Die schwierige Modernität Lateinamerikas: Beiträge der Berliner Gruppe zur Sozialgeschichte lateinamerikanischer Literatur 9783964566928

Beinhaltet Untersuchungen ausgewählter Werke von Autoren wie Cortázar, Borges, Carpentier, Poniatowska, Lispector. Das ü

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Die schwierige Modernität Lateinamerikas: Beiträge der Berliner Gruppe zur Sozialgeschichte lateinamerikanischer Literatur
 9783964566928

Table of contents :
INHALT
Vorwort
I. Die Cono-Sur-Region
1. Exilerfahrung und Literatur lateinamerikanischer Autoren in Spanien
2. Die Heimkehr des kolonialisierten Subjekts: Über die Objektivierung Argentiniens im Werk Cortázars
3. Fünf Gedächtnis-Figuren aus dem Archiv des J. L. Borges
4. Illusion und Enttäuschung bei Felisberto Hernández
5. José Donosos El obsceno pájaro de la noche: Sprachloser Raum
II. Der Andenraum
6. Achkee: Zu einer Erzählung mündlicher Tradition im Quechua des Callejón de Huaylas, Peru
7. Erinnerungen an den Bärensohn: Elemente und Fragmente schwindender Erzähltraditionen im zentralen Andenhochland von Ecuador
III. Der karibische Raum
8. Alejo Carpentiers surrealistischer Blick auf Havanna
9. L'antillanité: ein Identitätsfindungsprozeß in den Romanen von Edouard Glissant
10. Ein Roman, 30 Jahre später ein Film: La Rue Cases-Nègres
IV. Mexiko
11. José Revueltas' Los días terrenales: wundersame Begebenheiten um einen kritischen Roman
12. Die Chronik in Mexiko als gesellschaftliche Praxis am Beispiel der Texte über die Erdbeben von 1985
V. Brasilien
13. Bild/Text und Medien: Ciarice Lispector

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Morales Saravia (Hrsg.)

Die schwierige Modernität Lateinamerikas

©DDQOtPflOaiJLiei Publikationen des Zentralinstituís für Lateinamerika-Studien der Katholischen Universität Eichstätt Serie B: Monographien, Studien, Essays, 4 Publicaciones del Centro de Estudios Latinoamericanos Universidad Católica de Eichstätt Serie B: Monografías, Estudios, Ensayos, 4

de la

P u b l i c a r e s do Centro de Estudos Latino-Americanos da Universidade Católica de Eichstätt Serie B: Monografías, Estudos, Ensaios, 4

José Morales Saravia (Hrsg.)

Die schwierige Modernität Lateinamerikas Beiträge der Berliner Gruppe zur Sozialgeschichte lateinamerikanischer Literatur

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1993

Gedruckt mit Unterstützung der Katholischen Universität Eichstätt

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die schwierige Modernität Lateinamerikas : Beiträge der Berliner Gruppe zur Sozialgeschichte lateinamerikanischer Literatur / José Morales Saravia (Hrsg.).- Frankfurt am Main : Vervuert, 1993 (Americana Eystettensia : Ser. B., Monografías, estudios, ensayos ; 4) ISBN 3-89354-954-4 NE: Morales Saravia, José [Hrsg.]; Berliner Gruppe; Americana Eystettensia / B © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1993 Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany

INHALT Vorwort I.

Die Cono-Sur-Region

1.

Petra Schümm: Exilerfahrung und Literatur lateinamerikanischer Autoren in Spanien Barbara Koczauer: Die Heimkehr des kolonialisierten Subjekts: Über die Objektivierung Argentiniens im Werk Cortázars Martin von Koppenfels: Fünf Gedächtnis-Figuren aus dem Archiv des J. L. Borges José Morales Saravia: Illusion und Enttäuschung bei Felisberto Hernández Ursula Günther: José Donosos El obsceno pájaro de la noche: Sprachloser Raum

2. 3. 4. 5.

II.

Der Andenraum

6.

S. Hernán Aguilar: Achkee: Zu einer Erzählung mündlicher Tradition im Quechua des Callejón de Huaylas, Peru Edita V. Vokral und Peter Masson: Erinnerungen an den Bärensohn: Elemente und Fragmente schwindender Erzähltraditionen im zentralen Andenhochland von Ecuador

7.

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III. Der karibische Raum 8. 9. 10.

Susanne Klengel: Alejo Carpentiers surrealistischer Blick auf Havanna Helmtrud Rumpf: L'antillanité: ein Identitätsfindungsprozeß in den Romanen von Edouard Glissant Sylvie César: Ein Roman, 30 Jahre später ein Film: La Rue Cases-Nègres

199 213 227

IV. Mexiko 11. 12.

Ingrid Simson: José Revueltas* Los dias terrenales: wundersame Begebenheiten um einen kritischen Roman Ursula Kuhlmann: Die Chronik in Mexiko als gesellschaftliche Praxis am Beispiel der Texte über die Erdbeben von 1985

V.

Brasilien

13.

Ellen Spielmann: Bild/Text und Medien: Ciarice Lispector

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Vorwort I. Der vorliegende Band ist die dritte Veröffentlichung der Berliner Gruppe. 1 Wie in den bisherigen Bänden sollen Beiträge zu den verschiedenen Regionen Lateinamerikas vorgestellt werden. Der Gebrauch des Begriffs 'Region' hat hier methodologische Implikationen und fordert eine Erklärung. Er ist aus der Diskussion entstanden, die sich mit Begriffen wie "nationale" oder "lateinamerikanische" Literatur kritisch auseinandergesetzt hat und die, angesichts einer Literaturgeschichte Lateinamerikas, methodologisch für unzureichend oder inadäquat gehalten wurden (vgl. Losada 1977, 7-37). Wie die Diskussion selbst gezeigt hat, ist diese Position nicht unumstritten.2 Beim jetzigen Stand der Forschung scheint uns trotzdem die Anwendung des Begriffs 'Region', die beste Lösung des Problems zu sein. Eine Entscheidung für die "nationale" Alternative würde dazu führen, daß es ebensoviele Literaturgeschichten wie Nationen gäbe. Der Anspruch auf Totalität müßte folglich aufgegeben werden. Eine Entscheidung für die "lateinamerikanische" Alternative würde die offensichtlichen Eigentümlichkeiten verschwinden lassen. Wir sind der Auffassung, daß die Diziplin heutzutage "kontinental" zu verfahren und zu denken hat, was spätestens seit den 60er Jahren zu einem neuen Bewußtsein — und das nicht nur in der lateinamerikanischen bzw. lateinamerikanistischen Wissenschaft — geführt hat. Aber wir vertreten die Meinung, daß der Totalitätsanspruch durch Vermittlungen zu vollziehen ist. Der Begriff 'Region' fungiert in diesem Zusammenhang als vermittelnde Instanz. Im Falle von Mexiko und Brasilien fällt er mit dem der Nation zusammen. Im Falle der Cono-Sur-Region, des Andenraums und des karibischen Raums ist er brauchbar, wie es die jeweiligen Beiträge dieses Bandes zeigen.

n. So läßt sich die Konzeption des Bandes nicht nur durch die Überzeugung erklären, daß die Disziplin ihre Forschungsobjekte "kontinental" betrachten soll (d.h. die "nationale" Grenze des bisherigen Forschungsverfahrens zu überschreiten), sondern durch die Tatsache, daß unser Tun bestrebt ist, zu punktuellen Ergebnissen zu gelangen, die als Materialien zu der Vorbereitung einer Sozialgeschichte der lateinamerikanischen Literatur dienen sollen. Diese beiden Gründe erklären die Gliederung des Bandes, wie auch seine sehr verschiedenen Forschungsgegenstände. Ein weiteres Kriterium der Konzeption des Bandes betrifft die Periodisierung. So beschäftigen sich die hier gesammelten Beiträge punktuell mit Autoren, die vor allem in der

'Vgl. Morales Sanivia 1986 und Morales Saravia 1989, 135-332. 'Siehe Kohut 1991, 11, und auch Comejo Polar 1987, 123-132.

viii zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts tätig gewesen sind. Wenn es sich um Schriftsteller handelt, die teilweise ihre Werke in früheren Jahrzehnten geschaffen haben, wie Felisberto Hernández oder Jorge Luis Borges, so liegt der Rezeptionsschwerpunkt ihrer Werke aber erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Im Falle der beiden Aufsätze, die mündlich überlieferten Erzählungen gewidmet sind, kann natürlich kein Autor genannt werden; beide Erzählungen sind aber neueren Datums (1986, 1990). Das Problem der Periodisierung ist für die Disziplin noch zu lösen.3 Einige Beiträge lassen mögliche Ansätze erkennen, auch wenn keiner sich explizit mit dem Problem auseinandersetzt. In dieser Hinsicht wollen wir uns dennoch auf Autoren beschränken, die den mittleren oder späteren Jahrzehnten dieses Jahrhunderts angehören und als "modern" gelten. Diese Tatsache soll im Titel des Bandes zum Ausdruck kommen. Auch an der Vielfalt der Beiträge, die von der Thematisierung der verschiedenen und oft gegensätzlichen Bestimmungen dieser Modernität über das Scheitern des liberalen Projekts, die Oralität, die Identitätssuche, die politisch-gesellschaftliche Funktion des Produzenten bis hin zur Einwirkung der Medien reichen, kann dies abgelesen werden. So läßt sich der Gebrauch des Adjektivs im Titel erklären.4 Wir sind uns des Totalititsanspruchs und der fragmentarischen Darstellung bewußt. Wir glauben jedoch, daß im Fragment auch die angestrebte Totalität sichtbar wird. Der Leser wird bei der Lektüre der Beiträge eine weite Vorstellung gewinnen, welche Bestandteile, je nachdem ob der Ansatz von der Region oder von Lateinamerika als Ganzem ausgeht, die schwierige Modernität Lateinamerikas ausmachen. III. Der erste Teil des Bandes ist der Cono-Sur-Region gewidmet. Hier werden einige der Elemente dargestellt, die in diesem Jahrhundert die Region konstituiert haben. Das Exil ist ein Phänomen, das in den 60er, aber vor allem in den 70er Jahren, die Region charakterisierte. Ein Beitrag untersucht die literarische Bearbeitung des politischen Exils und die im Bewußtsein des Schriftstellers verankerte und von der Tradition überlieferte Exilerfahrung. Die dort behandelten Autoren sind Mario Benedetti, Juan Carlos Martini, Daniel Moyano, Cristina Peri Rossi und Hernán Valdés. Ein zweiter Beitrag stellt das durch das "kulturelle" Exil neu gewonnene Bewußtsein der eigenen Region am Beispiel des Argentinienbildes im Werk Cortazars dar. Bei-

'Die Cbliche Periodisierung in Koloniale Zeit, 19. Jahrhundert und Gegenwärtige Literatur wird noch unkritisch in den folgenden Texten angewendet: Grossmann 1969; Franco 1983; Bellini 1985; Goic 1988; Siinz Medrano 1989. 'Andere von der Disziplin je nach der Perspektive verwendeten Ausdrücke für diese Tatsache sind "kulturelle Heterogenität", 'hybride Formation*, "Modernität sui generis". Vgl. Scharlau, Munzel u. Garscha 1991.

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de Beiträge ergänzen sich, indem sie zwei Seiten des Exils thematisieren: Heimatverlust und Heimkehr. Das Scheitern des liberalen Projekts in dieser Region wird auch in weiteren Beiträgen untersucht. Ein Aufsatz über Felisberto Hernández zeigt den Zusammenhang zwischen dem oben genannten Scheitern und dem Erzähl verfahren, das auf einer bestimmten Erinnemngstechnik beruht. Ein anderer Aufsatz analysiert im Werk von J.L. Borges die verschiedene Behandlung des Themas des Erinnerungsvermögens. Ein letzter Beitrag untersucht Topographien als literarische Darstellung des Verfalls herrschaftlicher Mächte in einem Roman des Chilenen José Donoso. Im zweiten Teil des Bandes sind zwei Aufsätze enthalten, die die Problematik der noch bestehenden aber im Verschwinden begriffenen mündlichen Erzählungen im Andenraum analysieren. Beide Beiträge zeigen, welche Aufgaben sich der Disziplin in bezug auf die Oralität noch stellen. Die traditionellen Zusammenhänge verschwinden langsam und damit auch ihre Produktion und Reñinktionalisierung. Der erste Beitrag weist den didaktischen Charakter der Erzählung über die Achkee auf und untersucht die Verbindung der Erzählstruktur mit dem andinen Agrarzyklus. Der zweite Aufsatz über den Bärensohn verweist durch die Darstellung der Überlieferung dieser Erzählung in den verschiedenen Kulturräumen, in welche Sackgasse die traditionelle Oralität durch das Vorschreiten der Modernität geraten ist. Im dritten Teil des Bandes wird untersucht, wie topographisches Bewußtsein, das mittels des surrealistischen Blicks für Urbanen Strukturen gewonnen wird, bei Alejo Carpentier zur Identitätsbestimmung der lateinamerikanischen Städte (hier des so genannten "dritten" architektonischen Stils) führt. Ein weiterer Beitrag analysiert die Romane von Edouard Glissant, um herauszuarbeiten, wie dieser Autor in einem Identitätsfindungsprozeß zu seiner Auffassung der Antillanität als Resultat verschiedener im diesem Raum vorhandenen Traditionen gelangt ist. Die filmische Verarbeitung des Romans La Rue Cases-Nègres von Joseph Zobel ist das Thema eines weiteren Beitrags in diesem Teil des Bandes. Hier geht es weniger um Identitätssuche als um die Darstellung des sozialen Aufstiegs, wodurch die noch bestehenden kolonialen Strukturen der Region entlarvt werden. Im vierten Teil des Bandes befinden sich zwei Aufsätze über Autoren aus Mexiko. Der erste untersucht detailliert die Rezeption eines Romans von José Revueltas und die Kontroverse, die um diesen Roman zwischen der Kommunistischen Partei, den damaligen linken politischen Kräften und dem Autor ausgelöst wurde. Die heutige Situation erlaubt aus dieser Kontroverse eine neue Perspektive zu gewinnen. Der andere Aufsatz befaßt sich mit der gesellschaftlichen Funktion der Gattung crónica im modernen politischen Kulturleben Mexikos. Am Beispiel der über die Erdbeben geschriebenen Texte, zeigt dieser Beitrag die Einwirkung der Literaturproduzenten auf Begründung und Entwicklung von Handlungsbewußtsein. Die hier behandelten Autoren sind Cristina Pacheco, José Luis Alcubilla, Carlos Monsiváis und Elena Poniatowska.

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Der letzte Teil des Bandes enthält einen Beitrag über Ciarice Lispector. Hier geht es um die Rolle der modernen Medien im Schaffen einer Autorin und um ihr Bild in der Öffentlichkeit. Der Aufsatz zeigt, wie verschiedene Diskurse an einer Figur anknüpfen und wie sie je nach Perspektive stilisiert wird. IV. In bezug auf die Ansätze, die die Beiträge bestimmen, bleibt noch Einiges hinzuzufügen. Sie zeigen die augenblicklichen Forschungsrichtungen auf. Neben dem in den letzten Jahren in der Literaturwissenschaft entwickelten Interesse an der Oralität, die nicht nur in bezug auf die erste, traditionelle, sondern auch auf die zweite Oralität einen neuen Weg in der Disziplin zu eröffnen scheint, ist auch das Interesse an bisher weniger stark miteinbezogenen Gebieten wie dem der Medien und ihrer stärkeren Präsenz in der lateinamerikanischen Kultur zu verzeichnen. Es ist auch der breite Platz zu bemerken, den das Interesse an Topographien in der Forschung gewonnen hat. Hier scheint es einen Zusammenhang zu geben, der unmittelbar mit Phänomenen der Verstädterung und Urbanisierung zu tun hat. Rezeptionsästhetische, wirkungsästhetische, aber vor allem produktionsästhetische Ansätze bestimmen viele der hier vorliegenden Aufsätze. Da der Titel des Bandes das Wort "Modernität" enthält, fehlt es auch nicht an Exkursen oder Anspielungen auf die Diskussion über die Postmoderne. Die aktuelle Forschung hat es sich zur Augabe gestellt, die besonderen Merkmale, die diese Diskussion im lateinamerikanischen Kontext aufweist, herauszustellen.3 V. Schließlich möchte ich hier allen Personen danken, die zur Vollendung dieses Bandes beigetragen haben. Insbesondere gilt mein Dank Angelika Ilk, Maria Luise Eichler, Annette Werner, Bettina Hüttner und Robert Garus.

Bibliographie

Bellini, Giuseppe. 1985. Historia de la literatura hispanoamericana. Madrid: Castalia. Cornejo Polar, Antonio. 1987. La literatura latinoamericana y sus literaturas regionales y nacionales como totalidades contradictorias. In: Ana Pizarra

'Siehe Rincón 1989, 61-104, und auch García Canciini 1989.

xi (coord.): Hacia una historia de la literatura latinoamericana. México: El Colegio de México. Franco, Jean. (1975) 1983. Historia de la literatura hispanoamericana. Barcelona: Ariel.

5. ed.

García Canclini, Néstor. 1989. Culturas híbridas. Estrategia para entrar y salir de la modernidad. México: Grijalbo. Goic, Cedomil. 1988. Historia y crítica de la literatura hispanoamericana. 3 Bde. Barcelona: Crítica. Grossmann, Rudolf. 1969. Geschichte und Probleme der Literatur. München: Max Hueber Verlag.

lateinamerikanischen

Kohut, Karl (Ed.). 1991. Literatura mexicana hoy. Del 68 al ocaso de la revolución. Frankfurt/M.: Vervuert Verlag. Losada, Alejandro. 1977. Articulación, periodización y diferenciación de los procesos literarios en América Latina. In: Revista de crítica literaria latinoamericana i 7 (Lima): 7-37. Morales Saravia, José (Ed.) La literatura en la Sociedad de América Homenaje a Alejandro Losada. Lima: Latinoamericana Editores.

Latina.

—. (Director). 1989. Literatura y sociedad en América Latina. Sección monográfica del Grupo de Berlin. In: Revista de crítica literaria latinoamericana 30 (Lima): 135-332. Rincón, Carlos. 1989. Modernidad periférica y el desafío de lo postmoderno. Perspectivas del arte narrativo latinoamericana. In: Revista de crítica literaria latinoamericana 29 (Lima): 61-104. Sáinz Medrano, Luis. 1989. Historia de la literatura hispanoamericana. Desde el Modernismo. Madrid: Taurus. Scharlau, Birgit, Mark Münzel u. Karsten Garscha. 1991. 'KulturelleHeterogenität' in Lateinamerika. Bibliographien mit Kommentaren. Tübingen: Gunter Narr Verlag.

I Die Cono-Sur-Region

Exilerfahrung und Literatur lateinamerikanischer Autoren in Spanien Petra Schümm 1. Die Dialektik des Exils Partir es morir un poco Carlos Gardel Das Exil, die Emigration — dieses Hin-und-her-Migrieren von einem Kontinent zum anderen — gehört zur Geschichte und den besonderen Gepflogenheiten des spanischsprachigen Kulturraums. Sollte es je eine Spaniern und Lateinamerikanern gemeinsame Tradition gegeben haben, über die nicht polemisiert wurde, so ist sie in diesem "territorio en común", dem Exil, zu suchen. Man könnte das Exil als eine (spanische) Mitgift zur lateinamerikanischen Unabhängigkeit bezeichnen. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts trafen die lateinamerikanischen Freidenker, die aus Angst vor inquisitorischer Verfolgung ins Exil geflohen waren, in London oder Paris auf die exilierten spanischen Liberalen. Viele der Spanier waren mit amerikanischen Freiheitskämpfern befreundet, die nach den Unabhängigkeitskriegen in die Diaspora gezwungen wurden. Große Exil- und Emigrationsbewegungen fanden indessen vor allem von Spanien nach Lateinamerika statt: denken wir hier an die Emigration aus wirtschaftlichen Gründen im 19. Jahrhundert, denken wir aber auch an das Exil der Spanier im 20. Jahrhundert. Selten kam es zur Migration in umgekehrter Richtung. Ins Exil gingen vorerst nur einzelne lateinamerikanische Intellektuelle. Die bevorzugten Emigrationsländer waren die Nachbarstaaten oder aber Europa mit Ausnahme von Spanien. Für den lateinamerikanischen Schriftsteller ist hier noch eine andere Variante der Migration festzustellen, die man auch das "kulturelle Exil" (Kohut 1983)' nennen könnte. Derart selbstbestimmte Ausreise galt der kulturellen Horizonterweiterung. Sie ist ebenso traditions-, wenn nicht gar facettenreicher als das fremdbestimmte politische Exil. Verschiedene Komponenten fließen hier ein: der bis in die spanische Kolonialzeit zurückreichende Mythos einer Prestige versprechenden metropolitanen Kultur, die soziale und kulturelle Abgeschiedenheit in den Herkunftsländern (Garzón Valdés 1982), die Sehnsucht nach einer inneren Distanz. All dies gilt im besonderen Maße auch für die Autoren aus Uruguay, Argentinien und Chile, jenen Ländern also, die sich aus der europäischen Emigration heraus konstituiert haben. Gerade aber für den Cono Sur wäre seit den 70er Jahren ein neues Kapitel der Migrationsgeschichte zu schreiben. Mit den Militärdiktaturen, 1973 in Uruguay und Chile, 1976 in Argentinien, mußte nun auch dort die Erfah-

'Dieses trifft zum Beispiel auch auf die spanischen Schriftsteller der 50er Jahre zu.

4 rung des politischen Exils gemacht werden.2 Die Repression der Militärs führte zu einem Exodus von bisher nicht erlebtem Ausmaß, der nicht nur die Intellektuellen, sondern auch alle übrigen gesellschaftlichen Schichten einschloß. Abermals schien sich in diesem Zeitabschnitt die im hispanischen Kulturraum so verbreitete These einer dialektischen Bezogenheit der politischen und kulturellen Entwicklungen in den Ländern zu beiden Seiten des Atlantiks zu bestätigen (Fernández Retamar 1969): Während die Militärdiktaturen im Cono Sur das demokratische Leben für zunächst unbegrenzte Zeit unterbrachen, trat Spanien infolge Francos Tod (1975) den Weg aus der 40jährigen Diktatur in die Demokratie an. Das vormalige Auswandererland Spanien wurde zum Einwandererland für Verfolgte aus Lateinamerika. Ohne Zweifel war Spanien das Land in Europa, in dem lateinamerikanische Exilanten eine unübersehbare Präsenz im Alltag inne hatten.3 "Partir es morir un poco", wie Carlos Gardel einst gesungen hatte, bewahrheitete sich in seinem Tiefsinn des Banalen: Die zwangsweise Ausreise und die infragegestellte Möglichkeit der Rückkehr lassen den Bruch mit der Vergangenheit, der im Exil erfahren wird, endgültig erscheinen. Wie aber wurde unter diesen Bedingungen des Exils die literarische Arbeit fortgesetzt? Welche Bedeutung kommt dabei dem Umstand zu, daß dies in einem Land mit ähnlichen kulturellen Gewohnheiten und einer gemeinsamen Sprache geschehen konnte? Diese Fragen möchte ich an den literarischen und nicht-literarischen Texten4 von fünf im spanischen Exil lebenden Autoren beantworten: von den Uruguayern Mario Benedetti und Cristina Peri Rossi, den Argentiniern Juan Carlos Martini und Daniel Moyano, dem Chilenen Hernán Valdés.5 Die autobiographischen Erfahrungsberichte der fünf Autoren zugrunde legend, werde ich zunächst den sozialen und kulturellen Rahmen ihres Exils skizzieren. Sodann möchte ich kursorisch nachzeichnen, wie die Exilsituation literarisch verarbeitet wurde. Dabei wäre auch der Frage nachzugehen, ob man der hier behandelten Literatur den Sonderstatus "Exilliteratur" zusprechen muß. Weist diese "lateinamerikanische Exilliteratur" dann auch eine spezifisch spanische Prägung auf? Zur besseren Einschätzung der literarischen Entwicklung in der Emigration werde ich die Schaffensperiode der Autoren vor dem Exil berücksichtigen.

2 In Spanien stellten die Exilanten aus den genannten drei Ländern die größte und wichtigste Gruppe von Einwanderern dar. 'Man kalkuliert, daß zwischen 1979 und 1980 circa 120.000 Lateinamerikaner in Spanien lebten, davon kamen 80.000 aus dem Cono Sur. In Wirklichkeit dürfte die Dunkelziffer der nicht registrierten Personen jedoch wesentlich höher sein, vgl. FOU 1979. 'Presse-Interviews der Autoren und autobiographische Lebensberichte, die sie anläßlich des Exils geschrieben haben. 'Ich berücksichtige nur ihre Prosa.

5 2. Der kulturelle Kontext des Exils 2.1. Der zurückgelassene Kulturraum Mario Benedetti, Juan Carlos Martini, Daniel Moyano, Cristina Peri Rossi, Hernán Valdés — dies sind fünf Namen, mit denen fünf unterschiedliche Lebenswege, literarische Präferenzen und Ausrichtungen verbunden sind. Was diese Autoren eint, ist der allgemeine zeitgeschichtliche Rahmen ihres Exil. Wie aber sah dieser in Lateinamerika aus? Dort ist er in den 60er Jahren von sich — augenscheinlich — widersprechenden Tendenzen bestimmt: nämlich einer verstärkten Internationalisiening des lateinamerikanischen Kulturraums auf der einen und einer Hinwendung der Intellektuellen zu den Bedingtheiten ihrer Länder auf der anderen Seite. Zu der Tendenz eines Aufbruchs aus den nationalen Grenzen hat man sowohl die (durch spanische Verlage vorangetriebene) internationale Vermarktung der lateinamerikanischen Literatur, die vornehmlich im selbst gewählten "kulturellen Exil" entstanden war, als auch die wirtschaftliche und kulturelle Durchdringung Lateinamerikas seitens der USA zu rechnen (Rama A. 1971 u. 1981a). Letztere führte zu einer erheblichen Verschlechterung der sozialen und politischen Lebensbedingungen. Mit der kubanischen Revolution (1959) begann dann die Gegenbewegung: das Engagement der Intellektuellen für die sozialen und kulturellen Probleme ihrer Länder, ohne dabei jedoch den Einfluß der Massenkultur zu negieren, sondern ihn — im Gegenteil — in neuen ästhetischen Ausdrucksformen zu gestalten (Rama A. 1981b). Doch vielfach handelte es sich nicht mehr nur um die kulturelle Verarbeitung sozialer Erfahrungen, sondern um die Integration des Intellektuellen in die politischen Bewegungen der Zeit. Welche Stellung hatten beispielsweise Benedetti und Peri Rossi im kulturellen Leben Uruguays der 60er Jahre? Sie verbindet das politische Engagement im "Frente Amplio", der sich 1970 formierte, um dem fortschreitenden Abbau der uruguayischen Demokratie entgegenzuwirken (Behar 1980). Beide eint auch die kritischen Stellungnahmen zur Wirklichkeit ihres Landes in der Zeitschrift Marcha. In ihrer literarischen Kreativität allerdings könnten beide Autoren nicht unterschiedlicher sein. Seit den SOer Jahren griff Benedetti (*1920) in seiner Prosa, wie zum Beispiel Montevideanos (1959) oder Gracias por el fuego (1981), immer wieder soziale Konflikte der uruguayischen Gesellschaft auf und verstand es, diese dem Leser in populärer Form darzulegen. Hierin liegt sein Erfolg als Bestseller-Autor. Hingegen stand Peri Rossi ('"1944) 1968 am Beginn einer literarischen Karriere. Geprägt von der Lektüre J. Cortázars, J. D. Salingers und F. Hernández' zeichnete sie sich in ihren Arbeiten, Los museos abandonados (1968), El libro de mis primos (1965), durch die Fähigkeit aus, die gesellschaftliche Wirklichkeit auf eine fiktive Ebene zu projizieren, ohne sie ausdrücklich zu benennen.

6 Mit dem Exil trennten sich auch äußerlich die Wege der Autoren: 1972 emigrierte Pen Rossi nach Spanien und zwar Barcelona; Benedetti setzte nach Exilaufenthalten in Argentinien und Pera zunächst seine schon 1968 begonnene Mitarbeit in Casa de las Américas in Kuba fort, erst 1980 schloß er sich dem lateinamerikanischen Exil in Spanien an. Valdés (*1937) kehrte 1971 aus der Emigration in Paris nach Chile zurück, um sich zur Zeit der "Unidad Popular" gesellschaftspolitisch zu engagieren. Mit der Frage einer Integration des Schriftstellers in soziale Bewegungen hatte sich Valdés bereits in seinem Roman Zoom (1971) auseinandergesetzt, in dem er jedoch auch seine Auslandsaufenthalte in der Tscheslowakei und Frankreich sowie französische Literatur verarbeitete. Im Zeitraum von 1971-1973 widmete sich Valdés hauptsächlich seiner Arbeit als Herausgeber der Zeitschrift Cuadernos de la realidad nacional im Institut für Soziologie der Universidad Católica von Santiago de Chile. Während des Militätputsches geriet er in zweimonatige Konzentrationslagerhaft. Durch die Hilfe einer europäischen Botschaft wurde ihm 1974 in England politisches Asyl gewährt. Von dort aus siedelte er nach Spanien über. In Argentinien waren Daniel Moyano und Juan Carlos Martini — völlig unabhängig voneinander — in den 60er Jahren um eine Belebung der Kulturen und Literaturen der Provinzen bemüht. Moyano (*1931) lebte von 1959 bis zum Exil als Musiker und Journalist in der nordöstlichen Provinz La Rioja. Dort hatte er in den 60er Jahren — unter Einfluß der Lektüre von Kafka und Pavese — zu schreiben begonnen und sich als "escritor del interior" einen literarischen Namen gemacht. In seinen Romanen, Una luz muy lejana (1966), El Oscuro (1968), zeigte er die wachsenden Probleme der ländlichen Gebiete auf und suchte in den runden Traditionen einen neuen Rückhalt. Martini ('"1944) hingegen war in seiner Heimatstadt Rosario als Mitherausgeber der Literaturzeitschriften Setecientos Monos und Macedonio tätig, deren Ziel es war, dem kulturellen Leben dieser Stadt durch die Rezeption der jüngeren lateinamerikanischen und europäischen Literatur (Nouveau Roman, Strukturalismus) neue Impulse zu geben. Martinis Lektüren des nordamerikanischen Kriminalromans führten ihn zur kritischen Reflexion dieses Genres in Los asesinos las prefieren rubias (1973) und El agua en los pulmones (1973). Im Gegensatz zu den beiden Nachbarländern, Uruguay und Chile, war die argentinische Situation seit 1955 durch ein ständiges Auf- und Ab ziviler und militärischer Regierungen gekennzeichnet (Waldmann 1982). Der kurzen Redemokratisierung unter Héctor Cámpora wurde 1973 mit der Rückkehr Peróns, der einflußreichsten politischen Figur des Landes, ein jähes Ende bereitet. Ab 1974 nahm die politische Repression erneut zu und löste eine erste Emigrationswelle aus, der sich Martini in Richtung Barcelona anschloß. Moyano geriet mit dem Militärputsch 1976 in zwölfiägige Isolationshaft; nach seiner Freilassung emigrierte er nach Madrid.

7 Wie sah der kulturelle Raum aus, den die Autoren in Spanien vorfanden? Wie kamen sie in ihm zurecht?

2.2. Der "neue" Kulturraum in Spanien Gewiß hatten die Autoren mit der Emigration nach Spanien die besondere Erwartung verbunden, gerade dort eine Kontinuität an kulturellen, vor allem sprachlichen Gewohnheiten bewahren zu können. Doch ihr Wunsch nach der schon vertrauten Fremde erfüllte sich vorerst nicht. Ungeachtet des günstigen Vorzeichens des demokratischen Aufbruchs Spaniens wurden sie besonders in diesem Land mit typischen Migrations-Problemen konfrontiert: mit ungeregelten juristischen Aufenthaltsbestimmungen zum Beispiel, mit beruflichen und sozialen Benachteiligungen. Bedenken wir in diesem Zusammenhang jedoch, daß die Möglichkeiten einer offenen Liberalisierung Spaniens durch die Wirtschaftskrise und dem vorerst intakt gebliebenen franquistischen Machtapparat (Villarejo 1977; Etxezarreta 1979) erheblich eingeschränkt wurden. Die Demokratisierung war zudem weniger an der Intensivierung der Beziehungen zu Lateinamerika, als an einer Modernisierung des Landes nach mitteleuropäischen Vorbildern ausgerichtet. Nachteilig wirkte sie sich zum Beispiel durch die "Reformierung" der Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen auf die Situation des Exils aus. Mit dem Beitritt Spaniens zum UN-Flüchtlingsstatut (1978) wurde die von Franco erlassene Gesetzgebung aufgehoben, die Hispanoamerikanern freie Einreise und arbeitsrechtliche Gleichstellung mit Spaniern gewährte. Lateinamerikaner unterstanden fortan der allgemeinen Ausländergesetzgebung, die — nach mitteleuropäischem Vorbild — die Aufenthaltserlaubnis an den Nachweis eines Arbeitsvertrages koppelte (FIIU 1979). Ein Charakteristikum der Exilsituation in Spanien resultierte gerade aus der franquistischen Gesetzgebung. Man war "freiwillig", das heißt, ohne die Hilfe ausländischer Organisationen nach Spanien gekommen, mußte sich aber auch selbst um die Sicherung des Lebensunterhalts kümmern.6 Ungünstig wirkten sich Demokratie und Wirtschaftskrise vor allem auch auf das kulturelle Leben aus. Die Einsicht, daß mit dem Tode des Diktators jede antidiktaturielle Opposition überflüssig geworden war, lähmte die Kreativität der spanischen Kulturschaffenden. Ihre zaghaften Neuorientierungen wurden vom "desencanto" bestimmt — der Enttäuschung darüber, daß die Demokratie in ihrem Land nicht im Bruch mit der Vergangenheit, sondern in Übereinstimmung mit ihr gekommen war (Vidal Beneyeto 1979). Sicher brauchte diese im Ubergang befindliche Kultur neue Impulse. Seitens der exilierten Intellektuellen konnten sie aber — bedingt durch die instabile Arbeitsmarktsituation und das von regionalen oder

' D i e sich bereits im Land befindenden Exilanten waren mit der Anullierung der franquistischen Gesetze ohne rechtlichen Schutz, zur komplizierten spanischen Ausländergesetzgebung, vgl. F I I U 1 9 7 9 .

8 franquistischen Interessengruppen beherrschte akademische Berufsgenossenschaftssystem — nur allmählich und auf marginalen Wegen erfolgen: in der freien Mitarbeit im Verlags- und Pressewesen zum Beispiel, eine der wichtigsten Erwerbsquellen für exilierte Lateinamerikaner (Rama C. 1979). Die Tatsache, daß es im spanischen Exil vor allem auf die Entwicklung von Eigeninitiativen ankam, spiegelt sich im übrigen auch darin wieder, daß es unter den exilierten Schriftstellern — sieht man einmal von dem nicht sehr aktiven PenClub latinoamericano ab — kein eigenes öffentliches Forum gab. Wohl aber hatten lateinamerikanische Autoren Zugang zur spanischen Presse, Kongressen oder anderen Medien der Meinungsbildung. Da auch Verlagswesen von der Wirtschaftskrise betroffen war, wurde die Publikation von Büchern zunehmend schwieriger. Wie die Autoren die Situation im Einzelnen bewältigten, hing folglich von ihrer je individuellen Befindlichkeit ab. Für Daniel Moyano war das Exil zunächst mit der Erfahrung eines sozialen und literarischen Abstiegs verbunden. Er hielt ihn nicht nur davon ab, in Spanien neue Kontakte zu knüpfen, sondern führte auch zu einer kreativen Krise. Bedenken wir jedoch, daß Moyanos literarischer Name eng mit der argentinischen Region La Rioja verbunden war. Das Exil forderte ihn in besonderem Maße zu einer Lösung aus der engen identiñkatorischen Bindung an diese Provinz heraus. Erst 1981 veröffentlichte er den Roman El vuelo del tigre, es folgten der Emigrationsroman El libro de navios y borrascas (1983) und die Erzählungen María Violin y otras variaciones (unveröffentlicht). Cristina Peri Rossi gelang es die sozialen Entbehrungen des Exils in kreative Impulse umzuwandeln. Sie setzte in Spanien ihre vor der Emigration begonnene literarische Karriere fort. In ihrer Tätigkeit als Journalistin und Übersetzerin war sie an der weiteren Rezeption von lateinamerikanischer Literatur und der Aufarbeitung universeller kulturtheoretischer Fragen beteiligt. Heute zählt man Peri Rossi sogar zu den vielbeachteten "spanischen" Autorinnen. Während des 13jährigen Exils veröffentlichte sie die Erzählungen La tarde del dinosaurio (1976), La rebellión de los niños (1980) und El museo de los esfuerzos inútiles (1983), den Emigrationsroman La nave de los locos (1983) sowie die Lyrikbände Diáspora (1976) und Lingüistica general (1979). Hernán Valdés und Juan Carlos Martini schrieben aus eigenem Entschluß am Rande des spanischen Literaturbetriebs weiter. Wie Peri Rossi wirkte Martini in seiner Tätigkeit als Lektor an der Verbreitung von lateinamerikanischer Literatur und Kriminalromanen mit — im postfranquistischen Spanien ein vorerst unbekanntes literarisches Genre. In der Emigration schrieb er die Romane La vida entera (1980) und Composición de lugar (1983). Valdés hingegen, der in mehreren europäischen Ländern lebte, blieb eine Randerscheinung des spanischen Kulturlebens. Unter anderen Bedingungen setzte sich für ihn im Grunde sein intellektuelles Vagabundentum vor dem Exil fort. In Spanien schrieb er Tejas verdes (1974) und den Roman A partir del fin (1981).

9 Eine Sonderstellung nahm sicherlich Mario Benedetti ein. Als bekannter Autor fand er sofort Anschluß an das öffentliche Leben Spaniens, zum Beispiel in der wöchentlichen Kolumne im El Pafs. Desweiteren publizierte er den Emigrationsroman Primavera con una esquina rota (1983) und den Kurzgeschichtenband Geografias (1985). In seinen Romanen vor der Emigration hatte Benedetti die uruguayische Gesellschaft noch im Zustand eines selbstgenügsamen "inneren Exils" gezeichnet. Im nun historisch gewordenen Exil wird für ihn die Dokumentation der "realen" Probleme dieser Situation bedeutsam. Dem Grundsatz — "trato de hacer puente entre los Uruguayos dentro y fuera del pafs" (Benedetti 1980, 46) — folgend, verpflichtet er sich, das durch Exil und Repression zerstreute Uruguay öffentlich und literarisch zu vertreten.

2.2.1. Kulturelles Selbstverständnis und "Exilliteratur" Es ist jedoch der vor und während des Exils politisch äußerst engagierte Benedetti, der uns auf eine weitere Doppelbelastung, wenn nicht gar einen Widerspruch im Selbstverständnis des exilierten Schriftstellers hinweist: die Frage nämlich, inwieweit dem im Exil schreibenden Autor besondere politische Aufgaben zufallen (Benedetti 1980). Muß er seine Arbeit ganz der Politik unterordnen? Wie aber rechtfertigt er sich dann gegenfiber der Literatur? Zwar sprechen sich die Autoren in den ersten Emigrationsjahren für eine politisch engagierte Literatur aus, welche die Unrechtregime in den Herkunftsländern unmißverständlich zu dokumentieren habe (Martini 1983; Peri Rossi 1978; Vald6s 1974, Vorwort). Gleichzeitig geben sie zu bedenken, daß sie der Ortswechsel zu Distanzierungen von der literarischen Arbeit vor dem Exil veranlaßt habe. Die bisher geschriebenen Bücher wurden nun mit fremdem Blick betrachtet: "...me parecia que era un texto que solamente podfa ser entendido dentro de la realidad donde habfa sido escrito" (Peri Rossi 1978, 28); "El viaje, la distancia me cambiaron la perspectiva del libro" (Martini 1982, 31). Das vermeintliche Eigene relativiert sich in der Konfrontation mit dem anderen Land. Peri Rossi und Moyano präzisieren diesen Aspekt mit der Erfahrung, ein vertrautes Lesepublikum verloren zu haben. Sie erinnern an ihre Sorge, in den ersten Emigrationsjahren, von der anderen Leserschaft nicht verstanden zu werden. Hierbei werden die unterschiedlichen Varianten des in Lateinamerika und Spanien gesprochenen "castellano" als mögliche Verständigungsbarriere in Erwägung gezogen (Peri Rossi 1978). Es ist aber auch bereits eine andere, über das Emigrationsland hinausreichende (Weltöffentlichkeit gemeint, von der man sich zur Rechtfertigung herausgefordert sieht (Moyano 1983a). Ab 1980 rückte der Begriff "Exilliteratur" in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Mit dieser Bezeichnung konnotierten die Autoren die Konzeption eines literarischen Realismus, der zum anklagenden Pamphlet verpflichtet und sich darauf beschränkt, die gegebenen Verhältnisse einfach abzuschildern, ohne sie in einem

10 universellen Fundus an menschlichen Problemen zu transzendieren (Valdés 1983; Peri Rossi 1981). Wir bemerken, daß sich die Angst vor dem anderen Publikum in der Befürchtung konkretisiert, einem implizit vorausgesetzten internationalen Literaturniveau nicht mehr Genüge zu leisten. In der Tat forderte in dieser zweiten Emigrationshälfite der dem Exil vorausgegangene sogenannte "Boom" der lateinamerikanischen Literatur zur Definition eines eigenen kulturellen Selbstverständnisses heraus. Unter Berufung auf die international anerkannten Repräsentanten des literarischen Lebens des Kontinents nahmen die Autoren einen "neuen Universalismus" für sich in Anspruch, der besonders die Rückbesinnung auf die freie und individuelle Kreativität des Schriftstellers einschloß (Valdés 1983; Peri Rossi 1981; Moyano 1983c). Man distanzierte sich ferner von den einseitigen Etikettierungen, die in Europa/Spanien vom "Boom" ausgegangen waren und die zur Darstellung ausschließlich eines Problemkreises — lateinamerikanischer oder exilkultureller Art — verpflichteten: "La narrativa de los latinoamericanos residentes en Europa incorpora nuevos escenarios como el Mediterráneo o París ..."(Peri Rossi u. Martini 1983). Damit gewinnt die lateinamerikanische, in einem weiteren Sinne auch die spanische Exil- und Emigrationstradition neue Bedeutung. Sie werden als symbolische Referenz für die eigene Situation angeführt: "Desde Sarmiento hasta Cortázar, las obras más famosas argentinas siempre se han escrito fuera del país" (Moyano 1983c). Die Problematik des politischen Exils geht in die Dimension einer kulturellen Emigration über. Sind diese Worte nun gleichzusetzen mit der Existenz einer literarischen "Exilkultur"? Betrachten wir die Texte hierzu in einem Überblick.

2.2.2. "Exilliteratur": Kultur im Übergang Der Wandel im kulturellen Sebstverständnis läßt sich auch in der Entwicklung der literarischen Arbeit nachvollziehen. Ohne Zweifel steht die Retrospektive der Probleme Lateinamerikas nach wie vor an exponierter Stelle. Ihr widmen sich Valdés, Martini und Moyano in den kurz nach der Emigration entstandenen Arbeiten. Die Aufarbeitung der Lateinamerika-Erinnerungen zentriert sich hauptsächlich in zwei zeitgeschichtlichen Momenten: a) die politischen Bewegungen, die dem Exil vorausgingen; sie werden in den Romanen La vida entera und A partir del fin erörtert; b) die neue Ära der Militärdiktaturen, explizit wird sie in Tejas Verdes und El vuelo del tigre behandelt. Die rückblickende Ausrichtung des literarischen Schaffens ist aus der Exilsituation heraus nur allzu verständlich: Durch den zwangsweisen Abbruch der Lebenskontinuität muß die Vergangenheit notwendigerweise aufgearbeitet werden. Allerdings stellt die Bestandsaufnahme des Vergangenen keineswegs die allgemein verbindliche Regel dar. Dies zeigt die Entwicklung von Peri Rossi und Benedetti. Obwohl sich beide Autoren immer wieder auf die Situation unter den Militärdiktaturen beziehen — so zum Beispiel in den verschiedenen

11 Kurzgeschichten in La tarde del dinosaurio, La rebelión de los niños und Geografîas — , setzen sie sich schon zu Beginn der Emigration mit der Exilsituation auseinander. Diese rückt für Moyano, Martini und Valdés erst in der zweiten Emigrationshälfte (ab ca. 1980) in den Mittelpunkt. Von allen fünf Autoren liegen aus diesem Zeitraum Romane über die Emigration vor. Führte die Revision die Autoren nun zu einer Neubestimmung des Verhältnisses zu den Herkunftsländern?

3. Aspekte der historischen Revision: Wandel in der Kontinuität 3.1. Gründungsthema als historisches Paradigma In der historischen Revision geht es den Autoren auch weniger um die Anklage eines Ist-Zustandes der politischen Repression. Vielmehr suchen sie nach Gründen für die Exzesse der Gegenwart. Die Recherche führt sie vorerst zu den Fehlentwicklungen in der lateinamerikanischen Geschichte zurück. Von beispielhafter Bedeutung ist in den Texten von Martini, Moyano und Valdés das Thema der nationalstaatlichen Landesgründung nach der Unabhängigkeit. Mit ihm stehen die Autoren noch ganz in der Tradition der lateinamerikanischen Erzählliteratur und den von ihr ausgebildeten Interpretationsparadigmen: der Perspektive kolonialer Fremdbestimmung und der Dichotomie Zivilisation-Barbarei. In Martinis La vida entera beginnt die historische Zeitrechnung mit der Gründung des imaginären Städtchens Encarnación durch den Alacrán, einem ehemaligen "colono" und Viehbesitzer. Nur vage erinnert das dekadente, großbürgerliche Dekor — "enclenques candelabros de bronce, señales de un pasado mejor" (Martini 1981, 76) — an die "belle époque", die noch in eine bessere Zeit zu weisen schien. In den Intrigenkämpfen, die sich um das Ableben des Potentaten ranken, kreiert Martini die Vision einer zukunftslosen Gesellschaft. Valdés, der in A partir del fin die Diskussionen der chilenischen Intellektuellen während der "Unidad Popular" um die "Dependencia" zur Sprache bringt, präzisiert die historische Perspektive, die im Gründungsthema angelegt ist: Der Beginn der Nationalstaatlichkeit koinzidiert mit der vollständigen Integration Chiles in das britische Handelsimperium gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Kultureller Ausdruck des Gründungsaktes ist, wie Valdés in den Betrachtungen der Altstadt von Santiago de Chile zu bedenken gibt, der Ausbau der Hauptstadt zur Immitation der europäischen Metropolen. In ihrem unermeßlichen Streben nach Selbstdarstellung maskierten die chilenischen Landes-"Väter" die nationale Wirklichkeit mit fremden, europäischen Kultur- und Denkmodellen. Moyano führt in diesem Zusammenhang direkt den (argentinischen) Zivilisations-Barbarei-Konflikt an; er beklagt die Ausrottung der landeseigenen Ethnien und Gebräuche im Zuge der "población del desierto" (Moyano 1983a). Deutlich zeigt sich hier die besondere dialektische Beziehung, in die sich dieses Exil einschreibt: Das Erkennen des Einen verweist auf das Andere. Auch die Revision des Exils steht noch in dem bipolaren

12 Spannungsfeld, Lateinamerika-Europa. Und in der Tat erscheint die Lateinamerikaproblematik — nach dem Motto "asf que ya antes de salir estabamos en el exilio" (Moyano 1983a, 24) — als umfassende historische, kulturelle und symbolische Referenz auf das Exil. Es ist dieses gewaltsame Verkennen des heute fremden Eigenen, das uns die Autoren als historische Wurzel der politischen Repression beschreiben. Erwähnt werden muß an dieser Stelle bereits Benedetti. Er betreibt keine historische Ursachenforschung und kann daher am Ideal eines uruguayischen Patriotismus festhalten, der symbolisch durch den Freiheitskämpfer Artigas verkörpert wird (Benedetti 1983). Gleichwohl stimmt Benedetti mit den anderen Autoren in der Bewertung der Ära der Militärdiktaturen überein. Die Autoren präsentieren sie uns keineswegs als grundsätzlich neuen Geschichtsabschnitt, sondern eher als Bestätigung altbekannter Wahrheiten. Natürlich werden die Militärs mit der spanischen Kolonisation und ihren Symbolen Schwert und Bibel in Verbindung gebracht. Der Rückschritt in die Kolonialzeiten bildet den großen kulturellen Rahmen der Exilsituation. Vorrangig ist es jedoch die nationalstaatliche Gründung und der damit einhergehende Glaube an den Fortschritt durch rationale Beherrschbarkeit der Welt, in der die Ursache der gegenwärtigen Situation gesehen wird (Moyano 1981; Peri Rossi 1976, 43ff). In der heute vertrauten Umkehrung der Dichotomie von Zivilisation-Barbarei stellt die Militärdiktatur das vorläufige Endstadium einer von den Städten ausgehenden "Barbarei der Zivilisation" dar. In dem sich kontinuierlich fortsetzenden historischen Interpretationsparadigma ist bereits ein Perspektivwechsel festzustellen. Er betrifft die politischen Bewegungen, die dem Exil vorausgingen. Unerbittlich geht wiederum Valdis mit den ehemaligen Vorstellungen von der lateinamerikanischen Revolution zu Gericht. In der Figur des Hache, dem Protagonisten von A partir delßn, kritisiert er den Exotismus der politischen Ideale. Als sich Hache 1970 in der Altstadt Santiagos niederließ, um in der geschichtsträchtigen "alten" Fassade eine "neue" Wiklichkeit zu fundamentieren, wiederholte er im Grunde nur die eurozentrische, utopische Schwärmerei für die "Neue Welt". Trug er sich doch mit der Sehnsucht, die chilenische Revolution werde den Akt der liberalen Stadtgründung rückgängig machen und das Rousseausche Paradies einer "soledad primitiva" verwirklichen (Vald6s 1981, 17). Aus der Distanz des Exils erscheinen die politischen Massenveranstaltungen als ritualisierte und deshalb sinnlose Machtdemonstrationen. Vald6s und Martini parodieren das bei diesen Gelegenheiten zur Schau gestellte Heldenpathos der (neo-)populistischen Führer und entlarven deren Appelle an Ehre, Märtyrertum und Loyalität als konservative Moralvorstellungen, die sich im übrigen recht wenig von den Diskursen der neuen Machthaber unterscheiden. Nicht immer ist die Aufrechnung eines politischen Fehlverhaltens so radikal wie etwa bei Vald£s. Moyanos Revision des ehemaligen Ideals einer indigenen Volkskultur beispielweise ist von Selbstzweifeln bestimmt. In El vuelo del tigre sucht er

13 noch in der Kreation eines indianischen Mythos eine ethische Antwort auf die politische Repression. In dem Emigrationsroman El libro de navios y borrascas zeigt sich dann, daß die vermeintliche Indianität zur Konstitution einer Identität im Exil nicht tauglich ist: "Che, no se imaginan cómo me gustaría ser un indio peruano. Y tener una de esos sombrerítos que usan para bailar o tocar la quena" (Moyano 1983a, 142), meint die weiße Exilantin Sandra. Die indianische Vorstellungswelt ist zur Exil-Folklore geschrumpft. Obwohl der Konflikt der Auflösung vormaliger politischer Ideale im Mittelpukt von Benedettis Primavera con una esquina rota steht, kann der Autor nicht umhin, Kuba seine Referenz zu erweisen. Nach wie vor stellt er uns die sozialistische Insel als Garanten der lateinamerikanischen "patria grande" vor, wo gerade auf den politischen Massendemonstrationen jene Lebensfreude der 60er Jahre noch präsent ist (Benedetti 1983, 62).

3.2. Die Introspektion und die Frage nach dem Anderen In die Lateinamerika-Erinnerungen fließen jedoch auch bereits Exilerfahmngen ein. Zumindest bestärken diese eine existentialistische Deutung des Zeitgeschehens. Es sind garnicht so sehr konkret benennbare Bilder, in denen die Autoren auf die neuen politischen Verhältnisse anspielen. Sie evozieren die Militärs als Machthaber ohne Antlitz, eine abwesende Macht, die ob ihrer Abwesenheit umso präsenter ist: Auf sie kann nur noch suggestiv in der Kreation von Stimmungsbildern einer bedrohlich-grotesken Wirklichkeit verwiesen werden. Bestimmend ist die Reflexion des Zeitgeschehens in meist recht intimen Alltagserfahrungen. Vom Gründungsmotiv übernommen wird also vor allem die archaische Analogie von Staaten- und familiärer Sippengründung. Peri Rossi und Moyano inszenieren ein (scheinbar) beschauliches Idyll des familiären Beisammenseins, das sich durch die Anwesenheit von Kindern ins Bedrohliche verkehrt (Peri Rossi 1983 u.1985; Moyano 1983b). Protagonisten der literarischen Welt Martinis und Valdés sind mehr oder weniger undurchschaubare Abenteurer. Benedetti und Martini versinnbildlichen die Verhältnisse in den Herkunftsländern in Liebesbeziehungen. Es liegt nahe, diese Vorstellungswelten auf die besonderen Bedürfnisse der Vergangenheitsbewältigung im Exil zurückzuführen. Die Unsicherheit, die in dieser Situation erfahren wird, weckt den regressiven Wunsch nach einer beschützenden Ordnung, dergestalt wie man sie in der Kindheit aufbewahrt glaubt (Grinberg 1984). Schließlich binden sich Erinnerungen an das eigene wie fremde Land an die menschlichen Beziehungen, die man dort eingegangen ist (Peri Rossi 1983). Mit dem Exil ist die Frage nach der Konstitution von Identität erneut aufgeworfen: Ins Exil gehen heißt, so Peri Rossi und Moyano, ein zweites Mal geboren werden, sich der Qual des Erwachsenwerdens noch einmal unterziehen (Peri Rossi 1979, 18; Moyano 1983a, 51). Doch diese emigrationspsychologische Interpretation greift als

14 Erklärung der vielschichtigen Vorstellungsstmkturen zu kurz. Sie wurden von den Autoren ja nicht erst mit dem Exil erfunden, sondern gewissermaßen als literarisches Reisegepäck in die Emigration mitgebracht. Auch hier ist also Kontinuität im literarischen Schaffen sichtbar. Von daher ist ihnen im Rahmen des Erzählens im Exil noch eine andere Funktion zuzusprechen, denn sie erlauben die sozialen Erfahrungen in universellen (menschlichen) Konflikten zu vermitteln und damit ein gewisses Niveau an Allgemeinverständlichkeit- und Gültigkeit zu bewahren. Durch die Asthetisierung der Geschehnisse in Stimmungsbildern des Grotesken oder Phantastischen kann die allzu triviale Denunziation der politischen Gewalt umgangen werden. An ihre Stelle tritt die Introspektion, welche die Überprüfung und Infragestellung des eigenen Standpunktes ermöglicht. So ist in der Subjektivierung der Geschichte das Eingeständnis eines Scheiterns zu lesen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse präsentieren sich unter dem Aspekt totalitärer, weil bereits verinnerlichter Machtstrukturen. Die Militärs fungieren im literarischen Diskurs als Metaphern eines nicht mehr benennbaren Anderen (Peri Rossi 1983, 24). Das Eigene ist immer schon das Fremde. Der zeitgeschichtliche Hintergrund dieses Wissens um das "Abwesende" ist das ethische Problem der "desaparecidos", das die Exildiskussionen ab 1978 bestimmte und die Autoren vor die Frage einer moralischen Mitverantwortung stellte (Viñas 1979). Wie die Autoren die Vielschichtigkeit der Motivstrukturen verarbeiten, wie sie sich darin aber auch mit der Exilsituation auseinandersetzen, sei im folgenden skizziert. Peri Rossi inszeniert die kindliche Wahrnehmungsperspektive im Sinne einer Kritik an der wiedererstarkten konservativen Ordung. Die Alteritätsfrage kommt hierbei strukturell zum Tragen, denn erzählt wird "im Medium des Anderen": Das Kind, das erwachsen sein soll und der Erwachsene, der Kind sein will, sind zwei verschiedene Formen derselben chiastisch aufeinander verweisenden Beziehimg. Die Kinderfíguren Peri Rossis sind monsterhafte Erwachsene, kleine barbarische Wissenschaftler, aufgeklärte Despoten, die mit analytischem Verstand und kreativer Phantasie gegen eine obsolete Normen-Gesellschaft vorgehen. Einer der clownesken Effekte der kindlichen Aktivitäten besteht im dem naiven Beharren auf empirischer Beweisführung des häufig nicht Beweisbaren, da es sich um Konventionen handelt. Derart kann die Welt in ihren philosophischen Grundfesten (Zeit, Sprache, Begehren) hinterfragt werden, wobei das Kind eine phantastische, "andere" Welt entdeckt, aus der sich zumeist politische Botschaften herleiten. Das Sterne zählende Kind in der Erzählung "Vfa láctea" erhält nicht nur eine Vorstellung vom Unendlichen, sondern auch von den "desaparecidos" (Peri Rossi 1980). Andereseits ist das Kind satirischer Vexierspiegel eines repressiven, weil lustfeindlichen Verhaltens der Erwachsenen. In den Unternehmungen des Pablo, der in "Pico blanco y alas azules" den Boden des Gartens inspiziert — "ensayó varios procedimientos de tortura que disfrutó con una mezcla de ingenuidad y perversión rigurosamente adultas" (Peri Rossi 1980, 68), — zeigen sich die Aktionen der im Hintergrund des Tableaus

15 Häuser durchsuchenden Soldaten. Beide unterwerfen sie sich die Welt, um ihr so an Fremdheit zu nehmen. In den uruguayischen Arbeiten behauptete sich der kindliche "guerrillero" noch unverhfillt in einer anarchistischen Subversion der erwachsenen Gesellschaft, die ihm in poetischen (Wort-)SpieIen gelang (Peri Rossi 1969). Im Exil hat das Kind die Sprache der Herrschenden angenommen, dies gleichwohl um deren Welt von innen heraus zu "zerreden". In Moyanos (literarisierten) Erinnerungen an die Kindheit im Argentinien der 40er Jahre liegt die Betonung auf der Verklärung einer "verkindlichten" Idylle. Der lieblich-vemiedlichende Sprachduktus der Ich-Erzähler (Diminutive) ist gerade das Groteske, in dem sich ihr illusionäres Beharren verrät: "Pobre tía Lila con su vestido blanco, tan alta, tan soltera. Un vestido en el que trabajaron todas las costureras de las sierras para plisarlo y darle esa forma de campana ondulante ... o puro remolino si bailaba, el vestido se abría y giraba como el remolino donde se ahogó el tfo Jacinto" (Moyano 1983b, 1). Die Wunderwelt aufbauend, wird in Wahrheit ein Entzug dargestellt. Unter dem alles verschlingenden Kleid der tía Lila gibt es kein Entkommen, es erweist sich als groteske Maske des Todes. Die Illusion verkehrt sich in Desillusion. Wohl sucht auch Moyano in der Kindheit nach den Gründen eines späteren politischen Fehl Verhaltens, der Irritationseffekt des Phantastischen beschränkt sich bei ihm jedoch auf die (evasive) Indikation eines Schrekkens. Unheilverkündend weist das Kleid der Tante, das in der Erzählung durch provozierende Kinder mit dem Blut einer Kröte beschmutzt wird, auf eine ferne, aber abgeschlossene Zukunft hinaus: "La tía Lila sin saber que nosotros seguiríamos matando sapos" (Moyano 1983b, 7). Auf diese Weise thematisiert Moyano den Entzug im doppelten Sinne: als Verlust der Referentialität zur Welt, der sein Schreiben im Exil zur Trauerarbeit werden läßt, und als Verlust eines sinnstiftenden Weltbildes. Im Exil akzentuiert sich der von Kafka beeinflußte Vater-Sohn-Konflikt, welcher dem Entwurf der kindlichen (Anti-)Helden dieses Autors zu Grunde liegt. Und wie bei Kafka begründet er sich in der nicht eingelösten bikulturellen Identität des Erzähler-Ich, denn es ist die Abwesenheit der indianischen (göttlichen) Botschaft, die beklagt wird, und das Wissen um die tödliche Verstrickung in die abendländische Zivilisation, das Moyanos Erzähler zu Schuldigen macht. Um die Auseinandersetzung mit Schuldgefühlen, die Suche nach den Gründen der Anklage durch die Militärs, geht es auf einer autobiographischen Ebene auch in den Arbeiten von Valdés. Die Ästhetisierung und Subjektivierung der Geschichte können zu einer Mystifikation oder Idealisierung der Herkunftsländer fuhren. In Benedettis Primavera con una esquina rota ist solch eine Idealisierung allzu offenkundig. Als Repräsentant des uruguayischen Volkes — selbst fast schon eine Vaterfigur der Exilanten — ist Benedetti darum bemüht, seinen Lesern noch positive Identifikationsperspektiven anzubieten. So erklärt er in Primavera con una esquina

16 rota den Konflikt einer im Exil nicht mehr aufrechtzuerhaltenden Loyalität gegenüber dem Herkunftsland am Beispiel einer durch die Repression zerrissenen (Familien-)Paarbeziehung. Wie schon in den uruguayischen Romanen (Benedetti 1981), versinnbidlichen die verschiedenen Figuren bestimmte soziokulturelle Momente der uruguayischen Gesellschaft. In einer an sich belanglosen, Alltagswirklichkeit scheint somit eine weitergehende, symbolische Bedeutung auf. Die in Spanien lebende Graciela, eine Sekretärin, die im Exil bereits wieder ein recht gutes Auskommen gefunden hat, ist Vertreterin der uruguayischen Mittelschicht, die schon immer im Zentrum der literarischen Mythologie des Autors gestanden hat. Auch in der Emigration empfindet Graciela wieder jenen Überdruß an der stumpfsinnigen Routine, der für die Protagonisten des Autors so charakteristisch ist. Gracielas Ehemann, Santiago, der im Gefängnis von Montevideo einsitzt, ist Vertreter des politisch bewegten Uruguays der 60er Jahre. Im alles verändernden Exil verliebt sich Graciela jedoch in Rolando Asuero, der als "habitué de quilombos en primera instancia" (Benedetti 1983, 102) das unpolitische Uruguay der Tango- und Frauenhelden verkörpert. Den Stereotypien einer nationalen Wirklichkeit widerfährt eine weitere Idealisierung, denn Benedetti findet in der geistig wie köperlich vollkommenen Liebe zwischen Rolando und Garciela eine Antwort auf das Exil und die Repression. In der Ethik dieses Autors erfüllt sich die Alteritätsfrage noch im zwischenmenschlichen Miteinander, in dem jedoch auch der "Macho", versehen mit den Attributen einer nationalen Folklore, wieder zu seinem Recht gelangt. Obwohl Martini von einer ähnlichen paternalistischen Symbolik inspiriert ist, setzt er sie doch ganz anders um. In seinem Roman La vida entera wird im übrigen deutlich, daß die Asthetisierung und damit verbunden die Verkürzung der historischen Epik auf die räumlichen Distanzierungen durch das Exil zurückgeht. Das urprünglich realistisch angelegte Projekt zu diesem Roman wurde im Exil aufgegeben. Martini literarisiert den historischen Erlebnishintergrund seiner Geschichte, die politischen Intrigenkämpfe der letzten Phase des Peronismuns vor dem Militärputsch, in der Parabel der Spieler- und Prostituierten Kleinstadt Encarnación. Der gesellschaftliche Macht- und Intrigenkampf reduziert und verallgemeinert sich in der archaischen Konfliktsituation des männlichen Macht- und Liebesbegehrens. Aus Eifersucht, so die ebenfalls recht sterotype Fabel, führte der allmächtige Alacrán in seiner Stadt die Prostitution ein. Am Ende seines Lebens verfügt er über keinen legitimen Erben, der seine Macht über den Tod hinaus fortsetzen könnte. In der existentiellen Bedrohung widerfährt Martinis Protagonisten im Exil eine Humanisierung. Man könnte sogar von einer Exotisierung der lateinamerikanischen Wirklichkeit im Negativ-Topos des ewig Bösen einer ungebändigten Natur sprechen, wie dies ja auch das Tangozitat des Romantitels La vida entera nahegelegt. Dennoch ist die moralische Kritk nicht allzu wörtlich zunehmen. In der Erbschafismetaphorik ist die Frage nach der Genese einer symbolischen Ordnung aufgeworfen, die das Herrschaftsbegehren rechtfertigen würde. Die Konstitution einer solchen Ordnung betrifft in erster Linie auch die eigene literarische Arbeit. In der von Lacan beein-

17 flußten Konzeption des absurden Liebesbegehrens bei Martini ist eine derartige Rechtfertigung von vorherein ausgeschlossen. Das Begehren kann, ohne sich selbst aufzuheben, zu keiner Erfüllung gelangen und deshalb vermag die Schrift diese "letzte Wahrheit" (Martini 1987) niemals einzuholen. In der nicht mehr vollziehbaren Liebesvereinigung thematisiert sich also das Scheitern des Emigranten und Kolonisatoren in der Neuen Welt. Obgleich auch Martini mit Stereotypien aus der Populärliteratur arbeitet, ist ihm an einem Hinterfragen der vertrauten Wahrnehmungsschablonen gelegen. In La vida entera geschieht dies noch in der Rekreation der politischen und kulturellen Mythen Argentiniens (populistische Führer, Tangomythologie). Sie werden entweder surreal verfremdet oder nach dem Prinzip des Fotorealismus parodiert und somit in ihrer Allgemeingültigkeit aufgebrochen. In Composición de lugar reduziert sich die Fabel dann ganz auf die Konstruktion der individuellen Lebensgeschichte des Emigranten Juan Minelli. Die Einschränkung der historischen Epik erfolgt zu Gunsten einer Thematisierung des literarischen Kreationsvorganges: Das Erzählen von "Geschichte" wird zur Reflexion und Infragestellung der narrativen Konstitution einer Geschichte. In ihrer Negativität bleiben Martinis Texte appellativ auf die traditionellen Topoi des Nationalen bezogen (Boden-, Verwandtschaftsbindungen), deren Nicht-Existenz sie beklagen und somit einer unerfüllbaren Sehnsucht nach Heimkehr Ausdruck verleihen. Wie aber gestaltet sich — in Anbetracht dieser inneren wie äußeren Distanzierungen gegenüber den Herkunftsländern — das Verhältnis zum Emigrationsland Spanien?

4. Die schon gelesene Reise He leído todos los viajes posibles en los libros ... este viaje ya lo leí más de cinco veces (Peri Rossi 1985, 15) Emigrationen, Exile führen nicht ins eigenschaftslose Unbekannte. Literatur, mündliche Überlieferungen und Massenmedien bewirken, daß wir uns immer schon ein Bild von der Fremde gemacht haben, ehe wir sie kennenlernen. Dies gilt um so mehr, wenn sich exilierte Schriftsteller aus dem Cono Sur auf die Reise begeben, die durch ihre Bildung und familiäre Bindungen zu den ehemaligen Emigranten und Exilanten in ihren Herkunftsländern mit der europäischen, beziehungsweise spanischen Kultur besonders vertraut sind. Die Möglichkeit, die Erfahrungen in dem anderen Land einem Vorwissen einzufügen, in der Fremde Eigenes wiederzufinden, ist ohne Zweifel eine Besonderheit der Beschreibungen des Exilerlebnisses in Spanien.

18 So literarisieren die Autoren ihre Erfahrungen auch in Bildern, die zu den traditionellen Topoi der Spanien-(Reise)Literatur gehören. Da das Fremde in diesem exil-literarischen Diskurs nun einmal das Eigene ist, kehrt der Protagonist Rolando in Moyanos Emigrationsroman El libro de navios y borrascas als Enkel und Urenkel ehemaliger spanischer Emigranten und Exilanten in die "madre patria" heim (Moyano 1983a, 155). Die Erfahrung des spanischen Exils von 1936 in Lateinamerika bildet den sozialgeschichtlichen Hintergrund dieser symbolischen Heimkehr zu den Stätten der Vorfahren, in der zugleich ein Ironisieren des Scheiterns an der eigenen gesellschaftlichen Utopie vorliegt. Der Hispanismus bleibt eine externe, aus Lateinamerika mitgebrachte Spanienprojektion. Der spanische Exilant — Sinnbild des hispanischen Humanismus — kontrastiert mit exotisch-grotesken Indianerfiguren, die das Emigrationserlebnis als Rückschritt in kolonialzeitliche Barbarei ausweisen. In der Erzählung "La influencia de E. A. Poe en la poesía de Raimundo Arias" von Pen Rossi (1985) erbettelt das Exilantenkind Alicia in einem indianischen Faschingskostüm auf Spaniens Straßen Almosen, um die Not ihres Exils zu lindern. Anspielungen auf den Topos des in Spanien noch immer gegenwärtigen Mittelalters entnehmen wir auch Martinis Compositión de lugar (1984, 50) und Moyanos Erzählung "Al otro lado del mar" (Moyano 1983b). Uber diese Klischees hinaus gibt es keine Charakteristika, die den spanischen Kulturraum als solchen kennzeichneten. Benedettis Primavera con una esquina rota trägt sich in der überall gleichen Intimssphäre einer (Madrider) Wohnung zu. In Peri Rossis La nave de los locos und Martinis Compositión de lugar sind das Mac Donald an der Ecke, Bahnhöfe, Flughäfen, Hotelzimmer Bestandteile der Urbanität des 20. Jahrhunderts, deren Stadtszenarien austauschbar geworden sind. Diese Art von Exilerlebnis ist nicht mehr nur auf den spanischen Kulturraum begrenzt, sondern jeder Zeit und allenorts abrufbar. Keiner der Romane spielt deshalb ausschließlich in Spanien. Martini verschränkt in Composición de lugar die Topographien Italiens, Spaniens und des Rio del Plata-Deltas; Benedetti erinnert in Primavera con una esquina rota an die verschiedenen Länder, die ihm Exil gewährten, und Peri Rossi nivelliert in La nave de los locos die nationalen Unterschiede zu einem eigenschafts- und endlosen Raum der Emigranten. Spanien stellt in der dort entstandenen lateinamerikanischen Literatur einen Referenzpunkt dar, aber durchaus nicht den einzigen. Geo- und topographische Unterschiede heben sich in dieser "Exilliteratur" auf (Daus 1985, 89). In der Tat ließe sich aus dem kosmopolitischen Reisebewußtsein die Tendenz einer abermaligen Internationalisierung (Losada 1983) der lateinamerikanischen Literatur ableiten. Die Standpunkte der einzelnen Autoren seien nochmals differenziert. Für Benedetti bleibt das Weltbürgertum ein politisches; er beachtet jene Länder, in denen dem uruguayischen Volk einmal Solidarität zuteil wurde. Die anderen Autoren setzen die Tradition der kulturellen Bildungsreise fort, für die Cortázars Rayuela nach wie vor paradigmatisch ist. Relativ direkt ist Martinis Composición de lugar von der "Himmel-Hölle'-Dichotomie Cortázars

19 inspiriert. Die italienische "ciudad blanca", Welt des Geistes, kontrastiert mit der spanischen "ciudad de los altos campanarios", Welt einer hispano-argentinischen Gewalt. Es ist vor allem Pen Rossi, die den Gedanken einer imaginären Kulturreise entwickelt, in der sich der universelle Raum des Exils als intertextuelles und kulturelles Zitat gestaltet (Peri Rossi 1979). Die Bilder Breughels oder Max Ernst stimulieren das imaginäre Vagabundieren, das eigentlich keiner Ortsveränderung mehr bedarf. Die Zunahme einer intertextuellen Referenzialität (Pfister 1982) hat man indessen nicht nur für die Texte Peri Rossis festzustellen. Im allgemeinen ist in dem "Zitat" der europäischen wie lateinamerikanischen Literatur eine spezifische Art von Vertrautheit mit den anderen Ländern ausgedrückt, wobei das literarische Vorwissen die Wahrnehmung der Fremde leitet (Moyano 1983a, 65). Nach Art des Déjà-vu-Erlebnisses kann so überall ein wenig Vertrautes wiedergefunden werden, ohne die verstreuten Identitätszeichen jedoch in einem neuen Heimatbewußtsein zu vereinen. Die dem Déjà-vu eigene innere Weltdistanz bestärkt im Gegenteil das Gefühl des Fremdseins. Das Vagabundieren durch das Europa der prestigereichen Namen wird zur Reise zwischen den Welten, im Bewußtsein weder der einen noch der anderen — ohne Vorbehalte — anzugehören. Ist der Begriff "Exilliteratur" als eigenständige literarische Kategorie dann noch gerechtfertigt? Betrachten wir hierzu die ästhetische Struktur von Fragment und Collage.

5. Das Besondere im Allgemeinen: Die ästhetische Struktur der Texte Die Fragment- und Collage-Struktur gehört zu den hervorstechenden ästhetischen Merkmalen der Texte. Die Autoren erzählen keine Geschichten mit kohärenten Handlungsabläufen, sie muten uns eine heterogene Ansammlung von episodenhaften Einzelgeschichten zu; offensichtlich ist jede Kausalität aufgehoben. Die Fragmentstruktur scheint mir zur Verdeutlichung der doppelten, ja dreifachen Konditionierung des Schreibens im Exil besonders geeignet. Sie kann auf die spezifischen Bedürfhisse des Erzählens im Exil zurückgeführt werden. So entnehmen wir zum Beispiel den Romanen El libro de navios, El vuelo del tigre, La vida entera oder A partir del fin eine erhöhte emotionale Anteilnahme der Erzähler am Textgeschehen. Sie läßt sich an der Rücknahme der hypotaktischen Satzstrukturen zu Gunsten parataktisch gereihter Endlossätze oder einem syntaktischen Pointiiiismus nachweisen. Die Folge ist, daß den Erzählern der rote Faden ihrer Geschichte häufig verloren geht. Sie selbst gestehen dieses Scheitern an der "Geschichte" in ihren ausführlichen metaliterarischen Überlegungen ein. Allerdings ist die Fragmentstruktur nicht allein durch das subjektivierte Erzählen bedingt. Peri Rossi schränkt den assoziativen Nominalstil, der ihre Texte vor dem Exil auszeichnete, weitgehend ein und kehrt zu einem einfachen hypotaktischen Satzbau zurück.

20 Fragment und Collage sind noch in anderer Hinsicht ästhetischer Ausdruck der Exil- und Lateinamerika-Problematik: Zum einen, weil sie die — hier wie da — zerrissene Situation symbolisieren; zum anderen, weil das Ganze nur noch durch das Bruchstückhafte zu erfassen ist. Diese Intention, eine Situation in ihrer Gesamtheit darzustellen, liegt der Fragmentierung in Primavera con una esquina rota zu Grunde. Die anderen Autoren bedienen sich der Collage, um die für sie strittige Frage nach der Botschaft des literarischen Schaffens im Exil zu problematisieren. Hier kehren wir noch einmal zur "schon gelesenen Reise" zurück. Durch die Collage wird ein innertextuelles Geflecht an semantischen Bezügen hergestellt, in dem einzelne (Wort-)Sprachmomente aufeinander verweisen. Solcherart entsteht nicht nur ein inner-literarischer Raum, der ganz aus textinternen D£jä-vu-Momenten heraus existiert, die Texte charakterisiert eine grundsätzliche semantische Offenheit. Ihre Bedeutung (Botschaft) kann nur noch indirekt aus dem konnotativen Zusammenspiel der einzelnen Worte erschlossen werden. Die Textfragmentierung beinhaltet ein Hinterfragen des Sinns der Geschichte. Der (repressive) Zirkel der Alteritäts- und Machtbeziehung verlagert sich somit auf die Ebene der literarischen Rezeption. Der Leser ist aufgerufen, den "Sinn" der Geschichte selbst zu finden. Damit bestätigt sich, was ohnehin evident war: Die Textfragmentierung ist auch ein genuines Merkmal der zeitgenössischen Literatur in Lateinamerika und anderswo. Wie gesagt, standen die Autoren im Exil unter dem besonderen Druck, diesem universellen Leser in Form eines international anerkannten Literaturniveaus gerecht zu werden. Diese Konditionierung des Schreibens im Exil ist der wichtigste Grund für die Kontinuität, mit der es sich fortsetzen konnte. "No encuentro el maldito libro, amigo mio. Pero estä dicho. Todo estä dicho" (Martini 1984, 42). Alles wurde ja irgendwie und irgendwo schon einmal gesagt. Borges' Vision der uneinholbaren Suche nach Identität in babylonischen Bibliotheken ähnlich, schrieben die Autoren sich in einer Tradition fort, in der das Exil schon lange "erfunden" worden war, bevor es für sie zur historischen Wirklichkeit werden sollte. "Exilliteratur" hebt sich demzufolge — in den von mir analysierten Beispielen — auf im universellen Exil der Literatur.

Bibliographie I.

Zu den Autoren, zitierte Texte aus der Emigration

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21 Martini, Juan Carlos. 1981. La vida entera. Barcelona. —. 1983. En Europa lo filman, acá lo prohiben (interview). In: Salimos — Agenda (Buenos Aires) 22.-28. September: 31-32. —. 1984. Composición de lugar. Buenos Aires. —. 1989. Exilio y ficción: Una escritura en crisis. In: Karl Kohut u. Andrea Pagni (Hrsg.): Literatura argentina hay — De la dictadura a la democracia. Frankfurt/M.: Vervuert: 141-146. Moyano, Daniel. 1981. El vuelo del tigre. Buenos Aires - Madrid. —. 1983a. El libro de navios y borrascas. Buenos Aires - Madrid. —. 1983b. María Violto y otras variaciones. Madrid: unveröffentlicht. —. 1983c. Persönliches Gespräch. Madrid: nachträglich fixierte Aufzeichnung. Pen Rossi, Cristina. 1978. Seguir soñando sin perder propias rafees (Interview). In: Agermanament 148 (Barcelona) November-December: 26-39. —. 1980. La rebelión de los niños. Caracas - Barcelona. —. 1981. Cultura e integración. In: Nexo 9 (Barcelona): 3-5. —. 1983. La nave de los locos. Barcelona. —. (1976) 1985. La tarde del dinosaurio. Barcelona. Peri Rossi, Cristina u. Juan Carlos Martini. 1983. Barcelona — capital cultural latinoamericana. In: El País (Madrid) 19. Oktober. Valdés Hernán. (1974) 1978. Tejas verdes. Barcelona. —. 1981. A partir del fin. México.

II.

Zitierte Texte vor der Emigration

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22 Moyano, Daniel. 1968. El oscuro. Buenos Aires. Peri Rossi, Cristina. (1969) 1976. El libro de mis primos. Barcelona.

III. Weitere Materialien Bejar, J. 1980. Uruguay hoy. Barcelona. Boris Dieter u. Peter Hiedel. 1978. Geschichte und politische Gegenwart Argentiniens. Köln. Daus, Ronald. 1985. Lateinamerikanische Literatur im europäischen Exil. In: Neue Romanía 2 (FU-Berlin): 83-103. Etxezarreta, Miren. 1979. La economía española 1970-1979. Barcelona. Fernández Retamar, Roberto. 1969. Ensayo de otro mundo. Santiago de Chile: 5362. Fondo Internacional de Intercambio Universitario (FIIU). 1978-1979. Situación de los latinoamericanos exiliados en España. Barcelona - Madrid. Grinberg, León u. Rebeca Grinberg. 1984. Psicoanálisis de la migración y del exilio. Madrid. Kohut, Karl. 1983. Escribir en París. Frankfurt - Barcelona. Losada, Alejandro. 1984. La intemacionalización de la literatura latinoamericana. In: Caravelle 42 (Toulouse): 15-40. Pfíster, Manfred. 1982. Konzepte der Intertextualität. In: U. Broich u. M. Pfister: Intertexualität. Tübingen: lff. Rama, Angel. 1971. La generación crítica. In: L. Macador u. Angel Rama (Hrsg.): Uruguay hoy. Buenos Aires. —. 1981a. Más allá del Boom. In: Literatura y Mercado. México. —. 1981b. Novísimos narradores hispanoamericanos en Marcha México.

1964-1980.

23 Rama, Carlos. 1979. Der Schriftstellerbenif in Spanien, Probleme der Hispanoamerikaner. In: Ibero-Americana 7 (Frankfurt/M.): 77-85. Vidal Beneyeto, José. 1979. Spaniens 'desencanto'. In: Ibero-Americana 8 (Frankfurt/M.): 77-80. Garzón Valdés, Ernesto. 1982. La emigración argentina. Acerca de sus causas etico-políticas. In: Waldmann u. a. El poder militar en la Argentina (19761981). Frankfurt/M.: 179ff. Villarejo García, Avelino. 1977. España ante la actual crisis económica. Barcelona. Viñas, David. 1979. El intelectual latinoamericano exiliado en España. Madrid: unveröffentlicht, Fotokopie liegt vor.

Die Heimkehr des kolonialisierten Subjekts: Über die Objektivierung Argentiniens im Werk Cortázars Barbara Koczauer Worum handelt es sich eigentlich in Julio Cortázars Werk? Wie bei allen Schriftstellern, deren Bücher als enzyklopädisch gelten, könnte man mit gutem Recht antworten: um alles. Nimmt man allerdings Cortázars Romane, Erzählungen, CollageBücher und Essays zusammen in den Blick, so fallen zwei Themenkreise ins Auge, die mit Regelmäßigkeit wiederkehren: Zum einen geht es um die Frage, wie man Erfahrungen unter gesellschaftlichen Bedingungen machen kann, die als einzige Lebensweise die Wiederholung oder die Imitation vorsehen. Angesprochen wird dieses Problem als Suche nach Auswegen aus den konventionellen Denk- und Handlungsschemata sowie als Befreiung von vorgegebenen Formen der Wahrnehmung. Das zweite rekurrente Problem besteht in der literarischen Erforschung des Verhältnisses zwischen Lateinamerika und Europa, und zwar aus der Position Cortázars als lateinamerikanischer Autor. Zu diesem Zweck benutzt er die Wiederholung in Form von Doppelgängern, verdopppelten Welten oder Strukturen als Darstellungstechnik. Beschreibt man Cortázars Themen in dieser Allgemeinheit, wäre die Enzyklopädie jedoch allenfalls geschmälert. Die scheinbare Beliebigkeit des literarischen Gegenstands ist aber sehr deutlich eingegrenzt, wenn man weiß, daß Cortázar mit den genannten Sujets an eine Problematik anknüpft, die in der argentinischen Literatur seit ISO Jahren kontinuierlich verhandelt wird. Der betont kosmopolitische Gestus, in dem sich Cortázar selbst darstellt, täuscht darüber hinweg, daß sein Werk die Auseinandersetzung mit einem spezifisch argentinischen Diskurs enthält. Man muß sich jenen "discurso argentinista" mitsamt seinen geschichtlichen Voraussetzungen vergegenwärtigen, um sich die Topoi Cortázars zu vollem Verständnis zu bringen.

1. Cortázar und der Diskurs über Argentinien Auf einen allgemeinen Nenner gebracht, wurde im "discurso argentinista" die Frage der nationalen Identität aufgerollt.' Im Titel des 184S erschienenen polemischen Essays von Domingo Faustino Sarmiento, Facundo. Civilización y barbarie2, sind die beiden Pole benannt, zwischen denen sich seit der Herausbildung des argentinischen Nationalstaates im 19. Jahrhundert in der Literatur des Río de la Plata das Problem der Identitität entscheidet: europäische Kultur versus lateinamerikanische Natur. Das von Sarmiento geprägte zivilisatorische Projekt der "generación del 37",

'Zur Genese des "discurso argentinista" vgl. Morales Saravia, 1987, 21-64. 'Sarmiento 19S8. Der vollständige Titel der Erstausgabe von 1845 lautet: Ovilización y barbarie. Vida de Juan Facundo Quiroga, y aspectoßsico, costumbres y hábitos de la República Argentina.

25 einer Gruppe liberaler Intellektueller, sah die Transformation des seit der Unabhängigkeit im Jahre 1810 von Bürgerkriegen zerissenen Landes in einen modernen Nationalstaat mit einer repräsentativen Demokratie vor. Mit der Französischen Revolution im Rücken und den USA als Vorbild wurde als wichtigste Voraussetzung der Modernisierung die Besiedelung des bevölkerungsarmen Landes mit Europäern gefordert. Nach dem Sturz des Caudillos Juan Manuel de Rosas im Jahre 1852 begannen die liberalen Eliten am Río de la Plata, ihr zivilisatorisches Projekt mittels einer forcierten Einwanderungspolitik, dem massiven Import ausländischen Kapitals und der Eingliederung der argentinischen Land- und Viehwirtschaft in den internationalen Markt umzusetzen. Da die Oligarchie den Großgrundbesitz als dominierende Form des Bodeneigentums nicht aufzugeben bereit war, entwickelte sich die Einwanderung jedoch entgegen der ursprünglichen Zielsetzung zu einem Urbanen Phänomen. Bereits 1914 zählte die Hafenstadt Buenos Aires — ab 1880 nach dem Vorbild von Paris aufgebaut — 1,5 Millionen Einwohner. Angesichts der zumeist proletarischen europäischen Immigrantenmassen wurde die von Sarmiento postulierte Dichotomie von europäischer Zivilisation und lateinamerikanischer Barbarei in charakteristischer Weise reformuliert. In den Schriften der sogenannten gentlemen-escritores legitimierte ab 1880 die alteingesessene Oligarchie ihre sich konsolidierende Herrschaft, indem sie sich als Vertreter der europäischen Kultur gegenüber den europäischen Immigranten darstellte. Der Topos der Barbarei, bis zu diesem Zeitpunkt literarisiert als die aus der mangelnden Naturbeherrschung und den halbfeudalen Gesellschaftsverhältnissen resultierende direkte Gewalt und primitive ländliche Lebensweise, begann sich zu verschieben auf die schnell wachsende Stadt, in der die herrschende Klasse sich zunehmend in kulturelle Enklaven — Theater, Clubs, Villenvororte — zurückgedrängt sah.3 Diese historische Konstellation muß man vor Augen haben, will man die Eigenart der argentinischen Literatur begreifen, die ja häufig als die europäischste des Subkontinents bezeichnet wird. Es liegt auf der Hand, daß unter den genannten Voraussetzungen die Frage nach der nationalen Identität sich anders stellt als in jenen Regionen, in denen der Konflikt zwischen einer traditionellen agrarisch-indianischen Kultur auf der einen Seite und einer relativ modernen, europäisch orientierten städtisch-kreolischen Gesellschaft auf der anderen Seite die literarische Selbsterforschung motivierte. Zugespitzt formuliert, stand in Argentinien eine bürgerliche europäische Kultur, als deren Sachwalter die Oligarchie auftrat, einer Massen- und Volkskultur gegenüber, die, obwohl ebenfalls europäisch geprägt, von der kreolischen Landbesitzerschicht als barbarisch etikettiert wurde. Der Diskurs über Argentinien reagierte auf diese Konstellation, aus der sich weder die Zugehörigkeit der Nation zu Europa als eine Kulturnation ableiten noch

'Die dramatischen soziologischen und kulturellen Veränderungen in Buenos Aires ab 1880 legt dar Scobie 1974.

26 eine positive Differenz — wie etwa in Mexiko durch die Aufwertung der indianischen Hochkulturen als nationalem Erbe — eindeutig bestimmen ließ, mit der Rfickwendung auf das Land. Autoren wie Leopoldo Lugones und Ricardo Güiraldes gaben am Anfang des 20. Jahrhunderts dem durch die Immigration erschütterten Mythos von der "grandeza argentina" eine neue Wendung, indem sie die Pampa, ehemals Inbegriff der Barbarei, inzwischen aber zur Quelle des nationalen Reichtums geworden, als Ort und Symbol argentinischer Eigenarten entdeckten. Konkret heißt das, daß nunmehr die Tugenden des Großgrundbesitzers zusammen mit dem Mut und der Virilität des Gauchos — der gleichwohl realgeschichtlich schon ab 1880 vom Lohnarbeiter ersetzt worden war — gegen die städtische proletarische Kultur ins Feld geführt wurden. Daß der Diskurs über Argentinien durch den Rückgriff auf tellurische Konzepte und die Ehrbegriffe des Großgrundbesitzers kaum noch mit der gesellschaftlichen Realität zu vermitteln war, besagt allerdings nicht, daß der "mito de la grandeza nacional" keinen realen Gehalt gehabt hätte. Bis zur Weltwirtschaftskrise 1929, die durch den Sturz der Preise für Agrarprodukte das ökonomische System Argentiniens erstmals zutiefst erschütterte, zeichnete sich Argentinien durch ein beständiges Wirtschaftswachstum, geringe Arbeitslosigkeit, relativ hohe Löhne, einen kontinuierlichen Ausbau aller staatlichen Institutionen und des Bildungssystems, eine moderne Infrastruktur, ein differenziertes Parteien- und Gewerkschaftssystem sowie eine hohe soziale Mobilität aus.4 Doch gerade die bürokratisch verwaltete kapitalistische Klassengesellschaft als Resultat des von Sarmiento initiierten Zivilisationsprojektes war den herrschenden Eliten am Río de la Plata eine ständige Bedrohung. Deren Bestimmung der nationalen Identität mußte daher, statt auf die tatsächlichen Errungenschaften der seit 1880 stattfindenden Modernisierung Bezug zu nehmen, sich im Gegenteil beständig von dieser abgrenzen und sie als Fehlentwicklung auf dem Weg zu einer Kulturnation interpretieren. In der Literatur wurde das Problem, daß die nationale Ideologie den objektiven Möglichkeiten sowie den subjektiven Erfahrungen des Einzelnen in der modernen Klassengesellschaft widersprach, erstmals von dem Immigrantensohn Roberto Arlt gegen Ende der 20er Jahre thematisiert. Seine Romane und Theaterstücke untersuchen die moralische Verfassung der neuen städtischen Mittelschicht, die der Agraroligarchie die gesellschaftlichen Spielregeln abschaut, um über ihre eigene Aufsteigerkarriere hinwegzutäuschen, ohne jedoch über den Reichtum zu verfügen, zu dessen Akkumulation und Repräsentation jene Konventionen dienen. Weil die Imitierung der Lebensweise der herrschenden Klasse wie auch deren Rhetorik keine ökonomische Grundlage hat, verstricken sich Arlts Protagonisten rettungslos in ihre Projektionen und Illusionen. Der als nationale Ideologie perpetuierte Mythos von der argentinischen Größe schlägt sich für Arlt im haltlosen Größenwahn des Individuums nieder, während

'Vgl. über die ökonomischen, politischen und sozialen Errungenschaften der Modernisierung die grundlegende Untersuchung von Germani 1966.

27 gleichzeitig die von der Gesellschaft verlangte Fassade der Ehrbarkeit und Wohlanständigkeit nur mühsam um den Preis eines grenzenlosen Zynismus aufrechterhalten werden kann. Ahnlich wie der Dramatiker Armando Discépolo sieht Arlt das zivilisatorische Projekt der argentinischen Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts als gescheitert an: Zwar gelang die Europäisierung Argentiniens — barbarisch blieb das Land jedoch allemal (Arlt, 1978). Arlt wäre wohl am ehesten zu nennen, wenn man nach einem Vorläufer Cortázars fragt. Beide Schriftsteller verbindet nicht nur ihr Thema, nämlich der Widerspruch zwischen dem Bild, das die argentinische Gesellschaft von sich entwirft, und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern auch ein subjektiv-experimenteller Modus der literarischen Verarbeitung. Arlt ist die große Ausnahme unter den naturalistischen Romanautoren seiner Zeit. Dazu kommt seine Überzeugung, daß man über die Gegenwart nicht in dem von der Real Academia vorgeschriebenen Spanisch schreiben kann: Die innovative Leistung Arlts bestand darin, die Alltagssprache des "porteño", also das "lunfardo" mit seinen italienischen Einsprengseln aber auch die Straßensprache der Unterwelt und des Bordells literaturfähig gemacht zu haben. In der Perspektive jedoch unterscheiden Arlt und Cortázar sich. Ist Arlt ein Chronist des moralischen Niedergangs, der zeigt, wie das öffentliche Leben bis in den letzten Winkel des privaten Lebens dringt, so daß keine Lebensäußerung mehr wahr oder authentisch ist, so entwirft Cortázar Strategien, den Diskurs über Argentinien subversiv zu unterlaufen, wenn nicht sogar, sich ihm ganz zu entziehen. Nachdem Arlt in den 20er Jahren die Widersprüche des Selbstbildes der Nation erstmals im Roman erforscht hatte, setzte, bedingt durch die Weltwirtschaftskrise und den sich 1930 anschließenden Militärputsch, mit dem die Agraroligarchie bis zur Machtübernahme durch den Peronismus 1943 ihre an die Parteien der Mittelschichten verlorene Macht zurückeroberte, eine differenzierte Reinterpretation des Mythos von der Größe Argentiniens ein. Der Zusammenbruch der völlig exportabhängigen Ökonomie machte alle Hoffhungen zunichte, eine den europäischen Staaten oder der USA vergleichbare Weltmacht werden zu können. Statt Vernunft und Demokratie regierte die militärische Gewalt. Diese Situation wurde im Diskurs über Argentinien in drei verschiedenen Positionen verarbeitet. Daß angesichts einer das gesamte kulturelle Leben affizierenden staatlichen Repression der Großgrundbesitzer als Repräsentant positiver Nationaleigenschaften ausgedient hatte, liegt auf der Hand. In den Schriften von Raúl Scalabrini Ortiz wird der "porteño" als Ergebnis der Mischung verschiedener Nationen zum authentischen Träger der "argentinidad" erklärt. Das utopische Projekt der Generation Sarmientos wird somit durch eine nachträgliche positive Interpretation der Immigration gerettet. Auf das Gegenteil läuft die zweite, von Ezequiel Martínez Estrada vertretene Position hinaus. Martínez Estrada zielt, indem er die alte Dichotomie von Zivilisation und Barbarei aufhebt, auf die völlige Zerstörung des Mythos der Größe Argentiniens ab: das utopische Konzept der Generation Sarmientos habe in all

28 seinen Etappen der Realisierung zugleich mit der Zivilisation die Barbarei eingeführt, die es zu überwinden vorgab. Das historische Projekt Argentinien sei somit von Anfang an ein Selbstbetrug gewesen. Die dritte Position wird exemplarisch vertreten nicht nur von Eduardo Mallea, sondern auch in der von Victoria Ocampo geleiteten Zeitschrift Sur. Mallea versteht sich einer Aristokratie des Geistes zugehörig, die das wahre und unsichtbare Argentinien darstellt inmitten der sichtbaren, durch die Immigration entstandenen Massenkultur.5 Die drei Autoren repräsentieren das Spektrum der Möglichkeiten der Intellektuellen, sich in den 30er Jahren mit Argentinien auseinanderzusetzen. Von der historischen Krise während der "década infame", wie die 30er Jahre bezeichnenderweise genannt werden, hat sich der argentinische Liberalismus als die herrschende Ideologie nach Rosas bis heute nicht erholt, genausowenig wie die den Zusammenbruch auslösenden Probleme der abhängigen Ökonomie gelöst werden konnten. Von daher scheint es berechtigt, Cortázars Versuch, die Auseinandersetzung um das argentinische Selbstverständnis unter zeitgenössischen Bedingungen literarisch neu aufzurollen, vor dem Hintergrund der Positionen deijenigen Autoren zu erleuchten, die jene Krise erstmals zum Gegenstand von Romanen bzw. Essays machten. Denn die Zwiespältigkeit, mit der die frühe Kritik auf Rayuela reagierte, ebenso wie die erstaunlich beharrlich von rechts wie von links immer wieder aufs neue aufgeworfene Frage, ob Cortázar denn ein richtiger argentinischer Schriftsteller sei, ist Ausdruck der Irritation darüber, daB er die Karten des Diskurses über Argentinien neu gemischt hat. Auf der einen Seite sind seinem Werk Positionen immanent, wie sie von Mallea und der Zeitschrift Sur vertreten werden. Dazu gehört ein entschiedener Subjektivismus, verbunden mit einem kaum zu übersehenden Ressentiment gegen die Massen, massenkulturelle Phänomene und eine kleinbürgerliche Lebensweise. Das Konzept der Geistesaristokratie schlägt sich nieder in den bohèmehaften intellektuellen Zirkeln — wie dem "Club de la Serpiente" oder "La Joda" —, denen alle Figuren der Romane Cortázars angehören. Vergleichsweise breit dargestellt wird zudem eines der größten Probleme, das Mallea beklagte und Victoria Ocampo vermittels Sur zu lösen versuchte: die auf der vorgeblichen Geschichtslosigkeit des Subkontinents beruhende Marginalität Argentiniens in einem weltkulturellen Kontext, der von den europäischen Metropolen sowie den USA geprägt ist. Interessanterweise wird die Brücke zur abendländischen Tradition, zu Europa und zu Paris, die Sur sein wollte, eine zentrale Metapher bei Cortázar.6

'Repräsentativ für den beschriebenen Sachverhalt im Gesamtwerk der drei Autoren sind für Scalabrini Ortiz El hombre que esta solo y espera (1931), für Martínez Estrada Radiografia de la Pampa (1933) und für Mallea Historia de una pasión argentina. Vgl. Morales Saravia 1987, 37-64. 'Vgl. zum Selbstverständnis von Sur als Brücke zwischen Argentinien und Huropa: Lisi 1987, 65 84, insbes. 75.

29 Damit enden die Übereinstimmungen. Über Cortázars Brücken kann man nicht gehen. Auf Ocampos Projekt der Anbindung des historisch jungen und somit entwicklungsfähigen Argentinien an das alte Europa läßt sich Cortázar nicht ein. Seine Brücken transportieren im Gegenteil die Unüberbrückbarkeit der Differenz. Einer vergleichbaren Dekonstruktion unterliegt die bekannte Distinktion Malleas zwischen einem sichtbaren und einem unsichtbaren Argentinien. Als das sichtbare Argentinien nennt Mallea die Kulturlosigkeit und den Materialismus des großstädtischen Lebens, die den Idealen der nationalen Gründungsgeneration Hohn spricht. Lediglich eine schmale Elite vertrete unabhängig von tagespolitischen Gegebenheiten oder ästhetischen Moden innerhalb ihres Zirkels einen hohen Standard künstlerischer, intellektueller und moralischer Qualität. Sie stelle gemeinsam mit den vitalistischen Kräften des Landesinneren — gemeint ist selbstverständlich nicht der Grundbesitzer als soziale Kategorie, sondern der ontologische "criollo" als idealtypische Verkörperung eines präzise definierten Nationalcharakters — das zwar unsichtbare, aber authentische Argentinien dar (vgl. Morales Saravia 1986, 277-280). Man sieht, daß sich die Topoi des nationalen Diskurses der Jahrhundertwende wiederholen, wenn auch mit notwendigen Verschiebungen. Während der Mythos der argentinischen Größe von Mallea regressiv wiederbelebt wird, macht sich Cortázar an dessen Zerstörung, indem er Mallea umkehrt. Das alltägliche Leben ist der Ort, an den Cortázar einen positiven Begriff von dem, was Argentinien bedeutet, bindet. Und nicht in einer die Nation repräsentierenden Elite sieht er das Subjekt, das diese Bedeutung erzeugt, sondern im Gegenteil ist nur der Einzelne, das Individuum fähig dazu. Das unsichtbare Argentinien Cortázars ist in der Tat unsichtbar, weil allgegenwärtig. Es liegt verborgen im scheinbar Banalen, in den täglichen Zufälligkeiten, im Privaten und Intimen sowie in der gesprochenen Sprache der Gegenwart, die voller Anspielungen, Konnotationen und Erinnerungen ist. So gesehen, knüpft Cortázar durchaus an Scalabrini Ortiz' "porteño" als Träger argentinischer Identität an, ohne allerdings dessen Idealisierungen zu übernehmen. Uber Cortázars subjektiver Erfahrung des unsichtbaren Argentinien liegt wie eine Staubschicht das sichtbare. Es handelt sich dabei um die Form, die das Gesellschaftliche angenommen hat. Sei es die sprachlich verfestigte Borniertheit bestimmter Gesellschaftsschichten, die Leblosigkeit der literarischen Tradition, oder die Spielregeln der sozialen K o m m u n i k a t i n n — alle Formen des Gesellschaftlichen in Argentinien zeigt Cortázar als bestimmt von der Illusion der eigenen Größe, deren gegenwärtige Erscheinungsweise jener äußerste Konventionalismus ist, gegen den er anschreibt. Die Frage ist, ob es Cortázar gelingt, den solcherart verstandenen nationalen Mythos an der Partikularität seines unsichtbaren Argentinien zerbrechen zu lassen. Soviel ist vorwegzunehmen: das Ergebnis dieses Unternehmens kann keinesfalls kohärent oder eindeutig genannt werden. Zwar entfaltet Cortázar ein reiches Spektrum von Verfahrensweisen, um den Diskurs über Argentinien subversiv zu unter-

30 laufen, gleichzeitig jedoch kann er nicht umhin, ihn als Autor in einem hohen Maße zu reproduzieren. Alle Topoi Cortázars sind aus der argentinischen Literatur bekannt: die Reise nach Europa, der Blick auf Argentinien vom europäischen Standort, die Projektion nach Europa, der Kosmopolitismus des argentinischen Intellektuellen, die Marginalität Argentiniens innerhalb der Weltkultur, um nur einige zu nennen. Dazu kommen naheliegende Metaphern: die Brücke, die Grenzüberschreitung. Am Beispiel der "Reise nach Europa" wird im folgenden gezeigt, auf welche Weise Cortázar diese Topoi dekonstruiert — und mit welchem Ergebnis.

2. Die "Reise nach Europa*1 in der argentinischen Literatur "Del lado de allá", vom anderen Ufer, ist der in Paris spielende erste Teil, mit "Del lado de acá", vom hiesigen Ufer, der in Buenos Aires handelnde zweite Teil von Rayuela überschrieben.7 Der durch den Aufbau gesetzte strukturelle Rahmen signalisiert, daß es um eine Verhältnisbestimmung der beiden Seiten zueinander geht. Als Verbindungsglied fungiert der Reisende Horacio Oliveira, von Cortázar als selbstreflexiver Prototyp des argentinischen Intellektuellen angelegt. Indem Cortázar die Reise nach Europa zum strukturbestimmenden Konzept seines Romans Rayuela macht, fordert er eine Lektüre heraus, die den Text einerseits als Bestandteil der literarischen Tradition Argentiniens versteht, andererseits jedoch als eine Reinterpretation des Topos unter zeitgenössischen Bedingungen liest. Mit anderen Worten: Rayuela bietet einen Kommentar zu eben der Tradition, in der der Roman selbst steht. Seit der politischen Unabhängigkeit des ehemaligen Vizekönigreiches Rio de la Plata von Spanien im Jahre 1810 verarbeiteten die Intellektuellen und Schriftsteller das Verhältnis zu Europa — und damit notwendig ihr Verhältnis zu Argentinien im Topos der Reise. Kaum ein namhafter Autor, der in seinem Werk nicht auf den Europaaufenthalt zurückgegriffen hätte: Miguel Cañé, Lucio V. Mansilla, Eugenio Cambaceres, Ricardo Güiraldes, Manuel Gálvez, Enrique Laretta, Roberto Arlt, Leopoldo Marechal, Eduardo Mallea, um nur einige zu nennen. "El viaje a Europa" ist daher der zweite Teil eines Buches von David Viñas überschrieben, in dem eine politische Lektüre der argentinischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts geboten wird.' Auf der Suche nach dem Muster und den inneren Widersprüchen jener Reisen kommt Viñas zu dem Schluß, daß die eigentliche Bedeutung der Fahrt nach Europa sich aus der Dialektik von empirischer Lebenswirklichkeit in Argentinien und einer nach Europa hineinprojizierten Spiritualität er-

'Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Cortázar 1984. *Vgl. Viñas 1971, 9-10 des Vorworts. Diese Fassung des Buches weicht stellenweise eiheblich von der 1964 erschienenen Erstausgabe ab.

31 schließt: "su significado fundamental es una dialéctica entre lo particular y los universales; entre el lugar de donde se parte y se sitúa lo empírico y el 'recinto del espíritu' a que se aspira. Salir de la zona desvalorizada de lo material parcelado en busca de una posible 'salvación* en la 'región del hombre* y los modelos y parámetros de la Cultura por definición incuestionada, difundida o impuesta" (Viñas 1974, 139). Mit seinem Ansatz, die soziale Funktion der argentinischen Literatur aus ihrer Verarbeitung des Widerspruches zwischen Universalität und Partikularität herauszuarbeiten, liegt Viñas ganz auf der Linie gängiger Theoretiker der Lateinamerikanistik, wie beispielsweise Angel Rama und Jean Franco, aber auch Adalbert Dessau. Als Hauptwiderspruch erschient bei allen Autoren deijenige zwischen Hegemonialmacht und Peripherie, die eigentliche Forschungsarbeit beginnt dann damit, die Reproduktion oder die jeweiligen Brechungen dieses Widerspruchs innerhalb der einzelnen lateinamerikanischen Gesellschaften und dessen Verarbeitung in ihren Literaturen zu untersuchen. So geht es Viñas in dem hier zitierten Buch darum, entgegen dem Selbstverständnis der argentinischen Bourgeoisie, Sachwalter der Kultur und Zivilisation in einem barbarischen Land zu sein, deren schuldhafte Verstrickung in einen Geschichtsprozeß nachzuweisen, der letztendlich in die Folterkeller der Diktatur führte. Methodisch bedient er sich dabei des von Sarmiento postulierten Gegensatzes von Zivilisation und Barbarei, wenngleich der Sachverhalt nun anders benannt wird. Das lateinamerikanische Partikuläre steht gegen die europäische Universalität: die argentinische Materie gegen den französischen Geist. Wie im Grande die gesamte lateinamerikanistische Debatte der 60er Jahre, in deren Verlauf beispielsweise Angel Rama die Literatur des "Boom" als eine glückliche Verbindung von lateinamerikanischer "materia prima" und europäischer Erzähltechnik charakterisierte,9 bleibt also auch Viñas der von Sarmiento im 19. Jahrhundert so schlagkräftig formulierten Dichotomie verhaftet. Anders jedoch als Rama, der diese Dichotomie ganz positiv benutzt, indem er deren Dialektik herausarbeitet und sinnfällig dem 20. Jahrhundert anpaßt, untersucht Viñas die Brillen, die sich die argentinischen Intellektuellen selbst verpaßten, nämlich alle an den Gegensatz von Zivilisation und Barbarei geknüpften Begriffsoppositionen, um aus den stilistischen Konstanten ihrer Werke das jeweils zugrundeliegende politischkulturelle Bewußtsein zu entwickeln. Nicht nur die unvermeidliche und immer wieder aufs neue zu überbrückende kulturelle wie räumliche Entfernung zu Europa ist demnach in jenem Gegensatz enthalten, sondern auch eine absichtsvoll aufgebaute elitäre Distanz der Intellektuellen und Künstler zur argentinischen Gesellschaft. Viñas, der die Literatur seines Landes als einen geschlossenen Text versteht, in dem die Bourgeoisie Argentiniens spricht (vgl. Vorwort Viñas 1971), entwickelt aus der im Verlauf der Modernisierung sich wandelnden gesellschaftlichen Funktion der Reise nach Europa eine Veifaältnisbestimmung der jeweils herrschenden Elite nach zwei Seiten hin. Im Rückbezug der Autoren auf Argentinien entdeckt er die durch die

' R i m a 1982. vgl. insbesondere das Kapitel "La tecnificación narrativa", 294-360.

32 Übernahme von Werten und Nonnen der Metropole hervorgerufene soziale Entfremdung des Schriftstellers; in den sich verändernden Ansichten und Interpretationen Europas hingegen sieht er den Versuch, Europa fungibel zu machen für die eigenen Wünsche und Projektionen. Heraus kommt eine Geschichte des kolonialisierten Bewußtseins, so wie es sich literarisch niederschlägt. Ganz gleich, ob der Zweck der Reise der Eintritt in die europäische Kultur, die Selbstbestätigung durch den Erfolg in Europa, die Initiation in die Zivilisation oder die éducation sentimentale ist, ob es darum geht, den Herkunftsort aus der Fremde zu idealisieren, aus Argentinien zu fliehen, oder mit den Weihen der europäischen Kultur heimzukehren — entscheidet man sich für die Perspektive Viñas', so besteht hinter aller Vielfalt die wesentliche Bedeutung der Reise nach Europa in einer doppelten Selbstvergewisserung der argentinischen Bourgeoisie: zum einen muß die kulturelle Zugehörigkeit zu Europa unter Beweis gestellt, zum anderen die durch eben jene Zugehörigkeit oder Ebenbürtigkeit begründete kulturelle Überlegenheit gegenüber den Klassen, die sich im Gefolge der Immigration herausbilden, konstituiert werden.

3. Die Gegenüberstellung von Lateinamerika und Europa: Cortázars Synthesefiktionen Bereits in der Umkehrung der Bewegungsrichtung setzt Cortázars Kommentierung des Topos der Reise in Rayuela an. Denn was zunächst lediglich als ein ebenso einfacher wie wirkungsvoller Schachzug erscheint, das Stereotyp der Reise gegen den Strich zu bürsten, indem die Reise nach Europa zur Reise nach Lateinamerika verkehrt wird, beinhaltet ja auch eine Standortbestimmung des Erzählens. Paris ist letztlich die Folie, auf der Buenos Aires abgezogen wird. Cortázars Buch läßt sich daher durchaus im Sinne von Viñas lesen: wie schon der Literatur des 19. Jahrhunderts, wird auch in Rayuela Argentinien desde, para, por Europa — von, für und durch Europa — gedacht. Doch die Sache ist verwickelter. Von Viñas absichtlich übersehen, wirft Rayuela genau die von ihm kritisierte Perspektive des Erzählens als Problem zum Thema auf. Denn der Protagonist, der von, für und durch Europa sieht, kann seine Perspektive in Argentinien nicht vermitteln, ja er kann dort nicht einmal leben, sofern er seine europäische Position nicht aufgibt.10 Die Erforschung des Verhältnisses zwischen verschiedenen Welten ist als eines der eindringlichsten Themen aus Cortázars kurzen Erzählungen bekannt. Nimmt man "El otro cielo", "Bestiario", "La casa tomada", "Axolotl", "La lejana", "Isla al mediodía", "Cartas de mamá", um die bekannteren zu nennen, so zeigt sich in

'"Viñas schießt übers Ziel hinaus, wenn er Cortázar immer wieder neben Vertreter des Elitedenkens wie Mallea oder Borges stellt. Daß Cortázar den peronistischen Populismus ablehnte, heißt nicht zugleich, daß er Parteigänger der bürgerlichen Konservativen war.

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allen ein vergleichbares Aufbauprinzip. Der Urzustand der Geschichten ist deijenige, in dem gleichzeitig zwei Welten in den Fokus genommenen werden, deren Abgrenzung voneinander relativ deutlich zu erkennen ist. Egal, ob es sich um Orte, Identitäten, Lebenswelten, Kulturen oder auch Fiktionalitätsebenen handelt: sie sind im Sinne herkömmlicher Auffassimg von Normalität voneinander getrennt. Von hier aus untersucht Cortázar dann, was passiert, wenn die Grenzen zwischen jenen Welten fallen. Die schleichende Vermischung verschiedener Ebenen ist verantwortlich für den Eindruck des Phantastischen, den die Erzählungen hervorrufen. Häufig genug bindet Cortázar das Motiv der fallenden Grenze an das des Doppelgängers. Die Protagonisten projizieren sich in eine fremde andere Welt, so daß eine abgespaltene oder verdoppelte Identität entsteht. Doch führt die Phantasie vom anderen Leben in der fremden Welt selten zu einer Synthese. Stattdessen läßt Cortázar den ersehnten Moment der Berührung mit dem Anderen fast immer zu einem glatten Tausch werden. Dazu einige Beispiele: So wie in "Axolotl" der Betrachter des Fisches im Aquarium aus dem Aquarium heraus den Betrachter ansieht, wünscht sich der Protagonist aus "Isla al mediodía" derart obsessiv in eine andere Welt, bis diese — eine regelmäßig aus dem Flugzeug zu sehende Insel — sein ganzes Leben bestimmt. Der Glücksmoment aber des realen Eintritts in jene Welt ist zugleich der Moment des Todes, nämlich des Absturzes des Flugzeuges. In "La lejana" wechselt Alina Reyes ihre Identität und ihr Leben im Wohlstand mit einer namenlosen Frau auf einer Brücke in Budapest. Hier haben wir zugleich das häufig auftauchende Motiv der Brücke, doch liegt auf der Hand, daß diese Brücke nichts verbindet: weder Budapest mit Buenos Aires, noch das Leben in Reichtum mit dem in Armut, und erst recht nicht die beiden Frauen, von der die eine die Phantasie der anderen ist, bis die zwanghaft ihrer Phantasie folgende Alina Reyes als dunkler Schatten von ihrer eigenen Projektion zurückgelassen wird. Vielmehr ist die Brücke nur der Katalysator, der einer im wahrsten Sinne unüberbrückbaren Differenz Gestalt gibt. Weit mehr als das leichte Spiel, als das sie ihr Autor gern darstellt, handeln diese Geschichten trotz ihrer katastrophischen Konstruktion von der Utopie, um die Cortázars Romane kreisen. Diese Utopie läßt sich stichwortartig umreißen mit der vom Autor häufig in die Diskussion gebrachten Vorstellung vom Neuen Menschen, dem das Fühlen, Denken und Handeln keine Gegensätze mehr sind. Um so interessanter, daß Cortázar alle seine literarisch durchgespielten Synthesefiktionen mit einem verhängnisvollen Scheitern beschließt. Das Ineinanderfallen verschiedener Identitäten oder Seinsweisen genauso wie die Verschmelzung eigentlich entfernter Orte resultiert in Schreckensszenarien: in Gewalt, Resignation oder Tod. Als Roman erhält das Thema der Aufhebung von Differenzen jedoch eine andere Färbung. Während die streng ökonomisch komponierten Erzählungen auf die Schockwirkung oder den subtilen Schrecken setzen, entfaltet sich in Rayuela die mißlungene Synthese zweier Welten — Lateinamerika und Europa, Buenos Aires und Paris — als Groteske. Wenn auch die Katastrophe sich am Ende genauso unauf-

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haltsam wie in den Erzählungen nähert, so bleibt doch der Schrecken immer gebrochen in einer ironisch-distanzierten Erzählhaltung, eine Brechung, die sich zudem durch situative wie auch verbale Komik verstärkt. Die Figur, die von Cortázar ausgeschickt wird, die Synthese von Lateinamerika und Europa exemplarisch am eigenen Leben durchzuführen, ist Horacio Oliveira. Nach Carlos Fuentes ist das Nichts, in das der von ihm als Buster Keaton de la pampa bezeichnete Oliveira stürzt, keinesfalls allgemeinster existentieller Provenienz, sondern das Nichts des modernen Lateinamerika: "es la caída de alguien que no tiene dónde caer porque antes no se ha levantado; es la nada del mundo latinoamericano moderno, confrontado con la nada antes de ser o tener nada" (Fuentes 1972, 71). Doch man kann noch weiter gehen als Fuentes. In der Figur des Oliveira hat Cortázar den kolonialisierten Intellektuellen par excellence entworfen: kein Winkel der bürgerlichen Weltkultur ist ihm fremd. Er ist der letzte wirkliche Weltbürger. Als solcher scheitert er nicht etwa in Paris, sondern in seiner Heimatstadt Buenos Aires, die ihm aus der weltbürgerlichen Perspektive zur Provinz geworden ist.

4. Die Differenz als Defizit In Rayuela verkörpert die Figur des Oliveira das kolonialisierte Subjekt. Dessen Blick auf sein eigenes, ihm fremd gewordenes Land sucht dort die philosophische und künstlerische "Tradition", wie sie ihm in Paris wortwörtlich auf Schritt und Tritt begegnete. Jedoch findet Oliveira lediglich die "Konvention" als sozusagen leere Hülle einer Tradition vor, die in Buenos Aires keine geistige oder ästhetische, sondern im Gegenteil eine materielle und äußerliche Realität aus Alltag, Profanität und Gewohnheit hat. Wenn auch die europäische Kulturgeschichte allen in Paris als "Club de la serpiente" zusammentreffenden Nonkonformisten zwar Inspiration, aber zugleich auch, insofern "Gran Cultura", Enge und Beschränkung ist, so scheint dennoch eine Auseinandersetzung über diese Tradition möglich zu sein, die neue Perspektiven, und das heißt: eine Zukunft eröffnet. Gegen diese zeitliche Tiefe setzt Cortázar ein Buenos Aires von geschichtsloser Flächigkeit. Hier wird in den Grenzbereichen der Gesellschaft nicht die Rebellion geprobt, sondern die allgemeine Dumpfheit reproduziert. Daher kann die Bohème ihren Mitgliedern weder intellektuelle Inspiration sein noch ihnen eine künstlerische Aura verleihen. Sie kann sie allenfalls als geschickte Überlebenskünstler im Alltag auszeichnen. Über die Konvention läßt sich höchstens lachen, nicht aber reden. Das in Paris so wichtige Spiel, die große Kultur von ihrem Podest zu stoßen und sie auf ihre Lebenstauglichkeit zu prüfen, indem man sie in das alltägliche Leben verwickelt, erübrigt sich im fiktionalen Buenos Aires, wo der Alltag die einzige Realität ist. Die Differenz zwischen Metropole und Peripherie stellt sich in Rayuela als die zwischen Tradition und Konvention dar.

35 Ist man einmal der Differenz auf der Spur, so zeigt sich erst, wie umfassend Cortázar den Gegensatz zwischen Buenos Aires und Paris konstruiert. Essen und Trinken hält in Buenos Aires die Gespräche zusammen, die sich um Fußball, ums Geldverdienen und die Nachbarn drehen. Dazu paßt, daß Cortázar seine Romanfiguren anders als in Paris zur kollektiven Assoziation über die Philosophien der Welt sich in Buenos Aires zum Siebzehnundvier im Patio eines Nachbarn treffen läßt, dessen Kanarienvogel prosaisch Cien Pesos heißt. Einer mit weltkulturellem Esprit aufgeladenen Gegenwart in Paris, in der das Materielle nur als Poesie der Dinge, nicht aber als Zwang zum Geldverdienen eine Rolle spielt, steht die Atmosphäre in Buenos Aires umso bleierner gegenüber. Doch was ist mit der Kultur passiert, wenn sie nicht gemeinsamer Bezugspunkt des Freundeskreises in Buenos Aires ist? Die bürgerliche Kultur, die Cortázar im Paris-Teil als Spiel- und Reflexionsmaterial einer subkulturellen künstlerischen Boh&me verarbeitet, stellt er in Buenos Aires auf die Seite eines ebenso kunstlosen wie bornierten Establishments. Dazu ein längeres Zitat aus Rayuela (599): Había sido tan hermoso, en viejos tiempos, sentirse instalado en un estilo imperial de vida que autorizaba los sonetos, el diálogo con los astros, las meditaciones en las noches bonarenses, la serenidad goethiana en la tertulia del Colón o en las conferencias de los maestros extranjeros. Todavía lo rodeaba un mundo que vivía así, que se quería así, deliberadamente hermoso y atildado, arquitectónico. Para sentir la distancia que lo aislaba ahora de ese columbario, Oliveira no tenía más que remedar, con una sonrisa agria, las decantadas frases y los ritmos lujosos del ayer, los modos áulicos de decir y de callar. En Buenos Aires, capital del miedo, volvía a sentirse rodeado por ese discreto allanamiento de aristas que se da en llamar buen sentido y, por encima, esa afirmación de suficiencia que engolaba las voces de los jóvenes y los viejos, su aceptación de lo inmediato como lo verdadero. Dieser Abschnitt muß als eine Schlüsselszene des Romans betrachtet werden, faßt er doch wie in einem Brennpunkt die Ansicht von Argentinien zusammen. Oliveira bricht schließlich den Gedankentext, der sprachlich seinen bourgeoisen Gegenstand imitiert, ab, indem er wild lacht und sein Spiegelbild mit Zahnpasta beschmiert. Doch die Aufhebung der Konvention im Happening geschieht dem Protagonisten — nicht dem Leser. Ist jener kurzfristig von Argentinien befreit, hat dieser im Gegenteil erst das Bild bekommen von einer Gesellschaft, die durch die Lüge über die Gegenwart wie durch die Verklärung der Vergangenheit zusammengehalten wird. Alle auf die Spitze getriebenenen sprachexperimentellen Sequenzen Cortázars sind zu verstehen als Auseinandersetzung mit der sich solcherart sprachlich ausdrückenden Gesellschaftsverfassung Argentiniens. Das Projekt des "desescribir" geht über das rein sprachlich-literarische Problem hinaus, indem es eine spezifisch argentinische Lebenshaltung attackiert, die in der phrasenhaften und konventionellen

36 Rhetorik sowie in der Entschlossenheit, das Unmittelbare unter allen Umständen für das Wahre zu halten, lediglich ihren Ausdruck findet. Aus dem ebenso leer Ornamentalen wie Unwahrhaftigen der Sprache entwickelt Cortázar, was für ihn das sichtbare Argentinien ist: Imitation und Fälschung. Der Sprache als second-hand Idiom, das keine authentische Erfahrung mehr vermitteln kann, entspricht das Bild einer Kultur aus zweiter Hand: "Claro que mi país es un puro refrito, hay que decirlo con todo cariño" (R:183). Könnte man soweit den Eindruck haben, Cortázars Verarbeitung des Verhältnisses von Buenos Aires zu Paris liefe auf die Zivilisation-Barberei-Dichotomie seiner literarischen Vorgänger hinaus, so sieht die Sache auf den zweiten Blick viel komplexer aus. Das liegt daran, daß Cortázar entscheidende Begriffe und Erfahrungen beim Überschreiten der Grenze zwischen Europa und Lateinamerika mit umgekehrten Vorzeichen versieht. So verkehrt sich die bürgerliche Kultur, die in Paris als ein Freiheitsversprechen fungiert, in Buenos Aires zum Ornament des Establishments. Die Möglichkeit von Freiheit hingegen, von Widerstand oder sogar Subversion, läßt Cortázar auf dieser Seite einzig und allein im Bereich des Lebensalltags zutage treten.

5. Der provinzielle Doppelgänger des Kosmopoliten Daß Cortázar bei der Objektivierung des Verhältnisses Lateinamerika-Europa mit Oppositionen arbeitet, zugleich aber diese Oppositionen mittels Bedeutungsumkehrungen unterläuft und verdreht, ist bereits im Paris-Teil von Rayuela sichtbar. Oliveira erlebt, wie sich im Verlauf seiner Suche nach dem Absoluten die argentinische Vergangenheit zunehmend in sein Bewußtsein schiebt. Die ausgeprochen sinnliche und materielle Qualität seiner Erinnerungen an Buenos Aires — es handelt sich um Bilder von Räumen der Kindheit, um Träume vom Geruch und Geschmack Argentiniens — ist charakteristisch für die Ansicht von Argentinien, die Cortázar in seinem Roman darstellt. Je deutlicher sich herausstellt, daß Oliveiras Versuch mißlingt, ein Zentrum, eine Mitte oder eine Zentralperspektive zu gewinnen, in der die Fragmente der Kulturgeschichte als ein akkumuliertes und rational organisiertes Wissen bruchlos und deckungsgleich mit der Erfahrung in der Metropole, für die Paris steht, zusammenfällt, desto häufiger bricht die verdrängte Vergangenheit an die Oberfläche. Die immer intimer, immer partikulärer werdende Erinnerung bereitet die Rückkehr zu dem Ufer, an dem Buenos Aires liegt, und damit die Reise im Roman vor. Zwar fordert die Reise, insofern sie Folge der Ausweisung durch die französische Polizei und keinesfalls ein Akt freien Willens des Protagonisten ist, den Vergleich mit der Veitreibung aus dem Paradies heraus. Zugleich erzählen aber auch die sinnlichen Erinnerungen an Argentinien — ein paar braune Schuhe, eine BGchse mit Tee — von einem verlorenen Paradies. "Reactor del recuerdo, lo insignificante actúa como punta de piolín que permite sonsacar grandes pedazos de

37 pasado, entresacar de la resaca mundo hundido, mundo propio, el más vivido, el más nativo, volver a lo hogareño, al solar del ser" (Yurkievich 1986, 18). Allerdings wirkt die hier von Yurkievich hervorgehobene identitätsstiftende Kraft des Partikulären gegenüber der Entfremdung durch die abstrakte Universalität lediglich, solange Horacio Oliveira in Europa ist. Cortázar zeigt nämlich, daß der Kosmopolit Heimat und Herkunft nur aus der Distanz heraus positiv besetzen kann. Dem Heimkehrer hingegen erscheint das Partikuläre provinziell. Zum eigentlichen Thema wird der Widerspruch zwischen der abstrakten Universalität und der regionalen Partikularität erst im Argentinien-Teil von Rayuelo. In konsequenter Opposition zu Paris sind in Buenos Aires die Freunde Oliveiras nicht künstlerisch dilettierende Kosmopoliten, sondern das junge Ehepaar Talita und Manuel Traveler, das, nomen est omen, kaum je einen Fuß über die Staatsgrenze setzte. Der Jugendfreund Traveler ist eine Verdoppelung Oliveiras, allerdings ohne dessen europäische Erfahrung. Seine Funktion im Roman besteht darin, die provinzielle Variante des argentinischen Intellektuellen zu erforschen. Ob es eine solche Variante überhaupt gibt, ist die Frage. Vielmehr hat man den Eindruck, daß der argentinische Intellektuelle grundsätzlich Kosmopolit ist. Wenn aber nicht, dann ist er auch kein Intellektueller, sondern lediglich Kleinbürger." Als solcher sieht er mit Schaudern den Verlust des LebensZentrums, den die Reise in die Metropole bei seinem alter ego angerichtet hat. Gleichzeitig ahnt er sehnsüchtig die in Paris gewonnene Lebenserfahrung in dem anderen, die aus dem Vorstadtkumpel erst den kosmopolitischen Intellektuellen gemacht hat: "Nunca pensé que que volverías con esa mufa, que te habrían cambiado tanto por allá, que me darías tantas ganas de ser diferente [...]" (R:439). Über das Doppelgänger-Motiv bei Cortázar wurde zur Genüge geforscht. Hier interessiert die Frage, in welcher Weise das Motiv im Zusammenhang der Reise nach Europa zum Tragen kommt. Traveler ist für Oliveira die entscheidende Herausforderung, scheint jener doch über das Geheimnis zu verfügen, wie man in Argentinien überhaupt leben kann, wohingegen Oliveira selbst ja schon längst nicht mehr bereit ist, sich auf sein Land einzulassen: "Oliveira no podía reconcilarse hipócritamente con Buenos Aires, y [...] ahora estaba mucho más lejos del país que cuando andaba por Europa" (R:383). Keinen Zweifel läßt Cortázar daran, daß das Geheimnis Travelers die geglückte Objektwahl ist. Sie ist Voraussetzung für die einzige Art und Weise, sich im Argentinien der 50er Jahre zu arrangieren: im Rückzug ins Private. Folglich muß Oliveira, will er hinter das Geheimnis kommen, unermüdlich den Travelers auf der Spur sein. Indem er so weit als möglich in deren Intimität eindringt, bildet sich eine der Dreierkonstellationen, die von der Literaturkritik als strukturbildendes Motiv im gesamten Werk Cortázars ausführlich untersucht worden ist. Darüber ist allgemein das Nächstliegende vergessen worden, nämlich daß es Zweierbeziehungen sind, deren Eigenart sich entfaltet, indem eine dritte Fi-

"Die verwirrende Vermischung der Kategorien geht auf Cortázars Konto.

38 gur auftaucht, die latente Konflikte verschärft. Fragt man nach dem Geschlechterverhältniss in Rayuela, statt sich im Labyrinth der von Cortázar selbst als "figuras" bezeichneten Personenkonstellationen zu verlieren, so zeigt sich, daß die Konfrontation Paris contra Buenos Aires von Cortázar bis in die Objektivierung der Paarbeziehungen fortgesetzt wird. Traveler und Talita verkörpern den Gegenentwurf zum Paar Oliveira — Maga. Während die Beziehung der letzteren ohne Paris nicht denkbar ist, da selbst die Sexualität zur kulturellen Aura der europäischen Stadt gehört, ist die Sexualität der Travelers Teil ihrer Solidarität. Die Intimität der Travelers stellt deshalb eine so große Herausforderung für Oliveira dar, weil sie in der Liebe autonom sind, wohingegen er selbst der kulturellen Vermittlungen und der Projektionen bedarf. Aus diesem Grund scheitert sein Leben mit der Maga spätestens in dem Moment, als sexuelle Solidarität von ihm erwartet wird. Während die Beziehung mit der Maga, eine Beziehimg, die sich ganz dem Zufall zu verdanken glaubte, tatsächlich die groß angelegte Inszenierung einer Liebe in Paris ist, übersteht die Liebe der Travelers in Buenos Aires alltägliche Routine genauso wie gemeinsame Arbeit. Mehr noch: sie kommt darin überhaupt erst zum Ausdruck. Selbst die Vorstellung, Talita zu lieben, die Oliveira während der Erforschimg der Intimität seiner Freunde hervorrufen will, gelingt ihm nur, wenn er sich Talita als Maga denkt, und, so möchte man hinzufügen, Maga als Nadja. Denn einen ganzen Komplex von Projektionen auf Europa läßt Cortázar in die Beziehung zur Maga einfließen, darunter das literarisch hundertfach vermittelte Bild dessen, was es bedeutet, in Paris zu lieben. Traveler als provinzieller Doppelgänger des Kosmopoliten hingegen weiß, daß er nur solange eine Zukunft mit Talita und in Argentinien hat, solange er frei von dessen Projektionen ist. Deshalb weigert er sich abergläubisch, den Namen Paris überhaupt nur auszusprechen, ja er kann Oliveira, den europainfizierten Freund, nicht einmal anschauen, sobald von dort die Rede ist: — Nunca hablás de aquello — decía a veces Traveler, sin mirar a Oliveira. Era más fuerte que él; cuando se decidía a interrogarlo tenía que desviar los ojos, y tampoco sabía por qué pero no podía nombrar a la capital de Francia, decía "aquello" como una madre que se pela el coco inventando nombres inofensivos para las partes pudentes de los nenes, cositas de Dios. (R:386) An diesem Punkt erreicht der Topos der Reise nach Europa seine äußerste Zuspitzung. Travelers heftiger Abwehrzauber gegen die entfremdende Universalität Europas findet seinen Höhepunkt in seiner nächtlichen Lektüre des "afrancesado" Ceferino Piriz aus Uruguay, dessen Weltverbesserungsplan von der Wahnhaftigkeit einer auf die Spitze getriebenen Vernunft zeugt. Dieser Widerstandsakt, zusammen mit Oliveiras vergeblichen Versuchen, einen erträglichen Modus der Heimkehr zu finden, besagt nichts weniger, als daß es eine Rückkehr möglicherweise nicht gibt — oder nur um einen hohen Preis.

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6. Die Dekonstruktion des Stereotyps der "Reise nach Europa" Um die Tatsache, daß Cortázar die Möglichkeit der Rückkehr in Frage stellt, richtig einschätzen zu können, muß man bedenken, daß historisch die "Reise nach Europa" ohne Rückkehr sinnlos war. Zwar behält Cortázar in Rayuela den rituellen Charakter der Reise in der lateinamerikanischen Literatur bei: die Reise verbindet Europa und Lateinamerika, keinesfalls aber verschiedene Länder Lateinamerikas; sie besteht aus Hin- und Rückfahrt, nicht jedoch, wie in der US-amerikanischen Literatur etwa, aus einem zufälligen Trip. Doch Cortázar hält am Ritual nur deshalb fest, um es um so besser zerstören zu können. Er zeigt, daß die Reise nach Europa als Akt der Selbstvergewissening des argentinischen Intellektuellen nicht mehr funktioniert. Alle Bedeutungen der Reise werden aufgegriffen in der Absicht, sie als Stereotypen der argentinischen Literatur und der nationalen Ideologie zu dekonstruieren. So besiegelt die Rückkehr des Horacio Oliveira nach Buenos Aires nicht, wie etwa im Fall der gentlemen-escritores vor der Jahrhundertwende, die Überlegenheit als ein in die Zivilisation initiiertes Mitglied der Gesellschaft gegenüber den Daheimgebliebenen, sondern die Rückkehr bringt lediglich das Ausmaß der Entfremdung ans Licht, das die Distanzierung hervorgerufen hat. In der Bewegung der Reise hat keine Verknüpfung oder Synthese zwischen Lateinamerika und Europa, zwischen Buenos Aires und Paris stattgefunden; vielmehr hat sich die Differenz manifestiert. Und anders als die gentlernen, die aus Europa als Weltmann zurückzukehren meinten, kann Oliveira nichts von dem in Paris Erlebten mit Argentinien in Verbindung bringen. Die europäische und die argentinische Erfahrung sind für den Heimkehrer inkompatibel. Weder findet sich in Buenos Aires der erhoffte Schlüssel, der die Pariser Bruchstücke geordnet und zu einer Erkenntnis gebündelt hätte, noch eine sprachliche Form, um den Freunden in Buenos Aires vom anderen Ufer überhaupt berichten zu können. "Una de estas noches", verspricht Oliveira Traveler, "te voy a contar de allá" (R:466). Kurz darauf heißt es hingegen: "[...] en realidad él no le podía contar nada a Traveler. Si empezaba a tirar del ovillo iba a salir una hebra de lana, metros de lana [...]. Hubiera tenido que hacerle sospechar a Traveler que lo que le contara no tenía sentido directo (¿pero qué sentido tenía?) y que tampoco era una especie de figura o alegoría. La diferencia insalvable, un problema de niveles" (R:467). Doch ohne den Bericht über Reise, und sei es in Form ungezählter Postkarten, verliert diese ihre vermittelnde Funktion zwischen zwei Welten. In Rayuela verfestigen sich die dualen Strukturen, die zu überwinden Oliveira auszog. Das hier und das dort schließt sich gegenseitig aus. Wie ein Lichtschalter kann sich sein Bewußtsein entweder auf diese Seite oder auf die andere Seite beziehen, eine Mittelstellung der Identität gibt es nicht, es sei denn um den Preis des W a h n s i n n s . Versuche, durch sprachliche, spielerische oder metaphorische Brücken die beiden Welten zu vermitteln, scheitern ebenso wie die halbbewußte Projektion des Maga-Bildes auf Talita in der Hoffnung, diese zu einem Medium der Verknüpfung — zwischen Paris und Buenos Aires wie auch zwischen sich und Traveler

40 — machen zu können. Am Ende dieser Bestrebungen ist Oliveira kurz davor, irre zu werden, denn statt der Verschmelzungen erreicht er lediglich einen chronischen Zustand der Verwechslungen. "En París todo le era Buenos Aires y viceversa" (R: 141). Dieser Satz, der im Paris-Teil die Möglichkeit einer Synthese nahelegt, erweist sich in Buenos Aires als die Beschreibung eines Symptoms, dessen Ursache der Versuch der Einebnung von Differenzen ist, ein Prozeß, an dessen Ende Cortázar Verwirrung und nicht Synthese stellt. Je größer aber die Verwirrung, desto weiter ist der Protagonist vom Ideal des Zentrums entfernt, in dem alle vorstellbaren Welten, alles Wissen und alle Erfahrung — und, in letzter Konsequenz, Zentrum und Peripherie — zusammenfällt. Was Cortázar dem Leser in der Gegenüberstellung eines europäischen und eines lateinamerikanischen Teils vorführt, ist, wie die akkumulierte Bildungskultur des Westens, die sowohl Bedingung als auch Anlaß der Reise nach Europa war, sich bei der Rückkehr nach Buenos Aires unversehens in nichts auflöst. Doch statt der Befreiung vom Zwang der Reflexion und Bedeutungsstiftung, eine Obsession, die in Europa den Zugang zum "kibbuz del deseo" verhindert hatte, erwartet den heimgekehrten Oliveira der Absturz in die bodenlose Leere eines bedeutungslosen Lebens. Auf allen Ebenen arbeitet der Roman den vexierbildhaften Umschlag der Grundbedingungen des Lebens beim Ubertreten der Grenze zwischen Europa und Lateinamerika heraus. Nicht nur, daß Cortázar seinen Protagonisten, kaum daß dieser in Buenos Aires angekommen ist, der Notwendigkeit des Geldverdienes unterwirft; es drehen sich die Bedeutungen all dessen um, was Oliveira in Paris erlebte. Ein Beispiel: "El juego consistía en recobrar tan sólo lo insignificante, lo inostentoso, lo perecido" (R:126), so lautete die Regel des Erinnerungsspieles mit der Maga. Doch während der poetische Zauber des Spiels darin bestand, nur das Unbedeutende zurückzuholen, stellt sich bei der Rückkehr heraus, daß zu Hause alles unbedeutend ist. In Paris immer auf der Suche nach einem unmittelbaren, nicht intellektuell gebrochenen Zugang zur Welt, ist dem kolonialisierten Subjekt in Buenos Aires, wo alles gegenwärtig, konkret und greifbar ist, das Unmittelbare alles andere als poetisch. Es ist nur noch banal. Die Reflexion des kolonialisierten Subjekts auf Argentinien ist nicht Cortázars letztes Wort. Güiraldes konnte bekanntlich Argentinien erst richtig entdecken, nachdem er mit Europa abgerechnet hatte: er entdeckte die "grandeza" der Nation. Cortázar hingegen hatte mit eben jener Größe abgerechnet, als er Europa entdeckte. Um der im öffentlichen Diskurs sich niederschlagenden nationalen Ideologie sowie der geistlosen Konventionalität der Kultur zu entgehen, nahm er den Standpunkt der Weltkultur ein, die ihren Ort in Paris hat. Doch solange man auf dem Standpunkt der Weltkultur steht, bleibt einem in Argentinien der einzige Freiraum verschlossen: der private Bereich, in dem die Sinnlichkeit des Augenblicks, die Liebe oder die spielerische Kommunikation unter Freunden vor dem Pathos der nationalen Größe schützen. Verläßt man andererseits Argentinien nicht, erfährt man von der Weltkultur nur die gleichsam offizielle konventionelle Form. So stellt sich für Cortázar das

41 Verhältnis von Buenos Aires zu Paris dar. Literarisch nicht nur in Rayuela, sondern im gesamten Werk immer wieder durchgespielt, bleibt das Problem, das ja auch Cortázars eigenes ist, ungelöst. Ob die "Gran Cultura" wirklich in Paris ergiebiges Thema der Bohfeme ist, während sie in Buenos Aires als Bestandteil der nationalen Rhetorik in den Händen einer kunstlosen Bourgeoisie liegt, mag dahingestellt bleiben. Im Rahmen dieses Aufsatzes ging es vor allem um die Objektivierung Argentiniens im Werk Cortázars, nicht jedoch um seine idealisierenden Projektionen bezüglich Europas, obwohl beides natürlich nur künstlich voneinander zu trennen ist. Dem Mythos von der nationalen Größe versetzt Cortázar jedoch mit seiner Darstellung des Verhältnisses von Buenos Aires und Paris einen Schlag. Sie zeigt, daß in Argentinien Poesie und Kunst vor allem in der Sprache und der Intimität des alltäglichen Lebens zu finden ist, und zwar deshalb, weil man sich spielerisch und mit Witz auf die private Geschichte bezieht — und nicht auf die offizielle. Den Zwängen der nationalen Rhetorik kann sich nur entziehen, wer auf die "Gran Cultura" verzichtet. Bibliographie Arlt, Roberto. 1978. Los siete locos — Los lanzallamas (Prólogo, edición y cronología de Adolfo Prieto). Caracas: Col. Ayacucho. Cortázar, Julio. (1963). 1984. Rayuela (Edición de Andrés Amorós). Madrid: Cátedra. (R). Fuentes, Carlos. 1972. La nueva novela hispanoamericana. 3. Aufl. México. Germani, Gino. 1966. Política y sociedad en una época de transición. De la sociedad tradicional a la sociedad de masas. Bunios Aires. Lisi, Cristina. 1987. El proyecto cultural de la revista Sur (1931-1970). Un ejemplo de literatura 'marginal'en el Río de la Plata. In: José Morales Saravia (Hrsg.): Homenaje a Alejandro Losada. Lima: 665-84. Morales Saravia, José. 1986. El discurso argentinista en los años treinta: Scalabrini Ortiz, Martínez Estrada y Mallea. Diss. Freie Universität Berlin. —. 1987. Scalabrini Ortiz, Martínez Estrada y Mallea: tres formas del discurso argentinista en los años treinta. In: ders. (Hrsg.):Homenaje a Alejandro Losada. Lima: 37-64. Rama, Angel. 1982. La novela en América Latina. Panoramas 1920-1980. Bogotá.

42 Sarmiento, Domingo Faustino. (1845) 1958. Facundo. Civilización y barbarie. Buenos Aires. Scobie, James R. 1974. Buenos Aires: Plaza to Suburb. New York. Viñas, David. (1964) 1971. Literatura argentina y realidad política. De Sarmiento a Cortázar. Buenos Aires: Siglo Veinte. (1974.2 ed.). Yurkievich, Saúl. 1986. Mate, tango y metafísica. In: INTI22-23: 17-27.

Fünf Gedächtnis-Figuren aus dem Archiv des J.L. Borges Martin von Koppenfels Somno quoque serpente amputatur, ut inanis mens quaerat ubi sit loci. Plinius Maior: "memoria" I Vorstellbar wäre ein Vergleich zwischen Borges und Piranesi, der sich nicht mit der Herstellung einer Metapher zufriedengibt. Piranesis Carceri sind die Bauformen der Hölle, in die die superbia der Babylonischen Turmbauer gefallen ist. Sie sind zugleich Monument der superbia selbst, der Turm zu Babel von innen gesehen. Auch Borges ist fasziniert von diesem Turm, doch in seiner sprachlichen Bedeutung. Seine Erzählungen sind Einblicke in den Babylonischen Sprachbau. Zugleich sind sie dessen Ruine, Trümmerstück und verschlagener Bruchteil eben der Babylonischen Hybris; denn das, worauf sie verweisen, ist nicht die verlorene Ursprache, die die Namen der Dinge enthielte, sondern nur der Kreislauf sprachlichen Selbstbezugs. Borges ist wie Piranesi ein Architekt des Hirngespinstes, seine phantastische Kunst erschöpft sich im Entwurf nie gebauter, nie konstroierbarer Bauwerke. Beide Künstler haben für sich die Rolle des Architekten erwählt, welche sich bei näherem Hinsehen entpuppt als die unauflösliche Personalunion des Stilisten und des Archäologen. Beider Phantastik ist wesentlich Wiederholung des Vorgegebenen, Verharren in einer kulturellen, traditionellen Syntax, die dann allerdings mit der ganzen Konsequenz des Verfallenseins zu Ende gespielt wird. Was auf den Schriftsteller bezogen wurde, mag auch für den Zeichner gelten: "Ein fest zusammenhängender Teil der kulturellen Systematik wird mit denjenigen Mitteln transformiert, die traditionsgemäß diesem Gebiet angehören" (Lern 1975, 100). Das so beschriebene Verfahren ist aber kein imaginäres, sondern ein rhetorisches: die klassische Figur der reductio ad absurdum. Wie die Ficciones lassen sich die Carceri verstehen als Produkt des Umbaus und der Verfremdung dessen, was in begrenzter Menge im Gedächtnis gespeichert liegt. Auf der Suche nach Verbindungen zwischen Architektur, sprachlichem Diskurs (unterm Aspekt der Rhetorik ebenso wie unter dem der Schrift) und Gedächtnis stoßen wir auf eine materiale Basis in Gestalt der abendländischen Tradition der Mnemotechnik, wie sie von Frances A. Yates in The Art of Memory beschrieben wurde.1 Unversehens findet dort die alte, für Borges grundlegende Metapher von

'Yates 1966, 1-49. Fundamental für meine Argumentation ist vor allem die Diskussion der antiken Quellen zur rhetorischen Mnemotechnik (Cicero: De oralore, Quintilian: institutio oratoria, Anon.: Ad Herennium. Die antike Tradition kulminiert bei Augustinus Con/essiones X, 8): Höhepunkt der so einflußreichen Denkstruktur der Verräumlichung von Zeiterfahmng, der grandiosen Gleichsetzung 'Gedächtnis — Architektur': "campos et lata praetoria memoriae...aula ingenti memoriae..penetrale amplum et

44 den "Architekturen des Gedächtnisses" ihr Fundament; deutlich wird dies vor allem in den antiken Ursprüngen der Mnemotechnik als Teil der Rhetorik, deren wichtigstes Dokument die jahrhundertelang Cicero zugeschriebene Rhetorik Ad Herennium darstellt. Die Technik beruhte auf der aristotelischen Konzeption des inneren, mentalen Bildes; auf der Vorstellung vom Gedächtnis als wesentlich auf der Einbildungskraft (imaginatio, phantasfa) beruhendem. Die Rhetoriker entwickelten ein System des künstlichen Gedächtnisses, in dem die Teile des zu erinnernden Diskurses zunächst durch Bilder (imagines, phantäsmatä) ersetzt und diese dann in einem zweiten Schritt in einer Ordnung vorgestellter Orte {loci, töpoi) deponiert wurden. Dieser "leere Raum" aber, der das Bildgedächtnis aufzunehmen hatte, wurde als architektonische Vorstellung beschrieben. Bereits die antiken Quellen nehmen einen weiteren Schritt vorweg: hin zur Charakterisierung des Gedächtnisses als Schrift; sie vergleichen die loci mit Wachstafeln, die imagines mit Buchstaben, die Anordnung des künstlichen Gedächtnisses mit Schrift. An diese Tradition läßt sich eine Theorie des Phantastischen als Gedächtniseffekt anschließen;2 ist doch der antiken Rhetorik jede Rede 'Phantastik', insofern sie von der Fähigkeit zum phantäsma abhängt. Anders gesagt: der Gedächtnisraum, die Möglichkeitsbedingung jeder Rede, ist nicht neutral, leer, sondern bereits bildlich bearbeitet und bevölkert; ein räumlicher Plan ist unter die Zeitfolge der Rede projiziert. "Phantastik" im strengen Sinn ist dann vorstellbar als Störung der mnemonischen Ökonomie zwischen dem Raum der phantdsmata und dem der Rede, der auf jenem ruht. An einzelnen Stellen tritt das Bildmaterial in der Rede an die Oberfläche, wie wenn in einem abgenutzten Bild eine übermalte Bildschicht zum Vorschein kommt und die Kohärenz der Oberfläche durchkreuzt. Wird das Gedächtnis als Phänomen der 'Phantastik' begriffen, so kann Phantastik zum Phänomen des Gedächtnisses werden. In Diskursen der Neuzeit wurde die alte Phantasma-Mnemotechnik, das Bildgedächtnis, fast ganz durch das materielle Archiv der Schrift ersetzt; was nicht heißen muß, daß die Vorstellung eines sprachlich-rhetorisch vermittelten Gedächtnisses ad acta zu legen ist: daß das künstliche Gedächtnis nach antiker Theorie ein Effekt von Tropen (der Anbindung des Wortes ans Bild) war, läßt es weniger überraschend erscheinen, daß häufig auf dem Grund einer Borgesianischen Verfremdung ein Tropus schlummert, eine sprachliche Figur. Was aber die lang vollzogene Verschriftlichung und Archivierung des Gedächtnisses betrifft, diese erscheint in

infinitum..." (Yates, 47f). l Viel bleibt zu spekulieren über Umfang und Potential derjenigen Fiktion, die die antike Mnemotechnik gleichsam als Abfall produziert haben muß; stützende Architekturen, Fluchten aus loci und imagines, die im rhetorischen Vollzug doch nie zum Vorschein kommen konnten. Schlaglichter werfen die wenigen Stellen, wo solcher Unterbau an die Oberfläche tritt: die Lehrbeispiele fur imagines der Ad Herennium-, ihnen eignet eine nachhaltige Unheimlichkeit: "we feel that we have moved into an extraordinary world as we run over his places with the rhetoric student..." (Yates, 10) Könnte das, was bei Yates "a weirdly populated memory" heißt, Einblick in die beginnende Bildung einer phantastischen Welt gewähren?

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Borges' Werk so unmittelbar reflektiert, daß es stellenweise zur Karikatur, der "Bibliotheksphantastik" wird, wie sie in Michel Foucaults Essay "Un phantastique de bibliothèque" beschrieben ist: Das Chimärische entsteht jetzt auf der schwarzen und weißen Oberfläche der gedruckten Schriftzeichen, aus dem geschlossenen staubigen Band, der, geöffnet, einen Schwärm vergessener Wörter entläßt; es entfaltet sich säuberlich in der lautlosen Bibliothek mit ihren Buchkolonnen, aufgereihten Titeln und Regalen, die es nach außen ringsum abschließt, sich nach innen aber den unmöglichsten Welten öffnet ... Das Imaginäre konstituiert sich nicht mehr im Gegensatz zum Realen ... es entsteht und bildet sich heraus im Zwischenraum der Texte. Es ist ein Bibliotheksphänomen. (Foucault 1988, 160) Das so im Buchstaub lokalisierte Phantastische läßt sich zurückverfolgen zur Schrift, die ein Archiv ist, und von doit zum Gedächtnis. Die Manipulation greift an der Schrift an, verfremdet von dort aus das Gedächtnis und von dort aus das Verhältnis von "Ich" und "Gegenstand", das der cuento fantâstico vorstellt. Will man das strategische Ziel des phantastischen Diskurses — anthropologisch — als Verfremdung des Bewußtseins begreifen, so ist für Borges' Werk ein schwerwiegender Vorbehalt einzuräumen. Zwar wird die (romantische) Genealogie dieses Diskurses nicht zu verstehen sein ohne den "Gegensatz zum Realen", ganz gleich ob das Phantastische dort als Kompensation eines Allzunormalen oder als Exorzismus eines Allzuwirklichen erscheint; bei Borges aber, dem phantastischen Bibliothekar, ist die beunruhigende Wörtlichkeit der beschriebenen Welt je schon hintertrieben durch deren unentrinnbare — "B&chlichkeit". Unter diesem Vorbehalt also steht die Übernahme der folgenden anthropologischen Kategorien für die Lektüre von fünf Borgesianischen cuentos3: Es geht um die Verfremdung des Verhältnisses "Ich - Welt" wie es das literarische Werk in seinem eigenen Raum herstellt. Die Fremdheit dieser Welt erlaubt den Rückschluß auf die Entfremdung des ins Werk eingeschriebenen Subjekts. In der Wirkung, der Rezeption vollzieht sich dann eine komplementäre Bewegung: die dargestellte Welt wirkt auf ein (lesendes, hörendes) Subjekt: der Effekt der phantastischen Beunruhigung oder "Ambiguität". Vier Koordinaten, die sich in der frühen kindlichen Entwicklung des Menschen abzeichnen,4 helfen das dargestellte Weltverhältnis beschreiben: erstens das "Objekt"; seine Verfremdung im literarischen Diskurs ergibt die Bilder

'Die Beanspruchung solcher — einer strukturellen Anthropologie entnommener — Kategorien fur die Rede über Literatur findet sich z. B. bei Todorov 1970. Ich beziehe mich auf die Kapitel "Les thèmes du fantastique: introduction" und "Les thèmes du je*. 'Die Kategorien entstammen Jean Piagets Untersuchungen zur Kinderpsychologie, die auch Todorov (1970, 123-126) heranzieht. Piaget 1948, sowie Piaget 1967).

46 der Überschreitung von Subjekt-Objekt-Grenzen, die Visionen der All-Sprache oder der unmittelbaren Kommunikation mit dem Anderen. Zweitens der "Raum"; literarisch verfremdet erscheint er als phantasmagorische Architektur, als Borgesianisches Labyrinth, wo die Passage zwischen Innen und Außen statt hat. Zum dritten die "Kausalität"; in den cuento fantástico verschlagen, produziert sie Welten ohne Zufall, Welten unter der Alleinherrschaft des Zufalls, etc. Viertens schließlich und entscheidend für das Thema der Phantastik des Gedächtnisses, die "Zeit"; in ihr probt der cuento den Ausstieg aus der chronologischen Ordnung der Alltagszeit. Ein weiterer Begriff, der sich für die Lektüre als nützlich erweisen wird, ist der aus der Anthropologie vertraute rite de passage-,3 gemeint ist damit das Gebot — von dem die Literatur Spuren bewahrt — daß der Übergang von einem Bewußtseinszustand zum anderen an den Vollzug eines Ritus gebunden sei. Die vier angesprochenen Koordinaten sind aufs Engste miteinander verflochten: jede Veränderung am Subjekt schlägt auf sie alle durch. So in der Erzählung "El otro" aus Libro de arena, einer trockenen Durchführung des Doppelgänger-Motivs, der inszenierten Begegnung mit sich selbst. Daß vorfallen kann, was vorfallt, bedeutet erstens: die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt sind versehrt, eine unmögliche Kommunikation findet statt: El otro se había puesto a silbar. Fue entonces cuando ocurrió la primera de las muchas zozobras de esta mañana. Lo que silbaba, lo que trataba de silbar (nunca he sido muy entonado) era el estilo criollo de La tapera de Elias Regules. (PC, 11:457) Die zweideutigen imperfecto-Formen vermitteln die gleitende sprachliche passage vom Gegenüber (3. Person) zum Ich (1. Person). Ferner gerät der Raum ins Wanken: Boston oder Genf? Der eine Fluß, dieser doppeldeutige Ort der passage, heißt er Charles oder Rhone? Auch Kausalität und chronologische Zeit lockern sich in ihren Fugen; Wiederkehr findet statt: Sentí de golpe la impresión (que según los psicólogos corresponde a los estados de fatiga) de ya haber vivido este momento. (PC, 11:457) Ein Paradox zeichnet sich ab: das durch die vier Koordinaten oder Konventionen verbürgte Alltags-Bewußtsein ist die Bedingung für sprachliche Kommunikation. So ist es die Sprache, die die Subjekt-Objekt-Grenze errichtet und sich an ihr abarbeitet. Ginge es im Raum des Verfremdeten wirklich um unmittelbare Kommunikation, so bedeutete dies Austreibung der Sprache, Sprachverlust. Um das Sprechen zu

'Hier nach: Menninghaus 1986, 8; dort wird der Begriff rite de passage auf Benjamins Denken der Schwelle angewandt, wodurch er " topographisches*, ja architektonisches Profil eihält — was für meine Lektüre Borgesianischer Gedächtnis-Architekturen Aufschluß bringt.

47 bewahren, um die Erzählung pragmatisch möglich zu halten, muß irgendein Akt der Abwehr, der Reinigung stattfinden. Wir werden ihn in allen fünf Geschichten antreffen.

II Fünf Erzählungen sollen als Wegmarkierungen dienen, fünf Etappen von Borges' Arbeit am Gedächtnis, am sprachlich verfaßten Gedächtnis, nachzeichnen helfen: "Funes el memorioso", "El Zahir", "El Aleph", "El otro" und "La memoria de Shakespeare". Mit der Manipulation am Gedächtnis stößt die Phantastik ins Zentrum dessen vor, womit sie sich auseinandersetzt: "Identität" und deren Revers, den "Ort in der Welt". Sie fragt nach der Vorstellung "Ich" als Erinnertem, als Ordnungsleistung in der Zeit, fragt nach der Identität als der Kohärenz der Geschichte, die ich mir von mir selbst erzähle. Für den alten Diskurs über diese zerbrechliche, labyrinthische Architektur des Ich mag ein Satz einstehen, der nicht aus der Ad Herennium stammt, sondern aus Plinius, auf den Borges im "Funes" anspielt: Memoria necessarium maxime vitae bonum [...] nec aliud est aeque fragile in homine [...] itaque saepe deficere temptat ac meditatur vel quieto corpore et valido; somno quoque serpente amputatur, ut inanis mens quaerat, ubi sit loci. (C. Plinius Secundus Maior 1975, vii:xxiv) Mehr als nach dem Gedächtnis als anthropologischer Gegebenheit jedoch fragen Borges* Erzählungen nach der engen Verflechtung von Rhetorik und Gedächtnis, die mit dem Hinweis auf die antike "art of memory" illustriert werden sollte. Diese Verflechtung ermöglicht den Schluß, daß der vom Gedächtnis verbürgte, im Gedächtnis aufgeschriebene Ort, den der Geist bei Plinius so schmerzlich verloren hat, ein locus im Sinne der Rhetorik sei. Fügt man hierzu die ebenfalls in der antiken Diskussion angelegte Vorstellung von der Schriftlichkeit des Gedächtnisses, so entpuppt sich das Thema als Grundfrage des literarischen Diskurses: eine Geschichte über das Erinnern ist immer ein selbstbezügliches Unternehmen; die Literatur ist ein Gedächtnis (im Sinne von: Archiv), das den Anspruch erhebt, in seiner Architektur aus Schriftzeichen sei geordnete, chronologische Zeit aufgehoben; indem sie in ihrem Code Repräsentationen im Tempus der Erzählvergangenheit liefert, behauptet sie, das menschliche Gedächtnis sei eine Art von Schrift. Eine solche Behauptung, die allein für den mühelosen Übergang von Geschriebenem in Erinnertes und vice versa gutsagen kann, liegt dem Anfang von "El otro" zugrunde: El hecho ocurrió en el mes de febrero de 1969, al norte de Boston, en Cambridge. No lo escribí inmediatamente porque mi primer propósito fue olvi-

48 darlo, para no perder la razón. Ahora, en 1972, pienso que si lo escribo, los otros lo leerán como un cuento y, con los años, lo será tal vez para mí. (PC, 11:457) In den fünf Geschichten wird jeweils ein sprachliches Bild des Bewußtseins oder des Gedächtnisses isoliert, entfaltet, ins Absurde getrieben — und allein dadurch die fragile Einheit "Ich - Welt" erschüttert. 'Allegorien des Gedächtnisses' mag man die Erzählungen nur insofern nennen, als sie narrative Entfaltungen dessen liefern, was im alltäglichen Sprechen von den Bewußtseinsphänomenen bereits angelegt ist.

"Funes el memorioso": Die Gedächtnis-Schrift und das melancholische Erstarren der Welt Die Beschreibung des Weltbildes von Ireneo Funes (1942, in Ficciones) ist am ausgeprägtesten, wozu alle fünf Erzählungen tendieren: eine Geschichte der Schlaflosigkeit. Borges' eigener Kommentar behauptet ihre Genese aus diesem Motiv: "Para liberarme de todo eso [sc. Schlaflosigkeit] he escrito la historia de Funes que es una especie de metáfora del insomnio, de la imposibilidad de abandonarse al olvido".6 Schlaflosigkeit ist ein Symptom innerhalb der ehrwürdigen Diagnostik der Melancholie (so etwa in Robert Burtons Anatomy of Melanchofy), die Melancholie ihrerseits seit alters her assoziiert mit dem Gedächtnis. Die aristotelischen Quellen konstatieren "das launenhafte Erinnerungsvermögen des Melancholikers";7 erklärbar wird dies durch die Unterordnung des Gedächtnisses unter die vis imaginativa, das Vermögen der phantásmata, welche wiederum beim Melancholiker in abnormer Weise erregbar ist. Aus dieser halluzinatorischen Veranlagung erklärt sich bekanntlich das spätere Einmünden des Melancholie-Diskurses in den Genie-Diskurs. Funes jedenfalls entspricht dem physiologischen Typus des Melancholikers. Funes findet nur noch Schlaf, wenn er sich schwarze, kompakte Massen aus opaker Finsternis vorstellt, oder sich selbst, "eingewiegt und neutralisiert auf dem Grund des Flusses". "Funes" stellt wie "El Zahir" ein monströses Gedächtnis dar, das heißt ein Gedächtnis, dessen innere Repräsentation, das Bewußtsein zum besessenen macht. Es ist dies die Geschichte der absoluten Zersplitterung; das Ich geht verloren an die Mannigfaltigkeit ohne Synthese:

'Zitiert nach: Leclerc 1988, 36. 'Klibansy, Saxl, Panofsky 1990, 83ff; die aristotelischen Quellen: "De memoria et reminiscentia" II, "De somno et vigilia" ID.

49 No era muy capaz de pensar. Pensar es olvidar diferencias, es generalizar, es abstraer. En el abarrotado mundo de Funes no habfa sino detalles, casi inmediatos. (PC, 1:483) Dagegen wäre "El Zahir" die Geschichte des absolut Einen; die Mannigfaltigkeit der Welt geht dort verloren an den einen Punkt im Gedächtnis: restlose Kontraktion des Bewußtseins auf den einen opaken Punkt. Beide Male wird eine Dialektik von Vergessen und Erinnern freigesetzt: Gedächtnis-Überschuß zerstört die empfindliche Balance zwischen "Ich" und "Welt", mündet ein ins vollständige Vergessen. Dem Melancholiker gefriert die Zeit. Funes' Erinnerungen stehen seinen Wahrnehmungen des Gegenwärtigen an Intensität nicht nach. Wo recuerdo gleich percepción steht, ist das Ende der phänomenologischen Zeit erreicht. Funes' Ehrgeiz geht auf die totale Repräsentation eines mechanisch gestanzten Vergangenheitsausschnitts: Dos o tres veces habfa reconstruido un día entero. No habfa dudado nunca, pero cada reconstrucción había requerido un día entero. (PC, 1:481) Funes' Welt ist barock im Sinne einer Naturaleza muerta. Die Zeit als Ungreifbares, Sprachloses, als Bergsonsche durée pure erscheint in ihr nicht. Was erscheint sind Ordnung und Bild; deren Ausdrucksform ist die Aufzählung, die Rhapsodie. Die Welt ist in Fragmente stillgestellt, ihre Struktur unheilbar parataktisch. Eine mikroskopisch umrissene Mond- oder Eislandschaft, zersplittert in Millionen Kristalle, Monaden. Da sie weder Bewegung noch Lücken kennt, ist sie Bild der Determination. Die einzig verbleibende Aufgabe besteht darin, dieser Lückenlosigkeit ein ebensolches Netz aus Zeichen willkürlich überzuwerfen, sie in einem enormen Tableau zu klassifizieren. Funes' Projekte einer solchen Universalsprache stellen nichts anderes dar als eine Parodie der (mnemotechnischen) Idee von der GedächtnisSchrift, vom Zeicheninventar der Erinnerungen. Sie verweisen auf die firühneuzeitliche Sprachspekulation, aufLockes "Namensprache", auf John Wilkins' Sprache des "Real Charakter", der eine der Borgesianischen Essay-Fiktionen gewidmet ist. Funes' Auf-Zeichnung der Gedächtnisbilder nimmt außerdem den Traum von totaler Repräsentation wieder auf, von dem auch das Stück "Del rigor en la ciencia" (El hacedor) handelt: ins Räumliche gewendet: die Anfertigung eines mapamundi, so groß wie die Welt selbst. Damit parodiert der Erzähler auch die eigene Gedächtnisarbeit; jede Erzählung hat etwas von jener vereisten, willkürlich geordneten Sprachlandschaft, in der Funes lebt; sie ist (als Text, als Schrift) die räumliche Stillstellung eines ihr entzogenen zeitlichen Verlaufs. So versucht der Ich-Erzähler vom Anfang der Geschichte an, für die Erinnerung namens "Funes" selbst ein memorioso zu sein, sie auf eine Reihe von Worten zu bringen und dann zu wiederholen: Wort für Wort. Die Resignation angesichts der Aufgabe, die Bewegung der Erinnerung zu erfassen, mündet ein in die Vision einer Sprache, die nur Namen

50 kennt; die sich jeder Synthese des Referenten, die sich aller Syntax enthält. Sprache ohne Schluß, ohne Begriff, ohne Urteil, ohne eigene Bewegung. Bewegungslosigkeit ist der Schlüssel zur Gedächtniswelt, zur Sprachwelt des memorioso; aber auch zu seiner persönlichen Existenz: er erscheint gelähmt, eingeschlossen ins Haus der Mutter, in Dunkelheit (wie ein Blinder). "Su condición de eterno prisionero" ist Metapher für diese Repräsentation, in der die Bewegung des Denkens unmöglich ist: die Architektur des totalen Gedächtnisses ist geordnet, aber ohne Richtung oder Zentrum. Dies ist übrigens Borges' Definition des Labyrinths; daher assoziiert er Funes' Realität mit den großen Labyrinthen "Babilonia [!] Londres y Nueva York" (PC, 1:483). Die Konjunktion zweier aus der Antike überkommener "Gedächtnis-Metaphern", denjenigen der Architektur und der Schrift, soll uns legitimieren, hier vom "Labyrinth der Schrift" zu sprechen. Der cuento selbst ist ein solches Labyrinth, in dem sich die Zeit fangen; erstarrte Architektur, in der Erinnerung stattfinden soll. Wenn aber die melancholischen Obertöne, mit denen Funes' Schrift-Gedächtnis beschrieben wird, nicht trügen, dann partizipiert auch Borges' Erzählung am jahrhundertealten Unbehagen gegenüber der Schrift als Archiv des Gedächtnisses, an der Tradition der Schriftkritik8: in der Schrift lagert keine "Zeit" sondern nur Daten, sie ist eine tote Landschaft — die Zeit bleibt immer jenseits ihres Rahmens. Funes aber kann nicht schlafen: Schlafen hieße einen Neuanfang machen, die Jagd nach Zeichen ruhen, das starre Raster, das eine Welt zu bezeichnen hat, gleiten lassen. Funes' Gedächtnisgefängnis, sein Sprachgefängnis, hat dafür keine Zeit.

"El Zahir": Die Machtergreifung des Symbols und das Vergessen der Welt Der Geschichte von Funes steht "El Zahir" (1947, in El Aleph) insofern nahe, als sie von der Zerstörung der Freiheit, sich zur Welt zu verhalten handelt — herbeigeführt durch zuviel Erinnern. Hier nun wird die Welt vergessen, nicht aufgrund der Mannigfaltigkeit, sondern durch die Konzentration im Gedächtnis; Konzentration auf den einen Nabelpunkt, der eben nicht Mikrokosmos ist (wie etwa ein Aleph), sondern opak. Auch "El Zahir" partizipiert am Motivkreis der Melancholie und zwar nicht nur hinsichtlich der Diagnose der Schlaflosigkeit; bildete doch, was psychologisch idée fixe heißt, als Monomanie Teil der klassischen Analyse der Melancholie. Vor allem aber geraten wir hier in die Nähe des eigentlich theologischen

'Die Geschichte des schriftkritischen Denkens, das, wie so oft festgestellt, seinen sichtbaren Ausgangspunkt von dem Mythos von Theuth und Thamus nimmt, den Plato im Phaidros erzählt (274b ff), ist hier natürlich nicht aufzurollen. Wenigstens verwiesen sei auf die Diskurssion einiger entscheidender Stationen im Rahmen von Jacques Derridas Grammalologie.

51 Begriffs des Melancholischen, assoziiert mit einer Todsünde, der acedía. Zum Schuldbild des Melancholikers gehört eben die Konzentration, die Treue zur transzendenzlosen Dingwelt, eine "in kontemplativer Ergebenheit geradezu versunkene Treue gegen die Dinge" (Benjamin 1975, 134f). Kehrseite dieser Ergebenheit aber ist der Verrat an der Welt, ein universales Vergessen, das sich steigern kann bis zum Vergessen Gottes. Als Ausgangspunkt und Hintergrund für die Beschreibung des Bewußtseins, das vom Zahir besesssen wird, dient der Tod einer Frau: Teodolina Vilar. Wofür steht sie ein? Teodolinas Lebensgeschichte ist ein Hymnus auf die Mode als Befreiung vom Identitätszwang. Sie ist die Frau mit dem täglich wechselnden Gesicht: "Buscaba lo absoluto, pero lo absoluto en lo momentáneo" (PC, 11:78). Sie ist Maskottchen einer Denkñgur des Berkeleyschen Idealismus, die Borges in seinem Essay "Nueva refutación del tiempo" zitiert: das vollständige Aufgehen des Bewußtseins im Momentanen, ganz Gegenwart, ohne Gedächtnis. Zwischen jeder Maske und der folgenden ist die Person Teodolina gestorben. Dennoch hat diese so ganz dem Marktwert, dem Zufall der Mode verschriebene Frau nachträglich einen Namen und eine Geschichte; der materielle Tod beweist paradox die unbegreifliche Einheit der Person, dieser heteroklitischen Anhäufung von Masken; die Kette der Gesichter wird rückwärts durchlaufen: "En los velorios, el progreso de la corrupción hace que el muerto recupere sus caras anteriores" (PC, 11:79). Was aber fuhrt, in der Logik des Erzählten, von Teodolina zum Zahir? Beide sind assoziiert mit dem Geschick des Geldes (nicht ganz zufällig gibt sich der Zahir als Münze). Frau und Münze zeigen ihr Gesicht (cara). Die cara der Person verändert sich, Zeit schreibt sich ihr ein, verleiht ihr Geschichte. Dies aber heißt in Borgesianischer Logik: Verlust der Freiheit. Teodolina allerdings ist ein Zwischenwesen, denn die Serie ihrer Gesichter ist vom Zufall der Mode geschrieben. Geld dagegen ist abstrakt, ist offenen Zukunft, da seine cara gleichbleibt, die Zeit in sie keine Spuren legt: Cualquier moneda [...] es, en rigor, un repertorio de futuros posibles [...] el dinero es tiempo futuro [...] es tiempo imprevisible, tiempo de Bergson, no duro tiempo del Islam o del Pórtico [...] una moneda simboliza nuestro libre albedrfo. (PC, 11:80) Dies ist Selbsttäuschung; mit unverhohlener Ironie entpuppt sich der Zahir, dieser Agent des Determinismus, ausgerechnet als Münze. Geld gilt als das Zeichenhafte schlechthin, in zweiter Potenz gleichsam, da es kein Objekt-Zeichen ist, sondern Wert-Zeichen; ein willkürlich gesetzter Signifikant für einen abstrakten Wert. Diese eine Münze nun läuft Amok: sie bricht aus der endlosen Kette des Umsatzes Ware — Geld — Ware und setzt ihren Tauschwert, ja eigentlich sich selbst, absolut. Ein Nichts, das alle Waren, das Universum der Sachen, verdrängt. Was Borges hier vorführt läßt sich ummünzen in eine Kritik an der gesellschaftlichen Tendenz zur

52 Fetischisierung des Geldes selbst, die den "Fetischcharakter der Ware" hinter sich läßt; das vertraute Bild eines ökonomischen Systems, in dem sich jede Münze tendenziell als Zahir verhält. Von hier aus wird der Sprachcharakter dieser Phantastik sichtbar: seit Saussure ist 'Geldwert' eine kurrente Metapher für semantische Relationen. Das Prinzip des Zahir ließe sich sprachlich vielleicht so auffassen: die Kraft der Assoziation, die unter anderem das Funktionieren des Gedächtnissses und die Wirksamkeit des Symbols sicherstellt, verselbständigt sich; von nun an wird mit jedem Ding der Welt die eine Sache assoziiert, die in sich nichts ist, es sei denn das Assoziieren selbst. Borges' Zahir teilt gewisse Merkmale mit dem "literarischen Symbol", dessen Begriff von der Weimarer Klassik formuliert und zum Dogma erhoben wurde. "El Zahir" würde so lesbar als narrative reductio ad absurdum eines ursprünglich rhetorischen Elements. Im Symbol sah Weimar das Einzelne als zugleich unendlicher Bedeutung teilhaftig — in Goethes Formulierung: "Wer nun dieses Besondere lebendig erfaßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät". 9 Entscheidend für die so bestimmte "symbolische Totalität" ist die Abgrenzung vom "Willkürakt" der Allegorie. Im Symbol (das kein Zeichen ist!) ist die Idee unmittelbar präsent, ist sie ihre Erscheinung bzw. hat sie ihr Dasein im Gegenstand. Daß diese symbolische Erfahrung, "offenkundig nicht so sehr eine ästhetische als eine Wirklichkeitserfahrung",10 auch Gedächtniserfahrung sein kann, vermag Marcel Prousts petite madeleine zu beweisen, die durchaus strukturelle Merkmale mit dem Symbol der Weimarer Klassik teilt, jene madeleine, die als materielles Pfand für die blitzhafte Erfahrung der Gedächtnis-Ganzheit von verlorener Zeit einzustehen hat. Solch symbolische Erfahrung scheint in "El Zahir" beim Wort genommen, zum unendlichen Traum (und das heißt, zum Alptraum) ausgesponnen, allerdings mit zwei wesentlichen Entstellungen: erstens ist, was einmal Symbol gewesen sein mag, auf den Nullpunkt reduziert, der Gegenstand verweist auf nichts außer sich selbst, in seiner ganzen kabbalistischen, theosophischen Aura ist er nur einfach absurd seine eigene Indifferenz. Zweitens: der Gegenstand bricht ins Ich durch das Gedächtnis ein. Daraus aber leitet die Erzählung per negationem ein Grundmotiv von Borges' Gedächtnisliteratur ab: die befreiende Kraft des Vergessens. Es geht um ein gerade-noch-sprechen-Können, die Erzählung ist möglich an dem äußersten Rand, den ein noch existierender olvido gegen das überhandnehmende Erinnern aufrichtet: En las horas desiertas de la noches aún puedo caminar por las calles [...] Antes de 1948 [...] no sabré quién fue Borges [...] Ya no percibiré el universo, percibiré el Zahir [...] Otros soñarán que estoy loco y yo con el Zahir. (PC, 11:84)

'Zitiert nach: Sörensen 1979, 633. 10 So Hans-Georg Gadamer, hier zitiert nach Kurz 1979, 13.

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"EI Aleph": Die Bedrohung durch die Metapher — und das Eingedenken Die Buchstaben sind es, die die Bibliotheksphantastik gebären. Kaum eine Erzählung bestätigt diesen Satz so wie "El Aleph" (1945), die sich aus dem einen, dem ersten Buchstaben entfaltet. Kein Wunder daß sie, deutlicher noch als "El Zahir", einen sprachlich-rhetorischen Kern hat. Nun ist aber jeder Buchstabe auch ein Erinnerungszeichen, sei es im Rahmen des kulturell-literarischen Gedächtnisses, sei es in dem des individuellen. Aufgrund dieser Doppelung wohl zerfällt das Folgende in zwei Lektüren derselben Erzählung, die einander negieren: die eine linguistisch, die andere sentimental. "El Zahir" wie "El Aleph" sind Geschichten des absolut Einen, die ein kreisrundes Objekt im Zentrum tragen. Beide Objekte negieren auf ihre Art die phänomenologische Zeit, die faßbar gemacht und der Ordnung unterworfen wird durch Oppositionen wie: 'anwesend — abwesend', 'Wahrnehmung — Erinnerung'. Diese Opposition durchkreuzt der Zahir (das abwesende, erinnerte Eine bricht in die Anwesenheit ein); es durchkreuzt sie auch das Aleph: das ausschließlich Anwesende nimmt alles Abwesende in sich hinein, es ist simultan das Universum. Es verdrängt die zeitliche Sukzession, den Modus der Abwesenheit, es verdrängt die Erinnerung. In eigenartigem Rollentausch wird nunmehr das Gedächtnis selbst zum Bedrohten. Der Tod einer Frau ist, wie in "El Zahir", die Grenze, die den Anfang des Erzählens ermöglicht und belastet. Es bildet sich eine elegische Konstellation: die Abwesende wird zum Prinzip der emphatischen Behauptung gegen Veränderung. Allerdings herrscht wechselseitige Abhängigkeit; nur aufgrund zeitlicher Veränderung wird die elegische Identität ihrer selbst inne: comprendí que el incesante y vasto universo ya se apartaba de ella y que ese cambio era el primero de una serie infinita. Cambiará el universo, pero yo no, pensé con melancólica vanidad. (PC, 11:112) Eine erste Lektüre gelte dem cuento als Entfaltung — usque ad absurdum — des metaphorischen Prinzips der Sprache. In Betracht kommt die "Metapher" hier als Figur der paradigmatischen Achse der Sprache. Als Phänomen der Simultanität: an einem Punkt im Text überlagern sich zwei (oder mehr) Ebenen, deren keine in der Wirksamkeit der Metapher ganz verschwindet; ihre Konstellation mag daher simultan heißen. Im Text-Raum anwesend ist nur das Zeichen, der metaphorische Ausdruck, denn in diesem Raum entfaltet sich das Syntagma; an jeder Stelle im sprachlichen Syntagma aber steht nur ein Element. In der Metapher scheint Sprache aus ihrer fundamentalen Sukzessivität ausbrechen zu wollen. Die Kommunikation, pragmatische Anwältin der Lesbarkeit, toleriert den Einbruch, den Stolperstein "Metapher" um den Preis ihrer Beschränkung auf einen Punkt. Im Aleph nun fmdet eine unheimliche Bemächtigung statt: das Paradigma, das

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hier total ist, da nicht zwei Ebenen sich überlagern, sondern alle — "el lugar donde están, sin confundirse, todos los lugares del orbe" (PC, II: 119) — das Paradigma ergreift Besitz vom Raum: all das, was sonst nur in Sukzession nacheinander repräsentiert werden kann (wie etwa im kosmologischen Gedicht, im epischen Weltinventar) ist zugleich da. In Begriffen der Gedächtnis-Rhetorik beschrieben ist das Aleph ein Gedächtnis-Ort, der eine schwindelerregende Perspektive auf unendlich viele imagines aufreißt. In Frage gestellt wird eines der Fundamente der Sprache. Der Erzähler selbst reflektiert darauf, daß Sprache an jenes fragile Ineinander von Sukzession und Gleichbleiben gebunden ist, das memoria heißt: Arribo ahora al inefable centro de mi relato; empieza aquí mi desesperación de escritor. Todo lenguaje es un alfabeto de símbolos cuyo ejercicio presupone un pasado que los interlocutores comparten. ¿Cómo transmitir a los otros el infinito Aleph que mi temerosa memoria apenas abarca? (PC, II: 121) Der Satz selbst gibt jenes Ineinander preis: "arribo" (Sukzession) — "al inefable centro" (Simultanes) — "de mi relato" (sprachliche Repräsentation). Was folgt ist das wohlinszenierte Scheitern der Sprache an der Simultanität, die Auflösung jenes unaussprechlichen Präsenten in eine wirr gewürfelte Serie; nach dem epischen Prinzip des Katalogs, das Borges so fasziniert: die Ordnung der Sprache reduziert auf ihren archaischen Kern, bloßes Hintereinander. Das heißt: Herrschaft der Parataxe, Zerstörung sprachlicher Synthesis. Grund dafür ist eben der Versuch, die Zeit auszutreiben. Syntaktische Ordnung, zumal die kausale, ist eng verwandt mit Anordnung durch einen potentiellen Zeitverlauf, durch eine Relation, die in der Zeit ist. Der Versuch, um des Simultanen willen die Zeit aus der Sprache zu tilgen, bringt also zuerst die Regression auf die archaisch hilflose Liste. Am Schluß der eigentlichen Aufzählung, die noch durchschossen ist von Sinnfäden, die vom "Ich" ausgehen, von Erinnerung und Wiedererkennen, bevor noch die Schau im Aleph sich auf sich selbst zurückwendet, steht das Bild der Frau: Beatriz. Es folgt die Profanation der elegischen Erinnerung durch das Simultane. Die Abwesenheit "Beatriz" wird vernichtet durch das, was da ist. Den Schlußpunkt unter den Katalog setzt der Tod: vi la reliquia atroz de lo que deliciosamente había sido Beatriz Viterbo [...] vi el engranaje del amor y la modificación de la muerte. (PC, 11:122) Wie im dämmrigen Hintergrund einer barocken Vanitas-Allegorie erscheint ein Totenschädel. Die Assoziation ist die des barocken desengaño, beruht doch auch dieser wesentlich auf einem Stillstellen der Zeit, auf einem Durchschauen aller Dinge auf ihren je schon anwesenden Tod hin. Im Zeitverlauf dagegen lebt der engaño — und zwar in seinen beiden Gestalten: Hoffnung und verklärende Erinnerung.

55 Eine zweite, eher sentimentale Lektüre könnte dem gelten, was zwischen den Schriftzeichen hervorgeht: dem intertextuellen Bezug, der "El Aleph" als historia dantesca lesbar macht. Das Aleph nämlich ist nur scheinbar "centro del relato"; zumindest jedoch gibt es ein Gegenzentrum: die Erinnerung ans Einfache, an Beatriz Viterbo. Sie ist der abwesende erotische Orientierungspunkt, der Identität stiftet. Ihr entgegen steht das anwesende All, der DesOrientierungspunkt. Im Prolog der Nueve ensayos dantescos (1982) beschreibt Borges die Divina Comedia Dantes in Worten, die das Aleph in Erinnerung zu rufen geeignet sind. Er vergleicht sie mit einem "grabado", in dessen "laberinto tranquilo" alle Dinge versammelt sind. In ihr ist die Zeit aufgehoben, sie ist ein universaler Gedächtnisort. He fantaseado una obra mágica, una lámina que también fuera un microcosmo; el poema de Dante es esa lámina de ámbito universal. (OC, 111:343) Doch geht es dem alten Borges nicht um den Universalitätsanspruch, sondern um den Reichtum des Präzisen und die Rettung des Einzelnen, auch des psychologischen Details. So etwa en "La última sonrisa de Beatriz": Yo sospecho que Dante edificó el mejor libro que la literatura ha alcanzado para intercalar algunos encuentros con la irrecuperable Beatriz [...] En el principio de la Vita nova se lee que alguna vez enumeró en una epístola sesenta nombres de mujer para deslizar, entre ellos, secreto, el nombre de Beatriz [...] Pienso que en la Comedia repitió ese melancólico juego. (OC, 111:373) Eine Bewegung, die auf "El Aleph" übertragbar ist: Errichtung eines unendlichen Textes, Architektur eines Kosmos, nur um das eine Detail einzuschleusen, das Erinnerungsbild — "el encuentro imposible", "encuentro en sueños". An literarischen Schlüsseln herrscht kein Mangel. Da sind die Namen, allen voran "Beatriz Viterbo", sowie das parodierend italianisierte Ambiente, der italienische Klischee-Kolorit, mit dem "El Aleph" gesättigt ist; der Aufbau der Geschichte, die Stufen, die zu Vision und Begegnung hinaufführen: Tod der wesentlich unverfügbaren Frau — Apotheose in der Erinnerung — die notwendige Figur des Mittlers; diese Rolle spielt Carlos Argentino Danieri als grotesk feixender Vergil, er ist für den Erzähler der "maestro mio, segnore", der Epiker, der episch und sublim geschwätzige Führer ins Innere, zur Vision; — der Zugang zum Aleph bewahrt ein häusliches Zerrbild der Unterweltsfahrt (Abstieg, Dunkelheit, Klaustrophobie); Lage und Emotion, in denen die Vision sich ereignet, suggerieren die Auflösimg der IchGrenzen: Lage des Embryos, des Toten — Todesangst. Das Begehren, das sich auf das Aleph richtet, wäre also, in Analogie zu Borges* Dante-Lektüre, die Hoffnung auf ein unmögliches Treffen. Wie in der Comedia wird dem erhofften Treffen nie

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ganze Gegenwart zuteil. Der Erzähler hat nicht mit der simultanen Kraft des Aleph gerechnet: was er sehen will, sein Inbild, ist nur als Abwesendes wirklich. Das unmittelbare Zusammentreffen ist nur der Tod und damit — das Ende der Elegie. Am Schluß steht die Wiedereinkehr in die Literatur, in jene Sprache, die auf erstarrter, chronologischer Zeit beruht: Erzählung. Nach dem Ausbruch aus dem Normalbewußtsein, der passage, findet ein expiatorisches Ritual statt, das Weitersprechen ermöglicht: "Felizmente, al cabo de unas noches de insomnio, me trabajó otra vez el olvido" (PC, 11:123). Die Sprache in ihrer würdelosesten Form, das epische Gefasel des Vergil Carlos Argentino, behält das letzte Wort. "Palabras insustanciales" als Relikt der Gattung: das nackte Prinzip Häufung, das Epos ohne Welt. Die genau datierte posdata aber ist ein textuelles Austreibungsritual, wie Borges es häufig einsetzt: Rückkehr in die Chronologie, Geste der Distanzierung, Bruch der Textebene. Der Text befreit sich vom rituellen Objekt, indem er das Aleph zur Fälschung des Gedächtnisses umerklärt. Obwohl so der Zeitfluß des Weiterredens über die sprengende Bildlichkeit des Aleph triumphiert, beschreibt Borges' Geschichte doch — als mokierende Variation über Dante — einen Kreis, das heißt die Figur, die die chronologische Linie verwirrt. In der Parodie schafft die Literatur die Form der Wiederkehr, mit der sie sich begnügen muß, vielleicht die einzige, die ihr erreichbar ist. Mit unermüdlichem Ordungswillen schafft der phantastische Bibliothekar über seinen Katalogen, an der Vervollständigung seines Inventars der Figuren. Kein Wunder daß sein Werk sich archivieren läßt in klarer Klassifikation; auf die Geschichten des Mannigfaltigen und die des Einen folgen die der tiefen Entzweiung, von denen zwei, "El otro" (1975, in El libro de arena) und "La memoria de Shakespeare" (1980) abschließend erwähnt seien. Eine von Borges' bekanntesten Essay-Fiktionen heißt "Historia de la eternidad". Das Projekt, das der Titel verkündet, ist absurd: Geschichtsschreibung der Ewigkeit, Einpassen des Inkommensurablen in die Chronologie einer Erzählung. Dieses Absurdum liefert einen Schlüssel zu Borges' Literatur, denn es meint: historia de la "eternidad", Geschichte der Vorstellungen, der Bilder und Figuren, der Literatur von der Ewigkeit. Zugleich suggeriert der Titel, daß Ewigkeit nur als "Ewigkeit" ist. Damit fallt auch sie unter den Zugriff des historiar, eine literarische Totale auf die Welt wird möglich, ja einzig möglich. Im Paradox des Titels aber klingt augenblickslang an, daß es nicht so wäre, daß Satz 7 des Tractatus von Wittgenstein — "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen" — in der Schwebe gehalten würde. In einem solchen sekundenlangen Befreiungsrausch der Sprache liegt wohl die Kraftreserve phantastischer Literatur, und zwar auch in ihrer bibliothekarischen Spielart. Dann aber erfolgt der Rückfall: gesprochen werden kann nur von dem, was je schon versprachlicht, den Zeichen — den Anführungszeichen — anheimgegeben ist. Dies gilt auch, in unserem Fall, für "tiempo" und "memoria". Der Essay "La esfera de Pascal" beginnt mit den Worten: "Quizá la historia universal es la historia de unas cuantas metáforas" und er endet mit dem Satz:

57 "Quizá la historia universal es la historia de la diversa entonación de unas cuantas metáforas" (PC, 11:187). Mit dem eher konventionellen Satz, die Literatur sei das Sprachspiel (das einzig mögliche Sprachspiel) mit den Figuren einer Großen Rhetorik, ist es nicht getan. Entscheidend für die Literatur ist die Betonung dieser Figuren, der Affekt, den sie zu tragen haben. Von der zutiefst ambivalenten Besetzung der Zeit-Metaphern etwa geben Borges* Erzählungen Auskunft. Zeitmetaphern spiegeln das Unmögliche vor, die Objektivierung, die nicht stattfinden kann: das Ich stellt sich der Zeit gegenüber, als ein von ihr Abgehobenes. Für Borges nun scheinen beide grundlegenden Zeit-Bilder Horror-Konnotationen zu tragen, da sie beide in Determinismus münden. Das erste dieser Bilder, mit denen es die Arbeit an den kulturellen Metaphern zu tun hat, ist die Linie, der Zeitfluß. Er herrscht unabhängig vom Ich als endlose, lückenlose Folge von Gliedern, die kraft der Kausalität verkettet sind. Indem nichts zum Ich zurückkehrt, ist auch das Ich stets neu und damit gleichsam der "Zeit" zur Freiheit beraubt, jener Gegenwart, die nötig wäre, um sich in der Zeit zu verhalten. Das zweite Bild ist der Kreis. Die Wiederkehr des Gleichen schließt das Neue kategorisch aus. Indem alles ewig zum Ich zurückkehrt, wird ihm gleichsam der "Raum" zur Freiheit genommen; in der Einkreisung geht der Zeit-Raum verloren, jene fundamentale Offenheit des Kommenden (und des Gewesenen) ohne die es kein freies Verhalten gibt. In den folgenden zwei Erzählungen nun findet ein Exorzismus deterministischer Zeitbilder, Kreisbilder in diesem Falle, statt.

"El otro": Recordar-se: die Auseinandersetzung mit dem eigenen Gedächtnis Wollte man für die Erzählung einen ersten Auslöser im Bereich der Rhetorik auffinden, so wäre das Prinzip der Paronomasie zu nennen: das Analyse-Spiel mit dem, was in den Wörtern liegt. Das Rhetorische ist nicht Thema, wohl aber hervorbringender Mechanismus, versteht sich doch die Geschichte ausdrücklich als parabelhaftes Beim-Wort-Nehmen einer Figur, die in der alltäglichen Rede von Erinnerung schon angelegt ist: AI fin y al cabo, al recordarse, no hay persona que no se encuentre consigo misma. (PC, 11:459) In "El otro" wird das Gedächtnis selbst als angsteinflößender Kreis, als Ort der Wiederkehr interpretiert, oder auch: in Kreisform erzählerisch ausgelegt. Das erinnerte Ich ist leibhaftig anwesend, als Gegenüber im Dialog. Ein Borgesianisches Leitmotiv: das Anrennen gegen die Identität in der Zeit; das Ich, das sich durchhält, als principium determinationis. Hier erscheint das Gedächtnis als Kerker, gepaart mit der Angstvision einer Erinnerung nach vorne.

58 Es finden sich weitere Leitmotive: die Unzulänglichkeit der Sprache; die ewig dazwischenstehende Literatur: "Hablamos, fatalmente, de letras". "Aconsejar o discutir era inútil, porque su inevitable destino era ser el que soy." Der Zeit-Kreis macht Sprechen nicht nur sinnlos, sondern unmöglich; Sprechen beruht auf Differenz; auf Differenz der Personen, aber auch auf der in der Zeit: das was immer schon wiederkehrt, kann nicht in der Sprache wiederholt, repräsentiert werden. Das Wort, Ersatz des zeitlich Entrückten, hat kein Existenzrecht, wo diese zeitliche Distanz kollabiert. Auch am Schluß dieser Geschichte steht ein Reinigungsritual; nach dem Vorbild von H. G. Wells* Zeitreisendem hatten "Borges 1969" und "Borges 1918" Pfänder getauscht; noch bevor der cuento zu Ende ist, sind diese Objekte, in denen die passage verdinglicht wurde, Banknote und Münze, vernichtet. Da aber die Geschichte selbst das Unternehmen der passage ist, selbst jener "río de plata" ist, der beide Zeiträume durchfließt, muß auch sie wieder bearbeitet werden; im Schlußparagraphen kommentiert sie sich selbst: El encuentro fue real, pero el otro conversó conmigo en un sueño y fue así que pudo olvidarme; yo conversé con él en la vigilia y todavía me atormenta el recuerdo. (PC, 11:463) Die Topologie, in der von Zeit die Rede sein kann, spaltet sich; und mit ihr der cuento als räumliche Struktur, als Gedächtnis-Ort, in dem Erinnerung aufgeräumt ist: das Treffen, wieder ein "encuentro imposible", findet statt, obwohl sich Einer am Topos "Traum", der Andere am Topos "Wachen" aufhält. Diesem Paradox eng verwandt ist eines, auf das Borges in "La doctrina de los ciclos" anspielt: wenn die Zeit sich wirklich wiederholte, wäre diese Wiederholung nicht wahrnehmbar; die Erinnerung, die das Wiederkehrende wahrnimmt, wäre ja bereits das Neue, das den Zyklus bricht. Wenn die Zeit sich wiederholte, wäre sie nicht erinnerbar. Dem liegt die Einsicht zugrunde, daß wie die Sprache so auch die Erinnerung, dieses prekäre Gleichgewicht, an Differenz gebunden ist. Sie ist die Wiederkehr des Gleichen als ganz Anderes: als Bewußtsein. Das Paradox subvertiert zugleich die Quintessenz von "El otro": die Darstellung der Erinnerung als Kreis, der die Freiheit aufhebt und die bereits bekannte Konsequenz, die Preisung des olvido als einzig befreiender Kraft im Ich. Diese Konsequenz wird hinfällig, sobald, wie im zitierten Essay, die Erinnerung als der wahre Ausbruch aus dem Zirkel erscheint, als das einzig wirklich Neue unter der Sonne.

"La memoria de Shakespeare": Der Fremde im Gedächtnis Diese vielleicht letzte Erzählung des Argentiniers beendet zugleich die Reihe der Gedächtnisallegorien, jener Versuche, dem Erinnern durch literarische Bearbeitung

59 in eine Art von textuellem Vergessen zu entkommen. Noch einmal ein Richtungswechsel innerhalb der Arbeit am sprachlich vermittelten Gedächtnis: "La memoria de Shakespeare" handelt weniger vom inneren, an die rhetorischen Figuren des Einzelnen geknüpften Gedächtnis, als vielmehr von seiner veräußerlichten Form, vom Archiv im eigentlichen Sinn — in diesem Fall vom unerschöpflichen Archiv literarischer Tradition. Die beunruhigende Kraft dieses kleinen Virtuosenstücks der Verfremdung beruht dann darauf, daß eben dies äußerliche Reservoir, das die Formationen der gedruckten Buchstaben bilden, ins Innere hineingenommen wird — diese passage ist nichts als ein Transfer zwischen zwei Archiven. Genetisch läßt sich auch diese unerhörte Begebenheit auf das Wörtlichnehmen eines Anspruchs, der in der Sprache liegt, zurückverfolgen; auf die Idee der Identifikation, der Einfühlung im Medium dessen, was geschrieben steht. In diesem Medium wird die Identifikation zur Invasion. Die Keimzelle zur Erzählung ließe sich an vielen Stellen in Borges' oeuvre finden, zitiert sei der folgende Satz aus "Nueva refutación del tiempo": auf der Suche nach Augenblicken der Verschmelzung, die die Sukzession der Zeit aufzulösen geeignet sind, fragt der Autor: "¿Los fervorosos que se entregan a una línea de Shakespeare, no son, literalmente, Shakespeare?" (PC, 11:291). "Literalmente" — die Identität ist ein Phänomen der Buchstäblichkeit. Eine Geschichte also vom Umgang mit Geschichten; es wären deren viele zu schreiben, darunter eine des Titels "La memoria de Borges" — womit der Verdacht auf Parabel, der über der Erzählung liegt, sich verdichten würde; der Verdacht, daß sie lediglich das ad absurdum führt, was jeder Akt des Lesens für sich reklamiert: Fusion von Schriften. Noch einmal wird die Arbeit am Gedächtnis weitergetrieben, um dann in einem vollends ambivalenten Schlußbild liegenzubleiben. Hatte in "EI otro" sich eine Identität zum Doppelgängertum verfremdet, ein Gedächtnis sich in zwei Personen gespalten, so findet in "La memoria..." das Gegenteil statt: zwei Identitäten veschmelzen zu einem Gedächtnis. Wieder schließt sich ein Zeitkreis, doch bricht die Verwirrung der Zeit diesmal nicht aus der Erinnerung hervor, sondern in sie ein; Verfremdimg wird ins Zentrum der Identität getragen. Schema der Besessenheit: Tengo, aún, dos memorias. La mía personal y la de aquel Shakespeare que parcialmente soy. Mejor dicho, dos memorias me tienen. (OC, 111:395) Man durchläuft die bekannten Stationen des phantastischen Ereignisses: zuerst das Ritual, das hier lachhaft geschrumpft ist ("El poseedor tiene que ofrecerlo en voz alta y el otro que aceptarlo"); dann die Verschmelzung und schließlich die Reinigung, die melancholische Rückkehr ins Alltagsbewußtsein: der Text distanziert sich mit einem Shakespeare-Zitat — "Simply the thing I am shall make me live" — und mit einem genau datieren Postskript. Im Zentrum der Erzählung wirkt ein Leitmotiv phantastischer Literatur, die Sehnsucht nach der unmittelbaren Kommunikation. Das Begehren richtet sich auf den Zugang zum Bewußtsein des Anderen, der für Borges

60 talismanischen Gestalt Shakespeare, ohne den Umweg über die Sprache, über das lautgewordene, niedergeschriebene Werk gehen zu müssen: Shakespeare sería mío como nadie lo fue de nadie, ni en el amor, ni en la amistad, ni siquiera en el odio. (OC, 111:395) In der Abkürzung aber, in der Ausschaltung des Werkes, mündet die Ermächtigimg der Literatur in die Selbstentmachtung der Literatur. Von der wesentlichen Ambiguität der "entonación de las metáforas", der Zeitbilder, war die Rede. Von ihr ist auch der "Kreis", dessen Sache hier verhandelt wird, betroffen. Vor allem deijenige kritische Diskurs, der sich durch die ihr eigene Dialektik vom ferngerückten Lichtherd der Aufklärung abhängig weiß, macht der Zeitstruktur der Wiederholung den Prozess als einer Figur der Unfreiheit: bei Benjamin etwa, und auch in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung ist sie eine "Figur der Vergeblichkeit" und "sinnlosen Zwanghaftigkeit", die zur Realität kein anderes Verhältnis als Resignation zu stiften vermag. Aus dem Diktum von der "schlechte[n] Unendlichkeit und negative[n] Immergleichheit mythischer Wiederholung" folgt der Ruf nach Sprengung der Kreisstruktur im Namen der Geschichte (Menninghaus 1986, lOlf)Den schärfsten Widerpart bietet vielleicht die Affirmation der mythischen Wiederkehr als Erfüllung der Zeit im Werk des Mythosforschers Mircea Eliade; ihm wird "Freiheit in der Geschichte" gerade zum Blendwerk, dem das archaische Bewußtsein den Ausstieg aus der Sukzession der Geschichte als befreiende Bewegung entgegenzusetzen hat: Die Freiheit, Geschichte zu machen, deren sich der moderne Mensch rühmt, ist für fast alle Menschen illusorisch. Im äußersten Fall bleibt ihm die Möglichkeit, zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen: 1. Er kann sich der Geschichte entgegenstemmen, die von einer kleinen Minderheit gemacht wird (und in diesem Fall hat er wieder die Freiheit, zwischen Selbstmord und Deportation zu wählen); 2. kann er sich in eine untermenschliche Existenz oder die Emigration flüchten [...] So stellt für den archaischen Menschen der moderne Mensch weder den Typ eines freien Wesens noch den eines Gestalters der Geschichte dar. [Der archaische Mensch] ist frei, nicht mehr zu sein, was er gewesen ist, und frei auch, seine eigene "Geschichte" durch die periodische Vernichtung der Zeit und die kollektive Regeneration zu vernichten. Diese Freiheit gegenüber seiner eigenen "Geschichte" ist dem modernen Menschen, der geschichtlicher Mensch sein will, völlig unzugänglich." In die Gestalt einer Recherche des mythischen Bewußtseins, die mit minimaler

"Eliade 1984, 196f; Vgl. hierzu: Menninghaus 1986, 102.

61 Trübung auf die zugrundeliegende historische Erfahrung des totalitären 20. Jahrhunderts durchsichtig wird, kleidet sich die Affirmation der Freiheit "nicht mehr zu sein, was man gewesen ist"; die Spiele von Borges, der ein Kind desselben Jahrhunderts ist, mit ähnlichen Figuren, werden durch die Parallele vielleicht erhellt. In "La memoria..." vollendet sich eine Umwertung des Gedächtnisses, die sich in "El Aleph" angekündigt hatte — in Gestalt der Erinnerung "Beatriz". Das Gedächtnis, andernorts assoziiert mit der beklemmenden Architektur des immergleichen Gefängnisses, wird zum Reservoir der Freiheit: La memoria del hombre no es una suma. Es un desorden des posibilidades indefinidas. (OC, 111:397) Nichts anderes meint die Reaktion des Erzählers auf das Angebot von Shakespeares Gedächtnis: Fue como si me ofrecieran el mar. (OC, 111:394) Auch die Relativierung des Dämons Gedächtnis geht damit einher. Es ist kein Ort mythischer Anámnesis mehr, sondern ein Archiv des Kontingenten, ein Schriftzug, in dem das Unwesentliche liegt. Relativiert wird so die Erfahrung im emphatischen Sinn, das 'authentische Erlebte': das Aufbewahrte bleibt unrettbar diesseits der Sprache, unerreichbar zwar, doch auch uninteressant; es ist nichts als das Material für die Freiheit, die das Werk ausmacht: La memoria de Shakespeare no podía revelarme otra cosa que las circunstancias de Shakespeare. Es evidente que éstas no constituyen la singularidad del poeta; lo que importa es la obra que ejecutó con ese material deleznable. (OC, 111:397) Es bleibt jedoch nicht bei diesem heilsamen Riß zwischen Erinnerung und Wort, in dem sich die Freiheit ansiedeln soll. Noch einmal schlägt der cuento um: die Erinnerung unterwandert die Worte, das bloße Sammelsurium der Zufälligkeiten bedroht die Sprache des Subjekts; und die Worte bieten keinen Halt. Die Metapher von den "cavernas de la memoria", die noch einmal die Architektur des Labyrinths evoziert, enthüllt ihre ganze Doppeldeutigkeit: die unüberschaubare Architektur verspricht einerseits freiheitsschaffenden Zufall; hinter jeder Schwelle, in jeder Galerie, in jeder Passage lauert das Mögliche. Andererseits bedeutet sie den Kerker, die Gefangenschaft in der Identität. In der Erzählung wandelt sich die memoria de Shakespeare, deren Auftauchen aus dem Vergessen als die verheißungsvolle Wiederkehr des schon Gelebten, als Ausbruch aus dem Ich in einen Raum der Bedeutung erschien, sie verwandelt sich in Obsession. Der Horror der Besessenheit sucht wieder heim: Herrmann Soergel, der Protagonist, beginnt Zeit, Raum und Mutter-

62 spräche zu verlieren. Der Rest ist Ritus: auf die Erschütterung folgt die Selbstbefreiung zur melancholisch auf sich selbst zurückgeworfenen Normalität: "Simply the thing I am shall make me live" (OC, 111:399).

III Noch einmal Piranesi: als er die zweite Fassung seiner Gefängnis-Einblicke ausarbeitet, ändert er den Titel; die erste Fassung, die mit dem Wolkigen, dem Unbestimmten arbeitet, heißt Invenzione ... di carceri — die zweite, für die römische Massivität und Monumentalität zum Formgesetz werden, heißt Carceri d 'invenzione: die frei gestaltende Einbildungskraft ist sich selbst zum Opfer gefallen, die Erfindung ihr eigener Kerker geworden, "die Phantasie beschreibt ihr eigenes [...] unendliches und doch nicht freies Gehäuse" (Miller 1978, 97). Das Gefühl von Gefangenschaft entsteht durch die Unendlichkeit in den Fluchten sich selbst wiederholender Architektur. Gerade im grenzenlosen Ausschweifen der Phantastik liegt die Erfahrung der Klaustrophobie. Das unerlöste Spiel mit den überkommenen Formen, Figuren und Strukturen kennt auch Borges; sein Material ist, wie wir sahen, die Sprache: die individuellen, wie auch die kollektiven, kulturellen Sprachvorräte. Fassen wir die Grundbewegung der betrachteten Geschichten zusammen. Sie beschreiben und vollziehen einen rite de passage, der auf die Überschreitung einer Schwelle zielt, welche die Erzählbarkeit selbst in Frage stellen würde, da sie die "Zeit der Erzählung", die unabdingbare Sukzession aufhöbe. Aus dieser Schwellennähe läßt sich wohl jener Mangel an Dichte, an Schwere, an Evokation von Welt in den Borgesianischen Erzählungen erklären, welche Handlung oft nur mehr konstruieren, nicht mehr realisieren: die Zeit der Erzählung legt ihre grauen Nervenstränge bloß, kurz bevor sie sich ganz verflüchtigt. Noch davor aber muß die Reinigung stattfinden, die Schwelle gleichsam rückwärts durchschritten werden, da die Erzählung als Praxis sich nicht selbst den Boden entziehen kann. Die Erinnerung, jenes Epizentrum der Beunruhigung, bleibt von der Sprache abgeschnitten, das Gedächtnis-Gleichgewicht gewahrt, und mit ihm der Kompromiß der chronologischen Zeit, die Bedingung von Kommunikation: El tiempo es un rio que me arrebata, pero yo soy el rfo; es un fuego que me consume, pero yo soy el fuego. El mundo, desgraciadamente, es real; yo, desgraciadamente, soy Borges. (PC, 11:301) Nichts falscher als das Aperçu vom Mythologen J.L. Borges; im Mythos geht es um Zeugung, in Borges* Welt um Spiegelbilder. Er ist der Baumeister, der verzweifelt am Labyrinth Gedächtnis schafft, in der Hoffnung, daß mit der Vollendung des Baues schon das mitgegeben sei, was die alte Geschichte behauptet: die Anwe-

63 senheit in mythischer Mitte; der Minotaurus, der aus dem Labyrinth heraus den Eindringling überfällt; Überfall des ganz Anderen, der reinen Erinnerung, die nicht konstruierbar ist. Uberfall des Monstrums, nach dem der Eindringling lechzt. Doch das Monstrum ist außer Haus. In der Grenzenlosigkeit seiner inneren Spiegelgalerien erfährt sich das Ich als allein; ohne Referenz, ohne Welt, ohne Anderes. Es wird schwer sein, im Borgesianischen Universum, wo soviel von "el otro" die Rede ist, wirklich auf eine Gestalt des Anderen zu treffen. Ahnlich wie jene schemenhaften, winzigen Gestalten, die Piranesis Perspektiven vage bevölkern und im Schatten seiner steingewordenen Foltergeräte die Stille fortpflanzen, nie als wirkliches Korrelat für das Ich gelten können. Es entsteht ein Raum ohne Außen. Die Phantasie selbst ist jener perfekte Kerker, der aus zwei gegenübergestellten Spiegeln besteht. Dies wäre vielleicht auch eine Formel für Piranesi: für das was die monotonen Galerien und Gewölbefluchten auszeichnet; die Vereinbarkeit von Klaustrophobie und unendlicher Raumweite. Bibliographie Alazraki, Jaime (Hrsg.). 1976. Jorge Luis Borges. Madrid. Benjamin, Walter. 1975. Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt/M. Bohn, Volker (Hrsg.). 1990. Bildlichkeit. Frankfurt/M. Borges, Jorge Luis. 1980. Prosa completa. Barcelona. (PC). —. 1989. Obras completas. 3 Bde. Buenos Aires. (OC). Bürger, Peter. 1971. Techniken der Verfremdung in den Erzählungen von J.L. Borges. In: Ibero-Romania 3: 152-162. Del Rio, Carmen M. 1978. Borges 'Pierre Ménard' or where ist the Text?. In: Kentucky Romance Quarterly 25, 4. Eliade, Mircea. 1984. Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr. Frankfurt/M. Foucault, Michel. 1973. Archäologie des Wissens. Frankfurt/M. —. 1988 Schriften zur Literatur. Frankfurt/M.

64 Klibansky, Raimond, Erwin Panofsky u. Fritz Saxl. 1990. Saturn und Melancholie. Frankfurt/M. Kurz, Gerhard. 1979. Zu einer Hermeneutik der literarischen Allegorie. In: Walter Haug (Hrsg.): Formen und Funktionen der Allegorie. Stuttgart: 632-641. Leclerc, Yvan. 1988. Lectures de Ficciones. Paris. Lern, Stanislaw. 1975. Uni tas Oppositorum. Das Prosawerk des Jorge Luis Borges. In: A. Zondergeld (Hrsg.): Phaicon 2. Frankfurt/M.: 100. L'Herne. 1964. Jorge Luis Borges. Paris. Menninghaus, Winfried. 1986. Schwellehkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos. Frankfurt/M. Miller, Norbert. 1978. Archäologie des Traums. München. Piaget, Jean. 1948. Naissance de l'intelligence chez l'enfante. Paris. —. 1967. Six études de psychologie. Paris. Plinius Secundus Maior. 1975. Naturalis historiae. München. Reisz de Rivarola, Susana. 1982. Borges: Teoria y praxis de la ficciön fantistica. In: Lexis VI,2 (Lima). Sörensen, Bengt A. 1979. Die zarte Differenz. In: Walter Haug (Hrsg.): Formen und Funktionen der Allegorie. Stuttgart: 632-641. Todorov, Tzvetan. 1970. Introduction à la littérature fantastique. Paris. Weinreich, Harald. 1988. Über Sprache, Leib und Gedächtnis. In: H.U. Gumbrecht u. K.L. Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt/M. Yates, Frances A. 1966. The Art of Memory. London.

Illusion und Enttäuschung bei Felisberto Hernández José Morales Saravia 1. Einführung Die Rezeption des Werkes von Felisberto Hernández (1902-1964) begann erst spät, weil seine phantasievollen Erzählungen auf einen entsprechenden und sich herauskristallisierenden Erwartungshorizont warten mußten. Dies scheint mit dem Auftreten einer neuen epochalen Bestimmung jetzt der Fall zu sein. In der gerade gelaufenen Diskussion über die Postmoderne, ihre Legitimierung, Definition und Periodisierung haben verschiedene Autoren versucht, das dazu gehörende neue ästhetische Paradigma abzugrenzen, indem sie Hauptvertreter oder Vorläufer kanonsuchend analysierten. Zu diesem Unternehmen gehören die wiederholten Betrachtungen Hans Robert Jauß' über Jorge Luis Borges und Italo Calvino. In seinem Sammelband Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne (1989) erwähnt er ein kürzlich stattgefundenes Kolloquium, dessen Titel "Postmoderne — ein globaler Kontext?" lautete, und das die globalen Probleme der Ökologie, der Kernenergie, der Abrüstung zum Thema hatte, die mit der drohenden Selbstzerstörung der modernen Welt ein neues Epochenbewußtsein herausfordeten, das sich ästhetisch zuerst im postmodernen Roman Lateinamerikas, politisch unlängst im 'Neuen Denken' der Ära Gorbatschows manifestiert habe. Das Miteinbeziehen des postmodernen Romans Lateinamerikas in diesem Zusammenhang gewinnt Konturen, als Jauß einige Zeilen weiter von Jorge Luis Borges redet und ihn für eine der Gründerfiguren der literarischen Postmoderne hält. Diese Bemerkungen sollten die Lateinamerikanistik veranlassen, der Einfügung der lateinamerikanischen Literatur in einen globalen Kontext Aufmerksamkeit zu schenken. Man könnte diese Fragestellung mit einer etwas älteren Formulierung folgendermaßen ausdrücken: Warum kommt der 'marginalen' lateinamerikanischen Literatur eine 'zentrale' Position innerhalb der Diskussion über die Postmoderae zu? Jauß selbst hat einen Schritt in diese Richtung gemacht, indem er einige der das Paradigma Postmoderne konstituierenden Kriterien aufgezählt hat: Die Wendung vom esoterischen Experiment eines asketischen Modernismus zur exoterischen Bejahung von sinnlicher Erfahrung und verstehendem Genießen, von satirischem Überschwang und subversiver Komik; der Umschlag vom proklamierten Tod des Subjekts in die Erfahrung der Entgrenzung des Bewußtseins; die Preisgabe des autonomen Kunstwerks, der selbstreferentiellen Poetik, für eine Öffnung der Künste auf die Gegenwart der hochindustrialisierten Welt und ihre neuen Medien; sodann die freieste Verfügung über alle vergangene Kultur ('Intertextualität'); die Verlagerung des ästhetischen Interesses auf Rezeption und Wirkung; nicht zuletzt eine unbefangene Verschmelzung von Hoch- und Massenkultur, die das Fiktive, Imaginäre, Phantastische als Medium der Kommunikation zu nutzen und gegen die In-

66 formationsflut unserer technisierten Welt aufzubieten sucht.1 In einem Italo Calvinos Roman Se una notte d'invernó un viaggiatore (1979) gewidmeten Aufsatz, der sich als "Plädoyer für eine postmoderne Ästhetik" verstanden wissen will, versucht H. R. Jauß die gerade aufgezählten Kriterien herauszuarbeiten. In diesem Sinne haben seine Untertitel einen programmatischen Charakter: "Tod des Subjekts?", "Der Hiatus zwischen Schreiben und Lesen", "Die Interaktion zwischen geschriebener und ungeschriebener Welt", "Die Interaktion von Autor, lesendem und gelesenem Leser", "Wechselseitige Aneignung fiktiver Diskurse" (Jauß 1989, 267-302). Es ist sicher kein Zufall, daß Italo Calvino sich für die Veröffentlichung einiger ins Italienische übersetzter Erzählungen von Felisberto Hernández eingesetzt hatte, als er als Lektor bei dem Einaudi-Verlag tätig war und daß er sogar das Vorwort dafür geschrieben hat. Dort erklärte Calvino, dieses Buch sei wahrscheinlich seine erste Übersetzung in eine fremde Sprache und es enthalte die wichtigsten Texte der Reifeperiode von Hernández, die ihm einen Platz unter den hispanoamerikanischen Schriftsteilem der "phantastischen" Erzählkunst geschaffen haben. In diesem Vorwort beschreibt Calvino nicht nur die Grundzüge von Hernández' Erzählkunst, er zeigt uns auch in dieser Beschreibung, wie er diese Erzählungen gelesen hat, was Hernández in Verbindung zur Postmoderne-Diskussion und ihren rezipierten Autoren bringt. Calvino unterscheidet in den Erzählungen einen Ausgangspunkt und einen Phantasieauslöser: "la amargura de una vida tejida de derrotas", "las pequeñas miserias de una existencia" bilden den Ausgangspunkt. "Lo que desencadena la imaginación de Felisberto Hernández son las invitaciones inesperadas que abren al tímido pianista las puertas de mansiones misteriosas, de quintas solitarias en donde habitan personajes ricos y excéntricos, mujeres llenas de secreto y neurosis" (Calvino 198S, 3-5). Calvino weist gleich darauf hin, daß, obwohl alle Elemente der romantischen Erzählung und der "nördlichen" Phantasie vorhanden sind, Hernández' Erzählungen in der Rio de la Plata-Stimmung und -Atmosphäre verankert seien. Calvino fügt aber hinzu, Hernández unterscheide sich sehr von anderen lateinamerikanischen Schriftstellern. Bei ihm gehe es meistens um eine sehr komplizierte Inszenierung, um ein sonderbares Ritual, das in einem seltsamen Räume stattfinde, dessen Sinn die Hauptpersonen zu enträtseln haben. Seine Erzähltechnik gründe sich auf Ideenassoziationen, obwohl Felisberto Hernández immer auf der Suche nach einer Analogie sei, die einige Seiten weiter aufgefunden werde. Surrealismus, Proustianismus und Psychoanalyse sollen Hernández' Ausdrucksmittel geprägt haben; was den Leser vor allem überrasche, sei aber die Beschreibimg des physischen Charakters der Gegenstände und Personen in diesen Erzählungen, und die Darstellung der kleinsten psychischen Bewegungen durch Gedanken und Empfindungen eines gespaltenen Ichs. Calvinos bemerkenswerte Lektüre hebt die wich-

'Jauß 1989, 13-14. Zu Jauß' Betrachtung von Jorge Luis Borges siehe Jauß 1987, 30ff.

67 tigsten Merkmale von Hernández' Erzählkunst hervor. Ausgangspunkt, Phantasieauslöser, Inszenierung, Topographie, analogische Verfahrensweise und Ich-Spaltung können als Stichworte dieser Lektüre gelten. Nun korrespondieren alle diese Elemente miteinander und weisen eine Zusammengehörigkeit auf, deren Gründe und Entfaltung einer Erklärung bedürfen. Da sie letztendlich geschichtsphilosophischen Charakter hat, kann sie auch einen bedeutunsvollen Zusammenhang liefern, um sowohl die positive Rezeption Calvinos als auch die zur postmodernen Paradigmakonstituierung führende Rezeption der lateinamerikanischen Literatur zu verstehen.

2. Die Urerzählszene Wie bereits gesehen, hat Calvino schon zwei Momente in Hernández* Erzählungen unterschieden, und zwar Ausgangspunkt und Phantasieauslöser. Wichtig ist jetzt, hinzuzufügen, daß ein drittes Moment im Aufbau der Erzählungen besteht, das eine entscheidende Rolle beim Abschluß spielt und die Funktion hat, den Sinn jeder Erzählung abzurunden und jede Geschichte abzuschließen. Bildlicher könnte diese Triade folgendermaßen dargestellt werden: normalerweise geht es um eine Hauptperson (sie muß nicht unbedingt identisch mit dem Erzähler sein, was aber sehr oft der Fall ist), die einen besonders geprägten Raum betritt, in dem sie merkwürdige Handlungen ausführen muß und mit seltsamen Situationen und Menschen konfrontiert wird, um am Ende — wollend oder nicht wollend — diesen Raum zu verlassen. Es gibt kaum eine Erzählung, die nicht nach diesem Schema abläuft, was die Behauptung erlaubt, daß diese drei Momente bei Hernández' Erzählkunst einen konstitutiven Charakter innehaben. Konstitutiv heißt hier, daß das immanente Aufbauprinzip nicht ohne diese Triade zu begreifen ist. Man könnte es anders ausdrücken, indem man sagt, daß die gattungsbestimmenden Merkmale der Erzählkunst von Hernández von einer Grundstruktur ausgehen, die ich mit dem etwas künstlichen Ausdruck 'Urerzählszene' bezeichnen möchte. Dieser eher psychologisch klingende Begriff scheint jedoch legitim zu sein, da es bei Hernández, wie ich im nächsten Abschnitt zeigen werde, darum geht, Erzählperioden, oder die ganze Erzählung, als eine Art Inszenierung oder Schauspiel zu präsentieren. In diesem Sinne trägt der Begriff dazu bei, den theaterbezogenen Bereich zu vergegenwärtigen. Hier sei außerdem vorweggenommen, daß, wenn die kritische Auseinandersetzung mit Hernández' Werk dazugekommen ist, eine Periodisierung vorzuschlagen, sich die oben beschriebene Erzählszene doch ziemlich früh in den ersten literarischen Versuchen von Hernández findet, was selbstverständlich die These nicht ausschließt, die ihre Herauskristallisierung im Laufe des Schaffensprozeßes von Hernández sieht.2 Man

*Vgl. hierzu Lasarte 1981, 16-26. Lasarte unterscheidet in Hernández' Schaffensprozeß drei Etappen. Angel Rama sieht in Hernández' Werk auch drei Perioden. Siehe Rama 1969, 26ff. Zu der Diskussion der Periodisierung vgl. Perera San Maitin 1977, 231.

68 kann sogar behaupten, daß diese Herauskristallisiemng nur ermöglicht wurde, indem der Autor die i/rerzählszene mehrmals variierte. Andererseits ist der in dem Begriff enthaltene psychologische Unterton gerechtfertigt, wie die Analyse der Dynamik der Hauptpersonen aufzeigen wird, wenn man geneigt wäre, der psychologischen bzw. psychoanalytischen Betrachtung einen Platz einzuräumen.3 Zwischen der früheren Erzählung "La casa de Irene", die 1929 veröffentlicht wurde, und der späteren Erzählung "La casa inundada" (1962) liegen dreiunddreißig Jahre.4 Die Art und Weise, wie Hernández seine Erzählungen betitelt, läßt aber wenig Änderung erkennen. Nicht nur diese beiden enthalten im Titel das Wort 'Haus', sondern ebenfalls die aus dem Jahre 1959 stammende Erzählung "La casa nueva" und die zu den nicht veröffentlichten Texten gehörende "Primera casa". Dennoch haben andere Erzählungen im Titel wenigstens einen Teil des Hauses eingeschlossen: "El balcón" (1945), "El comedor oscuro" (1947); und diejenigen, die dieses Element im Titel nicht aufweisen, tun es unmittelbar in der Handlung: die Aufführungen spielen sich in "El acomodador" (1946) im Speisesaal eines Hauses ab; die wichtigsten Geschehnisse finden in "Menos Julia" (1946) in einem Landhaus statt, ebenso wie in "Las Hortensias" (1949) eine Villa den Erzählplatz darstellt und in "Lucrecia" (1952) ein Kloster den phantasierten Raum bildet. So wie es in "La casa de Irene" um einen Besuch geht, den der Erzähler bei Irene macht und die Handlung darin besteht, wie er in seiner Liebe und Zuneigung zu Irene das "weiße Geheimnis" entdeckt — Handlung, die soweit geführt wird, bis sich die Beziehimg abnutzt und das "weiße Geheimnis" verschwindet —, so ähnlich geht es in "La casa inundada" um den Eintritt des Erzählers in das Landhaus der Señora Margarita, um die versteckte Zuneigung beider Hauptpersonen; bald stellt sich aber die Unmöglichkeit einer Beziehung heraus, und der Erzähler muß das Landhaus verlassen. Dieses Eintreten, Handeln und Herausgehen wird dennoch in verschiedenen Erzählungen in raffinierter Weise variiert, indem der Autor den Erzähler, das Liebesobjekt oder die Räume ändert. Einige Beispiele können dieses Verfahren veranschaulichen. Eine für die Schreibauffassung Hernández' entscheidende Erzählung, "El caballo perdido" (1943), wiederholt anfangs die Art und Weise, wie der Erzähler in der Erzählung "La casa de Irene" (1929) das Haus betritt, nur handelt es sich hier nicht um die junge Frau Irene sondern um die Klavierlehrerin Celina. Der Erzähler erinnert sich hier an seine Liebe zu seiner Lehrerin, als er Kind war. Diese Erzählung verwandelt sich aber unmittelbar in eine Reflexion über Erzählen und Sich Erinnern, sobald die Darstellung der Urerzählszene brüsk abgebrochen wird; sie bleibt ausgangslos und beginnt den Identitätsverlust und die Spaltung der Persönlichkeit zu thematisieren. Diese Erzählung ist die weiteste Abweichung von der Grunderzählstruktur, bleibt aber innerhalb des Werkes von Hernández nicht ohne thematische

'Vgl. hierzu Molloy 1982, 69-93; Echavarren 1982, 95-109; Panesi 1982, 131-159; Mercier 1982, 229-241. 'Ich zitiere nach der Ausgabe Hernindez 1983.

69 und narrative Folgen, wie wir später sehen werden. Ein anderes Beispiel des Variierens von Hernández ist im Text "Lucrecia" (1952) zu finden. In dieser Erzählung hat sich der Autor nach der Grundstniktur gerichtet und dadurch die Urerzählszene dargestellt: Der Erzähler betritt ein Kloster, phantasiert von der unmöglichen Liebesbeziehung zu Lucrecia und verläßt schließlich das Kloster; er hat dennoch, da er sich an völlig irreale Ereignisse erinnert, den realistischen Zeit- und Raumbegriff gebrochen. Die Handlung findet in einer längst vergangenen Epoche statt, die Hauptperson ist niemand anders als Lucrecia Borgia. Problemlos und der historischen Genauigkeit keine Aufmerksamkeit widmend, kann Hernández in dieser Form seine Geschichte erzählen, denn ihre Kohärenz ist durch die Grundstruktur sozusagen "abgesichert". Weitere Beispiele sind die Erzählungen "Menos Julia" (1946) und "Las Hortensias" (1949), in denen der Autor die Perspektive des Erzählers variiert. Bei der ersten ist der Erzähler nicht die Hauptperson der Handlung, sondern eher ihr Zeuge; bei der zweiten handelt es sich um einen auktorialen, distanzierten, sich in der dritten Person verkleidenden Erzähler; beide weisen die Grundstruktur auf, aber sehr indirekt und versteckt. Als letztes Beispiel dieses Variierens kann man noch zwei weitere Texte erwähnen: "La mujer parecida a mí" (1947) und "Ursula" (posthume Veröffentlichung, 1969). In der ersten Erzählung verwandelt der Autor seinen Erzähler in ein in die weibliche Hauptperson verliebtes Pferd, um die Urerzählszene darstellen zu können. Andersherum verfährt Hernández in der zweiten Erzählung, als er den Erzähler in seiner Phantasie das Liebesobjekt als Kuh sehen läßt, um sie erobern zu können. In beiden Erzählungen endet die Handlung mit dem Verzicht auf das Liebesobjekt. So kommen Eintreten, weil die Liebeshoffhung in einem Raum erweckt wird, und Hinausgehen, weil die Liebeserwartungen nicht erfüllt werden, auch in diesen Erzählungen vor.5 Hernández variiert im Grunde genommen in seinen Texten mit einer bemerkenswerten Beharrlichkeit, die nach einer Erklärung verlangt, nur diese wenigen Elemente.

3. Topologie und Schauspiel: Inszenierung und Kulisse 3.1. Straßen und Häuser Wenn das Haus der privilegierte Raum ist, in dem die Urerzählszene stattfindet, so ist die Straße der Ort, der zu diesem Raum führt. Insofern besitzt die Straßendarstellung eine funktionale Bedeutung und bleibt von der Hausdarstellung abhängig, was heißt, daß die Straße einen Teil der Bedeutung des Hauses übernimmt. Diese Behauptungen sollten dennoch nuanciert werden. Es sind sehr wenige Erzählungen,

5

Die beiden Bewegungendes Eintretens und Hinausgehens sind in der Sekundärliteratur erwähnt aber nicht untersucht worden. Vgl. hierzu Goloboff 1977, 139.

70 in denen es um eine konkrete Stadt geht. Man kann eigentlich nicht sagen, daß Hernández daran interessiert war, die Stadt Montevideo und ihre Entwicklungen zu schildern. Man darf ihn zwar als einen Urbanen Schriftsteller verstehen, nicht aber als einen an der exakten Darstellung seiner Heimatstadt interessierten Autor. Seine Straßen- und Häuserbeschreibungen haben eher phantasierten und fiktiven Charakter als den einer realistischen Widerspiegelung einer Stadt. Und dennoch gibt es einige wenige Erzählungen bei Hernández, in denen es um das konkrete Montevideo der 20er, 30er und 40er Jahre geht. Ein gutes Beispiel dafür ist die 1942 erschienene lange Erzählung "Por los tiempos de demente Colling". Sie läßt sich in zwei unterschiedliche Abschnitte teilen: der eine stellt die Erinnerungen dar, die nicht zum Kern der Geschichte gehören und die der Erzähler als "eingeschlichen" empfindet; der zweite enthält Erinnerungen an das Leben des Klavierspielers demente Colling. Die "eingeschmuggelten" Erinnerungen lösen den Erzählprozeß aus und beginnen mit der Beschreibung einer Straße namens Suárez, während einer Straßenbahnfahrt des Erzählers auf dieser Straße. Sowohl die Suárezstrafie als auch die anderen im selben Abschnitt erwähnen Straßen (die Gilstraße und die Ascensiostraße) liegen in einem Wohnviertel Montevideos, dessen Name Prado ist. Dieser Stadtteil soll nach Worten des Erzählers ein vornehmer Ort gewesen sein, vor allem aber die Suárezstrafie, an der sehr viele quintas, Villen, gelegen waren. In der internen Struktur dieser Erzählung sollte die Erinnerung an die Suárezstrafie zu anderen Erinnerungen fuhren, bis diese Verkettung bei der Geschichte von demente Colling landet. Dennoch macht sich diese auf die Suárezstrafie bezogene Erinnerung auf andere Gedankenwege. Der Erzähler vergleicht nun die "modernen Zeiten", in denen die Häuser und Villen der Suárezstrafie umgebaut und zerstört worden sind, und in denen er beim Hin- und Herlaufen eine andere Person geworden ist, mit den damaligen Zeiten, als diese Straße fast nur vornehme quintas gekannt hatte. In der Erinnerung des Erzählers sind jetzt die Häuser der Suárezstrafie durch deren hübsche, reizende und junge Bewohnerinnen ersetzt worden, die er in ihrer ernsten und kunstvolle Dignität durch eine ebenso kunstvolle Handlung "prophanieren" wollte. Beschreibungen der Hauseingänge, ihrer Treppen und ihrer Pflanzen erscheinen geprägt von dem Licht und Glanz, der bei Hernández Erotik bezeichnet. Die quintas der "modernen Zeiten" werden im Gegensatz als remiendo de la mansión señorial, als "geflickte" Villen gesehen, deren alte Palmen sich bewegen, als wären sie treue Diener, die das Unglück ihrer heruntergekommenen Herren kommentieren. Sehr interessant ist es außerdem festzustellen, daß der Erzähler die im ersten Abschnitt erwähnte und im Pradoviertel liegende Gilstraße als Domizil seiner Familie identifiziert und die weniger vornehme und im Zentrum liegende Minasstraße im zweiten Abschnitt als späteren Familienwohnort bezeichnet. In diesem Sinne scheint der Kommentar der alten Palmen in gewisser Weise auch auf

71 seine Familiensituation bezogen zu sein.6 Man sollte hinzufügen, daß es dem Collingsund Klavierspielerschicksal entspricht (man denke hier an die Situation des Künstlers in der modernen Gesellschaft), daß er im der Minasstraße benachbarten OlimarConventillo wohnt, wie der Erzähler später im zweiten Abschnitt ausführlich darstellt. Die Erzählung zeigt eine bei Hernández oft vorkommende topographische Teilung: einerseits die Beschreibung einer Villenstraße wie die der Suarezstraße, die eine erotische Prägung beim Erzähler aufweist und bei ihm den Wunsch erweckt, eine ihrer Villen zu betreten; andererseits wird das die Villa ersetzende moderne Haus pejorativ gesehen und mit Worten wie mamarracho benannt.7 Diese Tatsache läßt sich sehr deutlich in der Erzählung "La casa nueva" (1959) betrachten. Der als armer Klavierspieler dargestellte Erzähler beobachtet in einem Café von seinem Tisch aus die gegenüberliegende Straße und ihre Häuser; er sieht erst die Schatten der an den Gehwegen stehenden Orangenbäume, spürt den Sommer und sein intensives Licht; dann schenkt er den älteren schönen Häusern seine von Sympathie geprägte Aufmerksamkeit. Alle Elemente der positiven Straßenbeschreibung sind vorhanden: Pflanzen, Licht, Sympathie. Dennoch kommt gleich danach die Betrachtung eines modernen Hauses, das zwischen den älteren gebaut worden ist und die Sympathie des Erzählers bezüglich der Straße zerstört: "Esa casa nueva había arrancado los naranjos de su vereda para lucir mejor unos grandes bloques desproporcionados que se habían echado encima de la fachada" (III: 111). Der Erzähler assoziiert dieses Haus unmittelbar mit seinen Bewohnern, deren falsches Interesse an Kunst und Kultur dafür verantwortlich ist, daß er keine Aufträge zum Klavierspielen bekommt. Man sollte hier vergleichend daran erinnern, daß die Villenbewohner der Suárezstrafie für den Erzähler in "Por los tiempos de demente Colling" kunstvoll leben und handeln. Drei miteinander verbundene Elemente können in der Straßendarstellung bei Hernández abgegrenzt werden. Das erste ist eine temporale Unterscheidung zwischen der positiv aufgewerteten, ein gegenwartskritisches Moment enthaltenden vergangenen Zeit und der negativ gesehenen, Subjektivität und Künstlerexistenz bedrohenden modernen Zeit. Sie hängt mit einer bei Hernández implizierten geschichtsphilosophischen Auffassung zusammen und wird unten noch in Betracht kommen. Das zweite ist eine räumliche Differenzierung sozialen Charakters. Der verschiedenen Wohnvierteldarstellung entspricht der Ausdruck von Mobilitätswünschen und -hindernissen, und unter diesem wird die wachsende gesellschaftliche

'Trotzdem schreibt José Pedro Díaz: [Felisberto Hernández] "Nació en Montevideo en 1902, en una familia humilde, en Atahualpa, un barrio de los aledaños de la ciudad, y durante los años siguientes vivió en otros barrios también periféricos: primero en El Cerro, más tarde en Suárez, cerca del Prado. Así se formó, en el humus de su tierra de ¡a memoria, la capa que motivará después la evocación de algunos elementos del paisaje del suburbio que se reiteran en su obra y le prestan una colaboración particular: cercos de tejidos de alambre, árboles, caballos perdidos, quintas*. Siehe Díaz 1986, 6. 'Zu den Villen, conventillos und modernen Häusern in der Stadtentwicklung Montevideos und anderer Städte Südamerikas siehe Wilhelmy, Borsdorf 1984, 124-132.

72 Funktionslosigkeit des Künstlers thematisiert. In diesem Zusammenhang versuchen die verschiedenen Erzähler bei Hernández, einen Prozeß rückgängig zu machen, indem sie als Künstler mit Beharrlichkeit immer wieder an die Villentüren klopfen, um Arbeitsaufträge von deren Bewohnern zu erhalten. Das dritte bezieht sich auf die von Erotik beladene Straßendarstellung, was ihren funktionalen Charakter bezüglich des Hauses verrät. Pflanzen, Bäume, Blumen kennzeichnen die Beschreibung der Straße, um den erotischen Wunsch auf den Weg zum Haus hervorzuheben. Nun führt die funktionale Straßendarstellung zu der Hausdarstellung. Es ist eine quinta — eine in einem vornehmen Wohnviertel liegende Villa — oder ein Landhaus. Dieser privilegierte Raum, in dem die Urerzählszene stattfindet, wird von Felisberto Hernández auch variiert. Von den verschiedenen in den Erzählungen dargestellten Häusern lassen sich mindestens zwei Typen unterscheiden. "La casa inundada" stellt den ersten Typus vor. Es handelt sich um eine nach den Inszenieningswünschen ihres Besitzers in eine rituelle Bühne umgebaute Villa. Zu diesem Typus schreitet der Werdegang des Schaffens von Hernández hin, jedoch nur sehr wenige Erzählungen stellen ihn wirklich dar. Der andere Typus ist vor allem — aber nicht nur — in der frühen Schaffensperiode zu finden und bietet keinen der rituellen Bühne dienenden und umgestalteten Raum. In den Erzählungen, die diesen Typus beschreiben, geht es um ein Haus, dessen übliche Wohnfunktionen beibehalten werden. Beispiele dieses Typus kommen in "La casa de Irene" (1929), "El caballo perdido" (1943) und "La casa nueva" (1959) vor. Zwischen beiden Typen lassen sich übrigens verschiedene Stufen erkennen. In "Las Hortensias" (1949) hat der Besitzer des "schwarzen Hauses" in einem großen Saal drei bühnenartige Glasräume bauen lassen. In "Menos Julia" (1946) fahren die Hauptpersonen zur auf dem Land liegenden quinta, um in dem zur quinta gehörenden Tunnel ein Ritual zu zelebrieren. Anders als in "Las Hortensias" läßt der Landhausbesitzer nichts umgestalten, da alles, was er für seine Zeremonie benötigt, dort vorhanden ist. Ahnliches geschieht in "El balcón" (1945) mit dem "alten Haus", das der Vater für seine melancholische Tochter gekauft hat. Dieses "alte Haus" hat einen Garten und einen Brunnen, vor allem aber einen Winterbalkon, auf dem die Tochter "phantasiert". Erzählungen wie "El acomodador" (1946) und "El comedor oscuro" (1947) sind auch in diesen Zwischenstufen einzuordnen. In beiden geht es um alte Häuser, die bühnenartige Räume für bestimmte Zeremonien besitzen. Die Betrachtung der Innenräume gehört aber zum Thema des Interieurs und dessen Mobiliar.

3.2. Das Interieur und sein Mobiliar Es ist wichtig, erst zu erwähnen, daß jedem Haus meistens schon im Titel ein beschreibendes oder personenbezogenes Attribut beigefügt wird, dessen Funktion oft ist, den Leser auf die Darstellung der inneren Räume und deren Ausstattung oder auf das Auftreten der Hauptperson vorzubereiten. Die Aufzählung dieser wichtigen

73 Attribute läßt diese Funktion deutlich erkennen: "casa de Irene", "casa de Celina", "casa vieja", "comedor", "quinta-túnel", "casa de altos", "casa negra", "casa nueva" und "casa inundada". Dieses einführende Attribut wird aber dann ausfuhrlich erweitert und entwickelt, sobald sich der Erzähler in diesem privilegierten Raum befindet. Wir haben bereits gesehen, daß die Urerzählszene aus drei Momenten besteht. Während der erste Moment dem Betreten des Hauses entspricht, wie der Erzähler in "El comedor oscuro" ausdrückt: "yo necesitaba entrar en casas desconocidas" (11:133), und die Straßen- und Hausdarstellungen folgen läßt, so entspricht dem zweiten Moment die Beschreibung des Interieurs und Mobiliars. Diese bildet eine Art Bühne für die Handlungen der Hauptpersonen. Wenn ich in diesem Zusammenhang das Wort 'Bühne' verwende, so ist dies keine willkürliche Interpretation. Das Theaterhafte in den Erzählungen von Hernández läßt sich aus ihnen heraus interpretieren.8 Dieser Schauspielcharakter soll aber auf verschiedenen Ebenen differenziert werden: Während mehrere Erzählungen nur eine Bühne anbieten, weisen einige andere in ihrer Bühne eine interne Bühne auf. So entstehen oft Rituale oder Zeremonien innerhalb der Erzählungen, die als solche schon Zeremonien und Rituale sind. Anders ausgedrückt: zu der Urerzählszene, die eine strukturbestimmende Inszenierung ist, gehört eine Inszenierung zweiten Grades, deren Funktion darin besteht, auf die erste aufmerksam zu machen oder sie zu variieren. Diese Tatsache legitimiert nicht nur die Anwendung des Wortes 'Bühne', sondern zeigt auch die Notwendigkeit ihrer Differenzierung. Mobiliar und Interieur betreffen in erster Linie die erste Bühne. Es handelt sich um innere Räume, meistens um Eß- oder Wohnzimmer, die der Besucher betreten darf, selten um Schlafzimmer, obwohl die Besuche meist erotisch beladen sind. In der Erzählung "El comedor oscuro" (1947) wird die Bühne z. B. als Eßzimmer dargestellt: Ein Klavierspieler (der Erzähler) wird engagiert, um in einem dunklen Eßzimmer für eine Witwe zu spielen. Die Türen dieses Raumes sind mit Glas verziert und präsentieren eine kleine Landschaftszene mit Störchen, die eine versteckte Andeutung auf die für den Erzähler bedrohliche Begierde der Dienerin beinhaltet: "La cabeza de la mujer [die Dienerin] daba a una altura del vidrio donde también había una cabeza de cigüeña que tenía un pescado en el pico y estaba a punto de tragárselo" (II: 134). Im Eßzimmer herrscht Dunkelheit und Stille, die Hauptpersonen schweigen, hören Musik und können sich kaum sehen; einen letzten Lichtstrahl bekommen nur zwei Schalen und ein an der Wand hängendes Bild. Der Erzähler beschreibt das Zimmer und das Haus wie eine gerade verlassene heilige Grabstätte. Ein Speisesaal kommt auch in der Erzählung "El acomodador" (1946) vor. Der Erzähler ist hier ein Platzanweiser, der Stammkunde eines kostenlosen und von schweigsamen Gästen besuchten Speisesaales geworden ist. Alle Besucher sind von Erinnerungen belastete

'Der Schauspielcharakter ist von verschiedenen Autoren behandelt worden. Seine zwei Ebenen sind aber ohne Betrachtung geblieben. Vgl. hierzu Borinsky 1973, 237-246; Lasarte 1981, 51 (Anm.4), 108,171flf; Ferri 1986,71-72.

74 Ausländer, die wie in einem Theater die Haltung als Zuschauer oder Zuhörer einnehmen, vor allem wenn der wohltätige Speisesaalbesitzer einmal im Monat mit den Gesten eines Dirigenten auftritt, um das Schweigen seiner Tischgäste zu dirigieren. Eßzimmerdarstellungen sind auch in "Las Hortensias" (1949) und "Lucrecia" (1952) vorhanden, dort haben sie aber die Funktion eines Wartezimmers, in das der Besucher kommt, bevor er in ein zur Bühne umgestaltetes Wohnzimmer eintritt. In den Wohnzimmern erscheint in aller Deutlichkeit die für Hernández so typische literarische Behandlung des Mobiliars. Sie läßt sich am Beispiel von "La casa de Irene" und "El caballo perdido" betrachten. In beiden Erzählungen geht es um ein Kind oder einen jungen Mann, der die Klavierlehrerin Celina bzw.Irene besucht. Beim Betreten des Hauses verwandeln sich die Gegenstände des Mobiliars: Klavier, Statuen, Sessel gewinnen anthropomorphische Eigenschaften und stehen für das Benehmen oder die Gefühle des Liebesobjekts oder für es selbst. In diesem Sinne hat ein Stuhl eine starke Persönlichkeit und schenkt dem Erzähler keine Aufmerksamkeit, während ein anderer Stuhl ihn verstohlen ansieht, um sein bzw. das von Irene an ihn gerichtete Interesse nicht zu verraten. Irenes Klavier läßt sich vom Erzähler spielen, nachdem sie an ihm gesessen hat und es gibt sich dem Erzähler hin. Beim Besuch der Klavierlehrerin Celina und im Wohnzimmer auf sie wartend, betrachtet der Erzähler die Gegenstände, schaut unter die "Röcke" der Sessel und sagt: "En la sala de Celina había muchas cosas que me provocaban el deseo de buscar secretos [...] Además, el saber que todo lo que ahí habfa pertenecía a Celina, que ella era tan severa y que apretaría tan fuertemente sus secretos me aceleraba con una extraña emoción, el deseo de descubrir o violar secretos"(II: 16). Ahnliches ist auch in "El balcón" zu finden: Klavier und Balkon stehen für die Tochter des Hauses in einer gegensätzlichen Beziehung: während das Klavier der beste Freund ihrer Mutter gewesen ist, ist der Balkon ihre vertraute Person, die aus Eifersucht in der Phantasie der Tochter Selbstmord begeht. Was ich die zweite Bühne genannt habe, ist auch als Interieur und Mobiliar zu verstehen. Sie ist für einige Erzählungen die erzählerisch entscheidende Konstruktion und erfährt vielfältige Behandlung. Während die Urerzählszene auf der ersten Bühne stattfindet, befindet sich die zweite innerhalb der Urerzählszene. Dort tritt mit aller Klarheit das Theaterhafte bei Hernández auf. Während der Autor in jeder Erzählung die Urerzählszene inszeniert, tut ihrerseits eine Hauptperson auf der zweiten Bühne Ahnliches, indem sie ein Schauspiel inszenieren läßt. Wie bewußt sich die Hauptperson des Theaterhaften ist, drückt der Erzähler in "Ursula" (1969) aus: Y cuando estaba desasosegado subía una escalera de caracol que en vez de baranda tenía colgada en el centro una cuerda gruesa. A veces me esperaba un rato agarrado a ella y me parecía que esperaba el momento de subir un telón. (111:121-122)

75 Der Balkon gilt in der gleichnamigen Erzählung als Loge, von der aus die Tochter des Hauses "Szenen" auf der Straße sieht, die sie später in eine fiktive, selbstbezogene Geschichte verwandelt. In "El acomodador" besucht der Erzähler einen Speisesaal und einen mit Glasvitrinen möblierten Raum, wo er verschiedene Gegenstände sieht und wo seltsame "Szenen" stattfinden. In "Menos Julia" treten die Hauptpersonen in einen Tunnel ein, um ein sonderbares Spiel aufzufuhren. Eine Witwe engagiert in "El comedor oscuro" den als Klavierspieler arbeitenden Erzähler, um sich wie in einem Theater nach Anregung der Musik von ihren Erinnerungen unterhalten zu lassen: "...a ella se le había ocurrido hacer tocar la música y la pagaba como algo serio, como si se hiciera dar teatro para ella" (11:138). In "Las Hortensias" läßt Horacio im "schwarzen Haus" einen Raum auch mit Glasschränken einrichten, wo er mit verschiedenen und wechselnden Szenen konfrontiert wird. Alle diese Erzählungen präsentieren einen für die Szenen vorbereiteten Raum, der die bisher beschriebene Darstellung des Interieurs und Mobiliars erweitert: Glasschränke, Tunnel, Wohnzimmer sind hier einige Stichworte. Diese Erzählungen erlauben aber auch eine klare Trennung zwischen der ersten und der zweiten Bühne, zwischen der ganzen Erzählung und der Erzählung in der Erzählung. Dennoch ist "La casa inundada" diesbezüglich ein besonderer Fall im Werk von Felisberto Hernández. Der Erzähler besucht Señora Margarita in ihrem Landhaus, was die auf der ersten Bühne stattfindende Urerzählszene ausmacht. Señora Margarita hat aber für ihre Inszenierungen das ganze Haus umfunktioniert und es überschwemmen lassen. So stimmt die zweite, für die von der Hauptperson veranstalteten Szenen bestimmte Bühne mit der ersten, für die Urerzählszene vom Autor kreierten Bühne überein. Diese Hausumgestaltung wird übrigens folgendermaßen beschrieben: Y me gustaba saber que aquella casa, como un ser humano, había tenido que desempeñar diferentes cometidos: primero fue casa de campo; después instituto astronómico; pero como el telescopio que habían pedido a Norteamérica lo tiraron al fondo del mar los alemanes, decidieron hacer, en aquel patio, un invernáculo; y por último la Señora Margarita la compró para inundarla. (11:236) Die theaterhañe Komponente der zweiten Bühne, des für Inszenierungen umgestalteten Interieurs, erklärt auch die Umwandlung des Mobiliars in eine Szenenausstattung. Diese Szenen sollen jetzt etwas näher betrachtet werden. Dabei sollte man die oben genannte Trennung im Auge behalten.

3.3. Das Schauspiel Ich benutze das Wort 'Schauspiel', um die Aufführungen zu bezeichnen, die auf der zweiten Bühne stattfinden. Es handelt sich sehr oft um eine mehrmals in verschiede-

76 •en Sitzungen variierte Handlung. Dieses wiederholte und nach internen Regeln inszenierte Schauspiel weist aus diesem Grund einen rituellen Charakter auf. Wenige Erzählungen, wie "El comedor oscuro" und "El acomodador", zeigen, wie das Ritual der Vollkommenheit gelingt, die meisten stellen jedoch eine vollkommene und schon geregelte rituelle Handlung dar. Sie wird vom Erzähler häufig Zeremonie genannt. Ein gutes Beispiel dafür ist die "Zeremonie der Hände" in "Ursula". Sie besteht darin, daß der in Ursula verliebte Erzähler ihre Hände nimmt, um darin ihre Vergangenheit und Zukunft abzulesen, während beide um eine mit Quasten verzierte Lampe herumsitzen. Als Annährungsversuch deutet die auf der zweiten Bühne zelebrierte Zeremonie übrigens auf die auf der ersten Bühne stattfindende Urerzählszene hin. Mehrere dieser Schauspiele sind in der Tat allegorische, chiffrierte Darstellungen der sich auf der ersten Bühne vorziehenden Handlung. Die gerade beschriebene einfache "Zeremonie der Hände", in der der Erzähler dem Liebesobjekt ihre zukünftige Liebesbeziehung indirekt ausmalt, kann in diesem Sinne an Kompliziertheit, Vielfalt und Seltsamkeit gewinnen. Die melancholische Tochter erfindet mit den von dem Balkon aus gesehenen Personen selbstbezogene und rätselhafte Geschichten, die sie dem Vater und (indirekt) dem Erzähler vorträgt: ihr Alter ego Ursula ist verheiratet und hat Kinder, ist aber in einen anderen Mann verliebt; ihr Mann verträgt ihre mit dem Erzähler phantasierte Untreue nicht und begeht Selbstmord. Ihr Mann ist am Ende der Balkon, der abgestürzt ist. Die Erzählung endet mit ihrem Vorlesen des Gedichtes: "Die Witwe des Balkons". Die schauspielhaften und rituellen Elemente kommen in "El comedor oscuro" deutlicher vor. Der Klavierspieler hat schon das Haus der Witwe betreten und wartet im dunklen Eßzimmer auf sie: ihr Matetee ist schon vorbereitet, als sie schweigsam anfängt, die Musik zu hören. Diese Handlung mit ihren Vorbereitungen, die der Erzähler Sitzungen nennt, wiederholt sich zweimal in der Woche. Zweimal wird jedoch die rituelle Handlung unterbrochen: an einem Tag sind es zwei Jahre her, daß ihr Verlobter sie verlassen hat; und einmal glaubt sie, an irgendeinem Tango die ihr von ihrem Verlobten gewidmete Komposition wiederzuerkennen. Die im Ritual eingeführten Unterbrechungen deuten auf die Urerzählszene hin; es entsteht eine Brücke zwischen beiden Bühnen. In "Menos Julia" spielt der Erzähler die Rolle des Berichterstatters; die Hauptperson unterscheidet sich kaum von den bereits erwähnten melancholischen Hauptpersonen: ein Landhaus- und Ladenbesitzer fährt am Wochenende mit seinen Angestellten zu der auf dem Lande liegenden quinta, die einen Tunnel hat, um dort Seltsames zu erleben. Auch hier wird von Sitzungen geredet, die darin bestehen, daß der Besitzer und Chef mit seinen Angestellten den Tunnel betritt. Drinnen haben alle verteilte Rollen: links sitzen die weiblichen Angestellten im Dunkeln; rechts hat ein Angestellter in einer Art Schauschrank verschiedene, mit Gegenständen gefüllte Kästen aufgestellt; so tastet der Besitzer mit den Fingern erst die Objekte und versucht sie zu erraten, dann berührt er die Gesichter seiner Angestellten, um ihre Identität herauszufinden. Sobald dieses Spiel zu Ende geht, zieht er sich ins Haus zurück, legt sich auf einen Diwan und versucht, sich an das gerade

77 Ertastete und Berührte zurückzuerinnern. Der Erzähler vom "El acomodador" benutzt auch das Wort 'Sitzung* für die rituelle Wiederholung einer theaterhafiten Handlung. Dem Platzanweiser ist gelungen, über den Speisesaal einen für die Tischgäste nicht geöffneten, mit Glasschränken ausgestatteten Raum zu erreichen, in dem er nachts im Dunkeln mit seinen leuchtenden Augen Gegenstände anstarrt. Bald erscheint die schlafwandelnde Tochter des Hausbesitzers in diesem Raum; es wiederholen sich sowohl ihre Erscheinungen als auch seine Besuche. Als er versucht sie aufzuwecken, geht das Schauspiel zu Ende. Das Ritual ist in "La casa inundada" noch seltsamer. Der Erzähler soll hier Señora Margarita Gesellschaft leisten. Seine Pflichten bestehen darin, daß er im überschwemmten Haushof auf einem Kahn mit seiner verwitweten Herrin um eine Insel herumrudert und als vertraute Person ihre private Geschichte anhören soll. Auf der Insel ruht ihr verstorbener Mann, und sie glaubt, er möchte ihr durchs Wasser etwas mitteilen. Den Höhepunkt dieses wiederholten Rudems bildet eine "Wasserzeremonie" oder "sesión de homenaje al agua". Am klarsten kommt der theaterhafite Charakter der zweiten Bühne in "Las Hortensias" zum Ausdruck. Die Bewohner des schwarzen Hauses reden von "Szenen", die jeden Abend im Wohnzimmer eingerichtet werden, in dessen Glasschränken Schaufensterpuppen ausgestellt sind. Diese Szenen werden vom Hausbesitzer betrachtet, der die Bedeutung und die in ihnen erzählten Geschichten erraten soll. Die meisten (wie ihre Mottos zeigen: "Die Braut, die Selbstmord begeht", "Schwangere Frau einsam im Leuchtturm", "Carneval: zwei Frauen lieben denselben Mann", "Verlassene Frauen", "Frauen, die um jemanden trauern", etc.) sind ein chiffrierter Kommentar zu dem, was auf der ersten Bühne geschieht: der Besitzer des schwarzen Hauses betrügt seine Frau mit einer Schaufensterpuppe, namens Hortensia.

3.3.1. Der Bühnenausstatter Wie bewußt das Theaterhafte in den Erzählungen konstruiert wurde, läßt uns die Darstellung der Bühnenausstatter erfahren, denen Felisberto Hernández ausführliche Behandlung und Aufmerksamkeit schenkt. In der bereits erwähnten Erzählung "Las Hortensias" werden sie mit dem Wort los muchachos benannt; sie haben den Auftrag, jeden Abend für den Hausbesitzer Horacio die Szenen vorzubereiten. Beim Geburtstag der Schaufensterpuppe Hortensia unterhalten sie sich sogar mit ihrem Auftraggeber: sie sind sehr daran interessiert, was Horacio beim Szenenbetrachten erfährt und was ihm am besten gefallen würde. Man könnte in dieser Erzählung außer den muchachos auch den Klavierspieler Walter, den Puppenmacher Facundo und den Butler Alex zu den Bühnenausstattern rechnen. Auch in der Erzählung "Menos Julia" wird diese Rolle thematisiert. Dort handelt es sich um den Ladenangestellten Alejandro, der am Wochenende diesen Beruf mit dem des Ausstatters wechselt. Er hat den Auftrag, die verschiedenen Objekte in die Kästen zu stellen,

78 damit der Landhausbesitzer sie betasten und berühren kann. Sein Auftraggeber ist mit seiner Leistung sehr zufrieden und behauptet, er komponiere den Tunnel wie eine Symphonie, sei ein großer Romantiker, sei der Schubert des Tunnels. So stellt Alejandro in den Kästen auf den Schauschränken z.B. folgendes aus: eine Kürbisschale, Mehl, einen Käfig ohne Vogel, Kinderschuhe, eine Tomate, ein Opernglas, Frauenstrümpfe, eine Schreibmaschine, ein Ei, etc. Diese disparate Zusammenstellung erweckt die krankhafte Phantasie des Tastenden. In "La casa inundada", wo erste und zweite Bühne zusammenfallen, sind die Hausangestellten auch Bühnenausstatter. Sie müssen das Haus überschwemmen, die Bewässerungsanlagen in Betrieb setzen, etc. Das Hauspersonal fungiert sowohl in "El comedor oscuro" als auch in "El acomodador" als Bühnenausstatter: Das Dienstmädchen Dolly muß Matetee kochen und alles für die Klaviersitzung vorbereitet haben; der mayordomo ist ein unfreiwilliger Helfer des Platzanweisers, da der mayordomo ihm den Zutritt zum Raum mit den Glasschränken ermöglicht. Es ist interessant, an dieser Stelle zu erwähnen, — im Vergleich zu der oben aufgezählten disparaten Objektzusammenstellung — was der Platzanweiser in den Glasschränken sieht, weil sich in ihnen eine herrschaftliche Ordnung widerspiegelt: ein mit Schildpatt verziertes Meßbuch, einen aus Edelsteinen gefertigten Rosenkranz, Fächer, eine Figur aus Perlmutt und Seide, Jaspisminiaturen, Porzellanelefanten, eine Mandoline, etc. Diese Beispiele zeigen, wie die Thematisierung der Rolle des Bühnenausstatters innerhalb der Schauspieldarstellung dem Autor eine weitere literarische Bearbeitung des Interieurs und seines Mobiliars ermöglicht. Selbstverständlich sagt die erste Bühne sehr viel darüber aus, wie die zweite inszeniert und mit welchen Objekten sie ausgestattet wird. Das letzte Beispiel dient dazu, zu zeigen, daß die Objektauswahl für die Ausstattung der Schauspielbühne der Bevorzugung einer bestimmten Straße mit bestimmten Häusern entspricht: Wenn Topographie Topologie wird, werden Mobiliar und Interieur Ausstattung.

3.3.2. Die Darsteller Obwohl die zweite Bühne in mehreren Erzählungen mit der ersten zusammenfällt, erscheint es notwendig, eine Unterscheidung zwischen Hauptpersonen und Darstellern zu machen. Es ist schon gesagt worden, daß die Trennung beider Bühnen keinen formalen Charakter trägt. Denn wenn das Schauspiel die auf der ersten Bühne inszenierte Handlung wiedergibt, ist diese Wiedergabe nicht deckungsgleich sondern eher allegorisch. Allegorisch heißt hier nicht nur chiffriert, sondern bedeutet auch das Hindeuten auf Nicht-Benanntes aber Daseiendes. Am deutlichsten kann man die Funktion des Hindeutens in "Las Hortensias" beobachten. Dort sind die Darsteller nur Modepuppen; in den Szenen stellen sie verschiedene Situationen dar, die beim ersten Blick in sich geschlossen zu sein scheinen, ohne dabei weitere Bedeutung zu haben als die eines seltsamen und perversen Spieles. Dennoch deuten

79 die verschiedenen Rollen, die sie spielen, auf eine andere Ebene hin: Selbstmörderin und Braut; zurückgezogene und schwangere Frau; zwei in den gleichen Mann verliebte Frauen; verlassene oder trauernde Frauen; all das sind Anspielungen auf die verwirrte Beziehung der Hauptpersonen Maria und Horacio und auf die in diese Beziehung verwickelte Puppe Hortensia. Diese Unterscheidung ist auch hilfreich, wenn man die Erzählung "El balcón" betrachtet.9 Die von der Tochter erfundenen Liebesgeschichten erzählen von einer an zwei Männer gebundenen Frau, die aber ihren Mann und ihre Kinder wegen der neuen Liebe nicht verlassen kann. Diese zum Schauspiel gehörenden Geschichten berichten, was auf der ersten Bühne abläuft und zwar die Beziehung zwischen zwei Hauptpersonen: der Tochter und dem personalisierten Balkon. Das Eintreten des zweiten Mannes geschieht im Schauspiel; es handelt sich aber um den Erzähler, der die Tochter auf der ersten Bühne besucht. Diese im Schauspiel dargestellte Dreierbeziehung kann aber nur auf der ersten Bühne gelöst werden, indem der "Balkon", der für den Ehemann steht, Selbstmord begeht. So ist die Tochter in bezug auf den Balkon Hauptperson und in bezug auf den Ehemann Darstellerin. Und ebenso erscheint der Erzähler im Schauspiel als Darsteller bzw. als zweiter Mann und auf der ersten Bühne als Hauptperson. Diese Trennung ist auch nützlich in "Menos Julia". Der Laden- und Landhausbesitzer läßt in dieser Erzählung bei einem seltsamen Schauspiel seine weiblichen Ladenangestellten Darstellerinnen werden. Er entdeckt aber währenddessen, daß er sich in seine Angestellte Julia verliebt hat; die Entdeckung geschieht, als die beiden ihre Rollen als Darsteller im Schauspiel innehaben. Die Dramatik am Ende der Erzählung besteht darin, daß die zukünftige Frau Julia nur als Hauptperson mit ihm leben möchte; sie verbietet ihm das Schauspiel, was jedoch das ganze Leben des Ladenund Landhausbesitzers ausmacht. Auch in "El acomodador" ist die Vereinigung beider Ebenen unmöglich. Die schlafwandelnde Tochter des Speisesaalbesitzers ist Darstellerin des Schauspiels, das in dem mit Glasschränken ausgestatteten Raum stattfindet. Als der Platzanweiser sie aufweckt, die Darstellerin in Hauptperson und das Schauspiel in Urerzählszene verwandeln möchte, scheitert sein Versuch, da diese beiden Ebenen nicht vereinbar sind.

3.3.3. Das Publikum: der Deuter Außer Bühne, Bühnenausstatter, Darsteller gehört zum Schauspiel auch die rezeptive Ebene des Publikums. Dieser Bestandteil des Schauspiels ist in mehreren Erzählungen von Felisberto Hernández vertreten. In "Las Hortensias" ist die Hauptperson im Schauspiel vor allem Zuschauer. Horacio betritt den mit Glasschränken eingerichteten Raum, nachdem die muchachos die Szenen vorbereitet haben. Jede Szene ist nach einem Motto gemacht und Horacio soll das Motto erraten oder, besser

'Die Unterscheidungbzgl. dieser Erzählung findet sich bei Toledo und González Dueñas 1985, 32.

80 gesagt, deuten, interpretieren. So kommt zu seiner Rolle des Zuschauers die des Deuters. Da die Szenen mit sehr knappen Mitteln konstruiert sind, kann der Zuschauer keine "wörtliche" Auslegung liefern; die Bedeutungen der Szenen bleiben ihm zunächst undeutlich, aber vor allem kraftlos, wenn er seine Tätigkeit als Deuter ausübt. So scheint das Moment des freien Auslegens wichtiger zu sein als der spätere Vergleich zwischen dem Gemeinten und dem Interpretierten. Hier sollte man in Erinnerung rufen, was oben gesagt wurde, daß das Schauspiel als solches ein hindeutendes Moment innehat, das allegorisch auf die Urerzählszene zielt. Allegorisch ist auch die Art und Weise, wie der Deuter seine Interpretation realisiert, indem die wörtliche Bedeutung außer Kraft gesetzt wird. Auf die Frage der muchachos nach dem Gefühl, das Horacio erfährt, wenn er seine Szene betrachtet, antwortet er mit einer Erklärung, die als Zuschauer- und Auslegungstheorie für die Erzählungen von Felisberto Hernández gelten kann. Horacio redet erst von der Erinnerungsqualität, die die Glasscheiben der Schränke jeder Szene verleihen. Das Gefühl habe etwas Vergangenes und von der Zuschauergegenwart aus gesehen Fernes. Es sei so, als ob der Zuschauer diese einer Frau gehörende Erinnerung rauben würde, als wäre sie ein intimes Kleidungsstück. Dieser Raub wäre, indem der Zuschauer das Stück besitzt, eine Art Profanierung, das Betreten eines heiligen Raumes. Es ist wichtig, hier zu bemerken, daß das Wort "violar" in diesem Zusammenhang die Bedeutung 'Entweihen' trägt, den Sinn des 'Vergewaltigens' aber nicht vollkommen ausschließt. Wir wissen schon aus der Erzählung "Por los tiempos de demente Colling" (1:139-140), daß dieser Zusammenhang von Erotik und Entweihung die Urerzählszene andeutet. Ich zitiere nun den Ausschnitt aus "Las Hortensias": Cuando miro una escena me parece que descubro un recuerdo que ha tenido una mujer en un momento importante de su vida; algo así — perdonen la manera de decirlo — como si le abriera una rendija en la cabeza. Entonces me quedo con ese recuerdo como si le robara una prenda íntima; con ella imagino y deduzco muchas cosas y hasta podría decir que al revisarla tengo la impresión de violar algo sagrado. (11:198) Im Zitat habe ich die Verben imaginar und deducir hervorgehoben, weil beide Bestandteile im Prozeß der Zuschauerinterpretation sind. So sagt der Erzähler folgendes, als Horacio eine Szene betrachtet: "Antes de abrir el cajón de la mesita y saber cuál era la leyenda de esta novia, él quería imaginar algo" (II: 180. Hervorhebung durch den Verfasser). Ahnliches geschieht, als Horacio eine andere Szene sieht: "Entonces él empezó a imaginar su historia (II: 182. Hervorhebung durch den Verfasser). Auslegung als Ersinnen. Nun wissen wir aber, daß diese Phantasie auf die Urerzählszene hindeutet. Es bleibt noch zu erklären, warum das Erotische mit dem Entweihen zusammenkommt. Das in diesem erotischen Wunsch versteckte Verbot läßt sich dennoch eher soziologisch oder geschichtsphilosophisch als psycho-

81 analytisch verstehen, wie ich in einem späteren Abschnitt zeigen möchte. Als zweites Beispiel der Publikums- bzw. Deuterrolle in der Schauspieldarstellung kann die Erzählung "Menos Julia" dienen. Der Laden- und Landhausbesitzer ist ein mit dem Tastsinn agierender Zuschauer. Was er betastet und berührt, soll er erraten bzw. auslegen. Bei ihm geht es aber weniger um das Tasten als um die Gefühle und Empfindungen, die er dabei erfährt und gleich danach ersinnt, oder darum, wie die Empfindungen bei ihm Erinnerungen wachrufen. So fragt er seinen Freund (den Erzähler) danach, als sie beide im Tunnel sind und der Freund ein Objekt getastet hat, was er dabei gefühlt und gedacht hat. In dieser Erzählung geht es auch mehr um Ersinnen als Erraten, mehr um die allegorische als die wörtliche Bedeutung der Objekte. Sie sind da, um sie als solche nicht wahrzunehmen, sondern um etwas anderes zu evozieren. Als der Laden- und Landhausbesitzer im dunklen Tunnel Julias Gesicht tastet, fragt sie ihn: "—¿Usted recuerda otras caras cuando toca la mía?" (11:108). Er bejaht und fügt folgendes hinzu: "Ahora pienso en una vienesa que estaba en París" (11:108). Ein anderes Mal, nachdem er im Tunnel gewesen ist, sagt er zu dem Freund und Erzähler: "—Hoy tuve mucho placer. Confundía los objetos, pensaba en otros distintos y tenía recuerdos inesperados" (11:106). Die letzten Zitate zeigen außerdem die enge Verbindung zwischen dem Ersinnen und Sich-Erinnern, wie sie sich auch im vorigen Beispiel feststellen ließ. Die allegorische Auslegung, die auf etwas anderes hindeutet, ersinnt dieses andere, und was ersonnen wird, kommt aus der Erinnerung. So könnte man aus diesen Beispielen den dargestellten Auslegungsprozeß zusammenfassen. Ein weiteres Beispiel der Zuschauerrolle läßt sich aus der Erzählung "El comedor oscuro" entnehmen. Anders als in "Las Hortensias" oder in "Menos Julia" betrifft diese Rolle nicht das Sehvermögen oder den Tastsinn, sondern das Hörorgan. Hernández variiert hier diese Rolle, indem die Hauptperson den Klavierspieler engagiert und dadurch als Zuhörer fungiert. Die Witwe Muñeca möchte zweimal in der Woche ein privates Konzert erleben, sie läßt so das Theater nach Hause kommen. Der Erzähler erklärt, daß sie gar nicht zuhöre, sondern sich in ihre Gedanken (oder Andenken) vertiefe: "La Señora Muñeca no sólo parecía que no oía la música sino que había dejado el mate y una de sus manos quedó inmóvil encima de la carpeta" (II: 139). Hier geht es auch nicht um das Zuhören, die Musik dient eher als Anregungsmittel, damit sie in ihre tiefen Gedanken versinken kann. Wiederum wird hier der "wörtlichen" Bedeutung des Schauspiels keine Aufmerksamkeit geschenkt. Und wenn Señora Muñeca sich bei der Asociación de pianistas wegen der traurigen Musik des Klavierspielers beklagt, sagt dieses Urteil dennoch viel mehr über Señora Muñeca und ihre Melancholie aus als über die Musik des Klavierspielers.

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4. Die Hauptpersonen Während sich die Darsteller auf das im Interieur stattfindende Schauspiel beziehen und nur aus ihm zu verstehen sind, handeln die Hauptpersonen auf der ersten Bühne und bilden die Urerzählszene. Wie schon erklärt, besteht diese aus dem Besuch eines Hauses, den eine Hauptperson (meistens der Erzähler) macht, um etwas später das Haus zu verlassen. Aus dieser Grundstruktur lassen sich die wichtigsten Hauptpersonen herausarbeiten. Da die Besuche erotisch beladen sind, ist ein von Liebe, Neugier und Begierde geleiteter Besucher und eine als Objekt dieser Gefühle dargestellte besuchte Hauptperson zu finden. Sehr oft ist aber die aktive Rolle dieser Beziehung aus der Perspektive der vom Erzähler begehrten Hauptperson entworfen. Zu dieser Zweierbeziehung gehört dennoch eine dritte, meistens abwesende Hauptperson, die mal als Hindernis, mal als ersatzbedürftige Figur fungiert. Andere Hauptpersonen stehen im Dienst dieser drei wichtigen Figuren und spielen eine Nebenrolle. In der Behandlung dieser drei Figuren kann man auch Hernández' schon erwähnte Kunst des Variierens beobachten.

4.1. Die Hauptperson: Besucher, Erzähler Aus der Erzählung "Por los tiempos de demente Colling" ist der Abschnitt zitiert worden, in dem sich der Erzähler an die jungen, hübschen und eleganten Frauen der an der Suirezstraße liegenden Villen erinnerte, und er vom Betreten des Hauses bzw. von der Prophanierung eines erotischen Geheimnisses träumte. Aus der Erzählung "El comedor oscuro" kann man einen Abschnitt in Erinnerung rufen, in dem der Erzähler sagte, welche Schwierigkeiten er haben würde, wenn er dem Angestellten der Asociación de pianistas erklären sollte, warum er sehr glücklich war über den Auftrag, in einem dunklen Eßzimmer Klavier zu spielen, und warum er unbekannte Häuser betreten mußte. Aus der frühen Erzählung "La casa de Irene" wissen wir schon, daß der Erzähler Irene besucht, weil er in sie, aber vor allem in ihr "weißes Geheimnis", verliebt ist. Die Hauptperson in Hernández' Erzählungen ist ein Besucher, aber auch ein Erzähler, eine männliche Figur. Sie kann als ein seine Klavierlehrerin begehrendes oder seinen Klavierlehrer bewunderndes Kind erscheinen, wie in "El caballo perdido" oder "Por los tiempos de Clemente Colling". Sie kommt als in Irene verliebter junger Mann oder als im Theater arbeitender Platzanweiser vor. Er ist vor allem der für private oder öffentliche Konzerte engagierte Klavierspieler, wie er in den Erzählungen "El balcón", "El comedor oscuro" und "La casa nueva" dargestellt wird. Eine Variation dieses Typus ist in "La casa inundada" und "Ursula" zu finden, in denen der Erzähler einen Schriftsteller repräsentiert. In diesem Typus kommt der Charakter der besuchenden und erzählenden Hauptperson am deutlichsten zum Vorschein. Es handelt sich um einen mittellosen Menschen, der sein künstlerisches Talent öffentlichen und nicht öffentlichen

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Instanzen zu Verfügung stellt. Seine Haltung und sein Handeln entsprechen dieser Situation. Er ist als Angestellter da und befolgt jede Anweisung seines Arbeitgebers. Die Entscheidungen, die sein Auftreten, Handeln und Ausgehen bestimmen, werden von anderen getroffen. Während dies in "El comedor oscuro" und "La casa inundada" sehr deutlich sichtbar wird, da er je nach dem Wunsch seines Arbeitgebers kommt und geht, wird diese Tatsache in anderen Erzählungen nuanciert. Dies ist in "El balcón" zum Beispiel festzustellen, als der Vater ihn darum "bittet", die Tochter zu Hause zu besuchen. Sie ist aber diejenige, die die Entscheidungen trifft, wenn es um sein Handeln geht. Diese dienstwillige Haltung der Hauptperson läßt sich mit den in bezug auf die werttragende Person in ihm entstandenen Erwartungen erklären. Wenn der Erzähler in "El comedor oscuro" sagt: Sin embargo a mí me atraían los dramas en casas ajenas y una de las esperanzas que me había provocado mi concierto era la de hacer nuevas relaciones que me permitieran entrar en casas desconocidas. (II: 146) meint er nicht nur, daß er diese dramas kennenlernen möchte. Eher beziehen sich seine esperanzas auf eine Teilnahme an diesen dramas. Im Zitat bezeichnet das Wort dramas die unglücklichen Lebenserfahrungen der Hausbewohner, es erwähnt aber indirekt das, was ich das 'Schauspiel* genannt habe, und bedeutet in diesem Zusammenhang die Art, wie der Besucher an diesen unglücklichen Lebenserfahrungen der Hausbewohner teilnehmen kann. Die Worte me atraían drücken die erotische Komponente aus, die in den Erwartungen versteckt ist. Hier sollte man hinzufügen, daß Besucher und Erzähler in einigen Erzählungen ohne Erwartungen und erotische Bestandteile vorkommen können. Das ist zum Beispiel in "Menos Julia" der Fall, wo der Erzähler die Funktion eines Zeugen hat. In "Las Hortensias" ist der Erzähler als Hauptperson verschwunden, er ist dort ein auktorialer geworden. Diese beiden Fälle sind dennoch im Felisberto Hernández' Werk eher die Ausnahme.

4.2. Die werttragende Hauptperson: Liebesobjekt, Herrin, Veranstalterin Während die Hauptperson Besucher und Erzähler, eine begehrende männliche Figur ist, steht ihr die weibliche Hauptperson als begehrte und besuchte gegenüber. Sie trägt den positiven Wert für den Besucher, da sie sein Liebesobjekt ist. Um sie dreht sich die Urerzählszene und um sie geht es in den Erzählungen. Der Besucher betritt das Haus, um sie kennenzulernen und sich in sie zu verlieben; er träumt von ihrer Eroberung bzw. von ihrer Profanierung. Sie ist umgeben von etwas Weihevollem. Sie besitzt ein "weißes Geheimnis", eine seltsame Art, mit Gegenständen und überhaupt mit der Realität umzugehen, wie es in "La casa de Irene" dargestellt

84 wird. Ihre Bewegungen verstecken etwas Würdiges oder Wertvolles, das in "Por los tiempos de demente Colling" aus der Perspektive des erzählenden Kindes schwer zu erahnen ist, das für die Erwachsenen als Geheimnis gilt, das sehr viel Intellekt verlangt, um es zu ergründen: "Tal vez se llegara a ella, en un esfuerzo tan grande de la inteligencia, en un vuelo tan alto, como el de las abejas cuando persiguen a su reina" (1:140. Hervorhebung durch den Verfasser). Sie ist Liebesobjekt, vor allem erscheint sie aber in der Beschreibung der Klavierlehrerin als Objekt der Begierde; in "El caballo perdido" beobachtet das Kind aufmerksam ihre Kleider und die von den Kleidern nicht bedeckten Körperteile: ihre Arme, Hände und Haare: "Después venía la cara muy blanca, los ojos muy negros, la frente muy blanca y el pelo muy negro, formando un peinado redondo como el de una reina que había visto en algunas monedas" (II: 17. Hervorhebung durch den Verfasser). Nun spielen bei der Begierde der Hauptperson die üblichen Schönheitsideale keine Rolle. In "La casa inundada" behauptet der Erzähler, daß es für ihn unwichtig sei, was seine Freunde und ehemaligen Freundinnen über ihn und seine sehr große und dicke Señora Margarita sagen würden, denn: "Esta Señora Margarita me atraía con una fuerza que parecía ejercer a gran distancia, como si yo fuera un satélite" (1:252). Ähnliches ist auch in der posthumen Erzählung "Ursula" zu lesen, wo der Vergleich des Liebesobjektes mit einer Kuh eher die Begierde verstärkt und die Eroberung ermöglicht. Physische Beschreibungen nehmen in den jeweiligen Erzählungen einen bezeichnenden Platz ein. In "El comedor oscuro" ist die Beschreibung der Señora Muñeca anfangs positiv, bald erfährt der Leser jedoch, daß sie sehr klein, mager ist und daß sie schielt; trotzdem ist ihre Umgebung von einer geheimnisvollen Aura geprägt. Im Gegensatz dazu wird ihr Dienstmädchen Dolly als frech, vulgär und ohne Anziehungskraft für den Erzähler dargestellt, der sich bei ihren Verführungsversuchen eher bedroht als "angemacht" fühlt. In "El balcón" hat die Tochter des Hauses jedes Interesse an sich selbst verloren: "Ella había dejado abandonada en medio de su cara una sonrisa como la del piano; pero su cabello rubio y desteñido y su cuerpo delgado también parecían haber sido abandonados desde mucho tiempo" (11:62). Obwohl der Erzähler hier nicht so sehr an der Tochter interessiert zu sein scheint, malt er dennoch um sie eine sehr würdige und geheimnisvolle Atmosphäre. Die physische Beschreibung führt übrigens sehr oft zu einer psychischen, die ich später unter dem Begriff 'Melancholie' betrachten werde. Eine zweite Bestimmung der werttragenden Hauptperson ist ihr herrschaftlicher Charakter. Wenn der Besucher und Erzähler als Angestellter das Haus betritt, ist sie seine Arbeitgeberin, diejenige, die die Entscheidungen trifft, wann er kommt und geht. Sie ist Hausbesitzerin. Diese Tatsache scheint die vom Besucher empfundene erotische Anziehung zu verstärken. Von ihr träumt er, sie ist aber unerreichbar. Die daraus entstehende Spannung prägt die wiederholten Versuche des Besuchers, ihr näher zu treten. In dieser Spannung fallen auch die sozialen und persönlichen Ebenen zusammen; durch sie läßt sich Gesellschaftliches ausdrücken. Herrin bzw. Arbeitgeberin zu sein bedeutet für den Besucher, einen mittellosen Künstler, die

85 Möglichkeit, daß er seinen in der Gesellschaft funktionslos gewordenen Beruf ausüben kann. Herrin heißt hier Mäzenin sein. Sie als Liebesobjekt zu haben, bedeutet für ihn, indem sich die Liebe verwirklicht, in dieser Gesellschaft zu arrivieren. Diese Herrinnen gehören nicht in die "modernen Zeiten", wie der Erzähler in "Por los tiempos de demente Colling" ausfuhrlich erklärt; sie haben aus diesem Grund einen Sinn für Kunst; sie sind in alten Villen und Häusern verankert, eher an die Vergangenheit gebunden als aktive, in der gegenwärtigen Gesellschaft agierende Mitglieder. Bei der erotischen Anziehung scheint auch dieses Merkmal eine entscheidende Rolle zu spielen, was in den Erzählungen das gesellschaftlich regressive Moment ausmacht. Am deutlichsten kann man diese Dynamik zwischen der für die Herrinnen empfundenen Zuneigung und der Ablehnung der "modernen Zeiten" in der Erzählung "El comedor oscuro" beobachten. Der Autor spielt dem Erzähler gegenüber Herrin und Dienstmädchen gegeneinander aus; nicht zufällig heißen sie auch gleich: Muñeca und Dolly. Herrin Muñeca bestellt sich einen Klavierspieler, um zu Hause private Konzerte zu erleben. Ihr Leben ist von einer durch frustierte und verratene Liebe verursachten Schwermut geprägt. Im dunklen Eßzimmer versucht der Besucher mit seiner Musik, sie von ihrem Trübsinn zu befreien; beide versinken aber in melancholischen Gedanken. Nun wenn Señora Muñeca den Besucher mit stummem Interesse aber als Angestellten behandelt, tut es Dolly als gleichgestellte Person und duzt ihn. Unter diesen beiden Tatsachen wird der Besucher im Laufe der Erzählung leiden: er kann Señora Muñeca nicht unterhalten und möchte sich von Dolly nicht duzen lassen. Señora Muñeca bleibt schwermütig und passiv, während Dolly ihn beim Spielen unterbricht, ihn mehrmals erfolglos verführen will; am Ende heiratet sie den Bruder von Señora Muñeca und bekommt von ihm ein Häuschen. Die Ablehnung der Verführungsversuche von Dolly hat sozialen Charakter. Sie weiß die Kunst nicht zu schätzen, besitzt keine quinta, sondern ein "modernes" Häuschen, ist weder Herrin noch Mäzenin, kann ihre erotischen Zuneigungen auch nicht geheimnisvoll ausdrücken. Eine Abweichung der werttragenden Hauptperson stellt mit Sicherheit die weibliche Figur in der Erzählung "Ursula" dar. Im Gegensatz zu Dolly erweckt sie beim Erzähler eine erotische Anziehung, sie ist weder Herrin noch Mäzenin, arbeitet für den Erzähler als Dienstmädchen und Köchin, drückt sich geheimnisvoll und vermittels zeremonienartiger Handlungen aus. Nachdem der Erzähler sie erobert hat, verliert er das Interesse an ihr. Die mit ihr entstandenen Zeremonien reichen nicht, aus ihr eine typische Vertreterin der werttragenden Hauptperson zumachen. Ihre klarste Verkörperung ist in "La casa inundada" zu finden. Señora Margarita ist dort Herrin, Landhausbesitzerin, Arbeitgeberin und Mäzenin. Sie ist auch Liebesobjekt des Erzählers und ermöglicht bei ihm die Entstehung dieser Spannung zwischen erotischem Wunsch und sozialer Unerreichbarkeit. Ahnlich ist die Rolle der weiblichen Figur in "Lucrecia", obwohl dort die Unerreichbarkeit von Anfang an die Handlungen des Erzählers bestimmt. "El balcón", "El acomodador" und "La casa nueva" stellen eine Variation der Rolle der werttragenden Hauptperson dar. In diesen Erzählungen sind

86 die weiblichen Figuren nicht die Herrinnen, sondern die Töchter des Mäzens oder Hausherren. Diese Tatsache ändert aber nicht ihren Charakter, sie enthalten alle oben genannten Eigenschaften. Das soziale Reflektieren des Künstlerschicksals läßt sich außerdem nochmals in "La casa nueva" betrachten. Der Erzähler ist hier wiederum ein arbeitsloser reisender Klavierspieler, der, während er aus einem Café die gegenüberliegenden Alt- und Neubauten beobachtet, sich wegen seiner Mittellosigkeit ängstigt. Aus der Erzählung ist keine deutliche Urerzählszene abzulesen; ein Fmstrations- und Depressionsgefühl begleitet seine Erinnerungen bis zu einem Punkt, in dem eine Erinnerung anderer Qualität auftaucht: es handelt sich jetzt um einen Lyriker und seine vom Erzähler damals begehrte Tochter. Diese Erinnerung, die doch die Urerzählszene darstellt, wiederholt sich in der Handlung. Der Klavierspieler kann am Ende einen Auftrag bekommen, weil eine mächtige Person ihren Einfluß geltend machte. Als er sich bedanken will, muß er ein "neues Haus" betreten; dort trifft er unerwartet die beiden Personen der Erinnerung, die jetzt als Mäzene für den Künstler agieren: Ahora, después de unos años, me encontré yo con mis ojos entornados, no sólo por los recuerdos, sino por la angustia de no poder pagar el hotel y el ómnibus. Pero todavía existen ángeles inesperados que sacuden las alas. (111:117) Wenn auch angedeutet, wird so die Urerzählszene dennoch nicht in der Erzählung thematisiert. Ein Grund dafür könnten die arrivierte Position des Lyrikers und sein Besitz eines "neuen" Hauses sein. Ironisch und kritisch klingt die Antwort des Lyrikers und jetzigen Intendenten auf die vom Erzähler gestellte Frage nach seinem Befinden: "Esta mañana cuando mi hija me hizo la corbata [...] me dijo: 'Padre, usted es un gran poeta, tiene una alta posición social y una casa nueva" (111:117). Eine dritte Bestimmung der werttragenden Hauptperson ist ihre Rolle als Veranstalterin. Sie bezieht sich vor allem auf das, was ich das 'Schauspiel' oder die zweite Bühne genannt habe. Die Hauptperson organisiert eine theaterhafte Zeremonie oder veranstaltet ein seltsames Ritual. Ihre Rolle als Veranstalterin läßt sich erst dadurch erklären, daß sie Herrin ist. Die Tatsache, daß sie diese Rolle spielt, bedarf aber einer weiteren Erklärung. In "El comedor oscuro" erklärt Señora Muñeca dem Klavierspieler den Grund, warum sie ihn engagiert hat: "...en mi familia, todos han respetado la música. Yo quiero que en esta casa, dos veces por semana, se toque la música" (11:136 Hervorhebung durch den Verfasser). Diese Aussage trifft aber den Kern ihres Bedürfnisses nach Musik nicht. Als sie sich beim Vertreter der Asociación de pianistas über die Leistungen des Klavierspielers beklagt, sagt sie, daß seine Musik sie in keine frohe Stimmung versetze. Seinerseits beschreibt der Erzähler die im Haus herrschende Stimmung folgendermaßen: "Aquella casa tenfa algo de tumba sagrada que había sido abandonada precipitadamente" (11:139). Düsternis und Traurigkeit bestimmen hier die innere Gemüts-

87 läge. Die Hinwendung Señora Muñecas zur Musik, um sich aus dieser Stimmung zu befreien, entspricht einem Topos bei der Melancholietheorie, der Musik als Heilungsmittel gilt.10 Señora Muñecas Schwermut führt sie dazu, einen Musiker zu engagieren und private Konzerte zu veranstalten. In diesem Sinne darf man behaupten, daß das 'Schauspiel' auf Grund einer melancholischen Veranlagung stattfindet. Andere Erzählungen von Felisberto Hernández zeigen auch die werttragende Hauptperson als trübsinnige Veranstalterin. In der Erzählung "El balcón" bedauert der Vater sehr, daß seine Tochter die Konzerte des Erzählers nicht besuchen kann, weil sie behindert ist. Nun ist diese Behinderung nicht physicher Natur: Hay noches que no duerme pensando que al dfa siguiente tiene que salir. Al otro dfa se levanta temprano, apronta todo y le viene mucha agitación. Después se le va pasando. Y al final se sienta en un sillón y ya no puede salir. (11:60) Der Vater fügt noch hinzu, daß seine Tochter bedauerlicherweise nicht spazieren gehe und sich nicht amüsiere, gleich korrigiert er sich aber selbst und meint, daß sie sich im Balkon bzw. in der Loge zu Hause amüsiere. Der Erzähler soll den Vater zu Hause besuchen und dort Klavier für seine Tochter spielen; so wird das private Konzert für die melancholische Tochter veranstaltet. Auch Señora Margarita bestätigt diese Rolle der werttragenden Hauptperson und ihre grundlegende Stimmung. Sie wird außerdem als atolondrada generosa beschrieben, die ihr Haus überschwemmt hat. Sie veranstaltet seltsame, mit Wasser inszenierte Zeremonien und hat ihr Leben in ein Wasserritual umgestaltet. Ihre Angestellten nennen die Inszenierungen velorios und dieses Wort bezeichnet unmißverständlich ein Trauerelement. Den Erzähler, einen mittellosen Schriftsteller, hat sie kommen lassen, damit er an den Zeremonien teilnehme und ihr beim Erzählen einer sonderbaren Geschichte zuhöre. Die heilende Funktion der Musik sollte in dieser Erzählung der Schriftsteller übernehmen, aber es gelingt ihm nicht, ihr dienlich zu sein, da er ihren Vorstellungen nicht entspricht. Trotzdem scheint hier ihr kompliziertes Schauspiel eine phantasievolle Variation des Klavierspiel-Hörens oder des ImBalkon-Phantasierens zu sein, auch eine Art Heilungsversuch der Melancholie. Es ist aber vor allem ein Ausdruck der in der werttragenden Hauptperson tief verankerten Schwermut und darüberhinaus eme klare Aussage über die enge Verbindung zwischen dem Trübsinn und der Rolle der Veranstalterin des Schauspiels. Im Gegensatz dazu stellen die Erzählungen "Menos Julia" und "Las Hortensias" männliche werttragende Hauptpersonen dar. Sie sind weder Liebes- noch Begierdeobjekt, sondern Subjekt, Herr, Hausbesitzer, die als melancholische Veranstalter gegen ihre Schwermut ein Schauspiel aufführen lassen. Sowohl Horacio in "Las Hortensias" als auch der Jugendfreund der Erzählers in "Menos Julia" haben eine

'"Siehe Klibansky, Panofsky und Saxl 1990, Abbildung n. 71.

88 "Schwäche" oder eine "Krankheit". Horacios Schwäche für Modepuppen führt ihn aber nicht zur Heilung der Melancholie, sondern in psychische Verwirrung. Und da der Landhausbesitzer mit dem Schauspiel bzw. Tastspiel, das er seine "Krankheit" nennt, seine Schwermut bekämpft, möchte er nie gesund werden: "yo quiero a mi...enfermedad más que a la vida. A veces pienso que me voy a curar y me viene una desesperación mortal" (11:93). Diese ironisch gemeinte "Krankheit" und die Suche nach Heilung der Melancholie lassen mit aller Deutlichkeit die zwei Gesichter der Schauspieldarstellung zum Vorschein kommen: Schauspiel als Heilmittel und Schauspiel als Symptom der Krankheit. Nun, während diese beiden Erzählungen die zwei Gesichter zeigen, die sich hinter dem Bestehen der zweiten Bühne verstecken, sind sie auch Nachweis von Hernández' Kunst des Variierens und zwar bezüglich der Darstellung der werttragenden Hauptperson als Begierde- und Liebessubjekt. Mehrere weibliche Verkörperungen dieser Figur weisen diese aktive Haltung auf. Señora Muñeca, Señora Margarita und die Tochter in "El balcón" sind nicht nur Liebesobjekt des Erzählers, sie werden auch als Begierdesubjekt des Klavierspielers oder des Schriftstellers dargestellt. Diese zwei Gesichter kommen auch sehr deutlich bei den weiblichen Figuren zum Vorschein: wenn sie das Schauspiel veranstalten, tun sie es, weil sie glauben, dadurch der Melancholie entgehen zu können, und sie zeigen, indem sie es veranstalten, ihren wahren trübsinnigen Charakter. Sollte man jetzt nach seinem Ursprung fragen, könnte bei der Beantwortung die gerade getroffenen Feststellung hilfreich sein: Die weiblichen Figuren begehren den Besucher, weil in ihrem Leben kein anwesendes Begierdeobjekt existiert. Man könnte sogar hinzufügen, daß sie den erotisch geprägten Besuch (mit)veranstalten. Bei der Beantwortung dieser Frage hilft die wiederholte Vorstellung der werttragenden Hauptperson als Witwe. Diese weitere Bestimmung läßt sich in Verbindung mit einer der anderen wichtigsten Hauptpersonen betrachten.

4.3. Die abwesende Person: Witwe, Ersatzmann, nicht ersetzbarer Mann Sowohl Señora Muñeca als auch Señora Margarita sind Witwen. Die Tochter des Hauses in der Erzählung "El balcón" wird am Ende viuda del Balcón. Was in diesen drei Fällen eine Voraussetzung der Urerzählszene zu sein scheint, nämlich, daß das Liebesobjekt des Besuchers von jeder Bindung frei ist, wird auf verschiedene Art und Weise in anderen Erzählungen variiert. Dieser Zustand des Liebesobjekts deutet aber in allen Fällen auf eine abwesende Person hin, sei sie der reale oder phantasierte gestorbene Mann, sei sie der reale oder phantasierte verschwundene Freund. Diese dritte Hauptperson ist Bestandteil der Beziehungsdynamik und gehört zur Ökonomie der Hauptpersonen im Aufbau der Erzählungen. Es scheint paradox zu behaupten, daß die abwesende Person immer anwesend ist, daß der Besucher mit ihrem Schatten zu kämpfen hat. Insofern ist die oben gemachte

89 Aussage, das Liebesobjekt sei frei von jeder Bindung, nur teilweise richtig. Im Fall der Señora Muñeca ist die werttragende Hauptperson sogar zweifache Witwe: einmal als sie sehr jung einen reichen Mann heiratete, der sehr früh starb, und ein zweites Mal als ihr Freund sie wegen einer anderen verließ. In der Erzählung ist dieser Freund deijenige, der die Rolle der abwesenden Person spielt; für ihn hatte sie das Klavier gekauft, an dem er für sie spielte; ihr hatte er auch einen Tango gewidmet, dessen Titel nach ihr benannt ist. Als nun der Klavierspieler engagiert wird, besetzt er in gewisser Weise den Platz ihres Freundes. Daß dessen Schatten aber die ganze Zeit gegenwärtig ist, läßt das Dienstmädchen Dolly erkennen, als sie dem Klavierspieler vor einer Sitzung sagt: "—Hoy hace dos años que vimos al novio de Muñeca cuando subía la escalerita del vapor dándole el brazo a la otra. Así que tené cuidado y portóte bien" (11:139). Mehrere Sitzungen später wird der Klavierspieler von Muñeca nach dem Titel des gerade gespielten Tangos gefragt. Da der Name des Stückes eine direkte Anspielung auf ihre unglückliche Liebesgeschichte sein könnte, wird der Besucher nervös; es gelingt ihm aber nicht, den Titel zu verschweigen: "'¿Te fuiste? Ja, j a " . Unmittelbar danach kommentiert der Erzähler, Besucher und Klavierspieler: "Yo no deseaba que este título le trajera malos recuerdos. Sin embargo a mí me atraían los dramas en casas ajenas"(II: 146). Im Fall der Señora Margarita prägt die Abwesenheit ihres verstorbenen Mannes ihr ganzes Leben. Da sie glaubt, im Wasser eine Mitteilung ihres Mannes hören zu können, läßt sie das Haus überschwemmen und zelebriert mit dem Wasser sonderbare Rituale. Der Erzähler redet von ihrem Leidrai, ihrer Wasserreligion und von ihrem Mann: "En el mismo instante del relato no sólo me di cuenta que ella pertenecía al marido, sino que yo había pensado demasiado en ella" (11:252). Die Anwesenheit des verstorbenen Mannes im Leben der Señora Margarita verstärkt sogar die Zuneigung des Erzählers: "Ahora a mí no me importaba lo que dijeran los amigos ni las burlas de las novias de antes. Esta Señora Margarita me atraía con una fuerza..." (11=253). Der Erzähler möchte den Mann ersetzen;am Ende stellt sich aber heraus, daß diese Ersetzung nicht möglich ist (s. Mora 1982, 98-117). In der Erzählung "El balcón" fühlt sich die Tochter des Hauses immer noch an die abwesende Hauptperson gebunden, phantasiert aber eine Liebesbeziehung mit dem Besucher, für die sie von jeder Bindung frei sein sollte. Die abwesende Hauptperson ist ihr Mann, der aber dennoch anwesend ist in Gestalt des Balkons. In der Phantasie der Tochter ist der Balkon eine Person; es handelt sich um einen Menschen, der Gefühle und Empfindungen haben kann, nämlich Eifersucht. So geschieht es, daß, als die Zuneigung der Tochter zum Klavierspieler stärker wird, der Balkon Selbstmord begeht, indem er von der Hauswand hinabstürzt. Die Erzählung endet mit dem Vorlesen eines Gedichtes, dessen Titel "La viuda del balcón" lautet, und das die Tochter gerade aus dieser Erfahrung geschrieben hat. Die Geschichte zeigt im Grunde genommen, wie die werttragende Hauptperson ihre notwendige Bestimmung, nämlich Witwe zu sein, erreicht. Ob die Ersetzung des Mannes stattfindet und ob sie erfolgreich ist, ist nicht mehr Thema der Erzählung. Wichtig ist aber

90 festzuhalten, daß diese Geschichte die Wandlung der Tochter in ein mögliches Liebesobjekt darstellt und daß sie die drei bisher betrachteten Hauptpersonen und ihre Beziehung schildert. Eine leicht abweichende Variation dieser Beziehungsdynamik der Hauptpersonen ist "El acomodador". Liebesobjekt des Platzanweisers ist die Tochter des Haus- und Speisesaalbesitzers. Sie ist also Herrin, aber keine Witwe. Der Besucher kennt sie als Schlafwandlerin und als solche erscheint sie von jeder Bindung frei. Es gibt dennoch eine bisher unbekannte abwesende Hauptperson, die im Laufe der Geschichte Konturen und Attribute erhält. Von ihrer Existenz erfahrt der erzählende Besucher zufälligerweise, als er ihr zusammen mit der Tochter begegnet. Seine bei dieser Begegnung entstandenen Gefühle beschreibt er folgendermaßen: "Yo corría y estaba a punto de sollozar" (11:87); "corría detrás de ella sin saber lo que iba a hacer. Ella no me reconocía; y además se me escapaba con otro" (11:88). Dieser andere, der Freund der Tochter, wird durch eine Mütze charakterisiert. So bringt der Besucher zu der nächsten Sitzung mit der Schlafwandelnden auch eine Mütze mit. Mit ihr versucht er sie aufzuwecken, und sobald es ihm gelingt, ist alles für ihn verloren. Die phantasierte Ersetzung hat keine positiven Folgen. Der Platzanweiser wird als Eindringling entlarvt und aus dem Haus gewiesen. Eine reale Ersetzung des Freundes erweist sich als nicht zu verwirklichen. "El acomodador" zeigt uns andererseits, daß eine erste Voraussetzung dieser Ersetzung nicht erfüllt ist: die vermeintlich abwesende Hauptperson in dieser Erzählung ist gar nicht tot oder abwesend; es gibt sie in der Figur des Freundes. Eine weitere unerfüllte Voraussetzung deutet die Tatsache, daß der Besucher als Eindringling entlarvt wird. Die posthum erschienene Erzählung "Ursula" bietet eine weitere Variation der Beziehungsdynamik der Hauptpersonen. Der Erzähler begehrt eine mit einer Kuh verglichene Frau namens Ursula. Er hat sie mit einem dreijährigen Kind gesehen und fragt sich, ob es ihr Kind ist. Sobald dieses erste mögliche Hindernis für eine Liebesbeziehung beseitigt wird (das Kind ist ihr Neffe) und die eine Annährung versuchende "Zeremonie der Hände" zelebriert wird, ergibt sich ein weiteres mögliches Hindernis: sie könnte einen Freund haben. Dieser mögliche Freund erweist sich als ein Verwandter, das Liebesobjekt ist also von jeder Bindung frei. Interessant ist, daß in der Phantasie des Erzählers die abwesende Hauptperson als Vater ihres Kindes oder Freund zweimal vorgekommen ist und daß er sie zweimal beseitigt hat. Außerdem wissen wir aus der gerade betrachteten Erzählung "El acomodador", daß die Witwenschaft oder die Bindunglosigkeit eine erste Voraussetzung ist, eine Liebesbeziehung herzustellen. So gelingt es dem Erzähler in "Ursula", des Liebesobjekt zu erobern. Hier findet tatsächlich eine phantasierte Ersetzung des Mannes statt, weil der Erzähler den möglichen Mann beseitigt hat und weil er kein Eindringling, sondern ein Herr ist. Das Liebesobjekt Ursula arbeitet bei ihm als Köchin. So wird die zweite Voraussetzung, nämlich kein Eindringling zu sein, vollkommen erfüllt, da er zu Hause und sie seine Besucherin ist. Diese Liebesbeziehung wird aber als eine vorübergehende dargestellt, weil sie keine Herrin ist. Die Erzählung weist deutlich die Dialektik der um die abwesende

91 Person gruppierten Hauptpersonen auf. Die Witwe setzt den verstorbenen Mann voraus und die Urerzählszene stellt den Versuch einer Mannesersetzung dar. Nun erscheint diese nicht möglich, weil der Ersatzmann die Rolle des Herrn nicht spielen kann und insofern der verstorbene Mann unersetzbar bleibt. Und wenn diese einmal stattfindet, dann nur weil die in ihr implizierten sozialen Rollen umgestellt sind. So spricht die Dynamik der Hauptpersonen ihre gesellschaftsbezogenen Inhalte aus: der Besucher kann nicht arrivieren; der Herr kann nicht durch einen diensteifrigen Angestellten ersetzt werden; die Witwe (bzw. ihre männliche Entsprechung) muß in einem melancholischen Zustand allein weiterleben. Von daher läßt sich die Frage nach der abwesenden Person beantworten. Sie ist gesellschaftlich gesehen Herr und Haus- und Landhausbesitzer; narrativ betrachtet ist sie die Leere, die zu füllen ist, der Anlaß des Erzählvorgangs; sie ist von der Rolle her die zu ersetzende Hauptperson, nämlich ein unmögliches und unerreichbares Wunsch-Alter ego des Erzählers.

5. Der Erzählprozeß: Illusion und Enttäuschung Ich habe oben die Urerzählszene als eine aus drei Momenten bestehende Handlung definiert: das Betreten des Hauses, das Verlassen des Hauses und zwischen beiden die Aufführung eines zeremonieartigen "Schauspiels". Die drei Momente bilden einen Erzählprozeß, der von handlungsbezogenen und gefühlsbetonten Haltungen bestimmt wird. Zum Betreten des Hauses gehört der das Liebesobjekt begehrende Besucher, der sich Hoffnungen macht, es zu erobern. Dem Verlassen des Hauses entsprechen die nicht erfüllten Erwartungen des Besuchers. Wären sie erfüllt, gäbe es das Moment des Hausverlassens nicht. Bei den Zeremonien sind die Hoffhungen sehr häufig noch nicht enttäuscht, eher verstärkt. Es geschieht aber oft, daß das Ende des Schauspiels und das der Erzählungen zusammenfallen. Einerseits könnte man in den Erzählungen von Felisberto Hernández ein Liebesromanschema erkennen, in dem die Liebe die üblichen zum Schema gehörenden Hindernisse nicht überwinden kann, ein Schema also, das die Darstellung der enttäuschten Liebe als Thema hat. Andererseits darf man behaupten, daß Hernández' Erzählkunst die mit vielen Hoffnungen beim Betreten des Hauses verbundene Illusion und die abschließende Enttäuschung beim Verlassen des Hauses thematisiert. So treffen sich das oben genannte Schema und das der Desillusionsromantik. Man kann in diesem Sinne von einem die Desillusion darstellenden Erzählprozeß sprechen, der die Gattung und die Geschichtsphilosophie bestimmt (s. Lukács 1982, 98-116): er charakterisiert die Urerzählszene, er konstituiert auch den erinnerungsfixierten und lyrisch geprägten Erzähler, malt aber vor allem ein Bild, auf dem die positiven Momente der Geschichte mit den in der Vergangenheit gescheiterten Versuchen zu finden sind. Deswegen beharren sowohl Erzähler als auch werttragende Hauptperson auf der wiederholten Erinnerung dieser Geschehnisse.

92 5.1. Die Illusion Die Illusion entsteht in Zusammenhang mit dem Begehren des Liebesobjekts. In den Erzählungen kommen ihre kennzeichnenden Elemente immer in Verbindung mit Sonnen-, Licht-, Blumen- und Baumbeschreibungen vor. Ich möchte einige Beispiele in Erinnerung rufen. In "El caballo perdido" wird die Illusion mit der Beschreibung des vom jungen Erzähler gemachten Weges zum Klavierunterricht bei seiner Lehrerin Celina dargestellt: die Straße ist still, hat große und dichte Bäume mit Kronen aus duftenden, weißen Magnolien. Der Erzähler erklärt nach der Beschreibung: "Por eso más adelante — y a pesar de los instantes angustiosos que pasé en aquella sala — nunca dejé de mirar los muebles y las cosas blancas y negras con algún resplandor de magnolias" (11:12). Diese Situation ändert sich, als Celina einmal böse wird, weil er die Übungen nicht richtig kann und ihm mit einem Bleistift auf die Finger schlägt. Der Erzähler und seine Großmutter verlassen das Haus von Celina und die Straße ist nicht mehr die frühere: "En seguida de pasar unos grandes árboles — las magnolias estaban apagadas..." (11:24; vgl. Echavarren 1982, 95ff). In "La casa inundada" erinnert sich der Erzähler an den Weg, den er am Abend zuvor zum Hause der Señora Margarita gegangen ist und wie er phantasiert hat, daß dieser Weg voller Bäume war. Am nächsten Tag entdeckt er aber, daß es fast keinen Baum gibt: "Sólo había una llanura inmensa con un aire claro; y los únicos árboles eran los plátanos del canal. Un poco de viento les hacía mover el brillo de las hojas" (11:240). Es gibt nicht so viele Bäume, doch haben ihre Blätter einen Glanz, dessen Licht die Illusion hervortreten läßt. In "El balcón" erscheinen die im langen Flur stehenden Sonnenschirme wie bunte Pflanzen: "Me sorprendió ver, en el largo corredor, un gran número de sombrillas abiertas; eran de distintos colores y parecían grandes plantas de invernáculo" (11:61). Diese Beschreibung deutet auf die positive Stimmung des Erzählers hin. In den Erzählungen werden auch verschiedene Synonyme verwendet, um die Illusion auszudrücken. Sehr häufig steht das Wort esperanza für diese Stimmung (vgl. Lockhart 1982, 119): "...y una de las esperanzas que me había provocado mi concierto era la de hacer nuevas relaciones que me permitieran entrar en casas desconocidas" (11:146) sagt der Erzähler in "El comedor oscuro" und auch in "La casa inundada": "Yo me cansaba de tener esperanzas" (11:235). Doch nicht immer bezieht sich der Begriff 'Illusion' auf das Liebesobjekt. In der Erzählung "Tierras de la memoria" erinnert sich der Erzähler an eine Reise in seiner Jugendzeit und an das Mädchen, in das er sich verliebt hatte: "Ella no tenía derecho a provocar ilusiones de recitadora ni a llenarme los ojos..." (111:69). Aber in "Por los tiempos de Clemente Colling" ist die Illusion des Erzählers auf seinen Klavierlehrer bezogen. Er bewundert ihn, aber diese Bewunderung läßt sich nicht ohne Mühe aufrechterhalten, da der Klavierspieler sein gesellschaftliches Leben aufgegeben hat: "Yo no quería pensar ni hubiera querido darme cuenta, que la ilusión que tenía de Colling sufría algunas alternativas" (1:170). Colling ist hier die werttragende Haupt-

93 person, die Verkörperung des Künstlers, der der Erzähler sehr gerne sein möchte. Nun hat Colling keine soziale Funktion mehr und kümmert sich weder um sich selbst noch um seine Körperpflege und sein Aussehen. Diese Erzählung zeigt sehr deutlich, daß der Illusionsbegriff über das Liebesschema hinausgeht und auf Gesellschaftliches hindeutet. An dieser Stelle ist zu fragen, wer sich die Illusionen macht. Diese Frage kann aus zwei Perspektiven betrachtet werden. Die eine bezieht sich auf den erzählenden Besucher. Er betritt das Haus voller Illusion, und diese löst seine Handlungen im Grunde genommen erst aus. Damit hängt auch zusammen, daß sich der Erzähler immer wieder an diese Taten erinnert. Die Erinnerung beharrt in der Illusion und wird aus diesem Grund Verfahrensweise, wodurch die Erzählung entsteht. Insofern ist bei Hernández die Erinnerung ein Handlung schaffendes konstitutives Element. Der lyrisch gestimmte, reflektierende Erzähler muß sich zeitlich, das heißt, narrativ ausdrücken. Die fiir jede erzählende Gattung notwendig ablaufende Zeit manifestiert sich hier in einem Prozeß, dessen Anfang die Erinnerung an die Illusion bildet. So vermag der sich erinnernde Erzähler seine Handlungen darzustellen. Wie die Erinnerung als wiederholte Verfahrensweise und auch als Zeiterlebnis in Hernández' Erzählungen zum Ausdruck kommt, benötigt keinen besonderen Nachweis. Trotzdem möchte ich einige Abschnitte zitieren: "De esos días siempre recuerdo primero..." ("La casa inundada", 11:235); "No sé por qué quieren entrar en la historia de Colling, ciertos recuerdos" (1:138); "Cuando el ferrocarril cruzó la calle Capurro, levantó un recuerdo de mi infancia" ("Por los tiempos de la memoria", 111:12); "Ahora sólo recordaba..." ("Lucrecia", 111:91). Während das Subjekt der Illusion zum einen notwendigerweise der Erzähler ist, damit die mit ihr verbundene Erinnerung den Erzählprozeß in Gang setzt, läßt sich andererseits auch ein von Illusion erfülltes Subjekt abgrenzen, das die Zeremonien bzw. die Schauspiele veranstaltet. Diese zweite Perspektive betrifft die werttragende Hauptperson. Gute Beispiele dafür sind die Erzählungen "Las Hortensias" und "Menos Julia". Mit welcher Freude der Laden- und Landhausbesitzer auf das Wochenende wartet, um sein "Spektakel des Ertastens" zu erleben, läßt uns der Erzähler von "Menos Julia" erfahren. Und mit welcher Illusion Horacio die neue "warme" Hortensia erwartet, können wir an diesem Abschnitt ablesen: "Lo de calor humano, dicho por María, no sólo lo dejaba en ridículo sino que le quitaba la ilusión en lo que esperaba de Hortensia cuando volviera" ("Las Hortensias", 11:190). Die Illusion ist auch bei anderen werttragenden Hauptpersonen zu finden: Señora Muñeca, die Witwe des Balkons und vor allem Señora Margarita weisen sie auf. In der Erzählung "La casa inundada" erscheint das zweite Subjekt der Illusion von der Erinnerung durchdrungen. Señora Margarita ist Erzählerin ihrer Geschichte mit dem Wasser; ihre Erinnerung des Erfahrenen erklärt ihre Zuneigung zum Wasser und die von ihr veranstalteten Zeremonien. Diese "zweite" Erinnerung — die innerhalb der Erzählung stattfindet, die selbst schon eine Erinnerung ist — löst das Schauspiel aus, indem versucht wird, sich das Erfahrene zu vergegenwärtigen.

94 Urerzählszene und Schauspiel scheinen in diesem Sinne von der Erinnerung des Erzählers und der werttragenden Hauptperson in Bewegung gesetzt zu sein, was noch einmal die Entsprechung beider Ebenen bestätigt.

5.2. Die Desillusion Es ist bemerkenswert, daß in den Erzählungen unterschiedliche Benennungen der Illusion und Enttäuschung vorkommen. Als Substantive oder Adjektive beziehen sie sich auf die Urerzählszene oder auf die im Interieur inszenierte Handlung, aber auch auf viele kleine Gegenstände oder Details. So ist zum Beispiel misterio ein Wort für Illusion im Frühwerk von Felisberto Hernández. Es taucht schon in der Erzählung "La casa de Irene" (1929) auf. Irene verfügt über ein misterio blanco. Darunter versteht der Erzähler ihre besondere Fähigkeit, spontane Beziehungen mit Gegenständen anzuknüpfen. Diese Kurzgeschichte endet aber mit dem Verschwinden des misterio blanco. In bezug auf demente Colling entsteht beim Erzähler ein anderes misterio; aber die Enttäuschung verdrängt allmählich die Wertschätzung des Klavierlehrers; der Erzähler schwankt zwischen misterio y desilusión; am Ende bleibt ein eher von Enttäuschung durchdrungenes Geheimnis, ein misterio abandonado, das sich im Laufe der Jahre im Gedächtnis erhalten hat. In diesem Zusammenhang erscheint das Wort contrailusión als Bezeichnung dieser Tatssache: Yo no quería pensar, ni hubiera querido darme cuenta, que la ilusión que tenía de Colling sufría algunas alternativas [...] Generalmente, cuando se producía una de esas alternativas, yo atinaba a suspender el juicio o el concepto que enseguida me empezaba a hacer; no dejaba adelantar ese motivo de contrailusión... (1:170) Verschiedene Erscheinungsformen der Enttäuschung sind in "El caballo perdido" zu finden. Zum einen betreffen sie das Mobiliar: im Wohnraum wartet der junge Erzähler auf seine Klavierlehrerin Celina, betrachtet Stühle, Sofas, Möbel mit erotisch geprägten Augen, berührt eine weibliche Statue aus Marmor und hat dabei das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun; gleich danach sagt er aber: "...pero en el placer que yo tenía al acariciar su cuello se confundían muchas cosas más. Me desilusionaban los ojos" (II: 13; s. Rama 1967, 15). Die Enttäuschung betrifft in dieser Erzählung auch die Urerzählszene. Als Celina ihm mit einem Bleistift auf die Finger geschlagen hat, sagt der Besucher: "la violencia había hecho volar las ilusiones" (11:26); er redet nun nicht von misterio oder ilusión sondern von secreto: "Ahora Celina había roto en pedazos todos los caminos; y había rotos secretos antes de saber cómo eran sus contenidos" (11:26). Die Enttäuschung kann sich, wie in "Tierras de la memoria", auf das Liebesobjekt beziehen. Der junge Erzähler hat sich in ein Mädchen verliebt, das Gedichte vorträgt; sie schenkt ihm aber keine

95 Aufmerksamkeit. Seiner desilusión con la recitadora folgt das Gefühl, getäuscht worden zu sein, da sie nicht ist, was sie zu sein scheint; er fühlt sich in seiner Illusion betrogen: "Ella no tenía derecho a provocar ilusiones de recitadora" (111:69). In anderen Erzählungen tritt das Wort 'Depression' statt 'Desillusion* auf. So in "El acomodador". Der Platzanweiser hat sich in die schlafwandelnde Tochter des Speisesaalbesitzers verliebt und wartet jeden Abend im dunklen Raum auf sie, während er die Glasschränke mit seinen lichtstrahlenden Augen betrachtet. Nachdem er die Tochter fatalerweise aufgeweckt und enttäuscht das Haus verlassen hat, kommentiert er: "En los días que siguieron tuve mucha depresión y me volvieron a echar del empleo [...] Además fui perdiendo la luz" (11:92). Ahnlich kommentiert auch der Erzähler von "El comedor oscuro" am Ende: "Una mañana de verano yo tenía mucho pesimismo, pensaba en todos mis fracasos..." (II: 148). In "Las Hortensias" ist die Illusion von Horacio auf die Schaufensterpuppe bezogen; er läßt sie in eine scheinbar lebendige Frau umgestalten; seine Enttäuschungen zeigen sich aber nicht nur in bezug auf sie. So bekommt Horacio beim Zuschauen der Szenen den Eindruck der Materialität der ausgestellten Gegenstände und fühlt sich "desilusionado" (11,192). Die Enttäuschung kann sich auf ihn selbst beziehen, wenn er seine Frau mit Hortensia betrügt, deswegen ein schlechtes Gewissen hat und: "una desilusión muy grande al descubrir la materia de que estaba hecho" (11:202) erfährt. In "La casa inundada" hat Señora Margarita die Illusion, durch das Wasser mit ihrem verstorbenen Ehemann in Kontakt treten zu können. Zu diesem Zweck veranstaltet sie außerdem am Ende der Erzählung einen "homenaje al agua"; dieses Spektakel scheint aber keine Wirkung zu haben: "la Señora Margarita parecía cada vez más abrumada de desilusión" (11:260). Es gibt in der Tat kaum eine Erzählung, die nicht mit der Enttäuschung als abschließendem Element endet. Wie die Zitate gezeigt haben, betrifft die Desillusionsdarstellung die Handlungen der besuchenden Hauptperson, ihre Beziehungen zu Gegenständen und anderen Hauptpersonen, sowie die melancholische Haltung der werttragenden Hauptperson.

5.3. Das Scheitern als Moment des Werts: die Versöhnung Die Erzählung "El caballo perdido" beleuchtet nun die zwischen Illusion und Desillusion entstandene Spannung näher, die zum Schreibakt führt und durch ihn aufgehoben wird. Es handelt sich um einen Versöhnungsprozeß, der im Scheitern am Ende ein positives Moment erscheinen läßt. Es ist oben gesagt worden, daß die Erinnerung für die Erzählkunst von Hernández konstitutiv ist, weil sie die ablaufende Zeit und mit ihr die zur Handlung gehörenden Taten einführt. Die erzählende Erinnerung läßt die Hauptpersonen auftreten und agieren; sie wiederholt aber die in Enttäuschung endenden Handlungen, verfolgt immer wieder konsequent den in die Desillusion mündenden Weg. In dieser Tatsache liegt nicht nur der Grund des Schreibens bei Hernández, sondern auch die Voraussetzung für den Erzählprozeß

96 überhaupt. Ohne die Erinnerung könnte der von Stimmungen, Reflexionen und Lyrismen bestimmte Erzähler als solcher nicht auftreten; ohne sie gäbe es also keine Erzählung. Andererseits erfüllt sich der Akt des Schreibens in der Darstellung des Scheiterns. So enthält die Schilderung der Enttäuschung dennoch ein erzählungsschaffendes und lebensbejahendes Moment, das durch die Erinnerung beharrt auf eine Darstellung des Prozesses von der Illusion zu Desillusion und dem Sichabfinden mit der Enttäuschung Platz macht. Dieser etwas komplizierte und paradoxe Vorgang wird in "El caballo perdido" thematisiert (s. Lasarte 1981, 45). Die Gmndzüge der Handlung sind schon erwähnt worden: der Erzähler hat sich als junger Mann in seine Klavierlehrerin Celina verliebt. Als sie ihm mit dem Bleistift auf die Finger schlägt, verschwindet die Illusion. Die Enttäuschimg tritt ein, und der erwachsene Erzähler, der sich an diese Geschehnisse erinnert, muß den Schreibvorgang abbrechen. Er versucht jetzt darzustellen, was vorgegangen ist, nachdem er in der Erinnerung auf das Desillusionsmoment gestoßen ist: das Aufhören des Schreibens, das Verirren in Erinnerungen und das Erscheinen eines "Partners". Die Tatsache, daß der Erzähler nicht mehr schreiben kann, bedeutet den Verlust jeder Bindung zum Jetzt. Der Erzähler erklärt, daß er an einem bestimmten Punkt der Vergangenheit angefangen hat zu leben, und daß der zur Gegenwart führende Weg für ihn aufgehört hat zu existieren, selbst der Weg des Schreibens. Er bedient sich hier einer Allegorie, um diese psychische Bewegung zu veranschaulichen: er ist wie ein Kahn, der die Bindungen zum Steg der Realität verloren hat, aber noch in der Lage ist, einen Rettungsgedanken zu fassen, nämlich mit aller Kraft zum Steg der Gegenwart zu rudern, selbst wenn das einzige Festland die Insel des Hauses von Celina, d.h. die Erinnerung an sie und das Schreiben dieser unglücklichen Geschichte ist. Die Bindung zur Gegenwart zu lösen bedeutet am Ende für den Erzähler, den Willen zum Schreiben zu verlieren: "AI final había perdido hasta el deseo de escribir" (11:29). Der Erzähler verirrt sich in Erinnerungen, die er nicht festhalten kann, und wird dabei langsam eine andere Person. Dieses Anderswerden wird wiederum mit einer Allegorie geschildert: Die Person, die er noch ist, bringt ihre Erinnerungen zu der, die er langsam wird, um sie zu verpfänden. Zuerst beurteilt die zweite Person die Erinnerungen wie ein Geldleiher, nicht nach ihren persönlichem oder gefühlsmäßigen Wert, sondern nach ihrem Gewicht. Dann sieht der Geldleiher, daß die Erinnerungen aus wertlosem Sand und Zeit bestehen. In einer dritten Etappe des Anderswerdens betrachtet der Geldleiher die Erinnerungen als eine Beute, die vergebens gestohlen wurde. Zuletzt ist er den Erinnerungen gegenüber gleichgültig. Er ist jetzt ein "desinteresado, un vagón desenganchado de la vida" (11:38). Das Verirren in Erinnerungen ist am Anfang dieses Prozesses noch von Stimmungen geprägt, verliert dann aber jeden persönlichen Bezug; die Erinnerungen sind jetzt nur abstrakte Zeit, tragen als solche dennoch einen Sinn; am Ende fließen sie hin und her, ohne Anhaltspunkt. Der Prozeß der Subjektivitätsauflösung ist von nur kurzer Dauer. In diesem Moment erscheint ein drittes Element. Der Erzähler nennt es den Partner, ein erst unerwünschtes dann aber akzep-

97 tiertes Alter ego, das sich in seine Erinnerung einmischt, sie ordnet und zum geschriebenen Text werden läßt. Der Erzähler fühlt sich durch die Anwesenheit des Partners gestört, da er mit seinen Erinnerungen allein sein möchte. Im Alleinsein mit den Erinnerungen fingt aber der Prozeß der Subjektivitätsauflösung an. Es ist bemerkenswert, daß der Erzähler hier eine weitere Allegorie einführt, um zum zweiten Mal diesen Prozeß des Anderswerdens darzustellen und die Rolle des Partners später hervorheben zu können. Er nennt sie das "kranke Erinnerungsschauspiel": Die Erinnerungen sind wie Sippen; sie können zahlreich und gleichzeitig erscheinen, vermischen sich aber nicht, da sie wissen, zu welcher Gruppe sie gehören. Jede hat ihren eigenen Raum und handelt dort getrennt von den anderen; alle tanzen auf verschiedene Weise wie Ballettgruppen, die sich nach der gleichen Musik bewegen. Bald erscheinen aber bei diesen Zeremonien andere, krankhafte Erinnerungen, die Ausdruck von schlechtem Gewissen sind; sie nehmen den Sippen ihre Unschuld weg. Es ist in diesem Moment, daß der Erzähler sich aufgibt und andere "uninteressierte" Person wird: "...no quería tener sentimientos ni sufrir con recuerdos que eran entre sí como enemigos irreconciliables" (11:43). Er schläft dennoch ein und als er aufwacht, hat er das Gefühl, gerettet zu sein. Er nimmt wieder die Allegorie des Kahn- bzw. Schiffbruches auf: "Durante el sueño la marea de las angustias [schlechtes Gewissen] había subido hasta ahogarme. Pero ahora me encontraba como arrojado sobre una playa y con gran alivio" (11:44). Zum Gefühl des Gerettetseins gehört auch eine bejahende Haltung in bezug auf die Wirklichkeit, die er jetzt mit Liebe und Zärtlichkeit sieht: "Cualquier pensamiento, hasta la idea de una jarra con agua venía lleno de ternura" (11:44). Der Partner hat sich auch gerettet und liegt auf der anderen Seite des Strandes. Plötzlich kommt die Lust zu Schreiben wieder, gleichzeitig mit ihr aber auch der Partner. Dieser ist jetzt nicht mehr deijenige, der dem Erzähler feindlich gegenüber steht und ihn seiner Erinnerungen berauben möchte. Ab diesem Moment versteht der Erzähler ihn vollkommen anders. Der Partner erscheint ihm als Vertreter der Menschen, die die Welt bewohnen, eine Welt, von der sich der Erzähler bisher abtrennen wollte. Er ist wie eine fürsorgliche Mutter oder ein guter Freund, die vor Gefahren warnen, bei ihm den Úberlebenswunsch wecken, ihm vorschlagen, seine Erinnerungen niederzuschreiben. Und während der Erzähler früher vor dem Partner geflohen ist, weil dieser seine eigenen Gedanken mitbrachte, seine Ideen durchsetzen wollte, ohne Mitleid Erinnerungen aus dem Gedächtnis strich und eine neue Ordnung dabei erstellen wollte, wie dieses Zitat es ausdrückt: Además mi socio traería muchas ideas de la ciudad, se llevaría muchos objetos, les cambiaría su vida y los pondría de sirvientes de aquellas ideas; los pintaría de nuevo y ellos perderían su alma y sus trajes. Pero mi terror más grande era por las cosas que suprimiría, por la crueldad con que limpiaría sus secretos, y porque los despojaría de su real imprecisión..." (11:46)

98 muß der Erzähler jetzt zugeben, daß er vom Partner vieles bekommen hat, nämlich Formen und Worte. So ñndet eine Versöhnung zwischen beiden statt, und das oben erwähnte positive Moment taucht auf: "Como yo quería arreglarme con el mundo, me propuse arreglarme con él y dejé que un poco de mi ternura se derramara por encima de todas las cosas y personas" (11:47). Als Alter ego, als Welt, vertritt der Partner vor allem das Prinzip der künstlerischen Gestaltung, ist er Gesetzgeber bei der Darstellung des Lebens. In dieser immanenten Funktion ermöglicht er das Schreiben und liefert die geeigneten Formen oder Gefäße für die Erinnerung, wie Hernández selbst erklärt: "él me había ayudado a inventar recipientes en qué contenerla [el agua del recuerdo]" (11:48). In diesem Sinne hilft er dem Erzähler auch, die Bindungen an die Gegenwart zu bewahren, sich nicht in Stimmungen und Erinnerungen zu verlieren. Dieser immanenten Funktion entspricht eine tranzendente. Das Dulden und Akzeptieren des Partners setzt eine Versöhnung mit der hier negativ erfahrenen Welt voraus. Die an die Illusion gebundene und aus ihr entstandene Erinnerung mündet in das wiederholte Erlebnis der Enttäuschung. Wird die Enttäuschung nicht wahrgenommen, führt das zur Subjektivitätsauflösung, zum Hinund Herfließen der Erinnerungen ohne Anhaltspunkt. Die Wahrnehmung und Annahme der Desillusion ist die Voraussetzung der Darstellung des Erfahrenen. Sie sagt aber, indem sie den Lebensprozeß bejaht und nicht verklärt, ihr kritisches Wort über die Ursachen der Enttäuschung, die in der Gesellschaft zu finden sind. So kann die Desillusion das Moment des Werts sein.

6. Phantastik und Allegorik In dem eingangs erwähnten Vorwort zu der italienischen Ubersetzung der Erzählungen von Hernández weist Italo Calvino auf einen in der Sekundärliteratur behandelten Topos hin, nämlich auf den phantastischen Charakter dieser Erzählungen. Er schreibt dort: "el autor ha llegado a conquistar im sitio entre los especialistas del 'cuento fantástico' hispanoamericano" (op.cit. 5). Es ist sehr wichtig zu bemerken, daß die Anführungszeichnen im Zitat von Calvino stammen. Damit wollte er wahrscheinlich ausdrücken, wie problematisch diese Bezeichnung für die hispanoamerikanische Erzählkunst überhaupt und für Hernández' Erzählungen ist. Gewiß herrscht in der Sekundärliteratur Uneinigkeit über diese Problematik." Wenn man

"Folgende Autoren vertreten die Meinung, es handle sich bei Felisberto Hernández um 'phantastische Literatur': Zum Felde 1959, 11:456-462. Er schreibt, nur teilweise lasse sich das Werk von Hernández als "phantastisch" verstehen. Rama 1969, 35-36. Rama meint in diesem Aufsatz, Hernández bewege sich in die Welt des Phantastischen, vor allem in "el acomodador". Renaud 1977,265ff. Renaud erklärt, die Kategorien der Phastastik bei Todorov ließen sich in dieser Erzählung nicht anwenden. Hier gehe es um eine andere Art des Phastantischen, in der das Unheimliche und das Wunderbare zusammenfiellen. Díaz 1982,29. Díaz sieht die Hinwendung von Hernández zum Phantastischen ab Nadie encendía las lámparas. Lasarte 1981, 109. Lasarte versteht die Erzählung "El acomodador" als 'phantastisch'.

99 die Definition des Phantastischen nach T. Todorovs Introduction à la littérature fantastique (1970) miteinbezieht, und vor allem das für diese Definition entscheide Kriterium, nämlich daß sich der Leser nicht entscheiden kann, ob er das Erzählte für wahr und glaubwürdig halten soll oder nicht, anders gesagt, ob er das Erzählte wörtlich oder im übertragenen Sinne verstehen soll (s. Todorov 1970, 29ff, 37ff), dann kann man viele Erzählungen von Hernández nicht unter den Begriff 'phantastische Literatur* einordnen. So sind zum Beispiel Texte wie "La mujer parecida a mí" oder "Lucrecia" nur im übertragenen Sinne zu lesen: daß der Erzähler ein Pferd wird oder in die Zeit von Lucrecia Borgia zurückgeht, ist natürlich nicht glaubwürdig und läßt sich nur "allegorisch" verstehen. Bei anderen Erzählungen fehlt nicht nur dieses unentschiedene Moment, sondern auch ein anderes konstitutives Element des Phantastischen, nämlich der Einbruch des Unheimlichen (l'étrange) in das alltägliche Leben (Ebd. 46ff). Das ist vor allem der Fall bei den sogenannten "cuentos de la memoria": "Por los tiempo de demente Colling", "El caballo perdido" und "Tierras de la memoria". Bei anderen Erzählungen wie "El balcón", "El acomodador", "El comedor oscuro", "El cocodrilo" sollte man von phantasievollen und nicht von phantastischen Geschichten sprechen, da sie seltsam, aber dennoch glaubhaft sind. In Erzählungen wie "Las Hortensias" oder "La casa inundada" fehlt auch das erste Moment des Alltäglichen, so daß man geneigt ist, sie eher allegorisch zu verstehen (Ebd. 63ff). In diesem Sinne erweist sich der Phantastik-Begriff für die Betrachtung des Werkes von Hernández als wenig geeignet. Aus der Erörterung des Phantastischen gewinnt der Allegorik-Begriff Konturen und wird für diese Untersuchung brauchbar.12 Was heißt Allegorik bei Hernández? In erster Linie bedeutet sie Allegorese, die Art und Weise, wie man bestimmte Erzählungen oder überhaupt sein Werk lesen bzw. deuten sollte, genauer gesagt in bezug auf die PhantastikDiskussion, die nicht wörtliche Lektüre, die Deutung im übertragenen Sinne. Man kann diese Art der Allegorese als eine externe Allegorese bezeichnen, um die äußere Position des Lesers hervorzuheben. Dieser externen tritt eine interne, auf das 'Schauspiel' bezogene, immanente Allegorese gegenüber, die darin besteht, daß eine in die Rolle des 'Publikums' oder Deuters versetzte Hauptperson das vor ihr aufgeführte Schauspiel interpretiert. Die Allegorik läßt sich aus einer anderen Perspektive sehen, aus der nicht die Seite der Deutung, sondern die der Gestaltung in den Vordergrund tritt; damit hat man mit der Figur des Allegorikers zu tun. So erweisen sich die Hauptpersonen nicht nur als Deuter, sondern auch als Gestalter der Allegorie und damit als interne Allegoriker. Vom externen Allegoriker kann

Ferré 1989, 17 (Anm.l8),18,60(Anm.l6). Ferré bezeichnet die dritte Penode im Schaffen von Hernández als rein 'phantastisch'. Folgende Autoren setzen sich kritisch mit der These der 'phantastischen' Erzählkunst bei Hernández auseinander: Partenain 1971, 88-89; Alazraqui 1982, 38ff; Rama 1982, 250ff. Rama behauptet in diesem Aufsatz, das einzig Phantastische bei Hernández seien die leuchtenden Augen der Hauptperson in "El acomodador". "Die Sekundärliteratur hat dieses Problem erwähnt, ist ihm aber nicht nachgegangen. Vgl. Andreu 1977, 38; Lasarte 1981, 69ff; Alazraqui 1982, 37-38; Barrenechea 1982, 59.

100 man sprechen, wenn der Autor bzw. Hernández als Allegoriker erkennbar wird. Neben Allegorese und Allegoriker tritt häufig die rhetorische Allegorie, um Gefühle oder Empfindungen ausfuhrlich zu beschreiben. Ich möchte im Folgenden einige Beispiele dieser rhetorischen Figur präsentieren. Sie kennzeichnet in hohem Maße die Erzählkunst von Hernández.

6.1. Die rhetorische Allegorie als beschreibendes Verfahren Eine viel benutzte und allgemein akzeptierte Definition der Allegorie lautet: sie ist als Gedanken-Tropus fortgesetzte Metapher und besteht im Ersatz des gemeinten Gedankens durch einen anderen Gedanken, der zum gemeinten Gedanken in einem Ahnlichkeits-Verhältnis steht. Ob die Rhetoriker sie in tota allegoria oder permixta apertis allegoria teilen, ist hier weniger wichtig als die Tatsache, daß viele Allegorien Gemeingut der sprachlichen consuetudo geworden sind wie zum Beispiel "Schiffahrt" für Führung der Staatsgeschäfte und für individuelle Lebensführung (vgl. Lausberg 1963, 139ff). Diese Definition und das Beispiel erlauben uns jetzt, dieses rhetorische Verfahren bei Hernández näher zu betrachten, und zwar am Beispiel von einigen wenigen Allegorien, die vor allem das Gedächtnis betreffen.

6.1.1. Fluß, Wasser, Insel: Die Allegorie des Schiffbruchs In der Erzählung "Por los tiempos de demente Colling" (1942) beschreibt der Erzähler, wie er die Wahrnehmung der Ungepflegtheit und des ordinären Benehmens von Colling abwehrt, um seine Illusion in bezug auf Colling aufrechthalten zu können. Er benutzt dafür ein kompliziertes Bild, das sich durch den fortgesetzten Gebrauch des Sinnfelds Wasser-Insel in eine Allegorie verwandelt. Es handelt sich in diesem Abschnitt um den oben schon erwähnten Contra-Illusion-Gedanken: Si aquel pensamiento [Contra-Illusion-Gedanke] hubiera sido un ser que quería llegar a una isla, mi ilusión inundaría la isla para ahogar aquel pensamiento. Y así como de pronto me encontraba con una isla, así de pronto hacía desaparecer al que quería llegar a ella. Pero cuando Colling se refería a la madre con desprecio, aquel ser de la isla hacía inesperada y desesperadamente por la vida [...] Y aquí era también cuando un recuerdo llamaba a otros — y aquel ser de la isla se había salvado y ya había llamado a otros pensamientos". (1:170-171) In diesem Zitat kommen schon einige Elemente vor, wie die Verben inundar o salvar, die in anderen Erzählungen auch als Bestandteil ähnlicher Allegorien fungieren. Hier zeigt sich die Verbindung von Illusion und Gedächtnis nochmal sehr

101 deutlich, und auch daß der Erzähler sich vor der Desillusion bringenden Erinnerung retten möchte, indem er die Insel, auf der er steht, überschwemmt und so das Aufkommen jeder negativen Erinnerung verhindert. Eine ähnliche, den Akzent auf das Rettungsmoment setzende Allegorie ist in "El caballo perdido" (1943) zu finden. Der Erzähler läuft Gefahr, seine Identität zu verlieren; er hat sich in seinen Erinnerungen verirrt, kann sie nicht mehr wahrnehmen, sucht aber eine, an der er sich festzuhalten vermag. Die Erinnerung an seine Klavierlehrerin Celina kommt ihm vor als die Rettungsinsel; trotz ihrer Negativitit scheint diese Erinnerung dem Erzähler der einzige feste Halt zu sein, über den er verfügt: Fue entonces cuando se fueron soltando, lentamente, las últimas amarras que me sujetaban al presente. (11:29) Hasta hace pocos días yo escribía y por eso estaba en el presente. Ahora haré los mismo, aunque la única tierra firme que tenga sea la isla donde está la casa de Celina. (11:29) Durante el sueño la marea de las angustias había subido hasta casi ahogarme. Pero ahora me encontraba como arrojado sobre una playa (...] Entonces reapareció mi socio: ¿1 también se había salvado: había sido arrojado a otro lugar de la playa. (11:44-45) En cambio debo agradecerle [a mi socio] que me siguiera cuando en la noche yo iba a la orilla de un río a ver correr el agua del recuerdo [...] Después habíamos inventado una embarcación para cruzar el río y llegar a la isla donde estaba la casa de Celina. (11:48) Diese vier Zitate zeigen, daß der Erzähler Teile seines Textes aufgebaut hat, indem er den aus Meer, Fluß, Wasser, Insel bestehenden Gedanken-Tropus verwendet hat. Als Aufbauprinzip läßt sich dieser Gedanken-Tropus in aller Deutlichkeit in "La casa inundada" sehen, wo der Akzent nicht direkt auf dem Sinnfeld der Rettung sondern auf dem des Gedächtnisses liegt, so wie es im letzten Zitat erscheint: am Flußufer sieht man das Wasser der Erinnerung fließen. Man kann sogar behaupten, daß die anscheinend absurde und seltsame Atmosphäre, die in "La casa inundada" herrscht, erst richtig zu verstehen ist, wenn man diese Erzählung im Zusammenhang mit dem allegorischen Verfahren betrachtet. Sie ist auf dem Ersatz des gemeinten Gedanken konstruiert worden. Während Fluß, Wasser, Insel in den anderen Erzählungen als entschlüsselte Signale des gemeinten Gedanken-Tropus fungieren, sind sie hier Bestandteil einer Realität, die wortwörtlich eine Allegorie geworden ist, denn Señora Margarita hat sich entschlossen, in einer Allegorie zu leben, nämlich der des Schiffbruchs. In "Por los tiempos de demente Colling" sagt der Erzähler, daß er die Insel, auf der er und seine Illusion ruhen, überschwemmen

102 würde, damit der Contra-Illusion-Gedanke die Insel nicht betreten könnte. In "La casa inundada" läßt Señora Margarita tatsächlich das Haus überschwemmen, damit die Erinnerungen in ihrem Element bleiben. Das Ahnlichkeits-Verhältnis besteht hier in dem Bezug Wasser-Gedächtnis und Fluß bzw. Wasserstrom-Erinnerungen. In der dargestellten Realität dieser Erzählung fehlen auch nicht der Kahn für Rettung und die Insel der Erinnerung. Auf der mit Pflanzen verzierten Insel soll der verstorbene Ehemann ruhen, und um sie herum rudert der Erzähler auf einem Kahn mit Margarita. Die Zeremonie des Wassers wird außerdem von ihr veranstaltet, weil sie, indem das Wasser in Bewegung gesetzt wird, durch das Fließen der Erinnerungen eine Botschaft ihres Mannes erwartet, und weil es ihr einfach gefällt zu sehen, wie die zur Zeremonie gehörenden Puddinggefäße "Schiffbruch erleiden". De esos días siempre recuerdo primero las vueltas en un bote alrededor de una pequeña isla de plantas. (11:235) Pero lo que más quería, era comprender el agua. Es posible, me decía, que ella no quiera otra cosa que correr y dejar sugerencias a su paso; pero yo me moriré con la idea de que el agua lleva adentro de sí algo que ha recogido en otro lado y no sé de qué manera me entregará pensamientos que no son los míos y que son para mí. De cualquier manera yo soy feliz con ella [con el agua], trato de comprenderla y nadie me podrá prohibir que conserve mis recuerdos en el agua. (11:262) Yo le expliqué que la Señora Margarita no hacía ningún velorio y que únicamente le gustaba ver naufragar las budineras. (11:261, Hervorhebung durch den Verfasser)

6.1.2. Das Theater In "El caballo perdido" haben wir wieder mit einer Form von Allegorie zu tun. Der anfängliche Vergleich von Gedächtnis und Theater wird konsequent fortgesetzt, so daß daraus ein sehr kompliziertes Bild entsteht. Die Rede ist von "mi teatro del recuerdo" (11:32). In diesem Theater gibt es verschiedene Gruppen von Schauspielern bzw. Sippen von Erinnerung, die getrennt voneinander an einem Stück bzw. an einer Erinnerung proben: Antes, por más raro que fuera lo que ocurría, siempre le encontraba antecedentes: en algún lugar del alma había estado escondido un principio de aquel acontecimiento, alguna otra vez ya se había empezado a ensayar, en mi existencia, un pasaje — acaso el argumento — de aquella última representación. Pero hace pocos días, al anochecer, se inaguró en mí una función sin

103 anuncio previo. No sé si la compañía teatral se había equivocado de teatro, o sencillamente lo había asaltado. (11:37) Cuando una estirpe ensayaba el recuerdo de su historia, solía quedarse mucho rato en el lugar contiguo al que estaba yo cuando observaba. De pronto se detenían, empezaban una escena de nuevo o ensayaban otra que había sido muy anterior. (11:39) Todavía y además de reunirse [las estirpes] en un mismo lugar y en un cercano tiempo para la ceremonia y los ensayos del recuerdo, tenían otra cosa en común: era como una misma orquesta que tocara para distintos "ballets"... (11:40). Diese Beispiele des allegorischen Verfahrens haben gezeigt, wie es dem Erzähler gelingt, Empfindungen und Gefühle zu beschreiben. Der Gebrauch dieser rhetorischen Allegorie läßt sich gewiß innerhalb der diskursiven Darstellung als erzählerisches Mittel verstehen. Aufbauprinzip wird aber dieses Verfahren, wenn es gattungsgemäß den ganzen Text konstituiert. Das ist der Fall in der Erzählung "La casa inundada", da sie als ganze eine Allegorie des Schiffbruchs bildet, die konstruiert ist aus den in früheren Erzählungen erschienenen Elementen Wasser, Insel, Fluß.13 So läßt dieser Schritt, den Hernández von "Por los tiempos de demente Colling" und "El caballo perdido" zu "La casa inundada" gemacht hat, diese rhetorische Figur eine vollkommen andere Qualität gewinnen. Um einen ähnlichen Schritt handelt es sich, wenn Hernández von der Theaterallegorie in "El caballo perdido" zu den im Interieur inszenierten Schauspielen fortschreitet. Damit sind wir aber bei der Frage des Allegorikers.

6.2. Der Allegoriker: Hauptperson und Erzähler Diese neue Qualität soll nun aus zwei Perspektiven betrachtet werden. Wenn die rhetorische Figur häufig auftritt, um komplizierten inneren Bewegungen Gestalt zu verleihen, wird sie allmählich von einem Erzählmittel unter anderen zu dem Verfahren überhaupt, Erzählungen zu schreiben. Die beiden Pole dieser Entwicklung sind in "Por los tiempos de demente Colling" (1942) und "La casa inundada" (1960) vertreten. Am Anfang dieses Prozesses ist der Erzähler Benutzer dieser sprachlichen Mittel; am Ende wird er in eine allegorisch inszenierte Welt eingeführt, die er nicht versteht und in der er die Rolle des Deuters zu spielen versucht. Bildet er selbst am Anfang der Entwicklung Allegorien, wird er am Ende Bestand-

"Lasarte hat dieses Verfahren in "La casa inundada* festgestellt, aber es nicht weiter untersucht. Lasarte 1981, 69 und 73.

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teil einer lebensbestimmenden Allegorie. So, wenn er in "Por los tiempos de demente Coling" das Amt des Allegorikers bekleidet, übt er später mit wenig Erfolg den Beruf des Deuters einer Welt aus, die er nicht mehr versteht. Die Theaterallegorie ihrerseits hat in "El caballo perdido" nur eine beschreibende Funktion, das heißt, sie ist sprachlicher, nicht erzählerischer Ausdruck. Der Erzähler möchte darstellen, wie seine Erinnerungen und Gedanken im Gedächtnis agieren; sie proben an einem Stück, sind Gruppen, die jeweils ein Schauspiel inszenieren. In Erzählungen wie "El balcón", "El comedor oscuro", "El acomodador" ist er aber Bestandteil einer Inszenierung. Die Theaterallegorie wird Handlung, Haupterzählmoment einer Geschichte, in der der Erzähler — fast immer — die gleiche Rolle spielt. Dort bekleidet er nicht mehr das Amt des Allegorikers, diese Stelle wird von der werttragenden Person besetzt, da sie jetzt ein Schauspiel inszeniert, das ähnliche Züge und Funktionen hat wie die Theaterallegorie des Erzählers in "El caballo perdido", nämlich handlungsbezogenes Ausdrucksmittel innerer Gefühle und Wünsche zu sein. Felisberto Hernández läßt sozusagen neben dem Erzähler auch die werttragende Hauptperson Allegoriker werden. Oder anders ausgedrückt: was der Erzähler mit beschreibenden Allegorien macht, tut die Hauptperson mit schauspielartigen oder inszenierten Handlungen. Das Sinnfeld FlußWasser-Insel, aus dem die Schiffbruch-Allegorie entsteht, und die Theaterallegorie steigen auf die Ebene der erzählungskonstituierenden Elemente.

6.3. Die Allegorese Wenn der Erzähler Benutzer der rhetorischen Allegorie ist, der Autor sie zum Aufbauprinzip verwandelt und die Hauptpersonen andererseits Allegoriker werden, indem sie in den Erzählungen allegorische Schauspiele veranstalten, dann sollte der Leser seine Lektüre dementsprechend realisieren. Hier liefern die Texte selbst den Schlüssel zu ihrem Verständnis. In der Erzählung "El balcón" erfindet zum Beispiel die Tochter eine Geschichte, die chiffrierten Charakter hat, selbstbezogen ist und von ihrem Vater falsch verstanden bzw. interpretiert wird. Die Tochter sagt zu ihm: "—¡Siempre el mismo, tú! ¡Cuándo comprenderás a Ursula!" (11:69). Ursula ist gewiß das fiktive Alter ego der Tochter. Als ihr Vater den Klavierspieler und Erzähler darum bittet, die Tochter zu Hause zu besuchen, sagt der gerade Eingeladene: "comprendí enseguida; y entonces decidimos el día en que yo iría a cenar y a tocar el piano" (11:61). Der Erzähler scheint zu verstehen, worum es geht. Bei seinem Besuch ist er aber verwirrt, da er das inszenierte 'Schauspiel' nicht versteht. Als der Balkon "Selbstmord" begeht, die Tochter ihre Unfähigkeit zugibt, seine Signale von Eifersucht zu verstehen und sich als die Witwe des Balkons bekennt, sind alle Elemente des inszenierten Schauspiels vorhanden: die richtige Auslegung deutet auf die Urerzählszene hin. So ist die von der Tochter erfundene Geschichte über Ursula eine chiffrierte Darstellung dessen, was im inszenierten Schauspiel

105 vorgeht. Was aber im Schauspiel geschieht (Selbstmord des Balkons, Klavierspielen), ist nicht wörtlich zu verstehen, sondern hat eher einen allegorischen Charakter, den der Klavierspieler verstehen soll. Das von der Tochter Erzählte entspricht dem von der Tochter Inszenierten, und diese Inszenierung entspricht dem, was in der Urerzählszene passiert. Dieser Schachtelsatzbau ist in erster Linie intern aufzufassen, da Allegoriker und Deuter Hauptpersonen der Erzählung sind. Andere Beispiele dafür bieten die Erzählungen "Menos Julia" und "Las Hortensias", in denen Allegoriker und Deuter in ihren Funktionen dargestellt werden. Wenn die Allegorese sich nun intern als Deutungsverfahren der Hauptpersonen ergibt, wird der Leser dazu geführt, den Autor Hernández als Allegoriker zu sehen und die Lektüre seines Werkes als eine Allegorese zu realisieren. Die Aufgabe besteht dann für den Deuter der Erzählungen von Felisberto Hernández darin, die chiffrierten Signale dieses Werkes mit den gemeinten Gedanken in Verbindung zu bringen, um seine Interpretation abzurunden. t

6.4. Der Allegoriker als Melancholiker Beide oben betrachtete Allegoresen beruhen auf der Tatsache, daß sowohl die Hauptpersonen als auch der Autor Allegoriker sind. Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine lebensbezogene Haltung, die ich jetzt in bezug auf die werttragende Hauptperson darstellen möchte. Es ist bereits analysiert worden, daß die wichtigsten Veranstalter des 'Schauspiels' bei Hernández Herrinnen und Hausbesitzerinnen sind, die ihre Männer verloren haben: die Witwe des Balkons, Señora Muñeca, Señora Margarita, Lucrecia sind Beispiele dafür. Die Veranstalter können auch Herren sein, die über Geld und Besitz verfugen, und die sich bezüglich ihrer Mitmenschen wie Herrscher verhalten, wie Horacio und der Landhausbesitzer. Die Erzählungen stimmen in ihren Beschreibungen der jeweiligen Veranstalter überein: die Witwe des Balkons wagt nicht, ihr Haus zu verlassen; Muñeca schweigt und trinkt Wein, bis sie einschläft; Margarita ist eine "atolondrada generosa" (11:237) und "fue trastornada toda su vida" (11:247); Lucrecia "tenía una seriedad un poco picaresca" (II: 100); Horacio wird verrückt; der Landhausbesitzer hat eine "Krankheit". Sie alle haben eine Entleerung ihrer Welt erfahren: den Herrinnen sind ihre Männer gestorben, sie versuchen diese Situation zu beseitigen, indem sie eine dritte Person suchen, die den Platz des Mannes besetzt, oder indem sie eine sonderbare Zeremonie veranstalten, in der sie sich an den Mann erinnern. Ihrerseits versuchen die Herren, der banalen Welt des Geschäfts oder des Ehelebens zu entkommen, etwa mittels der Zeremonie des Ertastens von Gegenständen oder durch Inszenierungen mit Modepuppen. Allen ist eine Lebenshaltung und eine Stimmung gemeinsam. Sie sind Melancholiker und leiden an Trauer, Trübsinn, Langeweile und Trägheit. Keine transzendentale Ebene ist ihnen mehr bekannt. Sie haben ihre Welt nach ihren subjektiven, fast monomanischen Vorstellungen umgestaltet. Da sie über Menschen

106 und Dinge verfügen, veranstalten sie das Schauspiel ihrer entleerten Welt. Was mit der werttragenden Person geschieht, ist auch bei dem Autor zu finden. Monomanisch variiert er die gleiche Geschichte von Erzählung zu Erzählung. Er gestaltet und allegorisiert seine Erinnerungen, erfindet eine subjektive Welt, die auch auf diese Entleerung hindeutet. Seine Monomanie und Willkür lassen ihn als einen Melancholiker erscheinen, dessen Schwermut auf Enttäuschungen beruht. Als desillusionierter Romantiker, der — wie seine Erzähler — immer wieder hinter einer Illusion herläuft, um am Ende das Scheitern seines Unternehmens zu erfahren, offenbart er Züge des Melancholikers. Entleerung, Scheitern und Desillusion bedürfen aber nach unserer allegorischen Interpretation einer weiteren Betrachtung, die geschiehtsphilosophischen Charakter aufweist.

7. Geschichtsphilosophische Bedeutung des Allegorikers Wenn der Allegoriker sich bei Hernández als Melancholiker verstehen läßt, scheint es gerechtfertigt, sich zu fragen, was den Inhalt dieser Schwermut ausmacht. Wir haben gesehen, daß dieser Melancholie ein Gefühl der entleerten Welt entspricht, das auf sehr verschiedenen Ebenen im Werk von Hernández zum Ausdruck kommt. Diese Leere wurde in der Gestaltung der Hauptpersonen und ihrer Dynamik als eine Abwesenheit festgestellt: Frauen, die in quintas, Villen und Lanshäusern leben, haben den Mann verloren und versuchen erfolglos, ihn zu ersetzen, den Mann, der Reichtum, Besitz, Macht vertreten hat; da es ihn nicht mehr geben kann, weil die geschichtlichen Bedingungen seiner Existenz verschwunden sind, trauern sie um ihn, evozieren ihn in sonderbaren Zeremonien. Die seltenen männlichen, in der Rolle des Herrschers gestalteten Hauptpersonen, die diese erwähnte Abwesenheit widerlegen könnten, sind andererseits von einer krankhaften und wahnsinnsnahen Gesinnung bestimmt, deren Bezug zur Alltags- bzw. Arbeitswelt, das heißt, ihr Verhältnis zu Reichtum, Besitz und Macht gestört ist. Hernández' Vorstellung einer entleerten Welt drückt sich auch in der an den "modernen Zeiten" geübten Kritik aus. Die modernen Zeiten haben an Qualität und Wert verloren. Die Erinnerung versucht deswegen, sich jener Zeiten zu vergewissern, in denen noch Geheimnisse und begehrende Neugier existierten. Das zeigt sich klarer bei der Darstellung von Straßen und Häusern. Die kunstvollen Villen und ihre kunstliebenden Bewohner sind nicht mehr in den modernen Häusern zu finden; in diesen letzteren wohnen geschmacklose, schäbige Geschäftsleute. Korrelat dieser Situation ist das unglückliche Schicksal des Künstlers bzw. des Klavierspielers. Er hat in dieser Gesellschaft keine Funktion und kann seinen Beruf nicht ausüben. Der einen Auftrag suchende und in Armut lebende Künstler ist meistens die Hauptperson in den Erzählungen von Hernández. Dieser entleerten Welt entspricht auch die sich auf Gegenstände und Menschen beziehende Desillusion. Die Enttäuschung berührt nicht nur das Dargestellte, sie wird Aufbauprinzip, indem der Erzählprozeß sich als die Auf-

107 führung einer enttäuschten Illusion erweist: wenn das Betreten eines Hauses bzw. die Urerzählszene monomanisch variiert wird, dient dies nur dazu, der Illusion nachzugehen, die zum Scheitern verurteilt ist. So erweisen sich Abwesenheit, Krankheit, Wahnsinn, Schäbigkeit, Desillusion und Scheitern als eine Zusammenstellung von Bedeutungen, deren Ursprung in der geschichtsphilosophischen Haltung des Allegorikers liegt. Die erzählerischen, eine entleerte Welt ausdrückenden Konstruktionen von Hernández verhalten sich wie Bedeutungen zu der Tatsache, die man das Scheitern des liberalen Projekts nennen kann.

7.1. Das Liberale der Melancholie Uber den Inhalt der Illusion — gesellschaftlich gesehen — gibt das Wort arcadia am deutlichsten Auskunft. Es meint eine soziale Ordnung, die aus einem mit Erfolg durchgeführten liberalen Projekt entstanden ist (s. Halperin Donghi 1986, 323ff lind 413ff). Die Häuser der Kindheit und ihre Bewohner, von denen der Erzähler in "Por los tiempos de demente Colling" redet, sind ihre Vertreter. Ihre Züge und Geheimnisse erwecken in der Phantasie des sich erinnernden Erzählers die gleiche Neugier und Begierde, die er als Kind empfunden hatte, als er davon träumte, sich mit diesen misterios vertraut zu machen. Die literarische Behandlung der Straßen und Häuser, die Beschreibungen des Interieurs und des Mobiliars evozieren diese Prosperität; quintas und Landhäuser deuten auf den erreichten aber schon im Verschwinden begriffenen Wohlstand dieser Epoche hin. Denn die optimistischen Züge des damaligen Bewußtseins sind nicht mehr vorhanden, als der erwachsene Erzähler die Häuser betritt. An ihren Gegenständen und Bewohnern findet er noch die Zeichen der vergangenen Prosperität, sie sind dennoch von der Melancholie durchdrungen. So haben alle diese Witwen einen allegorischen Charakter. Sie sind aus der arcadia stammende und in den "modernen Zeiten" überlebende Menschen, die im Jetzt für jene vergangene Ordnung stehen. Sie trauern um eine Abwesenheit. Die Hauptperson der Erzählung "La casa inundada", señora Margarita, schreibt dem Erzähler am Ende seines Besuches einen Abschiedsbrief, dessen post scriptum lautet: Si por casualidad a usted se le ocurriera escribir todo lo que le he contado, cuente con mi permiso. Sólo le pido que al final ponga estas palabras: "Esta es la historia que Margarita le dedica a José. Esté vivo o esté muerto. (11:263) Der Vorname José ist sicherlich hier ein beliebiger, und durch die Erzählung erfahren wir, daß er gestorben ist, obwohl Señora Margarita sich mit der Idee seines Todes nicht abfinden möchte, ebenso wie der Erzähler immer wieder auf seine Illusion zurückgreift. Das ist gewiß das romantische Moment dieser Melan-

108

cfaolie. Nun ist dieser Mann namens José auch eine allegorische Figur. Er steht fiir den Mann, der die arkadische Ordnung geschaffen hat und zufälligerweise — oder vielleicht nicht — auch José heißt: José Battie y Ordoñez. Der Versuch, die vergangene Epoche des Battlismus wieder einzuholen, sein Scheitern, weil ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen verschwunden sind, die Unmöglichkeit, Batlle zu ersetzen, und das Trauern um ihn bilden die Geschehnisse, die Felisberto Hernández in seiner allegorischen Erzählkunst thematisiert.

7.2. Die uruguayische Melancholie Angel Rama hat den Ausdruck generación crítica geprägt und darunter die kulturelle Produktion verstanden, die Mitte der dreißiger Jahre in Uruguay entstanden ist. "Kritisch" bedeutet für Rama hier die vielfältige Auseinandersetzung mit dem nicht erfüllten Versprechen der liberalen gesellschaftlichen Institutionen; Kritik heißt für ihn nicht nur sachliche Diskussion ihrer falschen Grundlagen, sondern vor allem subjektiver Widerstand gegen den bisher herrschenden Optimismus und Glauben an eine unbegrenzte Prosperität. So definiert er das ab 1935 in Uruguay entstandene kritische Bewußtsein als eine dem liberalen Projekt gegenüber zunächst abweichende und später militant adversative Position: La consciencia crítica no puede medirse válidamente sino en su enfrentamiento con los valores dominantes, ya que es una típica posición adversativa. Contra la exaltación engañosa que aún se prolongaba respondiendo al populismo battlista instala la depresión esquiva y desdeñosa, lo que vale como oponer al júbilo que fuera estrepitoso en los años locos, el miedo que trepó los cuarenta y a la coparticipación alegre con el mundo que se vivió en la década rosada del progresismo antifascista, la melancolía, la tristeza, el presentimiento de lo mortal. (Rama 1972, 34) Während Autoren wie Mario Benedetti die aus dem Scheitern des Battlismus resultierenden Probleme später direkt ansprechen (ein Vers seines 1955 erschienenen Gedichtbandes Poemas de la oficina faßt diese Stimmung folgendermaßen zusammen: "Aquella esperanza que cabía en un dedal"), bedienen sich altere Autoren wie Juan Carlos Onetti und Felisberto Hernández anderer Ausdrucksmittel, die den Individualismus und Subjektivismus betonen, als einer Form des Verzichts auf jedwede Art von Gemeinschaftsgefühl oder Identifikationsappell. Das kritische Moment bei Hernández liegt in der negativen Darstellung der modernen Zeiten, und wenn er um den Battlismus trauert, was sich als eine regressive Haltung entlarven läßt, macht er dem Leser die Unmöglichkeit der Illusion klar, diese Zeit erfolgreich in der Gegenwart zurückzuholen. So erscheint sein Gegenwartsbezug sozialkritisch; die Evozierung der Vergangenheit gelingt ihm aber nicht, ohne einen

109 idealisierenden Blick auf die damaligen Institutionen zu werfen, was ein unkritisches Moment bezüglich der "arkadischen" Epoche offenbart. Die subjektive Teilung der uruguayischen Geschichte in zwei unterscheidliche Perioden ist nicht auf das Werk Felisberto Hernández' beschränkt, sondern kennzeichnet ein gemeinsames Unternehmen dieser generación. Dies rechtfertigt nicht nur eine Periodisierung; es erlaubt darüber hinaus, sowohl dem objektiven Tatbestand als auch seiner Erfahrung eine Bezeichnimg zu geben: dem Scheitern des liberalen Projekts entspricht eine uruguayische Melancholie. In dieser Tatsache mag einer der Gründe für die europäische Rezeption der lateinamerikanischen Erzählkunst in den letzten zwei Jahrzehnten liegen. Daß die "marginale" Literatur Lateinamerikas eine "zentrale" Position innerhalb der Diskussion über die Postmoderne innehat, könnte damit zusammenhängen, daß sie eine ähnliche subjektive Erfahrung eines objektiven Tatbestandes wie die der europäischen Postmoderne verarbeitet. Die Fragen, mit denen Angel Rama sein Essay La generación crítica (1972) beginnt, könnten aus dem am Anfang erwähnten Kolloquium über "Postmoderne — ein globaler Kontext?" stammen. Sie lauten: "¿Qué nos ha pasado? ¿Por qué hemos llegado a esto? (Rama 1972, 11). Auf den europäischen Kontext bezogen, sind diese Fragen verknüpft mit den Problemen der Ökologie, Kernenergie, Abrüstung und Selbstzerstörung. Ob das Projekt der Moderne in den "marginalen" Regionen deutlicher gescheitert ist, läßt sich an dieser Stelle nicht erörtern. Möglicherweise können die "sonderbare" Darstellung der Melancholie bei Hernández und seine eigentümliche "Phänomenologie der Enttäuschungen" (s. Furth 1991) zur Antwort auf diese Fragestellung einen Beitrag leisten.

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José Donosos El obsceno pájaro de la noche: Sprachloser Raum Ursula Günther

Einleitung Die Bestimmung der Malerei als "Raumkunst", und im Unterschied dazu, der Literatur als "Zeitkunst", wie sie Lessing in seinem Laokoon-Aufsatz gesetzt hat, hat in dem Rahmen und an dem Material, das er für seine Vorstellung gewählt hat, auch für zeitgenössische Literatur und Kunst heute Bedeutung, wenigstens was die Struktur der Wahrnehmimg angeht. Was den Gegenstand, den sich die jeweiligen Künste wählen, betrifft, hat sich in Art und Darstellung Grundlegendes geändert. Zeit und Raum haben mit Aufkommen des Industriezeitalters, der Mechanisierung, einen Bedeutungswandel erfahren. Immerhin hat sich die materielle Wirklichkeit so verändert, daß Zeit und Raum anders besetzt und wahrgenommen werden. Auch die Setzung des Raum-Zeitkontinuums, für die bislang unabhängig voneinander gedachten Größen Raum und Zeit durch die Relativitätstheorie, ist nicht ohne Auswirkung auf die Behandlung dieser Themen in Kunstwerken geblieben. Diese Veränderung des Weltbildes wird nicht unmittelbar und sichtbar in der Literatur behandelt. Offensichtlicher und direkter werden in der Folge die gesellschaftlichen Veränderungen verarbeitet. So finden sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts und zu Beginn des zwanzigsten vermehrt die Behandlung des Großstadtraumes und des Raumes Oberhaupt in der Literatur. Der Raum, insbesondere der Großstadtraum, nimmt oft den Charakter einer Maschine an, die sich erschreckend unabhängig vorwärts bewegt. Das vereinzelt vorgestellte Individuum muß versuchen sich mit dieser Maschine zu arrangieren, sich einzugliedern ohne das Gefühl für sich selbst zu verlieren, ohne ganz und gar Rad im Getriebe zu werden. Der Raum gibt keinen selbstverständlich aufnehmenden, allgemeingültigen Hintergrund mehr ab. Die Dinge und Räume werden nicht mehr vorzüglich durch (selbstverständliche) Bewegung im Raum erlebt und erfahren. Lessings stärkstes Argument für die Auffassung der Literatur als Zeitkunst, die Handlung, verschwindet mitunter gänzlich bzw. gewinnt Bedeutung durch ihre Auflösimg. Die Behandlung des Raumes in der Literatur hat gegenüber der Zeitthematik weitaus weniger Beachtung gefunden, und diese auch erst verstärkt seit Beginn der sechziger Jahre. "Für das Verständnis des Erzählvorgangs mag er in bestimmten Fällen förderlich sein, er ist aber keineswegs von jener generellen Bedeutung wie der Zeitfaktor" (Hillebrand 1971). Dies ist wohl vorallem auf die "doppelte Subjektivität" (ebd.) des literarischen Raumes zurückzuführen. Das Raumbild und Raumgefühl, das der Autor beim Schreiben entwirft, entzieht sich ebenso wie das rezeptiv beim Leser erzeugte einer eindeutigen, allgemeingültigen Analyse. Die poetische Zeit hingegen ist sowohl als Erzählzeit wie als erzählte Zeit quantifizierbar und damit objektiv meßbar. Die intensive literarische und philosophische Auseinandersetzung mit dem Zeitfaktor, seit der Jahrhundertwende ist

113 natürlich nicht einfach auf diese klarere Strukturierung zurückzuführen, er bietet dadurch aber einen direkteren Angriffspunkt. Es ist nahezu unmöglich den Raum gänzlich unabhängig von der Zeit zu untersuchen. Der Zeitfaktor ist für die Raumwahrnehmung und -gestaltung grundlegend. Auch wenn die Zeit aus der Darstellung des Raumes ausgeblendet wird, bestimmt dies die Vorstellung des jeweiligen Raumes wesentlich. Im folgenden sollen die Räume in dem Roman El obsceno pájaro de la noche von José Donoso bestimmt und untersucht werden. Dieser Untersuchung ist eine der Zeitstruktur vorangestellt. Beide Bereiche werden zunächst anhand der sie strukturierenden Begriffe gegliedert. "In zweiter Reihe" soll sich daraus eine Interpretation des Inhalts ergeben. Das Thema des Raumes in diesem Roman wurde von der Sekundärliteratur bislang nicht explizit behandelt, es wird allerdings oft auf die raumzeitliche Gestaltung und ihre Bedeutung für die inhaltliche Grundstruktur des Romans verwiesen.

Zeit Innere und äußere Zeit Erzählzeit und erzählte Zeit gehen nur teilweise ineinander über und laufen an diesen Stellen nahezu parallel. Dies ist jeweils abhängig von der Erzählhaltung und Situation. Stellen, wo der Erzählvorgang mit dem Geschehen gleichläuft, finden sich im ersten und letzten Kapitel. Es sind die Beschreibungen der Verabschiedung Brígidas und des Veriassens der Encamación. Scheinbar aus auktorialer Haltung mitgeteilt, wird die Erzählung immer wieder von Muditos Beschreibungen (inneren Monologen) unterbrochen. In der letzten Sequenz dieser Art beschreibt Mudito unmittelbar seine eigene Auflösung. Die Erzählhaltung bestimmt Raum- und Zeitempfinden des Lesers wesentlich. Während des Lesens verliert man das Zeitgefühl völlig, d.h. man weiß nicht wo in der Zeit des Romans man sich befindet. Es gibt keinen einheitlich ablaufenden Zeitstrang. "Sf, en la novela se rompen los límites de la realidad cotidiana para poder dar paso a ese mundo alucinante. Ahí en esta ruptura es donde está la dificultad en la lectura de la obra" (Omaña 1981). Diese "haluzinierte Welt" setzt sich innerhalb des Werkes als Normalität durch und ist als abgebildete Realität zu verstehen. Allerdings erfährt man gegen Ende, daß Brígida nun schon bald ein Jahr tot ist, und sieht man genau hin, wird man doch immer wieder mit ganz konkreten Zeitangaben konfrontiert: "El desorden de las sábanas es tan leve que nadie adivinará que ima mujer agonizó en ellas hace cuarenta y ocho horas" (26). Diese Zeitangabe hat für den Erzählvorgang keine Funktion, als den Leser darauf zu verweisen, daß es eine präzis meßbare, äußere Zeit gibt, die auch innerhalb des Romans fortschreitet, die vielfältigen inneren Zeitebenen aber nicht berührt. Die

114 unzähligen Gedankensprünge und Brechungen sind in der Erzählhaltung begründet, die keine einheitliche ist. Dementsprechend ist die Identität des Erzählers eine vielfach gebrochene und gespiegelte. Da ist Humberto Peñaloza, Sekretär von Don Jerónimo, Sohn eines Lehrers ohne Gesicht und Enkel eines Eisenbahners, der verzweifelt versucht seine Identität als Schriftsteller zu behaupten, den ganzen Roman hindurch, ebenso gequält von der Flut der Gedanken und möglicher Ansätze wie der Leser. Und Humberto selbst verfügt über keine klar umrissene Persönlichkeit, spiegelt sich in Boy und Don Jerónimo, von deren Schicksal er abhängt und das er selbst als Schriftsteller bestimmt. Dann gibt es Mudito, den Hausmeister der Encarnación mit Schlüsselgewalt. Er öffnet und schließt Räume, bestimmt wer, wo und wann Eintritt hat, Herr des Labyrinths, Führer durch die Phantasien. Ein taubstummer, impotenter Alter, die siebte Alte, das Kind, ein Zwitterwesen, das unter der Maske des Riesen zum potenten Liebhaber wird. Und immer wieder taucht der todkranke Mudito auf, der sich an Mutter Benitas Hand klammert und ihr alles erzählt. Ebenso wie man sich aus der Zeitmasse einen einheitlichen Strang herauslösen kann, ist es auch hier möglich, sich eine geschlossene Figur vorzustellen, deren Bild zu rekonstruieren: Mudito lebt als alter, kranker Mann unter alten Frauen, ehemaligen Bediensteten der Oligarchie, in einem zum Altenasyl umfunktionierten Kloster, von der Herrschaft für ihre Bediensteten zur Verfügung gestellt (Rückblick: literarische Ambitionen, Karriere als Sekretär, Verwicklung in die ehelichen Konflikte der Herrschaft, Statuskomplexe), aber man merkt sofort, daß dieser Versuch der Annäherung einen ebensoweit ins Abseits führt. Nichtsdestotrotz gehören diese Brechungen der Zeit, der Psyche, ins Spektrum der Geschichte. Bezüglich der Zeitstruktur gilt es festzustellen, daß sie mehr als eine lineare, chronologische Abfolge ist. Sie läßt sich eher als ein Bündel von Möglichkeiten beschreiben, das für jede Figur in jedem Moment aufleuchtet und ist eigentlich nur in räumlichen Begriffen zu fassen. Die Figuren bewegen sich auf mehreren zeitlichen Ebenen, entsprechend ihren Persönlichkeiten. Die innere Zeit trägt den sonst verdrängten Ebenen/Zügen, die hier in den Vordergrund treten, Rechnung. Die "innere Zeit", das ist die in und mit den Räumen verschlossene Zeit. "The outcome is a novel in which time is suspended and events become spatialized in the sense that our point of reference to a particular occurrence is never what but where it takes place" (Hassett 1973, 30). Zeit erscheint als verräumlichtes Geschehen. Erzählen ist hier der Versuch, in den Räumen abgelegte Zeit/Ereignisse wieder zu beleben, die unterschiedlichen Räume, Gebäude miteinander zu verbinden, zur Deckung zu bringen.

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Mythische, reale und symbolische Zeit Entsprechend den unterschiedlich thematisierten Räumen läßt sich parallel eine mythische, reale und symbolische Zeitgestaltung feststellen. Raum und Zeit sind auch hier aneinander gekoppelt. Reale geschichtliche Zeit scheint nur an wenigen Stellen des Romans durch. Diese erstaunen, weil sich in wenigen, bruchstückhaften Äußerungen die ganze Familiengeschichte der Azcoitias entfaltet, die sich in bekannte geschichtliche Ereignisse einbetten läßt. Nach den ersten neun labyrinthischen Kapiteln, die dem Leser keine einheitliche Grundlage, keine raum-zeitlichen Koordinaten, nur sich wandelnde Identitäten an die Hand geben, in denen er ganz und gar auf den Erzähler angewiesen ist, findet er nun Eingang in eine ganz gewöhnliche Geschichte. "... y huyo, Madre Benita, por el parque y por la lluvia sin perros acosándome, huyo, perdido en las calles, ahogado por el vacío sin dirección en que me encuentro porque la lluvia lo borra todo, [...] todas las viejas, [...] y la Madre Benita también, están esperando para abrirme el portón, para dejarme entrar y encerrarme y protegerme, [...] junto al portón que tiene que abrir para dejarme entrar. EL PORTON SE ABRIO" (166-167). Das Tor öffnete sich. Don Jerónimo, zurück in Chile, nach fünfjährigem Aufenthalt in Europa, besucht seinen Onkel Don demente auf dessen Landgut. Es ist zur Zeit des ersten Weltkrieges, an dessen Schauplatz Jerónimo sich begeben hatte, auf der Suche nach seiner Identität, die er im Rahmen seiner Familie nicht ohne Irritation annehmen kann, deren Regeln er sich in der Folge aber völlig unterwerfen wird. Besonders interessant sind die Stellen, an denen sich mythische und reale Zeit überlappen. Die Themen der Familiengeschichte der Azcoitias und der Entstehung der Encarnación werden variiert. Es gibt eine reale und eine mythische Variante, beide sind wesentlich geprägt durch Standort und Interessen des jeweiligen Erzählers, d.h., keine ist der anderen in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit überlegen. "Reale" Geschichte ist nur eine Möglichkeit unter anderen. Dieses Konstruktionsprinzip, die Bündelung und Auffacherung des Geschehens, der Blick durch das Prisma, ist bestimmend für den ganzen Roman. Die sagenhafte Version der Alten führt den Leser in ein dichtes Gewebe von Möglichkeiten, gewachsen über Generationen von Alten: "Érase una vez, hace muchos años, un señorón muy rico y muy piadoso, propietario de grandes extensiones de tierra en todo el país, montañas en el norte, bosques en el sur y rulos en la costa" (35). Charakteristisch für den Mythos ist hier zweierlei, die Überlagerung, Durchdringung verschiedener Geschichten, damit vebunden ist ein unklarer Zeitbegriff, das statische Kreisen über dem immergleichen Thema, jede offene Anklage der Machthabenden wird vermieden. Die Geschichte bricht dieses geschlossene System auf, ordnet und benennt: "Lo único que consta como realidad firme y legal, sostenido por documentos que la prueban, es la fundación de la capellanía: a fines del siglo dieciocho un rico terrate-

116 niente de ascendencia vasca, viudo, padre de nueve hijos y una hija, llegó de sus feudos situados al sur del río Maule [...]. Todo esto es histórico" (352-353). Solch eine befreiende Geste ist für die, die in diese Legende hineingewachsen sind nicht so einfach wie für den außenstehenden Erzähler, den es so, das wird hier deutlich, nicht gibt. Don Jerónimo und Inés verstricken sich mit jeder Bewegung tiefer in die durch den Mythos verschleierte Vergangenheit der Familie. Ihr Kampf um die Fortsetzung ihrer tradierten gesellschaftlichen Identität richtet sich zuletzt gegen sie selbst, weil sie jeden gesellschaftlichen Wandel leugnen und jede Öffnung nach außen ablehnen. Die verbergende Geste des Patriarchen vererbt sich von Generation zu Generation. In ihr hat die Legende, die Verwirrung der Identitäten ihren Ursprung. Jerónimo, der sich zunächst nur widerstrebend der ihm zugedachten Rolle nähert, tritt in sie mit seiner Ehe mit Inés ganz und gar ein. Sein Sein geht völlig in dem der Familie auf. Jede seiner Bewegungen ist durch Tradition vorgegeben und bestimmt. "Todo estaba dispuesto. Jerónimo había logrado por fin sacar a Inés del medallón estático de la dicha conyugal perfecta: ayudada por su mano galante la conduce para tomar las actitudes prescritas en el siguiente medallón, en que figurarían como padres" (228). Die statische Zeit innerhalb der Familientradition und die statische Zeit des Mythos gehören zusammen. Sie sind gekennzeichnet durch die Leere der unendlich verlängerten Augenblicke, der endlosen Wiederholungen, gebannt in einen festen Rahmen, der jede Abweichung verhindert. Und sie haben einen gemeinsamen Ursprung, den Fehltritt der niña-bruja/niña-beata, der gemeinsamen Ahnin von Inés und Jerónimo. Die Verdrängung dieser fruchtbaren Abweichung hat in der Fortsetzung der Verdrängung Unfruchtbarkeit zur Folge, die allerdings zunächst verbunden ist mit Macht und äußerem Ansehen. Und das soll gewahrt werden. Die Verdrängung ist unsichtbarer Bestandteil des Familienmedaillons, und wird so an das jeweilige Familienoberhaupt weitergegeben. " Yo he visto a don Jerónimo alzar el brazo y con él los pliegues de su poncho de vicuña como el del cacique, para indicar que aquí no ha pasado nada, que éste es territorio vedado, que la voluntad de su gesto es eliminar, desgajar del volumen entero el trozo que está dispuesto a mostrar. Es seguro que don Jerónimo levantó su poncho ante Inés, con el propósito bien definido de separar esta partícula manejable de misterio casero que es la tradición de la niña-beata de la insondable eternidad de la conseja popular, dejando a ambas truncas, incompletas, con facetas opacadas, sin la plenitud de proyecciones que podría tener la síntesis" (357). El trozo que está dispuesto a mostrar", und der Teil, den er nicht zu zeigen bereit ist, zusammen ergeben sie gefüllte, lebendige Realität. Das Ergebnis der Spaltung und Verdrängung sind die unwirklichen Figuren der Mädchen-Hexe und Mädchen-Heiligen, sowie die leblosen, flachen Bilder der Familiengalerie einerseits, und die dicht verschlungenen, einander widersprechenden Bilder der Legende andererseits. Ein Bild in der Zeitgestaltung, das wohl eher dem symbolischen Bereich zuzuordnen ist, ist das "Prisma der Peta Ponce": "las viejas como la Peta Ponce tienen el poder de plegar y confundir el tiempo, lo multiplican

117 y lo dividen, los acontecimientos se refractan en sus manos verrugosas como en el prisma más brillante, cortan el suceder consecutivo en trozos que disponen en forma paralela" (222). Eine, dem Bild des Prismas verwandte Zeitsymbolik sind die Falten des Ponchos des Patriarchen. Funktion und Wirkung sind jedoch verschieden. Die Falten des Ponchos dienen dazu, den Verlauf der Ereignisse dem Rahmen des Medaillons anzupassen. Der Wille des Patriarchen verlangt das Verschwinden störender Realität. Die Falten des Ponchos vermögen zwar Geschehen dem unmittelbaren Anblick des Betrachters zu entziehen, die geleugneten Anteile werden aber nur verborgen, zusammengefaltet. Sie hinterlassen Brüche, die eine wirkliche Identifikation mit der vorgestellten Realität verhindern. Der Blick durch das Prisma ist ein analytischer, er läßt die Dinge in einem anderen Licht erscheinen. Geschichte wird nicht in kontinuierlicher, konsekutiver Abfolge durch das Prisma abgebildet, sondern gebrochen, in paralleler Anordnung. Diese Parallelstmktur ermöglicht einen vielschichtigen Blick, Geschichte erscheint auf mehreren einander widersprechenden Ebenen, Widerholungen werden sichtbar und nötigen zu einem anderen Verstehen. Der Blick durch das Prisma ist Arbeit an der Zeit, ihm obliegt es die in den Falten des Ponchos verborgene Zeit zu entfalten, die Brüche zu überwinden. Die hier festgestellte Verräumlichung der Zeit hat ihre unmittelbare Entsprechung in der Erzählstruktur: "Through the use of discontinuity he obtains a destruction of linear progression similar to that of filmmaking [...] he replaces the sequential nature of storytelling with the principie of juxtaposition which allows him to undermine the logical development of the plot" (Hassett 1973, 30). Was ist das für eine Macht, die die Alten, die Elenden und Besitzlosen über die Zeit haben? Sie alle haben viel Zeit, sie ist abgelaufen und wird nicht mehr verrechnet. Sie haben eine andere Perspektive, können mit den Möglichkeiten spielen, da ihre Zeit durch kein Ziel beherrscht wird. Eine ähnliche Macht über die Zeit wie die Alten hat der Schriftsteller. Er faltet sie, vervielfältigt sie, löst ihre Kontinuität auf, bündelt und ordnet sie. Er ist das Zentrum der Zeit. In ihm bricht, spiegelt, wiederholt sich Realität und entsteht neu. Er ist Sammellinse und Prisma, in denen sich Zeit und Raum brechen und zusammenlaufen.

Boy: das Ende der statischen Zeit der Azcoitias Die Figur Boys repräsentiert die gesamte Familiengeschichte seit der Gründung der Pfründe. Die Gründung der Encamación ist der Beginn der Unfruchtbarkeit im Geschlecht der Azcoitias. Unfruchtbarkeit bedeutet das Ende der statischen Zeit, die gefüllt mit ihren immergleichen Bildern und Bewegungen, den Ewigkeitsanspruch der Oligarchie ausdrückt. Boy, als Erwartung genommen, ist die Behauptung des Rechts und der Normalität. Durch die erhoffte Geburt werden Vergangenheit und Gegenwart legitimiert und finden so ihre Fortsetzung in die Zukunft. Seine Er-

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scheinung setzt dieser Ewigkeit schließlich ein Ende. Mit dieser Geburt bricht alles Verdrängte, alles Verborgene auf. In diesem monströsen Körper werden Vergangenheit und Gegenwart der Azcoitfas sichtbar. Diese schonungslose Obszönität dieses geöffneten Körpers, bis ins Innere dem Blick freigegeben, wirkt wie ein Aufbegehren gegen diese "intachables frutos de selección: políticos probos, obispos y arzobispos y una beata de piedad espectular" (161). Boy ist die letzte Frucht dieser glanzvollen Generationen, das Resultat generationenlanger innerer Verformung, ein inneres Spiegelbild. Don Jerónimo versteht gut, was ihm dieses Kind sagen will, und sein erster Affekt ist es zu töten, um diese Wahrheit zu negieren. "Pero Jerónimo no mató a su hijo. El espanto de verse padre de esta versión del caos logró interponer unos segundos de sorpresa paralizadora entre su primer impulso y la acción, y Jerónimo de Azcoitía no mató. Eso hubiera sido ceder, incorporarse al caos, ser víctima de él" (161). Er nimmt sich selbst als Schöpfer dieses Chaos* und stellt sich so darüber. Chaos steht am Anfang und am Ende einer Ordnung. Ordnung bedeutet vor allem raum-zeitliche Orientierung. Don Jerónimo bemächtigt sich des Chaos und setzt eine neue Ordnung, einen anderen Raum, eine andere unabhängige Zeit, und schließt sich damit endgültig aus der Gegenwart aus.

Raum Zeiträume Räume haben immer eine Funktion. Die ursprünglichste, wie man sie in Schöpfungsmythen findet, ist die organisierende, die Ordnung des Chaos', die den Raum überhaupt erst für den Menschen belebbar macht. Raum und Raumvorstellung sind Grundlage von Weltbild, Kultur und Religion. Die Zeit ist immer an den Raum gebunden, mit der Schöpfung des Raumes läuft sie ab, geraten die Dinge in Bewegung, entwickeln sich. Jeder Raum hat seine eigene Zeit. Das kann sich innerhalb der Literatur dahingehend auflösen, daß der Raum gänzlich verschwindet, d.h. keine Bedeutung mehr hat. Die Zeit wird dann wesentlich durch das Empfinden, Innenleben (die Innenräume) der Personen bestimmt, und hat mit normal meßbarer Zeit nichts mehr gemein. Zeit und Raum sind in dem vorliegenden Roman über diese grundsätzlichen Strukturen hinaus auch thematisch eng miteinander verknüpft. "Hace diez años que Madre Benita me mandó condenar esas puertas para olvidar definitivamente esa región de la Casa, no volver a pensar en limpiarla y ordenarla porque ya no nos queda fuerza" (17). Die Encarnación besteht seit ISO Jahren. In dieser Zeit ist das Haus, eingebunden in das kirchlich-öffentliche Leben zunächst gewachsen, hat eine richtige Blüte erlebt, war gefragt und gefüllt mit Bedeutung, hatte eine eindeutige Funktion. Die Kirche sucht, dem Zeitgeist entsprechend, für ihre Exerzitien komfortablere Orte auf. Der Rückzug der Kirche bedeutet den Verlust eines wichtigen gesell-

119 schaftlichen Bezuges und den ihrer Legitimation nach außen. Die Encarnación verliert ihre Deckfunktion und erscheint hinfort als das, was es ist, Asyl für die ausgediente Dienerschaft, störende Elemente. Mit der Zeit schrumpft das Haus von außen nach innen, immer mehr Teile werden abgetrennt, geraten in Vergessenheit, ähnlich seinen Bewohnern. In den Räumen der Encarnación bewegt sich nichts mehr, mit der Schließung der Räume kommt es zum Stillstand der Zeit. Erst die Waisen dringen wieder in die verlassenen äußeren Schichten vor. Die Waisen haben keine Beziehung zu diesen Räumen, und erleben daher weder Furcht noch Ehrfurcht beim Betreten der verschlossenen Räume. Sie entbehren jeder geschichtlichen und gesellschaftlichen Vermittlung. Ihre Armut besteht in dieser Beziehungslosigkeit, die die Befindlichkeit der Räume widerspiegelt. Diese werden ihrerseits von den Alten immer mehr aus dem Alltagsleben verdrängt, verkommen unbenutzt, ihrer Funktion enthoben, wie diese. "El patio de lavado donde ya no se lava, el patio de las monjitas donde ya no vive ninguna monjita porque ahora no quedan más que tres monjitas, [...] el patio del refectorio que nadie usa porque las viejas prefieren comer en la cocina" (23). Madre Benita, die sich als Leiterin des Hauses alleine noch für seine Räume verantwortlich fühlt, bemerkt den Verfall und denkt immerhin der Form halber daran, dem etwas entgegenzusetzen." [...] sí, Mudito, con escobas y plumeros y trapos y baldes y jaboncillo, uno de estos días en cuanto tengamos tiempo lo vamos a limipiar todo. Porque esto está hecho un asco" (23). Zeit und Energie der Alten, die nichts zu tun haben außer zu warten, reichen nicht aus. Der Sinn des Hauses hat sich darauf reduziert, dem Warten der Alten einen Rahmen zu geben. Die eigentlichen Möglichkeiten und Funktionen, die das Haus bietet lehnen sie ab. Die Zeit steht. "Usted ha intentado tantas veces convencer a las viejas que duerman en las habitaciones. Hay cientos de piezas, buenas, grandes, todas vacías, elijan las que quieran, en el patio que quieran, yo y el Mudito se las acondicionaremos para que queden cómodas" (24). Aber sie haben Angst. Die Räume sind ihnen zu groß und fremd. Sie wollen die von ihrer Herrschaft verlassenen Räume nicht mit ihrer Anwesenheit unterhalten. Hier wie im folgenden wird deutlich, daß die Encamación ein inneres, negatives Abbild der Rinconada ist, die Rückseite der Rinconada. Es sind tatsächlich auch nur Angehörige der Azcoitias, die direkt Räume im Gebäude beziehen, wie Inés oder Don demente. Eine Ausnahme bildet hierbei Mudito, der einzige, der das Haus wirklich kennt und, ähnlich wie Inés, an seinem Bestehen interessiert ist. Er war es, der vor vielen Jahren auf Mutter Benitas Befehl mit begonnen hat, das Haus Stück für Stück zu verkleinern, Gänge, Trakte, Zimmer einfach verschwinden zu lassen. Jetzt angeregt durch die Gegenwart der jungen, schlecht erzogenen Mädchen, animiert er diese, die vergessenen Teile des Hauses wieder zu beleben. Wesentlich dabei ist die sexuelle Energie, der Reiz des Verbotenen beim Eröffnen der verdrängten Räume. Es ist das Obszöne, was beiden Häusern fehlt, das hier entfaltet wird. Ebenso inspiriert er die Alten dazu, die verborgenen Räume als Versteck für das Kind zu nutzen. Das Kind soll dem Haus und den Alten die Ewigkeit verbürgen, das heißt,

120 alle zeitlichen Begrenzungen aufheben (das gleiche gilt für Boy). "Claro que nosotras nos iremos muriendo. Pero no importa. Viejas siempre habrá [...] Cuando una de nosotras se muera hay que elegir a otra y el niño irá pasando de vieja en vieja, de mano en mano" (63). Parallel dazu (nicht zeitlich, die Zeit ist hier unbestimmt), fuhren Peta und Inés auf der Rinconada einen verzweifelten Kampf gegen die Zeit, wihrend Don Jerónimo sich, seiner Rolle als Familienoberhaupt entsprechend, in der Realität bewegt, Land urbar macht, das heißt, real Raum gewinnt, der schon Teil der fest geplanten Zukunft ist, dabei jede Realität, die den unbedingten Zeitplan seines Medaillons brechen könnte, negierend. Die Realität bewegt sich in anderen Zeit-Räumen. "Enquistadas en el fondo del laberinto de las casas de la Rinconada", führen Peta und Inés ihren aufreibenden Kampf gegen die Zeit. Mit jedem Tag, der nicht die Geburt des den Fortbestand der Familie sichernden Erben ankündigt, schwinden die Hoffnungen für die Zukunft. Bis zu dem "momento enloquecedor en que el tiempo se agota". Die Zeit schwindet, mit ihr schrumpfen die die Hoffnung auf die Zukunft symbolisierenden Gegenstände, die Peta und Inés für Boy fertigen. Der schwindende Raum, den die Gegenstände einnehmen bedeutet die Zukunft. An diesen Zukunfts-Zeit-Raum knüpft sich thematisch noch ein anderer Raumaspekt, die Leere, die Leere des Körpers, die innere Leere.

Leere als Folge der Trennung zwischen innen und außen Grundsätzlich lassen sich zwei Formen von Leere unterscheiden, die innere Leere und die äußere Leere. In ihnen drücken sich zwei grundverschiedene Seinsweisen aus, die sich grob der östlichen und der westlichen Welt zuordnen lassen. Erstere bemüht sich wesentlich um den Gleichklang zwischen innen und außen. Äußere Leere ist Ausdruck höchster innerer Konzentration, sie bietet Raum dem Selbst zu begegnen. Im alltäglichen Leben hat die Leere von jeher etwas Abschreckendes, gegen das der Mensch beständig geistig als auch praktisch ankämpft. Dabei gibt es Leere an sich nicht. Die Natur kennt keine Leere. Leere als Empfindung ist etwas durchaus Subjektives. Der Horror vacui, der den Bewohner der westlichen Welt, seit Ende des letzten Jahrhunderts verstärkt plagt, rührt nicht zuletzt daher, daß auf allen Ebenen Probleme nach außen verlagert und maschinell bewältigt werden. Die Wahrnehmung des Raumes als einen leeren, der nur darauf wartet gefüllt zu werden, ist charakteristisch für die kapitalistische Welt, in der die äußere Repräsentanz bestimmend ist. Raum wird wesentlich durch die in ihm herrschenden lebendigen Beziehungen geprägt. Versteht man Raumempfinden als etwas Subjektives, so bedeutet das, daß die Leere bzw. Fülle eines Raumes abhängig ist von den Beziehungen, die das jeweilige Subjekt innerhalb dieses Raumes unterhält. Das Bezie-

121 huiigsnetz, das den Alltagsraum überspannt, nimmt zwar beständig an Dichte zu, die Rolle des Einzelnen reduziert sich dabei jedoch auf eine Funktion, für die einzig erhöhte Effizienz und Produktivität, gesteigerte Bewegung maßgebend sind. Eine immer schnellere Bewältigung des Raumes wird angestrebt. Dieser Zunahme der äußeren Fülle korrespondiert eine innere Leere. Diese Entsprechung findet sich auch in der Ehe von Inés und Don Jerónimo, dem Leben der Alten, und ist auch wesentliches Merkmal des Hauses selbst. Die Leere, die sich wie ein Keil, bedrohlich wachsend, zwischen Inés und Don Jerónimo schiebt, hat ihren Ursprung in der gemeinsamen Familiengeschichte der beiden. Auch Peta ist tief mit dieser Geschichte verwachsen, was keinem bewußt ist. Gemeinsam reproduzieren sie die unbewußte Struktur dieses ursprünglichen Ereignisses. Inés beschreibt Don Jerónimo ein Erlebnis aus ihrer Kindheit, um ihm ihre feste Bindung an Peta begreiflich zu machen. Einige Zeit vor der Geburt ihres Bruders wird sie von ihren Eltern in die Encarnación geschickt, um Störungen zu vermeiden. Dort wird sie schwer krank, gequält von lebensbedrohenden Leibschmerzen, die medizinisch weder zu erklären noch zu lindern sind. Peta steht ihr bei, befreit sie von ihren Schmerzen und nimmt diese an ihrer Statt auf sich. "Y acercando sus labios a mi vientre me los puso aquí, Jerónimo, justo en el foco del dolor y comenzó a chupar y a chupar y a chupar hasta que mis dolores desaparecieron completamente con el último sorbo de la Peta en mi vientre. Me quedó algo como un vacfo, aquí" (185). Was hier beschrieben wird ist ein wesentlicher Teil der Legende, der Teil, von dem Jerónimo nichts wissen will: "Esta escena no calzaba dentro de ningún medallón de piedra eterna. Y si calzaba en alguno era en la otra serie, en la leyenda enemiga que contradecía a la suya, la de los condenados y los sucios que se retuercen a la siniestra de Dios Padre Todopoderoso" (182). Und es ist eben diese Spaltung, die hier vollzogen wird, die Don Jerónimo, wie alle seine Standesangehörigen, wie ein Naturgesetz verinnerlicht hat, die zwischen Herr und Knecht. Inés kommt in die Encarnación, der Ort an den ihre Namensvetterin verfrachtet wurde, weil sie sich mit einem Untergebenen eingelassen hatte, dessen Kind sie vermutlich in diesem Haus austrug, versteckt vor den Augen der Gesellschaft, ausgeschlossen aus dem Familienverband. Nach außen hin wurde die Schuld auf die alte Amme abgewälzt, sie verwandelte sich in eine Hexe, das unkeusche Mädchen in eine Heilige. Dies zielt nicht auf die Aufhebung der Klassenunterschiede, die Gleichberechtigung aller Stände aus der Sicht des Proletariats. Das Interesse geht mehr der Frage nach, wie es bei dieser Jahrhunderte währenden Abspaltung um die Identität der unterschiedlichen Klassen bestellt ist und welche Entfaltungsmöglichkeiten für die Zukunft innerhalb dieses Spiegelkabinetts gegeben sind. Die "feindliche Legende" ist der populäre Teil der Erzählung, die durch die patriarchalische Geste, die sich durch sie bedroht sieht, abgetrennt wird. "El popular, el inmortal que seguirá siendo contado durante siglos y siglos por viejas y

122 trabajadores cansados y niños" (356). Der andere Teil der Erzählung, der allein in aristokratischen Kreisen zugelassen ist, fuhrt zu der Heiligen, Inés. Was hat sich während Inés' Krankheit, zwischen ihr und Peta in der Encarnación abgespielt? Es wiederholt sich das Ende der Legende. Peta steht ein weiteres Mal für das Unglück ihres Zöglings ein. Die Schmerzen Inés' sind zu verstehen als hysterische Identifikation mit ihrer Mutter, aber eben an diesem Ort auch mit ihrer Vorfahrin. Die Schmerzen dieser Inés de Azcoitfa haben keinen Eingang in das Gedächtnis der Familie gefunden, sie wurden ebenso verbannt, abgespalten wie der feindliche Teil der Legende. Peta, die in direkter Linie von Inés de Azcoitfa abstammt, nimmt diese ihr verwandten Schmerzen in sich auf. Inés bleibt "etwas wie eine Leere" und eine tiefe schuldhafte Abhängigkeit von Peta, die Jerónimo keinesfalls gewillt ist zu dulden, wodurch er sie gerade erzwingt. Als Inés ihm von diesem Kindheitserlebnis berichtet, erwidert er "Bruja" (185), und bringt so die Identitäten von Inés und Peta in einem Punkt zur Deckimg, der Inés zur Loyalität zwingt. Es ist natürlich nicht die Person Peta, die Jerónimo und Inés trennt, sondern die innerlich abgespaltene, der sich Inés in ihrer Begegnimg mit Peta angenähert hat. Hier wird nicht nur die Rollenverteilung zwischen Herr und Knecht, sondern auch die zwischen Mann und Frau verhandelt. Nicht umsonst ist es die Geburt ihres Bruders, wegen der Inés vorübergehend in die Encarnación verbannt wird. Auch ihre Vorgängerin wird ja vor allem für die Kränkung, die sie den männlichen Mitgliedern der Familie, mit der Wahl eines "wertlosen" Mannes zufügt, bestraft. Es sind die Frauen, die die Grenzen zwischen den Klassen übertreten. Jerónimo hat förmlich Angst vor der Berührung mit den Bediensteten, er zieht es vor, sie und ihre Bereiche überhaupt nicht wahrzunehmen. Inés ist zuletzt durch ihre Unfruchtbarkeit so reduziert und gedemütigt, daß sie sich in die labyrinthische Tiefe der Gesindehöfe flüchtet, der einzige Ort, an dem sie die Ganzheit ihrer Person erfährt. Das Nichts mit dem sie Jerónimo quält ist auch ein Bild, das sie ihm zurückwirft, "in deinen Augen bin ich nichts".

Die räumliche Abbildung der Geschichte der Trennung der Klassen Encarnación und Rinconada sind Ausdruck der Trennung zwischen Herr und Knecht. Es gibt nicht zwei oder mehrere Räume, sondern einen Raum, der sich in mehrere spaltet. Die Rinconada kennt man nur von außen, abgesehen von den Arbeitsräumen, aber diese führen auch tief ins Innere. Die Encarnación hat ihr "Außen" über die Jahre verloren. Sie diente einst dem Prestige der Azcoitfas, hatte schon immer die Aufgabe, das Innen als ein nach außen repräsentables vorzustellen. Ohne den glaubhaften Rahmen hat sie sich wieder in das verwandelt, was sie ist: Ein Ort verdrängter Schuld, ein vernachlässigter Innenraum, in dem sich die ausrangierte innere Substanz bedrohlich häuft. Die Kirche selbst ist ja auch ein Ort

123 der Schuld und Rechtfertigung, nur macht sie diese zu einem öffentlichen Thema, worüber man den Aspekt der Macht leicht vergißt. Diese Alten, die sich mit Dingen befassen, die auf der Rückseite dessen geschehen, was man für gewöhnlich sieht, haben ihr Leben ganz in den Dienst ihrer Herrschaft gestellt. Dabei kommen sie beständig mit der inoffiziellen Seite der Herrschaft in Berührung. Dies ist mit tiefen Demütigungen verbunden, die allein erträglich werden, indem sich die Alten Teile dieses sehr intimen Lebens bemächtigen. "El poder de las viejas es inmenso. [...] Los servidores acumulan los privilegios de la miseria. [...] Ellas conservan los instrumentos de la venganza porque van acumulando en sus manos ásperas y verrugosas esa otra mitad de sus patrones, la mitad inútil, descartada, lo sucio y lo feo" (64). Die "andere Hälfte ihrer Herrschaft", das ist die Hälfte, die aus dem Bewußtsein ausgeschlossen ist, darauf reduziert sich für die Alten ihre Arbeit und ihre Identität. "A veces siento que a pesar que las viejas debían estar durmiendo, no duermen, sino que están atareadísimas sacando de sus cajones y de debajo de sus camas y de sus paquetitos, las uñas y los mocos, las hilachas y los vómitos y los paños y algodones ensangrentados con menstruaciones patronales que han ido acumulando, y en la oscuridad se entretienen en reconstitutir con esas porquerías algo como una placa negativa, no sólo de los patrones a quienes les robaron las porquerías, sino del mundo entero" (65). Dieser ganze Abfall ihres Lebens bei der Herrschaft wird verdichtet zu einem negativen Bild. Der Dreck der Oligarchie vertritt den Schmutz und die Schlechtigkeit der Welt. Dabei wird die eigentliche Schlechtigkeit, der Schmutz im übertragenden Sinne, gar nicht erwähnt. Ins Gewicht fällt allein der körperliche, ganz natürliche Abfall, den jeder gleich welcher Klassenzugehörigkeit produziert. Uber welche Macht verfügen sie mit ihren "Beweisen"? "No es verdad que las manden a esta Casa para que pasen sus últimos días en paz, como dicen ellos. [...] Los patrones las mandan a encerrar aquí cuando se dan cuenta que les deben demasiado a estas viejas y sienten pavor porque estas miserables, un buen día, pueden revelar su poder y destruirlos" (64). Das, womit die Herrschaft nichts zu tun haben will, was sie nach außen negiert, und als eine Sache, mit der sie nur noch mittelbar zu tun hat, an die Dienerschaft delegiert, ist es, worauf sich letztere beruft, worin sie die elementare Gleichheit bestätigt sieht, die die anderen der Außenwelt zu verbergen trachten. Aber die Alten verbergen ihre "Entdeckung", behalten sie für sich und partizipieren im Stillen an Glanz und Reichtum mit der einfältigen Gewißheit, doch eigentlich ebenso gut zu sein, wenn nicht gar besser, nur eben ohne Identität. Dieser gleichmachende Neid, geboren aus Reduktion und Unterdrückung ist es, der sie im Schatten ihrer Herrschaft verharren läßt.

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Wandlungen und Möglichkeiten der Leere Ein anderer interessanter Aspekt der Leere findet sich im Zimmer der Brígida, bei der Auflösung ihres Nachlasses. Die Brígida, mit deren Begräbnis der Roman beginnt, bestimmt den äußeren Zeitplan. Auch inhaltlich bedeutet sie Ende und Anfang, einen Wendepunkt. Brígida verfügt als einzige Person des Romans über eine unabhängige Identität. Sie ist nicht einfach die arme, schlechte Ergänzung einer glänzenden Fassade. Ihr ist es gelungen Vor- und Rückseite zu verbinden, dem Innen ein Außen zu geben. Mutter Benita, die einen anderen Weg gewählt hat und sich in der Wahrnehmung der Brígida auf den ihr vertrauten Teil beschränkt hat, scheut jetzt vor der Sichtung ihrer Hinterlassenschaft zurück, vor der Begegnung mit der ganzen Brígida. Diese begegnet ihr in Gestalt der unzähligen Päckchen, die sich unter dem Bett der Brígida befinden. "¿Desconoce a esta Brígida que domó el polvo y la inutilidad? ¿La desconcierta esta Brígida? Ah, Madre, usted no lo sabe, pero esa vieja tenía más vericuetos que esta Casa: [...]. Pero ahora, de repente, usted tiene que encarar a esta otra Brígida no oficial, [...] no, usted no la conocía ni la hubiera podido conocer, la mirada de la Madre Benita no penetra debajo de las camas ni en los escondrijos, es preferible compadecer, servir, permanecer a este lado, aunque eso signifique matarse trabajando, [...], sí, usted se ha matado trabajando para no conocer el revés de la Brígida" (28-29). Aber Madre Benita findet nicht mehr an Bedeutung als sie bereit ist zu verstehen, die Realität eröffnet sich ihr nur so tief, wie sie bereit ist sie zu erleben. Sie ist hin- und hergerissen zwischen der Möglichkeit die Päckchen der Brígida den bedeutungslosen Päckchen zuzuordnen, wie sie alle Alten packen, und der Überzeugung, daß das Leben der Brígida eine Bedeutung gehabt haben muß, und an dieser will sie teilhaben. Brígida hat sich über den ihr von den gesellschaftlichen Verhältnissen zugeordneten Platz (die Rückseite, den Staub, die Sinnlosigkeit) hinweggesetzt. Sie war dem Haus überlegen, hatte mehr und differenziertere Räume. Sie nimmt nicht einfach die Identität ihrer Herrschaft an, sondern macht sich diese zunutze. Misiá Raquel paßt sich zuletzt ihren Bedürfnissen an. Brígida läßt die Oligarchie für sich arbeiten, sie reduziert das Außen auf die Funktion, die es erfüllt, Geld und Macht anzusammeln. Nein, die Päckchen der Brígida unterscheiden sich im Grunde genommen nicht von den anderen, sie sind objektiv betrachtet wohl ebenso Abfall. Aber der Autor entfaltet an ihnen eine neue Perspektive. Die Brígida ist nicht wesentlich anders, sie handelt anders. Die Päckchen, das sind Dinge, die sich gegenseitig verpacken. Jedes Ding ist Hülle und Inhalt, dem Außen ein Innen. "¿No ve, Madre Benita, que lo importante es envolver, que el objeto envuelto no tiene importancia?" (31) Die Dinge an sich haben keine Bedeutung, nur im Zusammenhang, nur mit Bezug auf etwas entfaltet sich diese. Ebenso Worte, Menschen. Was bedeutet dies bezogen auf die Leere? Leere bedeutet etwas, sie verweist immer auf einen Inhalt, der nicht da ist, auf einen Mangel, ein gestörtes Verhältnis zwischen innen und

125 außen. Leere ist nicht einfach gleichzusetzen mit "Nichts", Leere ist der negative Begriff von etwas Faßbarem. Das letzte Paket, das Madre Benita öffnet, scheint ihre Erwartungen zu erfüllen, die Botschaft der Brígida zu enthalten. Und sie teilt sich ihr mit, entfaltet sich permanent. Diese Umkehrung des Verpackungsprozesses ist auch eine Bewegung in Zeit und Raum. Der Körper verwandelt sich kontinuierlich in Fraktale (Einheiten, die sich in der Dimension zwischen Körper und Fläche einordnen lassen), endlich scheint sie auf etwas wie einen harten Kern gestoßen zu sein: "Queda un paquetito duro que usted sostiene entre su índice y su pulgar. Quita la capa de lienzo apercancado y aprieta un poco ... sf, sf, Dios mío hay algo adentro, algo duro, definido, esta unidad que palpo ansiosa. Sus dedos se entorpecen desanudando el lienzo: Una bola de papel plateado. La raja, la rompe: el papel plateado queda convertido en escamas sobre la palma extendida de su mano que tiembla. Yo voy a soplar estas escamas para que se dispersen pero usted alcanza a apretar el puño a tiempo arrebatándoselas a mi aliento, y sus dedos, en un segundo, reconstituyen la bola plateada. La redondea la endurece con la ansiedad de sus gestos lamentables. Me mira a mí, invitándome a reconocer yo también la unidad de lo que ha reconstituido" (32). Madre Benita versteht nicht was sie in den Händen hält. Sie hofft auf eine Antwort und erfährt einen Prozeß, dessen Mitteilung sie nicht als solche begreift. Sie stellt die Sinnfrage an die Existenz, - die Antwort zerfällt ihr in den Händen zu Staub, fugt sich erneut zusammen und wird weitergereicht. Sie erscheint ihr als Ausdruck von Sinnlosigkeit und Leere, dabei enthält sie alles. Die Kugel ist das perfekte Gebilde schlechthin. Von allen geometrischen Körpern ist sie der rätselhafteste, was sich unter anderem in ihrem idealen Verhältnis von Fläche und Volumen und in der möglicherweise unendlichen Zahl Pi ausdrückt. In ihr ist die Negation des Euklidschen Raumes, der noch immer unsere Wahrnehmung, unser Denken und Handeln bestimmt, schon enthalten. In dem literarischen Bild drückt sich ein Erkenntnisprozeß aus. Die Metamorphose des Pakets, eines zunächst eindeutig dreidimensionalen Körpers, in vielfältige und -deutige Gebilde, die die Dimensionen beständig durchbrechen, ist eine Metapher der menschlichen Erkenntnis des Seins. Unmittelbar bevor das Paket geöffnet wird, beschreibt der Erzählende einen ähnlichen Prozeß: "La Dora deshace los restos de una chomba apolillada, ovillando la lana crespa y anadiendo pedazo con pedazo para lavarla y tejer una chaquetita para el niño que va a nacer" (31). Auch hier in der Auflösung eines hier an sich schon nicht mehr eindeutigen Köpers, ("Reste einer zerfressenen Weste"), der Ubergang in ein Zwischenstadium, die Konstituierung eines ganz neuartigen Körpers, der sich auch in der Zukunft ändern wird. Im Grunde genommen gibt es nur Zwischenstadien, den Raum an sich, das Sein an sich gibt es nicht, sie müssen jeweils gestaltet und strukturiert werden.

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Der Imbunche Eine zentrale Raumfigur des Romans ist der Imbunche. "El imbunche, todo cosido, los ojos, la boca, el culo, el sexo, las narices, los ofdos, las manos, las piernas" (63). Es tauchen mehrere Varianten des Imbunche auf: die Tochter, das Kind, Don Clemente, das Haus, der Dichter; alles Lebendige, das nicht leben darf. Das Wesentliche des Imbunche ist die Trennung zwischen innen und außen. Das positive Gegenbild zum Imbunche ist das "Paket", zwei einander entgegengesetzte Raumvorstellungen. Das "Paket" kennt eigentlich keine Trennung zwischen innen und außen, es ist permanente Bewegung, Entfaltung der Möglichkeiten, Entwicklung, es schließt die Leere aus. Der Imbunche ist der Inbegriff der Leere. Es gibt keinen Austausch zwischen innen und außen, alle Öffnungen sind verschlossen. Dazwischen steht die Oberfläche, sie hat die KSnstlichkeit einer Maske, denn sie ist wirklich nur Fläche, verbirgt das Innen. Dieser Begriff trifft für das Paket nicht zu; es bewegt sich zwischen den Dimensionen. Das krause Papier, der krause Faden, sind nicht einfach Fläche, Körper oder Gerade, sie beanspruchen auch die Zwischenräume. Eine weitere Ausformung der Raumfigur des Imbunche findet man im Bild des Sackes. In ihm ist der Kampf gegen die Unterdrückung durch das Außen abgebildet, das endlose Zustopfen der Löcher, aus denen etwas herausdringt, aber auch unabhängig von dieser Macht, die eigene innere Leere und Beziehungslosigkeit. Als der Sack endlich geöffnet wird, entläßt er nur ein wenig Unrat, der in den Flammen des Feuers gerade noch einmal kurz und unbestimmt aufflackert; es bleibt zuletzt nichts. Ein dem Imbunche korrespondierendes Bild, dessen sich das beherrschende Außen bedient, ist die Maske, auch hinter ihr verbirgt sich nur Leere. An ihr geht Jerónimo wie Narziß zugrunde, an der Verzerrung seiner perfekten äußeren Zfige, die durch kein Innen zusammengehalten werden, die sich in keinem wirklichen Gegenfiber spiegeln. Selbst die Begegnung der Geschlechter ist nur noch hinter der Maske möglich. Iris vertraut allein ihr, seit sie der blutigen Vereinigung ihrer Eltern beigewohnt hat. Die Maske verhindert das wechselseitige einander Erkennen. An der Person Don dementes wird die enge Beziehung, die zwischen der Encarnación und der Familie besteht deutlich. Das Haus dient als Aufbewahrungsort für alles Unnütze, Störende. Was die glatten Bilder der Medaillons beeinträchtigen könnte, wird beiseite geräumt. So auch Don Clemente, ehedem "Ehrwürden", jetzt ein unwürdiger Greis. Während seines Aufenthaltes in der Encarnación vollzieht sich in ihm ein Wandel. Das gleichmütige, traurige Lächeln weicht einem eindeutigen Ausdruck von Leid, es löst sich in einem endlosen Strom von Tränen auf und macht endlich der ganzen Wut und Enttäuschung seines betrogenen Lebens Platz. Die Reaktion auf seinen Zorn ist, daß die ersten Fenster des Hauses zugemauert werden. "Decidimos que lo mejor era condenar los postigos de su celda. Pero lograba romperlos. Hasta que yo, una noche, mientras don Clemente dormía, con ladrillos y cemento, le tapié la ventana, la primera ventana de la Casa que tapié. Después — esto fue iniciativa mía — la pinté por fuera del mismo color del

127 muro. Ahora no se nota donde hubo ventana" (57). Jede individuelle, lebendige Äußerung, die das öffentliche Bild kritisieren oder in Frage stellen könnte, wird eliminiert. Die Öffnung schließt sich, man merkt nicht einmal mehr, daß dort etwas wie ein Fenster gewesen ist. Die Bilder der Azcoitfas haben keine Räume, es gibt nur ein Außen, Oberfläche, Maske. Auch in den Auswüchsen der Legende der heiligen Inés de Azcoitia taucht der Imbunche auf: "y caía el silencio, y para ahuyentar las figuras que se querían perfilar en la noche se felicitaban porque por suerte, esta vez, las brujas no lograron robarse a la linda hija del cacique, que eso era lo que querían, robársela para coserle los nueve orificios del cuerpo y transformarla en imbunche" (41). Um die Entfaltung der eigenen, scheinbar unerträglich perversen Phantasien zu hindern und um das begangene grausame Unrecht zu verdrängen, wird das Verbrechen, das die Brüder letztlich an der eigenen Schwester verüben, als teuflische Absicht auf die Hexe projiziert. Diese Absicht wird begründet mit dem Neid und dem Drang zu Erniedrigung und Demütigung, den so eine arme, häßliche Alte angesichts des schönen reichen Mädchens doch empfinden muß. Auch das ist eine Projektion, der Neid und Haß auf das möglicherweise gefüllte Andere, die Angst etwas zu verlieren in der Verbindung mit etwas Fremden. Diese Tendenz zum Inzest wird über Jahrhunderte durchgehalten, und sie ist die eigentliche Ursache der Unfruchtbarkeit, der Fluch. Dem Imbunche ist nicht nur die Äußerung jeder inneren Regung versagt, er ist auch gegenüber jedem äußeren Reiz unempfänglich. Es ist die Brígida, die ihr Leben auf die Umkehning der Machtverhältnisse, und zwar von innen her, ausgerichtet hat, die die Idee des Imbunche in die Gemeinschaft der Alten in der Encarnación trägt. "Desde el fondo de su origen rural en otra región y en otro siglo, cuando alguna abuela medio india amenazó a la niña asustada que la Brígida sería entonces con transformarla en imbunche para que se portara bien, la tentación de serlo, o de hacerlo, quedó sepultada en su mente y surgía ahora convertida en explicación y futuro del hijo de la Iris" (64). Die Brígida tauscht die Rollen. Sie wiederholt ein Kindheits- und Lebenstrauma, rächt sich für erlittenes Leid. Im Imbunche drückt sich hier ein Verhältnis von Macht und Unterdrückung aus: Die völlige Unterwerfimg des Lebens, der Kraft einer anderen Person, der Raub jeder Möglichkeit zur Äußerung aufgrund eigener Schwäche und Leere, oder schlicht zur Steigerung der eigenen Lebenskraft, die Zerstörung der Identität des anderen.

Das Haus: ein Imbunche Das Haus wird den ganzen Roman hindurch als Imbunche beschrieben. Es grenzt sich immer mehr von der Außenwelt ab. Räume, die überflüssig oder belastend sind, in denen Unangenehmes geschieht, werden verschlossen. Das ist vor allem das Werk Muditos, des taubstummen Erzählers. Er ist es auch, der auf den Flächen des Hauses raffiniert falsche Realität vortäuscht. Diese Bilder geben vor, einfach Wand

128 zu sein, d.h. sie leugnen den dahinter liegenden Innenraum, das was darin geschieht. Sie suggerieren ein Draußen, um den Innenraum so wirkungsvoller vom Außen zu trennen, oder um mit der Vorgabe einer nichtexistenten Außenwelt die quälende Reduktion auf das Innen spürbar zu machen. Die dritte Variante ist die der unendlichen Perspektive auf einem zugemauerten Fenster. Der Außenraum wird verleugnet, stattdessen wird ein endloser Innenraum vorgetäuscht. Eine dreistufige Bewegung von innen nach außen: Die Negierung des Innen geschieht zunächst von außen, die Gegenreaktion von innen ist ein Rückzug, die Verleugnung eines Draußen; zuletzt bleibt nur die endlose Bewegung nach innen. Einen ähnlichen Verlust der Außenwelt beschreibt Humberto in einem Gespräch mit Jerónimo: "gran parte del tiempo, le confesó a don Jerónimo que no pudo dejar de admirar al artista, no sabía cuál era la realidad, la de adentro o la de afuera, si había inventado lo que pensaba o lo que pensaba había inventado lo que sus ojos veían" (245). Zunächst wird das Außen immerhin noch erwähnt; daran schließt sich der Gedanke, daß, was er geschrieben, keinen Bezug zur Realität draußen hat; und schließlich existiert allein das Innen. Der Künstler kann nur im Atistausch zwischen innen und außen bestehen, ohne diesen kann er nichts produzieren bzw. ist was er ausführt für die Außenwelt nicht nachvollziehbar, verrückt. Im ersten Bild ist es der Dichter selbst, der den Kontakt verhindert, das Innen verbirgt, davon ablenkt. Mudito ist ein stummer Erzähler, er hat seine Sprache in seiner Begegnung mit Inés verloren. Er ist auf der Flucht vor Don Jerónimo, nachdem er mit seinem letzten Rest Identität die Rinconada verlassen hat, als er merkte, daß er nie als eigenständige Person wird an dem Leben von Inés und Jerónimo partizipieren können, nur um den Preis seiner Identität. Humberto erfüllt die Rolle eines Hofdichters. Seine Aufgabe ist es eine Chronik zu verfassen, Geschichte zu schreiben. Dies bedeutet hier die Negation der äußeren Realität, die Behauptung des Wahnsinns als Normalität. Diese Intrige zielt vorallem auf ihn, als Vertreter einer Klasse, die gegenüber der Oligarchie Normalität geltend macht. Er, als Vertreter der Normalität unter den monströsen Auswüchsen der Gesellschaft, deklariert sich als das Monströse. Nur mit dem Schreiben klappt es noch nicht so recht, irgend etwas in ihm sträubt sich gegen diese Version der Realität. Wann immer er anfängt seine Gedanken zu entwickeln, werfen ihn seine Schmerzen um. In seinem Gespräch mit Jerónimo fährt er fort: "Era un mundo sellado, ahogante, como vivir adentro de un saco, tratando de morder el yute para buscar una salida o darle una entrada al aire y ver si era afuera o adentro o en otra parte donde estaba su destino, beber un poco de aire fresco no confinado por sus obsesiones, donde comenzaba a ser él y dejaba de ser los demás ... por eso el dolor, el mordisco necesario para dejar entrar el aire" (245). Humberto beschreibt sich selbst als Imbunche. Er spürt, daß er so keine Identität hat. Jerónimo rät zu einem radikalen Schnitt durch Doktor Azula, "Quizas él pudiera eliminar ese punto corrosivo." Humberto begreift, daß es keine Krankheit ist, die ihn hindert, sondern daß ihm etwas fehlt: "No sé, hay cosas que me hacen falta ... patios viejos por donde me gustaba pasear, corredores que echo de menos ..." (245); ein Teil

129 seiner selbst, einer Vergangenheit, mit der er identifiziert ist. Humberto hat mit dieser neuen Version der Rinconada nichts gemein, sie ist gewissermaßen die Verneinung all dessen, was er an Jerónimo bewundert. Er kann sich nicht von Jerónimo lösen, weil er ein Teil von ihm ist. Gegen Ende der Erzählung veschmelzen die Figuren mit der Person des Erzählers und dieser selbst mit dem Haus. "He ido eliminando las ventanas. Como ahora tendré que eliminarlo a él. Te preocuparás por el bienestar de tu pobre mujer enferma que no sabrás que es la Peta Ponce. Tengo que eliminarte. Mi imaginación es tu esclava como era esclava tuyo el cuerpo de Inés, necesitas mi imaginación para existir, [...]. Despertarán mañana con lamente en blanco para crear de nuevo el universo, las haré bailar detrás de mis ventanas tapiadas, toda la Casa anulada, sin orificios para entrar ni salir, la Casa imbunche, todas nosotras imbunches" (471f).

Das Haus Es werden drei Häuser vorgestellt: die Encarnación, die Rinconada, das Anwesen der Azcoitias, und die Rinconada, in der Boy lebt. Diese drei Häuser sind in ihrer Bedeutung eng miteinander verbunden, sie sind Abbildungen voneinander. Das reale Haus, das Anwesen der Azcoitias, äußerlich gesehen sicher ein sehr anziehender Ort, tritt kaum in Erscheinung. Es beschränkt sich auf diese schöne Oberfläche, es hat nur ein Außen. Eigentlicher Schauplatz ist ein eröffneter Innenraum, die Encarnación, das Haus der geistigen Übungen, die Verkörperung des verdrängten Innenlebens der Azcoitias, das, was nach mehreren Generationen ihre eigentliche Identität ausmacht. "Esta casa construida como cárcel para ella, que ha ido creciendo más y más, proliferando alrededor de la leyenda de una prisionera inicial ya disuelta en la memoria" (355). Die eigentliche Funktion des Hauses wird hinter der eines Klosters verborgen. Beiden Gebäuden ist grundsätzlich eine Abgrenzung von außen eigen. Der Unterschied liegt darin, daß sich die Bewohner eines Klosters von der Umwelt absetzen, weil sie diese als unwürdig und störend empfinden, während Gefängnisse dazu dienen, die Gesellschaft vom Anblick ihrer schlechten und unliebsamen Teile zu befreien. "Abandonado a las necesidades sin concierto de distintos tiempos, este edificio creció tanto y tan anárquicamente que ya nadie recuerda, [...] cuál fue el sector inicial" (49). Dieses Haus wächst nicht aus sich selbst heraus, seiner Funktion entsprechend, sondern muß für beliebige Zwecke herhalten. Es hat keine eigene Identität, so ist es ihm auch nicht möglich, sich in den Stadtzusammenhang zu integrieren. Die Stadt wächst an das Kloster heran, verleibt sich u.a. seine ehemaligen Obstgärten ein. "hasta que las callejuelas de la Chimba, al avanzar, se transformaron en avenidas con nombres de reivindicadores de derechos obreros, y al rodear y dejar atrás a la Casa de Ejercicios Espirituales de la Encarnación de la Chimba, la enquistaron, muda y ciega, en un barrio bastante central" (50). Die Encarnación

130 nimmt einen zentralen Ort in der Stadt ein, sie wird von den gesellschaftlichen Kräften nicht ausgeschlossen, sie verschließt sich ihnen. Die Fenster sind von Staub erblindet, wieder und wieder zugenagelt, oder sofern sie gefährlich sind, das Haus zum Einstürzen bringen könnten, sogar zugemauert. Dieser Verlust der Identität und des Außenbezugs ist wohl auch darauf zurückzuführen, daß es mit den bescheidenen Häusern, die es umgeben nichts zu tun haben will. "La falta de interés de los Azcoitía por esta Casa es secular. Como si le tuvieran un miedo que no se confiesan ni a sí mismos y prefieren desentenderse de ella en todo sentido menos en el de mantener el derecho de propietarios" (SS). "Y porque Jerónimo de Azcoitía siempre a tenido pavor, aunque no lo confiese su orgullo que no acepta tener pavor de nada, sí, pavor de las cosas feas y indignas, jamás en toda su vida se ha atrevido a venir aquí" (66). Die Azcoitías fürchten sich vor diesem Haus, das sie selbst zum Ort all ihrer Schwächen und Schlechtigkeiten, ihrer unwürdigen, häßlichen Züge, die das strahlende Bild stören könnten, gemacht haben. Diese Dinge darf niemand Außenstehendes zu Gesicht bekommen. Mit der Verwahrung des alten Don demente wiederholt sich die verdeckende Geste des Patriarchen, das Schweigen. Er wird, wie seine Vorfahrin, lebendig begraben, weil er sich gehen läßt, den Ansprüchen des Medaillons nicht mehr genügt, und mit seinem Benehmen an die verdrängten Triebe seiner Familie rührt. Er ist für sie eine innere Bedrohung (wie alle, kein Mensch, sondern nur Teil des ganzen, der jederzeit abgeschnitten werden kann). Für Inés, die mit der heiligen Inés de Azcoitía identifiziert ist, aber eben nur mit den wünschenswerten, nützlichen Zügen, (ihr wird nachgesagt, sie habe das Haus bei einem Erdbeben vor dem Einstürzen bewahrt, das hat sie tatsächlich, nur handelte es sich dabei um das Haus der Azcoitía, die Ehre der Familie) repräsentiert das Haus einen für sie lebensnotwendigen Teil ihrer selbst, den sie vermißt. Es ist nicht wirkliche Anteilnahme, Interesse an dem Haus, den Bewohnern, der Geschichte, sondern ihre eigene innere Leere und die Angst, ihre Aufgabe als Azcoitía nicht zu erfüllen, die sie an das Haus binden. Auch ihre Beziehung zu Peta, die sie als ihren Besitz betrachtet, trägt solche Züge. "La Casa tiene un secreto, algo opaco que no entiendo ni yo ni usted ni nadie, pero es mía porque sé que tiene un secreto, aunque nunca desentrañe ese secreto y ese secreto me mate, es mía, claro que la propiedad viene legalmente por la línea masculina, pero somos nosotras las mujeres las que hemos preservado esta Casa" (376). Sie interpretiert die Geschichte der Encarnación als eine weibliche, in der sich die Frauen im Kampf um deren Bestand, gegenüber den Männern behaupten. Die Patriarchen waren von jeher gezwungen, sich von diesem Bereich abzugrenzen, da es letztendlich um die Erhaltung ihres Besitzes, ihrer Macht geht, worauf ihre Identität beruht. Inés hat keine Identität. Nachdem ihr Versuch sich mit der heiligen Inés de Azcoitía zu verbinden fehlgeschlagen ist, begibt sie sich in die Encarnación, um ein letztes Mal zu suchen, alle Reste der Vergangenheit zu vernichten, und um zu büßen. "— ¿Pero qué quiere encontrar?" "— Algo, alguna cosa que me dé una pista. Había algo. Para no rasguñar cuando me duerma, si es que me duermo aunque no creo que pueda

131 dormir mucho" (375). "— Eso es lo que me deprime más." "— ¿Qué?" "— Que nadie, ni yo, nos acordemos" (376). Die gelungene Heiligsprechung hätte die unliebsame Version der Legende ein für allemal zum Schweigen gebracht. Der Ort hätte wieder öffentliches Ansehen gewonnen, und sich wieder nach außen geöffnet. Das ehedem ausgestoßene Familienmitglied hätte so integriert, der Familie zu bleibenden Ehren verholfen, doch dazu reicht die Macht der Familie nicht mehr. Zuletzt wird Inés selbst ein Teil dieser verdrängten Schuld. Sie spaltet Jerónimo als einen Teil ihrer selbst ab, lastet ihm alle Schuld an, und versteht sich selbst als sein Opfer (vgl. 444). Bei der Zeugung Boys wachsen die Räume der Encamación und der Rinconada zusammen. Der Weg, den Humberto zurücklegt, um Inés bei Peta zu begegnen, führt durch die Räume der ursprünglichen Rinconada, die in der Encamación abgebildet sind. Es ist ein Weg durch die Zeit, eine Wiederholung und ein Weg nach innen. "Fueron patios y más patios los que tuve que cruzar, pasadizos, meandros de adobe, habitaciones vacías, estancias inútiles, la anarquía de construcciones levantadas hace siglos con propósitos olvidados, perderme en estos corredores de barro revenido y deteoriorado, pero no perderme, Madre Benita, porque a medida que iba avanzando el dolor me soltaba el brazo indicándome que sí, que ésta era la dirección cierta. [...] Afuera, la casa y el campo conspiraban con una quietud total" (216). Normalerweise bewegen sich die Gestalten in den endlosen Innenräumen der Encarnación ziellos flüchtend, sich verbergend, verlieren sich dann wie in Gedanken, denen man nicht folgen mag, und tauchen ebenso quälend wieder auf. Humberto hat ein Ziel, die Vereinigung mit Inés und die Anerkennung seiner Identität durch sie. Sie erkennt ihn nicht. Es findet nur eine äußere Begegnung statt. Humberto wird in diesem Moment zu Mudito, bleibt stumm, in sich verschlossen. Dieser Weg nach innen, der die Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft versöhnen soll, führt in seinem Scheitern zur totalen Abschottung von außen. Die Außenwelt wird eliminiert. "También hizo tapiar todas las puertas y ventanas que comunicaran con el exterior, salvo una puerta, cuya llave se reservó. La mansión quedó convertida en una ciscara hueca y sellada compuesta de una serie de estancias despobladas, de corredores y pasadizos, en un limbo de muros abierto sólo hacía el interior de los patios de donde ordenó arrancar los clásicos naranjos de frutos de oro, las buganvileas, las hortensias azules, las hileras de lirios, reemplazándolos por matorrales podados en estrictas formas geométricas que disfrazaran su exuberancia natural" (230). Alles was auf eine natürliche Vielfalt und Vieldeutigkeit verweisen könnte, wird ausgemerzt; es gibt keine einander widersprechenden Ebenen. Sich diesem Teil seiner selbst (Boy) gegenüber zu sehen, führt Don Jerónimo an den Abgrund des Wahnsinns. Er wehrt ihn ab bzw. gestaltet ihn, indem er das Monströse in abgestecktem Rahmen zum Eigengesetz und Maß erhebt. Das ist verwegen, rührt aber nicht an die Gesellschaft. Es trifft zuletzt nur Boy, dem so jede Möglichkeit genommen ist, sich in die Gesellschaft zu integrieren, und damit auch Jerónimo. Die patriarchalische Geste löst nicht nur einen Teil heraus, sondern bringt sich selbst

132 zum Verschwinden. Das, was Jerónimo ausschließen will, verfolgt ihn bis zum Schluß, Teile seiner selbst.

Schluß Die chilenische Gesellschaft schleppt wie alle ehemaligen Kolonien, die Zeit der Eroberung und deren Schuldlast mit sich. Die Familie der Azcoitias, ihr Verhältnis zu ihren Bediensteten, die zum Teil von Ureinwohnern abstammen, ist typisch für den chilenischen Landadel. Der enge räumliche Kontakt, der sich u.a. von einer Haltung herleitet, die dem anderen keine Identität zugesteht, geht einher mit einer dem Mangel an Achtung entsprechenden scharfen Abgrenzung, die sich auf natürliche Überlegenheit beruft. In der Zeugung Boys wiederholt sich die Geschichte dergestalt, daß eine ursprünglich fruchtbare Beziehung, indem sie unterdrückt und geleugnet wird, sich in eine schuldhafte und daher verdrängte Abhängigkeit verwandelt. Die Oligarchie bedarf um ihrer Fortsetzung und Legitimität willen der Verbindung mit den von ihr verdrängten (einverleibten) und verachteten Teilen der Gesellschaft. Schon durch dieses Bedürfnis wird der Absolutheitsanspmch in Frage gestellt. Die Unmöglichkeit einer wirklichen Gestalt ist in der fortgesetzten Leugnung dieser Abhängigkeit begründet. Humbertos Blut rettet das Ansehen und Leben Don Jerónimos, wird von diesem aber nur als Maske angesehen und verwendet, ein für sich wertloses aber mitunter nützliches Instrument. Humberto seinerseits genießt diesen Moment des Einsseins mit Jerónimo, der einzige Moment in dem er (unter Lebensgefahr) etwas wie eine Identität besitzt, die sich allerdings gegen seine eigene Zugehörigkeit richtet; er vernichtet sich selbst. Diese Bewunderung der Oligarchie und die Identifikation mit ihr verhindert eine wirkliche Identität. Es gibt nur voneinander abhängige Einzelteile. Der Körper, der daraus entwächst ist das Monstrum Boy. Verhandelt wird hier ein Verhältnis der Abhängigkeit und Unterdrückung, es betrifft das Verhältnis der Klassen im allgemeinen, sowie das der Nachkommen von Eroberern und Ureinwohnern, und nicht zuletzt das zwischen Mann und Frau. Diese Beziehungen sind in den Räumen abgebildet. Lag die Schuld ursprünglich auf einer Seite, nämlich der des Stärkeren, so ist daraus über Jahre der äußeren Loyalität und Identifizierung eine gemeinsame geworden. Die Identität beider Seiten erstarrt in diesem durch die Macht geprägten Rahmen. Parallel dazu wächst die Abhängigkeit, denn allein die Gegenwart des Anderen rechtfertigt zuletzt dieses Dasein, in dem sich nichts mehr bewegt.

133 Bibliographie Adelstein, Miriam. 1975/76. Aislamiento y simbolismo en dos cuentos de José Donoso. In: Explicación de textos literarios IV, 2 (Sacramento): 157-160. Agüera, V.G. 1975/76. Mito y realidad en Lugar sin límites de José Donoso. In: Explicación (le textos literarios IV, 2 (Sacramento): 69-74. Bachelard. Gaston. 1975. Die Poetik des Raumes. München. Cassirer, Ernst. 1931. Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum. In: Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Stuttgart: 21-36. Conrad-Martius, H. 1953. Der Raum. München. Donoso, José. 1970. El obsceno pájaro de la noche. Barcelona. Durán, Gloria. 1976. El obsceno pájaro de la noche: La dialéctica del Chacal y el Imbunche. In: Revista Iberoamericana 42: 251-257. Gertel, Unilda. 1973. Metarmorphosis as an Metapher of the World. In: Review 73, 9: 20-23. Hassett, John. 1973. The Obscene Bird of the Night. In: Review 73, 9: 27-30. Hillebrand, Bruno. 1971. Mensch und Raum im Roman. München. Lessing, Gotthold E. 1990. Laokoon. In: ders: Werke und Briefe 5,2 (Hrsg. Wilfried Baraer). Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag: 11-321. Lipski, John M. 1976. Donoso's Obscene Bird: Novel and Antinovel. In: Latin American Literary Review IV, 9: 39-47. Martínez-Tolentino, Jaime. 1986. La familia como fuente de todo mal en El obsceno pájaro de la noche. In: Revista de crítica literaria latinoamericana 23: 73-79. Meyer, Hermann. 1957. Raumgestaltung und Raumsymbolik in der Erzählkunst. In: Studium Generale 10: 620-630.

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II

Der Andenraum

Achkee: Zu einer Erzählung mündlicher Tradition im Quechua des Callejón de Huaylas, Peru S. Hernán Aguilar

1. Transkription und Übersetzung 1. entonsishi/ sabis/ waktsa nuna waktsa warmi kanaq/ 2. entonsi/ mamaanin papaanin pacha ashiq ewkullanaq/ ari hara ashiq// 3. 4.

5.

6.

7.

8. 9. 10.

tseeshi/ wambrakuna kukureekaq diyantin/ intita eqariq hiña mallaq// entonsi/ charishqa mamaaninqa tsaqakushqa/ papaninqa tsaqakushqa/: -wambrakunaqa punuríllayashqanam-/ nir/ mallaq puru mana ima mikurishqa punukiikayaq// entonsi/ nishqa papaanin mamaanin: -wambra punurishqanam/ kamtsantsik / mechootaq kallana/ -nishqa// entonsi nillashqa wambrakuna: -tsee kuchullachoomi chullalleekallashqa/ mama-/ nillashqa// tseenash/ tsee niriptinshi/ ayi mismu kostalman winarkurnin/ apeekushqa/ hitarkushqa qaqaman// hiña qaqaman hitarkuptinnash/ mana yarqiita pwedillayanaqtsu wambrakuna// warantinshi chaanaq pichishanka/ -hurqushaq-/ nirnin/ pwedinaqtsu pichishanka// ultimush kondor chanaaq/ -hurqushaq-/ nirnin/ nirnin kondor pwedinaqtsu//

Es gab, so wird erzählt, einen armen Mann und eine arme Frau. Sie waren Eltern von zwei Kindern. Eines Tages gingen sie auf Nahrungs-, d.h. Maissuche. Es wird erzählt, daß die Kinder tagsüber fast verhungerten. Die Eltern kamen eines Tages erst sehr spät in der Nacht nach Hause und sagten: "Die Kinder sind schon eingeschlafen!" Die Kinder schliefen, ohne etwas gegessen zu haben. Die Eltern sagten sich: "Die Kinder sind schon eingeschlafen. Wollen wir jetzt unseren Mais rösten? Wo ist der Topf?" Da hörten sie plötzlich die Kinder antworten: "Der Topf ist in der Ecke, Mama." Als der [Vater?] das hörte, steckte er die Kinder in einen Sack, nahm ihn und warf ihn zwischen die Felsen. Daraus konnten die Kinder sich nicht befreien. Am nächsten Morgen, wird erzählt, kam ein Spatz an und wollte ihnen helfen. Aber es gelang ihm nicht. Danach kam ein Kondor und wollte ihnen helfen, aber auch er konnte es nicht.

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11. ultimu naq/ hurqunaq/ pichishanka/ tsee ichik kaq hurqunaq// 12. tsee pichishanka hurqurirnin/ pukallaman weeteekaqman/ atska papaman chaatsinaq// 13. -ihu keeta mikukunki/ keeta upshakuyanki/ paqtataq chayankiman achkeeman/ taqeemi taqe achkee- / nir // 14. entonsisshi wambrakuna ari ninata ashir/ mana nina kaptin/ achkeeman chakiikuyanaq pani turi// 15. entonsis chaJdikuyaptinshi achkeeqa ninaqri: -takushun kakushun-/ ninaq// 16. entonsishi ninaq / pani turi kallayaptin/: -turiikiwan nuqa punumushaq qam naqtsawan punii- / ninaqri ari// 17. tseeshi naqtsawan pununaq y tsee naqtsawan puniikuptinshi pulían paqaspash wambrash qayarinaq/ : -achachaw achachaw-/ nillaanaq// 18. tseeshi : -imanantan turillaa tiyee/ niptin- shi niq/ : -rakaami sapraami tuksin/ ninaq ari// 19. tsee niptinshi ninaq : -imanootaq tseeqa ya// 20. entonsisnash patsa waramuptin: -naqtsa naqtsa/ ninaq/ tsee wawanta// 21. tsee naqtsa niptin entonsisshi ewkunaq hara ashiq//

'Naqtsa bedeutet auf Quechua "Kamm"

Schließlich befreite der Spatz, der kleine, die Kinder und führte sie auf ein Kartoffelfeld, das gerade farbig blühte. "Meine Kinder," sagte der Spatz, "diese Kartoffeln werdet ihr verspeisen. Aber gebt acht, nähert euch nicht Achkees Haus, dort ist die Achkee." Aber die Kinder — auf der Suche nach Feuer — kamen zu Achkees Haus, weil sie kein Feuer hatten. Und als sie ankamen, sagte die Achkee: "Wir wollen uns setzen und hier Zusammensein." Und da sie Bruder und Schwester waren, sagte die Achkee zu dem Mädchen: "Ich werde mit deinem Bruder schlafen, schlafe du mit Naqtsa."1 Während das Mädchen mit Naqtsa schlief, hörte es mitten in der Nacht seinen Bruder "Achachaw!, Achachaw!" schreien. Da fragte sie die Achkee: "Tante, Tante, was ist los mit meinem Bruder?" Sie antwortete: "Mein Geschlechtsteil, meine Schamhaare, stechen ihn." Als die Achkee ihr so antwortete, sagte das Mädchen zu sich: "Was kann das wohl sein?" Am nächsten Tag, als die Sonne aufging, hörte sie, wie die Achkee ihre Tochter rief: "Naqtsa, Naqtsa."... Nachdem sie ihre Tochter gerufen hatte, ging die Achkee auf Maissuche.

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Aber vorher hatte sie ihrer Tochter befohlen: "Du wirst das Mädchen dazu bringen, Wasser kochen zu lassen. Wir werden das Wasser zum Kochen bringen, sagst du ihr, damit ich sie fressen kann." So, sagt man, veranlaßte Naqtsa das 23. tseeshi yakuta churkatsinaq aswanapa/ aswanapa tsee imeeka Mädchen, Wasser in einem großen kosas churkeekurninshi/ orukunata/ Topf aufzusetzen, und tat Dinge aus Gold, z.8. Ketten, hinein. Man sagt auch, daß die Achkee ihrer 24. tseeshi:-tseeta qawatsirüd Tochter befohlen hatte: "Du sollst das puwareekaq yakuman-/ rtinaq// Mädchen das kochende Wasser direkt anschauen lassen, und während sie das Wasser anschaut, 25. tseeshi/ tseeta qawatsir/ -tsee ruriman kaq qawarkatsirnin sikipeq stößt du sie von hinten in den Topf. So kumarkuriki kutimur mikunaapaq/ sollst du es tun, damit ich sie bei meiner Rückkehr auffressen kann. paqtataq mana rurankiman-/ Hüte dich, es anders zu machen, als ninaq // ich es dir auftrage!" Also stand Naqtsa auf und befahl dem 26. entonsisshi wambmta yakuta Mädchen, Wasser aufzusetzen. churkatsillaq shaarikurnin ruratsiq// Aber das Mädchen wußte schon Be27. tseeshi wambraqa/ sabis/ este! scheid und sagte zu Naqtsa: "Sieh du musyashqa karnin peeta ninaq: zuerst hinein, damit ich es danach tue. -qamraq puntata qawee ruriyaq nuqa qawanaapaq/ qamraq qawee Erst du!", sagte sie. nishqa-/ aril-qamraq qawee-/ nishqa// Nun, Gott wird sie wohl in Kenntnis 28. dyosnintsikchi rurarqanrill gesetzt haben. Naqtsa schaute tief in den Topf, wäh29. entonsi peeqa ari rurikama rend das Mädchen, um Gottes Hilfe qawarkushqa / naqtsaqa/ und Beistand betend, Naqtsa an den dyosnintsik qayarikushqa/ Füßen packte und ins kochende Wasser ayudakushqa/ chakipiq naqtsata stieß. quntarkushqa puwareekaq yakuman// Dann lief sie hinaus (in das andere 30. entonsisqa / wambraqa/ koorir Zimmer) und sah plötzlich die Knoqawarillan turillanpa tullullanta chen ihres Bruders eingewickelt in eine fresada wankureekaqta// Decke.

22. tseeshi yachatsinaq wawanta ... nirnin : -yakuta churkatsinki / -tsee yakuta churkushun -/ ninki/ -tsee paninta mikunaapaq//

140 31. -turillaata riyatsishaq- nirnin yeekurir nin taririn jresadachoo tullullan wankureekaqta 32. entonsi wambraqa/ mamalleeri/ turillanpa tullunta apakurkur safakushqa/ ewkullashqa/ naqtsata kumarkurnin 33. heqarishqa Inamanl anasman tsakmakiikaqman 34. heqarir: -tiyii anas achkee qatillaman/ uqllakarkallamee-/ nishqa// 35. niptinna/ entonsisna/ : -ewkamii iha-/ nishqa anasqa/ charishqa/ uqllakurkushqa// 36. y naqtsaqa/ chaakurishqa/ -atallaw/ wawaa rureekunaq-/ nirna/ tseeta mikuMikun naqtsaqa wawanta// 37. despwesnash pacha unta mikurirnan: -naqtsa naqtsa-/ nin// 38. naqtsa niptin:-toq toq-/ nin sikinchoo// 39. niptinnash mareeman ismeekur wawatuJdi wawatuMi qarqiikun y wawa tukuntsu //

Sie hatte ihren Bruder wecken wollen, aber sie fand nur die eingewickelten Knochen. Also lief sie voller Entsetzen weg und nahm die Knochen ihres Bruders mit, nachdem sie Naqtsa ins Wasser gestoßen hatte. Sie kam zum Haus des Stinktieres, das gerade mit der Vorbereitung des Feldes beschäftigt war. Sie bat es um Hilfe: "Onkel Stinktier, die Achkee verfolgt mich, versteck' mich an deiner Brust!" Darauf antwortete das Stinktier: "Komm, Tochter", und nahm sie an seine Brust. Unterdessen kam die Achkee nach Hause zurück und sagte: "Wie köstlich hat meine Tochter gekocht!"

Nachdem sie reichlich gegessen hatte, rief sie: "Naqtsa, Naqtsa!" Als sie so rief, hörte sie ein Geräusch wie tooq tooq aus ihrem Hintern. Als sie dies fühlte, entleerte sie sich neben dem Mühlstein und setzte Kot ab in Gestalt ihrer Tochter. Sie war es aber nicht. (Gelächter). 40. entonsi tseeqa safashqam/ nirnin/ Also sagte sie sich: "Diese ist weggelaufen", sprach's und setzte zu ihrer qatikur eewan// Verfolgung an. 41. heqakurin anas tsakmakiikaqman: So kam sie zum Stinktier und fand es mitten bei der Vorbereitung eines -anas/ asyaq siki, waktsa Feldes. "Du Stinktier mit dem stinkenwambraata rikamunki-/ nishqa// den Hintern", sprach sie, "hast du meine Waisentochter irgendwo hier gesehen?" 42. -nuqa rikarquu wambra waweekita "Werde ich wohl Deine Tochter gesekaraho-/ nir ishpapiikun qalinyaq hen haben, verdammt!" sagte das Stinktier, hob das Bein und pinkelte die shaakuq/ tseeyaq wambraqa Achkee an. Währenddessen entfloh das safakun// Mädchen

141 43. huk kondormanna heqarishqa, kondormanna heqarishqa: -tiyi kondor uqllakarkallamee achkeemi qatiman/ heqakiikushqa// 44. entonsisqa: -ewkamii iha-/ rikrallanman uqllakurkushqa kondorqa 45. tseeshi anaspiq sharir achkeeqa heqarishqa kondorman: -kondor usa siki rikamunki waktsa wambraata-/ nishqaII 46. kondornash brinkakurir nin: -chakwas karahul nuqa kuyidaqku kaa- shaakurir paq... heetarirl arill Whmbraqa safakushqa! 47. weechooman shukaykaqman wambraqaII 48. entonsis: -tiyii weechoo achkeemi qatillaman, uqllakarkallamee-/ 49. -ewkamii iha-l niq. 50. entonsisqa eqariql uqllakurkunll 51. heqakureqnashl taytal weechooman qayaparnin achkeeqa// 52. y entonsi achkee! wechooqa tsee tarwinna mashteekun achkeepaqqa! 53. achkeepaqqa tarwin mashteekuplinl eqakurirnin tsee weechoota tapurishqall 54. tsee wambraqa namanna safakushqa, eqakurishqall (Imanoo ninmilimanoo ninmi... tseechoomi usharishaq! makuutsu)

'Weechoo o wiychaw: Name des Vogels. 'Hier unterbricht die Erzählerin ihre Geschichte.

und kam zum Kondor und sprach: "Onkel Kondor, versteck'mich an deiner Brust! die Achkee ist hinter mir her." Und so floh sie an seine Brust. Der Kondor sprach: "Komm, Tochter!", und versteckte sie unter seinen Flügeln. Die Achkee ging vom Haus des Stinktieres weg und kam zum Kondor: "Kondor mit dem verlausten Hintern, hast du meine Waisentochter gesehen?" Darauf antwortete der Kondor hüpfend: "Verflixte Alte, bin ich vielleicht ihr Kindermädchen?" Und — paff — gab er ihr einen Tritt, während das Mädchen entfloh. So kam es zum Weechoo,2 der gerade pfiff. Sie sprach zu ihm: "Onkel Weechoo, die Achkee ist mir auf den Fersen, versteck' mich an deiner Brust!" "Komm, Tochter!", antwortete er, und gab ihr an seiner Brust Unterschlupf. Währenddessen kam die Achkee, Beleidigungen ausstoßend, zum Haus des Weechoo. Dieser warf mit Lupinensamen nach ihr. Während er sie mit Lupinensamen bewarf, fragte die Achkee ihn nach der Tochter. Da floh die Tochter, ich weiß nicht mehr, wohin.3

142 55. weechoqa nishqa: -hatun pampaman/ qutuman heqanki iha/ ewkii-/ 56. hatun qutuman heqarir ninki: -tayta Dyos/ tayta Dyos/ kadinallaa/ kadina-kanastallaa kacheekallamee-/ nirnin qayakullanki// 57. niptinshi wambraqa eeqikullarnin: -tayta Dyos/ tayta Dyos/ kadina-kanastallaa kacharkamii-/ nishqa// 58. entonsis tayta Dyosnintsik kacharkamushqa wambrapa kadina-kanastan/ 59. ewkiikashqa ari kadina-kanasta winarkushqa/ weerinkeepa weerinkar/ 60. y heqakurin achkeeqa ari: -Dyos/ Dyos/ noqallapaqpis-/ niptin// 61. entonsis achkeepaq kacharkamushqa kadiina- kanastan ishkee raton ukushnintawan// 62. entonsiqa paqwee ewkiikashqa: -kanan taripaami-/ nirnin/ achkeeqa ari/ qepanta// 63. wambrata keenoo achkuqyeekashqa/ kadiina-kanastawan/ watun rachikaramushqa ari// 64. Y: -kadiina-kanastaa rachiikamunkiman-.../Na ukushna nin:-

Der Weechoo hatte dem Mädchen gesagt: "Du wirst an einen Hügel kommen, an eine Ebene, mach* dich auf den Weg, Tochter!" Wenn du an den Hügel kommst, wirst du rufen: "Herrgott, Herrgott, schick' mir einen Korb mit einer Kette daran!" So rief das Mädchen, als es dort ankam: "Herrgott, Hengott, schick' mir einen Korb mit einer Kette daran!" Unser Gott schickte ihr den Korb mit Kette. Sie stieg in den Korb, stieg nach oben und balancierte darin wie in einer Weerinka.4 Als die Achkee ankam, sprach sie: "Gott, Gott, schick' auch mir einen Korb!" Gott schickte ihr also auch einen Korb mit Kette und zwei Mäuse. Sie folgte dem Mädchen mit den Worten: "Gleich hab' ich sie." Und als sie das Mädchen fest eingeholt hatte, riß die Kette des Korbes. (Vorher hatte sie den Mäusen eingeschärft): "Ihr werdet meinen Korb aber nicht zernagen. "Die Mäuse hatten ihr geantwortet:

'Weerinka (Wayrinka): flacher Hängekorb, in dem Lebensmittel vor Mäusen geschützt aufbewahrt werden.

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"Verdammt, Alte, wir essen ange65. -awlaapa rupa mishtintam/ brannten Mishti5 unserer Großmutter." chakwas harahu-...// So konnte die Achkee das Midchen 66. enlonsisqa ari achkushqanatsu/ nicht einfangen. Die Mäuse hatten die kadiina-kanasta ukush qapchurishqa y heqakarkamushqa/ Kette des Korbes zerstört und die Achkee fiel schreiend von oben herkutikarkamushqa: -oqullaman/ unter: "Auf einen weichen Ort, eine pampallaman-/ nir ewkamushqa// Ebene will ich fallen." Sie fiel aber auf einen gespaltenen 67. hatun tsiqtarumiman ishkiikunaq/ Stein und wurde selbst in zwei Teile ishkeeman partikurinaq// gespalten. Schließlich, als das Mädchen bei Gott 68. tsee wambra charir ninaq/ ari ankam, sprach dieser: "Jetzt wirst du Dyosnintsik/: -bwenu/ kartanmi hierbleiben und wir werden deinen keechoo kanki y kananmi turiikita Bruder aufs Neue zum Leben erwecformashun/ ninaq arili ken." Um ihn zu formen tat er die Knochen 69. tsee turinta formananpaq hatun ihres Bruders in einen großen Topf, aswanaman llawinaql turinpa und zwar so einen, wie man ihn für die tullunta/ Chicha verwendet. Und schließlich sagte er zu ihr: "Toch70. tseeshi ninaq: -ama iha rikankitsu ter, du darfst aber nicht gucken, was in turiikì kuti- [...]formakiikaqmanl dem Topf passiert." Mit diesen Worten nirnin aswanaman llawinaql tat er die Knochen ihres Bruders in turinpa tullunta winanaqll den Topf. So hatte unser Gott ihr es eingeschärft, 71. entonsis Dyosnintsik nillaanaql denn er mußte weggehen. yarqurqanchi! Sie aber, neugierig wie sie war, rannte 72. entonsis peeqa musyacha karninl und sah, wie sich die Taille des Brukoorrikurnin turinta qaweekunaq nanfa tseqllan watakiikaqtal tseeshi ders zusammensetzte, aber plötzlich fielen die Knochen zu einem Häufchen qotukurinaq tsee tullunll zusammen. Und schließlich kam ein verstümmeltes 73. entonsisshi yarqapullanaq mutu Schaf heraus. uushanllanall

'Mishti: dunkles Mischbrot, das die Landbevölkerung verzehrt, im Gegensatz zum Weißbrot, das von der städtischen Bevölkerung bevorzugt wird.

144 74. entonsis Dyosninísik/ huk kashmi allqu/ huk mutu uusha// 75. entonsis Dyosnintsik charir kicharishqa/ mutu uushataqa kee mutu/ allquta/ huk kashmi allquta/ huk mutu uushallanta tarinaq/ 76. tseeshi piñapaanaq: -imanirnintan kicharkunki turiikiwan kutimuqta [?] 77. tseeshi kutiriikatsillanaq/ turinta perdinaqna ari/ kutiratsimunaq huk uushantawan/ huk kashmi allquntawan// 78. yaa/ tseenoollam// Huk uushantawan huk kashmi allquntawan//

Es kamen ein verstümmeltes Schaf und ein Schoßhündchen heraus. Als Gott nach Hause kam, lüftete er den Deckel und fand ein verstümmeltes Schaf und ein Schoßhündchen. Er erboste sich und sprach: "Warum hast du dies hier, woraus dein Bruderwiederentstehen sollte, geöffnet? So verlor das Midchen seinen Bruder. Gott schickte es zur Eide zurück mit seinem Schaf und seinem Schoßhündchen. Genauso, mit Schaf und Schoßhündchen.

1.1. Publizierte Fassungen Die ersten Fassungen der Geschichte Achkee wurden zu Anfang der dreißiger Jahre publiziert, wie z. B. die Version von Javier Pulgar Vidal (1933) und von Toribio Mejfa Xesspe (1934). Später nahmen José María Aiguedas und Francisco Izquierdo Ríos (1947) eine Version in ihr Buch Mitos, Leyendas y Cuentos Peruanos auf.6 Auf diese Versionen folgten noch einige andere Veröffentlichungen (Pantoja Ramos et al. 1974), unter denen die Fassung von Rosaleen Howard-Malverde (1984) aus dem Alto Marañon erwähnenswert ist (Pariarca, Huánuco, Peru).

1.2. Interpretationen Diese Erzählung ist auf verschiedene Arten interpretiert worden. Ortiz Rescaniere (1973, 50-59) übernimmt und interpretiert in seinem Buch De Adaneva a Inkarrt im Kapitel "El hambre de la tierra y la indiferencia del dios celeste" die bereits zitierte Version von Aiguedas und Izquierdo Ríos. Ortiz bringt die Figur der Achkee in Verbindung mit Whqon und zeigt, daß es sich um Figuren handelt, die im Zusammenhang mit der Vergangenheit und der Nacht stehen. Für ihn bedeutet der Mythos der Achkee Kinderopfer, die die Fruchtbarkeit der Erde bewirken sollen.

'Wir verwenden die zweite Auflage dieses Buches, erschienen 1970.

145 Roswith Hartmann (1984) beschäftigt sich ebenfalls mit der Figur der Achkee. Dabei entdeckt sie den ätiologischen Charakter der Mehrheit der bis heute gesammelten Fassungen und führt die Hypothese von einer möglichen Rezeption und Umformung des europäischen Märchens von Hansel und Gretel ein. Andererseits untersucht sie, wie weit diese Figur sich verbreitet hat. Dazu vergleicht sie die Figur Achikees mit den Figuren von Mama Huaca und Chificha, die im Süden bzw. im Norden Ecuadors verbreitet sind. Obwohl sie deutlich macht, daß die Verwandtschaft zwischen Chificha und Achkee auf der Erklärung des Ursprungs gewisser Pflanzen und Tiere basiert und die Verwandtschaft zwischen Achkee und Mama Huaca in den Elementen des Reichtums und Kinderopfers zum Ausdruck kommt, erkennt sie doch an, daß die Unterschiede zwischen diesen Figuren sehr groß sind. Roswith Hartmann interpretiert die Figur der Achkee letztlich als Ausdruck der Sterilität und der Übel der Welt. Eine letzte Veröffentlichung ist die Arbeit von Rosaleen Howard-Malverde von 1986. Diese Forscherin hat mit verschiedenen Achkee-Versionen gearbeitet, die sie in San Pedro de Pariarca gesammelt hat. Ihre Methodik erweist sich als nützlich, wenn sie zwischen "Variante" und "Version" unterscheidet, sowie zwischen regionaler, lokaler und persönlicher Variante. Diese letzte Unterscheidung erlaubt ihr, zwischen einer primären Bedeutung der Figur der Achkee und einer sekundären im täglichen Leben bestimmter Personen an einem bestimmten Ort gebrauchten zu unterscheiden. Diese Differenzierung führt sie dazu, das Phänomen zu beschreiben, das wir als Refunktionalisierung bezeichnen und auf diesen typ der Erzählungen anwenden, zu dem die Erzählung von Achkee gehört (vgl. Aguilar 1990). Ebenso ist ihre Vorgehensweise beim Vergleich der fünf Versionen, die sie abgrenzen kann, von Interesse. Obwohl sie nicht die Betrachtungsweise der kanonischen Erzählung benutzt, von der aus die verschiedenen RefunktionalisieruQgen möglich sind, scheint ihre Erzählfolge, die die verschiedenen Varianten einschließt, doch in diese Richtung zu gehen. Ausgehend von den kulinarischen, topographischen und botanischen Hinweisen der Erzählung von Achkee legt sie dar, was sie als primäre Bedeutung dieser Figur bezeichnet. Demnach handelt es sich um eine Figur, die sowohl im Hinblick auf Eßkultur (z.B. wie Speisen zuzubereiten sind) als auch auf die Pflanzenwelt (Disteln, Stacheln oder Heilpflanzen gegen Krankheiten, die auf Hexerei zurückgeführt werden) das idealtypisch "Asoziale" einer Dorfgemeinschaft repräsentiert. Die sekundäre Bedeutung wird aus dieser primären, die wir gerade erläutert haben, abgeleitet. Es handelt sich um eine Anwendung der Bedeutung von "asozial" auf das tägliche Leben (z.B. bei Familien- und Rechtsstreitigkeiten usw.).

1.3. Unsere Methode Im Unterschied zu den vorgestellten Arbeiten und Interpretationen, zu denen die Autoren mit ihrer Methodik gelangt sind, gehen wir in unserer Analyse nicht von

146 einer verallgemeinerten Figur der Achkee aus, sondern von deijenigen Figur, die im Zusammenhang mit der obenstehenden Erzählung dargestellt wird. Dies unterstreicht das erzählerische Element und seine Funktionen innerhalb eines mehr oder weniger geschlossenen Kommunikationssystems. In diesem Sinne ist es für uns wichtig, zu analysieren, wie die Erzählung aufgebaut ist, wie sie erzählt wird, an wen sie sich richtet und welche Funktionen diese Erzählung innerhalb der Zuhörerschaft besitzt. Die vorliegende Studie geht nur von einer bestimmten, jedoch sehr "typischen" und repräsentativen Fassung der Erzählung von Achkee aus; deshalb war es nicht möglich, eine kanonische Form dieser Geschichte für die betreffende Region zu präsentieren und die verschiedenen Refunktionalisierungen aufzuzeigen. Dies erklärt, weshalb die Passagen, die den Ursprung einiger Pflanzen oder Elemente der Natur schildern, nicht wie in den vorher genannten Fassungen erscheinen, und daß einige Passagen auftauchen, die in den bereits aufgenommenen nicht vorhanden sind.

2. Die hier analysierte Fassung Die Fassung der Erzählung von der Achkee, die hier vorgestellt wird, wurde in der Provinz Huaylas (Departament Ancash, Peru) zwischen 1985 und 1986 von Frau Victoria Aguilar aufgenommen. Die Erzählerin ist eine junge Frau aus dem ländlichen Gebiet von Caraz,7 die diese Geschichte auf Wunsch von Frau Aguilar in Anwesenheit von anderen Frauen, die sich in ihrem Haus aufhielten, erzählte.8 Diese Frauen kontrollierten den Fortgang der Erzählung, indem sie das ein oder andere Mal eingriffen um die Erzählung zu unterstützen oder einige Sequenzen vorwegzunehmen. Die Version wird ohne größere Pausen bis zur Einheit 54 erzählt, wo eine plötzliche Unterbrechung einsetzt, weil die Erzählerin sagt, sie habe vergessen, wie die Geschichte weitergehe. Frau Aguilar unterbricht hier die Tonbandaufnahme und setzt sie dann mit derselben Införmantin fort, die nun die Geschichte ohne größere Pausen zu Ende erzählt. Die Informantin benutzt zu Beginn jeder Sequenz das temporale Adverb "entonces", was uns erlaubt, die Geschichte in Einheiten zu zerlegen. Die Erzählung besteht somit aus 78 Einheiten. Weiterhin werden einige typische Ressourcen des mündlichen Erzählens, z.B. Imitieren von Stimmen und Lautmalerei, benutzt.®

'Caraz ist die Hauptstadt der Provinz Huaylas, gelegen auf ca. 2300 Metern über dem Meeresspiegel. Die Bevölkerung ist zweisprachig (Quechua und Spanisch). 'Diese Geschichte wird traditionsgemäß nur von Frauen und unter Frauen erzählt. Vgl. auch zu diesem Aspekt der Erzählsituation und des Umfeldes der Erzähler Hcward-Malverde 1984, 8. 'Das ist der Fall, wenn die Erzählerin die Stimme der Kinder oder der Tiere oder das Geräusch der Blähungen nachahmt.

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3. Die Erzählstrukturen Bei der ersten Lektüre der Erzählung stellt man das Vorhandensein dreier großer Erzählsequenzen fest. Die erste gehört zu den Figuren der Eltern und zu den Hauptakteuren der Erzählung, den Kindern; die zweite Sequenz dreht sich um die Gestalt der Achkee; die dritte stellt den Versuch der Schwester dar, ihren toten Bruder ins Leben zurückzuholen. Diese drei großen Sequenzen stellen jede für sich eine Einheit dar, wobei die Überleitung von einer Sequenz zur anderen bereits geschieht, bevor die vorangehende Sequenz vollständig zu Ende gebracht ist. Interessant ist, daß die Hauptperson dieser Erzählung nicht, wie der Name suggeriert, die Figur der Achkee ist, sondern das Mädchen. Diese Tatsache weist uns auf die mögliche Bedeutung und den möglichen Adressaten dieser Erzählung hin.

3.1. Die erste Sequenz: Die Eltern, die Kinder und der Hunger Bei genauerer Lektüre enthalten diese drei Hauptsequenzen parallele und einander entgegensetzte Untersequenzen.10 In der ersten großen Sequenz, die das Verhältnis Eltern-Kinder beleuchtet, werden einerseits die hungerleidenden Eltern, die, um sich selbst vom wenigen Mais ernähren zu können, sich ihrer Kinder entledigen, vorgestellt. Die Eltern haben nur deshalb zu essen, weil sie ihre Kinder in einem Sack zwischen die Felsen werfen. Andererseits wird den Kindern, ebenso von extremem Hunger geplagt und getrennt von ihren Eltern, von einigen Tieren geholfen, sich aus dem Sack, in dem sie gefangen waren, zu befreien, und zu einem Kartoffelfeld zu gelangen. Auf der Suche nach Feuer können sie, da sie den Rat, dem Haus der Achkee fem zu bleiben, nicht beachten, ihren Hunger nicht stillen. Diese Sequenz bleibt in gewisser Weise unabgeschlossen, doch wird damit die zweite große Sequenz eingeleitet.

3.2. Die zweite Sequenz: Achkee, die Kinder und die Todesgefahr Diese zweite Sequenz setzt sich aus sechs Untersequenzen zusammen. Die erste erzählt, wie Achkee, als die Kinder in ihrem Haus sind, den Bruder des Mädchens vergewaltigt und verschlingt. Diese Stelle enthält Elemente, die auf Sexualität anspielen (rakaami sapraami tuksin: meine Schamhaare stechen ihn). Femer weisen sie auf eine, in dieser Fassung aber nicht enthaltene Szene, die eine sexuelle Beziehung zwischen der Tochter Achkees (Naqtsa) und dem Mädchen andeutet, hin.

10 Wir verstehen unter Subsequenz einen Handlungsabschnitt, der gekennzeichnet ist durch ein Subjekt mit einem eindeutigen Plan, der verwirklicht werden soll.

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{Naqtsa bedeutet "Kamm"; Assoziationen von Kamm über Haar zu Schamhaar, hier dem der Mutter, sind möglich).11 Eine zweite Subsequenz erzählt wie Achkee mit Hilfe ihrer Tochter (diese erweist sich als unzureichend) versucht, das Mädchen zum kannibalischen Mahl vorzubereiten. Diese Vorbereitung spielt — wie das Feuer auf die erste Sequenz mit den Kartoffeln hindeutet — auf die notwendige Verwandlung des Rohen zum Gekochten an. Dieser Versuch scheitert und die Subsequenz wird nicht zu Ende geführt. Die dritte Subsequenz stellt das Mädchen im Haus der Achkee amfolgendenTag auf der Suche nach seinem Bruder dar. Ihn zurückzugewinnen bedeutet sich Naqtsas zu entledigen. Ihr gelingt dies, weil sie die Hilfe Gottes erhält, der ihr die drohende Gefahr enthüllt. Diese Erzählpassage führt das Thema des Lernens oder den Verlust der Unschuld ein. Naqtsa fällt in den Topf und wird gekocht. Das Mädchen erhält ihren Bruder nicht zurück, sondern nur seine Knochen: diese Subsequenz bleibt vorerst unvollendet und wird am Ende der Erzählung wieder aufgegriffen. Eine vierte Subsequenz berichtet, wie Achkee, erneut in ihrem Haus, glaubt, ihr Ziel (die Subsequenz zwei) zu Ende zu führen, indem sie das Mädchen verzehrt. Ihren Irrtum — sie hat nicht das Mädchen, sondern die eigene Tochter verzehrt — zeigen die folgenden Passagen. Achkee versucht durch Dannentleerung ihre Tochter wiederzuerlangen. Der Versuch allerdings bleibt ohne Erfolg. Die fünfte Subsequenz erzählt die Verfolgung des Mädchens durch Achkee. Diese Episode, die mit dem Versuch endet, das Mädchen einzufangen, kommt nicht zu Ende, da verschiedene Figuren auftauchen, die sich Achkee widersetzen; schließlich hat Achkee nicht nur keinen Erfolg, sondern geht auch zugrunde. Die sechste Subsequenz stellt die Flucht des Mädchens dar. Sie endet erfolgreich, weil das Mädchen die Hilfe und den Schutz der Figuren erhält, die sich Achkee entgegenstellen: das Stinktier, der Kondor, der Ykechoo und Gott greifen helfend ein.

3.3. Die dritte Sequenz: Das Mädchen, Gott und der Versuch, den Bruder zurückzuerhalten Diese dritte große Sequenz enthält keine Subsequenzen und beginnt, als Achkee schon tot ist und sich das Mädchen gerettet im Himmel befindet. Es möchte seinen Bruder aus dessen Knochen wiedererhalten. Dies wird ermöglicht durch die Hilfe Gottes. Er verbietet ihm allerdings, den großen Topf aufzudecken, in dem er, um den Bruder wiederzubeleben, die Knochen gefüllt hat. Dieser Prozeß wird von der Schwester, die das Verbot mißachtet unterbrochen; aus den Knochen des Bruders entsteht ein

"Das sexuelle Element, das in fast allen Fassungen auftaucht, die wir gesichtet haben (cf. oben 1.1), wurde in den Studien, die sich mit dieser Erzählung befassen, nicht wahlgenommen. In einigen Fassungen taucht das sexuelle Element in versteckter Form, nämlich verkörpert durch Läuse und Flöhe suf (cf. Gutmann 1989).

149 verstümmeltes Schaf und ein Schoßhündchen. Die Sequenz endet mit der Rückkehr des Mädchens auf die Eide in Gesellschaft des verstümmelten Schafes und des Schoßhündchens.

3.4. Vom Hunger, Essen, Ungehorsam und Lernen Bei der Lektüre dieser Version der Erzählung Achkee, die wir vorstellen, lassen sich drei Hauptthemen ausmachen. Das erste zieht sich durch die drei großen Sequenzen und ist vielleicht das dominierende: es handelt sich um das Thema des Hungers und des Essens. In der ersten Sequenz sehen wir, daß die Eltern ebenso wie die Kinder von Hunger geplagt sind: man redet vom Mais, dem Röster, den Kartoffeln und der notwendigen Feuerstelle. In der zweiten Sequenz hat Achkee Hunger, sie verzehrt den Bruder und befiehlt, die Schwester in einem Topf zu kochen, um sie zu verzehren. In der dritten Sequenz könnte das Mädchen den Bruder — offenbar roh — zurückgewinnen, indem sie die Knochen, in einen großen Topf gibt und sich "zusammensetzen", also kochen läßt. Andererseits ist klarzustellen, daß es sich um einen Prozeß handelt, der vom Hunger zum Überfluß führt: auf den Mangel, ausgedrückt durch den Mangel an Mais, folgt der Überfluß in Gestalt eines blühenden Kartoffelfeldes; auf das Fehlen von Nahrungsmitteln im Haus von Achkee (diese verläßt das Haus auf der Suche nach Mais) folgt die Erwähnung des Korbes, mit dem man in den Himmel aufsteigt, und der sich als weerinka oder Speisebehälter präsentiert.12 Der zweite thematische Schwerpunkt handelt vom Ungehorsam. Dieser erscheint zweimal: zum ersten Mal, als die Kinder nicht auf die Mahnung des Spätres, sich nicht dem Haus Achkees zu nähren, hören; auf der Suche nach Feuer für die Zubereitung ihrer Kartoffeln kommen sie nicht zum Essen und geraten in eine neue gerfährliche Lage. Der zweite Ungehorsam führt dazu, daß die Wiedererlangung des toten Bruders aufgehalten wird und schließlich scheitert: das Mädchen mißachtet den Befehl Gottes, den Deckel nicht zu lüften. So tritt auch in dieser Sequenz die Erfüllung des Wunsches nicht ein.13 Der dritte thematische Schwerpunkt bezieht sich auf den Prozeß des Lernens, der dieser Erzählung zu unterliegen scheint. Die Kinder, insbesondere das Mädchen, werden mehreren Proben unterzogen, mit denen sie fertig werden müssen. Das Mädchen geht mehr oder weniger gestärkt aus diesen Prüfungen hervor, aber erreicht es nicht, in ihnen zu triumphieren, weil es auf einige Weisungen nicht hört. Dieses Thema im Zusammenhang mit dem vorangehenden erlaubt uns, die pädagogische Funktion dieser Erzählung zu interpretieren und die möglichen kindlichen Adressaten

"Dieses Thema wurde in allen Studien, Die sich mit der Achkee befassen, aufgegriffen, da es besonder naheliegend ist. Die Anspielung auf den Übergang von den rohen in den gekochten Zustand sind nur von Howard-Malverde 1986, 20 wahlgenommen worden. "Das Thema des Ungehorsams erscheint in den meisten Abhandlungen nicht.

150 zu identifizieren. Das Thema erscheint verstärkt, wenn man sich an die Subsequenz erinnert, in der das Mädchen sich fragt: Imanootaq tsee ya? Was hat das wohl zu bedeuten?, was sowohl ihre Unschuld zum Ausdruck bringt, als auch ihre Unkenntnis dessen, was Achkee im Schilde führt: tseeshi wambraqa [...] musyashqa karnin (aber sie, wie wußte sie das).14

3.5. Das Thema der sexuellen Gewalt Die Version, die wir analysieren, zeigt, überlagert vom Thema des Verschlingens des Bruders, das Problem der sexuellen Gewalt. Sie erzählt, wie Achkee mit dem Kind schläft und wie dieses mitten in der Nacht klagt. Als das Mädchen die Klagen des Bruders hört, fragt es, das bei Naqtsa schläft, Achkee was dort vorgehe; diese antwortet, es seien ihre Schamhaare, die ihn stächen. Die Schamhaare deuten die sexuelle Beziehung an, das Verb "stechen" die Gewaltsamkeit dieser sexuellen Beziehung. Gleichzeitig läßt sich in dieser Fassung eine versteckte Anspielung auf eine gewaltsame sexuelle Beziehung zwischen dem Mädchen und Naqtsa, die zusammen in einem anderen Bett schlafen, sehen. Wie bereits feststellt, bedeudet Naqtsa "Kamm", d.h. ein Instrument zum Ordnen des Haares. An diesem Punkt kann man einen Zusammenhang sehen zwischen den Schamhaaren der Achkee und der im Wort "Kamm" enthaltenen Assoziation von Haar. Es ist aber auch möglich die Härte der stechenden Schamhaare Achkees mit der Härte des Kammes Naqtsa, der ebenfalls stechen kann, in Verbindung zu bringen.15 Wir haben bereits erwähnt, daß im Zusammenhang mit diesen Szenen der Vergewaltigung der Lernprozeß des Mädchens erscheint. Es weiß zunächst nicht worum es sich handet, erlangt aber nun eine gewisse Aufklärung. Es ist notwendig, darauf hinzuweisen, daß innerhalb des Themenkreises 'Hunger-Essen* auch sexuelle "Hunger" eingeschloßen ist. Essen und Verschlingen spielen auch auf die sexuelle Gewalt, was die Situation der Gefähr verstärkt, in der sich das Mädchen befindet, und in der Folge davon auf die pädagogische Bedeutung der Erzählung an. In diesem Zusammenhang haben einige Untersuchungen, die sich mit der Figur der Achkee beschäftigen, auf die Figur der "Mama Huaca tortillera" hingewiessen (das Wort "tortillera" steht hier für lesbische Orientierung).16

"Dieses Thema erscheint anscheinend nur in der von uns analysierten Fassung. "Zum Thema des Haares und der Anspielung auf die sexuelle Vergewaltigung vgl. Hartmann 1984, 650, die diese Figur Tinshi benennt ohne Bezug zur Sexualität herzustellen. "Hartmann 1984, 654. Hier scheint die Autorin ebenfalls nicht die Anspielung auf eine lesbische Beziehung gesehen zu haben.

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4. Räumliche und zeitliche Struktur der Erzählung Die hier untersuchte Fassung weist eine räumliche und zeitliche Struktur auf, die die Behandlung der oben aufgezeigten Themen untermauert.

4.1 Die Räume Um die Räume zu analysieren sind wir so vorgegangen, daß wir die Wörter und Ausdrücke, die einheigehen mit den suffigierten räumlichen Indikatoren im Quechua (von Ancash): -man und -choo, markierten. So erhielten wir den Raum der hungrigen Eltern, des Felsens, des blühenden Kartoffelfeldes; den Raum der Achkee und ihr Haus; den entsprechenden Raum des Stinktieres, des Kondors, des Wkechoo, die Ebenen und die Hügelkette, in denen Gott den Korb herabläßt und den Raum des "oben", in dem sich Gott befindet. Ein zweiter Schritt bestand darin, die in dieser Version der Erzählung vorgestellten Räume zu ordnen und zwar auf der Basis der in der Erzählung vorgestellten Themen. So haben wir die Kategorien "Waisenstand" und "Schutz" als Ordnungsprinzipien verwandt. Die Kategorie "Waisenstand" wird von der Erzählung ohne größere Probleme in der Sequenz gegeben, in der die Eltern ihre Kinder aussetzen. Die Kategorie "Schutz" entnehmen wir unserer Analyse und den Funktionen der Helfer, die die agierenden Figuren übernehmen. Die vorliegende Version benutzt das Wort oqlla (schützende Brust), um zum Ausdruck zu bringen, was das Mädchen von diesen Figuren benötigt. Wir haben diese beiden Kombinationen in der Kategorie "Schutz" zusammengefaßt. In unserer räumlichen Ordnung gehen die Kinder von einer idealen Situation, in der ihre Eltern sie beschützen, aus. Diese Situation ist bereits zu Anfang der Erzählung nicht mehr gegeben. Die Eltern entledigen sich ihrer Kinder und diese werden in den Waisenstand versetzt. Diese Situation ist jedoch gemildert durch Schutzhandlungen seitens bestimmter Figuren, Tiere oder Gottes. Unter Verwendung des Schemas der Wahrscheinlichkeit, das wir imfolgendenangewandt auf diese beiden Kategorien vorstellen, scheint es uns erlaubt, die folgenden Räume zu unterscheiden: den Raum der Sicherheit, den Raum der Hungersnot, den Raum der Sterblichkeit und den Raum der Flucht. a) Raum der Sicherheit. Dies ist der Raum einer idealen Situation, die in der Erzählung nicht vorkommt, die man jedoch annehmen muß. Die Kinder befinden sich hier zusammen mit ihren Eltern und genießen ihren Schutz (Schutz + Nicht-Wiisenstand). b) Raum der Hungersnot: der Raum, in dem die Situation der Sicherheit auf Grund des Einbruchs des extremen Hungers verschwunden ist. Die Kinder sind mit ihren

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Eltern vereint, diese aber kümmern sich nicht mehr um sie. Die Erzählung beginnt mit diesem Raum (Nicht-Wbisenstand + NichtSchutz). c) Raum des Tödlichen: der Raum, in dem die Kinder in Lebensgefahr sind. Dies ist der Raum, der durch die Abwesenheit der Eltern und jeglichen Schutzes charakterisiert ist (Waisenstand + NichtSchutz). d) Raum der Flucht: der Raum, in dem die Kinder versuchen, der Gefähr zu entkommen. Hier empfangen sie die Hilfe anderer Figuren, um zu entkommen. In diesem Raum befinden sich die Kinder ohne Eltern, aber die Fürsorge, die sie erhalten müßten, wird teilweise ersetzt durch die Fürsorge anderer (Waisenstand + Schutz). Raum der Flucht Schutz

Waisenstand

Raum der Sicherheit

Raum des Tödlichen

NichtWaisenstand

NichtSchutz Raum der Hungersnot

Zu jedem dieser Räume gehören bestimmte Figuren. Zum ersten die idealen Eltern; zum zweiten die Eltern in Hungersnot; zum dritten die Achkee und Naqtsa\ zum vierten der Spatz, das Stinktier, der Kondor, der Vkechoo und Gott. Es ist interessant, aufzuzeigen, daß die Erzählung nicht mit dem Raum der idealen Eltern endet. Dies geschieht in verbreiteten Fassungen von 'Hänsel und Gretel', einem Märchen, das von einigen Autoren mit der Erzählung von Achkee in Verbindung gebracht wird. Wie ersichtlich ist, betont unsere Analyse das Thema der Verfolgung und den Charakter des Lernens in dem Maß, in dem die Kinder mit verschiedenen Hindernissen konfrontiert sind, die sie überwinden müssen.17

"Hcward-Malverde 1986, 23-28 beschränkt sich darauf, eine Analyse der Räume in Bezug auf die topographischen Aufgaben durchzuführen, die ihre Fassungen anbieten, aber sie führt keine Analyse der inneren Räume der Erzählung und ihrer Bedeutung durch.

153 4.2. Die Zeiten Bezüglich der Zeit sind wir an erster Stelle so vorgegangen, daß wir die Gesamtdauer der Sequenzen präzisiert haben. Die erste beginnt mit dem ersten Tag und der ersten Nacht, in der die Situation der Hungersnot beschrieben wird und die Kinder weit weg von ihrem Zuhause zwischen die Felsen geworfen werden. Der zweite Tag ist charakterisiert durch die Hilfe des kleinen Spatzen, der den Kindern hilft, aus den Felsen zu gelangen und durch den Zutritt zum blühenden Kartoffelacker. Die zweite Nacht zeigt die Kinder bereits im Haus der Achkee: der Junge wird vergewaltigt und getötet, das Mädchen schwebt in Gefahr. Der dritte Tag zeigt das Lernen des Mädchens, die Handlungen, die sie unternimmt, um sich gegen Achkee zu verteidigen, und seine Flucht, ferner die Verfolgung durch Achkee und deren Tod. Die Erzählung nennt nicht ausdrücklich eine dritte Nacht und einen vierten Tag. Demzufolge scheint die letzte große Sequenz der mißglückten Wiedererlangung des Bruders ebenfalls am dritten Tag stattzufinden. Diese erste Festlegung des Zeitraumes kann präzisiert werden, wenn man Hinweise aufgreift, die über den landwirtschaftlichen Zyklus Aufschluß geben. Die Erzählung stellt anfangs eine Hungersnot, gefolgt von einer Situation der Überflusses (das blühende Kartoffelfeld), eine neue Hungersnot, auf die wiederum Uberfluß folgt (Korb, weerinka), dar. Einige Angaben wie die Sequenz, in der das Stinktier, beschäftigt mit der "Chakma" (Vorbereiten des Feldes zur Aussaat) auftaucht, zeigen das unmittelbare Vorausgehen der Regenzeit an und deuten auf die Aussaat hin. Wenn man diese Angabe im Zusammenhang mit dem Kartoffelfeld in Blüte betrachtet, sieht man, daß die Erzählung sowohl die Zeit der Aussaat als auch der Ernte umfaßt. Die Metapher des schaukelnden Korbes, als sei er eine weerinka, suggeriert einen Moment der Fülle im Gegensatz zum Mangel, der zweimal in der Erzählung zum Ausdruck kommt, wenn zunächst die Eltern und später Achkee auf Maissuche gehen müssen (da kein Mais als Vorrat im Haus vorhanden ist). Gleichermaßen führt die Anspielung auf die Regenzeit, implizit in der Sequenz des Stinktieres enthalten, zur Annahme einer vorausgegangenen oder nachfolgenden Trockenzeit. Dies erlaubt eine Bestimmung der Monate, in denen die verschiedenen Sequenzen der Erzählung stattfinden. Wenn wir dies alles in einem Schema auszudrücken versuchen, stellt sich dies wie folgt dar:

154 1. Erste Nacht

Hungersnot Mangel an Mais Mangel an Vorräten

Aussaat Regenzeit

Oktober bis März

2. Zweiter Tag

Überfluß Kartoffelfeld Vorratshaltung

Ernte Trockenzeit

April bis September

3. Zweite Nacht

Hungersnot Mangel an Mais Mangel an Vorräten

Aussaat Regenzeit

Oktober bis März

4. Dritter Tag

Überfluß weerinka Vorratshaltung

Ernte Trockenzeit

April bis September'.18

Bei Betrachtung dieses Schemas stellen wir fest, daß die Erzählung nicht bloß einfach innerhalb von drei Tagen abläuft, sondern zwei landwirtschaftliche Zyklen umfaßt. Es stellt sich hier die Frage, warum die Erzählung nicht einen, sondern zwei landwirtschaftliche Zyklen beinhaltet. Die Antwort auf diese Frage bietet die Erzählung selbst an, wenn in der ersten Sequenz, als die Kinder über längere Zeit hungern, der Ausdruck diyantin eingeführt wird. Dieser Ausdruck bedeutet in diesem Zusammenhang eine Handlung oder Situation, die sich von einem zum anderen Tag wiederholt. Eine mögliche Ubersetzung dieses Begriffes könnte z.B. sein: "Tag für Tag", indem nämlich die Bedeutung den zyklischen und sich wiederholenden Charakter der Handlung oder in diesem Fall der Situation des Wechsels von Hunger und Überfluß betont. So scheint der zyklische Charakter, wie er in diesem Begriff zum Ausdruck kommt, sich auf die gesamte Erzählung und auf ihre Organisation der Zeit auszudehnen. Mit anderen Worten: die Zyklen von Hungersnot und Überfluß wiederholen sich immer wiederkehrend wie das Aufeinanderfolgen der Jahreszeiten. Diese Interpretation des Zeitbegriffes bezogen auf das Thema des Lernens, die die Erzählung einschließt und die kindliche Zuhörerschaft, an die sich die Erzählung wendet, führt uns zu der Interpretation der Erzählung als einen Lernprozeß aus sich wiederholenden Situationen des Hungers und des Überflusses. Die Erzählung scheint ihre — möglicherweise kindliche — Zuhörerschaft über den landwirtschaftlichen

"Rosaleen Howard-Malverde (1986:20) kommt nach einer anderen Vorgehensweise zu den gleichen Ergebnissen wie wir: Sie berichtet von ihrer Teilnahme an der Zeremonie des muchuy qarkuy am 8. Dezember, die im Zusammenhaig mit diesen Phänomen steht, kennzeichnet jedoch die Jahreszeiten von November bis Februar und von März bis Oktober.

155 Zyklus und die diesem zugehörigen Phasen der Vorratshaltung und des Mangels an Vorräten zu belehren."

5. Wer ist Achkee"! Nach der Analyse der Erzählsequenzen und nachdem wir die Zeitstruktur der Erzählung aufgezeigt haben, können wir versuchen diese Frage zu beantworten. Wir sahen, daß die erste große Sequenz charakterisiert war durch den Versuch, den Hunger zu stillen: Die Eltern entledigen sich ihrer Kinder und essen den Mais. Die Kinder werden aus dem Sack, in dem sie gefangen waren, befreit und zu einem Kartoffelfeld geführt, um dort essen zu können. Die Eltern können essen, da sie über einen Röster verfügen, um den Mais aus rohen in gerösteten Zustand (Eßbarkeit) zu überführen. Die Kinder suchen nach einer Feuerstelle, um das gleiche mit den Kartoffeln zu tun, und bei ihrer Suche finden sie sich im Haus der Achkee wieder. In der zweiten großen Sequenz sind die Handlungen charakterisiert durch die Suche Achkees ihren Hunger ebenfalls zu stillen: Wasser, Topf und Feuer werden erwähnt. Hinweise auf die Verwandlung von roh zu gar. In der dritten großen Sequenz stellt die Haupthandlung nicht die Suche zum Stillen des Hungers dar, wenn auch einige notwendige Werkzeuge genannt werden, die der Verwandlung des "Rohen" (des Ungestalteten) zum "Gekochten" (in das Gestaltete) dienen. Wie bereits ausgeführt, spielt dies direkt auf das Thema von Hunger und Essen an. Die Analyse der Zeit zeigte uns bereits, daß das Thema des Hungers uns als sich wiederholender Zyklus präsentiert wurde, indem Zeiten des Hungers mit Zeiten des Überflusses wechselten. Dieselbe Analyse, verbunden mit der der Sequenzen, scheint uns einen neuen Aspekt aufzuzeigen, der auf das Thema des Ungehorsams bezogen werden kann. Die Kinder werden einer ersten Prüfung unterzogen, die sie beinahe mit Bravour bestehen. Der Ungehorsam aber gegenüber der erhaltenen Weisung führt sie in eine der Ausgangssituation ähnliche Lage. Schlimmer noch: sie laufen Gefähr von Achkee verschlungen zu werden, geraten somit in Lebensgefahr. Diesen Schritt hin zu einer größeren Gefähr konnten wir in unserer Analyse der Raumstruktur der Erzählung aufzeigen. Es ist, wie wir dies genannt hatten, der Schritt vom Raum des Hungers zum Raum des Tödlichen (dieser Schritt entspricht dem Wechsel von einer Situation " Nicht-VV&isenstand + Nichtschutz" zu einer Situation "Waisenstand + Nichtschutz"). Der Raum des Tödlichen ist hervoigehoben durch das Thema des Hungers; dieser erscheint erhöht bis zur tödlichen Bedrohung. Unserer Meinung nach

"Das Thema des Lernens und seine pädagogische Bedeutung ebenso wie das Benennen der möglichen Hörerschaft scheinen eine besondere Refunktionalisieniqg der Erzählung von del Achkee in der von uns analysierten Fassung darzustellen. Andere Untersuchungen haben dieses Element nicht aufgegriffen, aber die Fassung a u s Taricá (Ancash), veröffentlicht von Arguedas und Izquieio Ríos 1970, schließt diese Angabe ausdrücklich ein: es heiflt, daß die Erzählung einem kindlichen Publikum präsentiert wird.

156 ist die Figur der Achkee die Verkörperung dieses tödlichen Raumes.30 Sie verkörpert die Hungersnot in höchstem und tödlichstem Maß.21

6. Versuch einer allgemeinen Interpretation der Erzählung Unsere Analyse hat verschiedene Richtungen einer Deutung aufgezeigt und einige Themen herausgearbeitet, die wir jetzt im Zusammenhang interpretieren wollen. Im vorangehenden Abschnitt haben wir gezeigt, in welcher Form die Erzählung aufgebaut ist, so daß die Figur der Achkee in plausibler Weise die Hungersnot verkörpern kann. Es handelt sich hier um das zentrale Thema der Erzählung, das heißt das Motiv des Hungers im Zusammenhag mit dem landwirtschaftlichen Zyklus und den Jahreszeiten. Dies hingegen ist nicht das einzige Thema, das die Geschichte zum Ausdruck bringt und auch nicht dasjenige, das als Leitfaden der Erzählperspektive und somit auch der Lektüre zu dienen scheint. Unsere Analyse von den drei Hauptsequenzen dieser Fassung zeigt das Mädchen als Hauptperson (in der ersten Sequenz ist sie noch nicht ihres Bruders beraubt; es ist von den beiden Kindern die Rede). Dieser Umstand führt dazu, daß die Erzählung von Achkee in Wirklichkeit auf die Darstellung der Beziehung zwischen dem Mädchen und Achkee bezogen werden muß. Es ist das Mädche, das eine Handlung mit der anderen Handlung verbindet und jedesmal mit neuen Anforderungen konfrontiert wird. Es geht dabei um das, was wir hier als Thema des Lernens bezeichnet haben. Die Erzählung stellt sich aus einer Perspektive dar, in der die Hauptperson einem Prozeß der "Erziehung" zum Leben unterzogen wird. Innerhalb dieses Themas wird das Mädchen über die Jahreszeiten unterrichtet, ebenso über die entsprechenden Auswirkungen auf die Landwirtschaft. In engem Zusammenhang damit erscheint zweimal das Thema des Ungehorsams: beim ersten Mal führt der Ungehorsam zu einer Verschlimmerung des Hungers bis zur potentiellen Todesgefahr, beim zweiten Mal führt er dazu, daß ein Prozeß im Vorgang des "Kochens" unvollendet bleibt; so, als hätte das Mädchen die Regeln der Zubereitung des Essens nicht beachtet und hiermit den Augenblick der Fülle, des Überflusses im landwirtschaftlichen Zyklus, verpaßt. Das Thema der Vergewaltigung steht seinerseits in Beziehung zum Lernen und zum Verlust der Unschuld, aber auch zum Phänomen des Ungehorsams und der Verschlimmerung eines Übels bis zu dessen Umwandlung in eine Todesgefahr. Die Analyse der Sequenzen hat gezeigt, daß die meisten Handlungen scheitern, unausgeführt bleiben, unterbrochen werden oder nur halb ausgeführt werden. Wenn

*°Wir vermuten einen Zusammenhang zwischen demdiesenRaum gut kennzeichnendenQuechua-Begriff Aksee und dem Name Achkee. "Unsere Interpretation unterscheidet sich von den eingangs erwähnten. Wir sehen in der Figur der Achkee an erster Stelle die Widerspiegelung der Hungersnot und weder den Charakter der Sterilität (Hartmann 1984), noch das 'asoziale" Element einer Dorfgemeinschaft (Hcward-Malverde 1986).

157 wir die Subjekte der verschiedenen Untersequenzen, sowie auch die Wünsche, die sie zur Handlung bewegen, betrachten, stellen wir fest, daß diese selten erfüllt werden. Sequenzen, die in diesem Fall als nicht zutreffend außer Betracht bleiben müssen, sind die der Eltern, die, indem sie sich ihrer Kinder entledigen, in der Lage sind essen zu können, die Achkees, die das Kind vergewaltigt und verschlingt, sowie die des Mädchens, das vor der Verfolgung durch Achkee fliehen kann. Hingegen sind die Kinder nicht in der Lage, die Kartoffeln zu garen, um sie zu verzehren; das Mädchen erhält ihren Bruder nicht zurück, sondern nur seine Knochen; Achkee ist nicht imstande, ihre Tochter zurückzubekommen, die sie selbst verzehrt hat. Die Schwester ist nicht imstande, ihren Bruder aus seinen Knochen wiedererstehen zu lassen. Sie erhält nur ein verstümmeltes Schaf und einen kleinen Hund. Dies zeigt uns, daß der Erfolg der Handlungen, die von den Akteuren ausgeführt werden, insbesondere von der Hauptperson, dem Mädchen, weder voraussehend versprochen noch tatsächlich erreicht wird. Die handelnden Personen erreichen ihre Ziele nur teilweise und müssen sich (darin besteht der Prozeß des Lernens) mit den erreichten Eigebnissen zufrieden geben. Die Geschichte von Achkee scheint auf der Notwendigkeit zu bestehen, daß die Zuhörer den zyklischen Charakter des bäuerlichen Lebens verstehen und daß sie lernen, den daraus hervorgehenden Verhaltensmustern zu folgen. Bibliographie Aguilar, S. Hernán. 1990. El relato del pishtaco en el Callejón de Huaylas (Perú). Berlin: Mikrofiche-Edition. Aiguedas, José María u. Francisco Izquierdo Ríos. (1947) 1970. Mitos, leyendas y cuentos peruanos. 2. Aufl. Lima: Casa de la Cultura del Peni. Gutmann, Margit. 1989. Das Selbstverständnis von Frauen in mündlichen Quechua Erzählungen Perus. In: Birgit Scharlau (Hrsg.): Bild—Vtort — Schrift, Beiträge zur Lateinamerika-Sektion des Freiburger Romanistentages. Tübingen: 45-57. Hartmann, Roswith. 1984. Achkee, Chificha y Mama Huaca en la tradición oral andina. In: América Indígena XLIV, 4 (México): 649-662. Howard-Malverde, Rosaleen. 1984. Achkay, una tradición quechua del Alto Marañón. Paris: Chantiers Amérindia. —. The Achkay, the Cacique and the Neighbour: Oral Tradition and Talk in San Pedro de Pariarca. In: Bulletin de l'Institut Français d'Etudes Andines XV, 3/4 (Paris): 1-34.

158 Mejía Xesspe, Toribio. 1952. Mitología del norte andino peruano. In: América Indígena XXII, 3 (México): 335-351. Ortiz Rescaniere, Alejandro. 1973. De Adaneva a Inkarrí: una visión indígena del Perú. Lima: Retablo de papel-INIDE. Pulgar Vidal, Javier. 1933. El Achkay. In: Revista de la Universidad del Perú 5 (Lima): 441^45. Pantoja Ramos, Santiago et al.. 1974. Cuentos y relatos en el Quechua de Huaraz. 2 Bde. Huaraz: Estudios Culturales Benedictinos 3.

Erinnerungen an den Bärensohn: Elemente und Fragmente schwindender Erzähltraditionen im zentralen Andenhochland von Ecuador Edita V. Vokral und Peter Masson Ein Komplex von Erzählmotiven, der in seinen Grundzügen altweltlichen Ursprungs ist, hat Menschen auf dem amerikanischen Doppelkontinent offenbar derart fasziniert, daß gerade viele indigene, "indianische" Gemeinschaften ihn in ihr Universum traditioneller Erzählungen aufnahmen und ihn mit Inhalten eigener Kulturtraditionen auffüllten. Es handelt sich um die Geschichten vom Bären und von Birensohn. Zu Beginn ist die Rede von einem Bären, der eine menschliche Frau raubt und mit ihr ein Kind zeugt, dann von diesem halb bärenhaften Sohn, welcher als Heranwachsender seine Mutter befreit, in der Menschenwelt aber zunächst scheitert und dort ebenso wie in der Wildnis schwere Kämpfe bestehen muß, um am Leben zu bleiben und seinen Existenzraum zu finden. Im gesamten hispanoamerikanisehen Raum und darüber hinausgehend ist dies einer der am weitesten verbreiteten Erzählkomplexe, bei indigener ebenso wie bei hispanokreolischer Bevölkerung. In zahllosen mündlich tradierten Varianten ist er besonders im Raum der zentralen und äquatorialen Anden bekannt — in Ecuador, Peru, Bolivien und Nordwest-Argentinien. Dieser Verbreitungsraum charakteristischer Varianten der in folgenden noch zu beschreibenden Erzählmotive deckt sich zum einen mit einem Teil des Raumes, in welchem sich in vorspanischer, vor allem aber in kolonialer Zeit, indianische Sprachen zweier Sprachfamilien, Quechua und Aymara-Jaqaru, verbreitet haben, und er deckt sich partiell zum anderen mit einem Teil des Lebensraumes der einzigen Großbärenart Südamerikas, des Brillenbären. Dies bedeutet, daß ein Zusammenfließen alt- und neuweltlicher Inhalte und Erzählmotive vor einem Hintergrund zu verstehen ist, der die symbolische Rolle des Bären in der einheimischen Vorstellungswelt, deren Niederschlag in traditionellen andinen Ausdrucksformen und erlebte Begegnungen Einheimischer mit dieser Bärenart umfaßt. Ob die komplexen Formen des Ineinandergreifens und Zusammenfließens der Rezeption altweltlicher Erzählmotive mündlicher Tradition und der interpretierenden Füllung mit einheimischen Sinnbezügen zu einem "lebendigen" Zusammenhang, einer von den Einheimischen geschätzten und immer wieder neu und kreativ ausgearbeiteten Gestaltform geführt haben, wird sich — im Fall der Erzählungen vom Bären und vom Bärensohn — zum einen am Spektrum der dokumentierten Varianten erweisen: diese Teilfragestellung läßt sich in beeindruckender Weise positiv beantworten, wie noch zu ersehen sein wird. Zum anderen wird es sich daran erweisen, inwieweit unter Bedingungen des fortschreitenden Verlustes mündlicher Erzähltraditionen und der "Modernisierungsprozesse" auch in einer ländlichen Gesellschaft noch Grundelemente und Kernstrukturen andiner Ausprägungen dieses Komplexes von Erzählmotiven erinnert werden und verbal mitteilbar bleiben: dies soll in der

160 vorliegenden Studie zu zwei kurzen, fragmentarischen und auf Erzählungskeme reduzierten Versionen, die kürzlich im Hochland Ecuadors aufgenommen wurden, einer Betrachtung unterzogen werden. Der im folgenden skizzierte "gemeinsame Nenner" publizierter Varianten und einige symbolische Ausdrucksformen sollen dabei als Interpretationshintergrund dienen. Auf eine formalisierte semiotische Analyse wird hier verzichtet; statt dessen wird versucht, auf hermeneutischer Grundlage eine interpretative Plausibilität herzustellen.1

1. Von Bären und Menschen: Symbolische Repräsentation und mündliche Erzähltradition im Andenraum Überall dort, wo es Großbären gab oder gibt, weltweit, haben einerseits die enormen Kräfte und die Gefährlichkeit des wilden Tieres bei naher Begegnung mit diesem und andererseits die relative Menschenähnlichkeit (gelegentlich aufgerichtete Gestalt; Sohlengang, Fußspur, Spielverhalten, zuweilen aufrechtes Sitzen, handähnliche Benutzung der Vorderpfoten, Form der Exkremente, Werbungsverhalten zwischen Bär und Bärin) dazu geführt, dieses Wesen aus der Tierwelt herauszuheben und ihm einen besonderen Platz in der Vorstellungswelt, in der Mythologie, in Ritualen etc. zuzuweisen.2 Der gefangene und dressierte Bär war vielfach zur weitergehenden Demonstration einer scheinbaren Menschenähnlichkeit verurteilt. Obwohl häufig erbarmungslos gejagt, haben Großbären Menschen vieler Gesellschaften und Kulturtraditionen immer erheblich beeindruckt. Auch im Andenraum hat diese Faszination ihre Spuren hinterlassen — in der von offenbar bereitwillig rezipierten europäischen Erzählmotiven überlagerten oralen Tradition ebenso wie in Metaphern und symbolischen Darstellungen.

'Die hier diskutierten zwei mündlichen Erzählungsversionen wurden 1990 von Edita V. Vokral in der Provinz Chimborazo im zentralen Hochland Ecuadors aufgenommen, ebenso die damit verbundenen Feldforschungdaten aus dieser Region. Die Zusammenstellung und Sichtung publizierter Varianten der (sowie Arbeiten zu) Erzählungen vom Bären und vom Bärensohn in der Neuen und Alten Welt, ebenso ethnographischer Literatur zum soziokulturellen Hintergrund derselben im Andenraum, wurde von Peter Masson vorgenommen, unter Einbeziehung eigener Feldforschungsdaten aus dem Norden der Provinz Loja im südlichen Hochland von Ecuador, 1973-74 und 1989. Interpretative Aspekte zu den symbolischen Bezügen beider o.g. Versionen wurden von beiden Autoren beigetragen. Die Transkription der Bandaufnahmen beider Varianten erfolgte durch Mary Iglesias (Quito). Für nützliche und wertvolle Hinweise dankt der zweitgenannte Autor María Susana Cipolletti (Freiburg/Br.), Penelope Brown (Nijmegen), Margit Gutmann (Heidelberg), Eva König (Bonn), Sabine Dedenbach-SalazarS. (Bonn), Roswith Hartmann (Bonn) und seinen einheimischen Freunden und Informanten im Raum Saraguro (Ecuador). Die erstgenannte Autorin dankt ihren Freunden und Informanten in der Provinz Chimborazo, nicht zuletzt den beiden Erzählern der hier betrachteten Versionen. *Vgl. hierzu Savage 1990 (und dortige Kurzbibliographie); Paproth 1977; Paproth 1976; Edsman 1987,11:86-89.

161 1.1. Stärke, Freiheit und Männlichkeit: Bären-Metapher und BärenTänzer Der Lebensraum des andinen Brillenbären (Tremaretos ornatus) erstreckt sich von Venezuela und Kolumbien bis Bolivien, in Peru und Ecuador vor allem am Ostabhang der Anden in den mittleren und höhergelegenen Regen-, Nebel- und Bergwäldern, die vom Tiefland heraufreichen, aber auch in waldigen Abschnitten des östlichen Kordillerenzuges (nur vereinzelt in der Westkordillere).3 Die Bezeichung dieses Bären rührt daher, daß halbmond- oder ringförmig um die Augen, dann um die Schnauze und in der Mitte um die obere Brust das Fell weißlich gefärbt ist. Die Nahrung ist überwiegend bis fast ausschließlich pflanzlich, weshalb die fortschreitende Waldzerstörung auch seinen Lebensraum vernichtet. Wenn Brillenbären sich daraufhin an menschlichen Pflanzungen vergreifen, werden sie zumeist erbarmungslos gejagt, so daß es sich heute bereits um eine bedrohte Tierart handelt. In vielen Regionen ist diese bereits so selten geworden, daß auch ältere Menschen sich kaum erinnern können, jemals ein Tier zu Gesicht bekommen zu haben. Nach der Auffassung von Zoologen gilt der Brillenbär als 'inoffensiv" und eher scheu. Wird die Fluchtdistanz in hoher Vegetation jedoch versehentlich überschritten, soll er nach verbreiteter Meinung von Einheimischen sehr aggressiv sein. Einheimische Vorstellungen weisen Brillenbären neben den großen Körperkräften auch gelegentlich hypnotische Macht zu.4 Die von C. J. Allen berichtete metaphorische Selbst-Identifikation indigener Männer im Süden Perus mag durch gelegentliche Begegungen mit dem wirklich existenten Tier verstärkt worden sein, ist jedoch in erster Linie zweifellos mit dem kulturellen Konstrukt eines Bildes vom Bären verbunden (vgl. Allen 1983, 38-51). Sagt also ein Mann von sich, er sei ein Bär, oder wie ein Bär, so spiegelt dies primär sein Selbstbewußtsein als kraftvolles, starkes männliches Individuum. Die männliche Vitalität schließt dabei die sexuelle Potenz und auch ein ausgeprägt aggressives, ungezügeltes und dominantes Sexualverhalten ein. Dem entspricht eine weit verbreitete Vorstellung, daß Bären unvorsichtige Frauen und Mädchen, die sich beim Sammeln oder Tierehüten zu weit in nicht kultiviertes Gelände begeben, überfallen und vergewaltigen (möglicherweise sogar verschleppen);5 dies deckt sich mit dem uns noch beschäftigenden Erzählmotiv. Im weiteren hat die metaphorische Identifikation von Männern mit Bären auch die Konnotation der Unbezähmbarkeit,

'Vgl. Cipolletti 1983a, 145 sowie 157-160 (bibliografía); femer: Fundación para la Educación Superior, Bogoti 1990. 4 So berichtet ein Informant aus dem Norden der Provinz Loja (südliches Hochland von Ecuador), indígena, daß er vor vielen Jahren einmal im Bergwald (in ca. 3000 m Höhe) einem Bären begegnete, von dessen Blick er regelrecht gelähmt worden sei und mehrere Stunden unfähig gewesen sei, zu sprechen oder auch nur einen Laut hervorzubringen; der Bär habe ihn zuvor unbeweglich eine Zeitlang angestarrt und sei dann im Gebüsch verschwunden. Feldforschungsdaten von Peter Masson, 1974. 'Vgl. Allen 1983, 39; Cipolletti, 1983a, 147.

162 Wildheit, Unbeugsamkeit, Freiheitliebe. Sie ist ein Ausdruck des Stolzes, der Selbstbehauptung in lokalen Siedlungsgemeinschaften gegenüber der wirtschaftlichen Abhängigkeit und der mangelnden sozialen Entfaltungsmöglichkeit in der regionalen Gesellschaft, gegenüber Zurückgesetztsein und fehlender bis eingeschränkter Partizipation in einem dominant mestizo-kreolischen Milieu. In Verbindung mit einer Selbstidentifikation nach anderen Konzepten eigener Geschichtsvision voreuropäischer Zeit (z.B. "Inka") erfolgt eine utopische Umkehrung der Wahrnehmung des eigenen Schicksals (vgl. Allen 1983, 38-46). Eine symbolische Projektion derartiger Identifikationen findet sich vor allem in Rahmen einheimischer Feste. In Bolivien, Peru und Ecuador treten bei unterschiedlichen Festen, sowohl eher andin geprägten als auch bei bedeutenden kirchlichen Festen, auch Wallfahrten, auf dem Lande wie in Städten, neben anderen maskierten Tänzern auch solche auf, die entweder deutlich als Bären verkleidet sind oder zumindest solche darstellen sollen.6 Die einheimischen Bezeichnungen lauten in Peru und Bolivien meistens "ukuku" (Quechua) oder "(j)ukumari' (Aymara bzw. Quechua), was "Bär" bedeutet, in Ecuador "usu" (Quichua; von spanisch "oso", Bär).7 Das Bild variiert erheblich; zuweilen scheint es sich bei den Bärentänzern auch nicht um eine einheitliche typisierte Figur zu handeln. Diese können sowohl wilde, kraftvolle, unzivilisiert"ungebeugte" als auch teilweise komische, sogar anzüglich-scherzhafte (in Einzelfällen sogar spielerische) Züge haben.8 Symbolische Identifikationsbezüge gehen manchmal vielleicht über diejenigen zum Bären hinaus.9 Daß zumindest in oberflächlicher Hinsicht eine iberische Überlagerung hier und dort nicht ausgeschlossen ist, zeigt der Umstand, daß auch für einige Regionen Spaniens als Bären maskierte

'Vgl., z.B., Allen 1983, 43-44; Randall 1982; Allen 1988, 192-194. 7 In Ecuador und Nordargentinien spricht man im allgemeinen Sprachgebrauch von "Quichua*, in Peru und Bolivien von "Quechua" oder "Kheshua/Qheshua". 'Bei der Pilgerfahrt von Qoyllur Rit'i in der Nähe von Ocongate (Dept. Cuzco, Peru) holen die mit Bären assoziierten Maskentänzer, oft unter Lebensgefahr, große Eisstücke vom Gletscher eines der heiligen Berge, welche eine sakrale und heilende Funktion haben. Bei ländlichen wie Urbanen Festen treten in verschiedenen Regionen Boliviens, Perus und Ecuadors Bärentänzer auf, die männlich-vitales ebenso wie schelmenhaftes "ritualisiertes" Verhalten zeigen. In der Region Saraguro im südlichen Hochland von Ecuador treten hingegen im indigenen Fiesta-Komplex Weihnachten/Dreikönige neben einer Vielzahl anderer Maskentänzer ein "Bärendompteur" und ein als Tanzbär verkleideter Junge auf, die eher auf durch Landfahrer europäischer Herkunft präsentierte Vorbilder zurückzugehen scheinen; doch es werden nicht nur in dieser Region auch Geschichten vom Bärensohn erzählt, sondern es existierten oder existieren auch noch Brillenbären in nahegelegenen Bergwildem; zu dieser Region Feldforschungsdaten von Peter Masson (1974, 1989), sowie: Belote und Belote 1977, 46-73; Knuf und Schmitz 1980. 'Nach der Auffassung von Jorge Flores Ochoa (Cuzco) ist der Bezug der "ukuku* genannten Maskentänzer zu Bären nicht eindeutig; es sei zwischen 'ukuku* und 'ukumari" genannten 'danzantes* zu unterscheiden; die ersteren hätten eher Bezüge zu Alpakas und zur Welt der Hirten, seien eher sekundär mit Bären assoziiert (persönliche Mitteilung gegenüber Peter Masson, 1988). Vgl. hierzu auch: Gow und Gow 1975, 141-164; sowie: Flores Ochoa 1975, 5-23.

163 Tänzer belegt sind.10 Die Bärentänzer im Andenraum — dies scheint hier entscheidend — verkörpern jedenfalls nicht selten ein gleichsam anarchisches Moment, einen "chaotischen" Gegenpol zur überlieferten und sorgsam gehüteten "geordneten" Gestaltung von Festen, und sind andererseits doch wieder ein unentbehrlicher Teil derartiger Ordnung. Das ungezügelte und unbeherrschte Element hat seinen rituell definierten Platz, sein "Lebensrecht", lebt aus der Verborgenheit zwischen den Festen heraus während des Festes wieder neu auf; es artikuliert unbändigen Selbstbehauptungswillen und ungebrochene Vitalität.

1.2. Der Frauenräuber Bär und die Taten des starken Bärensohns: Erzählungen im Andenraum Eine größere Anzahl von Varianten der uns hier interessierenden Erzählungen aus dem Raum der mittleren Anden, von Ecuador bis Nordwest-Argentinien, ist bisher dokumentiert und veröffentlicht worden, teilweise in Verbindung mit vergleichenden Studien." Sie wurden entweder in indigenen Sprachen aufgenommen oder im Spanischen, sowohl von andin-indigenen wie von mestizo-kreolischen Erzählern, hauptsächlich im Andenhochland, aber auch in mit diesem verbundenen Gegenden West-Amazoniens, daneben auch in Küstenregionen. Die inhaltliche Vielfalt der Versionen ist beträchtlich; eine gleichsam "kanonische" Version existiert nicht. Dennoch soll im folgenden versucht werden, die Grundstruktur einer gewissermaßen "prototypischen" Version als eines "gemeinsamen Nenners" der vielen Varianten zu konstruieren.

'Zoster erwähnt Bärentänzer im Karneval als belegt für Lérida, Barcelona, Murcia, Andalusien uns Asturias; Foster i960, 175-176. "Zusammenfassende Studien vergleichender oder/und interpretierender Art zu Erzählungen vom Bären und vom Bärensohn im Andenraum sind: Morote Best 1957-58 (diese grundlegende Arbeit bezieht sich auf bzw. referiert eine Vielzahl von in Peru aufgenommenen Version bzw. Varianten); Morote Best 1987; Allen 1983; Cipolletti 1983a; Ramírez Salcedo 1979. Im Andenhochland und auch in der Küstenregion Ecuadors aufgenommene Versionen wurden in folgenden Arbeiten publiziert: Rosaleen Howard-Malverde 1981, 148-163; Zanima Quishipilema 1989, 143-152; Aguiló 1985, 260-266; Ramírez Salcedo 1979; Carvalho-Neto 1966, 37-53; Carvalho-Neto 1976, 205-217; "Juan Ositomanta* (gente indígena de Saraguro), in: Weber Ch. 1987,25-28. Versionen aus verschiedenen Regionen Perus (Andenhochland und westliches Amazonien) wurden in folgenden Arbeiten veröffentlicht: Weber Ch. 1987; Morote Best 1987 (s.o.; Inhaltsbeschreibungen); Aiguedas 1960/61, hier 176-195 und 200-204; Uhle und Keim 1968,91-107 [hierzu siehe auch Evaluierung, Anmerkungen und Publikation der spanischen Version in: Hartmann 1987, hier 335f und 370-375]; Payne 1984, 511-60; Mereier 1979, 230-232. Eine in Quechua aufgenommene Version aus dem südlichen Hochland Boliviens findet sich in: Anibarro de Halushka 1980,557-566; eine weitere bolivianische Version wurde redigiert veröffentlicht in: Paredes 1949, 71. Verschiedene Versionen aus dem Nordwesten Argentiniens wurden in folgenden zwei Arbeiten veröffentlicht: Vidal de Battini 1980/84, V:133-134, VI:163-181, Vm:821-831; Cipolletti 1983a.

164 Der Komplex gliedert sich aufgrund der vom zweitgenannten Autor vorgenommenen vergleichenden Sichtung in zwei Hauptabschnitte. Der erste ließe sich kennzeichnen als: Der Bär als Frauenräuber und die Befreiung der Frau durch den gemeinsamen Sohn. Ein Bär entführt eine Menschenfrau (Bäuerin oder Hirtenmädchen), verschleppt sie in ein Höhle, wo er sie gefangenhält, mit Wildfrüchten und rohem Fleisch ernährt, und mit ihr ein Kind zeugt. Dieses, ein Junge, ist entweder im Ganzen bärenmenschlich oder oben Mensch und unten Bär, oder es hat menschliche Gestalt, aber doch einige bärenhafte Züge: Behaartheit und übergroße Kraft. Dieser Sohn wächst sehr schnell heran und beschließt, bewegt von den Heimwehklagen seiner menschlichen Mutter, diese wieder in die Freiheit und zu ihren Leuten zu führen. Weiter herangewachsen, gelingt ihm dies, in dem er den Stein, mit dem der Bär bei Abwesenheit die Höhle verschließt, fortrollen kann. Zuvor hatte die Mutter den Bären fortgeschickt, mit einen Sieb Trinkwasser zu schöpfen und herzubringen (oder Wildhonig zu holen, oder eine lange entbehrte Speise oder Feldfrucht bei den Menschen zu rauben): diese List verschafft Mutter und Sohn Zeit und ermöglicht beiden die Flucht, die indessen nur durch Kraft und Ausdauer des Sohnes gelingt. Der argwöhnische Bär kehrt früher zurück, bemerkt die leere Höhle und nimmt wütend die Verfolgung auf. In manchen Versionen entkommen Mutter und Sohn nur mit knapper Not (etwa, indem sie schwimmend oder flößend über ein großes Wasser setzen), in anderen (quasi "ödipalen") kommt es zu einem längeren (oder wiederholten) Kampf auf Leben und Tod, in welchem der Bärensohn seinen Vater, den Bären, verletzt und tötet. Mutter und Sohn finden aus der Wildnis zu den Menschen. Sie gelangen in das heimatliche Dorf der Frau. Dort werden die bereits Totgeglaubte und ihr ungewöhnlicher Sohn von Eltern, Verwandten oder Nachbarn aufgenommen. In einigen Varianten folgt der Bär nach einiger Zeit seiner "Familie" in deren Dorf nach — erfolglos, wonach er sich zornig oder mutlos in den Wald zurückzieht. In einem Falle hatte er bereits als Entführer ansehnliche Menschengestalt angenommen, und erscheint nun wieder in Menschengestalt im Dorf seiner Frau, um diese zurückzuholen: durch eine List der Frau und ihrer Mutter wehrlos gemacht, wird er mit vereinten Kräften totgeschlagen und, wieder ein Bär, anschließend von den Menschen aufgegessen.12 Gelegentlich wird die geraubte Frau Mutter zweier oder dreier bärenmenschlicher Söhne. Seltener ist die Rede von einem Mann, der von einer Bärin entführt und gezwungen wird, ihr Geliebter zu werden. Auch hier gelingt die Flucht mit der Hilfe gemeinsamer Kinder.

''Vgl.: Uhle/Kelm 1968, 99-100; Cipolletti 1983a, 146; Morote Best 1957/58, 139-142.

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In manchen Varianten versucht der Bär, seiner erbeuteten Frau das Gefangenenleben so erträglich wie möglich zu machen, indem er ihr menschliche Speisen, Streichhölzer, Feldfrüchte und Kleidung von den Menschen raubt. In anderen Fällen verlieben sich Bär und Mädchen ineinander; sie geht bereitwillig mit ihm in den Wald und verlebt dort eine zunächst glückliche Zeit, bis sie seiner überdrüssig und nun durch seine Eifersucht zu seiner Gefangenen wird. Nicht in allen Varianten wird sie vom Bären schwanger — mitunter wird sie von Jägern, von Verwandten oder von ihrem Ehemann aufgespürt und unter Mühen befreit. Verschiedene kolonialzeitliche Autoren — Cabello Valboa, Lizärraga, Lecuanda13 — haben, worauf E. Morote Best und M. S. Cipolletti bereits hinwiesen,14 angeblich reale Fälle von Entführungen und Vergewaltigungen von Frauen durch Bären kolportiert (in den Regionen von Cochabamba, Piura, Quito und Loja, heute Bolivien, Peru und Ecuador), doch scheint es sich hier eher um eine Ausdeutung einheimischer Vorstellungen im Lichte einer in die Neue Welt mitgebrachten spanischen Volkserzählung zu handeln, ferner auch um europäische Obsessionen, die Mißbildungen (z.B. eines angeblich vom Bären gezeugten Kindes) und sonstige Monstrositäten plausibel zu erklären versuchen. Die geschilderten Ereignisse gleichen zu sehr einigen der oben skizzierten Varianten. Der Raub menschlicher Frauen durch einen tierischen Entführer (oder Verführer) scheint in andinen oralen Erzähltraditionen nicht auf den Brillenbären beschränkt zu sein. Eine prototypische Erzählung handelt vom Kondor als Mädchenräuber, eine andere vom andinen "Fuchs" (Dusicyon culpaeus; zumeist "atuq" im Quechua, "qamaqi" oder "tiwula" im Aymara), der mit einer menschlichen Braut auf Nimmerwiedersehen verschwindet.11 Der Raub durch den Kondor könnte eine typische andine Version der entsprechenden Motive darstellen, möglicherweise durch europäische Geschichten vom Bären als Frauenräuber überlagert. Das Bild des Bären selbst variiert erheblich: teilweise ist er einfach eine wilde Bestie, teilweise ist er ein bereits halbmenschliches, aber brutales Mischwesen und manchmal zeigt er regelrecht menschliche Züge. Hier und da soll er einem Riesenaffen gleichen, andere Male scheint er ein nur vage vorgestelltes Monstrum zu sein, und in wieder anderen Fällen scheint man die konkrete Bärengestalt vor Augen zu haben. Der zweite Hauptabschnitt des uns hier interessierenden Komplexes von Erzählmotiven ließe sich kennzeichnen als:

"Siehe: Cabello [de] Valboa 1951,211; Lizírraga 1946, 127; José Ignacio de Lecuanda: Descripción geográfica del partido de Piura [1793], zitieit bei Morote Best 1957/58, 174-175. "Vgl. Cipolletti 1983a, 152; Ramírez Salcedo 1979,45-46; Morote Best 1957/58,173-175; Morote Best 1987,9-11. "Vgl. Chuquimamani Valer 1983,67-75 und 25-27; Jara und Moya 1987,129-143; Sayritupa Asqui 1990, 26-31 (/28); Morote Best 1957/58, 149-151.

166 Die Taten des Bärensohns oder: Der starke Juan. Der Bärensohn soll in die menschliche Gesellschaft hineinwachsen, wird deshalb im Dorf seiner Mutter getauft. Er erhält den Namen "Juan" (oder "Manuel", "Pablo", "Aladino", sogar "Sansón"); vielfach nennt man ihn einfach "Juan del Oso" ("Hans vom Bären") oder "Juan Osito" ("Hans Bärchen"). Pate wird der Pfarrer des Dorfes, der ihn auch in die Schule schickt. Doch die zivilisierenden Integrationsbemühungen schlagen fehl, da der Bärensohn, obzwar gutmütig und geradlinig, seine eigene Körperkraft nicht kontrollieren kann. Als er den Mitschülern, die ihn seines Äußeren wegen hänseln und an den Körperhaaren ziehen, ihn permanent ärgern und provozieren, schließlich wiederholt ein paar Ohrfeigen oder Hiebe verpaßt, tötet er sie jedesmal. Die ihm als Hütejungen anvertrauten Kühe und Schafe tötet er jedesmal aus Ungeschick oder wenn sie nicht folgsam sind (oder er verzehrt einzelne von ihnen, wie er überhaupt einen enormen Appetit entwickelt). Geräte zerstört er unwillentlich; ein Maultier tötet er beim Versuch, es zu satteln. Der zahllosen Entschädigungsverpflichtungen, Zerstörungen und der Todesfälle müde, versuchen die Mutter und sein Pate (der Pfarrer), sich seiner zu entledigen. Der Pfarrer dingt Männer, um seinem Patensohn eine Grube zu graben (um ihn in diese zu stoßen und zu töten), um ihn vom Glockenturm stoßen zu lassen, oder um ihn auf andere Weise zu vernichten. Jedesmal tötet der Bärensohn die gedungenen Männer. Der Pfarrer läßt ihn mit einem wilden Stier kämpfen, doch der Bärensohn bricht diesem das Genick. Der Pate schickt ihn in den Wald, um Feuerholz zu holen, in der Hoffnung, daß wilde Tiere ihn dort fräßen; diese fressen aber die Lasttiere, worauf der Bärensohn wütend Jaguare und Pumas einfängt, sie mit dem Holz belädt und ins Dorf treibt. In einigen Versionen gelingt es dem Pfarrer schließlich, den Bärensohn in einem reißenden Fluß ertrinken oder ihn lebendig begraben zu lassen. In der weit überwiegenden Zahl der Varianten überlebt der Bärensohn jedoch alle Anschläge auf sein Leben. Entweder entscheidet er sich, der Menschen überdrüssig, freiwillig dazu, in die weite Welt hinaus oder zurück in die Wildnis zu ziehen, sich selbst als verschieden begreifend. Oder er wird von seinem Paten mit Proviant und Geld versehen und auf eine Reise geschickt, von der er möglichst nicht wiederkehren soll, in die Ferne, oder zu einem näheren Ort, wo ein Hacendado oder ein anderer Geistlicher schwerer Sünden wegen dazu verdammt worden ist, nicht sterben zu dürfen und eine Existenz als "condenado" führen zu müssen, ein schreckliches, werwolfähnliches Monstrum, das Menschen und Tiere reißen muß und seine Gegend in Schrecken versetzt. Allein oder mit der Hilfe eines Gefährten, der sich ihm angeschlossen hat, mit der Hilfe eines treuen Hundes oder mit der einer (magischen) Puppe, nimmt der Bärensohn den schweren Kampf auf, besiegt und tötet schließlich den "condenado", worauf dessen Seele, erlöst, ihm dankt, ihn zum Erben erklärt und als weiße Taube gen Himmel fliegt. Besitzer der Hacienda und aller Reichtümer des "condenado", nimmt sich der Bärensohn eine Frau und lebt

167 glücklich bis an sein Ende. Häufig heiratet er auch die Tochter oder Witwe des Verdammten. Durch den Sieg über den "condenado" hat er zuweilen vollständig menschlichen Charakter angenommen, dafür aber seine außergewöhnliche Kraft verloren. Gelegentlich läßt er, nun auch Dorfchef, seine Mutter und den Paten holen, diesen verzeihend, und alle leben in Frieden. Mitunter akzeptiert der Pfarrer jedoch die Führerschaft von "Juan del Oso' nicht und hetzt die Leute des Dorfes so lange auf, bis diese den Bärensohn töten. In anderen Versionen trifft der Bärensohn auf seiner Reise in der Wildnis auf einen zweiten Bärensohn. Die anfängliche Rivalität weicht einer Kameradschaft. Oder er trifft andere unangepaßte Personen (z.B. einen fahrenden Studenten) oder Menschen mit außergewöhnlichen Kräften, die Bäume ausreißen und diese oder Felsblöcke schleudern können ("Mann aus Eisen", "Mann aus Feuer", "Waldausreißer", "Bergzertrümmerer", "Flußtrockensäufer", o.ä.). Diese und er tun sich zusammen und bestehen eine Reihe von Prüfungen und Abenteuern, bei denen der Bärensohn sich stets als der Stärkste oder Geschickteste erweist. Einige dieser Episoden haben manchmal sogar schelmenhaften Charakter. So steigt er, nicht selten mit den Gefährten, beispielsweise in die Unterwelt hinab, kämpft dort mit Teufeln, und befreit verzauberte Prinzessinen. Mitunter schneiden die falschen Gefährten ihm dann das Seil, an dem er hinabstieg, ab, um die hübscheren Prinzessinen für sich zu behalten. Dort unten kommt er dann um. Oder er befreit sich durch Kraft, Geschicklichkeit oder List, nimmt Rache an den ehemaligen Gefährten, die er tötet, und verheiratet sich mit einer Prinzessin oder der schönsten Frau eines Dorfes. Es ist bisher sicher deutlich geworden, daß beide Hauptabschnitte des prototypischen Erzählungskomplexes, ungeachtet einer Anzahl noch erheblich abweichender Varianten, reich sind an polaren Konzeptionen. Diese Antagonismen scheinen trivial, treten aber recht deutlich zutage. Da ist die einheimische menschliche Welt gegenüber der Wildnis, das Geordnete gegenüber dem Chaotischen, das "freiere" "Oben" (Wald, Berg; aber auch der Himmel) gegenüber dem "reglementierteren" "Unten" (bäuerliche Welt und menschliche Siedlung),aber auch eine Dreiteilung der Welt (man denke an die Bärenhöhle, aber auch an die "Hölle" als Teil der "unteren Welt"). Da ist das aggressive maskuline agens gegenüber dem leidbetonten femininen patiens (durchaus nicht nur bei männlichen Erzählern), und da ist die rohe gegenüber der gerösteten oder gekochten Nahrung. Am Pol der Wildheit befindet sich der Bär, an dem der Zivilisation zunächst der Pfarrer (nebst Schülern, Lehrer und anderen Personen), der Bärensohn, im Prinzip friedlich, ehrlich, aber unfreiwillig destruktiv, befindet sich zunächst zwischen beiden Polen. Die Flucht bzw. die Tötung des Bärenvaters bedeuten für den jungen Bärenmenschen zunächst den Eintritt in die menschliche Sphäre. Der Pfarrer repräsentiert in dieser das mestizokreolische Segment der lokalen Gesellschaft, aber dasselbe gilt auch für den "condenado" oder die falschen Gefährten. "Juan del Oso" läßt sich überwiegend mit dem andin-indigenen Segment identifizieren. Die Beziehung ritueller Verwandschaft

168 (zwischen Taufpate und Patensohn) scheitert: die Beziehung zur zweiten Vaterfigur bleibt konfliktiv, so wie auch die zur ersten (Bär) zum Konflikt führen mußte. In seltsamer Umkehrung muß aber nun der scheinbar halbwilde, barbarische Bärensohn die Rolle des Zivilisierenden gegenüber den aggressiven, pseudozivilisierten und amoralischen Figuren des Pfarrers (Paten), des "condenado", der Mitschüler, Gefährten usw. übernehmen. Er zähmt wilde Bestien, straft dämonische Übeltäter und etabliert ein geordnetes, harmonischeres menschliches Zusammenleben, er, der zuvor als Nichteinfügbarer die menschliche Gesellschaft hatte verlassen müssen. Potentiell ist aber auch seine friedliche, quasi-utopische, unterdrückungsfreie Wohlstandsordnung der kolonialen Ordnung nicht einzupassen; diese kann die Ordnung des Bärensohns am Ende oft doch wieder liquidieren.

1.3. Bären und Helden: Motive altweltlicher Erzähltraditionen und ihr neuweltliches Echo Sieht man von and inen Ausprägungen ab, so finden sich Erzählungen vom Bärensohn im gesamten Lateinamerika und sogar in Nordamerika, unter anglo- und hispanoamerikanischer wie auch lusobrasilianischer Bevölkerung ebenso wie in indianischen Gesellschaften, auch dort, wo es niemals Bären gegeben hat.16 Gelegentlich können in indigenen Versionen "Fabelwesen* an die Stelle des Bären treten,17 doch bleibt die Verbindung von Mensch und Tier (oder mythischem "Fabelwesen") ebenso ein zentrales Element wie in vielen Fällen Taten und Schicksal des doppelnaturhaften Sohnes. Gerade indianische Versionen außerhalb des mittelandinen Raumes weichen in einzelnen Aspekten oder Episoden erheblich von denen jenes Raumes und ihren europäischen Entsprechungen ab. Mestizo-kreolische Versionen dagegen, vor allem aus Gegenden, in denen seit langer Zeit kaum oder keine einheimischen Bären vorkommen, nähern sich diesen altweltlichen Versionen weitestgehend an. Die Erzählung vom Bärensohn ist zweifellos ein altes europäisches und orientalisches Erbe und in einer unglaublichen Vielzahl von Versionen und Varianten über große Teile der Alten Welt verbreitet, wie bereits die klassische Studie von Panzer zeigt (1910). Nicht nur über Spanien und überhaupt den iberisch-mediterranen Raum, der auch die Provence oder Sardinien miteinschließt, sondern ebenso in Italien, Frankreich, ganz Südosteuropa, im deutschen Sprachraum, den britischen

'«Vgl. Mason 1924, 247-344; Mason 1956, 383-389; Hasler 1961, 603-613; Hetmann 1985, 70-87; Maitin 1987, 533-548; Colgrave 1951, 409-413; Hallowell 1952, 416 ff.; Stross 1978, 1eri