselung beschreibt Arenas bei der Überfahrt des Mönchs von Mexiko nach Spanien. Aus Hunger verleibt sich der Mönch seine Ketten ein, fällt wegen eines Gefechts von Bord, sinkt aufgrund seines Gewichts auf den Meeresboden, schluckt dabei so viel Wasser, dass es ihn wieder aufbläht und er an die Oberfläche kommt, wo er dann seine Ketten erbricht: Y el hambre fue mucha, […] y llegj un momento en que no pude m#s y empec8 a comerme las cadenas con tal de echarle algo a mi estjmago. Y me las com&. Y de esta manera qued8 libre. […] Yo trat8 de sujetarme a unas tablas, pero como ten&a el estjmago lleno de hierros, fui a dar sin remedio al mismo fondo. All& pens8 que hab&a llegado mi fin y me dediqu8 a morir mientras tragaba agua y agua. Tanta, que inflado como un globo, vine a salir a flote. Y vomit8 las cadenas.74

Viele Befreiungsversuche enden im Meer, so auch seine groteske Seereise von Europa nach Amerika: »No se me ocurrij otra cosa que lanzarme al mar. […] Y cuando al fin emerg&, sacando la cabeza, me vi frente a las costas de Am8rica.«75 Die Metaphern des Meeres und der Ketten sowie die Bewegung über den Atlantik von Europa nach Amerika verweisen m. E. immer auch auf die Middle Passage, auf Deportation, Exil und Flucht. Neben diesen grotesken Hybridisierungen zwischen Mensch und Umwelt (Ketten werden zu etwas Leiblichem, das man erbrechen kann) spielen Darstellungen von Chimären, bizarre Verbindungen von menschlichen, tierischen und pflanzlichem Formen – an Bachtins Karnevalisierungstheorie erinnernd – eine große Rolle. In handschriftlichen Sammlungen von Heiligenviten aus dem 13. und 14. Jahrhundert stehen karnevalesk-groteske Illustrationen unmittelbar neben andächtig-seriösen Abbildungen. Für Bachtin stellt die Chimäre die »Quintessenz der Groteske«76 dar. Bei Arenas finden wir zahlreiche Chimären, 73 74 75 76

Arenas, El mundo alucinante, S. 211. Arenas, El mundo alucinante, S. 78. Arenas, El mundo alucinante, S. 233f. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 146.

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sei es der geschlechtsdiffuse Orlando, der Rattenmönch oder Servandos Erzfeind Lejn, der sich beliebig in einen Fisch, Vogel, Hexe oder Wasser verwandeln kann.77 Das Subjekt – der Stolz der Aufklärung – wird von Arenas in eine Sphäre abgründiger Unentscheidbarkeit und sexueller Triebhaftigkeit geworfen. Arenas entlehnt in El mundo alucinante Gestalten, die wir eher aus Märchen oder Mythen kennen wie Hexen, Zauberer, mit Regenschirmen fliegende oder auf Besen reitende Menschen und sprechende Tiere (Ratten sprechen wie Menschen, Mönche verwandeln sich in Ratten). Das Über-sich-hinaus-Wachsende zeigt sich auch bei der grotesken Gestalt(ung) des Leibes. Die Hervorhebung der Körperöffnungen und Ausstülpungen, insbesondere von Mund und Phallus, sind, so Bachtin, die Hauptmerkmale des grotesken Körpers: […] der groteske Körper [ist] von der umgebenden Welt nicht abgegrenzt, in sich geschlossen und vollendet, sondern er wächst über sich hinaus und überschreitet seine Grenzen. Er betont diejenigen Körperteile, die entweder für die äußere Welt geöffnet sind, d. h. durch die die Welt in den Körper eindringen oder aus ihm heraustreten kann, oder mit denen er selbst in die Welt vordringt, also die Öffnungen, die Wölbungen, die Verzweigungen und Auswüchse. Der aufgesperrte Mund, die Scheide, die Brüste, der Phallus, der dicke Bauch, die Nase.78

Die groteske Gestaltung religiöser (und revolutionärer) Herrschaft, denen man in Arenas’ Werk begegnet, entspricht sehr genau diesem Konzept. So beobachtet Fray Servando einen Pater dabei, wie er sein überdimensioniertes Glied, »su monumental artefacto«79, einer Gruppe von Frauen in zeremonieller und ritueller Weise – »a manera de hostia« – in den Mund schiebt. Auf Seiten der Frauen ist die Fleischeslust von unersättlichem und ekstatischem Appetit. In der karnevalesken Vorstellung gibt sich der gierige, verschlingende Mund freudig dem von außen Kommendem hin, er ist es, »der die Welt verschluckt«80 : […] y he aqu& que estoy viendo al padre, completamente desnudo y sudoroso, con el miembro m#s tieso que una piedra y apuntando como una vara, pase#ndose entre aquellas seÇores arrodillados en corro, y sin dejar de recitar sus pr8dicas en lat&n. As& caminaba el padre por entre todo el ciclo de mujeres. Ellas lo miraban extasiadas y a cada momento sus rostros reflejaban la ansiedad y la lujuria, desatada ya en el cura, que segu&a caminando r&tmicamente, mientras su miembro adquir&a proporciones incre&bles, tanto que tem& llegara hasta donde yo estaba, traspasando la puerta … As& pude comprender que todo aquello no era m#s que los preparativos para lo que luego se desatar&a en aquel lugar. De manera que la ceremonia avanzaba. Y las damas, desesperadas y con las manos muy unidas, rodeaban de rodillas al fraile. Y he aqu& que el 77 78 79 80

Vgl. Arenas, El mundo alucinante, S. 142. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 76 und S. 358ff. Arenas, El mundo alucinante, S. 113. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 358.

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cura coge aquella parte tan desarrollada, y con las dos manos la empieza a introducir trabajosamente en la boca de cada dama arrodillada (a manera de hostia) que, en una actitud de plena adoracijn e idolatr&a besaba, engullendo gozosa toda su proporcijn, que el padre retiraba al instante para satisfacer las siguientes solicitudes.81

Ein Übermaß an (männlichen) Triebregungen führt uns Arenas’ Roman vor. Körperteile wie hier der Phallus können sich sozusagen »vom Körper trennen, ein selbständiges Leben führen, denn sie verdrängen den Restkörper als etwas Zweitrangiges«82. Zudem fungiert der Phallus – als Ersatz für die Hostie, welche selbst wiederum in der Eucharistie als Ersatz für den Leib Christie dient – als Brücke zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen. Körperöffnungen und Körperauswüchse haben primäre Bedeutung und verweisen auf mögliche Hybridisierungen, oder auch auf Wachstum und ›Wucherungen‹ des Körperlichen. Der groteske Leib ist markiert von Mehrdeutigkeit, Offenheit und Überschreitung. Leiblichkeit als soziale Energie taucht bei Arenas also entweder in Form von ekstatischer, ausschweifender, orgastischer Sexualität oder als Martyrium auf. Bachtin spricht von den »Akte[n] des Körperdramas«83, die auch Arenas’ Roman unentwegt in den Mittelpunkt rückt. Die Betonung phallisch akzentuierter Körpermotivik ist omnipräsent. Arenas’ groteske Körperkonzeptionen haben nahezu ausschließlich männliche Leiblichkeit und Sexualität zum Gegenstand. Unter genderspezifischen Gesichtspunkten ist augenfällig, dass es in El mundo alucinante zumeist um den ambivalenten maskulinen Körper geht, der entweder potenter Phallus oder gequälter Leib ist. Doch Arenas’ Roman El mundo alucinante kann, wie gezeigt wurde, nicht in allen Teilen mit Bachtins Theorien zur Polyphonie, zum Karneval und zur Groteske gelesen werden. Arenas’ Karnevalisierung des kolonial-missionarischen und postrevolutionären Schreckens mittels grotesker Kreatürlichkeit und unerhörter Phantastik entspricht zwar Bachtins Lachkultur, sprich seiner Aufwertung des Karnevalesken, der verkehrten Welt und der Signifikanz des Lachens, doch Arenas’ ›Abenteuerroman‹ fehlt Bachtins utopische Dimension, zumindest mit Blick auf einen abstrakten und rationalen Utopismus. El mundo alucinante ist ein Gegenentwurf zur Aufklärungslogik und ein Befund für die Irrsinnigkeit der Geschichte. Für den Dissidenten und ›Ketzer‹ Reinaldo Arenas hat die wahre Revolution noch nicht stattgefunden; einzig in der Revolte gegen das von der kirchlichen oder revolutionären Hierarchie verordnete Gebot der 81 Arenas, El mundo alucinante, S. 113. 82 Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 358, Kursivsetzung im Original. 83 »Essen, Trinken, die Verdauung, […] Beischlaf, Schwangerschaft, Entbindung, Wachstum, Alter, Krankheiten, Tod, Verwesung, Zerstückelung und Verschlungenwerden durch einen anderen Körper« (Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 359).

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Mäßigung entsteht sein utopisches Bild. Die Rolle eines Schriftstellers ist für Arenas die eines Dissidenten. »Arenas glaubt nicht mehr an diese ›grands r8cits‹ von der ›Emanzipation der Menschheit oder der ›arbeitenden Klasse‹ […]«, resümiert Andrea Pagni Arenas’ von desengaÇo geprägte Haltung.84 Der Enttäuschung durch die Wirklichkeit, die weder durch religiösen Trost noch politisches Engagement kompensiert werden kann, folgt das rebellische Aufbegehren. Diese Revolte gehe einher mit der Aufwertung der Phantasie und des Traums bis hin zur Artikulation des Wahnsinns.85

2.

Neuschreibung eines Nationalmythos: La Loma del ángel

Wie in El mundo alucinante setzt Arenas in La Loma del #ngel (1987) erneut auf Übertreibung, Groteske und Karnevalisierung, nur hat er sich diesmal keine in Vergessenheit geratenen autobiographischen Schriften als Palimpsest zur Vorlage genommen, sondern den kubanischen Klassiker. Arenas’ Roman ist eine originelle, extrem parodistische und respektlose Neuschreibung von Cirilo Villaverdes symbolträchtigem Werk Cecilia Vald8s o La Loma del #ngel (1839/ 1882), »jenem ersten ›großen‹ kubanischen Sklavenroman«86. Villaverdes Text gilt als das Nationalepos, als der »Gründungstext der kubanischen Erzählliteratur«87, »the canonical foundational novel of Cuban identity«88. Guillermo Cabrera Infante sieht in Cecilia Vald8s den Text, der mehr noch als das Werk Jos8 Mart&s, die kubanische Idiosynkrasie verkörpere.89 Arenas’ Roman La Loma del #ngel ist ein Hypertext par excellence im Genette’schen Sinne. Nicht nur der Titel unterstreicht die Hypertextualität, bis hinein in die Imitation der äußeren Kapitelstruktur folgt Arenas dem Hypotext. Die Tatsache, dass Villaverdes endgültige Fassung erst nach jahrzehntelanger Unterbrechung und zuerst im Ausland publiziert wurde, verweist auf ihre po84 Pagni, »El mundo alucinante«, S. 168. 85 Vgl. Wogatzke-Luckow, »Die Darstellung des Phänomens ›Neobarock‹«, S. 238f. 86 Dieter Ingenschay, »Die spanischen Kolonien in der Karibik: Unabhängigkeitsideen und Sklaventhematik«, in: Michael Rössner (Hg.), Lateinamerikanische Literaturgeschichte, Stuttgart: Metzler 2002, S. 157. Cecilia Vald8s erschien 1839 in einer ersten, kürzeren Fassung und erst 43 Jahre später, 1882, in New York in vollem Umfang. Der Autor musste Kuba aufgrund seiner Teilnahme an einem Aufstand gegen die spanische Kolonialmacht verlassen. Arenas hält in seiner Autobiographie fest: »Cirilo Villaverde es condenado a muerte en Cuba y tiene que escapar de la c#rcel para salvar su vida; y en el exilio trata de reconstruir la Isla en su novela Cecilia Vald8s« (Arenas, Antes que anochezca, S. 115). 87 Ottmar Ette, »Lesen, leben, lieben: Vom Schreiben (in) einer wahnwitzigen Welt« (Nachwort), in: Reinaldo Arenas, Engelsberg, Zürich: Ammann 2006, S. 197. 88 Manzari, H. J., »A postmodern ›play‹ on a nineteenth century cuban classic: Reinaldo Arenas’s La Loma del ang8l«, in: Decimonjnica 3 (2006), S. 45. 89 Vgl. Guillermo Cabrera Infante, Mea Cuba, Bogot#: Alfaguera 1999, S. 79.

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litische Brisanz und auf eine bedeutsame Parallele zwischen Villaverde und Arenas und auf die bis heute andauernde Spaltung des literarischen Feldes Kubas in einen insel- und einen exilkubanischen Bereich. Villaverdes Geschichte spielt in der spanisch-kubanischen Kolonialgesellschaft der 1830er Jahre und beleuchtet das Leben der so genannten freien Farbigen in Havanna. Villaverde erzählt die tragische Geschichte der aufstiegsfreudigen und sehr attraktiven Mulattin Cecilia Vald8s, die als uneheliches Kind einer Mulattin und eines Plantagenbesitzers in einem Waisenhaus und später bei ihrer Großmutter aufwächst und die sich in den ›weißen‹ Kreolen Leonardo Gamboa, Sohn des Besitzers der Zuckerrohrpflanzung, C#ndido Gambia, verliebt. Cecilias Herkunft ist das »explosive secret«90, denn die Liebenden wissen nicht, dass sie Halbgeschwister sind: sie die illegitime Tochter, er der legitime Sohn desselben Vaters. Nachdem Leonardos Leidenschaft erloschen ist, verlobt er sich mit der Großgrundbesitzerin Isabel Ilincheta, einer jungen Frau aus seiner Gesellschaftsschicht. Aus Eifersucht stiftet Cecilia ihren Verehrer, den Mulatten Jos8 Dolores Pimienta an, Leonardo zu töten, woraufhin Isabel sich in ein Kloster zurückzieht. Cecilia wird als »cjmplice en el asesinato de Leonardo«91 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Wie ihre Mutter verfällt sie schließlich dem Wahnsinn und hinterlässt eine Tochter, die ebenfalls als Waise aufwächst. Der Mörder selbst wird nicht gefasst und bleibt flüchtig. Villaverdes Verknüpfung von rührselig anmutender Liebesgeschichte – heute würde man vielleicht von einer Telenovela sprechen – mit einer realistischmoralischen Sicht auf die von Sklaverei korrumpierte Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird häufig als »karibische Sozialromantik«92 charakterisiert. Einerseits bietet der Text ein sozialkritisches Repertoire, welches den Rassismus und die Willkür der Sklaverei anprangert und das Problem des Abolitionismus93 verhandelt, andererseits ist er mit altbekannten romantischen Motiven wie Rache, Wahnsinn, Inzest, Liebesdrama, Rückzug ins Kloster und 90 Doris Sommer, Foundational Fictions: The National Romances of Latin America, Berkeley/ Los Angeles/London: University of California Press 1991, S. 129. 91 Cirilo Villaverde, Cecilia Vald8s o La Loma del #ngel, Havanna: Editorial Letras Cubanas 1980 [1882], S. 279. 92 Ingenschay, »Die spanischen Kolonien in der Karibik«, S. 157. 93 Dröscher liest Villaverdes Roman nicht als abolitionistischen Roman, sondern als »una contribucijn a la construccijn de la memoria cultural cubana que [sic] como posicionamiento respecto a la abolicijn. En un momento en el cual la nacijn cubana independiente es casi palpable, la novela de Villaverde negocia la reparticijn de la culpa de la precariedad de la identidad nacional y de la responsabilidad por el retrazo histjrico respecto a la independencia entre los diferentes sectores de la anterior sociedad esclavista« (Dröscher, Barbara, »La mulata Cecilia Vald8s. Regulaciones de atraccijn y aversijn en la fundacijn de la nacijn cubana«, in: Liliana Gjmez, Gesine Müller (Hg.), Relaciones caribeÇas. Entrecruzamientos de dos siglos. Relations carib8ennes. Entrecroisements de deux siHcles, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2011, S. 96.).

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dem Wiedertreffen verschollen geglaubter Familienmitglieder aufgeladen. Bekannt geworden ist Villaverdes Roman vor allem als kostumbristisches Sittengemälde, welches ein Bild des volkstümlichen Lebens, der Feste, des Treibens auf der Straße und zugleich der unwürdigen Lebensbedingungen der Sklaven auf den Kaffeeplantagen, in den Zuckerraffinerien und den Elendsbaracken vermittelt. Villaverde betont in seinem in New York verfassten »Prjlogo« von 1879, dass er beim Schreiben ausschließlich »d’aprHs nature«94 vorgegangen sei: »Lejos de inventar o de fingir caracteres y escenas fantasiosas e inveros&miles, he llevado el realismo, segffln entiendo […].«95 Genau hier setzt Arenas’ respektlose Dekonstruktion der berühmten Vorlage an: Er verzichtet auf epische Breite und setzt stattdessen auf Verknappung und Überzeichnung. Ob Villaverdes Cecilia Vald8s oder Arenas’ La Loma del #ngel, beide Romane zeigen die unüberwindbaren Hierarchien zwischen »los negros y los blancos« bzw. »los blancos y los negros«96 der von Sklaverei geprägten kubanischen Gesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die titelgebende Mulattin heiratet nicht, es gibt keine bleibenden Verbindungen zwischen ›weißen‹ und ›schwarzen‹ Kreolen. Das erotische Begehren wirkt nur vorübergehend grenzüberschreitend. Stattdessen entfalte sich, so Georg Sütterlin, ein inzestuöses Beziehungsgeflecht, welches die Perversion einer menschenverachtenden Gesellschaft versinnbildlicht, die den Weißen absolute Verfügungsgewalt über die Schwarzen zubilligt und wo das institutionalisierte Gewissen der herrschenden Klasse, die Kirche, grundlegend korrumpiert sei.97 Villaverdes literarisches Projekt, die spanische Kolonie in eine zukünftige kubanische ›mulattische‹ Nation zu überführen, kann man angesichts der asymmetrischen Verhältnisse für gescheitert erklären, denn »Villaverdes Versuch die Widersprüche, Herr-Knecht, Sklave-Plantagenbesitzer, Schwarz-Weiß mit dem Ideal der Liebe und der Ehe zu überwinden, lässt sich für Arenas selbst auf dem Papier nicht einlösen.«98 Für unseren Kontext erscheint interessant, in welcher Form Arenas dieses romantische »foundational fiction«99 umschreibt, denn in einem reescrituraAnsatz wird in der Regel genau das geändert, was der Ursprungstext als zentrale Idee dem Leser mitteilen wollte. Hier ist es der Mythos eines mulattischen Kubas. Cecilia Vald8s sei, so Barbara Dröscher, bis heute eine Ikone im kulturellen

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Villaverde, Cecilia Vald8s o La Loma del #ngel, S. 53, Kursivsetzung im Original. Villaverde, Cecilia Vald8s o La Loma del #ngel, S. 53. So die Titel der zwei Hauptteile in Arenas’ Text. Vgl. Georg Sütterlin, »Weisse Herren, schwarze Seelen«, in: Neue Zürcher Zeitung (21. 12. 2006). 98 Ellen Spielmann, »Alles auf Zucker«, in: Freitag (17. 03. 2006). 99 Den Begriff der Foudational Fictions (1991) hat Doris Sommer für die National Romances of Latin America geprägt.

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Gedächtnis Kubas, sei es in der Zarzuela, im Film,100 in der Wissenschaft oder in der Literatur bis hin zur Tourismusbranche. Das ablehnende Heiratsverhalten Leonardos und der damit verwehrte soziale Aufstieg von Cecilia verweist jedoch auf das Scheitern einer »cubanidad como mulatez«101 – darauf komme ich zurück.

2.1.

Postmoderne narrative Strategien

Auch wenn Arenas den zentralen Plot, die inzestuöse Beziehung zwischen Cecilia und ihrem Halbbruder Leonardo sowie dessen Tod durch den Mulatten Jos8 Pimienta, beibehält, erzählt sein Roman mittels unzähliger Transformationen eine gänzlich andere Geschichte. Augenfälligster Unterschied ist zunächst die starke Verknappung: Ist Villaverdes Roman noch 400 Seiten stark, so verdichtet Arenas den turbulenten Handlungsverlauf auf nur 140 Seiten. Arenas behält den groben Aufbau von partes und cap&tulos bei, aber die Einteilung variiert. Villaverde unterteilt in vier große Teile mit insgesamt 45 Kapiteln. Arenas gliedert seinen Roman in fünf Teile mit insgesamt 34 Kapiteln, die jeweils alle mit Titeln versehen werden, so dass ein Kapitel nie länger als maximal fünf Seiten ist. Dieses Vorgehen hat einen dauernden, fast schwindelerregenden Szenenwechsel zur Folge. Bemerkenswert ist ferner, dass Villaverdes Roman wie üblich mit einer »conclusijn« schließt; Arenas Roman hingegen endet pluralistisch mit »conclusiones«. Arenas’ Texttransformation geht dahin, den von Villaverde betonten realistischen Anspruch in eine phantastische Dimension zu überführen.102 Cecilia ValdHs steht für literarischen Realismus, Arenas’ Roman hingegen illustriert ein »Ad-absurdum-Führen des Realitätseffektes«103. Seine vielfältigen Übertreibungen, Verfremdungen und Spielereien implizieren eine deutliche Absage an mimetische Erzähltechniken und an dogmatische Verordnungen eines sozialistischen Realismus im Sinne Castros. Die Unsicherheit von gesicherter Autorschaft und Historiographie zeigt sich an diversen Stellen: In selbstreflexiver, ironischer und metatextueller Weise schickt Arenas als impli100 Cecilia (1981) des international bekannten Regisseurs Humberto Sol#s, Vertreter des »Neuen Kubanischen Kinos«, ist eine melodramatische Verfilmung von Villaverdes Roman. Hervorzuheben ist Sol#s’ Identifizierung von Cecilia mit Orisha (Göttin der Santer&a). Er insistiere so auf den Anteil der afrokubanischen Bevölkerung an der Revolution (vgl. Dröscher, »La mulata Cecilia Vald8s«, S. 89f.). Sol#s begründete 2003 das »Festival del Cine Pobre«. 101 Dröscher, »La mulata Cecilia Vald8s«, S. 97. 102 Vgl. Ottmar Ette, »]ngel de la reescritura. Travestie und Subversion in Reinaldo Arenas’ La Loma del #ngel«, in: Hans-Jürgen Lüsebrink, Hans T. Siepe (Hg.), Romanistische Komparatistik. Begegnungen der Texte – Literatur im Vergleich, Frankfurt a.M.: Lang 1993, S. 266. 103 Ette, »Lesen, leben, lieben«, S. 194.

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ziter Autor seine Romanfiguren auf eine Reise zu ihrem ursprünglichen Schöpfer Cirilo Villaverde, um mit ihm eine Textpassage zu klären. Jener lebt in Arenas’ Roman inkognito in der Sierra de los =rganos in Pinar del R&o und bekämpft dort das Analphabetentum mit dem vorrangigen Ziel, Leser für seine eigenen Werke heranzuziehen; eine nicht zu übersehende Anspielung auf die Ziele der postrevolutionären Alphabetisierungskampagne in Kuba. Villaverde ist einigermaßen überrascht von seinem Besuch und empfängt ihn mit den belehrenden Worten: Fue entonces cuando reparj en los visitantes. »¿Qu8 se les ofrece ?« dijo poni8ndose de pie. »¿Es posible que ya no nos reconozcas?« se quejj don C#ndido familiarmente. »Claro que los reconozco. Pero en ningffln momento escrib& que ten&an que venir a verme, y mucho menos aqu&. ¡Estoy de incjgnito, y no de ›incjgnita‹ como dijo usted, bruto, unas p#ginas m#s arriba!« le reprochj al mozo del azfflcar.104

Doch Villaverdes Haltung entpuppt sich als wenig hilfreich, denn in postmoderner Manier überlässt er dem Leser die Deutung: »eso queda para el curioso lector…«, woraufhin DoÇa Rosa ärgerlich erwidert: »¡Nada de para el lector… […] Pues si no sabe escribir que se haga zapatero o que se vaya a cargar caÇas a un trapiche! ¡Pero las cosas hay que aclararlas ahora mismo!«105 Nicht nur der historische Autor Villaverde gehört zur erzählten Welt von La Loma del #ngel, auch Arenas taucht als Figur im Roman auf. Die metaleptische Einbeziehung der beiden realen Autoren in das fiktionale Geschehen, sprich die Hybridisierung zwischen extratextueller und intradiegetischer Position lässt sich als postmoderne Dekonstruktion des Erzählprozesses interpretieren.106 Die Distanzierung der Romanfiguren von ihren beiden ›Schöpfern‹ zeigt sich besonders bei der Figur Leonardo Gamboa, der sowohl Villaverde als auch Arenas als »los idiotas narradores«107 bezeichnet: […] as& que nada tengo que ver con esas barrabasadas que el sifil&tico y degenerado, quien piensa que es nada menos que el mism&simo Goya (me refiero naturalmente a Arenas), quiere adjudicarme o con las del otro viejo cretino [Villaverde, N.U.] quien tampoco dio pie con bola en lo que se refiere a mi car#cter, ni en nada…108

104 Arenas, La Loma del #ngel, S. 106. 105 Arenas, La Loma del #ngel, S. 107. 106 Vertiefend zum Konzept der »auto(r)ficcijn« vgl. Vera de Toro, Sabine Schlickers, Anna Luengo, »Introduccijn: La auto(r)ficcijn: modelizaciones, problemas, estado de la investigacijn«, in: Dies. (Hg.), La obsesijn del yo. La auto(r)ficcijn en la literatura espaÇola y latinoamericana, Madrid/Frankfurt: Vervuert/Iberoamericana 2010, S. 7–29. Einen guten Überblick zur spanischsprachigen Autobiographie/Autofiktion gibt Manuel Alberca, El pacto ambiguo. De la novela autobiogr#fica a la autoficcijn, Madrid: Biblioteca Nueva 2007. 107 Arenas, La Loma del #ngel, S. 122. 108 Arenas, La Loma del #ngel, S. 121.

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Leonardo Gamboa greift Reinaldo Arenas als »imb8cil narrador de esta novela, que ni siquiera es de 8l originalmente« sogar direkt an und beschwert sich über seine unzutreffende Charakterisierung als »un energfflmeno, un vago, un perezoso y un mal estudiante«109. Arenas spielt unentwegt mit Erzählerpositionen, indem er sich und Villaverde als Romanfiguren ins Spiel bringt und sich die Figuren autonomisieren. Die narrative Metalepse veranlasst eine Hybridisierung von Autoren- und Figurenschaft. Die Grenze zwischen zwei Welten, der Welt, in der man erzählt, und der Welt, von der erzählt wird, wird bewusst überschritten.

2.2.

Mulatización oder »weiß malen«

In der kubanischen Literaturgeschichte repräsentiert die titelgebende, schöne Mulattin Cecilia Vald8s die einzige Romanfigur, die zum literarischen Mythos – zur femme fatale und vor allem zum Archetypus der mulatez oder mulatizacijn – selbst über die Grenzen der Karibik hinaus zur identitätsstiftenden Symbolfigur avancierte.110 Diese »Modellierung des Nationalen mit Hilfe der Liebesverbindung zwischen einem Weißen und einer Mulattin, [ermöglicht] die Bedeutung von Cecilia Vald8s als identitätsbegründendem Roman«111. Villaverdes Geschichte der Mulattin Cecilia Vald8s liest sich als nationale Allegorie, als »Mythos eines mulattischen Kuba«112. 109 Arenas, La Loma del #ngel, S. 121. 110 Vgl. Ette, »Lesen, leben, lieben«, S. 190f. In einem Interview mit Ottmar Ette wies Arenas darauf hin, dass er noch weitere Romane zu zeitgenössischen bzw. historischen Frauenfiguren, die zusammen gewissermaßen eine Allegorie Kubas repräsentieren, beabsichtigt. »No solamente con la reescritura de ›Cecilia Vald8s‹ sino yo tengo un proyecto de tres noveletas que, unidas las tres, formar#n una novela que ser# la historia de tres mujeres en la historia de Cuba. Una es la viuda de Lezama. Es un personaje muy interesante y fue la que salvj los manuscritos in8ditos de Lezama. […] Despu8s hay una seÇora, una condesa del siglo XVIII, que pretendo hartj una visijn de esa 8poca a trav8s de un personaje delirante que viv&a en Par&s y que fue a Cuba dos veces, la condesa de Merl&n. A esos dos personajes de la realidad los quiero llevar a la ficcijn a mi manera. Y otra mujer muy al principio de la conquista de EspaÇa en Cuba, durante la colonizacijn, que era la mujer de Hernando de Soto y que se llama Isabel de Bobadilla. […] A trav8s de estos tres personajes femeninos yo quiero dar toda una historia de Cuba, desde el punto de vista de la ficcijn, desde luego, porque a m& la Historia en s& misma, con mayfflscula, no me interesa; para eso est#n ya los libros de historia. Pero quiero decir que siempre va a haber argumentos si uno siente esa necesidad creadora« (Ette, Ottmar, »Entrevista con Reinaldo Arenas, Nueva York, 29 de noviembre de 1985«, in: Titus Heydenreich (Hg.), Der Umgang mit dem Fremden. Beiträge zur Literatur aus und über Lateinamerika, München: Fink 1986, S. 186f., Hervorhebung N.U.). Doch aufgrund seines frühen Todes konnte er dies leider nicht mehr umsetzen. 111 Ottmar Ette, »Cirilo Villaverde: Cecilia Vald8s o La Loma del #ngel«, in: Volker Roloff, Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Der hispanoamerikanische Roman, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1992, S. 42. 112 Ette, »Cirilo Villaverde: Cecilia Vald8s o La Loma del #ngel«, S. 43. Nicht nur Arenas weist

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Nicht übersehen werden darf: Cecilias ›Aufstiegswille‹ illustriert einen verinnerlichten Rassismus, den bereits Fanon in seinem Klassiker Peau noire, masques blancs zum Verhältnis »La femme de couleur et le Blanc« analysierte. Um dem eigenen Schicksal »un peu de blancheur«113 zu verleihen, griffen viele schwarze Frauen zu der Überlebensstrategie der äußeren Unterwerfung. In La Loma del #ngel übermalt Cecilia kurzerhand ihre schwarze Urgroßmutter Amalia Alarcjn mit weißer Farbe, um ihren weißen Liebhaber Leonardo über ihre Herkunft zu täuschen: »- ¡Blanca! ¡Si, blanqu&sima! … As& es como tiene que verte 8l. Leonardo no sabr# nunca que eres una negra retinta. Si lo llega a saber no se casar# conmigo. ¡Blanca! ¡Blanca! ¡Ni mulata siquiera! …«114 Cecilia hat für Männer ohne Geld und Einfluss keine Zeit. Doch ihr emanzipatorisches Anliegen schlägt fehl. Als Mulattin bleibt ihr der soziale Aufstieg verwehrt, denn sie ist nicht die passende Person für Heirat und Kinder, sprich für Erbfolge und Weitergabe von Kapital. In dem Motiv der Mulattin vereinen sich Rassismus, Sexismus und Klassenkonflikte in besonderer Weise. Die Abschaffung des Klassenbegriffs reicht für ehemalige Sklavenhaltergesellschaften als Emanzipationsprojekt eben nicht aus. Cecilias Urgroßmutter war noch schwarz, doch die außerehelichen Verbindungen von Urgroßmutter, Großmutter und Mutter jeweils mit weißen Männern ließen Cecilia Vald8s fast zu einer Weißen werden. Diese von Verfügbarkeit, Vaterlosigkeit und Illegitimität geprägte Geschichte wird von der Großmutter DoÇa Josefa als ein »Fluch« beschrieben: Una vez m#s la misma maldicijn que hab&a perseguido a toda la familia volv&a a cumplirse. El bello, fugaz e inevitable hombre blanco que de pronto engendraba a otra mulata para que la fat&dica tradicijn siguiese su curso. La historia hab&a comenzado con su madre, doÇa Amalia, negra africana, que la hab&a engendrado a ella, Josefa, mulata casi negra, y ella con otro hombre blanco hab&a tenido a la parda Rosario Alarcjn, quien a su vez con don C#ndido Gamboa hab&a engendrado a Cecilia, mulata casi blanca (o blanconaza, como le dec&an), y ahora Cecilia, con su propio hermano blanco, ten&a una hija la que sin duda se enamorar&a de algffln blanco.115

Bemerkenswert ist nicht nur in diesem Zitat der hervorgehobene Grad von Whitening bzw. der ›Mulattisierung‹. Es bleibt immer ein Rest ›Schwarzheit‹ im Sinne Homi Bhabhas almost the same but not quite, almost the same but not auf die gleichen Initialen von Autor und Hauptfigur hin (C.V.), so dass man bei Villaverde in Anlehnung an Flaubert davon sprechen kann: »Cecilia Vald8s, c’est moi«. Die diskriminierte Mulattin repräsentiert ebenfalls den diskriminierten Exilanten, vgl. Ette, »Reinaldo Arenas«, S. 178. 113 Fanon, Frantz, Peau noire, masques blancs, Paris: Seuil, 1971 [1952], S. 34. 114 Arenas, La Loma del #ngel, S. 77. 115 Arenas, La Loma del #ngel, S. 117f., Kursivsetzung N.U.

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white – wobei Bhabha jedoch so das Widerstandspotential innerhalb dieser problematischen Mimikry aufmerksam machen will. Für unseren Kontext lässt sich festhalten: Die matrilineare Kette alleinstehender Mulattinnen mit den von weißen Männern gezeugten Kindern führt letztlich nicht zu stabilen Solidarbeziehungen, sondern zu prekären Grenzgängen, wie Dröscher konkretisiert: A pesar de que el »whitening« resulta exitoso en cuanto a la piel, la aspiracijn a un estatus social m#s alto falla, […]. Una y otra vez, sus proyectos de vida fracasan. Ni les es posible fundar una familia nuclear de tipo burgu8s, ni la solidaridad entre las mujeres en el barrio resulta ser una red social estable y deseada, esta fflltima no existe en el horizonte discursivo de Villaverde.116

In dem Kapitel »El milagro« wächst das uneheliche Kind von Cecilia und Leonardo in Cecilias Körper innerhalb von Sekunden, verwandelt sich vom Jungen zum Mädchen, kommt mit einem ohrenbetäubendem Geschrei auf die Welt und mutiert umgehend zur Fünfjährigen, um so allen Abtreibungsversuchen zu entgehen. Für Cecilia steht nach Leonardos Verrat fest: »Tener un hijo mulato y sin padre en este sitio es echar otro esclavo al mundo. ¡No, no quiero cargar con ese crimen!«117 Und weiter lesen wir : Y en menos de cinco minutos, desarrollando una insjlita energ&a, crecij desmesuradamente, se abultj dentro de la placenta, tomj la forma ya de un niÇo de nueve meses, patalej en el vientre de su madre, cambi#ndose, para mortificarla affln m#s el sexo, pues era, un varjn; y de un cabezazo, soltando alt&simos gritos, salij la niÇa del cuerpo de Cecilia quien atjnita contemplaba aquel fenjmeno. – ¡Mam#! – dijo la niÇa de inmediato, llegando en dos segundos a la edad de cinco aÇos, donde se detuvo.118

Die intendierte, aber vom Kind selbst vereitelte Kindstötung taucht hier als typisches Mittel auf, um ein Kind vor Wiederversklavung zu schützen. Das Verwerfliche des Inzests tritt hier hinter dem Ungeheuerlichen, nämlich der Sklaverei, zurück. Das eigentlich dramatische Potential der ›Blutschande‹ löse sich in der Groteske auf, da fast jede Figur in Unkenntnis ihrer Herkunft und daher durchweg im potentiellen Inzest lebe.119 Selbst die Protagonistin lebt lange Zeit in Unklarheit über ihre Herkunft, denn ihr Name Vald8s verweist auf keinerlei gesicherte Genealogie: Y su historia, al menos para ella, era un enigma. Sus referencias son sjlo una abuela mulata que nadie sabe de qu8 vive, una bisabuela negra que, segffln dicen, es bruja, una cicatriz en el hombro derecho y un apellido, Vald8s, con el que bautizan en la Casa Cuna a los niÇos de padres desconocidos. Los dem#s tienen hermanos, padres, madres, 116 117 118 119

Dröscher, »La mulata Cecilia Vald8s«, S. 100. Arenas, La Loma del #ngel, S. 116. Arenas, La Loma del #ngel, S. 116f. Vgl. Wogatzke-Luckow, »Dekonstruktion und Rekonstruktion eines Textes«, S. 351.

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alguien a quien poder odiar o amar, parecerse o renegar. Ella tiene las calles, los portales y la claridad del d&a. Ella se tiene sjlo a s& misma y por eso sabe (o intuye) que si deja de hacer ruido deja de ser.120

La Loma del #ngel ist mit seinem zentralen Thema der Waisenschaft ein exemplarisches Beispiel für ein orphan narrative der post-plantation literature.121

2.3.

Groteske Gestaltungen

Arenas’ Roman weist trotz seiner massiver Verknappung des Hypotextes eine Fülle origineller Ideen, bizarrer Handlungsverläufe und grotesker Maskeraden auf. Bischöfe verkleiden sich als Engel, um ihr sexuelles Begehren hemmungslos auszuleben. Oder die in Cecilia Vald8s mehrmals erwähnte weiße Ikonographie der omnipotenten Mater Dolorosa taucht als schwarze Muttergottes auf.122 Die Muttergottes ist bei Arenas nicht in der Lage, Trost zu spenden, Erlösung zu prophezeien oder Wunder zu bewirken; sie ist weitestgehend ohne göttliche Macht: Entonces la virgen traspasada por la espada de fuego se agitj levemente en el nicho y concedi8ndole a la mulata una mirada fr&a y pavorosa hablj: – ¿Y cjmo es posible que precisamente me hayas elegido a m& como consuelo? Con esta espada de fuego que perennemente me traspasa el pecho y con mi fflnico hijo asesinado por la turba, ¿cjmo puedo ser yo la encargada de reconfortante? ¿No te has dado cuenta (¡nadie se ha dado cuenta!) de que yo tambi8n estoy transida de dolor? […] Pero si los amantes [Cecilia y Leonardo] hubiesen observado detenidamente […] habr&an comprobado que la virgen hab&a sido sustituida por otra imagen. Ten&a la piel completamente morena, el pelo ensortijado, en los brazos sosten&a no a un niÇo rubio sino a un negrito, y una expresijn 120 Arenas, La Loma del #ngel, S. 18. 121 Vgl. Val8rie Loichot, Orphan Narratives: The Postplantation Literature of Faulkner, Glissant, Morrison, and Saint-John Perse, Charlottesville: University of Virginia Press 2007. Barbara Dröscher hält für die von Frauen geschriebenen zentralamerikanischen Romanen des ausgehenden 20. Jahrhunderts ebenfalls fest, dass die Figur der Grenzgängerin auffällig oft mit Waisenschaft einhergehe, vgl. Barbara Dröscher, »Transkulturalität und Geschlecht in den Erzählungen zentralamerikanischer Autorinnen am Ende des 20. Jahrhunderts«, in: Stephanie Schütze, Martha Zapata Galindo (Hg.), Transkulturalität und Geschlechterverhältnisse. Neue Perspektiven auf kulturelle Dynamiken in den Amerikas, Berlin: tranv&a 2007, S. 117. 122 Diese Umschreibung gibt es nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Kunst. Viele Bilder und Wandmalereien stellen zwar die Christengeschichte dar, die Heiligen aber haben dunkle Hautfarbe und gleichen eher den Indios. Auch die Tierwelt ist eher die amerikanische und die Trauben gleichen mehr einer Ananas. Dieser Synkretismus wurde nicht nur so ausgeführt, um die Indios zu bekehren, sondern weil die Architekten und Maler meist Indios waren, vgl. Schwarzwald, Doris, »Lateinamerikanische Literatur im Lichte der Transkulturation«, in: Trans 14 (2005), S. 7.

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de dolor affln m#s intensa ensombrec&a su semblante. Expresijn que aumentj affln m#s cuando los hermanos cayeron abrazados sobre el lecho.123

Die Statue ist »starr vor Schreck« und »Inbegriff der Verzweiflung«, aber immerhin verfügt sie über eine eigene Stimme. Arenas belässt es nicht bei der sprechenden Statue, sondern er transformiert sie von weiß zu schwarz. Cecilias Großmutter, DoÇa Josefa, welche bei der Muttergottes Trost gesucht hatte, wird zu Stein und nimmt den Platz der Heiligen ein. Die Anbetende wird so zu einer potentiell Anzubetenden: […] la virgen hab&a sido sustituida por otra imagen. Ten&a la piel completamente morena, el pelo ensortijado, en los brazos sosten&a no a un niÇo rubio sino a un negrito, y una expresijn de dolor affln m#s intensa ensombrec&a su semblante.124

Repräsentierte bei Villaverde das titelgebende Loma del #ngel noch ein Stadtviertel Havannas, so ist es bei Arenas eine Grabstätte. Der Engelshügel in Arenas’ Roman war ursprünglich eine Senke, die als Grabstätte genutzt wurde und die mit der Zeit, aufgrund der vielen Toten während der Amtszeit Echerres, zu einem gewaltigen Grabhügel anwuchs. Der Bischof Echerre lässt sich demnach auch als ›Engelmacher‹ interpretieren, denn das Fundament der Kirche setzt sich aus Leichen zusammen und lässt die Kirche immer höher in den Himmel ragen: Pero tantos fueron los muertos […] que se enterraron en el cementerio que est# bajo la misma iglesia que r#pidamente el tfflmulo se fue convirtiendo en una gigantesca elevacijn sobre la cual el templo o nave religiosa, sobrecargado de columnas, agujas, crester&as, g#rgolas, albacaras, volutas y archivoltas absolutamente innecesarias iba siempre subiendo. As& al llenarse de cad#veres una bjveda religiosa, la misma se convert&a en enorme tumba y sobre aquel conglomerado de huesos segu&a erigi8ndose la iglesia que ahora se remontaba a veces a las mismas nubes.125

Der Engelshügel fungiert als lieu de m8moire, als Topographie der Toten. Für Arenas gilt es Formen von Erinnerung zu finden für eine Geschichte, deren Zeugen und Zeuginnen ausgelöscht wurden. Arenas’ Poetik bezweifelt dabei das Sinnpotential vernunftmäßigen Denkens, zumal die Sklaverei rational keineswegs zu fassen ist. Inmitten des reproduzierbaren Wissens kann sich das kollektive Trauma der Sklaverei bloß als Erschütterung des Diskurses äußern.126 123 124 125 126

Arenas, La Loma del #ngel, S. 118–119. Arenas, La Loma del #ngel, S. 119. Arenas, La Loma del #ngel, S. 23f. Vertiefend hierzu vgl. Natascha Ueckmann, »Koloniale Sklaverei und Narrativität: die Plantage erzählen. Zum Romanwerk von Edouard Glissant und Jean-Claude Fignol8«, in: Alexandra Strohmaier (Hg.), Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdiziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript, S. 421–443 und Natascha Ueckmann, Ästhetik des Chaos in der Karibik. »Cr8olisation« und »Neobarroco« in franko- und hispanophonen Literaturen, Bielefeld: transcript 2014.

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Die grotesken Inszenierungen und Inversionen nehmen bei Arenas kein Ende: Exzessive Gaumenfreuden anlässlich eines opulenten Weihnachtsessens enden in einer haltlosen Völlerei, wobei sich die Anwesenden in menschliche Riesenkugeln verwandeln und schließlich zu Karsterhebungen werden: Ya a media noche, cuando terminj la cena, todos se hab&an convertido en gigantescas y relucientes bolas o cuerpos completamente esf8ricos que los sirvientes cubrieron con enormes mantas y empuj#ndolos suavemente los condujeron hasta sus respectivas habitaciones. No obstante, a pesar de la eficacia de estos esclavos dom8sticos, algunas de aquellas gigantescas esferas humanas perdieron el rumbo y abandonando la residencia cruzaron (y destruyeron) el jard&n, dispers#ndose por la extensa campiÇa seguidas por la fiel servidumbre que inffltilmente trataba de darles alcance. […] Transformados pues en aquellos inmensos cuerpos rodantes iban el cura, doÇa Rosa y sus hijas […]. A otro d&a, don C#ndido abandonj el ingenio en confortable volanta acompaÇado por Carmen y Leonardo. (Los dos fflnicos miembros de la familia con que ahora contaba). Al pasar por el Valle de ViÇales reconocij la figura de su esposa petrificada y temiendo que affln pudiera formularle algffln reproche, ordenj al calesero espolear los caballos.127

Im ausufernden Essen und Trinken manifestiert sich bei Arenas der groteske Körper. In überdimensionierter Weise erscheint auch die Spazierfahrt der Condesa de Merl&n auf dem Paseo del Prado, »copia inferior al original situado en Madrid«128, welche exemplarisch das müßiggängerische Leben der Aristokratinnen, die aus Sklavenhalterfamilien kamen, auf Kuba im 19. Jahrhundert spiegelt. Zahlreich sind die Adjektive, die die voluminösen Ausmaße ihrer Erscheinung beschreiben: »las gigantescas proporciones de la falda«, »la falda gigantesca«, »la gigantesca manta«, »un inmenso sombrero de alt&sima cfflpula y alas affln m#s desproporcionadas«, »esta caballera descomunal«.129 Während dieses grandiosen Auftritts in Havanna kommt es zu einer wilden Verfolgungsjagd, wobei sie in ihren zu Segeln aufgeblähten Kleidern nach Europa schwimmt: »As&, en pocos segundos, la regia seÇora adquirij la configuracijn y eficacia de un enorme y poderoso velero que impulsado por el viento abando-

127 Arenas, La Loma del #ngel, S. 111ff. 128 Arenas, La Loma del #ngel, S. 63. Mar&a de las Mercedes Santa Cruz y Montalvo (1789–1852), besser bekannt unter den Namen La Condesa de Merl&n oder Comtesse Merlin, war eine renommierte Sklaverei-Befürworterin und Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts. Sie wurde im kolonialen Havanna in einer aristokratischen Familie geboren, lebte später in Spanien und Frankreich. Nur ein einziges Mal kehrte sie nach Kuba zurück, im Anschluss entstand ihr Reisebericht Viaje a La Habana (1840). Arenas montiert hier bewusst einen Anachronismus ein, denn ihr Besuch fand erst Ende der 1830er Jahre statt, Villaverdes Geschichte ist jedoch in den Jahren 1812 bis 1832 situiert, vgl. Manzari, »A postmodern ›play‹ on a nineteenth century cuban classic«, S. 54. 129 Arenas, La Loma del #ngel, S. 64.

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naba ya la bah&a y atravesaba el Golfo de M8xico intern#ndose, a vela tensa, en el oc8ano Atl#ntico.«130 Eine weitere an Münchhausen auf der Kanonenkugel erinnernde Episode ist die mit der dampfbetriebenen Zuckerpresse. Diese aus England importierte Dampfmaschine verwandelt sich für Tausende von Sklaven in einen Apparat, der sie nach Afrika in die Freiheit katapultieren soll: En menos de un minuto cientos de ellos se treparon descalzos al gigantesco y candente lomo met#lico y al grito de »¡A la Guinea!« se introduc&an por el tubo de escape, cruzando de inmediato, a veces por docenas, el horizonte. […] Vestidos con lo mejor que ten&an – trapos rojos o azules – se introduc&an en el tubo de escape y una vez en el aire, sin duda enardecidos por la euforia y el goce de pensar que al fin volaban a su pa&s, ejecutaban cantos y bailes t&picos con tal colorido y movimiento que constituyj un espect#culo verdaderamente celestial, tanto en el sentido figurado como real de la expresijn … […]. Espl8ndidos cantos y danzas yorubas y bantffles (congos y lucum&es) en agradecimiento a Changj, Ochffln, Yemay#, Obatal# y dem#s divinidades africanas fueron ejecutados, […].131

Die vermeintliche Rückkehr nach Afrika durch die Dampfmaschine erinnert an einen entfesselten Volkskörper, um mit Bachtin zu sprechen; verweist aber auch auf die reale Hoffnung vieler Sklaven, durch Selbstmord in Afrika wieder aufzuerstehen.132 Bei Arenas ›regnen‹ die Sklaven als Leichname am folgenden Tag auf die Erde hinab und ›verhageln‹ Leonardo und Isabel ihr Schäferstündchen, denn während ihrer »romance del palmar«133 säumen zahlreiche Tote ihren Weg. Dies dient Isabel als Anlass, um über die unterschiedlichen Todesarten der Sklaven zu dozieren: Selbsterstickung durch die eigene Zunge mangels tödlicher Waffen, Selbsterschlagung durch die am Fußgelenk befindliche Eisenkugel oder Selbststrangulation durch die eigenen Hände. Die verschiedenen Todesarten der versklavten Menschen, wie sie in zynischer Weise in La Loma del #ngel vorgestellt werden, repräsentieren das genaue Gegenstück zum Schrei, denn im ›Freitod‹ richtet der Sklave die Aggression gegen sich selbst. Der Schrei wird nicht selten durch Selbsterstickung unterdrückt. Jede Form von Gewalt und 130 Arenas, La Loma del #ngel, S. 67. 131 Arenas, La Loma del #ngel, S. 95f. 132 Vgl. Ulrike Schmieder, »Ganz oben und ganz unten. Das Leben der Aristokratinnen und Sklavinnen auf Kuba aus der Sicht von europäischen Reisenden des 19. Jahrhunderts«, in: Matices. Zeitschrift zu Lateinamerika, Spanien und Portugal 31 (2001). FranÅoise Lionnet weist darauf hin, das die Spirituals der Afro-Amerikaner »glorifient souvent la mort comme forme de passage dans l’au-del/, vers une vie de libert8 et de bonheur introuvable sur cette terre. Ce ph8nomHne d’int8riorisation d’une id8ologie mortifHre est commun / ceux qui ont 8t8 assujettis ou asservis« (FranÅoise Lionnet, »Savoir du corps et 8criture de l’exil: les romanciHres de la diaspora antillaise et le mythe de l’authenticit8«, in: Maryse Cond8 (Hg.), L’h8ritage de Caliban, Cond8-sur-Noireau: Jasor 1992, S. 112). 133 Arenas, La Loma del #ngel, S. 98.

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Bedrohung wird bei Arenas ins Groteske gekehrt, dabei sind es nicht die Todesarten, die absurd sind – sie hat es in der Geschichte der Sklaverei gegeben –, sondern Isabels Umgang mit dieser Realität ist grotesk. Das bewusste Fehlen von Tiefe ist Konsequenz von Arenas’ Roman. Gemeint ist damit, dass der Leser zu keiner der Figuren eine emphatische Beziehung aufbauen soll, denn der Konstruktionscharakter des Erzählten ist immer offensichtlich.134 Traumatisches wird im Modus des Komischen erzählt. Die offenkundige Inkongruenz von Thema und Erzählweise, von histoire und discours erzeugt einen überraschenden, grotesken Effekt. Den Schrecken der traumatischen Geschichte erfahren wir in Arenas’ Hypertext nur mittelbar über den Kunstgriff der Überzeichnung. Die von Arenas entworfene Welt voll Wahnsinn, Alpträumen und Gewalt ist Ausdruck für eine koloniale Gesellschaft, die ihre Grundwerte aus Rassismus und Sexismus bezieht und daran schließlich zu Grunde geht.

2.4.

Der Schatten der Vernunft: Reescritura der Isabel Ilincheta

Speziell die Figur der Isabel Ilincheta erfährt in Arenas’ La Loma del #ngel eine Neuschöpfung durch Inversion. In Villaverdes Roman bringt der Autor gerade ihr die größten Sympathien entgegen, was Ette wie folgt erklärt: Sie steht mit ihrer Mitmenschlichkeit gegenüber ihren Sklaven, aber auch mit der klugen Verwaltung ihrer Güter für eine Modernisierung und moralische Regenerierung der Insel, wie sie sich Villaverde und mit ihm die kreolische Elite erhofften. […] Sie verkörpert doch den Fortschritt, die Zukunft einer Gesellschaft repräsentiert, die sich auf christliche Werte, vor allem aber auf die abendländische Rationalität verlassen kann.135

Die Situation der Sklaven auf der Kaffeeplantage, die Isabel leitet, ist im Vergleich zu der Situation auf der Gamboas’schen Zuckerplantage geradezu ›human‹. Selbst wenn dieses Modernisierungs- und Humanisierungsprojekt im Roman scheitert, denn Isabel zieht sich nach der Ermordung ihres Gatten ins Kloster zurück, ruhe Villaverdes ganze Hoffnung auf den Isabels der Zukunft.136 Isabel ist in Villaverdes Roman eine »philanthropische, gütige, empfindsame, pflichtbewusste und paternalistische ›Mutter‹ ihrer Sklaven«137. Sie erscheint »als Engel innerhalb der spanischen Kolonialgesellschaft« und beschließt ihr 134 135 136 137

Vgl. Wogatzke-Luckow, »Dekonstruktion und Rekonstruktion eines Textes«, S. 352. Ette, »Lesen, leben, lieben«, S. 201. Vgl. Ette, »Lesen, leben, lieben«, S. 201. Wogatzke-Luckow, »Dekonstruktion und Rekonstruktion eines Textes«, S. 352.

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Leben »folgerichtig nicht auf ihrer Kaffeeplantage, sondern im Kloster«138. Wie bereits erwähnt, wird bei einem reescritura-Ansatz genau das verfremdet, was die zentrale Botschaft des Prätextes betrifft. Arenas kommt zu ganz anderen conclusiones als Villaverde. Er lässt es sich nicht nehmen, die Schattenseite abendländischer Rationalität aufzuzeigen. Isabel verkörpert bei ihm den Inbegriff einer menschenverachtenden, vernunftgesteuerten Haltung. Villaverdes Hoffnungsträgerin des Fortschritts und des Humanismus verkörpert nun den kalten Rationalismus. Sie ist stets auf ihren eigenen Vorteil bedacht und ihre Handlungen dienen ausschließlich pragmatischen Zielen. Buchführung, Kontrolle, Inspektion und Inventarisierung der Plantage sind ihre eigentliche Passion. Während Leonardo mit einem scheinheiligen Liebeswerben um die Gunst von Isabel buhlt, ist sie mit der Akkumulation ihrer Güter beschäftigt. So verbindet sie in ›vorbildlicher‹ Weise – wie wir in dem romantisch klingenden Kapitel »El romance del palmar« erfahren – jederzeit das Schöne mit dem Nützlichen: Cogidos de las manos, Isabel y Leonardo se pasean por el inmenso palmar cercano a la residencia de los Gamboa. El vestido blanco de Isabel, con lazos sueltos y mangas caladas, barre con su larga cola todo el sendero. Tarea 8sta que se propuso Isabel al ver aquellos caminos llenos de basura. As& mientras paseo realizo a la vez una labor ffltil –pensj la joven–. Despu8s de todo. Luego de la boda con Leonardo, estas tierras tambi8n ser#n m&as.139

Nachdem Isabel sich in Arenas’ Version mit dem sterbenden Leonardo vermählt und ihn in aller Öffentlichkeit auf dem Altar vergewaltigt, um über ein eheliches Kind an sein Erbe zu gelangen, geht sie – anders als bei Villaverde – am Ende als Siegerin hervor. Es gelingt ihr, ihren Reichtum mittels nüchterner Kalkulationen zu akkumulieren. Ette resümiert treffend, dass hier nicht der Schlaf, sondern der Traum der Vernunft es gewesen sei, der die Ungeheuer erzeuge: »Die bei Villaverde so vernünftige Isabel steht bei Arenas als wahre femme fatale für die Zukunft einer modernen Diktatur im Zeichen von Unmenschlichkeit, Unterdrückung und Ausbeutung.«140 Hier werden erneut Arenas’ Zweifel am modernen Fortschrittskonzept deutlich. Er zeigt anschaulich, dass ein Korpus scheinbar vernünftiger Ideen durchaus mit der Ideologie von Kolonialismus und Sklaverei einhergehen konnte. Die komplizenhafte Beziehung zwischen Diskursen der Moderne wie der Aufklärung und der kolonialistischen Vereinnahmung wird hier überdeutlich.

138 Ette, »Cirilo Villaverde: Cecilia Vald8s o La Loma del #ngel«, S. 32. 139 Arenas, La Loma del #ngel, S. 98. 140 Ette, »Lesen, leben, lieben«, S. 202, Kursivsetzung im Original.

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2.5.

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Widerstand vs. Mulatización

Abschließend lohnt es sich noch einmal einen Blick auf die titelgebende Mulattin zu werfen. Ineke Phaf wertet die Mulattin als eine Art ›Aufsteigertyp‹, die insbesondere im Denken der Autoren (nicht der Autorinnen) fest verankert sei.141 Ihre Omnipräsenz lässt aufhorchen: Erotik und Konkubinat sind für sie Techniken des sozialen Aufstiegs. Sie ist Bewohnerin der kolonialen Stadt; keine Sklavin der ländlichen Kaffee- und Tabakanbaugebiete oder der Zuckerrohrplantagen. Man könnte Villaverde einen impliziten Rassismus vorwerfen, denn Cecilia Vald8s repräsentiert gerade nicht diese Gesellschaftsschicht der schwarzen Sklaven. Die Mulattin verkörpert vorherrschend europäische Wertvorstellungen. Das Motiv der karibischen Mulattin, so Phafs These, gehe mit der Idee der bürgerlichen Nationalgesellschaft seit Ende des 18. Jahrhunderts als Personifizierung des städtischen Lebens in eine Literatur ein, die sich auf die Ideen der Aufklärung besinnt.142 Die Mulattin avanciert zur »angebetete[n] Verkörperung der Stadt«143. Sie ist zwar Objekt der Begierde, doch der Aufstieg bleibt ihr verwehrt und aus der zunächst romantischen wird eine tragische Figur. Im Motiv der Mulattin überlagern sich nicht nur Vorstellungen vom außereuropäischen Raum und vom weiblichen ›rassischen Fremdkörper‹144, sondern die Mulattin verweist überdies auf die Stilisierung des europäischen Lebensstils. Cirilo Villaverde hat den europäischen Traum für Kuba übernommen. Auch Manzari kommt zu dem Schluss: »In Villaverde’s version, the slave population was always viewed as a destabilizing factor in Cuba’s white society. Here, Arenas exhibits a concern for the ›other‹ and gives a voice to this sector of the Cuban population.«145 Ganz anders gestaltet sich Arenas’ narrativer Traum bzw. Alptraum. Am Ende seines Romans liegt die Sklavenhaltergesellschaft in Trümmern: C#ndido Gamboa lässt sich nach dem Verlust seines Vermögens und der Entehrung durch seine Tochter Carmen, die mit dem Schwarzen Tond# eine Verbindung eingeht, 141 Vgl. Ineke Phaf, »Motivforschung altmodisch? Mit der Mulattin zu einem karibischen Nationaltext«, in: Karl Kohut (Hg.), Rasse, Klasse und Kultur in der Karibik, Frankfurt a.M.: Vervuert 1989, S. 86. »Die städtische Mulattin als Entertainerin für ein Publikum, das die Welt aus der Sicht der europäischen Stereotypen betrachten möchte, verschwindet seitdem nicht mehr aus der Literatur der Karibik« (ebd., S. 92). 142 Vgl. Phaf, »Motivforschung altmodisch?«, S. 87. Eingeführt wurde dieses Motiv mit den Reisebeschreibungen A Narrative of a five years expedition against the revolted negroes in Surinam, Guiana, on the wild coast of South America des schottischen Offiziers John Gabriel Stedman (1744–1797), ein Bericht, der auch Alejo Carpentier als Vorlage für seinen Roman El siglo de las luces gedient hat, vgl. ebd., S. 89. 143 Phaf, »Motivforschung altmodisch?«, S. 95. 144 Vgl. Phaf, »Motivforschung altmodisch?«, S. 96. 145 Manzari, »A postmodern ›play‹ on a nineteenth century cuban classic«, S. 55.

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von einem seiner Sklaven erschlagen. Da aus C#ndido Gambias Verbindungen mit zwei Frauen unterschiedlicher Hautfarbe Kinder entstehen, ist er das produktive und zugleich destruktive Zentrum des Romans, in dessen Verlauf dem fortschreitenden wirtschaftlichen Niedergang von C#ndido Gambia die Befreiung und Emanzipation der Sklaven gegenüber gestellt wird. Als abschließende Utopie – und damit gäbe es doch eine »utop&a 8tica«146, die laut Bachtin für ein groteskes Werk gegeben sein muss – taucht bei Arenas in der Figur des Cimarrjns auf: Carmen lebt mit ihrem Geliebten Tond# und den gemeinsamen Kindern (»unos mulaticos insoportables«) en »un palenque de negros cimarrones«147, in der wir wieder auf die ehemalige Sklavin Dolores Santa Cruz, die vermeintlich Wahnsinnige treffen, die sich zwischen Plantage und CimarrjnSiedlung bewegt. Auch den Sklaven Dionisios, einst Koch der Gamboas, treffen wir am Ende im Palenque der Dissidenten an; er übernimmt in der Siedlung die leibliche Versorgung der entlaufenen Sklaven. Übertragen auf unsere geopolitische Situation entspricht eine solche Siedlung entweder Canudos148 oder einem Slum, jedenfalls einem rechtsfreien Raum an den Rändern der Gesellschaft. Hier sammeln sich die Entwurzelten und Enteigneten, diejenigen, die nichts mehr zu verlieren haben als ihre Ketten. Die entlaufenen Sklaven improvisieren eine Gemeinschaft wie jene von Canudos, ein befreites Territorium, welches Ausgegrenzten Zuflucht bietet und ein selbstorganisiertes Kollektiv bildet. Arenas zielt also nicht auf eine durch Gewaltverhältnisse hervorgerufene mulatizacijn als nationale Idee, sondern setzt am Ende seiner reescritura bewusst schwarze Cimarrjn-Figuren in Szene. Gemeinschaft wird hier ausgehend von den Opfern der Sklaverei hergestellt. Arenas’ Schluss, der den Figuren Jos8 Dolores Pimienta, Dionisios und Tond# gewidmet ist, verweist ausdrücklich auf eine Widerstandsgeschichte der Sklaven und eben nicht auf das Motiv der Mulattin und der damit verbundenen, unmöglichen Aufstiegsgeschichte. Auf doppelter Ebene taucht bei Arenas das Thema Widerstand auf, zum einen sein Widerstand gegenüber dem historischen Kanon, seine kritische und parodistische Befragung von Historiographie und zum anderen die Anerkennung des Widerstandes der Sklaven durch seine Inszenierung der Cimarrjn-Siedlung. Arenas’ Roman, der im post-abolitionistischen Zeitalter 146 Schlickers, »La rebeld&a narrativa de Reinaldo Arenas en El mundo alucinante«, S. 115. 147 Arenas, La Loma del #ngel, S. 135. In Villaverdes Roman geht Carmen eine Verbindung mit einem Offizier der spanischen Kolonialmacht ein und orientiert sich so an der Sicherung der Privilegien. 148 Canudos war ein im brasilianischen Hinterland gelegenes Gemeinwesen von Randständigen. Es wurde 1897 vom Militär der brasilianischen Regierung zerstört. Das Massaker an den Bewohnern von Canudos wurde überregional bekannt durch die literarische Verarbeitung in Euclides da Cunhas Werk Os Sertles (1902) sowie in Mario Vargas Llosas Roman La guerra al fin del mundo (1981).

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geschrieben wurde, wendet sich von Villaverdes Propagierung der Mulattin als Integrationsfigur (»Mulattenfrage«) ab und stellt stattdessen die »Negerfrage« und die Befreiungsbewegungen ins Zentrum seines neo-abolitionistischen Romans.

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Matthias Hausmann

Groteske Medienverquickungen in Adolfo Bioy Casares’ Dormir al sol

1.

Einleitung

Adolfo Bioy Casares gilt gemeinhin als ein klassisch schreibender Autor,1 der einen nüchternen Stil pflegt,2 weshalb seine Behandlung in einem Band, der sich der Erforschung des Grotesken in der spanisch-sprachigen Literatur verschrieben hat, auf den ersten Blick überraschen mag.3 Indes pflegt Bioy von jeher ein dezidiertes Interesse an hybriden Wesen, die in vielen seiner Texte auftauchen, wie Lisa Block de Behar treffend herausstellt: »Las invenciones [de Bioy] cruzan especies procreando h&bridos de hombres con dioses, con animales, con m#quinas; un mundo de quimeras, de sueÇos antiguos que sobreviven por una tecnolog&a que los favorece.«4 1 Vgl. dazu etwa Mar&a Isabel Tamargo, La narrativa de Bioy Casares. El texto como escrituralectura, Madrid 1983, S. 11: »Tanto al hablar de Bioy Casares como de Borges, es frecuente decir que son escritores ›cl#sicos‹.« 2 Diese Beurteilung seines Stils deckt sich auch mit der Selbsteinschätzung von Bioy, der hervorhebt, dass er sich – nach anfänglichen Versuchen der Imitation von Quevedo und Joyce – stets um einen klassischen Sprachgebrauch bemüht habe; vgl. Manuel Ulacia, »Entrevista a Adolfo Bioy Casares. Lengua, poes&a, literatura y cine«, in: Lisa Block de Behar (Hg.), Adolfo Bioy Casares en Uruguay: De la amistad y otras coincidencias, Montevideo 1993, S. 213–226, hier S. 216: »[Frage:] ›¿Se considera usted un escritor cl#sico, en el sentido en que no busca innovaciones en el lenguaje?‹ – [Bioy :] ›[…] En este sentido s&.‹« Interessanterweise betont er direkt anschließend, dass er sich in anderer Hinsicht keineswegs als klassisch empfindet (ebd.: »En otro [sentido] no me atrevo a imaginarme a m& mismo como cl#sico.«), was einen ersten Fingerzeig darauf gibt, dass in den Strukturen seiner Werke – denen auch die Nachfragen Ulacias gelten, die indes nur vage Antworten finden – Elemente vorhanden sind, die sich mit dem Grotesken verbinden lassen. 3 Die Bedeutung des Grotesken bei Bioy hervorzuheben, ist eines der Verdienste der Studie von Javier de Navascu8s (El esperpento controlado. La narrativa de Adolfo Bioy Casares, Pamplona 1995), der dort auch feststellt, dass dies bisher kaum erkannt worden ist (S. 67): »lo grotesco en Bioy [es] un aspecto todav&a no estudiado a fondo por la cr&tica.« 4 Lisa Block de Behar, »Nuevas versiones de un pacto f#ustico«, in: Alfonso de Toro, Susanna Regazzoni (Hg.), Homenaje a Adolfo Bioy Casares. Una retrospectiva de su obra. Literatura – Ensayo – Filosof&a – Teor&a de la cultura – Cr&tica literaria, Madrid 2002, S. 23–39, hier S. 36 (Kursivierung im Original).

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Ein prägnantes Beispiel bildet beispielsweise Bioys Erzählung »Los afanes«, in der der Erfinder Eladio Heller immer wieder Verbindungen zwischen anorganischen, mechanischen und elektronischen Elementen sowie Tieren schafft, wie sich schon zu Beginn zeigt: »Heller acaba de cumplir doce o trece aÇos, cuando intentj una modificacijn en la estructura de las palomas mensajeras. Les abrij el cr#neo para perfeccionarlas con el aditamento de piedras de galena, por las que los animales recibir&an jrdenes enviadas con un transmisor.«5 Solche Hybride können bereits zum Grotesken gerechnet werden, wobei gerade die Verbindung mit der Technik, die in diesem cuento wie auch in dem Forscherzitat zuvor aufscheint, nicht zu vernachlässigen ist. So ist ja schon der »mythische[] Archetypus des Grotesken«6, der Minotaurus nämlich, nur mit Hilfe einer künstlichen Kuh und mithin eines technischen Apparates, entstanden. Um derartige, durch Technik ermöglichte Hybride wird es in diesem Beitrag gehen, wobei die Beobachtung von Lisa Block de Behar zu einer weiterführenden These ausgebaut werden soll, denn solche hybriden Kombinationen begegnen dem Leser im Werk von Bioy nicht nur auf der Ebene der histoire, sondern auch auf der des discours. Das technische Medium des Films hält in einigen seiner Werke auch Einzug in die Vermittlungsebene7 und äußert sich mitunter in einer filmischen Schreibweise, wobei diese gezielte Vermischung, dieses Hybrid aus einem literarischen und einem filmischen Stil auf der Diskursebene die hybriden Figuren der Geschichtsebene spiegelt. Diese Spiegelung soll im Folgenden ebenfalls genauer untersucht und in Zusammenhang mit einer jüngeren Systematisierung der mise en abyme gebracht werden. Für eine nähere Analyse der genannten Punkte erscheint der fünfte Roman Bioys, Dormir al sol, als Untersuchungsgegenstand besonders einschlägig, der bisher überdies vergleichsweise wenig erforscht wurde.8 Die an diesem Text 5 Adolfo Bioy Casares, »Los afanes«, in: Ders., El lado de la sombra, in: Ders., Obra completa II: 1959–1971, hg. von Daniel Martino, Buenos Aires 2013, S. 226–244, hier S. 227. Da Heller später eine Art »Seelenverpflanzung« durchführt, und zwar zunächst an einem Hund und später an einem Menschen, besteht ein Zusammenhang zwischen diesem cuento und dem Roman Dormir al sol, der in der Folge im Zentrum der Betrachtungen stehen wird. 6 Dorothea Scholl, Von den »Grottesken« zum Grotesken. Die Konstituierung einer Poetik des Grotesken in der italienischen Renaissance, Münster 2004, S. 79. 7 Neben seinem bekannten Auftreten als Motiv in vielen Werken Bioys, besonders prominent natürlich in La invencijn de Morel. 8 Dormir al sol ist Bioys fünfter Roman, wenn man seine ersten sechs Bücher nicht berücksichtigt (von denen sich der Argentinier im Nachhinein auch unmissverständlich distanziert hat), und mithin die Zählung der Werke mit La invencijn de Morel beginnt. Innerhalb des somit ab 1940 entstehenden Werks nimmt Dormir al sol aus Sicht Bioys eine privilegierte Stellung ein, die sich nicht zuletzt in der folgenden Aussage zeigt: »Si mis libros fueran casas, la casa en la que me gustar&a vivir ser&a Dormir al sol.« (F8lix della Paolera; Esther Cross (Hg.), Adolfo Bioy Casares. Sobre la escritura – Conversaciones en el taller literario, Madrid 2007,

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vorgestellten Aspekte werden später auch an einem weiteren Roman Bioys, El sueÇo de los h8roes, erläutert, wobei zudem eine Einordnung Bioys in den Neobarock sowie politische Implikationen seiner Schriften diskutiert werden sollen, um die Verfahren in einen größeren Kontext einzuordnen.

2.

Dormir al sol: Handlung und Struktur

Zum leichteren Verständnis sei knapp der Inhalt von Dormir al sol dargestellt: In einem zunächst völlig alltäglich wirkenden Buenos Aires lebt der Protagonist Lucio Bordenave mit seiner Frau Diana, in die er sehr verliebt ist, was vor allem in ihrer physischen Schönheit begründet liegt. Die Handlung setzt ein, als angebliche Wissenschaftler Diana mit dem Argument, sie sei schwer krank, in einer psychiatrischen Anstalt unterbringen. Der Deutsche Standle, der eine Hundeschule leitet, sowie der Leiter der Klinik, Dr. Reger Samaniego, setzen die Internierung durch, während Lucio, der überaus konfliktscheu und leicht zu beeinflussen ist, seine Frau fast kampflos den dubiosen Medizinern überlässt. Als Diana aus der Klinik zurückkommt, scheint sie zufriedener als zuvor. Doch nach und nach fallen Lucio immer mehr seltsame Dinge an ihrem Verhalten auf, so dass er schließlich in die Klinik geht und Aufklärung fordert, woraufhin er selbst dort festgehalten und Zeuge seltsamer Experimente wird, die er sich erst gänzlich erklären kann, als ihm die Flucht gelingt und ihm wenig später der Chef der Klinik die ebenso phantastische wie schreckliche Wahrheit enthüllt: Dank neuartiger chirurgischer Methoden ist es nunmehr möglich, die Seele vom Körper zu trennen.9 Die entfernte Seele wird nach der OP für einige Zeit in einen Hund eingepflanzt, was Samaniego als Möglichkeit entdeckt hat, die Seelen psychisch kranker Patienten zu heilen (S. 212): »Para el hombre no [hay] mejor cura de reposo que una inmersijn en la animalidad.« Bei der Behandlung von Diana kam es zu einem Zwischenfall, da der Hund, in S. 93). Dieser Wertschätzung seitens des Autors steht bis heute ein eher geringes Interesse der Forschung gegenüber. Marina G#lvez Acero spricht von »la escasa incidencia que este texto ha tenido ante la cr&tica« (»La felicidad de ›dormir al sol‹«, in: Anales de literatura hispanoamericana 26 (1997), S. 447–459 hier S. 448, Anm. 2), und diese Feststellung trifft auch Julien Roger: »[C]e roman a 8t8 peu 8tudi8 par la critique.« (»Le pouvoir de l’8criture dans Dormir al sol d’Adolfo Bioy Casares«, in: Les Langues N8o-Latines 348 (2009), S. 21–32, hier S. 23f.). Diese beiden Aufsätze können als bisher wichtigste eigenständige Beiträge zu Dormir al sol gelten. 9 Dies erfolgt in direkter Bezugnahme auf Descartes (Adolfo Bioy Casares, Dormir al sol, Buenos Aires 1973, S. 214): »¿Recuerda lo que dec&a Descartes? […] Descartes pensaba que el alma estaba en una gl#ndula del cerebro. […] Descartes no se equivocj en lo principal. El alma est# en el cerebro y podemos aislarla.« Alle folgende Zitate aus Dormir al sol sind ebenfalls dieser Ausgabe entnommen und werden zur Entlastung des Fußnotenapparats stets mit Seitenangabe in Klammern direkt im Fließtext belegt.

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den ihre Seele zur Heilung eingesetzt war, aus der Klinik ausbrechen konnte. Somit war Samaniego gezwungen, in den Körper von Lucios Frau die Seele einer anderen Person einzupflanzen. Nun haben die Ärzte zwar den Hund mit Dianas Seele wiedergefunden, aber da der Prozess irreversibel ist, kann ihre Seele nur in einen anderen Körper eingesetzt werden, so dass Lucio nun laut Samaniego wählen könne zwischen dem Körper von Diana mit der Seele einer anderen oder der Seele von Diana in einem fremden Körper. Lucio weigert sich dies zu akzeptieren und will gegen die Ärzte vorgehen, als er durch eine Spritze ruhig gestellt wird und wieder als Internierter in der Klinik aufwacht. Damit endet der erste Teil des Romans, der durch einen Brief von Lucio an F8lix Ramos gebildet wird. Der nur wenige Seiten umfassende zweite Teil schildert aus Sicht von Ramos das Ende der Handlung: Ramos bekommt von einem menschlich wirkenden Hund den Brief übergeben und erkennt im benachbarten Haushalt der Bordenaves, dass beide Ehepartner kleine OP-Narben am Hals tragen.10 Der Leser kann daher vermuten, dass Samaniego seine Experimente zu einem konsequenten Ende gebracht und auch Lucios Seele in einen Hund verpflanzt hat, während in dessen alten Haus nun zwei Personen miteinander leben, die nur den Körpern nach Lucio und Diana sind. Dies wird sich auch nicht mehr ändern, da Ramos entscheidet, nicht auf Lucios Brief zu reagieren. Man sieht sich also vor einem bitterbösen Romanschluss: Personen, die sich vorher überhaupt nicht kannten, sollen fortan eine Ehe simulieren, während der eigentliche Hausherr diese Szenerie nur machtlos als Hund verfolgen kann.

3.

Vom Karneval im Werk …

Schon dieses Ende mutet grotesk an, vor allem aber ist eine erste groteske Dimension in Dormir al sol durch die Kreuzung von Menschen und Tieren ersichtlich,11 wobei, wie bereits zu Beginn des Artikels erwähnt, Technik eine wesentliche Rolle spielt: Die »wissenschaftlichen« Experimente von Samaniego und Standle führen zu Verbindungen von Hunden und Menschen. Die Vermischung von beiden Kategorien wird schon vorher dadurch unterstrichen, dass sowohl der Erzähler Lucio als auch einige andere Personen verschiedentlich Vergleiche zwischen Menschen und Tieren, insbesondere Hunden anstellen. So 10 Vgl. Bioy, Dormir al sol, S. 228: »[C]re& ver, en la nuca da la muchacha, una cicatriz. Me parece que Bordenave ten&a una igual.« 11 Auf die Bedeutung dieser Kreuzung für das Groteske vom Beginn seiner Geschichte an verweist Wolfgang Kayser mit Entschiedenheit; vgl. Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, hg. von Günter Oesterle, Tübingen 2004, S. 25: »Die Vermischung von Tierischem und Menschlichem, das Monströse als wichtigstes Kennzeichen der Groteske […]«.

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beendet Lucio etwa eine Charakterisierung seines Schwiegervaters Don Mart&n mit den zunächst eher unauffälligen Worten (S. 23): »[S]i me habla, es para ladrarme.« Im Nachhinein wird bereits hier eine bewusste Vermischung der Sphären angedeutet, die den Menschen immer näher an das Tierreich heranführt und die in einer Aussage von Ceferina, der alten Haushälterin Lucios, noch deutlicher wird. Diese stellt lakonisch fest (S. 144): »Los hombres son como perros.«12 Die sich in diesem Satz andeutende zunehmende Verwischung der Grenzen zwischen Menschen und Tieren innerhalb des Romans13 zeigt sich schließlich am klarsten, als Lucio nach Dianas Internierung eine Hündin kauft, die wiederum auf den Namen Diana hört, wobei in der Folge oft unklar bleibt, von wem er nun spricht, ob von Frau oder Hund.14 Mehr noch, es verschwimmen die üblichen Hierarchien,15 ja es kommt gar zu einer vollkommenen Umwertung, da mit einem Mal »una ›inmersijn en la animalidad‹ equivale a ›inmersijn en la racionalidad‹«.16 Dies bedeutet eine Parallele zur Welt des Karnevals, wie sie von Bachtin beschrieben wird, der bekanntlich nachdrücklich betont, dass sich im Karneval ein monde / l’envers herausbildet, in dem jede Hierarchie verneint wird.17 12 Julien Roger sieht in dieser Aussage von Ceferina zu Recht »une des cl8s herm8neutiques du roman« (»Le pouvoir de l’8criture dans Dormir al sol«, S. 27). 13 Es ließen sich leicht viele weitere Beispiele anführen, von denen hier nur noch eines genannt sei: Lucio bezeichnet das Gesicht von Samaniego zweimal als »cara de lobo« (S. 123 – »una verdadera cara de lobo« – und S. 165) und vergleicht den Arzt damit explizit mit einem Wolf, also der großen, wilden Form des Hundes. Die genannten Beispiele sind freilich auch Vorwegnahmen der später stattfindenden Operationen und damit Vorausdeutungen auf die Vermischung von Hunden und Menschen durch die Verfahren in der Klinik Samaniegos. Um auf das Eingangszitat von Lisa Block de Behar zurückzukommen und zu verdeutlichen, dass sich derartige groteske Hybride in zahlreichen anderen Geschichten Bioys finden, kann man etwa auf den cuento »En memoria de Paulina« verweisen, in dem ebenso über die Beschreibungen der Figuren Vermischungen von Mensch und Tier angedeutet werden, worauf Javier de Navascu8s verweist (vgl. »Perspectivas y espacios del engaÇo en un cuento de Bioy Casares«, in: RILCE: Revista de filolog&a hisp#nica 10 (1994), S. 83–96, hier S. 92). Ebenso könnte man die Erzählung »Bajo el agua« aus der Sammlung Una muÇeca rusa anführen, in der Fisch-Mischwesen auftreten und die aufgrund einer OP an einer »gl#ndula« des Menschen deutliche inhaltliche Parallelen zu Dormir al sol gibt aufweist. 14 Nach einem Alptraum kommentiert er selbst diese fortschreitende Gleichsetzung seiner Frau mit der Hündin in seinen Gedanken (107): »Pas8 la noche en continua agitacijn, porque soÇ8 que el hombre p#lido me hab&a robado la perra. En la pesadilla, con las piernas cansadas de caminar tanto y con ansiedad en el alma, buscaba la perra por todo el barrio y por el Parque Chas. La llamaba mentalmente y creo, Dios me perdone, que en mi angustia confund&a y hasta identificaba una Diana con otra.« Träume spielen für die Verwischung der Grenzen zwischen Mensch und Tier in Dormir al sol eine zentrale Rolle, wie auch das folgende Beispiel zum Karneval zeigen wird. 15 Vgl. dazu G#lvez, »La felicidad de ›dormir al sol‹«, S. 445: »[E]l mundo de los humanos acaba identificado con el mundo animal, para as& anular las jerarqu&as entre los dos.« 16 G#lvez, »La felicidad de ›dormir al sol‹«, S. 458. 17 Vgl. Bachtin, Machail, L’œuvre de FranÅois Rabelais et la culture populaire au Moyen Age et

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Dabei ist zu beachten, dass die Idee des Karnevals nicht nur von Literaturwissenschaftlern von außen an den Text herangetragen werden kann, sondern sich auch direkt in diesem findet. Die Verbindung zwischen Menschen und Tieren ist nämlich durch mehrere Träume des Protagonisten vorbereitet und kulminiert in einem Alptraum Lucios, in dem Diana bei einem Karnevalsumzug von ihm weggezogen wird, wobei die Personen, die die beiden Liebenden trennen, allesamt Tiermasken tragen (32): »El carnaval desembocj entonces en la avenida y la arrastrj a Diana. La vi perderse entre m#scaras disfrazadas de animales […].« Träume spielen generell eine große Rolle in diesem Roman, wobei auch die ihnen eigene Verzerrung immer wieder thematisiert wird. Da wie gesehen auch die Vermischung und die Verkehrung (jeweils zwischen Tieren und Menschen bzw. den üblicherweise zwischen ihnen bestehenden Hierarchien) für Dormir al sol konstitutiv sind, liegt die Bedeutung der drei Grundkategorien des Grotesken, wie sie von Peter Fuß in seiner einschlägigen Studie herausgearbeitet wurden, für diesen Text auf der Hand.18 Fuß’ Erkenntnisse zum Grotesken sind auch daher für Bioys Roman so interessant, da gerade dieser darauf verweist, dass das Groteske und die Phantastik zumindest in Teilen verwandte Phänomene sind, da bei beiden eine »Unentscheidbarkeit« entsteht.19 Dies scheint ein Grund mehr zu sein, grotesken Ausprägungen in den Werken Bioys nachzugehen, der ja als einer der wichtigsten Vertreter der phantastischen Literatur Argentiniens gelten kann. In unserem Roman ist die Verbindung der beiden Phänomene besonders greifbar, denn neben dem sich im Karneval des Alptraums versinnbildlichenden Grotesken ist die Phantastik ein weiteres zentrales Merkmal des Textes, vor allem sous la Renaissance, übers. v. Andr8e Robel, Paris 1970, S. 18: »[L]e carnaval 8tait le triomphe d’une sorte d’affranchissement provisoire de la v8rit8 dominante et du r8gime existant, d’abolition provisoire de tous les rapports hi8rarchiques, privilHges, rHgles et tabous.« Vgl. ebd. S. 19 zum »monde / l’envers« des Karnevals. 18 Vgl. Peter Fuß, Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln 2001. Im zweiten Teil seiner Studie beschreibt Fuß die »anamorphotischen Mechanismen des Grotesken«, die er in Verkehrung, Verzerrung und Vermischung unterteilt (S. 233–421). 19 Die »Unentscheidbarkeit« taucht früh in Fuß’ Studie als wesentlicher Aspekt des Grotesken auf (vgl. etwa Das Groteske, S. 14; ebenso Anmerkung 6 auf S. 13, wo von der »Ambiguität« des Grotesken die Rede ist, welche ja auch der Phantastik im Sinne Todorovs zugrunde liegt). In einem kurzen Kapitel widmet sich Fuß später dem schwierigen Verhältnis von Phantastischem und Groteskem (S. 126–133), wobei er unter Rekurs auf Todorovs Thesen betont, dass beide »durch die Abkehr von der Mimesis des Wirklichen und die Inadäquatheit mit den unsere Vorstellung von Realität konstituierenden Regeln der Erkenntnisordnung gekennzeichnet sind« (S. 128), womit beiden eine »subversive Potenz« (S. 130) zu eigen ist. Gleichwohl stellt Fuß aber auch Unterschiede zwischen Phantastik und Groteskem dar, welche er nicht zuletzt darin sieht, dass das Groteske – im Gegensatz zur Phantastik – nicht auf Kunst und Literatur beschränkt sei.

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da der Leser über das Ende des Textes hinaus zweifeln muss, ob Lucio tatsächlich Zeuge und Opfer unmenschlicher Experimente wurde oder ob dies allein seiner Einbildung entspringt. Diese für die Phantastik nach Todorov unabdingbare »h8sitation« liegt dabei nicht zuletzt in der mangelnden Glaubwürdigkeit Lucios begründet, der seinen erklärenden Brief als Insasse einer psychiatrischen Einrichtung verfasst. Der fiktive Leser des Briefs, F8lix Ramos, lässt sich jedenfalls von Lucios Bericht nicht überzeugen und verweigert seine Hilfe, was man auch als Fingerzeig für den realen Leser werten mag, Zweifel an der Darstellung des Ich-Erzählers zu verspüren. Die Parallele zwischen Phantastik und Groteskem lässt sich noch fortsetzen, da die Welt des Karnevals auf eine Welt des Uhrwerks trifft, denn Lucio ist nicht von ungefähr Uhrmacher von Beruf und aus Berufung. Dies betont zum einen den phantastischen Charakter der Geschichte, da hier das Unerklärliche in eine Welt eindringt, in der zuvor alles höchst regel- und routinemäßig abgelaufen ist. Zum anderen verweist dies erneut auf das Groteske, da mit einem Mal alle Überzeugungen des Protagonisten in Frage stehen, die ihm vorher so unerschütterlich wie ein Schweizer Uhrwerk erschienen waren. Eben dies kann als ein wesentlicher Aspekt des Grotesken angesehen werden, wie Dorothea Scholl in ihrer Habilitationsschrift Von den »Grottesken« zum Grotesken herausstellt, in der sie das Groteske als »Einbruch« charakterisiert, der bestehende Gewissheiten, »das, was als das Selbstverständliche angesehen wird«, erschüttert.20

4.

… zum Karneval der Werke

Bioy inszeniert den Karneval aber nicht nur innerhalb seines Werks Dormir al sol, vielmehr kann man auch von einem Karneval der Werke sprechen, denn in dem Roman scheinen, mehr oder minder verkleidet, viele andere Texte auf. Dies ist auch ein Grund, Bioy stärker als bisher in den Neobarock einzugliedern, wozu die Thesen von Severo Sarduy fruchtbar gemacht werden sollen, zumal sich diese gut mit dem Phänomen des Grotesken verbinden lassen. Sarduy spricht bekanntlich von einer »carnavalizacijn de la literatura que el barroco latinoamericano reciente […] ha heredado.«21 Dies lässt sich bestens auf Bioy über-

20 Scholl, Von den »Grottesken« zum Grotesken, S. 23. Vgl. dazu auch Kayser, Das Groteske, S. 38: »Die groteske Welt ist unsere Welt – und ist es nicht. Das mit dem Lächeln gemischte Grauen hat seinen Grund eben in der Erfahrung, daß unsere vertraute und scheinbar in fester Ordnung ruhende Welt sich unter dem Einbruch abgründiger Mächte verfremdet, aus den Fugen und Formen gerät und sich in ihren Ordnungen auflöst.« Vgl. zudem ebenda, S. 62, 64 und 198f. 21 Severo Sarduy, »El barroco y el neobarroco«, in: Ders., Obra completa, hg. von Gustavo

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tragen, über dessen Roman Plan de evasijn beispielsweise eine Kritikerin schreibt, man könne ihn als »un carnaval literario« betrachten.22 Selbiges trifft auf zahlreiche weitere seiner Werke zu, wobei die Einbeziehung anderer Texte stets deutlich mehr als reiner Zierrat ist. Folgt man in dieser Hinsicht einer Einteilung von Sarduy, der festhält, dass »[hay que] distinguir entre obras en cuya superficie flotan fragmentos, unidades m&nimas de parodia, como un elemento decorativo, y obras que pertenecen espec&ficamente al g8nero parjdico y cuya estructura entera est# constituida, generada, por el principio de la parodia, por el sentido de la carnavalizacijn«23, so ist Bioy eindeutig der zweiten Gruppe zuzuordnen.24 Erst das Zusammenspiel mit den vielen Vorlagen, die hinter seinen Werken erkennbar sind, verleiht diesen ihre ganze Tiefe.25 Dormir al sol stellt dabei einen äußerst interessanten Fall dar, und im Folgenden seien einige Werke hervorgehoben, die vom aktiven Leser als Hintergrundfolien dieses Romans erkannt werden sollen. An erster Stelle ist dabei ein Text zu nennen, der für das Gesamtwerk Bioys überragende Bedeutung besitzt und etwa nachhaltig auf seine Zwillingswerke La invencijn de Morel und Plan de evasijn gewirkt hat, nämlich H.G. Wells’ The island of Doctor Moreau.26 Die

22 23 24

25

26

Guerrero und FranÅois Wahl, Bd. II, Madrid 1999, S. 1385–1404, hier S. 1394 (Kursivierung im Original). Mercedes Rivas, »La escritura parjdica de Plan de evasijn y Dormir al sol de Adolfo Bioy Casares«, in: Philologia hispalensis 4 (1989), S. 35–45, hier S. 35. Sarduy, »El barroco y el neobarroco«, S. 1395. Dass hier erneut der Terminus »carnavalizacijn« fällt, unterstreicht, wie einschlägig Sarduys Thesen für das Thema dieses Bandes sind. Dies gilt um so mehr, als die Einbeziehung anderer Werke organisch in Bioys Textproduktion einzufließen scheint, ganz wie es Sarduy hervorhebt: »[textos en filigrana que] intr&nseco a la produccijn escriptural, a la operacijn de cifraje […] en que consiste toda escritura, participan, conscientemente o no, del acto mismo de la creacijn.« (»El barroco y el neobarroco«, S. 1397). Dies verbindet Bioys Werk übrigens auch mit dem von Sarduy selbst, der in seiner belletristischen Praxis den Prinzipien folgt, die er für den Neobarock festgehalten hat – vgl. dazu Samuel Arriar#n, »La teor&a del neobarroco de Severo Sarduy«, in: Iberoamericanaliteratura (Juni 2012), S. 1–12, https://iberoamericanaliteratura.files.wordpress.com/2012/ 04/arriaran.pdf (30. 3. 2015), hier S. 5: »Esta pr#ctica narrativa [la de Sarduy] es muy elocuente cuando observamos la abundancia de elementos parjdicos carnavalescos. Y, sobre todo, los elementos intertextuales.« Um ein weiteres Mal auf Sarduy zu rekurrieren, kann man Bioys Texte innerhalb des Neobarocks daher als zu einem »g8nero mayor« zugehörig werten, da der kubanische Kritiker und Schriftsteller für das verfremdende Einbeziehen anderer Texte festhält: »[S]jlo en la medida en que una obra del barroco latinoamericano sea la desfiguracijn de una obra anterior que haya que leer en filigrana para gustar totalmente de ella, 8sta pertenecer# a un g8nero mayor« (»El barroco y el neobarroco«, S. 1393f. (Kursivierung im Original)). Dabei lässt sich auch The island of Doctor Moreau gut mit den oben besprochenen Thesen zum Karneval verbinden, da man in Wells’ Roman mit Karin Peters ein »karnevaleske[s] Anti-Paradies« erkennen kann (Der gespenstische Souverän. Opfer und Autorschaft im 20. Jahrhundert, München 2013, S. 363). Zudem wurde der Text schon von seinen zeitge-

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Experimente mit lebenden Menschen und Tieren in Dormir al sol erinnern deutlich an diejenigen Moreaus, vor allem da explizit von »viviseccijn« die Rede ist.27 Ein weiterer Text, der hinter Bioys Fiktion aufscheint, ist Villiers de l’IsleAdams L’Eve future, wobei sich die Parallele hier insbesondere über die Frage ergibt, wie man einen perfekten Geist in einen perfekten Körper bringt.28 In beiden Werken sind Entdeckungen zentral, deren Charakter man nach Borges’ berühmten Diktum in seinem Prolog zu La invencijn de Morel als »fant#stico pero no sobrenatural« bezeichnen könnte.29 Nicht zuletzt diese Aussage von Borges könnte auch ein Anlass sein, über einen Aspekt zu reflektieren, der bei der erwähnten Beteiligung der Technik zur Erzeugung grotesker Elemente eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt: die (technische) »Einholbarkeit« der beschriebenen Schöpfungen. Schließlich führt die historische Entwicklung, gerade im wissenschaftlich-technischen Bereich, dazu, dass so manches, was früheren Generationen grotesk erschien, für uns Normalität darstellt. Noch scheinen die Experimente von Bioys Ärzten in Dormir al sol jenseits der Realisierbarkeit, aber ob nicht doch einmal eine Elektrodenverschaltung zwischen einem menschlichen und einem tierischen Organismus erfolgen wird, wird erst die Zukunft beantworten. Weit in der Vergangenheit liegt dagegen ein nächster wesentlicher Intertext für Bioys Roman, der eine der frühesten ausführlichen literarischen Darstellungen des Wechsels von Mensch zu Tier und wieder zurück darstellt: Apuleius’ nössischen Lesern als »groteske Parodie der Schöpfung« wahrgenommen (ebd., S. 343), was die Bezugnahme von Bioys Roman für unser Thema um so wichtiger macht. 27 Der Begriff »viviseccijn« taucht insgesamt dreimal im Roman auf und wird überdies von Lucio explizit kommentiert: Erstmals fällt er im Zusammenhang mit einer fiktiven HorrorFernsehserie, von der Lucios Freund Aldini berichtet und von der gleich noch ausführlicher die Rede sein wird (S. 91), und wenig später erneut in einem Gespräch mit Aldini (S. 102), was Lucio zu folgendem Kommentar samt der dritten Erwähnung des Wortes anregt (ebenda): »De nuevo parecij la palabra viviseccijn que yo no recordaba, hasta que la o&, en sueÇos, las otras noches.« Diese Aussage verweist nicht nur auf die Bedeutung dieses chirurgischen Verfahrens, das die Grundlage der Eingriffe Samaniegos bildet, sondern auch erneut auf die wichtige Rolle von Träumen in diesem Roman. Zur engen Beziehung von Bioys Werken zu Wells’ Roman vgl. insbesondere die Rezension zu Dormir al sol von Emir Rodr&guez Monegal: »La invencijn de Bioy Casares«, in: Plural 29 (1974), S. 57–59. Vgl. auch Rivas, »La escritura parjdica de Plan de evasijn y Dormir al sol«, S. 37f., wo die Nähe von Dormir al sol und Plan de evasijn zu The island of Doctor Moreau verhandelt wird. 28 Auch Villiers’ L’Eve future ist durch die oben angesprochene Grundansicht Descartes’ von der Trennung von Körper und Geist geprägt, welche sich nahezu idealtypisch in Lord Ewalds Ausruf »Qui m’itera cette .me de ce corps!« zeigt, der den Roman leitmotivisch durchzieht. Zur Ähnlichkeit zwischen Eve future und Dormir al sol vgl. ausführlich Matthias Hausmann, »Die perfekte Frau im perfekten Körper : Villiers de l’Isle-Adam und Adolfo Bioy Casares«, in: Komparatistik Online 5 (2010), S. 136–158. 29 Jorge Luis Borges, »Prjlogo«, in: Adolfo Bioy Casares, La invencijn de Morel. El gran seraf&n, hg. von Trinidad Barrera, Madrid 122009, S. 89–91, hier S. 91.

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Metamorphosen.30 Die deutlichen Anspielungen auf den Goldenen Esel sind für unser Thema schon daher von besonderem Interesse, da dieser Text vielen Renaissance-Zeitgenossen als literarisches Äquivalent der »›grottesken‹ Wandund Gewölbedekorationen« galt.31 Der Bezugsrahmen wird bereits durch den Namen des Protagonisten aufgespannt, und da Lucio sich noch in mancher Hinsicht als Wiedergänger seines antiken Namensvetters erweist, fordert Bioy den Leser implizit auf, seine Tier-Mensch-Metamorphose mit derjenigen des Apuleius zu vergleichen. Zwar wird der argentinische (Anti-)Held nicht wie der antike Lucius in einen Esel verwandelt, sondern findet sich in einem Hundekörper wieder, in beiden Fällen findet aber ein gewisses renversement zwischen menschlichen und tierischen Akteuren statt, da Esel und Hund den Menschen geistig zumindest ebenbürtig sind (auch da sie in beiden Fällen ihren menschlichen Verstand behalten). Natürlich gibt es auch bezeichnende Unterschiede zwischen beiden Werken, unter denen für unseren Zusammenhang signifikant ist, dass sich Lucius in einen Menschen zurückverwandeln kann, während dies Lucio versagt bleibt. Dies kann man auch mit den Unterschieden der beiden Hauptcharaktere in Verbindung bringen, denn während Apuleius’ Lucius schlagfertig und gewitzt ist und sein Schicksal stets aktiv in die Hand nimmt, ist Bioys Lucio schwerfällig und reagiert immer nur passiv. In einem anderen wichtigen Punkt ähneln sich die beiden Protagonisten aber : Sie sind nämlich nicht nur namensgleich, sondern auch gleichermaßen wenig glaubwürdige Ich-Erzähler : Der argentinische Lucio ist wie gesehen als Insasse einer Nervenheilanstalt von Anfang an suspekt und schürt weitere Zweifel an seinem Geisteszustand durch die Wahl seines Briefempfängers, von dem er sich seit längerem entfremdet hat und der daher kaum der erste ist, der ihm helfen wird, und den er überdies unverständlicherweise siezt,32 so dass es nicht zu überraschen vermag, dass Ramos nicht auf den Brief reagiert. Lucius’ Glaubwürdigkeit steht ebenso in Frage, weil er etwa über seine Herkunft widersprüchliche Angaben macht, da er zunächst in allen wichtigen griechischen Gebieten zugleich Vorfahren haben will, was schon wenig wahrscheinlich ist, und sich am Ende außerdem auf einmal als »Mann aus 30 Für wertvolle Hinweise im Hinblick auf Apuleius’ Goldenen Esel (den ich im Fließtext meist als Metamorphosen bezeichnen werde) als Hypotext bin ich meiner Wiener Kollegin Claudia Leitner zu Dank verpflichtet. 31 Vgl. Scholl, Von den »Grottesken« zum Grotesken, S. 582. In der deutschen Übersetzung taucht der Begriff »grotesk« auch an zentraler Stelle auf, denn als Lucius berichtet, wie er sich in einen Menschen zurückverwandelt, schreibt er : »[…] auf einmal fällt die groteske Tiermaske von mir ab!« (Apuleius, Der goldene Esel. Metamorphosen, hg. und übers. von Edward Brandt, München 21963, S. 473). 32 Vgl. Bioy, Dormir al sol, S. 226: »Ante todo, me [habla F8lix Ramos] parece raro que Bordenave se dirija a m&; al fin y al cabo estamos distanciados. Tambi8n me parece raro que Bordenave me trate de usted; al fin y al cabo nos conocemos desde la infancia.«

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Madaura« bezeichnet.33 Eine ähnlich geringe Glaubwürdigkeit weisen auch die meisten intradiegetischen Erzähler auf, deren Geschichten Lucius auf seiner Reise lauscht,34 wobei hier ein weiterer Grund für Bioys Rekurs auf den antiken Text offenbar wird, nämlich dessen verschachtelter Aufbau. Das Strukturprinzip von Apuleius’ Roman ist ja die Erzählung in der Erzählung; zahlreiche eingelegte Geschichten mit immer neuen Erzählern prägen die Metamorphosen, wobei oft eine große Tiefe verschiedener Erzählebenen erreicht wird. Dabei ist diese Struktur kein Selbstzweck, sondern dient – zusammen mit der erwähnten mangelnden Glaubwürdigkeit des Haupterzählers wie der Erzähler auf tieferen narratologischen Ebenen – vielmehr dazu, den Leser zu verunsichern und ihn zu einer aktiven Lektüre mit eigenen Deutungen anzuregen, wobei dieser Aufbau gleichzeitig verhindert, dass der Leser eine letztgültige Interpretation erreicht.35 Eine derartige Verhinderung einer einzigen Deutung durch eine verschachtelte Struktur samt unglaubwürdigen Erzählern ist typisch für die Texte von Bioy, wofür idealtypisch die lange Erzählung »El perjurio de la nieve« angeführt werden kann, in welcher sich eine Erzählschicht um die andere legt, wobei sich die verschiedenen Stimmen auf eine Art widersprechen, die es unmöglich macht, die Ereignisse rund um den Tod einer jungen Frau in einem abgeschotteten Landgut restlos zu klären. In Dormir al sol weist dieser verschachtelte Aufbau eine spezielle Form auf, welche das groteske Element einmal mehr hervortreten lässt und zwar durch eine Medienverquickung, der wir uns nun zuwenden wollen. Deren Analyse soll durch einen Blick auf Formen der mise en abyme im Roman vorbereitet werden, wozu eine letzte Vorlage erwähnt sei, die in diesen Komplex einzuführen vermag.36 Lucios Neffe Martincito sucht mit seinem Onkel das Gespräch über ein 33 Vgl. Apuleius, Der goldene Esel, S. 7: »Hymettos in Attika, Isthmos bei Ephyra, Tänaros im Spartanerland, die herrlichen Fluren in herrlicheren Büchern verewigt, – sie sind die Heimat meines Geschlechts. […] Thessalien – denn dort hat ja unser Geschlecht mütterlicherseits […] einen Grund gelegt, der uns Ehre macht […]«, sowie S. 497: »ein[] übrigens ziemlich mittellose[r] Mann aus Madaura […].« 34 Dies wird idealtypisch schon durch die erste eingeschobene Geschichte des Buches unterstrichen, als Lucius zu zwei Wanderern stößt, von denen der eine eine Geschichte erzählt, die sein Freund direkt mit folgenden Worten diskreditiert (Apuleuis, Der goldene Esel, S. 9): »Spare dir deine Worte, wenn du nur so abgeschmackte und so ungeheuerliche Flunkereien weißt!« 35 Diese Lesart von Apuleius’ Text wird in der klassischen Studie von John J. Winkler vertreten: Auctor & Actor : A Narratological Reading of Apuleius’s »Golden Ass«, Berkeley 1985. 36 Man könnte noch auf eine Vielzahl anderer Vorlagen eingehen, was aber den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. So scheint es beispielsweise kein Zufall zu sein, dass der Arzt, der die Experimente durchführt, die zu einer zumindest temporären neuen Verbindung von Mensch und Tieren führen, den Namen Samaniego trägt und somit auf den spanischen Fabeldichter des 18. Jahrhunderts verweist, da nicht zuletzt in Fabeln die Grenzen zwischen Tierischem und Menschlichem verschwimmen. Zwar betont Bioy in einem Gespräch mit Graciela Scheines, dass der Name Samaniego nicht auf den Autor, sondern vielmehr auf

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Märchen, dessen Titel nicht fällt, das man aber mühelos als La Belle et la BÞte identifizieren kann.37 Der kurze Text von Mme Leprince de Beaumont ist vielleicht das Beispiel eines grotesken Märchens schlechthin, was sich auch darin niederschlägt, dass Kayser ein Unterkapitel seiner Groteske-Studie mit diesem Titel überschreibt.38 Zudem setzt der kleine Text das Tierbräutigam-Motiv fort, das man auf »Amor und Psyche« und damit Apuleius’ Metamorphosen zurückführen kann – übrigens auch ein Hinweis, wie sorgsam Bioy in seinen Romanen einzelne Hypotexte aufeinander bezieht.

5.

Formen der mise en abyme in Dormir al sol

In Dormir al sol dient das Märchen des 18. Jahrhunderts als wichtige mise en abyme, da in ihm nicht nur ein Mensch in ein Tier verwandelt wird, sondern auch die Macht der Äußerlichkeiten und die richtige Liebe verhandelt werden.39 Freilich gibt es einen zentralen Unterschied zwischen dem Märchen und dem Roman, denn während es in La Belle et la BÞte zum Happy End zwischen den Liebenden kommt, bleibt dies Lucio und seiner Diana verwehrt. Nur auf der metadiegetischen Ebene des Märchens erlöst die Kraft der Liebe einen in ein Tier verwandelten Menschen, nicht aber auf der intradiegetischen Ebene. Dieser ersten mise en abyme folgt nur wenige Seiten später eine weitere, auf die wir einen besonderen Fokus legen wollen, da sie dazu beitragen kann, einige Aspekte der Poetik Bioys genauer zu fassen. Der engste Freund und einzige Vertraute von Lucio, Aldini, sieht sich mit seiner Frau regelmäßig eine Fernsehserie an, die Ende des 19. Jahrhunderts spielt und von schaurigen Experimenten handelt (S. 91): »Con la seÇora siguen religiosamente en la televisijn la novela Borrasca al amanecer, de unos m8dicos, indumentados de levita y galerones que, para proceder al trasplante, o autopsia y viviseccijn, roban cad#veres en el cementerio local.« In der Klinik Samaniegos wird später noch zweimal auf Borrasca al amanecer rekurriert, womit die Serie insgesamt dreimal explizit im einen ehemaligen Lehrer zurückgehe (vgl. Bioy Casares, Adolfo; Scheines, Graciela (Hg.), El viaje y la otra realidad. Un ensayo y cinco cuentos, Buenos Aires 1988, S. 125), dennoch wird durch diese Namensgebung (die ja überdies keineswegs den Rekurs auf den Fabeldichter ausschließt) zumindest in der Rezeption eine weitere Facette eröffnet. 37 Vgl. die Beschreibung des Inhalts durch Martincito (Bioy, Dormir al sol, S. 81): »Hay un pr&ncipe transformado en animal. Si consigue que una chica lo quiera, vuelve a ser pr&ncipe.« 38 Vgl. Kayser, Das Groteske, S. 59–62 (Unterkapitel zu Victor Hugo). 39 Zudem sind beide Texte Reifungsgeschichten: Im Märchen reift das Mädchen, löst sich von ihrem Vater und wird bereit für eine Beziehung mit einem Mann; in Bioys Roman reift Lucio und erkennt, was wahre Liebe ausmacht – allerdings kommt Lucios Reifungsprozess zu spät, was einmal mehr das negative Ende des Romans des 20. Jahrhunderts mit dem Happy End des Märchens des 18. Jahrhunderts kontrastiert.

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Roman erwähnt wird, was bereits andeutet, dass sie für dessen Analyse eine große Rolle spielt. Diese fiktive Fernsehserie ist klar an Robert Louis Stevensons Kurzgeschichte »The body snatcher« angelehnt,40 geht aber weit über eine einfache Hommage an den schottischen Autor hinaus. Für unser Thema ist bedeutsam, dass diese Erzählung Stevensons in Bioys Roman im Gewand einer billig produzierten Horrorserie auftritt, wie sich aus den Beschreibungen Aldinis ersehen lässt. Diese Einbeziehung einer trivialen TV-Serie lässt sich zum einen gut mit dem Grotesken verbinden, denn Scholl betont: Ein Charakteristikum – wenn nicht das Hauptcharakteristikum – des Grotesken besteht darin, Verbindungen nicht nur mit sämtlichen Künsten, sondern innerhalb dieser mit allen möglichen Gattungen, Diskursen und anderen kulturellen Ausdrucksformen einzugehen.41

Zum anderen führt die Integration der Serie zu einer speziellen Form der mise en abyme, derer sich Bioy bedient. Um dies näher zu fassen, soll das BeschreibungsInstrumentarium zum Einsatz kommen, das der Hamburger Romanist Klaus Meyer-Minnemann mit einer Forschergruppe zur Kategorisierung paradoxaler narrativer Verfahren erarbeitet hat, weil dieses erlaubt, zwischen verschiedenen Formen der mise en abmye zu unterscheiden. Die Gruppe um Meyer-Minnemann fasst die Ergebnisse ihrer Forschungen im programmatisch betitelten Sammelband La narracijn paradojica zusammen, in dem sie zunächst betont, dass sich Verfahren des Durchbrechens des üblichen Erzählens vor allem in »anti-klassischen« Epochen zeigen,42 was eine Parallele zum Phänomen des Grotesken bedeutet. Die Forscher haben vier Kategorien »paradoxaler Erzähl40 Aus den Bemerkungen Aldinis zur Fernsehserie geht eindeutig hervor, dass Stevensons Erzählung ihr Vorbild ist. So ist explizit von Edinburgh die Rede und die Zeit der Handlung stimmt ebenso mit der der Kurzgeschichte überein wie die Handlung an sich, der Diebstahl von Leichen von Friedhöfen, um an ihnen wissenschaftliche Experimente durchzuführen. Diese Kurzgeschichte ist übrigens auch ein gutes Beispiel für die Bioy so wichtige Phantastik, da am Ende bewusst offen bleibt, ob Fettes und MacFarlane tatsächlich Grays Leiche zwischen sich haben (was unmöglich wäre, da sie diese zuvor zerstückelt hatten) oder ob ihnen ihre überstrapazierten Nerven einen Streich spielen (da vorher mehrfach herausgestellt wird, wie überreizt beide sind). Vgl. zum generellen Einfluss von Stevenson auf Bioy und zu dessen Wertschätzung für »The body snatcher« auch Navascu8s, El esperpento controlado, S. 87f. 41 Scholl, Von den »Grottesken« zum Grotesken, S. 17. 42 Vgl. Sabine Lang, »Prolegjmenos para una teor&a de la narracijn paradjjica«, in: Nina Grabe, Sabine Lang, Klaus Meyer-Minnemann (Hg.), La narracijn paradjjica. »Normas narrativas« y el principio de la »transgresijn«, Frankfurt 2006, S. 21–47, hier S. 25. Dieser einführende Beitrag in den Sammelband fasst erklärtermaßen zentrale Ergebnisse der Forschungsarbeit der Gruppe zusammen und definiert die »narracijn paradjjica« als »mecanismos de violacijn o de infraccijn […] de las normas narrativas tradicionales« (S. 30, Kursivierung im Original).

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verfahren« identifiziert, die sie in zwei Zweier-Gruppen einteilen, nämlich die »procedimientos de anulacijn [de l&mites]« und die »procedimientos de transgresijn de l&mites«.43 Dabei zerfallen diese insgesamt vier Kategorien wiederum in jeweils vier Unterkategorien, nämlich je nachdem ob die histoire bzw. der discours betroffen ist und ob die Normverletzung in horizontaler oder vertikaler Richtung erfolgt. Ziel der Bestrebungen ist eine Systematisierung aller Möglichkeiten paradoxaler Erzählverfahren: »Con nuestra tipolog&a de cuatro categor&as intentamos agrupar, por primera vez, los procedimientos sistem#ticamente posibles de la narracijn paradjjica […].«44 Ich möchte dagegen im Folgenden in den Raum stellen, dass die nach diesem Schema vorgeblich erschöpfenden Formen der mise en abmye, welche neben der Syllepse unter die »procedimientos de anulacijn« gerechnet wird,45 für Bioys Werk nicht ausreichen, wozu mir der Rekurs auf die von Aldini evozierte Serie dienen soll. Beginnen wir mit dem unproblematischen Fall: Die Horror-Serie Borrasca al amanecer ist innerhalb von Dormir al sol zunächst als vertikale mise en abyme im Bereich der histoire zu werten, was dem wohl am weitesten verbreiteten Fall der mise en abyme entspricht.46 In der Serie geht es um dubiose Forscher, die geheimnisvolle und geheime Experimente mit bzw. an Menschen durchführen, womit sich die Handlung des Romans im Kleinen spiegelt: Die unmenschlichen Experimente von Samaniego werden hier bereits vorweggenommen. Diese Spiegelung wird durch eine Aussage von Lucio unterstrichen, als dieser in der Klinik festgehalten wird (S. 178): »No vivimos en la 8poca de los m8dicos de levitjn y galera, que roban infelices en la pel&cula de Aldini, para hacer expe43 Lang, »Prolegjmenos para una teor&a de la narracijn paradjjica«, S. 30. 44 Lang, »Prolegjmenos para una teor&a de la narracijn paradjjica«, S. 31. 45 Der zweiten Gruppe, der »procedimientos de transgresijn de l&mites«, schlagen die Mitglieder der Gruppe die Metalepse und die Hyperlepse zu. Man kann noch anfügen, dass die Gruppe für die mise en abyme auch einen neuen Namen vorschlägt, nämlich »epanalepsis«, da dieser Begriff mehr unter sich vereine, weil sich mit ihm neben »procedimientos especulares« auch »procedimientos de serializacijn« fassen ließen, (vgl. Klaus Meyer-Minnemann, »Narracijn paradjjica y ficcijn«, in: Ders., Nina Grabe, Sabine Lang (Hrsg.), La narracijn paradjjica. »Norma narrativas« y el principio de la »transgresion«, Frankfurt 2006, S. 49–71, hier S. 57). Ich bleibe in diesem Beitrag aber bei dem Begriff der mise en abyme, der nicht nur fest eingeführt ist, sondern auch plastischer und klarer scheint, wobei ich auf die Ansicht von Lucien Dällenbach zurückgreifen kann, dessen Studie noch immer den unbestrittenen Bezugspunkt für jede Auseinandersetzung mit der mise en abyme darstellt und der dort formuliert: »[…] le terme de mise en abyme possHde un signifi8 univoque – ce qui, / nos yeux, est une raison suffisante pour le conserver« (Lucien Dällenbach, Le r8cit sp8culaire. Essai sur la mise en abyme, Paris 1977, S. 18). 46 Zudem wird durch diese Einbeziehung eines Textes von Stevenson auch dessen Hauptwerk Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde zumindest implizit aufgerufen, was von daher von besonderer Bedeutung ist, da dieser Roman eine enge Beziehung zu Dormir al sol aufweist, schließlich formuliert Stevensons Roman das vielleicht eindringlichste Beispiel einer Seelenspaltung, wie auch Kayser hervorhebt (vgl. Das Groteske, S. 154).

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rimentos.« Wenig später muss er indes erkennen, dass genau dies der Fall ist – und er einer dieser »infelices«. Mit dieser fiktiven Fernsehserie ist nun aber auch eine zweite Form der mise en abyme verbunden. Es kommt nämlich nicht nur zu einer Spiegelung der Handlung, vielmehr ist die Horror-Serie auch ein Hinweis, wie manche Besonderheiten des Romans zu erklären sind, der durch viele filmische Strukturen und Muster geprägt ist. So sind manche Szenen bewusst an billige Horrorfilme mit einfachen Schauereffekten angelehnt, etwa als Lucio nachts mehrfach das bleiche Gesicht Samaniegos durchs Fenster zu sehen glaubt.47 Am stärksten ist der Rekurs auf filmische Strukturen indes bei der Flucht des Protagonisten aus der Nervenanstalt, welche über mehr als drei Seiten beschrieben wird: Lucio hangelt sich an einem schmalen Fenstersims entlang, während im Hintergrund Silvesterraketen gezündet werden, unter ihm Hunde drohen und er die ganze Zeit von Schwindel erfasst ist.48 Dies ist eine klassische Filmszene, denn Personen in ähnlichen – mal gefahrvollen, mal absurden – Situationen auf engen Mauervorsprüngen über schwindelerregenden Abgründen kennt man aus etlichen Filmen.49 Daher kann diese Sequenz zu einem Inventar kleiner Erzähleinheiten gezählt werden, die Christian von Tschilschke als situative Topoi bezeichnet, über die sich auf der Makrostruktur literarischer Werke eine filmische Schreibweise manifestieren kann.50 So dient die explizite Einbeziehung dieser fiktiven Trash-Serie um kriminelle Ärzte des 19. Jahrhunderts auch als eine mise en abyme im Hinblick auf die ästhetische Gestaltung des Romans, der durch viele visuelle Szenen gekennzeichnet ist, die eine klare Nähe zum Horror- bzw. Action-Film und dessen Techniken erkennen lassen.51 Es handelt sich mithin um eine mise en abyme, die einen Schlüssel zur Wertung einiger medialer Besonderheiten des Romans liefert, weshalb man von einer »medialen mise an abyme« sprechen könnte. Die Einführung eines derartigen Konzepts, das im Schema Meyer-Minnemanns nicht vorgesehen ist, könnte vielleicht dazu beitragen, diese auf Vollständigkeit 47 Vgl. Bioy, Dormir al sol, S. 137: »[E]n ese momento hab&a descubierto que la cara p#lida que me espiaba la otra noche desde la ventanita del taller era la de Reger Samaniego.« 48 Vgl. Bioy, Dormir al sol, S. 194–197. 49 Um nur zwei prominente Beispiel zu nennen, sei zum einen auf den erst vor kurzem gedrehten Film Man on a Ledge (2012) verwiesen, der seinen gesamten Plot um eine Figur auf einem Gebäudesims aufbaut, sowie auf die komödiantische Ausgestaltung der Szene mit Barbra Streisand in What’s Up, Doc? (1972 – ein Jahr vor der Publikation von Dormir al sol). 50 Vgl. Christian von Tschilschke, Roman und Film. Filmisches Schreiben im französischen Roman der Postavantgarde, Tübingen 2000, S. 96. Tschilschke wählt als Beispiel u. a. versinkende Autos, welche einen in vielen Filmen präsenten Topos darstellen, der sich gut mit dem des über ein Gebäudesims Flüchtenden vergleichen lässt. 51 Vgl. Navascu8s, El esperpento controlado, S. 86–89, wo knapp auf die visuellen Szenen in Dormir al sol eingegangen wird.

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angelegte Systematik, zu erweitern, indem man über sie auch Spiegelungen beschreiben kann, die Hinweise geben, wie sich Besonderheiten eines Werkes durch Vorbilder aus anderen Medien erklären lassen.

6.

Über intermediale Bezüge zum Grotesken

Nur am Rande sei erwähnt, dass die Szene um Lucios Flucht in der rezenten Verfilmung von Alejandro Chomski zu einer recht flachen Episode gerät, bei der die markierte Mediendifferenz der Vorlage vollkommen verloren geht,52 was einmal mehr belegt, wie schwierig die Übertragung einer filmischen Schreibweise in einen Film ist. In ihrer systematischen Intermedialitätstheorie rechnet Irina Rajewsky das filmische Schreiben übrigens bekanntermaßen den »intermedialen Bezügen« zu; es ist ein ausgesprochen gutes Beispiel dafür, wie eine Kunstform, hier die Literatur, eine andere, in diesem Fall den Film, hinsichtlich deren ästhetischen Leistungsspezifika imitiert, wobei nur erstere in ihrer »Materialität präsent ist«.53 Das Groteske wäre in Rajewskys Systematik wohl dem »Transmedialen« zuzuschlagen, da es gleichermaßen in verschiedenen Medien auftritt und ein Phänomen bildet, das »sich jenseits von Mediengrenzen bzw. ›über Mediengrenzen hinweg‹ manifestier[t]«.54 Dabei zeigt gerade das hier behandelte Beispiel von Bioys Roman, dass für die Erzeugung des Grotesken intermediale Bezüge ein probates Mittel sein können.55 Das Groteske ist ja untrennbar mit dem Überschreiten von Grenzen verbunden, und ein solches kann nicht nur auf der Ebene der Fabel, etwa in Hybriden zwischen Mensch und Tier, auftreten, sondern sich auch als Vermischung von Medienformen manifestieren, wobei die Simulation des Films durch die und in der Literatur in Dormir al sol – so die These dieses Beitrags – ebenso zum grotesken Effekt des Textes beiträgt 52 Vgl. Dormir al sol, Regie: Alejandro Chomski, DVD: J.C. Fisner 2012 (Timecode: 1:03:00–1:04:00). Eine eingehende Analyse der Umsetzung der filmischen Dimension des Romans in Chomskis Adaption wäre ein lohnendes Unterfangen, das hier indes aus Platzgründen nicht vertieft werden kann. Es mag der Hinweis genügen, dass es sich um eine arg konventionelle Verfilmung handelt, die an der Übertragung der hier angesprochenen Merdienvermischung scheitert und daher eine groteske Dimension weniger aufweist als die Vorlage. 53 Rajewsky, Irina O., Intermedialität, Tübingen 2002, S. 17. Vgl. auch ebenda: »Elemente und/ oder Strukturen eines anderen, konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums [werden] mit den eigenen, medienspezifischen Mitteln thematisiert, simuliert oder, soweit möglich, reproduziert.« 54 Rajewsky, Intermedialität, S. 13. 55 Vgl. dazu auch den Beitrag von Matei Chihaia im vorliegenden Band, dem ebenfalls eine Analyse der intermedialen Dimension seines Beispieltextes (Jacinto Graus El seÇor de Pigmalijn) besonders lohnend erscheint und der »die Entstehung der Groteske aus einer markierten Mediendifferenz« hervorhebt (S. 121).

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wie die beschriebene Umkehrung der Beziehung von Mensch und Tier. Man kann in Bioys Text auch einen dezidierten Karneval der Medien erkennen, der den Karneval im Werk und den der Texte flankiert. Stevensons Geschichte wird in eine fiktive Horrorserie umgewandelt, deren mediale Besonderheiten wiederum in Bioys Roman aufscheinen, was zur Verquickung eines anspruchsvollen Romans mit Elementen einer billigen Unterhaltungsserie führt und so zu einer weiteren grotesken Dimension des Romans des Argentiniers, dessen Interesse an Hybriden sich hier in einer besonderen Form einer filmischen Schreibweise niederschlägt. Herauszustellen, dass gerade durch intermediale Verbindungen groteske Effekte entstehen können, ist auch eine der Absichten des nicht von ungefähr »Zur Intermedialität des Grotesken« betitelten Vorworts von Günter Oesterle in dessen Neuausgabe von Kaysers Grundwerk. Dort führt Oesterle aus, dass zu Kaysers Zeit »intermediale Forschungsansätze nur sehr begrenzt vorlagen«, und richtet – nachdem sich dies dank der inzwischen reichlich vorliegenden intermedialen Arbeiten radikal gewandelt hat – an die gegenwärtige scientific community den Aufruf, »in Verlängerung von Kaysers Konzeption des Grotesken ein intermedial, medientechnisch und semiotisch ausgerichtetes Pendant zu Bachtins sprach- und kulturtheoretischem Modell zu erarbeiten.«56 Dabei kann er sich auf Kayser selbst stützen, der den Film nur äußerst widerwillig aus seiner Studie ausgeklammert hat, wie er in seiner Einleitung zu erkennen gibt: »Und welches Material könnte der Film liefern.«57 Dabei deuten die hier erörterten Phänomene an, dass insbesondere die Verbindung des Films mit anderen Medien der Genese grotesker Phänomene Vorschub leisten kann. Diese Fähigkeit, sich permanent in neu entstehenden Medien zu manifestieren und überdies durch Verbindungen dieser mit älteren Medien zu ständig neuen Ausprägungen zu kommen, betont die »Aktualisierbarkeit« des Grotesken und erklärt seine Langlebigkeit, wie Scholl prägnant darlegt.58

56 Vgl. Günter Oesterle, »Zur Intermedialität des Grotesken«, in: Wolfgang Kayser, Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, hg. von Günter Oesterle, Tübingen 2004, S. VII–LII, hier S. XIX und XX. 57 Kayser, Das Groteske, S. 10. 58 Scholl, Von den »Grottesken« zum Grotesken, S. 18: »Merkmale des Grotesken und der Grund für seine Langlebigkeit – in der bildenden Kunst wie in der Literatur – sind neben seiner rationalen Unauflösbarkeit und Unbestimmbarkeit seine Assimilations- und Integrationsfähigkeit sowie seine Aktualisierbarkeit.«

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7.

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Der Blick auf die außerkünstlerische Realität bei Bioy

Abschließend soll ein weiteres Werk Bioys hinzugezogen werden, um zu diskutieren, wie er – der oft als apolitischer Autor gilt – auch entschieden auf die außerliterarische Welt Bezug nimmt. Dabei ergibt sich die Verbindung zum nun kurz zu erwähnenden Roman El sueÇo de los h8roes erneut über die für das Groteske so wesentliche Form des Karnevals. Der in Dormir al sol explizit erwähnte Karneval ist nämlich das entscheidende handlungsauslösende Moment des 1954 veröffentlichten dritten Roman Bioys, dessen gesamter Plot sich um die Rekonstruktion der Ereignisse einer dreitägigen Fastnachtsfeier entfaltet. Dabei wird das groteske Element, das dem Karneval ohnehin innewohnt, bewusst ausgespielt. Dies gilt für die generelle Bedeutung von Masken für die histoire, die bereits anzeigt, dass die Festtage hier einmal mehr als Rahmen für Metamorphosen genutzt werden.59 Weiter gesteigert wird dies dadurch, dass sich die entscheidenden Ereignisse im »Armenonville« abspielen, einem der bekanntesten Cabarets des frühen 20. Jahrhunderts in Buenos Aires, das ohnehin als Ort der Illusion und vermischter Identitäten galt, was durch den Karneval noch verstärkt wird.60 Von besonderem Interesse für uns ist indes, dass Dormir al sol in bemerkenswerter Weise auf die Handlung von El sueÇo de los h8roes Bezug nimmt, denn Lucio liest in der Zeitung die folgende kleine Meldung (S. 16, kursiv im Original): »Tr#gico baile de disfraz en Paso del Molino. No desconfij del dominj que ten&a a su lado porque pensaba que era su esposa. Era la asesina.« Damit wird die Handlung des 19 Jahre zuvor erschienenen Romans nicht nur aufgegriffen, sondern in ihr Gegenteil verkehrt (womit in Dormir al sol ein weiterer dem Grotesken zuzuordnender Inversionsprozess vorliegt): Steckt in El sueÇo de los h8roes in der Tat die Frau des Protagonisten, Clara, im Domino-Kostüm und rettet diesen vor einem Mord, kehrt sich das in der Zeitungsnotiz aus Dormir al sol komplett um. Dies mag sogar dazu führen, dass der informierte Leser Claras Rolle im Lichte dieser Notiz neu bewertet: Durch einen späteren Roman wird der Leserschaft ein möglicher anderer Interpretationsansatz für einen vorhergehenden präsentiert.61 59 Vgl. dazu auch Teresa Orecchia Havas, »Buenos Aires, ville perdue/ville imaginaire: El sueÇo de los h8roes, de A. Bioy Casares«, in: Dies. (Hg.), M8moire(s) de la Ville dans les mondes hispaniques et luso-br8silien, Bern 2005, S. 349–395, hier S. 372. 60 Vgl. Orecchia, »Buenos Aires, ville perdue/ville imaginaire«, S. 379: »[…] l’Armenonville, salle de bal ouverte / tous les jeux d’illusion et du m8lange des d8sirs et des identit8s, dont les pouvoirs sont d8multipli8s par le caractHre m8tamorphique de la fÞte de Carnaval.« 61 Vgl. dazu den weitsichtigen Kommentar von Rivas, die dies zu Recht hervorhebt (»La escritura parjdica de Plan de evasijn y Dormir al sol«, S. 41): »Esta vez Bioy ha cambiado el papel redentor de la Clara de El sueÇo … […] Esto nos hace reconsiderar el significado

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Dieses Beispiel liefert ein weiteres Argument für die Einbeziehung Bioys in den Neobarock, für welchen Sarduy insbesondere die Kommentierung von Texten untereinander als wichtig erachtet: »Es este comentario siempre multiplicable […] el mejor ejemplo de ese envolvimiento sucesivo de una escritura por otra que constituye […] el barroco mismo.«62 Dieser »comentario siempre multiplicable« scheint mir für Bioy ohnehin konstitutiv, und zwar nicht nur zwischen verschiedenen seiner Werke, wie wir hier sehen konnten,63 sondern durchaus auch innerhalb eines einzelnen Textes. Es wurde schon »El perjurio de la nieve« genannt, wo verschiedene Erzählinstanzen von einem mysteriösen Todesfall berichten, dabei aber in erster Linie die Äußerungen der jeweils anderen Instanz kommentieren und deren Darstellung systematisch in Zweifel ziehen. Ebenso kann man an La invencijn de Morel denken, wo Morels Film vom Erzähler dank Doppelbelichtung durch eine neue Version ersetzt wird, während sein Tagebuch wiederum durch einen Herausgeber kommentiert und ähnlich manipuliert wird. Die prinzipiell unabschließbare Kommentierung, ja Überschreibung eines Textes durch später folgende wird somit von Bioy in seinen Werken immer wieder reflektiert und prägt vielfach deren Struktur. Wesentlich ist, dass diese variierende Kommentierung eigener wie fremder Texte durch Bioy nicht im rein literarischen Bereich stehen bleibt. Die Parodie, deren Bedeutung für Bioys Werke wir nun schon mehrfach behandeln haben,64 hat bei ihm stets noch eine weitere Dimension, wie etwa Mercedes Rivas im Anschluss an andere Forscher feststellt, als sie zu Recht von »el car#cter parjdico que subyace bajo gran parte de su produccijn novelesca, entendida la parodia como una postura eminentemente cr&tica ante la literatura y la realidad« spricht.65

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fflltimo de la esposa en esta novela: ¿salvj veraderamente a Gauna o lo arrastrj a una muerte lenta al liberarlo falsamente de un destino implacable?« Sarduy, »El barroco y el neobarroco«, S. 1387. Auf die Nähe von Dormir al sol zu den Thesen von Sarduy verweist auch Rivas: »Dormir al sol manifiesta un proceso intertextual marcado por la reminiscencia, segffln la terminologia de Sarduy.« (»La escritura parjdica de Plan de evasijn y Dormir al sol«, S. 40). Dafür kann man leicht weitere Beispiele anführen: So ist Bordenave nicht nur der Name des Protagonisten von Dormir al sol, sondern auch der einer Helferfigur in Plan de evasijn, wodurch über die größenwahnsinnigen Experimenten an lebenden Menschen hinaus eine direkte textuelle Verbindung zwischen den beiden Romanen aufgespannt wird. Ebenso kann man – ähnlich wie wir es gerade über die veränderte Rolle des Domino-Kostüms gesehen haben – auch ein gewisses parodierendes Umschreiben der Handlung von El sueÇo de los h8roes in Bioys spätem Roman La aventura de un fotogr#fo en La Plata erkennen (vgl. zu letzterem Punkt Orecchia, »Buenos Aires, ville perdue/ville imaginaire«, S. 387). Die Parodie, nämlich die auf den idealisierenden antiken Roman, ist bekanntermaßen auch das Strukturprinzip von Apuleius’ Metamorphosen, was wohl ein weiterer Grund für Bioy war, sich explizit auf diesen Text zu beziehen. Rivas, »La escritura parjdica de Plan de evasijn y Dormir al sol«, S. 35 (meine Hervorhebung).

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Diese kritische Haltung gegenüber der Realität verbindet sich mit dem hier behandelten grotesken Element, das bei Bioy kein leerer Selbstzweck ist. Auch bei Bachtin ist das karnevaleske Lachen keineswegs ein triviales Scherzen, sondern »linked to essential philosophical questions«, wie Michael Gardiner hervorhebt.66 Dies trifft in ähnlicher Weise auf Adolfo Bioy Casares zu, der in Dormir al sol durch die grotesken, Mensch und Tier vermischenden, Experimente nicht zuletzt die Frage nach dem Wesen des Menschen stellt. Mir scheint aber, dass seine Werke sich nicht in solchen philosophischen Fragen erschöpfen, sondern durchaus auch kritisch-engagiertes Potential gegenüber der außerliterarischen Realität entfalten, auch wenn diese Dimension lange Zeit nicht gesehen wurde und Bioy selbst stets abgelehnt hat, ein politischer Autor zu sein.67 Einige seiner Texte scheinen da aber eine andere Sprache zu sprechen, was nun in der Verbindung der beiden angesprochenen Romane dargestellt werden soll, die noch deutlich mehr verbindet als die bisher behandelten intertextuellen Bezüge, nämlich insbesondere der kritische Blick auf die Wirklichkeit. Michael Rössner hat frühzeitig auf eine solche Ebene in El sueÇo de los h8roes hingewiesen, dessen Deutungspotential als politische Allegorie er aufzeigt.68 Damit folgt er in gewisser Weise der Einschätzung von Borges, der in einer frühen Rezension auf die Möglichkeit hinweist, den Roman im Hinblick auf das PerjnRegime zu lesen.69 Bioy legt etwa seinem Helden Gauna übelste provinzialistische und nationalistische Stereotype in den Mund,70 die der Leser ex negativo als

66 Michael Gardiner, The Dialogics of Critique. M. M. Bakhtin and the Theory of Ideology, London 1992, S. 49. 67 Vgl. etwa Roger, »Le pouvoir de l’8criture dans Dormir al sol«, S. 31: »Bioy refusait de lire ses fictions comme des œuvres engag8es, c’est un fait. Mais […]«. Schon dieses abschließende »mais« deutet an, dass Roger eine andere Meinung vertritt, die auch aus meiner Sicht zutreffend ist und die im Folgenden näher beleuchtet wird. 68 Vgl. Michael Rössner, »Adolfo Bioy Casares, El sueÇo de los h8roes«, in: Volker Roloff, Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Der hispanoamerikanische Roman, Bd. 1: Von den Anfängen bis Carpentier, Darmstadt 1992, S. 254–265, hier 258f. 69 Vgl. Orecchia »Buenos Aires, ville perdue/ville imaginaire«, 361f.: »Le compte-rendu de Borges dans Sur est en effet textuel/contextuel […] l’auteur [Borges] ne se prive pas de signaler une relation entre les temps sombres du p8ronisme et l’histoire amHre racont8e par Bioy« (Kursivierung im Original). 70 So hat Gauna einen regelrechten nationalistischen Anfall, als er in einer Bäckerei erstmals länger mit Clara spricht und diese ihm erzählt, dass sie in einem Theaterstück »de un escandinavo, un extranjero« mitspielt (Adolfo Bioy Casares, El sueÇo de los h8roes, in: Ders., Obra completa I: 1940–1958, hg. von Daniel Martino, Buenos Aires 2012, S. 360): »›Y por qu8 no dan obras de autor nacional‹, inquirij Gauna, con agresivo inter8s. […] ›Si yo fuera gobierno obligar&a a todo el mundo a dar obras de autor nacional.‹« Ähnlich äußert er sich auch, als er mit Clara einen Landausflug macht (ebd., S. 394: »›Si yo fuera gobierno […] no dejar&a entrar un solo automjvil en el pa&s. Con el tiempo se reproducir&an de industria argentina […]«), wobei die aggressiven provinzialistischen Bemerkungen einen scharfen Kontrast zum idyllischen Umfeld der Landpartie bilden, in dem die Liebe zwischen Gauna

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Aufforderung zu verstehen hat, sich gegen solche Einstellungen zu verwahren. Interessanterweise findet sich ein solches Eintreten gegen jede Art von Provinzialismus auch in einem anderen Text von Bioy, welcher sich wiederum auf ein Werk von Borges bezieht, was ein prominentes Beispiel dafür bildet, wie die beiden Freunde ihre Texte immer wieder gegenseitig kommentieren. In seiner Rezension zu Borges’ El jard&n de senderos que se bifurcan in Sur greift Bioy scharf den Nationalismus an und plädiert gerade für Argentinien für eine weltoffene Literatur, die Einflüsse aus der Literatur der ganzen Welt verarbeiten soll.71 Diese auf die Literatur bezogenen Aussagen in einem nicht-fiktionalen Text finden in Gaunas negativ formulierten Meinungen in einem fiktionalen Text ihr auf die außerkünstlerische Realität verweisendes Komplement und geben so ein Engagement zu erkennen, das weit über die Welt der Literatur hinausweist. Ein ähnlich realitätskritisches Potential kann man in Dormir al sol erkennen, worauf etwa Julien Roger verweist, der entschieden von einer »port8e politique de cette fiction« spricht und weiterhin ausführt, dass »[…] Dormir al sol, peut Þtre lu, parmi bien d’autres interpr8tations, comme une fable de r8sistance politique.«72 Eine solche Deutung kann sich auch auf aufschlussreiche Informationen des Autors stützen, da Bioy in seine Memorias eine kurze Darstellung der Genese von Dormir al sol integriert, in der er hervorhebt, dass er kurz zuvor die Idee zu einem Drama hatte – zu einer »comedia pol&tica«.73 Zwar entstand schließlich ein Roman, die politische Dimension der geplanten Komödie ist aber offenkundig in diesen eingegangen, da er den Leser in vielfacher Weise zu außerliterarischen Deutungen anregt. So kann man sich fragen, ob die verhandelten Manipulationen an Gehirnen lebender Menschen nicht eine Reaktion auf die Diskussionen um die Lobotomie sind, über die gerade in den 1950er bis 70er Jahren, auch in Argentinien, viel diskutiert wurde. Dabei diente dieses Verfahren, das speziell in psychiatrischen Einrichtungen durchgeführt wurde, oft allein dazu, Patienten ruhig zu stellen, worüber sich bereits eine Parallele zu Bioys Roman ergibt.74

71

72 73 74

und Clara eine neue Ebene erreicht (ebd., S. 397: »›Es como si hubiera sido ciego. Me enseÇas a ver.‹«). Vgl. Adolfo Bioy Casares, »Jorge Luis Borges, El jard&n de senderos que se bifurcan«, in: Ders., Obra completa I, S. 615–619, hier S. 619: »Para un argentino es natural que su literatura sea toda la buena literatura del mundo.« Wie wir oben kurz skizziert haben, sind gerade Bioys eigene Werke deutlich von ausländischen Texten beeinflusst, wodurch sich erweist, dass er – ganz ähnlich wie Borges – Rezensionen auch dazu nutzt, Aussagen über seine eigenen Literaturvorstellungen zu treffen. Roger, »Le pouvoir de l’8criture dans Dormir al sol«, S. 30 bzw. 31. Adolfo Bioy Casares, Memorias. Infancia, adolescencia y cjmo se hace un escritor, Barcelona 1994, S. 188 (meine Hervorhebung). Für Hinweise zur Lobotomie zur Ruhigstellung von Patienten bin ich Marlen Bidwell-Steiner zu Dank verpflichtet. Dieses Vorgehen in einer fiktiven psychiatrischen Klinik lässt natürlich

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Zudem wird über diesen Eingriff eine Nähe zu einem dezidiert politischen Roman deutlich, den man als weiteren Intertext von Dormir al sol werten kann, zu Jewgenij Samjatins bedeutender Anti-Utopie Wir (1920). Dort werden die Aufständischen schließlich durch eine Gehirnoperation an jedem künftigen Widerstand gehindert und endgültig zu willenlosen und leicht lenkbaren »Nummern« ohne jede eigene Identität. In beiden Fällen werden durch diesen extremen chirurgischen Eingriff vorgeblich gesunde Menschen geschaffen werden, wobei »gesund« einzig aus der Sicht der jeweiligen Wissenschaftler bzw. Machthaber definiert wird, die jegliche ethische Prinzipien beiseite schieben und allein ihre eigenen Interessen im Blick haben. Weiterhin kann man sich fragen, welche Bedeutung es hat, dass Standle, der Besitzer der Hundeschule und wichtigste Helfer Samaniegos, Deutscher ist. Im Kontext der menschenverachtenden Experimente, die die Ärzte an Lebenden durchführt, liegt natürlich nahe, dass Bioy eine Verbindung zu den Experimenten der Nazis herstellen will.75 Überdies ist eine weitere Anspielung auf das Argentinien seiner Zeit denkbar, denn Standle kann auch auf die vielen Deutschen verweisen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Argentinien gekommen waren, dort oft ein nach außen respektables Leben führten und dabei an alten Ansichten festhielten, ohne dass dies von den argentinischen Behörden oder der Bevölkerung problematisiert wurde.76 Vor allem aber kann der Roman, wie schon sein Vorgänger Diario de la guerra del cerdo, auch als generelle Parabel auf politische Verhältnisse gelesen werden, noch dazu auf solche, wie sie in Südamerika weit verbreitet waren. Für diese Deutung ist wesentlich, dass zwar Standle Deutscher ist, der die Experimente durchführende Forscher aber Argentinier, was Samaniego deutlich von den dämonischen Wissenschaftlern der frühen Romane Bioys abhebt, die allesamt Europäer sind. Nun ist die Macht der Manipulation auch in Argentinien selbst angekommen und zwar mit Vehemenz: Man kann Samaniego und seine Klinik als Repräsentanten eines unmenschlichen Systems sehen, das jene Personen auch an Formans Film One Flew Over The Cuckoo’s Nest denken, der nur zwei Jahre nach Bioys Roman in die Kinos kam und gemeinsam mit dem ihm zugrundeliegenden Roman von 1962 einen klaren Hinweis bildet, wie virulent das Thema in dieser Zeit war. 75 Dies scheint u. a. Emir Rodr&guez Monegal wahrscheinlich (»La invencijn de Bioy Casares«, S. 58): »Standle, el siniestro alem#n que probablemente ha sido nazi.« 76 Damit würde sich der Vergleich zu Luc&a Puenzos rezentem Roman Wakolda (2011), den die Autorin 2013 unter gleichem Titel selbst für die Leinwand adaptierte, aufdrängen. In Puenzos Werk setzt Josef Mengele seine menschenverachtenden Experimente in Patagonien fort und wird dabei von vielen Argentiniern unterstützt, wobei Puenzo eine doppelte politische Stellungnahme einbringt, da sie zum einen implizit die Frage aufwirft, wie einer der schlimmsten Nazi-Verbrecher jahrelang unbehelligt in Argentinien leben konnte, und zum anderen mehrfach anklingen lässt, dass die argentinische Ausrottung der Indios den Taten der Nazis nicht gänzlich unähnlich war.

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bricht, die sich ihm nicht unterordnen, womit neben der Lobotomie eine weitere wesentliche Übereinstimmung mit Samjatins Wir gegeben ist. Für derartige politische Interpretationen ist auch Lucios Rolle genau zu beachten, denn dieser erlaubt durch seine fehlende Gegenwehr und seinen zunächst so schwachen Einsatz für Diana den Ärzten überhaupt erst die Durchführung ihrer Experimente, was sich unschwer so deuten lässt, dass sich das Volk rechtzeitig auflehnen muss, wenn sich Fehlentwicklungen abzeichnen, und dass es gerade die Passivität der Bevölkerung ist, die menschenunwürdige Zustände begünstigt, was eine klare Parallele zu Diario de la guerra del cerdo bildet.77 Man kann mithin konstatieren, dass die grotesken Elemente in Dormir al sol kritisches Potential entfalten, und um die von Peter Fuß thematisierte Nähe von Phantastik und Groteskem erneut aufzunehmen, kann im Anschluss daran auch gefragt werden, ob die phantastische Literatur nicht mehr sein kann als Evasionsliteratur, wie noch immer oft behauptet wird, nämlich auch engagierte Literatur mit politischer Zielsetzung.78 Gerade das Beispiel Adolfo Bioy Casares deutet dies an, wie die Lektüre seines Romans um Lucio zeigen sollte. Dabei lässt sich diese Lektüre ein letztes Mal auf das den vorliegenden Band bestimmende Phänomen zurückbeziehen, da Dorothea Scholl feststellt, dass das Groteske auf die Vorstellung verweist, dass »Verfremdung durch Kunst Entfremdung im Leben erst bewußt machen kann«, und so in einer »provokativen

77 Auch in dieser Hinsicht ist Stevensons »The body snatcher« ein wesentlicher Intertext, denn Fettes deckt trotz seiner moralischen Bedenken die Morde, die seine Vorgesetzten durchführen, um stets genug Leichen für ihre Experimente zu haben, und macht sich durch seine Passivität (die sich überdies in eine immer aktivere Rolle wandelt) zu einem Komplizen der Verbrecher. 78 Diese Überlegung kann durch die Meinung von Bioys Freund Borges gestützt werden, dass »la literatura fant#stica no ha de entenderse como una evasijn de la realidad social, sino m#s bien como la expresijn de una observacijn infinitamente profunda y compleja de las Realias«, wie Kian-Harald Karimi es ausdrückt (»Creado, pero no segffln la imagen de Dios. Metamorfosis de la inmortalidad en la obra de Bioy Casares«, in: Toro (Hg.), Homenaje a Adolfo Bioy Casares, S. 67–85, hier S. 69 (Kursivierung im Original)). Vgl. zu einer möglichen politischen Dimension der phantastischen Literatur auch die Überlegungen von Barbara Ventarola, die sich ebenfalls auf Werke von Borges stützt und zu dem Schluss kommt, dass die Phantastik wesentlich mehr zu sein vermag als Evasion (»›fant#stico pero no sobrenatural‹ – Irrealisierung und Objektivität bei Jorge Luis Borges«, in: Niklas Bender, Steffen Schneider (Hg.), Objektivität und literarische Objektivierung seit 1750, Tübingen 2010, S. 181–206, hier S. 185). Vgl. dazu auch die Einführung von Pedro Luis Barcia zu Bioys Erzählband La trama celeste, in welcher dieser Kenner der lateinamerikanischen Narrativik, gerade im Hinblick auf Bioy neben eine »literatura fant#stica evasiva« eine weitere stellt: »la insertiva del hombre en la realidad: la que lo lleva hasta el borde de su abismo y se lo enseÇa, la que utiliza rayos X y no la m#quina fotogr#fica familiar del realismo; la que revela no sjlo la &ndole filosjfica del hombre, sino las situaciones sociales y pol&ticas en que vive sus d&as.« (Pedro Luis Barcia, »Introduccijn biogr#fica y cr&tica«, in: Adolfo Bioy Casares, La trama celeste, hg. von Pedro Luis Barcia, Madrid 2011, S. 19, Kursivierung im Original).

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Funktion […] gegen das Groteske in der Wirklichkeit an[geht]«,79 was dezidiert die außerliterarische Wirkung dieser ästhetischen Kategorie herausstellt. Der Verwendung des Grotesken bei Bioy sowie der kritischen Dimension seiner Werke weiter nachzugehen, ist aus meiner Sicht auch für die Zukunft ein lohnendes Unterfangen, wobei die mediale Konkurrenz, und zwar insbesondere zum Kino, für beide Bereiche ein ausgesprochen fruchtbarer Aspekt sein dürfte.

Bibliographie Primärtexte Apuleius, Der goldene Esel. Metamorphosen, hg. und übers. von Edward Brandt, München 2 1963. Bioy Casares, Adolfo, »Los afanes«, in: Ders., El lado de la sombra, in: Ders., Obra completa II: 1959–1971, hg. von Daniel Martino, Buenos Aires 2013, S. 226–244. Bioy Casares, Adolfo, El sueÇo de los h8roes, in: Ders., Obra completa I: 1940–1958, hg. von Daniel Martino, Buenos Aires 2012, S. 329–478. Bioy Casares, Adolfo, Dormir al sol, Buenos Aires 1973.

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79 Scholl, Von den »Grottesken« zum Grotesken, S. 27.

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Filmographie Dormir al sol, Regie: Alejandro Chomski, DVD: J.C. Fisner 2012.

Folke Gernert

Philipp II., Celestina und Tlazoteotl: groteske Körperlichkeit und Hybridisierung in Carlos Fuentes’ Roman Terra Nostra

1.

Terra Nostra als kritische Groteske

Im Jahre 1975 veröffentlichte Carlos Fuentes seinen Roman Terra nostra. Es ist durchaus verwunderlich, dass dieser historische Roman sui generis bislang nicht vor dem Hintergrund des Grotesken als dominanter Analysekategorie betrachtet worden ist,1 auch wenn der neobarocke Monumentalroman wiederholt als ein wuchernder Text charakterisiert wurde,2 der eine überaus kritische Vision der spanischen und hispano-amerikanischen Geschichte und Kultur der Siglos de Oro kaleidoskopartig entfaltet, um so einen Weg aus der mexikanischen Identitätskrise zu weisen. Wie Vittoria Borsk treffend formuliert, »verwirklicht die Hauptfigur Peregrino-Quetzalcjatl-Cort8s die mythische Utopie einer Konvergenz aller Zeiten und Orte des mare nostrum in der neuen Welt«.3 Stellvertretend 1 Ansätze zu einer solchen Deutung finden sich bei Alexis M#rquez Rodr&guez, »Aproximacijn preliminar a Terra Nostra: La ficcijn como reinterpretacijn de la historia«, in: Ana Mar&a Hern#ndez de Ljpez (Hg.), La obra de Carlos Fuentes: Una visijn mfflltiple, Madrid 1988, S. 183–192, hier S. 188, der von einer Betrachtung der historischen Figuren »a trav8s de un cristal deformante, que no pocas veces conduce incluso a lo grotesco« spricht, um dann aber zu schlussfolgern: »Sin embargo, aun en los casos extremos tal deformacijn no llega a ser desintegradora, y m#s bien posee un grado tal de transparencia que permite reconocer, en el fondo de lo deformado, la realidad de la cual arranca el tratamiento deformante«. 2 Vgl. Maria T. Fern#ndez MuÇoz, »El lenguaje profanado: Terra nostra, de Carlos Fuentes«, in: Cuadernos Hispanoamericanos 359 (1980), S. 419–428, hier S. 425 (»proliferacijn barroca«); Lois Parkinson Zamora, »Magic Realism and Fantastic History : Carlos Fuentes’s Terra Nostra and Giambattista Vico’s The New Science«, in: The Review of Contemporary Fiction 8 (1988), S. 249–256, hier S. 251 (»the proliferating narrative lines of Terra Nostra«) oder Jacqueline Covo, »Le personnage de El SeÇor dans Terra Nostra de Carlos Fuentes«, in: Francis Cerdan (Hg.), Hommage / Robert Jammes, Toulouse 1994, Bd. 1, S. 273–280, hier S. 273 (»roman prolif8rant«). Jose Miguel Oviedo, »Terra nostra: Historia, relato y personaje«, in: Rose S. Minc (Hg.), Latin American Fiction Today, Takoma Park 1980, S. 19–31, hier S. 27 spricht von einem »texto monstruoso, un palimpsesto de intricadas ra&ces y ramas, cuyo principio din#mico es de naturaleza acumulativa«. 3 Vittoria Borsk, Mexiko jenseits der Einsamkeit: Versuch einer interkulturellen Analyse, Frankfurt a. M. 1994, S. 46, Anm. 18.

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für das gegenreformatorisch-katholische Spanien steht im Roman El SeÇor, eine an Philipp II. orientierte Kompositgestalt, und die Erbauung des Escorial, der als architektonisches Pendant der aztekischen Tempelanlagen Tenochtitl#ns gestaltet ist.4 Auch die bildkünstlerischen Referenzmodelle, die als Ekphrasis im Text präsent werden, haben einen festen Platz in der Geschichte der grotesken Malerei, wie etwa Luca Signorellis Ausmalung der Cappella di San Brizio im Dom zu Orvieto5 oder in ganz besonderer Weise Hieronymus Boschs Garten der Lüste.6 Wie Marta Gallo überzeugend argumentiert, habe das Triptychon des niederländischen Malers auch die Makrostruktur des Romans bestimmt, wobei der Titel Terra nostra der Weltkugel auf dem Außenflügel des geschlossenen Altarbildes entspräche; den Darstellungen von Garten Eden, Garten der Lüste 4 Dies erfolgt erzähltechnisch durch die Wiederholung symbolträchtiger architektonischer Elemente wie der 33 Stufen im Escorial (Carlos Fuentes, Terra Nostra, Barcelona 1975, S. 193), die in den 33 Stufen des aztekischen Tempels (Fuentes, Terra Nostra, S. 466) wiederaufgenommen werden. Auf diese Weise werden die einander diametral entgegen gesetzten Gebäude zu Zeichen absoluter Herrschaft. Vgl. hierzu Duarte Mimoso-Ruiz, »Images de la mort dans la litt8rature latino-am8ricaine: L’exemple d’Alejo Carpentier (Le SiHcle des LumiHres, 1962, La Harpe et l’ombre, 1979) et de Carlos Fuentes (Terra Nostra, 1979)«, in: Gilles Ernst, LouisVincent Thomas (Hg.), La Mort en toutes lettres, Nancy 1983, S. 271–281, hier S. 272 (»Fuentes […] renvoie le lecteur au monastHre de l’Escorial et au ›pourrissoir‹ […], / la n8cropolemausol8e oF Philippe II s’enferme / l’instar d’un mort-vivant entour8 des tombeaux de ses ancÞtres. L’escalier qui mHne au panth8on est un 8l8ment spatial privil8gi8 par Fuentes: les trente-trois marches symbolisent la lign8e royale de l’illustre monarque. […] A ce paradigme spatial europ8en s’oppose le paradigme du nouveau monde: l’architecture fun8raire 8voqu8e par Fuentes semble Þtre une r8f8rence / la grande cit8 maya de la p8riode classique […] au temple des Inscriptions de Palenque. Nous retrouvons dans cet espace du Nouveau Monde […] l’image des escaliers externes et internes, schHmes spatiaux semblables / l’escalier vo0t8 descendant jusqu’/ une crypte oF 8taient sacrifi8s de jeunes prisonniers d8couverte en 1952 par l’arch8ologue mexicain Alberto Lhullier. Ainsi, un rapport dialectique s’instaure entre le panth8on espagnol et l’espace latino-am8ricain«) und Susanne Kleinert, »Carlos Fuentes: Terra Nostra«, in: Volker Roloff, Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Der hispanoamerikanische Roman, II: Von Cort#zar bis zur Gegenwart, Darmstadt 1992, S. 181–192, hier S. 183: »Dem Escorial als Symbol eines autoritären Zentralismus entspricht in Terra nostra die aztekische Pyramide als Ort der Menschenopfer – beide Orte absoluter Herrschaft legitimieren sich als Mittelpunkt der Welt«. 5 Vgl. Wolfgang Kayser, Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Tübingen 2004, S. 22. 6 Vgl. Kayser, Das Groteske, S. 33–35 und Francisco Cruz, »Lo grotesco en El jard&n de las delicias«, in: Analecta: revista de humanidades 2 (2007), o. S. Vgl. die Bildbeschreibung in Fuentes, Terra Nostra, S. 629–633, und zur Bedeutung des Altarbildes von Bosch für den Roman Zamora, »Magic Realism«, S. 254 und Anne-Marie Capdeboscq, »D8crire ou 8crire la peinture: / propos de la description du Jardin des D8lices dans Terra nostra de Carlos Fuentes«, in: Nadine Ly (Hg.), L’esprit de la lettre: textes hispaniques de Juan Ruiz / Carlos Fuentes, Bordeaux 1992, S. 139–150. Zur piktorischen Sprache vgl. Juan Goytisolo, Disidencias, Barcelona 1977, S. 243, sowie Paul Cohen, »Mirror, Mask, and Portrait in Fuentes’ Terra Nostra«, in: Delaware Review of Latin American Studies 5 (2004), o. S. und Dorita Nouhaud, »De l’amour de toutes / l’amour de soi ou Don Juan d8masqu8«, in: Les Langues Neo-Latines 80.2 (1986), S. 5–33, hier S. 15.

Groteske Körperlichkeit und Hybridisierung

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und Hölle seien die drei Teile des Romans, »El viejo mundo«, »El nuevo mundo« und »El otro mundo« angelehnt.7 Neben der historischen Realität, Architektur und Malerei als Bezugssystemen des Romans, sind es überdies literarische Wiedergänger – Celestina, Don Juan und Don Quijote8 – und indigene Mythen, die in ein den Leser irritierendes Verhältnis gesetzt werden.9 Diejenige Figur, die die Hybridisierung am deutlichsten erkennen lässt, ist Celestina, die sich im Laufe der Erzählung durch Transmigration oder Metempsychose in die aztekische Göttin Tlazoteotl verwandelt und im letzten Kapitel des Romans mit einem namenlosen Mexikaner im Liebesakt zu einem androgynen Wesen verschmilzt. Dieser kurze Überblick verdeutlich, dass der Roman eines der wichtigsten Charakteristika des Grotesken aufweist, welches – um mit Dorothea Scholl zu sprechen – darin besteht, »Verbindungen nicht nur mit sämtlichen Künsten, sondern innerhalb dieser mit allen möglichen Gattungen, Diskursen und anderen kulturellen Ausdrucksformen einzugehen«.10 Nach diesen Vorüberlegungen schlage ich im folgenden eine Lektüre des Romans Terra Nostra als einer kritischen Groteske vor, die durch einen alternativen Geschichtsentwurf eine Identitätsformel entwickelt, die das Prinzip des mestizaje als grotesk-chimärenhafte Vermischung präsentiert.

1.1.

Der Aufstand der comuneros in México: Das Geschichtsbild von Carlos Fuentes

Ein Jahr nach der Veröffentlichung von Terra Nostra publiziert Carlos Fuentes den langen Essay Cervantes o la cr&tica de la lectura,11 der zu einer Reihe von im 7 Marta Gallo, »Terra nostra divisa est in partes tres«, in: Filolog&a 20 (1985), S. 213–222, hier S. 214. 8 Vgl. zur Bedeutung von Celestina, Don Juan und Don Quijote in Terra Nostra Oviedo, »Terra nostra«, S. 22, Candace K. Holt, »Terra Nostra: Indagacijn de una identitad«, in: Revista de Estudios Hisp#nicos 17 (1983), S. 395–406, hier S. 400; Mar&a Coira, »El Siglo de Oro espaÇol en Terra Nostra de Carlos Fuentes«, in: Edith Marta Villarino Cela, Elsa Graciela Fiadino (Hg.), Estudios cr&ticos de literatura espaÇola, Mar del Plata 2003, Bd. 2, S. 245–256 und BegoÇa Souviron Ljpez, Don Juan en la novela de Carlos Fuentes »Terra nostra«, M#laga 2005, S. 24. 9 Vgl. die Interpretation von Kleinert, »Carlos Fuentes«, S. 184: »Terra nostra ist ein Versuch, den gleichberechtigten Dialog zwischen Mexiko und Spanien, zwischen Europa und Lateinamerika, der historisch durch die Gewalttaten der Conquista nicht stattfinden konnte, im Medium der Literatur als Dialog literarischer Texte, Mythen und Legenden zu führen«. 10 Dorothea Scholl, Von den »Grottesken« zum Grotesken. Die Konstituierung einer Poetik des Grotesken in der italienischen Renaissance, Münster 2004, S. 17. 11 Carlos Fuentes, Cervantes o la cr&tica de la lectura, M8xico 1976. Das Verhältnis von Roman und Essay hat Lanin A. Gyurko (»Novel into Essay : Fuentes’ Terra Nostra as Generator of Cervantes o la cr&tica«, in: Mester 11 (1982), S. 16–35) analysiert.

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Roman aufgeworfenen Fragen Stellung nimmt. Der mexikanische Romancier befasst sich hier ausführlich mit der Bedeutung des in Terra Nostra fiktionalisierten Comunero-Aufstandes von 1521 und der widersprüchlichen Bewertung dieses historischen Ereignisses durch konservative und progressive Historiker.12 Fuentes selbst macht sich die Sichtweise von Jos8 Antonio Maravall13 zu eigen und beschreibt die Niederschlagung der Comunidades de Castilla als herben Schlag gegen die Herausbildung eines demokratischen und pluralistischen Spanien: La derrota de los ej8rcitos comuneros en Villalar en 1521 significj un golpe feroz contra las fuerzas orientadas a favor de una EspaÇa moderna, democr#tica, pluralista y tolerante. Las semillas de renovacijn que comenzaron a germinar durante la Edad Media y a dar sus frutos en 1520 fueron aplastadas por el puÇo de un imperium anacrjnico, fundado en la pureza de la sangre, la intolerancia, la persecucijn, la ortodoxia religiosa y la mutilacijn de la cultura pluralista de EspaÇa.14

Diese historischen Entwicklungen sind für Fuentes von außerordentlicher Tragweite auch für die Geschichte der Neuen Welt,15 in der nach der Eroberung Tenochtitl#ns durch Hern#n Cort8s im gleichen Jahr 1521 das autoritäre Herrschaftsmodell der Spanier implementiert wurde: »En lugar del poder vertical y autoritario de los aztecas, los espaÇoles instalan el poder vertical y autoritario de los Austrias«.16 Der kritische Blick auf die spanische Habsburgermonarchie und auf das Aztekenreich erfolgt im Roman mit den Mitteln der Groteske.

1.2.

Groteske Deformation der Habsburgermonarchie

Die Titelseite der Erstausgabe von 1975 ziert eine groteske Deformation von Philipp II. in Anlehnung an Antonio Sauras Retrato imaginario de Felipe II von 1969. Der Erwartungshorizont des Lesers wird durch die verzerrte Darstellung des spanischen Monarchen auf eine kritische Auseinandersetzung mit den Habsburgern im Modus des Grotesken eingestimmt. In seinem langen Essay El 12 Vgl. zum Geschichtsbild von Carlos Fuentes Becky Boling, »A literary vision of history : Marxism and positivism in Terra nostra by Fuentes«, in: Latin American Research Review 19 (1984), S. 125–141; Carl Guti8rrez, »Provisional Historicity : Reading through Terra Nostra«, in: The Review of Contemporary Fiction 8 (1988), S. 257–265; Zamora, »Magic Realism« und Raymond Leslie Williams, »Carlos Fuentes’ Construction of History : From T#ntalo to Terra Nostra«, in: Princeton University Library Chronicle 57 (1996), S. 415–434. 13 Jos8 Antonio Maravall, Las comunidades de Castilla: una primera revolucijn moderna, Madrid 1963. 14 Fuentes, Cervantes o la cr&tica de la lectura, S. 62. 15 Fuentes spricht von der »extraordinaria importancia […] de la derrota comunera en los destinos de la Am8rica EspaÇola«, Cervantes o la cr&tica de la lectura, S. 63. 16 Fuentes, Cervantes o la cr&tica de la lectura, S. 62.

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espejo enterrado von 1992 spricht Fuentes expressis verbis von »todas estas figuras grotescas«, wenn er das Leben am Hofe von Philipp IV. beschreibt: De esta corte de tenaces intrigas sexuales, penitencias religiosas y pr#cticas endog#micas, habr&an de surgir los enanos y los bufones pintados por Vel#zquez, pero tambi8n el propio hijo y heredero del monarca, Carlos II, llamado el Hechizado. Carlos II, el monarca final de la casa de Austria, fue pintado por Coello como un doble de los bufones deformes de Vel#zquez: impotente, ignorante, imposible.17

Diese grotesken Figuren der spanischen Geschichte bevölkern auch den fiktiven Raum in Terra Nostra: Die enana Barbarica im Roman erinnert an Marib#rbola, die kleinwüchsige Frau aus Vel#zquez Meninas. Der Habsburger Karl II. trägt in Terra Nostra den Namen el bobo. Die in historischen Quellen überlieferte Anekdote von seiner Krönung mit einer blutigen Taube18 wird in Terra Nostra zu einer homodiegetischen Erzählung: La enana corre hacia m&, chillando de alegr&a […] me ofrece el blanco pichjn, yo lo tomo y le arranco al barbero sorprendido la navaja, se la clavo en la pechuga tersa, blanca y gorgoreante a la paloma y cuando veo la sangre que mancha el plumaje, me corono con el ave agonizante, coloco su cuerpo tr8mulo sobre mi cabeza rapada y sangrante y dejo que la sangre ruede por mi cara y me ciegue otra vez, pues me niego a cerrar los ojos, veo la alegr&a de la enana que hace cabriolas de gusto, veo el desaf&o primero, luego el temor y finalmente la orgullosa aceptacijn de la Vieja […].19

Über die groteske Szenerie wacht eine Alte, die arm- und beinamputierte Dama Loca,20 ein Kompositcharakter, der neben der dominanten Bezugnahme auf Juana la Loca,21 die nach dem Tod von Philipp dem Schönen mit dem einbal17 Vgl. insbesondere das achte Kapitel (»El Siglo de Oro«) in Carlos Fuentes, El espejo enterrado, M8xico 1992, S. 261–262. 18 Vgl. Pedro Aguado Bleye, Manual de historia de EspaÇa, Madrid 1959, S. 858 (»Se aplicaban al enfermo palomas reci8n muertas en la cabeza«) sowie Kristine Ibsen, »El teatro en la memoria: Transtextuality and the Activation of the Reader in Fuentes Terra nostra«, in: Revista hisp#nica moderna 47 (1994), S. 109–122, hier S. 111: »Incredibly, many of these images are drawn from historical fact: such as the grotesque scene in which Bobo applies a slain dove to his head, adapted from an actual incident in the life of Carlos II«. 19 Fuentes, Terra Nostra, S. 221. In Cervantes o la cr&tica de la lectura, S. 66, spricht Fuentes von dem »cad#ver viviente, Carlos el Hechizado, impotente, tarado, coronado de palomas sangrantes«. 20 Vgl. zu dieser grotesken Figur insbesondere das Kapitel »La dama loca« (Fuentes, Terra Nostra, S. 186–191) und zu ihrem grotesken Wesen M#rquez Rodr&guez, »Aproximacijn preliminar«, S. 188–189. 21 Catherine Swietlicki, »Doubling, Reincarnation, and Cosmic Order in Terra Nostra«, in: Hispanjfila 27 (1983), S. 93–104, hier S. 97 nennt als historische Vorbilder der Figur Juana la Loca, die König Mariana, Mutter von Karl II., Carlota und La Malinche und schlussfolgert: »the women may be reincarnated doubles. Like Juana, the three famous ladies lived in momentous historical eras, and all suffered tragedies related to an important change in the course of history. These women are illustrations of Fuentes’ thesis that history repeats itself,

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samierten Leichnam ihres Gatten durch die Lande zog, zu einem späteren Zeitpunkt auch die mexikanische Kaiserin Carlota inkarniert, die ebenfalls einen grotesken Totenkult22 pflegte. Diese Personalunion von spanischer und mexikanischer Monarchin wird im Roman zu einem weiteren Zeichen der parallelen Entwicklungen diesseits und jenseits des Ozeans. Die zentrale Figur des ersten Teils ist jedoch El SeÇor, eine Kompositgestalt, die Züge von Philipp II. mit denjenigen von Karl V. und anderen Herrscherpersönlichkeiten kombiniert.23 Parsons kennzeichnet diesen fiktiven Monarchen als jemanden »who epitomizes the most grotesque features of all Spanish rulers«.24 Die herausragenden Charaktereigenschaften des SeÇor sind seine obsessive Religiosität, die Ablehnung jeglicher Art von weltlichen und körperlichen Genüssen sowie seine kränkliche Konstitution, die in seinem grausamen Tod im dritten Teil des Romans gipfelt.25 Die Beschreibung der spanischen

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i. e. the world is constantly establishing order, destroying it, and recreating it in a new guise«; vgl. weiterhin Nouhaud, »De l’amour«, S. 17–18 und Ibsen, »El teatro en la memoria«, S. 112: »La dama loca, Felipe’s mother, most clearly approximates the life of Juana ›la loca‹, but also that of Mariana of Austria and Carlota, ›empress‹ of Mexico«. M#rquez Rodr&guez, »Aproximacijn preliminar«, S. 189 wertet dieses erzählerische Verfahren als »deformacijn histjrica de Felipe II«. Vgl. zum Motiv des Totenkultes sui generis mit »Schockpotential« bei Carlos Fuentes in einem ganz anderen Zusammenhang Matthias Hausmann, »Carlos Fuentes’ Erzählung La muÇeca reina als Dekonstruktion klassischer Abenteuerromane des 19. Jahrhunderts«, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 249 (2012), S. 106–124, hier S. 113. Vgl. Jaime Alazraki, »Terra Nostra: Coming to Grips with History«, in: World Literature Today 57 (1983), S. 551–558, hier S. 556 (»The axial character around which the entire novel pivots, Felipe El SeÇor, is not only Philipp II but all the kings who, from 1492 onward, caused Spain to lose the course of its history«); Nouhaud, »De l’amour«, S. 16; Ibsen, »El teatro en la memoria«, S. 111 (»For example, Felipe, El SeÇor, although primarily modeled after the pious and autocratic Felipe II, who ruled Spain from 1556 to 1598, also represents, among others, Fernando el Catjlico, whose reign […] witnessed the voyage of Columbus, the expulsion of the Jews, and the fall of Granada, and Carlos V […] under whom took place the conquest of Mexico and the Comunero revolt«); Williams, »Carlos Fuentes’ Construction of History«, S. 419 (»a synthesis of the historical figures of Charles V and Philipp II«); Oviedo, »Terra nostra«, S. 22; Mark Anderson, »A Reappraisal of the Total Novel: Totality and Communicative Systems in Carlos Fuentes’s Terra Nostra«, in: Symposium 57 (2003), S. 59–79, hier S. 59 (»The central figure in this section, Felipe or simply El SeÇor is a composite figure of several sixteenth- and seventeenth-century Spanish monarchs. This character, obsessed with monologic political and religious discourse, is placed in opposition to a socially and racially diverse group that attempts to undermine his control through a discourse of plurality«) und Francisco Javier Ordiz, El mito en la obra narrativa de Carlos Fuentes, Lejn 2005, S. 96. Robert A. Parsons, »The Vision of Horror or Opposing Self: The Double in Three Novels by Carlos Fuentes«, in: Journal of Evolutionary Psychology 8 (1987), S. 105–114, hier S. 110. Vgl. Fuentes, Cervantes o la cr&tica de la lectura, S. 65: »En 1598, Felipe II, llamado ›El Prudente‹ por su dificultad en tomar decisiones, muere una muerte atrozmente dolorosa y excrementicia en el sombr&o palacio, monasterio y necrjpolis de El Escorial. Le rodean los tesoros que el Monarca aprecia por encima de toda la plata y el oro del mundo: las calaveras,

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Könige und besonders diejenige von Philipp II. in Terra Nostra ist inspiriert von historischen Studien, die Carlos Fuentes in Cervantes o la cr&tica de la lectura gewissenhaft auflistet. Von herausragender Bedeutung für die Textkonstitution ist die Studie Philippe II / l’Escorial von Louis Bertrand.26 Der französische Historiker schildert eindringlich die grausamen Todesqualen, die Philipp II. zu erleiden hatte, wobei die Hochachtung vor der Standhaftigkeit und der Religiosität des spanischen Habsburgers die Darstellung bestimmen. Fuentes verwebt Erzählstränge seines Romans mit dem historischen Bericht vom Todeskampf von Philipp II., den er passagenweise nahezu wörtlich aus der Schilderung von Louis Bertrand übersetzt.27 Hierbei sind einige wenige punktuelle las canillas y las manos disecadas de santos y m#rtires, las reliquias de la corona de espinas y de la cruz del Calvario«. 26 Louis Bertrand, Philippe II / l’Escorial, Paris 101929. Das Kapitel »La muerte de Felipe II« in dem gleichfalls zitierten historischen Handbuch von Aguado Bleye, Manual, S. 677–678 ist weitaus weniger detailliert bei der Schilderung der grausamen Todesqualen des Monarchen. 27 Ibsen, »El teatro en la memoria«, S. 111 verkennt die Bedeutung des französischen Historikers für die Darstellung in Terra Nostra wenn sie behauptet, dass »the graphic description of Felipe’s death« sei »primarily drawn from the contemporary accounts of Antonio Cervera de la Torre (1600) and Dr. Cristjbal P8rez de Herrera (1604) recounted in Cabrera y Cjrdoba’s biography«. Dies zeigt ein Vergleich mit den im Ap8ndice der in Fuentes’ kommentierendem Essay zitierten vierbändigen Abhandlung von Luis Cabrera de Cjrdoba (Felipe Segundo, Rey de EspaÇa, Madrid 1876) abgedruckten Zeitzeugenberichten, nämlich der Relacijn de la enfermedad y muerte del rey D. Felipe II por Antonio Cervera de la Torre und der Relacijn de la enfermedad y muerte de su Magestad, del padre Fr. Diego de Yepes, su confesor. Cervera de la Torre schreibt in seinem Discurso primero, de la fortaleza de su Magestad, en el cual se escriben por menudo su paciencia y real sufrimiento, y todas las dolencias y trabajos que le afligieron y acabaron la vida, para que de ah& se entienda cu#n rara exemplar fue esta virtud: »Al s8ptimo d&a de esta enfermedad le sobrevino una apostema en la rodilla y muslo derecho, haciendo naturaleza un mal absceso # aquella parte, que con ningunos remedios pudo resolverse, habi8ndose procurado mucho, y temiendo no se madurase y fuese necesario abr&rsela en un art&culo que de suyo es malicioso y de mucho peligro; al fin se vino # madurar, y fue menester abr&rsela, y salij gran cantidad de materia, por estar todo el muslo lleno della; y por ser tanta, sin esta abertura que hizo el arte, la naturaleza hizo otras dos bocas, por donde purgaba tanta cantidad de materia, que esto solo bastaba para matarle, cuando no hubiera otra cosa. Ydesde treinta Ydesde treinta d&as de su enfermedad, con liviana ocasijn de una medicina de caldo de ave y azfflcar, vino # hacer m#s de cuarenta c#maras, y esto se fue continuando hasta el fin de su vida. Tuvo sin esto su Majestad un principio de fiebre h8ctica j habitual y un gran principio de hidropes&a, hinch#ndosele las piernas, muslos y vientre notablemente, junto con estar de las dem#s partes tan flaco, que no ten&a sino los pellejos y huesos. A todo esto se juntaron los corrimientos ordinarios de su gota, y cuatro llagas fistulosas que ten&a en el dedo &ndice de la mano derecha, y tres en el de enmedio de la misma mano, y una en el dedo pulgar del pi8 derecho; y de todas estas enfermedades juntas, tan grandes y peligrosas, vino # morir su Majestad, segffln y como lo tienen declarado y depuesto sus m8dicos de c#mara« (S. 298). Vgl. weiterhin: »Esto tambi8n le fue causa de gran tormento # la Majestad Real, ver que no se pod&a mover de la cama, y que en ella evacuaba su cuerpo, sin que se le pudiese mudar la ropa de la cama de la parte de abaxo en el discurso de toda esta enfermedad, y que en aquel lugar se le podr&an las asentaderas y las espaldas. Y segffln me ha referido el doctor Garc&a de OÇate, su m8dico de c#mara, sucedij muchas veces que por

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Abweichungen zu konstatieren: So wird beispielsweise ein Detail eingefügt, welches die juden- bzw. konvertiten-feindliche Haltung des Monarchen unterstreicht: nicht der historisch überlieferte Juan de Vergara28 führt in Terra Nostra die gefährliche Tumorbehandlung durch, sondern zwei fiktive Ärzte, von denen der eine ein Mönch ist: Exhausto, accedij a que el D&a de la Transfiguracijn del SeÇor le abrieran la postema. Acudieron a atenderle el licenciado Antonio Saura, cirujano de Cuenca, ayudado por un m8dico de Madrid y fraile jerjnimo llamado Santiago de Baena, pues no quer&a el SeÇor que sjlo manos seglares lo curasen, por no saberse nunca si en realidad eran de marrano converso, sino que ojos divinos atestiguasen cuanto las manos hac&an.29

Eine Gegenüberstellung der jeweiligen Passagen macht überdies deutlich, wie der Mexikaner den Tatsachenbericht des Historikers in eine groteske Körperdarstellung transformiert. Bertrand referiert wie die grausamen Schmerzen es Philipp unerträglich machen, das Bett zu verlassen oder auch nur seine Position zu ändern, sodass es notwendig wurde, seine Exkremente durch ein Loch in der Matratze zu entsorgen: Impossible de le changer de linge, de le soulever pour ses n8cessit8s: on dut faire un trou dans son lit. Ce fut une chose affreuse, d’autant plus qu’une m8decine qu’on lui avait administr8e d8termina un flux de ventre incoercible, qui ne s’arrÞta qu’avec sa vie, cela, excusarle el gran dolor que sent&a cuando le meneaban, se ten&a por menor inconveniente que los excrementos que evacuaba de su cuerpo no se le limpiasen ni se le mudase la ropa de aquella parte, y as& muchas veces se quedaban en la cama, caus#ndose dellos un pestilente olor. Lo cual, considerada la compostura y limpieza de su Majestad, que era de las m#s raras que se saben, fue una de las mayores miserias que tuvo, y as& se verifica en 8l haber pasado lo que del santo rey Job queda dicho, que pasj en el esterquilinio de sus propios excrementos« (300). Bei seinem Beichtvater hingegen lesen wir : »La paciencia con que llevj sus dolores y enfermedades no tiene encarecimiento, porque con haber estado dos aÇos y medio sin poderse tener en pi8, refresc#ndosele cada d&a los dolores de la gota, que en todos sus miembros le daba, sin casi jam#s faltarle calentura, despu8s de hab8rsele abierto los dedos de una mano, de donde manj materia m#s de un aÇo, y despu8s el dedo pulgar del pi8 derecho, y estar todo tan sentido, que no pod&a tocarle la s#bana sin mucho dolor. Al cabo se le hinchj una rodilla, que fue forzoso el abr&rsela con gran dolor y sucederle otros inhumanos dolores. Y despu8s de haber estado cincuenta y tres de espaldas sin poderse volver de ningffln lado, todo llagado y manando materia, sin haberse podido hacer la cama en todo este tiempo, no se halla haberse enojado ni dicho palabra pesada, sino que con grand&sima benignidad consolaba # todos, compadeci8ndose de los que por 8l trabajaban, mandando # unos se fuesen adormir, # otros # descansar« (S. 389). 28 Vgl. Bertrand, Philippe II, S. 237: »Enfin, le jour de la Transfiguration (Philippe dans sa pi8t8 ardente, aimait faire co"ncider les 8v8nements importants de sa vie avec les grandes fÞtes de l’Pglise) un de ses chirurgien, le licenci8 Juan de Vergara, se hasarda / donner le coup de lancette. Il le fit avec une telle habilet8 et une telle l8gHret8 de main, que la souffrance fut r8duite au minimum. Une grande quantit8 de matiHre sortit de l’abcHs et l’on constata que l’infection s’8tendait jusqu’/ l’os«. Vgl. zu den behandelnden Ärzten auch Aguado Bleye, Manual, S. 677. 29 Fuentes, Terra Nostra, S. 748.

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joint aux suppurations de ses plaies, qui coulaient continuellement, contribua / faire de son lit un effroyable fumier, d’une puanteur telle qu’on ne pouvait y tenir.30

In Terra Nostra wird dieser Bericht nun durch die Einschaltung einer Reihe skatophiler Details überboten: […] sobreven&ale una diarrea como de cabra, que inundaba de heces verdes el lecho de negras s#banas. Fueron tra&dos, de mala gana, unos criados que, cubri8ndose las narices y las bocas mojados, se metieron debajo del lecho y con cuchillos practicaron un hoyo entre los maderos y el delgado colchjn de paja de la cama, por donde pudiera escurrirse la mezcla de mierda, orina, sudor y pus. Salieron corriendo estos lacayos, baÇados sus caras y cuerpos de inmundicia […].31

Es sind nun gerade diese Ausschmückungen, die die Darstellung tabuisierter Körperfunktionen32 in den Bereich des Grotesken überführen, sei es durch den Tiervergleich und die durch ihn erfolgende Degradierung des Monarchen zu einer Ziege, durch die chromatische Präzisierung der Exkremente und ganz besonders durch die Erwähnung der Bediensteten mit ihrem in diesem Falle ganz wörtlich zu verstehenden Blick von unten. Diese Schilderung gehört in den Bereich grotesker Körperlichkeit wie sie Michail Bachtin in seiner berühmten Rabelais-Studie beschreibt: Daher geschehen auch die Hauptereignisse im Leben des grotesken Körpers, alle Akte des Körperdramas – Essen, Trinken, die Verdauung (und neben Kot und Urin auch andere Ausscheidungen: Schweiß, Schleim, Speichel), Beischlaf, Schwangerschaft, Entbindung, Wachstum, Alter, Krankheiten, Tod, Verwesung, Zerstückelung und Verschlungenwerden […] –, an der Grenze zwischen Körper und Welt und dem alten und dem jungen Körper.33

Anders als bei Rabelais ist der groteske Körper in Terra Nostra nicht wirklich komisch;34 es sei denn man denkt an das hämische Lachen, das Schneegans in 30 Bertrand, Philippe II, S. 239. 31 Fuentes, Terra Nostra, S. 751. Vgl. auch in Fuentes, Terra Nostra, S. 752, die Schilderung des Nasensekretes, das als weißer Wurm aus der Nase des König kriecht und dessen Eier sich vor den Augen des Monarchen in eine Vielzahl kleiner Würmchen verwandeln. 32 Wie Peter Fuß bemerkt, führt die gegen kulturelle Normen verstoßende Schilderung der Körperausscheidung, die »die Elemente des Körpers in die Welt entlässt« (Fuß, Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln 2001, S. 76, Anm. 42) zu einer Destabilisierung der Grenzen zwischen Körper und Welt. 33 Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt, Frankfurt a. M. 1995, S. 359. Vgl. zum grotesken Körper bei Rabelais auch Bernhard Teuber, Sprache, Körper, Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit, Tübingen 1989, S. 139–141. 34 R8mi Astruc bemerkt hinsichtlich von Baudelaires Zuordnung des Grotesken zum comique absolu: »Cependant, de s8rieuses r8ticences conduisent imm8diatement / remettre en question cette premiHre affiliation, car il est peu contestable que le grotesque renvoie parfois – et mÞme trHs souvent – / des 8l8ments terribles ou terrifiants, du moins clairement non comiques« (Le renouveau du grotesque dans le roman du XXe siHcle: essai d’anthropologie

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seiner Geschichte der grotesken Satire folgendermaßen beschreibt: »Nun haben aber die Menschen oft eine geheime boshafte Freude an der Erniedrigung des Hohen. Diese Freude ist umso größer, je länger das Hohe und Erhabene ihnen entgegengetreten ist«.35 Die Groteske ergibt sich in Terra Nostra aus dem Missverhältnis zwischen sozialem Stand und der Reduktion auf die Kreatürlichkeit, »die mit der körperfeindlichen Einstellung der Figur kontrastiert. Wie Ottmar Huber in seiner Studie zu Mythos und Groteske anmerkt, denunziere »[d]as Groteske […] die entstellte Wirklichkeit nicht durch unmittelbare Anklage, sondern indem es sie in schockierender Selbstverständlichkeit darstellt«.36 Dorothea Scholl erklärt die provokative Funktion der grotesken Kunst in ähnlicher Weise dadurch, dass sie »gegen das Groteske in der Wirklichkeit angehe«: Das Groteske in Kunst und Literatur, das allzu häufig aus der Perspektive einer vermeintlichen Normalität oder Norm als ›abnorm‹, ›häßlich‹, ›verrückt‹, ›entartet‹, ›verstiegen‹ usw. pathologisiert wurde und wird, kann aus der Auflehnung und Empörung gegen einen als anormal, häßlich, verrückt und entartet empfundenen Zustand der Welt erwachsen.37

Carlos Fuentes wendet sich mit seiner ungeschönten Darstellung des agonierenden Körpers als einem grotesk offenen Leib im bachtinschen Sinne gegen die Leibfeindlichkeit der spanischen Kultur, die er in Philipp II. verwirklicht sieht.38 Wie Gloria Dur#n es formuliert, gehe es dem Mexikaner darum, die »importancia del cuerpo como reto a la interdiccijn tradicional de la iglesia catjlica que exalta el ideal del no cuerpo« wieder in ihr Recht zu setzen.39 Das Interesse an Körperlichkeit

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39

litt8raire, Paris 2010, S. 26). Vgl. auch Teuber, Sprache, Körper, Traum, S. 140: »Das Bild des grotesken Körpers, wie es in einer Episteme der Ähnlichkeit und im Karneval zur Erscheinung kommt, mag zwar lachhaft sein, ist aber noch nicht von sich aus als Kategorie einer komischen Ästhetik zu begreifen«. Heinrich Schneegans, Geschichte der grotesken Satire, Straßburg 1894, S. 24. Ottmar Huber, Mythos und Groteske. Die Problematik des Mythischen und ihre Darstellung in der Dichtung des Expressionismus, Meisenheim/Glan 1979, S. 63. Scholl, Von den »Grottesken«, S. 77. Mit Jos8 Schraibman, »Las tres religiones en Terra nostra: Nec terra mea, necque terra tua, sed terra nostra«, in: Literatura Mexicana 17 (2006), S. 127–136, hier S. 129 kann man Terra nostra als Meditation über die historische Realität Spaniens lesen, wobei einer der zentralen Aspekte die »actitud ante el cuerpo« darstelle. Gloria Dur#n, »The meaning of Sex in Terra Nostra or a tale of two writers: Carlos Fuentes and Octavio Paz«, in: Paunch 65–66 (1991), S. 153–170, hier S. 153. Vgl. auch die Deutungen von Fern#ndez MuÇoz, »El lenguaje profanado«, S. 425 (»Y con tono de farsa, retorcido horror de muertos que siguen viviendo, contempl#ndose en el espejo deformador de su entidad (ese Felipe que se mira desconcertado una y otra vez: imagen de la decadencia metaforizada de su propia persona a la sociedad toda: a los reinos que gobierna con omn&moda autoridad«) und Parsons, »The Vision of Horror«, S. 110: »In El otro mundo […] the deteriorization of the old world is picked up again and, in increasingly groteque [sic] and absurd fashion, carried forward to the ultimate demise of traditional Spanish values and

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ist im Kontext der historischen Thesen von Am8rico Castro zu verorten.40 In der erstmals 1948 erschienenen Studie EspaÇa en su historia: cristianos, moros y jud&os legt der Historiker und Philologe bekanntlich das Fundament für eine bis heute gültige Sicht auf die spanische Kultur und Literatur, die die problematische Identität Spaniens als Konsequenz der Marginalisierung von Mauren, Juden und Konvertiten begreift. In Anlehnung an Castro und insbesondere an das Kapitel »Por qu8 no quisieron los espaÇoles a Felipe II«41 gestaltet Fuentes in seiner historischen Fiktion Philipp II. als Negativfigur42, die die Herausbildung einer offenen, pluralistischen sowie lebens- und körperfrohen Gesellschaft verhindert hat.

2.

Celestina in Terra Nostra: subversive Interfiguralität

Die in Terra Nostra zum Ausdruck kommende Verehrung für Am8rico Castro43 teilt Fuentes mit seinem Freund Juan Goytisolo, in dessen Pariser Wohnung er bekanntlich einen Teil von Terra Nostra verfasste.44 Die enthusiastische Castro-

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power structures, symbolized by the death of Felipe, who is powerless to halt the onslaught of the forces of modernity«. Vgl. in diesem Kontext auch Dur#n, »The meaning of Sex«, S. 156: »The current popularity of body as a theme for Fuentes, Paz, Garc&a-M#rquez, Mario Vargas Llosa and many more writers of Spanish prose can be explained by the history of Spain and Spanish America, where since the early Renaissance the predominant culture has repressed this axis of human duality. All these critics and writers are indebted to the scholarship of Am8rico Castro who showed how Spain in her determination to destroy all vestiges of Moorish influence, to distinguish the noble Christian Spaniard from the lascivious Moors, methodically extirpated all Moors and Jews from the land and established instead a State repressive of body and ruled by a theocracy and an imperialist monarchy«. Am8rico Castro, EspaÇa en su historia: Cristianos, moros y jud&os, Buenos Aires 1983, S. 613–616. Vgl. zu den Spuren des Gedankengebäudes von Castro in Terra Nostra Joaqu&n Rodr&guez Suro, »La huella de Am8rico Castro en Terra Nostra«, in: Ronald E. Surtz, Jaime Ferr#n, Daniel P. Testa, Edmund L. King (Hg.), Am8rico Castro: The Impact of His Thought, Madison 1988, S. 259–266. Eine Übersicht über die kontroverse Betrachtung von Philipp II. in Bezug auf Terra Nostra liefert Jonathan Tittler, »Terra Nostra: De siglos dorados y leyendas negras«, in: Ana Mar&a Hern#ndez de Ljpez (Hg.), La obra de Carlos Fuentes: Una visijn mfflltiple, Madrid 1988, S. 193–202. Vgl. Pere Gimferrer, »Terra Nostra, de Carlos Fuentes«, in: Jordi Gracia, Joaqu&n Marco Revilla (Hg.), La llegada de los b#rbaros: la recepcijn de la literatura hispanoamericana en EspaÇa, 1960–1981, Barcelona 2004, S. 1009–1011, hier S. 1010: »Pero el libro [i. e. Terra Nostra] es histjrico en otro sentido m#s profundo: constituye una de las m#s vastas reflexiones acerca del vivir hisp#nico que nos haya deparado la literatura. Uno de sus temas mayores es la recapitulacijn de los mitos y figuras emblem#ticas de un pasado a la vez odiado y fascinador y el descubrimiento de su significacijn en la memoria colectiva. En este sentido, el propjsito de Fuentes converge con el de Am8rico Castro o, en el terreno literario, con el de Juan Goytisolo en su Don Juli#n«. Vgl. zum Verhältnis der beiden Autoren Gyurko, »Novel into Essay«, S. 31; Nouhaud, »De

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Rezeption erstreckt sich auch auf dessen Schüler, wie etwa Stephen Gilman, der 1972 The Spain of Fernando de Rojas: the intellectual and social landscape of La Celestina veröffentlichte.45 Juan Goytisolo feierte diese Publikation als »sin duda alguna uno de los acontecimientos m#s destacados de la moderna bibliograf&a hisp#nica«.46 Der spanische Schriftsteller stellt mit Gilman den »ate&smo de Fernando de Rojas«47 heraus und entdeckt in seinem Werk eine »rebeld&a del signo cuerpo contra las ideolog&as dominantes y sus construcciones racionales omn&modas«.48 Diese Lesart der Tragicomedia de Calisto y Melibea als ein subversives Werk ist auch diejenige von Carlos Fuentes, der in Anlehnung an Gilman Fernando de Rojas als einen »hombre en conflicto, […] un converso jud&o producto de su tiempo«49 charakterisiert und hiermit die kühne Kritik seines Werkes erklärt: Semejante ambigüedad cr&tica es propia del converso, el hombre conflictivo, perseguido, que se atreve a apartar las cortinas de las alcobas de la nobleza y ver a los hidalgos en cueros, capturados dentro de un radio de accijn peculiarmente humano y ya no legendario, manteniendo las apariencias en pfflblico y comport#ndose como criados en privado.50

Dies macht verständlich, warum Celestina im Roman ein Plädoyer für Körperbejahung und Freiheit in den Mund gelegt wird: »Celestina ten&a razjn. El mundo ser# libre cuando los cuerpos sean libres«.51 Als figure on loan52 ist

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l’amour«, S. 9–10 und S. 14–15 sowie Nicol#s Toscano Liria, »Convergencias: Juan Goytisolo sin tierra y Carlos Fuentes en Terra Nostra«, in: Ana Mar&a Hern#ndez de Ljpez (Hg.), La obra de Carlos Fuentes: Una visijn mfflltiple, Madrid 1988, S. 203–210. Stephen Gilman, The Spain of Fernando de Rojas. The intellectual and social landscape of La Celestina, Princeton 1972. Fuentes zitiert das englische Original in der Bibliographie von Cervantes o la cr&tica de la lectura. Goytisolo, Disidencias, S. 13. Goytisolo, Disidencias, S. 27. Goytisolo, Disidencias, S. 28. Fuentes, Cervantes o la cr&tica de la lectura, S. 46. Vgl. weiterhin Stephan Leopold, Der Roman als Verschiebung: Studien zu Mythos, Intertextualität und Narratologie in »Terra Nostra« von Carlos Fuentes, Tübingen 2003, S. 222: »Über den philologischen Wert der Fuentes’schen Celestina-Deutung kann man geteilter Meinung sein. Wohl unbestreitbar ist jedoch das subversive Potential von Rojas’ Kupplerin«. Fuentes, Cervantes o la cr&tica de la lectura, S. 51. Fuentes, Terra Nostra, S. 523. Vgl. zu Celestinas utopischem Liebesverständnis auch Fuentes, Terra Nostra, S. 121: »Todos miraron a Celestina y la muchacha apretj las manos contra los senos, cerrj los ojos e imaginj que todos los hombres y todas las mujeres podr&an escoger a la persona y al amor que m#s desearan, pues todo amor es natural y bendito; Dios aprueba todos los deseos de sus criaturas, si son deseos de amor y de vida y no deseos de odio y de muerte. ¿No plantj el propio Creador la semilla del deseo amoroso en los pechos de sus criaturas«. Vgl. Theodore Ziolkowski, »Figures on loan«, in: Varieties of literary thematic, Princeton 1983, S. 123–151, hier S. 133: »We are amused because the figure on loan deviates so greatly from our expectations«.

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Celestina auf unterschiedlichen Ebenen in Terra Nostra präsent.53 Im ersten Kapitel, welches in Paris am Ende des 20. Jahrhunderts spielt, gibt sich ein junges Mädchen mit grauen Augen und tätowierten Lippen54 auf dem Pont des Arts als Celestina zu erkennen55 und beginnt als intradiegetisch-homodiegetische Erzählerin die 58 verbleibenden Kapitel des ersten Teils über »El viejo mundo« zu erzählen.56 In dieser narratio tauchen nun mehrere Figurationen Celestinas auf, die Stephan Leopold durch Nummerierung voneinander abzugrenzen sucht.57 Zum einen haben wir eine junge Celestina, die in ihrer Hochzeitsnacht vom Vater des SeÇor vergewaltigt wurde. Eine zweite Celestina-Figur im Pagenkostüm, die den gestrandeten Peregrino findet und zu El SeÇor bringt, wird zur metadiegetischen Erzählerin innerhalb der intradiegetischen Erzählung der ersten Celestina. Sie berichtet, wie sie als Kind miterlebte, wie Philipp der Schöne eine Wölfin vergewaltigte. Die multiple Figur mit Namen Celestina

53 Laurila Marketta, »Metaphor and Metonymy in Terra Nostra«, in: Postscript 4 (1987), S. 49–54, hier S. 51: »The original Celestina passes her knowledge to a younger Celestina who then takes the place of the former one. When she sees the husband of the first Celestina, she explains her youthful appearance by saying she is the same Celestina, but also a different Celestina since she has the knowledge and experience of the first one as well as her own. Centuries later in 1999, but numerous pages earlier in the text, she reappears on a bridge in Paris, where she tells Polo Febo-Peregrino that she has come to meet him as previously arranged«. 54 Fuentes, Terra Nostra, S. 31–32: »Se detuvo junto a la muchacha y pensj que los labios eran mucho m#s interesantes que el dibujo: un tatuaje violeta, amarillo y verde los cubr&a con sierpes caprichosas, libres para adaptarse a los movimientos de la boca, sometidos a ella y a la vez independiente de ella: el tatuaje era una boca aparte, una segunda boca y tambi8n sjlo la boca de la muchacha, pero perfeccionada, enriquecida por los contrastes de color que resaltaban y profundizaban cada brillo de saliva y cada arruga inscrita en la plenitud de los labios«. Vgl. zur Bedeutung der Tätowierung Ibsen, »El teatro en la memoria«, S. 117, Anm. 24: »It is possible that Fuentes is using the striking (and thereby easily remembered) image of the tattooed lips as another means of guiding his reader through the various transmigrations of Woman that occur in the text. Significantly, tattooes, according to Cirlot, are an expression of cosmic activity associated with sacrifice, the mystical and the magical. In addition, tattooing is often associated with a rite of passage or initiation, just as the kiss of the first Celestina, which transmits her memory, marks the initiation of the second Celestina«. 55 William L. Siemens, »Celestina as Terra Nostra«, in: Mester 11 (1982), S. 57–66, hier S. 57–58: »One of the most striking features of the opening pages of Terra Nostra is the unexplained appearance, in the role of the archetypal Woman associated with an influx of new life, of a character named Celestina. […] if Celestina is something of an Earth-Mother-figure, how does she relate to the book’s title and frequently-expressed motif, Terra Nostra?«. 56 Vgl. zu Celestina als Erzählerstimme Regina Janes, »Terra nostra: Charting the Terrain«, in: Literary Review 23 (1980), S. 261–271, hier S. 262; Allen Josephs, »The End of Terra Nostra«, in: World Literature Today 57 (1983), S. 564–567, hier S. 565; Ingeborg Nickel, »Caos en el tiempo y en la historia: Carlos Fuentes en busca de la simultaneidad perdida«, in: Karl Kohut (Hg.), Literatura mexicana hoy : Del 68 al ocaso de la revolucijn, Frankfurt a. M., Madrid 1995, S. 203–213, hier S. 207–210 und Ordiz, El mito, S. 96. 57 Leopold, Der Roman als Verschiebung, S. 220–221.

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zeichnet sich jeweils durch die auffällige Tätowierung ihrer Lippen aus,58 durch welche sie mit der Schmetterlingsdame im zweiten Romanteil, »El mundo nuevo«, in Beziehung steht. Erst im dritten Teil ist die Figur mit Namen Celestina eine alte Kupplerin. Diese unterschiedlichen Figurationen Celestinas sollen nun in ihrer Funktion für die kritische Groteske erläutert werden.

2.1.

Celestina als Tlazoteotl in der neuen Welt: Hybridisierung und mestizaje

Zu Beginn des zweiten Teils wechselt die Erzählperspektive:59 Es spricht nicht mehr Celestina, sondern der Peregrino, der Philipp II. seine Erlebnisse in der neuen Welt berichtet, in der er als Kompositgestalt aus Hern#n Cort8s und dem Gottkönig Quetzalcjatl60 Stationen der Eroberung Mexikos abschreitet. Auf dieser Reise wird der Peregrino/Quetzalcjatl durch den Faden einer Spinne in einen brennenden Tempel geleitet, in dem er eine Frau »de deslumbrante belleza 58 Vgl. zur Multiplizität von Celestina Nouhaud, »De l’amour«, S. 26 (»C8lestine est trois femmes en une«) und Ibsen, »El teatro en la memoria«, S. 117–118: »In Fuentes’s novel Celestina is at once many women: a mediator not only as procuress but in the very text itself, through the memory she has inherited through the tattooed lips, which she transfers to others. The fact that she relays her memory through her mouth (and especially, her tongue) strongly suggests her connection to the hidden mysteries of language and, accordingly, to the text«. 59 Fuentes, Terra Nostra, S. 138: »El muchacho habla. Y el SeÇor oye lo que el muchacho dice […] El flautista da seÇales de vida con su musiquilla triste, que acompaÇa las palabras del joven peregrino. Nada, en cambio, se escucha de los labios del paje. Y 8stas son las palabras del peregrino«. 60 Die mythologische Erzählung ist die folgende: Tezcatlipoca, der rauchende Spiegel zeigt seinem Gegenspieler Quetzacjatl, der gefiederten Schlange und dem Schöpfer der Menschen, dessen schreckliches Spiegelbild, welches dem Gott unbekannt war. Daraufhin berauscht sich Quetzacjatl und beschläft seine eigene Schwester Quetzalt8patl. Aus Scham über sein sündhaftes Vergehen flieht er über das Meer in Richtung Westen, von wo aus die Menschen seitdem seine Rückkehr erwarten. In seiner Essaysammlung Tiempo mexicano (M8xico 1972) erzählt Carlos Fuentes detailliert diesen Mythos der nahua. Vgl. auch die vergleichende Analyse von Terra Nostra mit unterschiedlichen Versionen des Mythos bei Santiago Juan-Navarro, »Sobre dioses, h8roes y novelistas: la reinvencijn de Quetzalcjatl y la reescritura de la conquista en El nuevo mundo de Carlos Fuentes«, in: Revista Iberoamericana 62 (1996), S. 103–128. Vgl. zu Quetzacjatl die Studien von Walter Krickeberg, Altmexikanische Kulturen: Mit einem Anhang über die Kunst Altmexikos, Berlin 1975, S. 309–312; Enrique Florescano, El mito de Quetzalcjatl, M8xico 1995 und Ders., Quetz#lcjatl y los mitos fundadores de Mesoam8rica, M8xico 2004; Laurette S8journ8, El universo de Quetzalcjatl, M8xico 1998; Michel Graulich, Mythes et rituels du Mexique ancien pr8hispanique, Bruxelles 2000 und Magali Tercero, Isis y la serpiente emplumada: Egipto farajnico, M8xico prehisp#nico, Monterrey 2007, S. 120–175, S. 188–201, S. 216–243 und S. 256–267, sowie die Anthologie aztekischer Literatur von ]ngel M. Garibay Kintana, La literatura de los Aztecas, M8xico 1964, S. 33ff. und S. 92ff. Zur Rolle des Gottkönigs in der mexikanischen Identitätsdebatte vgl. Borsk, Mexiko jenseits der Einsamkeit, S. 68.

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y deslumbrante horror«61 trifft, die mit einem groben Baumwollgewand bekleidet ist und mit einer Vielzahl von Juwelen geschmückt ist, unter denen eine »luna menguante que adornaba la nariz de la mujer«62 hervorsticht. Diese Darstellung verweist auf Attribute der Göttin Tlazoteotl,63 die auch unter dem Namen Ixcuinan, welcher dueÇa del algodjn bedeutet, bekannt war,64 und auf deren besondere Verbindung mit dem Mond durch den Nasenschmuck angespielt wird.65 In der gleichen Weise wie die historischen Kompositgestalten des ersten Teils, verbinden auch die Götterfiguren der neuen Welt Attribute unterschiedlicher Herkunft zu einer multiplen Persönlichkeit.66 Die Schmetterlinge67 evozieren das Bild der Göttin Itzpapalotl,68 einer Feuergöttin der Chichimeken:69 61 »Digo mujer, SeÇor, para ser comprendido de vos y de vuestra compaÇ&a«, Fuentes, Terra Nostra, S. 412. 62 Fuentes, Terra Nostra, S. 412. 63 Vgl. zu dieser Göttin Juan Jos8 Cabada Izquierdo, »Tlazolteotl: una divinidad del pantejn azteca«, in: Revista espaÇola de antropolog&a americana 22 (1992), S. 123–138 und Patrice Giasson, »Tlazolteotl, deidad del abono: una propuesta«, in: Estudios de cultura N#huatl 32 (2001), S. 135–157. 64 Vgl. hierzu Krickeberg, Altmexikanische Kulturen, S. 210–211: »Bei Tlazoteotl prägt sich der fremde Ursprung noch sehr deutlich in Abzeichen aus, die auf das Land der Huaxteken hindeuten […] Da dies Land der Hauptlieferant der Baumwolle für die Hochlandvölker war, trägt die Göttin eine Stirnbinde und Ohrgehänge aus Rohbaumwolle sowie zwei Spindeln im Kopfputz. Ihre Diener beim Erntefest in Tenochtitlan wurden ›Huaxteken‹ genannt; ihr Beiname Ixcuinan war huaxtekischen Ursprungs und bedeutet eigentlich Herrin der Baumwolle«. 65 Vgl. Krickeberg, Altmexikanische Kulturen, S. 211: »Die Beziehungen der Tlazoteotl zum Monde äußern sich in ihrem halbmondförmigen Nasenschmuck und in gewissen Mythen, die sie in vierfacher Gestalt, entsprechend den vier Mondphasen, auftreten lassen«. Zu Tlazoteotl vgl. weiterhin Graulich, Mythes et rituels, S. 63–64, S. 103 (»La faute aprHs le d8luge rappelle celle qui fut commise / Tamonchan, lorsque Xochiquetzal-Tlzoteotl-Itzpapalotl-Cihuacoatl toucha ou mangea une fleur ou un fruit de l’arbre interdit du paradis originel. Toucher la fleur ou manger le fruit signifiait l/ les amours illicites de la d8esse. Les cons8quences de la rupture de l’interdit furent l’expulsion du paradis et la rupture entre ciel […] et terre«) und S. 260 (»Tlazoteotl est Xochiquetzal, la d8esse Terre et la premiHre femme morte / la guerre«). 66 Für Nouhaud, »De l’amour«, S. 26 ist die Schmetterlingsdame »/ la fois Tlazolt8otl (que les espagnols identifiaient comme d8esse des choses sexuelles) et Xochiquetzal, d8esse des fleurs et de l’amour. On la tenait pour une d8esse jeune, compagne de Xochipilli, jeune dieu du ma"s, des aliments et de la procr8ation et du plaisir«; zu Xochiquetzal vgl. Krickeberg, Altmexikanische Kulturen, S. 210. 67 Mimoso-Ruiz, »Images de la mort«, S. 274 erinnert daran, dass die Schmetterlinge als »animaux psychopompes par excellence dans les traditions de l’ancien Mexique« gelten. Vgl. auch Carlos R. Beutelspacher, Las mariposas entre los antiguos Mexicanos, M8xico 1988. 68 Vgl. Ibsen, »El teatro en la memoria«, S. 115: »the mysterious SeÇora de las Mariposas incarnates various mythical manifestations: her tattooed lips associate her with Celestina, while her New World presence synthezises attributes associated with several goddesses, particularly Itzpapalotl, the obsidian butterfly and Tlatzolt8otl, goddess of filth«. 69 Vgl. Krickeberg, Altmexikanische Kulturen, S. 211: »Daher traten einige lokale Feuergöttinnen des Tals von Mexiko in Schmetterlingsgestalt auf, vor allem die in Xochimilco verehrte

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Era su tocado una corona de mariposas, pero no reproduccijn de ellas, ni de metal, piedra o vidrio alguno eran, ni tampoco un ramillete de lib8lulas muertas: corona era 8sta de vivas mariposas negras, azules, amarillas, verdes, blancas, que se trenzaban volando sobre la cabeza de esta que llamo mujer.70

Auf intratextueller Ebene ist die herausragende Eigenschaft dieser Frauenfigur die Tätowierung auf den Lippen, ihre »boca pintada de mfflltiples colores«.71 Die »labios de la mujer: las sierpes de color que se fijaban y se hund&an y ondulaban en la carne de la boca«72 setzen sie in Beziehung zur Celestina des ersten Teils des Romans und machen sie in der Formulierung von Parsons zu einer »New World version of Celestina, the novel’s principal female archetype«.73 Auf seiner Reise durch die neue Welt trifft der Peregrino zwei weitere Male auf die SeÇora de las mariposas. Bei der zweiten Begegnung ist sie erheblich gealtert und hat ihr Erscheinungsbild verändert: Era ella. Yera otra. […] Las mariposas no la coronaban. Ten&a la cabeza descubierta y la larga cabellera negra embarrada, tambi8n, de sangre. […] A los pies de esta terrible seÇora, descansaba la araÇa: por ella la reconoc&, y porque los labios de mi amada eran labios pintados.74

Die Abwesenheit der Schmetterlinge blendet nun die Vorstellung von Itzpapalotl aus. Das verschmutzte Haupthaar deutet auf die verbreitete Vorstellung von Tlzaoteotl als Schmutzfresserin hin. Durch die an das Agnus Dei gemahnenden Worte, die die im Tempel versammelten Krieger an die »seÇora de los labios tatuados« richten, erfolgt eine weitere Kontamination dieser Figur, und zwar mit Christus: Tffl que limpias los pecados y devoras la inmundicia para purificar al mundo, manch#ndote a ti misma, limpia los nuestros, toma a nuestras rameras que fueron tomadas de entre humildes familias de los pueblos vencidos para satisfacer nuestro deseo im-

70 71 72 73 74

Chantico (das Feuer im Hause) und Itzpapalotl (Obsidianschmetterling), die Göttin der alten Chichimekenstadt Quauhtitlan im Norden des Sees von Tetzcoco. Der Obsidianschmetterling war ein gespenstiger, mit Steinmessern gespickter Schmetterling, der die vom Nachthimmel herabschwebenden Spukgeister im Kindbett gestorbener Frauen verkörperte. Die Feuergöttinnen waren also zugleich Sternwesen […] Man sieht an diesen Beispielen, wie sich die religiösen Vorstellungen der Azteken aus verschiedenen Quellen nährten und heterogene unbefangen miteinander verbanden«. Zu Itzpapalotl vgl. Graulich, Mythes et rituels, S. 63–64 (»culpable de comer las rosas, una falta que provoca la expulsijn de ella y de otros dioses«), S. 103, S. 170 (»come a los Mimixcoa y ellos la queman«), S. 214 (»lucha con los Mimixcoa«), S. 241 (»femme-guerriHre«) und S. 340–341 (»sacrificios de animales dedicados a ella«). Fuentes, Terra Nostra, S. 412. Fuentes, Terra Nostra, S. 412. Fuentes, Terra Nostra, S. 413. Robert A. Parsons, »The Allegorical Dimension of Carlos Fuentes’ Terra Nostra«, in: Hispanic Journal 7 (1986), S. 93–99, hier S. 94. Fuentes, Terra nostra, S. 432.

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puro […] Tjmalas. A ti te las ofrecemos, seÇora, que devoras las inmundicias, en este d&a del espejo humeante.75

Die Schmetterlingsdame erweist sich als multiple Figur, die in gewisser Weise analog zu den collageartig kombinierten Portraits von Giuseppe Arcimboldo funktioniert, die – wie Wolfgang Kayser beobachtet – mit einer Vexierbildtechnik arbeiten.76 Peter Fuß erläutert dieses Kipp-Phänomen77 in den Portraits des Renaissancemalers als wechselseitige Überblendung der beiden Darstellungsebenen.78 In der gleichen Weise stellt Fuentes’ Schilderung der chimärenhaften SeÇora de las mariposas den Leser vor die Entscheidung, die Figur der alten oder der neuen Welt zuzuweisen, ohne dass die Frage letztlich entschieden werden kann.79 Susi Kotzinger nennt diese »unaufhörliche semantische Kippbewegung«80 als ein Kriterium des Grotesken in der bildenden Kunst. Diese Unmöglichkeit, sich entscheiden zu können, dient in Terra Nostra dazu, die Zuordnung der chimärischen Schmetterlingsdame zur spanischen Literatur oder zur indigenen Mythologie bewusst in der Schwebe zu halten. Sie wird so zum Zeichen hybrider Identitätsbildungsprozesse, was durch die Anbindung der Figur an die memoria81 und somit an das kollektive Erinnern der Mexikaner unterstrichen wird, wie dem Bericht des Peregrino zu entnehmen ist:

75 Fuentes, Terra nostra, S. 432. 76 Kayser, Das Groteske, S. 184. 77 Vgl. hierzu Wolfgang Iser, »Das Komische als Kipp-Phänomen«, in: Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning (Hg.), Das Komische. Poetik und Hermeneutik VII, München 1976, S. 398–402. 78 »Sie bilden sowohl Früchte oder Gerätschaften als auch die porträtierte Person ab, […]. Sie zwingen den Betrachter, zwischen den Darstellungsebenen zu springen, die Aufmerksamkeit entweder auf das Portrait oder die Elemente zu richten, aus denen es besteht. Die beiden Ebenen sind nicht zugleich wahrnehmbar. Sie dekomponieren sich in wechselseitiger Überblendung. […] Immer wieder veranlassen aufblitzende Details aus der je anderen Bedeutungsebene den Rezipienten, die Aufmerksamkeit neu zu fokussieren. […] Das Chimärische ist ein Kipp-Phänomen und auch deshalb komisch«. Fuß, Das Groteske, S. 363. 79 Vgl. hierzu die weiteren Ausführungen von Fuß, Das Groteske, S. 363: »Weder die Portraits noch die Gegenstände auf Archimboldos Bildern sind grotesk. Grotesk ist die Unentscheidbarkeit, die jenes nicht stillzustellende Schwanken zwischen den sich überlagernden Ebenen bewirkt. Diese Unentscheidbarkeitszone ist der Kern des Chimärischen«. 80 »Bei der Groteske […] treffen im widernatürlichen Rapport der heterogenen Bildelemente in der symmetrisch-ornamentalen Ordnung kontradiktorisch Ornament- und Bildlogik aufeinander und bewirken eine unaufhörliche semantische Kippbewegung […]: Semantisierung innerhalb der einen Logik bewirkt Desemantisierung in der anderen und umgekehrt«. Susi Kotzinger, »Arabeske – Groteske: Versuch einer Differenzierung«, in: Susi Kotzinger, Gabriele Rippl (Hg.), Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, Amsterdam 1994, S. 219–228, hier S. 221. Astruc, Le renouveau du grotesque, S. 41 fasst dies im Bild des Doppelgängers: »Le double s’affirme […] comme une figure cl8 du grotesque parce qu’elle suppose le possible et l’impossible«. 81 Vgl. zu Celestina als Trägerin von Wissen und Erinnerung in Carlos Fuentes’ Roman

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[…] hablo mientras amo a la muchacha que me socorrij, sjlo puedo hablar mientras ella me acaricia, el amor es mi memoria, la fflnica, ahora lo s8, y apenas nos separ8is, SeÇor, a ella a m&, regresar8 al olvido del cual me rescataron los pintados labios de esta mujer: ella es mi gu&a, en ambos mundos, sin ella todo lo olvido.82

2.2.

Celestina als Kupplerin in El otro mundo

Im dritten und letzten Teil des Romans verkomplizieren sich die Zeitebenen der Narrationen, die an einer Vielzahl unterschiedlicher Räume stattfinden und eine ganze Reihe interfiguraler Kombinationen präsentieren.83 Im Kapitel »La madre Celestina«84 erscheint erstmals die Kupplerin von Fernando de Rojas in ihrer typischen Form, als eine Alte, die die Jungfräulichkeit wiederherstellt und mit ihren Zangen zum Augenbrauenzupfen die Zähne von Gehängten zieht.85 Im Kapitel »El caballero de la triste figura« hingegen stellt Sancho Panza Celestina seinem Herrn als eine »principal&sima dama« vor, die gerade aus der Gewalt böser Zauberer befreit worden sei. Der durch den cervantinischen Roman geprägte Erwartungshorizont der Leser wird nun dadurch enttäuscht, dass Don Quijote die vermeintliche Prinzessin aufs Übelste beleidigt: ¿Tan sand&o me crees que no vea ante m& a esta bruja alcahueta, que hasta las piedras le gritan a su paso, »¡Puta vieja!«, y que fregj sus espaldas en todos los burdeles? Joven fui, aunque no lo creas, y mi virtud perd& a manos de esta misma vieja falsa, barbuda, malhechora, que prometiendo introducirme en la alcoba de mi amada, me adormecij con filtros de amor en la suya y tomjme para s&, […]. Bien te conozco, vieja avarienta, campana, tarabilla, quemada seas, desvergonzada hechicera, sof&stica prevaricadora, escofina, urraca, trotaconventos; a otro, por m#s dinero, entregaste a mi amada Dul-

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Catherine Swietlicki, »Terra Nostra: Carlos Fuentes’ Kabbalistic World«, in: Symposium 35 (1981), S. 155–167, hier S. 160. Fuentes, Terra nostra, S. 432. Vgl. zu dieser Sonderform der Intertextualität Wolfgang G. Müller, »Interfigurality : A Study on the Interdependence of Literary Figures«, in: Heinrich F. Plett (Hg.), Intertextuality, Berlin 1991, S. 114: »A domain in which interfigurality is frequently to be observed is the grouping of the characters or configuration, as it well be termed here. Figures from different literary works can be brought together in a new fictional context, or a constellation of characters (configuration) from one or more pre-texts can be changed or inverted in the subsequent text. A very obvious example of a new configuration as a result of bringing together figures from different or traditions is Christian Dietrich Grabbe’s Don Juan und Faust«. Vgl. weiterhin Leopold, Der Roman als Verschiebung, S. 141. Vgl. Leopold, Der Roman als Verschiebung, S. 221: »C’, die madre Celestina aus Kapitel 126, ist also eindeutig eine Transweltfigur, d. h. sie weist in Terra Nostra dieselben Charakteristika auf wie in La Celestina von Rojas«; zu weiteren intertextuellen Bezügen siehe Leopold, Der Roman als Verschiebung, S. 220–225. Vgl. Fuentes, Terra Nostra, S. 594.

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cinea; ¿qu8 haces por estas tierras?, ah, vil alcahueta codiciosa, garnacha eres en el tribunal de la lujuria, y ni un par de pasas tendr#s de m&….86

In dieser langen Schimpftirade macht sich Don Quijote zum einen die Worte zu eigen, mit denen P#rmeno bei Fernando de Rojas Calisto vor der Bosheit der alten Kupplerin warnt;87 zum anderen sind es die Namen der Kupplerin Trotaconventos aus dem Libro de buen amor88 – escofina, campana und tarabilla89 –, mit denen der Ritter von der traurigen Gestalt Celestina beleidigt. Diese Art der Kombination unterschiedlicher Hypotexte zu einer Kollage anamorphotischer Zitate ist ein typisches Textgenerierungsverfahren der Groteske wie Peter Fuß am Beispiel von Fischarts Geschichtklitterung vorführt: Er [i. e. Fischart] treibt ein zitierendes Spiel mit diesem Sujet, in dessen Verlauf er es dekomponiert. Wie die Konventionen der Sprache, dekomponiert er auch konventionelle Formen der zeitgenössischen Literatur, indem er sie nicht erfüllt. Und er dekomponiert die entsprechenden Deutungsmuster, indem er sie aufruft, ohne sie zu bedienen. Er lenkt den Interpreten in eine bestimmte Richtung, um ihn ins Leere laufen zu lassen. Auf diese Weise enttäuscht er eine Erwartungshaltung, die er zunächst selbst schafft.90

Die Funktion dieser Kombination von Zitaten von Fernando de Rojas und dem Arcipreste de Hita in Terra Nostra ist natürlich eine andere als diejenige des intertextuellen Spiels von Fischart. Der Libro de buen amor ist für Fuentes zusammen mit der La Celestina eines der großen Bücher, die die »experiencia 86 Fuentes, Terra Nostra, S. 538. In Cervantes y la cr&tica de la lectura, S. 52, wiederholt Fuentes die Charakterisierung von Celestina als »madre, negociante, maestra de la elocuencia del n#ufrago urbano, trotera, picaza, urraca, alcahueta, dueÇa de las artes de la supervivencia, sierva de los deseos erjticos de sus amos«. 87 Fernando de Rojas (y »antiguo autor«), La Celestina. Tragicomedia de Calisto y Melibea, hg. v. F. J. Lobera, G. Ser8s, P. D&az-Mas, C. Mota, I. Ruiz Arz#lluz, F. Rico, Barcelona 2000, S. 54: »Qu8 quieres m#s, sino que, si una piedra topa con otra, luego suena: ›¡Puta vieja!‹«. 88 In Cervantes y la cr&tica de la lectura, S. 43, hebt Fuentes die »sensualidad #rabe« des Libro de buen amor hervor. 89 Vgl. Juan Ruiz, Arcipreste de Hita, Libro de buen amor, hg. v. Jacques Joset, Madrid 1990, S. 391–395: »A la tal mensajera nunca le digas maÅa; / bien o mal como gorgee, nunca le digas picaÅa, / seÇuelo, cobertera, almadana, coraÅa, / aldaba, tra"nel, cabestro nin almohaÅa. // garavato, nin t&a, cordel, nin cobertor, / escofina, avancuerda, […] nin rascador, / pala, aguzadera, freno, nin corredor, / nin badil, nin tenazas, nin anzuelo pescador, // canpana, taravilla, alcahueta nin porra, / x#quima, adalid, nin gu&a, nin handora; / nunca le digas trotera, aunque por ti corra; / creo que, si esto guardares, que la vieja te acorra. // Aguijjn, escalera, nin abejjn nin losa, / tra&lla, nin trechjn nin registro nin glosa«. Vgl. zu den Namen von Trotaconventos John K. Walsh, »The Names of the Bawd in the Libro de buen amor«, in: John S. Geary, Charles B. Faulhaber, Dwayne E. Carpenter, Benjamin M. Woodbridge (Hg.), Florilegium Hispanicum: Medieval and Golden Age Studies Presented to Dorothy Clotelle Clarke, Madison 1983, S. 151–164. 90 Fuß, Das Groteske, S. 144.

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tricultural« in Spanien hervorbrachte und die den »esp&ritu renacentista«91 nährten. In El espejo enterrado lobt Fuentes überdies das Werk von Juan Ruiz als einen »canto a los placeres del cuerpo, una celebracijn de la forma femenina y un rechazo del pecado«.92 Diese philologisch nicht abgesicherte Lesart erklärt innerhalb des Denkgebäudes von Carlos Fuentes die Kontamination der Trotaconventos mit Celestina als Prototypen eines freiheitlich-sinnlichen Lebensgefühls. Vor diesem Hintergrund ist auch der Konflikt zwischen Realität und Mythos zu verstehen, den Fuentes in der Tragicomedia erkennt: El converso Fernando de Rojas contrasta el movimiento realista de la ciudad moderna con el movimiento m&tico de la ciudad fundadora: ambas son ciudades dolientes, urbes de fuga, expulsijn de los fr#giles para&sos terrenos, nostalgia de la unidad fracturada; dolor, fuga y miseria presididas por la sacerdotisa impura, la diosa humillada por el fracaso de la creacijn y condenada a devorar la basura del hombre para limpiar la ciudad del hombre.93

Die hier beschriebene Priesterin erinnert an die präkolombinische Göttin Tlazoteotl, die devoradora de la mugre, die in Terra nostra als alter ego Celestinas gestaltet ist. Es ist kein Zufall dass Fuentes Celestina als »uno de los personajes definitivos de la realidad literaria, la mujer que transita entre dos mundos, el de la realidad m#s puntual y el de la magia m#s inasible«94 charakterisiert.

3.

Terra Nostra als kritische Groteske: Der Hermaphrodit

Der Roman endet mit der Kopulation von Celestina mit einem namenlosen Mexikaner95 in der Silvesternacht des Jahres 1999 in Paris. Die durchaus als pornographisch zu charakterisierende Darstellung inszeniert die Begegnung zweier grotesk offener Körper im Bachtinschen Sinne, die alle denkbaren Körperöffnungen in den Liebesakt integrieren,96 und schlussendlich in diesem zu einem androgynen Wesen verschmelzen.97 Diese Verbindung wurde häufig als 91 92 93 94

Fuentes, El espejo enterrado, S. 121. Fuentes, El espejo enterrado, S. 121–122. Fuentes, Cervantes o la cr&tica de la lectura, S. 51. Holt, »Terra Nostra«, S. 400–401: »Ella [i. e. Celestina] puede traspasar fronteras geogr#ficas y temporales precisamente porque es la memoria pura. Representa la sabidur&a que es pasada de generacijn en generacijn a trav8s del cuerpo de una muchacha elegida que continffla la vida realizada sjlo parcialmente por su antecesora«. 95 Vgl. zu dieser Figur und ihrer instabilen Identität Leopold, Der Roman als Verschiebung, S. 75–79. Swietlicki, »Doubling, Reincarnation«, S. 102 und Ordiz, El mito, S. 107 hingegen identifizieren die Figur mit Polo Febo. 96 Vgl. Fuentes, Terra Nostra, S. 781–783. 97 Vgl. Gyurko, »Novel into Essay«, S. 25: »Every new beginning in Fuentes contains the indelible mark of the past. The ritual of union that is performed at the end by Polo Febo/

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Begegnung zwischen alter und neuer Welt gedeutet.98 Antonio Barrenechea hingegen verortet diese Fusion im Spannungsfeld von Konstruktion und Dekonstruktion lateinamerikanischer Identitätsentwürfe: Con el empleo del tema de la metamorfosis, Fuentes muestra la vida hispana como un proceso de contestacijn y negociacijn cultural, el cual es din#mico pero tambi8n doloroso. Al enseÇar el panorama total del pasado, la novela resucita las culturas mfflltiples y conflictivas que se enfrentaron y se unieron para crear esa historia, y que, consecuentemente, siguen construyendo y deconstruyendo la identidad latinoamericana.99

In unserem Kontext der kritischen Groteske lässt sich die dynamisch ablaufende Metamorphose100 Celestinas und des namenlosen Mexikaners in ein hermaphroditisches Zwitterwesen ebenso wie die chimärenhaft Verbindung aus Celestina und Tlazoteotl im Sinne eines polykulturell ausgerichteten Identitätsmodells deuten, wie Fuentes selbst dies in einer Rede anlässlich der Verleihung des Premio »Rjmulo Gallegos« drei Jahre nach der Veröffentlichung von Terra Nostra tat: Civilizacijn policultural, la Am8rica Latina, tiene la posibilidad, para no decir fflnica en el mundo actual, de escoger y fusionar diversas tradiciones a efecto de crear un mundo aut8ntico […] Somos dueÇos de la tradicijn de las civilizaciones ind&genas, que nos reservan […] su capacidad de portar la cultura en el cuerpo. […] Y somos dueÇos invisibles de la tradicijn democr#tica de la Edad Media espaÇola que culmina con la primera revolucijn moderna, el movimiento de los comuneros de Castilla aplastado por Carlos V el mismo aÇo en que la capital azteca, Tenochtitl#n, cae en manos de Cort8s y los Austria nos privan de una experiencia libertaria m#s profunda que las de Francia o Inglaterra.101

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Quetzalcjatl and Celestina/Tlazolteotl is performed with masks, to indicate that the new beginning is also the continuation of the ancient past – the fulfillment of the erotic and spiritual relationship between Quetzalcjatl/New World Pilgrim and Tlatzolteotl that could not be consummated in the Aztec world, prostrate before the god of war, Huitzilopochtli«. Vgl. beispielsweise Jo Labanyi, »Dos mundos a trav8s del espejo: Terra nostra de Carlos Fuentes«, in: Ralph Penny (Hg.), Actas del Congreso Anglo-Hispano, Madrid 1993, Bd. 2, S. 309–316, hier S. 314: »Cuando el peregrino, al hacer el amor con la SeÇora de las Mariposas, se transforma en ser andrjgino, lo que resulta no es la unijn de Europa con Am8rica, sino la asimilacijn de 8sta por aqu8lla. Nuevamente Am8rica deja de ser lo diferente, y se incorpora a lo mismo hasta el punto de desaparecer«. Vgl. zu weiteren Deutungsansätzen Ordiz, El mito, S. 107–108. Antonio Barrenechea, »Monstruosa belleza: el mestizaje metamjrfico en Terra nostra de Carlos Fuentes«, in: Revista iberoamericana 236 (2011), S. 685–702, hier S. 700. Vgl. hierzu Fuß, Das Groteske, S. 363, Anm. 35: »Auch die Metamorphose, die diachrone Form des Chimärischen, ist grotesk, da es ihr nicht gelingt, eine ›ideale Oberfläche‹ zu konstruieren. […] Wie die Chimäre symbolisiert die Metamorphose die Unvergleichlichkeit mit sich selbst, die Unvergleichlichkeit des Werdenden«. Carlos Fuentes, Discurso de entrega del Premio Internacional »Rjmulo Gallego«, Caracas 1978, S. 246.

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Manuel Mujica Lainez’ Un novelista en el Museo del Prado als groteske Ekphrasis

Während der IV Jornadas de Narrativa: Realidad y ficcijn en la narrativa contempor#nea espaÇola, die am 14. und 15. Mai 2007 am Madrider CEU, Instituto de Humanidades ]ngel Ayala durchgeführt wurden, hält Mar&a Villalba Salvador einen Vortrag mit dem Titel »El Museo del Prado – entre la realidad y la ficcijn«. Zwei Jahre später wird dieser unter einem erweiterten Titel in der Zeitschrift De Arte veröffentlicht.1 Im gleichen Jahr legt Zo8 Vald8s ihr Una novelista en el Museo del Louvre vor.2 Während Mar&a Villalba den umfassenden Rückgriff auf das weltberühmte Madrider Museum in der neueren und neuesten spanischen Literatur belegt, stellt Vald8s’ Werk eingestandenermaßen so etwas wie eine Hommage an eine der diesbezüglich zentralen Fiktionalisierungsleistungen und deren Schöpfer dar. Beiden Autorinnen geht es dabei in ganz unterschiedlicher Weise um Manuel Mujica Lainez’ Un novelista en el Museo del Prado:3 Villalba stellt ihren Artikel unter das Motto jener Aussage, die Mujica Lainez seinem Buch als Widmung vorangestellt hatte – »Al Museo del Prado, al cual adeudo muchas horas de felicidad.«4 – und betont in ihrer Aufstellung von

1 Vgl. Mar&a Villalba Salvador, »El Museo del Prado en la narrativa espaÇola contempor#nea en la transicijn del siglo XX al XXI. Entre la realidad y la ficcijn«, in: De Arte. Revista de Historia del Arte 8 (2009), S. 115–130. 2 Vgl. Zo8 Vald8s, Una novelista en el Museo del Louvre, Barcelona 2009. 3 Vgl. Manuel Mujica Lainez, Un novelista en el Museo del Prado, Barcelona 21987. Für die Schreibweise des Namens des Autors findet man in der Literatur im Übrigen wohl jede denkbare Möglichkeit. So verzichtet Seix Barral auf eine Akzentuierung völlig und folgt damit dem Autor, der dies für alle seine Werke so handhabte. In der Sekundärliteratur findet sich allerdings regelmäßig die Form Mujica L#inez (so bei Georges O. Schanzer, The Persistence of Human Passions: Manuel Mujica L#inez’s Satirical Neo-Modernism, London 1986; Armando Capalbo, »PequeÇos registros posmodernos en Manuel Mujica L#inez; el caso de Un novelista en el Museo del Prado«, in: Alba de Am8rica 14 [1996], S. 235–240, u. a.) und sogar Mffljica La&nez (so in dem bereits genannten Aufsatz von Mar&a Villalba Salvador oder bei Zo8 Vald8s) kann man belegen. In vorliegendem Text soll dem Vorgehen des Autors entsprochen und deshalb auf jeden Akzent verzichtet werden. 4 Mar&a Villalba Salvador, »El Museo del Prado en la narrativa espaÇola contempor#nea en la

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»obras en las que el Museo del Prado, de un modo u otro, se convierte en fuente de inspiracijn o en referencia necesaria«5 für jene »obras protagonizadas por personajes inmortalizados en la pintura, que cobran vida en la ficcijn literaria«6, dies sei »un recurso posiblemente iniciado por el fflltimo escrito de Manuel Mffljica La&nez, Un novelista en el Museo del Prado (1984)«7. Zo8 Vald8s wiederum widmet Una novelista en el Museo del Louvre dem Autor von Un novelista en el Museo del Prado, dem bzw. seiner Erscheinung Vald8s’ Prolog-Ich gleich zu Beginn begegnet, bezüglich dessen die Lesenden von diesem Ich vernehmen, »me gustar&a tanto abrazarlo [eben Mujica Lainez], y confesarle cu#nto lo he le&do, cu#nto lo he amado«8, und dem die Autorin natürlich die Inspiration zu ihrem Buch verdankt. Mit seinem Un novelista en el Museo del Prado ist Mujica Lainez offenbar von einiger Relevanz für die literarische Auseinandersetzung mit zwei der berühmtesten Museen der Welt und für deren erzählerische Positionierung »entre la realidad y la ficcijn«. Bei einem Autor, der parallel zu seinem schriftstellerischem Tun 37 Jahre für La Nacijn als Kunstkritiker arbeitete, der während der Jahre 1937 bis 1946 für das Museo Nacional de Arte Decorativo tätig war und von dem fünf Bücher zu argentinischen Künstlern bzw. der argentinischen Kunst vorliegen (aufgrund derer man ihn 1959 zum Mitglied der Akademie der Schönen Künste ernannte),9 stellt die Bezugnahme auf Museen und Kunst allein kaum ein erstaunliches Faktum dar. In Konsequenz von Mujica Lainez’ Neigung zu einer überaus fantasievollen Auseinandersetzung mit historischen Gegebenheiten zeigt ein Gang durch sein erzählerisches Gesamtwerk zudem,10 dass der Beschäftigung mit Kunst, den sie produzierenden Künstlern als historischen Personen und den unter Umständen ebenfalls historischen Figuren ihrer Gemälde von Beginn an

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transicijn del siglo XX al XXI: Entre la realidad y la ficcijn«, in: De Arte. Revista de Historia del Arte 8 (2009), S. 115. Ebd., S. 116. Ebd., S. 122. Ebd. Bei der Diskussion der ›Urheberschaft‹ dieses »recurso« sollten freilich weit vor Mujica Lainez’ Un novelista en el Museo del Prado entstandene Werke wie bspw. Rafael Albertis Noche de guerra en el Museo del Prado (geschrieben 1956) nicht übersehen werden. Vald8s, Una novelista, S. 11. In den Jahren 1953 bis 1956 widmet sich Mujica Lainez sukzessive den folgenden Künstlern: Pedro Figari (1953), Gambarte (1954), Victorica (1955) und H8ctor Basaldffla (1956). Dazu kommt 1961 der Titel Argentina, ein Buch über argentinische Kunst. Zu großer Form findet er in seiner Beschäftigung mit der Vergangenheit in den im engeren Sinne historischen Romanen der Trilogie aus Bomarzo (1962, italienische Renaissance), El unicornio (1965, französisches Mittelalter) und El laberinto (1974, spanischer Siglo de oro). Trotz der historischen Referentialisierung sollte man dabei aufgrund von Mujica Lainez’ Vorliebe für das ironische Spiel jedoch von keinem der Romane ein realistisches Bild der entsprechenden Epoche erwarten, eine Tatsache, die Schanzer zu der nur auf den ersten Blick für die drei historischen Romane paradox wirkenden Benennung als »anti-historical triptych« (Schanzer, The Persistence, S. 99) brachte.

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ein prominenter Platz zukommt;11 eine Tatsache, die Schanzer in Hinblick auf den von ihm als neo-modernistisch gelesenen »pervasive aestheticism«12 des Autors und dessen damit in Beziehung stehende Vorliebe für alles mit der Kunst Verbundene folgendermaßen einordnet: »His [Mujica Lainez] narrative stress is on situations rather than on action or character. The latter tend to be representative of epochs. They are either artists or involved with the arts – which enables the writer to dwell on splendor.«13 Fasst man das alles zusammen, dann zeigt sich, dass man, allerdings in gewisser Weise mit Ausnahme der als ›Buenos Aires-Saga‹14 apostrophierten Werke von Aqu& vivieron (1949) bis Invitados in El Para&so (1957),15 von Beginn an für einen Gutteil der Werke Mujica Lainez’ von einem »close link between art

11 ›Von Beginn an‹ ist dabei tatsächlich wörtlich zu nehmen, denn – so George Schanzer – schon in Mujica Lainez’ erster, am 16. 9. 1928 in La Nacijn veröffentlichten Erzählung (»The Mail Coach«) finde man die Windhunde der Gemälde Anton van Dycks erwähnt (vgl. Schanzer, The Persistence, S. 25). Schanzer zeigt sich zudem ehrlich erstaunt, »that this product of an eighteen-year-old contained many of the themes and motifs which have since characterized the works of Mujica L#inez. […] It is all there already : the splendor, the decadence, the ironic surprise, and the pictorial comparison in the evocation of a European setting« (ebd.). 12 Schanzer, The Persistence, S. 145. 13 Ebd. Das alles betrifft im engeren Sinne insbesondere El Greco. Implizit findet sich dieser bereits in den frühesten Texten des Autors, so in dem am 17. Juni 1934 in La Nacijn veröffentlichten »El Inca Gracilaso de la Vega o el Conquistador Conquistado« und in einem der Texte (»El pintor de don Quijote«) von Mujica Lainez’ erstem Buch, den 1936 erschienenen Glosas Castellanas (vgl. Schanzer, The Persistence, S. 27 und 29f.), der Buchfassung einer Reihe von 1934 wiederum in La Nacijn erschienenen Texten zum spanischen Siglo de oro. Bis zu dem im Mittelpunkt des vorliegenden Textes stehenden letzten Buch wird dieser Künstler sowohl als historische Person als auch in Gestalt seiner Figuren immer wieder Auftritte im Werk Mujica Lainez’ haben (bspw. in El laberinto [1974], wo die Lebensgeschichte des Jungen aus El Grecos Gemälde El entierro del Conde de Orgaz erzählt wird, oder auch in der Erzählung »La viuda del Greco« aus El brazalete y otros cuentos [1978]). Anhand von El Greco scheint zudem ein weiteres, einen Gutteil der nicht im engeren Sinne mit Argentinien befassten Werke des Autors prägendes inhaltliches Charakteristikum auf: die Bezugnahme und Beschäftigung mit Spanien. Wie schon der Ausgriff auf die Bildende Kunst, beginnt dies ein weiteres Mal sehr früh, genauer mit Erzählungen wie dem bereits erwähnten »El Inca Gracilaso de la Vega o el Conquistador Conquistado« und besonders mit den Texten der Glosas Castellanas, und durchzieht das Werk über El laberinto bis hin zu Un novelista en el Museo del Prado. 14 In Hinblick auf Aqu& vivieron (1949) und Misteriosa Buenos Aires differieren Autoren, wenn von der »saga de la sociedad porteÇa« (Cruz) bzw. der »Saga of Buenos Aires« (Schanzer) die Rede ist. So fasst der Erstgenannte lediglich die Romane Los &dolos (1953), La casa (1955), Los viajeros (1955) und Invitados en El Para&so (1957) unter diesem Rubrum (vgl. Jorge Cruz, »Prjlogo«, in: Manuel Mujica Lainez, Cuentos completos 1, hg. von Jorge Cruz, Madrid 1999, S. 21), während George Schanzer zudem die Bände mit Erzählungen Aqu& vivieron (1949) und Misteriosa Buenos Aires (1950) damit bezeichnet (vgl. Schanzer, The Persistence, S. 46). 15 Wobei dies aufgrund der Gespräche zwischen den Kunstwerken schon für La casa (1955) wieder zu relativieren ist.

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and literature«16 sprechen kann. Dies kann wie im Fall von verschiedenen Texten der Glosas Castellanas in Gestalt von Szenen geschehen, die wie Gemälde wirken,17 oder vermag Werke als ganze zu prägen, so wie es bspw. für Bomarzo oder auch El unicornio angemerkt wurde.18 Dazu kommt die eine ganze Reihe von Werken bestimmende Bezugnahme auf Spanien und hier insbesondere auf dessen Literatur und Kunst. Weder die Charakteristik noch die Originalität von Un novelista en el Museo del Prado wird deshalb allein in dessen Rückgriff auf Spanien und seine Kunst liegen. Dementsprechend mag man also eher daran interessiert sein zu fragen, wie die Beschäftigung Mujica Lainez’ mit dem Prado und seinem Gemäldebestand in Un novelista en el Museo del Prado, dessen Erscheinen der argentinische Autor im Frühjahr 1984 gerade noch miterleben konnte, genau ausfällt und ob sich für dieses Werk eine Art Spezifik des fraglos Langbekannten belegen lässt. Die Erzählungen des Bandes, der schließlich Anfang 1984 in Barcelona bei Seix Barral erscheinen wird, verfasst Mujica Lainez zwischen dem 16. März und dem 28. August 1983.19 Das mit 152 Seiten vergleichsweise schmale Werk besteht aus zwölf Texten, denen paratextuell die bereits erwähnte Widmung »Al Museo del Prado, al cual adeudo muchas horas de felicidad« und ein kaum zweieinhalb Seiten langer Prolog vorangehen. Letzterer verleiht den Texten eine Rahmenhandlung und präsentiert den Lesenden die Erzählerfigur, eben jenen im Titel erwähnten novelista. Dieser verbindet die verschiedenen Erzählungen, weshalb man es strukturell mit »a series of linked tales«20 zu tun hat; eine Struktur, für die Schanzer den Terminus linked novellas anbietet,21 und die sich in Mujica Lainez’ Werk bspw. schon bei den Crjnicas reales (1967) findet. Im Titel erscheint zudem der einzige Handlungsort des Werkes: der Madrider Prado. Mit seinem 16 Schanzer, The Persistence, S. 30. 17 Vgl. Schanzer, The Persistence, S. 28ff. 18 So heißt es zu Bomarzo: »With the novel’s Renaissance setting, the emphasis on the pictorial and the sculptural can be expected; yet the entire book seems a series of famous paintings.« (Schanzer, The Persistence, S. 83) Und für El unicornio gelte, »[t]he most striking technical advancement in Mujica’s unabashed recycling of great literature and art. This involves retelling of known French works and large-scale re-enactment of scenes from paintings, sculptures, mosaics, and miniatures.« (ebd., S. 88). 19 Der Moment der Abfassung des Textes lässt sich so genau angeben, da Mujica Lainez – wie noch heute unter argentinischen Autoren bspw. C8sar Aira üblich – die Gewohnheit pflegte, die Entstehungszeit seiner Werke am Schluss der Texte genau anzuführen. Vgl. Mujica Lainez, Un novelista, S. 152. Ursprünglich als ein Projekt des spanischen Fernsehens über den Prado gedacht, ist es Manuel Mujica Lainez’ Frau Ana Mar&a de Alvear, die – nachdem ihr Mann das Vorhaben unter dem gegebenen Zeitdruck aufgegeben hatte (vgl. Cruz, »Prjlogo«, S. 26) – anregt, die Idee literarisch in Gestalt von Kurzgeschichten weiterzuverfolgen. Vgl. Schanzer, The Persistence, S. 140; Cruz, »Prjlogo«, S. 26. 20 Schanzer, The Persistence, S. 139. 21 Vgl. Schanzer, The Persistence, S. 139.

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letzten Werk kehrt Mujica Lainez also strukturell zum Beginn seines erzählerischen Werkes zurück, denn ein solcher »common denominator of place«22 – hier freilich Buenos Aires – zeichnete auch Aqu& vivieron und Misteriosa Buenos Aires aus,23 und in Hinblick auf den Inhalt von Un novelista en el Museo del Prado mag man tatsächlich geneigt sein, die drei Titel zu einem ›Aqu&, el misterioso Museo del Prado‹ zusammenzuziehen. Das Geheimnis dieses Ortes und damit den Plot der Geschichte legt der Prolog gleich mit seinen ersten Zeilen offen: »A poco que cae la tarde y que empieza a anochecer, los personajes de las pinturas y las estatuas del Museo del Prado, se desperezan y sacuden.«24 Nach Toresschluss gilt (S. 9): [S]uelta Vel#zquez el pincel, y las Meninas se frotan los brazos entumecidos; aletean los #ngeles del Beato, de Van der Weyden, de Memling, de Correggio, de Ti8polo, […] bosteza la Maja Desnuda, […] el Caballero de la mano al Pecho la baja, cierra los dedos helados, los masajea y hace crujir […].

Dabei scheint es aber nicht so zu sein, dass sich die »personajes de las pinturas y las estatuas« erst jetzt beleben würden, denn selbst für die Öffnungszeiten des Museums, mithin also für die Tagseite des Prado, heißt es, »Durante el d&a entero, permanencieron inmjviles […]. Nadie, ni el estudioso m#s avizor, pudo advertir alguna mudanza en sus actividades a menudo embarazosas […] que les asignj la imaginacijn de sus creadores« (ebd.). Auch am Tag verfügen die Kunstwerke offensichtlich über ein geheimes Leben – allerdings bewahren sie dann im wahrsten Sinne des Wortes Haltung und lassen davon »para admiracijn y tranquilidad de los turistas« (ebd.) nichts erkennen. Von einem einfachen nächtlichen »awakening«25 oder von einem »por la noche […] los personajes de la pinacoteca se animan«26 sollte also nicht gesprochen werden, da den Leserinnen und Lesern in Un novelista en el Museo del Prado eben lediglich die – dann allerdings tatsächlich um einiges lebendigere – Nachtseite des geheimen Lebens der Werke präsentiert wird.27 Was also genau geschieht? Von den Museumswächtern heißt es der dortigen Setzung des Plots entsprechend schon im Prolog, selbst diese würden auf ihrem den Tag beschlie22 Ebd., 134. 23 Vgl. Cruz, »Prjlogo«, S. 26. 24 Mujica Lainez, Un novelista, S. 9. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe unter Angabe der Seitenzahl im Text zitiert. 25 Schanzer, The Persistence, S. 141. 26 Cruz, »Prjlogo«, S. 26. 27 Für ein solches Verständnis sprechen auch später verschiedene der Passagen, in denen el novelista in Hinblick auf die Gesamtsituation, die ihm mitzuerleben gegeben ist, das Wort erhebt. So heißt es bspw. zu Beginn von »Elegancia«: »En cuanto se saben suficientemente solos, los moradores de las salas de pintura dejan sus marcos y se refflnen en corrillos susurrantes.« (S. 37).

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ßendem Kontrollgang nichts von einer »vibracijn secreta que estremece a la asamblea ilustre« (S. 10) mitbekommen, da sich die ganze abendliche Aufregung – wie das geheime Leben der Kunstwerke am Tag – auf einer Ebene abspiele, die ihren Sinnen (und denen der Museumsbesucher) verschlossen sei. Und tatsächlich ist es so, dass sich auch nachts im Museum an den Gemälden und Plastiken materiell (fast) nichts ändert. Alle Figuren, die in der Folge zu den Protagonisten der zwölf Erzählungen werden, hinterlassen – »al desgajarse del sitio glorioso que ocupa[n]« (ebd.) – schließlich »en su lugar una imagen (la imagen de una imagen), un quieto reemplazante exacto que engaÇar# pasajeramente los alcances de la humana vigilancia« (ebd.). Was zurück bleibt, ist damit klar : das vom novelista selbst somit schon im Prolog explizit erwähnte Bild eines Bildes. Doch was genau verlässt dann den Platz, der den Figuren von der »imaginacijn de sus creadores« zugewiesen worden war? Darüber gibt später im Text insbesondere eine Passage der dritten Erzählung (»Elegancia«) Auskunft (S. 40): Ahora se ha llegado a la noche del Concurso de la Elegancia. Alcanza a tal grado la excitacijn, que la compacta concurrencia no aguardj la partida de los visitantes del Museo, para apiÇarse en los lugares m#s ventajosos, si bien est# de sobra al tanto de que debe permanecer dentro de sus cuadros respectivos hasta que el Prado se vac&e: despu8s de todo, los delicados componentes del mundo fantasmal provienen de la esencia sutil de sus propios cuadros, y las pinturas palidecen cuando ellos las deshabitan.

Zunächst macht auch diese Textstelle klar, dass die Kunstwerke nicht erst nachts zum Leben erwachen. Zudem wird erkennbar, dass sich die Figuren in Mujica Lainez’ Fiktion letztlich überhaupt nicht um die Besucher oder das Personal des Museums kümmern müssen, da offenbar weder die einen noch die anderen von ihrem Tun etwas mitbekommen können, warten sie doch im vorliegenden Fall nicht einmal mehr ab, bis sie sich »suficientemente solos« (S. 37) wissen, um ihre angestammten Orte zu verlassen. Wer oder was die Werke verlässt, sind die »delicados componentes del mundo fantasmal«. Von denen erfährt man, dass sie von der »esencia sutil de sus propios cuadros« herstammen, die nun ohne ihre Essenz zurückbleiben und bezüglicher der es heißt, »las pinturas palidecen cuando ellos [i. e. die genannten delicados componentes] las deshabitan«. Offensichtlich weicht so etwas wie die Seele aus den Kunstwerken und entscheidend ist somit das Immaterielle, das nun – während seine bloß materielle Darstellung in den prachtvollen Rahmen verharrt – zur Nacht eine Gestaltung und Verhaltensweisen anzunehmen vermag, mit denen Mujica Lainez’ Fantasie die Vorstellungskraft der Künstler (und einer Künstlerin, Lucia Anguissola) ergänzt. Letzten Endes werden den Leserinnen und Lesern von Un novelista en el Museo de Prado damit als Protagonisten der Erzählung bloße Projektionen des in den Werken Dargestellten präsentiert. Diese tragen jedoch ihrerseits zum

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einen trotz des immateriellen Charakters die Essenz ihres materiellen Substrates in sich, während sie sich nun zum anderen gemäß der Fantasien Mujica Lainez’ zu geben vermögen. Diesen Projektionen begegnet jener novelista, der in Mujica Lainez’ Erzählung in dritter Person von den Nächten des Prado berichtet, und den man aufgrund seiner Vorstellung als »extranjero, habitante amistoso de un remoto pa&s« (S. 10) ruhig als alter ego des Autors verstehen kann. Von ihm heißt es zudem, er wisse nicht, wem oder welchem geheimnisvollem Vorgang er das »privilegio singular« (ebd.) zu verdanken habe, Zeuge der »existencia doble que bulle dentro de los muros del palacio de Juan de Villanueva« (S. 10f.) werden zu können. Diese Frage (wie die nach dem Vorgang des abendlichen Verbleibens im Museum) wird nicht beantwortet, klar ist lediglich, dass der Rest des Buches von dem berichtet, was sich vor den Augen dieses Zeugen in einer ganzen Reihe von Nächten im Prado abspielt. Mujica Lainez greift somit auch in Un novelista en el Museo del Prado zu seiner »›I was there‹ technique«28, die verschiedene seiner Werke charakterisiert.29 Zwischen diesem Erzähler-Zeugen und den nachts die Gänge und Säle des Prado bevölkernden Gestalten kommt es allerdings jetzt in keinem Moment zur Interaktion, »el novelista circula entre seres inmateriales, sin chocar con ellos«30. In den zwölf Episoden der Erzählung des novelista werden namentlich circa 50 Künstler und etwas mehr als 100 Kunstwerke erwähnt, wobei zu diesen noch zahlreiche nicht näher benannte Werke hinzukommen.31 Bei Weitem am häufigsten finden sich Gemälde von Vel#zquez, nämlich achtzehn verschiedene Arbeiten, auf den El Greco mit elf und Goya mit zehn Werken folgen,32 bevor sich Tizian mit sieben, Rubens mit fünf und Hieronymus Bosch mit vier Bildern 28 Schanzer, The Persistence, S. 26. 29 Vgl. ebd., S. 102. 30 Cruz, »Prjlogo«, S. 26. Zusammen mit der Bezeichnung der Erzählinstanz als novelista erlaubt diese Tatsache, sieht man dafür in Aufkündigung des Romanpakts für einen Moment von der Setzung des Plots im Prolog ab, ohne Zweifel auch schnell die Vorstellung, dass sich dieser Schriftsteller überhaupt nur gedanklich zur Nacht in den Prado und in die dort vorgestellte Situation versetzt. Genauso wie sich der empirische Autor Mujica Lainez seinen Schriftsteller im Museo del Prado vorstellt, so erschiene dann diese Figur selbst als eine, die sich alles das, was von nun an als im erzählten Universum tatsächlich Erlebtes präsentiert wird, ebenfalls lediglich ausdenken würde. Letztlich erscheint die Rahmenhandlung deshalb etwas konstruiert, was für die hier im Folgenden zu beleuchtende Binnenerzählung freilich kaum ins Gewicht fällt. 31 Besonders augenfällig ist der bloße Verweis auf ein Werk ohne genaue Nennung dessen, was gemeint ist, in der Erzählung »Zooljgico« bei der Aufzählung der von den verschiedenen Künstlern ›zur Verfügung‹ gestellten Tiere. Vgl. S. 106. 32 Bei El Greco werden allerdings lediglich das Bildnis eines Arztes (Don Rodrigo de la fuente), Juli#n Romero und sein Schutzheiliger und Der Caballero mit der Hand an der Brust namentlich erwähnt, dazu kommen jedoch noch die Darstellungen von »ocho caballeros que en el Museo exaltan la genialidad de Theotokopulos o Theotocjpuli« (S. 48).

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anschließen.33 Vom Gros der anderen wird jeweils nur ein Werk erwähnt. Die Werke Goyas und Rubens finden dabei gleich in fünf, die von Bosch, El Greco, Tizian und Vel#zquez in jeweils vier der zwölf Erzählungen Verwendung. Alle anderen mit ihren Werken erwähnten Künstler erscheinen weniger häufig, ein Großteil von ihnen überhaupt nur einmal, oder wenn zwei- oder dreimal, dann wie Hans Memling mit einem Triptychon i. d. R. eben lediglich mit einem ihrer Werke. Von einem Gutteil der Werke und hier genauer meist von den dort dargestellten Figuren werden in Un novelista en el Museo del Prado prägnante Bildbeschreibungen geliefert. Obwohl das Gesamtspektrum der erwähnten Kunstwerke wohl – mit Ausnahme der Stillleben und der Graphik – keinen Bestand des Prado vollkommen unbeachtet lässt,34 zeigen sowohl die absolute Zahl der von dieser erwähnten Gemälde als auch die Häufigkeit ihrer Verwendung die zentrale Bedeutung der spanischen Malerei. Ohne Zweifel beherrscht sie in Gestalt der Werke von Vel#zquez, El Greco35 und Goya die Szenerie – auch wenn von den mehr als fünfzig erwähnten Künstlern die spanischen Maler letzten Endes ›nur‹ grob ein Viertel ausmachen und auch wenn die ›Spanier‹ bei einem Großteil der Episoden gar nicht selbst im Mittelpunkt stehen.36 Die in »Elegancia« (obwohl hier letztlich Dürers Adam und Eva den Sieg davonträgt) vom Publikum mit frenetischen Rufen wie »¡Los espaÇoles! ¡Que aparezcan los espaÇoles! ¡Ole, ole!« (S. 46) oder »¡Goya! ¡Goya!« (S. 50) geäußerte Begeisterung ist also im Gesamttext durchaus präsent. Entsprechend dieser Schwerpunktsetzung sind in Hinblick auf zeitliche Bezüge nahezu zwangsläufig besonders die zweite Hälfte des 16. und die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts, mithin für Spanien also der Siglo de oro, von Bedeutung. Für die spanische Kunst wird dies durch die Präsenz Goyas um das ausgehende 18. und sogar das beginnende 19. Jahrhundert ergänzt und es zeigt sich somit in Un novelista en el Museo del Prado das, was als »a constant in Mujica Lainez’s works«37 schon für dessen Frühwerk verzeichnet wurde:38 »the 33 In einem ganz allgemeinen Sinn lassen bereits Künstler wie Goya, Bosch und der Vel#zquez der Hofnarren Philipp IV. die Neigung zum Grotesken erkennen. 34 Selbst antike Statuen treten auf, vgl. die Erzählung »Elegancia« und hier besonders S. 38f. 35 Für den auf Kreta geborenen Dominikos Theotokopoulos sollte man aufgrund der von ihm in Italien verbrachten Zeit, die für seine Malerei von enormer Wichtigkeit war, natürlich genauer von einem spanisch-italienischen Künstler sprechen, gleichwohl bleibt er ein Hauptvertreter des spanischen Manierismus. 36 Mit Vel#zquez, Goya und El Greco kommt damit bei Mujica Lainez jenen drei Künstlern eine zentrale Bedeutung zu, die seit dem »descubrimiento de la Escuela EspaÇola en el siglo XIX por parte de los europeos« (Javier Portffls, Museo del Prado. Memoria escrita 1819–1994, Madrid 1994, S. 31) bei einem Blick auf den Prado häufig im Mittelpunkt des Interesses stehen. Für einen historischen Abriss zur kunstgeschichtlichen Wertschätzung der Bestände des Museo del Prado vgl. ebd., 29ff. 37 Schanzer, The Persistence, S. 26. 38 Vgl. Fußnote 13 in vorliegender Arbeit.

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Spanish roots«39 und ein großes Interesse an »a strictly non-contemporary Spain«40. Nun von den Meisterwerken der bildenden Kunst direkt inspiriert, bietet sich Mujica Lainez zudem die Gelegenheit, erneut und in bislang unerreichtem Umfang in einer »visijn pictjrica«41 zu schwelgen und mit der »descripcijn pl#stica y en el cuadro vivo«42 zu glänzen. Ohne Zweifel darf man Un novelista en el Museo del Prado deshalb den Höhepunkt des – wie bereits erwähnt – für den Autor so typischen »close link between art and literature« nennen, schließlich ist die literarische Wiedergabe von Werken der bildenden Kunst jetzt der Inhalt eines ganzen Werkes. Es gilt dementsprechend einen genaueren Blick auf das Wie? dieser Ekphrasis zu werfen.43 Strukturell stehen in den Episoden meist zwei Gemälde mit ihren Protagonisten im Zentrum, zwischen denen es zu einer intensiven und die Grenzen des je spezifischen Werkes sprengenden Begegnung kommt, wobei diese von zum Teil überaus zahlreichen Figuren aus anderen Werken flankiert wird, die dabei ihrerseits die ihnen üblicherweise gesetzten Grenzen überschreiten. Dieses Muster wird gleich zu Beginn mit »Los dos carros« und dessen deutlicher Konzentration auf die beiden zentralen Werke mit Aplomb in der Bewegung der beiden Gefährte durch das Museum eingeführt und findet von da an in der Mehrzahl der Kapitel Verwendung.44 Auch wenn die konfrontative Begegnung zwischen dem Personal der Gemälde von Cornelis de Vos und Hieronymus Bosch in der Folge nicht den Normalfall der Beziehung zwischen den Figuren der verschiedenen Werke darstellt, da es dabei meist ziemlich harmonisch zugeht, so 39 40 41 42 43

Schanzer, The Persistence, S. 26. Ebd. Cruz, »Prjlogo«, S. 26. Ebd. Im Sinne der thematischen Ausrichtung des vorliegenden Bandes soll dabei im Weiteren nicht besonders auf Aspekte der Intermedialität eingegangen werden, deren Beleuchtung sich für das hier betrachtete Werk natürlich auch angeboten hätte. 44 Im Einzelnen betrifft das neben »Los dos carros« (Cornelis de Vos, Triumph des Bacchus/ Hieronymus Bosch, Der Heuwagen) »El llanto y los remedios« (Paolo Veronese, Die Rettung des Mosesknaben aus den Fluten des Nils/Leonardo da Vinci [Werkstatt], La Gioconda), »Dos hormigas« (Paolo Veronese, Christus und die Schriftgelehrten/Jan Sanders van Hemessen, Der Chirurg), »La Bella Durmiente« (Diego Vel#zquez, Der Hofnarr Don Diego de Acedo/ Louis Michel van Loo, Die Familie Philipp V.), »La visita« (Fra Angelico, Verkündigung/ Maestro de Sopetr#n, Verkündigung) und »El Emperador« (Tizian, Karl V. in der Schlacht von Mühlberg/Pieter Breughel, d.Ä., Triumph des Todes). In »La corona«, »La laguna« und »Amores« variiert Mujica Lainez das Muster geringfügig und nimmt in den beiden erstgenannten Fällen drei Gemälde als Ausgangspunkt (Anton van Dyck, Dornenkrönung Christi/ Giambattista Ti8polo, Abraham und die drei Engel/Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste; Jean Antoine Watteau, Feier im Park und Hochzeit auf dem Lande/Joachim Patinir, Überfahrt in die Unterwelt), während er in »Amores« statt zwei zentraler Werke ausschließlich zwei Künstler, nämlich El Greco und Goya, und von denen aber jeweils verschiedene Gemälde verwendet.

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zeigt sie doch in besonderer Klarheit, was in Un novelista en el Museo del Prado von nun an erzählt wird: die Zeiten, Orte, Realitätsebenen und kulturelle Kontexte überschreitende Begegnung von Figuren, mithin also die Herstellung einer Verbindungen zwischen im Einzelfall vollkommen heterogenen Bestandteilen. Stellt jedes Museum schon per se eine thematisch forcierte örtliche und zeitliche Zusammenführung des örtlich und zeitlich ursprünglich (meist) NichtZusammengehörenden dar, so kommt es damit zu einer Art Vermischung zweiten Grades, indem die zwar im Prado zusammengeführten, dort aber im Gesamtbestand eigenständig bleibenden Werke jetzt gemeinsam nächtliche Tableaus bilden, in denen es zur – meist – humorvollen Neukonfiguration bestehender Ordnungen kommt. Der dabei zu beobachtende Vorgang besteht aus zwei Schritten, in denen auf die Dekomposition der allen Betrachterinnen und Betrachtern der Gemälde bekannten Ordnung, mithin also der Entnahme einzelner Figuren aus den Werken, eine Rekombination im nächtlichen Prado folgt, von der den Leserinnen und Lesern der Gemälde der vom Autor erschaffene Erzähler-Zeuge berichtet. Bereits die Termini Dekomposition und Rekombination – und noch mehr die mit ihnen verbundenen Vorgehensweisen, die im Folgenden im Einzelnen betrachtet werden sollen – verweisen auf ein Konzept, das sich anbietet, um die Form der in Un novelista en el Museo del Prado verwendeten Ekphrasis zu beschreiben: Das Groteske im Sinne der Begrifflichkeit Peter Fuß’, von dem eine der neuesten, integralen Übersichtsdarstellungen zur Thematik stammt.45 Das Groteske versteht Fuß als »Produkt der Dekomposition symbolisch kultureller Ordnungsstrukturen sowie der Permutation und modifizierten Rekombination der im Zuge dieser Dekomposition freigesetzten Elemente«46. Gerade das von Mujica Lainez gewählte Setting eines etablierten Museums mit einem kunstgeschichtlich kanonisierten Bestand in kanonisierter Hängung, der nun einer Reorganisation unterworfen wird, vermag es dabei, das Groteske als den in Un novelista en el Museo del Prado zugrunde gelegten Modus zu zeigen. Wenn Fuß vom Grotesken weiter als dem Resultat »einer virtuellen Anamorphose der symbolischen Ordnungsstrukturen jener Kulturformation [spricht], 45 Indem Fuß von der These ausgeht, »daß Neues aus der unkonventionellen Kombination des Bestehenden resultiert« (Peter Fuß, Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln/Weimar 2001, S. 19), dann gesteht er bescheidenermaßen selbst ein, dass seine Arbeit »keinen Anspruch auf genialisch autonome Originalität erheben [kann]. [Und vielmehr] den Versuch dar[stellt], ein (nicht das!) Resümee der bisherigen Groteske-Forschung zu ziehen, ihre Positionen mit Positionen aus Philosophie, Psychologie und Anthropologie zu verknüpfen, um so bisher nur schwach beleuchtete Facetten des Phänomens aufblitzen zu lassen.« (ebd.) Alles das schmälert sein Verdienst und den Reiz der Darstellung jedoch nicht, die ja gerade in der Darstellung der Wirkungsmacht des Grotesken als Medium des kulturellen Wandels liegen. 46 Fuß, Das Groteske, S. 13.

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in der es grotesk wirkt«47, dann trifft er für das hier angewendete Vorgehen den Nagel auf den Kopf: Im Museum und unter Rückgriff auf den dortigen Bestand konstruiert Mujica Lainez einer Kultur »auf ihrem eigenen Boden und mit ihren eigenen Mitteln ihr Fremdes«48. In einem übertragenen Sinne erfüllt sein Vorgehen damit die »konstitutive Kernparadoxie des Grotesken«49, indem es, in pointierter Weise räumlich genau umschrieben, »Teil jener Ordnung [ist], deren […] Dekomposition es betreibt«50. Mit seiner innerhalb der kulturellen Mauern des Museo del Prado vorgenommenen Dekomposition und Rekombination befindet sich das Groteske Mujica Lainez’ »zugleich diesseits und jenseits der Grenzen seiner kulturellen Formation«51. Jede den Betrachterinnen und Betrachtern der thematisierten Kunstwerke bekannte Ordnungsstruktur wird in Un novelista en el Museo del Prado in einem ganz grundsätzlichen Sinne schon durch das allen Erzählungen zugrunde gelegte Muster aufgekündigt, das den Leserinnen und Lesern in der Mobilisierung der Gemälde und ihrer Protagonisten die bekannten, hier von den ursprünglichen Schöpfern der Werke gezogenen kulturellen Grenzen auflöst: Die Ab-Bilder der Bilder verlassen ihren angestammten Rahmen, um sich im fiktionalen Universum vor den Augen des novelista in neuen Tableaus zusammenzufinden.52 Dabei kommt es nicht nur ganz im Sinne Fuß’ zu einer »Hervorbringung von Neuem[,] die Dekomposition und modifizierte Rekombination des Gegebenen ist«53, sondern in augenfälliger Weise ereignet sich außerdem ein nach Fuß typisch grotesker Bruch mit der Bereiche absteckenden und Grenzen ziehenden »identitätslogisch strukturierten territorialen Ordnung«54. Aus dem identitätslogischen Entweder-oder wird ein groteskes Sowohl-als-auch:55 Die von Mujica 47 48 49 50 51

52

53 54 55

Ebd. Ebd. Ebd., S. 14. Ebd. Ebd. In Un novelista en el Museo del Prado wird dabei auf den Modus des Grotesken allerdings im Wesentlichen ästhetisch zugegriffen, da die bei Fuß in dessen Setzung des Grotesken als Medium des kulturellen Wandels im Mittelpunkt stehende »Rezentrierung des Marginalisierten im Grotesken« (ebd.) letzten Endes gegenüber den von ihm gebotenen spielerischen Möglichkeiten zurücktritt. Der Rückgriff auf das Groteske, mithin also einer Ästhetik, die hinter oberflächlichem Unsinn ein tieferer Sinn auszeichnet (vgl. ebd., S. 11), führt allerdings dazu, dass selbst dieses Spiel sich eben nicht in »belanglosen ästhetischen Spielereien« (ebd., S. 12) erschöpft, sondern durchaus ernste Gehalte zu transportieren vermag. Anhand des Schlagworts Tableau wird man natürlich zudem i. e. S. an die Tradition des Tableau vivant denken. Dieses soll hier aufgrund der Tatsache, dass dabei die Nachstellung existierender Ordnung im Mittelpunkt des Interesses steht, allerdings nicht aufgegriffen werden, da es im vorliegenden Fall ja vielmehr um völlig neue Anordnungen geht. Fuß, Das Groteske, S. 19. Ebd. Vgl. ebd., S. 19f.

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Lainez’ Fantasie geschaffenen Tableaus sind im Einzelfall schließlich sowohl ein van Dyck als auch ein Bosch und ein Tiepolo,56 sind sowohl Tizian als auch Breughel d.Ä.57 und sowohl El Greco und spanischer Barock als auch Goya und spanische Aufklärung,58 oder sie sind schlichtweg zugleich eine Vielzahl von Werken und Epochen der bildenden Kunst, so wenn in »Elegancia« unter der Regie von Vel#zquez’ el Primo aus Der Hofnarr Don Diego de Acedo gleich Duzende Figuren, von antiken Plastiken bis zu Francisco de Goya in Gestalt seines Selbstbildnisses aus dem Jahr 1815, zusammengeführt werden. Als ein Mechanismus der von Fuß genannten »Mechanismen der Anamorphose«59 hat man es mit der Vermischung zu tun, deren Resultat im Fall des tatsächlichen Betretens von Gemälden durch Figuren anderer Gemälde in chimärischen Kunstwerken60 und im Fall der i. S. des genannten Musters alle Episoden auszeichnenden Begegnung zwischen einer Vielzahl von aus unterschiedlichen Werken und verschiedenen Epochen stammenden Gestalten in chimärischen Tableaus besteht. Mujica Lainez’ Vorstellungskraft verhilft den Figuren der Gemälde (und einigen Statuen) im gegebenen Setting damit im wahrsten Sinne des Wortes zu einer neuen Existenz, die neben der erwähnten materiellen Ebene, auf der die Protagonistinnen und Protagonisten der Erzählungen als geisterhafte Ab-Bilder ihrer eigenen materiellen Existenz erscheinen, nun insbesondere das Verhalten dieser Ab-Bilder selbst betrifft. Die Fantasie des Autors ermöglicht es den Figuren ja nicht nur, ihre die ihnen von den Künstlern zugewiesenen und im Einzelfall offenbar zu »brazos entumecidos« (S. 9) und »dedos helados« (ebd.) u. ä. führenden Haltungen aufzugeben, sondern sie bekommen zudem die Möglichkeit, sich in – gemessen an den Sujets der Werke, aus denen sie stammen – völlig neuen Situationen und Kontexten zu bewegen. Um deren Typik pointiert zusammenzufassen, bietet sich Portffls’ Rede von einer »especie de patio de vecindad«61 an, bringt diese doch das bei einem Großteil der Episoden wohl augenfälligste Merkmal treffend auf den Punkt: die Alltäglichkeit der ge56 So wenn sich in »La corona« der rüstungsbewehrte Ritter aus der Dornenkrönung Christi in Der Garten der Lüste auf die Suche nach einem dorthin geflüchteten Engel aus Abraham und die drei Engel macht. 57 So wenn Karl V. in der Schlacht von Mühlberg in »El Emperador« im Sinne der Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes todesmutig in den Triumpf des Todes reitet. 58 So wenn sich in »Amores« El Grecos Der Edelmann mit der Hand auf der Brust bei einer der majas Goyas – der bekleideten – zum »cariÇoso coloquio« (S. 115) einfindet. 59 Fuß, Das Groteske, S. 16. 60 Vgl. dafür neben den hier in Fußnote 53, 54 und 55 Chimären auch »La Bella Durmiente« (hier befindet sich V8lazquez’ Don Diego de Acedo in Louis Michel van Loos Die Familie Philipp V.) und »La laguna«, wo die Gesellschaften aus Jean Antoine Watteaus Feier im Park und Hochzeit auf dem Lande sich in Joachim Pantinirs Überfahrt in die Unterwelt wiederfinden. 61 Portffls, Museo del Prado, S. 101.

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schilderten Begebenheiten. So geht es bspw. in »Los dos carros« um die heute letztlich wohl jedem Autofahrer bekannte Frage, wer in einer für das Aneinander-Vorbeifahren zu engen Straße den ›Sieg‹ davon trägt, widmen sich »El llanto y los remedios« und »La visita« der verletzten Eitelkeit, setzt sich »El coloso« mit einem anstrengenden Nachbarn auseinander oder dreht sich in »Elegancia« alles um die Suche nach den Schönsten unter den Schönen, während in »Zooljgico« von Seiten der »Comisijn de Damas Ben8ficas del Museo« (S. 105)62 den ›Kindern des Prado‹ etwas Unterhaltung verschafft werden soll. Als im Modus des Grotesken verfasste Erzählungen bleiben diese Alltäglichkeiten aber ihrerseits bei aller Unterhaltsamkeit nicht auf bloße Unterhaltung beschränkt, sondern noch die alltäglichste Begebenheit wird vom Autor mit weiter reichenden, im Einzelfall überaus ernsten Themen verbunden.63 In Hinblick auf den grotesken Gehalt der Erzählungen sind für einen Gutteil der Episoden zwei Dinge zentral: Zum einen kann man die von Portffls auf den Punkt gebrachte Alltäglichkeit des Erzählten unter dem Fokus einer Beschäftigung mit dem Grotesken genauer als groteske Vermischung, hier nun der Ebenen des Hohen und des Niederen, bestimmen. Die Protagonisten der Episoden behalten als Ab-Bilder ihrer Bilder schließlich den Charakter, den sie dort als 62 Gebildet wird diese »Comisijn« unter anderem von der »Hija del Farajn« (S. 105) Tintorettos, der Artemisia Rembrandts, Rubens Maria de Medici und Antonio Moros »Mar&a de Inglaterra, ›Mar&a la Sangrienta‹« (ebd.). 63 Pars pro toto sei dafür auf die Episode »Dos hormigas« verwiesen, in der sich die Schriftgelehrten aus Veroneses Christus und die Schriftgelehrten statt mit theologischen Fragen mit zwei lästigen Ameisen herumschlagen, die »[d]urante todo el d&a […] [h]an ido y venido, incansables, la una de la otra en pos, atravesando el enorme cuadro [, que] [h]an pasado sobre las columnas armoniosas, sobre los rostros intensos de los sabios, de los escribas, sobre el sereno rostro de Jesffls« (S. 61). Der »col8rica griter&a« (ebd.) über das respektlose Verhalten der Insekten und der schließlich erfolgreichen Suche nach den beiden ›Übeltätern‹ folgt die das Problem lösende Tat auf den Fuße und die unterhalb Jesu einen voluminösen Band studierende Figur »blande el volumen como un hacha de verdugo, y asesta un terrible golpe a las bestezuelas« (S. 64). Daran schließt sich nun aber, ganz im Sinne des Sujets des Gemäldes (vgl. Lukas 2, 46–47), nicht nur eine Diskussion (hier aus gegebenem Anlass um das Gebot »Du sollst nicht töten«) zwischen dem laut der Bibel zwölfjährigen Jesus und den Gelehrten an, sondern schlussendlich präsentiert Mujica Lainez den Lesern zudem ein veritables Wunder, das die Größe Gottes belegt, und die Episode wird mit der folgenden, weit reichenden Reflexion beendet: »El novelista ha reflexionado, en sus paseos nocturnos, sobre la maravilla que le tocj atestiguar. Y arriesga, ante lo ocurrido, la siguiente conclusijn: m#s all# del NiÇo espectral, proyectado por la imagen del cuadro, est# el NiÇo que en el cuadro pintj Veronese; m#s all# de esa pintura, el propio Veronese estuvo y est#; y m#s all# de Paolo Veronese est# Dios, que est# en todas partes: Dios ha querido que dos hormigas recobrasen la vida a trav8s de la imagen transparente de un NiÇo, porque s&, porque tal es su voluntad, porque Dios se complace en desconcertarnos, y jam#s se fatiga de enseÇarnos y conmovernos, por extraÇas e inalcanzables que parezcan sus lecciones, y con nada conseguir&a desconcertarnos y conmovernos tanto, como con la insjlita, sfflbita presencia de la gratuita y simple bondad.« (S. 67).

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Darstellung von mythologischen, heilsgeschichtlichen oder höchst edlen historischen Persönlichkeiten besitzen, auch in den alltäglichen Situationen bei. Als chimärisches Produkt dieser Vermischung erscheint der Prado in Un novelista en el Museo del Prado als eine Art barrio, in dem sich die hochedlen Gestalten als hochedles Personal jenseits des ihnen üblicherweise kulturell zugewiesenen Settings beweisen müssen. Die Alltäglichkeit dieses zum Teil wirklich menschlichen, allzu menschlichen Tuns degradiert somit gut grotesk zwar das Heilige und Hohe, Mujica Lainez tut dies aber zugleich stets in wohlwollender, das Hohe und Heilige letzten Endes umso menschlicher machender Weise. Zum anderen zeigt sich, dass ein Teil der Figuren im Zuge der geschilderten Begebenheiten radikal aus ›ihrer‹ Zeit fällt, und zwar sowohl in Hinblick auf die bereits geschilderte und im Miteinander von Werken ganz verschiedener Epochen liegende Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, besonders aber bei ihrer Verortung in der Gegenwart des novelista. Aufgrund der in Un novelista en el Museo del Prado für das Erzählen verwendeten Gegenwartszeitformen ist diese für die Leserinnen und Leser von Mujica Lainez’ Werk praktisch stets aktuell und erlaubt entsprechend insbesondere den Blick auf das jeweilige Hier und Jetzt des Prado als dem Ort des Geschehens. Obwohl dies im Sinne seines weitestgehend ästhetischen Zugriffs auf den Darstellungsmodus klar im Rahmen bleibt, nutzt Mujica Lainez gerade hier die im Grotesken liegenden Möglichkeiten der kritischen Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Es sind besonders zwei der Episoden, in denen die Überschreitung zeitlicher Grenzen in Form einer Rede der Vergangenheit inmitten der Gegenwart als Auseinandersetzung mit aktuellen museumspraktischen Problemen oder gar als sachte Zeitkritik anschaulich wird: »El llanto y los remedios« und »La visita«. Im ersten Fall präsentiert der novelista die »hija del Farajn« (S. 25) aus Veroneses Die Rettung des Mosesknaben aus den Fluten des Nil, von der es heißt, »[n]adie ignora, en el Prado, su dedicacijn a la filantrop&a, esa misma que le hizo recuperar del r&o al niÇo Mois8s« (ebd.), während sich in »La visita« eine illustre Gruppe Jungfrauen unter Führung der Jungfrau aus Fra Angelicos Verkündigung zur »Virgen del Maestro de Sopetr#n« (S. 131) begibt. In beiden Erzählungen klagt die Figur eines der – entsprechend dem für Un novelista en el Museo del Prado belegten Muster – für eine Episode zentralen zwei Gemälde, woraufhin die jeweilige Protagonistin des zweiten zentralen Werkes versucht, das bestehende Leid zu lindern. In »El llanto y los remedios« erscheint der Schmerz (oder besser die gekränkte Eitelkeit) der Madrider Mona Lisa als Resultat des nachmittäglichen Besuchs einer Gruppe französischer Touristen, die sich unter ständigem Verweis auf den Louvre offenbar über die Gioconda des Prado lustig gemacht hatte. Von dieser hört man nun nachts die Klage (S. 29):

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Fue demasiado – clama la buena seÇora, en una lengua mitad toscana y mitad de Castilla […]. Me ha acaecido numerosas veces, pero nunca subij a tanto la burla. ¡Qu8 no habr8 o&do, durante aÇos y aÇos, a los burros convocados por mi enigma! … Que si soy una copia de la de Paris; que si no; que si me pintj un espaÇol, o un holand8s, o Carlo Dolci; que si me encargj uno de los Medici … ¡Ay, si lo supiera!

Die Klage der Gioconda nutzt Mujica Lainez, um in eine Diskussion der insbesondere für Museen mit älterer Kunst grundlegenden Klärung der Autorschaft der Werke einzusteigen – die hier, dem grotesken Setting gemäß, freilich gleich von den Figuren der Gemälde selbst geführt wird.64 Nicht nur die gekränkte Dame versucht sich verzweifelt (und erfolglos) an die Hand desjenigen zu erinnern, der sie vor Jahrhunderten geschaffen hat. Zusammen mit Veroneses Schöpfung finden sich im Verlauf der Episode weitere Figuren mit ähnlichen Sorgen ein und selbst dort, wo die Urheberschaft außer Frage steht, entspinnt sich nun die Diskussion um die eigene Identität. Vielstimmig wird geklagt »Carezco de identidad« (so La Gioconda, S. 30), »Tampoco yo s8 qui8n soy […]« (so Rafaels Kardinal, ebd.), »Qui8n soy?« (so Antonio Moros Dame mit dem Edelstein, S. 31) usw. usf. Auch wenn es 1984, also 28 Jahre vor der spektakulären Freilegung der Landschaft unter dem schwarz übermalten Hintergrund im Jahr 2012, unvermeidlicherweise für die Mona Lisa aus der Werkstatt Leonardos noch heißt, »una imitacijn de la leonardesca, velada y desprovista del po8tico paisaje« (S. 30), lässt Mujica Lainez an dieser Stelle sein profundes Wissen um die Gemälde des Prado und um die Probleme vieler musealer Bildbestände erkennen. Inmitten des fantastisch belebten Ortes spricht er mit großer Kenntnis eine bis heute nur zu häufig virulente Problematik an. Doch da diese Diskussion meist schlicht nicht abzuschließen ist, wird die Episode schließlich von Rafaels Kardinal mit den, die Madrider Gioconda sicher mehr als die Besucher des Prado beruhigenden Worten wie folgt beendet: »Ya veis, seÇora […] que a todos nos abruman los problemas. Si encararais el trabajo de investigar, en el Prado a quienes comparten con nosotros sus muros, desembocar&ais en la conclusijn de que los perplejos son aqu& m#s numerosos que los serenamente clasificados.« (S. 32) Der Hinweis ist gegeben, und die Auseinandersetzung mit der Thematik, d. h. also die Klärung der Frage, ob die nur zu häufig in Hinblick auf die Schöpfer und das Dargestellte bleibend bestehende Unsicherheit für den Kunstgenuss zum Problem wird oder nicht, hat letzten Endes jede und jeder für sich selbst zu leisten. In der zweiten der für die Beschäftigung mit der Gegenwart des Museums genannten zentralen Episoden – »La visita« – berichtet der novelista von den Klagen der Jungfrau aus der Verkündigung des Meisters von Sopetr#n, die der ebenfalls aus einer Verkündigung stammenden Jungfrau Fra Angelicos von 64 Vgl. dazu in »El llanto y los remedios« S. 29–33.

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›ihrem‹ Erzengel Gabriel zugetragen wird. In einer ebenso charmanten wie erneut das Muster einer Vermischung von Hohem (hier Heiligem) und Niederem (der profanen Alltäglichkeit) aufgreifenden Abwandlung der Verkündigungssituation informiert Gabriel die Letztgennannte über den Protest der »Virgen del Maestre de Sopetr#n« (S. 131), der für Unruhe unter den frühen Spaniern im Parterre sorge.65 »Qu8jase dicha virgen de la apresurada indiferencia con que los turistas pasan por esa seccijn« (ebd.), vernimmt Fra Angelicos Jungfrau von Gabriel, der ihr auch von den Worten der zornig Protestierenden kündet: »¡Nos miran apenas! ¡Apenas se detienen delante del Santo Domingo de Silos, por su lujo, y delante del gran retablo, por sus proporciones, y escapan hacia las salas de Goya, a ver frivolidades y brujos, como si Goya fuese lo fflnico que importa aqu&!« (ebd.), ist von dieser zu vernehmen. Wie schon im Fall der Diskussion der Autorschaft, widmet sich Mujica Lainez damit einem der sicher für den praktischen Alltag der Museen mit Alten Meistern zentralen Probleme: dem meist höchst selektiven Zugriff der Besucher auf den ausgestellten Bestand. In den Worten der beleidigten (und neidischen?) Jungfrau werden außerdem die ihrer Meinung nach bestimmenden Kriterien eines solchen Zugriffs präsentiert, nämlich schiere Pracht wie im Fall von Bartolom8 Bermejos Der Heilige Dominicus auf dem Thron (Santo Domingo de Silos), schlicht beeindruckende Proportionen oder eben Frivolitäten und der Genuss des Abweichenden wie bei Goya. Während die in »El llanto y los remedios« in Rede stehende Problematik letzten Endes ohne jede in diese oder jene Richtung gehende Wertung angesprochen wird, dürfte der Verärgerung der Jungfrau in »La visita« eine Sprachrohrfunktion zukommen. Auch wenn im Sinne des im ganzen Werk angeschlagenen unterhaltsam-leichten Tons der Zorn über das Verhalten der Besucher im Hintergrund bleibt und – nachdem er als Anlass für die geplante Hommage an die Jungfrau des Meisters von Sopetr#n gedient hat – im Weiteren dann überhaupt nicht mehr Thema wird, spricht für diese Annahme, dass die Thematik Museumsbesucher in Un novelista en el Museo del Prado nicht nur in dieser Episode auftaucht.66 Im Auftritt des verärgerten Kunstwerkes mögen 65 Vgl. S. 131. 66 So findet sich in »Zooljgico« eine längere Passage, die als eingeschobener Kommentar – und als deutlich im Text vernehmbare Stimme des Autor – dem Homo touristicus gewidmet ist: »Los turistas suelen estar distra&dos; el tremendo cansancio los vence, y apenas escuchan el ronroneo en ingl8s, franc8s, japon8s, italiano o alem#n (a ratos en espaÇol), que los apresura de sala en sala. ¡Han visto tanto y les falta tanto por ver, ese mismo d&a y los siguientes; ¡les duelen tant&simo los pies y las piernas! Djciles, mudos, fotografiantes, dejan vagar en torno los ojos fatigados. Saben que no bien dejen atr#s al Museo recorrido velozmente (un museo m#s) y que hayan comprado media docena de tarjetas postales, trepar#n en los jmnibus inexorables, y rodar#n a Segovia, a Toledo y a ]vila.« (S. 108). Auch hier geht es ganz explizit um das Verhalten der Touristen im Museum und ohne Zweifel wird das rasche Durcheilen des Museo del Prado kritisch vermerkt. Zugleich wird diese Kritik jedoch deutlich ver-

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Zeitkritik und die in Gestalt des Grotesken transportierte zeitkritisch getönte und an die heutigen Museumsbesucher gerichtete Forderung (»aguzar el inter8s y los ojos« [S. 109]) also durchaus präsent sein. Neben dem Spiel mit dem Hohen und Heiligen, dessen freundlich-ironisierender Degradierung und der Überschreitung und Vermischung ganz verschiedener räumlicher, zeitlicher und kultureller Grenzen lässt ein weiterer Aspekt den grotesken Gehalt der Episoden von Mujica Lainez’ Werk und die Nähe der dabei von ihm verwandten Form des Grotesken zur Konzeption Peter Fuß’ erkennen: die Verwendung des Marginalisierten. In irgendeiner Form physisch oder psychisch missgebildete Wesen – ›Narren‹, ›Zwerge‹, ›Riesen‹ oder ›Monstren‹ – gehören, zusammen mit den verschiedensten Mischwesen, mit ihrem verstörenden Bruch der Proportionen und Verhaltensweisen zum klassischen Personal des Grotesken.67 Von gegebenen Kulturformationen werden sie meist schnell als seltsam, sonderbar oder exzentrisch etikettiert und ausgegrenzt, während sie zugleich einen deutlichen Reiz auszuüben vermögen. Gerade im krisenhaften Zeitalter des Barock68 – und hier noch einmal wohl besonders in Spanien – mit seiner notorischen Suche nach dem Staunen Machenden und Bewunderungswürdigen, aber auch mit seiner Neigung zu Abweichendem und Verstörendem lässt sich diese Faszination belegen. Die in einem ganz grundsätzlichen Sinne nahe an den absolutistischen Mächten der Epoche zu verortende bildende Kunst des Barock macht dabei – ganz im Gegenteil – natürlich keine Ausnahme und in Un novelista en el Museo del Prado finden sich in Form der Gestalten aus einer Fülle von Werken Vel#zquez’ dementsprechend insbesondere zahlreiche ›Zwerge‹: die Hofnarren Philipp IV. – Don Diego de Acedo (el Primo), Don Juan de Austria, Pablo de Valladolid, Don nehmbar mit Mitgefühl und vielleicht sogar Verständnis für die vom zu bewältigenden Programm schlichtweg ›erschlagenen‹ Touristen verbunden, auf die bereits die unvermeidlichen Besuche Segovias, Toledos und natürlich ]vilas warten. Einen Seitenhieb erlaubt sich Mujica Lainez außerdem gegen die Spanier (und die Lateinamerikaner?), deren Sprache man nur selten vernehme, und ihr offenbar mangelndes Interesse an einem Besuch des Prado, wo meist keine Rede mehr davon sein kann, dort – wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts – »›intelectuales y obreros, viejos y jjvenes, hombres y mujeres, gentes de la capital y hombres del campo, familias enteras y, sobre todo, una considerable cantidad de estudiantes que pasan en comffln su d&a de descanso en el templo de arte‹« (so der schwedische Rabbiner Marc Ehrenpreis, zit. in Portffls, Museo del Prado, S. 94) anzutreffen, seien diese Besucher doch längst von den Massen ausländischer Touristen ersetzt worden. Zum Wandel im Verhältnis der Spanier und hier insbesondere der Madrilenen zum Prado vgl. ebd., 93f. 67 Der Hinweis auf die entsprechenden Gestalten des Grotesken erfolgt deshalb auch bei Fuß gleich auf der ersten Seite seiner Beschäftigung mit dem Grotesken. Vgl. Fuß, Das Groteske, S. 11. 68 Vgl. dazu als einen Klassiker dieser Sichtweise auf den Barock als einem Zeitalter der Krise Antonio Maravall, La cultura del Barroco. An#lisis de una estructura histjrica, Barcelona 10 2007 und hier vor allem den 1. und für den Reiz des Abweichenden insbesondere den 4. Teil.

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Cristobal de CastaÇeda y Pern&a (Barbarrroja) und Calabacillas.69 Ergänzt wird diese Gruppe kleinwüchsig-grotesker Abweichung von Juan CarreÇo de Mirandas Porträt der etwa achtjährigen Eugenia Mart&nez de Vallejo, die als in extremer Weise fettleibiges Kind 1680 an den Hof Karl III. gebracht worden war und dort nur La monstrua genannt wurde. Die Hofnarren – mit Ausnahme von Calabacillas, der in »La Bella Durmiente« zu finden ist – haben ihren Auftritt in »Elegancia«. Don Diego de Acedo zudem ebenfalls in »La bella durmiente«, wo schlussendlich auch Eugenia Mart&nez de Vallejo die Bühne des nächtlichen Prado betritt. In beiden Fällen übernimmt das in seiner Abweichung Fremde die Regie über das Geschehen und steht somit in dessen Mittelpunkt, eine Position, die ihm sonst – bei aller gerade für die Hofnarren typischen Nähe zum Monarchen als der absoluten Machtinstanz barocker Gesellschaften – in seiner Marginalisierung vorenthalten bleibt: In »Elegancia« einigt man sich bei der Organisation des Wettbewerbs letzten Endes und »quiz#s ironicamente« (S. 37) darauf, dass ausgerechnet die Hofnarren der »serie velazqueÇa« die Mitglieder der Jury wählen, während Pablos de Valladolid zudem als Zeremonienmeister der ganzen Vorstellung fungiert und umsetzt, was er und die anderen Hofnarren in Hinblick auf deren Ablauf beschlossen haben.70 Viel stärker noch stehen die Narren jedoch in »La Bella Durmiente« im Zentrum. Ganz im Sinne der bereits erwähnten grotesken Chimärenbildung, die Mujica Lainez in seinem Werk mit den Gemälden vornimmt, heißt es von Don Diego de Acedo, »[a]provecha las horas de holganza nocturna, para introducirse subrepticiamente en los grandes cuadros, y espiar lo que sucede all&« (S. 71). Im vorliegenden Fall interessiert ihn Louis-Michel van Loos Gemälde Die Familie Philipp V. und »dos minutos despu8s ya estaba el sombrerudo incorporado a la palaciega compaÇ&a« (ebd.). Begeistert von der dort vorgeblich beobachteten Lesung von Charles Perraults La belle au bois dormant beschließt er, für den als Beschreibung des Vel#zquez-Gemäldes in den Worten des novelista gilt, »los libracos y el pote de tinta […] certifican sus aficiones literarias« (ebd.), die Aufführung des Märchens mit dem Personal der Gemälde des Prado – während der dem anwesenden Hochadel vom Narren Philipp IV. dann einiges zugemutet wird.71 In beiden Episoden übernehmen also die Narren die Regie und im 69 Außerdem ist, ohne dass diese explizit erwähnt würden, wegen Mujica Lainez’ Rückgriff auf Vel#zquez’ Las meninas mit der Anwesenheit der kleinwüchsigen Mari B#rbola und Nicolasito Pertusato zu rechnen, die ebenfalls zum Hofe Philipp IV. gehörten. 70 »Por cortes&a, hemos establecido que los extranjeros encabecen el desfile del Concurso de Elegancias.« (S. 41, Hervorhebung, E.H.). 71 Man denke hier bspw. an das Durcheinander, das aus den Ängsten Maria Luisa von Parmas, der Tochter Karl IV., um ihren kleinen Sohn Carlos Luis von Bourbon folgt, den Don Diego de Acedo mangels weiblicher Säuglinge in der Rolle der Prinzessin (›Dornröschen‹) besetzt hatte, als sich in der Rolle der 13. Fee einer der Alten aus Goyas Zwei Alte essen Suppe anschickt, das Kind (mit seinem Löffel anstelle des Zauberstabes) zu verzaubern. Vgl. dazu

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übertragenen Sinne wahrlich das Zepter, was im Sinne der von Fuß als für das Groteske grundlegenden Mechanismen zum einen einer Inversion gleichkommt. Zum anderen findet man damit die speziell für seine Kulturtheorie grundlegende »Rezentrierung des Marginalisierten im Grotesken«72. Die für Fuß zentrale Kollision der »Kultur mit ihrem Fremden«73 bleibt dabei freilich im Rahmen eines primär spielerischen Umgangs mit den vom grotesken Anderen gebotenen Möglichkeiten. Gleichwohl wird selbst mit einer solchen sicher vor allem unterhaltsamen Form der »virtuellen Anamorphose symbolisch kultureller Ordungsstrukturen«74 zumindest ironisch auf ein prinzipiell denkbares Erschüttern gegebener Ordnung angespielt, wenn insbesondere in »La Bella Durmiente« das Marginalisierte von den Rändern ins Zentrum und in Gestalt karnevalesker Inversion üblicherweise kaum Gedachtes als ein doch Denkbares ins Bewusstsein gerückt werden. Nachdem exemplarisch verschiedene groteske Dimensionen beleuchtet wurden, soll abschließend eine allgemeine Bestimmung von Un novelista en el Museo del Prado als im Modus des Grotesken verfasster Text versucht werden. Einem Autor, den schon biografisch ein enger Kontakt zur bildenden Kunst und ein umfassendes kunstgeschichtliches Wissen auszeichnen, und der dieses in der einleitend werkgeschichtlich skizzierten Weise zu einem integralen Teil seines literarischen Schaffens werden ließ, bietet eine Fiktionalisierung des Museo del Prado und seines Bestandes natürlich enorme Möglichkeiten. In konsequenter literarischer Weiterführung der Vorstellung, dass die Dargestellten wirklich nachts lebendig werden könnten, die wohl jede Museumsbesucherin und jeder Museumsbesucher schon einmal gehabt haben dürfte, erschreibt Mujica Lainez ihnen eine solche Existenz tatsächlich. Der zumindest verstörende und u. U. – gerade bei der Darstellung der Gestalten des Grotesken – durchaus beängstigende Gedanke eines Lebendig-Werdens der Bilder wird vom Autor außerdem radikalisiert, da die Darstellungen ja nicht einmal mehr zum ›Leben‹ erweckt S. 82–84. En passant lässt Mujica Lainez dabei in seiner Besetzung einer Fee durch einen Alten einmal mehr sein kunstgeschichtliches Hintergrundwissen erkennen, denn tatsächlich wurde Goyas pintura negra im 19 Jahrhundert mit Dos viejas (Antonio Brugada), Dos viejas comiendo de una escudilla (Charles Yriarte) oder sogar La muerte comiendo con una bruja (P.L. Imbert) betitelt, und noch im ersten Katalog des Prado (1900) trug das Werk den Titel Dos viejas comiendo sopa. Vgl. http://www.museodelprado.es/coleccion/galeria-on-line/ galeria-on-line/obra/dos-viejos-comiendo/ (04.11.13) Und natürlich muss der fulminante Schluss erwähnt werden, als – vom Narren mit den Worten »Me he permitido una ligera alteracijn del esp&ritu de la obra de Musiur Perrjn, inspirado por el paso del tiempo, y como una reflexijn personal acerca de las desventajas de la falta de ejercicios f&sicos.« (S. 89) eingeführt – anstelle der Danae aus Tizians Danae, den Goldregen empfangend CarreÇo de la Mirandas La monstrua desnuda als wach zu küssende Prinzessin erscheint. 72 Fuß, Das Groteske, S. 14. 73 Ebd. 74 Ebd., S. 14f.

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werden müssen. Im fiktionalen Universum der Rede des novelista, der von seinen nächtlichen Erlebnissen Bericht erstattet, sind sie schließlich selbst tagsüber ›lebendig‹. Schon damit werden zwei Grenzen von üblicherweise grundsätzlicher Geltung diffus: Wenn sich Unbelebtes belebt, die Grenze zwischen Lebendem und Totem, und wenn den Gestalten zudem praktisch eine Existenz jenseits der Zeit zukommt, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Besonders der Überschreitung zeitlicher Grenzen kommt im vorliegenden Werk in der Interaktion seiner Protagonisten über die Zeiten (und Orte) hinweg eine große Bedeutung zu, indem Mujica Lainez’ Spiel zu einem Gutteil auf der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ruht. Mit allen diesen Setzungen bewegt man sich klar im Bereich des Fantastischen – für das der Autor den Modus des Grotesken wählt, mit dem in Un novelista en el Museo del Prado insbesondere die etablierte Ordnung des Entweder-Oder und mit dieser die für ein konventionelles Weltverhältnis grundlegende Identitätslogik außer Kraft gesetzt werden,75 womit »[i]m Interferenzraum inkompatibler Ordnungsstrukturen […] Unentscheidbarkeit [entsteht], die die normative Kraft der symbolisch kulturellen Ordnung unterminiert und ihre Struktur liquidiert.«76 Neben diesem Griff zu einer die herkömmliche Ordnung transzendierenden grotesken Gleichzeitigkeit leistet Mujica Lainez mit seiner durchaus prominenten Verwendung bestimmter Figuren des Grotesken im Sinne Fuß’ zudem die erwähnte »Rezentrierung des Marginalisierten«, die ihrerseits »den Schein der Unhinterfragbarkeit, mit dem die Kulturordnung sich im Zuge ihrer Instituierung umgibt, durch den Hinweis auf mögliche Alternativen«77 thematisiert. Trotz aller harmlos scheinenden Unterhaltsamkeit kommt den Episoden damit im Prinzip strukturell das nach Peter Fuß für das Groteske grundlegende Potential einer »Transformation kultureller Formationen«78 zu, da das unkonventionelle Denken und Kombinieren der Fiktion ein Anderes zumindest vorstellbar macht. Mujica Lainez’ Werk mit seinen zugleich fantastischen und alltäglichen Geschichten stellt damit nicht nur die selbst schon groteske Gleichzeitigkeit von »alegr&a y tristeza, […] eufor&a y depressijn«79 vor, sondern präsentiert sich in diesem Sinne zudem als orginär grotesk im Sinne kulturtheoretischer Zugänge zum Grotesken / la Peter Fuß. Selbst wenn es in Mujica Lainez’ groteskem Un novelista en el Museo del Prado bei Weitem nicht ausschließlich um die spanische Kunst im Bestand geht, mag man – vor dem Hintergrund der verschiedentlich unterstrichenen Bedeu-

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Vgl. dazu wie bereits erwähnt Fuß, Das Groteske, S. 19f. Ebd., S. 14. Ebd. Ebd., S. 13. Capalbo, »PequeÇos registros«, S. 235.

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tung des Prado als dem Ausdruck spanischer Identität80 – abschließend außerdem an die Rede nicht-spanischer wie spanischer Autoren von Spanien als einer vorgeblich deutlich zum Grotesken neigenden oder selbst grotesken Kultur denken,81 der der Argentinier Mujica Lainez mit seinem Rückgriff auf den »Corazjn de EspaÇa« in Gestalt von Un novelista en el Museo del Prado voller Sympathie für dieses, nach jenen Sichtweisen groteske Land ein weiteres literarisches Denkmal gesetzt hat.

Bibliographie Primärtexte Mujica Lainez, Manuel, Un novelista en el Museo del Prado, Barcelona 21987. Valle-Incl#n, Ramjn del, Luces de bohemia, Madrid 552008. Vald8s, Zo8, Una novelista en el Museo del Louvre, Barcelona 2009.

Sekundärliteratur Capalbo, Armando, »PequeÇos registros posmodernos en Manuel Mujica L#inez; el caso de Un novelista en el Museo del Prado«, in: Alba de Am8rica 14 (1996), S. 235–240. Cruz, Jorge, »Prjlogo«, in: Manuel Mujica Lainez, Cuentos completos 1, hg. von Jorge Cruz, Madrid 1999, S. 11–29. Fuß, Peter, Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln/Weimar 2001. Kayser, Wolfgang, Das Groteske in Malerei und Dichtung, Reinbek bei Hamburg 1960. 80 So zitiert Javier Portffls gleich zu Beginn seines Werkes zur ›Memoria escrita 1819–1994‹ des Prado den schwedischen Rabbiner Marc Ehrenpreis aus dessen Le pays entre Orient et Occident. Voyage d’un juif en Espagne (1930) mit der Rede vom Prado als dem »Corazjn de EspaÇa« (Portffls, Museo del Prado, S. 13), während es im Vorwort des damaligen Direktors des Prado (Jos8 Mar&a Luzjn) zu Portffls’ Buch heißt: »[C]on el paso del tiempo el Museo se ha convertido tambi8n en uno de los m#s importantes – y sin duda m#s bellos – depositarios de la memoria histjrica nacional […]. Las pinturas de Vel#zquez, El Greco, Goya o, incluso, Tiziano que cuelgan de las paredes del Prado han servido frecuentemente a intelectuales espaÇoles y extranjeros como privilegiados veh&culos para reflexionar sobre nuestro pasado y nuestra identidad colectiva.« (ebd., o. S.). 81 Man denke an Flögels Geschichte des Grotesk-Komischen, in der es heißt, die Spanier hätten aufgrund ihrer »ausschweifende[n] und erhitzte[n] Einbildungskraft« im Grotesken »alle Völker in Europa übertroffen« (zit. n. Wolfgang Kayser, Das Groteske in Malerei und Dichtung, Reinbeck bei Hamburg 1960, S. 12), oder auch an den Jean Paul der Vorschule der Ästhetik. Bei weitem radikaler und natürlich seinem eigenen Land gegenüber mit kritischer Stoßrichtung drückt sich dann bekanntlich Ramjn del Valle-Incl#n in Luces de bohemia aus, wo man in der »Escena duod8cima« von Max Estrella vernimmt: »EspaÇa es una deformacijn grotesca de la civilizacijn europea.« (Ramjn del Valle-Incl#n, Luces de bohemia, Madrid 552008, S. 169).

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Maravall, Antonio, La cultura del Barroco. An#lisis de una estructura histjrica, Barcelona 10 2007. Portffls, Javier, Museo del Prado. Memoria escrita 1819–1994, Madrid 1994. Schanzer, Georges O., The Persistence of Human Passions: Manuel Mujica L#inez’s Satirical Neo-Modernism, London 1986.

Internetquelle http://www.museodelprado.es/coleccion/galeria-on-line/galeria-on-line/obra/dos-viejoscomiendo/ (04.11.13).