Das gleichheitswidrige Steuergesetz - Rechtsfolgen und Rechtsschutz [1 ed.] 9783428498772, 9783428098774

Ungerechtfertigte Steuerprivilegien verletzen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Häufig ist jedoch problematisch, o

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Das gleichheitswidrige Steuergesetz - Rechtsfolgen und Rechtsschutz [1 ed.]
 9783428498772, 9783428098774

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RAINER WERNSMANN

Das gleichheitswidrige Steuergesetz Rechtsfolgen und Rechtsschutz

Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Herausgegeben im Auftrag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster durch die Professoren Dr. Hans-Uwe Erichsen Dr. Helmut Kollhosser Dr. ]ürgen Welp

Band 128

Das gleichheitswidrige Steuergesetz Rechtsfolgen und Rechtsschutz

Von

Rainer Wemsmann

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wernsmann, Rainer: Das gleichheitswidrige Steuergesetz - Rechtsfolgen und Rechtsschutz I von Rainer Wernsmann. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft; Bd. 128) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-09877-3

D6 Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5383 ISBN 3-428-09877-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069

Meinen Eltern

Vorwort Die Frage, welche Rechtsfolgen sich an die Feststellung des Verstoßes einer Norm gegen den Gleichheitssatz knüpfen und unter welchen Voraussetzungen eine Norm dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung ihrer Vereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz unterbreitet werden kann, ist nicht nur für die Praxis von erheblicher Bedeutung, sondern auch im wissenschaftlichen Schrifttum nach wie vor ungeklärt. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf verfassungsrechtlichem Gebiet. Die Lösungen werden am Beispiel des Steuerrechts und seiner Besonderheiten entwickelt. Die Arbeit wurde im Wintersemester 1998/99 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Sie wurde mit dem Harry-Westermann-Preis 1999 ausgezeichnet. Das Manuskript wurde Ende September 1998 abgeschlossen; neuere Entwicklungen in Rechtsprechung und Literatur konnten darüber hinaus noch bis März 1999 berücksichtigt werden. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Dieter Birk, der die Arbeit betreut hat. Während meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Steuerrecht der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat er mir großzügig die erforderlichen Freiräume für die Erstellung dieser Arbeit gewährt und mich vielfältig gefördert. Zu herzlichem Dank verpflichtet bin ich auch Herrn Professor Dr. Hans-Uwe Eriehsen. Ihm danke ich nicht nur für die Erstellung des Zweitgutachtens und - stellvertretend auch für die anderen Herausgeber - für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe, sondern ebenso für die schönen Jahre als studentische und wissenschaftliche Hilfskraft am Kommunalwissenschaftlichen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Schließlich möchte ich Herrn Egmont Kulosa für die kritische Durchsicht des Manuskripts sowie den Herren Mare Desens, Henning Tappe und meinem Bruder Guido Wernsmann für vielfältige technische Unterstützung danken.

Münster, im Oktober 1999

Rainer Wernsmann

Inhaltsverzeichnis Einleitung

§ 1. Gang der Darstellung .................................................................... .. ...................... 17 A. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes .................................. 17 B. Bedeutung der Tenorierung für die Entscheidungserheblichkeit... ................... 28

Erster Teil

Die Rechtsfolgen verfassungsgerichtlicher Normenkontrollentscheidungen - Bestandsaufnahme der Entscheidungsvarianten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und Kritik -

§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes ......................... 35 A. Uneingeschränkte Verfassungs mäßigkeit des Gesetzes .................................. 35 B. Verfassungskonforme Auslegung ................................................................... 35 C. Appell-Entscheidungen .................................................... ........... .................... 37

I.

Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse .............................................. 39

II. Änderungen der rechtlichen Verhältnisse ................................................ .42 I. Nachträgliche Änderung des Prüfungsmaßstabs oder des Verfassungsverständnisses ................................................................. 42 2. Komplexe und schwer überschaubare Regelungssysteme ................. .45

3. Mangelnde Evidenz des Verfassungsverstoßes ................................. .46 a) Normenkontrolle als Ergebnis-, nicht als Verhaltenskontrolle .... .46 b) Zuordnung zu den Chaos-Fällen ................................................. .47 c) Verallgemeinerung für Mängel im Gesetzgebungsverfahren ....... .47 aa) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ............ .47 bb) Kritik ...................................................................................... 48 d) Parallelen zu den Folgen eines Gleichheitsverstoßes ................... 51 4. Unerfüllte Gesetzgebungsaufträge ...................................................... 51 III. Relativ größere Verfassungsnähe der Fortgeltung der Norm gegenüber deren abruptem Wegfall .......................................................... 52 I. Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes wegen "Chaos" bei Verfassungswidrigkeit? ...................................................................... 53

10

Inhaltsverzeichnis 2. Folgenberücksichtigung auf Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite? .................................................................................................. 55 a) Relevanz der Zuordnung zur Tatbestands- oder Rechtsfolgenlösung .......................................................... ............ 56 b) Vorzugswürdigkeit der Rechtsfolgenlösung ................................. 61 3. Rechtfertigung von Rechtsfolgenbestimmungen, die auf Nichtigerklärung verzichten ............................................................... 62 a) Grundsatz der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze als Aussage des Grundgesetzes .......................................................... 63 b) Abwägungsfähigkeit des Nichtigkeitsdogmas .............................. 65 c) Kriterien für die Zulässigkeit abweichender Rechtsfolgebestimmungen durch das Bundesverfassungsgericht.. .................. 67 aa) Kollidierendes Verfassungsrecht als Schranke des Nichtigkeitsdogmas ................................................................ 67 bb) Der Gleichheitssatz als Rechtfertigung einer bloßen Profuturo-Wirkung zur Ausschaltung des § 79 Abs. 2 BVerfGG? .............................................................................. 69 ce) Verzicht auf die Nichtigerklärung bei Gleichheitsverstößen des überprüften Gesetzes ....................................... 71 dd) Rechtsfolgenbestimmung durch das Bundesverfassungsgericht .................................................................. 72 IV. Zusammenfassung ..................................................................................... 72

§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes ......................... 75 A. Grundsatz: Nichtigerklärung des Gesetzes ...................................................... 75

B. Bloße Unvereinbarerklärung ........................................................................... 79 I.

Fallgruppen ............................................................................................... 80 I. Respektierung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers (insbesondere bei der Behebung von Gleichheitsverstößen) durch Verzicht auf die Nichtigerklärung? ........................................................... 82 a) Der gleichheitswidrige Begünstigungsausschluß ......................... 83 aa) Begriffspaare "Begünstigung und Belastung" - "Bevorzugung und Benachteiligung" - "Besserstellung und SchlechtersteIlung" ................................................................ 83 bb) Gesetzestechnische Möglichkeiten des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses .................................... 85 (I) Der ausdrückliche Begünstigungsausschluß .................... 86 (2) Der konkludente Begünstigungsausschluß ....................... 86 (3) Der auf unterschiedlichen Regelungssystemen beruhende Begünstigungsausschluß ................................. 86

Inhaltsverzeichnis

ll

(4) Andere Formen ungleicher Begünstigung ........................ 87 (5) Zuordnungsfragen ............................................................ 87 cc) Interdependenzen zwischen Rechtsfolgen und Rechtsschutzziel beim ausdrücklichen Begünstigungsausschluß ...... 88 (1) Nichtigerklärung der Ausnahmevorschrift? ..................... 88

(2) Nichtigerklärung der Gesamtregelung, auf der die Ungleichbehandlung bei der Vergleichsgruppen beruht? ............................................................................. 89 (a) Verfassungswidrigkeit aller Normen, auf denen die Ungleichbehandlung beruht ................................. 90 (b) Möglichkeit der Nichtigerklärung sämtlicher Normen, auf denen die Ungleichbehandlung der Vergleichsgruppen beruht, unter Beachtung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ......................... 92 (3) Verzicht auf die Nichtigerklärung der Gesamtregelung nur aufgrund der Rechtsschutzperspektive der Nichtbegünstigten ...................................................... 95 (4) Struktureller Vergleich mit verwaltungsprozessualen Bescheidungsurteilen (Verpflichtungssituation) .............. 99 (5) Zusammenfassung der Ergebnisse .................................. 103 dd) Interdependenzen zwischen Rechtsfolgen und Rechtsschutzziel beim konkludenten gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluß ...................................................... 104 (1) Das Argument der Gestaltungsfreiheit des Gesetz-

gebers - Rechtsfolgen, Rechtsschutzziel, Gesetzestechnik ........................................................................... 105 (2) Differenzierung zwischen gesetzgeberischem Tun und Unterlassen? ........................................................... 106 (3) Auswirkungen der Unvereinbarerklärung auf die bisher Begünstigten ........................................................ 111 (a) Anwendungssperre auch für die bisher Begünstigten ............................................................ 111 (b) Weitergewährung der gleichheitswidrigen Begünstigung wegen sonst nicht erklärbarer Identität der Rechtsfolgen von Nichtig- und Unvereinbarerklärung? ................................................................ 112 (c) Keine Vertiefung der Verfassungsverletzung in allen gesetzestechnischen Fällen .............................. 114 (4) Exkurs: Differenzierung zwischen Tun und Unterlassen außerhalb des konkludenten Begünstigungsausschlusses ................................................................... 116

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Inhaltsverzeichnis ee) Verhältnis zwischen Rechtsfolgen und Rechtsschutzziel bei Gleichheitsverstößen durch zwei selbständige Regelungssysteme ........................................................................ 118 b) Gleichheitswidrige Belastungen ................................................. 118 aal Gesetzestechnische Möglichkeiten ....................................... 120 bb) Entscheidungsformen des Bundesverfassungsgerichts ......... 121 cc) Kritik: Das Argument der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Abwehr gleichheitswidriger Belastungen ...... 123 c) Erfordernis einer Gesamtbetrachtung aller Normen, auf denen die Ungleichbehandlung beruht.. ..................................... 130 aa) Bestimmung der verfassungswidrigen Norm durch das Bundesverfassungsgericht .................................................... 130 bb) Kritik .................................................................................... 133 (1) Bedeutung der unterschiedlichen Bestimmung des Prüfungs gegenstandes .................................................... 133 (2) Struktur des Gleichheitssatzes ........................................ 134 (3) Keine Differenzierung nach der Gesetzestechnik.. ......... 136 cc) Parallelen zu Gesamtbetrachtungen in anderen Konstellationen ................................................................................. 137 (I) Durchschlagen unzureichender Erhebungsregelungen auf die Verfassungsmäßigkeit des materiellen Besteuerungstatbestandes ......................................................... 137 (2) Entscheidungen zur Vermögensbesteuerung - Einheitswerte und realitätsgerechte Werte ........................... 139 (3) Verfassungswidrige Rechtslage aufgrund des Zusammenwirkens mehrerer Normen ....................................... 150 d) Rechtsschutzziele ....................................................................... 152 aa) Abwehr von Belastungen oder Erstreben von Leistungen (Begünstigungen)? ............................................................... 152 (1) Begünstigung und Begünstigungsausschluß im

Eingriffsrecht? ............................................................... 152 (2) Gleichheitssatz als nur objektives Recht? ....................... 154 (3) Steuerentlastungstatbestände als Begünstigung? ............ 157 (4) Beseitigung der Kosten für die Drittbevorzugung als mittelbarer Vorteil zugunsten der Benachteiligten Maßgeblichkeit von Sekundäreffekten? ......................... 159 bb) Verhältnis zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten ....... 164 (I) Strikte Trennung der verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstäbe? ........................................................ 166 (2) Konkurrenz von Freiheits- und Gleichheitsrechten ........ 168

Inhaltsverzeichnis

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(3) (Eigene und fremde) Gleichheitsrechte als Prüfungsmaßstab für Eingriffe in Freiheitsrechte ......................... 170 e) Rechtfertigung der Differenzierung im Rechtsschutz zwischen Eingriffs- und Leistungsrecht .................................... 178 aal Die Unterschiede in den Rechtsschutzmöglichkeiten ........... 178 (I) Abwehr aller gleichheitswidrigen Belastungen .............. 178

(2) Keine Abwehr von Drittbegünstigungen, die gegenüber dem Benachteiligten keinen Eingriff darstellen und in die er nicht einbezogen werden kann .................. 180 bb) Die Rechtfertigung der unterschiedlichen Rechtsschutzmöglichkeiten am Beispiel eines Vergleichs direkter und indirekter Subventionen ....................................................... 181 cc) Vergleich mit der Situation beim Gesetzesvorbehalt... ......... 184 dd) Vergleich mit der Situation bei den Kompetenzen ............... 185 (I) Gesetzgebungskompetenzen ........................................... 185 (2) Kostentragung bei direkten und indirekten Subventionen ....................................................................... 189 (3) Verwaltungszuständigkeit und Rechtswege ................... 190

ee) Ergebnis ............................................................................... 190 f)

Exkurs: Unterschiedliche Bindungsintensität des begünstigenden und des belastenden Gesetzgebers auf Tatbestandsebene? ........................................................................................ 191 aal Differenzierung bei Typisierungen? ..................................... 192 bb) Differenzierung in der Bindungsintensität zwischen gewährendem und eingreifendem Staatshandeln? ................ 199 cc) Ergebnis ................................................................................ 208

g) Zusammenfassung ...................................................................... 208 2. "Relativ größere Verfassungsnähe" der vorübergehenden Weitergeltung der verfassungswidrigen Norm gegenüber deren Nichtigerklärung ........................................................................................... 212 a) Methodisches Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts bei der Rechtsfolgenbestimmung und Kritik .................................... 212 b) Fallgruppen der relativ größeren Verfassungsnähe der Fortgeltung verfassungswidrigen Rechts gegenüber dessen Wegfall .............................................................................................. 214 aal Keine Vertiefung der Rechtsverletzung durch erfolgreiche Klage ......................................................................... 214 bb) Beeinträchtigung anderer Verfassungs werte ........................ 215 11. Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung eines Gesetzes ........................... 217 I. Grundsatz: Anwendungsverbot des verfassungswidrigen Gesetzes .... 217 2. Ausnahme: Anordnung der weiteren Anwendbarkeit des Gesetzes .... 218

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Inhaltsverzeichnis a) Bloß vorläufige Weiteranwendbarkeit mit Pflicht zu späterer (rückwirkender) Folgenbeseitigung ............................................ 219 b) Endgültige Hinnahme des verfassungswidrigen Zustandes für eine Übergangszeit ..................................................................... 221 III. Zuordnung der bei den Fallgruppen zu den jeweiligen Rechtsfolgen ..... 224 I. Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre ................................................................................................ 225 2. Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung ohne Anwendungssperre ................................................................................................ 226 3. Kumulatives Vorliegen bei der Voraussetzungen .............................. 226

Zweiter Teil Die Bedeutung der prognostizierten Tenorierung bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes für die Zulässigkeit der konkreten Normenkontrolle § 4.

Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit.. ....... 228 A. Problemstellung ............................................................................................ 228

1.

Die Nichtigerklärung einer drittbevorzugenden Norm im Falle ihrer Verfassungswidrigkeit ............................................................................ 229

II. Oleichheitswidrige Bevorzugung der am Ausgangsverfahren Beteiligten ............................................................................................... 231 III. Verpflichtung des Oesetzgebers zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes nur pro futuro .......................................................... 232 B. Bestimmung des Begriffs der Entscheidungserheblichkeit ........................... 235

1.

Historische Entwicklung: Die Etablierung der richterlichen Normenkontrolle in der Rechtsprechung der Weimarer Republik ....................... 235

II. Die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. 100 ...................... 239 I. Die anfängliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts .... 239

a) Entscheidungserheblichkeit von (den Kläger des Ausgangsverfahrens ) ungleich belastenden Normen ................................. 239 b) Entscheidungserheblichkeit drittbegünstigender Normen (Rechtsschutz gegen Begünstigungsausschlüsse) ....................... 240 c) Entscheidungserheblichkeit von (den Kläger des Ausgangsverfahrens ) begünstigenden Normen .......................................... 243 d) Zusammenfassung ...................................................................... 244 2. Spätere Erweiterungen der Vorlagemöglichkeiten im Bereich gleichheitswidriger Begünstigungsausschlüsse ................................ 244 3. Ausweitung der UnvereinbarerkHirung auf g1eichheitswidrig belastende Normen ........................................................................... 247

Inhaltsverzeichnis

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III. Die Funktion der Richtervorlage nach Art. 100 Abs. I GG .................... 252

I. Zwecke des konkreten Normenkontrollverfahrens ........................... 252 a) Schutz der Autorität des Gesetzgebers ....................................... 252 b) Rechtssicherheit durch Einheitlichkeit der Rechtsprechung ....... 253 c) Gewährleistung einer verfassungsmäßigen Entscheidung in einem bestimmten Gerichtsverfahren ........................................ 253 aa) Erkennbare Bedeutungslosigkeit der Rechtsfrage für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens ............................... 254 bb) Subsidiarität der Verfassungs gerichtsbarkeit ....................... 255 2. Das konkrete Normenkontrollverfahren im System der verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten ........................................ 255 a) Der objektive Charakter des konkreten NormenkontrolIverfahrens ................................................................................... 255 b) Unterschiede zur Verfassungsbeschwerde .................................. 258 c) Das konkrete Normenkontrollverfahren als Zwischenverfahren und Folgerungen für die Beurteilungskompetenz der Entscheidungserheblichkeit ........................................................ 259 C. Schlußfolgerungen für die Behandlung der Problemfälle ............................. 260

1.

Zulässigkeit der konkreten Normenkontrolle trotz bloßer Pro-futuroWirkung der Unvereinbarerklärung ........................................................ 260

I. Zu erwartende Fortgeltung der Norm auch bei Verfassungswidrigkeit .......................................................................................... 260 a) Endgültige Hinnahme des verfassungswidrigen Zustands für die Vergangenheit ...................................................................... 260 b) Vorübergehende Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm mit späterer rückwirkender Beseitigung des verfassungswidrigen Zustands ...................................................................... 267 2. Exkurs: Entscheidungserheblichkeit bei Vorlagen an den Großen Senat des Bundesfi nanzhofs ............................................................. 267 II. Entscheidungserheblichkeit bei Nichtigerklärung der Drittbevorzugung .................................................................................................... 270 I. Uneingeschränkte Maßgeblichkeit des idealtypischen Falls ............. 270 2. Zwischenergebnis ............................................................................. 272 III. Erfordernis der Beteiligung Benachteiligter am Ausgangsverfahren? .... 273 I . Das Rechtsfolgenargument ............................................................... 273 2. Versubjektivierung des Normenkontrollverfahrens? ........................ 274 3. Niemals Entscheidungserheblichkeit? .............................................. 277 IV. Zusammenfassung ................................................................................... 279

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Inhaltsverzeichnis

Dritter Teil Die Schutzrichtungen des Gleichheitssatzes § 5.

Keine Gleichheit im Unrecht? ............................................................................. 281 A. Fragestellung ................................................................................................. 281 B. Überprüfung der Formel "Keine Gleichheit im Unrecht" ............................. 284

1.

Anwendung der Formel im Bereich des Verwaltungshandelns ............. 284 I. Inhalt der Formel .............................................................................. 284 2. Herleitung und Begründung der Forme!... .............................. .. ........ 285 a) Grundfall: Rechtswidrige Verwaltungspraxis ............................. 285 b) Sonderfall: Durch rechtswidrige Verwaltungsvorschriften determinierte Verwaltungspraxis ................................................ 285

H. Anwendung der Formel auf Gesetze ....................................................... 286 I. Was ist "Unrecht"? ........................................................................... 287 2. Relativ größere Verfassungs nähe ..................................................... 289 3. Vergleich mit den Fällen der Rechtsanwendungsgleichheit ............. 290 C. Rechtsschutzfragen bei absolut rechtswidrigen Drittbevorzugungen ............ 290

1.

Rechtsschutz zur Verbesserung der eigenen Rechtsstellung? ................. 291 I. Rechtswidrige drittbevorzugende Verwaltungspraxis ...................... 291 a) Abwehr der gleichheitswidrigen Belastung bei Zurechnung der rechtswidrigen Verwaltungspraxis an den Gesetzgeber ....... 292 b) Weitergehende Verdrängung der Gesetzesbindung durch den Gleichheitssatz? .......................................................................... 295 2. Absolut verfassungswidrige Drittbevorzugung durch Gesetz ........... 300

H. Rechtsschutz zum Nachteil Dritter? ........................................................ 30 I I. Gleichheitswidrige Verwaltungspraxis ............................................. 302 2. Gleichheitswidrige Gesetze .............................................................. 305 a) Möglichkeit der Gleichstellung zum Nachteil Dritter in den Fällen der absolut verfassungswidrigen Drittbevorzugung ........ 305 b) Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. I GG ............... 3()7

Literaturverzeichnis .......................................................................................... 308 Sachwortverzeichnis .......................................................................................... 321

Einleitung § 1. Gang der Darstellung Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist das gleichheitswidrige Steuergesetz, das unter zwei Blickwinkeln betrachtet wird. Untersucht werden (A.) die Rechtsfalgen, die eintreten, wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz für verfassungswidrig erachtet, sowie (B.) das Problem, in welchen Fällen es auf die Verfassungsmäßigkeit von Nonnen gern. Art. 100 Abs. 1 GG im Verfahren vor den Fachgerichten ankommt, auf denen die Ungleichbehandlung beruht. Nicht behandelt wird - abgesehen von einem Exkurs, in dem Parallelen in der Argumentation auf Tatbestands- und auf Rechtsfolgenseite analysiert werden I - die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Gleichheitsverstoß zu bejahen ist.

A. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes Bevor die speziellen Rechtsfolgen eines gesetzlichen Gleichheitsverstoßes untersucht werden, müssen zunächst allgemein die Rechtsfolgen systematisiert werden, die das Bundesverfassungsgericht an die Verfassungswidrigkeit eines Gesetz knüpft. Diese werfen insbesondere im Bereich des Steuer- und Abgabenrechts eine Vielzahl weiterer Fragen auf. Die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Umgang mit verfassungsrechtlich zweifelhaften Steuergesetzen schwankte, wie noch gezeigt werden wird, und hatte lange keine klare Linie gefunden. Mittlerweile ist die von den §§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 BVerfGG grundsätzlich vorgesehene Nichtigerklärung eines verfassungswidrigen Gesetzes im Bereich des Steuer- und Abgabenrechts zur seltenen Ausnahme 2 geworden. 3 Vielfach beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht Unten § 3 B I 1 f. Nichtigerklärung erfolgte zuletzt aber wieder bei Landesabfallabgabengesetzen und kommunalen Verpackungsleuersatzungen, vgl. BVerfGE 98, 83 (lOS) und BVerfGE 83, \06 (133), bei der Beschränkung des Verlustausgleichs und Verlustabzugs nach § 22 Nr. 3 S. 3 EStG, vgl. BVerfGE 99,88 (88 f., 99 f.), und bei der Körperschaft- und Vermögensteuerpflicht kommunaler Wählervereinigungen, vgl. BVerfGE 99, 69 (69 f., 82 f.). Dagegen beschränkte sich das BVerfG wieder auf eine bloße Unvereinbarerklärung (mit jeweils unterschiedlichen Rechtsfolgen im Einzelfall) bei der Steuerfreiheit der Stellenzulage Ost, vgl. BVerfGE 99, 280 (254 f., 259 f.), und bei der FamilienbeI

2 Eine

2 Wernsmann

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§ I. Gang der Darstellung

auf eine bloße Verfassungswidrigerklärung des Gesetzes mit jedoch höchst unterschiedlichen Rechtsfolgen im Einzelfall. Zwar ist inzwischen4 auch die bloße Verfassungswidrigerklärung einfachgesetzlich in den §§ 31 Abs.2 S. 2 und 3, 79 Abs. 1 BVerfGG und nunmehr5 auch in § 165 Abs. 1 S.2 Nr. 2 AO anerkannt; über eine bruchstückhafte6 und kaum mehr als lückenhaft zu bezeichnende' Regelung geht sie indes nicht hinaus. Insbesondere sind weder Anwendungsbereich noch Rechtsfolgen einer bloßen Unvereinbarerklärung gesetzlich geregelt. Dies hat immer wieder zu Diskussionen in Rechtsprechung und Literatur geführt, wie nach der bloßen Verfassungswidrigerklärung eines Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht weiter zu verfahren sei. 8 In der Literatur steuerung, vgI. BVerfGE 99, 216 (218 f., 243 ff.); 99, 246 (247); 99, 268 (269); 99, 273 (274). Weitere umfassende Nachweise unten § 3 A. 3VgI. ArndtlSchumacher, NJW 1999,745 (748); Schwenke, DStR 1999,404 (405).Erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch, daß etwa Kirchhof, DStJG 18 (1995), 17 (39 f.) die Vorschriften der §§ 78 S. 1,82 Abs. 1,95 Abs. 3 BVerfGG, die die Rechtsfolgen regeln, wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz für verfassungswidrig hält, im Rahmen einer Behandlung dieses Themas überhaupt nicht mehr nennt. 4 Seit dem 4. Gesetz zur Änderung des BVerfGG vom 21.12.1970, BGBI. I 1970, 1765. ~ V gI. Art. 26 Nr. II StMBG v. 21.1 2. 1993, BGBI. I 1993, 2310. 6 Heußner, NJW 1982,257. 7 Battis, HStR VII, § 165 Rn. 79. 8 Aus neuerer Zeit sei an dieser Stelle die Kontroverse genannt, ob nach Ablauf der von BVerfGE 93, 121 (122) gesetzten Übergangsfrist (..Längstens bis zu diesem Zeitpunkt (sc. 31.12.1996) ist das bisherige Recht weiterhin anwendbar.") noch die Vermögensteuer für Veranlagungszeiträume bis zum 31.12.1996 einschließlich erhoben werden dürfe und das bisherige (verfassungswidrige) Recht somit insoweit auch noch nach dem 31.12.1996 ..angewendet" werden dürfe. Bejahend BFH DB 1997, 1377 ff.; FG Saarland EFG 1997, 771 f.; Niedersächsisches FG EFG 1997, 708; SchleswigHolsteinisches FG EFG 1998,427; BMF, DStR 1997,529; ArndtlJenzen, NJW 1997, 1678 (1683); Bilsdorfer, SteuerStud 1997, 412 (414 f.); Hartmann, DStZ 1997, 588 (589); Jachmann, JA 1998, 235 (240, 242); wohl auch Balke, in: TipkelLang, Steuerrecht, § 12 Rn. 73 a.E. (..Rechtslage aufgrund des noch bis zum 31.12. I 996 geltenden Vermögensteuergesetzes", Hervorhebung nur hier); verneinend FG Düsseldorf, BB 1997, 1297; Bornheim, DB 1997, 1534 (1538, 1539) mit weiteren Differenzierungen im einzelnen und m.w.N. auch der Diskussion in der Tagespresse (Fn. 9); List, DB 1997, 2297 (2300 f.) m.w.N.; Schüppen, DStR 1997, 225 (226 f.) - durch diesen Beitrag sah sich das Bundesfinanzministerium zu einer so bezeichneten ..Gegendarstellung" veranlaßt, DStR 1997,529; Felix, KÖSDI 1997, 11084 ff.; Frerichs, DStZ 1997,581 (588); PelkaiBalmes, DB 1997,2575 (2576); Rüth, DStZ 1997,589 (591). - Hier stellte sich die Frage, ob der vom Bundesverfassungsgericht genannte Stichtag den letzten "Anwendungszeitpunkt" oder den letzten "Geltungszeitpunkt" des für verfassungswidrig erkannten Rechts markiert. Die Dritte Kammer des nunmehr zuständigen Ersten Senats, BVerfG DStR 1998,643 (644) hat den vom Zweiten Senat in BVerfGE 93, 121 (122) formulierten Tenor entgegen seinem mißverständlichen Wortlaut, aber entsprechend den dort in den Gründen enthaltenen Argumenten mittlerweile so ausgelegt, daß es auf den Zeitpunkt der Verwirklichung des Steuertatbestandes ankommt und nicht auf den Zeitpunkt der Behördenentscheidung. - Siehe ferner bereits zu dem ähnlichen Problem, ob

A. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes

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wurde, was die Rechtsfolgen einer verfassungswidrigen Norm angeht, die Entwicklung "zu einem dogmatischen Labyrinth" konstatiert, "in dem sich selbst die Mitglieder des Gerichts kaum zurechtzufinden scheinen,,9, und die Gefahr gesehen, daß sich der Entscheidungsausspruch des Bundesverfassungsgerichts zu einem "unkalkulierbaren Lotteriespiel" entwickelt. 10 Erkennt das Bundesverfassungsgericht in einer Norm eineri Verfassungsverstoß, so stellen sich bei der Bestimmung der Rechtsfolge im Bereich des Steuerund Abgabenrechts besondere Probleme. I I Diese resultieren insbesondere aus zwei Faktoren:

die Privilegierung der Landwirte nach § 4 Abs. 1 S. 5 EStG trotz dessen Verfassungswidrigerklärung durch BVerfGE 28, 227 (227, 242 f.) fortgelte, FG Bad.-Württ. EFG 1972,278 (279); Flume, DB 1970, 1507 (1508); Kleeberg, BB 1970,964 (964 f.) und 1172 (1172 f.) einerseits und Pestalozza, AöR 96 (1971), 27 (36 Fn. 25); SchmidtBleibtreu, BB 1970, 1172 andererseits. - Auch die Entscheidungen des BVerfG v. 10.11.1998 (0. Fn. 2) zur Familienbesteuerung haben erneut Kontroversen ausgelöst, welche Rechtsfolgen sie auslösen. vgl. nur Arndt/Schumacher, NJW 1999, 745 (748); Schwenke, DStR 1999.404 (405) m.w.N. 9 So J. lpsen, JZ 1983,41 (41) mit Kritik insbesondere auch an Heußner. NJW 1982, 257 ff. - Bellda/Kleill, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1191 Fn. 109 kritisieren, daß der Leser den Beitrag des an BVerfGE 40,296 (329) und BVerfGE 57,335 beteiligten Richters Heußner, NJW 1982,257 (261) benötige, um den Rechtsfolgenausspruch zu verstehen. (Vornahme von Druckfehlerberichtigungen in Benda/Klein betreffend Fundstellen hier.) - Auch Heußner. NJW 1982,257 m.w.N. räumt ein, daß vieles bestritten und ungeklärt sei. Ebenso Aretz. JZ 1984, 918 (919); Sachs. DVBI. 1985. 1106. - Vgl. auch die Stellungnahme des Präsidenten des BAG in BVerfGE 82, 126 (138), der vorab für den Fall der Unvereinbarerklärung um "Klarstellung" bat, wie die Arbeitsgerichte in diesem Falle zu verfahren hätten. - Unklarheiten bestanden auch bei anderen Entscheidungen (etwa BVerfGE 79, 256), weshalb Schlaich. Das Bundesverfassungsgericht. Rn. 387 es für wünschenswert erachtet, daß sich das Bundesverfassungsgericht bei jeder Unvereinbarerklärung zu den Folgen äußern solle. - Erwähnenswert erscheint auch die Entscheidung BVerfGE 55, 100 ff., die ein durch eine Unvereinbarerklärung (BVerfGE 39, 316 (332 f.» veranlaßtes Änderungsgesetz für nichtig erklärte, obwohl der Gesetzgeber damit eine der vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich genannten Möglichkeiten (völliger Verzicht auf die Begünstigung. die bisher nur einer Personengruppe gleichheitssatzwidrig gewährt wurde, vgl. BVerfGE 39, 316 (332 f.» umgesetzt hatte; vgl. zur mangelnden Präzision der erstgenannten Entscheidung in bezug auf die Anforderungen an die Neuregelung auch lpsen. JZ 1983,41 (42); Jekewitz. DVBI. 1981, 1148; ders., DVBI. 1993,250 (251). - Diese und die in der vorigen Fußnote genannten Beispiele mögen ausreichen, um das mit den von der Nichtigerklärung abweichenden Tenorierungen bisweilen verbundene Durcheinander zu illustrieren. 10 Seer, NJW 1996, 285 (291). Glanegger, DStR 1999, 311 (312) sieht die Entscheidungsvarianten des BVerfG "in die Nähe einer Beliebigkeit" gerückt. 11 Vgl. BVerfGE 87. 153 (178), das sich insoweit ausdrücklich auf die "Besonderheiten des Steuer- und Haushaltsrechts" bezieht.

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§ I. Gang der Darstellung

(1) Das Steuerrecht ist Massenjallrecht. 12 Die Verpflichtung zur rückwirkenden Herstellung eines verfassungsmäßigen Zustandes kann daher auf tatsächliche oder rechtliche Hindernisse stoßen. 13

Im Zusammenhang mit der Vielzahl der betroffenen Fälle stehen andere Punkte. an denen ebenfalls deutlich wird. daß die herkömmlichen Wege der Folgenbewältigung verfassungswidriger Gesetze zumindest im Bereich des Steuerrechts. das in besonderem Maße auf Gleichbehandlung aller angelegt ist. 14 zunehmend als unbefriedigend empfunden werden. So wurde die Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG (ggf. i.V.m. § 82 Abs. I oder § 95 Abs. 3 S. 3 BVerfGG) traditionell damit gerechtfertigt. daß diejenigen. deren Entscheidungen unanfechtbar sind und die damit nach § 79 Abs. 2 BVerfGG nicht von einer Nichtigerklärung einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht profitieren. selbst Rechtsbehelfe hätten einlegen können und damit selbst zur Klärung der verfassungsrechtlichen Situation hätten beitragen können. 15 Dementsprechend 12 BirkiBarth, in: HübschmannlHepp/Spitaler, AO, § 4 Rn. 490; Birk, Steuerrecht I. § 11 Rn. 28; Schwenke, DStR 1999,404 (407). I3 Vgl. Maurer, Festschrift für W. Weber, S. 345 (365). 14 V gl. auch die Legaldefinition des Steuerbegriffs in § 3 Abs. I AO: "Geldleistungen, die ... allen auferlegt werden ... " Zwar handelt es sich insoweit nicht um ein Begriffsmerkmal der Steuer, da auch eine gleichheitswidrige Steuer eine (wenn auch verfassungswidrige) Steuer bleibt. Dennoch kommt in dieser Definition der Gemeinlastcharakter der Steuer zum Ausdruck und zeigt ein Wesensmerkmal des staatlichen Finanzierungsinstruments Steuer auf, vgl. BirkiEckhoff, in: HübschmannlHepp/Spitaler. § 3 AO Rn. 98. - Herzog, in: Bund der Steuerzahler, VI. Deutscher Steuerzahler-Kongreß 1991, S. 10 (11) bezeichnet den Gleichheitssatz dementsprechend auch als "Magna Charta des Steuerrechts". 15 So etwa Ipsen, Staatsrecht I, Rn. 924; auch Löwer, HStR H, § 56 Rn. 102, rechtfertigt die Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG gleichheitsrechtlich als Prämie auf die verfassungsrechtliche Wachsamkeit der Kläger und Beschwerdeführer: ,Jus scripturn est vigilantibus." Ebenso bereits der Berichterstatter Wahl, 112. Sitzung vom 18.1.1951, Steno Berichte, I. Bundestag, S. 4228 A. Insoweit auch Steiner, in: BVerfG und GG I, S. 628 (632 0, der aber die von § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG vorgenommene Differenzierung zwischen den rechtskräftigen und vollzogenen Hoheitsakten einerseits und den rechtskräftigen, aber noch nicht vollzogenen Hoheitsakten andererseits für gleichheitsrechtlich problematisch hält, da hier ein Verhalten prämiert werde, das - wie z.B. im Falle der Steuersäumnis - die Prämie des Vollstreckungsschutzes nicht verdiene, vgl. dens., S. 634. Diese Problematik stellt sich entgegen Steiner indes auch bei der von ihm für unbedenklich erachteten Differenzierung nach § 79 Abs. 2 Satz I BVerfGG zwischen rechtskräftigen und nicht rechtskräftigen Hoheitsakten, wenn etwa Veranlagungen aufgrund des Verhaltens des Steuerpflichtigen noch nicht vorgenommen wurden oder Bescheide aus anderen Gründen mehr oder weniger zufällig noch "offen" sind. Insoweit wie hier Trzaskalik, DB 1991, 2255 (2256), der die "Konsequenzen aus der Offenheit des Falles", die § 79 Abs. 2 BVerfGG zieht, zutreffend "eher als unverdientes Glück denn als verdienten Lohn prozessualer Bemühungen" einstuft. Das zur Rechtfertigung der Differenzierungen zwischen den bestandskräftigen und den anderen Fällen nach § 79 Abs. 2 BVerfGG vorgebrachte Argument trägt somit jedenfalls für den Bereich des Steuerrechts nicht. Unzutreffend erscheint allerdings der weitere gegen die Rechtfertigung des § 79 Abs. 2 BVerfGG vorgebrachte Einwand Trzaskaliks, OB 1991, 2255

A. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes

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hatte das Bundesverfassungsgericht in früheren Entscheidungen der Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG noch den allgemeinen Rechtsgrundsatz l6 entnommen, daß eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit der eine Vorschrift für nichtig l7 erklärt wird, grundsätzlich (von der Ausnahme eines rechtskräftigen Strafurteils abgesehen) keine Auswirkungen auf abgewickelte Rechtsbeziehungen haben sollte, und dessen Verfassungsmäßigkeit sowohl unter dem Aspekt der Einzelfallgerechtigkeit und des Rechtsschutzes als auch des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. I GG umfassend aus Gründen der Rechtssicherheit bejaht. 18 Dagegen hat nunmehr auch das Bundesverfassungsgericht eine Differenzierung im Rahmen einer rückwirkenden Neuregelung zwischen rechtsförmlich abgeschlossenen und noch anhängigen Verfahren, wie sie dem Rechtsgedanken des § 79 Abs. 2 BVerfGG entsprechen würde, jedenfalls für allgemeine, jedem (Einkommen- )Steuerfall zugrundeliegende Tatbestände als nicht mehr sachgerecht erachtet,19 da die Frage, ob der einzelne Steuerfall abschließend (2256 f.), daß es keine verfahrensrechtliche Obliegenheit zur Rüge der Nichtigkeit des Gesetzes gebe. Nach Trzaskalik erleidet der Kläger keinen Rechtsverlust, wenn er vor den Fachgerichten die Nichtigkeit der zugrundeliegenden Nono nicht rüge. Insoweit fehlt indes eine Auseinandersetzung mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, vgl. etwa BVerfGE 59, 63 (82 f.); 63,77 (78); 68, 376 (379 f.); 74, \02 (113); 83, 216 (228 ff.); 84, 203 (208), wonach die Verfassungsbeschwerde unzulässig ist, wenn der Verfassungsverstoß nicht bereits vor den Fachgerichten gerügt wurde (vgl. ferner Kley/Rühmann, in: UmbachlClemens, BVerfGG, § 90 Rn. 96; kritisch zu dieser materiellen Rügepflicht etwa Bender, NJW 1988, 808 (809 f.); Posser, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, S. 188 ff.; Schlaich. Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 241; Warmke, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, S. 115 ff.). Zweifelhaft ferner Trzaskalik, wonach "der Verzicht auf den direkten Angriff auf das Gesetz mit der Verfassungsbeschwerde nicht zum Verlust der Rügemöglichkeit der Verfassungswidrigkeit im Zusammenhang mit einem Vollzugsakt" führe. Sofern es eines Vollzugsaktes bedarf, fehlt ohnehin regelmäßig die "unmittelbare" Betroffenheit des Beschwerdeführers durch das Gesetz mit der Folge, daß eine etwaige Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz direkt ohnehin unzulässig wäre, vgl. zum Erfordernis der "unmittelbaren" Betroffenheit nur BVerfGE 72, 39 (43); Jarass/Pieroth, 00, Art. 93 Rn. 45. Dann kann indes der Verzicht auf diese (unzulässige) Möglichkeit ohnehin zu keinem Rechtsverlust führen. 16 So BVerfGE 32, 387 (389 f.); vgl. auch BVerfGE 20, 230 (236); 37, 217 (263); 48,327 (340); 91, 83 (90 f.). 17 Auf Unvereinbarerklärungen wendet das Bundesverfassungsgericht § 79 Abs. 2 BVerfGG analog an, vgl. BVerfGE 37, 217 (262 f.); 48, 327 (340, 34\); 84, 9 (21, 24). - Die Unvereinbarerklärung ist dagegen seit der Änderung des BVerfGG durch das o.g. 4. Änderungsgesetz in § 79 Abs. 1 BVerfoo ausdrücklich gleichrangig neben der Nichtigerklärung genannt. 18 Vgl. BVerfGE 2,380 (404 f.); 7, 194 (195 ff.); 11,263 (265); 19, 150 (166); 32, 387 (390); 53, 115 (130). Ebenso BFH BStBI. II 1994, 380 (381); Friauf, FR 1969, 319 (319 f.). Vgl. auch Herzog, in: MaunzlDürig, GG, Art. 20 Rn. VI 12. 19 Vgl. auch zu den Bedenken des Schrifttums gegen die Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG speziell für den Bereich des Steuerrechts Vlsamer, in: MaunzlSchmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, BVerfGG, § 79 Rn. 4; Stuth. in: UmbachlClemens, BVerfGG, § 79 Rn. 8.

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§ I. Gang der Darstellung

entschieden wurde, vielfach nicht von Rechtsbehelfen des Steuerpflichtigen, sondern vom Verhalten der Behörden abhängt. 2o Damit ist der klassische Grundsatz ,Jura scripta sunt vigilantibus", der § 79 Abs. 2 BVerfGG zugrunde liegt,21 dessen Berechtigung in der Rechtsordnung des sozialen Rechtsstaates sich indes Einwendungen insbesondere in bezug auf die Belange derjenigen, denen die Fähigkeit zur Wachsamkeit fehlt, ausgesetzt sieht,22 auch durch das Bundesverfassungsgericht in Frage gestellt worden. Insoweit setzt das Bundesverfassungsgericht23 zutreffend unausgesprochen voraus, daß eine Korrekturpflicht von Steuerbescheiden wegen der (später erkannten) Verfassungs widrigkeit der zugrundeliegenden Normen nach den Vorschriften der AO nicht besteht. Denn das Problem der Differenzierung zwischen bestandskräftigen und noch offenen Fällen würde sich gar nicht stellen, wenn 20 BVerfGE 87, 153 (180); in der Argumentation ebenso BVerfG DStR 1998, 643 (644). - Ähnliche Bedenken gegen die Ungleichbehandlung der "rechtskräftigen und nicht rechtskräftigen Veranlagungen" hegte unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 Abs. I GG bereits BFHE 65,520 (521) "im Hinblick auf die große Zahl der Fälle". Auch Flume, Handelsblatt Nr. 32 v. 15./16.3.1957, S. 5 (linke Spalte) bezeichnete die "Ungleichmäßigkeit der Besteuerung für die Vergangenheit" als "zutiefst beklagenswert." Diese Bedenken verwarf BVerfGE 7, 194 (197): "Unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit rechtfertigt gerade die große Zahl bereits rechtskräftiger Veranlagungen die in § 26 Abs. 5 EStG (sc. 1957; diese Regelung stimmte inhaltlich mit § 79 Abs. 2 BVerfGG überein; Anm. d. Verf.) getroffene Regelung." - Anders als BVerfGE 87, 153 (180) - ExistenzminimumlGrundfreibetrag - insoweit noch ausdrücklich BVerfGE 82, 60 (97) und 82, 198 (208) - Familiäres Existenzminimum -, wo der Gesetzgeber in Übereinstimmung mit § 79 Abs. 2 BVerfGG nur zu einer Behebung des Verfassungsverstoßes "in den noch nicht bestandskräftig gewordenen Fällen" verpflichtet wurde. In dieser Weise ist der Gesetzgeber dann auch verfahren und hat die Erhöhung der Kinderfreibeträge ausdrücklich auf alle im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch nicht bestandskräftigen Steuerfestsetzungen beschränkt, vgl. Art. I Nr. 18 des Steueränderungsgesetzes 1991, Gesetz vom 24.6.1991, BGBI. 11991,1322. Dies für verfassungsmäßig erachtend dann (in Anbetracht von BVerfGE 82, 198 (208) konsequent) BFH BStBI. 11 1994,389 (392); ebenso SchmidtlSeeger, EStG, § 2 Rn. 1. Wie BVerfGE 82, 60 (97) und 82, 198 (208) jetzt wieder zwischen bestandskräftigen und noch offenen Fällen (jedenfalls unter bestimmten Voraussetzungen) differenzierend BVerfGE 99,246 (267 f.); 99, 268 (272 f.); 99, 273 (278 f.), ebenfalls zur Steuerfreiheit des Kinderexistenzminimums. - Zu weiteren (verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen) Bedenken im Zuge der Reformdiskussion des § 79 Abs. 2 BVerfGG (insbesondere in den 60er Jahren) vgl. auch ausführlich lpsen, Rechtsfolgen, S. 82 ff. und v. Arnim, Zur Wirkung verfassungswidriger Gesetze, S. 11, 13 mit dem Vorschlag, daß das Bundesverfassungsgericht gesetzlich ermächtigt werden solle, die Wirkungen seiner Entscheidungen auch auf bereits rechtskräftige Fälle auszudehnen, wenn es dies im Interesse der Gerechtigkeit für erforderlich halte. 21 Vgl. zur Entstehungsgeschichte des § 79 Abs. 2 BVerfGG die Ausführungen des Berichterstatters Wahl, 112. Sitzung vom 18.1.1951, Steno Berichte, I. Bundestag, S. 4228 A. 22 So schon Friauj. FR 1969, 319 (320); v. Arnim, Zur Wirkung verfassungswidriger Gesetze, S. 8. 23 BVerfGE 87,153 (180); BVerfG DStR 1998,643 (644).

A. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes

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auch die bestandskräftigen Bescheide nach AO-Vorschriften (sei es § 173 Abs. 1 A0 24 , sei es § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 A025 ) in jedem Falle geändert werden müßten. Dieser Sichtweise ist zuzustimmen, da juristische Subsumtionen (die rechtliche Würdigung von Tatsachen) und Rechtsnormen keine Tatsachen LS.d. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO darstellen26 ; außerdem ist die Korrekturvorschrift des § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO auch deshalb nicht einschlägig, weil § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nur das nachträgliche Bekanntwerden bereits ursprünglich vorhandener Tatsachen betrifft. 27 § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO ist deshalb nicht einschlägig, weil der Ereignisbegriff ebenfalls sachverhaltsbezogen zu verstehen ist. 28 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts können nicht unter den Begriff des Ereignisses subsumiert werden, wie sich auch aus der Entstehungsgeschichte des § 175 AO ergibt. Eine Abweichung von dem Rechtsgedanken des § 79 Abs. 2 BVerfGG, der herkömmlich als ..allgemeiner Rechtsgrundsatz" angesehen wurde, hätte der Gesetzgeber, so er sie gewollt hätte, ausdrücklich geregelt. 29 Diese Sichtweise wird ferner bestätigt durch die Entstehungsgeschichte des § 79

24 In diesem Sinne, aber unzutreffend Niedersächsisches FG FR 1992, 692, das in der ..durch die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung festgestellte Verfassungswidrigkeit der bisherigen Regelung der Kinderfreibeträge" (BVerfGE 82, 60 ff.; 82, 198 ff.) eine nachträglich bekanntgewordene Tatsache sah, an deren nachträglichem Bekanntwerden den Steuerpflichtigen auch kein grobes Verschulden getroffen habe. Im Ergebnis nahm das Niedersächsische FG FR 1992,692 (zustimmend Felix, FR 1992,693; aufgehoben durch BFH BStBI. 11 1994, 389 ff.) an, daß die infolge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erhöhten Kinderfreibeträge - gegen den ausdrücklichen Wortlaut der Neuregelung durch den Gesetzgeber, die eine zeitliche Beschränkung vorsah, und gegen den Rechtsgedanken des § 79 Abs. 2 BVerfGG - auch in allen bereits bestandskräftigen, aber noch nicht verjährten Einkommensteuerfestsetzungen gern. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu berücksichtigen seien. 25 In diesem Sinne, wenngleich ebenfalls nicht überzeugend Tipke/Kruse, § 175 AO Tz. 9, 19, die den Begriff des Ereignisses im Sinne des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO, der eine Korrekturpflicht auslöst, nicht nur sachverhaltsbezogen verstehen (anders aber dies .• vor § 130 AO Tz. 5) und daher entgegen h.M. (Seer. DStR 1993, 307 (313) m.w.N.; ders .• in: TipkelLang, Steuerrecht, § 22 Rn. 438) und ihrer Auffassung der Vorauflage auch die .. rückwirkende Nichtigerklärung einer Norm" durch das Bundesverfassungsgericht als Fall des § 175 AO ansehen. Danach soll § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO eine ..besondere gesetzliche Regelung" i.S.d. § 79 Abs. 2 BVerfGG enthalten mit der Folge, daß auch die bestandskräftigen Steuerbescheide im Falle der Nichtigerklärung einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht aufgehoben werden müßten. 26 Zutreffend FG Baden-Württemberg EFG 1993, 122 f.; FG Nümberg EFG 1993, 123 f.; FG München EFG 1993, 124 f.; Hessisches FG EFG 1994, 598; Jakob, Abgabenordnung, § 15 Rn. 19; KleinlRüsken, AO, § 173 Anm. 4a m.w.N.; Seer, DStR 1993, 307 (312 f.); von Wedelstädt, in: Beermann. Steuerliches Verfahrensrecht, § 173 AO Rn. 9. 27 Vg l. Hessisches FG EFG 1994,598; KleinlRüsken. AO, § 173 Anm. 4c a.E. 28 Zutreffend Seer, in: TipkelLang, Steuerrecht, § 22 Rn. 438 m.w.N. 29 Zutreffend Seer, DStR 1993,307 (313).

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§ I. Gang der Darstellung

Abs. 2 BVerfGG. Diese belegt, daß die Klausel "vorbehaltlich ... einer besonderen gesetzlichen Regelung" so zu verstehen ist, daß dem Gesetzgeber (im Einzelfall) ermöglicht werden sollte einzugreifen, wenn die Regelung des § 79 BVerfGG für die Beteiligten eine besondere Härte darstellen würde, also nach Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. 3D Das bedeutet aber, daß zumindest im Zeitpunkt des Erlasses des § 79 Abs. 2 BVerfGG der Gesetzgeber davon ausging, daß es keine aus anderen Vorschriften (etwa der Vorläuferregelung des § 175 Abs. I Nr. 2 AO, dem § 4 Abs. 3 Nr. 2 StAnpG) folgende Pflicht zur Korrektur von Verwaltungsakten gebe, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen. Die Wendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG "bleiben unberührt" ist nur so zu verstehen, daß die verfassungsgerichtliche Entscheidung keine neuen Rechtsschutzmöglichkeiten eröffnet, wohl aber die behördliche Aufhebung eines Verwaltungsaktes ermöglicht, sofern diese nach den allgemeinen Regeln, etwa der §§ 48 VwVfG, 130 AO, möglich ist. 3! Insoweit handelt es sich jedoch nicht um eine "Einschränkung der starren Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG,,32, da § 79 Abs. 2 BVerfGG nur Urteile und Verwaltungsakte gegenüber den Korrekturansprüchen derer schützen will, die aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Nutzen ziehen wollen. 33 § 79 Abs. 2 BVerfGG betrifft daher insoweit gar nicht die Möglichkeit der Behörde, den (infolge der Verfassungswidrigkeit) rechtswidrigen Verwaitungsakt aufzuheben. 34 Allerdings müssen die Voraussetzungen der Korrekturnormen vorliegen, und die Behörde muß ggf. ihr Ermessen fehlerfrei ausüben. Für die Aufhebung von Steuerbescheiden gelten indes nur die besonderen Korrekturnormen der §§ 129, 172 ff. AO, die eine Aufhebung oder Änderung im Falle der Verfassungswidrigbzw. Nichtigerklärung wie gesehen nicht ermöglichen. Dennoch zeigt sich auch an diesen im Ergebnis abzulehnenden Ansätzen 35 das Unbehagen an einer Differenzierung, wie sie nach dem Gedanken des § 79 Abs. 2 BVerfGG vorzunehmen wäre. 36

30 Vgl. Berichterstatter Wahl und Neumayer, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 112. Sitzung vom 18.1.1951, Stenogr. Berichte, S. 4228 linke Spalte und S. 4234 rechte Spalte. 3! Vgl. Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 20 Rn. 4; Schia ich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 356. 32 So aber Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 356. 33 V gl. Steiner, in: Festgabe für das BVerfG I. S. 628 (646). 34 So auch schon der Berichterstatter Neumayer (oben Fn. 30). 35 Niedersächsisches FG FR 1992, 692 (für § 173 Abs. I NT. 2 AO); Tipke/Kruse, § 175 AO Tz. 9, 19 (für § 175 Abs. I NT. 2 AO). 36 Gi/ay, DStZ 1990, 599 (600) hält die Bevorzugung der .. Anfechtungs-Bürger" gegenüber den .. rechtsvertrauenden Bürgern" ebenfalls für höchst unbefriedigend, erwägt jedoch die ..Festschreibung des absoluten Rechtsfriedens", indem der Verfassungsverstoß generell nur für die Zukunft beseitigt werden muß, vgl. dens., S. 602. - Ob diese ..Gleichheit aller im Unrecht" (nämlich der Verfassungswidrigkeit) hingenommen wer-

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So können Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen der Gesetzgeber nur zur Beseitigung eines festgestellten Verfassungsverstoßes für die Zukunft aufgefordert wird, auch als Beitrag zu einer Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen verstanden werden, unabhängig davon, ob ihre Steuerbescheide mehr oder weniger zufällig noch offen sind. 37 Diese Gleichbehandlung wäre durch § 79 Abs. 2 BVerfGG, der bezüglich des Profitierens von der Verfassungswidrig- bzw. Nichtigerklärung einer Norm nach den bestands- bzw. rechtskräftig abgeschlossenen und vollständig - etwa durch Zahlung - abgewikkelten Fällen einerseits und den übrigen Fällen andererseits differenziert, nicht gewährleistet. Freilich erscheint fraglich, ob die weitere Anwendbarkeit der als verfassungswidrig erkannten Norm mit dem Argument der Erfordernisse eines "gleichmäßigen Verwaltungs vollzuges für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung,,38 gerechtfertigt werden kann. Denn damit wird die gesetzliche Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG, die einen "ungleichmäßigen" Gesetzesvollzug je nach den dort genannten Differenzierungskriterien anordnet, unterlaufen und in ihr Gegenteil verkehrt. Der einzig mögliche Weg wäre, wenn und soweit eine verfassungskonforme Auslegung nicht in Betracht kommt, die Verfassungswidrig- und ggf. Nichtigerklärung des § 79 Abs. 2 BVerfGG, nicht aber dessen Umgehung durch vom Bundesverfassungsgericht selbst geschaffene Tenorierungen, die gerade mit dem Zweck der "Sicherung eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzuges für weitgehend schon abgeschlosse-

den kann und ob die Gleichheit aller Steuerpflichtigen in Zusammenschau mit den fiskalischen Auswirkungen eine Hinnahme des verfassungswidrigen Zustands für die Vergangenheit rechtfertigen kann, wird unten § 2 C III 3 c aa, bb noch geprüft. 37 So rechtfertigen BVerfGE 93, 121 (148) und BVerfGE 93,165 (178) die weitere Anwendung der als verfassungswidrig erkannten Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung für zurückliegende Kalenderjahre ausdrücklich nicht nur mit den Erfordernissen verläßlicher Finanz- und Haushaltsplanung, sondern auch mit den Erfordernissen "eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung". Dieser wäre bei Zugrundelegung der Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG nicht gewährleistet, wenn der verfassungswidrige Rechtszustand auch für die Vergangenheit durch eine verfassungskonforme Neuregelung ersetzt werden müßte. Auch nach Kirchhof, HStR V, § 124 Rn. 146 vermag das Postulat der "Gleichheit in der Zeit" die vorübergehende Fortgeltung eines als verfassungswidrig erkannten Gesetzes zu rechtfertigen. BVerfG DStR 1998, 643 (644) spricht davon, daß die Gleichheit der steuerlichen Belastung "in der Zeit" verfehlt würde, wenn die steuerliche Belastung von einem gewillkürten Handeln der Steuerpflichtigen oder der Behörde abhinge. Vgl. ferner Trzaskalik, DB 1991, 2255 (2258). 38 So BVerfGE 93, 121 (148); 93, 165 (178); ähnlich bereits BVerfGE 87, 153 (180): Dort wurde die weitere Anwendbarkeit der für verfassungswidrig erklärten Grundfreibetragsregelung zwar noch nicht mit den Erfordernissen eines gleichmäßigen Gesetzesvollzuges für die Vergangenheit begründet (BVerfGE 87, 153 (177 ff.», aber eine mögliche Reaktion des Gesetzgebers, die zwischen rechtsförmlich abgeschlossenen und noch anhängigen Verfahren differenziert, für "schwerlich sachgerecht" erachtet. Ebenso Kirchhof, HStR V, § 124 Rn. 146.

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§ I. Gang der Darstellung

ne Veranlagungszeiträume,,39 begründet werden. Auch hier gilt, daß richterliche Rechtsfortbildung contra legern nur möglich ist, wenn die Norm, die überwunden werden soll, für verfassungswidrig erklärt wird. 40 Die uneingeschränkte Fortgeltung des verfassungswidrigen Rechts für die Vergangenheit führt ferner dazu, daß nicht einmal der erfolgreiche Kläger bzw. Beschwerdeführer, der die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erstritten hat, für den der Entscheidung zugrundeliegenden Fall von der Entscheidung profitiert. 41 Allenfalls erreicht der Beschwerdeführer trotz Erfolglosigkeit seiner Verfassungs beschwerde im Ergebnis eine Erstattung seiner Auslagen nach § 34a Abs. 3 BVerfGG; dagegen hat der Kläger des Ausgangsverfahrens, wenn die Entscheidung in einem konkreten Normenkontrollverfahren erging, als unterliegender Beteiligter regelmäßig auch noch die Verfahrenskosten zu tragen. 42 In der Sache selbst erfolgt also insoweit eine Gleichbehandlung (a) derjenigen, die sich gegen das verfassungswidrige Recht gewehrt haben, und (b) derjenigen, deren Bescheide zufällig noch offen sind, sowie (c) derjenigen, deren Bescheide schon bestandskräftig sind. Allerdings tritt die Bestandskraft, sofern schon ,,Musterverfahren" anhängig sind, im Anwendungsbereich der AO nicht ein, sofern die Finanzverwaltung die Bescheide gern. § 165 Abs. 1 Nr. 3 AO n.F. 43 für vorläufig erklärt; die Bescheide sind dann insoweit noch offen, als die 39 So BVerfGE 93, 121 (148) und BVerfGE 93, 165 (178), wo gar von Erfordernissen gesprochen wird. Gegen § 79 Abs. 2 BVerfGG gerichtet auch schon BVerfGE 87, 153 (180), dort freilich nicht zur Begründung der uneingeschränkten Fortgeltung des verfassungswidrigen Rechts herangezogen. 40 Ebenso Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, S. 603 f.; Birkl Barth, in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 349; Gusy, JuS 1983, 189 (194); JarasslPieroth, GG, Art. 20 Rn. 28; a.A. aber BVerfGE 34, 269 (284), wo eine Rechtsfortbildung contra legern (das Überspielen des § 253 BGB durch die Zivilrechtsprechung) gebilligt und eine Vorlage nach Art. 100 Abs. I GG für entbehrlich gehalten wurde. 41 Für einen Anspruch (nur) des Anspruchstellers auf rückwirkende Gewährung einer zeitbezogenen Leistung aber Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 79 a.E. Dagegen für eine solche Lösung ein Gesetz für erforderlich haltend jedoch ders., Focus 10/1996, 94 (98). Das BVerfG hat nunmehr in seinen Entscheidungen vorn 10.11.1998 die Normen über die Familienbesteuerung für verfassungswidrig erklärt und erstmals folgende Rechtsfolge der Verfassungswidrigerklärung ausgesprochen: Nur die Beschwerdeführer bzw. Kläger des Ausgangsverfahrens (sog. Anlaßfälle) sollen von einer im übrigen nur pro futuro wirkenden Unvereinbarerklärung profitieren; vgl. BVerfGE 99, 246 (267 f.); 99, 268 (272 f.); 99, 273 (278 f.). Dies entspricht im Ergebnis der Regelung des Art. 140 Abs. 7 S. 2, 3 der österreichischen Bundesverfassung. Gegen eine solche Entscheidungsvariante wird zutreffend eingewandt, daß dafür im deutschen Recht keine rechtlichen Grundlage besteht und das BVerfG insoweit gegen das Gewaltenteilungsprinzip verstoßen hat, vgl. Schwenke, DStR 1999,404 (407). 42 Zur Frage der Auslagen/Kosten näher unten § 2 C III 2 a. 43 Geändert durch Art. 26 Nr. 11 StMBG vorn 21.12.1993, BGBI. I, 2310.

A. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes

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Steuerfestsetzung von einer Norm abhängt, deren Vereinbarkeit mit höherrangigern Recht Gegenstand eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht ist. Soweit der Bescheid indes keinen Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 AO enthält, ist aber zur Verhinderung des Eintritts der Bestandskraft weiter ein Einspruch erforderlich; ggf. ruht das Einspruchsverfahren dann insoweit gern. § 363 Abs. 2 S. 2 AO. (2) Die zweite Besonderheit, die sich auf die Rechtsfolgen eines verfassungswidrigen Steuergesetzes auswirkt, liegt in der Haushaltsrelevanz des Steuerrechts begründet. Dem Steuerrecht kommt die Aufgabe zu, den Gegenwartsbedarf der öffentlichen Haushalte durch Teilhabe am jeweiligen Gegenwartseinkommen (bzw. gegenwärtigen Vermögen oder Konsum) der Steuerpflichtigen zu decken. 44 Eine rückwirkende Neuregelung des verfassungswidrigen Rechtszustandes könnte die Verläßlichkeit der Finanz- und Haushaltsplanung sowie der entsprechenden Finanz- und Haushaltswirtschaft gefährden, weil eine rückwirkende Neuaufrollung vieler Steuerfälle für viele Jahre zu Belastungen gegenwärtiger Haushalte führen würde. 45 VerfassungsrechtIich geforderte rückwirkende EntIastungen mit rückwirkenden anderweitigen Belastungen zu verbinden wird in der Regel am rechtsstaatIich geforderten Vertrauens schutz scheitem. 46 Mit Blick auf die Folgen einer etwaigen Nichtigerklärung eines Steuergesetzes konnte sich das Bundesverfassungsgericht früher daher nur sehr vorsichtig dazu entschließen, Steuergesetze für verfassungswidrig zu halten. 47 Die jetzt zunehmend angewendete Unvereinbarerklärung eines Steuergesetzes, verbunden mit dessen vorübergehender Fortgeltung, führt indes zu einer Hinnahme des verfassungswidrigen Zustandes für die Vergangenheit. Dies wirft eine Vielzahl von Problemen auf: Der Verfassungsverstoß, dessen Feststellung durch das Bundesverfassungsgericht der Steuerpflichtige auf dem Weg durch die Instanzen erkämpft hat, bleibt für die Vergangenheit, in der sich der ent-

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BVerfGE 87, 153 (179); 96, I (7). So BVerfGE 87, 153 (178 f.); BVerfGE 93, 121 (148). Vgl. auch Kanzler, FR

1999,148 (149). 46 Maurer, Festschrift für W. Weber, S. 345 (365). Vgl. zuletzt etwa BVerfGE 99, 280 (299 f.) zur (verfassungswidrigen) Steuerfreiheit der sog. Stellenzulage Ost und BVerfGE 99, 69 (83) zur Verfassungswidrigkeit der Verrnögen- und Körperschaftsteu-

erpflicht kommunaler Wählervereinigungen im Gegensatz zur Steuerfreiheit von Parteien. Das BVerfG führte hier ausdrücklich aus, daß der Gleichheitsverstoß für die Vergangenheit nicht in der Weise beseitigt werden dürfe, auch die Parteien in die Steuerpflicht einzubeziehen, da dies eine unzulässige Rückwirkung zu Lasten der bisher privilegierten Parteien darstelle. 47 Birk, StuW 1990, 300; v. Arnim, Zur Wirkung verfassungswidriger Gesetze, S. 5.

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§ I. Gang der Darstellung

schiedene Fall in der Regel zugetragen hat, sanktionslos. Eine solche Erscheinung ist zwar nicht singulär48 , bedarf aber besonderer Rechtfertigung. 49

B. Bedeutung der Tenorierung für die Entscheidungserheblichkeit Weitere Probleme werfen die unterschiedlichen Rechtsfolgen, die sich an einen Verfassungsverstoß knüpfen (bzw. im Falle einer Sachentscheidung zu erwarten wären), im prozessualen Bereich auf. 50 Häufig entscheidet das Bundesverfassungsgericht aus verfassungsprozessualen Gründen nicht zur Sache, wenn Gleichheitsverstäße im Streit sind. 51 Problematisch sind insoweit insbesondere folgende Konstellationen:

( I) Diejenige Vergleichs gruppe, der der Rechtsschutzsuchende angehört, ist gesetzlich von einer "Begünstigung,,52 ausgeschlossen. Geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, daß eine Ausdehnung der Begünstigung durch den Gesetzgeber auf die bisher ausgeschlossene Gruppe von Verfassungs wegen unzulässig oder aus anderen Gründen nicht zu erwarten wäre, so hätte dies zur

4X Eine ähnliche Problematik stellt sich etwa im Bereich des öffentlich-rechtlichen Vertrages. Auch hier führt nach der gesetzlichen Fehlerfolgenregelung des § 59 Abs. 1 und 2 VwVfG nicht jeder Rechtsverstoß zur Nichtigkeit des Vertrages, vielmehr gibt es Rechtsverstöße, die sogar völlig sanktionslos bleiben, vgl. dazu nur Erichsen. Jura 1994. 47 (47. 50) m.w.N. Als weitere Beispiele könnten etwa Fehlerfolgenregelungen wie § 46 VwVfG, § 127 AO genannt werden sowie aus dem Bereich des Zivilrechts die Figuren des sog. faktischen Arbeitsverhältnisses sowie der faktischen Gesellschaft, die zumindest für die Vergangenheit wegen der unlösbaren Rückabwicklungsprobleme als existent anerkannt werden. Ob die insoweit zur Rechtfertigung vorgebrachten Gründe die Anordnung der Fortgeltung verfassungswidriger Gesetze begründen können. wird unten § 2 C 111 3 näher untersucht. 49 Vgl. auch Kirchhof, Focus 1011996, S. 94 (98), der die Fortgeltung des alten (verfassungswidrigen) Rechts als "im Grunde intellektuelle Zumutung" bezeichnet. aber "keine Alternative" sieht. 50 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Aretz. JZ 1984, 918 (919); Sachs. DVBI. 1985, 1106: "Die Zurückhaltung ... beruht ... auf einer grundsätzlichen Unklarheit über die Rechtsfolgen, die sich bei bloßen Unvereinbarerklärungen von Rechtsnormen für die nach solchen Vorschriften zu entscheidenden Prozesse ergeben:' 51 Kritisch zu diesen Rechtsschutzrestriktionen im Bereich des Gleichheitssatzes etwa BFH BStBI. 11 1991,885 (887 f.); BirkiBarth. in: HübschmannlHepp/Spitaler. § 4 AO Rn. 301 f. mit Fn. 198,199; Ehlers. in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner. VwGO. Anhang § 40 Art. 100 Abs. 1 GG Rn. 34 ff., 39: Pezzer, in: Umbach/Clemens. BVerfGG. S. 70 Rn. 6 ff.; Tipke. Die Steuerrechtsordnung, Bd. 111. S. 1392 fL das .. GmbHR 1996,8 (9); Völlmeke. NJW 1992, 1345 tl; Wernsmann. FR 1999.242 (244 ff.). 52 Zur teilweise mißverständlichen und ungenauen Verwendung der Begriffe "Begünstigung", "Bevorzugung" und "Besserstellung" vgl. freilich noch unten § 3 B I I a aa.

B. Bedeutung der Tenorierung für die Entscheidungserheblichkeit

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Folge, daß die drittbegünstigende Norm für nichtig und nicht bloß für unvereinbar mit der Verfassung erklärt werden würde. In diesem Fall hält das Bundesverfassungsgericht entsprechende Richtervorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG mangels Entscheidungserheblichkeit53 und entsprechende Verfassungsbeschwerden mangels Selbstbetroffenheit54 oder mangels Rechtsschutzbedürfnisses55 für unzulässig. Dies wird damit begründet, daß der Rechtsschutzsuchende seine Rechtsposition durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts insoweit keinesfalls verbessern könne. Die Verfahren sollen nur unter eingeschränkten Voraussetzungen zulässig sein. Das Bundesverfassungsgericht verlangt insoweit, daß die gleichheitswidrige Norm nur für unvereinbar erklärt wird. Dadurch erhält der Kläger bzw. Beschwerdeführer zumindest die Chance, daß der Gesetzgeber nach der Unvereinbarerklärung durch das Bundesverfassungsgericht eine Neuregelung trifft, die auch ihn als Mitglied des bisher ausgeschlossenen Personenkreises begünstigt. 56 Eine Verfassungsbeschwerde des von einer Begünstigung Ausgeschlossenen hält das Bundesverfassungsgericht ferner dann für zulässig, wenn er schlüssig darlegt, daß die driubegünstigende Steuernorm seine Weubewerbsfahigkeit gegenüber dem Begünstigten beeinträchtige. 57 (2) Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts sind Richtervorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG mangels Entscheidungserheblichkeit unzulässig, wenn der Richter in einem Rechtsstreit eine Norm für verfassungswidrig hält, durch die nach seiner Auffassung lediglich am Verfahren nicht beteiligte Dritte in ihren Grundrechten beeinträchtigt (benachteiligt) werden. 58 Das bedeutet folgendes: Klagt im Ausgangsverfahren eine Person, der nach dem Gesetz eine Begünstigung zusteht, auf Gewährung dieser Begünstigung und hält das Gericht dieses Gesetz für gleichheits- und damit verfassungswidrig, weil eine andere (am Ver-

~) Exemplarisch BVerfGE 84, 233 (237 f.) betreffend Steuer- (und Straf-)freiheit für Steuersünder, die für die Zukunft ihre Zinseinkünfte deklarieren. ~4 So BVerfGE 49, I (8 f.) betreffend Steuerfreiheit von Abgeordnetenbezügen; BVerfG (Kammer) EuGRZ 1997,380 (381) m.w.N. ~~ Vgl. auch BVerfGE 23, 242 (254 ff.). Dort wurde eine Verfassungsbeschwerde eines Vermögensteuerpflichtigen, der nach realitätsgerechten Werten besteuert wurde, für "unbegründet" gehalten, da eine Einbeziehung in die Begünstigung (nämlich die realitätsfern niedrigen Einheitswerte für Grundbesitzer) nicht in Betracht kommen könne. Der Sache nach werden in der Entscheidung Aspekte des Rechtsschutzbedür:fnisses erörtert, wenngleich dies im Rahmen der Begründetheit erfolgt. ~6Dazu BVerfGE 61,138 (146); 71, 224 (228); 74,182 (195); 93, 386 (395). ~7 Grundlegend BVerfGE 18, 1 (12 f., 17) betreffend Umsatzsteuer. 58 BVerfGE 66, 100 (105 ff.); 67, 239 (243 f.). Kritisch dazu etwa BFH BStBI. II 1988, 1025 (1026 f.). Abweichend jetzt aber, ohne sich mit der früheren Rechtsprechung des Ersten Senats auseinanderzusetzen und ohne das Plenum gern. § 16 BVerfGG anzurufen, BVerfGE 99, 280 (288 f.) (Zweiter Senat). Im Ausgangsverfahren vor dem FG ging es um die Besteuerung einer Steuerpflichtigen, die durch das verfassungswidrige Gesetz (über die Steuerfreiheit der Stellenzulage Ost) privilegiert (bevorzugt) wurde.

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§ 1. Gang der Darstellung

fahren nicht beteiligte) Personengruppe nicht begünstigt wird,59 so soll es in dem Verfahren des Klägers nicht auf die Verfassungsmäßigkeit der Norm i.S.d. Art. 100 Abs. 1 GG ankommen. Das Bundesverfassungsgericht verneint also die Entscheidungserheblichkeit gern. Art. 100 Abs. 1 GG. Es begründet dies ausdrücklich damit, daß selbst die Verfassungs widrigkeit der begünstigenden Norm "nicht schon zwangsläufig zur Nichtigkeit und damit zur völligen Unanwendbarkeit der beanstandeten Regelung führen" würde. 60 Das Bundesverfassungsgericht müßte sich vielmehr "mit Rücksicht auf die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit darauf beschränken, die Vorschrift als unvereinbar mit dem Grundgesetz zu erklären, und die Beseitigung des Gleichheitsverstoßes dem Gesetzgeber überlassen. ,,61 Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts soll die Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG nur dann gegeben sein, wenn Rechte der benachteiligten Personengruppe Gegenstand des Ausgangsverfahrens seien. Es begründet dies wie gesehen ausdrücklich mit den zu erwartenden Rechtsfolgen (der Tenorierung) und geht offensichtlich davon aus, daß im Falle der Unvereinbarerklärung sich für das Ausgangsverfahren jedenfalls zunächst keine Änderung ergebe, da eine Neuregelung nur mit Wirkung für die Zukunft erfolgen müsse und den Begünstigten die Leistung zunächst unverändert weitergewährt werden müsse. Vergleicht man die These, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Leitsatz von der Begründung über die zu erwartenden Rechtsfolgen gelöst hat, mit der Fallkonstellation (1), so wird offenkundig, daß es danach Fälle gibt, in denen es weder in den Verfahren der Bevorzugten noch der Benachteiligten auf die Verfassungsmäßigkeit der Norm ankommen würde. Es handelt sich um Fälle, in denen ein Privileg besteht, das im Falle der Verfassungswidrigkeit für nichtig erklärt werden müßte: Im Verfahren der Begünstigten wäre die Frage der Verfassungsmäßigkeit nicht entscheidungserheblich, da es nicht um Rechte der benachteiligten Personengruppe geht. 62 Im Verfahren der von dem Privileg 59 Zu einer solchen Konstellation kann es etwa kommen, wenn die Behörde die Gewährung der Begünstigung mit der Begründung verweigert, die Tatbestandsvoraussetzungen der Anspruchsnorm lägen nicht vor, und das Gericht in dem anschließenden Verfahren zwar das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der Norm bejaht, jedoch die Anspruchsnorm für gleichheits- und damit verfassungswidrig hält. Im Steuerrecht kann eine solche Lage ferner in den sog. Saldierungsfällen entstehen, vgl. dazu FG Brandenburg EFG 1995, 977 (981). 60 Explizit BVerfGE 66, IOD (105). Hervorhebungen nur hier. 61 BVerfGE 66, 100 (105). 62 So explizit die Prämissen in BVerfGE 66, 100 (Leitsatz und S. 106); 67, 239 (243 f.). Diese Entscheidungen des BVerfG übergehen stillschweigend FG Brandenburg EFG 1995, 977 (981), das § 3 Nr. 12 S. I EStG wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. I GG für verfassungswidrig hält und die Norm deshalb dem BVerfG nach Art. 100 Abs. I GG vorgelegt hat, und Pezzer. in: Umbach/C\emens, BVerfGG, S. 71 Rn. 7 a.E sowie

B. Bedeutung der Tenorierung für die Entscheidungserheblichkeit

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Ausgeschlossenen käme es nicht auf die Verfassungsmäßigkeit der Norm an, weil infolge der auszusprechenden Nichtigerklärung die Ausgeschlossenen auch bei Verfassungswidrigkeit der Vorschrift nicht in die Begünstigung einbezogen würden. Die Annahme, daß es auf die Verfassungsmäßigkeit einer begünstigenden Norm nie gern. Art. 100 Abs. I GG ankommen soll, erscheint schon auf den ersten Blick wenig einsichtig. (3) Schließlich gibt es eine weitere Konstellation, in der es um das Zusammenspiel zwischen den im Falle der Verfassungswidrigkeit auszusprechenden Rechtsfolgen und der Zulässigkeit der konkreten Normenkontrolle bzw. Verfassungsbeschwerden, die auf verfassungsgerichtliche Überprüfung von Normen zielen, geht. Diese Fallgruppe ist indes nicht auf gleichheitsrechtliche Fragen beschränkt, sondern kann in jedem verfassungsgerichtlichen Verfahren und bei der Überprüfung am Maßstab jeder Verfassungsnorm relevant werden. So soll nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts der Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG bzw. dem Rechtsschutzbedürfnis für Verfassungsbeschwerden nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG nicht entgegenstehen, daß der Gesetzgeber die verfassungswidrige Rechtslage nur mit Wirkung für die Zukunft korrigieren muß. 63 Wenn diese Aussage im Ergebnis richtig ist, widerspricht sie jedenfalls der Begründung für die Auslegung, daß die Entscheidungserheblichkeit stets zu verneinen sei, wenn Ansprüche der Begünstigten im Streit seien (oben (2». Außerdem steht diese Aussage nicht in Einklang mit dem sehr strengen Prüfungsmaßstab, den das Bundesverfassungsgericht ansonsten an die Entscheidungserheblichkeit bzw. das Rechtsschutzbedürfnis anlegt. So soll eine konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG unzulässig sein, wenn die vorgelegten Rechtsfragen für die Entscheidung der eigentlichen Streitfrage des Ausgangsverfahrens erkennbar bedeutungslos sein werden. 64 Vor diesem Hintergrund hätte insofern ein Begründungsbedarf bestanden, als bei der befristeten Fortgeltung verfassungswidrigen Rechts, ohne daß der Gesetzgeber zur rückwirkenden Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes verpflichtet wird, sich die verfassungsgerichtliche Entscheidung im Ausgangsverjahren jedenfalls

jetzt auch BVerfGE 99, 280 (288 f.). Dort blieb die verfassungswidrige Norm (über die Steuerfreiheit der sog. Stellenzulage Ost) zugunsten der gleichheitswidrig Bevorzugten weiter anwendbar, vgl. BVerfGE 99,280 (298 ff.). 63 So BVerfGE 87, 153 (! 80) zur (allerdings freiheitsrechtlich begründeten, vgl. BVerfGE 87, 153 (! 69» Verfassungswidrigkeit des Grundfreibetrags; bemerkenswert an dieser Entscheidung erscheint, daß diese prozessuale Aussage am Ende der Begründetheitsprüfung nachgeschoben wird, dazu noch unten § 4 A III, eIl a). Ebenso (allerdings ohne jede Begründung) BVerfGE 72, 51 (62); 93, 121 (131). Implizit auch BVerfGE 99, 280 (288 f. i.V.m. 298 ff.). 64 So BVerfGE 42, 42 (50); 46, 66 (71); 48, 396 (400); 54, 47 (51); 65, 265 (277); 74, 182 (198).

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§ 1. Gang der Darstellung

nicht auswirken wird. 65 Insoweit ist die Rechtsfrage für das Ausgangsverfahren also "erkennbar bedeutungslos", da es in diesem um Sachverhalte geht, die aus zeitlichen Gründen von der Neuregelung nicht betroffen sein werden. Wenn die These, daß die Frage der Fortgeltung verfassungswidrigen Rechts sich nicht auf die prozessuale Zulässigkeit entsprechender Verfahren auswirkt, richtig ist, wäre die Prämisse, daß bei erkennbarer Bedeutungslosigkeit der Rechtsfrage für das Ausgangsverfahren die Entscheidungserheblichkeit fehlen soll, jedenfalls in dieser Allgemeinheit nicht richtig und möglicherweise auch für weitere Konstellationen in Frage zu stellen. In diesem Bereich, der die Bedeutung der zu erwartenden Rechtsfolgen einer Normenkontrollentscheidung für die Zu lässigkeit von Rechtsbehelfen des Steuerpflichtigen und von Zwischenverfahren wie der Richtervorlage nach Art. 100 Abs. I GG betrifft, soll ein Schwerpunkt der Arbeit liegen. Der Zusammenhang zwischen Rechtsfolgen und Rechtsschutz besteht darin, daß das Bundesverfassungsgericht oftmals an die zu erwartende Tenorierung Folgen für die Zu lässigkeit des Verfahrens knüpft. Die Frage der etwaigen Rechtsfolgen des Verfassungsverstoßes ist insoweit mit verschiedenen Zulässigkeitsfragen verklammert, und zwar insbesondere dann, wenn der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) oder die besonderen Gleichheitssätze Prüfungsmaßstab sind. Denn gerade bei Gleichheitsverstößen des Gesetzgebers tenoriert das Bundesverfassungsgericht häufig abweichend von §§ 78 S. 1,82 Abs. 1,95 Abs. 3 BVerfGG und verzichtet auf die dort vorgesehene Nichtigerklärung des Gesetzes. Insofern soll kritisch überprüft werden, ob die Kriterien überzeugen, nach denen das Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeit der Rüge von Gleichheitsverstößen beurteilt. Dieses Problem wird von drei Seiten beleuchtet: Im ersten Teil wird die Problematik von den Rechtsfolgen (Tenorierung bei Verfassungswidrigkeit eines Ge-

6~ Soweit BVerfGE 87, 153 (180) die Entscheidungserheblichkeit mit der Begründung bejaht, es sei Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob die Neuregelung die Kläger des Ausgangsverfahrens begünstigen werde, handelt es sich hierbei nur um eine theoretische Möglichkeit, zumal das Bundesverfassungsgericht zuvor selbst die Anordnung der Fortgeltung des verfassungswidrigen Rechts damit gerechtfertigt hatte, daß bei einer Pflicht zur rückwirkenden Beseitigung der verfassungswidrigen Rechtslage die staatliche Finanzplanung gefährdet und die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staates bedroht sei, BVerfGE 87, 153 (179). In diesem Falle ist jedoch als sicher davon auszugehen, daß sich die Neuregelung durch den Gesetzgeber nicht auf das Ausgangsverfahren auswirken wird. Gleiches gilt dann, wenn eine rückwirkende Entziehung des verfassungswidrigen Steuerprivilegs aus Vertrauensschutzgesichtspunkten ausgeschlossen ist. So lag es in BVerfGE 99,280 (299 f.). Näher zu diesem Problemkreis unten § 4 C I I a.

B. Bedeutung der Tenorierung für die Entscheidungserheblichkeit

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setzes) her behandelt. Im zweiten Teil werden die verfassungsprozessualen Sachentscheidungsvoraussetzungen betrachtet, insbesondere die Entscheidungserheblichkeit der Vereinbarkeit der Norm mit dem Gleichheitssatz (Art. 100 Abs. 1 GG). Im Dritten Teil werden schließlich die Schutzrichtungen des Gleichheitssatzes (insbesondere des allgemeinen aus Art. 3 Abs. 1 GG) untersucht.

3 Wernsmann

Erster Teil

Die Rechtsfolgen verfassungsgerichtlicher Normenkontrollentscheidungen - Bestandsaufnahme der Entscheidungsvarianten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und Kritik Im folgenden wird zunächst ein Überblick über die vielgestaltigen Entscheidungsvarianten gegeben, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung entwickelt hat. Auch hier gilt, daß dem Richterrecht eine um so größere Bedeutung zukommt, je weniger detailliert die Regelungen der Verfassung und der sie ergänzenden einfachen Gesetze sind.) Angesichts der nur bruchstückhaften und unzulänglichen gesetzlichen Regelungen über die Rechtsfolgen eines Verfassungsverstoßes 2 kommt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts somit zentrale Bedeutung zu. Anschließend werden die Begründungen für die jeweiligen Tenorierungen und - soweit problematisch - deren Zulässigkeit unter Berücksichtigung auch der Kritik von Teilen des Schrifttums analysiert.

) Vgl. auch Pieroth. Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 248. 2Vgl. Battis. HStR VII, § 165 Rn. 79; Heußner. NJW 1982,257.

§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

A. Uneingeschränkte Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes Unproblematisch ist der Fall, in dem das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz uneingeschränkt für verfassungsgemäß hält. Es kann dann im Verfahren der (abstrakten oder konkreten) Normenkontrolle, wie § 31 Abs. 2 S. 3 BVerfGG zu entnehmen ist, die Vereinbarkeit der überprüften Norm mit höherrangigem Recht positiv feststellen. Auch auf Verfassungsbeschwerden von Bürgern, die sich unmittelbar oder mittelbar gegen Gesetze richten, besteht diese Möglichkeit, wie sich aus § 31 Abs. 2 S. 2 BVerfGG ergibt. Indes kann sich das Bundesverfassungsgericht in den letztgenannten Fällen auch darauf beschränken, die Verfassungsbeschwerde zurückzuweisen. 1

B. Verfassungskonforme Auslegung Ein Gesetz entspricht auch dann der Verfassung, wenn es verfassungskonform ausgelegt werden kann. 2 Läßt ein Gesetz verschiedene Auslegungsmöglichkeiten zu und wäre das Gesetz in einer Auslegungsalternative verfassungswidrig, in einer anderen dagegen verfassungskonform, so ist derjenigen Auslegung der Vorzug zu geben, die zu einem verfassungskonformen Ergebnis führt. 3 Allerdings muß die verfassungskonforme Auslegung nach den anerkannten Auslegungsmethoden möglich sein und darf insbesondere nicht mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren (objektivierten) Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten. 4

I Vgl. Benda/Klein. Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1155; Clemens. in: Umbach/C1emens, A V Rn. 13 f. m.w.N. 2 BVerfGE 2, 266 (282); 7, 120 (126); 48, 40 (45); 54, 251 (273 f.). ) Degellhart. Staatsrecht I, Rn. 522; Sachs, 00, Einführung Rn. 52 ff. 4 BVerfGE 18,97 (111); 83,201 (214 f.); 86. 28 (45); 88,145 (166); 88, 203 (332); 90,263 (275); 92, 158 (183); 93, 37 (81); Birk. StuW 1990,300 (303 f.); Hesse. Grundzüge, Rn. 80; Starck. HStR VII, § 164 Rn. 31.

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§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

Hieraus ergibt sich, daß die verfassungskonfonne Auslegung 5 zur Qualifizierung eines Gesetzes als verfassungsgemäß führt. 6 Es handelt sich insoweit nicht um eine "teilweise Nichtigerklärung ohne Normtextreduzierung,,7, da ansonsten die Fachgerichte nicht selbst verfassungskonfonn auslegen dürften, sondern nach Art. 100 Abs. I GG die fragliche Norm dem Bundesverfassungsgericht zwecks "Teilnichtigerklärung" vorlegen müßten. Bei der verfassungskonfonnen Auslegung handelt es sich indes um Auslegung und nicht um Normverwerfung, die zum Schutze der Autorität des Gesetzgebers dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bleiben müßte. Verfassungskonfonne Auslegung ist somit auch Sache der Fachgerichtsbarkeit. 8 Dementsprechend beurteilt das Bundesverfassungsgericht Vorlagen nach Art. 100 Abs. I GG mangels Überzeugung des vorlegenden Gerichts von der Verfassungswidrigkeit der Norm mit Recht als unzulässig, wenn das vorlegende Gericht verfassungskonfonn auslegen könnte. 9 Gründe, warum sich am Charakter der Auslegung etwas ändern soll, wenn das Bundesverfassungsgericht und nicht die Fachgerichtsbarkeit diese vornimmt, 10 sind nicht ersichtlich. Das Bundesverfassungsgericht stellt in einem NormenkontrolIverfahren nicht die Verfassungsmäßigkeit einer Auslegungsmöglichkeit, sondern die Verfassungsmäßigkeit einer Norm fest, und diese ist - in einer bestimmten Auslegung - verfassungsgemäß und muß daher nicht für nichtig oder verfassungswidrig erklärt werden. Im Ergebnis ist somit festzuhalten, daß, auch wenn das Bundesverfassungsgericht die verfassungskonforme Auslegung vornimmt, es sich weiterhin um Auslegung handelt und nicht um Normverwerfung. Die einzige Besonderheit einer durch das Bundesverfassungsgericht vorgenommenen verfassungskonformen Gesetzesauslegung gegenüber einer solchen durch die Fachgerichte besteht in der Bindungswirkung nach § 31 Abs. I

5 Beispiele einer verfassungskonformen Auslegung aus dem Bereich des Steuerrechts: BVerfGE 7, 267 (273) zum aus Art. 80 Abs. I S. 2 GG folgenden Erfordernis, eine Ermächtigungsnorm des UStG zum Erlaß von Verordnungen so auszulegen, daß sie nur solche Befreiungs- und Ermäßigungsvorschriften konkretisieren darf, die sich bereits im UStG befinden; BVerfGE 29, \04 (111 ff.) zur einkommensteuerrechtlichen Behandlung der Pensionsrückstellungen für Arbeitnehmer-Ehegatten im Hinblick auf Art. 6 Abs. I GG. 6 Ebenso die überwiegende Meinung: BVerfGE 2, 266 (282); 7, 120 (126); 48, 40 (45); 54, 251 (273 f.); BendalKlein. Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1202; Sachs. GG, Einführung Rn. 56; Stern, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 93 Rn. 322. 7 So aber Schlaich. Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 411 f., allerdings einschränkend auf verfassungskonforme Auslegungen durch das Bundesverfassungsgericht. Ähnlich Löwer. HStR 11, § 56 Rn. 97, 112, der in der verfassungskonformen Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht eine "Teilkassation der Norm" sieht. 8 Hesse. Grundzüge, Rn. 84. Insoweit auch Schlaich. Das Bundesverfassungsgericht, Rn.412. 9 BVerfGE 76, 100 (105); 78, 20 (24); Pestalozza. Verfassungsprozeßrecht, § 13 Rn. 17; Sachs. GG, Einführung Rn. 56. 10 So Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 412.

C. Appell-Entscheidungen

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BVerfGG, die nur bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen zukommt. Die dort genannten Rechtsanwender dürfen also das Gesetz nicht in der vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig gehaltenen Weise auslegen. I I

c. Appell-Entscheidungen Ein Fall der Verfassungsmäßigkeit des geprüften Gesetzes liegt auch dann vor, wenn das Bundesverfassungsgericht eine sog. Appell-Entscheidung trifft. 12 Diese weder im GG noch im BVerfGG geregelte Entscheidungsvariante ist dadurch gekennzeichnet, daß das Bundesverfassungsgericht das Gesetz im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung für "noch verfassungsmäßig" hält oder sich "noch nicht" in der Lage sieht, die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes festzustellen, jedoch davon ausgeht, daß das zur Prüfung gestellte Gesetz verfassungswidrig zu werden droht. 13 Das Bundesverfassungsgericht "appelliert" deshalb an den Gesetzgeber, der Entwicklung des Gesetzes in die Verfassungswidrigkeit hinein durch Ergreifen geeigneter Maßnahmen (Neuregelung) zu begegnen. Teilweise finden sich in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts konkrete Termine, an denen der Umschlag von der Verfassungsmäßigkeit in die Verfassungswidrigkeit erfolgen soll.14 Zwar unterscheidet sich diese Entscheidungsform im praktischen Ergebnis häufig kaum von den Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit einer Norm feststellt, aber deren weitere Anwendbarkeit für einen Übergangszeitraum hinnimmt. 15 Denn auch hier wird der Gesetzgeber wegen der ihm bekannten Ein11 BVerfGE 40,88 (94); 72, 119 (121); Benda/Klein. Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1202. 12 Battis. HStR VII, § 165 Rn. 37; Benda/Klein. Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1193 f.; Ipsen. Rechtsfolgen, S. 132 f.; Schulte. DVBI. 1988, 1200 (1201). 1.1 Vgl. exemplarisch BVerfGE 54, 11 (36,37) zur Ungleichbehandlung der Besteuerung von Pensionen und Sozialversicherungsrenten: "Die Gesamtregelung genügt noch den Anforderungen des Art. 3 Abs. I GG." BVerfGE 84, 239 (268. 274 f.) zur Zinsbesteuerung: "Die Beschwerdeführer sind durch diese Ungleichheit gegenwärtig noch /licht in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. I GG verletzt." - Hervorhebungen nur hier. I~Vgl. beispielsweise BVerfGE 84, 239 (285). Dagegen ohne Fristsetzung beispielsweise BVerfGE 54, l1 (34,39). 15 Dazu unten § 3 B I 2, II 2 b. Diese werden vereinzelt ebenfalls als "AppellEntscheidungen" bezeichnet. So etwa Söhn. Anwendungspflicht, S. 37 Fn. 109; Schejold/Leske. NJW 1973, 1297 (1299); wohl auch Hesse. Grundzüge, Rn. 570 Fn. 84, der von "Appellen" des Bundesverfassungsgerichts an den Gesetzgeber spricht. "verfassungsrechtlich nicht einwandfreie" gesetzliche Regelungen zu ersetzen. - Demgegenüber behält die überwiegende Meinung den Begriff der "Appell-Entscheidung" den Fällen vor, in denen das Gesetz für "noch verfassungsmäßig" erklärt wird. So Ebsen. Selbstregulierung, S. 95; Be/lda/Klein. Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts. Rn. 1193; Ipsell. Rechtsfolgen, S. 112; Hein. Unvereinbarerklärung, S. 15 ff.; Schlaich. Das

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§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

schätzung des Bundesverfassungsgerichts, daß die Norm verfassungswidrig zu werden drohe, regelmäßig tätig werden. 16 Indes bestehen mehrere prinzipielle Unterschiede, etwa was die Bindungswirkungen der Entscheidungen 1? und auch prozessuale Fragen 18 angeht. Im folgenden sollen die bisherigen Appell-Entscheidungen, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den unterschiedlichsten Fallkonstellationen auftreten, nach Fallgruppen systematisiert werden. Zu diesem Zweck werden die Gründe beleuchtet, aus denen Normen verfassungswidrig werden können. Die prinzipielle Möglichkeit, daß Gesetze verfassungswidrig "werden" können, ist - im Gegensatz zu Verwaltungsakten, deren Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit nach h.M. 19 nur nach dem Erlaßzeitpunkt zu bestimmen ist - allgemein anerkannt. 20 Der maßgebliche Grund dafür, daß sich die Frage der Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten nach der überwiegenden Meinung nach dem Erlaßzeitpunkt richtet und ein rechtmäßig erlassener Verwaltungsakt somit nicht rechtswidrig "werden" kann, liegt in der Auslegung des

Bundesverfassungsgericht, Rn. 396. - Der Streit, ob auch die Unvereinbarerklärung mit der Verpflichtung des Gesetzgebers zu künftiger Neuregelung als "AppellEntscheidung" zu bezeichnen ist, ist indes rein terminologischer Natur. Jedenfalls sind die bei den Fallgruppen dogmatisch auseinanderzuhalten. Hier soll der Begriff der sog. Appell-Entscheidung mit der überwiegenden Meinung den Entscheidungen vorbehalten bleiben, in denen das Gesetz für "noch verfassungsgemäß" erklärt wird. Dies entspricht auch mehr dem Wortsinn, da ein "Appell" nicht verbindlich ist, jedoch die Fristsetzung bei im Tenor festgestellter Verfassungswidrigkeit den Gesetzgeber gern. § 31 BVerfGG - anders als bei einer Verbindung mit der Feststellung der (noch gegebenen) Verfassungsmäßigkeit (vgl. Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1194; Stern, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 93 Rn. 319; Stuth, in: Umbach/Clemens, § 78 Rn. 24) - bindet. 16 Ausnahmen bestätigen aber auch hier die Regel. V gl. etwa die bis heute nicht erfolgte Reform der ungleichen Besteuerung der Alterseinkünfte nach der Entscheidung BVerfGE 54, 11 (37 ff., 39) aus dem Jahre 1980. Dort wurde die damalige Rechtslage für noch verfassungsmäßig erachtet. BVerfGE 86, 369 (380 f.) sah die Rechtslage im Jahr 1992 immer noch nicht als "verfassungswidrig geworden" an. Vgl. nunmehr die Äußerungen des Richters des Bundesverfassungsgerichts Kirchhof, Handelsblatt v. 19.120.6.1998, S. 5, wonach das Bundesverfassungsgericht in naher Zukunft die Ungleichbehandlung der Besteuerung der Alterseinkünfte für verfassungswidrig erklären und dem Gesetzgeber eine Frist zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustands setzen werde. I? Siehe soeben Fn. 15. 18 Dazu noch ausführlich unten § 4. 19 Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 17 Rn. 5; Lehner, Die Verwaltung 26 (1993), 183 (200); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 10 Rn. 3, § 11 Rn. 11,43, jeweils m.w.N.; Pieroth, NVwZ 1984, 681 (683); Sachs, in: StelkenslBonklSachs, VwVfG, § 44 Rn. 7; Scherzberg, BayVBI. 1992,426 (427); Tipke/Kruse, § 131 Tz. 2. A.A. insbesondere Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 782 ff., insbes. Rn. 800. 20 Vgl. zuletzt umfassend Baumeister, Das Rechtswidrigwerden von Normen, S. 56 ff., 207 ff.

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Systems der Normen des VwVfG und der AO, die Aussagen über die Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts enthalten. Nach § 49 Abs.2 Nr. 3 und 4 VwVfG (vgl. auch § 131 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 AO) darf ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt widerrufen werden, wenn die Behörde aufgrund einer Änderung der Sach- oder Rechtslage berechtigt wäre, den Verwaltungs akt nicht zu erlassen (und weitere Voraussetzungen vorliegen). Nähme man an, daß eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts führt, so würde dies dazu führen, daß der Anwendungsbereich des § 49 Abs. 2 Nr. 3, 4 VwVfG sich nur auf solche Fälle beschränkte, in denen die Änderung der Sach- oder Rechtslage nicht zum Wegfall der Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen führt, also Ermessensakte. 21 Eine solche aus dem System folgende Festlegung auf den Erlaßzeitpunkt gibt es bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit (d.h. insbesondere Verfassungsmäßigkeit) von Gesetzen indes jedenfalls nicht.

I. Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse Weitgehend anerkannt ist die Möglichkeit, daß eine Norm infolge einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse verfassungswidrig werden kann. 22 In diesem Fall bestanden im Zeitpunkt des Erlasses der Norm andere tatsächliche Verhältnisse als im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Eine solche Konstellation lag etwa der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Wahlkreiseinteilung 23 zugrunde: Die vom Gesetzgeber 1949 vorgenommene Einteilung des Bundesgebietes in ungefahr gleich große Wahlkreise, die somit den Anforderungen der Gleichheit der Wahl aus Art. 38 Abs. 1 GG ursprünglich genügte, führte infolge Veränderungen der Bevölkerungszahlen bei späteren Wahlen zu einem unterschiedlichen Erfolgswert der Wählerstimmen und "wurde" damit verfassungswidrig. 24 Während die Wahlkreiseinteilung bei den früheren Wahlen somit verfassungsmäßig war, entwickelte sie sich bei späteren Wahlen wegen der Änderung der Bevölkerungszahlen in die Verfassungswidrigkeit hinein. Indes lag diese Ungleichheit, die das Bundesverfassungsgericht an das Überschreiten der Toleranzgrenze des § 3 Abs. 3 S. 2 BWahlG knüpfte 25 , schon bei der Bundestagswahl von 1961 vor, deren Gültigkeit der Beschwerdeführer mit der Wahlprüfungsbeschwerde angegriffen hatte. Erichsen. Allgemeines Verwaltungsrecht, § 17 Rn. 5 m.w.N. 22 Vgl. Ipsen. Rechtsfolgen, S. 133; Pestaloua. Verfassungsprozeßrecht, § 20 Rn. 109; Schulte. DVBI. 1988, 1200 (1201). 23 BVerfGE 16, 130ff. 24SoBVerfGE 16,130(141 f.). 2~ BVerfGE 16, 130 (Leitsatz 4 und S. 141). 21

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Demnach war das BWahlG eigentlich bereits im Zeitpunkt der Bundestagswahl von 1961 verfassungswidrig geworden. Das Bundesverfassungsgericht vermied den Ausspruch der Nichtigkeit bzw. Verfassungswidrigkeit des BWahlG jedoch mit der Begründung, daß die Verfassungswidrigkeit der Wahlkreiseinteilung im Zeitpunkt der Bundestagswahl von 1961 noch nicht eindeutig erkennbar (evident) gewesen sei. 26 Insoweit bezieht sich das Bundesverfassungsgericht auf Evidenzgesichtspunkte. 27 Tatsächlich - wenngleich unausgesprochen - wurde der Ausspruch der Nichtigkeit jedoch wohl auch und gerade im Hinblick auf die Folgen einer etwaigen Nichtigkeit nicht gewählt. Wäre das BWahlG verfassungswidrig gewesen, hätte es nach dem damals herrschenden und allein angewandten Nichtigkeitsdogma, wonach verfassungswidrige Gesetze ipso iure mit Ex-tunc-Wirkung nichtig seien, das BWahlG gern. § 78 S. 1 BVerfGG für nichtig erklären müssen. Dann wäre die Wahl prüfungs beschwerde begründet gewesen und es hätte neu gewählt werden müssen. Indes hätte sich das Problem gestellt, daß der verfassungswidrig gewählte bisherige Bundestag zum Erlaß des neuen (verfassungsmäßigen) BWahlG nicht legitimiert gewesen wäre. 28 Hier hätte sich das Bundesverfassungsgericht auf die von ihm entwickelte Fallgruppe des "Chaos bei abruptem Wegfall des verfassungswidrigen Gesetzes" oder mit weniger pathetischen Worten - der relativ größeren Veifassungsnähe einer Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm gegenüber deren abruptem Wegfa1l 29 beziehen können, um das Gesetz für noch verfassungsgemäß zu erklären. Im Bereich des Steuerrechts rallt in die Kategorie der Appell-Entscheidungen aufgrund von Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur unterschiedlichen Besteuerung der Beamtenpensionen und der Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung aus dem Jahre 1980. 30 Das Bundesverfassungsgericht nahm eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Laufe der Zeit an, weil die Renten nominell und auch real - insbesondere seit der Rentendynamisierung ab 1957 - gestiegen und dadurch in Größenordnungen hineingewachsen seien, bei denen ohne die Sonderrege-

BVerfGE 16, 130 (142,143). Dazu noch unten § 2 C II 3. 28 Moench. Verfassungswidriges Gesetz, S. 85 spricht von einer "auf dem Boden des Grundgesetzes nicht zu lösenden Aporie"; vgl. auch Dürig. in: MaunziDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 370 a.E.; lpsen. Rechtsfolgen, S. 138; Schlaich. Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 398. - Zwar hat bereits BVerfGE I, 14 (Leitsatz 32) entschieden, daß eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, daß ein gewählter Landtag von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr existiert, den Rechtsbestand der Akte des Landtags, die zwischen jenem Zeitpunkt und der Verkündung des Urteils ergangen sind, nicht zu berühren brauchen. Auch nach dieser Entscheidung wäre das Parlament indes nach Verkündung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr zum Erlaß von Gesetzen berechtigt. 29 Dazu unten § 2 C III. JO BVerfGE 54, 11 (Leitsatz 2 und S. 36). 26

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lung des § 22 Nr. 1 lit. a EStG in vermehrten Umfang Steuern zu entrichten gewesen wären. Erst mit Einsetzen dieser Entwicklung habe sich die Frage stellen können, ob die unterschiedliche Besteuerung von Pensionen und Renten noch verfassungsgemäß sei. 31 Für die zu beurteilenden Jahre 1969170 wurde die Ungleichbehandlung sodann mit der Erwägung für "noch den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG genügend" erachtet, daß der Gesetzgeber zur Beseitigung von Ungleichheiten Fristen in Anspruch nehmen könne, wenn er sich bei Neuregelung eines komplexen Sachverhalts zunächst mit einer gröber typisierenden und generalisierenden Regelung begnüge, um diese nach hinreichender Sammlung von Erfahrungen allmählich durch eine entsprechend fortschreitende Differenzierung zu verbessern, oder wenn die tatsächlichen Verhältnisse sich im Rahmen einer langfristigen Entwicklung in einer Weise verändert hätten, daß die Beseitigung der Unstimmigkeiten durch eine einfache und daher schnell zu verwirklichende Anpassung nicht möglich sei. 32 Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber verpflichtet, eine Neuregelung in Angriff zu nehmen, um die inzwischen eingetretenen Verzerrungen zu beseitigen33 , hat jedoch in einer Entscheidung aus dem Jahre 1992 die dem Gesetzgeber zur Verfügung stehende Zeitspanne für noch nicht abgelaufen erachtet. 34 Als weiteres Beispiel, in dem ein ursprünglich verfassungsrechtlich einwandfreies Gesetz aufgrund einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse verfassungswidrig werden kann, könnte für den Bereich des Steuerrechts etwa der Fall genannt werden, daß aufgrund der Geldentwertung der ursprünglich ausreichend bemessene einkommensteuerfreie Betrag nicht mehr dem Existenzminimum 35 entspricht. 36

BVerfGE 54, 11 (36). 54, 11 (37). 33 BVerfGE 54, 11 (39). Vgl. zu den materiellen Anforderungen des Gleichheitssatzes an die Besteuerung der unterschiedlichen Formen der Alterseinkünfte BirkIWernsmann, in: CramerlFörsterlRuland, Handbuch zur Altersversorgung, S. 833 (846 ff.). 34 BVerfGE 86, 369 (379 ff.). 35 Vgl. zum Erfordernis der Steuerfreiheit des Existenzminimums BVerfGE 82, 60ff.; 82,198 ff.; 87,153 ff.; BVerfGE 99, 216 (232ff.); 99, 246 (259f.); 99, 268 (271); 99, 273 (276 f.). 36 Mit der Inflation steigt auch der zur Bestreitung des Existenzminimums benötigte Betrag, vgl. Birk/Barth, in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 483. Vgl. auch zum Verfassungswidrigwerden besoldungsrechtlicher Vorschriften infolge Änderung der Verhältnisse BVerfGE 8,1 (19 f.); 26,116 (Leitsatz I). 31

32 BVerfGE

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§ 2. Entscheidungsvarianten bei Yerfassungsmäßigkeit des Gesetzes

11. Änderungen der rechtlichen Verhältnisse 1. Nachträgliche Änderung des Prüfungsmaßstabs oder des Verfassungsverständnisses Ein Fall der Änderung der rechtlichen Verhältnisse liegt vor, wenn sich die Ansprüche, die der Prüfungsmaßstab an den Prüfungsgegenstand stellt, ändern. 37 Solche Änderungen können auf einer Verfassungsänderung, aber auch auf einem sog. Verfassungswandee 8 oder auch auf einer anderen Verfassungsauslegung - insbesondere durch das Bundesverfassungsgericht - beruhen. 39 Ändert sich das Verfassungsverständnis, so hätte dies zur Folge, daß Einzelakte und Gesetze für verfassungswidrig erklärt werden müßten, selbst wenn sie den Anforderungen, die frühere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aufstellten, genügten. Da die Rechtsdogmatik hoheitliches Handeln als entweder rechtmäßig oder rechtswidrig qualifiziert, würde es insbesondere bei Gesetzen im materiellen Sinne, die abstrakt-generelle Regelungen enthalten und insoweit für eine Vielzahl von Fällen relevant sind, also auch in einer Vielzahl von Fällen erneut zur Überprüfung gestellt werden können, erhebliche Schwierigkeiten hervorrufen, den gleichen unveränderten Sachverhalt heute als rechtswidrig zu beurteilen, während er gestern noch als rechtmäßig bezeichnet wurde. 40 Daher stellt sich dann das Problem, Rückabwicklungen zu vermeiden, die dann u.U. sogar älteren Entscheidungen widersprechen würden. Das Bundesverfassungsgericht vermeidet zeitliche Rückwirkungen seiner Entscheidung aufgrund der gewandelten Verfassungsinterpretation. Exemplarisch sei dies an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Zinsbesteuerung41 dargestellt. In dieser Entscheidung, die auf eine Verfassungs beschwerde hin erging, heißt es, daß "die Beschwerdeführer durch diese Ungleichheit ... gegenwärtig noch nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt" seien. 42 An den Gesetzgeber wird jedoch der "Appell" gerichtet, die verfassungsrechtlich geforderte Gleichheit innerhalb einer - zeitlich spezifizierten - angemessenen Frist "für die Zukunft zu gewährleisten.,,43 Die damit verbundene Hinnahme des "Gleichheits37 Ygl. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 206; /psen, Rechtsfolgen, S. 136 f.; Moench, Verfassungswidriges Gesetz und Normenkontrolle, S. 69 ff.; Pestalozza, Yerfassungsprozeßrecht, § 20 Rn. 109; Schulte, DYBI. 1988,1200 (1201). 38 Auch der Yerfassungswandel kann allenfalls durch Interpretation erfolgen, zutreffend Hesse, Grundzüge, Rn. 77 m.w.N. 39Ygl. Arndt/Schumacher, NJW 1999,745 (749); Sachs, GG, Einführung Rn. 27. 40Ygl./psen, Rechtsfolgen, S. 137. 41 BYerfGE 84,239 ff. 42 BYerfGE 84, 239 (268, 274 0. 43 BYerfGE 84, 239 (285).

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verstoßes,,44 für eine Übergangszeit rechtfertigt das Bundesverfassungsgericht damit, daß die ,,Rechtslage" (im konkreten Fall: das "Durchschlagen" des Verstoßes gegen die Belastungsgleichheit durch die Rechtsanwendung auf die materiell-rechtliche Grundlage für die Steuererhebung) "bisher nicht erkannt worden" sei. Es bestehe "deshalb Anlaß, das bisherige Recht noch für eine Übergangszeit hinzunehmen und dem Gesetzgeber Gelegenheit zu geben, sich binnen einer angemessenen Frist auf die nunmehr geklärte verfassungsrechtliche Lage einzustellen. Die Notwendigkeit solcher Übergangsfristen hat das Bundesverfassungsgericht in ähnlich gelagerten Fällen gewandelter Verfassungsauslegung verschiedentlich anerkannt. ,,45 Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich also in der Entscheidung zur Zinsbesteuerung zur Begründung der vorübergehenden Hinnahme des bisherigen Rechtszustandes, der verfassungswidrig zu werden droht, darauf, daß sich die Verfassungsauslegung gewandelt habe und die Rechtslage bisher nicht erkannt worden sei. Es stellt sich indes angesichts der erheblichen fiskalischen Auswirkungen eines - zumal auf viele Veranlagungszeiträume rückwirkenden und mindestens die noch offenen Fälle (§ 79 Abs. 2 BVerfGG46 ) betreffendenWegfalls der Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen gern. § 2 Abs. 1 Nr. 5, § 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG 1979 erneut die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht mit Wirkung auch für die Vergangenheit die Zinsbesteuerung für verfassungswidrig erklärt hätte, wenn die vom Bundesverfassungsgericht in der genannten Entscheidung vorgenomme Verfassungsauslegung schon vor dieser "bekannt" gewesen und praktiziert worden wäre. Hier ist zu fragen, ob nicht erneut dem "Chaos"-Argument47 entscheidende Bedeutung zukam48 , aber das Bundesverfassungsgericht dieses angesichts der "Sanktionslosigkeit" eines Verfassungsverstoßes durch den Gesetzgeber für die Vergangenheit nicht deutlich aussprechen wollte.

44 So explizit BVerfGE 84, 239 (283). Diese Fonnulierung, mit der ein "Gleichheitsverstoß", also eine rechtswidrige Ungleichbehandlung, angenommen wird, könnte darauf hindeuten, daß das Bundesverfassungsgericht bereits Verfassungswidrigkeit annimmt. Indes weist die Fonnulierung in dem vorhergehenden Halbsatz, wonach das Bundesverfassungsgericht "gegenwärtig noch nicht festgestellt werden" könne, daß die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht auf Besteuerungsgleichheit verletzt seien, auf eine Appell-Entscheidung hin. 45 So BVerfGE 84, 239 (284 f.) unter Bezugnahme auf BVerfGE 58, 257 (280). Hervorhebungen nur hier. 46 Zu den Zweifeln an der sachlichen Rechtfertigung dieser Nonn zumindest für bestimmte Fallkonstellationen wie das Massenfallrecht Steuerrecht vgl. oben § I Asowie BVerfGE 87, 153 (180). Anders als § 79 Abs. 2 BVerfGG auch Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 79. 47 Dazu unten § 2 C III. 48 Sehr deutlich in diese Richtung auch die von BVerfGE 84, 239 (285) in Bezug genommene Stelle BVerfGE 58,257 (280).

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§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

Ferner ist darauf hinzuweisen, daß die Beurteilung eines Gesetzes als "noch verfassungsgemäß" voraussetzen müßte, daß der Wandel in der Verfassungsauslegung und im Verfassungsverständnis im Zeitpunkt der verfassungsgerichtlichen Entscheidung gerade noch nicht eingetreten ist und nur für die Zukunft zu erwarten ist. Wenn der Wandel schon stattgefunden hat und das Bundesverfassungsgericht nunmehr eine gewandelte Verfassungsauslegung favorisiert, müßte es diese nunmehr gebildete Rechtsauffassung eigentlich seiner Entscheidung zugrunde legen. Insofern sei ergänzt, daß die Fachgerichte ebenfalls eine Änderung ihrer Rechtsauffassung dem jeweils zu entscheidenden Fall zugrundelegen. 49 In der Literatur wird insoweit lediglich diskutiert, ob das Grundgesetz - vor allem im Bereich des Straf-50 und sonstigen Eingriffsrechts, insbesondere des Steuerrechts 51 , aber auch des Zivilrechts 52 - Vertrauen auf eine langjährige gefestigte Rechtsprechung schützt mit der Folge, daß eine "Verschärfung" der Rechtsprechung nur für die Zukunft angewendet werden dürfe. Sollte das Bundesverfassungsgericht, das zum Schutz der Verfassung und insbesondere zum Schutz der Grundrechte aufgerufen ist, in einer solchen Situation einer zu Lasten des Bürgers gewandelten Verfassungsauslegung Vertrauensschutz für angezeigt halten, so wäre - falls die Verfassungsauslegung sich bereits im Zeitpunkt seiner Entscheidung gewandelt hat und sich nicht erst in die Verfassungs widrigkeit entwickelt - eine Modifizierung der Rechtsfolgen aufgrund einer Auslegung der Verfassung unter Berücksichtigung der "Einheit der Verfassung" angezeigt 53 und nicht eine Bezeichnung des Gesetzes als tatbestandlieh "noch verfassungsmäßig".

49 Vgl. etwa BFH (GrS), BStBI. II 1984,751 (757); BFH BStBI. III 1965,545 (547); BGHZ 132, 119 (Leitsatz d und S. 129 ff.); BayObLG, NJW 1990,2833. Die Möglichkeit rückwirkender verschärfender Rechtsprechungsänderung wird gebilligt von BVerfGE 18,224 (240 f.). 50 So etwa Degenhart. in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 74 f. Vgl. auch Jarass/Pieroth. GG, Art. 103 Rn. 53. Dagegen soll nach BayObLG, NJW 1990,2833 eine Änderung der Rechtsprechung nicht unter das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG fallen. 51 In diesem Sinne insbesondere Tipke/Lang. Steuerrecht, § 4 Rn. 182 f. Vorsichtiger Kirchhof. DStR 1989, 263 (268, 269 f.), der das Vertrauen des Steuerpflichtigen in den Fortbestand einer für ihn planungserheblichen Rechtsprechung bei der steuerlichen Regelbelastung und der entscheidungsJenkenden Besteuerung unterschiedlich geschützt sieht. Eine Differenzierung zwischen Lasteneinteilungs- und Lenkungsvorschriften im Hinblick auf den Vertrauensschutz in den Bestand von Gesetzen nimmt auch Vogel. JZ 1988, 833 (838) vor, der jedoch rückwirkende Rechtsprechungsänderungen grundsätzlich für möglich hält, vgl. dens .. JZ 1988, 833 (835 f.). 52 Dazu Medicus. NJW 1995,2577 ff. Nach BGHZ 132, 119 (Leitsatz d und S. 129 ff.) wirkt die Änderung einer lange geltenden höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich auf den Vertragsschluß zurück, soweit dem nicht die Grundsätze von Treu und Glauben entgegenstehen. Zustimmend Geiß. NJW 1997,2806 (2807). 53 Dazu noch unten § 2 C III 3 c ce.

C. Appell-Entscheidungen

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2. Komplexe und schwer überschaubare Regelungssysteme Wie bereits im Zusammenhang mit den anderen Fallgruppen erwähnt, verwendet das Bundesverfassungsgericht zur Begründung der "noch" bestehenden Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes noch weitere Argumentationstopoi. So gewährt es dem Neuland betretenden Gesetzgeber insbesondere bei komplexen und schwer überschaubaren Regelungssystemen weitere Spielräume als üblich. Anlaß zum verfassungsgerichtlichen Eingreifen bestehe erst dann, wenn der Gesetzgeber eine spätere Überprüfung und Verbesserung trotz ausreichender Erfahrungen für eine sachgerechtere Lösung unterläßt. 54 Bei der Lösung dieser Fallvariante hat man sich zu vergegenwärtigen, daß ein Gesetz ursprünglich verfassungsmäßig sein kann, etwa aufgrund der dem Gesetzgeber zukommenden Einschätzungsprärogative bei der Beurteilung der Eignung und Erforderlichkeit eines Mittels im Rahmen des Übermaßverbots 55 , daß ihn jedoch aufgrund der im Laufe der Zeit gewonnenen (tatsächlichen) Erfahrungen mit dem Gesetz eine Nachbesserungspflicht treffen kann. Insoweit verdichten sich dann die Anforderungen, die der Prüfungsmaßstab an den Prüfungsgegenstand stellt, in der zeitlichen Entwicklung. Diese Fallgruppe läßt sich also der oben genannten Gruppe der ,,Änderung der rechtlichen Verhältnisse" zurechnen. Zwar wandelt sich in diesen Fällen weder der Prüfungsmaßstab (das Verfassungsrecht) - infolge einer Verfassungsänderung - noch dessen Verständnis - durch geänderte Interpretation - mit der Zeit, wohl aber der Grad der Strenge des Prüfungsmaßstabs für die Kontrolle des Gesetzes. Der Gesetzgeber hat dann die Erfahrungen mit der Anwendung des neuen Gesetzes zu berücksichtigen, so daß sich seine Bindung und die Kontrollintensität, was den konkreten Regelungsbereich angeht, im Zuge der Zeit strenger gestalten. Die Einengung gesetzgeberischer Prognosespielräume infolge zunehmender Erfahrungen mit dem Gesetz können also ebenfalls unter die Fallgruppe der Änderung der rechtlichen Verhältnisse gefaßt werden; die Verdichtung der Kontrollmaßstäbe kann im konkreten Fall mit zunehmender Zeit zu Nachbesserungspflichten führen, wenngleich das Gesetz im Zeitpunkt der Entscheidung noch verfassungsgemäß ist, aber eine Verengung des tolerierbaren Rahmens zu erwarten ist. Soweit in dieser Fallgruppe die Rechtsfolge der Nichtigkeit bzw. Verfassungswidrigkeit mit Anwendungssperre der Norm im Hinblick auf deren nicht hinnehmbare Folgen (Wegfall oder Lähmung eines komplexen Regelungssy~4Vgl. BVerfGE 53,257 (312 f.); 54,173 (202); 55, 274 (308); 56, 54 (81 f.); 80, I (31 ff.). ~~ Siehe dazu BVerfGE 77, 84 (109 f.) m.w.N., st. Rspr.; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 20 Rn. 110; De{?enhart, Staatsrecht I, Rn. 328; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 303, 308. - Vgl. auch zur hier nicht zu vertiefenden Behandlung des Problems von Prognosen im Bereich des Verwaltun{?shandelns bei der Bestimmung des polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs ErichsenIWernsmann, Jura 1995,219 (220) m.w.N.

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§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

sterns) vermieden werden soll, handelt es sich in Wahrheit um einen "Chaos"Fall. 56

3. Mangelnde Evidenz des Verfassungsverstoßes a) Normenkontrolle als Ergebnis-, nicht als Verhaltenskontrolle

Desweiteren zog das Bundesverfassungsgericht häufig den Gesichtspunkt mangelnder "Evidenz" des Veifassungsverstoßes heran, beispielsweise in der Wahlkreiseinteilungs-Entscheidung57 und in der Zinsbesteuerungsentscheidung 58 . Diesen Gesichtspunkt bei der Ermittlung der materiellen Rechtslage zu berücksichtigen widerspricht jedoch den Prinzipien aller gerichtlichen Verfahrensarten. Die Ermittlung der Rechtslage ist eine originäre Aufgabe der Gerichte, und um ein solches handelt es sich auch beim Bundesverfassungsgericht, wie sich aus Art. 92 GG ergibt. 59 Die Gesetzes- bzw. Verfassungsauslegung nehmen letztverbindlich die Gerichte vor, ohne daß es darauf ankommen kann, ob Veifahrensbeteiligte bzw. der Gesetzgeber als Urheber des Prüfungsgegenstandes diese Rechtslage erkannt haben oder erkennen konnten. Davon ist die Frage zu unterscheiden, inwieweit die Frage der Erkennbarkeit eines Normverstoßes für einen der Beteiligten auf der Ebene des materiellen Rechts zu berücksichtigen ist, etwa im Rahmen des Verschuldens nach § 276 BGB zur Bestimmung von Vorsatz oder Fahrlässigkeit oder im Rahmen des § 17 StGB (Verbotsirrtum). Normenkontrollveifahren sind jedoch objektive Veifahren, die objektiv die Rechtslage klären und nicht (subjektiv) an Vorwerfbarkeit anknüpfen. 60 Eine Verschiebung der Normenkontrollverfahren von einer Ergebnis- zu einer Verhaltenskontrolle61 ist somit abzulehnen. Der Argumentationstopos der "mangelnden Evidenz" des Verfassungsverstoßes bzw. der "mangelnden Erkenntnis der Rechtslage,,62 ist somit nicht geeignet, die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes vorübergehend zu erhalten.

~6 Dazu unten § 2 C III. ~7BVerfGE 16, 130 (142 f.). Vgl. dazu bereits § 2 C 1.

~8 Vgl. BVerfGE 84, 239 (284): "Diese Rechtslage ist bisher nicht erkannt worden. Es besteht deshalb Anlaß, das bisherige Recht noch für eine Übergangszeit hinzunehmen." - Hervorhebungen nur hier. V gl. dazu ferner bereits oben § 2 C II I. WVgl. dazu auch Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 2. 60 Ebenfalls kritisch zu Subjektivierungstendenzen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wohl auch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 138 ff., 141. 61 Rinken, in: Alternativkommentar zum GG, Art. 94 Rn. 53 a.E. 62 So BVerfGE 84, 239 (284).

C. Appell-Entscheidungen

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b) Zuordnung zu den Chaos-Fällen

Analysiert man die Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht in dieser Weise argumentiert hat63 , so stand hinter der Vereinbarerklärung die Furcht vor den Folgen einer Nichtigkeit bzw. - soweit damals schon bekannt der Verfassungswidrigerklärung mit Anwendungssperre. In Wahrheit handelte es sich also immer um einen" Chaos-Fall ,,64. So fürchtete das Bundesverfassungsgericht in dem Wahlrechtsfall die oben geschilderten Unsicherheiten, und im Zinsbesteuerungsfall wären, falls die Ungleichheiten im Normenvollzug rückwirkend auf den gesetzlichen Steuertatbestand der Einkommensteuerpflicht auf Einkünfte aus Kapitalvermögen durchgeschlagen wären, erhebliche Belastungen gegenwärtiger Haushalte eingetreten. 65 Auf die sachgerechte Behandlung der "Chaos"-Fälle wird unten 66 noch eingegangen.

c) Verallgemeinerung für Mängel im Gesetzgebungsverfahren

aa) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Schließlich ist die Verallgemeinerung einer Fallgruppe hervorzuheben, die das Bundesverfassungsgericht aus dem Evidenz-Gesichtspunkt entwickelt hat. Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, ein Mangel im Gesetzgebungsverfahren führe - im Gegensatz zu inhaltlichen und kompetenziellen Verfassungsverstößen 67 - stets nur dann zur Nichtigkeit des Gesetzes, wenn er evident sei. 6H (Allerdings wird in den jeweiligen Entscheidungen bei Verstößen gegen die Vorschriften über das Gesetzgebungsverfahren von einem "verfassungsrechtlichen Mangel" und davon gesprochen, daß das Gesetz "nicht in verfassungsmäßiger Weise erlassen" worden und unverzüglich "durch den Gesetz-

Siehe oben § 2 C II 3 a. unten § 2 C III. 65 Dies sprach das Bundesverfassungsgericht in den späteren Entscheidungen zur steuerlichen Verschonung des Existenzminimums (BVerfGE 87, 153 ff.) sowie zur Vermögen- und Erbschaftsteuer (BVerfGE 93, 121 ff. und 93,165 ff.) auch offen aus. 66§ 2 C III. 67 So ausdrücklich BVerfGE 31, 47 (53); 91, 148 (175). - Zu weitgehend Ipsen, Rechtsfolgen, S. 140, der allgemein von "Entscheidungen über die formelle Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen" spricht. 68 BVerfGE 34, 9 (25). - Ebenso BVerfGE 91, 148 (175) für eine verfahrensfehlerhaft zustande gekommene Rechtsverordnung nach Art. 80 Abs. I GG. - BVerfGE 31, 47 (53) spricht von einem "groben Mangel im Gesetzgebungsverfahren". 63

64 Dazu

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§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

geber in Ordnung zu bringen" sei. 69 Daher sind diese Entscheidungen der Kategorie der Unvereinbarerklärungen zuzuordnen. 70 Weil sich die Fallgruppen insoweit jedoch überschneiden, soll die Problematik hier im Rahmen der AppellEntscheidungen erörtert werden, da das Bundesverfassungsgericht in den o.g. "Evidenz-" Fällen die Verfassungsmäßigkeit des jeweiligen Gesetzes "noch" bejaht hatte und die übrigen Evidenz-Fälle somit den Appell-Entscheidungen zuzuordnen sind.) Das Bundesverfassungsgericht begründete seine Aussage ausdrücklich mit der "Rücksicht auf die Rechtssicherheit,,71 und einer Parallele zu dem allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsatz - der nunmehr in § 44 Abs. 1 VwVfGe, § 125 Abs. 1 AO, § 40 Abs. 1 SGB X verankert ist -, daß rechtswidrige Verwaltungsakte nur bei entsprechender Evidenz nichtig seien. 72

bb) Kritik Die Parallele zu den Bestimmungen über Verwaltungsakte als Einzelfallregelungen überzeugt nicht. Der erste prinzipielle Einwand ist dagegen zu erheben, daß es im Verwaltungsrecht die Regel darstellt, daß Verwaltungsakte in Bestands kraft erwachsen. Regelmäßig führt nicht jeder Rechtsverstoß eines Verwaltungsakts zur Nichtigkeit, sondern nur zu dessen Anfechtbarkeit und Aufhebbarkeit. Allerdings führt jeder Verfahrensverstoß, sofern nicht ein gesetzlicher Heilungstatbestand (§§ 45 VwVfGe, 126 AO) eingreift, auch zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts mit der Folge, daß dieser in einem gerichtlichen Verfahren aufgehoben werden muß, sofern es nicht ausnahmsweise an der Rechtsverletzung des Klägers fehlt (§§ 46 VwVfGe, 127 AO). Das Institut der Bestandskraft dient dem Prinzip der Rechtssicherheit, dem der Vorrang vor der materiellen Gerechtigkeit in Form der Richtigkeit staatlicher Entscheidungen zuerkannt wird. 73 Dagegen erwachsen ausnahmsweise74 Verwaltungsakte, die offenkundig an besonders schweren Fehlern (vgl. §§ 44 Abs. 1 VwVfGe, 125 Abs. 1 AO) leiden, nicht in Bestandskraft, d.h., sie entfalten auch dann keine

69 BVerfGE

34, 9 (25, 26). Ebenso BendalKlein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1186 mit Fn. 93. Anders offenbar Ipsen, Rechtsfolgen, S. 140, der diese Entscheidungen unter der Überschrift "Der Appell an den Gesetzgeber" abhandelt, vgl. dens., Rechtsfolgen, S. 8. 71 BVerfGE 34, 9 (25); 91,148 (175). 72 BVerfGE 34, 9 (25 f.). Insoweit von BVerfGE 91, 148 (175) allerdings nicht mehr erwähnt. 7J Vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 10 Rn. 31. 74 S. nur Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 15 Rn. 27. 70

C. Appell-Entscheidungen

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Rechtswirkungen, wenn sie nicht angefochten wurden (vgl. §§ 43 Abs. 3 VwVfG, § 124 Abs. 3 AO). Dagegen werden Gesetze nicht "bestands-" oder ,,rechtskräftig". So ist etwa die konkrete Normenkontrolle nicht fristgebunden, und auch Verfassungsbeschwerden gegen Akte der Exekutive oder Judikative, die auf verfassungswidrigen Gesetzen beruhen, ermöglichen noch Jahre nach dem Inkrafttreten der Norm eine verfassungsgerichtliche Prüfung auch der Norm selbst und ggf. deren Nichtigerklärung (vgl. § 95 Abs. 3 S. 2 i.V.m. S. 1 BVerfGG). Während bei Verwaltungsakten die fehlende Evidenz dazu führte, daß es einer Anfechtung durch den Bürger bedurfte, führt die These des Bundesverfassungsgerichts dazu, daß die nicht evidenten Verfassungsverstöße im Gesetzgebungsverfahren überhaupt nicht gerügt werden können, obgleich das Grundgesetz keine Ausnahmevorschrift von dem Grundsatz der Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung nach Art. 20 Abs. 3 GG enthält. Insoweit besteht die vom Bundesverfassungsgericht gezogene Parallele zwischen evidenten Fehlern im Gesetzgebungsverfahren und evidenten Mängeln eines Verwaltungsaktes nicht. Außerdem wird nicht deutlich, wieso die Evidenz generell Voraussetzung der Verfassungswidrigkeit eines Mangels im Gesetzgebungsverj'ahren sein soll, während der Evidenz-Gesichtspunkt in den §§ 44 Abs. I VwVfGe, 125 AO nicht zwischen Verfahrens- und sonstigen Fehlern unterscheidet. Die Situation gleicht eher der gesetzlichen Fehlerfolgenregelung des verwaltungsrechtlichen Vertrages in § 59 Abs. I und 2 VwVfGe 75 . Auch hier können gewisse Rechtsverstöße nicht geltend gemacht werden mit der Folge, daß ein rechtswidriger Vertrag im Ergebnis bestehen bleibt, weshalb die Regelung auch für verfassungsrechtlich bedenklich gehalten wird. 76 Die vom Bundesverfassungsgericht angesprochenen Erfordernisse der Rechtssicherheit sind ebenfalls keine charakteristische Besonderheit von Verfahrensfehlern. Vielmehr erwähnte das Bundesverfassungsgericht an anderer Stelle seiner Entscheidung erneut, daß das Gesetz Rechtsgrundlage einer "Unzahl von Verwaltungsakten" gewesen sei und eine auch nur vorübergehende Unanwendbarkeit dieser Gesetze zu "unübersehbaren Folgen und Komplikatio-

7~ Entsprechende Regelungen fehlen in der AO, da der öffentlich-rechtliche Vertrag früher abgesehen von der als Redaktionsversehen eingestuften Norm des § 78 Nr. 3 AO keine Erwähnung gefunden hatte. Dies beruhte darauf, daß das Steuerrecht als Vereinbarungen unzugänglich angesehen wurde, da der Steueranspruch nicht zur Disposition der Beteiligten stehe, vgl. dazu Birk, Steuerrecht I, § 10 Rn. 5. Gegen die Annahme eines Vertragsformverbotes Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, S. 130 ff. Nunmehr ist der öffentlich-rechtliche Vertrag nach § 224a AO für einen Sonderfall ausdrücklich zugelassen. Insoweit wird man zur Lückenfüllung §§ 54 ff. VwVfG analog heranziehen können; anders Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, S. 375 ff. 76 Vgl. Erichsen, Jura 1994,47 (47, 50) m.w.N., auch zur Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung des § 59 Abs. 1 VwVfG. 4 Wcrnsmann

50

§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

nen" führen würde. 77 Hinter der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht also auch hier wieder in Wahrheit der Aspekt der Folgenberücksichtigung und nicht etwaige Besonderheiten von Verfahrensverstößen. Dies wird auch noch daran deutlich, daß der ersten Entscheidung, die das Evidenz-Erfordernis eines Verfahrensverstoßes als Voraussetzung der Nichtigkeit eines Gesetzes statuierte, richtigerweise gar kein Verstoß gegen das Gesetzgebungsverfahren gern. Art. 76 ff. GG zugrunde lag; vielmehr handelte, - wenn man die Prämisse des Bundesverfassungsgerichts akzeptiert, daß die Grundlage der Norm in Kraft gesetzt sein muß, bevor die darauf gestützte Norm erlassen werden kann 7S , - der Bundesgesetzgeber kompetenz los 79. Das Besoldungsvereinheitlichungsgesetz des Bundes war nämlich am 20.3.1971 verkündet worden, obschon die Kompetenznorm, auf die es sich stützte (Art. 74 a GG), erst am 21.3.1971 (nach Verkündung am 20.3.1971) in Kraft trat. Also handelte der Bund am 20.3.1971 noch ohne Gesetzgebungskompetenz. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch in einer späteren Entscheidung ausdrücklich klargestellt, daß das EvidenzErfordernis als Voraussetzung der Nichtigerklärung eines Gesetzes wegen eines Verfahrensverstoßes für Kompetenzverstöße gerade nicht gelten solle. so Jedenfalls ist maßgeblicher Grund für die Vermeidung einer Nichtigerklärung in den angesprochenen Entscheidungen nicht der vom Bundesverfassungsgericht herangezogene Gesichtspunkt der mangelnden Erkennbarkeit (',Evidenz") des Verfassungsverstoßes SI oder des ..Vertrauens von Verwaltung und Bürgern auf die Gültigkeit"S2, sondern vielmehr die etwaigen Folgen, die von einer Nichtigerklärung ausgegangen wären. S3

So BVerfGE 34, 9 (26). So BVerfGE 34, 9 (21). 79 Zutreffend Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 87 Fn. 197. 80 Explizit BVerfGE 91,148 (175). 81 Die Erkennbarkeit des Verfassungsverstoßes hat das Bundesverfassungsgericht in der genannten Entscheidung allein unter Berufung auf eine langjährige Staatspraxis trotz erheblichen Widerspruchs in der Literatur, wie das Bundesverfassungsgericht selbst einräumt, ausgeschlossen, vgl. BVerfGE 34, 9 (25 0. 82 So BVerfGE 34, 9 (26). 83 Dies trifft indes nicht uneingeschränkt für die Entscheidung BVerfGE 31, 47 (53) zu, da das Bundesverfassungsgericht hier nicht für die Zukunft auf eine Veränderung des bestehenden Rechtszustandes hinwirken wollte, wie sich aus den Gründen ergibt. Es prognostizierte damit auch nicht ein "Verfassungswidrigwerden" der Norm, um die Folgen einer Entscheidung zu vermeiden, die die gegenwärtige Rechtslage für "schon verfassungswidrig" erklärte. Dennoch steht sie der oben geäußerten Einschätzung, daß es auf die Erkennbarkeit (Evidenz) des Verfassungsverstoßes für die Frage der Beurteilung einer Norm als verfassungswidrig nicht ankommen kann und auch tragend nicht angekommen ist, nicht entgegen, da BVerfGE 31, 47 (53) von einem "groben Mangel im Gesetzgebungsverfahren" spricht und insoweit sich gar nicht auf Evidenzgesichtspunkte (Offenkundigkeit) im eigentlichen Sinne bezieht, sondern auf die Schwere des Fehlers. § 44 Abs. I VwVfGe ordnet die Rechtsfolge der Nichtigkeit nur bei einer besonderen 77 78

C. Appell-Entscheidungen

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d) Parallelen zu den Folgen eines Gleichheitsverstoßes

Verfahrensverstöße zeichnen sich dadurch aus, daß die Regelung nicht "an sich" (absolut) verfassungswidrig ist, sondern durchaus - ein ordnungsgemäßes Verfahren vorausgesetzt - mit demselben Inhalt erneut erlassen werden könnte. Diese "Besonderheit" teilen die verfassungsrechtlichen Verfahrensvorschriften auch mit dem Gleichheitssatz, 84 der nicht die Begünstigung der einen Vergleichsgruppe oder die Benachteiligung der anderen Vergleichsgruppe "an sich" (absolut), sondern nur die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung der beiden Vergleichsgruppen verbietet. 8s Insofern läge es in der Konsequenz dieser Entscheidungen, auf die Nichtigerklärung (Kassation des Gesetzes) mit der Folge eines möglichen Rechtsvakuums zu verzichten, da es sich nicht um eine schlechthin unzulässige Norm handelt, sondern der Mangel "geheilt" werden kann.

4. Unerfüllte Gesetzgebungsaufträge Schließlich fällte das Bundesverfassungsgericht Appell-Entscheidungen, wenn Gesetzgebungsaufträge unzureichend umgesetzt waren. So hat das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1969 Regelungen, die das nichteheliche Kind vom Erbrecht gegenüber seinem Vater ausschlossen und die somit dem Verfassungsauftrag des Art. 6 Abs. 5 GG zuwiderliefen, für "noch nicht durch Art. 6 Abs. 5 GG außer Kraft gesetzt" angesehen, sondern dem Gesetzgeber eine Frist

Schwere des Fehlers und dessen Offenkundigkeit an, woran ebenfalls deutlich wird, daß es sich um zwei verschiedene Aspekte handelt. 84 Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 23 und Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbots, S. 25 ff.; ders., DÖV 1984,411 (413 f.) sprechen daher auch von einer "modalen" Regelung, da nur die Art und Weise des Zustandekommens geregelt wird, jedoch keine inhaltlichen (materiellen) Anforderungen gestellt werden. Dagegen Kirchhof, HStR V, § 124 Rn. 276 und nunmehr auch Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (319), die den Gleichheitssatz nicht für ein modales, sondern ein materielles (wenn auch ergebnisoffenes) Abwehrrecht halten. Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (319 f.) verneint den bloß modalen Charakter, weil das Interesse an Gleichbehandlung "durchaus substanziellen Charakter" habe. Warum dieser substanzielle Charakter indes bei unstreitig modalen Rechten - etwa dem Richtervorbehalt nach Art. 13 (Beispiel nach Kirchhof und Schwabe) - nicht gegeben sein soll, vermag die neue Auffassung von Sachs indes m.E. nicht überzeugend zu begründen. Auch die Einstufung der Gleichheit als eines "abwehrrechtlichen Schutzbereichs" (Sachs; insoweit ebenso JarasslPieroth, GG, Art. 3 Rn. 3 ff.) vermag m.E. keine abweichende Beurteilung zu rechtfertigen. 85 Vgl. nur Maurer, in: Festschrift für Weber, S. 345 (354); Ipsen, Rechtsfolgen, S.213.

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§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

gesetzt. 86 Begründet wurde dies damit, daß dem Gesetzgeber für die Erfüllung von Verfassungsaufträgen eine angemessene Frist einzuräumen sei und bis zum Ablauf dieser Frist das bisherige, den Anforderungen des Verfassungsauftrages nicht genügende Recht noch hinzunehmen sei. 87 Dem ist zuzustimmen, da Art. 6 Abs. 5 GG vom Wortlaut her ("durch die Gesetzgebung") und historisch als Gesetzgebungsauftrag angelegt war88 und damit ursprünglich ungeachtet seines Charakters als Grundrecht89 auf die Umsetzung durch den Gesetzgeber angelegt war. 90 Insoweit war ihm dann aber eine Frist zum Tätigwerden einzuräumen, während der dann zwangsläufig das bisherige Recht hingenommen werden mußte. Teilweise werden den Fällen unvollständiger Umsetzung eines Verfassungsauftrages die Fälle gleichgestellt, in denen die "Weitergeltung der geprüften Norm von der Verfassung gefordert" wird, etwa wenn Besoldungen unangemessen niedrig bemessen waren und damit nicht den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtenturns gern. Art. 33 Abs. 5 GG entsprachen. 91 Indes handelt es sich hier um Fälle, in denen die den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht voll gerecht werdende Regelung dem von der Verfassung gewollten Zustand näher kommt als die bei ihrer Nichtigerklärung entstehende Regelungslücke92 . Zur sachgerechten Lösung dieser Fälle wird unten 93 noch Stellung genommen.

III. Relativ größere Verfassungsnähe der FortgeItung der Norm gegenüber deren abruptem Wegfall Vielfach hat das Bundesverfassungsgericht - insbesondere in seiner Anfangszeit, als es glaubte, unter Anwendung der Theorie der Ipso-iureNichtigkeit, die auch dem § 78 S. 1 BVerfGG zugrunde liegt, jedes verfassungswidrige Gesetz mit Wirkung ex tunc 94 für nichtig erklären zu müssen, -

86 BVerfGE

25, 167 (188).

BVerfGE 25,167 (182,184 ff.). 88 Zacher. HStR VI, § 134 Rn. 120 m.w.N. 89 Art. 6 Abs. 5 GG stellt auch einen besonderen Gleichheitssatz dar, vgl. BVerfGE 25, 167 (Leitsatz 2); Jarass/Pieroth. 00, Art. 6 Rn. 39. 9O Vgl. E. M. von Münch. in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 6 Rn. 52. 91 BVerfGE 8,1 (19 f.); 32,199 (217 f.); 44, 249 (251); Stern, Staatsrecht H, § 44 V 3 g (S. 1041, Fn. 537). 92 So auch Stern, Staatsrecht H, § 44 V 3 g (S. 1041 Fn. 537). 93 § 2 C III, § 3 B I 2 b. 94Vgl. etwa BVerfGE I, 14 (Leitsatz 6). 87

C. Appell-Entscheidungen

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auch dann ein Gesetz für "noch verfassungsgemäß" gehalten, wenn durch dessen abrupten Wegfall ein "Chaos" entstehen würde.

1. Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes wegen "Chaos"

bei Verfassungswidrigkeit? Das Bundesverfassungsgericht hat in der Nachkriegszeit etwa ein die Zwangswirtschaft verlängerndes Gesetz als für eine "kurze Übergangs- und Auslaufzeit" noch verfassungsmäßig erachtet: "Einerseits konnte die bestehende Regelung nicht mit dem 23. Mai 1949 ersatzlos wegfallen, wenn nicht ein Chaos entstehen sollte; andererseits wäre es dem ... Bundesgesetzgeber unmöglich gewesen, in einigermaßen absehbarer Zeit die bestehende Regelung durch eine neue zu ersetzen ... Der Rechtsstaat konnte eben auch auf diesem Gebiet nicht an einem Tage voll verwirklicht werden. ,,95

Ähnlich formuliert das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zum Devisenbewirtschaftungsgesetz der früheren Besatzungsmächte: "Wären am 5. Mai 1955 unvermittelt die devisenrechtlichen Vorschriften außer Kraft gesetzt worden, so wäre ... in weitem Umfang chaotische Unordnung eingetreten.,,96

Ergänzend 97 weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, daß über das Maß der nach dem Grundgesetz künftig zulässigen Beschränkungen der Berufsfreiheit im Außenhandel bis zu seinem Apotheken-Urteil 98 noch keine volle Klarheit herrschte. Insoweit führt das Bundesverfassungsgericht erneut Aspekte der Erkennbarkeit der Rechtslage für den Gesetzgeber als Bindungsadressaten ein99 , die auch im engen Zusammenhang mit der Fallgruppe der geänderten Verfassungsauslegung lOO stehen. Hinzuweisen ist schließlich darauf, daß das Bundesverfassungsgericht auch in den Chaos-Fällen die Nichtigkeit einer Norm dann feststellen will, wenn das fragliche Gesetz "ihrem Inhalt nach unverzichtbare Grundsätze des Grundgesetzes klar verletzen würde.,,101 Darunter sollen insbesondere die in Art. 79 Abs. 3

BVerfGE 9,63 (72). - Hervorhebung nur hier. BVerfGE 12,281 (293 f.). - Hervorhebung nur hier. 97 Dieser Gesichtspunkt wird mit einem "Zumal-"Satz eingeleitet, BVerfGE 12,281 (293). 98 BVerfGE 7, 377. 99 Vgl. dazu oben § 2 C Ir 3. 100 V gl. dazu oben § 2 C Ir 1. 101 So BVerfGE 4,157 (170); 12,281 (294). 95

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§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

und 19 Abs. 2 GG bezeichneten Grundsätze zu verstehen sein. 102 Recht solcher Art könne auch nicht für eine Übergangszeit aufrechterhalten bleiben. 103 In der Konsequenz müssen die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts dann so verstanden werden, daß in diesen Fällen eher ein Chaos hinzunehmen wäre als die befristete Fortgeltung "eigentlich" verfassungswidrigen Rechts. Als herausragendes Beispiel aus dem Bereich des Steuerrechts sei hier die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der sog. kumulativen Allphasenbruttoumsatzsteuer 104 genannt. 105 In dieser heißt es zwar einerseits: "Der jetzige Wortlaut des Gesetzes wird also den Vorstellungen, die der Gesetzgeber selbst von einer dem Gleichheitssatz genügenden Belastung der ein- und mehrstufigen Unternehmen hatte, nicht mehr gerecht."I06

Dennoch verneinte das Bundesverfassungsgericht tatbestandlich 107 die Annahme der Verfassungswidrigkeit der Norm, und zwar mit folgenden Erwägungen: "Genügt demnach das Umsatzsteuergesetz in seiner geltenden Fassung der ... Steuergerechtigkeit insoweit nicht, als es die Außenumsätze der einstufigen den Außenumsätzen der mehrstufigen Unternehmen ausnahmslos gleichstellt, so kann doch jedenfalls zur Zeit weder das Gesetz für nichtig erklärt werden noch eine Grundrechtsverletzung festgestellt werden .... Die besonders große Bedeutung, die das Umsatzsteuergesetz für die Einnahmen des Bundes 108 , aber auch für die Selbstkosten der Unternehmen und die allgemeine Preisgestaltung hat, läßt es jedenfalls zur Zeit nicht zu, das ganze Gesetz nur deshalb für nichtig zu erklären, weil besondere, wenn auch nicht unbedeutende Gruppen ungleich behandelt sind."I09

Abschließend stellt das Bundesverfassungsgericht auch hier - wie schon in den oben genannten Entscheidungen - fest, daß die zeitweise (im Hinblick auf die Folgen einer etwaigen Nichtigerklärung ausgesprochene) Weitergeltung des Gesetzes für die Beschwerdeführerinnen "bei der gegebenen Situation nicht völlig unerträglich" sei. lIo 102 So BVerfGE 4, 157 (170). 103 BVerfGE 12,281 (294). 104 Inhaltlich zum Begriff der sog. kumulativen Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer etwa Reiß. in: TipkelLang, Steuerrecht, § 13 Rn. 3. lOS BVerfGE 21, 12. 106 BVerfGE 21,12 (37). 107 Ebenso Stern, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 93 Rn. 285; ders .• Staatsrecht II, § 44 V 3 g (S. 1041 f. mit Fn. 538). 108 Nach Art. 106 Abs. 1 Nr. 3 GG a.F. floß das Aufkommen dem Bund zu. 109 BVerfGE 21, 12 (39). - Hervorhebungen nur hier. 110 BVerfGE 21, 12 (40).

C. Appell-Entscheidungen

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2. Folgenberücksichtigung auf Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite? Demgegenüber schlug das Bundesverfassungsgericht in neueren Entscheidungen meist einen anderen Weg ein, um die Folgeprobleme, die eine Nichtigerklärung der Norm mit sich brächte, berücksichtigen zu können. Wenn durch die Nichtigerklärung einer Norm ein Zustand geschaffen würde, der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stände als die verfassungswidrige Regelung, also etwa ein ,,Regelungschaos", so stellt es lediglich die Verfassungswidrigkeit der Regelung fest (und läßt ggf. deren Weiteranwendung ZU).III Es verzichtet dann auf den Ausspruch der Nichtigkeit nach den §§ 78 S. 1,82 Abs. 1, 95 Abs. 3 S. 1, 2 BVerfGG. Diese neuere Lösung, die neben die AppellEntscheidungen getreten ist, berücksichtigt die Folgeprobleme einer etwaigen Nichtigerklärung der geprüften Norm also erst auf der Rechtsfolgenseite; an der Beurteilung der Norm als verfassungswidrig (auf Tatbestandsseite) ändert sich bei diesem Vorgehen nichts. Beispielhaft sei hier auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des steuerfreien Grundfreibetrages nach § 32a Abs. 1 S. 2 EStG I12 verwiesen. In dieser Entscheidung stellte das Bundesverfassungsgericht - anders als in der Entscheidung zur Umsatzsteuer l13 - ausweislieh des Tenors die Verfassungswidrigkeit fest und berücksichtigte die nicht hinnehmbaren Folgen einer Nichtigerklärung des Gesetzes (Bedrohung der finanziellen Handlungsfähigkeit des Staates l14) bei der Bestimmung der Rechtsfolgen (Unvereinbarerklärung mit Verpflichtung des Gesetzgebers zu einer Neuregelung nur für die Zukunft lls ). In der Literatur wird der Verzicht auf die Nichtigerklärung im Falle der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, wie sie etwa der Grundfreibetragsentscheidung zugrunde liegt, teilweise kritisiert. Falls die Verfassung ausnahmsweise die Weitergeltung der geprüften Norm fordere, weil eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht voll gerecht werdende Regelung dem von der Verfassung gewollten Zustand näher komme als die bei ihrer Nichtigkeit entstehende Regelungslücke,116 müsse aufgrund besonderen Verfassungsgebotes die an sich anzunehmende Verfassungswidrigkeit auf der Ebene des materiellen Rechts (also tatbestandlieh) ausgeschlossen werden, da die geprüfte Norm dann

111 Vgl. BVerfGE 33,303 (305,347 f.). BVerfGE 87, 153. Ebenso BVerfGE 93, 121 zur Vennögensteuer und BVerfGE 93, 165 zur Erbschaftsteuer. 113 BVerfGE 21,12. 114 BVerfGE 87, 153 (179). - In der Entscheidung zur Umsatzsteuer stellte sich wegen der "besonders großen Bedeutung des Umsatzsteuergesetzes für die Einnahmen des Bundes" - vgl. BVerfGE 21, 12 (39) - dasselbe Problem. II~ BVerfGE 87, 153 (154 f., 177 ff.). 116 Stern, Staatsrecht II, § 44 V 3 g (Fn. 537). 112

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§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

nicht verfassungswidrig sei. 117 Demgegenüber favorisieren andere Stimmen in der Literatur l18 gerade umgekehrt die neuere Lösung (Feststellung der Verfassungswidrigkeit, aber zugleich deren Hinnahme für eine Übergangszeit) mit der Konsequenz, daß nicht hinnehmbare Folgen einer Nichtigerklärung nur die Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit modifizieren, und bezeichnen diese als einen Beitrag zu größerer Entscheidungsehrlichkeit.

a) Relevanz der Zuordnung zur Tatbestands- oder Rechtsfolgenläsung

Während die Fallgruppen der Appell-Entscheidungen, die ein Gesetz tatbestandIich für "noch verfassungsgemäß" erklären, mit den Fallgruppen der Unvereinbarerklärung mit weiterer Anwendbarkeit für eine Übergangszeit weitgehend übereinstimmen 119, unterscheiden sich die bei den Tenorierungsarten nicht nur in der theoretischen Konzeption, sondern auch in den Rechtsfolgen. Die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes - die auch durch eine ein Gesetz für "noch verfassungsgemäß" erklärende Appell-Entscheidung erfolgen kann - ist schon prinzipiell von der Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht strikt zu unterscheiden. 120 Der bloße Appell des Bundesverfassungsgerichts an den Gesetzgeber kann keine rechtliche Bindungswirkung entfalten,121 da Gegenstand des Normenkon-

117 So Hein, Unvereinbarerklärung, S. 120 f.; Stern, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 93 Rn. 285; ders., Staatsrecht II, § 44 V 3 g (S. 1041 f.), der insoweit BVerfGE 21, 12 (39) zustimmt. 118 Vgl. Hartmann, DVBI. 1997, 1264 (1268); Löwer, HStR II, § 56 Rn. 105 a.E.; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 182 f.; Rinken, in: Alternativkommentar zum GG, Art. 94 Rn. 52 a.E.; Seer, NJW 1996,285 (288). Wohl auch Pestalozza, in: Festgabe BVerfG I, S. 519 (566 f.). 119 V gl. etwa auch die übergreifende Behandlung bei Battis, HStR VII, § 165 Rn. 38, der gleichwohl trotz der teilweise geringen praktischen Differenz den prinzipiellen Unterschied anerkennt (§ 165 Rn. 37). 120 Ebenso BendalKlein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1193; lpsen, Rechtsfolgen, S. 95; Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 396. - Auch Seer, NJW 1996, 285 (288 Fn. 56) kritisiert, daß das Bundesverfassungsgericht "eine bunte Palette von Rechtsfolgemöglichkeiten, deren Voraussetzungen und Verhältnis zueinander völlig unklar sind", offeriere, und mahnt eine nachvollziehbare Dogmatik an, "wenn der Entscheidungsausspruch des Bundesverfassungsgerichts nicht zu einem unkalkulierbaren Lotteriespiel" werden solle, ders., NJW 1996, 285 (291). 121 Ebenso BendalKlein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1194; Löwer, HStR II, § 56 Rn. 109; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 20 Rn. 31,110; Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, S. 334 f.; Stern, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 93 Rn. 319. Dagegen spricht etwa BVerfGE 54, 11 (39) von einer "Verpflichtung des Gesetzgebers", eine Neuregelung in Angriff zu nehmen.

C. Appell-Entscheidungen

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troll verfahrens nur die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit im Entscheidungszeitpunkt iSt. 122 Im übrigen handelt es sich um ein rechtlich folgenloses (allenfalls faktisch wirkendes l23 ) obiter dictum. 124 So kann etwa die vom Bundesverfassungsgericht im Entscheidungszeitpunkt prognostizierte Entwicklung der Norm in die Verfassungswidrigkeit hinein infolge anderer tatsächlicher oder rechtlicher Entwicklungen doch noch anders verlaufen und die Norm verfassungsmäßig bleiben 125 oder sich die "Verpflichtung" des Gesetzgebers aus anderen Gründen doch noch nicht aktualisieren. 126 Außerdem enthält die Bezeichnung "verfassungswidrig" ein Unwerturteil über die Norm, die Bezeichnung "noch verfassungsmäßig" hingegen nicht. 127 Insbesondere müssen auch die prozessualen Konsequenzen diskutiert werden, vor allem die Frage der Entscheidungserheblichkeit gern. Art. 100 Abs. 1 GG,128 die das Bundesverfassungsgericht ansonsten sehr streng beurteilt. 129 Hier stellt sich die Frage, ob im Falle der Verfassungsmäßigkeit der Norm (Folge: Klageabweisung) eine andere Entscheidung ergehen kann als im Falle der Verfassungswidrigkeit der Norm, wenn von vornherein feststeht, daß das Bundesverfassungsgericht für den streitgegenständlichen Zeitraum die Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm anordnen wird, ob es dann also auf die Verfassungsmäßigkeit der Norm gern. Art. 100 Abs. 1 GG ankommt. 130 Denn in diesem Falle käme es im Falle der Verfassungswidrigkeit der Norm ebenfalls (wie

122 Stern,

in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 93 Rn. 319.

123 Aber auch eine solche faktische Wirkung tritt nicht notwendig ein. So hat der Gesetzgeber eine Reform der im Jahre 1980 durch BVerfGE 54, 11 für "noch verfassungsmäßig" erklärten unterschiedlichen Besteuerung der Pensionen und Sozialversicherungsrenten bis heute nicht in Angriff genommen. Dies billigend zuletzt BVerfGE 86, 369 im Jahre 1992. Siehe dazu oben § 2 C vor I und 1. Inhaltlich zum Reformbedarf bei der Besteuerung der Alterseinkünfte BirkIWernslrUlnn, in: CramerIFörsterlRuland, Handbuch zur Altersversorgung, S. 833 (846 ff.); Wernsmann, StuW 1998,317 (332). 124 Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1193. 125 Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1194. 126 So etwa BVerfGE 86, 369 zu dem 12 Jahre zuvor durch BVerfGE 54, 11 ausgesprochenen Appell, die noch verfassungsmäßige ungleiche Besteuerung der Alterseinkünfte zu reformieren. BVerfGE 86, 369 erklärte das geltende Recht auch 12 Jahre später für immer noch verfassungsmäßig. Dazu kritisch etwa Seer, StuW 1996, 323 ff.; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. H, S. 668. 127 Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 396. 128 Dazu ausführlich unten § 4 A III, C I I a. 129 Ehlers, in: Schoch/Schmidt-AßmannlPietzner, VwGO, Anh. § 40 Art. 100 Abs. 1 GG Rn. 29. Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 23 Rn. 281 Fn. 205 spricht etwa von Überhöhung der Zulässigkeitshürden durch das Bundesverfassungsgericht. - Näher dazu unten § 4. 130 Bejahend ohne Begründung BVerfGE 87, 153 (180), dort am Ende der Begründetheitsprüfung "nach geschoben", sowie BVerfGE 72, 51 (62); 93, 121 (131). Implizit auch BVerfGE 99,280 (288 f. i.V.m. 298 ff.).

58

§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

im Falle der Verfassungsmäßigkeit der Nonn) zur Klageabweisung. Die Entscheidungserheblichkeit könnte unter diesem Aspekt fraglich sein. Das Bundesverfassungsgericht begründet das Bestehenbleiben der Entscheidungserheblichkeit gern. Art. 100 Abs. 1 GG in diesen Fällen damit, daß nicht erkennbar ist, ob das Bundesverfassungsgericht die Fortgeltung anordnet. Es formuliert: "Dabei kann es für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlage keine Rolle spielen, daß im Falle einer Unvereinbarkeitserklärung das Bundesverfassungsgericht gemäß § 35 BVerfGG die weitere Anwendung des bisherigen Rechts anordnen kann.,,131 Die Verwendung des Begriffs "kann" könnte darauf hindeuten, daß das Bundesverfassungsgericht glaubt, die Fortgeltung des für verfassungswidrig erkannten Rechts nach seinem freien Ermessen anordnen zu können. Dem ist indes entgegenzuhalten, daß die Fortgeltung des verfassungswidrigen Rechts nur ausnahmsweise zulässig ist und insoweit an Voraussetzungen geknüpft iSt. 132 Ob diese Voraussetzungen vorliegen, könnte indes auch schon im Rahmen der Zulässigkeit (Entscheidungserheblichkeit der Frage der Verfassungsmäßigkeit LS.d. Art. 100 Abs. 1 GG) geprüft werden. Dort stellt sich nämlich die Frage, ob die Entscheidung im Ausgangsverfahren bei Verfassungswidrigkeit der Nonn, die allerdings wegen der nicht hinnehmbaren Folgen einer Nichtigerklärung mit Ex-tunc-Wirkung trotzdem weiter angewendet werden muß. anders ausfallen kann als im Falle der Verfassungsmäßigkeit der Nonn. 133 In anderen Entscheidungen ist das Bundesverfassungsgericht auch in der Tat so vorgegangen: So wurde etwa bemängelt, daß das vorlegende Gericht die Entscheidungserheblichkeit nicht hinreichend dargetan habe, weil es sich nicht damit auseinandergesetzt habe, daß der Verfassungsverstoß "nicht schon zwangsläufig zur Nichtigkeit und damit zur völligen Unanwendbarkeit der beanstandeten Regelung führen" würde. 134 Hier wurde also ein Bezug hergestellt zwischen den zu erwartenden Rechtsfolgen (Weiteranwendbarkeit) und der Frage, ob es auf die Verfassungsmäßigkeit der vorgelegten Nonn im Ausgangsverfahren ankomme. 135 Auch der Bundesfinanzhof geht davon aus, daß "es bei eiBVerfGE 93, 121 (131). - Hervorhebung nur hier. unten § 2 C III 3. 133 Zur Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. I GG umfassend unten § 4 A III, eIl a. 134 BVerfGE 66, 100 (105). 135 Insoweit ähnlich auch BVerfGE 79, 245 (250 f.). - Vgl. auch Friauf, FR 1969, 319 (322 f.), der die Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. I GG für den Fall verneinte, daß die (gescheiterten) Änderungsvorschläge zum BVerfGG (BR-Drucks. 594/68 vom 28.11.1968; BT-Drucks. V/3816 vom 5.2.1969) Gesetz geworden wären. Nach dem Entwurf, der Sonderregelungen für Geldleistungs- (insbesondere Steuer-)Gesetze vorsah und eine Reaktion auf die Umsatzsteuer-Entscheidung BVerfGE 21, 12 ff. darstellte, sollte das für nichtig erklärte Steuergesetz mit dem Ende des Jahres, das der Entscheidung vorhergeht, als außer Kraft getreten gelten. Dieser Änderungsvorschlag war mithin sogar weniger weitgehend als die jetzige Praxis des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 87, 153 ff.; 91, 186 ff.; 93, 121 ff.; 93, 165 ff.), die Fortgeltung auch 131

132 Dazu

c. Appell-Entscheidungen

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ner Entscheidung in der Hauptsache nicht zu einer Vorlage ... an das Bundesverfassungsgericht kommen" könne, wenn es "ausgeschlossen (erscheint), daß das Bundesverfassungsgericht, einen Verfassungsverstoß unterstellt, für Jahre vor 1997 die vom Antragsteller begehrten Rechtsfolgen ziehen würde. ,,136 In diesem Zusammenhang ist ferner darauf hinzuweisen, daß der Große Senat des BFH 137 die Auffassung vertritt, eine ihm vorgelegte Rechtsfrage sei dann nicht entscheidungserheblich (nach § 11 FGO), wenn die (von ihm abgelehnte) Ansicht 138 zuträfe, daß eine verschärfende Rechtsprechung selbst im Anrufungsfall nicht rückwirkend angewendet werden könne. Da die Gerichte keine Rechtsgutachten erstatten dürften, seien sie gehindert, Ausführungen zu machen, die nicht den Streitfall, sondern nur zukünftige Fälle beträfen. Dagegen käme es bei Einschlägigkeit der Appell-Entscheidungen in dieser Fallgruppe der "Folgenberücksichtigung" im Falle der Veifassungsmäßigkeit worunter auch die ,,Noch"-Verfassungsmäßigkeit fallen würde - jedenfalls zu einer anderen Entscheidung als in dem (indes dann nur theoretisch denkbaren) Fall der Nichtigkeit infolge Veifassungswidrigkeit. Für den Fall, daß es nicht auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Norm ankommt, die Vorlage aber trotzdem als zulässig beurteilt werden muß, stellt sich die weitere Frage, ob in anderen Fällen, in denen im Ergebnis Ähnliches gilt, die Zulässigkeit der Richtervorlage ebenfalls bejaht werden muß, auch wenn von vornherein feststeht, daß sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf das Ausgangsverfahren nicht auswirken wird. Dies gilt etwa für die Fälle des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses, wenn eine Nichtigerklärung der Drittbegünstigung zu erwarten wäre, weil eine Einbeziehung des Klägers des Ausgangsverfahrens in die Begünstigung nicht erwartet werden kann oder unzulässig wäre. Was die Kostenentscheidungen angeht, so unterscheiden sich Appell-Entscheidung (',Noch-Verfassungsmäßigkeit" des Gesetzes) und mit Anordnung der Fortgeltung verbundene Unvereinbarerklärung indes üblicherweise nicht. In beiden Fällen wendet das Bundesverfassungsgericht regelmäßig § 34a Abs. 3 BVerfGG an, wonach das Bundesverfassungsgericht auch bei Erfolglosigkeit der Verfassungsbeschwerde (§ 34a Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 BVerfGG) volle oder

noch für einen Übergangszeitraum in die Zukunft hinein zu akzeptieren. Tendenziell ähnlich, aber die Entscheidungserheblichkeit nicht verneinend Schick, JZ 1969, 371 (373). 136 BFH BStBI. II 1998, 671 (672) im Zusammenhang mit dem sog. Halbteilungsgrundsatz. Inhaltlich dazu Wernsmann, StuW 1998, 317 (331 f.) m.w.N. 137 Explizit BFH (Großer Senat), BStBI. II 1984, 751 (757). 138 Nachweise unten § 4 C I 2.

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§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

teilweise Erstattung der Auslagen anordnen kann. 139 Danach entspricht es der Billigkeit, die Erstattung der notwendigen Auslagen anzuordnen, wenn die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Neuregelung zu Klarstellungen führt, an denen die Beschwerdeführer ein berechtigtes Interesse haben und die sich zum Teil für sie günstig auswirken können. 140 Dagegen kann § 34a BVerfGG in konkreten Normenkontrollverjahren nicht angewendet werden, da der Kläger des Ausgangsverfahrens (§ 77 Abs. 3 BVerfGG) bzw. die anderen Äußerungsberechtigten (§§ 77, 82 Abs. 1 BVerfGG) keine Beteiligten des Normenkontrollverfahrens sind. 141 Hier regelt sich die Kostentragung nach den Verfahrensordnungen des jeweiligen Gerichtszweiges. So hat nach § 135 Abs. 1 FGO der unterliegende Beteiligte die Kosten zu tragen,142 und gern. § 135 Abs. 2 FGO fallen die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt. Nach der Sonderregel des § 137 S. 2 FGO können Kosten, die durch Verschulden eines Beteiligten entstanden sind, diesem auferlegt werden. 143

139 Vg\. einerseits die Appell-Entscheidung BVerfGE 84, 239 (240, 285) und andererseits die Unvereinbarkeitsentscheidungen BVerfGE 91, 186 (186 f., 207); 93, 165 (166,179), die jeweils aufVerfassungsbeschwerden hin ergingen. In BVerfGE 91,186 wurde der sog. Kohlepfennig zwar für verfassungswidrig erklärt (Nr. I des Tenors), aber die befristete Fortgeltung angeordnet (Nr. 4 des Tenors). Dennoch wurde das Urteil des Amtsgerichts, das die Verurteilung des Klägers zur Zahlung des sog. Kohlepfennigs und der Kosten des Verfahrens enthielt, aufgehoben (Nr. 3 des Tenors), damit der Beschwerdeführer durch die Zurückverweisung an das Amtsgericht die Möglichkeit erhalte, die Forderung im Blick auf die Weitergeltungsanordnung anzuerkennen, um insoweit der Kostenlast zu entgehen, vg\. BVerfGE 91, 186 (207). 140 So etwa BVerfGE 84, 90 (132). Zu weiteren Fällen, in denen § 34a Abs. 3 BVerfGG angewendet wird, siehe Mellinghojf. in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 34a Rn. 35 ff. 141 Vg\. Mellinghoff, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 34a Rn. 43. 142 Für Kostentragung des Klägers in solchen Fällen konsequent BFH BStB\. Ir 1994, 473 (475); 1994,522; 1996,20 (24 f.). Ebenso in einem Parallel verfahren zu BVerfGE 87, 153, die eine Unvereinbarerklärung mit Fortgeltungsanordnung aus fiskalischen Gründen enthielt, Niedersächsisches FG BB 1995, 762 mit ablehnender Anmerkung Balke. Dazu auch noch unten § 4 C I I a. 143 Kirchhof. DStJG 18 (1995),17 (43 f.) bejaht ein Verschulden der Verwaltung, da diese durch die beamtenrechtliche Remonstration die Verfassungswidrigkeit verwaltungsintern habe bewußt machen und letztlich darauf habe hinwirken müssen, daß die Bundesregierung eine Gesetzesinitiative zur Gesetzesänderung ergreift oder ein Normenkontrollverfahren einleitet. Gegen eine Kostentragungspflicht des Klägers in diesen Fällen auch Seer, in: TipkelLang, Steuerrecht, § 23 Rn. 260 mit der Begründung, daß ihm "kein Nachteil allein dadurch entstehen dürfe, daß sein materiell wegen verfassungsrechtlicher Fragen geführtes Verfahren im finanzgerichtlichen Stadium 'steckengeblieben'" sei.

C. Appell-Entscheidungen

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b) Varzugswürdigkeit der Rechts/algenlösung

Wegen der unterschiedlichen Auswirkungen muß geklärt werden, ob die Folgeprobleme tatbestandlich zur Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes führen oder ob sie der Beurteilung eines Gesetzes als verfassungswidrig nicht entgegenstehen, jedoch die Rechts/algen der Verfassungswidrigkeit modifizieren. Die Auffassung, die die Folgeprobleme auf der Tatbestandsebene berücksichtigen möchte, ist geprägt von dem Nichtigkeitsdogma, das möglichst nicht unterlaufen werden soll.l44 Indes stellt sich die Frage, wie sich eine Berücksichtigung der Folgenproblematik (- wie etwa die Bedrohung der Staatsfinanzen -) auf der Tatbestandsseite mit der zutreffenden Annahme des Bundesverfassungsgerichts verträgt, daß "fiskalische Erwägungen" wie ein besonderer Finanzbedarf des Staates oder die Dringlichkeit einer Haushaltssanierung nicht geeignet seien, eine verfassungswidrige Besteuerung zu rechtfertigen. 145 In ähnlicher Weise hat das Bundesverfassungsgericht für das ebenfalls haushaltsrelevante Gebiet des Besoldungsrechts judiziert, daß das fiskalische Bemühen, Ausgaben zu sparen, in aller Regel nicht ausreiche, um eine differenzierende Behandlung verschiedener Personengruppen zu rechtfertigen. 146 Die Richtigkeit dieser These wird bestätigt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß ansonsten verfassungswidrige Sanderbelastungen bestimmter Steuerpflichtiger mit fiskalischen Erwägungen 144 Ausdrücklich Stern, Staatsrecht 11, § 44 V 3 g (S. 1042), der nur diese "Ausnahme" von der ipso iure und ex tune eintretenden Nichtigkeit verfassungswidriger Rechtsnormen zulassen will. Freilich handelt es sich nach Sterns Konzeption streng genommen gar nicht um eine Ausnahme, da er in den Fällen nicht hinnehmbarer Folgen einer Nichtigerklärung das Gesetz schon tatbestandlieh nicht für verfassungswidrig hält. 145 BVerfGE 6, 55 (80); 82, 60 (89); 87,153 (172); für einen ähnlichen Fall BVerfGE 27,220 (228). Ebenso Niedersächsisches FG BB 1991,258 (261). - Demgegenüber einschränkend aber BFH BStBl. 11 1990, 969 (972). - Allerdings ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt, daß etwa Stufenregelungen nach Stichtagen - und damit Ungleichbehandlungen - zulässig sind, wenn nur begrenzte finanzielle Möglichkeiten zur Verfügung stehen, vgl. BVerfGE 75, 40 (72); 87, I (45 0; dazu auch Birk/Wernsmann, DB 1999, 166 (171). - Vgl. auch BVerfGE 77,84 (110 0: "Wenngleich Grundrechte nicht nur nach Maßgabe dessen bestehen, was an Verwaltungseinrichtungen vorhanden ist, kann der Einzelne im Blick auf seine Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit doch nicht erwarten, daß zur Vermeidung grundrechtsbeschränkender Maßnahmen mit dem Ziel der Bewältigung sozialer Mißstände die nur begrenzt verfügbaren öffentlichen Mittel über das vernünftigerweise von der Gesellschaft erwartbare Maß hinaus zum Ausbau der für die Bekämpfung dieser Mißstände zuständigen Behörde verwendet werden." - Hervorhebung nur hier. - In dieser Entscheidung wird ein Vorbehalt des Möglichen als Abwägungs- und Entscheidungskriterium auch auf der Tatbestandsseite (hier: Prüfung eines milderen Mittels im Rahmen der Erforderlichkeit einer Grundrechtseinschränkung) angedeutet. Zu diesen Fragen noch unten § 2 C III 3 c aa. 146 So BVerfGE 19,76 (84); 76, 256 (311); 93,386 (402). - Warum hier die Einschränkung "in aller Regel", die sich in den Entscheidungen zum Steuerrecht nicht findet. verwendet wird. wird nicht näher erläutert.

62

§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

gerechtfertigt werden könnten und damit jeder Grundrechtsschutz im Bereich des Steuerrechts unterlaufen werden könnte. Diesem Einwand könnte allenfalls mit der Erwägung begegnet werden, daß eine derartige Besteuerung nur übergangsweise "noch verfassungsmäßig" sei und der Gesetzgeber dem Umschlagen der Norm in die Verfassungswidrigkeit mit einer Neuregelung begegnen müsse. Damit wird aber vernebelt, daß das Gesetz in Wahrheit "schon verfassungswidrig" ist und diese Feststellung lediglich im Hinblick auf die etwaigen Folgen dieses Ausspruchs unterbleibt. Ferner überzeugt daran nicht, daß das Bundesverfassungsgericht durchaus in Appell-Entscheidungen erwogen hat, das seiner Ansicht nach "noch verfassungsmäßige" Gesetz für verfassungswidrig und nichtig zu erklären, wenn die Aufrechterhaltung des Gesetzes für den rechtsschutzsuchenden Bürger zu unerträglichen Ergebnissen geführt hätte l47 oder wenn der Gesetzgeber unverzichtbare Grundsätze des Grundgesetzes klar verletzt hätte l48 . Insoweit würde dann die Frage des "Ob" eines Verfassungsverstoßes von seiner Intensität abhängig sein. Dies erscheint wenig überzeugend. Nicht nur die ,,Entscheidungsehrlichkeit,,149 spricht somit dafür, die Folgen einer etwaigen Nichtigerklärung des zu überprüfenden Gesetzes nicht auf der Tatbestandsebene zu berücksichtigen; sie stehen somit einer Beurteilung des Gesetzes als verfassungswidrig nicht entgegen. Im Gegenteil legitimiert eine Betrachtung der Folgen einer etwaigen Nichtigerklärung das Bundesverfassungsgericht nicht dazu, eine Norm für "noch verfassungsmäßig" zu erklären. Ob und ggf. wie eine Modifizierung der Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit der Norm in diesen Fällen, in denen eine Nichtigerklärung der als verfassungswidrig erkannten Norm zu untragbaren Ergebnissen führen würde, rechtsdogmatisch gerechtfertigt werden kann und welche Bedeutung hier dem Gedanken der Folgenberücksichtigung zukommt, ist eine andere Frage. ISO

3. Rechtfertigung von Rechtsfolgenbestimmungen, die auf Nichtigerklärung verzichten

Diese Frage soll hier im Zusammenhang erörtert werden, wenngleich sie systematisch erst die Frage der Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit - also nicht der Verfassungsmäßigkeit - betrifft und die Untersuchung somit im Vorgriff auf unten § 3 erfolgt. Man hat sich zu vergegenwärtigen, daß in diesen Fallkonstellationen der bestehende Rechtszustand zwar inhaltlich den Anforde147 BVerfGE 21,12 (40). 148 Siehe BVerfGE 4, 157 (170); 12,281 (294). 149 So Moench. Verfassungswidriges Gesetz, S. 182 f.; Rinken. in: Alternativkommentar zum GG, Art. 94 Rn. 52 a.E.; Seer. NJW 1996,285 (288). 150 Dazu sogleich § 2 C III 3.

C. Appell-Entscheidungen

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rungen der Verfassung nicht genügt, jedoch der durch eine Nichtigerklärung eintretende Zustand der Verfassung noch ferner stände als die (vorübergehende) Weitergeltung des Gesetzes, weil beispielsweise durch die Nichtigerklärung ein ,,Rechtschaos" entstände. l5I Diese Fallgruppe des drohenden ,,Rechtschaos" ist Teil des Argumentationstopos der ,,relativ größeren Verfassungsnähe,,152 der vorübergehenden Hinnahme des verfassungswidrigen Zustandes gegenüber der Lage, die bei Unanwendbarkeit der Vorschrift entstände. In diesen Fällen könnte der Gedanke der "Einheit der Verfassung,,153 die Fortgeltung der einfachgesetzlichen Norm fordern. 154 Eine Auslegung der Verfassung unter Beachtung des Gedankens der ,,Einheit der Verfassung" hat Verfassungsrechtssätze, die im Spannungsverhältnis zueinander stehen, zu harmonisieren und in Konkordanz zueinander zu bringen. 155 Der Ausgleich muß möglichst schonend erfolgen und beiden widerstreitenden Verfassungsrechtssätzen zu möglichst optimaler Geltung verhelfen. 156 Insoweit müßte a) das Nichtigkeitsdogma (grundsätzlich) im GG enthalten oder vorausgesetzt sein, aber b) dennoch abwägungsfahig sein, und es müßten c) andere Verfassungswerte zu diesem in Widerstreit treten.

a) Grundsatz der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze als Aussage des Grundgesetzes

Bei der Lösung des Konflikts ist davon auszugehen, daß die Unverbrüchlichkeit der Verfassung, die das GG in seinen Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3, 79 Abs. I erstrebt, unbedingte - und das heißt grundsätzlich auch für die Vergangenheit (bis zum Eintritt des Kollisionsfalls zwischen Verfassung und rangniedrigerer Rechtsnorm) wirkende - Geltung fordert. 157 Denn die Sanktionslosigkeit würde 151 Nachweise oben § 2 C III 1. - Insoweit überschneidet sich diese Fallgruppe der Appell-Entscheidungen mit der Unvereinbarerklärung, die mit einer Fortgeltung der verfassungswidrigen Nonn verbunden wird. 152 Exemplarisch zur Verwendung dieses Argumentationstopos BVerfGE 91, 148 (175). 153 Grundlegend dazu BVerfGE I, 14 (32); 7, 198 (205); 19,206 (220); st. Rspr.; Hesse, Grundzüge, Rn. 20; Stern, Staatsrecht I, § 4 III 8; ablehnend zum Prinzip der Einheit der Verfassung Müller, Juristische Methodik, S. 216 ff. 154 Hartmann, DVBI. 1997, 1264 (1266). IS5 Stern, Staatsrecht I, § 4 III b; Hesse, Grundzüge, Rn. 71; Isensee, HStR VII, § 162 Rn. 41. 156 Hesse, Grundzüge, Rn. 72; vgl. auch Lerche, HStR V, § 122 Rn. 3 ff. (zum Spezialfall des Ausgleichs zwischen Grundrechten und anderen Verfassungswerten). IS7 Zutreffend Burghart, NVwZ 1998, 1262 (1264); Hartmann, DVBI. 1997, 1264 (1266). Vgl. auch Battis, HStR VII, § 165 Rn. 30; Schlaich, Das Bundesverfassungs-

64

§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

für die Vergangenheit - und um diese geht es in Rechtsstreitigkeiten regelmäßig 158 - ein folgenloses bloßes Unwerturteil des Bundesverfassungsgerichts bedeuten. 159 Die "Bindung" des Gesetzgebers an die Verfassung (Art. lAbs. 3,20 Abs. 3 GG) setzt jedoch rechtliche Verbindlichkeit voraus. Dieser Gedanke bestätigt die Richtigkeit des Dogmas von der ex tunc wirkenden Ipso-iureNichtigkeit. Die Vernichtbarkeitslehre folgert dagegen aus Art. 100 Abs. 1 GG, daß ein verfassungswidriges Gesetz nicht nichtig sein könne, weil der (Fach-)Richter ein seiner Ansicht nach verfassungswidriges Gesetz nicht außer Anwendung lassen könne. Wenn ein verfassungswidriges Gesetz aber ipso iure nichtig sei, könne es keinerlei Rechtswirkungen hervorbringen und dürfte den Fachrichter mithin nicht zur Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zwingen. 160 Diese Argumentation sollte indes mittlerweile als widerlegt angesehen werden können. Denn die Frage, in wessen Kompetenz die verbindliche Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit fällt, ob also die Normverwerfung dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten ist oder diese jeder Fachrichter vornehmen darf, sagt nichts darüber aus, welche Wirkungen die Bejahung eines Verfassungsverstoßes (durch das für die Entscheidung zuständige Organ) hat. 161 Vielmehr spricht die Verwendung des Begriffs der "Gültigkeit" in Art. 100 Abs. 1 GG ebenfalls für die Richtigkeit des Nichtigkeitsdogmas und gegen die Vernichtbarkeitslehre. 162 Auch Art. 123 Abs. 1 GG ist zu entnehmen, daß verfassungsgericht, Rn. 344; Stern, Bonner Kommentar zum GG, Art. 93 Rn. 271. Aus diesen Gründen kritisch zu der 1969 geplanten (und gescheiterten) Änderung des BVerfGG dahingehend, daß verfassungswidrige Steuergesetze (und andere Geldleistungspflichten begründende oder erweiternde Gesetze) in jedem Falle nur noch für die Zukunft sollten aufgehoben werden können, Friauf, FR 1969,319 (322); Schick, JZ 1969,371 (373); v. Arnim, Zur Wirkung verfassungswidriger Gesetze, S. 10. 158 Rechtsprechung ist ihrem Wesen nach die Beurteilung vergangenen Geschehens und damit prinzipiell rückwirkend, vgl. Geiß, NJW 1997, 2806 (2807). Nur für die Zukunft wirkende gerichtliche "Gutachten" sind dem geltenden Recht fremd, wenngleich gerichtliche Entscheidungen in der Rechtswirklichkeit naturgemäß auch Orientierungspunkte für künftiges Verhalten der Rechtsunterworfenen bilden. 159 Zutreffend Seer, NJW 1996, 285 (288); Vogel, DStJG 12 (1989), 123 (136). 160 So insbesondere C. Böckenförde, Die sogenannte Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze, S. 62; Götz, NJW 1960,1177 (1178); Hoffmann, JZ 1961, 193 (197); Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 123 f.; Söhn, Anwendungspflicht, S. 14. 161 Zutreffend Bachof, AöR 87 (1962), 1 (34); Hartmann, DVBI. 1997, 1264 (1267); ["sen, Rechtsfolgen, S. 167 ff; fachmann, JA 1998, 235 (236). 162 Ebenso Ipsen, Rechtsfolgen, S. 164; Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 344, 347; a.A. Bellda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1160 mit Fn. 21, wonach Art. 100 Abs. 1 GG nur für den Regelfall von der Ungültigkeit einer verfassungswidrigen Norm ausgegangen sei, jedoch Art. 94 Abs. 2 GG dem Gesetzgeber die Möglichkeit zu einer abweichenden Rechtsfolgenbestimmung für verfassungswidrige Normen einräume. Eine solche Einschränkung auf den "Regelfall" findet jedoch weder im Wortlaut des Art. 100 Abs. I GG noch in der Entstehungsgeschichte eine Stütze.

C. Appell-Entscheidungen

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widriges vorkonstitutionelles Recht nicht fort"gilt", also ipso iure und ex tune (rückwirkend auf den Zeitpunkt der Kollisionslage) ungültig ist; warum für nachkonstitutionelle Gesetze bezüglich der Rechtsfolgen anderes gelten soll, obwohl das Grundgesetz an keiner Stelle darauf hindeutet, ist nicht ersichtlich, zumal das Dogma der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze zum traditionellen Bestand des deutschen Staatsrechts zählt und insbesondere bei Erlaß des Grundgesetzes nahezu unbestritten war. 163 Diese Vorstellung liegt einfachgesetzlich auch § 78 S. 1 BVerfGG zugrunde. l64

b) Abwägungsjähigkeit des Nichtigkeitsdogmas Es kann dahinstehen, ob es überhaupt nicht abwägungsfähige Rechtsgüter gibt, wie es etwa für die Menschenwürde gern. Art. 1 Abs. 1 GG, die auch gegenüber dem verfassungsändemden Gesetzgeber gern. Art. 79 Abs. 3 GG änderungsfest ist, überwiegend angenommen wird. 165 Jedenfalls wäre der Verfassungsgesetzgeber frei, eine Verfassungsnorm einzuführen, die die Fehlerfolgen normwidriger Gesetzgebung abweichend vom Dogma der Ex-tunc-Nichtigkeit regelt. 166 Der Verfassungsgesetzgeber könnte ausdrücklich die Gültigkeit einer verfassungswidrigen Norm und deren bloße Aujhebbarkeit durch das Bundes-

Ipsell, Rechtsfolgen, S. 75 m.w.N. Vgl. Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucks. 1/788, S. 34 zu § 72. Ebenso Schia ich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 344; Stern, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 93 Rn. 271. 165 So BVerfGE 75,369 (380); 93, 266 (293); Höfling, in: Sachs, GG, Art. I Rn. 10; PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 397. A.A. für den Fall, daß "Menschenwürde gegen Menschenwürde" steht, Brugger, Staat 35 (1996), 67 (81); v. MangoldtiKlein/Starck, GG, Art. I Rn. 28 a.E. 166 HartmanII, DVBI. 1997, 1264 (1266); Löwer, HStR II, § 56 Rn. 100. A.A. v. Arnim, Zur Wirkung verfassungswidriger Gesetze, S. 10 mit der Begründung, daß der Grundsatz der Ex-tunc-Nichtigkeit u.a. aus Art. lAbs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG fließe und diese Normen gern. Art. 79 Abs. 3 GG der Änderung auch durch den verfassungsändernden Gesetzgeber entzogen seien. Daran ist zutreffend, daß die Unverbrüchlichkeit der Verfassung grundsätzlich wirksame Schutzmechanismen fordert. Einen solchen stellt etwa der Grundsatz der Ex-tunc-Nichtigkeit dar. Ob aber diese Ausprägung von Art. I oder Art. 20 GG konkret gefordert ist, erscheint bereits zweifelhaft. Es ist immer problematisch, in die änderungsfesten Bestimmungen etwas hinzulesen, was an anderer Stelle des GG selbständig geregelt ist, und auf diese Weise Änderungen von vornherein zu verhindern. Jedenfalls müssen nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung zumindest solche Einschränkungen auch änderungsfester Bestimmungen möglich sein, die mit ihrerseits änderungsfesten Verfassungsgrundsätzen - wie z.B. der Existenz der Bundesrepublik Deutschland als eines demokratischen und sozialen Bundes- und Rechtsstaats (Art. 20 GG) - kollidieren. Daß insoweit allerdings strengste Maßstäbe anzulegen sind, versteht sich von selbst. 16.1 Vgl. 164

5 Wcrnsmann

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§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

verfassungsgericht anordnen, wie es etwa der Rechtslage in Österreich nach Art. 140 Abs. 3, Abs. 5, Abs. 7 der österreichischen Bundesverfassung 167 entspricht. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang ferner auf die Regelung des Art. 174 Abs. 2 EGV. Danach kann der EuGH bei Nichtigerklärung einer Verordnung (infolge Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht) bestimmte Wirkungen der Verordnung als "fortgeltend" bezeichnen, und zwar auch mit Wirkung für die Zukunft für eine Übergangszeit bis zu einer Neuregelung l68 . Als Gründe kommen etwa Rechtssicherheit, Vertrauensschutz oder Wahrung überragender öffentlicher Interessen in Betracht. 169 Die Vorschrift des Art. 174 Abs. 2 EGV, die auch im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EGV anwendbar ist,170 wurde erstmals bei einer unzureichenden Besoldungsregelung angewendet, weil der Kläger ansonsten wegen seines Erfolges in der Sache schlechter gestanden hätte als bei einem Scheitern seiner Klage. I7I Wäre aber eine entsprechende Regelung der - begrenzten - Fortgeltung verfassungswidrigen Rechts durch den Verfassungsgesetzgeber möglich, so erscheint eine Beschränkung auf eine bloße Pro-futuro-Wirkung auch unter dem geltenden Recht möglich, sofern das GG, das wie gesehen grundSätzlich von der Ex-tunc-Wirkung ausgeht, selbst diese ausnahmsweise fordert 172 und anderen Verfassungsinhalten im Ausnahmefall Priorität gegenüber dem Grundsatz der Ex-tunc-Nichtigkeit einräumt. Bei der Auslegung der Verfassung ist im Rahmen der systematischen Auslegung der Grundsatz der Einheit der Veifassung zu beachten,173 den das Bundesverfassungsgericht auch als vornehmstes Interpretationsprinzip bezeichnet. 174 Danach sind widerstreitende Verfassungsnormen im Wege praktischer Konkordanz einander zuzuordnen, die beide Normen zu möglichst optimaler Entfaltung kommen läßt. 175 Außerdem ist im Rahmen der 167 Diese Regelung zeigt, daß die Ex-tunc-Nichtigkeit jedenfalls auch nicht rechtslogisch oder rechtstheoretisch zwingend ist. Insoweit zutreffend C. Böckenförde, Die sogenannte Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze, S. 38 ff., 42 f. \68 EuGHE 1973, 575 (586); 1982, 3329 (3359); 1985, 849 (870 f.); LenzlBorchardt, EGV, Art. 174 Rn. 7. \69 EuGHE 1985, 719 (748); LenzlBorchardt, EGV, Art. 174 Rn. 6; vgl. ferner Streinz, Europarecht, Rn. 538. I70EuGHE 1980,2917 (2946); 1985,719 (747); LenzlBorchardt, EGV, Art. 177 Rn. 43 f.; Wenig, in: GrabitzlHilf, EGV, Art. 174 Rn. 12; Wohlfahrt, in: GrabitzlHilf, EGV, Art. 177 Rn. 76 ff. 17\ Vgl. dazu Wenig, in: GrabitzlHilf, EGV, Art. 174 Rn. \0 m.w.N. 172 Ebenso Hartmann, DVBl. 1997, 1264 (1266). 173 Hesse, Grundzüge, Rn. 71; larasslPieroth, GG, Einl. Rn. 6. Kritisch zum Auslegungsgrundsatz der Einheit der Verfassung Müller, Juristische Methodik, S. 216 ff.. \74 BVerfGE 19,206 (220); ähnlich BVerfGE 30, 1 (\ 9); 44, 37 (49 f.). m BVerfGE 93. 1 (21) m.w.N., st. Rspr.; Hesse, Grundzüge, Rn. 72; Lerche, HStR V, § 122 Rn. 5 f.; Stern, Staatsrecht I, § 4 III 8 b.

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teleologischen Auslegung eine Folgenanalyse vorzunehmen. 176 Insoweit ist also zu fragen, in welchen Fällen von einem derartigen kollidierenden (d.h. dem Dogma der Ex-tunc-Nichtigkeit entgegenstehenden) Verfassungsrecht auszugehen ist. 177

c) Kriterien für die Zulässigkeit abweichender Rechtsfolgebestimmungen

durch das Bundesveifassungsgericht

aa) Kollidierendes Verfassungsrecht als Schranke des Nichtigkeitsdogmas In der hier zu behandelnden Konstellation könnte das Nichtigkeitsdogma, von dem das GG wie gezeigt richtiger Ansicht nach ausgeht, mit dem Anspruch des Grundgesetzes kollidieren, nicht andere Verfassungsinhalte zu gefährden, etwa einen "Staatsnotstand,,178 - z.B. durch Zerrüttung der Staatsfinanzen hervorzurufen und die Grundlagen des Gemeinwesens zu gefahrden. Denn die Verfassung kann keine Rechtsfolge anordnen oder auch nur zulassen, die die Verfassungswidrigkeit des bestehenden Zustandes intensivieren würde oder den Staat, dessen Grundlagen die Verfassung regeln und gewährleisten soll, in eine Krise führen oder diese verschärfen würde. 179 Als kollidierendes Verfassungs1761arasslPieroth, GG, Ein!. Rn. 6; Stein, Alternativkommentar zum GG, Einleitung Ir Rn. 69 ff. 177 Dazu sogleich § 2 C III 3 c. 178 V gl. etwa die Begriffsverwendung durch BFHE 65, 520: Der Bundesfinanzhof erkennt in dieser Entscheidung "die Rechtswirksamkeit der §§ 26 und 26a EStG an, weil es sich um eine kurz befristete Übergangslösung zur Beseitigung eines Notstandes" handelte. Der durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 6, 55) herbeigeführte Zustand habe zu einer "so schwerwiegenden Lähmung der Verwaltung" geführt, daß die "Gefahr einer ernsthaften Beeinträchtigung der Staatsfinanzen" in drohende Nähe gerückt sei. "Um den vorhandenen Notstand nicht zu einer Staatskrise auswachsen zu lassen", sei nur die Möglichkeit eines Übergangsgesetzes geblieben, BFHE 65, 520 (521). Der BFH hielt die Übergangsregelung für verfassungswidrig, akzeptierte jedoch ihre Rechtswirksamkeit wegen des "gesetzgeberischen Notstandes", so BFHE 65, 520 (522). 179 Im Ergebnis ebenso Hartmann, DVBI. 1997, 1264 (1268). Nicht zugestimmt werden kann freilich dessen Einschätzung (1267 f.), daß die praktische Relevanz der Befürchtungen eines "Chaos" bei Fortfall der verfassungswidrigen Norm geringer sein dürfte als es auf den ersten Blick den Anschein habe. Dies folgert er daraus, daß wegen der anfänglichen Nichtigkeit der Norm der Fortbestand des alten, vorher gültigen Rechts überhaupt nicht habe tangiert werden können. Abgesehen davon, daß durch die Nichtigerklärung eines Änderungsgesetzes nicht stets auch die Norm, die das alte Recht außer Kraft setzt, ebenfalls für nichtig erklärt werden muß (vgl. Maurer, in: Festschrift für Weber, S. 345 (357 f.) m.w.N.; Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 420 ff.), ist dieser Argumentation jedenfalls folgendes entgegenzuhalten: Sie berücksichtigt für den Bereich haushaltsrelevanter Gesetze (insbesondere steuerrechtlicher Normen) nicht, S·

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recht, das eine zeitliche Beschränkung der Beseitigungspflicht auf die Zukunft zu rechtfertigen vermag, hat das Bundesverfassungsgericht etwa Art. 110 Abs. 2 GG herangezogen l80 sowie die Erfordernisse eines gleichmäßigen Gesetzesvollzuges für vergangene Zeiträume l81 . Was den Schutz der Staats finanzen angeht, wurde in der Literatur auch die verfassungsrechtliche Verankerung der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 2 GG) genannt. 182 Einer darüber hinausgehenden Rechtfertigung aufgrund des Rechtsstaatsprinzips l83 bedarf es nicht. Insoweit ist im Falle nicht hinnehmbarer Folgen einer etwaigen Nichtigerklärung eines Gesetzes eine Abweichung vom Nichtigkeitsdogma gerechtfertigt und geboten und kann auch zu einer endgültigen Hinnahme des Verfassungsverstoßes für die Vergangenheit führen; der verfassungswidrige Zustand muß dann nur mit Wirkung für die Zukunft beseitigt werden.

In diesem Zusammenhang ist - neben den o.g. Regelungen des Art. 174 Abs. 2 EGV und des Art. 140 Abs. 3 der österreichischen Bundesverfassung - auch auf Parallelen zur Nichtigkeit von Rechtsgeschäjten l84 im Zivilrecht hinzuweidaß bei Verfassungswidrigkeit von Steuergesetzen das Haushaltsvolumen vergangener Haushaltsjahre nicht rückwirkend neu bemessen, sondern nur die damaligen Steuerschuldner zu Lasten des gegenwärtigen Staatshaushalts und zukünftiger Steuerzahler entlastet werden könnten (vgl. BVerfGE 87, 153 (179», zumal eine echt rückwirkende Erhöhung der Steuerbelastung für vergangene Veranlagungszeiträume (bzw. in der neueren Terminologie "Rückbewirkung von Rechtsfolgen", so etwa BVerfGE 63, 343 (353); 67, I (15); 72, 200 (272); siehe dazu Birk, Steuerrecht I, § 7 Rn. 25 ff. m.w.N.) regelmäßig an Vertrauensschutzgesichtspunkten scheitern würde, vgl. Maurer, in: Festschrift für Weber, S. 345 (365). Insoweit kann ein "Chaos" also auch dann entstehen, wenn der ursprüngliche Rechtszustand, der vor einem verfassungswidrigen Änderungsgesetz bestand, wieder auflebt. Hartmann verengt die Fallgruppe zu sehr auf die Fälle, in denen das Chaos allein aus dem Fehlen einer Norm an sich folgt (Rechtsvakuum), und bezieht nicht die Fälle ein, in denen die materiellen Folgen des Gesetzes hingenommen werden müssen, da z.B. in den Fällen verfassungswidriger Steuergesetze anders der Finanzbedarf des Staates nicht gedeckt werden kann. 180 BVerfGE 81, 363 (385); 87,153 (179). 181 BVerfGE 93, 121 (148); 93, 165 (178). - Zur Problematik, daß mit dieser Begründung die gesetzlich zwingend vorgeschriebene Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG ausgeschaltet werden soll, siehe sogleich unten § 2 C III 3 c bb. 182 So etwa - allerdings nicht im Zusammenhang mit der Rechtfertigung abweichender Rechtsfolgen eines Verfassungsverstoßes - Dürig, in: MaunzlDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 361 f., der darauf hinweist, daß das Bundesverfassungsgericht nicht von sich aus die Haushaltsansätze verändern könne, und in diesem Zusammenhang aus Art. 109 Abs. 2 GG folgert, daß finanzielle Erwägungen nicht in jeder Hinsicht rechtlich bedeutungslos sind. 183 Ebenfalls gegen einen derartigen Rückgriff auf das Rechtsstaatsprinzip Stern, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 93 Rn. 274, da auch die durch die Ipso-iureNichtigkeit gewahrte Normenhierarchie zentraler Bestandteil dieses Prinzips sei, und Ipsen, Rechtsfolgen, S. 173, da das Rechtsstaatsprinzip gegenüber Art. 100 Abs. I GG, der das Nichtigkeitsdogma statuiere, eine geringere normative Dichte besitze. 184 Vgl. auch Löwer, HStR n, § 56 Rn. 100.

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sen. Dort gibt es ebenfalls Fälle, in denen trotz Vorliegens von Nichtigkeitsgründen das Rechtsgeschäft nicht mit Ex-tunc-Wirkung nichtig ist, sondern wegen der Schwierigkeiten der Rückabwicklung nur für die Zukunft die Folgen aus der Fehlerhaftigkeit gezogen werden. Hier seien nur die Figuren der faktischen Gesellschaft oder der faktische Arbeitsvertrag (auch als fehlerhafte Gesellschaft bzw. fehlerhafter Arbeitsvertrag bezeichnet) genannt. 185 Insoweit kann ein Interesse am Fortbestand der Folgen "faktischer Normgeltung" in der Vergangenheit bestehen. 186 Insoweit müssen und dürfen Pragmatik und Dogmatik der Rechtsfolgenbestimrnung nicht getrennt voneinander betrachtet werden. 187 Vielmehr ist die Pragmatik, wie sie sich im Vorbehalt des Möglichen ausdrückt,188 Teil der Dogmatik.

bb) Der Gleichheitssatz als Rechtfertigung einer bloßen Pro-futuro-Wirkung zur Ausschaltung des § 79 Abs. 2 BVerfGG? Allerdings erscheint die Anordnung der Fortgeltung verfassungswidrigen Rechts zur Sicherung eines gleichmäßigen Ve"valtungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung l89 nicht geeignet, den 185 BGHZ 55, 5 ff.; 103, 1 ff.; BGH, NJW 1992, 1501 (1502); PalandtiHeinrichs, BGB, Einf. vor § 145 Rn. 29; PalandtiPutzo, BGB, § 611 Rn. 23; PalandtiThomas, BGB, § 705 Rn. 10 f.; Medicus, Bürgerliches Recht, Rn. 193 ff. m.w.N. Auf diese Parallele weist auch Moench, Verfassungswidriges Gesetz und Normenkontrolle, S. 155 f. hin. 186 Insoweit ebenso Hartmann. DVBI. 1997, 1264 (1267), der aber davon ausgeht, daß das Rechtssicherheitsprinzip keineswegs auf der Normgeltungsebene, sondern nur auf der Vol/::ugsebene eingreife. (Insoweit sieht er §§ 79 BVerfGG, 48, 49 VwVfG, 818 ff. BGB als Positivierungen dieses Prinzips.) Dieser These ist indes entgegenzuhalten, daß sie bei Normen, die self-executing sind, in keinem Fall die Wirkungen faktischer Normgeltung in der Vergangenheit berücksichtigen kann, weil es hier gerade keine Vollzugsebene gibt. 187 Tendenziell trennend aber Ipsen, Rechtsfolgen, S. 108, 141. 188 Vgl. dazu BVerfGE 15, 126 (141 f.); 27, 253 (283 ff.); 33, 303 (333 ff.), 41, 126 (150 ff.); Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 79. 189 So etwa BVerfGE 93, 121 (148); 93, 165 (178), das insoweit von "Erfordernissen" spricht. - Jedenfalls läßt sich dieser Begründung entnehmen, wie das Bundesverfassungsgericht den in Rechtsprechung und Schrifttum (Nachweise oben § I Fn. 8) umstrittenen Teil des Tenors seiner Vermögensteuerentscheidung aus dem Jahre 1995 (BVerfGE 93, 121 (122): "Längstens bis zum 31.12.1996 ist das bisherige Recht weiterhin anwendbar.") ausgelegt wissen wollte. Danach sollte der 31.12.1996 entgegen der sprachlich ungenauen Formulierung im Tenor nicht den letzten Anwendungszeitpunkt des Gesetzes markieren, sondern den letzten Geltungszeitpunkt. Nur ein solches Verständnis wahrt das Postulat der Gleichheit in der Zeit, auf die sich das Bundesverfassungsgericht in den Gründen ausdrücklich bezieht. Vgl. nunmehr auch BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats) DStR 1998,643 (644).

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§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

Verfassungsverstoß für die Vergangenheit generell hinzunehmen. Denn der Gesetzgeber hat in § 79 Abs. 2 BVerfGG eine Differenzierung vorgenommen, die zwangsläufig zu Ungleichbehandlungen führt. Insoweit muß es dem Bundesverfassungsgericht aus kompetenziellen Gründen versagt sein, sich über den Willen des Gesetzgebers hinwegzusetzen und eine Regelung zu treffen, die nur dem Zweck dient, die gesetzliche Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG und die in dieser Regelung angelegte Differenzierung (Ungleichbehandlung) leerlaufen zu lassen. Denn auch das Bundesverfassungsgericht ist gern. Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden. Das Bundesverfassungsgericht dürfte sich nur dann über die von § 79 Abs. 2 BVerfGG vorgenommene Differenzierung hinwegsetzen, wenn man § 79 Abs. 2 BVerfGG entgegen h.M. und älteren Judikaten des Bundesverfassungsgerichts 190 für verfassungswidrig halten würde, 191 sofern keine verfassungskonforme Auslegung des § 79 Abs. 2 BVerfGG in Betracht kommt. 192 Die Bedenken, die gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 79 Abs. 2 BVerfGG sprechen und immer wieder diskutiert wurden, wurden oben 193 bereits erörtert. Der Gleichheitssatz kann also nur als Maßstab dienen, ob § 79 Abs. 2 BVerfGG verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist. Er kann indes wegen dieser gesetzgeberischen Entscheidung, solange er nicht als verfassungswidrig erkannt worden ist, als kollidierendes Verfassungsrecht auf der Rechtsfolgenseite nicht in Betracht kommen. Außerdem ist darauf hinzuweisen, daß die Rechtfertigung der Fortgeltung verfassungswidrigen Rechts mit Hilfe des Gleichheitssatzes für die Vergangenheit zu einer Gleichstellung aller (d.h. der offenen und der abgeschlossenen Fälle) im Unrecht - nämlich in der Verfassungswidrigkeit - führt. 194

190 Nachweise

oben § I A; s. ferner Battis, HStR VII, § 165 Rn. 65. Für die Zulässigkeit einer Rechtsfortbildung contra legern sprach sich das Bundesverfassungsgericht allerdings schon früher aus, vgl. BVerfGE 34, 269 (284). Zur zutreffenden Kritik daran vgl. oben § I A m.w.N. (Fn. 40). 192 Vgl. auch BVerfGE 87, 153 (180). Dort bezeichnete das Bundesverfassungsgericht eine etwaige Differenzierung des Gesetzgebers zwischen rechtsförmlich abgeschlossenen und noch anhängigen Verfahren im Rahmen einer (vorn Bundesverfassungsgericht nicht zwingend geforderten) Neuregelung des Existenzminimums für die Vergangenheit zutreffend als "schwerlich sachgerecht". 193 § I A. 191

194 Insoweit geht Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 79 f., weiter als Maurer, HStR III, § 60 Rn. 2 f., auf den er sich bezieht (Fn. 179). Der Grundsatz des Vertrauensschutzes zugunsten des Bürgers fordert, das Vertrauen des Bürgers auf den Bestand staatlicher Regelungen und die Verläßlichkeit staatlichen Handeins, an die seine Erwartungen und Dispositionen anknüpfen, zu berücksichtigen, vgl. Maurer, HStR III, § 60 Rn. 2. Indes g.eht es hier um den Fortbestand staatlicher Regelungen bzw. den Erlaß "schonender Ubergangsregelungen" im Falle einer "Kursänderung" zum Schutze von Rechten des Bürgers. Ganz anders setzt dagegen Kirchhof den Gedanken der Kontinuitätsgewähr ein, nämlich auch zur Rechtfertigung dafür, daß der klagende Bürger nicht zu seinem Recht kommt.

C. Appell-Entscheidungen

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cc) Verzicht auf die Nichtigerklärung bei Gleichheitsverstößen des überprüften Gesetzes Zu der von der Fallgruppe der "Chaos-Fälle" strikt zu unterscheidenden Problematik der Gleichheitsverstöße durch das überprüfte Gesetz, die ebenfalls eine Abweichung von der Nichtigkeitstenorierung rechtfertigen SOll,195 soll hier zunächst nur folgendes angedeutet werden: Sofern Gleichheitsverstöße im Falle einer Nichtigerklärung nicht abgewehrt werden könnten und der Gleichheitssatz im Bereich des gewährenden Staatshandelns faktisch nicht als Prüfungsmaßstab zur Geltung gelangen würde, wenn man nur das Nichtigkeitsdogma anwenden würde (etwa bei driubegünstigenden Normen, mit deren Nichtigerklärung dem Kläger bzw. Beschwerdeführer regelmäßig nicht gedient wäre 196), ließe sich möglicherweise l97 auch der aus Art. 19 Abs. 4 GG I98 bzw. aus dem in Art. 20 Abs. 3 GG enthaltenen Rechtsstaatsprinzipl99 zu folgernde Gedanke der Erfordernisse effektiven Rechtsschutzes sowie die faktische Wirksamkeit des Art. 3 Abs. 1 GG als Grundrechtsnorm selbst200 heranziehen, um eine Abweichung vom verfassungsrechtlichen Nichtigkeitsdogma zu rechtfertigen. Die Unvereinbarerklärung ist nunmehr einfachgesetzlich auch in §§ 31, 79 Abs. 1 BVerfGG, § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO erwähnt und damit durch den einfachen Gesetzgeber legitimiert.

195 Zu den allerdings völlig unterschiedlichen Rechtsfolgen dieser Art von Unvereinbarerklärung gegenüber der Unvereinbarerklärung in den Chaos-Fällen siehe unten § 3 BIll und 2. 196 Vgl. dazu noch ausführlich § 3 B I I a cc (3). - Die Probleme, die sich bei Gleichheitsverstößen im Bereich des gewährenden Staatshandelns für den Rechtsschutz des Nichtbegünstigten stellen, sofern man das Nichtigkeitsdogma zugrunde legt, übersieht Hartmann, DVBI. 1997, 1264 (1269) m.w.N. 197 Ob Rechtsschutzgesichtspunkte der gleichheitswidrig benachteiligten Vergleichsgruppe eine Abweichung vom Nichtigkeitsdogma rechtfertigen können, wird unten § 3 B I I a cc (3) behandelt. 198 V gl. zu den Erfordernissen eines möglichst umfassenden und lückenlosen gerichtlichen Rechtsschutzes etwa BVerfGE 30, I (25); 61, 82 (109 ff.) sowie Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 95 m.w.N. 199 BVerfGE 88, 118 (123 f.); 93, 99 (107). 200 Zum Erfordernis der effektiven Wirksamkeit des Art. 3 Abs. I GG unter Rechtsschutzaspekten allgemein auch Lübbe- Wolf!, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 241 ff. - Zu den Folgerungen für die prozessuale Zulässigkeit von GleichheitsTÜgen noch unten §§ 4, 5.

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§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

dd) Rechtsfolgenbestimmung durch das Bundesverfassungsgericht Damit ist auch geklärt, daß das Bundesverfassungsgericht selbst im Wege der Rechtsfortbildung die konkreten Rechtsfolgen (Nichtigerklärung oder bloße Unvereinbarerklärung) bestimmen darf, da die genannten Normen ansonsten ohne Anwendungsbereich wären. Inwieweit daneben § 35 BVerfGG als tragfahige Rechtsgrundlage für den Erlaß von Übergangsregelungen durch das Bundesverfassungsgericht 201 und für die Anordnung der Fortgeltung verfassungswidriger Gesetze 202 in Betracht kommt oder ob eine Ergänzung des BVerfGG wünschenswert wäre, soll hier daher nicht weiter diskutiert werden.

IV. Zusammenfassung Die Systematisierung der vom Bundesverfassungsgericht getroffenen AppellEntscheidungen nach Fallgruppen ergibt folgendes: 1. Es gibt Fälle, in denen Normen verfassungswidrig "werden" können und Gesetze demgemäß in einem bestimmten Zeitpunkt "noch verfassungsmäßig" und in einem späteren Zeitpunkt verfassungswidrig (geworden) sind. Dies kann der Fall sein bei einer Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse. Eine Änderung der rechtlichen Verhältnisse liegt nicht nur in den Fällen der Verfassungsänderung oder des Verfassungswandels vor, sondern auch bei der unzureichenden Erfüllung von Gesetzgebungsaufträgen, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums umgesetzt werden müssen, sowie bei der mit der Zeit zunehmenden Verschärfung der Kontrollrnaßstäbe gegenüber komplexen und schwer überschaubaren Regelungssystemen. Hierbei handelt es sich richtigerweise nur um Unterfalle der Fallgruppe einer "Änderung der rechtlichen Verhältnisse". In diesem Bereich der Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse kann das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen darauf stützen, daß eine Norm zeitlich "noch" mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Voraussetzung 201 Solche Anordnungen finden sich etwa in BVerfGE 73,40 (42, 101 f.) zur vorläufigen Begrenzung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Parteispenden durch Einführung von Höchstbeträgen; BVerfGE 84, 9 (10), wo Übergangsregelungen zum Ehenamensrecht erlassen wurden; BVerfGE 88, 203 (209 ff., 336 f.) zur vorübergehenden Erfüllung von Schutzpflichten zugunsten des vorgeburtlichen Lebens (unter expliziter Bezugnahme auf § 35 BVerfGG). Vgl. ferner Stuth, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 78 Rn. 21. 202 So zuletzt BVerfGE 91, 186 (207); 93, 121 (131), st. Rspr.; kritisch Löwer, HStR II, § 56 Rn. 108; Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 395; für den RegelfaJl ablehnend auch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 241.

C. Appell-Entscheidungen

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ist aber immer, daß die Rechtslage tatsächlich noch nicht in die Verfassungswidrigkeit umgeschlagen ist. 2. Häufig resultiert die Prognose des "Verfassungswidrigwerdens" der Norm daher, daß das Bundesverfassungsgericht die zu überprüfende Norm bereits im Zeitpunkt seiner Entscheidung für verfassungswidrig hält, aber die Rechtsfolgen der Nichtig- bzw. Veifassungswidrigerklärung, soweit letztere eine Anwendungssperre des Gesetzes nach sich zieht, scheut. 203 In diesem Bereich der Folgenberücksichtigung variiert das Bundesverfassungsgericht die AppellEntscheidungen und die Verfassungswidrigerklärungen mit Anordnung der übergangsweisen Weitergeltung des verfassungswidrigen Rechts.

Demgegenüber ist auf folgendes hinzuweisen: Bedürfen die Folgen der Annahme eines Verfassungsverstoßes der Berücksichtigung, so kann dies nicht dazu führen, daß das Gesetz für "noch verfassungsgemäß" erklärt wird. In diesen Fällen, in denen die vorübergehende Weitergeltung des überprüften Gesetzes der Verfassung näher steht als die bei einer Nichtig- bzw. Verfassungswidrigerklärung mit Anwendungssperre, hindert dies nicht tatbestandlich die Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das Bundesverfassungsgericht. Insoweit sind vielmehr die sich aus der Feststellung der Verfassungswidrigkeit ergebenden Rechtsfolgen zu modifizieren und unter Berücksichtigung des Gedankens der "Einheit der Veifassung" der konkreten Situation anzupassen. Der Fall eines im Falle der Nichtig- bzw. Verfassungswidrigerklärung mit Anwendungssperre drohenden Rechtschaos ist lediglich ein Unterfall der Fallgruppe der "relativ größeren Veifassungsnähe" der vorübergehenden weiteren Anwendbarkeit des überprüften Gesetzes. 3. Der Gedanke der mangelnden Erkennbarkeit der Verfassungswidrigkeit für den Gesetzgeber kann der Feststellung der Verfassungswidrigkeit nicht entgegenstehen. Allenfalls kommt insoweit ein Fall der Änderung der rechtlichen Verhältnisse in Betracht, sofern die Voraussetzungen dieser Fallgruppe vorliegen. Soweit der Evidenzgesichtspunkt zur Stützung einer Einschätzung eines Gesetzes als "noch verfassungsgemäß" bei der Beurteilung komplexer Regelungssysteme verwendet wurde,204 kann ihm keine eigenständige Bedeutung zuerkannt werden. Es geht in Normenkontrollverfahren um die objektive Vereinbarkeit einer Norm mit höherrangigem Recht, nicht um subjektive Erkennbarkeit oder Kritik am Verhalten des Gesetzgebers (Vorwerfbarkeit).

20) Ebenso BendalKlein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1195; Seer, NJW 1996, 285 (288). 204 V gl. BVerfGE 56, 54 (81 f.).

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§ 2. Entscheidungsvarianten bei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes

Soweit im Hinblick auf die Folgen einer Nichtigkeit oder Unanwendbarkeit der geprüften Norm der Ausspruch einer solchen Folge unterbleibt, handelt es sich um eine Auslegung unter Berücksichtigung der Einheit der Verfassung. Die sachgerechte Lösung ist dann auf der Rechtsfolgenseite zu suchen (siehe soeben 2.).

§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit

des Gesetzes Im folgenden wird untersucht, welche Rechtsfolgen eintreten, wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz für verfassungswidrig erachtet.

A. Grundsatz: Nichtigerklärung des Gesetzes Hält das Bundesverfassungsgericht in einem Verfahren der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, §§ 76 ff. BVerfGG, der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG, § 13 Nr. 11, §§ 80 ff. BVerfGG oder der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a oder 4 b GG, § 13 Nr. 8a, §§ 90 ff. BVerfGG, die sich unmittelbar oder mittelbar gegen ein Gesetz richtet, ein Gesetz für verfassungswidrig, so erklärt es dieses gern. § 78 S. 1 BVerfGG - ggf. i.V.m. § 82 Abs. 1 BVerfGG - oder gern. § 95 Abs. 3 S. I oder S. 2 BVerfGG grundsätzlich für nichtig. Damit wird der gestaltende (konstitutive) Wirkung der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung verdeutlicht. Dies kam in der ursprünglichen Fassung des § 78 S. 1 BVerfGG nicht hinreichend zum Ausdruck. l Dort hieß es: " ... so stellt es in seiner Entscheidung die Nichtigkeit fest." Als Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in denen eine steuerrechtliche Norm für nichtig erklärt wurde, sei zunächst die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1957 zur progressionsverschärfenden Zusammenrechnung der Ehegatteneinkünfte gern. § 26 EStG 1951 genannt; diese Norm verstieß gegen Art. 6 Abs. 1 GG. 2 Indes profitierten von der Nichtigerklärung dieses Gesetzes - abgesehen von den Klägern des Ausgangsverfahrens - für die betroffenen Veranlagungszeiträume unmittelbar

I Vgl. dazu auch Uisamer, in: MaunzlSchmidt-Bleibtreu/KleinlUlsamer, BVerfGG, § 78 Rn. 16. 2 BVerfGE 6,55 ff. (insbes. S. 56, 84) - Tipke. StuW 1990,308 (316) und v. Arnim. Zur Wirkung verfassungswidriger Gesetze, S. 4 bezeichnen diese Entscheidung als "Pauken schlag" .

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

nur wenige Steuerpflichtige, da eine besonders große Zahl von Veranlagungen bereits bestands- oder rechtskräftig abgeschlossen waren. 3 Im Jahre 1962 erklärte das Bundesverfassungsgericht wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 unter "Berücksichtigung des Rechtsgedankens des Art. 6 Abs. 1 GG,,4 § 8 Nr. 5 GewStG 1954 für nichtig; nach dieser Vorschrift waren dem Gewinn aus Gewerbebetrieb Gehälter und sonstige Vergütungen, die für eine Beschäftigung des Ehegatten des Unternehmers oder Mitunternehmers im Betrieb gewährt wurden, wieder hinzuzurechnen. Mit Beschluß vom selben Tage erklärte das Bundesverfassungsgericht § 8 Nr. 6 GewStG 1952 wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG 5 für nichtig. 6 Die für nichtig erklärte Vorschrift enthielt ein Verbot, bestimmte Beträge bei der gewerbesteuerlichen Ertragsberechnung abzusetzen; sie betraf gleichheitssatzwidrig nur "personenbezogene" Kapitalgesellschaften, nicht jedoch "anonyme" Kapitalgesellschaften 7 mit der Folge, daß die erstgenannten Gesellschaften eine höhere Steuer zu entrichten hatten. Hier wurde also eine "benachteiligende"S belastende Norm, die bei einer Vergleichsgruppe zu einer höheren Besteuerung führte, wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG für nichtig erklärt. Auch das Investitionshilfegesetz, das eine sog. Zwangsanleihe vorsah, wurde im Jahre 1984 für mit den Vorschriften über die Gesetzgebungskompetenz des Bundes unvereinbar und "nichtig" erklärt. 9 Ebenfalls aus Kompetenzgründen wurden eine kommunale Verpackungsteuersatzung lO und Landesabfallabgabengesetze I I für nichtig erklärt. Schließlich sei hier die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Erster Senat) aus dem Jahre 1995 zur Zulässigkeit der nur Männern auferlegten Feuerwehrabgabe genannt. 12 Das Bundesverfassungsgericht erklärte die landesrechtlichen Vorschriften wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 und 3 und gegen Art. 105 Abs. 2 und 2 a GG für nichtig. 13 Eine bloße Unvereinbarerklärung, um dem Gesetzgeber eine korrigierende Neugestaltung der Materie zu ermöglichen, J Vgl. dazu BVerfGE 7, 194 (197). - Dort wird die Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG und die entsprechende spezielle Parallelregelung gerade angesichts dieser Tatsache gerechtfertigt. 4 Vgl. BVerfGE 13,290 (298). 5 BVerfGE 13, 331 (338, 355). 6 BVerfGE 13,331 (332). 7 Vgl. zur materiellen Seite der Entscheidung BVerfGE 13, 331 (338 ff.). SVgl. BVerfGE 13,331 (338). 9 BVerfGE 67,256 (257, 290). 10 BVerfGE 98,106 (106,133). II BVerfGE 98,83 (83 f., 105). 12 BVerfGE 92, 91 ff. J3BVerfGE92,91 (92f., 108f., 113).

A. Grundsatz: Nichtigerklärung des Gesetzes

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scheide "nach der Art der festgestellten Verfassungsverstöße,d4 aus. Der finanzielle Ausfall, der den Gemeinden, denen der Ertrag der Abgabe zufloß, durch diese Entscheidung entstehe, könne ein Absehen von der Nichtigerklärung nicht rechtfertigen, zumal "die Gemeinden in den meisten Ländern ohne Feuerwehrabgabe auskommen" und sich die Gemeinden bereits nach dem Urteil des EGMR, der kurz zuvor ähnliche Vorschriften für konventionswidrig erachtet hatte, auf eine Änderung der Rechtslage einstellen mußten. 15 Es fällt auf, daß in dieser Entscheidung die Beibehaltung der gesetzlichen Regel - nämlich die Nichtigerklärung der verfassungswidrigen Abgabennorm gern. §§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 BVerfGG - ausführlich begründet wird. Auch daran zeigt sich, daß die Rechtsfolgenaussprüche des Bundesverfassungsgerichts im Falle der Verfassungswidrigkeit einer Norm im Bereich des Steuer- und Abgabenrechts eine eigene Entwicklung genommen hat. Dagegen hatte das Bundesverfassungsgericht (2. Senat) in einer Entscheidung aus dem Jahre 1994 die Rechtsgrundlagen des sog. Kohlepfennigs zwar wegen Verstoßes gegen Art. 74 Nr. 11 i.V.m. Art. 72, 105 und 110 GG für verfassungswidrig erklärt, da es sich bei diesem um eine unzulässige Sonderabgabe handele, aber die weitere Anwendung des verfassungswidrigen Gesetzes bis zum Ablauf einer Übergangsfrist (konkret: 31.12.1995) zugelassen. 16 Die Vermeidung der Nichtigerklärung des kompetenzlos erlassenen Gesetzes begründete es damit, daß das mit dem Kohlepfennig verfolgte Konzept der Steinkohleverstromung unvermittelt seine Grundlage verlöre und das Gemeinwohl einen "schonenden" Übergang von der verfassungswidrigen zu einer verfassungsmäßigen Rechtslage gebiete. 17 Ein Vergleich der unterschiedlichen Rechtsfolgenaussprüche in den bei den genannten Entscheidungen zur SonderabgabenProblematik macht deutlich, daß die Frage des Rechtsfolgenausspruchs "schlichtweg eine Frage der Masse,dM darstellt. Drohen viele Abgabenerstattungsansprüche, besteht nur eine Pflicht zur Herstellung eines verfassungsmäßigen Zustandes für die Zukunft; sind nur wenige Fälle von der fraglichen Norm betroffen, sei es, weil die Abgabepflicht von vornherein nur einen relativ klei-

14 BVerfGE 92, 91 (121); insoweit in der Formulierung identisch BVerfGE 98, 106 (133) - Verpackungsteuer. Es erscheint indes ungenau, nur auf die "Art" der Verfassungsverstöße (z.B. ob ein Verstoß gegen Freiheits- oder Gleichheitsrechte vorliegt und ob dieser auf einem Kompetenz-, Verfahrens- oder materiellen Verstoß beruht), nicht jedoch auf die (von diesem Begriff nicht erfaßten) "Auswirkungen" einer etwaigen Nichtigerklärung abzustellen. 15 So BVerfGE 92,91 (121). 16 BVerfGE 91,186 (186 f.). 17 So BVerfGE 91, 186 (207). Terminologisch identisch Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 51, 80. Allerdings entstehen dem Beschwerdeführer keine Kosten, vgl. BVerfGE 91,186 (207); dazu vgl. bereits oben § 2 C III 2 a m.w.N. 18 Zutreffend Seer, NJW 1996,285 (289); Balke, BB 1995,762 m.w.N.

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nen Kreis betrifft 19 , sei es, weil nur noch wenige Fälle "offen,,20 - d.h. nicht bestands- oder rechtskräftig abgeschlossen21 - sind, neigt das Bundesverfassungsgericht eher zu einer rückwirkenden Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes. Diese Differenzierung zwischen den Fällen mit und ohne Breitenwirkung wurde als rechtsstaatlich fatal kritisiert, da das gesetzgeberische Unrecht nur eine möglichst große Breitenwirkung entfalten müsse, um nicht mehr gutgemacht werden zu müssen. 22 Indes wird noch gezeigt werden, daß sich dieses Ergebnis mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu begünstigenden und benachteiligenden Typisierungen trifft. Wenn einige wenige im Verhältnis zur weit überwiegenden Mehrheit besser behandelt (in einer verbreiteten Terminologie: "begünstigt,,23) werden, nimmt das Bundesverfassungsgericht dies eher hin, als wenn einige wenige im Verhältnis zur großen Masse schlechter behandelt werden. 24 Übertragen auf die Fälle der Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht bedeutet dies: Profitieren nur einige wenige von einer Normverwerfung durch das Bundesverfassungsgericht, weil nur noch wenige Fälle offen sind, so akzeptiert das Bundesverfassungsgericht dies unter dem Aspekt des Gleichheitssatzes. 25 Handelt es sich dagegen bei den von der verfassungsgerichtlichen Entscheidung Betroffenen nicht mehr um eine zu vernachlässigende Größe, so hält das Bundesverfassungsgericht tendenziell eher eine Gleichbehandlung aller für erforderlich, und sei es auch für die Vergangenheit eine Gleichheit aller "im Unrecht" (nämlich in der Verfassungswidrigkeit, die rückwirkend weder für die offenen noch für die abgeschlossenen Fällen beseitigt wird).26 Insoweit wird dann zwar Rechtssicherheit .und Gleichheit hergestellt, jedoch auf Kosten der Rechtsrichtigkeit und damit auch der materiellen Gerechtigkeit.

\9 Vgl. BVerfGE 92, 91 - Feuerwehrabgabe. Vgl. ferner noch die Nichtigerklärung des § 22 Nr. 3 S. 3 EStG (Ausschluß der Verrechnung von Verlusten aus der Vermietung beweglicher Gegenstände) durch BVerfGE 99, 88 (88 f., 990 und die Nichtigerklärung der Körperschaft- und Vermögensteuerptlicht kommunaler Wählervereinigungen durch BVerfGE 99, 69 (82 0. 20 Vgl. oben und BVerfGE 6, 55 i.V.m. 7,194 (197). 2\ Die Bedeutung dieser Fälle nimmt indes im Anwendungsbereich der AO nunmehr angesichts des 1993 neugefaßten § 165 Abs. I Nr. 3 AO ab, vgl. bereits oben § I A. 22 Seer, NJW 1996, 285 (289). 23 Zur notwendigen begrifflichen Unterscheidung zwischen BevorzugunglBenachteiIigung einerseits und BegünstigunglBelastung andererseits noch unten § 3 B I I a aa. 24 Dazu noch unten § 3 B I I f aa. 25 So explizit BVerfGE 7, 194 (197) zu der Rechtslage nach Nichtigerklärung des § 26 EStG (Zusammenveranlagung von Eheleuten) durch BVerfGE 6, 55. 26Vgl. BVerfGE 87, 153 (180); 93,121 (148); 93, 165 (178).

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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B. Bloße Unvereinbarerklärung Ungeachtet der vom Wortlaut her eindeutigen §§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs.3 BVerfGG hat das Bundesverfassungsgericht schon recht früh 27 und zunächst ohne gesetzliche Grundlage abweichende Tenorierungsformen entwikkelt und nicht mehr stets die gesetzlich vorgesehene Rechtsfolge der Nichtigkeit an den Tatbestand der Verfassungswidrigkeit der Norm geknüpft. Vielmehr hat es sich zunehmend damit begnügt, lediglich die Unvereinbarkeit des geprüften Gesetzes mit der Maßstabs norm festzustellen. Durch das 4. Änderungsgesetz zum B VerfGG von 197028 hat der Gesetzgeber die Entscheidungsform der bloßen Verfassungswidrigerklärung neben der Nichtigerklärung in § 31 Abs. 2 S.2, 3 und § 79 Abs. 1 BVerfGG aufgenommen und durch diese erstmalige Erwähnung auch grundsätzlich anerkannt. 29 Indes sind weder Anwendungsbereiche noch Rechtsfolgen der bloßen Unvereinbarerklärung gesetzlich geregelt worden, und auch die Erwähnungen in den genannten Vorschriften sind nicht vollständig. So ist etwa anerkannt, daß auch § 79 Abs. 2 BVerfGG die Fälle der Unvereinbarerklärung - soweit der Regelfall vorliegt und eine Anwendungssperre mit ihr verbunden ist - umfaßt, da für die Abwägung zwischen Rechtsfrieden und Einzelfallgerechtigkeit insoweit dieselben Kriterien wie im Falle der Nichtigerklärung gelten. 30 Wegen dieser nur bruchstückhaften Regelungen verwundert es nicht, daß nach wie vor erhebliche Unsicherheiten bestehen. 31 Dagegen kann die grundsätzliche Zulässigkeit dieser Tenorierungsform heute angesichts der gesetzlichen Anerkennung in den genannten Vorschriften des BVerfGG und auch in § 165 Abs. I S. 2 NT. 2 AO als gesichert gelten. 32 Auch die im einzelnen mit der Unvereinbarerklärung verbundenen Rechtsfolgen, die U.U. zu einer endgültigen Hinnahme des verfassungswidrigen Zustandes für ei-

27 Vgl. BVerfGE 13, 248 (249, 260 f.); vgl. ferner BVerfGE 8, 28 (36); 22, 349 (361). V gl. Nachweise bei lpsen, Rechtsfolgen, S. 107 Fn. I. 28 BGBI. I 1970, 1765. 29 Dazu, daß das Ipso-iure-Nichtigkeitsdogma nicht zwingend von Verfassungs wegen vorgeschrieben ist, vielmehr die Verfassung in Ausnahmefällen Durchbrechungen zuläßt, siehe oben § 2 C III 3. 30 Vgl. nur BVerfGE 81, 363 (384); Hein, Unvereinbarklärung, S. 174 f.; Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 392; Seer, DStR 1993, 307 (312); Vlsamer, in: Maun:zJSchmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, BVerfGG, § 79 Rn. 25. 31 Vgl. nur Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1158; Heußner, NJW 1982,257; lpsen, JZ 1983,41 (45) sowie die eingangs (§ 1 A) erwähnten Beispiele. 32 V gl. etwa Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1162; Heußner, NJW 1982,257; im Ergebnis ebenso Hein, Unvereinbarerklärung, S. 122, der insoweit Ausnahmen von dem seines Erachtens verfassungsrechtlichen Grundsatz der Ipso-iure-Nichtigkeit zuläßt; vgl. dens., S. 96 f.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

ne Übergangszeit führen können, wurden oben bereits auf ihre Zulässigkeit untersucht und werden hier nicht mehr problematisiert. 33 Im folgenden wird zunächst der Anwendungsbereich der Beschränkung auf die Verfassungswidrigerklärung einer Norm unter Verzicht auf den Nichtigkeitsausspruch analysiert (1.). Sodann werden die unterschiedlichen Rechtsfolgen einer Unvereinbarerklärung untersucht (11.). Schließlich wird eine Zuordnung der Fallgruppen zu den unterschiedlichen Rechtsfolgen, die die jeweilige Unvereinbarerklärung im Einzelfall mit sich bringt, vorgenommen (III.), da unterschiedliche Rechtsfolgen nicht mit denselben Argumenten gerechtfertigt werden können.

I. Fallgruppen Die Beschränkung auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Norm findet zwei große Anwendungsbereiche. 34 So verzichtet das Bundesverfassungsgericht auf die Nichtigerklärung, wenn es (1.) durch die Nichtigerklärung in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eingreifen würde, weil der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes hat,35 oder wenn (2.) durch die Nichtigerklärung ein Rechtszustand herbeigeführt würde, welcher der verfassungsmäßigen Ordnung noch weniger entspräche als die angegriffene Regelung. 36 Der Schwerpunkt der ersten Kategorie liegt 33 Zu den Kriterien für die Rechtfertigung der bei den Arten von Rechtsfolgen, die sich an die Unvereinbarerklärung knüpfen können und damit den Grundsatz der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze durchbrechen, also der Anwendungssperre bis ::;11 einer rückwirkenden Neuregelung der verfassungswidrigen Rechtslage einerseits sowie der vorübergehenden Fortgeltllng der verfassllngswidrigen Norm andererseits, siehe oben § 2 C III 3 c. 34 Hellßner, NJW 1982, 257. 3~ BVerfGE 22, 349 (361 f.); 23, I (\0) m.w.N.; 23, 242 (254 f.); 27, 391 (399 f.); 28,227 (242 f.); 61, 43 (68); 61, 319 (356); 73, 40 (\01 f.); 78, 350 (363); 82, 60 (97); 87, 153 (\77 f.); 89, 381 (394); 92, 53 (73); 93, 121 (\48); 93, 165 (\78); 99, 280 (298). 36 BVerfGE 33, 303 (305, 347 f.); 87, 153 (177 f.); 99, 216 (243 f.). Vgl. auch BVerfGE 91, 186 (207), wonach "das Gemeinwohl" im dort entschiedenen Fal1 (sog. Kohlepfennig) einen "schonenden Übergang von der verfassungswidrigen zu einer verfassungsmäßigen Rechtslage" gebiete und dementsprechend sich das Bundesverfassungsgericht auf eine bloße Unvereinbarkeitsfeststel1ung beschränke und die vorübergehende Weitergeltung der verfassungswidrigen Norm anordne. - Hinzuweisen ist auch auf das Vorgehen von BVerfGE 61, 319 (356); 92, 53 (73), wo jeweils zunächst die Unvereinbarkeit der Vorschrift mit Art. 3 Abs. I GG festgestellt wird und sodann erst in einem zweiten Schritt nur zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Weiteranwendbarkeit der verfassungswidrigen Norm - also der Rechtsfolge der Unvereinbarkeitsfeststellung im konkreten Fal1 - ausgeführt wird, daß nicht ein Zustand eintritt, der von der

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf den gleichheitswidrigen Gesetzen, da der Gesetzgeber Gleichheit auf verschiedene Arten herstellen kann 37 (dazu unten 1.). Zum Teil werden in der Literatur weitere Fallgruppen gebildet. 38 Diesen kommt indes kein eigenständiger Gehalt zu, vielmehr handelt es sich insoweit lediglich um Unterfalle der beiden o.g. Fallgruppen. So fällt etwa das Besoldungsgesetz, das unter Verstoß gegen Art. 33 Abs. 5 GG verfassungswidrig zu niedrige Bezüge festlegt, in die zweite Fallgruppe. Falls das Gesetz zu niedrige Bezüge festlegt, ist zwar nicht nur das Unterlassen der Besoldungsänderung verfassungswidrig 39 , sondern auch das Besoldungsgesetz selbst. 40 Denn es genügt nicht den Anforderungen des Art. 33 Abs. 5 GG. Indes würde der aus der Nichtigerklärung folgende völlige Wegfall des Besoldungsgesetzes dem von der Verfassung geforderten Zustand (einer den Anforderungen des Art. 33 Abs. 5 GG genügenden Besoldung) noch weniger entsprechen als das verfassungswidrige Besoldungsgesetz. 41 Auch dem Fall, daß eine verfassungswidrige Rechtslage sich erst aus dem Zusammenwirken mehrerer Einzelregelungen ergibt42 , kommt keine eigenständige Bedeutung ZU. 43 Vielmehr geht es dem Bundesverfassungsgericht auch in dieser Konstellation darum, nicht dem Gesetzgeber vorzugreifen und dessen Gestaltungsfreiheit einzuschränken44 ; der entschiedene Fall (Gewährleistung des familiären Existenzminimums) entspricht außerdem dem soeben geschilverfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist als der bisherige. Zu dieser Differenzierung noch unten § 3 B I 2 a. 37 Vgl. zu den verschiedenen Möglichkeiten, einen Gleichheitssatzverstoß zu beheben, BVerfGE 22, 349 (361); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 529 . .18 V gl. etwa Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1184 ff. 39 In diesem Sinne aber BVerfGE 8, 1 (Leitsatz 3 und S. 19 f.); 32, 199 (217 f.); 44, 249 (251). Ebenso Jülicher, Die Verfassungsbeschwerde gegen Urteile bei gesetzgeberischem Unterlassen, S. 65 f.; Stern, in: Bonner Kommentar zum 00, Art. 93 Rn. 286. 40 Dazu noch ausführlich unten § 3 B I 1 a dd (4). 4\ Vgl. BVerfGE 8, 1 (19 f.); Maurer, Festschrift für Weber, S. 345 (352 Fn. 27). 42 Siehe als Beispiel BVerfGE 82, 60 (97); 82, 198 (208). Dort konnte dem Erfordernis der SteuerfreisteHung des familiären Existenzminimums durch Änderungen im Steuerrecht oder im Recht der Sozialleistungen Rechnung getragen werden. - Die verfassungsgerichtliche Kontrolle konnte anhand jeder der Einzelregelungen vorgenommen werden, vgl. BVerfGE 82, 60 (Leitsatz I); 82, 198 (206). Die Frage, worin der Prüfungsgegenstand in diesem Fall des Zusarnmenwirkens zweier Regelungen bestand, deren Verfassungswidrigkeit sich erst aus einer Gesamtbetrachtung ergab, wurde in den genannten Entscheidungen eingangs der Begründetheit thematisiert. Diese Frage stellt sich jedoch auch schon bei der Bestimmung derjenigen Norm, deren Verfassungsmäßigkeit entscheidungserheblich nach Art. 100 Abs. I GG ist. Dazu noch unten § 4. 43 Anders die Systematisierung bei Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1185. 44 BVerfGE 82, 60 (97); 82, 198 (208). 6 Wernsmann

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

derten, in dem ein Gesetz eine zu niedrige Besoldung festlegt, und ist somit völlig unabhängig von der Frage, ob sich die Verfassungswidrigkeit erst aus dem Zusammenspiel mehrerer Regelungen ergibt. 45

1. Respektierung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers (insbesondere bei der Behebung von Gleichheitsverstößen) durch Verzicht auf die Nichtigerklärung? Den Hauptanwendungsfall stellt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die bloße Verfassungswidrigerklärung dar, wenn Gesetze - und hier insbesondere begünstigende Gesetze - gegen den Gleichheitssatz verstoßen. 46 Verstößt eine gesetzliche Regelung gegen einen besonderen oder den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), so führt das Bundesverfassungsgericht in der Regel aus, daß eine Nichtigerklärung der entsprechenden Vorschrift mit Rücksicht auf die "Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers" ausscheide, weil mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes bestehen. 47 Ein Gleichheitsverstoß kann beseitigt werden, indem beide Gruppen künftig wie die bisher günstiger behandelte Gruppe behandelt werden oder beide wie die bisher schlechter behandelte oder beide auf eine neue Art und Weise. 48 Insofern wird der Gleichheitssatz auch als "ergebnisoffen,,49 bezeichnet. Aus diesem Befund folgt indes noch nicht ein nur "modaler" Gewährleistungsgehalt. 5o

45 In den Fällen BVerfGE 82, 60 und 82, 198 wurde das familiäre Existenzminimum durch das Steuerrecht und das Recht der Sozialleistungen nicht hinreichend gewährleistet. 46 Vgl. Stern, in: Bonner Kommentar zum 00, Art. 93 Rn. 280; Stuth, in: Umbach/Clemens, BVerfoo, § 78 Rn. 17. 47 St. Rspr., grundlegend BVerfGE 22, 349 (361 f.); ferner etwa BVerfGE 23, I (10); 23,242 (254 f.); 28, 227 (242 f.); zuletzt BVerfGE 93,386 (402). 48 Zutreffend BVerfGE 22, 349 (361); Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 392; Kirchhof, HStR V, § 124 Rn. 272; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 529. 49 Kirchhof, HStR V, § 124 Rn. 276; Osterloh, in: Sachs, 00, Art. 3 Rn. 42. 50 Für einen nur modalen Gehalt des Gleichheitssatzes etwa Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 23; Sachs, DÖV 1984,411 (413 ff.); ders., Grenzen des Diskriminierungsverbots, S. 27 f. m.w.N.; anders jetzt aber ders., in: Stern, Staatsrecht 1II1l, § 66113 d (S. 652); ders., 00, vor Art. I Rn. 28, der nunmehr einen persönlichkeitsrechtlichen Schutzgegenstand der Gleichheit annimmt, der grundsätzlich nicht durch eine gleichheitswidrige Behandlung beeinträchtigt werden darf. - Prozessual führt diese Konzeption zur Eröffnung von Rechtsschutz gegen jede Art und Weise von Ungleichbehandlung unabhängig von dem Ziel einer etwaigen unmittelbaren Verbesserung der eigenen Rechtsposition. - Gegen einen nur "modalen" Gehalt des Gleichheitsrechts auch Kirchhof, HStR V, § 124 Rn. 276. - Vgl. ferner Huster, IZ 1994,541 (547 ff.); Ja-

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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Eine Nichtigerklärung des gleichheits widrigen Gesetzes kann nach dieser Rechtsprechung nur in Betracht kommen, wenn mit Sicherheit anzunehmen ist, daß der Gesetzgeber bei Beachtung des Gleichheitssatzes die nach der (ganzen oder teilweisen) Nichtigerklärung der Norm verbleibende Fassung wählen würde. 51

a) Der gleichheitswidrige Begünstigungsausschluß

Der (ausdrückliche oder konkludente) gleichheitswidrige Begünstigungsausschluß ist der ursprüngliche Grund für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Beschränkung auf eine Feststellung der Verfassungswidrigkeit unter Verzicht auf die Nichtigerklärung.

aa) Begriffspaare ,,Begünstigung und Belastung" - "Bevorzugung und Benachteiligung" - "Besserstellung und SchlechtersteIlung" Vorab ist darauf hinzuweisen, daß das Begriffspaar ,,Begünstigung - Belastung" terminologisch strikt von dem Begriffspaar "Bevorzugung - Benachteiligung" unterschieden werden muß. Während das letztgenannte Begriffspaar eine Aussage über die Relation der bei den Vergleichsgruppen trifft, also darüber, wer von bei den besser und wer schlechter behandelt wird, wer mehr und wer weniger bekommt oder abgeben muß, geht es bei dem ersten Begriffspaar um den Charakter des Rechtsgebiets, in dem die Ungleichbehandlung stattfindet, also darum, ob jemand einen Vorteil erhält (Begünstigung) oder auch nicht errass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 3 ff., die den Gleichheitssatz entsprechend der freiheitsrechtlichen Eingriffs- und Schrankendogmatik prüfen und dementsprechend von "Beeinträchtigungen des Schutzbereichs des Art. 3 GO" sprechen. - Jarass (Art. 3 Rn. 8) und Kirchhojziehen die prozessualen Konsequenzen von Sachs jedoch nicht. - Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 390 ff. differenziert zwischen (I) einem "abstrakten definitiven Gleichheitsrecht", das ein Recht auf Gleichbehandlung gewährt, falls es keinen zureichenden Grund für die Erlaubtheit der Ungleichbehandlung gibt, (bzw. ein Recht auf Ungleichbehandlung gewährt, falls es keinen zureichenden Grund für die Gebotenheit der Ungleichbehandlung gibt,) und (2) den konkreten definitiven Gleichheitsrechten. Diese könnten auf Eingriffsabwehr, auf Begünstigung oder auf Mitwirkung gehen, bestehen aber wegen der Ergebnisoffenheit des Gleichheitssatzes nur potentiell (S. 392). Innerhalb der konkreten definitiven Gleichheitsrechte erwähnt Alexy das Rechtsschutzziel der Abwehr einer Drittbegünstigung nicht explizit, wobei offenbleibt, ob die von ihm genannten Rechtsschutzziele nur beispielhaft oder abschließend gemeint sind. 51 So BVerfGE 27, 220 (230 f.); 27, 391 (399); 28, 227 (242 f.); 61, 43 (68); 73, 40 (101); 78, 350 (363).

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

hält (Begünstigungsausschluß) oder ob jemand Eingriffe hinzunehmen hat (Belastung) oder nicht (Belastungs-,,Ausschluß"). Dagegen treffen die Begriffe ,,Besserstellung und SchlechtersteIlung" wiederum Aussagen über einen Vergleich zweier Erscheinungen: A wird durch ein Gesetz in Zukunft besser oder schlechter gestellt als früher (intertemporaler Vergleich), oder das Gesetz behandelt (stellt) A besser oder schlechter als B (interpersonaler Vergleich). Beispiel: Zur Förderung des selbst genutzten Wohneigentums führte der Gesetzgeber in Form des (mittlerweile durch das Eigenheimzulagegesetz abgelösten) § lOe EStG eine Steuervergünstigung ein, wonach bestimmte Beträge "wie Sonderausgaben" abzugsfähig waren (§ lOe Abs. 1 S. 1 EStG). Durch den Abzug von der Bemessungsgrundlage (§ 2 Abs. 4, 5 EStG) und nicht von der Steuerschuld stieg der Vorteil infolge des progressiven Tarifs mit steigender Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen. Eine solche Norm verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG. 52

Trifft man eine Aussage über die Relationen, so werden diejenigen, die Wohneigentum bilden, bevorzugt, diejenigen, die kein Wohneigentum bilden, benachteiligt. 53 Innerhalb derjenigen, die Wohneigentum bilden, werden die Leistungsfähigeren bevorzugt, die weniger Leistungsfahigen benachteiligt, da sie im Ergebnis eine geringere Förderung erhalten. 54 Für die Antwort auf die Frage, ob jemand bevorzugt oder benachteiligt wird, kommt es somit auf die Auswahl der jeweiligen Vergleichspaare an: Die wirtschaftlich wenig Leistungsfähigen, die Wohneigentum bilden, werden im Vergleich zu denjenigen, die kein Wohneigentum bilden, bevorzugt, gleichzeitig jedoch im Vergleich zu den wirtschaftlich Leistungsfähigeren, die ebenfalls Wohneigentum bilden, benachteiligt. Daneben stellt sich die weitere Frage, ob die Geförderten, die sich Wohneigentum zulegen, durch die Steuervergünstigung "begünstigt" oder "weniger belastet"55 werden. Auf diese Frage wird zurückgekommen, wenn es darauf an-

52 BirkiBarth. in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 505; Birk. StuW 1989. 212 (217); Kirchhof, HStR IV, § 88 Rn. 118; SchmidtlDrenseck. EStG, § lOe Rn. 4 m.w.N.; Tipke/Lang. Steuerrecht, § 9 Rn. 43 a.E. 53 Diese Ungleichbehandlung ist indes um des Lenkungszwecks willen gerechtfertigt, vgl. SchmidtlDrenseck. EStG, § 10e Rn. 3. Allgemein zur Rechtfertigung von Lenkungsnormen im Steuerrecht Birk. Steuerrecht I, § 7 Rn. 21; BirkiBarth. in: HübschmannlHepp/Spitaler. § 4 AO Rn. 503 ff. 54 Nur diese Ungleichbehandlung verstößt gegen den Gleichheitssatz. 55 Ob in einem Fall einer Steuervergünstigung von einer Begünstigung gesprochen werden kann, von der die Nichtbegünstigten (im Fall des § lOe EStG etwa die Mieter) ausgeschlossen werden. und ob somit insoweit von einem "Begünstigungsausschluß" (im Fall des § lOe EStG: der Mieter) zu sprechen ist oder ob eine Steuervergünstigung nicht vielmehr einen Belastungsausschluß der Geförderten (im Fall des § lOe EStG: der Wohneigentümer) darstellt und die "Nichtgeförderten" (im Fall des § lOe EStG: die

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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kommt, ob die Nichtgeförderten prozessual Abwehr ihrer eigenen (ungleich höheren) Belastung (Anfechtungssituation) oder Einbeziehung in eine Dritten gewährte Begünstigung erstreben (Verpflichtungssituation).56 Sowohl Begünstigungen als auch Belastungen sind an den Gleichheitsrechten zu messen, da diese den Staat umfassend binden. 57 Grundsätzlich verbieten die Gleichheitsrechte jede Fonn von ungerechtfertigten Differenzierungen wegen der Zugehörigkeit zu einer der beiden Vergleichsgruppen. So darf etwa nach der Fonnulierung des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG niemand wegen der dort genannten Kriterien "benachteiligt oder bevorzugt" werden. Dagegen statuiert Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG nur ein Benachteiligungsverbot für Behinderte und Art. 6 Abs. 1 GG nur ein Benachteiligungsverbot für Familien; diese Nonnen lassen somit Bevorzugungen58 der genannten Gruppen ZU59, wenngleich diese nicht ohne weiteres auch verfassungsrechtlich geboten sind. 6o

bb) Gesetzestechnische Möglichkeiten des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses Ein Begünstigungsausschluß einer Personengruppe kann (l) ausdrücklich oder (2) konkludent erfolgen, oder er kann darauf beruhen, daß (3) von vornherein zwei selbständig nebeneinander stehende Regelungssysteme existieren, die zu einer Ungleichbehandlung der bei den Vergleichsgruppen führen, mithin eine der beiden Vergleichsgruppen stärker begünstigt wird als die andere.

Mieter) dementsprechend der Grundnorm gemäß belastet werden, wird unter § 3 B I I d noch näher behandelt. 56 Dazu unten § 3 B I I d. 57 Vgl. nur BVerfGE 79, I (17); Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 61 m.w.N. 58 BVerfGE 6, 55 (76) formuliert ungenau: "Art. 6 Abs. I 00 (steht) nicht einer Begünstigung, sondern nur einer Benachteiligung von Verheirateten entgegen." (Hervorhebungen nur hier.) Statt Begünstigung hätte es richtig Bevorzugung heißen müssen. Dies wird etwa an dem Beispiel deutlich, daß Familien zwar eine staatliche Leistung (Begünstigung) erhalten, Nichtverheirateten jedoch eine höhere Leistung (Begünstigung) gewährt wird. In diesem Fall werden Familien zwar begünstigt, aber gleichzeitig auch benachteiligt. - Terminologisch nicht exakt auch BFHE 165, 172 (177), der ebenfalls die Begriffe der gIeichheitswidrigen Benachteiligung und Begünstigung gegenüberstellt. 59 BVerfGE 96, 288 (302 f.) (zu Art. 3 Abs. 3 S. 200). Vgl. dazu auch BirkiBarth, in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 416. 60 BVerfGE 96,288 (302 f.) (zu Art. 3 Abs. 3 S. 200).

86

§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

(1) Der ausdrückliche Begünstigungsausschluß (a) Ein ausdrücklicher Begünstigungsausschluß einer Personengruppe liegt vor, wenn das Gesetz zunächst einen umfassenderen Kreis von Begünstigten nennt, jedoch später einen Teil dieser Personengruppe ausdrücklich ausnimmt. Beispiella: § 1 lautet: "Die Mitglieder der Personengruppe C werden begünstigt." § 2 lautet: ,,§ I findet keine Anwendung auf die Mitglieder der Personengruppe B."

C ist der Oberbegriff für A und B. Eine Vorschrift nimmt einen Teil dieser Personengruppe - nämlich B - ausdrücklich wieder aus. (b) Ein ausdrücklicher Begünstigungsausschluß könnte gesetzestechnisch auch durch einen Ausnahmetatbestand innerhalb der Begünstigungsnorm erfolgen. Beispiel 1b:

Die Norm lautet: "Die Mitglieder der Personengruppe C mit Ausnahme der Personengruppe B werden begünstigt."

(2) Der konkludente Begünstigungsausschluß Ist dagegen der Kreis der begünstigten Personengruppe von vornherein enger gefaßt, liegt ein konkludenter Begünstigungsausschluß vor, weil die nicht begünstigte Personengruppe überhaupt nicht erwähnt wird. Beispiel 2:

Die Norm lautet: "Die Mitglieder der Personengruppe A werden begünstigt."

In dieser Vorschrift werden weder die Personengruppe B noch der A und B gemeinsame Oberbegriff C erwähnt, vielmehr wird von vornherein nur eine der beiden Vergleichsgruppen - nämlich A - genannt.

(3) Der auf unterschiedlichen Regelungssystemen beruhende Begünstigungsausschluß Schließlich kann eine Vergleichs gruppe von der "Begünstigung" einer anderen Vergleichsgruppe ausgeschlossen sein, die darin liegt, daß diese nach Gesetzen behandelt wird, die zu einem günstigeren Ergebnis führen als diejenigen Gesetze, die die erste Vergleichsgruppe betreffen.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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Beispiel 3: § I lautet: "Die Mitglieder der Personengruppe A werden nach Methode X begünstigt." § 2 lautet: "Die Mitglieder der Personengruppe B werden nach Methode Y begünstigt."

Führt die Methode X zu einer höheren Begünstigung als Methode Y, so werden die Mitglieder der Personengruppe B gegenüber den Mitgliedern der Personengruppe A weniger stark begünstigt (benachteiligt). Die Besonderheit gegenüber Beispiel 2 besteht darin, daß dort eine der beiden Vergleichsgruppen überhaupt nicht gesetzlich geregelt wurde, während hier zwar Regelungen für beide Gruppen bestehen, diese aber unterschiedliche Inhalte haben. Insoweit ließe sich diese Konstellation auch als Sonderfall des konkludenten Begünstigungsausschlusses verstehen, wenn man die für die Vergleichs gruppe A geltende Regelung - nämlich § I, der nur die Personengruppe A nennt - als Begünstigung auffaßt, die für die andere Vergleichsgruppe B nicht gilt. Der Unterschied gegenüber dem ausdrücklichen Begünstigungsausschluß besteht darin, daß hier nicht zwei Normen im Regel-Ausnahme-Verhältnis zueinander stehen, sondern unabhängig voneinander Regelungen treffen.

(4) Andere Formen ungleicher Begünstigung

Alle anderen Formen ungleicher Begünstigung lassen sich wieder auf die o.g. Modelle zurückführen. Ist etwa eine für beide Gruppen geltende Basisnorm vorhanden und wird eine der beiden Vergleichsgruppen durch eine weitere Norm zusätzlich begünstigt, so stellt diese ..driubegünstigende Zusatznorm" für die insoweit nicht begünstigte Vergleichsgruppe einen konkludenten Begünstigungsausschluß dar, weil diese Ergänzungsnorm sie durch Nichterwähnung von der Begünstigung ausschließt. Eine andere Frage ist freilich, ob die Basisnorm bei der Beurteilung der Vereinbarkeit der Rechtslage mit dem Gleichheitssatz aufgrund einer Gesamtbetrachtung in den Prüfungsgegenstand einbezogen werden muß oder ob isoliert auf die Ergänzungsnorm abzustellen iSt. 61

(5) Zuordnungs/ragen

Ob ein ausdrücklicher oder konkludenter Begünstigungsausschluß vorliegt, kann im Einzelfall zweifelhaft sein. So waren nach der Vorschrift des § 34a 61

Dazu unten § 3 B I I c.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

EStG "gesetzliche oder tarifliche Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit" steuerfrei. In dieser Vorschrift nicht genannt waren also Zuschläge, die auf anderen Rechtsgrundlagen beruhten. Diese waren also konkludent von der Steuerfreiheit ausgeschlossen. 62 In der Entscheidung, die auf die Verfassungsbeschwerde eines nicht von der Steuerfreistellungsnonn erfaßten Steuerpflichtigen hin erging, stellte das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß der dritt-"begünstigenden" Norm (§ 34a EStG) gegen Art. 3 Abs. 1 GG fest. 63 Allerdings ist die Einordnung der Norm als konkludenter Begünstigungsausschluß unter zwei Gesichtspunkten problematisch: Erstens handelt es sich nach dem unter aa) Gesagten nicht um eine ,,Begünstigung", sondern um einen "Befreiung von einer Belastung,,64. Zweitens ist hier die benachteiligte Gruppe in der dritt"begünstigenden" Nonn nicht ausdrücklich genannt. Daher ließe sich auch eine Zuordnung zur Kategorie des ausdrücklichen Begünstigungsausschlusses vertreten, wenn nämlich ,,zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit" als bei den Vergleichspaaren gemeinsamer Oberbegriff verstanden werden, mithin insoweit beide Vergleichsgruppen im Text der Norm zunächst erwähnt sind, und hiervon diejenigen, die nicht auf tariflicher oder gesetzlicher Grundlage beruhen, durch die Eingrenzung des "begünstigten" Kreises mittels der Adjektivattribute wieder ausgenommen werden. Die Zuordnung zu den Fällen des ausdrücklichen gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses liegt auch deshalb nahe, weil rein gesetzestechnisch die bisher nicht berücksichtigte Gruppe hier durch Teilnichtigerklärung der "begünstigenden" Nonn - nämlich durch Nichtigerklärung der Adjektive "gesetzlichen oder tariflichen" in § 34a EStG - in die Begünstigung hätte einbezogen werden können.

cc) Interdependenzen zwischen Rechtsfolgen und Rechtsschutzziel beim ausdrücklichen Begünstigungsausschluß

( J) Nichtigerklärung der Ausnahmevorschrift ?

Erstrebt nun ein Mitglied der benachteiligten Personengruppe B die Begünstigung für sich, so könnte dies gesetzestechnisch im Falle des ausdrücklichen Begünstigungsausschlusses (Beispiel 1) erfolgen, indem die Ausnahmevorschrift (im Beispiel la: § 2) für nichtig erklärt wird oder der Ausnahmetatbestand innerhalb der Begünstigungsnonn eliminiert wird und die Begünstigungs62/psen,

Rechtsfolgen, S. 109. BVerfGE 25, 101 (102, 105 f., 110 f.). 64 Zur Bedeutung dieser Unterscheidung noch unten § 3 B I I d. 63

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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norm insoweit (in Beispiel Ib: der Satzteil "mit Ausnahme der Personengruppe B") für teilnichtig erklärt wird. Insoweit würde das Bundesverfassungsgericht dann im materiellen Sinne gestalten, indem es die Begünstigung - u.U. auch haushaltsrelevant - ausdehnen würde, und damit in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eingreifen. Denn die Rechtsprechung - wozu auch das Bundesverfassungsgericht zählt65 - ist nach dem System der Gewaltenteilung des Grundgesetzes auf die Überprüfung von Rechtsfehlem beschränkt, kann indes nicht selbst von mehreren möglichen rechtmäßigen Ersatzlösungen eine auswählen. 66 Besonders deutlich wird dies bei haushaltsrelevanten Gesetzen67 angesichts des Budgetrechts des Parlaments. Es ist daher zutreffend, wenn das Bundesverfassungsgericht auf die Nichtigerklärung der Ausnahmevorschrijt verzichtet. Insoweit trägt die Begründung, daß eine Ausdehnung der Begünstigung mit Rücksicht auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ausscheidet.

(2) Nichtigerklärung der Gesamtregelung, auf der die Ungleichbehandlung beider Vergleichsgruppen beruht? Eine weitere Entscheidungsmöglichkeit für das Bundesverfassungsgericht bestände indes darin, die Gesamtregelung, die zu der Ungleichbehandlung führt, für nichtig zu erklären. Dies würde voraussetzen, daß (a) tatsächlich sämtliche Normen, auf denen die Behandlung beider Vergleichsgruppen beruht, verfassungswidrig sind, und (b) die Nichtigerklärung der Gesamtregelung möglich ist, insbesondere nicht die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bezüglich einer Neuregelung unzulässig einschränken würde. Fraglich ist indes, ob die Nichtigerklärung der Gesamtregelung auch den regelmäßigen Rechtsschutzzielen der Kläger bzw. Beschwerdeführer gerecht würde, die regelmäßig die Einbeziehung in die Begünstigung erstreben. 68

65 Zutreffend die ganz h.M., vgl. etwa BendalKlein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 50; Löwer, HStR II, § 56 Rn. 1 f.,jeweils m.w.N. 66 Vgl. Kirchhof, HStR V, § 124 Rn. 272; PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 533. 67Vgl. Stuth, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 78 Rn. 17 Fn. 34. 68 Dazu unten § 3 B I 1 a cc (3).

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

(a) Verfassungswidrigkeit aller Normen, auf denen die Ungleichbehandlung beruht Voraussetzung ist zunächst, daß auch tatsächlich beide Vorschriften verfassungswidrig sind. In Beispiel 1 erhalten die Mitglieder der Personengruppe A die Begünstigung auf der Rechtsgrundlage des § 1, den Mitgliedern der Personengruppe B wird die Begünstigung dagegen auf der Rechtsgrundlage des § 2 vorenthalten. Die Ungleichbehandlung beider Personengruppen beruht somit sowohl auf § 1 als auch auf § 2. Die Ungleichbehandlung folgt erst daraus, daß A - auf der Grundlage des § 1 - begünstigt wird und B - wegen § 2 - nicht begünstigt wird. Insoweit sind dann richtigerweise sowohl § 1 als auch § 2 verfassungswidrig, da §§ 1 und 2 beide zu der Ungleichbehandlung der Personengruppen A und B führen. Die Tatsache, daß § 1 in seinem Wortlaut keine Differenzierung zwischen den Personengruppen A und B enthält, vielmehr nach seiner Fassung sogar beide Gruppen gleich behandelt, spielt danach keine Rolle. 69 Denn die Ungleichbehandlung im materiellen Ergebnis beruht sowohl auf § 1 (Begünstigung von A) als auch auf § 2 (Nichtbegünstigung von B). Sowohl § 1 als auch § 2 sind dann als Gesamtregelung verfassungswidrig. Die Gesamtregelung, auf der die verschiedene Behandlung der Vergleichs gruppen beruht, für verfassungswidrig zu erachten erscheint folgerichtig, da der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG stets70 ein Vergleichen von Personengruppen oder Sachverhalten voraussetzt und die Verfassungswidrigkeit einer Norm sich erst aus dem Verhältnis zu einer anderen Norm (oder auch - im Falle des konkludenten gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses - zu einer Nichtregelung bezüglich der anderen Vergleichsgruppe)71 ergibt. Konsequenterweise muß die Verfassungswidrigkeit

69 Beachtenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch BVerfGE 93, 121 (142 f.). Dort wurde eine Norm, die einen einheitlichen Steuersatz für einheitswertgebundenes und -ungebundenes Vermögen anordnete, für verfassungswidrig erklärt, obwohl diese Norm selbst nicht zwischen den einzelnen Vermögens arten differenzierte, sondern dem Wortlaut nach eine Gleichbehandlung zu gewährleisten schien. 70 Vgl. aber auch BVerfGE 4, 1 (7); 23, 98 (106 f.); 78, 232 (248), wonach Art. 3 Abs. 1 GG auch ein Verbot "objektiver Willkür" - unabhängig vom Vergleichen zweier Sachverhalte - zu entnehmen ist. Ebenso BayVerfGH, NJW 1986, 1096 für die mit Art. 3 Abs. 1 GG inhaltlich übereinstimmende Bestimmung des Art. 118 Abs. 1 S. 1 BayVerf. - Wohl auch Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 470. - Ablehnend zur Verortung dieses objektiven Willkürverbots in Art. 3 Abs. 1 GG etwa Sondervotum Geiger, BVerfGE 42, 79 (81 f.); Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 53; Sachs, JuS 1997, 124 (125); Stein, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Rn. 31 f. 71 Damit wird indes nicht gesagt, daß nur diese "Nichtregelung" verfassungswidrig ist. - Dürig, in: MaunzlDürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 364 spricht insoweit zutreffend von einer "Einheit", bezieht aber den Begriff des "Unterlassens" mit ein, dazu noch unten. -lpsen, Rechtsfolgen, S. 213 f., spricht von" verfassungswidriger Normenrelation " und geht davon aus, daß eine "verfassungswidrige Norm" mangels Isolierbarkeit

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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dann aber sämtliche Rechtsgrundlagen, auf denen die Ungleichbehandlung der bei den Vergleichsgruppen beruht, erfassen. Insoweit erscheint eine andere Betrachtung im Bereich des Gleichheitssatzes als auf anderen Feldern nicht möglich. So kann etwa ein übermäßiger Eingriff in ein Freiheitsrecht abgewehrt werden, auch wenn sich der Verstoß gegen das Übermaß verbot erst aus mehreren Vorschriften ergibt. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht allgemein anerkannt, daß eine für verfassungswidrig erachtete Rechtslage, die sich aus dem Zusammenwirken mehrerer Einzelregelungen ergibt, grundsätzlich anhand jeder der betroffenen Normen zur verfassungs gerichtlichen Prüfung gestellt werden kann. 72 Insoweit kann indes nichts anderes gelten, wenn nicht eine Person durch das Zusammenwirken verschiedener Normen insgesamt verfassungswidrig behandelt wird73 , sondern wenn mehrere Personen durch mehrere Normen ungleich und unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG behandelt werden. Auch in diesem Falle sind dann alle Normen als verfassungswidrig anzusehen. Falls die Besonderheit besteht, daß eine Regelung nur für eine Gruppe existiert und sich die Ungleichbehandlung gerade aus der Nichtregelung für die andere Gruppe ergibt (Fall des konkludenten gleichheitswidrigen Begünstifehle. Dagegen ist einzuwenden, daß nicht die Normenrelation verfassungswidrig ist, sondern alle Normen, auf denen die Ungleichbehandlung beruht, wegen ihrer Relation; die Verfassungswidrigkeit erfaßt jedoch alle Normen, auf denen der Verstoß gegen den Gleichheitssatz beruht. - Ähnlich und nur terminologisch abweichend Maurer, in: Festschrift für Weber, S. 345 (354), der von" relativer Verfassungswidrigkeit" spricht; verfassungswidrig sei nicht die Regelung A oder die Regelung B, sondern ihre unterschiedliche Regelung. Zwar ist zutreffend, daß wegen der Ergebnisoffenheit des Gleichheitssatzes (siehe oben § 3 B I 1 vor a) grundsätzlich weder die Begünstigung noch die Belastung - anders als etwa ein unverhältnismäßiger Eingriff in ein Freiheitsrecht schon "an sich" und aus sich heraus - also isoliert betrachtet - verfassungswidrig ist; vielmehr wäre eine die Personengruppe A begünstigende Regelung verfassungsmäßig, wenn eine solche Regelung auch für die Personengruppe B existierte. Um eine Norm auf einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz überprüfen zu können, muß man also notwendig über den Anwendungsbereich einer Norm (oder Teilnorm) hinausschauen. Indes ist das Gleichheitsrecht kein Grundrecht zweiter Klasse, vielmehr ist es direkt nach Menschenwürde (Art. lAbs. 1 GG) und allgemeinem Freiheitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) in Artikel 3 Abs. 1 des Grundgesetzes an herausgehobener Stelle verankert (vgl. auch Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (329». Die Besonderheit, daß sich der Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG erst aus einer Gesamtschau mit mehreren Regelungen ergibt, kann kein Grund sein, nicht auch alle Normen, auf denen die Ungleichbehandlung beruht, für verfassungswidrig zu erachten. 72 BVerfGE 82, 60 (Leitsatz 1 und S. 84); 82,198 (206) zum gesetzlichen Familienlastenausgleich, der sowohl über Steuer- als auch Sozialrecht (Kinderfreibeträge bzw. Kindergeld) erfolgen kann. - Das Bundesverfassungsgericht thematisiert dieses Problem im Rahmen der Begründetheit bei der Frage, welche Normen verfassungswidrig sind, und nicht bereits bei der Zulässigkeit unter dem Gesichtspunkt der "Entscheidungserheblichkeit" der Verfassungsmäßigkeit der Normen im Ausgangsverfahren. 73 V gl. BVerfGE 82, 60 (84); 82, 198 (206).

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

gungsausschlusses 74 ), könnte natürlich nur die positive Regelung für nichtig erklärt werden, da eine Nicht-Regelung nicht für nichtig erklärt werden kann. Auch in diesem Falle wären dann nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sämtliche Rechtsgrundlagen, die zu der Ungleichbehandlung der bei den Vergleichsgruppen geführt haben, nichtig und damit aus der Rechtsordnung eliminiert.

(b) Möglichkeit der Nichtigerklärung sämtlicher Normen, auf denen die Ungleichbehandlung der Vergleichsgruppen beruht, unter Beachtung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Bei dieser Sichtweise könnte das Bundesverfassungsgericht dann in Beispiel 1asowohl § 1 als auch § 2 und in Beispiel 1b die gesamte Vorschrift für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig erklären. Dies entspräche dann der Regel der §§ 78 S. 1, 82 Abs. 1,95 Abs. 3 BVerfGG. Auch die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers wäre in diesem Falle jedenfalls - genau wie bei der Kassation gleichheitswidrig belastender Regelungen - gewahrt. Dementsprechend finden sich insbesondere in der anfanglichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Entscheidungen, die eine gleichheitswidrige Sonderbelastung einer Vergleichsgruppe für wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig und nichtig erklärten. 75 Soweit in der Literatur auch in der Kassation belastender Regelungen ein "gestalterisches Moment" gesehen wird, da die Kassation der belastenden Regelung nur eine Möglichkeit zur Behebung der Ungleichbehandlung realisiere, obwohl es auch andere Möglichkeiten gebe 76 , überzeugt dies nicht, da dem Gesetzgeber alle Optionen für eine - regelmäßig auch rückwirkend mögliche 77 Dazu unten § 3 B I 1 a dd. Vgl. BVerfGE 13,290 (298); 13,331 (332,338,355). Ebenso auch (ohne Begründung) BVerfGE 99, 88 (99 f.) - Ausschluß der Verrechnung von Verlusten aus der Vennietung beweglicher Gegenstände. Dagegen begründet BVerfGE 99, 69 (83) die Nichtigerklärung einer Norm, die kommunale Wählervereinigungen von der Körperschaft- und Vermögensteuerfreiheit der Parteien ausschloß, damit, daß eine rückwirkende steuerliche Belastung der Parteien ausgeschlossen sei und daher für die Vergangenheit nur eine Möglichkeit zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustands bestehe. Siehe dazu oben § 3 A. 76 So PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 533. 77 Auch die sog. echte Rückwirkung (bzw. in anderer Tenninologie: Rückbewirkung von Rechtsfolgen, BVerfGE 72, 200 (241 f.); 97, 67 (78» ist zulässig, wenn nachträglich Lücken, die infolge der Verwerfung verfassungswidriger Gesetze entstanden sind, geschlossen werden, vgl. BVerfGE 72,200 (260); Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 315; Spindler, DStR 1998,953 (955). Restriktiver jetzt aber BVerfGE 99, 280 (299) für verfassungswidrige Normen, die den Steuerpflichtigen gezielt zu bestimmten Dispositionen 74

75

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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Neuregelung offengehalten werden. Die Aufhebung der Nonnen ist eine Folge ihrer Verfassungswidrigkeit und drückt aus, daß die bestehende Rechtslage so nicht bestehen bleiben kann. Die Nichtigerklärung der §§ I und 2 würde ihn jedoch nicht hindern, später etwa ein neues verfassungsmäßiges Gesetz allein mit dem Inhalt des § I (Beispiella) zu erlassen. § 31 BVerfGG steht dem jedenfalls nicht entgegen. Zunächst ist richtigerweise auch in diesem Zusammenhang auf die Gesamtrechtslage abzustellen. Die Rechtslage unter der alleinigen, unterschiedslosen Geltung des § I für A und B (Beispiella) unterscheidet sich jedoch von derjenigen unter der Geltung der §§ 1 und 2, wonach die Begünstigung nur A zugute kommt. Insoweit liegt schon keine "inhaltsgleiche" Neuregelung vor, wenn die neue Rechtslage sich inhaltlich von der verfassungswidrigen unterscheidet. Insoweit ist diese Situation mit der inhaltlichen Wiederholung einer wegen Verstoßes gegen Gesetzgebungsverfahrensvorschriften verfassungswidrigen Nonn zu vergleichen. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht diese Norm wegen eines solchen Verstoßes für nichtig erklärt hätte,78 stände dies dem Erlaß einer inhalts gleichen Regelung nicht entgegen. Selbst wenn man - entgegen der hier vertretenen Auffassung und nicht überzeugend - isoliert darauf abstellen würde, daß das Bundesverfassungsgericht §§ I und 2 für verfassungswidrig und nichtig erklärt hätte, so würde § 31 BVerfGG auch dem erneuten Erlaß dieser für verfassungswidrig erachteten Kombination von § 1 und § 2 nicht entgegenstehen. Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht zutreffend ausgeführt, daß die Gesetzgebung im Unterschied zur vollziehenden und zur rechtsprechenden Gewalt nach Art. 20 Abs. 3 GG nur an die verfassungsmäßige, nicht auch an die einfachgesetzliche Ordnung, deren Bestandteil § 31 BVerfGG ist, gebunden ist, als deren Urheberin sie gerade fungiert; außerdem verhindert die Verneinung eines Nonnwiederholungsverbots eine Erstarrung der Rechtsentwicklung. 79 Daher verwehrt es die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen nach § 31 BVerfGG dem Gesetzgeber nicht, eine inhaltsgleiche oder inhaltsähnliche Neuregelung zu verabschieden. 80 Wenn der Gesetzgeber aber schon am Erlaß einer vollständig inhaltsgleichen Regelung nicht gehindert ist, so kann er erst recht nicht daran gehindert sein, eine - gesetzestechnisch gesehen - "Teil-"Regelung dieser für ver-

(dort: Aufnahme einer Tätigkeit im Beitrittsgebiet) veranlaßt haben, und BVerfGE 99, 69 (82 f.). 78 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 34, 9 (25» kommt eine Nichtigerklärung bekanntlich nur in Betracht, wenn der Verfahrensverstoß evident ist. Vgl. dazu oben § 2 C 11 3 c. 79 BVerfGE 77,84 (\03 f.). 80 Zutreffend BVerfGE 77, 84 (103 und Leitsatz I); 96, 260 (263); BVerfG NJW 1999,841 (848). Grundlegend anders dagegen noch (ohne Begründung) BVerfGE I, 14 (Leitsatz 5 und S. 36 f.); Dürig, in: MaunzfDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 351; Maurer, in: Festschrift für Weber, S. 345 (353). Vgl. auch BVerfGE 69, 112 (115 ff.).

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

fassungswidrig erachteten Normenkombination erneut zu erlassen, zumal diese materiell nicht den Mangel aufweist wie die für verfassungswidrig erachtete. Es überzeugt somit nicht, auch in der Kassation einer Regelung ein gestaltendes Element zu sehen, weil die Kassation eine Möglichkeit zur Behebung der Ungleichbehandlung realisiere, obwohl auch andere Möglichkeiten bestehen. 81 Wäre dies richtig, dürfte das Bundesverfassungsgericht auch nicht Normen wegen Verstoßes gegen das Zitiergebot aus Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG oder wegen (evidenter82 ) Verstöße gegen Vorschriften über das Gesetzgebungsverfahren nach Art. 76 ff. GG für nichtig erklären, da der Gesetzgeber aufgrund seiner Gestaltungsfreiheit auch insoweit inhaltlich dieselbe Regelung erneut erlassen darf oder auch auf den erneuten Erlaß der Regelung ganz verzichten darf. Indes ist ein gegen Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG verstoßendes oder evident verfahrenswidrig zustandegekommenes Gesetz grundsätzlich für nichtig zu erklären. 83 Die Nichtigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht hindert den Gesetzgeber aber auch insoweit nicht, eine inhaltsgleiche Vorschrift zu erlassen und somit frei zu gestalten. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß eine Nichtigerklärung der gesamten gleichheitssatzwidrigen Regelungsmaterie nichts vorwegnimmt und damit den Gesetzgeber nicht in seiner Gestaltungsfreiheit einschränkt. Neben den oben bereits genannten Gründen berücksichtigt diese Auffassung nicht, daß auch für die bisher besser gestellte Vergleichsgruppe84 ab dem Zeitpunkt der verfassungsgerichtlichen Entscheidung grundsätzlich eine "Normanwendungssperre,,85 besteht. Wenn aber die bisher besser gestellte Vergleichsgruppe infolge der Normanwendungssperre nach der Verfassungswidrigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht auch nicht mehr in den Genuß der Begünstigung kommen kann, so würde die Nichtigerklärung keine stärkere Abweichung von dem ursprünglichen gesetzgeberischen Plan bringen als die bloße Verfassungswidrigerklärung - ganz abgesehen von der Tatsache, daß das Gesetz in der bisherigen Fassung verfassungswidrig war und damit keinerlei Bindungen hervorrufen kann. Eine Nichtigerklärung würde der Gestaltung der Neuregelung durch den Gesetzgeber ebensowenig vorgreifen wie eine Unvereinbarerklärung. Dieses Ergebnis, daß auch der bisher begünstigten Gruppe die Begünstigung nach der verfassungsgerichtlichen Entscheidung nicht mehr gewährt 81 So aber Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 533. 82Vgl. oben § 2 C II 3 c. 83 Vgl. nur BVerfGE 5, 13 (15 f.); Krebs, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. I, Art. 19 Rn. 18; Menger, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 19 Abs. 1 Rn. 190; Herzog, in: MaunzIDürig, GG, Art. 19 Rn. 60, jeweils m.w.N. 84Vgl. BVerfGE 93,386 (402 f.); Heußner, NJW 1982,257 (259 f.); Ipsen, JZ 1983, 41 (44). Zu abweichenden Auffassungen und deren mangelnder Überzeugungs kraft siehe noch unten § 3 B I 1 a dd (3). 8~ Vgl. BVerfGE 37, 217 (261); 55, 100 (110); 61, 319 (356); 73, 40 (101 f.); 82, 126 (155); 93, 386 (402). - Dazu noch näher unten § 3 BIll.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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wird, könnte auch durch Nichtigerklärung der Vorschrift erreicht werden. 86 Für den Fall, daß Umsetzungsakte ergangen sind, richtet sich deren Bestand nach den entsprechenden Vorschriften über Bestandskraft und Rechtskraft. Insoweit kommt der bloßen Verfassungswidrigerklärung nur dort ein eigener Gehalt zu, wo die verfassungswidrige Norm ausnahmsweise übergangs weise weiter angewendet werden soll.

(3) Verzicht auf die Nichtigerklärung der Gesamtregelung nur aufgrund der Rechtsschutzperspektive der Nichtbegünstigten Wenn das Bundesverfassungsgericht betont, daß der Unvereinbarerklärung soweit sie dem Regelfall entsprechend eine Normanwendungssperre nach sich zieht - sowohl für die Zukunft als auch für die Vergangenheit die gleiche Wirkunl 7 wie eine Nichtigerklärung zukommt,88 so stellt sich natürlich die Frage, warum diese abweichende Tenorierungsform überhaupt entwickelt wurde. Dies ist nur mit dem regelmäßigen Rechtsschutzziel der benachteiligten Vergleichsgruppe zu erklären. Die bloße Verfassungswidrigerklärung, soweit sie wie im Regelfa1l 89 - eine Anwendungssperre des für verfassungswidrig erklärten Gesetzes nach sich zieht, verdankt ihre Existenz einzig der Sichtweise aus dem prozessualen Blickwinkel des Klägers des Ausgangsverfahrens bzw. Beschwerdeführers. 90 Dessen Ziel besteht regelmäßig darin, in die Begünstigung 86 Insoweit zutreffend PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 541, die allerdings aus dieser Tatsache zu weitgehend folgern, daß bei einer Verfassungswidrigerklärung in jedem Falle die bisher begünstigte Personengruppe weiterhin in den Genuß der Begünstigung, die auf dem verfassungswidrigen Gesetz beruht, kommen kann. - Dies ist indes nur ausnahmsweise der Fall, wenn die für verfassungswidrig erklärte Norm für übergangsweise weiter anwendbar erklärt wird. Diese Anordnung ist jedoch an Voraussetzungen geknüpft, die durch den bloßen Gleichheitsverstoß nicht erfüllt werden. Zu den Voraussetzungen der weiteren Anwendbarkeit einer für verfassungswidrig erklärten Norm siehe unten § 3 B I 2 b. 87 So gilt etwa § 79 Abs. 2 BVerfGG über seinen Wortlaut hinaus nicht nur bei Nichtigerklärung, sondern auch bei Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre, vgl. nur BVerfGE 37, 217 (262 f.); 81, 363 (384); Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1192; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 199 m.w.N.; Heußner, NJW 1982, 257 (258); Vlsamer, in: MaunzlSchmidt-Bleibtreu/KleinlUlsamer, BVerfGG, § 79 Rn. 25. 88 Explizit BVerfGE 37,217 (261, 262 m.w.N.). 89 BVerfGE 37, 217 (261); 73, 40 (101 f.); 87, 114 (136); 87, 153 (178); 93, 121 (148); 93, 165 (178); 93, 386 (402); 99, 280 (298). (Die genannten Entscheidungen enthalten aber teilweise Ausnahmen von diesem Grundsatz.) 90 Ebenso in dieser Einschätzung Sachs, NVwZ 1982, 657 (660); Stern, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 93 Rn. 282 (letzterer allerdings unter unzutreffender Bezugnahme auf Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 82 f., der den Verzicht auf die Nich-

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

(bzw. geringere Belastung), die der anderen Vergleichsgruppe durch die gesetzliche Regelung gewährt wurde, einbezogen zu werden. Das Bundesverfassungsgericht bestimmt nach der Feststellung der Verfassungswidrigkeit, soweit es der Regel gemäß eine Normanwendungssperre mit dieser verbindet, daß die Gerichte und Behörden das Anlaßverfahren und auch die ParallelHille weiter aussetzen müssen, bis der Gesetzgeber eine den Anforderungen der Verfassung entsprechende Regelung getroffen hat. 9 ! In dieser Rechtsfolge, die das Bundesverfassungsgericht mit der Beschränkung auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit verbindet, besteht der entscheidende Unterschied zwischen Unvereinbarerklärung mit Normanwendungssperre und Nichtigerklärung, der zur Kreation der Verfassungswidrigerklärung mit Anwendungssperre geführt hat. Gerade dadurch, daß das Veifahren bis zu einer Neuregelung der Materie im Anlaßfall und in den ParalleInilIen ausgesetzt bleibt, soll der bisher nicht begünstigte Kläger des Ausgangsverfahrens bzw. der Beschwerdeführer die Chance erhalten, von der Neuregelung zu profitieren und eine für ihn günstigere Regelung durch den Gesetzgeber zu erreichen. 92 Prozessual wird daher die Entscheidungserheblichkeit der Verfassungsmäßigkeit des vorgelegten Gesetzes (bei der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG) und das Rechtsschutzbedürfnis bzw. die Selbstbetroffenheit des Beschwerdeführers im Rahmen der Verfassungsbeschwerde bejaht mit der Folge, daß diese Verfahren zulässig sind. 93 Deutlich wird der Zusammenhang zwischen der Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre und den Rechtsschutzzielen des Bürgers auch dann, wenn man sich etwa die Situation eines abstrakten Normenkontrollverfahrens nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 76 ff. BVerfGG vergegenwärtigt. Den Antragstellern in diesem Verfahren geht es nicht notwendig um die (unmittelbare) Verbesserung der eigenen Rechtsposition. Behandelt hier etwa ein Gesetz eine Vergleichsgruppe in der einen Weise und eine andere Gruppe in anderer Weise, so ist kein Grund erkennbar, warum die jeweiligen Regelungen, auf denen die Un-

tigerklärung unzutreffend in der vorübergehenden Sicherung der Leistung für die gleichheitswidrig Begünstigten bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber sieht; insoweit a.A. etwa BVerfGE 93, 386 (402 f.); vgl. dazu noch ausführlich unten § 3 B I I a dd (3». - Daß der Verzicht auf die Nichtigerklärung seinen Grund insbesondere in der Rechtsschutzperspektive des nicht begünstigten Bürgers findet, wird auch deutlich sichtbar in BVerfGE 22, 349 (36\): § 95 Abs. 3 BVerfGG, der vom Wortlaut her die Nichtigerklärung eines verfassungswidrigen Gesetzes fordert, müsse "zurücktreten, wenn nach Lage des Falles eine Nichtigerklärung nicht möglich ist oder dem berechtigten Anliegen des Beschwerdeführers nicht Rechnung tragen würde." In der Sache ebenso bereits BVerfGE 13,248 (260). 91 Vgl. zuletzt BVerfGE 93,386 (403). 92 SI. Rspr.; vgl. BVerfGE 23, 74 (78); 74, 182 (\ 95 f.); 93, 386 (394 f.); Benda! Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1189. 9J Zur Entwicklung der Rechtsprechung unten § 4 B 11 2.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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gleichbehandlung der bei den Vergleichsgruppen beruht, nur für unvereinbar und unanwendbar und nicht für nichtig erklärt werden könnten, unabhängig von der Frage, ob sie begünstigenden oder belastenden Charakter haben. Im Verfahren der abstrakten Nonnenkontrolle besteht das Rechtsschutzziel nicht in einer Verbesserung der eigenen Rechtsstellung. Daher bedarf es der Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre im Verfahren der abstrakten Nonnenkontrolle nicht. 94 Vielmehr könnte die gesamte begünstigende gleichheits widrige Regelung für nichtig erklärt werden. Die Nichtigerklärung der Gesamtregelung durch das Bundesverfassungsgericht würde auch nicht die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers unzulässig einschränken. Somit steht fest, daß auch die Nichtigerklärung der Gesamtregelung die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers beachten würde, da keine Begünstigungen ausgeweitet werden. Indes würde eine Nichtigerklärung der Gesamtregelung nicht dem Rechtsschutzziel der bisher nicht begünstigten Personengruppe entsprechen, die ebenfalls in den Genuß der Begünstigung gelangen möchte. Denn bei völligem Wegfall sämtlicher Vorschriften, auf denen die Ungleichbehandlung beruht, durch Nichtigerklärung würde auch der Kläger des Ausgangsverfahrens bzw. der Beschwerdeführer nicht in den Genuß der Begünstigung kommen. Würde nämlich die Gesamtregelung für verfassungswidrig und nichtig erklärt, so wäre die Klage im Ausgangsverfahren abzuweisen. Soweit ein - soweit ersichtlich einziger - weiterer Unterschied zwischen Nichtigerklärung und Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre darin gesehen wird, daß die bloß für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärte Vorschrift nicht aus dem Normenbestand ausscheide95 und der vor Inkrafttreten dieser Vorschrift bestehende Rechtszustand daher nicht wieder auflebe96, so ist zumindest die letztgenannte Schlußfolgerung nicht zwingend: Wenn das Gesetz insgesamt (einschließlich der Vorschriften über das Inkrafttreten) verfassungswidrig ist und einer Anwendungssperre unterliegt, könnte auch die Vorschrift über das Inkrafttreten der ,,Anwendungssperre" unterliegen und somit theoretisch der alte Rechtszustand - wie bei der Nichtigerklärung eines gesamten Gesetzes - fortgelten. Indes würde dieses Ergebnis wieder nicht dem Rechtsschutzziel der Bürger gerecht. Bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber soll ein "Schwebezustand" geschaffen werden, der die Chance auf Einbeziehung in die Begünsti94 Ohne Begründung offensichtlich a.A. BendalKlein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1189 Fn. 101. - Die in abstrakten Nonnenkontrollverfahren ergangenen Entscheidungen BVerfGE 32, 199 und 34, 9 betrafen jedenfalls Unvereinbarerklärungen, in denen die Rechtsgrundlagen der Beamtenbesoldung gerade fortgelten sollten, vgl. BVerfGE 32, 199 (217 f.); 34, 9 (44). 9~ BendalKlein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1188; Heußner, NJW 1982, 257 (257 0; Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 389. 96 So die Schlußfolgerung von BendalKlein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1188. 7 Wernsmann

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

gung offenhalten soll. Auch der letztgenannte Unterschied beruht in Wahrheit also auf Rechtsschutzaspekten. Der Gesichtspunkt der Wahrung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit ist also nur für den Verzicht auf die Nichtigerklärung der ausschließenden Teilregelung bedeutsam, nicht jedoch für den Verzicht auf die Nichtigerklärung der Gesamtregelung. 97 Insoweit liegt der Verzicht auf die Nichtigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht allein darin begründet, daß diese den Rechtsschutzzielen der Beschwerdeführer bzw. der Kläger in den Ausgangsverfahren nicht gerecht würde. 98 In Wirklichkeit wird der Gesetzgeber durch die Beschränkung auf die Unvereinbarerklärung durch das Bundesverfassungsgericht sogar - anders als bei einer Nichtigerklärung, durch die ein verfassungswidriges Gesetz automatisch aus der Rechtsordnung ausscheidet, - insoweit in seiner Gestaltungsfreiheit beschnitten, als er gezwungen wird, sich mit der Materie zu befassen und ein neues Gesetz zu erlassen. Sobald dieses erlassen ist, können die ausgesetzten Verfahren abschließend entschieden werden, da dann erkennbar ist, welche Lösung der Gesetzgeber gewählt hat. Dagegen wäre bei einer (Gesamt-) Nichtigerklärung nicht ohne weiteres erkennbar, wie lange die behördlichen und gerichtlichen Verfahren ausgesetzt bleiben müßten, da der Gesetzgeber es nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts möglicherweise bei der durch die Nichtigerklärung entstandenen Rechtslage belassen möchte.

97 Zutreffend Sachs, NVwZ 1982, 657 (660); Stern, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 93 Rn. 282; ähnlich Ipsen, JZ 1983,41 (45). Insoweit auch BendalKlein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1183, die allerdings nicht überzeugend den Verzicht auf die Nichtigerklärung damit rechtfertigen wollen, daß "eine Gesetzeslücke nicht für nichtig erklärt werden kann". Abgesehen davon, daß dieses Argument nur den Fall des konkludenten Begünstigungsausschlusses betrifft, steht auch hinter dieser Fonnulierung in Wahrheit wieder der Blick aus der (prozessualen) Perspektive des rechtsschutzsuchenden Bürgers, der die Begünstigung erstrebt. - Dagegen dem Gedanken der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Begründung voll zustimmend Vlsamer, in: MaunziSchmidt-Bleibtreu/KleinlUlsamer, BVerfGG, § 78 Rn. 12; Maunz, in: MaunzlDürig, GG, Art. 93 Rn. 39 f.; ebenso, aber beschränkt auf die Fälle der Gleichheitsverstöße Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 369, 377. Ohne Differenzierung zwischen der Nichtigerklärung der Gesamt- bzw. Teilregelung Hartmann, DVBI. 1997, 1264 (1269). 98 Zutreffend Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 82 f.; Stern, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 93 Rn. 282. Vgl. auch BVerfGE 13,248 (260 f.): "Sind die Verfassungsbeschwerden nach allem begründet, so kann dies doch nicht zur Nichtigerklärung der Nonnen führen, auf denen die von den Beschwerdeführern angegriffene Nichterhöhung ... beruht, denn damit könnte das Anliegen der Beschwerdeführer nicht erfüllt werden." Dagegen geht Hartmann, DVBI. 1997, 1264 (1269) nicht darauf ein, daß der rechtsschutzsuchenden benachteiligten Gruppe mit der Nichtigerklärung der gleichheitswidrigen begünstigenden Vorschriften nicht gedient wäre.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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(4) Struktureller Vergleich mit verwaltungsprozessualen Bescheidungsurteilen (Ve rpjl.ichtung ssituation)

Aufschlußreich erscheint an dieser Stelle auch ein struktureller Vergleich mit dem Verwaltungsprozeßrecht, wenn der Bürger den Erlaß eines begünstigenden Verwaltungsakts erstrebt, der im Ermessen der Behörde steht. Durch die Einräumung von Ermessen wird der Verwaltung ein "Handlungsspielraum" gewährt. 99 Zwar soll hier keine Gleichsetzung vorgenommen werden 100, jedoch kann gesagt werden, daß dieser "Handlungsspielraum" der Verwaltung beim Erlaß von Ermessensverwaltungsakten strukturell der "Gestaltungsfreiheit" des Gesetzgebers beim Erlaß von Gesetzen ähnelt. Ältere Entscheidungen sprechen daher auch von "gesetzgeberischem Ermessen"lOl. Lehnt die Verwaltung den Erlaß eines begünstigenden Verwaltungsakts ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig ab, so kann der Bürger die Ablehnung erfolgreich angreifen und (grundsätzlich nur) Neubescheidung verlangen (Fall 1). Gewährt ein Gesetz gleichheitssatzwidrig nur der anderen Vergleichsgruppe eine Begünstigung, kann ein Mitglied der benachteiligten Vergleichsgruppe dieses Gesetz ebenfalls erfolgreich angreifen, woraufhin das Bundesverfassungsgericht (grundsätzlich nur) den Gesetzgeber verpflichtet, eine den Anforderungen der Verfassung entsprechende Regelung zu treffen (Fall 2). In beiden Fällen kann die Versagung der Begünstigung von dem Bürger mit Erfolg angegriffen werden, wenn die Ablehnung der Begünstigung durch die Verwaltung einen Ermessensfehler aufweist und damit rechtswidrig ist lO2 (Fall 1) bzw. wenn das Gesetz gleichheitssatzwidrig und damit verfassungswidrig ist (Fall 2). Grundsätzlich hat der Bürger in Fall 1 indes nur einen Anspruch auf Neube scheidung ("ermessensfehlerfreie Entscheidung"), nicht jedoch auf den Erlaß des begehrten Verwaltungsaktes, sofern nicht ausnahmsweise eine Ermessensreduzierung auf Null (oder sonst ein gebundener Verwaltungsakt) vorliegt. Im

V gI. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 6. Zur unterschiedlichen inhaltlichen Qualität des Verwaltungsermessens einerseits und des Verordnungsermessens bzw. der legislativen Gestaltungsfreiheit andererseits, die auch hier nicht in Frage gestellt werden soll, vgI. etwa Ossenbühl, HStR m, § 64 Rn. 34. - Ossenbühl, HStR m, § 66 Rn. 47 sieht indes auch einen strukturellen Unterschied zwischen Verwaltungs- und Satzungsermessen, weil das Verwaltungsermessen nur "Wahlfreiheit der Verwaltung auf der Rechtsfolgenseite der Norm" einräume, während das Satzungsermessen einen "administrativen Gestaltungsauftrag" enthalte. Für den vorliegenden Zusammenhang reicht indes die Erkenntnis, daß in beiden Fällen "Wahlfreiheit" (vgI. Ossenbühl) und damit ein Handlungsspielraum vorliegt, vgI. dazu Ossenbühl, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 10 Rn. 10. 101 VgI. etwa BVerfGE 1,264 (279); 3, 58 (135); 4, 7 (18) m.w.N.; 6, 55 (71); 12,73 99

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(77). I02



VgI. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 17 f.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

letztgenannten Fall, wenn kein Handlungsspielraum mehr besteht, verpflichtet das Verwaltungsgericht die Behörde gern. § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO, der mit § 101 FGO übereinstimmt, zum Erlaß des begehrten begünstigenden Bescheides. 103 Ansonsten wird die Ablehnung des Erlasses des begünstigenden Verwaltungsaktes durch das Verwaltungsgericht aufgehoben lO4 und die Behörde gern. §§ 113 Abs. 5 S. 2 VwGO, § 101 FGO verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Die Gerichte können insoweit nicht abschließend entscheiden, sondern müssen den Entscheidungsspielraum der Behörde respektieren. Dies beruht - ebenso wie die Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht den Anwendungsbereich einer gleichheitswidrig begünstigenden Norm nicht erweitern und damit selbst gestalten darf,105 - auf dem in Art. 20 Abs. 2 GG enthaltenen Prinzip der Gewaltenteilung lO6 (Funktionentrennung l07 bzw. Kompetenzverteilung zwischen Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeie08). Überträgt man die verwaltungsprozessuale Dogmatik zu den Ermessensfehlern der Verwaltung auf die Rechtsfolgen eines Gesetzesverstoßes gegen den Gleichheitssatz, so ergibt sich folgendes: Die Ausdehnung der bisher Dritten gleichheitswidrig gewährten Begünstigung durch das Bundesverfassungsgericht kommt grundsätzlich nicht in Betracht, da das Bundesverfassungsgericht die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu respektieren hat. Dem entspricht die verwaltungsprozessuale Parallele in Fall 1, daß die Verwaltungsbehörde gern. § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO, § 101 FGO grundsätzlich nur zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verpflichtet wird. Eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs der begünstigenden Vorschrift durch das Bundesverfassungsgericht kommt indes in Betracht, wenn ausnahmsweise nur eine Möglichkeit zur Behebung des Gleichheitsverstoßes existiert,I09 also ausnur Gerhardt, in: SchochlSchmidt-AßmannlPietzner, VwGO, § 113 Rn. 71. Auf den Streit, ob diese Aufhebung wegen automatischer Erledigung nach § 43 Abs. 2 VwVfG durch Verptlichtungs- oder Bescheidungsurteil rein deklaratorischer Natur ist (so BVerwGE 51, 15 (23); Gerhardt, in: SchochlSchmidt-AßmannlPietzner, VwGO, § 113 Rn. 64) oder ob sie zwingend durch das Verwaltungsgericht erfolgen muß (vgl. Pietzcker, in: SchochlSchmidt-AßmannlPietzner, VwGO, § 42 Abs. I Rn. 96 m.w.N.), soll hier nicht näher eingegangen werden. 105 V gl. dazu PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 533. 106 Schenke, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 319. 107 V gl. Gerhardt, in: SchochlSchmidt-AßmannlPietzner, VwGO, § 114 Rn. 27. 108 Alexy, JZ 1986, 70 I (706, 715 f.). 109 Das BVerfG hat in neueren Entscheidungen eine solche Verengung auf nur eine Möglichkeit (nämlich die Nichtigerklärung der benachteiligenden Norm) regelmäßig in Vertrauensschutzgesichtspunkten gesehen: Da eine rückwirkende Belastung auch von politischen Parteien mit Körperschaft- und Vermögensteuer aus Vertrauensschutzgründen nicht möglich sei, müsse die Norm, die kommunale Wählervereinigungen von der Steuerfreiheit ausnehme, für nichtig und nicht bloß unvereinbar erklärt, vgl. BVerfGE 99, 69 (82 f.). Nur für die Zukunft habe der Gesetzgeber daher verschiedene Gestal103 S.

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B. Bloße Unvereinbarerklärung

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nahmsweise kein Gestaltungsspielraum mehr für den Gesetzgeber besteht. 11o Als Beispiel könnte hier etwa daran gedacht werden, daß nur bestimmten Bevölkerungsgruppen das Existenzminimum gewährleistet wird, anderen jedoch nicht; gänzlich unzweifelhaft ist indes auch dieser Fall nicht, da dem Gesetzgeber auch hier in gewissen Grenzen lll die Möglichkeit der Typisierung offensteht l12 und die Übertragung der bisherigen Existenzminimum-Sätze in derselben Höhe auf die bisher nicht berücksichtigte Vergleichsgruppe nicht zwingend erscheint. Unter rein gesetzestechnischen Gesichtspunkten ist die Ausdehnung der Begünstigung im Falle des ausdrücklichen Begünstigungsausschlusses unproblematisch möglich. Hier läßt die Gesetzestechnik die Nichtigerklärung der Ausnahmevorschrift zu mit der Folge, daß auch die bisher ausdrücklich ausgeschlossene Vergleichsgruppe in den Genuß der Begünstigung kommt. Wichtiger erscheint indes der praktisch erheblich bedeutsamere Fall, in dem die Verfassung mehrere Möglichkeiten zur Behebung des Gleichheitsverstoßes zuläßt und vom Bundesverfassungsgericht somit die Beachtung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit gefordert wird. Zieht man hier die Parallele zur verwaltungsprozessualen Verfahrensweise beim Erlaß eines Bescheidungsurteils, so wäre zunächst die Ablehnung der Begünstigung - also die Regelung des

tungsmöglichkeiten. In der Sache ebenso BVerfGE 99, 88 (99 f.) zum Verbot der Verrechnung von Verlusten aus der Vermietung beweglicher Gegenstände. - Dagegen besteht ein Widerspruch zu neueren Entscheidungen, die bevorzugende Regelungen zum Gegenstand hatten: So führt BVerfGE 99, 280 (299) aus, daß das verfassungswidrige Steuerprivileg (Steuerfreiheit der Stellenzulage Ost) aus Vertrauensschutzgründen für die Vergangenheit zugunsten der Bevorzugten weiter anwendbar bleiben müsse. Die Folgerung, daß Gleichheit dann für die Vergangenheit nur dadurch hergestellt werden könne, daß insoweit auch die Benachteiligten in die Steuerfreiheit einzubeziehen sind, wird indes hier nicht gezogen. Insofern nimmt BVerfGE 99, 280 (299 f.) für die Vergangenheit den Verfassungsverstoß uneingeschränkt hin. 110 Das Bundesverfassungsgericht stellt dem den Fall gleich, wenn "mit Sicherheit anzunehmen ist, daß der Gesetzgeber bei Beachtung des allgemeinen Gleichheitssatzes die nach der Nichtigerklärung verbleibende Regelung wählen würde, vgl. BVerfGE 88, 87 (101) m.w.N. Diese These ist nicht unproblematisch, da das Bundesverfassungsgericht in solchen Fällen den hypothetischen Willen des Gesetzgebers ermittelt und somit selbst gestaltend tätig wird. Im BVerfGE 88, 87 zugrundeliegenden Fall war eine Nichtigerklärung jedoch nach hier vertretener Ansicht (dazu unten § 3 B I I b, d) zulässig, da es sich um eine gleichheitswidrige belastende Regelung handelte, vgl. auch die Ausführungen BVerfGE 88, 87 (97) zu den Auswirkungen der Regelung auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. I i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Bei gleichheitswidrigen belastenden Regelungen kann dem Rechtsschutzziel der Betroffenen jedoch regelmäßig durch Kassation der verfassungswidrigen Regelung Rechnung getragen werden. Da insoweit auch die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers beachtet wird, steht einer Nichtigerklärung insoweit nichts entgegen, es sei denn, es stellt sich das allgemeine Problem, daß eine Fortgeltung der Norm von Verfassungs wegen gefordert ist. 111 Zu den Voraussetzungen zulässiger Typisierung BirkiBarth. in: Hübschmannl Hepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 492 ff. m.w.N. I12 Vgl. dazu etwa BVerfGE 87, 153 (172).

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

Staates, daß der betreffende Bürger nicht begünstigt wird, - aufzuheben. Übertragen auf Fall 2 bedeutet dies, daß der Regelungskomplex, auf dem die Nichtbegünstigung beruht, für nichtig zu erklären wäre. Denn die Ablehnung der Begünstigung ist - ungeachtet der Frage, ob tatsächlich später eine Einbeziehung in diese für den bisher nicht berücksichtigten Personenkreis erfolgen kann, verfassungswidrig (rechtswidrig). Der Besonderheit, daß im Falle des Verwaltungsprozesses in der Regel nur zwei Beteiligte vorhanden sind (klagender Bürger und Behörde; evtl. Beigeladene) und die Ablehnung der erstrebten Begünstigung eine Einzelfallregelung (und Verwaltungsakt 1l3 ) darstellt, während bei Gleichheitsverstößen eines Gesetzes aufgrund dessen abstrakt-generellen Charakters auch die bisher Begünstigten von einer Nichtigerklärung des Gesetzes betroffen wären, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Denn diese Regelung ist in der bestehenden Fassung verfassungswidrig; bei gleichheitswidrigen Gesetzen folgt die Rechtswidrigkeit zwangsläufig aus der Drittbegünstigung. Soweit infolge einer Nichtigerklärung der Gesamtregelung auch den bisher Begünstigten - jedenfalls bis zu einer Entscheidung durch den Gesetzgeber - ihre Privilegien genommen würden, besteht im Ergebnis auch kein Unterschied zu der Rechtslage, wie sie unter der Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre besteht. Auch hier kommen die Begünstigten nach der verfassungsgerichtlichen Entscheidung nicht mehr in den Genuß der Begünstigung. I 14 Allerdings "hebt" das Bundesverfassungsgericht bekanntlich das gleichheitssatzwidrige drittbegünstigende Gesetz nicht "auf', sondern beschränkt sich auf die Unvereinbarerklärung; dies folgt wie gezeigt aus Rechtsschutzgesichtspunkten, damit Behörden und Gerichte die betroffenen Verfahren bis zu einer Neuregelung weiter aussetzen. Dadurch wird der Gesetzgeber verpflichtet, überhaupt tätig zu werden, während er nach einer Nichtigerklärung des Gesetzes es bei dem Rechtszustand belassen könnte und somit nicht klar wäre, ob der Gesetzgeber überhaupt handeln möchte. Dann könnte indes auch die weitere Frage nicht sicher beantwortet werden, bis zu welchem Termin die Verfahren ausgesetzt bleiben müßten. Im übrigen verlaufen die Stränge aber wieder parallel: So entspricht der verwaltungsprozessualen Verpflichtung der Behörde zur Neubescheidung nach § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO, § 101 FGO die Verpflichtung des Gesetzgebers zur Beseitigung von Gleichheitsverstößen. Hat der Gesetzgeber die Begünstigung der bisher nicht berücksichtigten Vergleichsgruppe (ausdrücklich oder konkludent) "abgelehnt", so werden infolge der regelmäßig mit der verfassungsgerichtlichen Unvereinbarerklärung verknüpften ,,Normanwendungssperre" alle behördlichen und gerichtlichen Verfahren (weiter) ausgesetzt, bis der Gesetzge-

113Vgl. nur Kopp, YwVfG, § 35 Rn. 4 m.w.N. 114Ygl. dazu § 3 B 11 a dd (3).

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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ber gesprochen hat. 115 Während im Verwaltungsprozeßrecht die Verpflichtung zur Neubescheidung dem Kläger die Chance auf einen günstigeren Bescheid gewährt, folgt diese bei der verfassungsgerichtlichen Unvereinbarerklärung aus der Verpflichtung des Gesetzgebers zum Tätigwerden, der eine den Anforderungen der Verfassung entsprechende (insbesondere dem Gleichheitssatz gerecht werdende) Regelung zu treffen hat." 6 Sowohl in Fall 1 als auch in Fall 2 ist es demnach denkbar, daß der Bürger auch nach erneuter Bescheidung bzw. Neuregelung durch den Gesetzgeber nicht begünstigt wird, sofern dies rechtsfehlerfrei erfolgt.

(5) Zusammenfassung der Ergebnisse

Als wesentliche Erkenntnisse sind an dieser Stelle festzuhalten: (a) Die Kreation der Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre verdankt ihre Existenz einzig der Rechtsschutzperspektive des benachteiligten Personenkreises. Diesem wäre mit der Nichtigerklärung der Nichtigerklärung der gesamten Regelungsmaterie, auf der die Ungleichbehandlung beruht, nicht gedient. In diesem Falle würden sowohl die Ausschlußnorm als auch die drittbegünstigende Norm wegfallen. Eine (Teil-)Nichtigerklärung der Ausnahmevorschrift, die den Rechtsschutzzielen der bisher nicht begünstigten Vergleichsgruppe entsprechen würde und die gesetzestechnisch beim ausdrücklichen Begünstigungsausschluß möglich wäre, scheitert indes an dem Prinzip der Gewaltenteilung, weil das Bundesverfassungsgericht dann in den Zuständigkeitsbereich des Gesetzgebers übergreifen würde. (b) Ebenso wie im Verwaltungsprozeßrecht zwischen Anfechtungs- und Verpflichtungssituationen zu unterscheiden ist, ist auch bei gleichheitswidrigen Gesetzen zu differenzieren: Bei einem drittbegünstigenden Gesetz, in dessen Anwendungsbereich ein Mitglied der bisher nicht begünstigten Personengruppe einbezogen werden möchte, stellt die Unvereinbarerklärung ein Mittel dar, dem regelmäßigen Rechtsschutzziel der bisher nicht berücksichtigten Personengruppe Rechnung zu tragen, zumindest die Chance auf Einbeziehung in die Begünstigung zu erhalten. Dagegen genügt in den Anfechtungskonstellationen die schlichte Abwehr der eigenen gleichheitswidrigen Belastung; der von den Grundregeln der §§ 78 S. I, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 BVerfGG abweichenden Unvereinbarerklärung mit An115

St. Rspr., vgl. nur zuletzt BVerfGE 93,386 (403). Rspr., vgl. zuletzt BVerfGE 93,386 (403).

116 St.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Yerfassungswidrigkeit des Gesetzes

wendungssperre bedarf es in diesen Fällen jedenfalls nicht."? Eine Nichtigerklärung kann höchstens aus Gründen, die eine vorübergehende Weiteranwendbarkeit der verfassungswidrigen Norm fordern, ausgeschlossen sein; in diesen Fällen erfolgt dann eine Unvereinbarerklärung ohne Anwendungssperre. Liegt ein Eingriff in ein Freiheitsrecht vor, so ist dieser auch dann rechtswidrig, wenn der Eingriff gleichheitssatzwidrig unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG erfolgt. 1l8 Auch bei Verstößen gegen den Gleichheitssatz geht es dann primär um Abwehr von Eingriffen, so daß die Nichtigerklärung die adäquate Rechtsfolge darstellt, da sie sowohl den Rechtsschutzzielen des "benachteiligten" Bürgers genügt als auch die vom Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) verbürgte Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers beachtet. Prozessual bedeutet dies, daß nach Nichtigerklärung des Gesetzes der Klage des Bürgers im Ausgangsverfahren bzw. der Verfassungsbeschwerde stattzugeben ist. Ob die Behörde später einen neuen, auf ein neues Gesetz gestützten Verwaltungsakt erlassen darf, richtet sich dann u.a. danach, ob ein neues rückwirkendes Gesetz erlassen werden darf. I 19 (c) Es bedarf noch der Untersuchung, in welchen Fällen von einer ,,Begünstigung" bzw. einem "Begünstigungsausschluß" gesprochen werden kann und in welchen Fällen eine ,,Belastung" vorliegt. Insbesondere fragt sich, ob es im Eingriffsrecht überhaupt "Begünstigungsausschlüsse" gibt. Diese Fragen sind für die Unterscheidung von Anfechtungs- und Verpflichtungssituationen bedeutsam. Festzuhalten ist schon hier, daß die Begriffe der ungleichen ,,Begünstigung" bzw. "Belastung" von den Begriffen "Bevorzugung" bzw. "Benachteiligung", die nur Aussagen über den Vergleich innerhalb der Relation treffen (Besser- oder SchlechtersteIlung im Verhältnis zur anderen Vergleichsgruppe), zu unterscheiden sind.

dd) Interdependenzen zwischen Rechtsfolgen und Rechtsschutzziel beim konkludenten gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluß Im folgenden werden Besonderheiten des konkludenten Begünstigungsausschlusses gegenüber dem ausdrücklichen Begünstigungsausschluß behandelt.

117 Zur Auseinandersetzung mit abweichenden Auffassungen im einzelnen und mit näherer Betrachtung abweichender Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts noch unten § 3 B I I b cc, § 4 B II 3. 118 Y gl. dazu näher unten § 3 B lid bb. 119Ygl. dazu etwa Degenhart. Staatsrecht I, Rn. 308 ff. m.w.N.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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(1) Das Argument der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers - Rechtsfolgen, Rechtsschutzziel, Gesetzestechnik

Daß dem Verzicht auf die Nichtigerklärung in den Fällen des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses in Wahrheit nicht die Rücksicht auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zugrunde liegt, zeigt sich noch deutlicher am Beispiel des konkludenten Begünstigungsausschlusses: Da die nicht begünstigte Personengruppe überhaupt nicht erwähnt wird, kann sie schon gesetzestechnisch durch Nichtigerklärung nicht in die Begünstigung einbezogen werden. Nur insoweit überzeugt auch das Argument, daß eine "Gesetzeslücke" oder ein "Unterlassen des Gesetzgebers" bzw. "Teilunterlassen" nicht für nichtig erklärt werden kann. 120 Während beim ausdrücklichen Begünstigungsausschluß die Einbeziehung der Benachteiligten in die Begünstigung unmittelbar durch verfassungsgerichtliche Nichtigerklärung der Ausschlußnorm zwar wie dargelegt gesetzestechnisch möglich wäre und auch dem Rechtsschutzziel der Benachteiligten voll gerecht würde, jedoch regelmäßig am Aspekt der Beachtung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht scheitert, kommt beim konkludenten Begünstigungsausschluß eine Ausdehnung der Begünstigung durch (Teil-)Nichtigerklärung schon aus gesetzestechnischen Gründen nicht in Betracht. Danach könnte Gegenstand einer Nichtigerklärung beim konkludenten Begünstigungsausschluß gesetzestechnisch einzig die Gesamtregelung sein. Das ist beim konkludenten Begünstigungsausschluß die drittbegünstigende Norm. Dies würde jedoch dem regelmäßigen Rechtsschutzziel der Benachteiligten nicht gerecht, ebenfalls zumindest die Chance auf eine Verbesserung der eigenen Rechtslage zu erhalten. Hieran wird deutlich, daß der Verzicht auf die Nichtigerklärung in diesen Fallkonstellationen nicht mit der Rücksicht auf die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit zu erklären ist, sondern auf der Nichterreichbarkeit des Rechtsschutzzieles durch eine Nichtigerklärung beruht. Das Dilemma besteht darin, daß die Rechtslage verfassungswidrig ist und der Beschwerdeführer bzw. Kläger des Ausgangsverfahrens durch den konkludenten Begünstigungsausschluß - die drittbegünstigende Regelung - auch ungleich behandelt wird, indes die gern. §§ 78 S. 1,82 Abs. 1,95 Abs. 3 BVerfGG grundsätzlich vorgesehene Rechtsfolge der Nichtigkeit nicht zu dem regelmäßig erstrebten Erfolg (Einbeziehung in die Begünstigung bzw. die Chance auf diese) verhilft.

120 yg l.

Benda/Klein, Lehrbuch des Yerfassungsprozeßrechts, Rn. 1183.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

Als wichtige Erkenntnis ist schon hier 121 festzuhalten, daß die vom Bundesverfassungsgericht zunächst ohne gesetzliche Grundlage entwickelte und nunmehr gesetzlich anerkannte Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung unter Verzicht auf die Nichtigerklärung, soweit sie mit der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Behebung von Gleichheitsverstößen begründet wurde, der Erweiterung der Rechtsschutzmöglichkeiten des Bürgers diente, wenn dieser über die bloße Beseitigung der Ungleichbehandlung hinausgehende Rechtsschutzziele verfolgt. Gesetze sollten in erweitertem Umfang zur Überprüfung insbesondere am Maßstab der Gleichheitssätze gestellt werden können, ohne daß der Gesetzestechnik - also etwa die Frage, ob ein ausdrücklicher oder konkludenter Begünstigungsausschluß vorliegt - Bedeutung zukommen sollte. 122 Somit kann der Verzicht auf die Nichtigerklärung der Gesamtregelung nicht zur Einschränkung der Rechtsschutzmöglichkeiten des Bürgers führen, wie sie das Bundesverfassungsgericht indes teilweise annimmt. 123 Ob der Gleichheitssatz auch ein subjektives Recht auf bloße Beseitigung einer Ungleichbehandlung (also in letzter Konsequenz auch etwa ein Recht auf Anfechtung einer eigenen Begünstigung) gewährt, ist somit keine Frage der im Falle der Verfassungswidrigkeit der Normenkombination bzw. Norm auszusprechenden Rechtsfolgen, sondern eine Frage einzig nach den Schutzrichtungen des Gleichheitssatzes. 124

(2) Differenzierung zwischen gesetzgeberischem Tun und Unterlassen?

Ersichtlich von dem Bemühen getragen, den bisher Begünstigten ihre bisher erhaltenen Vorteile bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber zu belassen,125 finden sich in der Literatur Ansätze zu einer Differenzierung zwischen den einzelnen Komponenten, auf denen die Ungleichbehandlung beruht: So wird die Begünstigung der bisher bevorzugten Personengruppe, die auf Gesetz, also einem "Tun" des Gesetzgebers, beruht, als verfassungsmäßig eingestuft, während die (ausdrückliche oder konkludente) Nichtberücksichtigung der ande121 Ausführlich zur geänderten Auslegung des Merkmals der "EntscheidungserhebIichkeit" nach Art. 100 Abs. 1 GG im Bereich der gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlüsse noch unten § 4 B H 2 bei der Erörterung der prozessualen Fragen. 122 V gl. insoweit gegen die Erheblichkeit gesetzestechnischer Aspekte allgemein auch Dürig, in: MaunzIDürig, Art. 3 Abs. 1 Rn. 356. - Es gibt indes Fälle. in denen die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und Teilen der Literatur (auch Dürigs) von der Gesetzestechnik abhängen würde. Zur Kritik daran siehe unten § 3 B I 1 c bb (3). 123 Dazu noch unten § 4 B H 2, C H. 124 ZU diesen unten §§ 4, 5. 125 Vgl. etwa Dürig. in: MaunzIDürig, 00. Art. 3 Abs. I Rn. 365; PierothiSchlink. Grundrechte. Rn. 541; Pohle. Verfassungswidrigerklärung. S. 129 f.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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ren Personengruppe als ,,(Teil-)Unterlassen" des Gesetzgebers 126 qualifiziert wird; lediglich dieses "Unterlassen" des Gesetzgebers sei verfassungswidrig. 127 Diese Sichtweise verfehlt indes grundsätzlich die Ergebnisoffenheit des Gleichheitssatzes. Sowohl die Begünstigung beider Vergleichsgruppen als auch die Begünstigung keiner der beiden Vergleichsgruppen als auch eine andere dritte Lösung seitens des Gesetzgebers würde den Anforderungen des Gleichheitssatzes gerecht. Dann kann aber nicht davon gesprochen werden, daß die Begünstigung der bisher berücksichtigten Vergleichs gruppe verfassungsmäßig sei und die Nichtberücksichtigung der bisher ausgeschlossenen Vergleichsgruppe verfassungswidrig. Unzutreffend erscheint es daher auch, Normen, die einen konkludenten Begünstigungsausschluß enthalten, als "verfassungsrechtlich unvollständige Norm" zu bezeichnen. 128 Ebenso könnte man sagen, die Begünstigung der besser gestellten Vergleichs gruppe sei verfassungswidrig, und die Nichteinbeziehung der bisher eingeschlossenen Vergleichsgruppe sei verfassungsmäßig. 129 Auch eine solche Einordnung würde Gleichheit herstellen, indem die Begünstigung abgeschafft und niemandem mehr gewährt würde. Warum die letztgenannte Differenzierung nicht vorgenommen wird, liegt auf der Hand: Sie würde dem Rechtsschutzziel der bisher nicht begünstigten Ver-

126 So etwa Dürig, in: MaunzlDürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 354, 356, 364; Gubelt, in: von MünchlKunig, GG, Bd. 1, Art. 3 Rn. 10 (allerdings wohl einschränkend ders., Rn. 10 a.E.); Starck, in: v. MangoldtlKlein, GG, Bd. 1, Art. 3 Abs. 1 Rn. 168 ff.; Stein, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Rn. 57; Schneider, AöR 89 (1964), 24 (39 ff.); ähnlich BendalKlein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1183: Normen, die einen konkludenten Begünstigungsausschluß enthalten, zeichneten sich durch "Unvollständigkeit der Norm" aus; vgl. auch PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 534. Auch BVerwGE 102, 113 (118) spricht im Falle eines konkludenten Begünstigungsausschlusses durch eine Verordnungsbestimmung von einem "Unterlassen des Verordnungsgebers". 127 So etwa Rupp-von Brünneck, Festschrift für G. Müller, S. 355 (367); deutlich auch Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 130: "Daraus folgt, daß auch bei einem Gleichheitsverstoß die gesetzlich geregelte Begünstigung nach der Verfassungswidrigerklärung bestehen bleibt, wenn sie selbst nicht verfassungswidrig ist mit der Folge, daß das Gesetz in de Interimszeit mit seinem positiven Inhalt weiterhin angewendet werden muß." (Hervorhebung nur hier zur Verdeutlichung der dort vorgenommenen Differenzierung zwischen "verfassungsmäßigem Tun" (Begünstigung Dritter) und "verfassungswidrigem Unterlassen" (Nichtbegünstigung der Vergleichsgruppe». Vgl. ferner BVerfGE 8, I (Leitsatz 3 und S. 19 f.); Jülicher, Die Verfassungsbeschwerde gegen Urteile bei gesetzgeberischem Unterlassen, S. 65 f.; Stern, in: Bonner Kommentar zum 00, Art. 93 Rn. 286 für den Fall einer nur teilweisen Erfüllung eines Verfassungsauftrages, wozu auch der Fall eines unvollkommenen, da "zu wenig" gewährenden Besoldungsgesetzes gezählt wird. - Differenzierend Dürig, in: MaunzlDürig, 00, Art. 3 Abs. 1 Rn. 364, wonach nur das "Unterlassen" (der Begünstigung) vom Betroffenen angegriffen werden könne, aber das Verhalten des Gesetzgebers als Ganzes (positives Tun und Unterlassen) verfassungswidrig sei. - Hervorhebung im Original. 128 So aber BendalKlein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1183. 129 Rüfner, in: Bonner Kommentar zum 00, Art. 3 Rn. 128.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

gleichsgruppe nicht genügen, die regelmäßig die Einbeziehung in die Begünstigung oder zumindest die Chance darauf erstreben wird. Außerdem entspricht sie einem traditionellen, aber zunehmend umstrittenen 130 Verständnis des Gleichheitssatzes, daß mit seiner Hilfe der rechtliche Standard nicht "nach unten", sondern nur "nach oben gepegelt" werden dürfe l3l , also der Gleichheitssatz nur zu einer Verbesserung der eigenen Rechtsstellung eingesetzt werden dürfe, jedoch nicht dazu dienen dürfe, lediglich die Rechtsstellung anderer zu verschlechtern. Plakativ wurde dies damit ausgedrückt, daß Art. 3 Abs. 1 GG keine ,,Popularklage des Neides" ermögliche. 132 Diese Bezeichnung ist in doppelter Hinsicht falsch: Erstens handelt es sich nicht um eine Popularklage, wenn jemand zu einer Vergleichsgruppe gehört, da er dann möglicherweise - ob tatsächlich, bleibt der Begründetheitsprüfung vorbehalten - in seinem Recht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt wird. Zweitens: Wenn man das Bestreben des bisher nicht Begünstigten, Privilegien Dritter beseitigen zu wollen, ohne daß dieser eine Chance auf Einbeziehung hat, moralisch mit der Vokabel ,,Neid" abqualifiziert, ließen sich ebensogut die Konstellationen, in denen diese Chance auf Einbeziehung in die Begünstigung besteht und die allgemein als von der Schutzrichtung des Gleichheitssatzes gedeckt angesehen werden, mit der Kennzeichnung "Habsucht" versehen. 133 Das eine Anliegen ist nicht weniger berechtigt als das andere, da in beiden Fällen eine möglicherweise nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung vorliegt. Schließlich wird aus der angeblichen "Gesamtrichtung des Gleichheitssatzes nach oben", der keine Handhabe zum "Hinunterpegeln" des besseren Standards (der begünstigten Vergleichsgruppe) biete, gefolgert, daß diese "im Prinzip" verbiete, die der begünstigten Personengruppe "bereits gesetzlich gewährten Begünstigungen in den Verfassungsstreit überhaupt einzubeziehen oder sie im Entscheidungstenor durch Nichtigerklärung des gesamten Gesetzes wieder ganz zur Disposition eines neuen Gesetzes zu stellen.,,134 Mit einer derartigen Argumentation wird das allgemein anerkannte Prinzip der Beachtung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit durch die Gerichte l35 völlig in sein Gegenteil ver130 V gl. zur Kritik hier nur Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (325 ff.). - Näher zur Frage, ob der Gleichheitssatz auch die Gleichstellung durch Angriff der Drittbevorzugung ermöglicht, noch unten § 5 C 11. 13\ So Dürig, in: MaunzlDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 365. \32 So Dürig, in: MaunzlDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 468 a.E. \33 Zutreffend Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (326). \34 So Dürig, in: MaunzlDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 365. \35 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß mit den oben gemachten Ausführungen nicht die Beachtung der "gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit" durch das Bundesverfassungsgericht in Frage gestellt, sondern nur nachgewiesen werden sollte, daß dieser Gesichtspunkt nicht den Verzicht auf die Nichtigerklärung der Gesamtregelung zu begründen vermag. Diese erklärt sich nur aus dem regelmäßigen Rechtsschutzziel des Bürgers, der sich in der Regel nicht (negativ) mit der Abwehr der Ung\eichbehandlung

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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kehrt. Auf die Nichtigerklärung des gesamten Regelungskomplexes, auf dem die Ungleichbehandlung der beiden Vergleichsgruppen beruht, soll verzichtet werden, damit die Begünstigung der einen Vergleichsgruppe nicht wieder ganz zur Disposition eines neuen Gesetzes gestellt wird. 136 Daß mit dem Verzicht auf die Nichtigerklärung und der Beschränkung auf eine bloße Unvereinbarerklärung die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit stärker eingeschränkt wird als durch eine Nichtigerklärung der Gesamrregelung, auf der die Ungleichbehandlung der bei den Vergleichsgruppen beruht, wird auch an anderer Stelle der Argumentation deutlich: ,,Auch wenn das Bundesverfassungsgericht die ganze Norm für nichtig erklären würde ... , müßten höchstwahrscheinlich, um Art. 3 Abs. 1 GG materiell nicht zu verfehlen, die früher Begünstigten vom neuen Gesetz in derselben Weise begünstigt und nur dann auch die früher gleichheitswidrig Ausgeschlossenen in die neue begünstigende Regelung mit einbezogen werden.,,137 Hier wird also aus der angeblichen "Gesamtrichtung des Gleichheitssatzes nach oben,,138, aus der weitere Konsequenzen auch für den prozessualen Fragen im Bereich der Durchsetzung des Gleichheitssatzes 139 abgeleitet werden, gefolgert, daß der Gesetzgeber, um den materiellen Gehalt des Gleichheitssatzes nicht zu verfehlen, "höchstwahrscheinlich" die Begünstigung auf die bisher nicht berücksichtigte Personengruppe erstrecken müsse. Dies verträgt sich indes weder mit der oben geschilderten Ergebnisoffenheit des Gleichheitssatzes noch mit der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, die es im System der Gewaltenteilung nach dem Grundgesetz zu beachten gilt. Danach ist die Rechtsprechung auf eine bloße Rechtskontrolle beschränkt, darf aber nicht selbst gestaltend tätig werden. 140 Außerdem ist gegen die soeben dargestellte Sichtweise einzuwenden, daß das "höchstwahrscheinlich" sich juristisch nicht einordnen läßt. Entweder der Gesetzgeber ist zur Angleichung durch Ausdehnung der Begünstigung "sicher" verpflichtet, dann kann das Bundesverfassungsgericht selbst gestalterisch tätig werden und - wenn (wie beim ausdrücklichen Begünstigungsausschluß) gesetzestechnisch möglich - die Begünstigung durch Teilnichtigerklärung lediglich der Ausschlußnorm die Begünstigung auf die bisher nicht begünstigte

als solcher begnügen will, sondern (positiv) die "Teilhabe" an der bisher gewährten Begünstigung erstrebt. - Alexy. Theorie der Grundrechte, S. 390 ff., bezeichnet die Rechte gegen den Staat auf Unterlassung bestimmter Ungleichbehandlungen als abstrakte definitive Gleichheitsrechte und die auf weitergehende Ziele gerichtete Rechte als konkrete definitive Gleichheitsrechte; letztere bestehen nur potentiell. 136 Explizit DüriR. in: MaunzfDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 365. 137 So DüriR. in: MaunzfDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 365. 138 In diesem Sinne vehement DüriR. in: MaunzfDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 20. 36, 107,110,171,172,173,365. 139 Dazu ausführlich noch unten § 4 A I, C 11, § 5 C 11. I40 Vgl. Nachweise oben § 3 B I I a cc.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

Vergleichsgruppe erstrecken l41 , oder der Gesetzgeber hat im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit eine verfassungsrechtlich einwandfreie, Verstöße gegen den Gleichheitssatz vermeidende Regelung zu treffen, kann dann aber auch, sofern nicht aus anderen Verfassungsbestimmungen - etwa Art. 33 Abs. 5 GG - eine Leistungspflicht folgt, die Begünstigung komplett streichen, so daß also keine der bei den Gruppen mehr begünstigt wird. Insoweit ist ein "Hinunterpegeln" des Standards der bisher besser gestellten Vergleichsgruppe durchaus möglich. Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden sich indes Beispiele, in denen das Bundesverfassungsgericht nach einer Unvereinbarerklärung von einer Ausdehnung der Begünstigung durch den Gesetzgeber ausging, dies jedoch nicht geschah, woraufhin es dann selbst gestaltend tätig wurde. 142 Diese Vorstellungen entsprechen dem Verständnis des Gleichheitssatzes durch Dürig, so daß ihnen dieselben Einwände entgegenzusetzen sind. Im Ergebnis ist somit festzuhalten, daß im Falle des konkludenten Begünstigungsausschlusses nicht von einem verfassungswidrigen "Unterlassen" der Begünstigung der bisher nicht berücksichtigten Vergleichsgruppe gesprochen werden sollte. 143 Eine solche Sichtweise würde sich allein an gesetzestechnischen Aspekten orientieren (der Nichtregelung der Begünstigung der konkludent Ausgeschlossenen) und damit eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung der Fälle des konkludenten Begünstigungsausschlusses gegenüber denjenigen des ausdrücklichen Begünstigungsausschlusses bewirken. Ferner würde sie die Ergebnisoffenheit des Gleichheitssatzes verfehlen. Schließlich sei ergänzend darauf hingewiesen, daß sie sich auch nicht mit den aus anderen Rechtsgebieten bekannten Kriterien zur Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen in Einklang bringen ließe. So ist etwa im Bereich des Strafrechts weitgehend anerkannt, daß sich die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen danach richtet, bei welcher Verhaltensform der Schwerpunkt (der Vorwerfbarkeit) liegt. l44 Auch wenn es 141 Die Möglichkeit, daß das Bundesverfassungsgericht in den genannten Fällen auf diese Art und Weise vorgehen darf, wenn auch dem Gesetzgeber keine andere Wahl bliebe oder wenn feststeht, daß der Gesetzgeber mit Sicherheit die nach Nichtigerklärung verbleibende Regelung treffen würde, ist zumindest für die erste Alternative allgemein und für die zweite Alternative (die indes wegen des Zurückgehens auf den hypothetischen Willen des Gesetzgebers problematischer als der erste Fall ist) weitgehend anerkannt, vgl. nur Jarass/Pieroth, 00, Art. 3 Rn. 30a. 142 Vgl. BVerfGE 55, 100 ff. als Folgeentscheidung zu BVerfGE 39, 116 (332 f.). Kritisch zu den Rechtsfolgenaussprüchen dieser Entscheidungen lpsen, JZ 1983, 41 (42), der von einer "wechselseitigen Erwartungsenttäuschung" zwischen Gesetzgebungsorganen und Bundesverfassungsgericht spricht. 143 So auch Hein, Unvereinbarerklärung, S. 56 ff., 62 f. - Erichsen, Jura 1991, 585 (587) spricht bei Nichteinbeziehung einer Personengruppe in eine begünstigende Regelung von einem "unechten Unterlassen" und sieht in der getroffenen positiven Regelung die Grundrechtswidrigkeit (Gleichheitsverstoß). 144 Siehe nur BGHSt 6, 46 (59); Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, vor § 13 Rn. 158; Wesseis, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Rn. 700, jeweils m.w.N.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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bei der Überprüfung von Staatshandeln auf Rechtmäßigkeit anders als im Strafrecht naturgemäß nicht um "Vorwerfbarkeit" geht, so spricht nichts gegen die Heranziehung der strafrechtlichen Abgrenzungskriterien, da insoweit keine Besonderheiten aus dem unterschiedlichen Charakter der bei den Rechtsgebiete bestehen. Ermittelt man dementsprechend den Schwerpunkt der maßgeblichen Verhaltensform, so beruht die Beanstandung der Rechtslage allein auf dem Tätigwerden des Gesetzgebers; damit läge der Schwerpunkt des Verhaltens auf dem Tun, so daß nach diesen Abgrenzungskriterien jedenfalls das Tun des Gesetzgebers - nämlich die gleichheitswidrige Begünstigung - der maßgebliche Anknüpfungspunkt wäre. Denn erst aufgrund der gleichheitswidrigen Regelung ist ein verfassungswidriger Rechtszustand entstanden. 145 Daher kann aber keinesfalls zwischen einem verfassungsmäßigen Tun und einem verfassungswidrigen Unterlassen differenziert werden, vielmehr ist auch und gerade das Tun des Gesetzgebers selbst verfassungswidrig. 146 Bei dem vermeintlichen Unterlassen des Gesetzgebers handelt es sich nur um einen Reflex der getroffenen Regelung l47 (des "Tuns" des Gesetzgebers).

(3) Auswirkungen der Unvereinbarerklärung auf die bisher Begünstigten

(a) Anwendungssperre auch für die bisher Begünstigten Diese Sichtweise muß auch Folgen für die Behandlung der bisher Begünstigten haben. Teils wird in der Literatur die Auffassung vertreten, daß die Begünstigung durch eine Norm auch nach Unvereinbarerklärung dieser Norm den bisher gleichheitswidrig Begünstigten weiter zufließen müsse, bis der Gesetzgeber eine Neuregelung getroffen habe. 148 Die Unvereinbarerklärung führt danach also nicht zu einer Anwendungssperre. 149 Demgegenüber geht die überwiegende Meinung mit Recht davon aus, daß nach der Unvereinbarerklärung die verfassungswidrige Norm - auch und gerade auf die bisher begünstigte Gruppe nicht mehr angewendet darf, sofern das Bundesverfassungsgericht nicht ausnahmsweise im Interesse überwiegender verfassungsrechtlicher Gründe die

Vgl. auch Maurer, in: Festschrift für Weber, S. 345 (352 f.). So auch Maurer, in: Festschrift für Weber, S. 345 (353). 147 Ebenso Erichsen, Jura 1991, 585 (587). 148 So etwa PierothlSchlink, Grundrechte, Rn. 541; Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 129 f.; auch Dürig, in: MaunzlDürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 365, der sich allgemein dagegen wendet, die "einem Teil von Personen bereits gewährten Begünstigungen in den Verfassungsstreit überhaupt einzubeziehen." 149 Vgl. PierothlSchlink, Grundrechte, Rn. 541; Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 116 ff., 176 f. 145

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

Fortgeltung der Normiso anordnet. 151 Die Anwendungssperre führt dazu, daß auch die Verfahren der bisher Begünstigten bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber auszusetzen sind. Damit tritt vorläufig ein Schwebezustand ein, der die Berücksichtigung der späteren gesetzlichen Neuregelung erlaubt. Eine vorbehaltlose Weitergewährung der Begünstigung gemäß dem gleichheitswidrigen Gesetz, nachdem das Bundesverfassungsgericht als die zuständige Instanz dessen Verfassungswidrigkeit festgestellt hat, würde hingegen zu einer Vertiefung des Verfassungsverstoßes führen. 152 Was die Gewährung der Begünstigung für die Vergangenheit angeht, so ist zu prüfen, ob auf der Ebene des Gesetzesvollzuges Vertrauensschutzvorschriften eingreifen 153 (etwa §§ 48 VwVfG, 176 AO).

(b) Weitergewährung der gleichheitswidrigen Begünstigung wegen sonst nicht erklärbarer Identität der Rechtsfolgen von Nichtig- und Unvereinbarerklärung? Die Mindermeinung will die Weitergewährung der Begünstigung an die bisher Bevorzugten hingegen mit folgender Argumentation begründen: Würde eine ungleiche Begünstigung als nichtig kassiert, dann dürfte kein Bürger mehr in ihren Genuß kommen. Werde lediglich die Verfassungswidrigkeit festgestellt, soweit sie eine Gruppe von der Begünstigung ausschließe, so könne der anderen die Begünstigung weitergewährt werden. Denn das Ergebnis, daß auch der anderen (der bisher begünstigten) Gruppe die Begünstigung nicht mehr gewährt werde, könnte ohne weiteres durch Ausspruch der Nichtigkeit anstelle der Feststellung der Verfassungswidrigkeit erreicht werden. 154 Diese Auffassung ist also dahin zuzuspitzen, daß die angebliche Identität der Rechtsfalgen von Nichtigund Unvereinbarerklärung im Falle einer Anwendungssperre auch bezüglich der bisher Begünstigten für eine Weitergewährung der gleichheitswidrigen Begünstigung spreche, bis der Gesetzgeber eine verfassungskonforme Neuregelung getroffen hat. 150 Dazu

vgl. § 3 B I 2, II 2, III 2. BVerfGE 93,386 (402 0; Heußner, NJW 1982,257 (258, 259 f.); larasslPieroth, GG, Art. 3 Rn. 30. 152 Heußner, NJW 1982, 257 (259 f.). 153 Zu weitgehend aber Hartmann, DVBI. 1997, 1264 (1267), wonach Rechtssicherheits- und Vertrauensschutzgesichtspunkte nur auf der Vollzugsebene und nicht auf der Normgeltungsebene eingreifen und der sich daher gegen die Möglichkeit der Fortgeltung verfassungswidriger Normen wendet. Siehe zur Rechtfertigung der übergangsweisen Fortgeltung verfassungswidriger Gesetze oben § 2 C III 3. 154 So etwa PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 54 I; ähnlich Ipsen, JZ 1983, 4\ (44, 45). 151

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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Dieser Argumentation ist nur in ihrem Ausgangspunkt zuzustimmen, daß bei Identität der Rechtsfolge - nämlich der völligen (d.h. auch zugunsten der bisher Begünstigten bestehenden) Unanwendbarkeit der Norm sowohl im Falle der Nichtigerklärung als auch im Falle der Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre - ein Verzicht auf die Nichtigerklärung der Norm nicht begründbar erscheint. 155 Indes wurde oben bereits nachgewiesen, daß die Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre ihre Existenz der Betrachtung aus der Rechtsschutzperspektive des Bürgers verdankt, dessen Rechtsschutzziel regelmäßig auf die Einbeziehung in die Begünstigung gerichtet ist. Normiert ein Gesetz eine staatliche Leistung zugunsten der Gruppe A und klagt ein Mitglied der nicht begünstigten Gruppe B ebenfalls auf diese Leistung, so steht einer Ausdehnung durch Nichtigerklärung der Norm seitens des Bundesverfassungsgerichts beim konkludenten Begünstigungsausschluß schon die Gesetzestechnik entgegen. Beim ausdrücklichen Begünstigungsausschluß wäre eine Ausdehnung der Begünstigung auf die bisher nicht begünstigte Gruppe zwar durch Nichtigerklärung der Ausschlußnorm gesetzestechnisch möglich, dem stände aber wegen des materiell gestaltenden Charakters der Gewaltenteilungsgrundsatz des Grundgesetzes entgegen. Insofern kann der Bürger sein Rechtsschutzziel mit einer Nichtigerklärung entweder nicht erreichen (beim konkludenten Begünstigungsausschluß), oder eine Teilnichtigerklärung der Ausschlußnorm ist aus Gründen des Gewaltenteilungsgrundsatzes verfassungsrechtlich unzulässig (beim ausdrücklichen Begünstigungsausschluß). Der Gleichheitssatz gilt jedoch in allen Bereichen staatlichen Handeins, also auch im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit, und verbietet somit nicht nur ungerechtfertigte ungleiche Belastungen, sondern auch ungerechtfertigte ungleiche Begünstigungen. 156 Um den Rechtsschutz im Bereich des Gleichheitssatzes nicht prozessualleerlaufen zu lassen und damit dem Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG seinen Charakter als subjektives Recht l57 zumindest faktisch zu nehmen, hielt das Bundesverfassungsgericht eine Tenorierungsform für erforderlich, die einerseits dem regelmäßigen Rechtsschutzziel der Bürger, nämlich dem Streben nach Einbeziehung in die Begünstigung, gerecht wird und die Durchsetzung des Art. 3 Abs. 1 GG nicht völlig ausschließt sowie andererseits die übrigen verfassungsrechtlichen Vorgaben beachtet, also insbesondere nicht unzulässig in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers übergreift. Im Ergebnis ist also festzuhalten, daß die Unvereinbarerklärung im Bereich des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses als besondere TenorieI~~ In diesem Sinne insbesondere Ipsen, JZ 1983,41 (45); PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 541. 1~6 S. nur BVerfGE 79, 1 (17); Dürig, in: MaunzlI)ürig, GG, Art. 3 Rn. 345 m.w.N.; Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 61 m.w.N. 1~7 Vgl. BVerwGE 55, 349 (351); larasslPieroth, 00, Art. 3 Rn. 1; Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (312 ff., 318). 8 Wernsmann

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

rungsform auf der Rechtsschutzperspektive der klagenden Bürger beruht. Aus der Existenz der Unvereinbarerklärung folgt somit nicht, daß sie zwingend bezüglich der Frage der weiteren Anwendung der gleichheitswidrigen Begünstigung zu anderen Rechtsfolgen kommen muß als die Nichtigerklärung. Der Einwand, daß bei Identität der Rechtsfolgen von Nichtigerklärung und Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre die Existenz der Unvereinbarerklärung nicht erklärt werden könne, vermag mithin nicht zu überzeugen. Zudem sind die Rechtsfolgen von Nichtigerklärung und Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre nur teilweise identisch. Die Unvereinbarerklärung führt nur dazu, daß die Verfahren der bisher nicht Begünstigten ausgesetzt bleiben, die damit die Chance auf Einbeziehung in die Begünstigung durch den Gesetzgeber erhalten. 1~8 Auch bezüglich der bisher begünstigten Gruppe, deren (behördliche oder gerichtliche) Verfahren ebenfalls nach der Verfassungswidrigerklärung der sie begünstigenden Norm auszusetzen sind,159 tritt der Schwebezustand ein, während eine Nichtigerklärung der Norm zu einer sofortigen Antragsablehnung bzw. Klageabweisung zum Nachteil des bisher Begünstigten führen müßte. Für die bisher benachteiligte Gruppe, die mit der Unvereinbarerklärung die Chance erhalten soll, von einern Tätigwerden des Gesetzgebers zu profitieren, unterscheidet sich die Rechtsfolge der Unvereinbarerklärung offensichtlich von einer Nichtigerklärung der gesamten begünstigenden Regelung, da sie im Falle der Nichtigerklärung der driubegünstigenden Norm ebenfalls nicht in die Begünstigung einbezogen würde.

(c) Keine Vertiefung der Verfassungs verletzung in allen gesetzestechnischen Fällen Entscheidend gegen die wenn auch nur vorübergehende Weitergewährung der gleichheitswidrigen Begünstigung spricht, daß die weitere Anwendung der gleichheitswidrigen Begünstigung zugunsten der bisher gesetzlich begünstigten Gruppe zu einer Vertiefung und zeitlichen Verlängerung des gleichheitswidrigen Zustandes führen würde. 160 Nach Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG darf jedoch ein erkanntermaßen verfassungswidriges Gesetz nicht angewendet werden; die

158 St. Rspr., vgl. etwa BVerfGE 52, 369 (379); 93, 386 (395). S. ferner Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1189; Maurer, in: Festschrift für Weber, S. 345 (361). 159 Heußner, NJW 1982, 257 (258, 259 f.); Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 379. 160 Heußner, NJW 1982, 257 (260).

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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staatlichen Organe würden ansonsten bei Vollziehung und Verwirklichung eines verfassungswidrigen Gesetzes selbst verfassungswidrig handeln. 161 Indes gilt der Gedanke, daß der Gleichheitsverstoß nach dessen Erkennen durch das Bundesverfassungsgericht nicht vertieft werden darf, nicht nur für die Fälle des konkludenten Begünstigungsausschlusses, sondern auch für alle übrigen Fälle, also insbesondere die Fälle des ausdrücklichen Begünstigungsausschlusses und die Fälle, in denen der Gleichheitsverstoß auf zwei selbständigen Regelungssystemen für die beiden Vergleichsgruppen beruht. Auch wenn hier die Behandlung der benachteiligten Gruppe unmittelbar nur auf jeweils eigenständigen Normen beruht, so muß dennoch die gesamte Regelungsmaterie, auf der sowohl die Behandlung der benachteiligten als auch der besser behandelten Vergleichsgruppe beruht, in die Unvereinbarerklärung einbezogen werden. 162 Nur eine solche Gesamtbetrachtung ist geeignet, die Vertiefung der Gleichheitswidrigkeit in der Zeit bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber zu verhindern. Die Gesamtbetrachtung ist auch aus anderen Gründen geboten, zumal nur sie den Besonderheiten des Gleichheitssatzes hinreichend Rechnung trägt. 163 Soweit dem der Einwand entgegengesetzt würde, daß es insoweit nicht auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit der driubegünstigenden Regelung nach Art. 100 Abs. I GG ankomme und die drittbetreffende Regelung somit nicht Prüfungsgegenstand des Normenkontrollverfahrens sei, ist dem zunächst entgegenzuhalten, daß in den Fällen des konkludenten Begünstigungsausschlusses die jeweilige Norm ebenfalls nicht die Behandlung der benachteiligten Gruppe regelt. Dennoch soll in diesen Fällen die Frage nach dessen Verfassungsmäßigkeit auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts entscheidungserheblich sein. l64 Noch gewichtiger erscheint jedoch das Argument, daß die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift, die die benachteiligte Gruppe betrifft, ohne Bezug auf die Regelung, nach der die begünstigte Vergleichsgruppe behandelt wird, gar nicht beurteilt werden kann. Dann muß es aber stets auch auf die Veifassungsmäßigkeit der drittbegünstigenden Norm gem. Art. 100 Abs. J GG ankommen. 16S

Zutreffend Maurer, in: Festschrift für Weber, S. 345 (362). Anders aber die Praxis des BVerfG, s. etwa BVerfGE 82, 126 (127 mit 128 f.). Dort existierten in verschiedenen Normen jeweils eigenständige Regelungssysteme zu den Kündigungsfristen flir Arbeiter und Angestellte. Die Kündigungsfristen für Arbeiter waren durchgehend kürzer. Hier erklärte das Bundesverfassungsgericht nur die Regelungen über die Kündigungsfristen für Arbeiter für unvereinbar mit Art. 3 Abs. I 00, erstreckte die Unvereinbarerklärung also nicht auf die Kündigungsfristen für Angestellte. 163 Dazu noch unten § 3 B I I c. 164 St. Rspr., zuletzt BVerfGE 93, 386 (394 ff.). 16~ Zu Fragen der Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. I 00 umfassend unten §§ 4, 5. 161

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

Gleiches gilt für den ausdrücklichen Begünstigungsausschluß: Die Begünstigung und der Begünstigungsausschluß sind als Gesamtregelung bzw. als ,,Einheit,d66 zu sehen, da der Gleichheitssatz notwendigerweise ein Vergleichen zweier Sachverhalte voraussetzt und sich der Verstoß gegen den Gleichheitssatz immer erst aus der Zusammenschau zweier Regelungen ergibt, und zwar beim ausdrücklichen Begünstigungsausschluß aus der Ausnahmenorm und der Grundnorm. Auch hieran wird deutlich, daß in den Fällen eines Gleichheitsverstoßes stets das gesamte Regelungssystem, auf dem die Ungleichbehandlung beider Vergleichsgruppen beruht, in den Blick genommen werden muß. Beide Regelungen sind verfassungswidrig. 167 Nur dadurch kann auch erreicht werden, daß sich der Schwebezustand bis zur verfassungskonformen Neuregelung auch beim ausdrücklichen Begünstigungsausschluß auf die bisher Bevorzugten erstreckt.

(4) Exkurs: Differenzierung zwischen Tun und Unterlassen außerhalb des konkludenten Begünstigungsausschlusses Auch außerhalb der Konstellation des konkludenten gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses wurde die Differenzierung zwischen angeblich verfassungsmäßigem Tun und verfassungswidrigem Unterlassen getroffen: So soll nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren der Verfassungs beschwerde ein Besoldungsgesetz, das wegen einer Veränderung der Lebensverhältnisse den Erfordernissen eines angemessenen Unterhalts nicht mehr entspricht und deshalb mit Art. 33 Abs. 5 GG nicht mehr vereinbar ist, nicht für nichtig erklärt werden können. Vielmehr sei das Bundesverfassungsgericht auf die Feststellung beschränkt, daß der Gesetzgeber durch Unterlassen einer Besoldungserhöhung das in Art. 33 Abs. 5 GG enthaltene Recht des Beamten verletzt habe. 168 Diese Differenzierung zwischen Tun und Unterlassen überzeugt auch hier nicht. 169 Der richtige Weg wäre gewesen, die Verfassungswidrigkeit des Besol166 Insoweit

auch Dürig, in: Maunz!Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 364. Ebenfalls aufbeide Regelungen abstellend Hartmann, DVBI. 1997, 1264 (1269), der allerdings beide Regelungen für nichtig erachtet und damit die Rechtsschutzgesichtspunkte ausblendet. 168 Grundlegend BVerfGE 8, 1 (Leitsatz 3). Ebenso Stern, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 93 Rn. 286 m.w.N. BVerfGE 81, 363 (363 f.) stellt zwar die Verfassungswidrigkeit der Besoldungsnorm - also des gesetzgeberischen Tuns - fest, folgert diese aber aus dem Unterlassen des Gesetzgebers, das Gehalt in einer dem Grundsatz der amtsangemessenen Alimentation entsprechenden Höhe festzusetzen. 169 Ebenso wie Ungleichbehandlungen aufgrund eines konkludenten Begünstigungsausschlusses, vgl. dazu oben § 3 B I I a dd (2). 167

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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dungsgesetzes - also des "Tuns" des Gesetzgebers - rückwirkend auf den Zeitpunkt des Eintritts der Kollisionslage mit höherrangigem Recht (hier: Art. 33 Abs. 5 GG) festzustellen und sodann zu prüfen, ob ein Abweichen von dem Nichtigkeitsdogma erforderlich ist. Dies wäre hier unschwer zu bejahen, da das Fortlaufen der verfassungswidrig zu niedrigen Besoldung der Verfassung (hier Art. 33 Abs. 5 GG) noch näher steht als die Rechtslage nach einer etwaigen Nichtigerklärung des Besoldungsgesetzes. Obwohl das Gesetz (- das Tun des Gesetzgebers -) also verfassungswidrig geworden ist, hätte es weiter angewendet werden können. Daß der hier vertretene Weg richtig ist, zeigt sich auch an folgender Kontrollüberlegung: Wenn das Besoldungsgesetz von Anfang an zu niedrige Bezüge bestimmt hätte, hätte das Bundesverfassungsgericht in keinem Falle auf das Unterlassen der Besoidungsänderung l70 abstellen können. Hier hätte kein Weg daran vorbeigeführt, das Besoldungsgesetz selbst (als das gesetzgeberische Tun) für verfassungswidrig zu erachten. Nichts anderes gilt aber für den Fall, daß infolge Änderung der tatsächlichen Verhältnisse die Kollisionslage von Prüfungsgegenstand und Prüfungsmaßstab später eintritt. Bei der Überprüfung von Gesetzen am Maßstab höherrangigen Rechts geht es nicht um (subjektive) Vorwerfbarkeit von Verhalten, sondern um (objektive) Vereinbarkeit. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, daß das Gesetz in dem Beispielsfall objektiv verfassungswidrig geworden ist. Ferner überzeugt nicht, daß das Bundesverfassungsgericht den Verzicht auf die Nichtigerklärung eines unzureichend gewordenen Besoldungsgesetzes auf das Verfahren der Verfassungsbeschwerde beschränkt. I7I Dies ist damit zu erklären, daß nur bei der Verfassungsbeschwerde die Feststellung eines Verfassungsverstoßes auch an ein Unterlassen geknüpft werden kann (§ 95 Abs. 1 BVerfGG), nicht aber in den Verfahren der abstrakten oder konkreten Nonnenkontrolle. Auch daran zeigt sich die mangelnde Überzeugungskraft dieser Differenzierung zwischen Tun und Unterlassen. Hätte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit des Besoldungsgesetzes wegen dessen unter Verstoß gegen Art. 33 Abs. 5 GG zu niedriger Festsetzung der Besoldung festgestellt, aber dessen Fortgeltung wegen relativ größerer Verfassungsnähe angeordnet, wäre offenkundig gewesen, daß diese Rechtsfolge auch im Verfahren der abstrakten oder konkreten Nonnenkontrolle gilt. Auch diese Kontrollüberlegung bestätigt die Kritik an der vom Bundesverfassungsgericht vorgenommenen Differenzierung zwischen Tun und Unterlassen.

170 So 171

BVerfGE 8, 1 (Leitsatz 3 und S. 28). Vgl. BVerfGE 8, 1 (Leitsatz 3).

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

ee) Verhältnis zwischen Rechtsfolgen und Rechtsschutzziel bei Gleichheitsverstößen durch zwei selbständige Regelungssysteme Beruht die verfassungswidrige ungleiche Begünstigung der bei den Vergleichsgruppen auf zwei selbständig nebeneinander stehenden Regelungssystemen, so beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht auf die Unvereinbarerklärung derjenigen Norm, die die Behandlung des Benachteiligten regelt, verzichtet jedoch auf die Unvereinbarerklärung derjenigen Norm, die die Behandlung der bevorzugten Vergleichsgruppe betrifft. 172 Es wird auch nur die Verfassungsmäßigkeit dieser Norm für entscheidungserheblich nach Art. 100 Abs. I GG gehalten. 173 Gegen dieses Vorgehen sind die oben vorgebrachten Einwände zu erheben. Außerdem flillt auf, daß insoweit die Fälle des konkludenten Begünstigungsausschlusses, in denen die drittbegünstigende Norm für entscheidungserheblich gehalten und ggf. für unvereinbar erklärt wird, anders behandelt werden als die Fälle, in denen die Ungleichbehandlung auf zwei verschiedenen Normen beruht. Warum die bisher besser gestellte Gruppe in dem einen Fall (Existenz zweier selbständiger Normen) weiter nach dem bisherigen ihr günstigen Recht behandelt wird,174 im anderen Fall (konkludenter Begünstigungsausschluß) jedoch eine Anwendungssperre auch für die bisher privilegierte Gruppe eintritt 175 , läßt sich nicht begründen. Vielmehr liegt diese Differenzierung allein in der Gesetzestechnik begründet; diese stellt jedoch kein geeignetes Kriterium für unterschiedliche Rechtsfolgen dar. 176

b) Gleichheitswidrige Belastungen Die ,,Beschränkung" auf eine bloße Verfassungswidrigerklärung (mit Anwendungssperre) unter Verzicht auf die Nichtigerklärung der jeweiligen Vorschrift

172 Exemplarisch BVerfGE 82, 126 (127 mit 128 f.). 173 BVerfGE 82,126 (145). 174 Exemplarisch BVerfGE 82, 126 (127 mit 128 f.). Danach kamen die bisher besser als die Arbeiter gestellten Angestellten bis zur gesetzlichen Neuregelung weiter in den Genuß ihrer günstigeren Kündigungsfristen. 17S Exemplarisch BVerfGE 93, 386 (386 mit 402 f.). Danach kam auch die bisher privilegierte Gruppe der Soldaten, denen ein Auslandszuschlag gewährt wurde, nach der verfassungsgerichtlichen Entscheidung nicht mehr in dessen Genuß, solange keine Gleichbehandlung der Beamten erreicht war. 176 So auch Dürig. in: MaunzlDürig. GG. Art. 3 Abs. 1 Rn. 356 m. w.N.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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findet sich auch bei gleichheitswidrig belastenden Normen J77 , wenngleich diese in der Regel für nichtig erklärt werden. 178 Wenn das Bundesverfassungsgericht auf die Nichtigerklärung einer gleichheitswidrigen belastenden Norm verzichtet, so findet dies seinen Grund regelmäßig l79 darin, daß diese trotz Verfassungswidrigerklärung weiter angewendet werden soll, also die für verfassungswidrig erklärte Norm keiner Anwendungssperre unterliegen SOll.180 Allerdings findet sich auch in diesen Entscheidungen zur Rechtfertigung des Verzichts auf die Nichtigerklärung bisweilen die Begründung, daß die Gleichheitswidrigkeit nicht zu bestimmten Folgerungen zwinge, sondern der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten habe, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen. 181 Diese Begründung wird kritisch überprüft werden. Insbesondere ist zweifelhaft, ob die bei den in den Rechtsfolgen völlig unterschiedlichen Arten von Unvereinbarerklärungen (im einen Fall verbunden mit Anwendungssperre des für verfassungswidrig erkannten Gesetzes, im anderen Fall verbunden mit einer Verpflichtung des Gesetzgebers zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes mit Wirkung nur für die Zukunft) mit jeweils denselben Gründen zu rechtfertigen sind. Zuvor sollen auch hier die verschiedenen gesetzestechnischen Möglichkeiten gleichheitswidriger Belastungen aufgezeigt werden. Sodann wird über-

177 Vgl. BVerfGE 75, 166 (182 f.) betreffend Verbot der Selbstbedienung bei apothekenfreien Arzneimitteln in Apotheken im Gegensatz zum übrigen Einzelhandel. 178 Vgl. etwa BVerfGE 9, 291 (302) betreffend einen gleichheitswidrig ausgestalteten Feuerwehrbeitrag; BVerfGE 19, 101 (118); 21, 160 (173) betreffend Zweigstellensteuer nur für bestimmte Branchen; BVerfGE 65, 325 (357) betreffend eine nur Auswärtigen auferlegte Zweitwohnungsteuer. Vgl. ferner BVerfGE 92, 91 (108, 113, 121) betreffend eine nur Männem auferlegte Feuerwehrabgabe, wo allerdings nicht nur ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 und 1 GG, sondern auch gegen Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art.105 Abs. 2 und 2a GG angenommen wurde. 179 Eine Ausnahme stellt insoweit die schon erwähnte Entscheidung BVerfGE 75, 166 (182 f.) dar. 180 Vgl. etwa BVerfGE 87, 153 (154 f., 178 f., 181) zu einer erdrosselnden, da auf das Existenzminimum zugreifenden Besteuerung; 91, 186 (207) zum sog. Kohlepfennig; 93, 121 (148) zur Vermögensbesteuerung; 93, 165 (178) zur Erbschaftsbesteuerung; diskutiert auch in BVerfGE 92, 91 (121) zur Feuerwehrabgabe. 181 Vgl. etwa BVerfGE 93, 121 (148); 93, 165 (178). Ebenso Aretz, JZ 1984, 918 (919), der Gleichheitsverstöße bei Begünstigungen und Belastungen gleich behandelt; Erichsen, Jura 1982, 88 (94 bei Fn. 77), der gerade bei gleichheitswidrigen Belastungen den Verzicht auf die Nichtigerklärung fordert; Ipsen. Rechtsfolgen. S. 214, 221, der die Unvereinbarerklärung auf alle Fälle verfassungswidriger Normenrelationen - also sowohl gleichheitswidrige Begünstigungen als auch Belastungen - anwenden wi1\; tendenziell für Gleichbehandlung gleichheitswidriger Begünstigungen und Belastungen wohl auch Ehlers. in: SchochiSchmidt-AßmannlPietzner, VwGO, § 40 Anhang Art. 100 Abs. I GG Rn. 39 a.E. - Hinzuweisen ist ferner auf BVerfGE 87. 153 (177 f.). Dort wurde selbst der Verzicht auf die Nichtigerklärung eines gegen Freiheitsrechte verstoßenden Gesetzes (vgl. BVerfGE 87, 153 (169): ..Erdrosselnde" Besteuerung wegen Zugriffs auf das Existenzminimum infolge unzureichenden Grundfreibetrags) mit der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers begründet.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

prüft, worin die Unterschiede zu den Fällen der gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlüsse bestehen.

aa) Gesetzestechnische Möglichkeiten Auch hier sind wieder - ähnlich wie beim sog. gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluß - verschiedene gesetzes technische Modelle ungleicher Belastungen denkbar. Folgende Beispiele mögen dies verdeutlichen: Beispiel]:

Es gibt eine beide Vergleichsgruppen belastende Grundnorm und eine nur eine der beiden Gruppen stärker belastende Ausnahmevorschrift. § 1 lautet: A und B werden nach Methode x besteuert.

§ 2 lautet: Bei B erhöht sich die Steuerschuld (oder: der Steuersatz) um Betrag z (bzw. um z %). Beispiel 2:

Nicht eine Spezialvorschrift ordnet eine Sonderbehandlung für eine Vergleichsgruppe an, sondern die unterschiedliche Belastung beider Vergleichsgruppen folgt aus selbständig nebeneinander stehenden Normen. § I lautet: Bei A errechnet sich die Steuer nach Methode x. § 2 lautet: Bei B errechnet sich die Steuer nach Methode y.

Die Methode y möge zu einer höheren steuerlichen Belastung als die Methode x führen. Beispiel 3:

Eine Grundnorm gilt für die Mitglieder zweier Vergleichsgruppen. Eine Sondervorschrift nimmt eine der bei den Gruppen von der Belastung wieder aus. § I lautet: C wird nach Methode x besteuert. § 2 lautet: § I gilt nicht für B.

C sei der Oberbegriff für A und B. Beispiel 4:

Es wird von vornherein nur eine der bei den Vergleichsgruppen genannt, die belastet werden soll. § I lautet: A wird nach Methode x besteuert.

Eine Besteuerung der Vergleichsgruppe B erfolgt durch das Gesetz nicht; vielmehr wird diese besser gestellte Vergleichsgruppe im Wortlaut des Gesetzes gar nicht erwähnt.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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bb) Entscheidungsfonnen des Bundesverfassungsgerichts Eine eigene gleichheitswidrige Belastung kann durch Nichtigerklärung des Gesetzes gern. §§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 BVerfGG abgewehrt werden, und zwar theoretisch unabhängig von der gesetzestechnischen Einkleidung. So hat das Bundesverfassungsgericht etwa (Ausnahme-)Vorschriften für nichtig erklärt, die eine ausdrückliche gleichheitswidrige Sonderbelastung für eine der beiden Vergleichsgruppen enthielten. Nach den für nichtig erklärten Gesetzen waren dem Steuergegenstand in gewissen Fällen gleichheitssatzwidrig bestimmte Posten hinzuzurechnen, die sich steuererhöhend auswirkten. 182 Das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich in diesen Fällen auf die Nichtigerklärung der Ausnahmevorschrift, die eine der beiden Vergleichsgruppen zusätzlich stärker belastee 83 ; in Beispiel 1 würde also regelmäßig (nur) § 2 für nichtig erklärt. Verstößt in Beispiel 2 die Behandlung nach den verschiedenen Methoden gegen den Gleichheitssatz, so beruht die Ungleichbehandlung der Vergleichsgruppen A und B sowohl auf § 1 als auch auf § 2. Daher müssen richtigerweise vom theoretischen Ansatz her beide Vorschriften grundsätzlich für nichtig erklärt werden mit der Folge, daß die Belastung abgewehrt werden und eine Besteuerung nicht mehr erfolgen kann. Hier könnte jedoch in gewissen Fällen das Argument relativ größerer Verfassungsnähe der (vorübergehenden) Weitergeltung der Nonn ins Spiel kommen, mit dem eine übergangsweise Weitergeltung der Normen gerechtfertigt werden und das zu einer Unvereinbarerklärung ohne Anwendungssperre 184 führen könnte. Jedenfalls kann B als der im Vergleich zu A Benachteiligte Rechtsschutz gegen seine Belastung begehren. In der Konsequenz könnte dann auch nach Nichtigerklärung derjenigen Vorschrift, auf der seine Belastung beruht, der bisher innerhalb der bei den Vergleichsgruppen Bevorzugte (in Beispiel 2: A) seine Belastung abwehren. Ob er allerdings erfolgreich Rechtsschutz gegen seine Belastung mit der Begründung erlangen kann, er werde gleichheits widrig gegenüber Mitgliedern der Vergleichsgruppe bevorzugt, ist eine Frage nach den Schutzrichtungen des Gleichheitssatzes. 185 Beispiel 2 verdeutlicht noch etwas: Ist eine Norm auf einen Gleichheitsverstoß hin zu überprüfen, so kann sich das Bundesverfassungsgericht richtigerweise nicht darauf beschränken, die Gleich182Ygl. BYerfGE 13,290 (318); 13,331 (355). 183 ygl. BYerfGE 13,290 (318); 13,331 (355). 184 Zur Frage, unter weIchen Voraussetzungen dieser Rechtsfolgenausspruch zulässig ist, vgl. § 2 C III 3, § 3 B II 2. 185 Zur Frage, ob der Gleichheitssatz im Rahmen der Rechtfertigung von Eingriffen in Freiheitsrechte heranzuziehen ist oder einen nur isoliert heranzuziehenden Prüfungsmaßstabdarstellt, vgl. unten § 3 B lid bb.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

heitswidrigkeit (und ggf. Nichtigkeit) nur derjenigen Norm festzustellen, die der Behandlung des Klägers des Ausgangsverfahrens (bei einer konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG) oder des Beschwerdeführers (bei einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) zugrunde liegt. Dadurch würden neue Ungleichbehandlungen entstehen, wenn etwa in Beispiel 2 die Rechtsgrundlage der gesamten steuerlichen Belastung des höher besteuerten B (in Beispiel 2: § 2) für nichtig erklärt würde und damit komplett entfiele, die Rechtsgrundlage für die Besteuerung des A, der bisher nicht geklagt hatte, weil er nach der Gesetzeslage besser gestellt war als B, (in Beispiel 2: § 1) aber erhalten bliebe. Im Ergebnis gilt folgendes: Beruht die Ungleichbehandlung der Vergleichsgruppen auf verschiedenen Normen, so müssen beide für verfassungswidrig erklärt werden, da sich die Verfassungs widrigkeit der einen Vorschrift erst aus der Existenz der anderen ergibt und der Gleichheitsverstoß nicht behoben werden kann, wenn sich die verfassungsgerichtliche Nichtig- bzw. Verfassungswidrigerklärung mit Anwendungssperre nur auf eine der beiden Vorschriften erstreckt. In Beispiel 3 erfaßt die Verfassungswidrigkeit richtigerweise - insoweit wie bei den Begünstigungen - sämtliche Rechtsgrundlagen, auf denen die Ungleichbehandlung der Vergleichsgruppen beruht, also sowohl § 1 als auch § 2, auch wenn die Grundnorm des § 1 ihrem Wortlaut nach nicht differenziert. Denn die angegriffene verfassungswidrige Ungleichbehandlung beruht sowohl auf § 1, auf dessen Grundlage die Belastung des A erfolgt, als auch auf § 2, durch den B besser gestellt (von der Belastung ausgenommen) wird. Dies wird auch daran deutlich, daß insoweit kein Unterschied gegenüber Beispiel 2 und Beispiel 4 besteht, wenn etwa die Vergleichsgruppen jeweils eigenständigen Regelungen unterworfen werden ohne gemeinsame Grundnorm (Beispiel 2) bzw. von vornherein nur eine Gruppe als Belastungsadressat definiert wird (Beispiel 4). Das Bundesverfassungsgericht würde sich indes in dieser Konstellation auf eine Verfassungsbeschwerde des belasteten A hin bzw. auf eine Richtervorlage hin, der im Ausgangsverfahren eine Klage des belasteten A zugrunde liegt, auf die Überprüfung der Ausnahmevorschrift beschränken. 186 Bei isolierter Betrachtung wäre in Beispiel 3 die Steuerbefreiungsnorm des § 2 (Ausnahmevorschrift) eine begünstigende Vorschrift. Diese isolierte Sichtweise würde indes zu dem verfehlten Schluß verleiten, daß es um eine Einbeziehung in eine Begünstigung geht und nicht um die Abwehr der eigenen auf § 1 beruhenden Belastung des A. Nur bei dieser unzutreffenden Sichtweise würde sich die Frage stellen, ob die belastete Vergleichsgruppe eine Chance auf Einbezie-

186 Vgl. BVerfGE 84, 233 (237 f.). Tendenziell anders aber insoweit BVerfGE 93, 121 (142 f.); dort wurde eine Norm, die einen einheitlichen Steuersatz für die bei den Vergleichsgruppen anordnete, für verfassungswidrig erklärt, obwohl die Ungleichbehandlung auf der Bemessungsgrundlage beruhte.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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hung in die "Begünstigung" (Steuerfreistellungsvorschrift)187 hat. § 2 würde dann als konkludenter Begünstigungsausschluß verstanden, weil die weiterhin mit der Steuer belastete Vergleichsgruppe in dieser Steuerbefreiungsvorschrift nicht genannt ist. 188 Die Lösung des Beispiels 4 ist hingegen unproblematisch: Da hier von vornherein nur eine der beiden Vergleichsgruppen belastet wird und nur diese in der Norm genannt wird, ist diese verfassungswidrig. 189 Der gesamte Normenkomplex, auf dem die Ungleichbehandlung der beiden Vergleichsgruppen beruht, besteht hier nur aus der Norm, die die Belastung einer der beiden Vergleichsgruppen regelt. Dies ist in Beispiel 4 § 1, der die Belastung der Gruppe A anordnet. Die Entscheidungserheblichkeit der Veifassungsmäßigkeit der Vorschriften für das Ausgangsverfahren l90 entspricht spiegelbildlich den auszusprechenden Rechtsfolgen.

cc) Kritik: Das Argument der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Abwehr gleichheitswidriger Belastungen Liegt eine gleichheitswidrige belastende Regelung vor, so kann der betroffene Bürger diese abwehren. Ebenso wie es im Verwaltungsprozeß ausreicht, wenn das Verwaltungsgericht auf eine Anfechtungsklage hin den rechtswidrigen Verwaltungsakt aufhebt, so würde auch die Nichtigerklärung des gleichheitswidrigen belastenden Gesetzes dem Rechtsschutzziel des betroffenen Bürgers genügen. Die (infolge der Gleichheitswidrigkeit verfassungswidrige) Belastung entfällt, wenn das Bundesverfassungsgericht die gleichheitswidrig belastende Norm kassiert. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht gleichheitswidrig belastende Regelungen regelmäßig für nichtig erklärt und sich nicht auf eine Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre der Norm beschränkt. 191

187 So

aber BVerfGE 84, 233 (237).

188 Wonach sich richtet, ob es um das Erstreben von Begünstigungen oder die Abwehr von Belastungen geht, wird unten § 3 B I 1 c und d noch behandelt. 189 Als Beispiel aus der Rechtsprechung sei etwa BVerfGE 92, 91 (92 f., 108 f., 121 f.) genannt. Dort wurden die landesrechtlichen Grundlagen einer auf Männer beschränkten Feuerwehrabgabe für verfassungswidrig und nichtig erklärt. 190 Dazu noch näher unten § 4. 191 Zuletzt BVerfGE 98, 106 (133) zu einer kommunalen Verpackungsteuersatzung; BVerfGE 98, 83 (105) zu landesrechtlichen Abfallabgaben; BVerfGE 99, 88 (88 f., 99 f.) zum Verbot der Verrechnung von Verlusten aus der Vermietung beweglicher Gegenstände; BVerfGE 99, 69 (69 f., 82 f.) zum Ausschluß der kommunalen Wählervereinigungen von der Vermögen- und Körperschaftsteuerfreiheit politischer Parteien;

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

Vereinzelt findet sich indes auch eine mit einer Anwendungssperre verbundene Unvereinbarerklärung einer gleichheitswidrig belastenden Norm. 192 Das Bundesverfassungsgericht begründet diesen Rechtsfolgenausspruch ausdrücklich damit, daß "die Verfassungswidrigkeit auf einer Ungleichbehandlung beruht und ... der Normgeber zu deren Beseitigung mehrere Möglichkeiten hat,,193, führt aber anschließend aus, daß "schon dies freilich zur Folge (hat), daß der Beklagten des Ausgangsverfahrens mangels einer wirksamen Verbotsvorschrift eine Selbstbedienung bei apothekenfreien Arzneimitteln nicht mehr als wettbewerbswidrig untersagt werden kann.,,194 Führen Nichtigerkiärung und Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre der gleichheitswidrig belastenden Norm l95 aber zum selben Ergebnis, so ist nicht erkennbar, warum auf die Nich-

BVerfGE 92, 91 (121) zu einer nur Männem auferlegten Feuerwehrabgabe. Ferner BVerfGE 9, 291 (292, 302), ebenfalls zu einer Feuerwehrabgabe. Weitere Nachweise oben § 3 A. Vgl. auch Gubelt, in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 3 Rn. 47; Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 45. - Demgegenüber gehen PierothiSchlink, Grundrechte, 12. Auflage, Rn. 540 davon aus, daß das Bundesverfassungsgericht von Anfang an auch belastende Regelungen nur dann für nichtig erklärt habe, wenn keinem Zweifel unterliegt, daß der Gesetzgeber die verbleibende Regelung auch ohne den verfassungswidrigen Teil aufrechterhalten hätte. Indes betrifft die von ihnen zum Beleg angeführte Entscheidung BVerfGE 4, 219 (250) nicht den Fall einer gleichheitswidrigen Belastung, sondern den Fall eines gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses. In der genannten Entscheidung ging es dem Kläger des Ausgangsverfahrens um eine Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst (also um eine Begünstigung), die ihm durch Gesetz zugestanden worden war. Durch ein neues Gesetz konnte indes dem Zusicherungsinhaber anstelle der Beschäftigung im öffentlichen Dienst auch gegen dessen Willen eine Abfindung bewilligt werden, "wenn die von ihm getroffene Wahl seine Unterbringung wesentlich erschwert" (vgl. zum Sachverhalt BVerfGE 4,219 (223, 227 f.). Lediglich diese Teilnorm war benachteiligend (jedoch nicht "belastend", da der durch das erste Gesetz gewährte Anspruch kein Eigentum i.S.d. Art. 14 GG darstellte (vgl. BVerfGE 4, 219 (243) und damit kein Eingriff in eine grundrechtlich geschützte Position vorlag). Insgesamt handelte es sich jedoch weiter um Begünstigungen, von denen der Kläger des Ausgangsverfahrens jedoch gleichheitswidrig durch Gesetz (Ausschlußnorm) ausgeschlossen wurde. Durch die Nichtigerklärung der Teilnorm wurde das Bundesverfassungsgericht somit materiell gestaltend (und nicht bloß kassatorisch) tätig, indem es nämlich die Begünstigung (Beschäftigung im öffentlichen Dienst) auf den Kläger des Ausgangsverfahrens ausdehnte. Dies bedurfte einer besonderen Begründung, zutreffend daher BVerfGE 4, 219 (250). - Zum Erfordernis der Differenzierung zwischen den Begriffspaaren BegünstigungenlBelastungen sowie BenachteiligungenlBevorzugungen vgl. oben § 3 B I I a aa; zu den daraus entstehenden unterschiedlichen Folgen vgl. unten § 3 B I I d. 192 So BVerfGE 75,166 (166,179,182 f.) zum Verbot der Selbstbedienung apothekenfreier Arzneimittel für Apotheken, nicht aber für den übrigen Einzelhandel. 193 BVerfGE 75,166 (182). 194 BVerfGE 75,166 (182). 195 Noch nichts gesagt ist damit zur Berechtigung derjenigen Unvereinbarerklärung, die mit der weiteren Anwendbarkeit der verfassungswidrigen Norm verbunden wird, vgl. etwa BVerfGE 87,153 (177 ff.) zum Verstoß gegen Freiheitsrechte. Diese hat andere Voraussetzungen und Rechtsfolgen als die Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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tigerklärung dieser Norm verzichtet werden SOll.196 Übertragen auf die verwaltungsprozessuale Anfechtungssituation würde dies bedeuten, daß das Verwaltungsgericht auf die Aufhebung eines belastenden ermessensfehlerhaft ergangenen Verwaltungsakts mit der Begründung verzichtet, ein neuer Verwaltungsakt mit demselben Inhalt könne bei Vermeidung des Ermessensfehlers (etwa einer Ermessensunterschreitung (eines Ermessensnichtgebrauchs » erneut ergehen. Die Tatsache, daß ein neuer Verwaltungsakt mit demselben Inhalt erneut ergehen kann, kann indes (sofern nicht gesetzliche Sondervorschriften wie §§ 46 VwVfG, 127 AO eingreifen, die freilich anders als die Anwendungssperre infolge Unvereinbarerklärung ohnehin nicht zu einem Schwebezustand führen) nicht der Aufhebung dieses rechtswidrigen Verwaltungsakts entgegenstehen. Ebenso verhält es sich im Verfassungsprozeßrecht. Der vom Gewaltenteilungsprinzip geforderten Beachtung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit durch die Gerichte wird nicht dadurch vorgegriffen, daß das Bundesverfassungsgericht eine gleichheitswidrige belastende Regelung für nichtig erklärt. Auch hieran zeigt sich erneut, daß nicht die Beachtung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit durch die Gerichte das entscheidende Kriterium für den Verzicht auf die Nichtigerklärung gleichheitswidriger Normen darstellt, - denn auch bei einer gleichheitswidrigen Belastung gibt es ebenso wie bei gleichheitswidrigen Begünstigungen verschiedene Möglichkeiten, den Gleichheitsverstoß zu beheben 197 -, sondern allein die Rechtsschutzziele der bisher benachteiligten Vergleichsgruppe in den Fällen, in denen diese eine Begünstigung erstrebt. 198 Insoweit trifft die Auffassung nicht zu, die von einer Nichtigerklärung generell absehen will, wenn der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit hat. 199 Die Nichtigerklärung einer gleich-

196 Vgl. auch Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 541, die insoweit zutreffend darauf hinweisen, daß die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer gleichheitswidrig belastenden Norm einer Kassation gleichkäme. Ebenso BVerfGE 75, 166 (182), wo freilich trotzdem auf die Nichtigerklärung verzichtet wird. Dort wird lediglich die Unvereinbarkeit der gleichheitswidrigen belastenden Norm mit dem Grundgesetz festgestellt und die Anwendbarkeit der Norm gesperrt. 197 Zutreffend Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 530. 198 Vgl. dazu oben § 3 B I la cc (3). 199 So aber BVerfGE 65, 325 (357 f.); 75, 166 (182); Gubelt, in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 3 Rn. 47 sowie die oben § 3 B I I b vor aa Genannten. - BVerfGE 65, 325 (357 f.) erklärte die entsprechenden Bestimmungen für nichtig, da dem Gesetzgeber im entschiedenen Fall nicht mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes zur Verfügung gestanden hätten. - Ohne Differenzierung zwischen gleichheitswidrigen begünstigenden und belastenden Regelungen zuletzt auch BVerfGE 94, 241 (265): "Bei Verstößen gegen den G1eichheitssatz beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht darauf, die Unvereinbarkeit der verfassungswidrigen gesetzlichen Regelung mit dem Grundgesetz festzustellen, und sieht von einer Nichtigerklärung ab." Zutreffend dagegen Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 45, der in jedem Falle die Nichtigerklärung einer gleichheitswidrig belastenden Norm fordert.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

heitswidrig belastenden Norm beeinträchtigt die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers also nicht. Er kann nach Nichtigerklärung der gleichheits widrig belastenden Norm ein neues Gesetz erlassen. Wenn er alle Vergleichsgruppen einbezieht, ist dieses verfassungsmäßig. Soweit dagegen aus der angeblichen Prämisse der ,,zielrichtung des Gleichheitssatzes zum Besseren,,2oo, aus der umfangreiche Schlußfolgerungen auch für die prozessuale Zu lässigkeit von Gleichheitssatzrügen gezogen werden,201 inhaltlich gefolgert wird, daß eine für nichtig erklärte gleichheitswidrige Belastung nicht auf die anderen Vergleichsgruppen ausgedehnt werden dürfe,202 so verkürzt gerade dies die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in unzulässiger Weise. Bezüglich der Ergebnisoffenheit des Gleichheitssatzes gilt bei Belastungen das zu Begünstigungen Ausgeführte entsprechend. Die angebliche "Zielrichtung des Gleichheitssatzes zum Besseren" ist aus der Verfassung nicht herzuleiten. Diese wird damit begründet, daß die Ausdehnung einer gleichheitswidrig nur bestimmte Sachverhalte erfassenden Numerusc1ausus-Regelung oder die Erstreckung einer gleichheits widrigen ,,Erdrosselungssteuer" auf die bisher nicht erfaßten Sachverhalte nicht möglich sei. 203 Diese Beispiele sind indes völlig ungeeignet, um die ,,zielrichtung des Gleichheitssatzes zum Besseren" zu belegen. Diese Beispiele, in denen die Ausdehnung der Belastung "zwar mies, aber gleich,,204 sei, enthalten vielmehr auch ein freiheitsrechtliches Problem: Eine Erdrosselungssteuer ist wegen Verstoßes gegen Freiheitsgrundrechte (Art. 14 Abs. 1, 12 Abs. 1,2 Abs. 1 GG kommen in Betracht) verfassungswidrig. 205 Dann scheitert eine Ausdehnung der Belastung aber bereits daran, daß diese Regelung schon "an sich" - d.h. unabhängig von einem Gleichheitsverstoß, der sich erst aus einem Vergleich mit den Regelungen für andere Normadressaten ergibt - verfassungswidrig und damit absolut unzulässig ist. Ähnliches gilt für die Numerus-clausus-Fälle. Entweder ist der Numerus clausus sowohl für die bisher betroffene Gruppe als auch für die bisher nicht betroffene Gruppe unter dem Gesichtspunkt des Art. 12 Abs. 1 GG gerechtfertigt. 206 Dann kann er, wenn die materiellen Voraussetzungen auch für die bisher nicht vom Numerus clausus betroffenen Fälle vorliegen, auch für die-

200

Insbesondere Dürig, in: MaunzlDürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 353.

201 Dazu noch ausführlich unten §§ 4, 5. 202 So

Dürig, in: MaunzlDürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 353. Dürig, in: MaunzlDürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 353. 204 So wörtlich Dürig, in: MaunzlDürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 353. 205 Vgl. statt aller BVerfGE 14,221 (241); 16, 147 (161); 76, 130 (141); 78, 232 (243); 82,159 (190); 87, 153 (169); Birk/Eckhojf. in: HübschmannlHepp/Spitaler, AO, § 3 AO Rn. 51 ff. m.w.N.; Jarass, in: larasslPieroth, 00, Art. 14 Rn. 50, 12; Vogel, HStR IV, § 87 Rn. 51. 206 Zu dessen Rechtmäßigkeitsanforderungen unter dem Gesichtspunkt des Art. 12 GG vgl. BVerfGE 33, 303 ff.; Tettinger, in: Sachs, GG, Art. 12 Rn. 139 ff. 203

B. Bloße Unvereinbarerklärung

127

se eingeführt werden. Oder er ist unter dem Gesichtspunkt des Art. 12 Abs. 1 GG generell nicht gerechtfertigt. Dann scheitert eine Ausdehnung an den Freiheitsgrundrechten. Ein Gleichheitsproblem liegt dann nicht vor. Insoweit gilt dasselbe wie oben bei den Begünstigungsausschlüssen. Gewährt ein Gesetz nur Männern Sozialhilfe, Frauen dagegen nicht, so stellt sich in Wahrheit kein Gleichheitsproblem, sondern ein freiheitsrechtliches Problem. Denn die von der Begünstigung ausgeschlossenen Frauen könnten Sozialhilfe auch dann verlangen, wenn Männern nach der bisherigen Regelung ebenfalls keine Sozialhilfe gewährt würde. Es besteht in diesen Fällen nämlich ein originärer Leistungsanspruch gegen den Staat, der nicht erst über die Ungleichbehandlung gegenüber einer anderen Gruppe vermittelt wird. 207 Einer Beschränkung auf eine Unvereinbarerklärung bedarf es somit bei der Überprüfung gleichheitswidrig belastender Normen nicht, soweit diese eine Anwendungssperre nach sich ziehen. Nur soweit eine Unvereinbarerklärung mit der übergangsweisen befristeten Weiteranwendbarkeit der verfassungswidrigen Norm verbunden wird208 , unterscheiden sich die Rechtsfolgen der Nichtig- und der Unvereinbarerklärung. Das Argument, daß die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers durch das Bundesverfassungsgericht gewahrt werden muß, vermag somit nicht den Verzicht auf die Nichtigerklärung gleichheitswidrig belastender Normen und die Beschränkung auf eine bloße Unvereinbarerklärung zu rechtfertigen. Soweit die Unvereinbarerklärung - wie im Regelfall - eine Anwendungssperre für die Norm nach sich zieht, folgt dies daraus, daß die Nichtigerklärung keine anderen Rechtsfolgen zeitigt als die Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre und eine Nichtigerklärung der Norm auch den Rechtsschutzzielen der gleichheitswidrig Belasteten - anders als den von einer Begünstigung Ausgeschlossenen - gerecht wird. Soweit das Bundesverfassungsgericht trotz der Unvereinbarerklärung die übergangsweise Fortgeltung des verfassungswidrigen Gesetzes akzeptiert, beruht dies indes nicht auf der Rücksichtnahme auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, sondern darauf, daß die Nichtigerklärung der Norm oder eine Anwendungssperre infolge der Unvereinbarerklärung zu einem Zustand führen würde, der der Verfassung noch ferner stände als das jetzige materiell verfassungswidrige Gesetz. 209

207 V gl. zur Ableitung von unmittelbaren Leistungsansprüchen des Bürgers gegen den Staat auf Gewährung des Existenzminimums, das ein menschenwürdiges Dasein sichert, BVerfGE 40,121 (\33); 82, 60 (85); BVerwGE I, 159 (161); Degenhart. Staatsrecht I, Rn. 359; Ipsen. Grundrechte, Rn. 223 f. 208 Dazu noch unten § 3 B I 2 und II 2. 209 Unzutreffend daher die Begründung der Unvereinbarerklärung mit den verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers in BVerfGE 93, 121 (148) zur unterschiedlichen Belastung einheitswertgebundenen und anderen Vermögens. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers wäre in gleicher Weise gewahrt gewesen, wenn die Bestimmungen des VStG für nichtig erklärt worden wären und die vermögensteuerliche

128

§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

Im Ergebnis ist somit festzuhalten, daß es der Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre für die verfassungswidrige Norm bei der Überprüfung gleichheitswidrig belastender Normen nicht bedarf. Auch soweit der Bürger rechtswidrige Eingriffe in Freiheitsrechte angreift, vermag das Argument der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers den Verzicht auf die Nichtigerklärung des verfassungswidrigen Gesetzes nicht zu rechtfertigen, auch wenn er mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes hat. 2lO Denn die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers wäre ebenso wenig eingeschränkt, wenn der Gesetzgeber nach einer Nichtigerklärung des verfassungswidrigen Gesetzes eine verfassungsmäßige - ggf. auch rückwirkende211 - Neuregelung träfe. Die Beschränkung auf eine bloße Unvereinbarerklärung bei einem Gesetz, das gegen Freiheitsrechte verstößt, mit dem Argument, daß der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes habe,212 offenbart vielmehr einen Wechsel zwischen zwei Sichtweisen. In der genannten Entscheidung führt das Bundesverfassungsgericht einerseits aus, daß das Existenzminimum steuerlich verschont werden müsse. Ein Steuergesetz, das erdrosselnde Wirkung hat, greift rechtswidrig in

Belastung somit aufgrund des Gleichheitsverstoßes hätte abgewehrt werden können. Die Unvereinbarerklärung führte indes in bei den Fällen zu einer befristeten Weiteranwendbarkeit des Gesetzes; diese konnte nur durch kollidierendes Verfassungsrecht auf der Rechtsfolgenseite gerechtfertigt werden, also etwa die "Erfordernisse verläßlicher Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung", so BVerfGE 93, 121 (148). - Ebenso unzutreffend zieht BVerfGE 87, 153 (178) die verschiedenen Möglichkeiten zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes - Gewährleistung eines ausreichenden Grundfreibetrages, der aufgrund der freiheitsrechtlichen Gewährleistungen (so BVerfGE 87, 153 (169» steuerlich verschont werden muß - durch den Gesetzgeber zur Begründung heran, daß sich das Bundesverfassungsgericht auf eine bloße Unvereinbarerklärung zu beschränken habe. Auch hier ging es um die befristete Fortgeltung des für verfassungswidrig erachteten Rechtszustandes, die nur aufgrund relativ größerer Verfassungsnähe zu rechtfertigen ist (so auch das weitere Argument von BVerfGE 87, 153 (177 f.». - Zur Frage, ob die rechtsschutzsuchenden Bürger im letztgenannten Fall eine "Begünstigung" (Einbeziehung in den steuerfreien Grundfreibetrag) erstreben oder eine "Belastung" (Besteuerung des Existenzminimums) abwehren wollen, noch ausführlich unten § 3 B I I c und d. - Zur Weiteranwendbarkeit einer Norm trotz Verfassungswidrigerklärung noch ausführlich unten § 3 B I 2 und II 2. 210 Anders BVerfGE 87, 153 (177 f.). 211 Die Ersetzung einer ungültigen oder verfassungswidrigen Norm ist eine der Fallgruppen, in denen selbst eine sog. echte Rückwirkung ausnahmsweise zulässig ist, vgl. BVerfGE 7,89 (93 f.); Spind/er. DStR 1998,953 (955) m.w.N. - Zu den Voraussetzungen zulässiger Rückwirkung allgemein zuletzt etwa BVerfGE 97, 67 (78 ff.); Degenhart. Staatsrecht I, Rn. 309 ff. 212 So BVerfGE 87, 153 (178). Dort wird dieses als eines von zwei Begründungen neben dem Argument relativ größerer Verfassungsnähe der Fortgeltung verfassungswidrigen Rechts genannt. V gl. zu letzterem noch unten § 3 B I 2.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

129

ein Freiheitsrecht ein. 213 Rechtswidrige Eingriffe in Freiheitsrechte können - ihrer klassischen Funktion entsprechend - abgewehrt werden. 214 Dem entspricht die Perspektive, eine freiheitsrechtswidrige Steuer insgesamt abzuwehren, da diese rechtswidrig ist. 215 Bei einer Gesamtbetrachtung zielt der Steuerpflichtige auf Abwehr der eigenen steuerlichen Belastung. Betrachtet man dagegen isoliert die Norm, die die Höhe des steuerlichen Grundfreibetrages festlegt, so handelt es sich insoweit um eine begünstigende Norm, die indes verfassungswidrigerweise die Begünstigung (das steuerfrei zu stellende Existenzminimum) zu niedrig festgesetzt hat. Bei dieser isolierten Betrachtung, die nicht auf Abwehr der (gesamten216) steuerlichen Belastung, sondern auf Einbeziehung in die Begünstigung (SteuerfreisteIlung) geht, wäre die bloße Unvereinbarerklärung vom Rechtsschutzziel der Betroffenen her ein geeignetes Mittel, ihnen mit einem Offenhalten des Verfahrens die Möglichkeit zu eröffnen, von einer verfassungsmäßigen Neuregelung zu profitieren. Um die Rechtsschutzperspektive der Betroffenen, die oben als einzige sachliche Rechtfertigung für die Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre erkannt wurde,217 ging es in der Entscheidung zum Existenzminimum2l8 jedoch gerade nicht; vielmehr knüpfte das Bundesverfassungsgericht dort an die Unvereinbarerklärung die weitere Anwendbarkeit der Norm. Indes hat die Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre völlig andere Voraussetzungen und Ziele (Rechtsfolgen) als die Form der Unvereinbarerklärung, die mit der Anordnung der Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm verbunden wird. Die Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre kann nur in den oben genannten Konstellationen gerechtfertigt werden, d.h., nur falls subjektiver Rechtsschutz im Bereich des Gleichheitssatzes anders nicht gewährt werden könnte. Dagegen ergibt sich die Unvereinbarerklärung, die mit der Anordnung der Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm verbunden wird, aus der relativ größeren Verfassungsnähe der Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm gegenüber dem Zustand bei Nichtigerklärung der verfassungswidrigen Norm. 219

BVerfGE 87, 153 (169). V gl. nur PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 61. 215 Dem entspricht auch die Fehlerfolge rechtswidriger Satzungen. Diese werden sofern nicht kraft gesetzlicher Regelung, z.B. §§ 214 ff. BauGB, 7 Abs. 6 GO NW, ausgeschlossen - insgesamt für nichtig erklärt, vgl. nur Erichsen, Kommunalrecht, § 8 D; Tettinger, Besonderes Verwaltungsrechtli, Rn. 114. Allerdings ist eine echte Rückwirkung der neu zu erlassenden Satzung weitgehend zulässig, vgl. nur BVerwGE 50, 2 (Leitsatz I); 67, 129 (Leitsatz I). 216 Weil das Freiheitsrecht verfassungswidrig durch die Steuer zu weit eingeschränkt wird. 217 § 3 B I I a cc (3). 218 BVerfGE 87,153 ff. 219 Dazu unten § 3 B I 2. 2IJ

214

9 Wernsmann

130

§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes c) Erfordernis einer Gesamtbetrachtung aller Normen,

auf denen die Ungleichbehandlung beruht

Die soeben gemachten Ausführungen leiten zu der Frage über, ob Normen stets isoliert betrachtet oder - als Elemente von Normkombinationen - vollständig im Wege einer Gesamtschau verfassungsrechtlich überprüft werden müssen.

aa) Bestimmung der verfassungswidrigen Norm durch das Bundesverfassungsgericht Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage, auf welche Normen sich jeweils das Verdikt der Verfassungswidrigkeit bei Annahme eines Gleichheitsverstoßes erstreckt, läßt sich kurz wie folgt zusammenfassen: (l) In den Fällen des sog. ausdrücklichen gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses 220 erachtet das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nur die Verfassungsmäßigkeit der Ausschlußnorm für entscheidungserheblich. Dementsprechend erklärt es im Falle eines Gleichheitsverstoßes grundsätzlich nur diese Ausschlußnorm für verfassungswidril21 (und, sofern mit Sicherheit

220 Beispiel

loben § 3 B I 1 a bb (1). Vgl. exemplarisch BVerfGE 88, 87 (88, 96, 101 f.). Dort wurde eine Altersgrenze von 25 Jahren für eine Vornamensänderung Transsexueller, die also die Gruppe der Jüngeren ausdrücklich von der "Begünstigung" der Änderungsmöglichkeit ausschloß, für verfassungswidrig erachtet. - Bei einer richtigerweise vorzunehmenden Gesamtbetrachtung stellt das Gesetz, daß die Möglichkeit der Vornamensänderung an Voraussetzungen knüpft bzw. versagt, indes eine Belastung dar, greift also auch in das Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GO in Form des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ein (vgl. zur Auswirkung der überprüften Normen auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht BVerfGE 88, 87 (97); wegen der Annahme eines Gleichheitsverstoßes blieb Art. 2 Abs. I GO im konkreten Fall aber als Prüfungsmaßstab unberücksichtigt, vg!. BVerfGE 88, 87 (101». Die Möglichkeit der Vornamensänderung, die die Norm nur Alteren gewährte, stellt somit keine Begünstigung für die Älteren dar, sondern vielmehr eine Ausnahme von einer Belastung, die Jüngeren nicht gewährt wird. Daher konnte die Norm, die die Altersgrenze statuierte, auch für nichtig erklärt werden, da es sich um einen Eingriff handelte und dieser infolge Verfassungswidrigkeit abgewehrt werden konnte. Insofern handelt es sich nicht um die Ausdehnung einer Begünstigung, die dem Bundesverfassungsgericht unter Kompetenzgesichtspunkten grundsätzlich verwehrt ist, sondern vielmehr um die Kassation einer rechtswidrigen Belastung. Insofern hätte es bei Vornahme einer Gesamtbetrachtung im konkreten Fall der Begründung nicht bedurft, daß ein Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers deswegen nicht vorlag, weil die nach Nichtigerklärung verbleibende Fassung seinem Willen mit Sicherheit entsprechen würde, BVerfGE 88, 87 (10 1 f.). (Zur Kritik an der Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Gesetzgebers durch das Bundesverfassungsgericht siehe noch § 3 B I 1 c cc (2).) Dies wird auch 221

B. Bloße Unvereinbarerklärung

131

anzunehmen ist, daß der Gesetzgeber bei Beachtung des allgemeinen Gleichheitssatzes die nach der Nichtigerklärung verbleibende Regelung wählen würde, ausnahmsweise für nichtil22 ). Die Verfassungswidrigerklärung wird also nicht auf die für beide Vergleichs gruppen geltende Grundnorm erstreckt, obwohl die Behandlung der bevorzugten Gruppe auf dieser beruht. (2) Wenn ein Norrnsystem nur die gleichheitswidrig begünstigte Vergleichsgruppe nennt und die andere überhaupt nicht erwähnt (sog. konkludenter gleichheitswidriger Begünstigungsausschluß223 ), so erklärt das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich die drittbegünstigende Regelung für veifassungswidrig 224 , obwohl sie in ihrem Wortlaut die nicht begünstigte Vergleichsgruppe gerade nicht nennt. (Ferner erachtet es - dies ist gleichsam die prozessuale Kehrseite die Verfassungsmäßigkeit dieser drittbegünstigenden Norm als entscheidungserheblich nach Art. 100 Abs. 1 GG, sofern eine Chance auf Einbeziehung in die Begünstigung besteht225 ). Die Unvereinbarerklärung betrifft nach der Recht-

an der Kontrollüberlegung deutlich, wie der Fall zu beurteilen gewesen wäre, wenn das Bundesverfassungsgericht in der Altersgrenze nicht einen Gleichheitsverstoß, sondern einen unzulässigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Freiheitsrecht) gesehen hätte. (Auch) in diesem Falle hätte die Norm über die Altersgrenze für nichtig erklärt werden können und müssen. 222 BVerfGE 27,391 (399); 88, 87 (101). 223 Beispiel 2 oben § 3 B I 1 a bb (2). 224 Exemplarische Fälle eines konkludenten Begünstigungsausschlusses: (1) Ein erhöhter Auslandszuschlag wurde nach § 55 Abs. 5 S. 6 BBesG nur Soldaten, die im Ausland in integrierten militärischen Stäben verwendet wurden, gewährt, nicht jedoch Beamten in gleicher Verwendung, vgl. BVerfGE 93, 386 (386 f., 389). BVerfGE 93, 386 (386, 396) erklärte die (drittbegünstigende) Regelung des § 55 Abs. 5 S. 6 BBesG für mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit Soldaten, die im Ausland ... in integrierten militärischen Stäben verwendet wurden, ein erhöhter Auslandszuschlag gewährt, Beamten in gleicher Verwendung diese Leistung jedoch vorenthalten wurde. (2) Ein Gesetz gewährte nur alleinstehenden weiblichen Arbeitnehmern einen arbeitsfreien Hausarbeitstag, nicht jedoch männlichen alleinstehenden Arbeitnehmern. BVerfGE 52, 369 (370, 373, 379) erklärte hier auf die Klage eines männlichen alleinstehenden Arbeitnehmers die drittbegünstigende Norm, die Frauen in gleicher Lage den Anspruch auf den Hausarbeitstag gewährte, nämlich § 1 HATG NW, für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 2 GG. - Zur Abgrenzung in Grenzfällen oben § 3 B I 1 bb (5). 225 Vgl. exemplarisch den bereits mehrfach erwähnten Zinsamnestie-Fall BVerfGE 84,233 (237 f.). Das vorlegende FG Münster hatte einen Steuerbefreiungstatbestand zugunsten von Steuerhinterziehern für zurückliegende Veranlagungszeiträume als "Begünstigung" bezeichnet, vgl. BVerfGE 84, 233 (235). Die Steuerehrlichen hatten nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts keine Chance auf Einbeziehung in diese Norm. Daher hielt das Bundesverfassungsgericht die Vorlage für unzulässig. Hier beruhte die Verneinung der Entscheidungserheblichkeit einzig auf gesetzestechnischen Aspekten. Dies wird deutlich, wenn die Kontrollüberlegung angestellt wird, wie zu entscheiden gewesen wäre, wenn nach dem Normsystem nicht ein Befreiungstatbestand für Steuersünder geschaffen worden wäre (Norm: "Von der Steuerpflicht nach § 20 EStG werden Steuersünder befreit"), sondern zwei getrennte Normen gebildet worden wären (Normen: .. § 1: Steuerehrliche haben Einkünfte aus Kapitalvermögen zu versteuern. § 2:

132

§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

sprechung des Bundesverfassungsgerichts in diesem Fall also die drittbegünstigende Norm, die die Behandlung der nicht beteiligten Vergleichsgruppe regelt. Eine die benachteiligte Gruppe (A) nennende Norm existiert nicht, so daß sich die Verfassungswidrigkeit infolge Gleichheitsverstoßes nur an dieser Norm festmachen läßt. (3) Beruht dagegen die Ungleichbehandlung zweier Vergleichsgruppen auf zwei unterschiedlichen, selbständig (d.h. nicht im Regel-Ausnahme-Verhältnis) nebeneinander stehenden Normen 226, sind also beide Vergleichsgruppen der in unterschiedlichen Regelungen erwähnt worden, so legt das Bundesverfassungsgericht seiner verfassungsrechtlichen Überprüfung nur diejenige Norm zugrunde, die auf die Rechtsschutz suchende (benachteiligte) Vergleichsgruppe anwendbar ist. 227 Die Verfassungswidrigkeit der Normen, die für die Behandlung

Steuersünder sind von § 1 befreit." - § 2 ist im Beispiel rein deklaratorisch). Im letztgenannten Fall wäre die Verfassungsmäßigkeit des § 1 im Ausgangsverfahren der Steuerehrlichen jedenfalls entscheidungserheblich gewesen. Außerdem wird an dieser Entscheidung auch das Erfordernis der Differenzierung zwischen Begünstigungen und Belastungsbefreiungen deutlich, da gleichheitswidrige Belastungsbefreiungen Dritter dazu führen, daß die gleichheits widrig Belasteten ihre Belastung grundsätzlich abwehren können, da insoweit auch ein rechtswidriger Eingriff in ein Freiheitsrecht (jedenfalls Art. 2 Abs. 1 GG) vorliegt. A.A. insoweit aber etwa PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 540. Dazu noch § 3 B I 1 d bb. 226Beispiel 3 oben § 3 B I 1 a bb (3). 227 Exemplarisch BVerfGE 89,15 (15,17 f., 22). Nach § 3b Abs. I EStG (die Steuerbefreiungsvorschrift soll hier zunächst mit dem Bundesverfassungsgericht als "Begünstigung" verstanden werden; zur Differenzierung zwischen Begünstigungen und Belastungsbefreiungen vgl. oben § 3 B I 1 a aa und zu den Konsequenzen daraus vgl. § 3 B I 1 d) waren die Nachtarbeitszuschläge bei Arbeitnehmern, deren Anspruch auf Zuschlagszahlung durch Gesetz oder Tarifvertrag festgelegt war, in vollem Umfang steuerfrei, während gern. § 3b Abs. 2 Nr. 4 EStG bei allen anderen Arbeitnehmern Steuerfreiheit nur bis zu einem Höchstbetrag gewährt wurde. Zwar nimmt das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung zur Begründung einer Ungleichbehandlung sowohl auf § 3b Abs. I EStG als auch auf § 3b Abs. 2 Nr. 4 EStG Bezug (BVerfGE 89, 15 (23», erklärt jedoch gleichwohl nur § 3b Abs. 2 Nr. 4 EStG für mit Art. 3 Abs. I GG unvereinbar, vgl. BVerfGE 89, 15 (15, 22). Obwohl die Ungleichbehandlung der bei den Vergleichsgruppen auf bei den Vorschriften beruht, wird also nur diejenige Vorschrift für verfassungswidrig erachtet, die auf die benachteiligte Vergleichsgruppe anwendbar ist. Soweit diese Beschränkung der Verfassungswidrigerklärung auf die fehlende Entscheidungserheblichkeit gestützt wird (- eine derartige Begründung findet sich ausdrücklich allerdings nicht -), wird auf diesen Einwand unten § 4 noch eingegangen. Auch eine weitere Tendenz ist in der Entscheidung erkennbar: Wenn das Bundesverfassungsgericht ausführt, daß es mit Art. 3 Abs. I GO nicht vereinbar war, "daß der Gesetzgeber den in § 3b Abs. 2 Nr. 4 EStG festgelegten Höchstbetrag ... nicht überprüft und an die veränderten tatsächlichen Verhältnisse angepaßt hat" (so BVerfGE 89, 15 (24», so wird auch hier deutlich, daß das Bundesverfassungsgericht nicht die Regelung der Steuerfreiheit nach § 3 b Abs. 1 EStG für beanstandenswert hält, sondern das "Unterlassen" der Verbesserung der Rechtsstellung der benachteiligten Gruppe. - Bemerkenswert in dieser Hinsicht auch BVerfGE 55, 100 (112 f.) als Folgeentscheidung zu BVerfGE 39,316 (332 0: Dort erklärte BVerfGE 55, 100 ein Gesetz für nichtig, das

B. Bloße Unvereinbarerklärung

133

der bevorzugten Vergleichsgruppe einschlägig sind, wird hier also nicht festgestellt.

bb) Kritik Das Bundesverfassungsgericht erstreckt also in einIgen Fällen - nämlich beim sog. konkludenten Begünstigungsausschluß - das Verdikt der Verfassungswidrigkeit auf die Normen, die die Behandlung der nicht am Ausgangsbzw. Verfassungsbeschwerdeverfahren beteiligten bevorzugten Gruppe betreffen, während es im übrigen nur die Normen, die die Behandlung der klagenden benachteiligten Gruppe betreffen, für verfassungswidrig und ggf. nichtig erklärt. Es differenziert also bei der Frage, auf welche Normen sich die Feststellung der Verfassungswidrigkeit erstreckt und inwieweit die Normsubstanz von der Verfassungswidrigkeit erfaßt wird.

( J) Bedeutung der unterschiedlichen Bestimmung des Prüfungsgegenstandes

Diese Differenzierung führt dazu, daß von der Gesetzestechnik erstens abhängig gemacht wird, ob eine Drittbevorzugung zulässigerweise zur Überprü-

eine Begünstigung insgesamt abgeschafft hatte, die BVerfGE 39, 316 (nur) für verfassungswidrig erklärt hatte mit der Begründung, daß der Gesetzgeber verschiedene Regelungsalternativen habe, denen das Bundesverfassungsgericht nicht vorgreifen dürfe, und er insbesondere auch die Begünstigung insgesamt (d.h. für alle Vergleichsgruppen) beseitigen könne. Ipsen, JZ 1983, 41 (42) spricht insoweit von Konfusion und macht wechselseitig enttäuschte Erwartungshaltungen zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht aus. Das Vorgehen von BVerfGE 55, 100 deckt sich freilich mit dem Verständnis Dürigs (Nachweise oben § 3 B I 1 a dd (2», daß der Gleichheitssatz dem Verbessern der eigenen Rechtsstellung diene; fraglich erscheint aber in solchen Konstellationen, wie die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers unter diesen Voraussetzungen beachtet wird, deren Berücksichtigung gerade Zweck der Unvereinbarerklärung sein soll, vgl. nur BVerfGE 93,386 (402).- In BVerfGE 89, 15 ff. fehlen indes diese Ausführungen. - Als weiteres Beispiel für dieses Vorgehen könnte etwa BVerfGE 82, 126 ff. genannt werden. Das BVerfG erklärte § 622 Abs. 2 S. 1 und S. 2 Hs. I BGB für verfassungswidrig, der für Arbeiter kürzere Kündigungsfristen bestimmte als § 622 Abs. I BGB und § 2 S. 1 bis 3 AngKSchG für Angestellte. Obwohl sich der Gleichheitsverstoß (Benachteiligung der Arbeiter) erst aus einem Vergleich mit den für die Angestellten geltenden Vorschriften ergibt (vgl. dazu BVerfGE 82, 126 (146 f.», erklärt das Bundesverfassungsgericht nur die Vorschrift, die auf die benachteiligte Gruppe der Arbeiter anzuwenden ist, für verfassungswidrig, vgl. BVerfGE 82, 126 (127, 145, 154).

134

§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

fung des Bundesverfassungsgerichts gestellt werden kann228 , und zweitens, wie in der Phase bis zur Neuregelung des Gesetzgebers zu verfahren ist, ob die drittbevorzugenden Nonnen also noch angewendet werden können. Grundsätzlich knüpft das Bundesverfassungsgericht an die Verfassungswidrigerklärung einer Nonn eine Anwendungssperre für diese Norm, d.h., sie darf nicht mehr angewendet werden, bis der Gesetzgeber eine den Anforderungen der Verfassung entsprechende Regelung getroffen hat. 229 Liegt ein konkludenter Begünstigungsausschluß vor (so daß der benachteiligten Gruppe gar nichts gewährt wird und dies auf Nichterwähnung beruht) und erklärt das Bundesverfassungsgericht dementsprechend die driubegünstigende Regelung für verfassungswidrig, so kommt auch die bisher bevorzugte Gruppe bis zu der Neuregelung durch den Gesetzgeber nicht mehr in den Genuß der Begünstigung. 23o Wird dagegen - wie in den anderen Fällen - nur diejenige Norm für verfassungswidrig erklärt, die die Rechtsverhältnisse der benachteiligten Gruppe regelt, (also etwa weniger gewährt als der anderen Gruppe,) so erstreckt sich auch die Normanwendungssperre nur auf diese Norm, d.h., die Begünstigung der bevorzugten Gruppe läuft automatisch weiter.

(2) Struktur des Gleichheitssatzes

Gegen die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Differenzierung spricht auch die Struktur des Gleichheitssatzes. Ein Gleichheitsverstoß ergibt sich stets erst aus dem Vergleich einer Gruppe oder eines Sachverhaltes mit ei-

228 Zur Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit i.S.d. Art. 100 Abs. 1 GG noch unten § 4. 229Vgl. nur BVerfGE 93,386 (402, 403). - Näher zu den unterschiedlichen Rechtsfolgen einer Unvereinbarerklärung noch unten § 3 B H. 230 Für die oben genannten Beispiele bedeutet dies: Die Soldaten in den integrierten militärischen Stäben im Ausland kamen nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls nicht mehr in den Genuß der ihnen bisher geWährten Stellenzulage, vgl. ausdrücklich BVerfGE 93, 386 (402 f.). - Der kraft Gesetzes bisher nur Frauen gewährte arbeitsfreie Hausarbeitstag kann nach der Unvereinbarerklärung des Gesetzes der bisher begünstigten Vergleichsgruppe (den Frauen) ebenfalls nicht mehr gewährt werden, da die für unvereinbar erklärte Vorschrift vom Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an grundsätzlich (zu Ausnahmen und deren Voraussetzungen siehe unten 2 und H 2) nicht mehr angewandt werden darf; vgl. zu letzterem BVerfGE 37, 217 (261); 55,100 (110); 61, 319 (356); 73, 40 (101 f.); 82,126 (155); 93, 386 (402). Wollen Frauen also zwischen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und Neuregelung durch den Gesetzgeber den Anspruch auf einen Hausarbeitstag aufgrund des für verfassungswidrig erklärten Gesetzes gerichtlich durchsetzen, so sind diese Verfahren ebenfalls bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber auszusetzen, vgl. Heußner. NJW 1982, 257 (259 0.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

135

ner anderen Gruppe oder einem anderen Sachverhalt. Dieser Befund wurde in der Literatur auch mit Begriffen wie einem ,,relativen Verfassungsverstoß,,231 oder einer "verfassungswidrigen Normenrelation,,232 bezeichnet. Um einen Gleichheitsverstoß erkennen zu können, muß die Kontrollinstanz immer über die Norm, die nur die Behandlung der einen Vergleichsgruppe regelt, hinausschauen und die Normen, die die Behandlung der anderen Vergleichsgruppe regeln, zum Vergleich heranziehen. Ergibt sich ein Gleichheitsverstoß aber stets erst aus einer Zusammenschau mehrerer Regelungen, die die Behandlung der bei den Vergleichsgruppen regeln, so kann ein solcher immer erst aus der andersartigen Behandlung der anderen Vergleichsgruppe folgen. Der Gleichheitsverstoß muß damit notwendigerweise alle Normen erfassen, auf denen die Ungleichbehandlung der beiden Vergleichsgruppen beruht. Dann ist aber nicht erkennbar, wieso das Bundesverfassungsgericht nur in den Fällen des konkludenten Begünstigungsausschlusses die Verfassungswidrigkeit der drittbegünstigenden Regelung feststellt. Zwar geht die Behandlung des nicht begünstigten Personenkreises auch hier nicht auf die drittbegünstigende Norm zurück, jedoch beruht die Ungleichbehandlung der von der Begünstigung ausgeschlossenen Gruppe auch auf dieser Norm. Insoweit ist es zutreffend, in einem Verfahren, in dem ein Mitglied der bisher nicht begünstigten Vergleichsgruppe seine Rechte geltend macht (Verfassungsbeschwerde) oder dem ein solches Ausgangsverfahren zugrunde liegt (Verfahren der konkreten Normenkontrolle), die drittbegünstigende Norm für mit Art. 3 Abs. 1 GG bzw. für mit einem der besonderen Gleichheitsrechte unvereinbar zu erklären. Nichts anderes kann indes für die Fälle gelten, in denen zwei eigenständige Regelungen für die beiden Vergleichsgruppen existieren,233 bzw. für die Fälle des ausdrücklichen Begünstigungsausschlusses, also einer Normkombination, deren Normen im Regel-Ausnahme-Verhältnis zueinander stehen. In den heiden letztgenannten Fällen, in denen die benachteiligte Vergleichsgruppe im Wortlaut einer der bei den Regelungen ausdrücklich genannt wird, beruht die Ungleichbehandlung auch auf den Normen, die die Behandlung der anderen Vergleichsgruppe betreffen, wenngleich die Grundnorm (beim ausdrücklichen Begünstigungsausschluß) bzw. der die andere Vergleichsgruppe betreffende Regelungskomplex nicht für die Behandlung der benachteiligten Vergleichsgruppe maßgeblich ist. Folgerichtig ist daher nur der Weg, die Unvereinbarerklärung in den Fällen des ausdrücklichen Begünstigungsausschlusses und in den Fällen zweier selbständiger Regelungssysteme ebenfalls auf diejenigen Normen zu erstrecken,

231 So Maurer, in: Festschrift für Weber, S. 345 (354). 232 So lpsen, Rechtsfolgen, S. 213 f. 233 So auch Sachs, NVwZ 1982,657 (661).

136

§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

die die Behandlung der besser gestellten Vergleichsgruppe betreffen und aus denen sich erst die Ungleichbehandlung der bei den Vergleichsgruppen ergibt. 234

(3) Keine Differenzierung nach der Gesetzestechnik

Schließlich kann allein der formalen gesetzestechnischen Einkleidung durch den Gesetzgeber keine Bedeutung für die Frage der Zulässigkeit des Rechtsschutzes und seiner Ergebnisse zukommen. 235 Dies folgt schon daraus, daß sonst der Gesetzgeber als einer der Bindungsadressaten des Gleichheitssatzes gern. Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG darüber disponieren könnte, in welchem Umfang sein Handeln überprüft werden kann. Insoweit wird zutreffend darauf hingewiesen, daß dieser Unterschied allein im sprachlichen Bereich liegt 236 und sich die Situationen des ausdrücklichen und des konkludenten Begünstigungsausschlusses materiell nicht unterscheiden. Fragen der Gesetzestechnik können somit nicht darüber entscheiden, wie weit die Verfassungswidrigkeit infolge des Gleichheitsverstoßes reicht, insbesondere ob die Unvereinbarerklärung die driubegünstigende Regelung erfaßt oder nicht. Vielmehr müssen diese materiell völlig identischen Fallkonstellationen des ausdrücklichen und konkludenten Begünstigungsausschlusses sowie der selbständig nebeneinander stehenden Regelungen gleich behandelt werden. Zur Bestimmung der Reichweite der Verfassungswidrigkeit (und Verfassungswidrigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht) ist darauf abzustellen, auf welchen Regelungen die Ungleichbehandlung beider Vergleichsgruppen beruht. Insoweit sind dann alle Regelungen, auf denen die Behandlung der bei den Vergleichsgruppen beruht, für verfassungswidrig zu erklären. Dies gilt auch dann, wenn diese - wie etwa im Falle des ausdrücklichen Begünstigungsausschlusses die für beide Vergleichsgruppen geltende Grundnorm - im Wortlaut nicht zwischen beiden Vergleichsgruppen differenziert, vielmehr insoweit eine - aufgrund der Existenz der Ausnahmevorschrift nicht bestehende - Gleichbehandlung bei der Vergleichsgruppen vorspiegelt. Sind aber alle Normen, auf denen die Ungleichbehandlung beider Vergleichsgruppen beruht, wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig, so sind auch sämtliche Normen für verfassungswidrig und ggf. nichtig 234 Anders bisher die Praxis des Bundesverfassungsgerichts, vgl. z.B. BVerfGE 82, 126 ff. 235 So auch BVerwGE 102, 113 (118); Dürig, in: MaunzJDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 356; Lerche, AöR 90 (1965), 341 (342, 352); Rauschning, Die Sicherung der Beachtung von Verfassungsrecht, S. 234. Für Maßgeblichkeit der Gesetzestechnik dagegen, aber nicht überzeugend Schneider, AöR 89 (1964), 24 (39). Auch FG Münster EFG 1998, 1647 (1648 f.) verneint die Möglichkeit einer Vorlage implizit aus Gründen der Gesetzestechnik, vgl. dazu ablehnend Wernsmann, FR 1999, 242 (244 f., 246 f.). 236 Dürig, in: MaunzJDürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 356.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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zu erklären. Da das Verdikt der Verfassungswidrigkeit bei dieser Methode in der Regel mehr Normsubstanz ergreift, wird sich dann indes vermehrt die Frage stellen, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen die Normen trotz Verfassungswidrigerklärung weiter angewendet werden können. 237 Das Ergebnis, daß das Verdikt der Verfassungswidrigkeit alle Normen erfassen muß, auf denen die ungleiche Behandlung der beiden Vergleichsgruppen beruht, gilt auch in den Fällen, in denen der Gleichheitsverstoß erst durch eine spätere Regelung entsteht. Durch den Erlaß dieser Norm entsteht der Gleichheitsverstoß, d.h., die ursprüngliche Norm, die weiter die Behandlung einer der bei den Vergleichsgruppen regelt, wird verfassungswidrig ab dem Zeitpunkt, in dem die nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung eintrat. 238 Denn die Kollision der einfach-gesetzlichen Rechtslage mit dem höherrangigen Recht (Art. 3 Abs. 1 GG) entsteht erst mit dem Erlaß der späteren Norm.

cc) Parallelen zu Gesamtbetrachtungen in anderen Konstellationen (1) Durchschlagen unzureichender Erhebungsregelungen auf die Verfassungsmäßigkeit des materiellen Besteuerungstatbestandes

Eine solche zu begrüßende Tendenz zu einer Gesamtbetrachtung ist bisweilen auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erkennbar. Zwar nimmt das Bundesverfassungsgericht wie dargelegt bei der Feststellung der Verfassungswidrigkeit bzw. Nichtigkeit einer Norm jedenfalls außerhalb des Bereichs der konkludenten Begünstigungsausschlüsse eine solche Gesamtbetrachtung regelmäßig nicht vor, beschränkt die Nichtigerklärung bzw. Feststellung der Verfassungswidrigkeit nur auf die Ausnahmebestimmung (im Falle eines ausdrücklichen Begünstigungsausschlusses) bzw. auf diejenige Norm inner-

Dazu unten § 3 B I 2 und Ir 2. Ohne Begründung a.A. Sachs, NVwZ 1982,657 (661 Fn. 65), wonach in diesen Fällen der Erlaß der späteren Vorschrift die Verfassungsverletzung bewirke und zu deren Nichtigkeit führe. Diese Sichtweise verfehlt die Ergebnisoffenheit des Gleichheitssatzes. Es wird nicht klar, warum der nunmehr bestehende Gleichheitsverstoß in der Weise abgestellt werden soll, daß nunmehr insgesamt wieder das frühere Recht gilt. Beruht der Gleichheitsverstoß auf zwei eigenständigen Regelungssystemen für die jeweiligen Vergleichsgruppen, so nimmt auch Sachs, NVwZ 1982,657 (661) an, daß in diesen Fällen beide verfassungswidrig seien. Nichts anderes kann indes gelten, wenn die Ungleichbehandlung der bei den Vergleichsgruppen auf einem Regel-Ausnahme-Verhältnis beruht. Entsteht der Gleichheitsverstoß erst mit dem späteren Erlaß, so ist das Regelungssystem verfassungswidrig geworden. Aufgrund der Ergebnisoffenheit des Gleichheitssatzes kann aber nicht nur eine der bei den Regelungsmöglichkeiten für verfassungswidrig erklärt werden. 237 238

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

halb zweier eigenständiger Regelungskomplexe, die auf die benachteiligte Vergleichsgruppe anwendbar ist. Indes hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Zinsbesteuerung 239 eine mit dem vorliegenden Problem strukturell vergleichbare Gesamtbetrachtung zwischen gesetzlicher Grundlage und Normvollzug vorgenommen. In dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, daß ein gleichheitswidriger Normvollzug zur Verfassungswidrigkeit auch der materiellen Steuernorm führt, wenn die Erhebungsregelung sich strukturell gegenläufig auswirkt und dieses Ergebnis dem Gesetzgeber zuzurechnen ist. 240 Materielle Rechtsetzung und Rechtsanwendung werden also nicht getrennt voneinander betrachtet, vielmehr hängt die Verfassungsmäßigkeit der materiell-rechtlichen Grundlage der Besteuerung auch von der Ordnungsmäßigkeit des Normvollzuges ab. 241 Das Bundesverfassungsgericht nimmt in dieser Entscheidung an, daß Umstände außerhalb einer "an sich" (d.h. isoliert betrachtet)242 verfassungsmäßigen Norm243 zu deren Verfassungswidrigkeit führen können. 244 Beschränkt man sich auf den einfacheren Fall, daß die materielle Steuemorm wegen verfassungsrechtlich unzureichender gesetzlicher Erhebungsregelungen verfassungswidrig ist bzw. wird, so wird die Parallele etwa zu den Fällen des ausdrücklichen Begünstigungsausschlusses sichtbar. Auch die beide Vergleichsgruppen dem Wortlaut nach begünstigende Grundnorm ist verfassungswidrig, solange eine ausdrückliche Ausschlußnorm zu Lasten einer der beiden Vergleichsgruppen besteht. Schließlich liegen auch die Voraussetzungen, die das Bundesverfassungsgericht für das "Durchschlagen" von Gleichheitsmängeln außerhalb einer materiell-rechtlichen Grundnorm auf diese fordert, in den Fällen eines gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses vor: Die Zurechenbarkeit des in der ausdrücklichen Ausnahmevorschrift begründeten Gleichheitsverstoßes an den Gesetzgeber folgt schon daraus, daß der Gesetzgeber - gerade durch die Schaffung der Ausnahmevorschrift (des ausdrücklichen Begünstigungsausschlusses) - selbst gehandelt hat. Die strukturelle Gegenläufigkeit der Ausnahmevorschrift zu der Regelnorm (Grundnorm) folgt schon aus deren Existenz. Von der Intensität der Gleichheitsverstöße (also dem "Wie") kann indes richtigerweise nicht die Frage des "Ob" eines Gleichheitsverstoßes abhängig gemacht werden.

239 BVerfGE 84, 239 ff. 240 BVerfGE 84, 239 (Leitsatz 4, S. 272). 241 Vgl. auch Puhl, DStR 1991, 1141 (1142). 242Vgl. BVerfGE 84, 239 (284). 243 Im entschiedenen Fall: der materiellen Steuernorm. 244 Im entschiedenen Fall wurden als solche Umstände Erhebungsregelungen angesehen, die entweder in Gesetzen oder Verwaltungsvorschriften, die der Gesetzgeber bewußt und gewollt bei seiner Regelung hingenommen hat, enthalten waren, vgl. BVerfGE 84, 239 (272).

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Die Fälle eines ausdrücklichen gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses sind daher jedenfalls insoweit mit der Konstellation eines Durchschlagens verfassungsrechtlicher Mängel von Erhebungsregelungen auf den materiellen Besteuerungstatbestand zu vergleichen, als in beiden Fällen die materielle Grundnorm (im einen Fall der materielle Besteuerungstatbestand, im anderen Falle die Regelvorschrift, die nach ihrem Wortlaut beide Vergleichsgruppen gleich behandelt) isoliert betrachtet - d.h. ohne Berücksichtigung der außerhalb von ihr liegenden Normen - verfassungsrechtlich unbedenklich ist und sich die Frage der Verfassungswidrigkeit erst aufgrund der Erhebungsregelungen bzw. der Ausnahmevorschrift (im Falle des ausdrücklichen Begünstigungsausschlusses) stellt. Es kann indes keinen Unterschied für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm machen, ob diese infolge unzulänglicher Erhebungsregelungen oder infolge einer ausdrücklichen steuerrechtlichen Verschonung (Privilegierung) Dritter im tatsächlichen Erfolg245 die Steuerpflichtigen ungleich belastet. Auch diese Parallele spricht somit dafür, stets die Gesamtregelung, auf der die Behandlung beider Vergleichsgruppen beruht, für verfassungswidrig bzw. nichtig zu erklären.

(2) Entscheidungen zur Vermögensbesteuerung - Einheitswerte und realitätsgerechte Werte

Daß bei der Überprüfung am Maßstab der Gleichheitsrechte stets eine Gesamtbetrachtung erforderlich ist und die Kontrollinstanz sich keinesfalls auf Ausschnitte oder Teile von Normenkombinationen beschränken darf, soll ferner am Beispiel der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den bewertungsabhängigen Steuern, insbesondere der Vermögensteuer/46 verdeutlicht werden. Materiell-rechtlich lag BVerfGE 23, 242 ff. folgende Problematik zugrunde: Die Vermögensbesteuerung richtete sich grundsätzlich nach dem gemeinen Wert der Wirtschaftsgüter. Maßgebend war also der Preis, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr nach der Beschaffenheit des Wirtschaftsgutes bei einer Veräußerung zu erzielen gewesen wäre. Dagegen richtete sich die Besteuerung des Grundbesitzes nach den sog. Einheitswerten, die zu gesetzlich festgelegten Zeitpunkten neu festgesetzt werden sollten. Nachdem 1935 die Einheitswerte

245 Zu dessen Maßgeblichkeit vgl. nur BVerfGE 84, 239 (271); Birk/Barth. in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 413, 436; Tipke. Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S.1400. 246 Insbesondere BVerfGE 23,242 ff. und 93,121 ff.; vgl. auch BVerfGE 41, 269 ff.; 65, 160 ff.; 74, 182 ff.; 89, 329 ff.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

festgelegt worden waren, unterblieben in der Folgezeit aufgrund einer später ergangenen Regelung Neufestsetzungen. Daher wurden die für den Grundbesitz geltenden Einheitswerte nach den Verhältnissen im Jahre 1935 bestimmt, die erheblich unter den tatsächlichen Werten lagen, während das sonstige Vermögen (beispielsweise Wertpapiere) zur Vermögensteuer mit zeitnahen Werten herangezogen wurde. Gegen diese Ungleichbehandlung wehrte sich ein Steuerpflichtiger, dessen Vermögen ausschließlich aus Geld, Spareinlagen und Wertpapieren bestand, mit der Verfassungsbeschwerde. Diese war gegen ein finanzgerichtliches Urteil gerichtet. Das Bundesverfassungsgericht hielt die Verfassungsbeschwerde insoweit zwar für zulässig247 , führte im Rahmen der Begründetheitsprüfung der Verfassungsbeschwerde jedoch aus: "Selbst wenn das Verhältnis zwischen der Vennögensbesteuerung des Grundbesitzes und des Wertpapierbesitzes den Gleichheitssatz verletzte, so könnte auf die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers hin die dies bewirkende Norm nicht für nichtig erklärt werden ...248 Denn eine Nichtigerklärung derjenigen Nonn, die die Beibehaltung der alten Einheitswerte aus dem Jahre 1935 anordnete, hätte - so das Bundesverfassungsgericht - "insoweit wieder die Gleichheit herstellen können, als dann die periodischen Hauptfeststellungen ... zu den jeweiligen Werten zu erfolgen hätten. Die Gleichheit könnte demnach nur durch eine höhere Bewertung des Grundbesitzes hergestellt werden ...249

An dieser Stelle wird deutlich, daß das Bundesverfassungsgericht sich von gesetzestechnischen Eigenheiten leiten ließ. Hätte das Gesetz etwa gelautet, daß die Bemessungsgrundlage der Vermögensteuer bei Grundbesitz x % des tatsächlichen Wertes beträgt (§ 1 des Gesetzes) und bei den übrigen Wirtschafts% des tatsächlichen Wertes (§ 2 des Gesetzes), so hätte es keinem gütern Zweifel unterliegen können, daß die Norm, die zu einer höheren Besteuerung der übrigen Wirtschaftsgütern gegenüber dem Grundbesitz führt, für verfassungswidrig und ggf. nichtig erklärt worden wäre. Wenn das Bundesverfassungsgericht in der genannten Entscheidung sich dagegen zu einer Verfassungswidrig- bzw. Nichtigerklärung der Ausnahmevorschrift außerstande sah, da diese nicht eine unmittelbare Besserstellung der benachteiligten Wertpapierbesitzer hätte herbeiführen können,251 so beruht dies darauf, daß das Bundesverfassungsgericht nicht eine Gesamtbetrachtung aller Normen vornahm, auf denen die Ungleichbehandlung der Grund- und der Wertpapierbesitzer beruht, sondern

l50

247Vgl. BVerfGE 23, 242 (249 f.). 248 BVerfGE 23, 242 (254). - Hervorhebung nur hier. 249 So BVerfGE 23, 242 (254 f.) - Hervorhebung nur hier. 250 Y sei in dem Beispiel größer als x. 251 Vgl. BVerfGE 23, 242 (255).

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isoliert nur diejenige Norm betrachtete, die die Sonderregelung enthält. Die Behandlung der Wertpapierbesitzer beruht indes auf der materiellen steuerrechtlichen Grundlage, auch wenn diese Norm ihrem Wortlaut nach nicht zwischen Grund- und Wertpapierbesitzern differenziert, vielmehr von der Normstruktur her eine Gleichbehandlung beider Vergleichsgruppen zu enthalten scheint. Bei einer Gesamtbetrachtung, wie sie hier für die richtige Methode bei der Überprüfung von Gleichheitsverstößen gehalten wird, hätte festgestellt werden müssen, daß der Beschwerdeführer (Wertpapierbesitzer) seine steuerliche Belastung abwehren kann 252 , solange die andere Vergleichsgruppe (Grundbesitzer) ungerechtfertigt privilegiert wird. 253 Zwar genügt die den Beschwerdeführer mit der Vermögensteuer belastende Regelung inhaltlich bei isolierter Betrachtung den verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 3 Abs. 1 GG, da die Besteuerungsgrundlage ihrem Wortlaut nach gerade nicht zwischen Wertpapier- und Grundbesitzern differenziert. Indes läßt diese isolierte Betrachtung außer acht, daß im tatsächlichen Belastungserfolg254 gerade keine Gleichheit besteht. Wie bereits ausgeführt, können gesetzestechnische Aspekte jedoch nicht maßgeblich dafür sein, inwieweit eine Kontrolle am Maßstab des Gleichheitssatzes möglich ist. 255 Diese gesetzestechnischen Zufälle können indes nur durch eine Gesamtbetrachtung ausgeschaltet werden. In der genannten Entscheidung finden sich dagegen auf die Gesetzestechnik bezogene Erwägungen. So wird ausgeführt, daß der Beschwerdeführer (Wertpapierbesitzer) "nach dem System des Bewertungsgesetzes sachgerecht besteu-

252 Materiell-rechtlich vorausgesetzt, daß die Ungleichbehandlung nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann. - Vgl. dazu BVerfGE 93, 121 (142 ff.) zur Vermögensteuer; BVerfGE 93, 165 (172 ff.) zur Erbschaftsteuer. - Zu den unterschiedlichen Rechtfertigungsanforderungen, die vom Verständnis des Gleichheitssatzes als bloßes Willkürverbot bis zur Einführung von Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten reichen, vgl. BVerfGE 88,87 (96); 89, 15 (22); 89, 365 (375); 91, 389 (401); 95, 143 (155); 95, 267 (316); BirkiBarth, in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 438 ff.; JarasslPieroth, GG, 4. Auflage 1997, Art. 3 Rn. 13 ff.; teils kritisch Sachs, JuS 1997,124 ff. m Von dieser prinzipiellen Abwehrmöglichkeit ist die Frage zu unterscheiden, ob das verfassungswidrige Vermögensteuergesetz für einen Übergangszeitraum noch hätte weiter angewendet werden können oder müssen. - Zu diesem Problemkreis noch näher unten § 3 B I 2 und 11 2. 254 Zum Erfordernis der gleichen rechtlichen und tatsächlichen Belastung vgl. nur BVerfGE 84, 239 (Leitsatz I und S. 268); Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1400. - Terminologisch ist die hier geforderte gleiche rechtliche und tatsächliche Belastung abzugrenzen von dem Begriffspaar der "rechtlichen und tatsächlichen Gleichheit". Vgl. zu dieser Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 377 ff.; BirkiBarth, in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 412; Schach, DVBI. 1988,863 (867); Starck, in: von MangoldtiKlein, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 4. m Dazu oben § 3 B I I c bb (3).

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ert wird.,,256 Das "System" wird jedoch gebildet durch die Grundnorm (die Regelnorm) innerhalb des Gesetzes, die Systemdurchbrechung liegt in der Ausnahmevorschrift. Wenn es kein System und damit auch kein Regel-AusnahmeVerhältnis gäbe, sondern vielmehr von vornherein zwei selbständig nebeneinander bestehende Regelungskomplexe existierten, hätte auch nach den Prämissen des Bundesverfassungsgerichts in der genannten Entscheidung diejenige selbständige Norm, die die Bemessungsgrundlage für die Vermögensteuer auf Wertpapiere geregelt hätte (also etwa im oben konstruierten Beispiel: § 2 des Gesetzes), für verfassungswidrig und ggf. nichtig erklärt werden müssen. Schließlich mag dieses Beispiel der Vermögensbesteuerung noch verdeutlichen, daß sich auch hinter gesetzestechnischen Regel-Ausnahrne-Verhältnissen erhebliche Ungleichheiten im tatsächlichen Belastungserfolg verbergen können und insoweit auch aus rechtstatsächlicher Sicht kein Anlaß besteht, auf Gesamtbetrachtungen zu verzichten. An dieser Stelle soll es nur darum gehen, die Zufälle der Gesetzestechnik oder etwaige Manipulationsmöglichkeiten des Grundrechtsadressaten bezüglich der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auszuschalten. Das System eines Gesetzes ist kein taugliches Kriterium zur Beantwortung der prozessualen Frage nach der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde oder eines konkreten Normenkontrollverfahrens. Inwieweit das Kriterium der Systemgerechtigkeit auf Tatbestandsebene zur Beantwortung der Frage, ob ein Gleichheitsverstoß vorliegt, tauglich ist,257 soll hier dagegen nicht erörtert werden. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß der Gedanke der Systemgerechtigkeit auch auf der Tatbestandsebene überwiegend nur als "Hilfsgesichtspunkt" angesehen und ihm nur (noch) geringe Bedeutung zuerkannt wird. 258

256 So BVerfGE 23, 242 (255). - Auch an anderen Stellen der Entscheidung (vgl. BVerfGE 23, 242 (255» wird mit dem "System" des Bewertungsrechts argumentiert: Ein möglicher prozentualer Abschlag zugunsten der Wertpapierbesitzer würde "dem System des Bewertungsrechts widersprechen"; bei einer solchen Lösung würde "eine Systemdurchbrechung durch eine andere wettgemacht". 257 Durchbricht der Gesetzgeber ein selbst gewähltes Regelungssystem, so wird darin ein Indiz für einen Gleichheitsverstoß gesehen. Siehe dazu etwa BVerfGE 30, 250 (270 ff.); 59,36 (49); 60, 16 (42 f.); 61, 138 (149); 68, 237 (253); 75. 382 (395 f.); 76, 130 (139 f.); 78, 104 (122 f.); 81, 156 (207); Hesse. Grundzüge, Rn. 439; JarassfPieroth, GG, Art. 3 Rn. 19; Kirchhof, HStR V, § 124 Rn. 231; Peine. Systemgerechtigkeit, S. 55 f.; Rüjner. in: Bonner Kommentar zum 00, Art. 3 Rn. 38 ff.; Starck. in: von MangoldtlKlein, GG, Art. 3 Rn. 33 ff.; tendenziell weitergehend Pieroth. Rückwirkung und Ubergangsrecht, S. 155, nach dem der Topos der Systemgerechtigkeit eine Umkehr der Argumentationslast bewirkt; ähnlich Degenhart. Systemgerechtigkeit, S. 22 ff., der eine widerlegbare Vermutung für die Unzulässigkeit der Differenzierung annimmt. - Kritisch zur Tauglichkeit des Gedankens der Systemgerechtigkeit für die Feststellung von Gleichheitsverstößen im Bereich des Steuerrechts wegen des nicht erkennbaren Systemcharakters des Steuerrechts Birk. Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S. 160 f. 258 Rü!ner. in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 3 Rn. 38 m.w.N.; Schuppert. in: Festschrift für Zeidler, Bd. I, S. 691 (713 f.). Auch - wenngleich bedauernd - Schach.

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Die hier für erforderlich gehaltenen Gesamtbetrachtungen führen auch dazu, daß der Vorrang der Teleologie vor der Systematik gesichert wird. Dieser Bedeutungsvorrang teleologischer gegenüber systematischen Kriterien, der im Bereich der Methoden der Gesetzesauslegung weitgehend anerkannt259 , wenngleich nicht völlig unumstritten260 ist, läßt sich auch bei der hier erörterten Bestimmung des Prüfungs gegenstandes fruchtbar machen. Nur eine Gesamtbetrachtung aller Normen, auf denen die Ungleichbehandlung der beiden Vergleichsgruppen beruht, vermag Ungleichbehandlungen in allen Fällen abzuhelfen. Ist dann ein Gleichheitsverstoß durch das Bundesverfassungsgericht festgestellt worden, so kann der Gesetzgeber die ihm zukommende Gestaltungsfreiheit ausnutzen und eine gleichheitskonforme Neuregelung treffen. Eine antizipierte Ermittlung der gesetzgeberischen Reaktion auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts fallt indes nicht in den Kompetenzbereich des Bundesverfassungsgerichts. 261 Auch die Reaktion des GeDVBI. 1988, 863 (878). Für "Rehabilitierung der Figur der Systemgerechtigkeit" Huster, Rechte und Ziele, S. 398. 259 Vgl. Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, S. 331 ff. m.w.N.; Brox, Allgemeiner Teil des BGB, Rn. 59 ff., insbesondere 62; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 343 ff., insbesondere S. 345 m.w.N.; Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, Rn. 308; Tipke/Kruse, § 4 AO Tz. 88a m.w.N.; Tipke/Lang, Steuerrecht, § 5 Rn. 50 f. 260 Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 19, 303 ff. m.w.N. - An dieser Stelle kann indes diese in der Methodenlehre umstrittene Frage nicht näher behandelt werden. 261 In diesem Sinne auch Kirchhof, Steuerwerte, S. 60 f.; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1399 f. - V gl. aber dagegen auch Kirchhof, DStJG 18 (1995), 17 (33), der dort BVerfGE 84, 233 (237 f.) zustimmt; diese Entscheidung, die ebenfalls maßgeblich an gesetzestechnischen Aspekten orientiert ist (dazu noch unten § 4), hatte die Entscheidungserheblichkeit der Verfassungsmäßigkeit einer Steuerbefreiungsvorschrift zugunsten der bevorzugten Gruppe im finanzgerichtlichen Verfahren eines Mitglieds der benachteiligten Gruppe verneint, weil eine Nichtigerklärung der Steuerbefreiungsvorschrift den Kläger nicht begünstigt hätte. Nach dem hier vertretenen Erfordernis einer Gesamtbetrachtung hätte sich vielmehr die Frage gestellt, ob nicht die benachteiligte Vergleichsgruppe ihre Belastung (dort: die Besteuerung ihrer Einkünfte aus Kapitalvermögen) so lange abwehren kann, wie die bevorzugte Vergleichsgruppe ungerechtfertigt privilegiert wird. Dann wäre auch die Entscheidungserheblichkeit der Verfassungsmäßigkeit des materiellen Besteuerungstatbestandes und der Steuerbefreiungsvorschrift entscheidungserheblich gewesen, dazu noch unten § 4 A I, C II. Bei einer Gesamtbetrachtung wäre nämlich auch der tatsächlich eintretende Belastungserfolg, der auf dem materiellen Besteuerungstatbestand (im Beispiel: § 20 EStG) beruht, gleichheits- und damit verfassungswidrig, solange der Befreiungstatbestand existiert, und könnte daher abgewehrt werden. (Hier wird unterstellt, daß die Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt werden kann und die Steuerbefreiungsvorschrift daher inhaltlich verfassungswidrig ist.) Die Frage, ob der vom Wortlaut her gleichheitskonform scheinende Belastungstatbestand (dort: § 20 EStG) wegen der Besonderheiten des Steuer- und Haushaltsrechts und zur Sicherung eines gleichmäßigen Gesetzesvollzuges für die Vergangenheit (vgl. die Argumentationstopoi in BVerfGE 87,153 (178 f.); 93,121 (148 f.); 93,165 (178» im Falle der Normverwerfung für eine Übergangszeit noch weiter hätte angewendet

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

setzgebers auf die spätere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1995 262 , aufgrund derer die Vermögensteuer ab 1.1.1997 wegen der Ungleichbehandlung des einheitswertgebundenen Grundbesitzes und des übrigen Vermögens nicht mehr erhoben werden durfte, zeigt deutlich die mangelnde Überzeugungskraft der Entscheidung aus dem Jahre 1968 263 : Der Gesetzgeber hat auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1995 hin kein verfassungsmäßiges Vermögensteuergesetz erlassen, die Vermögensteuer konnte mithin nicht mehr erhoben werden, und auch die bisher zwar "systemgerecht" unter Zugrundelegung realitätsgerechter Werte besteuerten, aber gegenüber Grundbesitzern schlechter behandelten Wertpapierbesitzer brauchen nunmehr keinerlei Vermögensteuer mehr zu entrichten. Die Benachteiligten konnten mit Fristablauf die gleichheitswidrige Belastung mit Vermögensteuer abwehren. Darin liegt eine unmittelbare Verbesserung der eigenen Rechtsstellung, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahre 1968 noch nicht für möglich hielt. Zugespitzt könnte man sagen, daß die Entscheidung aus dem Jahre 1995 von ihren Wirkungen her einer Nichtigerklärung des gesamten VStG - wenn auch nur mit Wirkung für die. Zukunft - gleichkommt. Daran zeigt sich deutlich, daß das Bundesverfassungsgericht keinerlei Prognosen über die Reaktion des Gesetzgebers seiner Entscheidung zugrunde legen darf, vielmehr nicht gerechtfertigte ungleiche Belastungen ohne Rücksicht auf etwaige Reaktionen oder auch Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers beanstanden und beseitigen muß.264 So hätte sich in der Entscheidung aus dem Jahre 1968 nicht die Frage gestellt, ob die Gleichheit nur durch eine höhere Besteuerung der bisher besser gestellten Vergleichsgruppe hergestellt werden kann. 265 Vielmehr wäre der richtige Ansatzpunkt gewesen, daß die bisher schlechter behandelte Vergleichs gruppe (die Wertpapierbesitzer) ihre eigene vermögensteuerliche Belastung so lange abwehren kann, wie die Vergleichsgruppe (Grundbesitzer) ungerechtfertigt privilegiert wird. An dem Wegfall der Vermögensteuer nach Fristablauf wird deutlich, daß Gleichheit eben nicht nur durch eine stärkere Belastung der bisher bevorzugten Vergleichsgruppe herge-

werden müssen, ist davon unabhängig zu beurteilen, steht indessen nicht der Erstrekkung des Verdikts der Verfassungswidrigkeit auch auf die Grundnorm (gesetzestechnisch gesehen) entgegen. 262 BVerfGE 93,121 ff. 263 BVerfGE 23, 242 ff. 264 Unzutreffend daher auch BVerfGE 84, 233 (237 f.) - Zinsamnestie. Dazu oben Fn. 260. Insoweit sind in der Argumentation Parallelen zu der Entscheidung BVerfGE 23, 242 ff. erkennbar. 26~ Hierauf stellt BVerfGE 23, 242 (254 f.) entscheidend ab. Ebenso auch BVerfGE 49, I (8 f.) betreffend die Steuerfreiheit von Abgeordneten-Entschädigungen sowie BVerfGE 18, I (12, 16 f.); 49,192 (208); 50,177 (191); 52, 264 (277); 60, 68 (79).

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stellt werden kann,266 sondern auch etwa durch Wegfall der Belastung für beide Vergleichsgruppen. Die Probleme, die eine Orientierung am "System" des Gesetzes - und damit immer auch an der Gesetzestechnik (etwa Regel-Ausnahme-Verhältnissen) mit sich bringt, vermeidet die Entscheidung zur Vermögensteuer aus dem Jahre 1995. 267 Dort hatte das vorlegende Finanzgericht die Norm des § 10 Nr. 1 VStG dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung gestellt. Nach dieser Vorschrift betrug die Vermögensteuer in den Jahren 1983 bis 19860,5 v.H. des steuerpflichtigen Vermögens. Das vorlegende Finanzgericht hielt den einheitlichen Steuersatz für einheitswertgebundenes und nicht einheitswertgebundenes Vermögen für verfassungswidrig. Diese Gleichheitswidrigkeit könne sowohl durch einen höheren Steuersatz für das einheitswertgebundene Vermögen, das realitätsfem zu niedrig bewertet wurde, als auch durch einen niedrigeren Steuersatz für das sonstige Vermögen beseitigt werden?68 Obwohl § 10 Nr. 1 VStG in seinem Wortlaut gerade nicht zwischen den beiden Vergleichsgruppen (einheitswertgebundenes Vermögen einerseits, nicht einheitswertgebundenes Vermögen andererseits) differenzierte, hielt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung die Verfassungsmäßigkeit dieser Norm für entscheidungserheblich269 und erklärte sie für verfassungswidrig. 27o Das Bundesverfassungsgericht erklärte also die Norm über den (einheitlichen) Steuersatz für verfassungswidrig, obwohl die maßgebliche Ungleichheit im steuerlichen Belastungserfolg271 auf der nach § 4 VStG zu bestimmenden Bemessungsgrundlage beruhte, die die jeweiligen Vermögensbestandteile in ungleichmäßiger Weise erfaßte. 272 Diese Vorgehensweise entspricht im Ergebnis der hier vertretenen Gesamtbetrachtung. Allerdings vermag auch die Begründung für die Unvereinbarerklärung des § 10 VStG in der Vermögensteuer-Entscheidung aus dem Jahre 1995 nicht voll

zu überzeugen. Dort führt das Bundesverfassungsgericht zunächst aus, daß eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung des einheitswertgebundenen und des nicht einheitswertgebundenen Vermögens vorliege, womit der Verstoß des § 10 Nr. 1 VStG gegen Art. 3 Abs. 1 GG bejaht wird; im Anschluß daran wird dann erklärt, daß sich der Gleichheitsverstoß nicht ,,allein dadurch ausräumen lasse, daß das einheitswertgebundene Vermögen nunmehr zu Verkehrswerten belastet

266 So BVerfGE 23, 242 (254 f.) für die Vermögensbesteuerung von Wertpapier- und Grundbesitzern. 267 BVerfGE 93, 121 ff. 268 Vgl. BVerfGE93, 121 (129). 269 BVerfGE 93, 121 (130 f.). 270 BVerfGE 93,121 (121 f., 133, 142, 148 f.). 271 BVerfGE 84, 239 (268); 93, 121 (143). 272 BVerfGE 93,121 (142 f.). 10 Wernsmann

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

würde."m Damit wird diese Voraussetzung der Möglichkeit der unmittelbaren Verbesserung der eigenen Rechtsstellung aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die bereits in der Entscheidung aus dem Jahre 1968 274 enthalten war, weiter zur Feststellung eines Gleichheitsverstoßes aufrechterhalten, indes nur inhaltlich anders beantwortet als in der früheren Entscheidung. Die Aufrechterhaltung dieser Voraussetzung durch das Bundesverfassungsgericht erscheint freilich auch aus anderen Gründen zumindest inkonsequent: Denn die Frage, ob im Falle einer Unvereinbarerklärung das Bundesverfassungsgericht die weitere Anwendung des bisherigen Rechts anordnet und die Unvereinbarerklärung sich in den Ausgangsverfahren, in denen es um vergangene Veranlagungszeiträume und Kalenderjahre geht, sich definitiv nicht auswirken wird, soll für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit gern. Art. 100 Abs. 1 GG bzw. des Rechtsschutzbedürfnisses der Verfassungsbeschwerden nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG keine Rolle spielen. 275 Das bedeutet, daß das Bundesverfassungsgericht selbst eine Richtervorlage betreffend die Vermögensteuerveranlagung eines Steuerpflichtigen für das Jahr 01 für zulässig erachten würde, wenn das Bundesverfassungsgericht über diese etwa im Jahr 10 befinden würde und der im Ausgangsverfahren klagende Steuerpflichtige mittlerweile - etwa im Jahr 05 - völlig vermögenslos geworden ist, er also auch für die Zukunft nicht von der verfassungsgerichtlichen Entscheidung profitieren würde. Selbst wenn von vornherein erkennbar ist, daß das Bundesverfassungsgericht "wegen der Besonderheiten des Steuer- und Haushaltsrechts" (nämlich der immensen Haushaltsrelevanz einer rückwirkenden Beseitigung des Verfassungsverstoßes und der damit beeinträchtigten verläßlichen Finanz- und Haushaltsplanung, noch verstärkt dadurch, daß mittlerweile alle Steuerbescheide gern. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO n.F. 276 "offengehalten" werden mit der Folge, So BVerfGE 93, 121 (142). 23, 242 (254 ff.), wo diese Frage in der Begründetheitsprüfung thematisiert wurde. In der Statuierung dieser Voraussetzung ebenso BVerfGE 84, 233 (237 f.), wo freilich schon in der Zulässigkeitsprüfung die Entscheidungserheblichkeit der Verfassungsmäßigkeit der Norm nach Art. 100 Abs. I GG problematisiert (und verneint) wurde. 275 Explizit BVerfGE 87, 153 (180), dort freilich eigenartigerweise am Ende der Begründetheitsprüfung ..nachgeschoben" und nicht in der Zulässigkeitsprüfung (BVerfGE 87, 153 (167 f.» ausgeführt. Ebenso - wenngleich hier zutreffend in der Zulässigkeitsprüfung behandelt - BVerfGE 72, 51 (62); 93, 121 (131); implizit auch BVerfGE 99, 280 (288 f. i.V.m. 298 ff.). Vg!. dagegen aber auch BVerfGE 66, 100 (105) u.a., wo fehlende Entscheidungserheblichkeit maßgeblich mit dieser Erwägung begründet wurde. Zum Rechtsfolgenargument in den verschiedenen Fallkonstellationen ausführlich § 4 A H, m, C I I a, m I. 276 Die jetzige Fassung des § 165 AO beruht auf der Neuregelung durch Art. 26 Nr. 10 StMBG vom 21.12.1993, BGB!. I 1993, 2310. Sie sichert damit die bereits zuvor praeter legern (dazu noch unten § 3 B H 2 a) aufgekommene Praxis der Finanzverwaltung ab, die die Steuerbescheide von Amts wegen für vorläufig erklärte, um Masseneinsprüche zu verhindern. Diese zielten darauf ab, die Rechtsfolge des § 79 Abs. 2 273

274 BVerfGE

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daß alle Steuerpflichtigen von der rückwirkenden Beseitigung eines verfassungswidrigen Zustandes profitieren würden277 ) und wegen der ,,Erfordernisse eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzuges für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung,,278 eine Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes nur für die Zukunft fordern wird, so würde dies nach Ansicht des sonst strengen Bundesverfassungsgerichts die Richtervorlage nicht unzulässig machen, obwohl der Kläger des Ausgangsverfahrens weder unmittelbar für die im Ausgangsverfahren streitigen vergangenen Zeiträume noch mittelbar für die Zukunft von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts profitieren würde,279 da er nunmehr - etwa wegen Vermögens verfalls - nicht mehr vermögensteuerpflichtig ist. Das Bundesverfassungsgericht begründet seine Ansicht nicht näher, sondern stellt lediglich fest, daß es für die Entscheidungserheblichkeit einer Vorlage keine Rolle spielen könne, daß im Falle einer Unvereinbarkeitserklärung das Bundesverfassungsgericht gemäß § 35 BVerfGG die weitere Anwendung des bisherigen Rechts anordnen "kann,,?80 Diese Formulierung könnte darauf hindeuten, daß dem Bundesverfassungsgericht bei der Bestimmung des Rechtsfolgenausspruchs ein Ermessen zukommt. Indes knüpft das Bundesverfassungsgericht selbst die ausnahmsweise Anordnung der weiteren Anwendbarkeit einer verfassungswidrigen Norm an tatbestandliehe Voraussetzungen, so daß auch von vornherein - vor dem Einstieg in die materielle Prüfung - vorab bestimmt werden kann, ob die Voraussetzungen einer weiteren Anwendbarkeit des Gesetzes im Falle seiner Verfassungswidrigkeit gegeben sind. Hier soll aber nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts keine hypothetische Prüfung vorgenommen werden, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens durch eine verfassungsgerichtliche Entscheidung die Chance erhält, seine Rechtsstellung zu verbessern. An dieser Stelle soll nicht die Richtigkeit der Bejahung der Entscheidungserheblichkeit i.S.d. Art. 100 Abs. 1 GG in Frage

BVerfGG, die insbesondere nach den Entscheidungen BVerfGE 82, 60 ff. und 82, 198 ff. eingetreten war, zu vermeiden. 277 Dies war noch anders etwa bei BVerfGE 6,55 ff. sowie BVerfGE 82, 60 ff. und 198 ff. 278 Vgl. die kumulative oder alternative Verwendung dieser Topoi in BVerfGE 87, 153 (177 ff.); 93,121 (148); 93,165 (178). Ähnlich BVerfGE 91,186 (207). Vgl. auch die - im Rechtsfolgenausspruch allerdings abweichende - Entscheidung BVerfGE 84, 239 (285), wonach sich die Notwendigkeit von Übergangsfristen aus dem rechtsstaatlichen Kontinuitätsgebot rechtfertige; dort wurde die Norm für .. noch" verfassungsgemäß gehalten, BVerfGE 84, 239 (268). 279 In seinen Entscheidungen vom 10.11.1998 zur Familienbesteuerung hat das Bundesverfassungsgericht allerdings eine neue Entscheidungsvariante entwickelt, wonach die sog. Anlaßfälle auch für die Vergangenheit von der verfassungsgerichtlichen Verfassungswidrigerklärung profitieren sollen, vgl. insbesondere BVerfGE 99, 216 (245 f.) sog. Fang- bzw. Ergreiferprämie. Siehe dazu Schwenke. DStR 1999, 404 ff. und oben § 1 A Fn. 41. 280 So BVerfGE 93, 121 (131). Vgl. auch BVerfGE 72, 51 (62); 87, 153 (180). 10·

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

gestellt oder diskutiert werden 281 , vielmehr nur die Inkonsequenz dargestellt werden, daß für die Unvereinbarerklärung eines erkanntermaßen gleichheitswidrigen Gesetzes regelmäßig das Erfordernis der Chance der unmittelbaren Verbesserung der eigenen Rechtsstellung durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts statuiert wird. Ferner ist auf folgendes hinzuweisen: Bei einer Gesamtbetrachtung, in deren Richtung sich das Bundesverfassungsgericht in der Vermögensteuer-Entscheidung aus dem Jahre 1995 282 der Sache nach vorsichtig bewegt, wenngleich noch nicht voll verwirklicht, wäre das vom Bundesverfassungsgericht statuierte Erfordernis, daß die Ungleichbehandlung nicht allein durch eine Schlechtersteilung der bisher bevorzugten Vergleichsgruppe beseitigt werden könne, sondern daß die Beanstandung der Norm durch das Bundesverfassungsgericht auch die Möglichkeit einer Besserstellung der bisher benachteiligten Vergleichsgruppe eröffnen müsse,283 an sich überflüssig. Denn die Besteuerung führt stets auch zu einem Eingriff in Freiheitsrechte, sei es Art. 14 Abs. 1 GG 284 , sei es zumindest

Zu dieser Frage noch unten § 4 A III, C I 1. Vgl. auch BVerfGE 93, 121 (130): Dort wird die Rechtsansicht des vorlegenden Finanzgerichts wiedergegeben, daß auf jeder Stufe einer besteuerungserheblichen Normenkette ein Gleichheitsverstoß gerügt werden könne. - Tendenziell ähnlich im Sinne einer Gesamtbetrachtung auch bereits BVerfGE 84, 239 (Leitsatz 4 und S. 272), wonach unzureichende und dem Gesetzgeber zurechenbare Erhebungsregelungen zur Verfassungswidrigkeit auch der materiellen Steuernorm führen können. Damit wurde das Problem umgangen, daß nach den Prämissen des Bundesverfassungsgerichts die (möglicherweise) verfassungswidrige Erhebungsregelung (des § 30a AO) aus prozessualen Gründen nach den Prämissen des Bundesverfassungsgerichts nicht Prüfungsgegenstand sein konnte, weil selbst bei einer verfassungsgerichtlich festgestellten Verfassungswidrigkeit dieser Norm sich die Rechtsstellung derjenigen, die ordnungsgemäß ihre Steuern zahlten, nicht hätte verbessern können, ihre Rechtsstellung sich also nicht verändert hätte. 283 So BVerfGE 18, 1 (12, 16 f.); 49,1 (8 f.); 49,192 (208); 50,177 (191); 52, 264 (277); 60, 68 (79) für den Bereich des Steuerrechts. Vgl. auch BVerfGE 93, 121 (142): Als ein Element der Begründung für die Unvereinbarerklärung des § 10 VStG ist dort erkennbar, daß sich im entschiedenen Fall die Belastungsunterschiede nicht ,Illlein dadurch ausräumen (ließen), daß das einheitswertgebundene Vermögen nunmehr zu Verkehrswerten belastet würde". (Hervorhebung im Original.) Danach geht das Bundesverfassungsgericht auch hier also wieder davon aus, daß eine Unvereinbarerklärung nur dann in Betracht kommt, wenn für die bisher benachteiligte Vergleichsgruppe zumindest die Chance besteht, ihre Rechtsstellung zu verbessern, wenngleich auf dieses Erfordernis in den weiteren Entscheidungsgründen nicht mehr eingegangen wird. 284 So etwa Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 187 f. m.w.N.; Herzog, in MaunzlDürig, GG, Art. 3 Anhang Rn. 57; Kirchhof. HStR IV, § 88 Rn. 88. Für Art. 14 GG als möglichen Prüfungsmaßstab eines Steuergesetzes auch BVerfGE 93, 121 (137 f.). Gegen einen Schutz des Vermögens durch Art. 14 GG aber BVerfGE 4, 7 (17); 30, 250 (271 f.); 95, 267 (300) m.w.N. mit der Konsequenz, daß die Auferlegung von GeldJeistungspflichten grundsätzlich nicht an Art. 14 GG zu messen sei; eine Ausnahme gelte lediglich bei Erdrosselungssteuern, vgl. BVerfGE 14, 221 (241); 95, 267 (300). Ebenso etwa Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 685; JarasslPieroth, GG, Art. 14 Rn. 12. 281

282

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Art. 2 Abs. 1 GG. 285 An dieser Stelle mag dahinstehen, welches Freiheitsrecht vom Schutzbereich her thematisch einschlägig ist, jedenfalls liegt in der Besteuerung ein Grundrechtseingriff. 286 Auch wenn derzeit die Fragen kooperativen Verwaltungshandelns im Bereich des Steuerrechts diskutiert werden, so ändert dies nichts daran, daß das Steuerrecht traditione1l 287 klassisches Eingriffsrecht darstellt. 288 Dann ergibt sich die unmittelbare Verbesserung der eigenen Rechtsstellung aber schon daraus, daß ein (verfassungs- und damit) rechtswidriger Eingriff in ein Freiheitsrecht abgewehrt werden kann und somit bei einer konsequent zu Ende gedachten Gesamtbetrachtung etwa der Wertpapierbesitzer seine gleichheitssatz- und damit rechtswidrige Besteuerung abwehren kann. Bei einer Gesamtbetrachtung, die sämtliche Normen, auf denen die Ungleichbehandlung der beiden Vergleichsgruppen beruht, in die verfassungsgerichtliche Prüfung und ggf. Beanstandung einbezieht, erstrebt nämlich das Mitglied der bisher benachteiligten Vergleichsgruppe (Besitzer nicht einheitswertgebundenen Vermögens) nicht die Einbeziehung in eine ,,Begünstigung" (nämlich die realitätsfern zu niedrige Werterrnittlung), sondern die Abwehr der eigenen gleichheits- und damit rechtswidrigen Belastung. Gesetzestechnische Aspekte können diese Sichtweise nicht vernebeln, denn entscheidend ist, wie auch das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat, die Beachtung des Gebots der Gleichheit im steuerlichen Belastungserfoll 89, und deren Mißachtung beruht auch auf den Normen, aufgrund derer die bisher schlechter behandelte Vergleichsgruppe zur Besteuerung herangezogen wird.

Diese Erkenntnis leitet zu folgendem über: Die Gesamtbetrachtung ermöglicht auch eine rechtsdogmatisch klarere Einordnung, in welchen Fällen es tatsächlich um ,,Begünstigungsausschlüsse" geht und in welchen Fällen es um die Abwehr von Belastungen geht. 290 Aufgrund der oben dargelegten Parallele zu den verwaltungsprozessualen Anfechtungs- und Verpflichtungssituationen kann somit auch entschieden werden, wann es beim Grundsatz der Nichtigerklärung eines verfassungswidrigen Gesetzes gern. §§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 BVerfGG bleiben kann (und muß) - sofern nicht ausnahmsweise aus Gründen der relativ größeren Verfassungsnähe der Fortgeltung einer verfassungswidrigen

285 WeIches Freiheitsgrundrecht einschlägig ist, läßt BVerfGE 87, 153 (169) offen. Vgl. zum Streitstand auch Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, S. 359 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 974 m.w.N. 286 Statt aller Birk/Eckhojf. in: HübschmannlHepp/Spitaler, AO, § 3 Rn. 89; Birk, Steuerrecht I, § 10 Rn. 1; Brinkmann, Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung, S. 124; Crezelius, Steuerrecht 11, § 1 Rn. 8; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 158 f.; Tipke/Kruse, AO, § 3 Rn. 26. 287 Grundlegend o. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, S. 316. 288 Birk, Steuerrecht, Rn. 58, 64; Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, S. VII. 289 BVerfGE 84, 239 (268); 93,121 (143). 290 Dazu sogleich unter § 3 B I I d aa.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

Nonn gegenüber deren abruptem Wegfall eine Unvereinbarerklärung ohne Anwendungssperre der für verfassungswidrig erklärten Nonn erforderlich ist291 und in welchen Fällen ausnahmsweise aus Rechtsschutzgesichtspunkten der bisher nicht "begünstigten" Personengruppe eine Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre angezeigt ist, damit der Gesetzgeber eine ,,Neubescheidung" durch Erlaß einer gleichheitssatzkonfonnen Neuregelung vornehmen kann. 292 Es könnte nunmehr der Einwand erhoben werden, daß dieser Konzeption einer Gesamtbetrachtung (und daraus folgend die Verfassungswidrig- (und ggf. Nichtig-) Erklärung aller Nonnen, auf denen die Ungleichbehandlung beider Vergleichsgruppen beruht) prozessuale Gesichtspunkte entgegenstehen. Es könnte argumentiert werden, daß nur die Verfassungsmäßigkeit derjenigen Normen, auf denen die Behandlung des Klägers im Ausgangsverfahren beruht, nach Art. 100 Abs. 1 GG entscheidungserheblich ist bzw. daß nur diese Nonnen den Beschwerdeführer nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG den Beschwerdeführer selbst betreffen bzw. dessen Rechtsschutzbedürfnis begründen, nicht jedoch die Nonnen, auf denen die Behandlung der anderen (bevorzugten) Vergleichsgruppe beruht. Indes kann ein Gleichheitsverstoß immer nur festgestellt werden, wenn - neben anderem - eine Ungleichbehandlung 293 vorliegt. Dann muß aber immer auch die Regelung, auf der die Behandlung der Vergleichsgruppe beruht, mit in den Blick genommen werden. Diese muß daher richtigerweise ebenfalls Teil des Prüfungsgegenstandes sein. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit derjenigen Nonn, auf der die Behandlung der benachteiligten Gruppe beruht, kann nicht isoliert von der Frage der Verfassungsmäßigkeit derjenigen Nonn, auf der die Behandlung der privilegierten Gruppe beruht, beurteilt werden.

(3) Veifassungswidrige Rechtslage aufgrund des Zusammenwirkens mehrerer Normen

Schließlich soll an dieser Stelle auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum familiären Existenzminimum aus dem Jahr 1990294 hingewiesen werden. In diesen Entscheidungen führte das Bundesverfassungsgericht aus, daß bei der Einkommensbesteuerung ein Betrag in Höhe des familiären Dazu unten § 3 B 12 und II 2. sogleich unter § 3 B lid. 293 Die Fälle objektiver Willkür, die unabhängig von einem Vergleichen einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG begründen sollen, seien hier außer acht gelassen, vgl. dazu BVerfGE 23,98 (106 f.); 78, 232 (248); ablehnend etwa Sondervotum BVerfGE 42, 79 (81 f.); larasslPieroth, 00, Art. 3 Rn. 28. 294 BVerfGE 82, 60 und 198. 291

292 Dazu

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Existenzminimums steuerfrei bleiben müsse (Kinderfreibetrag); wenn der Gesetzgeber der Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit durch Sozialleistungen (Kindergeld) Rechnung trage, müßten diese so bemessen sein, daß eine vergleichbare Entlastung eintritt. 295 In den streitgegenständlichen Jahren war dies nicht der Fall. Das Bundesverfassungsgericht stellte zunächst fest, daß eine für verfassungswidrig erachtete Rechtslage, die sich aus dem Zusammenwirken mehrerer Einzelregelungen ergibt, grundSätzlich anhand jeder der betroffenen Normen zur verfassungsgerichtlichen Prüfung gestellt werden könne. 296 Wenn der Staat verpflichtet ist, entweder das familiäre Existenzminimum einkommensteuerrechtlich zu verschonen oder Sozialleistungen in entsprechender Höhe bereitzustellen, so kann der Familienlastenausgleich danach anhand jedes der einzelnen Gesetze, die insgesamt zu der unzureichenden Berücksichtigung des Existenzminimums führen, zur Prüfung gestellt werden. Auch in diesen Fällen kann die Verfassungswidrigkeit der Gesamtregelung (Kinderlastenausgleich) und der jeweiligen Teilregelung (z.B. Kinderfreibetrag) nur ermittelt werden, wenn die übrigen Normen (z.B. Kindergeld) in die Betrachtung einbezogen werden. Zwar betrafen die genannten Entscheidungen nicht Sachverhalte, in denen die jeweiligen Teilregelungen verschiedene Personen betrafen, sondern jeweils dieselbe Person (den steuerpflichtigen Unterhaltsverpflichteten). Der Gedanke, auf den das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung maßgeblich gestützt hat, gilt indes auch hier. Es hat ausgeführt: "Würde man in diesen Fällen (sc. bei einem Normengeflecht mehrerer zusammenwirkender Einzelregelungen) die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Rechtslage, die durch die betreffende Norm mit herbeigeführt wird, mit der Erwägung unterlassen, daß die Einzelnorm Bestand haben könnte, wenn die gesetzliche Nachbesserung an anderer Stelle erfolgte, dann wäre die verfassungsgerichtliche Kontrolle in einem Maße eingeschränkt, die mit dem Grundgedanken des Art. 100 Abs. 1 GG nicht mehr vereinbar wäre; denn dieses Argument würde für jede der beteiligten Einzelnormen zutreffen ...297 Indes ist darauf hinzuweisen, daß es durchaus Konstellationen gibt, in denen ein möglicherweise verfassungswidriges Gesetz nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG bei Gleichheitsverstößen niemals vorgelegt werden könnte. 298 Ein

295 BVerfGE 82, 60 (Leitsatz 2 und S. 85 ff.); 82, 198 (207); anders noch BVerfGE 43, 108 ff. 296 BVerfGE 82, 60 (Leitsatz I und S. 83 ff.); 82, 198 (206). Ebenso BVerfGE 85, 337 (344); JarasslPieroth, 00, Art. 100 Rn. 11. 297 BVerfGE 82, 60 (84). 298 Dazu § 4 C III 3.

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solches Ergebnis widerspricht den zutreffenden Annahmen der soeben genannten Entscheidungen.

d) Rechtsschutzziele aa) Abwehr von Belastungen oder Erstreben von Leistungen (Begünstigungen)? (1) Begünstigung und Begünstigungsausschluß im Eingriffsrecht? Es stellt sich nunmehr die Frage, in welchen Fällen es - wie in den Anfechtungssituationen des Verwaltungsprozesses - um die Abwehr einer Belastung geht und dementsprechend der Bürger sein Rechtsschutzziel schon mit einem kassatorischen Akt der Rechtsprechung erreichen kann und in welchen Fällen es dem rechtsschutzsuchenden Bürger um die eigene Einbeziehung in Begünstigungen geht, die die Rechtsprechung aus den oben dargelegten Gründen - entsprechend den Verpflichtungssituationen im Verwaltungsprozeß - nicht selbst vornehmen kann. 299 Einzig in den letztgenannten Fällen kann überhaupt die Frage relevant werden, ob der rechtsschutzsuchende Bürger aufgrund einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung die Chance erhält, seine eigene Rechtsstellung unmittelbar zu verbessern. Nur insoweit bedarf es dann auch einer Auseinandersetzung, ob dieses Kriterium eine Voraussetzung der Geltendmachung von Gleichheitsverstößen (Zulässigkeitsfrage) oder der inhaltlichen Beanstandung gleichheitswidriger Vorschriften (Unvereinbar- bzw. Nichtigerklärung - Begründetheitsfrage) darstellt. Denn bei der Auferlegung einer gleichheitssatzwidrigen Belastung genügt deren Abwehr, die durch Kassation seitens der Rechtsprechung erfolgen kann. Die unmittelbare Verbesserung der eigenen Rechtsstellung folgt in diesen Fällen schon daraus, daß die gleichheits satz- und damit rechtswidrige Belastung dem Bürger nicht mehr auferlegt werden darf. Die oben für erforderlich gehaltene Gesamtbetrachtung aller Normen, auf denen die Ungleichbehandlung der jeweiligen Vergleichsgruppen beruht, führt dazu, daß bei Steuerprivilegien Dritter auch die jeweilige Grundnorm in die verfassungsrechtliche Kontrolle einbezogen wird. Unabhängig von der gesetzestechnischen Einkleidung ist - selbst wenn die Grundnorm ihrem Wortlaut nach nicht zwischen den bei den Vergleichsgruppen differenziert3°O - die eigene 299 Zum Erfordernis der strikten tenninologischen Trennung zwischen den Begriffspaaren "BegünstigunglBelastung" einerseits und "Bevorzugung/Benachteiligung" andererseits siehe oben § 3 B I 1 a aa. 300 Ebenso BVerfGE 93,121 (142), wo eine Norm, die einen einheitlichen Steuersatz für einheitswertgebundenes (realitätsfern bewertetes) und einheitswertungebundenes (realitätsnah bewertetes) Vermögen anordnete, für verfassungswidrig erklärt wurde. -

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Belastung abwehrbar, wenn sie Dritten gleichheitssatzwidrig nicht auferlegt wird. Dogmatischer Ausgangspunkt ist somit nicht die Frage, ob die nach den jeweiligen Normen bzw. Norrnkombinationen schlechter gestellte Vergleichsgruppe in die ,,Begünstigung" (die Steuerbefreiung oder -ermäßigung zugunsten der anderen Vergleichs gruppe) einbezogen werden kann,3Dl sondern ob sie ihre eigene steuerliche "Belastung" abwehren kann. Diese Vorgehensweise deckt sich mit den Postulaten des Bundesverfassungsgerichts, wonach es auf die Gleichheit im steuerlichen Beiastungserjol102 ankomme; nicht entscheidend ist dagegen, auf welcher rechtlichen Konstruktion dieser beruht. 303 Auch fügt sich das hier vertretene Erfordernis einer Gesamtbetrachtung in die Konzeption des Bundesverfassungsgerichts zum Durchschlagen unzureichender Verfahrensregelungen auf die Verfassungsmäßigkeit der materiellen gesetzlichen Regelungen ein. Dort wurden Gesetz und Gesetzesvollzug einheitlich betrachtet, und es wurde festgestellt, daß eine ungleiche Besteuerung der Kapitaleinkünfte im fraglichen Veranlagungszeitraum vorlag. 304 Zwar entspreche "die materielle Besteuerungsgrundlage (§ 2 Abs. 1 Nr. 5, § 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG 1979) ... für sich betrachtet den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG." Jedoch gewährleiste diese nicht mehr die Gleichheit im tatsächlichen Belastungserfolg. Dagegen hatten die zugrundeliegenden finanzgerichtlichen Entscheidungen die Erhebungsmängel als unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes unerheblich angesehen, da es nur einen Anspruch auf Gleichstellung im Recht, jedoch "keine Gleichheit im Unrecht,,3D5 gebe. Die finanzgerichtlichen Entscheidungen hatten also nicht insgesamt Gesetz und Gesetzanwendung betrachtet und auf Ungleichheiten im tatsächlichen Belastungserfolg analysiert, sondern isoliert auf die "Steuerbefreiung" der anderen Vergleichsgruppe geschaut. Diese ,,Begünstigung" (unrechtAnders dagegen BVerfGE 84, 233 (237 f.), wo die Vorlage einer Norm für unzulässig gehalten wurde, mit der bestimmte Einkünfte aus Kapitalvermögen Dritter steuerfrei gesteilt wurden. Hier hätte sich die Frage gestellt, ob die Kläger des Ausgangsverfahrens ihre eigene steuerliche Belastung, was die Einkünfte aus Kapitalvermögen angeht, hätten abwehren können, solange die drittbegünstigende gleichheitswidrige Ausnahmevorschrift bestand (deren inhaltliche Verfassungswidrigkeit hier unterstellt wird). Unabhängig davon wäre die Frage zu beurteilen gewesen, ob die materielle Besteuerungsgrundlage der Einkünfte aus Kapitalvermögen trotz ihrer (aus der Existenz der Ausnahmevorschrift folgenden) Verfassungswidrigerklärung für vorübergehend weiter anwendbar hätte erklärt werden müssen, da die vom Bundesverfassungsgericht insoweit statuierten Voraussetzungen (bedeutende fiskalische Auswirkungen sowie Sicherung eines gleichmäßigen Gesetzesvollzuges für die Vergangenheit) vorgelegen haben könnten. Der gleiche Einwand ist auch etwa BVerfGE 49, I (8 f.) - Steuerfreiheit von Abgeordnetenbezügen - entgegenzusetzen. 301 So aber BVerfGE 84, 233 (237). 302Vgl. BVerfGE 84, 239 (268); 93,121 (143). 303 Vgl. auch BVerfGE93, 121 (129f.,130f.). 304 BVerfGE 84, 239 (284). 305 Zur Frage, ob und ggf. unter weIchen Voraussetzungen der Benachteiligte Gleichheit im (für ihn günstigeren) Unrecht erreichen kann, unten § 5 CI.

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mäßige Steuerfreistellung infolge mangelhaften Gesetzesvollzuges) könnten die klagenden Steuerpflichtigen nicht "beanspruchen", "erstreben", "erreichen". Bei richtiger Sichtweise handelt es sich somit nicht um eine ,,Begünstigung", die die belasteten Steuerpflichtigen erstreben, sondern um die AbweruJ06 der eigenen Belastung (Besteuerung).

(2) Gleichheitssatz als nur objektives Recht?

Zum Teil wird in der Literatur zwar grundsätzlich anerkannt, daß eine gleichheitswidrige Belastung für nichtig zu erklären ist und der Bürger somit von dieser frei wird. 307 Jedoch soll es Verstöße gegen den Gleichheitssatz geben können, die nicht derart zu Lasten des Bürgers gehen, daß diese dagegen den Schutz des Gleichheitsgebots genießen würden. 308 Dies wird wie folgt begründet: "Wird den Bürgern eine begründete und gerechtfertigte Belastung auferlegt und wird davon eine Gruppe willkürlich ausgenommen, dann verbürgt das Gleichheitsgebot den Bürgern weder, daß auch sie in den Genuß dieser Willkür kommen, noch daß die Willkür beseitigt und die Belastung der Gruppe auferlegt wird.,,309 Diese Ausführungen betreffen etwa Steuern oder die Wehrpflicht. Die Versagung von Rechtsschutz in solchen Fällen würde den Charakter des Gleichheitssatzes als eines subjektiven Rechts 310 beeinträchtigen. 311 Soweit von "begründeter und gerechtfertigter Belastung" gesprochen wird, soll offensichtlich der Gleichheitssatz keine Rechtfertigungsanforderung in diesem Sinne enthalten, was seinen Grund wohl in der getrennten Prüfung der Freiheits- und Gleichheitsrechte findet. Wird hier eine Gruppe nicht besteuert (man kann sich irgendwelche Differenzierungskriterien vorstellen: Geschlecht, Anfangsbuchstaben des Zunamens, Religionszugehörigkeit, Alter usw.), dann soll der Gleichheitssatz den Bürgern nicht ermöglichen, ebenfalls "in den Genuß dieser Willkür zu kommen.,,312 Gegen diese Argumentation ist indes derselbe Einwand zu erheben wie gegen die Argumentation im Zusammenhang mit

306 Zutreffend BVerfGE 84, 239 (284). 307

PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 543.

308 So PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 544. 309 PierothiSchlink,

Grundrechte, Rn. 544.

310 Kritisch zu Versuchen, dem Gleichheitssatz die Qualität eines subjektiven Recht generell abzusprechen, etwa Sachs, DÖV 1984, 411 (411 f.); ders., in: Festschrift für Friauf, S. 309 (312 f.) m.w.N. 311 Deutlich PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 544: "Das Gleichheitsgebot ist hier zwar in seiner Qualität als objektives Recht verletzt, nicht aber als subjektives Recht." 312 So PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 544.

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der Einheitswertentscheidung aus dem Jahre 1968313 : Sie verfehlt die grundsätzliche Ergebnisoffenheit des Gleichheitssatzes. Wenn nämlich Einkommensteuer etwa nur Bürger mit den Anfangsbuchstaben Abis Y zahlen müssen, die anderen hingegen befreit sind, so können die Belasteten verlangen, daß sie ebenfalls keine Einkommensteuer zahlen müssen, solange die anderen nicht ebenfalls belastet werden. Will der Gesetzgeber die in dieser Form verfassungswidrige Einkommensteuer weiter erheben, so muß er eine gleichheitsgerechte Neuregelung treffen. In diesem Rahmen kann er dann die Einkommensteuer in der bisherigen Form auf die bisher Befreiten ausdehnen, oder er kann daneben die Steuersätze insgesamt senken oder eine andere Regelung treffen. Die Frage, ob der verfassungswidrige Zustand für eine Übergangszeit wegen der immensen finanziellen Auswirkungen des rückwirkenden Wegfalls der Einkommensteuer hingenommen werden muß, ist demgegenüber eine erst an zweiter Stelle zu beantwortende Frage, hindert jedoch nicht subjektiven Rechtsschutz der benachteiligten Gruppe. Jedenfalls kann die belastete Gruppe, wenn der Gesetzgeber dann nicht Gleichheit herstellt, wenigstens für die Zukunft die gleichheitswidrige Steuer abwehren. In der Furcht, daß "an sich" begründete und gerechtfertigte Belastungen durch Gleichheitsverstöße abgewehrt werden könnten, und damit in dem Gedanken der Folgenberücksichtigung liegt vermutlich der wahre Beweggrund derjenigen, die in diesen Fällen keinen subjektiven Rechtsschutz ermöglichen wollen. Insoweit erscheint es auch unzutreffend, der benachteiligten Gruppe, die Gleichbehandlung erstrebt, vorzuhalten, sie könne nicht ebenfalls "in den Genuß dieser Willkür" gelangen. 314 Insoweit wird erneut die Ergebnisoffenheit des Gleichheitssatzes verkannt: Nicht die Einkommensteuerfreiheit an sich stellt Willkür dar, sondern nur die Tatsache, daß sie nur einer Personengruppe (mit dem Anfangsbuchstaben Z) zugebilligt wird. Wäre nach dem Gesetz niemand einkommensteuerpflichtig, läge jedenfalls keine Willkür vor. Insoweit kann nicht davon gesprochen werden, daß die benachteiligte Gruppe Einbeziehung in die Willkür erstrebe. Es gibt zwar kein subjektives Recht auf Willkür. Wer jedoch Gleichbehandlung erstrebt, macht kein subjektives Recht auf Willkür geltend315 , sondern erstrebt im Gegenteil Willkürfreiheit. In dem soeben geschilderten Beispielsfall wird nur die Eröffnung subjektiven Rechtsschutzes in jedem Falle ohne Antizipation der vermeintlichen Reaktionen des Gesetzgebers durch das Bundesverfassungsgericht der Ergebnisoffenheit des Gleichheitssatzes gerecht. Problematischer liegen dagegen die (im Vergleich zu den eben genannten Konstellationen seltenen) Fälle, in denen diese Ergebnisoffenheit ausnahmsweise nicht besteht. Folgendes Beispiel möge dies verdeutlichen: Nach einem BunBVerfGE 23,242 (254 ff.). Dazu oben § 3 B I 1 c cc (2). So aber PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 544. 315 Anders aber PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 544.

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des gesetz bedürfen nur Personen mit den Anfangsbuchstaben Abis Y einer Genehmigung der Bundesregierung, wenn sie zur Kriegsführung bestimmte Waffen herstellen, befördern oder in Verkehr bringen wollen. Für die übrigen Personen soll nach dem Gesetz keine Genehmigung erforderlich sein. Diese Genehmigungsfreiheit verstößt schon an sich gegen Art. 26 Abs. 2 GG, da die Verfassung selbst die Genehmigungsbedürftigkeit statuiert. Nur in diesem Fall kann sich nach hier vertretener Ansicht überhaupt die Frage stellen, ob die mit der Genehmigungspflicht belastete Gruppe 316 Rechtsschutz verlangen kann. Geht das Rechtsschutzziel der gleichheitswidrig belasteten Gruppe auf Einbeziehung in die Genehmigungsfreiheit, so stellt sich die Frage nach der "Gleichstellung im Unrecht", d.h. in einer an sich kraft höherrangigen Rechts verbotenen Rechtslage. 31 ? Geht das Rechtsschutzziel hingegen auf Beseitigung des Vorteils für die Vergleichsgruppe, so stellt sich die Frage, ob Art. 3 Abs. I GG auch die Abwehr von Fremdbegünstigungen ermöglicht. 3I8 Nach PierothiSchlink soll dort, wo die eigene Position nicht verbessert, sondern nur eine andere verschlechtert werden soll, zwar eine abstrakte oder konkrete Normenkontrolle zulässig und begründet sein können, nicht jedoch die Verfassungsbeschwerde. 319 Diese Spaltung in der Beurteilung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde und der konkreten Normenkontrolle würde also den ungleich behandelten Bürger davon abhängig machen, ob das Fachgericht seine verfassungsrechtlichen Bedenken teilt oder nicht. Im ersten Fall könnte die Gleichheitswidrigkeit beseitigt werden, im zweiten Fall nicht, und dies obwohl es doch in den Ausgangsverfahren regelmäßig auch um subjektiven Rechtsschutz geht. Die bei den im letztgenannten Beispiel aufgeworfenen Fragen, ob der absolut rechtmäßig, aber gleichheitswidrig (also relativ) Benachteiligte (1.) zu eigenen Gun316 Es mag an dieser Stelle dahinstehen, ob es sich bei dem Genehmigungserfordernis des Art. 26 Abs. 2 GG um ein repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt oder um ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt handelt. Vgl. dazu etwa Streinz, in: Sachs, GG, Art. 26 Rn. 45; larasslPieroth, GG, Art. 26 Rn. 7. 3I7 Insofern kann sich das Problem der Gleichheit im Unrecht nicht nur bei der Überprüfung von Akten der Exekutive und Judikative stellen, wenn diese in einem Fall rechtmäßig handeln, ansonsten aber unter Mißachtung des Vorrangs des Gesetzes nach Art. 20 Abs. 3 GG Mitglieder der Verg1eichsgruppe besser behandeln. Das Problem kann auch auftreten, wenn der Gesetzgeber einer Vergleichsgruppe einen Vorteil einräumt, der von Verfassungs wegen verboten ist, oder diese von einem Nachteil ausnimmt, der von Verfassungs wegen zwingend vorgeschrieben ist, und es bei der der Verfassung entsprechenden Regelung nur für die andere Vergleichsgruppe beläßt. Insoweit unzutreffend daher Herzog, in: Maun:zJDürig, GG, Anhang Art. 3 Rn. 29 (insbesondere mit Fn. 47). 318 Zu diesen Problemkreisen siehe unten § 5 C. 319 PierothJSchlink, Grundrechte, Rn. 544. Insoweit fehlt allerdings ein Hinweis auf die abweichende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: So hielt etwa BVerfGE 84, 233 (237 f.) eine konkrete Normenkontrolle für unzulässig, weil die Kläger des Ausgangsverfahrens angeblich nur die Rechtsposition anderer verschlechtern, nicht jedoch ihre eigene Rechtsposition verbessern konnten.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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sten Gleichheit im Unrecht und/oder (2.) Gleichstellung zuungunsten Dritter (nämlich der absolut rechtswidrig Bevorzugten) erreichen kann, betreffen die Schutzrichtungen des Gleichheitssatzes und werden unten320 noch behandelt.

(3) Steuerentlastungstatbestände aLs Begünstigung?

Daß bei einer gleichheitswidrigen Privilegierung Dritter im Eingriffsrecht (und damit auch im Steuerrecht) nicht deren "Begünstigung" der Dreh- und Angelpunkt ist, sondern es primär um die Abwehr der eigenen "Belastung" geht, wird auch in der Literatur nicht immer so gesehen. So wird etwa das Argument der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers teils auch bei einer verfassungswidrig zu niedrigen Bemessung steuerentlastender Fiskalzwecknormen, z.B. des Grundfreibetrages, angeführt. 321 Dieses Argument ist indes (wie gezeigt und entsprechend einem Vergleich der Anfechtungs- und Verpflichtungssituationen im Verwaltungsprozeß) nur einschlägig, wenn der Bürger eine Begünstigung erstrebt, da eine eigene Belastung durch Nichtigerklärung des Gesetzes schlicht abgewehrt werden kann. Bei einer Gesamtbetrachtung der steuerbegründenden und der steuerentlastenden Normen (die schon zur Ausschaltung bloß gesetzestechnischer Zufälle erforderlich ist) kann eine erdrosselndem und damit verfassungswidrige Steuer idealtypisch insgesamt abgewehrt werden. Diese Abwehr könnte idealtypisch durch Nichtigerklärung der gesamten Normen, die zu der erdrosselnden Wirkung führen, also insbesondere der steuerbegründenden Normen, herbeigeführt werden. Insoweit trifft es nicht zu, isoliert auf den Steuerentlastungstatbestand abzustellen und insoweit davon zu sprechen, daß der verfassungsrechtliche Vorwurf in seinem Kern ein gesetzgeberisches UnterLassen 323 treffe. 324 Orientiert man sich an den insbesondere im Strafrecht entwikkelten Kriterien zur Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen, so wird man in einem Fall wie dem soeben geschilderten den Schwerpunkt des relevanten Verhaltens 325 in dem erdrosselnden steuerlichen Zugriff (auf das Existenzminimum) 320

§ 5 C.

So etwa Seer, in: TipkelLang, Steuerrecht, § 23 Rn. 284. 322 So die Qualifikation einer auf das Existenzminimum zugreifenden Steuer durch BVerfGE 87, 153 (169). 323 Gegen die Einführung des Begriffs des Unterlassens im Zusammenhang mit dem sog. konkludenten gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses vgl. schon oben § 3 B I 1 a dd (2) und im Zusammenhang mit dem Unterlassen der Änderung einer unzureichenden Besoldungsregelung (4). 324 So aber Seer, in: TipkelLang, Steuerrecht, § 23 Rn. 284. m Vgl. zu dessen Maßgeblichkeit bei der Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen etwa BGHSt 6, 46 (59); Stree, in: Schönke/Schröder, vor § 13 Rn. 158; Wesseis, Strafrecht Allgemeiner Teil, Rn. 700. 321

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

- also einem Tun - sehen müssen, nicht jedoch in dem "Unterlassen", eine ausreichende Steuerentlastungsnorm zu schaffen. Stellt man auf eine Gesamtbetrachtung der Steuerentlastungs- und Steuerbelastungstatbestände ab mit der Folge, auch die Steuerbelastungstatbestände als verfassungswidrig anzusehen, solange nicht ausreichende Steuerentlastungstatbestände bestehen, so überzeugt auch nicht das Argument, daß eine Nichtigerklärung (sc. der Regelung über den Grundfreibetrag) den Verfassungsverstoß nicht beseitige, sondern vertiefe. 326 Denn eine auch die Steuerbelastungstatbestände erfassende Nichtigerklärung würde den Verfassungsverstoß beseitigen. Im entschiedenen Fall kam wegen der enormen tatsächlichen (fiskalischen) Auswirkungen eine Nichtigerklärung auch der Steuerbelastungstatbestände von vornherein nicht in Betracht, weil dies zu einem noch verfassungsferneren Zustand als die Fortgeltung der Normen mit erdrosselnder Wirkung geführt hätte. Der idealtypische Fall der Nichtiger klärung des gesamten Regelungskomplexes, der die verfassungswidrigen Folgen herbeiführte, läßt sich daher in solchen Fällen nicht verwirklichen. Dies spricht indes nicht gegen das Erfordernis einer Gesamtbetrachtung. Die Berücksichtigung der Folgen einer Nichtigerklärung stellt vielmehr nur ein allgemeines (nicht spezifisch auf Gleichheitsverstöße bezogenes) Problem dar. Dieses kann sich auch stellen, wenn eine wichtige Steuer (etwa wegen eines Verstoßes gegen Freiheitsrechte) insgesamt verfassungswidrig ist. Die Tatsache, daß eine Gesamtbetrachtung regelmäßig mehr Normsubstanz erfaßt als eine ausschnittsweise und isolierte Betrachtung und damit der Ausspruch der Verfassungswidrigkeit auch regelmäßig größere fiskalische Auswirkungen hat, betrifft die erst in einem zweiten Schritt zu beantwortende Frage, ob wegen relativ größerer Verfassungsnähe der Fortgeltung einer verfassungswidrigen Norm im Einzelfall gegenüber deren Nichtigerklärung diese ausnahmsweise nach dem Gedanken der Einheit der Verfassung gerechtfertigt werden kann. Dies war etwa auch bei der Umsatzsteuer der Fall. 327 Zusammenfassend ist daher festzuhalten, daß Steuerentlastungstatbestände und zwar sowohl Fiskalzwecknormen (unechte Steuervergünstigungen) als auch Lenkungsnormen (echte Steuervergünstigungen) - nicht Begünstigungen darstellen, sondern Belastungsausnahmen. Dem könnte indes nun der Einwand entgegengesetzt werden, daß daraus etwa eine unterschiedliche Behandlung von direkten und indirekten Subventionen folgt und insoweit die gesetzliche Einkleidung entscheidend ist. Indes wird unten 328 noch ausführlich dargestellt, daß 326 So Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 23 Rn. 284 Fn. 212; ders., NJW 1996, 285 (287). In der Sache ebenso BVerfGE 99,216 (243 f.). 321 BVerfGE 21, 12 ff. beschränkte sich freilich auf eine Appell-Entscheidung und verzichtete schon tatbestandlich auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit, eben um die eigentlich verfassungswidrig ausgestaltete Umsatzsteuer nicht völlig wegfallen zu lassen. Dazu oben § 2 C III. 328 Unter § 3 B I I e. Vgl. auch § 3 B I I d aa (4) (b).

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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die Zuordnung einer Norm zum Eingriffs- oder Leistungsrecht in vielfältiger Weise zu unterschiedlichen Rechtsfolgen führt. Verschonungssubventionen folgen daher anderen Regeln als direkte Subventionen. Die Zuordnung zu einem Rechtsgebiet betrifft eine andere Frage als die Gesetzestechnik innerhalb eines Gesetzes, die nicht zu unterschiedlichen Rechtfolgen führen darf.

(4) Beseitigung der Kosten für die Drittbevorzugung als mittelbarer Vorteil zugunsten der Benachteiligten - Maßgeblichkeit von Sekundäreffekten?

Nach hier vertretener Sichtweise zielt der Rechtsschutz gegen ungleich belastende Gesetze im Eingriffsrecht grundsätzlich auf die Abwehr eigener Belastungen, nicht auf das Erstreben eigener "Begünstigungen" oder Belastungen Dritter. 329 Nur wenn entgegen dieser Auffassung Steuerentlastungstatbestände als Begünstigungen angesehen würden, käme es überhaupt auf die Frage an, wie die Chance auf Verbesserung der eigenen Situation beschaffen sein muß, um subjektiven Rechtsschutz zu ermöglichen. Insoweit würde sich die Frage stellen, ob eine Chance auf Einbeziehung in die ,,Begünstigung" (unmittelbare Verbesserung der eigenen Rechtsposition) bestehen muß oder ob eine mittelbare Verbesserung der eigenen Rechtsposition ausreicht, um subjektiven Rechtsschutz zu erlangen. Eine solche mittelbare Verbesserung der eigenen Rechtsposition könnte etwa in einer geringeren eigenen steuerlichen Belastung bestehen, die nach Wegfall der Drittprivilegierung und infolge der sich nunmehr erhöhenden Steuereinnahmen eintreten würde. 330 Eine solche Senkung der eigenen Steuersätze träte freilich nicht automatisch ein. Im folgenden soll dieser Frage, ob eine 329 Im Rahmen der Rechtsanwendungsgleichheit kann es dagegen anders liegen: Wird der Konkurrent K durch das Finanzamt nicht zur Steuer herangezogen, kann der im Einklang mit den Gesetzen veranlagte Steuerpflichtige S grundsätzlich seine eigene Belastung nicht ohne weiteres abwehren, es sei denn, die Erhebungsdefizite sind dem Gesetzgeber zurechenbar. Dann schlägt die mangelhafte Erhebungsregelung auf den die materielle Steuernorm selbst durch, vgl. dazu BVerfGE 84, 239 ff. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, wird das Rechtsschutzbegehren des im Wettbewerb benachteiligten U jedoch möglicherweise auf Belastung des K zielen. Zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen vgl. BFHE 184, 212 ff. 330 Dieser Zusammenhang zwischen der Schaffung steuerlicher Entlastungstatbestände einerseits und der Erhöhung steuerlicher Belastungen an anderer Stelle andererseits zeigte sich zuletzt deutlich etwa bei der Reform der Erbschaftsteuer durch das Jahressteuergesetz 1997. Der Wechsel des Bewertungsverfahrens, der Ansatz von Steuerbilanzwerten bei Betriebsgebäuden und der Verzicht auf einen Zuschlag für die nach § 13a ErbStG entlasteten Betriebsgrundstücke ließen ein Minderaufkommen von 1,5 Mrd. DM erwarten, die durch "verwirrende Eingriffe" (vgl. MoenchlHöll, Die neue Erbschaftsteuer, S. 14 f.) in die anderen Besteuerungsfaktoren ausgeglichen werden mußten. Auf diesen Zusammenhang hinweisend auch Meincke, DStJG 22 (1999), 39 (46); Seer, DStJG 22 (1999),191 (214).

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

solche Betroffenheit zur Eröffnung von Rechtsschutz ausreichen würde, nachgegangen werden, auch wenn es auf sie im Eingriffsreche31 nicht ankommt. So hält etwa Huster auf der ersten Stufe generell an der Rechtsschutzvoraussetzung fest, daß die Möglichkeit bestehen muß, die eigene Situation durch "die Klage" (genauer müßte es heißen: die gerichtliche Entscheidung) zu verbessern. 332 Auf der zweiten Stufe wird diese Voraussetzung dann für den Bereich des Steuerrechts wie folgt konkretisiert: Eine nicht gerechtfertigte Steuervergünstigung stelle einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dar, "weil,,333 sie - zumindest tendenziell - dazu führe, daß die übrigen Steuerzahler höher belastet werden. Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz liegt indes richtigerweise schon darin, daß eine Vergleichsgruppe ungerechtfertigt anders als die andere Vergleichsgruppe behandelt wird. Wird Steuerzahler A eine Steuervergünstigung gewährt, Steuerzahler B hingegen nicht, so liegt ein Gleichheitsverstoß vor, sofern die Ungleichbehandlung nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann. Auf die Frage, ob der nicht berücksichtigte B wegen der dem A gewährten Steuervergünstigung höher belastet wird als in dem Falle, in dem A die Steuervergünstigung nicht erhielte, kommt es insoweit nicht an. Fraglich ist insoweit nur, ob ihm auch (zulässiger) Rechtsschutz gegen diese Ungleichbehandlung gewährt wird. Weiter folgert Huster, es existierten also Vergleichsgruppen (nämlich die von der Steuervergünstigung Erfaßten und die ,,Ausgeschlossenen"), die auch einen "zur Aktivierung des Gleichheitssatzes erforderlichen Nachteil" geltend machen könnten. Dieser Nachteil soll jedoch nach Huster nicht schon in der eigenen gleichheitswidrigen Belastung liegen, sondern erst darin, daß die anderen Steuerzahler infolge der Steuervergünstigung für die andere Vergleichsgruppe (zumindest tendenziell) höher belastet würden, als es ohne die Existenz dieser Steuervergünstigung erforderlich wäre. 334 Da insoweit niemand "in qualifizierter Weise" - d.h. über seine Eigenschaft als Mitglied der Lastengemeinschaft hinaus - betroffen sei, wirft er dann die im Ergebnis offen gelassene Frage auf, ob entweder jeder Steuerzahler335 oder kein Steuerzahler336 klagebefugt sei. 3J7

331 Relevanz erlangt sie allerdings auch nach hier vertretener Sichtweise im Leistungsrecht, insbesondere bei direkten Subventionen. 332 Huster, Rechte und Ziele, S. 406. 333 So Huster, Rechte und Ziele, S. 407. 334 Vgl. Huster, Rechte und Ziele, S. 407. 335 So etwa Lübbe- Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 242 f. mit Fn. 94; Tipke/Lang, Steuerrecht, § 20 Rn. 50 a.E. Ebenso auch Schweizerisches Bundesgericht, BGE 109 Ia, 252 (253) in Änderung seiner früheren Rechtsprechung: "Ein Privater kann ... wegen rechtsungleicher Behandlung einen Erlaß anfechten, wenn er geltend macht, dieser privilegiere Dritte in objektiv nicht zu rechtfertigender Weise ... " 336 So tendenziell die Rechtsprechung, die als Rechtsschutzvoraussetzung die (Möglichkeit der) Besserstellung der bisher nicht begünstigten Vergleichsgruppe fordert. Vgl.

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Würde man auf diesen Nachteil der eigenen stärkeren Heranziehung zur Finanzierung der Verschonungssubventionen zugunsten Dritter abstellen, so spräche vieles gegen eine Eröffnung von Rechtsschutz. Das Bundesverfassungsgericht trennt mit Recht strikt zwischen der Steuererhebung (Einnahmenseite) und der haushaltsrechtlichen Verwendungsentscheidung (Ausgabenseite). 338 Der mögliche Profit des Beschwerdeführers bzw. Klägers des Ausgangsverfahrens infolge der verfassungsgerichtlichen Verwerfung der Drittbegünstigung läge jedoch einzig darin, daß keine Verschonungssubventionen mehr finanziert (keine Steuerausfalle mehr ausgeglichen) werden müßten und der bisher Benachteiligte insofern steuerlich entlastet werden könnte. Indes erscheint die Möglichkeit, daß ausgerechnet die Steuerlast des bisher Benachteiligten gesenkt wird, angesichts der Vielzahl von Steuerarten häufig nur vage. Zwar stellt die politische Diskussion der Reform des Erbschaftsteuerrechts 339 einen Beleg dafür dar, daß ein Zusammenhang zwischen Einnahmen (steuerliche Belastung der Benachteiligten) und ,,Ausgaben" bzw. Steuerrnindereinnahmen (direkte Subventionierung bzw. steuerliche Verschonung bestimmter Gruppen) besteht. Dort ging es jedoch nur um die Reform einer einzigen Steuer durch den Gesetzgeber. Wenn dagegen infolge einer verfassungs gerichtlichen Entscheidung ein Steuerprivileg in einer bestimmten Steuerart wegfiele und dadurch mehr Steuereinnahmen in die öffentlichen Haushalte flössen, folgt daraus jedoch nicht zwingend, daß der Gesetzgeber dann alle mit dieser Steuerart belasteten Bürger entlasten würde. Vielmehr könnten die Mehreinnahmen auch für die Schuldentilgung oder zur etwa BVerfGE 49, I (7 ff.), wo die Verfassungsbeschwerde eines Bürgers gegen die Steuerfreiheit von Abgeordneten-Diäten mangels Selbstbetroffenheit für unzulässig gehalten wurde, und BVerfGE 84, 233 (237 f.), wo Entscheidungserheblichkeit der Verfassungsmäßigkeit einer Steuerarnnestie-Norm im Rahmen einer Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG verneint wurde. 337 So Huster, Rechte und Ziele, S. 407. - Die Frage stellt sich eigentlich deutlicher bei der Verfassungsbeschwerde gegen ein drittbevorzugendes Gesetz, und zwar dann unter dem Gesichtspunkt der Beschwerdebefugnis. Dasselbe Problem stellt sich bei der Entscheidungserheblichkeit der Frage der Verfassungsmäßigkeit der drittbevorzugenden Steuervergünstigungsnorm im finanzgerichtlichen Verfahren, Art. 100 Abs. 1 00. Dagegen folgt die Klagebefugnis desjenigen Steuerpflichtigen, dem die Steuervergünstigung nicht gewährt wird, schon daraus, daß er als Adressat eines an ihn gerichteten Steuerbescheides jedenfalls in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 00 verletzt sein kann, vg\. zur sog. Adressaten-"Theorie" nur Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 510 ff. An dieser Ungenauigkeit (Klagebefugnis im Rahmen einer Klage gegen einen belastenden Verwaltungsakt einerseits und Beschwerdebefugnis im Rahmen einer gegen ein Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde) zeigt sich das Erfordernis der exakten Differenzierung zwischen den Gleichheitsverstößen des Gesetzes und Gleichheitsverstößen durch die Rechtsanwendung. m Vg\. etwa BVerfG (Kammer), NJW 1993,455 (455 f.) (dort zur Frage der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen). Ebenso BFH BStB\. II 1992, 303 (304); FG DüsseI dorf EFG 1997,653; Birk, Steuerrecht I, § 11 Rn. 52 a.E. m.w.N.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 599. 339 Dazu oben Fn. 328. I I Wernsmann

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

Entlastung bei anderen Steuern eingesetzt werden. Ein über die Beseitigung der Ungleichbehandlung hinausgehender konkreter Vorteil der bisher Benachteiligten kann damit nicht sicher erwartet werden. Zuzustimmen ist freilich dem Ausgangspunkt, daß ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen im Bereich des Steuerrechts tendenziell dazu führen, daß die Bevorzugung einer Vergleichsgruppe - sei es durch mehr oder weniger zufällige Steuerprivilegien und systematische Ungereimtheiten, sei es durch ungerechtfertigte gezielte Steuervergünstigungen - auch dazu führt, daß die übrigen Steuerzahler die durch die Steuervergünstigungen entstehenden Steuerausfälle auszugleichen haben. Dieser Nachteil trifft indes nicht notwendig nur die bisher benachteiligte Vergleichsgruppe, sondern kann alle anderen Steuerzahler betreffen. Die benachteiligte Vergleichsgruppe ist dann freilich insofern "doppelt" betroffen, als sie über die bloße Ungleichbehandlung (Steuerpflicht der einen Gruppe - Steuerfreiheit der Vergleichsgruppe) hinaus einen weiteren Nachteil erleidet, nämlich im Fall der Steuerbefreiung der Vergleichsgruppe tendenziell höher besteuert wird als in dem Falle, in dem diese ebenfalls zur Steuer herangezogen wird. 340 Diese Erkenntnis mag ein Indiz dafür darstellen, daß auf bloße Abwehr von (gesetzlichen) Drittbegünstigungen gerichtete Klagen bzw. Verfassungsbeschwerden jedenfalls im Bereich des Steuerrechts keine bloßen "Neidklagen,,341 darstellen, sondern mit ihr berechtigte eigene Interessen verfolgt werden. 342 Jedoch erscheint es zweifelhaft, ob dieses Interesse den Bürger deutlich genug aus der "Anonymität des Allgemeininteresses,,343 hervorzuheben vermag, um ihm Rechtsschutz zu eröffnen. Im Ergebnis erscheint es jedoch nicht überzeugend, Individualrechtsschutz nur aufgrund ungerechtfertigter Einnahmeausfälle bzw. Ausgaben zu gewähren. Diese vermitteln kein "qualifiziertes Betroffensein". Richtiger Auffassung nach bedarf es dieses Umwegs im Bereich des Eingriffsrechts ohnehin nicht. Auf diesen nachteiligen Sekundäreffekt muß deshalb nicht abgestellt werden, weil der Primäreffekt, der abgewehrt werden kann, in der eigenen gleichheitswidrigen Belastung liegt.)44 Wie eingangs erörtert, kann der nicht von der Steuervergün340 Zutreffend Huster. Rechte und Ziele, S. 407; Pezzer. in: Umbach/Clemens, BVerfGG, S. 70 Rn. 6; plakativ Tipke. Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1395: "Im Steuerrecht bedeutet die rechtliche Privilegierung der einen die rechtliche Diskriminierung der anderen." Wohl auch BFH BStB!. II 1995, 142 (150); Völlmeke. NJW 1992, 1345 (1348), wonach die Erfahrung, daß der Staat bei steigendem Finanzbedarf die Steuern erhöhe, die willkürliche Bevorzugung bestimmter Gruppen die Benachteiligten als eigene Diskriminierung "empfinden" lasse. J41 Vg!. die negativ besetzte Begriffsprägung durch Dürig. in: MaunzlDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 468. 342 Zutreffend Sachs. in: Festschrift für Friauf. S. 309 (326). J4J ZU diesem Begriff in anderem Zusammenhang Seer. in: TipkelLang, Steuerrecht, § 23 Rn. 127 . .144 Dazu oben § 3 B I I d aa (I )-(3).

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stigungsnonn erfaßte Steuerpflichtige seine steuerliche Belastung idealtypisch345 abwehren, solange eine ungerechtfertigte Steuerbefreiung zugunsten einer Vergleichsgruppe besteht. Kann ein Steuerpflichtiger aus der gesetzlich benachteiligten Vergleichsgruppe indes idealtypischerweise seine eigene steuerliche Belastung aufgrund des aus der Steuerbefreiung Dritter folgenden Gleichheitsverstoßes dieser seiner steuerlichen Belastung und damit aller Nonnen, auf denen diese steuerliche Belastung beruht, abwehren, so folgt bereits aus dem Wegfall seiner eigenen Belastung die unmittelbare Verbesserung seiner eigenen Rechtsstellung, die von den Vertretern der wohl h.M. als Voraussetzung dafür gefordert wird, einen Gleichheitsverstoß durch die Gesetzgebung geltend machen zu können. Soweit diese Differenzierung zwischen Ungleichbehandlungen im Eingriffsrecht und Ungleichbehandlungen im Bereich der gewährenden Gesetzgebung zu unterschiedlichen Anforderungen für die Geltendmachung von Gleichheitsverstößen führt, folgt dies aus dem unterschiedlichem Charakter des Eingriffs- und Leistungsrechts.,46 Allerdings wird die Auffassung vertreten, daß direkte Subventionen und indirekte Subventionen in jeder Hinsicht gleichzubehandeln seien. 347 Da die Abwehr eigener Belastungen aufgrund drittbevorzugender Verschonungssubventionen nur im Eingriffsrecht (mithin auch im Steuerrecht), nicht jedoch im Bereich der direkten Subventionen denkbar ist und der hier vorgeschlagene Weg somit in jenem Bereich nicht gangbar ist, soll kurz darauf eingegangen werden, ob eine solche Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Subventionen zulässig oder sogar geboten ist. 348 Abschließend sei nochmals darauf hingewiesen, daß es hier nur um die verfassungswidrige Privilegierung Dritter durch Gesetz, also nicht durch Gesetzesanwendung ging. Bringt der dem Gesetz entsprechend besteuerte Steuerpflichtige nur vor, ein anderer (oder mehrere andere) würden entgegen dem Gesetz günstiger behandelt, und will er mit dieser Begründung seine eigene Belastung

.145 Die Frage, ob der gesetzliche verfassungswidrige Steuertatbestand aus übergeordneten Gründen möglicherweise weiter angewendet werden muß, kann an dieser Stelle wie gesehen keine Rolle spielen. 346 Insoweit ebenso Huster. Rechte und Ziele, S. 405, der Differenzen in der gleichheitsrechtlichen Beurteilung von direkten und indirekten Subventionen ebenfalls für begründet hält . .147 So insbesondere Tipke/Lang. Steuerrecht, § 4 Rn. 22, die die in das Gewand des Steuerrechts gekleideten Sozialzwecknormen nicht nach den für Fiskalzwecknormen geltenden Regeln beurteilen wollen. - A.A. dagegen die h.M., zuletzt etwa E. Groß. Steuervergünstigungen und Steuerbenachteilungen - Gibt es besondere Regeln für den Gesetzesvollzug?, S. 237 m.w.N. 348 Dazu unten § 3 B I 1 e.

11·

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

abwehren, so stellt sich das Problem, ob Gleichheit im Unrecht verlangt werden kann. Dies verneint die h.M. 349 Auch eine allein auf Art. 3 Abs. 1 GG gestützte Klage auf Besteuerung der verschonten Dritten wird ganz überwiegend mangels Klagebefugnis abgelehnt. 35o Ansonsten könnte über Art. 3 Abs. 1 GG ein allgemeiner Gesetzesvollziehungsanspruch abgeleitet werden, der dem System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, das die Popularklage ausschließt, widersprechen würde. 351 Ein Anspruch darauf, daß andere nicht günstiger behandelt werden als der Kläger, besteht nach überwiegender Ansicht nur bei einer aus einem anderen, drittschützenden Recht - etwa Art. 12 I GG - herrührenden eigenen rechtlichen Betroffenheit. 352

bb) Verhältnis zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten Aus der Gesamtbetrachtung ergab sich, daß Ausnahmevorschriften zugunsten Dritter im Bereich des Eingriffsrechts keine ,,Begünstigungen", sondern Ausnahmen von Belastungen darstellen und daß es somit in Rechtsschutzverfahren von Mitgliedern der benachteiligten Vergleichsgruppe nicht darauf ankommen kann, ob diese durch eine verfassungsgerichtliche Entscheidung ebenfalls in den Genuß der ,,Begünstigung" kommen können, sondern daß die benachteiligte Vergleichsgruppe vielmehr (grundsätzlich353 ) jeden rechtswidrigen und damit auch jeden gleichheitssatzwidrigen Eingriff abwehren kann. Diese These muß allerdings abschließend noch darauf hin kontrolliert werden, ob sie das Verhältnis zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten zutreffend abbildet. 349 Siehe hier nur etwa Erichsen, VerwArch 71 (1980), 289 (297) m.w.N; Pierothl Schlink, Grundrechte, Rn. 552. Dazu noch unten § 5 eIl. 350 So etwa Knobbe-Keuk, BB 1982, 385 (386 f.); ebenso für den entsprechenden Fall auf Unterlassung der direkten Subventionierung eines Dritten Erichsen, Jura 1994, 385 (386 f.). Anders für den Bereich des Steuerrechts aber wohl Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1395. 351 Vgl. Erichsen, VerwArch 71 (1980), 289 (297); Knobbe-Keuk, BB 1982, 385 (387). m Siehe nur BFHE 184, 212 (Leitsatz 1 und S. 216 ff.); BVerwGE 39, 235 (238 f.); Erichsen, Jura 1994, 385 (386 f.); Pietzcker, JZ 1989, 305 (307, 309 f.). 353 Vorliegend nicht einschlägige Ausnahmen wie § 46 VwVfG, die nach überwiegender Meinung nur die Rechtsverletzung i.S.d. § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO, nicht aber die Rechtswidrigkeit des beanstandeten Verwaltungsaktes entfallen lass!!n (so etwa BVerwGE 65. 287 (290); Badura. in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 38 Rn. 34; Krebs, DVBI. 1984, 109 (111); Schoch, Übungen im Öffentlichen Recht 11, S.75, 113 m.w.N.; die Gegenauffassung geht noch weiter und verneint erst - trotz Annahme einer Rechtsverletzung - den Aufhebungsanspruch, so etwa Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 809), sollen hier nicht thematisiert werden.

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An dieser Stelle soll es nicht um die rechtsphilosophische Frage des Verhältnisses zwischen Freiheit und Gleichheit gehen. Insoweit wird ein Konflikt zwischen dem Ziel gesellschaftlicher Freiheit und dem Ziel gesellschaftlicher Gleichheit gesehen. 354 Indes besteht zwischen dem Recht auf Gleichbehandlung - verstanden als rechtliche Gleichheit, die einen Zustand des Fehlens rechtlicher Unterscheidungen durch diskriminierende Ungleichbehandlungen beschreibt,355 und nicht verstanden als sog. faktische Gleichheie 56 , die nur durch rechtliche Ungleichheit (Ungleichbehandlungen) geschaffen werden könnte 357 und auf Gleichheit im tatsächlichen Ergebnis zielt, - und den Freiheitsrechten kein Konflikt. 358 Um die Möglichkeit von Kollisionen soll es hier indes ohnehin nicht gehen, vielmehr stellt sich hier die Frage der Grundrechtskonkurrenzen, ob also mehrere Grundrechte ein und desselben Grundrechtsträgers nebeneinander anwendbar sind, und die Frage, inwieweit Verletzungen von Grundrechten Dritter durch ein freiheitsbeschränkendes Gesetz auch den Eingriff gegenüber dem rechtsschutzsuchenden Bürger rechtswidrig machen. Zunächst bedarf es einer Bestimmung des Verhältnisses von Freiheits- und Gleichheitsrechten. Hier stellt sich die Frage, ob jedes gleichheitswidrige Gesetz, das ein Freiheitsrecht einschränkt, abgewehrt werden kann. Problematisch ist zunächst die Konstellation, daß dem A eine Belastung auferlegt wird, während der B auf der Grundlage einer ihn privilegierenden Ausnahmevorschrift nicht oder geringer belastet wird359 , und zwar insbesondere in der Konstellation, daß dem Gleichheitssatz (tatSächlich oder angeblich36O) nur dadurch Rechnung

etwa PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 473. m BirkiBarth, in: HübschmannlHepp/Spitaler, AO, § 4 Rn. 412; Starck, in: von

354 V gl.

Mangoldt/Klein, 00, Art. 3 Abs. 1 Rn. 3. 356 Diese wiederum ist terminologisch strikt zu unterscheiden von dem Erfordernis der "rechtlich und tatsächlich" gleichen Belastung aller Steuerpflichtigen, das das Bundesverfassungsgericht zutreffend dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 00 entnimmt, vgl. BVerfGE 84, 239 (Leitsatz 1 und S. 268). - Beide Komponenten betreffen die rechtliche Gleichheit im O.g. Sinne, also das Fehlen rechtlicher Unterscheidungen durch diskriminierende Ungleichbehandlungen. m Zutreffend Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 378. m So auch BirkiBarth, in: HübschmannlHepp/Spitaler, AO, § 4 Rn. 412 m.w.N.; PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 473; Schoch, DVBI. 1988, 863 (866 f.) m.w.N.; Starck, in: von Mangoldt/Klein, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 3. Vgl. ferner Kirchhof, HStR V, § 124 Rn. 159. 359 Dies mag erneut der schon mehrfach erwähnte Zins amnestie-Falls (BVerfGE 84, 233 ff.) illustrieren. Weitere Beispiele: Steuerfrei stellungen zugunsten Dritter aufgrund der §§ 3, 3b EStG. 360 Das Problem reduziert sich auf die seltenen Fälle, in denen die Drittbevorzugung absolut rechtswidrig ist, vgl. obiges Beispiel: Bürger mit dem Anfangsbuchstaben Z werden vom verfassungsrechtlich zwingenden Genehmigungserfordernis nach Art. 26 Abs. 2 GG freigestellt. Dies ist die Frage nach den Schutzrichtungen des Gleichheitssatzes, dazu unten § 5.

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getragen werden kann, daß der bisher besser gestellten Vergleichsgruppe ihre Privilegien genommen werden, so daß die bisher benachteiligte Vergleichsgruppe durch Rechtsbehelfe ihre eigene Situation nicht verbessern kann. 361 Hier wird insoweit teilweise nicht auf die Abwehr des möglicherweise rechtswidrigen (da gleichheits widrigen) Eingriffs in Art. 2 Abs. 1 GG abgestellt, sondern auf eine möglicherweise durch Art. 3 Abs. 1 GG vermittelte Einbeziehung in eine "Begünstigung". Ferner stellt sich das Problem des Verhältnisses von Freiheits- und Gleichheitsrechten dann, wenn ein Gesetz einen Bürger belastet, das zwei Vergleichsgruppen unter Verstoß gegen den Gleichheitssatz ungleich behandelt, denen der rechtsschutzsuchende Bürger jedoch nicht angehört. 362

(J) Strikte Trennung der veifassungsrechtlichen Prüfungsmaßstäbe ?

Es fragt sich, welches Verhältnis zwischen den Prüfungsmaßstäben der Grundrechte und objektiven Verfassungsinhalten oder Grundrechten Dritter besteht. Diese Frage ist bedeutsam dafür, welche Verfassungsnormen das Bundesverfassungsgericht auf eine Verfassungsbeschwerde hin überprüft. Diese muß der Beschwerdeführer auf eines der in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG genannten Rechte stützen können.

361 Sofern das Bundesverfassungsgericht als zusätzliche Normverwerfungsvoraussetzung bei Gleichheitsverstößen statuiert, daß der Gleichheitsverstoß nicht allein durch Angleichung an die Behandlung der bisher benachteiligten Vergleichsgruppe ausgeräumt werden könne (vgl. zuletzt BVerfGE 93, 121 (142», so müßten in jedem Falle zunächst die verschiedenen verfassungsrechtlich zulässigen Optionen untersucht werden. Dann müßte etwa in der Konsequenz vorab untersucht werden, ob der Kläger bzw. Beschwerdeführer eine Angleichung an das Niveau der bisher besser Behandelten erreichen kann. Beispiel: Kann eine verfassungskonforrne Gleichbehandlung der Alterseinkünfte nur dadurch erreicht werden, daß die Renten und Pensionen voll besteuert werden (so etwa Seer, StuW 1996, 323 (336); a.A. Birk/Wernsmann, in: CramerlFörster/ Ruland, Handbuch zur Altersversorgung, S. 833 (846 fO), so dürfte eine Norrnverwerfung auf Betreiben der bisher Benachteiligten (Pensionäre und "aktive" (junge) Bezieher von Erwerbseinkünften) nicht in Betracht kommen, da sie ihre Rechtsstellung durch die verfassungsgerichtliche Entscheidung nicht verbessern könnten, und in Verfahren der bisher Bevorzugten (Bezieher von Sozialversicherungsrenten) soll die Frage der Verfassungsmäßigkeit nach BVerfGE 66, 100 (105 fO; 67, 239 (243 0 ebenfalls nicht entscheidungserheblich sein, dazu noch unten § 4 A H, C III. 362 Beispiel (nach BVerfGE 85, 191 ff.): Ein Gesetz statuiert ein Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen, das für männliche Arbeiter und weibliche Angestellte nicht gilt. Gegen den Arbeitgeber, der diesem Verbot zuwiderhandelt, wird aufgrund des Gesetzes ein Bußgeld verhängt.

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In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird teilweise strikt zwischen den Prüfungsmaßstäben der Freiheitsrechte und der Gleichheitsrechte getrennt. 363 Es finden sich aber auch viele Entscheidungen, in denen im Rahmen der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde die Möglichkeit der Verletzung eines Freiheitsrechts bejaht wird, in denen dann aber im Rahmen der Begründetheit nur auf objektive Verfassungsbestimmungen abgestellt wird. 364 So kann etwa ein Beschwerdeführer zulässigerweise mit einer auf Art. 2 Abs. 1 GG oder ein besonderes Freiheitsrecht gestützten Verfassungsbeschwerde rügen, daß ein Gesetz nicht kompetenzgerecht (Art. 70 ff., 105 Abs. 1-2a GG) erlassen worden sei. 365 Insoweit ist anerkannt, daß sich eine Grundrechtsverletzung auch aus sonstigem Verfassungsrecht des Bundes ergeben kann. 366 Allerdings nimmt das Bundesverfassungsgericht eine strikt nach Prüfungsmaßstäben getrennte Prüfung etwa bei kommunalen Verfassungsbeschwerden gern. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 b GG, § 91 BVerfGG vor. So kann eine Gemeinde im Verfahren einer Kommunalverfassungsbeschwerde nur die Verletzung des Art. 28 Abs. 2 GG rügen. Obwohl die Formulierung des Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG "im Rahmen der Gesetze" als Gesetzesvorbehalt verstanden wird 367 , soll das jeweilige Gesetz im Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde nicht auf Verstöße gegen Art. 33 Abs. 2 GG, der einen besonderen Gleichheitssatz darstellt;168 überprüft werden dürfen. 369 Das Bundesverfassungsgericht begründet dies damit, daß Art. 33 Abs. 2 GG nur dem Einzelnen ein Recht gegen den Staat gebe, aber nicht das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden berühre. 370 Hier soll also nicht in vollem Umfang überprüft werden können, ob das die gemeindliche Selbstverwaltungsgarantie "ausgestaltende" und "formende,,37! GeDazu unten § 3 B I I d bb (3) . Signifikant etwa BVerfGE 42,312 (325 f.). Dort wurde zur Bejahung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde die Möglichkeit einer Verletzung des Art. 4 Abs. I, 2 GG für ausreichend erachtet, sodann als Prüfungsmaßstab im Rahmen der Begründetheit jedoch nur noch auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 GG abgestellt. Ablehnend Rinken, in: Alternativkommentar zum GG, Art. 93 Rn. 63 f., der im Rahmen der Begründetheit allenfalls eine vom Vorbringen des Beschwerdeführers unabhängige grundrechtliche Prüfung für zulässig erachten will. .16~ Grundlegend BVerfGE 6, 32 (41); st. Rspr., vgl. ferner etwa BVerfGE 80, 137 (153) m.w.N. Zustimmend etwa Erichsen, HStR VI, § 152 Rn. 45; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn. 22; v. MangoldtlKleiniStarck, GG, Art. 2 Rn. 17 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 407 f., 1250. 366 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 1250 . .167 BVerfGE 79, 127 (Leitsatz 1 und S. 143); Erichsen, Kommunalrecht NW, § 16 B 2 d; Nierhalls. in: Sachs, GG, Art. 28 Rn. 46 f.; Stern, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 28 Rn. 113. 368 S. nur Battis. in: Sachs, GG, Art. 33 Rn. 20. 369 So BVerfGE I, 167 (184); 91, 228 (245). 370 So BVerfGE 1,167(184). m Vgl. BVerfGE 79, 127 (143). 363

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setz verfassungsmäßig ist. Tendenziell abweichend geht der Niedersächsische Staatsgerichtshof dagegen von folgendem aus: "Unabhängig von der Frage, ob die beschwerdeführenden Kommunen im Rahmen der kommunalen Verfassungsbeschwerde auch die Verletzung der ... Ungleichbehandlungsverbote wegen des Geschlechts rügen können 372 , ist ihnen einzuräumen, daß die angegriffenen Bestimmungen sie daran hindern, diese für sie verbindlichen Verfassungsnormen zu beachten, und damit in ihre Personalhoheit eingreifen ...373

(2) Konkurrenz von Freiheits- und Gleichheitsrechten

Zum Verhältnis des allgemeinen Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG zum allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG findet sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die - soweit ersichtlich allerdings nur einmal getroffene - Aussage, daß Art. 2 Abs. 1 GG als selbständiger Prüfungsmaßstab neben der Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) ausscheide. 374 Diese Aussage ist befremdlich. Zweifelhaft erscheint bereits, daß sie davon ausgeht, daß Art. 3 Abs. 1 GG vor Art. 2 Abs. 1 GG geprüft werden soll. Richtigerweise sind indes regelmäßig die Freiheitsrechte vor den Gleichheitsrechten und innerhalb dieser jeweils die spezielleren vor den allgemeinen zu prüfen. 375 Diese Prüfungsreihenfolge beruht einmal darauf, daß die Freiheitsrechte bestimmte Norminhalte schon "an sich" - d.h. schlechthin ohne Rücksicht auf die Behandlung anderer - verbieten, während die Gleichheitsrechte insoweit schwächer sind als die Freiheitsrechte, als sie bestimmte Norminhalte nur ,,relativ ..376 aufgrund der anderen Behandlung einer Vergleichsgruppe verbieten und der rechtschutzbegehrende Bürger so behandelt werden darf, wie von der gleichheitswidrigen Norm vorgesehen, sofern nur die Vergleichs-

372Vemeinend BVerfGE 91, 228 (245). 373 NdsStGH DÖV 1996, 657 (659). Im Ergebnis wurde der Eingriff dann nach sachlicher Prüfung für rechtmäßig angesehen. - Die Lösung des NdsStGH trifft sich im Ergebnis mit BVerfGE 85, 191 (206) zur Lösung des Verhältnisses zwischen Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG. Dazu § 3 B lid bb (3). 374 So explizit BVerfGE 55, 114 (132). m Zutreffend BVerfGE 59, 128 (156) m.w.N.; Erichsen. Jura 1992, 142 (148). Anders aber etwa BVerfGE 88, 87 (96, 101); 95, 143 (154 ff., 160 ff.); zur Kritik daran sogleich. Differenzierend danach, welches Grundrecht "nach seinem Sinngehalt die stärkere sachliche Beziehung zum jeweiligen Sachverhalt besitzt", BVerfGE 64, 229 (238 f.); 65, 104 (112 f.); 67, 186 (195); 75, 348 (357); wohl auch larasslPieroth, GG, Art. 3 Rn. 2a. 376 Vgl. Maurer, in: Festschrift für Weber, S. 345 (354).

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gruppe ebenso behandelt wird. 377 Außerdem kann die Kontrolle am Maßstab der Freiheitsrechte möglicherweise im Rahmen der Gleichheitsprüfung präjudiziell wirken. 378 Die Aussage, daß Art. 2 Abs. 1 GG als selbständiger Prüfungsmaßstab neben Art. 3 Abs. 1 GG ausscheide,379 läßt sich auch inhaltlich widerlegen. So kann ein Gesetz, dessen Belastungswirkungen gleichheitsgerecht sind, dennoch freiheitsrechtswidrige Gestaltungswirkungen hervorrufen, also etwa gegen Art. 2 Abs. 1 GG verstoßen. 380 Insofern kann ein Eingriff freiheits-, aber nicht gleichheitswidrig sein, wenn alle auf gleiche Weise freiheitswidrig behandelt werden, und er kann gleichheits-, aber nicht (an sich) freiheitswidrig sein, wenn unterschiedliche Behandlungen für sich betrachtet nicht freiheitswidrig (z.B. erdrosselnd), aber im Verhältnis zueinander gleichheitswidrig sind. 381 Das Bundesverfassungsgericht hat seine These nicht näher begründet, sondern sich in der genannten Entscheidung382 lediglich auf eine andere Entscheidung 383 bezogen. In der in Bezug genommenen Entscheidung findet sich nach 377 Sehr zweifelhaft daher die Prüfungsreihenfolge in BVerfGE 88, 87 (96, 101) zur gesetzlichen Festlegung einer Altersgrenze für die Vornamensänderung von Transsexuellen. Dort wurde die Verfassungswidrigkeit der Altersgrenze mit Art. 3 Abs. 1 GG begründet (BVerfGE 88, 87 (96», dem allerdings wegen der Auswirkungen auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht eine strengere Bindung entnommen wurde (BVerfGE 88, 87 (96 f.». Ob ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG vorlag, wurde wegen der Bejahung des Gleichheitsverstoßes offengelassen, vgl. BVerfGE 88, 87 (101). Dieses Vorgehen kann nicht überzeugen: Nach dieser Entscheidung könnte der Gesetzgeber die Vornamensänderung für Transsexuelle generell verbieten. Gleichbehandlung wäre dann hergestellt. Wenn dagegen in der Festlegung der Altersgrenze ein Verstoß gegen ein Freiheitsrecht - etwa das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GGgesehen worden wäre, so wäre dem Gesetzgeber die Abschaffung der Möglichkeit der Vornamensänderung erkennbar generell versagt gewesen. 378 Man denke etwa an gesetzlich festgelegte Altersgrenzen für die Ausübung von Freiheitsrechten. Vgl. etwa BVerfGE 9, 338 (344) betreffend Berufsausübung durch Hebammen, BVerfGE 64, 72 (82) betreffend Berufsausübung durch Prüfingenieure. Genügt die Festlegung der Altersgrenze den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 GG, so kann auch die Ungleichbehandlung der älteren und der jüngeren Berufstätigen automatisch vor Art. 3 Abs. 1 GG gerechtfertigt werden. Diese Erkenntnis ist so selbstverständlich, daß das Bundesverfassungsgericht in den genannten Entscheidungen Art. 3 Abs. 1 GG insoweit gar nicht mehr thematisiert, sondern Art. 3 Abs. 1 GG nur im Hinblick auf den Vergleich mit anderen Berufsgruppen prüft. Vgl. aber auch die soeben behandelte Entscheidung BVerfGE 88, 87 (96 ff.) zur Festlegung einer Altersgrenze für die Vornamensänderung von Transsexuellen. Dort wurde nur Art. 3 Abs. 1 GG als Prüfungsmaßstab herangezogen und ein Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG offengelassen, vgl. BVerfGE 88, 87 (96, 101). 379 So BVerfGE 55, 114 (132). 380Vgl. Birk. Steuerrecht I, § 7 Rn. 22 (m.w.N. und Bsp.). 381 Zutreffend Alexy. Theorie der Grundrechte, S. 352 f. 382 BVerfGE 55, 114 (132). 383 BVerfGE 30, 336 (351).

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der Prüfung spezieller Freiheitsrechte (Art. 5 Abs. 1 und 3 GG 384 und Art. 12 Abs. 1 GG 385 ) und des allgemeinen Gleichheitssatzes386 der Satz: "Art. 2 Abs. I GG scheidet als selbständiger Prüfungs maßstab aus.,,387 Wie jedoch auch die dort in Bezug genommenen Entscheidungen388 belegen, war dieser Satz sinngemäß dahin zu ergänzen, daß - was zutrifft und allgemein anerkannt ist - Art. 2 Abs. I GG neben den speziellen Freiheitsrechten (und nicht neben dem allgemeinen Gleichheitssatz) als selbständiger Prüfungsmaßstab ausscheidet. Die nicht begründete und nicht begründbare These, daß Art. 2 Abs. I GG als selbständiger Prüfungsmaßstab neben der Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes ausscheide,389 beruht somit auf einem Fehlzitat.

(3) (Eigene undfremde) Gleichheitsrechte als Prüfungsmaßstabfür Eingriffe in Freiheitsrechte Dagegen stellt sich durchaus die Frage, ob Gleichheitsverstöße im Rahmen der Überprüfung am Maßstab der Freiheitsrechte - und hier insbesondere Art. 2 Abs. I GG - zu berücksichtigen sind. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage muß als schwankend bezeichnet werden. Zunächst hatte es explizit vertreten, daß die Rüge der Verletzung des Art. 2 Abs. I GG nicht die Möglichkeit eröffne, geltend zu machen, eine Norm gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung, weil sie Dritte gleichheitswidrig benachteilige oder bevorzuge. 39o Danach ließ sich über die Brücke des Art. 2 Abs. 1 GG (oder eines anderen Freiheitsrechts) zwar ein belastendes Gesetz etwa als kompetenzwidrig rügen, nicht jedoch als gleichheitswidrig, wenn der Beschwerdeführer nicht der (unmittelbar) benachteiligten oder bevorzugten Gruppe angehörte. Von der soeben zitierten Entscheidung hat sich das Bundesverfassungsgericht dann später in einem ähnlichen Fa1l 391 ausdrücklich distanziert und ausgeführt: ,,Jedenfalls beeinträchtigt eine Vorschrift, die einen Bürger zur diskriminieren384 BVerfGE 30, 336 (347 ff.). 385 BVerfGE

30, 336 (350 f.).

386 BVerfGE 30, 336 (351). 387 BVerfGE

30, 336 (351).

388 BVerfGE 6, 32 (37); 11,234 (238). 389 So

BVerfGE 55, 114 (132). So BVerfGE 77,84 (101). 391 Die Beschwerdeführerin (Arbeitgeberin) hatte Arbeiterinnen entgegen dem Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen zur Nachtzeit beschäftigt, woraufhin ein Bußgeld gegen sie verhängt worden war. In dem Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen sah das Bundesverfassungsgericht wegen der Benachteiligung der Arbeiterinnen im Vergleich zu männlichen Arbeitern und weiblichen Angestellten einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. I und 3 GG. - Vgl. BVerfGE 85,191 (Leitsatz 4). 390

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den Behandlung Dritter zwingt, diesen unmittelbar in seiner Handlungsfreiheit.,,392 In der letztgenannten Entscheidung hält das Bundesverfassungsgericht in der Zulässigkeitsprüfung eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG für möglich, da die Beschwerdeführerin zu einer bestimmten Behandlung Dritter gezwungen wird. Innerhalb der Begründetheit wird eine Verletzung der Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG aus der Verhängung eines Bußgeldes auf einer verfassungswidrigen Rechtsgrundlage hergeleitet. Indes wird die Verfassungswidrigkeit der Rechtsgrundlage einzig mit dem Verstoß gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 und 3 GG) begründet. Hier integriert das Bundesverfassungsgericht also - anders als in den o.g. Entscheidungen - den Gleichheitssatz in die Prüfung der Frage, ob das die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG einschränkende Gesetz zur verfassungsmäßigen Ordnung gern. Art. 2 Abs. 1 Hs. 2 GG gehört. 393 Da die gesetzliche Eingriffsgrundlage gleichheitssatzwidrig ist, gehört das Gesetz nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung i.S.d. Art. 2 Abs. 1 GG. Der gleichheitswidrige Eingriff ist daher rechtswidrig und kann abgewehrt werden. Nach dieser Entscheidung kann den Gleichheitsverstoß somit auch ein Beschwerdeführer rügen, der selbst nicht zu den Vergleichsgruppen des Gesetzes gehört. 394 In der Literatur ist die Frage, ob Art. 3 Abs. 1 GG im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Eingriffs in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG zu berücksichtigen ist, umstritten. Während überwiegend dem Ausgangspunkt derjenigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts395 zugestimmt wird, nach denen auch ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz (etwa aus Art. 3 Abs. 1 GG) zur Verfassungswidrigkeit eines Eingriffs in ein Freiheits-

392 BVerfGE 85,191 (206). 393 Vgl. BVerfGE 85, 191 (205 f.). Ebenso bereits BVerfGE 25, 236 (251), wonach Art. 12 Abs. I GG nur eingeschränkt werden könne durch solche Regelungen, die auch sonst in jeder Hinsicht verfassungsmäßig sind. Diese Voraussetzung wurde wegen eines Verstoßes des Gesetzes gegen Art. 3 Abs. I GG verneint. 394 BVerfGE 85, 191 (206); ebenso (generalisierend) Sondervotum Grimm, BVerfGE 80, 164 (168): "Bei Eingriffen in die allgemeine Handlungsfreiheit (muß) die zugrundeliegende Norm in vollem Umfang, also unter Einschluß ... der übrigen Grundrechte ... an der Verfassung gemessen werden." (Hervorhebung nur hier.) Zustimmend ferner Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn. 23 a.E.; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 392 (zum Verhältnis des Art. 3 Abs. I GG zu Art. 12 Abs. I GG): "Die Berufsfreiheit ist nur beschränkbar durch Gesetze, die in jeder Hinsicht, also auch am Maßstab des Gleichheitssatzes, verfassungsgemäß sind." Ebenso Dreier, GO, Art. 2 Abs. I Rn. 39: "Faktisch lassen sich unter der verfassungsmäßigen Ordnung alle irgendwie normierten Rechte Dritter ... verstehen." Vgl. auch Scholz, in: MaunzIDürig, GG, Art. 12 Rn. 145: "Art. 3 Abs. I ist prinzipiell im Rahmen von Regelungen der Berufsfreiheit zu beachten." (Hervorhebung nur hier.) 395 BVerfGE 25, 236 (251); 85, 191 (205 f.). - Abweichend BVerfGE 77,84 (101).

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recht (etwa Art. 2 Abs. 1 GG) führe,396 wird vereinzelt auch für eine strikte Trennung der Prüfung zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten plädiert mit der Folge, daß ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG nicht zur Verfassungswidrigkeit eines Eingriffs in ein Freiheitsrecht führe. 397 Dies gelte sowohl für Grundrechte - insbesondere Gleichheitsrechte - desselben Grundrechtsträgers398 als auch für die Grundrechte anderer Grundrechtsträger. 399 Alexy folgert aus der Statuierung des allgemeinen Gleichheitsrechts im Grundrechtskatalog der Verfassung, daß der Bürger die Möglichkeit haben solle, sich auf dieses Recht als "selbständiges Grundrecht" zu berufen. Deshalb sei Art. 3 Abs. 1 GG als selbständiges Grundrecht und nicht im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG oder im Rahmen eines sonstigen Freiheitsrechts zu prüfen. 4OO Eine Prüfung des allgemeinen Gleichheitsrechts im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG sei zwar möglich; eine "Gesamtprüfung" sei aber aus Zweckmäßigkeitsgründen abzulehnen. Dennoch sei die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß eine "von den Gleichheitsgrundrechten zu trennende objektive Komponente" im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG geprüft werden ,,mUß,,.401

Gegen diesen Ansatz ist folgendes einzuwenden: Zunächst muß gegen den Wortlaut und das herkömmliche Verständnis des Art. 2 Abs. 1 Hs. 2 GG der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG aus dem Begriff der "verfassungsmäßigen Ordnung", die als die Gesamtheit der mit der Verfassung formell und materiell in Einklang stehenden Rechtsnormen verstanden wird,402 herausdefiniert werden. Der von Art. 2 Abs. 1 GG geschützten freien Entfaltung der Persönlichkeit entnimmt das Bundesverfassungsgericht nicht nur die Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit, sondern auch den grundrechtlichen Anspruch,

396 Vgl. insbesondere die in Fn. 392 Genannten. Ebenso auch - wenn auch nur implizit - Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (321 ff.), dessen Differenzierung in der Frage der "Gleichstellung im Unrecht" (dazu noch unten § 5 eIl b) zwischen Belastungen und Vorteilsgewährungen ebenfalls auf einer Integration der Gleichheitsprüfung in die Freiheitsrechtsprüfung beruht. Nach Sachs (S. 322) sei die gleichheitswidrige Belastung stets wegen des Gleichheitsverstoßes rechtswidrige Belastung und könne deshalb als solche abgewehrt werden. Hieran wird deutlich, daß die von Sachs vorgenommene Differenzierung zwischen Belastungen und Vorteilsgewährungen also auf der Integration des Gleichheitssatzes in die Prüfung der Freiheitsrechte beruht. 397 So insbesondere Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 352 ff., insbes. 353; Schmidt, AöR 91 (1966),42 (53, 69 ff.); Scholz, AöR 100 (1975), 265 (286). 398 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 352 f. 399 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 353 ff. 400 So Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 353. 401 So Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 353 Fn. 173. - Erste Hervorhebung im Original, zweite Hervorhebung nur hier. 402 S. nur BVerfGE 6,32 (38 ff.); 80, 137 (153); 90, 145 (172); st. Rspr.; Erichsen, HStR VI, § 152 Rn. 31 ff., 35; PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 420.

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nicht mit einem Nachteil belastet zu werden, der nicht in der verfassungsmäßigen Ordnung begründet ist. 403 Art. 2 Abs. 1 GG soll also auch vor in jeder Hinsicht unberechtigten Eingriffen der Staatsgewalt schützen. Warum nur die Grundrechtsbestimmungen, denen nach einhelliger Auffassung neben den subjektiv-rechtlichen Gehalten auch ein objektiv-rechtlicher Gehalt zukommt,404 ausgeklammert werden sollen, ist nicht ersichtlich. Vielmehr würde dies dazu führen, daß Grundrechtsbestimmungen zu "objektiven Verfassungsnormen zweiter Klasse" degenerieren würden. 405 Grundrechte wirken indes jedenfalls insoweit objektiv-rechtlich, als dem Grundrechtsadressaten ein grundrechtsverletzendes Verhalten auch objektiv verboten ist. 406 Denn jedes subjektive Recht setzt eine objektive Pflicht (objektiv bestehendes Recht) voraus. 407 Gegen die Berücksichtigung der Grundrechte im Rahmen der Begriffsbestimmung der verfassungsmäßigen Ordnung i.S.d. Art. 2 Abs. 1 GG wurde eingewandt, dies führe verfassungssystematisch zu einem Zirkelschluß. 408 Auch Art. 2 Abs. 1 GG als Freiheitsrecht und materielle Verfassungsbestimmung sei Bestandteil der "verfassungsmäßigen Ordnung" und müsse daher bei der hier vertretenen Sichtweise immer wieder von neuem (unendlich) im Rahmen des Art. 2 Abs. I GG geprüft werden. 409 Dem ist indes entgegenzuhalten, daß die Annahme eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. I GG, also der Maßstabsnorm, dessen Rechtfertigungsbedürftigkeit auslöst. Die Rechtfertigungsanforderungen, die der materielle Gehalt des Art. 2 Abs. 1 GG an die Rechtmäßigkeit des Grundrechtseingriffs stellt, folgen sodann nicht mehr aus der Einschlägigkeit des Schutzbereichs des Art. 2 Abs. 1 GG, sondern vielmehr aus anderen Gesichtspunkten, insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne kommt dem

403 BVerfGE 9, 3 (11); 9, 83 (88); 19, 206 (215); 19, 253 (257); 29, 402 (408); 33, 44 (48); 42, 20 (27 f.). 404 V gl. dazu PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 79 ff.; Hesse, Grundzüge, Rn. 290 ff. Ebenso Sachs, HStR V, § 126 Rn. 127 f., der allerdings zutreffend darauf hinweist, daß die strikt verbindlichen Rechtssatzwirkungen - die subjektiv-rechtliche Dimension den objektiv-rechtlichen Gehalten im Kollisionsfalle vorgehen. Ein näheres Eingehen auf diese Frage ist an dieser Stelle indes nicht veranlaßt, da die subjektiv- und objektivrechtlichen Gehalte hier nicht in Kollision zueinander treten. 405 Zutreffend Sachs, DVBI. 1985, 1106 (1111). 406 V gl. nur PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 81. Zu anderen Folgerungen aus der auch objektiv-rechtlichen Funktion der Grundrechte vgl. etwa BVerfGE 7, 198 (204 ff.), wo aus dem den Grundrechten als einer objektiven Wertordnung die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte hergeleitet wird; vgl. ferner Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 45; PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 82 ff. 407 V gl. nur Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 447. 408 So Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 351 f.; Scholz, AöR 100 (1975),265 (286). 409 V gl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 349 f.

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allgemeinen Freiheitsrecht sodann die Rolle eines Abwägungskriteriums ZU. 410 Der Bedeutung des Grundrechts wird also dadurch Rechnung getragen, daß das einschränkende Gesetz seinerseits wieder im Lichte des eingeschränkten Grundrechts ausgelegt wird. 411 Insoweit tritt das Problem des ,,Zirkels" nicht auf, weil nicht ständig von neuem die Einschlägigkeit des Schutzbereichs bejaht wird, sondern die Bedeutung des Grundrechts im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen berücksichtigt wird. Dem entspricht es, wenn das Bundesverfassungsgericht den Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung, dem das Art. 2 Abs. 1 GG einschränkende Gesetz gemäß Art. 2 Abs. 1 Hs. 2 GG entsprechen muß, zutreffend auf Verfassungsnormen außerhalb der Maßstabsnorm selbst - also hier Art. 2 Abs. 1 GG - beschränkt hat. 412 Dies ist indes beim Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. I GG gerade anders; diesem sind für die materielle Rechtmäßigkeit des Eingriffs in das Freiheitsrecht Kriterien zu entnehmen. Art. 3 Abs. 1 GG kann insoweit - ebenso wie etwa das Bestimmtheitsgebot, Rückwirkungsverbot oder die Kompetenzmäßigkeit - eigene Rechtmäßigkeitsanforderungen für den Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG liefern. Auch stehen Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG zueinander nicht in einem Subsidiaritätsverhältnis. 413 Ferner überzeugt das Argument der "selbständigen" Gewährleistung des Art. 3 Abs. 1 GG im Kapitel über die Grundrechte nicht. Zwar sind die Gleichheitsrechte und insbesondere der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG durchaus als selbständiges Grundrecht neben den Freiheitsrechten normiert. Die Gleichheitsrechte gelten aber auch für die gewährende Staatstätigkeit414 und damit umfassender als die an Eingriffe gebundenen Freiheitsrechte, so daß ihnen jedenfalls im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit ein eigenständiger Gehalt zukommt. Schon aus diesem Grund muß der Gleichheitssatz, wenn er auch im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit gelten soll, als selbständiges und damit auch selbständig durchsetzbares Grundrecht normiert werden. Aus der "selbständigen" Verankerung des Art. 3 Abs. I GG folgt somit nicht zwingend, daß Art. 3 Abs. 1 GG im Bereich des Eingriffsrecht nicht in die freiheitsrechtliehe Prüfung integriert werden könnte.

410 Zutreffend Alexy. Theorie der Grundrechte, S. 317, der damit auch die These widerlegt, daß Art. 2 Abs. I GG "substanzlos" sei. 411 So etwa die bekannte Formulierung der sog. Wechselwirkungslehre im Rahmen des Art. 5 Abs. I GG, vgl. grundlegend BVerfGE 7, 198 (208 f.). 412 BVerfGE 9,137 (146); 17,306 (313). Ebenso für Art. 14 GG BVerfGE 21.150 (155); 26, 215 (222); 34,139 (146). 4IJ Dazu siehe oben § 3 B lid bb (2). 414 S. nur Erichsen. Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 61 m.w.N. Schoch. DVBI. 1988, 863 (864) spricht von "Omnipotenz" und "Omnipräsenz" des Gleichheitssatzes.

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Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, daß eine eigene Belastung grundsätzlich abgewehrt werden kann, solange Dritte gleichheitswidrig privilegiert werden. Ob die mit der Formel "Keine Gleichheit im Unrecht" verbundenen Inhalte ausnahmsweise eine andere Beurteilung rechtfertigen, wenn die eigene Belastung von Verfassungs wegen zwingend in dieser Form vorgeschrieben ist, soll unten415 erörtert werden. Jedenfalls beruht die übliche getrennte Prüfung von Freiheits- und Gleichheitsrechten nur auf Zweckmäßigkeitserwägungen, vermag jedoch nichts daran zu ändern, daß ein gleichheitswidriger Eingriff in ein Freiheitsrecht abgewehrt werden kann. Schließlich muß noch näher untersucht werden, ob auch die Verletzung von Grundrechten Dritter zur Rechtswidrigkeit des Eingriffs in Art. 2 Abs. 1 GG führt. Dies kann an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Ladenschlußgesetz416 illustriert werden. Dort wehrten sich Kundinnen unter Berufung auf Art. 2 Abs. 1 GG gegen das Ladenschlußgesetz, das aus der Perspektive der Ladeninhaber unter dem Gesichtspunkt des Art. 12 Abs. 1 GG hätte problematisch sein können. Alexy als Befürworter einer strikten Trennung der Prüfungsmaßstäbe stimmt dem Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts zu, im Rahmen der Rechtfertigung des Eingriffs in die allgemeine Handlungsfreiheit der Kundinnen aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht zu prüfen, ob das Ladenschlußgesetz deshalb gegen die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 2 Abs. 1 Hs. 2 GG) verstößt, weil es die Berufsfreiheit der Ladeninhaber aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt. 417 Soweit Alexy sich auf das Bundesverfassungsgericht stützt, ist dem indes entgegenzuhalten, daß die Nichtprüfung am Maßstab des Art. 12 GG im Rahmen der Rechtfertigung des Eingriffs der Kundinnen aus Art. 2 Abs. 1 GG eher darauf beruht, daß dieser nicht gerügt war und insoweit nicht ins Blickfeld gerückt war. Dies zeigt sich deutlich auch daran, daß Art. 3 Abs. 1 GG bezüglich einer Ungleichbehandlung des Einzelhandels und anderer Gewerbezweige wie Verkehrs- und Gaststättengewerbe angesprochen wird (und die Ungleichbehandlung materiell gerechtfertigt wird),418 obwohl die Kundinnen jedenfalls keiner der bei den Vergleichsgruppen angehörten und somit durch das Ladenschlußgesetz jedenfalls nicht selbst ungleich behandelt wurden. Inhaltlich wird die These, daß Grundrechte Dritter im Rahmen des Art. 2 Abs. I GG nicht zu prüfen seien, damit begründet, daß diese - anders etwa als Kompetenznormen - bezogen auf die Grundrechte des Beschwerdeführers keinenJreiheitsschützenden Charakter hätten. 419 Die Prämisse, daß die im Rahmen der Rechtmäßigkeitsanforderungen zu prüfenden Normen einen konkret frei415 § 5. 416BVerfGE 13,230 ff. 417 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 353 ff. 418 BVerfGE 13.230 (236). 419 So Alexy, Theorie der Grundrechte. S. 354.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

heitsschützenden Charakter haben müssen, soll hier als richtig unterstellt werden. Dieser kann insbesondere auch formellen Rechtmäßigkeitskriterien zuerkannt werden. 42o Dies entspricht auch der Kontrolle von Verwaltungsakten, wo formelle Kriterien wie die Zuständigkeit der handelnden Behörde und Verfahrensvorschriften ebenfalls Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts darstellen und der betroffene Bürger deren Verletzung im Wege subjektiven Rechtsschutzes rügen kann. Indes überzeugt es nicht, Grundrechten Dritter generell einen freiheitsschützenden Charakter auch gegenüber dem Rechtsschutzführer abzusprechen. Relevant wird dies insbesondere, wenn mehrere unterschiedlich schwer einschränkbare Grundrechte vorliegen, also im Ladenschluß-Fall etwa das Gesetz vor Art. 2 Abs. 1 GG gerechtfertigt werden könnte, vor Art. 12 Abs. 1 GG hingegen nicht. Das Argument, daß hier nicht eine Teilnahme am Grundrechtsschutz anderer ermöglicht werden könne, die durch die eigene materielle Grundrechtsposition nicht gedeckt sei, und daß dies dazu führe, daß ein "materiell nicht Betroffener" gegen die Verletzung eines materiell Betroffenen vorgehen könne, auch wenn dieser das nicht wolle,421 überzeugt nicht. So muß die Nichtgeltendmachung eigener Grundrechte durch die andere Gruppe nicht unbedingt auf einem ,,Nicht-Wollen" beruhen. Vielmehr kann diese Gruppe möglicherweise auch nur die Kosten oder den Aufwand scheuen. Außerdem spricht die Möglichkeit, daß auch der "materiell Betroffene" Rechtsschutz begehren kann, nicht dagegen, daß auch ein anderer mit der Rüge der Verletzung eigener Rechte inzident dieselben verfassungsrechtlichen Probleme dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung stellen kann. Denn dies gilt auch für die Frage von Kompetenzverstößen. Auch hier kann der so bezeichnete "materiell Betroffene" (der Inhaber der Gesetzgebungskompetenz) gegen ein seiner Meinung nach kompetenzwidrig erlassenes und daher seine Rechte verletzendes Gesetz im Wege der abstrakten Normenkontrolle vorgehen (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 2a GG, §§ 76 ff. BVerfGG), und trotzdem ist die Frage der Gesetzgebungskompetenz nach Art. 70 ff., 105 Abs. 1-2a GG auch im Rahmen eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens eines Bürgers bei der Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 2 Abs. 1 GG zu prüfen. 422 Dann ist es konsequent, bei der Überprüfung eines Eingriffs in die allgemeine Handlungsfreiheit die zugrundeliegende Norm "in vollem Umfang, also unter Einschluß ... der übrigen Grundrechte sowie sämtlicher Kompetenz- und Verfahrensvorschriften,,423

420 Zutreffend

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 347 f. So Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 355. 422 Insoweit auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 347 ff., 355. 413 So explizit Sondervotum Grimm, BVerfGE 80, 164 (168), das sich aus diesem Grunde für ein engeres Verständnis des Schutzbereichs des Art. 2 Abs. 1 GG ausspricht und damit verhindern will, daß "die Selbstbetroffenheit des Beschwerdeführers durch einen belastenden staatlichen Akt (ausreicht), um mittels der Verfassungsbeschwerde den vollen Umfang der Normenkontrolle zu eröffnen". 421

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an der Verfassung zu messen und insoweit die Grundrechte Dritter und Kompetenznormen gleich zu behandeln. Insofern spricht nichts dagegen, auch Grundrechte Dritter im Rahmen einer Grundrechtsprüfung zu berücksichtigen. In der Literatur wird teilweise für eine engere Definition des Schutzbereichs des Art. 2 Abs. 1 GG plädiert mit der Begründung, damit die Arbeitsbelastung des Bundesverfassungsgerichts zu senken und insoweit eine Folgenberücksichtigung im Rahmen der Bestimmung des Schutzbereichs des Art. 2 Abs. 1 GG vorzunehmen424 . Danach sollen entgegen h.M., die Art. 2 Abs. 1 GG die Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit entnimmt,425 nur noch Verhaltensweisen von einer gewissen Relevanz426 bzw. einer gesteigerten Relevanz427 bzw. der engeren persönlichen Lebenssphäre428 vom Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG umfaßt sein. Die bekannten Einwände gegen die Verengung des Schutzbereichs des Art. 2 Abs. 1 GG429 sollen an dieser Stelle nicht wiederholt werden. An dieser Stelle soll nur auf das Argument der Folgenberücksichtigung (bezüglich der Arbeitsüberlastung des Bundesverfassungsgerichts) eingegangen werden: Insoweit erscheint nicht einsichtig, wieso ausgerechnet der Schutzbereich eines bestimmten Grundrechts folgenorientiert definiert werden soll. Es können nicht einzelne vom Grundgesetz vorgesehene Schutzgegenstände völlig eliminiert werden, während im übrigen alles unverändert bleibt. Daher trägt der Gedanke der Folgenberücksichtigung jedenfalls nicht zur Begründung einer materiell engen Grundrechtsinterpretation. Hierin liegt ein bedeutsamer Unterschied zu der Folgenberücksichtigung bei der Rechtsfolgenbestimmung im Falle verfassungswidriger Steuergesetze. Dort wurde ein an sich von der Verfassung nicht gewollter Zustand für eine Übergangszeit hingenommen, aber für die Zukunft beseitigt. Insoweit konnte dort von einem schonenden Ausgleich der widerstreitenden Verfassungswerte gesprochen werden. Dies wäre bei einer dauerhaften und zudem einseitigen Verdrängung bestimmter Grundrechtspositionen nicht der Fall. Der richtige Weg zur Senkung der Arbeitsbelastung des Bundesverfassungsgerichts liegt vielmehr in verfahrensrechtlichen Änderungen, nicht jedoch in der Beschneidung grundrechtlicher Standards. Eine hohe Arbeitsbelastung kann somit kein Grund sein, bestimmte Rechtmäßigkeitsanforderungen der Verfassung - etwa Art. 3 Abs. 1 GG - von der Prüfung im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG auszunehmen.

424 So Duttge, NJW 1997,3353. Ablehnend dazu Benda, NJW 1997,560 (562). 425 Grundlegend BVerfGE 6, 32 (36), st. Rspr.; s. ferner etwa BVerfGE 80, 137 (152); 95, 267 (303); Degenhart, JuS 1990, 161 (164); larasslPieroth, 00, Art. 2 Rn. 3; Murswiek, in: Sachs, 00, Art. 2 Rn. 52. 426 So Duttge, NJW 1997, 3353 (3355). 427 So Sondervoturn Grimm, BVerfGE 80, 164 (165). 428 So Hesse, Grundzüge, Rn. 428. 429 Siehe dazu nur Degenhart, JuS 1990, 161 (162 ff.). 12 Wernsmann

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

e) Rechtfertigung der Differenzierung im Rechtsschutz zwischen Eingriffs- und Leistungsrecht Die hier für erforderlich gehaltene Gesamtbetrachtung aller Normen, auf denen die Ungleichbehandlung beruht, und zwar unabhängig von der gesetzestechnischen Art des ,,Begünstigungsausschlusses", führt zu einer gegenüber dem Leistungsrecht erweiterten prozessualen Durchsetzbarkeit des Gleichheitssatzes im Bereich des Eingriffsrechts. Im folgenden werden zunächst kurz die Unterschiede in den Rechtsschutzmöglichkeiten gegenübergestellt (aa). Sodann wird am Beispiel der daraus folgenden unterschiedlichen Behandlung direkter Subventionen, die dem Leistungsrecht zugehören, und indirekter Subventionen, die im "Gewand" des Steuerrechts auftreten, überprüft, ob diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist (bb). Schließlich wird anhand eines Vergleichs mit anderen Verfassungsinhalten aufgezeigt, daß unterschiedliche Vorgaben je nachdem, ob eine Norm dem Eingriffs- oder Leistungsrecht zuzuordnen ist, nichts Ungewöhnliches sind (cc, dd). In der Differenzierung, die aus der unterschiedlichen Zuordnung zum Leistungs- oder Eingriffsrecht folgt, liegt keine bloß formale Anknüpfung an die Gesetzestechnik innerhalb eines Gesetzes, wie sie hier umfassend abgelehnt wurde, sondern eine zu respektierende Vorentscheidung des Gesetzgebers, der sich - je nachdem, für welche Zuordnung er sich entscheidet - unterschiedlichen Regeln unterwirft.

aa) Die Unterschiede in den Rechtsschutzmöglichkeiten

( 1) Abwehr aller gleichheitswidrigen Belastungen Der gleichheitswidrig Belastete kann seine eigene Belastung idealtypisch abwehren, weil ein rechtswidriger Eingriff in sein Freiheitsrecht vorliegt. Auf die Frage, ob eine Einbeziehung in die drittbevorzugende Norm erwartet werden kann, kommt es insoweit nicht an,430 da Dreh- und Angelpunkt die eigene Belastung ist und nicht die Dritt-"Begünstigung". In der Abwehr der eigenen Belastung liegt dann auch die unmittelbare Verbesserung der eigenen Rechtsstellung, so daß es keine Rolle spielt, ob der Gleichheitssatz auch Rechtsschutz zum Nachteil Dritter ermöglicht. 431 Beispiele: (a) § 3 Nr. 12 EStG schafft eine Steuerbefreiungsvorschrift für Bezieher von Einkünften aus bestimmten öffentlichen Kassen; andere werden 430 Ob ausnahmsweise dann anderes gilt, wenn die eigene Belastung von Verfassungs wegen zwingend vorgeschrieben ist. wird unten (§ 5) behandelt. 431 Dazu noch unten § 5 C TI.

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nicht befreit. Selbst wenn eine systemkonforme Neuregelung nur so aussehen könnte, daß die Steuerbefreiungsvorschrift insgesamt abgeschafft wird,432 können die benachteiligten Bezieher von Arbeitslohn ihre eigene steuerliche Belastung idealtypisch433 zunächst in der Höhe der Steuerfrei stellung abwehren. (b) Würde ein jüngerer Steuerpflichtiger den Altersentlastungsbetrag nach § 24a EStG für gleichheitswidrig halten, so käme es nicht darauf an, ob er den unter 64jährigen bei systemkonformer Neuregelung434 auch gewährt werden müßte. Vielmehr könnte ein jüngerer Steuerpflichtiger idealtypisch seine eigene steuerliche Belastung seine eigene steuerliche Belastung in Höhe des den Älteren gewährten Altersentlastungsbetrages abwehren, sofern tatsächlich ein Gleichheitsverstoß vorläge. (c) Wird Dritten eine SteuerfreisteIlung für in der Vergangenheit hinterzogene Einkünfte aus Kapitalvermögen gewährt, so können die übrigen Steuerpflichtigen idealtypisch ihre eigene steuerliche Belastung abwehren, soweit Einkünfte aus Kapitalvermögen betroffen sind. 43S Ob die drittbevorzugende Steuerbefreiungsvorschrift absolut rechtswidrig ist (etwa wegen Verstoßes gegen das Rechtsstaatsprinzip), kann dahinstehen, da nicht Einbeziehung in eine Dritt-"Begünstigung" erstrebt wird, sondern Abwehr der eigenen Belastung. Das Sonderproblem, ob eine Gleichheit im Unrecht verlangt werden kann,436 stellt sich hier ebenfalls nicht. Da die Verfassung die Besteuerung der Zinseinkünfte nicht zwingend vorschreibt,437 stellt die generelle Steuerfreiheit für Zinseinkünfte kein "Unrecht" dar.

So BFHE 165, 172 (177). Davon zu trennen ist die Frage einer etwaigen weiteren Anwendung wegen der haushalts mäßigen Auswirkungen. 434 Zur Verfehltheit der Argumentation mit dem "System" vgl. bereits oben § 3 B I I c cc (2) bei der Auseinandersetzung mit der Vermögensteuerentscheidung aus dem Jahre 1968. - Mit dem System argumentiert freilich auch BFHE 165, 172 (177), der indes selbst die daraus folgenden Rechtsschutzrestriktionen im Bereich des Gleichheitssatzes beklagt. m Hier wird materiell-rechtlich unterstellt, daß die Vorschrift gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, da sie rechtstreue Steuerpflichtige ohne sachlichen Grund benachteiligt, und außerdem gegen weitere Verfassungsbestimmungen - etwa das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG - verstößt. da sie staatliche Vergünstigungen an die Tatsache eines Rechtsbruchs knüpft; vgl. inhaltlich zu diesen Prämissen Birk, NJW 1989, 1072 (1073 f.) (zum Zinsamnestiegesetz). 436 Dazu unten § 5 C I. 437 Dies ergibt sich schon daraus, daß das BVerfG ausgeführt hat: "Sollt der Gesetzgeber diesen verfassungsrechtlichen Auftrag zur Nachbesserung nicht erfüllen, wird die materielle Steuemorm (sc. §§ 2 Abs. 1 Nr. 5, 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG, die die Steuerbarkeit der Einkünfte aus Kapitalvermögen statuieren) selbst verfassungswidrig. Sie würde damit als Rechtsgrundlage für eine steuerliche Heranziehung entfallen." Wenn aber die Rechtsgrundlage für die Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen infolge Verfassungswidrigkeit wegfallen kann, ergibt sich daraus offensichtlich, daß die Besteuerung der Kapitaleinkünfte zunächst nicht von Verfassungs wegen zwingend vorgeschrieben ist. 432

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12·

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

(2) Keine Abwehr von Drittbegünstigungen, die gegenüber dem Benachteiligten keinen Eingriff darstellen und in die er nicht einbezogen werden kann

Anders liegt es dagegen im Bereich des Leistungsrechts. Hier ist insbesondere an das Sozial-, Besoldungs- und Subventionsrecht zu denken. Wird ein Dritter gleichheitswidrig durch Gesetz begünstigt, so stellt sich zunächst die Frage, ob gegenüber dem Benachteiligten ausnahmsweise ein Eingriff in eines seiner Freiheitsrechte vorliegt. Die Subventionierung eines Konkurrenten stellt gegenüber dem nicht begünstigten Unternehmer jedenfalls keinen sog. klassischen Eingriff dar, da ein klassischer Eingriff Finalität, Unmittelbarkeit, Regelungscharakter und Imperativität voraussetzt. 438 Die Subventionierung des Dritten führt jedoch zu einem mittelbaren GrundrechtseingrW 39 in (Freiheits-) Rechte des Nichtbegünstigten, wenn das Staatshandeln in seiner Intensität einer direkten Verhaltenssteuerung gleichkommt. 44o Ein solcher mittelbarer Eingriff in Art. 12 Abs. I, 14 Abs. 1 oder 2 Abs. 1 GG wird angenommen bei schweren und unerträglichen Wettbewerbsbeeinträchtigungen.44I Liegt ausnahmsweise in einer Drittbegünstigung ein Eingriff in Rechte des Nichtbegünstigten, kann dieser den Eingriff abwehren. Stellt die Drittbegünstigung jedoch keinen Eingriff in Freiheitsrechte des Nichtbegünstigten dar, kommt es für die prozessuale Durchsetzbarkeit des

4381psen, Staatsrecht H, Rn. 130; Isensee, HStR V, § 111 Rn. 61; PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 256; Sachs, GG, vor Art. I Rn. 55 ff. 439 Es ist heute anerkannt, daß auch mittelbare Grundrechtseingriffe (etwa Subventionsvergaben, die den Wettbewerb in erheblichem Maße zuungunsten der nicht berücksichtigten Unternehmer verfälschen) am Maßstab der Freiheitsrechte zu messen sind, vgl. nur Erichsen, HStR VI, § 152 Rn. 76; dens., Jura 1994, 385 (386); Kirchhof, Verwalten durch mittelbares Einwirken, S. I ff.; PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 259 ff; Sachs, in: ders., 00, vor Art. I Rn. 59. 44O Vgl. nur Erichsen, Jura 1994,385 (386). 441 Vgl. dazu nur BVerfGE 82, 209 (224 f.); 86, 28 (40); BVerwGE 66, 307 (309); 71,183 (191 f., 193 f.) m.w.N.; Breuer, HStR VI, § 148 Rn. 77 f.; Erichsen, HStR VI, § 152 Rn. 80; ders., Jura 1994, 385 (386); Huber, Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, S. 114,291 ff.; Wieland, in: Dreier, 00, Art. 12 Rn. 82. Vgl. ferner zum Kriterium der "schweren und unerträglichen" Beeinträchtigung in Drittbegünstigungsfällen BVerwGE 32, 173 (178 f.); 44, 244 (246 ff.); 50, 282 (287 f.); 54, 211 (221 ff.); Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 261 ff. - Im Bereich der Pressefreiheit nach Art. 5 Abs. I S. 2 00 liegt nach Degenhart, in: Bonner Kommentar, Art. 5 I, 11 Rn. 449, in jeder Subventionierung ein "Eingriff' in das für die Pressefreiheit essentielle Strukturprinzip des Wettbewerbs; ähnlich VG Berlin, DVBI. 1975, 268 (269 f.); OVG Berlin, DVBI. 1975, 905 (906 f.). - Die finanzielle Förderung eines Vereins, der vor Jugendsekten warnt, stellt ebenfalls einen mittelbaren Grundrechtseingriff dar, der an Art. 4 Abs. I, 200 zu messen ist; vgl. dazu BVerwG DVBI. 1992, 1038; OVG NW, DVBI. 1990, 999. - Ausführlich zum Ganzen Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 232 ff.

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Gleichheitssatzes darauf an, ob der Nichtbegünstigte eine Chance auf Einbeziehung in die Begünstigung hat. 442 Beispiel: Ein Gesetz verspricht - spiegelbildlich zum Zinsamnestiefall443 einem Unternehmer eine Geldleistung und Straffreiheit für den Fall, daß er frühere von ihm begangene Subventionsbetrugsfälle der zuständigen Behörde mitteilt und für die Zukunft zu unterlassen verspricht. In diesem Fall geht es, wenn und soweit in dieser "Subvention" zugunsten Dritter im Einzelfall kein Eingriff in Freiheitsrechte des Nichtbegünstigten liegt, bei Rechtsbehelfen des Nichtbegünstigten nicht um die Abwehr eines Eingriffs in ein "eigenes" Freiheitsrecht, sondern allenfalls um die "Abwehr" einer Ungleichbehandlung. Dem Rechtsbehelfsführer geht eS auch nicht um eine Erweiterung seines eigenen Rechtskreises, sondern um Herstellung von Gleichheit an sich (durch Verschlechterung der Rechtsstellung eines Dritten).

bb) Die Rechtfertigung der unterschiedlichen Rechtsschutzmöglichkeiten am Beispiel eines Vergleichs direkter und indirekter Subventionen Das Steuerrecht kennt eine Vielzahl von Lenkungsnormen (Sozialzwecknormen), die sich unterteilen lassen in Steuervergünstigungen und Steuerbenachteiligungen (,,steuersonderbelastungen,,).444 Die Steuervergünstigungen stellen sog. Verschonungssubventionen dar und werden auch als indirekte Subventionen bezeichnet. 445 Dagegen werden die sog. direkten Subventionen, die auch als Finanzhilfen oder Zweckzuwendungen bezeichnet werden,446 nach Maßgabe des Wirtschaftsverwaltungsrechts vergeben. Bei wirtschaftlicher Betrachtung besteht kein Unterschied, ob ein entsprechender Geldbetrag ausgezahlt wird oder sich eine Zahlungsverpflichtung des Begünstigten entsprechend mindert. 447 Die hier Vertretene Konzeption stellt für die Frage der auf Art. 3 Abs. 1 GG ge-

442 Ebenso die h.M., der nur insoweit zugestimmt werden kann, vgl. BVerfGE 61, 138 (146); 71, 224 (228); 74, 182 (195); 93, 386 (395); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 544; weitergehend Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (324, 325, 327 f.), der prozessual eine Gleichstellung zu Lasten Dritter in jedem Fall für zulässig hält. 443 BVerfGE 84,233. - Vgl. soeben Beispiel (c). 444 Birk, Steuerrecht I, § 7 Rn. 21; Tipke/Lang, Steuerrecht, § 19 Rn. 1. 445 Tipke/Lang, Steuerrecht, § 19 Rn. 2; teils einschränkend Badura, in: SchmidtAßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 3. Abschn. Rn. 82 a.E.; H. P. Ipsen, HStR IV, § 92 Rn. 30; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 17 Rn. 4. 446 Tipke/Lang, Steuerrecht, § 19 Rn. 2. 447 So auch Badura, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 3. Abschn. Rn. 82 a.E.: Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 17 Rn. 4.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

stützten Rechtsschutzmöglichkeiten indes wesentlich auf die Zuordnung der Norm zum Eingriffs- oder Leistungsrecht ab. Beispiel448 : Die Steuerbefreiungsvorschrift des § 2 Abs. 1 StrbEG im Zinsamnestie-Fall 449 dient der Verhaltensbeeinflussung (Hinführung zur Steuerehrlichkeit450 ) und stellt daher eine Lenkungsnorm (Steuervergünstigung) dar. Diese Dritten (den "Steuersündem") gewährte Steuervergünstigung, die die Besteuerung ihrer Einkünfte aus Kapitalvermögen gern. § 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG 1979 betraf, führt dazu, daß der nicht von der Befreiungsvorschrift des § 2 StrbEG erfaßte Steuerpflichtige (der Steuerehrliche) den mit der Besteuerung verbundenen Eingriff (auf der Grundlage des § 20 Abs. 1 EStG) abwehren kann, da dieser gleichheits- und damit verfassungswidrig ist. Ob er in die Dritten gewährte Steuerbefreiung des § 2 Abs. I StrbEG möglicherweise einbezogen werden kann,451 wäre demnach irrelevant und eine falsch gestellte Frage. Technisch gesprochen ist also eine Besteuerung auf der Grundlage des § 20 Abs. 1 EStG solange verfassungswidrig, wie die Steuerbefreiungsvorschrift besteht. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 2 StrbEG ist daher entscheidungserheblich gern. Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG, da eine Besteuerung der nicht von § 2 StrbEG erfaßten Steuerpflichtigen auf der Grundlage des § 20 Abs. I EStG solange gleichheits- und verfassungswidrig ist und daher von diesen Steuerpflichtigen abgewehrt werden kann, wie diese Ausnahmenorm des § 2 StrbEG besteht. Es erfolgt also auch hier eine Gesamtbetrachtung der Regel- und Ausnahmevorschriften.

448 Im folgenden soll die Verfassungswidrigkeit des § 2 StrbEG unterstellt werden; vgl. zur materiellen verfassungsrechtlichen Problematik des § 2 StrbEG ausführlich FG Münster EFG 1989, 119 (121) = NJW 1989, 1111 (1112); Birk. NJW 1989, 1072 (1073 ff.), Schünemann. StVj. 1989,3 (40), die von Verfassungswidrigkeit ausgehen; a.A. etwa FG München EFG 1989, 154 (155). 449 BVerfGE 84, 233. 450 Vgl. dazu BT-Drucks. 1112157, S. 198; Birk. NJW 1989, 1072 (1074). 451 Diese Möglichkeit soll dann nicht bestehen, wenn die Steuerbefreiung noch aus anderen Gründen (etwa wegen Verstoßes gegen das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 00) verfassungswidrig ist oder aus anderen Gründen die Ausdehnung auf die Nichtbegünstigten verfassungswidrig wäre (so BVerfGE 84, 233 (238». Das Bundesverfassungsgericht schließt diese Möglichkeit auch dann aus, wenn eine Ausdehnung der "Begünstigung" sonst nicht erwartet werden kann und die drittbevorzugende Norm also nicht bloß für verfassungswidrig, sondern gern. § 78 S. 1 BVerfGG für nichtig erklärt werden würde; vgl. BVerfGE 84, 233 (237 f.). Hier offenbart sich erneut die Schwäche, daß das BVerfG aus der von ihm selbst vorgenommenen Prognose, ob ein bestimmtes Verhalten des Gesetzgebers zu erwarten ist, auf die fehlende Möglichkeit einer Verbesserung der Rechtsstellung des Nichtbegünstigten schließt. Dazu ausführlich bereits oben § 3 B I I c cc (2). - Probleme stellen sich dagegen nach der hier vertretenen Konzeption (Abwehr der eigenen Belastung, solange die Privilegierung Dritter besteht) nur in dem seltenen Fall, daß die eigene Belastung und die Belastung der Vergleichsgruppe von Verfassungs wegen geboten ist, das Gesetz von dieser Belastung jedoch eine Ausnahme zugunsten der anderen Vergleichsgruppe macht. Dazu unten § 5.

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Überträgt man den Zinsamnestie-Fall dagegen aus dem Eingriffsrecht ins Leistungsrecht (Subventionsrecht)452, käme Rechtsschutz, der allein auf Art. 3 Abs. 1 GG (und nicht auf Freiheitsrechte453 ) gestützt werden kann, grundsätzlich nur in Betracht, wenn eine Chance der Verbesserung der eigenen RechtssteIlung besteht. 454 Gegen die hier vorgenommene Differenzierung zwischen Eingriffs- und Leistungsrecht könnte möglicherweise der Einwand erhoben werden, daß sie zu einer unterschiedlichen Behandlung wirtschaftlich vergleichbarer Fälle führe und daß zufällig gewählte Einkleidungen (Steuer- oder Wirtschafts verwaltungsrecht) den Umfang der Rechtsschutzmöglichkeiten bestimmen. Insofern ist indes darauf hinzuweisen, daß die direkten und die indirekten Subventionen zwar wirtschaftlich zum selben Ergebnis führen 455 , daß aber in der juristischen Behandlung beider Subventionsarten auch in anderen Fragen Unterschiede bestehen. Unterschiedliche Rechtsfolgen je nachdem, ob die Subvention im Gewand des Leistungsrechts (Wirtschaftsverwaltungsrecht) oder des Eingriffsrechts (Steuerrecht) gewährt wird, sind also nichts Ungewöhnliches und stehen daher auch in der hier zu beurteilenden Frage Differenzierungen beim Rechtsschutz gegen Gleichheitsverstöße jedenfalls nicht von vornherein entgegen. Die vom dogmatischen Ansatz her unterschiedliche Behandlung der Eingriffs- und Leistungsrechtsfälle vermindert die Tragfähigkeit dieses Ansatzes also nicht. Anders als bei rein gesetzestechnischen Fragen, die nur auf Formulierungen des Gesetzgebers zurückgehen, unterwirft sich der Gesetzgeber bei der Entscheidung darüber, in welchem Rechtsgebiet er bestimmte Fragen regelt, unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Anforderungen. Im folgenden wird verdeutlicht, in welchen Bereichen direkte und indirekte Subventionen rechtlich ebenfalls unterschiedlich behandelt werden. Dort sind diese Unterschiede ebenfalls nur in der jeweiligen Zuordnung zum entsprechenden Rechtsgebiet (Leistungs- bzw. Eingriffsrecht) begründet.

452 Zu Vergleichszwecken soll hier davon ausgegangen werden, daß die Subvention aufgrund eines Gesetzes gewährt wird. Nur um Gleichheitsverstöße durch Gesetze geht es in der vorliegenden Arbeit, nicht um Gleichheitsverstöße in der Rechtsanwendung. 453 Zur Ausnahme des sog. mittelbaren Eingriffs oben § 3 B I I e (2). 454 Ob Rechtsschutz zum Nachteil Dritter möglich ist, wenn die Verbesserung der eigenen Rechtsstellung von Verfassungs wegen ausgeschlossen ist, Gleichbehandlung also nur durch Verschlechterung der Rechtsstellung Dritter denkbar ist, wird unten § 5 behandelt. 455 Die Identität der wirtschaftlichen Wirkungsweisen bringt auch § 12 Abs. 3 StabG zum Ausdruck, der für Steuervergünstigungen eine den "Finanzhilfen" i.S.d. § 12 Abs. 2 StabG entsprechende Übersicht im Subventionsbericht anordnet.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

cc) Vergleich mit der Situation beim Gesetzesvorbehalt Die steuerrechtlichen Verschonungssubventionen unterliegen, obwohl sie bei wirtschaftlicher Betrachtung ,,Begünstigungen" darstellen, dem strengen eingriffs- und damit auch steuerrechtlichen456 Gesetzesvorbehalt457 , bedürfen also einer gesetzlichen Grundlage. 458 Dies ergibt sich daraus, daß der Steuerbescheid - sofern er nicht den Steuerbetrag 0 DM ausweist - belastend wirkt und die Rechtsgrundlage für den ,,Eingriff in Freiheit und Eigentum" bildet, und zwar auch für den Fall, daß Steuervergünstigungen in ihm berücksichtigt sind. Belastende Verwaltungsakte bedürfen indes gerade nach dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes einer gesetzlichen Grundlage. 459 Als Rechtsgrundlage einer dem Leistungsrecht zuzuordnenden direkten Subvention reicht dagegen jedenfalls nach verbreiteter Ansicht460 der Ansatz im Haushaltsplan aus, sofern nicht Grundrechte Dritter berührt sind. 461 An dieser Stelle kann nicht der Streit über den Geltungsbereich des Vorbehalts des Gesetzes behandelt werden. Indes ist jedenfalls die Erkenntnis gesichert, daß der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes im Eingriffsrecht uneingeschränkt gilt, so daß also ,,Eingriffe in Freiheit und Eigentum" einer gesetzlichen Grundlage bedürfen462 , während der Anwendungsbereich des Grundsatzes vom Vorbehalt 456 Das Steuerrecht ist klassisches Eingriffsrecht; vgl. schon O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, S. 316; s. ferner statt aller Birk/Eckhoff, in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 3 AO Rn. 89; Birk, Steuerrecht I, § 5 Rn. 1, 5; Crezelius, Steuerrecht II, § 1 Rn. 8; Kirchhof, HStR IV, § 88 Rn. 79; Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, S. VII. 457 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 157 f.; Tipke/Lang, Steuerrecht, § 19 Rn. 2; § 4 Rn. 160; Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 117 ff.; Offerhaus, DB 1985, 565. Einfachrechtlich ist der steuerrechtliche GesetzesvorbehaIt positiviert in §§ 3 Abs. 1,38 und 85 AO, deren Bedeutung aber rein deklaratorisch ist; vgl. Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 156; vgl. auch zur einfachrechtlichen Absicherung der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung Birk/Eckhojf, in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 3 AO Rn. 84, 89; Birk, StuW 1989,212 (213). 458 Vgl. BVerfGE 48, 210 (222). Sehr zweifelhaft aber die weiteren Ausführungen, wonach die Bestimmtheitsanforderungen an steuerliche Entlastungstatbestände geringer seien als bei Eingriffsermächtigungen. 459 V gl. nur Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 15 Rn. 14. 460 In diesem Sinne insbesondere die Rechtsprechung, vgl. BVerfGE 8, 155 (167, 169); BVerwGE 6, 282 (287); 18, 352 (353); 58, 45 (48). Zustimmend Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 287; Vogel, HStR IV, § 87 Rn. 112 Fn. 456. Kritisch dazu indes Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 15 Rn. 18 m.w.N.; Maurer, Allgemeines VerwaItungsrecht, § 6 Rn. 14; Ossenbühl, HStR III, § 62 Rn. 21; Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 1965, S. 142. 461 Vgl. BVerwGE 90, 112 (126); Badura, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 3. Abschn. Rn. 83 m.w.N.; Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 32. 462 Statt aller Herzog, in: MaunzlI)ürig, GG, Art. 20 Abschn. VI Rn. 55, 64; Ossenbühl, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rn. 5.

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des Gesetzes auf dem Gebiet der Leistungsverwaltung umstritten ist463 und somit zumindest gesagt werden kann, daß die Anforderungen des Vorbehalts des Gesetzes im Eingriffsrecht strenger sind als im Leistungsrecht und dessen Anwendung im Eingriffsrecht traditionell gesicherter ist als im Leistungsrecht.

dd) Vergleich mit der Situation bei den Kompetenzen Als weitere Bereiche, in denen wirtschaftlich vergleichbare Sachverhalte also im Beispielsfall etwa die Gewährung direkter und indirekter Subventionen - allein aufgrund unterschiedlicher Zuordnung zu verschiedenen Rechtsgebieten (Wirtschafts verwaltungs- bzw. Steuerrecht) unterschiedliche Rechtsfolgen zeitigen, mögen auch die jeweiligen Kompetenzen angeführt werden, und zwar (1) die Gesetzgebungszuständigkeit für Steuervergünstigungsnormen, (2) die Kostentragung und (3) die Verwaltungszuständigkeit.

(1) Gesetzgebungskompetenzen Erläßt der Bund eine Lenkungsnorm, so will er das Verhalten der Steuerpflichtigen beeinflussen. 464 Gewährt er Steuervergünstigungen etwa für bestimmte kulturelle Projekte, so steuert er das Verhalten der Bürger in einem Bereich, für den von der geregelten Sachmaterie her die Gesetzgebungszuständigkeit gern. Art. 70 Abs. 1 GG mangels Bundeskompetenzen bei den Ländern läge. 465 Indes bestimmt sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts466 und einem Teil der Literatur467 die Gesetzgebungskompetenz für Steuervergünstigungen nicht nach den Sachkompetenzen der Art. 70 ff. GG, sondern nach der finanzverfassungsrechtlichen Kompetenznorm des Art. 105 463 Zur Problematik s. nur Erichsen, Jura 1995, 550 (553); Schmidt-Aßmann, HStR I, § 24 Rn. 63 ff.; Stern, Staatsrecht I, § 20 IV 4 b (S. 808 ff.); Sachs, GG, Art. 20 Rn. 70 f. 464 Vgl. Birk. Steuerrecht I, § 2 Rn. 16. 465 Im Bereich der Wirtschaftsförderung stellt sich dieses Problem dagegen nicht, da sich die Kompetenz des Bundes aus Art. 74 Abs. I Nr. 11 LV.m. Art. 72 Abs. 2 GG ergäbe. 466 BVerfGE 3, 407 (436); 7, 244 (254); 16, 147 (160 f.); 19, 101 (114); 19, 119 (125); 29, 327 (331); 30, 250 (264); 36, 66 (71); 38, 61 (79 f.); BVerfGE 98, 106 (Leitsatz 2 und S. 118). Ebenso BVerwGE 96,272 (290). 467 Fischer-Menshausen, in: von Münch/Kunig, Bd. 3, Art. 105 Rn. 9; Handzik. Wohneigentumsförderung, S. 3; Jarass/Pieroth. GG, Art. 105 Rn. 3; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 105 Rn. 24; Starck, in: Festschrift für Wacke, S. 193 (206 ff.).

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00. Danach richtet sich die Oesetzgebungskompetenz des Bundes allein danach, ob dem Bund für das jeweilige Steuergesetz, durch das die Vergünstigung gewährt werden soll, die Oesetzgebungskompetenz zusteht (Art. 105 Abs. 1, 2 00). Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Die Oegenauffassung, die die Oesetzgebungskompetenz für steuerliche Lenkungsvorschriften allein den Art. 70 ff. 00 468 oder kumulativ sowohl den Art. 70 ff. als auch dem Art. 105 00469 entnehmen will, überzeugt hingegen nicht: Soweit der Lenkungszweck einer der Zwecke neben dem Zweck der Einnahmeerzielung 470 ist, stellt die entsprechende Regelung zumindest auch eine steuerrechtliche Regelung dar. 471 Noch deutlicher wird dies, wenn man sich eine Lenkungsnorm in Form einer "Steuerverschärfung,,472 vorstellt. Dagegen ist der Fall, in dem die Lenkungsnorm - wegen ihrer erdrosselnden Wirkung - nicht auf Einnahmeerzielung gerichtet ist, sondern das belastete Verhalten gerade unterbinden und daher zu keinerlei Abgabeaufkommen führen soll, unproblematisch, da insoweit die Begriffsmerkmale der Steuer nicht erfüllt sind473 und sich die Oesetzgebungskompetenz dann ohnehin nicht nach Art. 105 00, sondern nach Art. 70 ff. 00 bestimmt. 474

468 So Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1062; Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 22; K. Vogel, HStR IV, § 87 Rn. 52; Kirchhof, Besteuerungsgewalt und Grundgesetz, S. 72 ff.; Wie land, in: Festschrift für Zeid1er, S. 735 (744); Bayer, StuW 1972, 149 (155). 469 So Stern, Staatsrecht II, § 46 I 4 e (S. 1104 f.) auch für die Fälle, in denen die Regelung "oberhalb der Mißbrauchsschwelle" liege und daher ,,auch eine steuerrechtliche Regelung" sei; ebenfalls JarasslPieroth, GG, 3. Auflage, Art. 105 Rn. 3 (anders die 4. Auflage). Kritisch zur h.M. auch Kluth, DVBI. 1992, 1261 (1265). 470 Die Erzielung von Einnahmen kann nach der einfachgesetzlichen Legaldefinition der Steuern in § 3 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 AO, die auch dem finanzverfassungsrechtlichen Steuerbegriff entspricht (vgl. BVerfGE 30, 250 (264); 36, 66 (70 f.); 38, 61 (79 ff.); Birk, in: Alternativkommentar zum GG, Art. 105 Rn. 10), Nebenzweck sein, ohne dadurch den Geldleistungspflichten ihren Steuercharakter zu nehmen. 471 Insoweit zutreffend Stern, Staatsrecht II, § 46 14 e (S. 1105). 472 Zwar begegnen steuerrechtliche Lenkungsnormen in der Praxis meist als Steuervergünstigungen, vorhanden sind aber auch steuerliche Sonderbelastungen (Steuerverschärfungen), vgl. Vogel, HStR IV, § 87 Rn. 52; Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 21 (mit Beispielen). 473 Birk/Eckhojf. in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 3 AO Rn. 51; Tipke/Kruse, AO, § 3 Rn. 13; Siekmann, in: Sachs, 00, vor Art. 104 a Rn. 56; ScholzlAulehner, BB 1991, 73 (74). Vgl. auch BVerfGE 16, 147 (161), das (nur) in diesem Fall von einem Formenmißbrauch ausgeht. 474 Ebenso BVerfGE 98, 106 (117 f.): "Nur wenn die steuerliche Lenkung nach Gewicht und Auswirkung einer verbindlichen Verhaltensregel nahekommt, die Finanzfunktion der Steuer also durch eine VerwaItungsfunktion mit Verbotscharakter verdrängt wird, bietet die Besteuerungskompetenz keine ausreichende Rechtsgrundlage." Zur materiell-rechtlichen Seite solcher Erdrosselungssteuern, insbesondere zum Prüfungsmaßstab der Grundrechte und hier insbesondere der Art. 12 und 14 GG, s. etwa Tipke/Lang, § 4 Rn. 213 m.w.N.

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Stellen diejenigen Lenkungsnormen, die zumindest auch auf Einnahmeerzielung gerichtet sind, jedenfalls auch steuerliche Regelungen dar, ist nicht erkennbar, warum sich die Gesetzgebungskompetenz nur nach den Art. 70 ff. GG richten soll. Aber auch diejenige Auffassung, die kumulativ das Vorliegen von Sach- und finanzverfassungsrechtlicher Gesetzgebungskompetenz fordert, vermag nicht zu überzeugen. In der Regel kommen Lenkungswirkungen - schon durch ihre bloße Existenz und die Auswahl eines Sachverhalts, an den die Besteuerung anknüpft - auch solchen Steuern zu, die keinen Lenkungszweck verfolgen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, daß der Lenkungszweck mit hinreichender Bestimmtheit tatbestandIich vorgezeichnet sein müsse, sofern ein Steuergesetz zulässigerweise auch Lenkungsziele verfolge. 475 Häufig beeinflussen jedoch auch nicht als Lenkungssteuern vom Gesetzgeber ausgestaltete Steuergesetze das Verhalten der Steuerpflichtigen. Dies ist nicht zuletzt ein Grund dafür, daß verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz in Gestalt von Rückwirkungsverboten gewährt wird. 476 Der Steuerpflichtige soll seine Dispositionen - grundsätzlich - im Vertrauen darauf treffen dürfen, daß sie nicht rückwirkend einer anderen rechtlichen Würdigung unterworfen werden, weil er sonst möglicherweise diese Disposition (etwa eine Betriebsaufgabe) nicht oder in anderer Art und Weise vorgenommen hätte. Des weiteren spricht gegen das Erfordernis des Vorliegens einer doppelten Kompetenz - also sowohl aus Art. 70 ff. GG als auch aus Art. 105 GG - folgendes: Fallen Sach- und Steuergesetzgebungskompetenz zusarnrnen (wie im Regelfall der wirtschaftslenkenden Steuernormen477 ), stellt sich das Problem ohnehin nicht. Fallen dagegen die Steuergesetzgebungskompetenz und die Sachgesetzgebungskompetenz auseinander (Beispiel: (Einkommen-)Steuervergünstigungen für Kultur- oder Schulförderung; die Gesetzgebungskompetenz für den Kultur- und Schulbereich liegt gern. Art. 70 Abs. 1 GG bei den Ländern; die Gesetzgebungskompetenz für das Einkommensteuerrecht liegt gern. Art. 105 Abs. 2 i.V.m. Art. 106 Abs. 3 S. 1 GG beim Bund), so kann diese Auffassung nicht begründen, wer zuständig sein soll. Bund und Land gemeinsam können ein Gesetz nicht erlassen. Eine ,,Doppelzuständigkeit" dergestalt, daß Bund und Länder einunddenselben Gegenstand in unterschiedlicher Weise regeln könnten, kennt das Grundgesetz nicht und widerspräche der Abgrenzungsfunktion des Art. 70 Abs. 2 GG. 478 Daher kann nur einer von beiden (Bund oder Land)

475 BVerfGE 93, 121 (148) zur Privilegierung des Grundbesitzes gegenüber anderen Vermögenswerten infolge der im Verhältnis zum tatsächlichen Wert erheblich niedrigeren Einheitswerte. 476 V gl. zu diesem Zusammenhang Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 171. 477 Konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes sowohl aus Art. 105 Abs. 2 GG als auch aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG i.V.m. Art. 72 Abs. 200. 478 Zutreffend BVerfGE 36, 193 (202 f.).

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Kompetenzträger sein. 479 Die weitere Möglichkeit, daß es Bereiche gibt, in denen keinem Rechtsträger (also weder Bund noch Land) die Gesetzgebungskompetenz zukommt,480 erscheint ebenfalls ausgeschlossen. Jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes kann es keine Regelungsbereiche geben, für die niemandem die Gesetzgebungskompetenz zusteht. Dies ist auch den Formulierungen der Art. 70 Abs. 1 GG und Art. 105 Abs. 2 GG zu entnehmen, wonach jeweils die nicht ausdrücklich geregelten Kompetenzbereiche in toto jeweils einem Rechtsträger zugewiesen werden, und zwar gern. Art. 70 Abs. 1 GG den Ländern, "soweit dieses Grundgesetz nicht dem Bunde Gesetzgebungsbefugnisse verleiht", bzw. für den Bereich der Steuergesetzgebung gern. Art. 105 Abs. 2 GG dem Bund die konkurrierende Gesetzgebung für die "übrigen" - also alle nicht in Art. 105 Abs. 1 GG genannten481 - Steuern, wenn ihm das Aufkommen dieser Steuern ganz oder zum Teil zusteht oder die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG vorliegen. Liegen die Voraussetzungen nicht vor, sind gern. Art. 72 Abs. 1 GG die Länder zuständig. 482 Es gibt also keine Bereiche, die aus kompetenziellen Gründen keiner Regelung zugänglich sind. 483 Von der Frage der Gesetzgebungskompetenz zu trennen ist die Frage, ob der Steuergesetzgeber aufgrund seiner Steuerkompetenz für Lenkungsnormen die

479 Zutreffend BVerfGE 36, 193 (202 f.). - Insoweit auch Lerche, JZ 1972, 468 (471), der allerdings bei einem erkennbaren Sachbezug zu verschiedenen Sachgebieten die jeweiligen Kompetenztitel nebeneinander anwendet und den Widerstreit dann über den Rechtsgedanken des Art. 31 GG lösen will, also stets dem Bund den Vorrang einräumt. - Ähnlich Pestalozza, DÖV 1972, 181 (190). 480 So aber Knies, Steuerzweck und Steuerbegriff, S. 143, der in den Fällen, in denen die Sach- und die Steuergesetzgebungskompetenz auseinanderfallen, in den Art. 70 ff. GG eine "Ausübungsschranke" für den eigentlich gern. Art. 105 Abs. 2 GG zuständigen Steuergesetzgeber sieht. Indem Knies indes feststellt: "Per Saldo zeigt sich, daß weder der Bund noch die Länder Schulpolitik 'im Gewande des Steuerrechts' betreiben können - ein wohl kaum zu beklagendes Ergebnis", argumentiert er zu sehr fallbezogen mit einem von ihm konkret gewünschten Ergebnis. Nach dieser Konzeption könnten zufällig "Kompetenzausübungsschranken" aus formell-verfassungsrechtlichen Gründen entstehen, wenn eine Materie zufällig Bezüge sowohl zu Bundes- als auch zu Landeskompetenzen aufweist. - Das Problem des Bezuges zu zwei Sachmaterien kann sich indes nicht nur bei der Abgrenzung zwischen den Art. 70 ff. GG einerseits und Art. 105 GG andererseits, sondern auch innerhalb der Art. 70 ff. GG stellen. In diesem Bereich wird man sich indes den Extremfall vorstellen können, daß materiell-rechtlich - etwa aufgrund von Schutzpflichten - eine bestimmte gesetzliche Regelung gefordert ist, die indes aufgrund eines Bezugs zu Kompetenzen zweier Rechtsträger dann formell nicht erlassen werden dürfte. Auch hieran wird deutlich, daß die Annahme solcher "Kompetenzausübungsschranken" nicht überzeugt. Davon zu trennen ist die Frage, ob der Steuergesetzgeber Verhaltensanreize für ein Verhalten geben darf, das der Sachgesetzgeber für unerwünscht erachtet. Dies betrifft jedoch den Inhalt der Regelungen, nicht hingegen die Frage, "ob" der Steuergesetzgeber auch die Sachgesetzgebungskompetenz benötigt. 481 Vgl. auch Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 105 Rn. 4 a.E. 482 V gl. Birk, in: Alternativkommentar zum GG, Art. 105 Rn. 14. 483 Ebenso Rengeling, HStR IV, § 100 Rn. 30.

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vom Sachgesetzgeber getroffenen Regelungen oder dessen Gesamtkonzeption konterkarieren darf. Als Beispiel kann man sich etwa vorstellen, daß der Sachgesetzgeber einen Vorrang der Abfallverbrennung vor Abfalldeponierung anordnet, der Steuergesetzgeber jedoch Abfallverbrennung höher besteuert als Abfalldeponierung. In einem solchen Fall erlegt das Bundesverfassungsgericht dem zuständigen Steuergesetzgeber insoweit Schranken aus dem Grundsatz wechselseitiger bundesstaatlicher Rücksichtnahme und dem Rechtsstaatsprinzip auf, als dieser nicht Regelungen treffen darf, die den vom zuständigen Sachgesetzgeber getroffenen Regelungen oder dessen Gesamtkonzeption widersprechen würden. 484 Was die Gesetzgebungskompetenzen angeht, ist im Ergebnis indes nur eine formale Zuordnung möglich. Danach weisen Steuervergünstigungen die größere Sachnähe zum Steuerrecht auf und sind daher auf die Kompetenznormen des Art. 105 Abs. 1, Abs. 2 GG zu stützen. Diese sind erst dann nicht mehr einschlägig, wenn es sich begrifflich nicht mehr um Steuern handelt.

(2) Kostentragung bei direkten und indirekten Subventionen Auch die Frage, wer die Ausgaben für direkte bzw. indirekte Subventionen zu tragen hat, bestimmt sich formal nach der Einkleidung. Liegt eine direkte Subvention vor, greifen die allgemeinen Regeln ein. Werden dagegen Verschonungssubventionen im "Gewand" eines Steuergesetzes gewährt, gehen diese zu Lasten des Steueraufkommens. Damit richtet sich die Verteilung der Kosten, die durch die Einnahmeausfälle infolge der Steuervergünstigungen entstehen, nach Art. 106 GG. 485 Der Bund kann also durch seine Steuergesetzgebung "Großzügigkeit zu Lasten Dritter" (der Länder und Gemeinden) üben 486 , wobei die Länder über die Mitwirkungsbefugnisse im Bundesrat gern. Art. 105 Abs. 3 GG geschützt sind. Auch hier ist die Zuordnung zu einer Sachmaterie entscheidend für die Bestimmung der Rechtsfolgen. Gewisse äußerste Grenzen sind in diesem BundLänder-Konflikt, der durch das Auseinanderfallen von Gesetzgebungs- und Er-

484 BVerfGE 98, 106 (Leitsatz 3 und S. 118 ff.); 98, 83 (97 f.). Kritisch dazu Send/er. NJW 1998, 2875 ff. 485 Maunz. in: MaunzIDürig, GG, Art. 104a Rn. 38; Jarass/Pieroth. GG, Art. 104a Rn. 5. 486 Kritisch daher zu bundesgesetzlich geregelten Lenkungstatbeständen innerhalb von Landesertragsteuern gern. Art. 106 Abs. 2 GG oder Gemeinschaftsteuern nach Art. 106 Abs. 3 GG Kirchhof, HStR IV, § 88 Rn. 60; Wie/and. in: Festschrift für Zeid\er, S. 735 (744,746).

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tragskompetenz entstehen kann, nur durch das "bündische Prinzip" zu ziehen. 487 Diese Grenze der Ertragsminderung durch Steuergesetze wird erst dort gesehen, wo die Einnahmen ihre eigentliche Aufgabe, für die Deckung des notwendigen Bedarfs zu sorgen, nicht mehr erfüllen können. 488 Auch hier entscheidet also grundsätzlich die formale Zuordnung zu einem Rechtsgebiet.

(3) Verwaltungszuständigkeit und Rechtswege

Gleiches gilt schließlich für die Verwaltungszuständigkeit. Die Verwaltung der Steuervergünstigungen erfolgt (anders als die Verwaltung der direkten Subventionen) durch die Finanzverwaltung (Art. 108 GG) unter Anwendung der AO. 489 Divergenzen bestehen auch beim Rechtsweg: Für Rechtsstreitigkeiten um Steuervergünstigungen ist regelmäßig gern. § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO der Finanzrechtsweg eröffnet, da diese normalerweise in Bundessteuergesetzen enthalten sind und durch Bundes- oder Landesfinanzbehörden verwaltet werden. Dagegen verbleibt es bei Streitigkeiten um direkte Subventionen grundsätzlich (d.h., sofern nicht die Voraussetzungen des § 33 Abs. 1 Nr. 4 FGO vorliegen) bei § 40 VwGO, wonach der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist.

ee) Ergebnis Im Ergebnis erscheint die Differenzierung bei den prozessualen Abwehrmöglichkeiten von Gleichheitsverstößen zwischen Eingriffs- und Leistungsrecht, die aus der hier vertretenen Konzeption folgt, nicht systemfremd. Dieser Unterschied stellt keine ungewöhnliche Besonderheit dar, sondern ist vielmehr auch in anderen Bereichen bekannt. Er ergibt sich aus den Besonderheiten der unterschiedlichen Rechtsgebiete, insbesondere den Unterschieden zwischen Eingriffs- und Leistungsrecht. Es zeigt sich, daß es durchaus auf das jeweilige "Gewand" (Eingriffs- oder Leistungsrecht) ankommen kann, in das ein und derselbe wirtschaftliche Sach487 Zutreffend die h.M.: BVerfGE 72, 330 (396); Birk. in: Alternativkommentar zum GG, Art. 105 Rn. 23. 488 So Mahrenholz. Alternativkommentar zum GG, Art. 109 Rn. 18. 489 Kritisch allerdings zur Anwendung etwa der §§ 30, 40 AO Tipke/Lang. Steuerrecht, § 19 Rn. 3. Allgemein für "Abschichtung" der lenkenden von den lastenausteilenden Steuerrechtsvorschriften Vogel. HStR IV, § 87 Rn. 52. Dies ist indes kaum durchführbar, da Fiskal- und Lenkungszwecke unauflösbar miteinander verwoben sind, vgl. Birk. Steuerrecht I, § 2 Rn. 19.

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verhalt gehüllt ist. Bestimmte Rechtsfolgen ergeben sich formal und streng akzessorisch aus der jeweiligen Zuordnung zu einem bestimmten Rechtsgebiet, während andere Fragen etwa aufgrund teleologischer Aspekte unabhängig von dem jeweiligen "äußeren Gewand" einer Regelungsmaterie behandelt werden müssen. Die Differenzierung in der prozessualen Durchsetzbarkeit des Gleichheitssatzes zwischen Eingriffs- und Leistungsrecht beruht darauf, daß verfassungswidrige (und damit auch gleichheitswidrige) Eingriffe idealtypisch abgewehrt werden können, wenn Dritte gleichheitswidrig privilegiert werden. 490 Schon aus dieser Abwehr folgt auch eine Verbesserung der eigenen Rechtsstellung.

f) Exkurs: Unterschiedliche Bindungsintensität des begünstigenden und des belastenden Gesetzgebers auf Tatbestandsebene

Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist zwar nicht die sich auf der Tatbestandsseite stellende Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz vorliegt, sondern nur die Frage, welche Rechtsfolgen sich an einen Gleichheitsverstoß knüpfen und welche prozessualen Abwehrmöglichkeiten von Gleichheitsverstößen bestehen. An dieser Stelle soll dennoch kurz das Augenmerk auf die tatbestandliche Seite gelenkt werden und der Inhalt des Prüfungsmaßstabs des Art. 3 Abs. 1 GG betrachtet werden. Denn eine verbreitete Ansicht differenziert in der Bindungsintensität des Gleichheitssatzes zwischen Eingriffs- und Leistungsrecht (Begünstigungen und Belastungen) bzw. bevorzugender und benachteiligender Typisierung. Nach hier vertretener Ansicht läßt sich eine an sich gerechtfertigte, aber gleichheitswidrige Belastung (Eingriff in ein Freiheitsrecht) - zumindest idealtypisch - abwehren, wenn einem Dritten diese gleichheitssatzwidrig nicht auferlegt wird. Eine ähnliche weitgehende prozessuale Möglichkeit zur Abwehr von Gleichheitsverstößen stellt sich indes im Bereich des Leistungsrechts nach hier vertretener Ansicht nicht. Insoweit ist an dem Kriterium festzuhalten, daß die Chance der Einbeziehung in die Begünstigung bestehen muß. Insoweit stellt sich die Frage, ob dieser Differenzierung zwischen Leistungs- und Eingriffsrecht auf der Rechtsfolgenseite (Rechtsfolgen eines Gleichheitsverstoßes und prozessuale Abwehrmöglichkeiten) eine Differenzierung auf Tatbestandsseite 490 Zur Frage, ob dies auch in dem Sonderfall gilt, wenn die Drittbevorzugung absolut - d.h. ohne Rücksicht auf die Ungleichbehandlung - verfassungswidrig ist, weil die eigene Belastung von Verfassungs wegen zwingend vorgeschrieben ist, siehe unten § 5 CI.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

("Ob" eines Gleichheitsverstoßes, insbesondere Umfang des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums) entspricht. Der "besseren" Durchsetzbarkeit des Gleichheitssatzes im Eingriffsrecht könnte spiegelbildlich auch eine höhere Bindungsintensität des Gleichheitssatzes im Eingriffsrecht entsprechen. So wird vertreten, der Gesetzgeber habe im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit491 insbesondere bei der Subventionsgewährung - (dazu sogleich unter bb) und bei bevorzugender Typisierung492 (dazu sogleich unter aa) einen weiteren Gestaltungsspielraum als im Bereich der Eingriffsverwaltung.

aa) Differenzierung bei Typisierungen? Die Rechtsprechung hat ihre These, daß die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei bevorzugender Typisierung weiter als bei benachteiligender Typisierung sei, wie folgt begründet: "Es ist bei einer an der Gerechtigkeit im allgemeinen und an den Wertentscheidungen des Grundgesetzes im besonderen orientierten Betrachtung leichter erträglich, wenn gelegentlich einer Typisierung auch Personen in den Genuß von Vorteilen kommen, die ihnen nach dem strengen Zweck des Gesetzes nicht gebührten, als wenn Personen davon ausgeschlossen werden, denen die Vorteile nach dem Zweck des Gesetzes zukämen. Benachteiligung wird auch bei Typisierung nur in Einze!f!U1en hinzunehmen sein; hingegen kann eher in Kauf genommen werden, daß durch das Sieb der Typisierung ein mäßiger Prozentsatz solcher Personen gleitet, die bei individuellem Maßstab den Vorteil nach der Idee des Gesetzes nicht bekommen würden ... Insoweit ist die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei bevorzugender

491 BVerfGE 11,50 (60); 17,2\0 (216); 23, 258 (264); 49, 280 (283); 51, 295 (301); 60,16 (42); 61,138 (147); 78,104 (121); BVerwGE 74,260 (264); BSGE 70, 62 (67). Zustimmend larasslPieroth, GG, Art. 3 Rn. 16; Gubelt, in: von MünchlKunig, GG, Art. 3 Rn. 24; Dürig, in: Maun:zJDürig, GG, Art. 3 Rn. 466 (für staatliches Handeln allgemein). Ähnlich Starck, in: v. MangoldtiKlein, GG, Art. 3 Rn. 43, der drei stufig differenziert und dem Gesetzgeber den geringsten GestaItungsspielraum im Eingriffsrecht zubilligt, einen größere GestaItungsfreiheit bei der "Auferlegung von Lasten" (etwa Steueroder Wehrpflicht), die er nur in "engem Zusammenhang" mit dem Eingriffsrecht sieht, annimmt und schließlich dem Gesetzgeber die größte Freiheit einräumt, wenn dieser Ansprüche oder Vergünstigungen gewährt. - Wohl auch Huster, Rechte und Ziele, S. 291, der die "generelle GestaItungsfreiheit des Gesetzgebers im Rahmen der gewährenden Staatstätigkeit, wie sie vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung anerkannt wird," ohne weitere Auseinandersetzung akzeptiert. Ablehnend Stein, AItemativkommentar zum GG, Art. 3 Rn. 54 mit der Erwägung, daß die Versagung einer Begünstigung ebenso belastend wirken könne wie eine unmittelbare Belastung. 492 BVerfGE 17, I (Leitsatz 2 und S. 23 ff.); 44, 290 (295); 65, 325 (356); BAGE 64, 315 (323f.); im Grundsatz ebenso Huster, Rechte und Ziele, S. 291. Dagegen verzichtet BVerfGE 96, I (5 ff.) auf in diese Richtung gehende Äußerungen.

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Typisierung 'nach der Natur der Sache' weiter gespannt als bei benachteiligender Typisierung ...493

Diese Aussage klingt zumindest in ihrem ersten Teil zunächst überzeugend; es erscheint jedoch fraglich, ob tatsächlich die Frage der bevorzugenden oder benachteiligenden Typisierung ein geeignetes und das entscheidende Differenzierungskriterium für die Weite gesetzgeberischer Gestaltungsspielräume darstellt. Jedenfalls kann vorab schon festgestellt werden, daß sich an dieser Stelle die Argumentation, in welchen Fällen Ungerechtigkeiten von Typisierungen noch hinzunehmen sind und damit tatbestandlieh keine Verletzung des Gleichheitssatzes vorliegt, mit der insbesondere von Dürig vehement vertretenen, die Rechtsfolgenseite betreffenden These trifft, daß der Standard nicht mit Hilfe des Gleichheitssatzes "nach unten gepegelt" werden dürfe494 , sondern daß der Gleichheitssatz prozessual nur dann zum Prüfungsmaßstab staatlichen Handeins gemacht werden dürfe, wenn eine unmittelbare Verbesserung der eigenen Rechtsstellung zumindest möglich erscheint. Nach dieser Auffassung kann der Gleichheitssatz grundsätzlich nur ein Mittel zur Verbesserung der eigenen Situation darstellen, kann jedoch nicht zur Beseitigung von Privilegien Dritter beitragen. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht selbst in der soeben zitierten Entscheidung die Einwände gegen diese Sichtweise erwähnt: "Es gibt gewiß viele Fälle, in denen eine 'Benachteiligung' nur als Spiegelbild einer 'Bevorzugung' zu sehen ist und umgekehrt; in solchen Fällen wäre eine Unterscheidung nur ein Spiel mit Worten ...495

Warum dies so ist, liegt auf der Hand: Wie oben 496 erläutert, trifft das Begriffs paar "bevorzugenIbenachteiligen" (im Gegensatz zu dem Begriffspaar "begünstigenlbelasten") immer eine Aussage über das Verhältnis innerhalb eines Vergleichs paares (die Relation): Wenn A bevorzugt wird, stellt sich die Frage, gegenüber wem er bevorzugt wird. A wird bevorzugt im Verhältnis zU B. Wenn A gegenüber B bevorzugt wird, wird B gegenüber A benachteiligt. Die Benachteiligung der einen Vergleichsgruppe ist das Spiegelbild der Bevorzugung der anderen Vergleichsgruppe. Insoweit ist der vom Bundesverfassungs49JSoBVerfGE 17,1 (24). Dürig, in: MaunzlDürig, 00, Art. 3 Abs. I Rn. 171 f., 365; ähnlich Kirchhof, HStR V, § 124 Rn. 41, wonach das Gleichheitsrecht "einen individuellen Anspruch gegen den Staat ... auf Verbesserung des Rechtsstatus des Betroffenen" durchsetze (Hervorhebung nur hier.). Ablehnend zu dieser Verengung der zulässigen Gleichstellungsbegehren insbesondere Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (326). 495 So BVerfGE 17, I (23). Aus diesem Grunde ebenfalls kritisch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts BirkiBarth, in: HübschmannlHepp/Spitaler, AO, § 4 Rn. 495. 496 Unter § 3 B 11 a aa. 494

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gericht selbst genannte Einwand, daß es "viele Fälle" gebe, in denen die Benachteiligung nur als Spiegelbild der Bevorzugung zu sehen ist und umgekehrt, und daß die Unterscheidung "in solchen Fällen" nur ein Spiel mit Worten sei,497 dahin zu präzisieren und zu erweitern, daß dieser Befund begriffsnotwendig jeder Ungleichbehandlung immanent ist. Ist der Gleichheitssatz Prüfungsmaßstab, werden immer498 Sachverhalte oder Personengruppen miteinander verglichen. Das bedeutet aber stets, daß eine Regelung eine Vergleichsgruppe besser stellt als die andere, die erste Gruppe also "bevorzugt" und die zweite Gruppe "benachteiligt". Dies soll am Beispiel der Pauschalierungen nochmals verdeutlicht werden: Pauschbeträge als Untergruppe von Typisierungen499 - etwa die Werbungskostenpauschbeträge nach § 9a EStG - stellen den A, der tatsächlich niedrigere Aufwendungen getätigt hat als die pauschal anerkannten, gegenüber B besser, der höhere Aufwendungen getätigt hat, aber denselben Pauschbetrag erhält. Umgekehrt wird B gegenüber A benachteiligt. Allerdings zeigt der Zusammenhang, in dem die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts stehen, daß das Bundesverfassungsgericht in der Sache etwas anderes meinte: Der Fall, daß Personen aufgrund der Typisierung einen Vorteil erhielten, der ihnen nach dem Zweck des Gesetzes nicht zustehe, sei eher hinzunehmen als der Fall, daß Personen ein Vorteil vorenthalten bleibe, der ihnen nach dem Gesetzeszweck eigentlich zustehe. Soweit von bevorzugender Typisierung gesprochen wird, ist dann Bevorzugung der Personen nicht im Verhältnis zu anderen Personen gemeint, sondern Bevorzugung (Besserstellung) im Verhältnis zu dem Gesetzeszweck; ebenso bedeutet benachteiligende Typisierung dann Benachteiligung im Verhältnis zum eigentlichen Gesetzeszweck. Die Begriffe ,,Bevorzugung" und ,,Benachteiligung" treffen dann insoweit keine 497 So BVerfGE 17, I (23). 498 Die Frage, ob Art. 3 Abs. I GG von diesem Erfordernis des Vergleichens gelöst werden kann und eine Abwehr auch "objektiv willkürlichen" Staatshandelns ermöglicht, soll hier nicht vertieft werden; vgl. dazu bejahend BVerfGE 23, 98 (106 f.); 42, 64 (72 ff.); 78, 232 (248); zustimmend Heun. in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 57; ablehnend abweichende Meinung BVerfGE 42, 79 (81 f.); Alexy. Theorie der Grundrechte, S. 364 m.w.N. - Vgl. auch zum Leistungsfähigkeitsprinzip. das trotz seiner gleichheitsrechtlichen Herleitung (vgl. dazu BirkiBarth. in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 456) bestimmte steuerliche Zugriffe auch absolut - d.h. auch für den Fall, daß alle "gleich" ungerecht behandelt würden - verbietet, z.B. die Besteuerung des Existenzminimums, BirkiBarth. in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 475; Wernsmann. StuW 1998. 317 (321 f.). 499 Die Differenzierung zwischen in jedem Falle bindenden Pauschalen, die auch durch Nachweis tatsächlich höherer Aufwendungen nicht überschritten werden können, und solchen. die nur zur Anerkennung eines Mindestaufwands führen, der aber bei entsprechendem Nachweis die Berücksichtigung weiterer Aufwendungen nicht ausschließt, kann hier außer acht bleiben. vgl. dazu BirkiBarth. in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 491.

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Aussage über die Relation von zwei Vergleichspaaren, sondern über das Verhältnis des Zustandes bei Typisierung durch das Gesetz gegenüber dem Zustand ohne Typisierung (also bei Beachtung des eigentlichen Gesetzeszwecks). Diese Erkenntnis muß auch bei der Frage berücksichtigt werden, ob die (Gesamt- )Zuordnung zum ,Leistungs- oder Eingriffsrecht" der Anknüpfungspunkt sein soll (Frage: "Greift die typisierende Norm ein oder gewährt sie eine Leistung?") oder ob die jeweiligen Normen isoliert auf "bevorzugenden oder benachteiligenden" Inhalt betrachtet werden sollen (Frage: ,,Benachteiligt oder begünstigt die typisierende Norm den Normadressaten gegenüber der Rechtslage, wie sie ohne die Typisierung bestände?,,).5oo Hierzu führt das Bundesverfassungsgericht aus: "Gewiß kann die Unterscheidung zwischen Bevorzugung und Benachteiligung auch in der Eingriffsverwaltung ihren Sinn haben, z.B. wenn sie mit Privilegien einhergeht; die eigentliche Domäne zulässiger 'Bevorzugung' kraft Typisierung aber ist die darreichende Verwaltung ...501 Damit bestätigt sich, daß das Bundesverfassungsgericht vom Ansatz her nicht auf das Rechtsgebiet (EingriffsrechtlLeistungsrecht), sondern auf den gegenüber der Grundregelung bevorzugenden oder benachteiligenden Charakter der Typisierung abstellen wil1. 502 Die Frage, auf welches der beiden Differenzierungskriterien abzustellen ist, spielt keine Rolle, wenn im Eingriffsrecht eine benachteiligende Typisierung oder wenn im Leistungsrecht eine bevorzugende Typisierung erfolgt, weil dann beide Ansätze zum gleichen Ergebnis kommen (im ersten Fall nach beiden Ansätzen geringerer Gestaltungsspielraum, im zweiten Fall nach beiden Ansätzen weiterer Gestaltungsspielraum). Liegt dagegen eine benachteiligende Typisierung im Rahmen des Leistungsrechts vor oder liegt eine bevorzugende Typisierung im Rahmen des Eingriffsrechts (Beispiel: Werbungskostenpauschbetrag bei nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 2000 DM gern. § 9a S. 1 Nr. 1 lit. a EStG auch für Arbeitnehmer ohne Werbungskosten 503 , 504) vor, so führen die bei den Ansätze zu unterschiedli-

500 Im Sinne der zweiten Alternative ausdrücklich auch Huster, Rechte und Ziele, S. 291 f.; Zacher, AöR 93 (1968), 341 (379). 501 So BVerfGE 17, I (24). 502 Dies wird auch noch an anderer Stelle deutlich, vgl. BVerfGE 17, 1 (23 f.): "Das Nebeneinander bei der Begriffe (sc. 'Benachteiligung' und 'Bevorzugung') wird jedoch sinnvoll, wenn man sie auf den Normalfall bezieht, das heißt auf den Fall, der nach Sinn und Zweck des Gesetzes in der Regel erfaßt werden soll und erfaßt wird." 503 Man denke hier etwa an Bezieher von Beamtenpensionen gern. § 19 Abs. 1 Nr. 2 EStG, § 2 Abs. 2 Nr. 2 S. 1 LStDV, obwohl in diesen Fällen - abgesehen von zu vernachlässigenden Positionen wie Kontoführungsgebühren - regelmäßig keinerlei Werbungskosten mehr anfallen; vgl. dazu BirkIWernsmann. in: CramerlFörsterlRuland, Handbuch zur Altersversorgung, S. 833 (844).

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chen Ergebnissen. Im ersten Fall müßte nach dem Ansatz des Bundesverfassungsgerichts, der auf die (bevorzugende oder benachteiligende) Bedeutung der Typisierung im Verhältnis zum Normalfall des Gesetzes und gerade nicht auf den begünstigenden oder belastenden Charakter des Rechtsgebiets abstellt, eigentlich ein engerer Gestaltungsspielraum angenommen werden und im zweiten Fall ein weiterer Gestaltungsspielraum. Indes ist nachgewiesen worden, daß mindestens die Begriffsverwendung des Bundesverfassungsgerichts insoweit "nicht ganz konsistent" ist. 505 Man könnte noch weitergehen und - in Übereinstimmung mit älteren Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts506 - die Prämissen der differenzierten Bindungsintensität bei Begünstigungen und Belastungen - auch im Typisierungsbereich - in Frage stellen. Dies soll anhand der Entscheidung zur Zweitwohnungssteuer507 verdeutlicht werden. Der Entscheidung lag eine kommunale Satzung zugrunde, nach der nur auswärtige, nicht aber einheimische Zweitwohnungsinhaber der Zweitwohnungssteuer unterworfen wurden. Das Bundesverfassungsgericht hielt diese Regelung für eine "benachteiligende Typisierung" und ging deshalb von einer geringeren Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers aus. 50S Es erscheint schon zweifelhaft, ob in der Satzungsbestimmung überhaupt eine Typisierung zu sehen ist. 509 Denn Typisierungen sind begrifflich solche Regelungen, die typische Fälle (',Normalfälle") erfassen und abweichende Fälle diesen gleich behandeln;510 mit anderen Worten: Typisierung heißt Gleichbehandlung von RechtsfalIen, die an sich - etwa aufgrund eines vom Gesetzgeber selbst gewählten Differenzierungsprinzips - unterschiedlich gelöst werden müßten. 511 Ein wichtiger Unterfall der Typisierungen sind Pauschalierungen.

S04 Vgl. zum Problem Birk, StuW 1989,212 (216 f.); Tipke/Lang, Steuerrecht, § 9 Rn. 281, 284. Die Regelung des Arbeitnehmerpauschbetrages hielt BVerfGE 96, 1 (9 f.) für verfassungsrechtlich unbedenklich. ~o~ Huster, Rechte und Ziele, S. 292 ff., insbesondere S. 294. 506 BVerfGE 17,1 (23): "Es gibt gewiß viele Fälle, in denen eine 'Benachteiligung' nur als Spiegelbild einer 'Bevorzugung' zu sehen ist und umgekehrt; in solchen Fällen wäre eine Unterscheidung nur ein Spiel mit Worten." so, BVerfGE 65,325 (insbesondere 354 ff., 356). 508 BVerfGE 65,325 (356) im Anschluß an BVerfGE 19,101 (116). ~09 Ebenfalls zweifelnd Huster, Rechte und Ziele, S. 293. 510 Grundlegend Isensee, Die typisierende Verwaltung, S. 97 ff.; vgl. auch Amdt, Praktikabilität und Effizienz, S. 7 ff., 41 ff.; BirkiBarth, in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 491; Kirchhof, HStR V, § 124 Rn. 296 a.E.; Ruppe, Ausnahmebestimmungen, S. 254; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 373; Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 132. ~11 Isensee, Die typisierende Verwaltung, S. 97.

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Diese typisieren die rechnerischen Grundlagen eines (z.B. steuerrechtlichen) Tatbestandes. 512 In der Zweitwohnungs steuer-Entscheidung stellt sich schon die Frage, ob es nach dem System der Steuersatzung überhaupt einen ,,Norrnalfall" gibt, von dem die typisierende Regelung zu Lasten der auswärtigen Zweitwohnungsinhaber abweicht. Dieser Norrnalfall nach dem Regelungssystem der Satzung, die die Steuerpflicht für Zweitwohnungen statuiert, müßte nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Nichtbesteuerung (!) aller Zweitwohnungsinhaber sein, von der die auswärtigen Zweitwohnungsinhaber dann (benachteiligend typisierend) ausgenommen würden. Aber im folgenden soll unterstellt werden, daß es sich um eine Typisierung handelt, da die Differenzierung in der Bindungsintensität des Gleichheitssatzes zwischen bevorzugender und benachteiligender Typisierung untersucht werden soll. Würde man auf das Rechtsgebiet abstellen, was das Bundesverfassungsgericht indes in seinen Prämissen gerade nicht macht, so läge Steuer- und damit Eingriffsrecht vor, so daß der Gestaltungsspieiraum deshalb geringer wäre. Stellt man auf die Wirkungsweise der Typisierung ab, hat man zu untersuchen, ob die Typisierung den Norrnadressaten gegenüber der ohne Typisierung geltenden Rechtslage bevorzugt oder benachteiligt. Hier könnte man sagen, das Regelungssystem513 (Zweitwohnungssteuersatzung) will grundsätzlich den Aufwand nicht besteuern (die Zweifel an der Richtigkeit dieser Annahme, daß eine Satzung, die eine Steuer einführen will, vom Regelfall der Steuerfreiheit ausgeht, wurden soeben bereits dargelegt), nimmt indes von dieser "Steuerbefreiung" typisierend benachteiligend die auswärtigen Zweitwohnungsinhaber aus und beläßt es für die einheimischen Zweitwohnungsinhaber bei dem ,,Normalfall" des Regelungssystems, nämlich der Steuerfreiheit. (Dieser stellt indes nicht den Regelfall nach der Gesetzestechnik514 dar. An dieser Stelle soll also, ohne daß das BVerfG auf diese Frage eingeht, nicht die Gesetzestechnik darüber entscheiden, ob es sich um den Regelfall handelt oder nicht. Insoweit ist dem zuzustimmen.) Die These, daß es sich um eine benachteiligende Typisierung zu Lasten der auswärtigen Zweitwohnungsinhaber handelt,515 ließe sich auch noch über einen

m BirkiBarth. in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 491; Herzog. in: MaunzIDürig. GG, Art. 3 Anhang Rn. 28. m Auf dieses ist jedenfalls abzustellen, da das Bundesverfassungsgericht im "strengen Zweck des Gesetzes" bzw. in der Idee des Gesetzes den Normalfall sieht, vgl. BVerfGE 17, I (24). 514 Gesetzestechnischer Regelfall ist nach §§ I, 2 der Steuersatzung die Erhebung der Zweitwohnungswohnungssteuer, von der lediglich bestimmte Personen ausgenommen werden, vgl. die Wiedergabe der Bestimmungen in BVerfGE 65,325 (327 f.). 515 So ausdrücklich BVerfGE 65,325 (356).

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anderen Weg begründen, indem man nicht auf Zweitwohnungen abstellt, sondern auf das Innehaben von Wohnungen allgemein. Grundsätzlich stellt die Nichtbesteuerung des Innehabens von Wohnungen den Normalfall dar, das Innehaben einer Zweitwohnung würde danach "benachteiligend typisierend" eine höhere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ausdrücken516 , und die Steuerbefreiung der einheimischen Zweitwohnungsinhaber wäre dann als Unterausnahme zu der benachteiligenden Typisierung ,,Innehaben einer Zweitwohnung" anzusehen. Gegen diese Sichtweise spricht indes, daß damit der Rahmen des Vergleichspaars "auswärtige Zweitwohnungsinhaber - einheimische Zweitwohnungsinhaber" verlassen wird; außerdem hat das Bundesverfassungsgericht in dem der Einordnung als benachteiligende Typisierung vorangehenden Satz ausgeführt, daß der Gesichtspunkt der Typisierung "die Beschränkung der Zweitwohnungssteuer auf die auswärtigen Inhaber von Zweitwohnungen nicht zu rechtfertigen" vermöge. 517 Auch daraus wird ersichtlich, daß das Bundesverfassungsgericht den Gesichtspunkt der Typisierung nur innerhalb des Vergleichspaars "auswärtige und einheimische Zweitwohnungsinhaber" prüfen will. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß das Bundesverfassungsgericht hier die benachteiligende Wirkung der Typisierung (SchlechtersteIlung gegenüber dem Normalfall des Regelungssystems) mit dem nachteiligen Charakter der Regelung (Besteuerung eines Sachverhalts) vermengt hat. Wenn man schon zwischen bevorzugenden und benachteiligenden Typisierungen differenzieren will, kann dem Normsystem einer Satzung, die die Steuerpflicht für Zweitwohnungen einführen will, nur der ,,Normalfall" Besteuerung der Zweitwohnungen entnommen werden. Dann muß indes die Ausnahme zugunsten der einheimischen Zweitwohnungsinhaber als "bevorzugende Typisierung" angesehen werden. 5I8 Es spricht gegen die Überzeugungskraft der Differenzierung zwischen bevorzugenden und benachteiligenden Typisierungen, wenn das Bundesverfassungsgericht den strengeren Maßstab (Zubilligung eines geringeren gesetzlichen Gestaltungsspielraums) anlegt mit der Begründung, daß es sich um eine "benachteiligende Typisierung" handele, obwohl eine solche gar nicht vorliegt. Wenn im Rahmen der Ergebniskontrolle dieser Fehler nicht gesehen wird, stellt dies die Überzeugungskraft der Abstufung der Gestaltungsspielräume zwischen bevorzugender und benachteiligender Typisierung deutlich in Frage. Die mit der Abstufung der Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers verbundene Differenzierung zwischen bevorzugender und benachteiligender Typisie-

516 Die Zweitwohnungssteuer ist eine Aufwandsteuer; vgl. nur Birk/Eckhofj, in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 3 AO Rn. 190. Sie belastet die in dem Innehaben der Zweitwohnung zum Ausdruck kommende wirtschaftliche Leistungsfahigkeit, vgl. Tipke/Lang, Steuerrecht, § 8 Rn. 52. 517 BVerfGE 65,325 (356). Hervorhebung nur hier. 518 In diesem Sinne Huster, Rechte und Ziele, S. 293.

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rung wurde damit begründet, daß es leichter erträglich sei, wenn aufgrund der Typisierung auch Personen in den Genuß von Vorteilen kommen, die ihnen eigentlich nicht zustehen, als wenn Personen davon ausgeschlossen werden, denen die Vorteile eigentlich zustehen. Daher sei Benachteiligung nur in Einzelfällen hinnehmbar. 519 Insoweit könnte das Kriterium der Anzahl der Betroffenen eine Rolle spielen. So hat das Bundesverfassungsgericht denn auch in späteren Entscheidungen Typisierungen nur dann für zulässig erachtet, wenn die durch sie eintretenden Härten und Ungerechtigkeiten nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv ist. 520 Indes ist die Anzahl der von "Härten und Ungerechtigkeiten" Betroffenen keine Frage von Benachteiligung oder Bevorzugung, von Begünstigung (z.B. Vorenthaltung von Renten) oder Belastungen (z.B. höhere Steuerbelastung), sondern stellt ein völlig anderes Kriterium dar, das nichts mit den soeben genannten zu tun hat. Im Ergebnis läßt sich die Aussage, daß die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei bevorzugender Typisierung "nach der Natur der Sache" weiter gespannt sei als bei benachteiligender Typisierung,521 nicht halten. Schon die Frage nach dem Begriff bevorzugender und benachteiligender Typisierung läßt sich nicht sinnvoll beantworten. Insoweit kann weder an die Relation der ungleich behandelten Vergleichspaare noch an die Relation der Typisierung im Verhältnis zum Normalfall nach dem Normsystem angeknüpft werden. Auch eine Anknüpfung an die Gesetzestechnik - d.h. Formulierungen innerhalb eines Gesetzes 522 - führt zu keinen sinnvollen Ergebnissen.

bb) Differenzierung in der Bindungsintensität zwischen gewährendem und eingreifendem Staatshandeln? Die Annahme, daß der Gesetzgeber im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit 523 einen größeren Gestaltungsspielraum als bei eingreifendem Handeln524

BVerfGE 17, 1 (24). BVerfGE 63, 119 (128) m.w.N.; vgl. auch Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Anhang Rn. 27. m So grundlegend BVerfGE 17, I (24). 522 Davon zu trennen ist allerdings die Zuordnung zu einem Rechtsgebiet, die durchaus zu jeweils unterschiedlichen Rechtsfolgen führen kann. V gl. dazu oben § 3 B I 1 e. 523 Hier bezieht BVerfGE 11, 50 (60) sich auf die streitgegenständliche Entschädigung. 524 Hier nennt BVerfGE 11, 50 (60) beispielhaft eine Steuer. 519 S0

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habe,m wurde - anders als die Entscheidungen zur Differenzierung zwischen begünstigenden und benachteiligenden Typisierungen - in der Rechtsprechung nicht näher begründet. Die insoweit grundlegende Entscheidunl 26 führte aus, daß "die Hausratsentschädigung nicht - wie etwa eine Steuer - einen staatlichen Eingriff darstellt, sondern in den Bereich der darreichenden Verwaltung gehört, die notwendig der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in weitestem Maße unterliegt." Es folgt ein Verweis auf eine frühere Entscheidung527 . In der in Bezug genommenen Entscheidung wird jedoch lediglich im Zusammenhang mit der zutreffenden Auslegung des Art. 6 Abs. 1 GG, daß dieser nicht einer ,,Begünstigung" (exakt müßte es heißen: Bevorzugung 528 ), sondern nur einer Benachteiligung von Verheirateten entgegenstehe,529 ausgeführt, daß "auf der Hand (liege), daß die Ehe Anknüpfungspunkt für wirtschaftliche Rechtsfolgen sein kann, soweit das der Natur des geregelten Lebensgebiets entspricht." Dies gelte insbesondere für die darreichende Verwaltung. 530 Die Aussage, daß der Gesetzgeber im Bereich des Leistungsrechts einen größeren Spielraum habe als im Eingriffsrecht, beruht also auf einer unzutreffenden Verallgemeinerung der zutreffenden Besonderheit des Art. 6 Abs. 1 GG, der - anders als die meisten besonderen Gleichheitssätze (vgl. Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG: ,,Niemand darf wegen ... bevorzugt oder benachteiligt werden."), aber ebenso wie der neue Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG (',Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.") nur ein Benachteiligungs-, nicht aber ein Bevorzugungsverbot enthält. 531 Im übrigen hat die Verwechselung von Bevorzugung und Begünstigung in der in Bezug genommenen Entscheidung532 zu der Verselbständigung der These beigetragen. In der Literatur wird die abgestufte Bindungsintensität zwischen Begünstigungen und Belastungen bzw. Eingriffs- und Leistungsrecht teils damit begründet, daß die Verfassung für das Eingriffsrecht mehr Differenzierungsgebote und -verbote als für das Leistungsrecht enthalte, wobei aber auch innerhalb des Leistungsrechts danach differenziert werden soll, ob die Leistungen zur Abwehr

525 BVerfGE 11,50 (60); 17,210 (216); 29, 51 (56) m.w.N.; 49, 280 (283); 61,138 (147); zustimmend etwa Erichsen, VerwArch 71 (1980), 289 (294). 526 BVerfGE 11,50 (60). - Hervorhebung nur hier. 527 BVerfGE 6, 55 (77) - Ehegattenbesteuerung. 528 Zur Terminologie oben § 3 B I 1 a aa. 529 BVerfGE 6, 55 (76). 530 So BVerfGE 6, 55 (77). 531 Das Verständnis des Art. 6 Abs. 1 GO als eines bloßen Benachteiligungsverbots ist allgemein anerkannt; vgl. dazu etwa BVerfGE 6, 55 (70, 82 f.); 13, 290 (295, 298); 17, 210 (217); 18, 257 (269); 28, 324 (346 f.); 69, 188 (205); 93, 121 (141 f.); BirkiBarth, in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 416, 510 ff.; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 379 f.; LecheIer, HStR VI, § 133 Rn. 52, 68 ff.; SchmittKammler, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 32. mBVerfGE 6,55 (76).

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einer dringenden sozialen Notlage oder zu Subventionszwecken erfolgen. 533 Der These, daß die Verfassung für das Eingriffsrecht mehr Differenzierungsgebote und -verbote enthalte als für das Leistungsrecht, ist - abgesehen von ihrer zweifelhaften Richtigkeit - entgegenzuhalten, daß diese dann aus den Freiheitsrechten folgen,S34 jedoch nichts für die Auslegung des Art. 3 Abs. 1 GG hergeben. Die Differenzierungsmöglichkeiten ergeben sich dann aus dem zusätzlichen Prüfungsmaßstab der Freiheitsrechte, sagen jedoch nichts darüber aus, welche inhaltlichen Anforderungen der Gleichheitssatz dann stellt, wenn gerade kein Freiheitsrecht zusätzlicher Prüfungsmaßstab ist oder die angegriffene Maßnahme freiheitsrechtlich unbedenklich erscheint. Weiter wird in der Literatur argumentiert, daß die eingeräumte Gestaltungsfreiheit bei der gewährenden Staatstätigkeit deshalb größer sei als bei Eingriffen, weil ansonsten eine vorausschauende Politik nicht möglich sei. 535 Dies ist jedoch keine Frage von Begünstigungen und Belastungen, keine Frage von Leistungs- oder Eingriffsrecht, sondern eine Frage, welche Gestaltungsspielräume der Gesetzgeber generell hat. Insoweit sind andere Kriterien zu bestimmen. Ein größerer Gestaltungsspielraum "des Staates"S36 wird "mangels fester Richtlinien" auch in den Bereichen angenommen, in denen die Verwaltung ohne gesetzliche Ermächtigung tätig wird, im Gegensatz zu den Bereichen, in denen sie aufgrund eines Gesetzes tätig wird. 537 Indes vermögen diese Erwägungen jedenfalls für durch Gesetz gewährte Vor- oder Nachteile, Begünstigungen oder

533 So Starck, in: von MangoldtlKlein, GG, Art. 3 Rn. 43 a.E. 534 Vgl. die Beispiele bei Starck, in: von MangoldtlKlein, GG, Art. 3 Rn. 43 i.V.m. Rn. 17: So ordnet er etwa die Schrankenvoraussetzungen der Art. 13 Abs. 3, 11 Abs. 2 GG sowie das Erfordernis des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei Grundrechtseinschränkungen den "Differenzierungserlaubnissen" zu. 535 So Gubelt, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 24, der indes als Beispiel "Steuererleichterungen in den neuen Bundesländern oder zur Strukturverbesserung des früheren Zonenrandgebietes" anführt. Insoweit ordnet er die Steuervergünstigungen der "gewährenden Staats tätigkeit" zu, stellt also nicht auf die Besteuerung der Nichtbegünstigten aufgrund Eingriffsrechts ab. Es wäre zu fragen, wie er den Fall einordnen würde, daß alle, die sich nicht in der vom Gesetzgeber gewünschten Weise verhalten (also etwa nicht in den neuen Bundesländern investieren), einer steuerlichen Sonderbelastung unterworfen würden. Soll hier etwa ein strengerer Maßstab gelten als bei der gesetzestechnischen Einkleidung in eine Steuerbefreiungsvorschrift mit der Begründung, daß die Sonderbelastung eingreifenden Charakter hat, während eine Steuervergünstigung gewährenden bzw. begünstigenden Charakter hat? An diesem Beispiel zeigt sich m.E., daß nur auf die Zuordnung zu einem Rechtsgebiet abgestellt werden kann, also etwa zum Steuerrecht als Eingriffsrecht. 536 Insoweit ohne Einschränkung Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 466, wenngleich diese Ausführungen im Abschnitt "Die Bedeutung des Art. 3 I für die hoheitliche Verwaltung" erfolgen, vgl. dessen Gliederung vor Rn. 1 537 So Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 466.

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Benachteiligungen nicht zu überzeugen, da hier die jeweiligen Gesetze gerade "feste Richtlinien" bereitstellen. Teilweise wird dem Bindungsadressaten des Gleichheitssatzes im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit ein größerer Gestaltungsspielraum eingeräumt, weil in diesen Fällen Freiheitsrechte ,,regelmäßig nicht oder weniger betroffen" seien. 538 Daran überzeugt erstens nicht, daß von der Regel her verallgemeinert wird. Insoweit könnte man anders vorgehen und nicht die Bindung an den Gleichheitssatz lockern, "weil regelmäßig", sondern "soweit" Freiheitsrechte nicht betroffen sind. Indes erscheint weitergehend nicht plausibel, warum die Bindung an den Gleichheitssatz strenger sein soll, wenn zusätzlich ein Freiheitsrecht betroffen ist. 539 Die Freiheitsrechte enthalten eigenständige Rechtfertigungsanforderungen, eine Kumulation des Grundrechtsschutzes findet, wenn ein Verhalten von mehreren Grundrechten geschützt ist, indes nach allgemeinen Regeln nicht statt. Vielmehr richtet sich der Schutz dann nach dem Grundrecht, das die strengsten Anforderungen stellt. 540 Ebenso wie im Zivilrecht sich die Höhe des Anspruchs sich nicht ändert, wenn sich der Anspruch auf mehrere Anspruchsgrundlagen stützen läßt, kann die Einschlägigkeit mehrerer Grundrechte nicht dazu führen, daß nunmehr ein höherer Grundrechtsschutz besteht, als ihn das von den Rechtfertigungsanforderungen her stärkste Grundrecht vermittelt. Außerdem ist die im Prüfungsaufbau vorrangige Prüfung der Gleichheitsrechte vor den Freiheitsrechten, deren gleichzeitige Betroffenheit zu einem erhöhten Schutz durch die Gleichheitsrechte führen soll, auch methodisch verfehlt: Liegt ein Gleichheitsverstoß vor, kann der Gesetzgeber (wegen der Ergebnisoffenheit des Gleichheitssatzes) die ungünstige Regelung grundSätzlich beibehalten, sofern er sie nur auch auf die bisher bevorzugte Gruppe erstreckt. Man kann Verstöße gegen den Gleichheitssatz daher auch als relative Verfassungs verstöße bezeichnen. 541 Dagegen bewirkt ein Verstoß gegen Freiheitsrechte grundsätzlich, daß eine solche Regelung absolut als solche - d.h. unabhängig von der Behandlung einer anderen Gruppe - generell verboten ist; als Ausnahme sind etwa Verfahrensverstöße anzusehen.

Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 16. So freilich auch die neueren Entscheidungen des BVerfG zu den Anwendungsbereichen des Gleichheitssatzes als bloßes Willkürverbot und den strengeren Anforderungen der sog. neuen Formel, die auch Verhältnismäßigkeitgesichtspunkte in die Gleichheitsprüfung einbezieht. Vgl. etwa BVerfGE 88, 87 (96 f.); 89, 15 (23); 90, 46 (56); 91, 389 (401); 92, 365 (407 f.). 540 PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 373; Würkner, DÖV 1992, 150 (152). 541 Vgl. Maurer, in: Festschrift für Weber, S. 345 (354). 538

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Es ist nochmals zu betonen, daß - wie es einhellige Ansicht ist542 - der Gleichheitssatz sowohl für begünstigendes als auch für belastendes, sowohl für gewährendes als auch für eingreifendes Staatshandeln gilt. Soweit bezüglich der Bindungsintensitäten dennoch Abstufungen zwischen Leistungs- und Eingriffsrecht vorgenommen werden, ist dies wohl auch historisch zu erklären, da der Gleichheitssatz ursprünglich nur Rechtsanwendungsgleichheit verbürgte und seinen ursprünglichen Anwendungsbereich damit im eingreifenden Verwaltungshandeln fand, da er nur die gesetzesvollziehende - und das hieß im 19. Jahrhundert: eingreifende543 - Verwaltung band. Während heute zutreffend aus Art. 1 Abs. 3 GG die Bindung aller drei Staatsgewalten, also neben Exekutive und Judikative auch der Legislative, an den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gefolgert wird,544 kommt das heute überwundene restriktive Verständnis des Gleichheitssatzes im Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 GG noch zum Ausdruck: ,,Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich." Der Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 GG gewährleistet damit nur die Rechtsanwendungsgleichheit. In diesem Sinne wurde diese Fonnel, die eine lange Tradition in deutschen und europäischen Verfassungen hat,545 auch ursprünglich verstanden. 546 Vom Wortlaut nicht unmittelbar urnfaßt sind daher die Bindung des Gesetzgebers (Rechtsetzungsgleichheit) sowie die Bindung der nicht gesetzesvollziehenden Verwaltung, denn auch diese "wendet" nicht ,,Recht an",547 so daß es auch insoweit nicht um die "Gleichheit vor dem Gesetz" i.S.d. Art. 3 Abs. 1 GG geht. Der heute in Art. 20 Abs. 3 GG mindestens vorausgesetzte 548

542 BVerfGE 79, 1 (17); Dürig, in: Maunz!Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 345; Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 61; Rüjner, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 3 Rn. 5. 543 Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 61. 544 Nahezu einhellige Auffassung: S. nur BVerfGE I, 14 (52); Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 357 ff. m.w.N.; PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 471; Schoch, DVBl. 1988,863 (873). 545 Vgl. Art. 3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Verfassung von 1793: "Tous les hommes sont egaux par la nature et devant la loi." Insoweit übereinstimmend Art. 6 der belgischen Verfassung von 1831; Art. 137 Abs. 3 der Paulskirchen-Verfassung; Art. 4 Satz 1 der Preußischen Verfassung von 1850; Art. 109 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung von 1919. - Zur Geschichte dieser Fonnel siehe auch H. P. lpsen, in: NeumannlNipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, S. 115 ff. 546 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 109 Anm. 1, 2 m.w.N. auch der sich unter der Weimarer Reichsverfassung entwickelnden Gegenauffassung, die dem Art. 109 Abs. 1 WRV auch das Gebot der Rechtsetzungsgleichheit entnahm; Thoma, DVBl. 1951, 457 ff.; s. ferner Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, Bd. 1, S. 196; vgl. auch zu Art. 4 S. 1 der Preußischen Verfassung von 1850 E R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, S. 102 f. 547 Vgl. Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 60 f. m.w.N. 548 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 278; Hesse, Grundzüge, Rn. 201.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes betraf ursprünglich im 19. Jahrhundert nur "Eingriffe in Freiheit und Eigentum".549 Nur insoweit waren also Gesetze erforderlich, nicht jedoch für das damals ohnehin wenig entwickelte gewährende Staatshandeln. Gesetzesvollzug gab es somit im wesentlichen nur in der Eingriffsverwaltung. Die ursprünglich vom Gleichheitssatz nur urnfaßte Rechtsanwendungsgleichheit gab es mithin nur im Bereich der gesetzesvollziehenden, also eingreifenden Verwaltung. Der Gleichheitssatz zielte somit historisch nur darauf, nicht gravierender belastet zu werden als andere. 55o Ist indes die Bindung auch des Gesetzgebers und der nicht gesetzesvollziehenden Verwaltung an den Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 3 GG heute mit Recht anerkannt, ist kein Grund ersichtlich, hier - gleichsam durch die Hintertür Einschränkungen vorzunehmen, die nicht auf andere als historische Gründe 551 zurückgeführt werden können. Die pauschale Zuerkennung unterschiedlicher Gestaltungsspielräume je nach Leistungs- oder Eingriffsrecht überzeugt somit nicht. Vergegenwärtigt man sich weiter, daß etwa bei der Auslegung des Art. 6 Abs. 1 GG, der als Benachteiligungsverbot aufgefaßt wird 552 , unter "Benachteiligung" jede SchlechtersteIlung gegenüber der Vergleichsgruppe, also auch die Versagung eines Vorteils verstanden wird,m besteht kein Anlaß zu einer solchen generellen Differenzierung. Es ist kein Grund ersichtlich, wieso der Gesetzgeber etwa apriori bei der Vergabe von direkten Subventionen bezüglich der Bestimmung der Begünstigten einen größeren Gestaltungsspielraum haben soll als bei der Gewährung von indirekten Subventionen bzw. steuerlicher Sonderbelastungen nur für bestimmte Gruppen. Vielmehr trifft es zu, daß die Vorenthaltung einer Begünstigung ebenso belastend wie eine unmittelbare Belastung wirken kann. 554 Nur am Rande sei

549 Vgl. Erichsen, Jura 1995,550 (552) m.w.N.; Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, S. 16 ff.; Ossenbühl, HStR m, § 62 Rn. 13. 550Vgl. Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 60. 551 Vgl. zu Spielräumen des Gesetzgebers bei Ungleichbehandlungen allgemein und deren Gründen Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 375; s. auch PierothlSchlink, Grundrechte, Rn. 486. 552 Vgl. oben bei Fn. 529. 553 BVerfGE 13, 290 (299); 28, 324 (347); 82, 60 (80); BirkiBarth, in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 510; Schmitt-Kammler, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 33. 554 Zutreffend Stein, in: Alternativkommentar zum GO, Art. 3 Rn. 54; zurückhaltender in der Differenzierung zwischen gewährendem und eingreifendem Staatshandeln auch BVerfOE 60, 16 (42); 61, 138 (147). Ebenfalls kritisch Schoch, DVBI. 1988,863 (868 f.). Erwähnenswert auch BFHE 180,529 (532): Dort ging es darum, daß die AOanders als etwa § 63 Abs. I SGB X - dem im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren obsiegenden Steuerpflichtigen keinen Anspruch auf Ersatz der Kosten einräumt, die ihm durch die (notwendige) Zu ziehung eines Bevollmächtigten entstanden sind. Der BFH rechtfertigt die unterschiedlichen Regelungen wie folgt: "Das Steuerrecht als Eingriffsrecht kann für die Frage der Kostenerstattung für ein erfolgreiches isoliertes Rechtsbe-

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hier erwähnt, daß u.a. aus diesem Grunde auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts555 kritisiert wird, wonach eine Anhörung nach § 28 Abs. I VwVfG nur dann erforderlich ist, wenn der zu erlassende Verwaltungsakt die bisherige Rechtsstellung des Beteiligten zu seinem Nachteil ändert (Umwandlung des status quo in einen status quo minus), nicht aber dann, wenn der Erlaß eines Verwaltungsakts abgelehnt wird, der erst ein Recht gewährt. 556 Der richtige Ansatzpunkt für die Abstufung gesetzgeberischer Gestaltungsspielräume findet sich vielmehr grundsätzlich in den Kriterien, die das Bundesverfassungsgericht in neuerer Zeit für die Abgrenzung der Anwendungsbereiche der neuen Formel und des Willkürverbots verwendet, nicht aber in einer generellen Abstufung zwischen Begünstigungen und Belastungen. Während Rechtsprechung557 und Literatur558 den Gleichheitssatz zunächst nur als bloßes Willkürverbot verstanden hatten, nach dem ein Gleichheitsverstoß nur dann vorlag, wenn sich kein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung finden ließ, entwickelte das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1980 die sog. neue Formel, wonach Art. 3 Abs. 1 GG dann verletzt ist, wenn "eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten ...559 Die sog. neue Formel führt Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte in die Gleichheitsprüfung ein; dadurch erfolgt eine strengere Bindung des Grundrechtsverpflichteten. 560 Nachdem das Verhältnis der beiden Konkretisierungen des Gleichheitssatzes zunächst unklar war56 I , hat das Bundesverfassungsgericht nunmehr Kriterien für die Anwendungsbereiche der beiden Kontrollmaßstäbe entwickelt. (I) Danach unterliegt der Gesetzgeber einer strengeren Bindung, der eine erhöhte Kontrolldichte in der verfassungsgerichtlichen Prüfung entspricht, wenn Personengruppen ungleich behandelt werden, wobei die Bindung um so enger

helfsverfahren nicht mit dem Sozialrecht verglichen werden, bei dem es um - oft existentielle - Fragen der Leistungsgewährung an den Bürger geht." mBVerwGE 66,184 (186). ~56Umfassend und ausführlich Ehlers, Jura 1996,617 (618 f.) m.w.N.; Maurer. Allgemeines Verwaltungsrecht, § 19 Rn. 20; Söhn. in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 91 AO Rn. I!. m St. Rspr. seit BVerfGE 1, 14 (52). 558 Im Anschluß an Leibholz. Gleichheit, S. 72 ff. 5~9 So BVerfGE 55, 72 (88). 560 BVerfGE 88,87 (96); 89,15 (22); 89, 365 (375); 90, 46 (56); 91, 389 (401); 92, 26 (51 f.); 93, 99 (111). ~61 Vgl. Sachs. JuS 1997, 124 (126) m.w.N. auch zur Entwicklung der Rechtsprechung; Jarass. NJW 1997, 2545 (2545 f.); Schoch. DVBI. 1988, 863 (874 ff.); Herzog. in: MaunzlDürig, GG, Art. 3 Anhang Rn. 7.

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ist, je mehr sich die personenbezogenen Merkmale den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten annähern und je größer deshalb die Gefahr ist, daß eine an sie anknüpfende Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führt. 562 (2) Die strengere Bindung soll ferner dann eingreifen, wenn sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann. 563 (3) Bei verhaltensbezogenen Unterscheidungen hängt das Maß der Bindung davon ab, inwieweit die Betroffenen ihr Verhalten zumutbarerweise beeinflussen können. 564 Zweifel an der Erhöhung des Grundrechtsschutzes durch Kumulation von Freiheits- und Gleichheitsrechten wurden oben bereits geäußert. Insoweit führen die Abgrenzungskriterien zwischen Willkürverbot und neuer Formel und die Unterscheidung zwischen Begünstigungen und Belastungen zwar teilweise zum selben (abzulehnenden) Ergebnis, wenn man die Parallelen zwischen Eingriffsrecht und dem Zusammenhang mit der Ausübung grundrechtlicher Freiheiten erkennt. Insoweit sind noch Berührungspunkte mit der ursprünglichen Differenzierung zwischen begünstigendem und belastendem Staatshandeln gegeben. Im übrigen lassen sich jedoch mit Hilfe der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Kriterien jedenfalls sachgerechtere Ergebnisse erzielen als mit den oben kritisierten generellen Abstufungen in der Bindungsintensität zwischen Begünstigungen und Belastungen.

Auch was die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit von Typisierungen angeht, führen die neueren Kriterien zu besseren Ergebnissen. Weicht eine Regelung zuungunsten einer Minderheit vom Normalfall ab und können die Betroffenen ihr Verhalten zumutbarerweise nicht auf die Regelung einrichten, so sind an die Verfassungsmäßigkeit der Typisierung strengere Anforderungen zu steilen. Die kleinere Gruppe wird so davor geschützt, Sonderopfer zu erbringen. 565 Diese Aussage läßt sich indes mit den neueren Abgrenzungskriterien für die Zugrundelegung der neuen Formel bzw. des Willkürverbots überzeugender begründen, ohne daß es des unnötig vergröbernden Wegs über die Differenzierung zwischen Begünstigungen und Belastungen bedarf: Das Bundesverfassungsgericht nimmt in der Abgrenzung zwischen Willkürverbot und sog. neuer Formel die strengere Prüfung u.a. dann vor, wenn die Ungleichbehandlung an persoBVerfGE 88, 87 (96); 92, 26 (51 f.). BVerfGE 88, 87 (96 0; 89, 15 (22 0. Zur Kritik daran vgl. bereits oben Fn. 537. 564 BVerfGE 88, 87 (96); 89, 15 (22). 565 Insoweit zutreffend BVerfGE 17, I (24): "Hingegen kann eher in Kauf genommen werden, daß durch das Sieb der Typisierung ein mäßiger Prozentsatz solcher Personen gleitet, der bei individuellem Maßstab den Vorteil ... nicht bekommen würde." - Hervorhebung nur hier. 562 563

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nenbezogene Merkmale anknüpft und deshalb die Gefahr besteht, daß eine Minderheit diskriminiert wird. 566 Damit wird dem heutigen Verständnis ausreichend Rechnung getragen, wonach Grundrechte nicht nur den einzelnen vor dem Staat, sondern auch die Minderheit vor der Mehrheit schützen sollen. 56? Soweit die ältere und die neuere Abgrenzungsformel zu unterschiedlichen Ergebnissen führen (dies ist etwa bei der Gewährung von Sozialleistungen der Fall, die zwar dem Leistungsrecht zuzuordnen sind und damit jedenfalls Begünstigungen darstellen, die aber zur Bestreitung des Existenzminimums (Art. 2 Abs. 1, lAbs. 1 GG) erforderlich sind), zeigt sich deutlich die Unterlegenheit und Unbrauchbarkeit der Abstufung nach Begünstigungen und Belastungen. Auch hier besteht ein entscheidender Vorteil gegenüber einer schematischen Lösung darin, daß die Bedeutung technischer Einkleidungen und formaler äußerer Zuordnungen, in denen das Bundesverfassungsgericht selbst Unsicherheiten zeigt568 , zurückgedrängt wird. Schließlich soll der Unterschied zwischen begünstigendem und belastendem Staatshandeln insoweit Bedeutung gewinnen, als bei der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen im Bereich des gewährenden Staatshandelns zusätzliche Rechtfertigungsgründe für Ungleichbehandlungen bestehen, insbesondere die Knappheit der Mittel und die Erschöpfung der Haushaltsmittel. 569 Richtigerweise wird man auch hier nach anderen Kriterien zu unterscheiden haben: Das Bundesverfassungsgericht führt in ständiger Rechtsprechung sowohl zum Steuerrecht5?O (Eingriffsrecht) als auch zum Besoldungs-571 und übrigen Leistungsrecht 572 aus, daß ein besonderer Finanzbedarf des Staates oder die Dringlichkeit einer Haushaltssanierung Ungleichbehandlungen nicht zu rechtfertigen vermögen. Insoweit ist es verfehlt, davon zu sprechen, daß für Ungleichbehandlungen im Bereich gewährenden Staatshandelns "zusätzliche" Rechtfertigungsgründe bestehen. Maßgeblich sind vielmehr andere Kriterien: Ist die Kapazität erschöpft, etwa bei Zulassung zu gemeindlichen Einrichtungen, ist dies natürlich ein Grund, nicht mehr Bewerber zuzulassen als möglich. Dennoch rechtfertigt jedenfalls nicht dieses Kriterium allein den Ausschluß einer Vergleichsgruppe, vielmehr müssen auch hier andere sachgerechte Kriterien gefunden werden, z.B. 566 BVerfGE 88, 87 (96); 92, 26 (51 f.). ~67 Kutscha, JuS 1998, 673 (674, 679) m.w.N.; Stern, HStR V, § 108 Rn. 36; ders., Staatsrecht I, § 18 II 5 c (S. 611); Ossenbühl, NJW 1976, 2100 (2106); Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 244 f.; Gusy, AöR 106 (1981), 329 (349) m.w.N.; vgl. auch Kirchhof, HStR V, § 124 Rn. 128, 160 a.E.; Lipphardt, EuGRZ 1986, 149 (160 ff.). ~68 Siehe oben § 3 B I I f aa. In diesem Zusammenhang sei nochmals die Zweitwohnungssteuer-Entscheidung BVerfGE 65, 325 (356) genannt. 569 So Rüjner, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 3 Rn. 108 m.w.N. ~7oBVerfGE 6, 55 (80); 82, 60 (89); 87, 153 (172). 571 BVerfGE 13,248 (260); 19,76 (84); 76, 256 (311); 93, 386 (402). 572 BVerfGE 14,42 (54); 75, 40 (72); 87, I (46).

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Reihenfolge des Eingangs der Bewerbungen, Vorrang der "alten und bewährten" Marktbeschicker, wobei auch hier neue Bewerber eine Chance erhalten müssen usw. 573 Was die Erschöpfung der Haushaltsmittel angeht, so ist ohnehin kein Unterschied zwischen steuergesetzlichen Verschonungssubventionen und übrigen gesetzlichen Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, ersichtlich. Etwaige Unterschiede beruhen auf anderen Gründen, etwa darauf, daß direkte Subventionen häufig nicht aufgrund eines Leistungsgesetzes gewährt werden. Jedenfalls besteht in der Frage, ob ein Gleichheitsverstoß vorliegt, kein Unterschied zwischen Eingriffs- und Leistungsrecht.

cc) Ergebnis Ein generell größerer Gestaltungsspielraum im Bereich des gewährenden Staatshandelns gegenüber dem eingreifenden Staatshandelns läßt sich bei der Frage, ob ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vorliegt, (also auf Tatbestandsseite) nicht begründen.

g) Zusammenfassung aa) Die Begriffspaare BegünstigunglBelastung einerseits und BevorzugunglBenachteiligung andererseits sind strikt zu unterscheiden. Begünstigungen sind leistungsrechtliche Kategorien, Belastungen erfolgen im Eingriffsrecht. Dagegen treffen die Begriffe Bevorzugung und Benachteiligung eine Aussage darüber, welche der beiden Vergleichsgruppen im Verhältnis zur anderen besser und welche schlechter behandelt wird. Daraus folgt, daß es einen gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluß im Bereich des Eingriffsrechts und damit auch im Bereich des Steuerrechts nicht gibt. Soweit der rechtsschutzsuchenden Vergleichsgruppe durch Gesetz Belastungen auferlegt werden, die der anderen Vergleichsgruppe nicht auferlegt werden, handelt es sich nicht um einen gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluß, sondern um eine eigene gleichheitswidrige Belastung. bb) Bei der Überprüfung, ob Gleichheitsverstöße vorliegen, ist eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen mit der Folge, daß sich das Verdikt der Verfassungswidrigkeit auf alle Normen erstreckt, auf denen die Ungleichbehandlung beider Vergleichsgruppen beruht. Es kann keine Rolle spielen, ob die Bevorzugung der Vergleichsgruppen gesetzestechnisch durch eine ausdrückliche Ausnahmem Vgl. Jarass/Pieroth, GG. Art. 3 Rn. 23 m.w.N.

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bestimmung oder durch Nichterwähnung in dem Belastungstatbestand oder durch ein Nebeneinander zweier eigenständiger Regelungssysteme für die beiden Vergleichsgruppen erfolgt; diese Unterschiede liegen allein im sprachlichen Bereich. Das Erfordernis einer Gesamtbetrachtung aller Normen, auf denen die Ungleichbehandlung beruht (also bei ausdrücklichen Belastungsbefreiungen Dritter auch der für beide Gruppen geltenden Grundnormen), wird durch weitere Überlegungen untermauert: Wenn schon ein dem Gesetzgeber zurechenbarer unzureichender Gesetzesvollzug auf die Verfassungsmäßigkeit der Grundnorm "durchschlagen" kannS74, dann muß dies erst recht für eine durch eine gesetzliche Ausnahmebestimmung verursachte Gleichheitswidrigkeit gelten. Dies führt dann idealtypisch zu einer Abwehrmöglichkeit der auf der Grundnorm beruhenden Belastung. cc) Ob die (Grund-)Normen insgesamt oder teilweise vorübergehend oder endgültig für eine Übergangszeit fortgeIten, ist gesondert an hand anderer Kriterien zu entscheiden, etwa ob bei ersatzlosem Wegfall ein noch verfassungsfernerer Zustand entstände als bei vorübergehender weiterer Anwendung. 575 Dies kommt etwa bei nicht verkraftbaren Auswirkungen auf den Haushalt in Betracht. Die Tatsache, daß eine Gesamtbetrachtung regelmäßig mehr Normsubstanz erfaßt als eine isolierte Betrachtung, ändert aber nichts daran, daß alle Normen, auf denen die Ungleichbehandlung bei der Vergleichsgruppen beruht, verfassungswidrig sind. dd) Die Frage der Verfassungsmäßigkeit auch derjenigen Normen, die die Behandlung der anderen Vergleichsgruppe betreffen, ist auch gern. Art.. 100 Abs. 1 GG (mittelbar) entscheidungserheblich. 576 Denn die Frage, ob die Norm, auf der die Behandlung der benachteiligten (rechtsschutzsuchenden) Vergleichsgruppe beruht, gleichheits- und damit verfassungswidrig ist, kann ohne Einbeziehung derjenigen Normen, die die Behandlung der bevorzugten Vergleichsgruppe regeln, nicht beantwortet werden. ee) Dem Rechtsschutzbegehren des belasteten Bürgers, das auf Kassation der eigenen Belastung zielt, kann grundsätzlich nicht entgegengehalten werden, daß eine Erstreckung der ,,Begünstigung" auf ihn nicht möglich sei. Denn es geht um die Abwehr der eigenen Belastung, nicht um die Einbeziehung in Begünstigungen Dritter. Dies gilt zumindest für den Regelfall, daß die Belastung beider Vergleichsgruppen nicht durch die Verfassung zwingend gefordert ist. 577

m So zutreffend BVerfGE 84, 239 (Leitsatz 4 und S. 284).

m Dazu § 3 B I 2, n 2, III 2. Zu den problematischen Fällen und zu weiteren Gründen im einzelnen vgl. unten § 4. m Zu dem seltenen Sonderfall. daß die Verfassung selbst die Behandlung bei der Vergleichsgruppen vorgibt. vgl. unten § 5. Hier würde die Abwehr der eigenen gleichheitswidrig auferlegten. aber verfassungsrechtlich für alle vorgeschriebenen Belastung 576

14 Wernsm.nn

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ff) Auch im Eingriffsrecht sind indes Verpflichtungssituationen denkbar. So ginge es nicht um eine Abwehrkonstellation (mit dem Rechtsschutzziel der Kassation einer eigenen Belastung), sondern um das Erstreben eines staatlichen Handeins, wenn die rechtsschutzsuchende Vergleichsgruppe die Belastung auch der anderen Vergleichsgruppe erstrebt. Dann würde es sich nicht um eine Anfechtungs-, sondern um eine Verpflichtungskonstellation handeln. Denkbar wäre etwa der Fall einer steuerrechtlichen Konkurrentenklage auf Belastung des Konkurrenten, der wettbewerbswidrig von Steuern verschont wird. 578 Indes wird regelmäßig für eine derartige Klage - zumindest soweit es um die Belastungsentscheidung durch Gesetz, also nicht durch Gesetzesanwendung geht kein Bedürfnis bestehen, da im Falle der Gleichheitswidrigkeit idealtypisch die eigene Belastung abgewehrt werden kann. Die Frage nach einer Klage auf Belastung eines Dritten würde sich nur in dem seltenen Fall stellen, daß die eigene steuerliche Belastung durch eine Verfassungsnorm zwingend vorgeschrieben wäre. Ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen solche Gleichstellungsbegehren zum Nachteil Dritter (Verpflichtungsrechtsschutzziele ) prozessual zulässig sind, ist eine Frage nach den Schutzrichtungen des Gleichheitssatzes. 579 Das Bundesverfassungsgericht statuiert als Voraussetzung der Durchsetzbarkeit des Gleichheitssatzes, daß der Kläger des Ausgangsverfahrens bzw. der Beschwerdeführer durch eine normverwerfende verfassungsgerichtliche Entscheidung die Chance erhalte, seine eigene Rechtsstellung unmittelbar zu verbessern, insbesondere an einer etwaigen Erweiterung der begünstigenden Regelung durch den Gesetzgeber teilzuhaben. 58o Dieses Kriterium macht indes bei der

zu einer "Gleichheit im Unrecht" führen. Dies ist der Fall, wenn die Drittbevorzugung absolut verfassungswidrig ist. Vgl. oben genanntes Beispiel: Eine von zwei Vergleichsgruppen wird durch Gesetz entgegen Art. 26 Abs. 2 GO von dem verfassungsrechtlich statuierten Genehmigungserfordernis freigestellt. 578 Vgl. zur steuerrechtlichen Konkurrentenklage (auf der Ebene des Gesetzesvollzuges) Groß, Steuervergünstigungen und Steuerbenachteiligungen, S. 165 ff., 236; Knobbe-Keuk, BB 1982, 385 ff. - Knobbe-Keuk, BB 1982, 385 (389 f.) hält auf der Ebene des Gesetzesvollzuges die Verpflichtungsklage nur dann für die statthafte Klageart, wenn keine Steuerbescheide gegen den Konkurrenten vorliegen. Dagegen sei die Anfechtungsklage einschlägig, wenn "die Privilegierung des Mitbewerbers in einem gegen diesen erlassenen Steuerbescheid ihren Niederschlag gefunden hat". Da dem Rechtsschutzziel des schlechter gestellten Konkurrenten mit der Anfechtung des an den Dritten gerichteten Steuerbescheids allein nicht gedient ist, ist richtiger Ansicht nach, da auch in diesem Fall ein Tätigwerden - konkret: der Erlaß eines Verwaltungsaktes - erstrebt wird, jedenfalls auch Verpflichtungsklage zu erheben. 579 Dazu unten § 5 C II. 580 BVerfGE 61,138 (146); 71, 224 (228); 74,182 (195); 93, 386 (395), st. Rspr. Der Sache nach ebenso BVerfGE 84, 233 (237). Vgl. auch BVerfGE 93, 121 (142), wo eingangs der BegründetheitspTÜfung ausgeführt wird, daß der Gleichheitsverstoß nicht allein durch Mehrbelastung der bisher Bevorzugten ausgeräumt werden könne (mit der Folge, daß die Kläger des Ausgangsverfahrens von einer normverwerfenden Entschei-

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Abwehr eigener Belastungen keinen Sinn. Hier folgt die Verbesserung der Rechtsstellung des ungleich belasteten Klägers bzw. Beschwerdeführers schon daraus, daß diese seine Belastung kassien wird und er diese somit abwehren kann. Dies wird unmittelbar deutlich auch an der Vermögensteuer-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1995581 : Die gleichheitssatzwidrige Vermögensteuer konnte (mit Pro-futuro-Wirkung) nicht mehr erhoben werden. Die unmittelbare Besserstellung des bisher mit Vermögensteuer belasteten Klägers des Ausgangsverfahrens folgt somit bereits aus der Kassation des Vermögensteuergesetzes (und damit dem Wegfall der eigenen gleichheitswidrigen Belastung). Auf die Frage, ob die Benachteiligten (dort: die Wertpapierbesitzer) in eine möglicherweise systemwidrige drittbevorzugende Norm (dort: in die realitätsfremd niedrige Bemessungsgrundlage für Grundbesitzer (,,Einheitswerte"» einbezogen werden kann, kommt es mithin nicht an. 582 gg) Steuervergünstigungen stellen keine Begünstigungen dar, sondern Belastungsausnahmen. Sind diese gleichheitswidrig, kann der gleichheitswidrig Belastete seine Belastung idealtypischerweise - d.h. ohne Berücksichtigung der Erfordernisse einer möglichen übergangsweisen Fortgeltung - abwehren. Wie gesehen, kommt es insoweit auf die Zuordnung zum jeweiligen Rechtsgebiet, also insbesondere auf die Frage an, ob Eingriffs- oder Leistungsrecht vorliegt. Die prozessuale Bekämpfung etwa gleichheitswidriger direkter und indirekter Subventionen folgt somit unterschiedlichen Regeln. Dies ist indes nichts Ungewöhnliches, wenn man sich auch andere Divergenzen in der rechtlichen Behandlung direkter und indirekter Subventionen vergegenwärtigt. Hier sei nur an den Gesetzesvorbehalt, die Kostentragung, die Verwaltungszuständigkeiteri und Rechtswege erinnert. hh) Dem regelmäßigen Rechtsschutzziel des Klägers, der in Belastungsausnahmen Dritter einen Gleichheitsverstoß sieht und eine eigene Besserstellung erstrebt, genügt wie dargelegt die Kassation derjenigen Norm, die seine eigene gleichheitswidrige Belastung anordnet. Daran zeigt sich, daß die Figur der Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre im Bereich der Belastungen (Eingriffs recht) fehl am Platze ist und ihr neben der Nichtigerklärung keine eigenständige Bedeutung zukommen kann. Diese beruht auf Rechtsschutzgesichtspunkten aus der Perspektive der von einer Begünstigung ausgeschlossenen Personengruppe, deren regelmäßiges Rechtsschutzziel, in die Begünstigung einbezogen zu werden, durch eine Nichtigerklärung der drittbegünstigenden Norm (im Falle des konkludenten Begünstigungsausschlusses) nicht erreicht werden

dung und der anschließenden Neuregelung durch den Gesetzgeber möglicherweise eine Verbesserung ihrer Rechtsstellung erreichen konnten). 58\ BVerfGE 93, 121. 582 Dies ließ die Vermögensteuer-Entscheidung aus dem Jahre 1968, BVerfGE 23, 242 (254 f.), außer acht. 14"

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

könnte bzw. (im Falle des ausdrücklichen Begünstigungsausschlusses) zwar durch Teilnichtigerklärung erreicht werden könnte, jedoch einen unzulässigen Eingriff der Rechtsprechung in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bedeuten würde. Bei gleichheitswidrigen Belastungen der benachteiligten Personengruppe genügt indes deren Kassation. Scheitert diese idealtypisch mögliche Kassation, etwa weil durch abrupten Wegfall des Belastungstatbestandes ein Zustand entstehen würde, der der Verfassung noch ferner stehen würde als die vorübergehende Fortgeltung des verfassungswidrigen Rechts (im Bereich des Steuerrechts ist insbesondere an ein Finanzchaos zu denken), so besteht allerdings auch im Eingriffsrecht das Bedürfnis nach einer Unvereinbarerklärung ohne Anwendungssperre. D.h., die vorübergehende Fortgeltung des verfassungswidrigen Rechts ist dann hinzunehmen.

2. "Relativ größere Verfassungsnähe" der vorübergehenden Weitergeltung der verfassungswidrigen Norm gegenüber deren Nichtigerklärung

Die zweite große Fallgruppe, in der das Bundesverfassungsgericht auf die eigentlich gesetzlich (von §§ 78 S. 1,82 Abs. 1,95 Abs. 3 BVerfGG) vorgesehene Nichtigerklärung einer Norm verzichtet und sich statt dessen auf eine bloße Feststellung der Unvereinbarkeit der Norm mit dem GG beschränkt, ist dadurch gekennzeichnet, daß durch eine Nichtigerklärung des verfassungswidrigen Gesetzes ein Zustand geschaffen würde, der der Verfassung noch ferner stünde als die verfassungswidrige Regelung. 583

a) Methodisches Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts bei der Rechtsfolgenbestimmung und Kritik

Teilweise geht das Bundesverfassungsgericht methodisch abweichend vor, indem es sich zuerst auf die Unvereinbarerklärung der geprüften Norm beschränkt und erst in einem zweiten Schritt bei der Bestimmung der konkreten Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung im Einzelfall überprüft, ob eine Anwendungssperre, die sich grundsätzlich an eine Unvereinbarerklärung knüpft,584 zu einem Zustand führt, der der Verfassung noch ferner stünde als der bisherige

583 BVerfGE 33,303 (305, 347 f.); 87, 153 (177 f.); 89, 381 (394); 92, 53 (73); 99, 216 (243 f.). 584 BVerfGE 37, 217 (261); 55, \00 (1 \0). Näher unten § 3 B 11.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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verfassungswidrige Zustand. 585 Den zweiten Weg geht es insbesondere dann, wenn ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz vorliegt, und zwar auch dann, wenn ein belastendes Gesetz (etwa Vermögen- oder Erbschaftsteuergesetz586 ) gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, obwohl der Bürger sein Rechtsschutzziel (Abwehr der Belastung) in diesem Fall auch und gerade durch eine Nichtigerklärung erreichen könnte. Dagegen wird der erste Weg gewählt, wenn Verstöße gegen Freiheitsrechte zu prüfen sind. 587 Daran wird erneut deutlich, daß das Bundesverfassungsgericht die Begründungstopoi für die verschiedenen Rechtsfolgenbestimmungen (Anwendungssperre oder Weiteranwendbarkeit) vermengt und sich diese völlig verselbständigt haben, obwohl die genannten Begründungen oftmals die konkrete Entscheidung gar nicht zu tragen vermögen. Bei Gleichheitsverstößen beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht ohne weiteres auf eine Unvereinbarerklärung und prüft sodann die konkreten Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung (Anwendungssperre oder Weiteranwendbarkeit), während bei nicht-gleichheitsrechtlichen Prüfungen das Argument der relativ größeren Verfassungsnähe bereits den Verzicht auf die Nichtigerklärung begründet und sodann ohne weiteres auch zur weiteren Anwendbarkeit des verfassungswidrigen Rechts führt. Nur aus dieser Vermischung der Begründungen für beide Arten von Unvereinbarerklärung ist zu erklären, daß unzutreffend die Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre auch im Bereich gleichheitswidriger Belastungen eingesetzt wird. Diesem Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts ist entgegenzuhalten, daß die Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre und die Unvereinbarerklärung mit Hinnahme der weiteren Anwendung der verfassungswidrigen Norm zwei Instrumente mit völlig unterschiedlichen Rechts/algen darstellen. Insoweit müssen auch die Voraussetzungen ihrer Anwendung unterschiedlich sein. Beide Fallgruppen haben nur den Namen "Unvereinbarerklärung" gemein. Die danach erm So etwa BVerfGE 37, 217 (261); 61, 319 (356); 73,40 (101); 79, 245 (250 f.); 84, 9 (20); 85, 264 (326); 91, 186 (207); 93, 121 (148); 93, 165 (178). - BVerfGE 87, 153 (177 f.) begründet den Verzicht auf die Nichtigerklärung zunächst kumulativ damit, daß der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes habe und daß der Verzicht auf die Nichtigerklärung zu einem verfassungsnäheren Zustand fUhre als eine etwaige Nichtigerklärung; die Rechtsfolge der Unvereinbarerklärung im konkreten Fall - nämlich die ausnahmsweise weitere Anwendbarkeit der verfassungswidrigen Norm - begründet BVerfGE 87,153 (178 f.) sodann mit der relativ größeren Verfassungsnähe der Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm. Hier zeigt sich der schon oben erwähnte Mangel, daß das Bundesverfassungsgericht die Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung nicht auf die (gerade in bezug auf den Erfolg des Bürgers in seinem konkreten Fall völlig unterschiedlichen) Rechtsfolgen bezieht. Dazu noch unten § 3 B H, III. 586 BVerfGE 93, 121 (148); 93,165 (178). 587Vgl. etwa BVerfGE 87,153 (177 f.). Dort wurde die relativ größere Verfassungsnähe schon zur Begründung der Unvereinbarerklärung herangezogen, freilich neben dem Argument der Wahlmöglichkeiten des Gesetzgebers.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

forderliche Zuordnung der jeweiligen Voraussetzungen zu den verschiedenen Rechtsfolgen erfolgt unten. 588 Die Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht sich mit der Begründung der relativ größeren Verfassungs nähe der Fortgeltung verfassungswidrigen Rechts gegenüber dessen Wegfall auf eine Unvereinbarerklärung beschränkt hat, decken und überschneiden sich weitgehend mit den Fallgruppen, die auch denjenigen sog. Appell-Entscheidungen zugrunde lagen, denen die Furcht vor einem Chaos zugrundelag. 589 Insoweit kann auf die oben590 gemachten Ausführungen zur Abgrenzung des "Verfassungswidrigwerdens" von Normen, in denen die Appell-Entscheidung angezeigt ist, von den Fallgruppen, in denen die Rechtslage schon verfassungswidrig ist, aber die eigentlich nach § § 78 S. I, 82 Abs. 1,95 Abs. 3 BVerfGG vorgesehenen Rechtsfolgen zu einem von der Verfassung nicht gewollten Zustand führen würden, verwiesen werden.

b) Fallgruppen der relativ größeren Verfassungsnähe der Fortgeltung verfassungswidrigen Rechts gegenüber dessen Wegfall

Nunmehr werden die Beispiele aus der Rechtsprechung systematisiert, in denen auf die Nichtigerklärung unter Berufung auf die relativ größere Verfassungsnähe der Fortgeltung eines verfassungswidrigen Gesetzes591 verzichtet wurde.

aa) Keine Vertiefung der Rechtsverletzung durch erfolgreiche Klage Einen wesentlichen Anwendungsbereich findet diese Rechtsprechung dort, wo gesetzliche Ausgestaltung erforderlich ist zur Sicherung der Grundrechte, wo also der materielle Erfolg des Klägers bzw. Beschwerdeführers, der sich gegen die Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Regelung wendet, sich im Ergebnis in sein Gegenteil verkehren würde, wenn die gesetzliche Grundlage infolge Nichtigerklärung komplett wegfiele. In diese Kategorie lassen sich die

588

§ 3 B m.

Vgl. etwa die Entscheidung zur "noch verfassungsmäßigen" Umsatzsteuer, BVerfGE 21,12 ff. 590§ 2 C m. 591 Daneben kommt die Hinnahme eines verfassungswidrigen Rechtszustands auch dann in Betracht, wenn ein nach dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes erforderliches Gesetz nicht existiert, vgl. etwa BVerfGE 33, 1 (Leitsätze 1,2 und S. 12 ff.). 589

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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Entscheidungen zu unzureichenden, da zu niedrigen Besoldungsgesetzen einordnen. 592 Die Nichtigerklärung des Besoldungsgesetzes mit der Folge dessen Wegfalls würde zu einem Zustand führen, der der von Art. 33 Abs. 5 GG geforderten angemessenen Besoldung und Versorgung 593 noch weiter entfernt wäre als der jetzige (ebenfalls verfassungswidrige) Zustand. Als weiteres Beispiel sei die Entscheidung zum Numerus clausus genannt. 594

bb) Beeinträchtigung anderer Verfassungs werte Neben diesen Entscheidungen, in denen die zumindest vorübergehende weitere Anwendung verfassungswidrigen Rechts auch den Rechtsschutzzielen des Bürgers mehr dient als dessen Nichtigerklärung, beruhen andere Entscheidungen auf dem Gedanken, daß eine Nichtigerklärung oder eine Anwendungssperre des Gesetzes infolge einer Unvereinbarerklärung andere Verfassungswerte unerträglich einschränken würde. Dies ist etwa der Fall beim verfassungswidrigen Wahlgesetz; dort würde sich die Frage stellen, wer im Falle der Nichtigerklärung des Wahlgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht das neue (verfassungsmäßige) Wahlgesetz erlassen sollte. 595 Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit sind hier insbesondere haushaltsrelevante Gesetze zu nennen, insbesondere aus dem Bereich des Steuerrechts596 , des Besoldungsrechts597 und des Rechts des LänderJinanzausgleichs598 • Das Bundesverfassungsgericht führt in diesen Fällen regelmäßig aus, daß trotz der auch für die Vergangenheit bestehenden Unvereinbarkeit der Normen mit der Verfassung dennoch eine Neuregelung auch für die Vergangenheit nicht angezeigt sei: "Nicht allein Gesichtspunkte der Rechtssicherheit, vielmehr auch solche der verläßlichen und in ihren Wirkungen kalkulierbaren Finanz-, Ausgaben- und Haushaltsplanungen sowie einer entsprechenden Finanz-, Ausgaben- und Haushaltswirtschaft ste-

m BVerfGE 8, I (\9 f.); 26, 79 (93 f.); 32, 199 (217 f.); 34, 9 (43 f.); 44, 249 (264 ff.); 56, 146 (\61 ff.); 56, 175 (\82 ff.); 64, 367 (376 ff.). - Dazu, daß in diesen Fällen nicht nur das Unterlassen der Besoldungserhöhung verfassungswidrig ist, sondern auch das Tun des Gesetzgebers, vgl. oben § 3 B I a dd (4). 593 Vgl. zu den inhaltlichen Anforderungen des Art. 33 Abs. 5 GG etwa JarasslPieroth, GG, Art. 33 Rn. 17 ff. 594 BVerfGE 33, 303 (347). m Vgl. dazu oben § 2 C I. S96BVerfGE 73, 40 (42); 87,153 (\78 ff.); 93,121 (148 f.); 93,165 (178). S97BVerfGE 81, 363 (383 ff.). 598 BVerfGE 72,330 (333, 422); 86, 148 (279).

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

hen bei der hier in Frage stehenden Regelungsmaterie rückwirkenden Eingriffen entgegen. Beim Länderfinanzausgleich geht es um die Zuteilung bzw. Abgabe von Finanzmitteln, welche unmittelbar für die Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben bestimmt sind und verbraucht werden. Seine Rückabwicklung würde zu umfanglichen, für mehrere Jahre vorzunehmenden Rück-Umverteilungen einerseits bereits verbrauchter, andererseits nicht vorhanden gewesener Mittel führen. Das bedeutete einen praktisch kaum zu leistenden Eingriff in bereits abgeschlossene Perioden der Haushalts- und Ausgabenwirtschaft und des Haushaltsvollzugs. Entscheidend ist demgegenüber, so schnell wie möglich den Übergang von dem jetzigen verfassungswidrigen in einen verfassungsmäßigen Zustand herzustellen. ,,599

Das Bundesverfassungsgericht argumentiert also regelmäßig mit der mangelnden Praktikabilität einer völligen Rückabwicklung, die Bestandteile der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit sind,6oo sowie damit, daß die finanziellen Mittel jeweils gegenwärtigen Bedarf decken sollen und damit den Erfordernissen periodischer Haushaltsplanung und -bewilligung nach Art. 110 Abs. 2 GG gerecht würden. 601 Daneben findet sich vereinzelt auch das Argument, daß eine Fortgeltung des für verfassungswidrig erkannten Gesetzes für die Vergangenheit sich auch aus dem Gesichtspunkt "eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung" rechtfertige. 602 Indes wurde oben603 bereits dargelegt, daß dieses Argument nicht zur Bestimmung abweichender Rechtsfolgen herangezogen werden darf, sofern man die gesetzgeberische Entscheidung für Differenzierungen zwischen abgeschlossenen und noch offenen Fällen (§ 79 Abs. 2 BVerfGG) als verfassungsmäßig akzeptiert (insbesondere im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG)604.

599 So etwa BVerfGE 72,330 (422) zum Länderfinanzausgleich; in der Sache ebenso BVerfGE 87, 153 (178 f.) zum steuerlichen Existenzminimum; BVerfGE 81, 363 (383 ff.) zu einer zu niedrigen Besoldungsregelung. - Hervorhebungen nur hier. 600 Ähnlich auch BVerfGE 87, 114 (136 f.): "Der Gesetzgeber darf sich zwar, wenn das Bundesverfassungsgericht eine bestehende Gesetzeslage für verfassungswidrig erklärt hat, nicht allgemein damit begnügen, erst vom Inkrafttreten der Neuregelung an für Abhilfe zu sorgen. . .. Für die Zeit vor der Neuregelung kann keine Abhilfe verlangt werden, wenn sie nach der tatsächlichen Lage praktisch nicht mehr durchführbar wäre oder den Betroffenen keinen tatsächlichen Nutzen mehr bringen könnte oder wenn sie nur unter unverhältnismäßig großer Beeinträchtigung anderer schutzwürdiger Belange möglich wäre." 601 BVerfGE 81, 363 (385); 87, 153 (179). 602 So BVerfGE 93, 121 (148); tendenziell auch schon BVerfGE 87, 153 (180), wo das Bundesverfassungsgericht eine Differenzierung zwischen rechtsförmlich abgeschlossenen und noch anhängigen Verfahren im Rahmen einer (vom Bundesverfassungsgericht nicht zwingend geforderten) etwaigen Neuregelung des Existenzminimums durch den Gesetzgeber für die Vergangenheit für "schwerlich sachgerecht" erklärte. 603 § 2 C III 3 c bb. 604 So BVerfG (Nachweise oben § I A).

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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11. Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung eines Gesetzes 1. Grundsatz: Anwendungsverbot des verfassungswidrigen Gesetzes

Ursprünglich ging das Bundesverfassungsgericht davon aus, daß ein nur für unvereinbar erklärtes Gesetz (vorübergehend) weiter anwendbar ist. 605 Hierin wurde gerade der Unterschied zwischen bloßer Unvereinbarerklärung und Nichtigerklärung eines Gesetzes gesehen. 606 Diese Sichtweise, daß ein "bloß" für unvereinbar erklärtes Gesetz in jedem Falle weiter anwendbar ist, hätte insbesondere zur Konsequenz, daß in den Fällen des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses den bisher gleichheits widrig Begünstigten ihre gleichheitswidrige gesetzliche Begünstigung bis zu einer verfassungskonformen Neuregelung durch den Gesetzgeber stets hätte weiter gewährt werden können (und müssen).607 Dagegen gehen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die herrschende Lehre heute zutreffend davon aus, daß die Unvereinbarerklärung eines Gesetzes grundsätzlich zur Folge hat, daß die verfassungswidrige Norm vom Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an in dem sich aus dem Tenor der Entscheidung ergebenden Ausmaß nicht mehr angewendet werden darf. 6OS Gerichte und Behörden haben die Verfahren bis zu einer verfassungskonformen Neuregelung durch den Gesetzgeber auszusetzen.

605 Implizit BVerfGE 32, 199 (217 f., 221); 34, 9 (44). Dort wollte das Bundesverfassungsgericht offensichtlich gerade mit der Beschränkung auf eine bloße Unvereinbarerklärung die weitere Anwendbarkeit der für verfassungswidrig erklärten Nonnen ermöglichen. Anders aber wiederum BVerfGE 33, 303 (304 f.), wo der Unvereinbarerklärung im Tenor ausdrücklich die (offensichtlich für erforderlich gehaltene) Anordnung der befristeten weiteren Anwendbarkeit der für verfassungswidrig erklärten Nonn beigefügt wurde. - Deutlich auch BVerfGE 66, 100 (105): Dort wurde einer Richtervorlage die Entscheidungserheblichkeit i.S.d. Art. 100 Abs. 1 GO abgesprochen, da eine Beanstandung der (begünstigenden) Regelung "nicht zwangsläufig zur Nichtigkeit und damit zur völligen Unanwendbarkeit" führe; vielmehr "müßte sich das Bundesverfassungsgericht mit Rücksicht auf die gesetzgeberische Gestaltungsbefugnis darauf beschränken, die Vorschrift als unvereinbar mit dem Grundgesetz zu erklären". (Hervorhebungen nur hier.) 606 V gl. Schlaich. Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 383. 607 Anders nunmehr die zutreffende st. Rspr., vgl. zuletzt explizit BVerfGE 93, 386 (402 f. i.V.m. 386). Zu abweichenden Ansichten in der Literatur oben § 3 B I I a dd (3). 608 BVerfGE 37, 217 (261); 55, 100 (110); 61, 319 (356); 73, 40 (101); 82, 126 (155); 84,9 (21); 84,168 (187); 87,114 (136); 87,153 (178); 93, 386 (402); st. Rspr. Zustimmend etwa Battis. HStR VII, § 165 Rn. 75; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 190 f.; Maurer, in: Festschrift für Weber, S. 345 (360 ff.); Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 20 Rn. 126; Schia ich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 394; Stuth, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 78 Rn. 20.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

Dieser Befund wird auch mit dem Begriff der Anwendungssperre gekennzeichnet. 609 Gelegentlich sprach das Bundesverfassungsgericht davon, daß der Unvereinbarerklärung bezüglich der weiteren Anwendung der Norm dieselbe Wirkung wie einer Nichtigerklärung beizumessen sei. 610 Diese Parallelität in den Wirkungen der Nichtigerklärung und der Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre belegt erneut, daß die Figur der Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre ihre Existenz allein der Rechtsschutzperspektive des Bürgers verdankt. 611 Die Wirkungen von Nichtigerklärung und Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre unterschieden sich nur insoweit, als die Unvereinbarerklärung einen Schwebezustand herbeiführt, während dessen die Verfahren auszusetzen sind. Dadurch wird den Rechtsschutzzielen der Benachteiligten Rechnung getragen, denen die Chance offengehalten wird, von einer günstigeren Neuregelung zu profitieren.

2. Ausnahme: Anordnung der weiteren Anwendbarkeit des Gesetzes Von dem mittlerweile in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Grundsatz, daß für unvereinbar erklärte Vorschriften nicht mehr angewendet werden dürfen, hat das Bundesverfassungsgericht indes Ausnahmen zugelassen: Verfassungswidrige Vorschriften sind danach (voll oder teilweise) weiter anzuwenden, wenn die Besonderheit der für verfassungswidrig erklärten Norm es aus verfassungsrechtlichen Gründen, insbesondere aus solchen der Rechtssicherheit, notwendig macht, die verfassungswidrige Vorschrift als Regelung für die Übergangszeit fortbestehen zu lassen, damit in dieser Zeit nicht ein Zustand besteht, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist als der bisherige. 612 Läßt das Bundesverfassungsgericht die weitere Anwendbarkeit des für verfassungswidrig erklärten Rechts zu, so ist indes zwischen zwei weiteren Varianten zu unterscheiden: Im ersten Fall ist die verfassungswidrige Norm lediglich mit vorläufiger Wirkung weiter anzuwenden, damit nicht in der Übergangs-

609 Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 1188; Heußner, NJW 1982, 257 (258); Stuth, in: UmbachlClemens, BVerfGG, § 78 Rn. 20; Ulsamer, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/KleinlUlsamer, BVerfGG, § 78 Rn. 33. 610 So BVerfGE 37, 217 (261); ebenso Stuth, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 78 Rn. 20. 611 Siehe dazu oben § 3 B I 1 ace (3). 612 BVerfGE 37, 217 (261); 61, 319 (356); 73, 40 (101 f.); 79, 245 (250 f.); 84, 9 (20); 85, 264 (326); 91, 186 (207).

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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zeit ein rechtliches Vakuum entsteht und Unsicherheit über die Rechtslage herrscht; der Gesetzgeber ist aber verpflichtet, den verfassungswidrigen Zustand später auch mit Wirkung für die Vergangenheit zu beseitigen. 613 Im zweiten Fall dagegen wird das verfassungswidrige Recht endgültig als Grundlage staatlichen Handeins akzeptiert, ohne daß der Gesetzgeber für Vergangenheit und Gegenwart eine verfassungsmäßige Neuregelung treffen müßte. Es reicht in diesen Fällen aus, wenn der Gesetzgeber eine verfassungskonforme Neuregelung mit Wirkung für die Zukunft trifft. 614 In beiden Fällen setzt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber insoweit regelmäßig Fristen. 615 Der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit genügt zur Beantwortung der Frage, ob eine für verfassungswidrig erklärte Norm weiter anwendbar ist, allein eine ausdrückliche Anordnung im Tenor der Entscheidung. 616

a) Bloß vorläufige Weiteranwendbarkeit mit Pflicht zu späterer (rückwirkender) Folgenbeseitigung

Die erste Fallgruppe zeichnet sich dadurch aus, daß der weiteren Anwendung der verfassungswidrigen Norm lediglich vorläufige Wirkung zukommt und der Gesetzgeber später die für verfassungswidrig erklärte Norm auch mit Wirkung für die Vergangenheit - regelmäßig rückwirkend auf den Zeitpunkt der Kollisionslage von Gesetz und Verfassung 617 , normalerweise also für die Zeit seit In-

So etwa BVerfGE 61, 319 (356). Näher unten § 3 B 11 2 a. etwa BVerfGE 87,153 (179); 93,121 (148). Näher unten § 3 B 11 2 b. 6l5 Vg l. nur BVerfGE 61,319 (320 f., 356 f.); 87,153 (154 f., 181); 93,121 (121 f., 148 f.). 616 Dagegen verteidigt Heußner. NJW 1982,257 (258 f.) die frühere Praxis des Bundesverfassungsgerichts, nicht in jedem Falle im Tenor die weitere Anwendbarkeit zu erwähnen. Die von ihm für erforderlich gehaltene sorgfältige Prüfung auch der Gründe einer verfassungsrechtlichen Entscheidung ergibt oft keine Klarheit über den Willen des Bundesverfassungsgerichts (siehe zu den oftmals unklaren Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts bereits oben § 1 A). Dies wird auch an den wenig weiterführenden von ihm genannten Kriterien zur Auslegung der Entscheidungen deutlich: "Dies (sc. die Weiteranwendung der verfassungswidrigen Norm infolge relativ größerer Verfassungsnähe) wird vor allem dann der Fall sein, wenn es sich um Rechtsnormen handelt, die den Status von Personen, etwa die Staatsangehörigkeit oder die Besoldung von Beamten oder die Diäten von Abgeordneten regeln." Die Auslegung einer unklaren verfassungsgerichtlichen Entscheidung in einer Frage von so fundamentaler Bedeutung wie der Anwendung eines Gesetzes jedem einzelnen Rechtsanwender zu überlassen, widerspricht den Erfordernissen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. 617 Weniger weitgehend aber BVerfGE 93, 165 (166, 178 f.). 613

614 So

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

krafttreten der beanstandeten Normen618 - durch eine verfassungsgemäße Neuregelung ersetzen muß. 619 Mit dieser Anordnung soll für die Übergangszeit bis zu einer Neuregelung ein Rechtsstillstand verhindert werden, wobei aber nicht die Herbeiführung des verfassungsmäßigen Zustandes an sich zu untragbaren Zuständen - wie etwa einer exorbitanten Belastung des Haushaltes - führt. In diesen Fällen sind also nicht die Folgen einer verfassungsmäßigen rückwirkenden Neuordnung der Rechtslage durch den Gesetzgeber problematisch (etwa infolge der außerordentlichen und nicht verkraftbaren finanziellen Auswirkungen), sondern nur der plötzliche ersatzlose Wegfall des alten (verfassungswidrigen) Rechts, der indes später rückwirkend ersetzt werden kann. Im Bereich des Steuerrechts hat das Bundesverfassungsgericht in diesen Fällen angeordnet, daß die aus Gründen der Rechtssicherheit gebotene weitere Anwendung der angegriffenen Normen bei den Betroffenen nur im Wege vorläufiger Steuerfestsetzung nach § 165 AO erfolgen dürfe, damit den Steuerpflichtigen später nicht die Rechtskraft von Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidungen entgegengehalten werden könne. 62o Insofern könnte man von einer Rechtsfolgenverweisung durch das Bundesverfassungsgericht sprechen, da § 165 AO vor der Neufassung im Jahre 1993 621 die Möglichkeit der vorläufigen Festsetzung der Steuer nur vorsah, soweit ungewiß war, ob die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer eingetreten sind. Damit war, wie sich insbesondere aus systematischer Auslegung ergab, nur die Ungewißheit im Tatsächlichen gemeint622 ; lediglich § 165 Abs. 1 S. 2 AO a.F. (nunmehr § 165 Abs. 1

Vgl. BVerfGE 61, 319 (357). In folgenden Fällen ist das Bundesverfassungsgericht z.B. so verfahren: BVerfGE 61, 319 (356) betreffend Besteuerung Alleinstehender mit Kindern; BVerfGE 73, 40 (102) betreffend steuerliche Abzugsfähigkeit von Parteispenden; teilweise auch BVerfGE 93, 165 (178 f.) betreffend Erbschaftsbesteuerung: Dort wurde in der Entscheidung vom 29.6.1995 für die Zeit ab 1.1.1996 die Anwendung des § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO angeordnet, für den Zeitraum bis zum 31.12.1995 wurde der verfassungswidrige Zustand der Erbschaftsbesteuerung jedoch endgültig akzeptiert; vgl. dazu auch BFH NJW 1998,2552. 620 BVerfGE 61,319 (356); 73, 40 (102). 621 Durch Art. 26 Nr. 11 StMBG vom 21.12.1993, BGBI. I 1993, 2310. 622 Zutreffend Birk, Steuerrecht I, § 15 Rn. 75 f.; Klein/Orlopp, AO, § 165 Anm. 2a; Neckeis, DStZ 1992, 391 (392 ff.); Tipke/Lang, Steuerrecht, § 22 Rn. 292. Ursprünglich auch BFH BStBI. II 1985,648 (649); 1988,234 (236); 1989, 130 (130 f.). Weitergehend unter pragmatischen Gesichtspunkten (Verhinderung von Masseneinsprüchen) dagegen schon BMF, BStBI. I 1992,632; BFH BStBI. II 1991,868; BStBI. II 1992, 219 zu der jetzt von § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO erfaßten Konstellation, daß die Frage der Verfassungsmäßigkeit eines Steuergesetzes Gegenstand eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht oder Bundesfinanzhof ist. Kritisch zu dieser Rechtsprechung zu § 165 AO a.F. Birk, Steuerrecht I, § 15 Rn. 75; Trzaskalik, in: HübschmannlHepp/Spita!er, AO, § 165 Rn. 15; im Ergebnis der großzügigeren Rechtsprechung zustimmend aber Seer, DStR 1993, 307 (310 f.), da der Normzweck des § 165 AO, bei vorübergehenden 618

619

B. Bloße Unvereinbarerklärung

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S.2 Nr. 1 AO n.F.) erweiterte die Möglichkeit der vorläufigen Steuerfestsetzung auf die Ungewißheit über den Abschluß von Doppelbesteuerungsabkommen. Nunmehr eröffnet § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO diese Möglichkeit auch dann, wenn das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit eines Steuergesetzes mit dem Grundgesetz festgestellt hat und der Gesetzgeber zu einer Neuregelung verpflichtet ist. 623

b) Endgültige Hinnahme des verfassungswidrigen Zustandes für eine Übergangszeit

Von der soeben behandelten Rechtsfolge der Unvereinbarerklärung (vorläufige Weiteranwendung des für verfassungswidrig erklärten Rechts mit der Verpflichtung des Gesetzgebers, später rückwirkend einen verfassungskonformen Rechtszustand herzustellen) ist eine andere Situation zu unterscheiden. Diese ist dadurch gekennzeichnet, daß das Bundesverfassungsgericht zwar die Unvereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz feststellt, aber deren weitere Anwendung hinnimmt und das verfassungswidrige Recht als Rechtsgrundlage staatlichen Handeins für Vergangenheit und Gegenwart akzeptiert. 624 Das verfassungswidrige Recht gilt für Vergangenheit und Gegenwart fort. Der Verfassungsverstoß des Gesetzgebers bleibt für diesen Zeitraum sanktionslos und wird endgültig hingenommen. 625 Daher läßt sich in dieser Situation - anders als in den zu a) genannten Fällen - von einer ,,Perpetuierung von Unrecht" sprechen.

Hindernissen außerhalb der Sphäre der Finanzbehärde eine im übrigen endgültige Steuerfestsetzung zu ermöglichen, auch hier eingreife. 623 Dementsprechend verpflichtete das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung vom 29.6.1995 (BVerfGE 93, 165 (178 f.)) den Gesetzgeber zum Erlaß einer verfassungsmäßigen Neuregelung des Erbschaftsteuerrechts bis zum 31.12.1996 und führte aus, daß es für die Zeit ab dem 1.1.1996 bei der Regelung des § 165 Abs. I S. 2 Nr. 2 AO n.F. verbleiben könne, wonach die Erbschaftsteuer bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber vorläufig festzusetzen sei. Für Zeiträume vor dem 1.1.1996 wurde dagegen der verfassungswidrige Zustand endgültig hingenommen, ohne daß für diese Zeiträume für die Herbeiführung eines verfassungsmäßigen Zustandes hätte gesorgt werden müssen. Zu letzterem unten § 3 B II 2 b. 624 BVerfGE 91,186 (207). 625 In folgenden Fällen wurde z.B. so verfahren: BVerfGE 87,153 (154 f., 177 ff.)GrundfreibetraglExistenzminimum; 91, 186 (186 f.) - Kohlepfennig; 93, 121 (121 f., 148 f.) - Vermögensteuer; 93, 165 (166, 178 f.) - Erbschaftsteuer; 99, 280 (298 ff.) Steuerfreiheit der Stellenzulage Ost. Im Ergebnis ähnlich wie die Unvereinbarerklärung mit bloßer Pro-futuro-Wirkung bereits BVerfGE 21, 12 (39 ff.) - Umsatzsteuer; dort wurde aber die eigentlich verfassungswidrige Umsatzsteuer wegen der nicht hinnehmbaren Folgen als "noch verfassungsmäßig" konstruiert, die Folgenbetrachtung also auf der Tatbestandsseite berücksichtigt. Zu dieser Frage siehe oben § 2 C III 2.

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§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

Diese Fälle unterscheiden sich von den unter a) genannten dadurch, daß hier nicht bloß die Folge eines vorübergehenden Rechtsvakuums unerträglich erscheint, sondern daß der Zustand, der der Verfassung noch ferner stehen würde als die Fortgeltung verfassungswidrigen Rechts, hier aus der eigentlich von der Verfassung geforderten rückwirkenden Neuregelung folgen würde. Diesen Rechtsfolgenausspruch rechtfertigt das Bundesverfassungsgericht insbesondere mit den ,,Besonderheiten des Steuer- und Haushaltsrechts".626 In den Fällen mit großen fiskalischen Auswirkungen stehen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts regelmäßig Gesichtspunkte einer verläßlichen Finanz- und Haushaltsplanung sowie einer entsprechenden Haushaltswirtschaft einer rückwirkenden Neuregelung entgegen. 627 Müßten Steuerfälle in großer Anzahl für viele Kalenderjahre neu aufgerollt und teilweise rückabgewickelt werden, so würden nur die damaligen Steuerschuldner zu Lasten des gegenwärtigen Staatshaushalts und zukünftiger Steuerzahler entlastet. 628 Daneben bezieht sich das Bundesverfassungsgericht bisweilen auch auf die Eigenart des Falles. 629 So diene die Steuerfreiheit des Existenzminimums der Befriedigung des gegenwärtigen Bedarfs, und die steuerliche Entlastung verfehle daher ihren Zweck, wenn sie nicht zeitnah zu dem jeweiligen Bedarf gewährt werde, zumal die betroffenen Steuerpflichtigen in Notlagen Sozialhilfe hätten in Anspruch nehmen können. 63o Ferner sollte die Begrenzung der verfassungsrechtlichen Korrekturpflicht auf die Zukunft einen gleichmäßigen Verwaltungsvollzug für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung sichern,631 also die von § 79 Abs. 2 BVerfGG vorgesehene Rechtsfolge der Differenzierung zwischen rechtsförmlich abgeschlossenen und noch anhängigen Verfahren vermeiden.

626 BVerfGE 87, 153 (178). 627 BVerfGE 87,153 (178 f.); 93,121 (148); 93,165 (178). 628 BVerfGE 87,153 (179). 629 BVerfGE 87, 153 (178). 630 BVerfGE 87, 153 (179 f.). Teilweise abweichend jetzt aber BVerfGE 99,246 (267 f.) zur Besteuerung des Kinderexistenzminimums. 631 BVerfGE 93,121 (148); 93,165 (178); tendenziell auch schon BVerfGE 87,153 (180), wo eine Differenzierung zwischen rechtsförmlich abgeschlossenen und noch anhängigen Verfahren im Rahmen einer etwaigen rückwirkenden Neuregelung jedenfalls für allgemeine, jedem Einkommensteuerfall zugrundeliegende Tatbestände wie dem des Grundfreibetrages als "schwerlich sachgerecht" bezeichnet wurde. Anders jetzt aber wieder BVerfGE 99, 246 (267 f.); 99, 268 (272 f.); 99, 273 (278 f.) zum Kinderexistenzminimum. Die unterschiedlichen Begründungen, mit denen jeweils unterschiedliche Ergebnisse gerechtfertigt werden, lassen den Vorwurf der "Beliebigkeit" gegenüber der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Glanegger, DStR 1999,311,312) durchaus als gerechtfertigt erscheinen.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

223

Teilweise läßt das Bundesverfassungsgericht auch die weitere Anwendung des verfassungswidrigen Rechts mit der Begründung zu, daß das Gemeinwohl einen ,,schonenden Übergang von der verfassungswidrigen zu einer verfassungsmäßigen Rechtslage" fordere und das mit der verfassungswidrigen Norm verfolgte Konzept unvermittelt seine Grundlage verlöre. 632 Zur Tragfähigkeit dieser Begründungen zur Hinnahme des Verfassungsverstoßes wurde oben633 bereits Stellung genommen. Es wurde festgestellt, daß die Einheit der Verfassung nicht nur ein Auslegungsprinzip im Rahmen der Feststellung eines Verfassungsverstoßes ("Ob" des Verfassungsverstoßes) darstellt, sondern daß diese auch bei der Bestimmung der Rechtsfolgen eines Verfassungsverstoßes zu berücksichtigen ist. Einer der bedeutsamsten Grundsätze des Grundgesetzes ist es, sich gegen seine Aufhebung zur Wehr zu setzen und dem Gemeinwesen eine tragfähige Grundordnung zu bieten, nicht aber diese zu gefährden. Der Satz "fiat iustitia, pereat res publica" ist dem Grundgesetz fremd. 634 Daher kann die Funktionsfahigkeit des Staates durchaus einen Verzicht auf die Nichtigerklärung fordern. 635 Insofern trifft es zu, daß Belastungen und Schulden stets unter dem Vorbehalt des Möglichen stehen. 636 Was die Leistungskapazität des Gemeinwesens der Gegenwart übersteigt, kann das Recht nicht fordern. 637 Dieser Gedanke kommt auch zum Tragen bei der Beurteilung der Erforderlichkeit eines Mittels im Rahmen des Übermaß verbots (Verhältnismäßigkeitsprinzips). Ein Mittel ist nur dann erforderlich, wenn das Ziel der staatlichen Maßnahme nicht auch durch ein gleich geeignetes, aber milderes Mittel eingeschränkt werden kann. 638 Dies ist auch dann zu verneinen, wenn das mildere Mittel Dritte oder die Allgemeinheit stärker belastet, insbesondere zu einer unangemessen 639 höheren finanziellen Belastung des Staates führt. 64o In-

632 So BVerfGE 91, 186 (207). Ebenso Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 79; ähnlich ders., HStR V, § 124 Rn. 146; ders., DStJG 18 (1995),17 (40). 633 § 2 C III 2 b, 3. 634 Zutreffend Friauf, FR 1969, 319 (321). 635 Friauf, FR 1969,319 (321); Schick, JZ 1969,371 (373) m.w.N. 636 Vgl. FG Köln EFG 1997, 1023 (1024); Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 362 (unter Anknüpfung an den in der Verfassungsbestimmung des Art. 109 Abs. 2 GG enthaltenen Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts). 631 BVerfGE 15,126 (140 f.); 27, 253 (283 ff.); 33, 303 (333 ff.); 38,128 (133); 41, 126 (150 0. Vgl. auch BVerfGE 81, 363 (384). 638 Statt aller Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 329; Hesse, Grundzüge, Rn. 318. 639 Insofern ist, da Interessen von mehr als zwei Rechtssubjekten (Dritte oder Allgemeinheit) zu berücksichtigen sind, eine Abwägung erforderlich. Versteht man den Grundsatz der Erforderlichkeit dagegen nur als Gebot, unter mehreren gleich geeigneten das den einzelnen (welchen?) am wenigsten beeinträchtigende Mittel auszuwählen, vgl. etwa Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 14 m.w.N., so erlaubt dieser insoweit keine Entscheidung. Denn ein Mittel kann gegenüber dem ersten Rechtssubjekt milder sein, während dasselbe Mittel gegenüber dem zweiten beteiligten Rechts-

224

§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

des erscheinen die Begründungen der Fortgeltung einer verfassungswidrigen Norm mit der Sicherung eines gleichmäßigen (verfassungswidrigen!) Verwaltungsvollzuges für die Vergangenheit und das Erfordernis schonender Übergänge vom verfassungswidrigen zum verfassungsmäßigen Rechtszustand nicht ausreichend, um einen Verzicht auf die Nichtigerklärung zu legitimieren. 641

IH. Zuordnung der beiden Fallgruppen zu den jeweiligen Rechtsfolgen Die verschiedenen Arten der Unvereinbarerklärung führen zu völlig unterschiedlichen Rechtsfolgen und sind - als Abweichung von dem im GG vorausgesetzten Grundsatz der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze - an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Betrachtet man die Fallgruppen und die Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung in Rechtsprechung und Literatur, so fällt auf, daß der Ausspruch der Unvereinbarerklärung, auch wenn sie zu völlig unterschiedlichen Rechtsfolgen führt, jeweils an dieselben Voraussetzungen geknüpft und jeweils mit denselben Erwägungen begründet wird. 642 So wird resubjekt gerade umgekehrt stärker eingreift, vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 101 Fn.86. 640 Zutreffend BVerfGE 77,84 (110 0; 81, 70 (910; 88, 145 (164); larasslPieroth, GG, Art. 20 Rn. 60; PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 306. Im Grundsatz auch Sachs, 00, Art. 20 Rn. 100. 641 Dazu ausführlich oben § 2 C III 3 c bb. 642 Exemplarisch zuletzt BVerfGE 99, 280 (298). Dort wird zunächst (unter C III) ausgeführt, daß eine bloße Verfassungswidrigerklärung insbesondere dann geboten sei, wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten habe, den Verfassungsverstoß zu beseitigen. Wegen der verschiedenen dem Gesetzgeber zur Verfügung stehenden Alternativen komme "nach diesen Maßstäben ... im vorliegenden Fall nur eine Unvereinbarerklärung in Betracht." Sodann führt das BVerfG jedoch (unter C IV 2) aus, daß es für die Vergangenheit aus Gründen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit bei der Steuerfreiheit der Stellenzulage bleiben müsse. Daraus wird ersichtlich, daß der Gesetzgeber für die Vergangenheit gerade keine Gestaltungsfreiheit hat, so daß die Begründung der verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers für den Verzicht auf die Nichtigerklärung nach den eigenen Prämissen des BVerfG nicht trägt. Die Entscheidung zur Stellenzulage Ost steht auch im Widerspruch zu BVerfGE 99, 69 (82 f.), wo ebenfalls ausgeführt wird, daß bei einem Verstoß gegen den Gleichheitssatz eine Nichtigerklärung der betreffenden Norm nicht in Betracht komme, wenn dem Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten zur Beseitigung des Gleichheitsverstoßes zur Verfügung stehen. Anders als bei der Entscheidung zur Stellenzulage Ost bezieht sich das BVerfG in dieser Entscheidung jedoch ausdrücklich auf die mangelnden Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers für die Vergangenheit, um die Nichtigerklärung des Ausschlusses zu legitimieren. Da für die Vergangenheit eine rückwirkende Erweiterung des Kreises der Steuerpflichtigen ausgeschlossen sei, müsse die Norm für nichtig erklärt werden. Dieses Beispiel mag erneut belegen, daß die Prämissen des BVerfG unzutreffend sind. Vgl. oben § 3 B I.

B. Bloße Unvereinbarerklärung

225

gelmäßig ausgeführt, daß eine Beschränkung auf eine bloße Unvereinbarerklärung dann angezeigt sei, wenn (1.) durch eine Nichtigerldärung ein Zustand geschaffen würde, der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als die verfassungswidrige Regelung, oder wenn (2.) der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes habe. 643 Indes eignen sich diese beiden Fallgruppen, an deren Vorliegen das Bundesverfassungsgericht regelmäßig den Ausspruch der Unvereinbarerldärung knüpft, nur zur Begründung jeweils völlig unterschiedlicher Rechtsfolgen.

1. Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre

Die Unvereinbarerldärung mit Anwendungssperre dient der Durchsetzung des Gleichheitssatzes in den Bereichen, in denen der Bürger in die anderen gewährte Begünstigung (z.B. Leistungen der Sozialversicherung, Sozialleistungen, Subventionen) einbezogen werden möchte. Eine Nichtigerklärung der gesamten gleichheits widrigen Regelung - also sowohl derjenigen Regelungen, die die Behandlung der bisher begünstigten Vergleichs gruppe normierten, als auch derjenigen Regelungen, die die Behandlung der bisher nicht begünstigten Vergleichsgruppe normierten, - durch das Bundesverfassungsgericht würde die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nicht beeinträchtigen und somit den Gewaltenteilungsgrundsatz beachten. Eine solche Nichtigerldärung würde indes den regelmäßigen Rechtsschutzzielen des bisher nicht begünstigten Klägers nicht gerecht, da er in diesem Falle die erstrebte Begünstigung ebenfalls nicht erhalten würde. Allenfalls könnte er mit der Nichtigerldärung die Beseitigung der Begünstigung Dritter erreichen, (von der vielfach angenommen wird, daß der nicht begünstigte Bürger auf sie kein subjektives Recht habe644 ). Die Aussetzung des Verfahrens infolge der Anwendungssperre dient hier also den Rechtsschutzzielen des Klägers und der Beachtung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, die der Ausdehnung der Begünstigung durch die Gerichte auf die bisher nicht begünstigte Vergleichsgruppe entgegensteht.

643 Exemplarisch BVerfGE 87, 153 (177 f.); 89, 281 (394). Ebenso etwa Heußner. NJW 1982,257 (257) m.w.N. 644 Dazu noch unten § 5 C II.

15 Wern,mann

226

§ 3. Entscheidungsvarianten bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes

2. Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung ohne Anwendungssperre Dagegen rechtfertigt das Argument reLativ größerer Verfassungsnähe der Fortgeltung des verfassungswidrigen Rechts gegenüber dem Zustand bei Nichtigerklärung - wie schon in der Statuierung dieser Voraussetzung zum Ausdruck kommt - die Fortgeltung des verfassungswidrigen Rechts. Bei relativ größerer Verfassungsnähe der weiteren Anwendung der verfassungswidrigen Norm tritt daher keine Anwendungssperre ein. Beide Rechtsfolgen (Unvereinbarerklärung mit bzw. ohne Anwendungssperre) haben also jeweils völlig unterschiedliche Anwendungsbereiche.

3. Kumulatives Vorliegen beider Voraussetzungen Liegen kumulativ sowohl der FaII einer gleichheitswidrigen Drittbegünstigung als auch das Erfordernis einer Folgenberücksichtigung vor, so ist die Fortgeltung des verfassungswidrigen Rechts gefordert. Diese Erkenntnis, daß eine strikt getrennte Zuordnung der FaIIgruppen zu der jeweiligen Rechtsfolge (Anwendungssperre einerseits oder Weiteranwendbarkeit der verfassungswidrigen Normen andererseits) erforderlich ist, gibt schließlich auch weitere Hinweise bei der Antwort auf die Frage, ob der bisher begünstigten Gruppe ihre gleichheitswidrige Begünstigung bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber fortgewährt werden kann und muß. Ist die Weitergewährung der gleichheits widrigen Begünstigung im entschiedenen FaII relativ verfassungsnäher als deren sofortiger WegfaII, so hat diese zu erfolgen. Als Beispiel kann hier der FaII einer gleichheitswidrigen Besoldung genannt werden, deren völliger WegfaII im Hinblick auf Art. 33 Abs. 5 GG noch bedenklicher wäre als die vorübergehende Hinnahme des Gleichheitsverstoßes. Indes erscheint die Weitergewährung der gleichheitswidrigen Begünstigung nicht in jedem FaIIe als der verfassungsnähere Zustand. Hier wäre etwa an den FaII zu denken, daß es im Besoldungsrecht nur um die Gewährung von nicht existentiellen Zulagen geht. 645 Daher ist im Ergebnis festzuhalten, daß 646 der bisher begünstigten Vergleichsgruppe ihre gleichheitswidrige Begünstigung nur

645 So

lag es etwa in BVerfGE 93,386 (402 f.). Entgegen insbesondere Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 82 f., 129, 176 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 541 und der älteren Rechtsprechung des BVerfG, vgl. aber auch noch BVerfGE 66, 100 (105). Wie hier BVerfGE 93, 386 (402 f.); Heußner, NJW 1982, 257 (258); Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 379. Dazu oben § 3 B I 1 a dd (3). 646

B. Bloße Unvereinbarerklärung

227

dann weiterzugewähren ist, wenn dies ausnahmsweise zu einem relativ verfassungsnäheren Zustand führt als deren sofortiger Wegfall. 647

647 BVerfGE 99, 280 (299) geht davon aus, daß die Weitergewährung der Steuerfreiheit für die Stellenzulage Ost aus verfassungsrechtlich zwingenden Vertrauensschutzgründen erforderlich sei. Denn die Steuerpflichtige habe im Vertrauen auf die Steuerfreiheit der Stellenzulage ihre Tätigkeit im Beitrittsgebiet aufgenommen und damit Dispositionen getroffen.

15·

Zweiter Teil Die Bedeutung der prognostizierten Tenorierung bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes für die Zulässigkeit der konkreten Normenkontrolle § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit Das Verfahren der konkreten Normenkontrolle ist nach Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 80 ff. BVerfGG nur zulässig, wenn ein Gericht ein (formelles und nachkonstitutionellesi) Gesetz für verfassungswidrig hält, auf dessen "Gültigkeit,,2 (Verfassungsmäßigkeit) es bei der Entscheidung des Ausgangsverfahrens ankommt.

A. Problemstellung Die in Betracht kommenden Rechtsfolgen können einmal dann von Bedeutung sein, wenn eine verfassungskonforme Auslegung naheliegt, aber vom vorlegenden Gericht nicht in Erwägung gezogen wurde. Die Richtervorlage ist

I Zu dieser teleologischen Reduktion des Art. 100 Abs. I 00, die das Bundesverfassungsgericht aus dem Zweck des Art. 100 Abs. I 00 folgert, "die Autorität des unter der Herrschaft des Grundgesetzes tätig gewordenen Gesetzgebers zu wahren und zu verhüten, daß sich jedes einzelne Gericht über den Willen des Gesetzes hinwegsetzt, indem es die von ihm erlassenen Gesetze nicht anwendet", vgl. nur BVerfGE 68, 337 (344 f.); 86, 71 (77); Jarass/Pieroth, 00, Art. 100 Rn. 6; nur im Ergebnis zustimmend Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 130. Zu den verschiedenen Zwecken des konkreten Normenkontrollverfahrens noch unten § 4 B m. 2 Die Verwendung des Begriffs der "Gültigkeit" in Art. 100 Abs. 1 00 stellt eines der Auslegungsindizien für den Grundsatz der Ipso-iure-Nichtigkeit dar, siehe oben § 2 C m 3 a. Angesichts der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten "neuen" Rechtsfolgenbestimmungen der Unvereinbarerklärung in ihren verschiedenen Formen muß der Begriff der "Gültigkeit" i.S.d. Art. 100 Abs. 1 00 jedoch als "Verfassungsmäßigkeit" gelesen werden. Ebenso Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 137. Näher noch unten § 4 B, C.

A. Problemstellung

229

dann infolge unzureichender Begründung unzulässig. 3 Um diese Frage soll es hier jedoch nicht gehen. Vielmehr wird hier die Frage untersucht, in welchen Fällen es auf die Verfassungs mäßigkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG im Ausgangsverfahren "ankommt" (sog. Entscheidungserheblichkeit der Verjassungswidrigkeit). Diese Frage wird auf die im Falle der Verfassungswidrigkeit zu erwartenden Rechtsfolgen bezogen. Problematisch sind dabei, wie in der Einleitung4 bereits ausgeführt, insbesondere drei Fälle:

I. Die Nichtigerklärung einer drittbevorzugenden Norm im Falle ihrer Verfassungswidrigkeit5

Die erste Konstellation ist dadurch gekennzeichnet, daß der Kläger des Ausgangs verfahrens tatsächlich oder nach der Einschätzung des Bundesverfas-

3 BVerfGE 85, 329 (333); 86, 71 (77); 88, 187 (194). Im Erg~bnis ebenso Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 137 m.w.N., der jedoch die Uberzeugung des vorlegenden Gerichts von der Verfassungswidrigkeit verneint; dogmatisch zutreffender erscheint es jedoch, von einer unzureichenden Begründung der Verfassungswidrigkeit der Norm auszugehen (§ 80 Abs. 2 S. 1,2. Alt. BVerfGG); wie hier wohl auch Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Anhang § 40 Art. 100 Abs. 1 GG Rn. 28 (tendenziell anders aber ders., Rn. 27). Im Ergebnis anders noch BVerfGE 25, 198 (204). Eine mangelnde Überzeugung des vorlegenden Gerichts von der Verfassungswidrigkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG kommt richtigerweise nur dann in Betracht, wenn dieses selbst die verfassungskonforme Auslegung für möglich hält; zutreffend - und im übrigen kritisch zur "Überspannung" der Anforderungen an die Zulässigkeit der Vorlage - Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 755. 4 Oben § I B. 5 In Rechtsprechung und Literatur hat sich der Begriff des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses eingebürgert. Auch wird häufig das Begriffspaar "Benachteiligung - Begünstigung" verwendet. Der Begriff der Begünstigung wird damit im Sinne von Bevorzugung verwendet und auch etwa auf Steuerbefreiungen oder -privilegien angewendet, vgl. nur BFHE 154, 383 (387); 165, 172 (177); 175,368 (383). Auch das Bundesverfassungsgericht unterscheidet insoweit nicht zwischen Drittbegünstigung und BelastungsbeJreiungen zugunsten Dritter, vgl. exemplarisch BVerfGE 84, 233 (237). Nur aus Praktikabilitätsgründen werden diese Begriffe bei der Auseinandersetzung mit der entsprechenden Rechtsprechung auch im folgenden zugrundegelegt. Jedoch ist stets im Auge zu behalten, daß es bei Aussagen über die Relation zweier Vergleichsgruppen aufgrund einer Ungleichbehandlung - das Verhältnis der Vergleichsgruppen zueinander - um .. Benachteiligungen und Bevorzugungen" geht. Dies ist auch die Terminologie des Grundgesetzes, wie in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG deutlich wird. Dagegen betreffen die Begriffspaare .. Begünstigungen und Belastungen" die Frage, in welchem Rechtsgebiet die Ungleichbehandlung stattfindet. Zum Erfordernis dieser Differenzierung oben § 3 B I 1 a aa und zu den daraus folgenden Unterschieden in den Rechtsschutzmöglichkeiten oben § 3 B lId, e.

230 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

sungsgerichts keine Chance hat, in eine drittbevorzugende Norm einbezogen zu werden. Beispiele: (1) Eine Nonn6 ordnet an, daß die Angaben bestimmter7 Steuerpflichtiger nicht überprüft werden dürfen. (2) Eine Nonn gewährt Steuerpflichtigen, die in der Vergangenheit Steuern hinterzogen haben, eine Vergünstigung als Anreiz für die Rückkehr in die Legalität und stellt diese sowohl von Steuernachzahlungen als auch von Strafe frei. 8 (3) Das Bundesverfassungsgericht geht nach dem "System des Gesetzes" davon aus, daß der Kläger des Ausgangsverfahrens nicht in die Dritten gewährte Privilegierung einbezogen werden kann. 9 (4) Ein Gesetz gewährt einer Vergleichsgruppe eine absolut verfassungswidrige Begünstigung, stellt etwa eine Vergleichsgruppe von dem Genehmigungserfordernis nach Art. 26 Abs. 2 GG frei.

Wäre die Drittbevorzugung verfassungswidrig, würde das Bundesverfassungsgericht in diesen Fällen die verfassungswidrige Drittbevorzugung für nichtig erklären, da es nur eine Möglichkeit zur Herstellung eines verfassungsmäßigen Zustands gibt und die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers daher nicht unzulässig eingeschränkt würde. Der Kläger des Ausgangsverfahrens hätte selbst dann keine Chance auf Verbesserung seiner eigenen Rechtsstellung, wenn das Bundesverfassungsgericht in der Sache tatsächlich einen Verstoß des Gesetzes gegen den Gleichheitssatz annehmen würde. In diesen Fällen sollen sowohl Richtervorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG mangels Entscheidungserheblichkeit der Verfassungsmäßigkeit lO als auch Verfassungsbeschwerden mangels

6 Man könnte hier an die Problematik des § 30a AO (Schutz von Bankkunden bei der steuerrechtlichen Sachverhaltsermittlung) denken. 7 Man kann sich hier alle denkbaren Differenzierungsmöglichkeiten vorstellen, z.B. Anfangsbuchstaben des Nachnamens, Art der Einkünfte o.ä. 8 Vgl. BVerfGE 84, 233 ff.: Weil die Steuerehrlichen, die für die Vergangenheit keinen "Steuererlaß" erhielten, diesen Anreiz zur Rückkehr in die Legalität nicht benötigen würden, sah das Bundesverfassungsgericht keinerlei Chance für eine Einbeziehung in die "Drittbegünstigung". 9Vgl. BVerfGE 23, 242 (254 ff.) - Erste Vermögensteuerentscheidung: Das Bundesverfassungsgericht nahm an, daß Wertpapierbesitzer, deren Vermögensteuer nach realitätsgerechten Werten ermittelt wurde, keine Chance hätten, z.B. infolge eines Bewertungsabschlags dem erheblich günstigeren Besteuerungsniveau der Grundbesitzer, deren Vermögensteuer nach den realitätsfremd niedrigen Einheitswerten bemessen wurde, angeglichen zu werden, also eine Besserstellung zu erreichen. Vgl. zur Kritik an diesen Annahmen oben § 3 B I 1 c cc (2). 10 BVerfGE 84, 233 (237 f.). Vgl. auch BVerfGE 61, 138 (146); 71, 224 (228); 74, 182 (195); 93, 386 (395), wonach es für die Entscheidungserheblichkeit "genügt", daß eine Beanstandung der Norm dem Kläger des Ausgangsverfahrens die Chance offen hält , an einer etwaigen Erweiterung der begünstigenden Regelung durch den Gesetzgeber teilzuhaben. Vgl. zuletzt noch FG Münster EFG 1998, 1647 (1648 f.); dazu Wernsmann, FR 1999,242 ff.

A. Problemstellung

231

Selbstbetroffenheit 11 bzw. mangels Rechtsschutzbedürfnisses 12 unzulässig sein, weil die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch im Fall des Ob siegens des Klägers des Ausgangsverfahrens bzw. des Beschwerdeführers nur zu einer Veränderung der Rechtslage zum Nachteil anderer, nicht jedoch zum eigenen Vorteil führen könne.

11. Gleichheitswidrige Bevorzugung der am Ausgangsverfahren Beteiligten In der zweiten problematischen Konstellation gehört der Kläger des Ausgangsverfahrens der möglicherweise gleichheitswidrig privilegierten Gruppe an.

Beispiel: Frauen erhalten aufgrund eines Gesetzes eine Rente, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen. Männer werden im Gesetz nicht genannt. 13 Die vom Gesetz bevorzugte Frau klagt vor dem Fachgericht auf Gewährung der Rente. Dieses nimmt an, daß die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm vorliegen, hält das Gesetz jedoch wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 2, 3 GG) für verfassungswidrig, da Männer benachteiligt werden. In einem solchen Fall hält das Bundesverfassungsgericht die Vorlage des Fachgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG für unzulässig. In dem Ausgangsverfahren der bevorzugten Frau komme es nicht auf die Frage an, ob das Gesetz wegen Begünstigung nur einer Vergleichsgruppe verfassungswidrig iSt. 14 Denn möglicherweise müsse die Begünstigung auch bei Verfassungswidrigkeit weiter angewendet werden. 15 Eine Vorlage sei nur zulässig, wenn ein Mitglied der benachteiligten Vergleichsgruppe am Ausgangsverfahren beteiligt sei. 16

11 Vgl. BVerfGE 18, 1 (12); 49, 1 (8); zuletzt BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ 1998,52. 12 Vgl. BVerfGE 23, 242 (254 ff.). In dieser Entscheidung wurde freilich im Rahmen der Begründetheit thematisiert, daß der Benachteiligte deshalb keine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungs mäßigkeit einer Norm herbeiführen könne, weil seine Vermögensteuerveranlagung durch die Drittprivilegierung nicht berührt werde. 13 BVerfGE 66,100 (lOS f.). 14 Vgl. BVerfGE 66, 100 (lOS f.); 67, 239 (243 f.). 15 So explizit die Begründung in BVerfGE 66, 100 (lOS). Zum Teil wird die Bezugnahme des Bundesverfassungsgerichts auf die konkret zu erwartenden Rechtsfolgen nur als Darlegungsrüge angesehen, vgl. z.B. Hein, Unvereinbarerklärung, S. 34 f.; Sachs, DVBl. 1985, 1106 (1107); Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 142. Wenn BVerfGE 66, 100 (105) aber rügt, daß sich das Gericht des Ausgangsverfahren "nicht damit auseinandergesetzt" habe, weIche Entscheidung es treffen würde, wenn die von ihm vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken zutreffen würden, und daß "dies nicht schon zwangsläufig zur Nichtigkeit und damit zur völligen Unanwendbarkeit der

232 § 4. Rechtsfolgen der Yerfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

III. Verpflichtung des Gesetzgebers zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes nur pro futuro In der dritten Fallgruppe, in der die Rechtsfolgen des Verfassungsverstoßes eine Rolle spielen, hält das vorlegende Fachgericht die Behandlung des Klägers des Ausgangsverfahrens aufgrund eines in besonderem Maße haushaltswirksamen Gesetzes für verfassungswidrig. Zu denken ist insbesondere an Bestimmungen aus den Bereichen des Besoldungs- und Steuerrechts. Beispiele: (1) Eine Norm gewährt bestimmten Beamten keine amtsangemessene Alimentation, etwa weil sie keine oder zu niedrige kinderbezogene Gehaltsbestandteile gewährt. I? (2) Der Gesetzgeber berücksichtigt nicht das Existenzminimum im Einkommensteuerrecht, so daß auf existenznotwendige Einkommensteile steuerlich zugegriffen wird. 18 (3) Das Vermögensteuergesetz sieht eine Belastung sämtlichen Vermögens mit einem einheitlichen Steuersatz vor. Jedoch werden bei der Besteuerung von Grund und Boden die sog. Einheitswerte zugrundegelegt, während das übrige Vermögen realitätsgerecht bewertet wird. 19

In diesen Fällen geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, daß eine Nichtigerklärung des Gesetzes nicht in Betracht kommt und der Gesetzgeber trotz Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Norm auch nicht zu einer

beanstandeten Regelung führen" würde, so ist in der DarlegungsTÜge auch die Sichtweise dieser Entscheidung enthalten, daß in einem solchen Fall - nämlich der Weiteranwendung der Norm im Falle der Unvereinbarerklärung - die Entscheidungserheblichkeit nicht gegeben sein solle. Zutreffend daher insoweit Aretz, JZ 1984,918 (920). Daß das Bundesverfassungsgericht später inhaltlich anders lautende Entscheidungen zur Frage der Auswirkungen der weiteren Normanwendung auf die Entscheidungserheblichkeit (Nachweise unten § 4 A III) getroffen hat, steht dem nicht entgegen. Das Problem dieser Fallkonstellation, in der aus der - später als unzutreffend erkannten - Rechtsfolgenargumentation Folgerungen gezogen wurden, die bis heute nicht revidiert worden sind, bleibt vielmehr in der Welt. 16 BYerfGE 67, 239 (244). Abweichend aber jetzt implizit BVerfGE 99, 280 (288 f. i.Y.m. 298 ff.). Insoweit hätte gern. § 16 BYerfGG das Plenum angerufen werden müssen, vgl. Wernsmann, FR 1999,242 (247). J7 ygl. BYerfGE 81, 363 ff. IS Ygl. BYerfGE 87, 153 (178 f.): Aufgrund der "Besonderheiten des Steuer- und Haushaltsrechts und der Eigenart des Falles" mußte der verfassungswidrige Zustand (die zu niedrige Bemessung des steuerlichen Existenzminimums) auch für die noch nicht bestands- oder rechtskräftig abgeschlossenen Fälle beseitigt werden. Die Besonderheiten bestanden darin, daß anderenfalls "Steuerfalle in großer Anzahl für viele Kalenderjahre neu aufgerollt und teilweise TÜckabgewickelt werden" müßten, die gegenwärtigen Haushalte mit "SteuererstattungsanspTÜchen von außerordentlicher Höhe" belastet würden und damit die staatliche Finanzplanung gefährdet und die finanzielle Handlungsfahigkeit bedroht wäre. 19Y9l. BYerfGE 93,121 ff.

A. Problemstellung

233

rückwirkenden Beseitigung des für veifassungswidrig erkannten Zustands verpflichtet ist. Für das Besoldungsrecht hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, daß die Alimentation des Beamten der Sache nach Befriedigung eines gegenwärtigen Bedarfs aus gegenwärtig zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln ist und eine verfassungsrechtlich gebotene Besoldungskorrektur sich daher grundsätzlich nur auf denjenigen Zeitraum zu erstrecken brauche, der mit dem Haushaltsjahr beginnt, in dem die Verfassungswidrigkeit der bisherigen Regelung verfassungsgerichtlich festgestellt worden ist. 20

Spiegelbildlich argumentiert das Bundesverfassungsgericht bei Normen des Steuerrechts: Dem Einkommensteuerrecht komme die Aufgabe zu, den gegenwärtigen Finanzbedarf der öffentlichen Haushalte durch Teilhabe am jeweiligen Gegenwartseinkommen der Steuerpflichtigen zu decken. 21 Das bedeutet aber, daß die Frage der Verfassungsmäßigkeit der jeweiligen Norm in dem Ausgangsveifahren, das regelmäßig einen schon längere Zeit zurückliegenden Zeitraum betrifft, keine Rolle spielt. Selbst bei Verfassungs widrigkeit der fraglichen Norm ist das Ausgangsverfahren nicht anders zu entscheiden als bei Verfassungsmäßigkeit der Norm, da für die Vergangenheit alles beim alten bleibt, auch wenn die Rechtslage verfassungswidrig wäre. Dennoch hält das Bundesverfassungsgericht die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Norm im Ausgangs verfahren für entscheidungserheblich. 22 Insofern fällt bereits auf, daß dieses Ergebnis der Begründung des Ergebnisses in Konstellation § 4 A II widerspricht, in der das Bundesverfassungsgericht gerade aus der weiteren Anwendung des Gesetzes auch im Falle der Verfassungswidrigkeit zugunsten der bisher Begünstigten die mangelnde Entscheidungserheblichkeit im Ausgangsverfahren gefolgert hat. 23 Auch in anderen Entscheidungen 24 hält das Bundesver-

20 So

BVerfGE 81, 363 (Leitsatz 2 und S. 384 ff.). So BVerfGE 87, 153 (179); ähnlich BVerfGE 93, 121 (148) für die Vermögensteuer und BVerfGE 93, 165 (178) für die Erbschaftsteuer unter Bezugnahme auf die Erfordernisse einer "verläßlichen Finanz- und Haushaltsplanung ... für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung". - Auch BVerfGE 96, 1 (7) sieht die Aufgabe des Einkommensteuerrechts in der Deckung gegenwärtigen staatlichen Finanzbedarfs. In der letztgenannten Entscheidung erscheinen diese Ausführungen allerdings nicht im Zusammenhang mit der Rechtfertigung abweichender Rechtsfolgenbestimmungen durch das Bundesverfassungsgericht. 22 So explizit (ohne Begründung) BVerfGE 72, 51 (62); 87, 153 (180) - dort wird diese Zulässigkeitsfrage am Ende der Begründetheit nachgeschoben; 93, 121 (131). 23 BVerfGE 66,100 (105). 24 BVerfGE 79, 245 ff. Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein Versorgungsstatut bestimmte, daß Arztwitwen nur dann eine Witwenrente erhielten, wenn die Ehe vor dem 65. Lebensjahr des Mitglieds geschlossen wurde. Das Versorgungsstatut beruhte auf einem formellen Gesetz, das das vorlegende Gericht für verfassungsrechtlich unzureichend hielt, weil der Parlamentsgesetzgeber die grundlegenden Fragen nicht selbst geregelt habe. Das vorlegende Gericht hielt die Frage der Verfassungsmäßigkeit des formellen Gesetzes für entscheidungserheblich, weil die Klage bei 21

234 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

fassungs gericht die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Ermächtigungsgrundlagen (formellen Gesetzen) nur für entscheidungserheblich, wenn untergesetzliche Normen, die auf einer verfassungsrechtlich unzulänglichen Ermächtigungsgrundlage beruhen, "nichtig und damit unanwendbar,,25 sind. Sei zur Vermeidung eines rechtlosen Zustands von deren übergangs weiser Fortgeltung 26 auszugehen, sei die Frage der Verfassungsmäßigkeit nicht entscheidungserheblich. 27 Anhand einer Auslegung des Art. 100 Abs. I GG und unter Berücksichtigung der im Ersten Teil behandelten Fragen zu den Rechtsfolgen verfassungswidriger Gesetze wird im folgenden untersucht, wie diese problematischen Konstellationen sachgerecht zu lösen sind. Generell wird in der Literatur28 Kritik an der Überhöhung der Zulässigkeitshürden durch das Bundesverfassungsgericht laut. Die Arbeitsbelastung des Bundesverfassungsgerichts darf nicht dazu führen, Restriktionen zu deren Senkung einzuführen, wenn diese Hürden weder (verfassungs-) gesetzlich vorgesehen noch sonst gerechtfertigt und sachlich begründbar sind. 29

Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes als unbegründet abzuweisen sei und bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes das Verfahren bis zu einer Neuregelung des Gesetzes und ggf. des Versorgungsstatuts auszusetzen sei. 25 BVerfGE 79, 245 (250). 26 Im entschiedenen Fall nahm das Bundesverfassungsgericht dies an, da eine "funktionsfähige Witwenversorgung" gewährleistet sein müsse, vgl. BVerfGE 79, 245 (251). 27 So BVerfGE 79,245 (251 0. 28Vgl. allgemein nur BendalKlein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 794: "Anforderungen des BVerfG überzogen (und) übersteigert"; Ehlers, in: Schoch! Schmidt-AßmannlPietzner, VwGO, § 40 Anhang Art. 100 Abs. 1 GO Rn. 42; Klein, in: Umbach!Clemens, BVerfGG, § 80 Rn. 38; Löwer, HStR II, § 56 Rn. 67; Seer, in: Tipke/ Lang, Steuerrecht, § 23 Rn. 281 Fn. 205; Stern, Staatsrecht IIII2, § 91 II 3 b (S. 1263); Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1398 mit Fn. 79. Kritisch auch BFHE 154, 383 (386 f.); 165, 172 (176 ff.); 175, 368 (383 f.). Warnend vor der Gefahr eines "Leerlaufens" des Art. 100 Abs. 1 GO durch die "Überstrapazierung" der Anforderungen an einen Vorlagebeschluß auch schon Stern, AöR 91 (1966), 223 (232) m.w.N. Zur Einzelkritik noch unten § 4 C. m.w.N. 29 Dagegen nimmt Vogel, DStJG 12 (1989), 123 (133) an, daß die "Arbeitsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts ein eigenes schützenswertes Verfassungs gut" sei und die Maxime "fiat iustitia, pereat curia" kein verfassungsrechtlich vertretbares Prinzip sei. Deshalb könne es gerechtfertigt sein, wenn das Gericht in minder wichtigen Fragen Zurückhaltung übe, um sich "für seine wichtigeren Aufgaben freizuhalten." Dies provoziert indes den Einwand, daß die Annahme von Richtervorlagen nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt ist. Außerdem wirft dies Fragen auf, wonach sich die "Wichtigkeit" der Aufgaben richtet. Sind vermögensrechtliche Fragen wichtiger als immaterielle? Oder umgekehrt? Sind staatsorganisationsrechtliche Fragen wichtiger als Individualrechtsbehelfe? Sind Fragen mit großer Breitenwirkung (z.B. die Besteuerung des Existenzminimums bei allen Steuerpflichtigen) wichtiger als Fragen, die nur eine Minderheit betreffen, diese aber unverhältnismäßig hart? Vogel ist zuzustimmen, wenn er die Arbeitsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts als ein schützenswertes Verfassungs gut be-

B. Bestimmung des Begriffs der Entscheidungserheblichkeit

235

B. Bestimmung des Begriffs der Entscheidungserheblichkeit Es kommt dann nach Art. 100 Abs. 1 GG auf die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes bei der Entscheidung des Ausgangsverfahrens an, wenn das Gericht im Ausgangsverfahren bei Verfassungsmäßigkeit der Norm anders entscheiden müßte als bei deren Verfassungswidrigkeit. 3o Im folgenden wird zunächst die historische Entwicklung der richterlichen Überprüfung von Gesetzen unter dem Aspekt dargestellt, unter welchen Voraussetzungen die Gerichte sich zur Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes äußerten (1.). Dann wird die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Ausfüllung des Begriffs der Entscheidungserheblichkeit nachgezeichnet, soweit sie die eingangs genannten Problemfälle betrifft (11.). Schließlich wird anhand der Funktion und des Charakters der konkreten Normenkontrolle überprüft, wie die eingangs skizzierten Problemfälle zu behandeln sind (III.).

I. Historische Entwicklung: Die Etablierung der richterlichen Normenkontrolle in der Rechtsprechung der Weimarer Republik Die Weimarer Reichsverfassung vom 11.8.1919 enthielt keine Bestimmung über das sog. richterliche Prüfungsrecht. Die Frage, ob Gerichte befugt seien, Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung zu prüfen, und welche Konsequenzen sich nach Inanspruchnahme des richterlichen Prüfungsrechts aus der Bejahung eines Verfassungsverstoßes im konkreten Fall ergeben hätten, war zwar im Verfassungsausschuß der verfassunggebenden Nationalversammlung ausführlich diskutiert worden, aber mangels Konsens offengelassen worden. 31 Geregelt war jedoch in Art. 13 Abs. 2 WRV ein abstraktes 32 Normenkontrollzeichnet. Allein die Kapazitätsprobleme sind aber nie geeignet, Ungleichbehandlungen zu rechtfertigen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach für den Finanzbedarf des Staates oder die Dringlichkeit einer Haushaltssanierung entschieden, gilt aber ebenso für die Zulassung zu öffentlichen Einrichtungen u.a. Die Differenzierung muß vielmehr nach sachgerechten Kriterien erfolgen. 30 St. Rspr., vgl. nur BVerfGE 7, 171 (174); 22, 175 (176 f.); 72, 51 (60); 84, 233 (237). Ebenso Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 515; Erichsen, Jura 1982, 88 (92); JarasslPieroth, GG, Art. 100 Rn. 11. - Dazu, daß der Begriff der "Gültigkeit" angesichts der später entwickelten Tenorierungsformen außerhalb der Nichtigerklärung verfassungswidriger Gesetze als "Verfassungsmäßigkeit" zu lesen ist, vgl. oben § 4 Fn. 2. 31 Vgl. die Verhandlungen der verfassunggebenden Nationalversammlung, Band 336, Aktenstück Nr. 391, S. 483 ff.; weitere Nachweise bei Maurer, DÖV 1963, 683 (683 Fn.2). 32 Antragsberechtigt waren nach Art. 13 Abs. 2 WRV nur die zuständige Reichs- oder Landeszentralbehörde, näher Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 101 ff.

236 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

verfahren, in dem ein oberster Gerichtshof des Reichs (Reichsgericht oder Reichsfinanzhof) die Vereinbarkeit einer landesrechtlichen Vorschrift mit dem Reichsrecht überprüfen konnte (und auf Antrag der Antragsberechtigten mußte). Angesichts des schon bei Beratung der WRV bestehenden Dissenses verwundert es nicht, daß die Frage des richterlichen Prüfungsrechts zu einer der umstrittensten verfassungsrechtlichen Fragen der Weimarer Republik avancierte33 und die Literatur zu diesem Komplex als fast unüberschaubar34 bezeichnet wurde. An dieser Stelle können nicht die widerstreitenden Positionen und ihre Argumente für und gegen das richterliche Prüfungsrecht nachgezeichnet werden. 35 In diesem Rahmen soll der Blick nur auf die Konsequenzen gelenkt werden, die sich aus einem Verfassungs verstoß des Gesetzes für den Prozeß ergaben, in dem dessen Verfassungsmäßigkeit in Rede stand. In der WRV gab es keine Norm, die das richterliche Prüfungsreche6 ausdrücklich geregelt hätte. Damit gab es auch keine Norm, die einem bestimmten Gericht das Verwerfungsmonopol eingeräumt hätte. Nachdem die Gerichte nach und nach ein richterliches Prüfungsrecht bejahten, überprüften die Fachgerichte daher selbst die von ihnen anzuwendenden Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin. Der RFH beschäftigte sich als erstes Gericht mit dem richterlichen Prüfungsrecht unter der WRV. 37 Er formulierte: "Will man auch das Recht und die Pflicht der Gerichte, ... die von ihnen anzuwendenden Reichsgesetze auf ihr ordnungsmäßiges Zustandekommen sowie auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfen, anerkennen, so kann eine solche Prüfung doch nicht zur Verneinung der verbindlichen Kraft der genannten Reichsgesetze führen.',18

33 Ablehnend dazu etwa Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 108 m.w.N. auch der Gegenauffassung; befürwortend z.B. Thoma, AöR 43 (4 n.F.) (1922), 267 (285 f.). 34 Vgl. Maurer, DÖV 1963,683 (684). 3S Dazu etwa Gusy, Richterliches Prüfungsrecht, S. 74 ff.; Maurer, DÖV 1963, 683 ff. 36 Dieser Ausdruck ist, worauf schon Maurer, DÖV 1963, 683 (684) m.w.N. hinweist, in zweifacher Hinsicht ungenau: Erstens handelt es sich nicht um ein (subjektives) Recht, sondern um eine Zuständigkeit, und zweitens umfaßte das "Prüfungs-"Recht nicht nur das Recht zur Prüfung auf seine Verfassungsmäßigkeit, sondern auch das Recht zur Verwerfung. Unter der Geltung des Art. 100 Abs. 1 GG steht dagegen den Fachgerichten nur das "Prüfungsrecht" zu, zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit und ggf. Nichtigerklärung (Verwerfung) ist hingegen nur das Bundesverfassungsgericht befugt. 37 RFHE 5, 333. 38 RFHE 5, 333 (334).

B. Bestimmung des Begriffs der EntscheidungserhebJichkeit

237

Dem wurde allgemein39 eine nicht bloß hypothetische, sondern uneingeschränkte Bejahung des richterlichen Prüfungsrechts entnommen. Für diese Sichtweise spricht nicht nur die Bedeutung, die einer derartigen Äußerung zu.. kommen mußte ,sondern auch der Gesamtzusammenhang seiner Außerungen mit Leitsatz und genau beschriebenen Einschränkungen der ,,richterlichen Nachprüfung", soweit Entscheidungen des Gesetzgebers "von Erwägungen praktischer Politik abhängig,,41 seien. Im Ergebnis hielt der RFH sowohl die Reichsabgabenordnung als auch das Gesetz über eine Kriegsabgabe vom Vermögenszuwachse für formell und materiell verfassungsgemäß. ~

Aus den Ausführungen des RFH ergibt sich42 auch, welche Rechtsfolge die Annahme der Verfassungswidrigkeit der geprüften Steuergesetze gehabt hätte: Indem der RFH feststellt, daß der Beschwerdeführer die Rechtsgültigkeit der Vorschriften zu Unrecht bestreite 43 und daß die "verbindliche Kraft der genannten Reichsgesetze" zu bejahen sei, gibt er zu erkennen, daß er diese im Falle ihrer Verfassungswidrigkeit für nichtig gehalten hätte. Indem er den Gerichten das Recht zugesteht, die von ihnen anzuwendenden Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen,44 weist er darauf hin, daß er die Gesetze im Falle ihrer Verfassungswidrigkeit "außer Anwendung gelassen" hätte. Im Jahre 1924 wurde ein Reichsgesetz in einer Gerichtsentscheidung erstmals für verfassungswidrig gehalten. Das Reichsversorgungsgericht hielt die Rechtsgarantie der Beamten gern. Art. 129 Abs. 1 S. 3 WRV für unantastbar. Soweit ein Gesetz den Beamten verbürgte Rechte entziehen wollte, bezeichnete das Reichsversorgungsgericht das Gesetz als nichtig und ließ es außer Anwendung. 45 Den entscheidenden Durchbruch für das richterliche Prüfungsrecht stellte schließlich eine Entscheidung des Reichsgerichts dar. In dieser Entscheidung 46 prüfte das RG die Verfassungsmäßigkeit des Aufwertungsgesetzes u.a. am Maßstab der Eigentumsgarantie des Art. 153 WRV. Für den vorliegenden Zusammenhang bedeutsam sind insbesondere die Feststellungen des RG, daß die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes und damit die ,,Rechtsgültigkeit" "Vorausset-

39 Hensel, AöR 45 (Bd. 6 n.F.) (1924), 311 (332; 331 Fn. 11 a.E.); ebenso Gusy, Richterliches Prüfungsrecht, S. 80; Maurer, DÖV 1963,683 (688 Fn. 77). 40 Vgl. Hensel, AöR 45 (Bd. 6 n.F.) (1924), 311 (332; 331 Fn. 11 a.E.). 41 RFHE 5, 333 (335). 42 Entgegen Gusy, Richterliches Prüfungsrecht, S. 80 f. 43 RFHE 5, 333 (334). Hervorhebung nur hier. 44 RFHE 5, 333 (334). Hervorhebung nur hier. 45 Reichsversorgungsgericht (Großer Senat) v. 21.10.1924, DJZ 1925, 99 und 332 (333), mitgeteilt von Graßhoff; vgl. dazu Maurer, DÖV 1963,683 (684). 46 RGZ 111,320.

238 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

zung für die Anwendung" des Gesetzes sei 47 und die verfassungswidrigen Vorschriften außer Anwendung zu lassen seien. 48 Aus den genannten Entscheidungen ergibt sich, daß verfassungswidrige Gesetze unter der WRV für nichtig (oder synonym: rechtsungültig) gehalten wurden und daß diese deshalb in dem von den Gerichten zu entscheidenden Prozeß "außer Anwendung gelassen" wurden. Dem Verständnis in der Weimarer Zeit lag also das Dogma der Ipso-iure-Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze zugrunde. Das Außeranwendunglassen der verfassungswidrigen Vorschrift stellte sich als Folge der Nichtigkeit der verfassungswidrigen Vorschrift dar. 49 Der Begriff des "Außeranwendunglassens" verdeutlicht, daß das Gericht nur inzident über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes und damit dessen Gültigkeit entscheiden konnte. Die Beurteilung eines Gesetzes als nichtig wirkte nur für den konkreten Fall, nicht aber mit Wirkung inter omnes. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Nichtigkeit die einzig denkbare und bekannte Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Vorschrift war. War eine Norm verfassungswidrig und damit nichtig, so wurde sie im konkreten Verfahren außer Anwendung gelassen. Die Probleme, die sich daraus ergeben, daß der Kläger sein regelmäßiges Rechtsschutzziel - die Verbesserung der eigenen Rechtsposition - mit der Nichtigerklärung einer gleichheitswidrigen drittbegünstigenden Norm des Leistungsrechts nicht erreichen kann, traten unter der WRV noch nicht auf. Dies hängt damit zusammen, daß im problematischen Bereich des Gleichheitssatzes ohnehin unklar war, ob der Gleichheitssatz sich auch an den Gesetzgeber richtet und Rechtssetzungsgleichheit verbürgt50, daß das Leistungsrecht ohnehin weit weniger stark ausgeprägt war und daß das richterliche Prüfungsrecht selbst zunächst noch nicht auf festem Grund stand. Die Frage der Verfassungswidrigkeit einer Norm war dementsprechend in einem Verfahren entscheidungserheblich, wenn die gerichtliche Entscheidung bei Nichtanwendung der Norm anders ausfiel als im Falle ihrer Anwendung. Wie oben ausgeführt, hatte diese Vorstellungen auch der Verfassungsgeber vor Augen, wie etwa an der Verwendung des Begriffs der "Gültigkeit" eines Gesetzes in Art. 100 Abs. 1 GG deutlich wird. 51

RGZ 111, 320 (322). RGZ 111,320 (323). 49 Vgl. auch Maurer, DÖV 1963,683. 50Vgl. dazu nur Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 357 ff. m.w.N. Zur Entwicklung unter der WRV Hesse, AöR 109 (1984), 174 (175 ff.) m.w.N. 51 Näher oben § 2 C III 3 a. 47 48

B. Bestimmung des Begriffs der Entscheidungserheblichkeit

239

11. Die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG 1. Die anfängliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die anfängliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidungserheblichkeit der Verfassungsmäßigkeit einer Norm (Art. 100 Abs. 1 GG) ist zum einen dadurch gekennzeichnet, daß sich das Bundesverfassungsgericht - auch bei Gleichheitsverstößen - strikt an dem Dogma der Ipso-iureNichtigkeit orientierte. Zum anderen fällt in den Anfangsjahren des Bundesverfassungsgerichts eine deutliche Berücksichtigung der Gesetzestechnik bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Richtervorlagen auf, wenn Gleichheitsverstöße gerügt worden waren. Dies führte zu erheblichen Rechtsschutzlücken im Bereich des Gleichheitssatzes, die jedoch durch spätere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts teilweise geschlossen wurden. Im folgenden wird zunächst die anfängliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidungserheblichkeit der Frage, ob ein Gesetz gegen den Gleichheitssatz verstößt, im Ausgangsverfahren dargestellt.

a) Entscheidungserheblichkeit von (den Kläger des Ausgangsveifahrens) ungleich belastenden Normen Wenig problematisch war bei Zugrundelegung des Dogmas der Ipso-iureNichtigkeit die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. I GG, wenn ein Gesetz eine Vergleichsgruppe ungleich belastete und ein Mitglied dieser Gruppe sich in dem Ausgangsverfahren gegen die ihm auferlegte Belastung wehrte. Lag ein Verstoß gegen Art. 3 GG vor, konnte das den Kläger des Ausgangsverfahrens ungleich belastende Gesetz für nichtig erklärt werden. 52 Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers wird in diesen Fällen durch eine verfassungsgerichtliche Nichtigerklärung der gleichheitswidrig belastenden Norm durch das Bundesverfassungsgericht nicht unzulässig eingeschränkt, da dem Gesetzgeber jede neue Gestaltungsmöglichkeit offen bleibt. 53 Da in diesen Fällen auch das Rechtsschutzziel der Benachteiligten (nämlich die Abwehr der Belastung) mit einer Nichtigerklärung erreicht werden kann, ist im Bereich gleichheitswidrig auferlegter Belastungen für eine Unvereinbarerklärung mit

52 Sehr 53

deutlich BVerfGE 8,28 (37). Zutreffend BVerfGE 8, 28 (37).

240 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

Anwendungssperre kein Raum. 54 Insofern ist der älteren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zuzustimmen. Soweit spätere Entscheidungen die Tenorierung der Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre unter Bezugnahme auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers teilweise auch auf ungleich belastende Normen anwenden, 55 verwischt dies die Wurzeln der Unvereinbarerklärung, die auf der Rechtsschutzperspektive der bisher nicht begünstigten Vergleichsgruppe beruht. 56 Für die Frage der Entscheidungserheblichkeit i.S.d. Art. 100 Abs. 1 GG gilt, daß das Gericht im Falle der Nichtigkeit der Norm anders zu entscheiden hätte als bei deren Gültigkeit. Bei Nichtigkeit der gleichheitswidrig belastenden Norm wäre der Klage gegen die Belastung stattzugeben, bei Gültigkeit wäre die Klage abzuweisen. 57

b) Entscheidungserheblichkeit drittbegünstigender Normen (Rechtsschutz gegen Begünstigungsausschlüsse ) Probleme bereitete der anfänglichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dagegen die Entscheidungserheblichkeit der Verfassungsmäßigkeit einer Norm, wenn begünstigende Gesetze von der benachteiligten Gruppe im Ausgangsverfahren als gleichheitswidrig gerügt wurden. Klagte im Ausgangsverfahren ein Mitglied der nicht begünstigten Gruppe auf Einbeziehung in die Dritten gewährte Begünstigung, sollte es nach der anfänglichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Ausgangsverfahren nicht nach Art. 100 Abs. 1 GG auf die Verfassungsmäßigkeit der Norm ankommen. Begründet wurde dies damit, daß im Falle der Verfassungsmäßigkeit die Klage der Nichtbegünstigten abzuweisen sei, aber auch bei Nichtigerklärung der Norm infolge Gleichheitsverstoßes die für die Klage in Betracht kommende Anspruchsgrundlage entfiele. 58 Da die Klage des Nichtbegünstigten somit so-

54 Dies

bestätigt die oben § 3 B I 1 b cc gemachten Ausführungen. Nachweise oben § 3 B I 1 b bb. 56 Dazu oben § 3 B 11 a cc (3). 57 Vgl. exemplarisch BVerfGE 9, 291 (294) betreffend die Heranziehung zu einem Feuerwehrbeitrag, gegen die sich die Kläger des Ausgangsverfahrens (Schwerkriegsbeschädigte) mit der Begründung wehrten, gegenüber anderen ebenfalls nicht feuerwehrdienstpflichtigen Personen (z.B. Frauen lIJId über 60-jährigen Männem) ungleich belastet zu werden. 58 Erstmals BVerfGE 8, 28 (32 f. und 35 f. sub B 3 a) zu Fragen des Besoldungsrechts (Leistungsrechts). Ebenso BVerfGE 9, 250 (254 f.) zu Fragen der Veranlagungsart im Einkommensteuerrecht, die das Bundesverfassungsgericht als begünstigend bezeichnete; BVerfGE 14,308 (311 f.) und BVerfGE 15, 121 (125 f.) jeweils zu Fragen 55

B. Bestimmung des Begriffs der Entscheidungserheblichkeit

241

wohl bei Verfassungsmäßigkeit als auch bei Verfassungswidrigkeit der Norm abzuweisen sei, komme es im Ausgangsverfahren nicht auf die Verfassungsmäßigkeit der Norm an. Der Argumentationsweg des Bundesverfassungsgerichts soll anhand folgenden Beispiels nachgezeichnet werden: 59 Eine Norm gewährte den "nach diesem Gesetz beitragspflichtigen Unternehmern, die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes das 51. Lebensjahr vollendet haben," unter bestimmten weiteren Voraussetzungen Altersgeld. Der Kläger des Ausgangsverfahrens vor dem Sozialgericht war jedoch beitragsfrei, da er schon Altersrente bezog. Das vorlegende Sozialgericht hielt die Beschränkung der Altersgeldgewährung nach der fraglichen Norm auf beitragspflichtige Unternehmer für gleichheitswidrig. Das Bundesverfassungsgericht verneinte die Entscheidungserheblichkeit der Verfassungsmäßigkeit der Norm. Sei die Norm mit dem Gleichheitssatz vereinbar, sei die Klage abzuweisen, da der Kläger nicht die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm erfülle. Sei die Norm infolge des Gleichheitsverstoßes nichtig60 , sei die Klage ebenfalls unbegründet, da es dann an einer Rechtsgrundlage fehle, aufgrund deren das vorlegende Gericht der Klage stattgeben könne. Ein Erfolg der Klage im Ausgangsverfahren sei nur dann denkbar, wenn lediglich der den Kreis der Begünstigten einschränkende Satzteil "nach diesem Gesetz beitragspflichtige" für nichtig erklärt würde (Teilnichtigerklärung). Eine solche Teilnichtigerklärung komme jedoch nicht in Betracht, da das Bundesverfassungsgericht durch Ausdehnung des Kreises der Begünstigten unzulässig in die Entschließungsfreiheit des Gesetzgebers eingreifen würde. Eine Verengung der Handlungsalternativen des Gesetzgebers auf nur eine Möglichkeit bestehe im zu entscheidenden Fall jedoch nicht. Nur in diesem Falle könne das Bundesverfassungsgericht aber selbst gestaltend tätig werden und die Begünstigung auf bisher Nichtbegünstigte ausdehnen. 61

des Rentenrechts (Sozialrechts). Zustimmend Erichsen, Jura 1982, 88 (92 und 94 mit Fn. 77) und Stern, AöR 91 (1966),223 (246), der sich auf BVerfGE 8, 28 (35) bezieht und in diesem Zusammenhang ein "Unterlassen" (sc. der Einbeziehung in die Begünstigung) im Rahmen des Art. 100 Abs. I GG für nicht vorlagefahig hält. 59 Nach BVerfGE 15, 121 ff. Ähnliche Problematik betreffend die Zulässigkeit der konkreten Normenkontrolle in BVerfGE 8, 28 ff.; 9, 250 ff.; 14,308 ff. 6OVgl. BVerfGE 15, 121 (125). Auch in BVerfGE 14, 308 (311) spiegelt sich deutlich die Betonung des Dogmas der Ipso-iure-Nichtigkeit, wenn von "verfassungswidrig und damit nichtig" gesprochen wird. Die bloße Feststellung der Verfassungswidrigkeit war einem "Unterlassen" des Gesetzgebers vorbehalten, vgl. deutlich BVerfGE 8, 28 (37), wo als alternative in Betracht kommende Entscheidungsvarianten die Nichtigerklärung der begünstigenden Vorschrift oder die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des "Unterlassens" genannt werden. 61 Vgl. BVerfGE 15, 121 (125 f.). In der Sache ebenso bereits BVerfGE 8, 28 (32 ff.); 9, 250 (254 f.); 14, 308 (311 f.). 16 Wernsmann

242 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

Gleichheitsverstöße konnten damit bei Begünstigungen grundsätzlich nicht zum Gegenstand konkreter Normenkontrollverfahren gemacht werden. Eng begrenzte Ausnahmen ließ das Bundesverfassungsgericht anfanglich nur insoweit zu, als (1) eine Teilnichtigerklärung gesetzestechnisch möglich war, die den Kreis der Begünstigten um die bisher nicht begünstigte Vergleichsgruppe erweiterte,62 und (2) mit dieser Erweiterung des Kreises der Begünstigten nicht unzulässig in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eingegriffen wurde. Letzteres war nur dann der Fall, wenn (nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts) mit Sicherheit anzunehmen war, daß der hypothetische Wille des Gesetzgebers im Falle der Verfassungswidrigkeit der bestehenden Regelung auf Einbeziehung der bisher nicht berücksichtigten Personen gerichtet war. Dies nahm das Bundesverfassungsgericht dann an, wenn der Gesetzgeber ein Regelungssystern geschaffen hat, an dem er erkennbar festhalten will,63 oder wenn ein konkreter Verfassungsauftrag die Beseitigung der Ausnahme fordert. 64 Die Schwächen dieses Vorgehens lagen zum einen darin, daß der Umfang der Überprütbarkeit von Gleichheitsverstößen von der Gesetzestechnik abhängig gemacht wurde. Dagegen spricht, daß die Gesetzestechnik häufig von Zufällen abhängt und somit kein geeignetes Kriterium für die Eröffnung von Rechtsschutz darstellen kann65 ; außerdem wäre es dem Bindungsadressaten nämlich dem Gesetzgeber - sogar möglich, selbst über den Umfang der prozessualen Überprütbarkeit seines Handeins zu entscheiden. Zum anderen ist die Ermittlung des hypothetischen Willens des Gesetzgebers durch das Bundesverfassungsgericht immer mit Schwächen behaftet. 66 Liegt ein Verfassungsauftrag vor oder verlangt eine Verfassungsbestimmung absolut - d.h. unabhängig von der Behandlung einer Vergleichsgruppe - die Begünstigung der auch der bisher Nichtbegünstigten, so ist ohnehin nicht der hypothetische Wille des Gesetzgebers maßgeblich, sondern folgt die Pflicht zur Begünstigung auch der bisher Nichtbegünstigten unmittelbar aus der Verfassung, und zwar unabhängig von

62 Es mußte also der Fall eines ausdrücklichen Begünstigungsausschlusses vorliegen, da nur insoweit eine Erweiterung des Kreises der Begünstigten in Betracht kam. Vgl. dazu oben § 3 B I I a bb (1), cc. 63 BVerfGE 21, 329 (337 f.); 22, 163 (174 f.); 29, 283 (303); 55, \00 (\ 13 f.). Vgl. dazu auch Dürig, in: MaunzIDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 367, der vom ,.zu-EndeDenken" des Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht spricht, sowie Pierothl Schlink, Grundrechte, Rn. 536. 64 BVerfGE 22,349 (361 f.) m.w.N.; PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 535. 65 Kritisch zur Differenzierung nach gesetzestechnischen Gesichtspunkten auch Dürig, in: MaunzIDürig, 00, Art. 3 Abs. I Rn. 356, 360. Vgl. ferner oben § 3 B I I c bb

(3).

66Vgl. dazu bereits oben § 3 B 11 c cc (2) exemplarisch zur Argumentation der Vermögensteuerentscheidung aus dem Jahre 1968 (BVerfGE 23, 242 ff.).

B. Bestimmung des Begriffs de~ Entscheidungserheblichkeit

243

der Behandlung der Vergleichs gruppe. Ein Gleichheitsproblem liegt somit nicht vor. 67

c) Entscheidungserheblichkeit von (den Kläger des Ausgangsverfahrens)

begünstigenden Normen Ausgehend von dem Prinzip der Ipso-iure-Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze war nach älteren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Frage der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes im Ausgangsverfahren auch dann nach Art. 100 Abs. 1 GG entscheidungserheblich, wenn das möglicherweise verfassungswidrige Gesetz den Beteiligten des Ausgangsverfahrens begünstigte. Dieses Ergebnis resultierte zwangsläufig aus der Grundannahme, daß verfassungswidrige Nonnen nichtig seien. War das (begünstigende) Gesetz nichtig, so kam der vom Gesetz Begünstigte nicht in den Genuß der Begünstigung. Daher war bei Verfassungswidrigkeit der begünstigenden Nonn eine andere Entscheidung zu treffen als bei Verfassungsmäßigkeit der Nonn. So entschied das Bundesverfassungsgericht, daß die Verfassungsmäßigkeit eines Straffreiheitsgesetzes in dem zugrundeliegenden Strafverfahren entscheidungserheblich sei,68 Dagegen hat das Bundesverfassungsgericht in späteren Entscheidungen entschieden, daß eine Vorlage zu gleichheitsrechtlichen Fragen mangels Entscheidungserheblichkeit unzulässig ist, wenn über die Verfassungsmäßigkeit einer Nonn nicht aus Anlaß einer geltend gemachten Benachteiligung eines Beteiligten des Ausgangsverfahrens zu entscheiden ist. 69 In Verfahren der Begünstigten soll es also insoweit an der Entscheidungserheblichkeit der Verfassungsmäßigkeit fehlen. Dieses Ergebnis wurde entscheidend mit den Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit begründet. 70

67 So auch Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 535, die den Gleichheitssatz in dieser Konstellation als unergiebig bezeichnen. 68 BVerfGE 2, 213 (218). Inhaltlich ging es um die nach Ansicht des vorlegenden Amtsgerichts fehlende Gesetzgebungskompetenz des Bundes. 69 BVerfGE 66, 100 (lOS ff.); 67, 239 (243 f.). Anders jetzt aber implizit BVerfGE 99.280 (288 f. LV.m. 298 ff.). 70 Dazu oben § 4 A II.

16·

244 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

d) Zusammenfassung Das Bundesverfassungsgericht ging anfänglich in Anknüpfung an die Tradition der Zeit der Weimarer Republik 7l und in Übereinstimmung mit den Vorstellungen der Verfassungsgeber (vgl. Art. 100 Abs. 1 GG: "Gültigkeit") sowie Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 78 S. 1 BVerfGG72 von der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze aus, gleichgültig, gegen welche Verfassungsbestimmungen das geprüfte Gesetz verstieß. Für die Prüfung der Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG bedeutete dies, daß das vorlegende Gericht Gleichheitsverstöße rügen konnte, sofern das Gesetz den Kläger ungleich belastete. 73 Ebenso kam es im Ausgangsverfahren auf die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes an, wenn das Gesetz, das das vorlegende Gericht für verfassungswidrig hielt, den Beteiligten des Ausgangsverfahrens begünstigte. 74 Probleme ergaben sich bei Zugrundelegung der Prämisse von der Nichtigkeit veifassungswidriger Gesetze jedoch bei der Prüfung der Entscheidungserheblichkeit in den Fällen, in denen Personen im Ausgangsverfahren die Einbeziehung in eine Begünstigung erstrebten, die das Gesetz nur Dritten gewährte. 75 So kam es nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts auf die Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Bestimmungen im Ausgangsverfahren nicht an, wenn die Klage bei Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift mangels Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen durch den Kläger abzuweisen sei, aber auch bei Nichtigkeit der Norm, die das Bundesverfassungsgericht als zwingende Rechtsfolge aus der Verfassungswidrigkeit folgerte. die Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers entfiele. Gleichheitsverstöße durch Begünstigungsausschlüsse konnten damit grundSätzlich nicht zum Gegenstand konkreter Normenkontrollverfahren gemacht werden.

2. Spätere Erweiterungen der Vorlagemöglichkeiten im Bereich gleichheitswidriger Begünstigungsausschlüsse Diese Rechtsschutzlücke im Bereich sog. gleichheitswidriger Begünstigungsausschlüsse 76 zum Nachteil der bisher Nichtbegünstigten schloß das BundesVgl. Maurer. DÖV 1963.683 m.w.N. dazu ausführlich oben § 2 C III 3 a. 73 Oben § 4 BIll a. 74 Oben § 4 BIll c. 75 Oben § 4 BIll b. 76 Vgl. Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts. Rn. 783; Rinken, in: Altemativkomrnentar zum GG. Art. 100 Rn. 11; Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht. Rn. 141. 71

72 V gl.

B. Bestimmung des Begriffs der Entscheidungserheblichkeit

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verfassungs gericht in späteren Entscheidungen. Die Grundannahme, daß es nur dann auf die Verfassungsmäßigkeit der Norm bei der Entscheidung des Ausgangsverfahrens nach Art. 100 Abs. 1 GG ankomme, wenn das Gericht im Ausgangsverfahren bei Verfassungsmäßigkeit der Norm anders entscheiden müßte als bei deren Verfassungswidrigkeit, blieb unverändert. Jedoch entwickelte das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarerklärung. Nach der Unvereinbarerklärung eines gleichheitswidrigen Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht war das Ausgangsverfahren der Nichtbegünstigten77 auszusetzen, bis der Gesetzgeber eine Neuregelung getroffen hatte. Die Frage, ob Begünstigungsausschlüsse mit dem Gleichheitssatz vereinbar waren, war damit jedenfalls in Verfahren der Nichtbegünstigten entscheidungserheblich. 78 Denn im Falle der Verfassungsmäßigkeit der Norm ist im Ausgangsverfahren eine andere Entscheidung zu treffen als im Falle der Verfassungswidrigkeit. Im ersten Fall wäre die Klage des Nichtbegünstigten abzuweisen, im letzten Fall wäre das Verfahren auszusetzen, bis der Gesetzgeber eine Neuregelung getroffen hätte. Es wäre dann abzuwarten, ob der Gesetzgeber im Zuge der Neuregelung die bisher nicht berücksichtigte Personengruppe in die Begünstigung einbezieht, die Begünstigung komplett streicht oder die Materie auf eine dritte Art und Weise regelt. Allerdings kann durch bloßes ,,Außeranwendunglassen" der gleichheitswidrigen drittbegünstigenden Norm der Verfassungsverstoß nicht beseitigt werden. Es kommt in diesen Fällen mithin im Ausgangsverfahren - entgegen dem Wortlaut des Art. 100 Abs. I GG - nicht auf die "Gültigkeit" des Gesetzes an/ 9 sondern "nur" auf dessen Verfassungsmäßigkeit. Jedoch liegt Art. 100 Abs. I GG richtiger Ansicht nach 80 das Verständnis der Ipso-iure-Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze zugrunde 81 ; abweichende Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen waren bei Erlaß des GG nicht bekannt. 82 Daher muß es entgegen dem Wortlaut des Art. 100 Abs. 1 GG nur auf die Verfassungsmäßigkeit der Norm ankommen, gleichgültig, welcher konkrete Entschei-

77 Zu den Schwankungen innerhalb der Rechtsprechung, ob die Anwendungssperre eines gleichheitswidrigen Gesetzes sich auch auf die bisher begünstigte Gruppe erstreckt, vgl. oben § 3 B I 1 a dd (3) mit Nachweisen. 78 BVerfGE 17,210 (215 f.); 18,353 (360); 23, 74 (78); 23,135 (142 f.); 66,1 (17); seitdem st. Rspr., zuletzt BVerfGE 84, 233 (237); 93, 386 (394). 79 Zutreffend Bettermann. in: BVerfG und GG, Bd. I, S. 323 (360). 80 Vgl. oben § 2 C III 3 a. 81 So auch lpsen. Rechtsfolgen, S. 164 ff. 82 Vgl. auch noch apodiktisch etwa Stern. AöR 91 (1966),223 (250): Ist eine Norm verfassungswidrig, "bedeutet (das), daß die ... Norm nichtig ist ... , und zwar nach deutscher Tradition von Anfang an." Stern bezeichnet dies m.w.N. als ständige Entscheidungsformel des Bundesverfassungsgerichts. - Hervorhebung im Original.

246 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

dungsausspruch (Nichtig- oder bloße Unvereinbarerklärung) zu erwarten ist. 83 Mit der Erweiterung der Vorlagemöglichkeiten bei gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlüssen wurde auch der unter prozeßökonomischen und systematischen Gesichtspunkten bestehende "unlösbare Widerspruch,,84 ausgeräumt, daß nach der älteren Rechtsprechung die Gerichte in diesen Fällen ein Gesetz nicht vorlegen konnten, eine anschließend gegen die fachgerichtlichen Entscheidungen gerichtete Verfassungsbeschwerde jedoch für zulässig gehalten wurde. 85 Wichtig erscheint festzuhalten, daß die Etablierung der Unvereinbarerklärung zu einer erweiterten prozessualen Überprüjbarkeit von Gleichheitsverstößen des Gesetzgebers durch das Bundesverfassungsgericht führte. Das Bundesverfassungsgericht bejaht die Entscheidungserheblichkeit der Gleichheitswidrigkeit jedoch in diesen Fällen nur dann, wenn der Kläger des Ausgangsverfahrens infolge der Beanstandung der fraglichen Norm eine Chance erhält, an einer etwaigen Erweiterung der begünstigenden Regelung durch den Gesetzgeber teilzuhaben. 86 Eine Überprüfung des Gesetzes soll also aus prozessualen Gründen dann nicht möglich sein, wenn die einzige Möglichkeit der Beseitigung der gleichheits widrigen Rechtslage in einer Schlechterstellung der bisher Bevorzugten bestünde, eine eigene Besserstellung also nicht in Betracht komme. 87 Ob eine Besserstellung der Kläger des Ausgangsverfahrens in Betracht kommt, prüft das Bundesverfassungsgericht nicht nur anhand verfassungsrechtlicher Vorgaben. Vielmehr ermittelt es auch den hypothetischen Willen des Gesetzgebers. 88 Der hypothetische Wille des Gesetzgebers, wie er eine Materie bei Kenntnis der Gleichheitswidrigkeit der von ihm erlassenen Norm geregelt hätte, kann indes kein Kriterium für die Beurteilung der prozessualen Normenkontrollmög-

83 Ebenso Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 137. in: MaunzlDürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 360. Dürig, in: MaunzlDürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 360 m.w.N. auch von Auffassungen, die aus diesem Grunde gerade umgekehrt die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden einschränken wollten. 86 Seit BVerfGE 22, 349 (363) (zum Parallelproblem des Rechtsschutzbedürfnisses bei Verfassungsbeschwerden) st. Rspr.; vgl. zuletzt BVerfGE 61, 138 (148); 71, 224 (228); 74, 182 (195); 93, 386 (395). Vgl. ferner BVerfGE 49, 1 (8) (dort im Rahmen eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens unter der Zulässigkeitsvoraussetzung der Selbstbetroffenheit behandelt). 87 Exemplarisch BVerfGE 49, 1 (8) zur Steuerfreiheit von Abgeordneten-Bezügen und BVerfGE 84, 233 (237) betreffend Steuer- und Strafamnestie zugunsten von Steuersündern. Ebenso etwa FG Münster EFG 1998, 1647 (1648 f.); Stern, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 93 Rn. 641. 88 BVerfGE 49, 1 (9); 84, 233 (237 f.). 84 Dürig, 85

B. Bestimmung des Begriffs der Entscheidungserheblichkeit

247

lichkeit durch das Bundesverfassungsgericht sein. Dies wurde oben89 bereits dargelegt.

3. Ausweitung der Unvereinbarerklärung auf gleichheitswidrig belastende Normen

Die wegen der Rechtsschutzeinschränkungen im Bereich gleichheitswidriger Begünstigungsausschlüsse entwickelte Unvereinbarerklärung übertrug das Bundesverfassungsgericht jedoch auch auf gleichheitswidrig belastende Regelungen. 90 Für diese Ausdehnung besteht jedoch keinerlei Berechtigung;91 sie führt vielmehr zu ungerechtfertigten Rechtsschutzeinschränkungen im Bereich des Eingriffsrechts, insbesondere des Steuerrechts. Den Rechtsschutzzielen der gleichheitswidrig Benachteiligten wäre ebenso gedient, wenn die gleichheitswidrig belastende Norm für nichtig erklärt würde und die Benachteiligten ihre gleichheitswidrige Belastung somit abwehren könnten. Auch die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers fordert in diesen Fällen nicht den Verzicht auf die Nichtigerklärung. Denn der Gesetzgeber könnte nach Erlaß der gleichheitswidrig belastenden Norm eine verfassungskonforme Neuregelung treffen. 92 Anders als bei der (gestalterisch wirkenden) Ausdehnung von Begünstigungen werden Entscheidungen des Gesetzgebers durch die bloße Kassation eines rechtswidrigen Aktes nicht präjudiziert. 93

89 Exemplarisch

§ 3 B I 1 c cc (2). BVerfGE 23, 1 (10); 25, 10 1 (111); 28, 227 (242 f.); 33, 90 (105 f.); 33, 106 (114 f.). Vgl. dazu bereits oben § 3 B I 1 b bb mit Nachweisen auch der neueren Rechtsprechung. 91 Vgl. bereits oben § 3 B I 1 b cc. 92 Insoweit zutreffend die älteren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts: Explizit BVerfGE 8, 28 (37): "Eine auf Art. 3 GG gestützte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts muß die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nach Möglichkeit wahren. Das ist bei Gesetzen, die unter Verstoß gegen dieses Grundrecht eine bestimmte Personengruppe belasten, ohne weiteres möglich, indem das Bundesverfassungsgericht die belastende Norm für nichtig erklärt und dadurch dem Gesetzgeber jede neue Gestaltungsmöglichkeit offen hält ... Ebenso Stern, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 93 Rn. 282. Anders demgegenüber die Begründungen in BVerfGE 99, 88 (99 f.) sowie BVerfGE 99, 69 (82 f.): Die gleichheitswidrig belastende Norm sei für nichtig zu erklären, da für die Vergangenheit wegen des Vertrauensschutzes der bisher gleichheitswidrig bevorzugten Gruppe nur eine Steuerfreiheit in Betracht komme und insoweit nur eine Möglichkeit zur Behebung der Verfassungswidrigkeit bestehe. Vgl. dazu bereits oben § 3 B III. 93 Anders, insoweit aber nicht überzeugend Aretz, JZ 1984,918 (919); Erichsen, Jura 1982, 88 (94); wohl auch Ehlers, in: Schoch/Schmidt-AßmannlPietzner, VwGO, § 40 Anhang Art. 100 Abs. 1 GG Rn. 39 a.E. Aretz (in der Sache ebenso Erichsen) fordert sowohl für Begünstigungen als auch für Belastungen die Beschränkung auf eine bloße 90 Vgl.

248 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

Zu welch unzutreffenden Ergebnissen die Übertragung der Unvereinbarerklärung auf belastende Normen führt, wird exemplarisch an der bereits erwähnten Vermögensteuer-Entscheidung aus dem Jahr 196894 deutlich. 95 Zwei Fehler wirken in diesen Ausführungen zusammen: 96 Zunächst stellt das Bundesverfassungsgericht Mutmaßungen über den hypothetischen Willen des Gesetzgebers an, indem es feststellt, daß sich "eine grundsätzliche Abkehr vom gemeinen Wert, wie sie der ... geforderte prozentuale Abschlag vom Verkehrswert darstellen würde, sich verbiete.'.97 Gerade durch diese Formulierung wird die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eingeschränkt. Noch viel stärker ins Gewicht fällt aber, daß das Bundesverfassungsgericht die für begünstigende Gesetze entwickelten Rechtsschutzvoraussetzungen (Möglichkeit der Einbeziehung in die Begünstigung) auf das belastende Vermögensteuergesetz überträgt. Wenn es ausführt, daß "die Gleichheit nur durch eine höhere Bewertung des Grundbesitzes" - also durch SchlechtersteIlung der bisher Bevorzugten - hergestellt werden könne, wird übersehen, daß bei belastendem Staatshandeln die Abwehr der rechtswidrigen Belastung - in diesem Fall also die Abwehr der gleichheitswidrigen Vermögensteuer auf Wertpapierbesitz - sowohl den Rechtsschutzzielen der Benachteiligten entgegenkommt als auch die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers achtet. Die Besserstellung des benachteiligten Wertpapierbesitzers liegt schon darin, daß er seine gleichheitsund damit rechtswidrige Belastung (mit Vermögensteuer) abwehren kann. 98 Ob wegen der besonderen Haushaltsrelevanz der Vermögensteuer das für verfassungswidrig erkannte Gesetz möglicherweise hätte weiter angewendet werden müssen,99 ist von der idealtypischen Unterscheidung zwischen der Abwehr bela-

Verfassungswidrigerklärung mit der Begründung, daß "eine Nichtigerklärung ... eine bestimmte von mehreren prinzipiell verfassungsmäßigen Rechtslagen erzeugen und insoweit in den Gestaltungsfreiraum des Gesetzgebers eingreifen (würde)." Daran überzeugt nicht, daß durch einen kassatorischen Akt des Bundesverfassungsgerichts - anders als bei einer gestalterisch wirkenden Ausdehnung der Begünstigung - nichts präjudiziert wird, sondern der Gesetzgeber in dem Erlaß einer Neuregelung frei ist. Insoweit gilt Gleiches wie für Verstöße gegen Verfahrensvorschriften (Art. 76 ff. GG) oder das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. I S. 2 GG. Ausführlich dazu bereits oben § 3 B I 1 b cc. 94 BVerfGE 23, 242 ff. Dem Verfahren lag eine Verfassungsbeschwerde zugrunde, die Probleme sind jedoch, was die hier interessierende Möglichkeit der Besserstellung der bisher Benachteiligten angeht, identisch. 95 V gl. dazu ausführlich oben § 3 B I I c cc (2). 96 Vgl. zu weiteren Gesichtspunkten bereits oben § 3 B 11 c cc (2). 97 BVerfGE 23,242 (256). Hervorhebung nur hier. 98 Diese Besserstellung des Wertpapierbesitzers wird deutlich an der Entwicklung nach der Vermögensteuer-Entscheidung aus dem Jahr 1995, BVerfGE 93, 121 ff. Dazu oben § 3 B I I c cc (2). 99 Vgl. etwa BFHE 146, 474 (479 f.). Der Bundesfinanzhof geht in der genannten Entscheidung davon aus, daß "frühestens zwei Jahre nach der Anordnung einer neuen Hauptfeststellung ein Überblick über das durch diese Hauptfeststellung sich ergebende

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stender Gesetze und der Chance der Einbeziehung in ein begünstigendes Gesetz strikt zu unterscheiden. Derselbe Fehler der Anstellung von Vermutungen über den hypothetischen Willen des Gesetzgebers liegt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Zinsamnestie 100 zugrunde: Das Bundesverfassungsgericht hielt eine Steuerbefreiungsvorschrift zugunsten von Steuersündern in den Ausgangsverfahren solcher Steuerpflichtiger, die ihre Einkünfte in der Vergangenheit ordnungsmäßig deklariert hatten, für nicht entscheidungserheblich. Es begründete dies damit, daß eine Nichtigerklärung der drittbegünstigenden lO1 Vorschrift den Klägern des Ausgangsverfahrens nicht weiterhelfe, da bei Wegfall der Ausnahmevorschrift (Befreiungstatbestand) ihre Einkünfte weiterhin nach der Grundnorm (dem für alle geltenden Steuertatbestand) der Besteuerung unterlägen. 102 Eine Unvereinbarerklärung, aufgrund derer der Gesetzgeber die Gleichheitswidrigkeit durch eine gesetzliche Neuregelung beseitigen müsse und die den Klägern des Ausgangsverfahrens die Chance eröffne, ebenfalls eine SteuerfreisteIlung zu erreichen, sei jedoch ausgeschlossen. Denn der Zweck des Steueramnestiegesetzes bestehe darin, den Steuerunehrlichen den Weg in die Legalität zurück zu ebnen. Dieser Zweck treffe auf die Kläger des Ausgangsverfahrens jedoch nicht zu. 103 Dieser Argumentation ist entgegenzuhalten, daß es um den Kläger des Ausgangsverfahrens belastende Normen geht, nämlich die materiellen Steuertat-

Einheitswert-Volumen erreicht werden (wird), der es ermöglicht, die Steuertarife für die auf den neuen Einheitswerten beruhenden Steuern festzulegen." Deshalb prognostiziert er, daß das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber nur eine Frist setzen werde und es für die Vergangenheit bei dem verfassungswidrigen Zustand belassen werde. Die Bezugnahme auf den Überblick des "Einheitswert-Volumens" impliziert natürlich, daß das bisherige Steuervolumen der Vermögensteuer nicht verzichtet werden kann, weil ansonsten die verfassungswidrige Vermögensteuer seitens des Steuerpflichtigen abgewehrt werden könnte. 100 Zum folgenden vgl. BVerfGE 84, 233 (237). 101 Dazu, daß es sich hier in Wahrheit nicht um eine Begünstigung, sondern um eine Belastungsausnahme handelt, und zu den daraus folgenden Konsequenzen siehe oben § 3 B I I a aa, c, d, e. 102 Zu dem insoweit zu erhebenden Einwand, daß eine Gesamtbetrachtung aller Normen erforderlich ist, auf denen die Ungleichbehandlung der beiden Vergleichspaare beruht, also sowohl der Grundnorm, auf der die Besteuerung des Klägers des Ausgangsverfahrens beruht, als auch der Ausnahmenorm, auf der die Befreiung der Vergleichsgruppe beruht, siehe oben § 3 B I 1 c. Dies ist schon deshalb erforderlich, um gesetzestechnische Zufälle oder gesetzestechnische Möglichkeiten der Einflußnahme auf die prozessuale Überprüfbarkeit einer Norm durch den Bindungsadressaten auszuschalten. Beide Normen (also sowohl Grund- als auch Ausnahmevorschrift) sind dann verfassungswidrig, auch wenn die Grundnorm nach ihrem Wortlaut nicht zwischen den beiden Vergleichspaaren differenziert. 103 V gl. BVerfGE 84, 233 (237).

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bestände der Einkünfte aus Kapitalvennögen. Diese Besteuerung kann er abwehren, wenn er gleichheits widrig belastet wird. Idealtypisch - d.h. ohne Berücksichtigung etwaiger nicht zu verkraftender Haushaltsausfälle, die jedoch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Entscheidungserheblichkeit nach Art 100 Abs. 1 GG ohnehin nicht entgegenstehen sollen lO4 könnte dies erfolgen durch Nichtigerklärung der materiellen Steuernorm. Schon durch Nichtigerklärung der materiellen Steuernonn könnte der Kläger eine eigene Besserstellung erreichen. Der Gesetzgeber könnte dann nach der Nichtigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob er es bei der Steuerbefreiung, die er ursprünglich nur den "Steuersündern" zugute kommen lassen wollte, für alle beläßt, weil ihm das mit dem Steuerbefreiungstatbestand verfolgte Ziel so wichtig ist, daß er auch die Steuerfreiheit der anderen Vergleichsgruppe hinnimmt, oder ob er die Mitglieder beider Vergleichsgruppen in gleicher Weise der Besteuerung unterwirft. 105 Etwaige Rückwirkungsprobleme stehen einer gleichheitsgerechten Neuregelung nicht entgegen. Würde sich der Gesetzgeber nach der Nichtigerklärung eines belastenden Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht entscheiden, Gleichheit durch eine rückwirkende Belastung aller herzustellen, wäre zu Lasten der Kläger des Ausgangsverfahrens auch eine echte Rückwirkung (',Rückbewirkung von Rechtsfolgen") nicht von vornherein unzulässig, da der bisherige Rechtszustand verfassungswidrig war und insoweit nach der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts kein Vertrauensschutz besteht. 106 Auch die Steuersünder unterlagen bisher bereits der Steuer, so daß sich Vertrauen bei ihnen nur durch

I04S. BVerfGE 87,153 (180); 93,121 (131). Dazu noch unten § 4 eIl a. An der Entscheidung BVerfGE 84, 233 ff. wird somit zwar nicht im Rechtsfolgenausspruch, wohl aber in der Frage, ob überhaupt über die Normenkontrolle entschieden wird, auch die Tendenz erkennbar, die der Zweite Senat in vielen weiteren Entscheidungen erkennen ließ, es für die Vergangenheit bei der Hinnahme des (möglicherweise) verfassungswidrigen Zustandes zu belassen (die Steuerehrlichen erhalten ihre gleichheitswidrig entrichtete Steuer also nicht zurück und es bleibt bei der Steuerbefreiung der Steuersünder). 106 Vgl. nur BVerfGE 72, 200 (258 ff., insbes. 260 f.); Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 315; Sachs, 00, Art. 20 Rn. 86; Spindler, DStR 1998,953 (955) m.w.N. Vgl. auch BVerfGE 97, 67 (79 f.). Allerdings betrafen die bisherigen Entscheidungen die rückwirkende Ersetzung eines verfassungswidrigen Belastungstatbestandes (z.B. eines verfassungswidrigen Hundesteuergesetzes), also nicht eines BeJreiungstatbestandes, der den Bürger zu bestimmten Dispositionen veranlaßt hat. Für einen solchen Fall geht BVerfGE 99, 280 (299) nunmehr davon aus, daß Vertrauensschutzgesichtspunkte der rückwirkenden Beseitigung eines Steuerprivilegs (Steuerfreiheit der Stellenzulage Ost) entgegenstünden, und BVerfGE 99, 69 (82 f.) erachtet eine rückwirkende Erstreckung der gleichheitswidrigen Steuerbelastung (Körperschaft- und Vermögensteuerpflicht kommunaler Wählervereinigungen) auf die bisher von der Steuer befreite Gruppe (politische Parteien) aus Vertrauensschutzgründen für unzulässig. 105

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das Steueramnestiegesetz gebildet haben könnte. 107 Insoweit könnte Vertrauensschutz eingreifen, da das Gesetz die Steuersünder möglicherweise zu einem bestimmten Verhalten veranlaßt hat. 108 Vergegenwärtigt man sich indes die einfachgesetzlichen Ausformungen des Vertrauens schutzes bei Verwaltungsakten, so besteht dort in den Fällen der Driuanfechtung kein Vertrauensschutz, solange der Bescheid noch nicht bestandskräftig ist (vgl. §§ 132 S. 2 AO, 50 VwVfG). Diese Wertungen sind zwar nicht ohne weiteres übertragbar, da Gesetze nicht in ,,Bestandskraft" erwachsen und eine konkrete Normenkontrolle oder eine mittelbar gegen ein Gesetz gerichtete Urteilsverfassungsbeschwerde auch noch Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes möglich sind. Selbst wenn man jedoch zugunsten der Steuersünder (als den Adressaten der Lenkungsnorm) Vertrauensschutz annähme, so hinderte dies jedenfalls nicht die Besserstellung der Kläger des Ausgangsverfahrens, deren steuerliche Belastung kassiert wird. In diesem Falle würden sich die Gestaltungswirkungen des Gesetzgebers auf nur eine Option verringern. Diese würde dann sogar zwingend zur Besserstellung der bisher benachteiligten Gruppe führen. 109 Bei ungleich belastenden Gesetzen bleibt somit für eine Unvereinbarerklärung nur dann Raum, wenn eine weitere Anwendung des für verfassungswidrig erkannten Gesetzes erforderlich ist. Eine Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre ist dagegen bei belastenden Gesetzen fehl am Platze. Insoweit kommt nur eine Nichtigerklärung in Betracht. 110

107 BVerfGE 2, 213 ff. prüft die Verfassungsmäßigkeit eines Straffreiheitsgesetzes, so daß die Angeklagte im Ausgangsverfahren bei Verfassungswidrigkeit des sie begünstigenden Gesetzes verurteilt worden wäre. Allerdings bestand in diesem Fall ohnehin kein Vertrauensschutz, da die Angeklagte im Ausgangsverfahren durch die Befreiungsvorschrift nicht zu einem bestimmten Verhalten veranlaßt worden war, sie also kein Vertrauen betätigt hatte. 108 Vgl. auch BVerfGE 97, 67 (80): "Bietet ... ein Steuergesetz dem Steuerpflichtigen eine Verschonungssubvention an, die er nur während des Veranlagungszeitraums annehmen kann, so schafft dieses Angebot für diese Disposition in ihrer zeitlichen Bindung eine Vertrauensgrundlage, auf die der Steuerpflichtige seine Entscheidung über das subventionsbegünstigte Verhalten stützt. Er entscheidet sich um des steuerlichen Vorteils willen für ein bestimmtes wirtschaftliches Verhalten, das er ohne den steuerlichen Anreiz so nicht gewählt hätte. Mit dieser Entscheidung ist die Lenkungs- und Gestaltungswirkung des Subventionsangebots abschließend erreicht. Diese Dispositionsbedingungen werden damit vom Tag der Entscheidung an zu einer schutzwürdigen Vertrauensgrundlage ... 109 Vgl. auch die Argumentation bei BVerfGE 99,69 (82 f.) zur Verfassungswidrigkeit der Körperschaft- und Vermögen steuerpflicht kommunaler Wählervereinigungen. 110 V gl. dazu bereits oben § 3 B I 1 b cc.

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III. Die Funktion der Richtervorlage nach Art. 100 Abs.l GG 1. Zwecke des konkreten Normenkontrollverfahrens Vorlageverfahren an ein anderes Gericht dienen vor allem drei Zielsetzungen: Durch die Konzentration bestimmter Entscheidungen bei einem Gericht wird die Rechtssicherheit durch eine einheitliche Rechtsprechung gefördert. Ferner wird die Autorität des Gesetzgebers davor geschützt, daß jedes Gericht sein Handeln in Frage stellen und ggf. außer Anwendung lassen kann. Schließlich kann ein Vorlageverfahren auch dazu dienen, die besondere Sachkunde eines Gerichts zu nutzen. 111 Daneben betont das Bundesverfassungsgericht als Zweck des konkreten Normenkontrollverfahrens auch den Schutz der Verfassung 112 und die Gewährleistung einer verfassungsmäßigen Entscheidung in einem bestimmten Gerichtsverfahren. ll3 Außerdem komme der Normenkontrolle auch eine Bejriedungsjunktion 114 zu. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden sich unterschiedliche Gewichtungen der verschiedenen Ansätze zur Bestimmung der Funktion der konkreten Normenkontrolle. Im folgenden werden nur die Funktionen näher behandelt, die für die oben geschilderten Problemfalle von Bedeutung sind, in denen das Bundesverfassungsgericht einen Bezug zwischen Zulässigkeit der konkreten Normenkontrolle und den im Falle der Verfassungswidrigkeit auszusprechenden Rechtsfolgen herstellt.

a) Schutz der Autorität des Gesetzgebers In besonders hervorgehobener Weise ll5 betont das Bundesverfassungsgericht, daß durch sein Verwerfungsmonopol für Bundes- oder Landesgesetze die

111 Vgl. zu diesen Funktionen gerichtlicher Vorlageverfahren Ehlers, in: Schoch/ Schrnidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Anhang § 40 Vorbemerkung Art. 100 GG. 112 Vgl. für das Verfahren der konkreten Normenkontrolle BVerfGE 2, 213 (217); 20, 350 (351); 79, 252 (254); grundlegend BVerfGE 1,396 (407) (ergangen in einem abstrakten Normenkontrollverfahren). 113 BVerfGE 43,27 (32 f.). 114 BVerfGE 44, 322 (338); 62, 354 (364); 63, 312 (323); 71, 81 (93); 75, 166 (177); H. Klein, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, vor §§ 80 ff. Rn. 12. Hieraus folgert das Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeit, die verfassungs gerichtliche Prüfung auch auf den nicht entscheidungserheblichen Teil des Gesetzes auszudehnen. 115 Ebenso in dieser Einschätzung Bettermann, in: BVerfG und GG I, S. 323 (328); ferner - wenngleich kritisch zur Hervorhebung dieses Gesichtspunktes durch das Bun-

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Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers gewahrt werden solle, der vor Mißachtung seiner Rechtssätze durch jeden Richter geschützt werden solle. 116 Daraus hat das Bundesverfassungsgericht insbesondere gefolgert, daß nur formelle nachkonstitutionelle Gesetze im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG vorlagefähig sind. 117 Der Zweck der Einheitlichkeit der Rechtsprechung genügte dem Bundesverfassungsgericht somit nicht, um eine Vorlage auch nichtformeller oder vorkonstitutioneller Gesetze für möglich zu halten.

b) Rechtssicherheit durch Einheitlichkeit der Rechtsprechung

Die Konzentration der Verwerfungskompetenz von Gesetzen beim Bundesverfassungsgericht zielt ferner auf Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu verfassungsrechtlichen Fragen l18 sowie Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. 119 In der Literatur wird hierin teilweise der Hauptzweck der Vorlage nach Art. 100 Abs. I GG gesehen. 120

c) Gewährleistung einer verfassungsmäßigen Entscheidung

in einem bestimmten Gerichtsverfahren

Eine weitere Funktion der konkreten Normenkontrolle sieht das Bundesverfassungsgericht in der Gewährleistung einer verfassungsmäßigen Entscheidung in einem bestimmten Gerichtsverfahren. Durch sie solle der Bürger vor der Anwendung verfassungswidriger Gesetze geschützt werden, weil eine solche An-

desverfassungsgericht - Löwer, HStR H, § 56 Rn. 66; Schia ich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 130. 116 St. Rspr., vgl. nur BYerfGE 1, 184 (197 f.); I, 283 (292); 6, 55 (65); 42, 42 (49); 90, 263 (275); ebenso Benda/Klein, Lehrbuch des Yerfassungsprozeßrechts, Rn. 693 f.; Sturm, in: Sachs, GG, Art. 100 Rn. 5. 117 BYerfGE I, 184 (189 ff.); 1,283 (292); 2, 124 (128 ff.), st. Rspr. Zustimmend etwa Benda/Klein, Lehrbuch des Yerfassungsprozeßrechts, Rn. 694; Erichsen, Jura 1982, 88 (90 f.); Rinken, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Art. 100 Rn. 15; Meyer, in: von Münch/Kunig, Art. 100 Rn. 12 f. Tendenziell kritischer - gerade zum Schutz der Autorität des Gesetzgebers als Hauptzweck des Verfahrens - Hesse, Grundzüge, Rn. 686; 1. lpsen, NJW 1977, 2289 (2291); Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 130; Stern, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 100 Rn. 60. 118 Ygl. BYerfGE 1, 184 (197 ff.); 2, 124 (128 ff.); 6, 55 (63); 54,47 (51); 63, 131 (141). 119Ygl. BYerfGE 58,300 (322). 120 Löwer, HStR H, § 56 Rn. 66; Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 130.

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wendung ihrerseits verfassungswidrig wäre. 121 Diese Funktionsbestimmung bezieht sich auf das Merkmal der Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG, indem der konkrete Bezug zum Ausgangsverfahren verdeutlicht wird.

aa) Erkennbare Bedeutungslosigkeit der Rechtsfrage für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens Dies wird auch in anderen Entscheidungen erkennbar, wenn das Bundesverfassungsgericht ausführt: ,,Es entspricht nicht der Funktion des Normenkontrollverfahrens nach Art. 100 Abs. 1 GG und kann nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sein, Rechtsfragen zu entscheiden, die erkennbar für die Entscheidung der eigentlichen Streitfrage des Ausgangsveifahrens bedeutungslos sein werden .• .122 Ein konkretes Normenkontrollverfahren sei nur dann zulässig, wenn dies zur Entscheidung eines anhängigen gerichtlichen Veifahrens unerläßlich seL 123 Das Bundesverfassungsgericht läßt aber Ausnahmen von dem Eifordernis der Entscheidungserheblichkeit dann zu, wenn "die Vorlagefrage von allgemeiner und grundsätzlicher Bedeutung für das Gemeinwohl und deshalb ihre Entscheidung dringlich" iSt. 124 Es begründet dies mit einer analogen Heranziehung des § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG. 125 In diesen Fällen ist die konkrete Normenkontrolle nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch dann zulässig, wenn die Entscheidungserheblichkeit noch nicht sicher feststeht.

121 BVerfGE 43,27 (32 f.). 122 BVerfGE 42, 42 (50); 46, 66 (71); 48, 396 (400); 54, 47 (51); 65, 265 (277); 74, 182 (198). Hervorhebungen nur hier. 123 BVerfGE 47,146 (154); 63, I (22); 90,145 (170). 124 BVerfGE 47, 146 (Leitsatz und S. 151 ff., 157 ff.). Dort ging es um die Frage, ob eine Norm über die Genehmigung von sicheren Kernkraftwerken verfassungsmäßig war. Zunächst hätte das vorlegende OVG Beweis erheben müssen, ob das Kernkraftwerk sicher war. Nur in diesem Fall wäre das OVG im Falle der Verfassungswidrigkeit der Norm zu einer anderen Entscheidung gekommen als bei deren Verfassungsmäßigkeit, vgl. Schlaich. Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 150. Kritisch dazu Benda/Klein. Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 791. 12~BVerfGE47.146(LeitsatzundS. 159).

B. Bestimmung des Begriffs der Entscheidungserheblichkeit

255

bb) Subsidiarität der Verfassungsgerichtsbarkeit Schließlich entnimmt das Bundesverfassungsgericht dem Grundgedanken der Subsidiarität der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber den Fachgerichten, daß eine Vorlage erst nach Durchführung einer Beweisaufnahme in Betracht kommt. 126 Bei Durchführung der Beweisaufnahme hat der Richter somit von der Gültigkeit der Norm auszugehen. Die Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG geht somit der Entscheidungserheblichkeit als Voraussetzung einer Beweisaufnahme vor. Dies folgert das Bundesverfassungsgericht aus dem großen mit einem Normenkontrollverfahren verbundenen Aufwand, insbesondere der Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts und anderer oberster Verfassungsorgane. 127

2. Das konkrete Normenkontrollverfahren im System der verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten a) Der objektive Charakter des konkreten Normenkontrollverfahrens Die vom Bundesverfassungsgericht schon früh gemachte Aussage, daß es sich beim Normenkontrollverfahren im allgemeinen l28 und der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG im besonderen l29 um ein objektives Verfahren handele, wird auch in der Literatur l30 geteilt. Aus dem objektiven Charakter des Verfahrens der konkreten Normenkontrolle folgt, daß es von subjek126 BVerfGE

79, 256 (265) m.w.N. Vgl. BVerfGE 11,330 (335); 54, 47 (51); 63, 1 (22); 64, 251 (254); 79,256 (265). Vgl. auch BVerfGE 58,153 (157 f.). 128 Grundlegend (zur abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) BVerfGE 1,396 (407). Vgl. ferner BVerfGE 20,56 (86); 67, 26 (37). 129 BVerfGE 2, 213 (217); 20, 350 (351); 42, 90 (91); 72, 51 (62); 79, 252 (254); st. Rspr. 130 Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 696 ff.; Klein, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, vor §§ 80 ff. Rn. 13; Löwer, HStR H, § 56 Rn. 80; Sachs, DVBI. 1985, 1106 (! 107, 1111); Stern, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 100 Rn. 4 m.w.N.; Ulsamer, in: MaunzlSchmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, BVerfGG, § 80 Rn. 127, 132, 139. Vgl. auch Aretz, JZ 1984,918 (921); Bettermann, in: BVerfG und GG, Bd. I, 323 (328); Hesse, Grundzüge, Rn. 344; Sachs, DVBI. 1985, 1106 (1110 ff.). Grundsätzlich auch den objektiven Charakter des Vorlageverfahrens hervorhebend, aber eine ergänzende Heranziehung subjektiver Elemente erwägend Rinken, in: Alternativkommentar zum GG, Art. 100 Rn. 14; ähnlich Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 8 Rn. I, wonach es im Normenkontrollverfahren "um die Wahrung der Normenhierarchie geht, also um objektive Rechtsverwirklichung, nicht (primär) um subjektiven Rechtsschutz." 127

256 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

tiven Rechten unabhängig ist. Es dient somit nicht der Durchsetzung von Rechten 13l, sondern nur dem Schutz der Verfassung, indem Rechtsnormen am Maßstab des GG geprüft werden. 132

Das Bundesverfassungsgericht zog aus dem objektiven Charakter der Normenkontrollverfahren verschiedene konkrete Folgerungen. So wurde beispielsweise der Argumentation von Antragstellern im abstrakten Normenkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG entgegengehalten, daß der Gedanke des Rechtsschutzinteresses, das die Antragsteller an der präventiven Feststellung der Nichtigkeit eines Gesetzes zu haben glaubten, begrifflich ein gerichtliches Verfahren zum Schutz subjektiver Rechte voraussetze; das Normenkontrollverfahren sei jedoch ein objektives Verfahren zum Schutz der Verfassung und diene nicht dem Schutz einer Rechtsstellung der Antragsteller. 133 Im abstrakten Normenkontrollverfahren gebe es nur Antragsberechtigte, keine Anspruchsberechtigten. 134 Ferner folgerte das Bundesverfassungsgericht aus dem objektiven Charakter des Normenkontrollverfahrens, daß es begrifflich notwendig - außer den gern. § 82 Abs. 2 BVerfGG beigetretenen Verfassungsorganen - keine ,,Beteiligten" an einem solchen Verfahren gebe, deren Verzicht auf eine mündliche Verhandlung gern. § 25 Abs. 1 BVerfGG erforderlich wäre 135, denen Auslagen und Kosten zu erstatten wären l36 oder denen Prozeßkostenhilfe zu bewilligen wäre. 137 Als Ausdruck des objektiven Charakters des Normenkontroll verfahrens kann auch § 80 Abs. 3 BVerfGG angesehen werden, wonach die Rüge der Nichtigkeit der Rechtsvorschrift durch einen Prozeßbeteiligten im Ausgangsverfahren nicht Voraussetzung der Vorlage durch das Fachgericht ist. 138

BVerfGE 2, 213 (217); 42, 90 (91); 72, 51 (59,62). BVerfGE 1, 396 (Leitsatz 2 und S. 407) betreffend ein Verfahren der abstrakten Normenkontrolle; 72, 51 (62) betreffend eine Richtervorlage. 133 BVerfGE 1,396 (407). 134 BVerfGE 1,396 (407). \35 Vgl. BVerfGE 2,213 (217 f.). IJ6Vgl. BVerfGE 20,350 (351) zu § 34 Abs. 3 BVerfGG a.F. Die Entscheidung betraf den Antrag eines Klägers des Ausgangsverfahrens, dessen Klage im Ausgangsverfahren nach zulässiger und begründeter Vorlage gern. Art. 100 Abs. I GG erfolgreich gewesen war, auf volle Erstattung seiner Auslagen. 137 Vgl. BVerfGE 79, 252 (254). In diesem Fall läßt das Bundesverfassungsgericht jedoch Ausnahmen von dem aus dem objektiven Charakter des Normenkontrollverfahrens folgenden Ausschluß von Prozeßkostenhilfe dann zu, wenn besondere Gründe eine Vertretung in der mündlichen Verhandlung nach § 22 Abs. 1 S. 1 BVerfGG geboten erscheinen lassen. 138 Rügt der Kläger im Ausgangsverfahren allerdings die Verfassungswidrigkeit der Norm nicht und legt der Richter die Norm nicht vor, so ist eine spätere UrteilsVerfassungsbeschwerde nach dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nach sI. Rspr. unzulässig; vgl. Nachweise (einschließlich der Kritik des Schrifttums) oben § I Fn. 15. 131

132

B. Bestimmung des Begriffs der Entscheidungserheblichkeit

257

Allerdings wird über die Zulässigkeitsvoraussetzung der Entscheidungserheblichkeit ein strenger Bezug des konkreten Normenkontrollverfahrens zum Ausgangsverfahren hergestellt. 139 Daraus folgt jedoch noch keine "Versubjektivierung" des Zwischenverfahrens. In dem Zwischenverfahren geht es nur - objektiv - um die Verfassungsmäßigkeit einer Norm. Insofern ist es "methodisch verfehlt", bei der Überprüfung der Norm am Maßstab der Verfassung ,,Argumente ad hominem in die Waagschale zu werfen."I40 Selbst wenn es im Ausgangs verfahren um subjektive Rechte geht, bleibt die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht dennoch ein rein objektiv wirkendes Verfahren. Insoweit dient das Normenkontrollverfahren auch dem Schutz der Verfassung. 141 Diesen Zweck verfolgen sowohl abstrakte als auch konkrete Normenkontrolle. 142 Unterschiede zwischen abstrakter und konkreter Normenkontrolle finden sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch insoweit, als es bei der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG seine Aufgabe als "Hüter der Verfassung" im Vordergrund stehen sieht, während diese Aufgabe bei der konkreten Normenkontrolle gern. Art. 100 Abs. 1 GG zurücktrete. 143 Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht etwa angenommen 144, daß die Zurücknahme eines zulässigen Antrags auf Durchführung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens nicht notwendigerweise zur Einstellung des Verfahrens führe, vielmehr bei Vorliegen eines öffentlichen Interesses fortgesetzt werden könne. 145 Dagegen verneint das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit der Fortführung des konkreten Normenkontrollverfahrens, wenn die Entscheidungserheblichkeit im Zeitpunkt der Entscheidung weggefallen ist,I46 z.B. weil sich das Ausgangsverfahren (z.B. durch Klagerücknahme) erledigt hat oder eine Rechtsänderung eingetreten ise 47 oder die Unanwendbarkeit der Norm bereits aus anderen Gründen (z.B. wegen entgegenstehenden europäischen Gemeinschaftsrechts) feststeht l48 .

139 V gl. Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 697. 140 Zutreffend Sondervotum BVerfGE 36, 247 (257). 141 Vgl. für die konkrete Normenkontrolle BVerfGE 2, 213 (217); 20, 350 (351); 79, 252 (254); grundlegend für die abstrakte Normenkontrolle BVerfGE 1,396 (407). 142 Dem entspricht es, daß das Bundesverfassungsgericht in den zuvor genannten Entscheidungen nicht zwischen konkreter und abstrakter Normenkontrolle differenziert, vielmehr lediglich allgemein von dem Normenkontrollverfahren spricht. 143 BVerfGE I, 184 (195,197). 144 Zu weiteren Folgerungen aus dieser Zweckbestimmung vgl. z.B. Rinken, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Art. 93 Rn. 24 (kritisch aber ders., Art. 94 Rn. 38). 145 BVerfGE 1,396 (414). 146 BVerfGE 7, 171 (173 ff.); 14, 140 (142); 85, 191 (203), st. Rspr.; Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 806 m.w.N. 147Vgl. BVerfGE 29,325 (326 f.). 148 BVerfGE 85,191 (203).

17

Wernsmann

258 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

b) Unterschiede zur Verfassungsbeschwerde Im Gegensatz zur konkreten Normenkontrolle ist die Verfassungsbeschwerde ein (außerordentlicher) Rechtsbehelf, der in erster Linie der Sicherung und Durchsetzung subjektiver Rechtspositionen dient. Die Verfassungsbeschwerde ist nur zulässig, wenn der Beschwerdeführer möglicherweise in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte, die subjektive Rechte darstellen, verletzt ist (vgl. Art. 93 Abs. I Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG).149 Was das Verhältnis zwischen konkreter Normenkontrolle und Verfassungsbeschwerde angeht, so muß eine konkrete Normenkontrolle nach Art. J00 Abs. J GG immer dann zulässig sein, wenn eine spätere Verfassungsbeschwerde gegen die gerichtliche Entscheidung zulässig wäre. Jede andere Auslegung des Art. 100 Abs. 1 GG würde zu dem unsinnigen Ergebnis führen, daß das Fachgericht die von ihm für verfassungswidrig gehaltene Norm anwenden und damit "sehenden Auges in das 'offene Messer' einer Aufhebung seines Urteils durch das Bundesverfassungsgericht laufen" müßte. ISO Auch aus diesen Gründen war die Ablehnung von Vorlagemöglichkeiten durch die ältere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Bereich gleichheitswidriger Begünstigungsausschlüsse ls, abzulehnen, da entsprechende Urteilsverfassungsbeschwerden für zulässig gehalten wurden. ls2 Umkehren läßt sich dieser Satz aber nicht. Das heißt: Nicht immer, wenn eine konkrete Normenkontrolle zulässig ist, muß auch eine Verfassungsbeschwerde gegen die fachgerichtliche Entscheidung zulässig sein. ls3 Zur Verdeutlichung kann das Beispiel oben § 4 All herangezogen werden: Dort klagte

149 Daneben dient auch die Verfassungsbeschwerde der Einhaltung objektiven Verfassungsrechts, vgl. BVerfGE 45, 63 (74); JarasslPieroth, 00, Art. 93 Rn. 36; Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 263 m.w.N. Allerdings folgert das Bundesverfassungsgericht aus der auch objektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde nicht eine Ergänzung, sondern eine Einschränkung der subjektiven Rechtsschutzfunktion; kritisch dazu etwa Rinken, in: Alternativkommentar zum 00, Art. 93 Rn. 40; Schlink. NIW 1984, 89 (92 f.). Aus diesem Grund soll die Frage der objektiv-rechtlichen Funktion der Verfassungsbeschwerde im folgenden unerörtert bleiben, da sie für das Verhältnis zwischen Verfassungsbeschwerde und konkreter Normenkontrolle nichts aussagt. - Zu der Frage, inwieweit objektives Verfassungsrecht im Rahmen von Verfahren des subjektiven Rechtsschutzes zum Prtifungsmaßstab gemacht werden kann oder muß, siehe oben § 3 B lid bb. ISO Prägnant Dürig, in: MaunzlDürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 360. In der Sache ebenso Hein, Unvereinbarerklärung, S. 35 m.w.N. ISI Dazu oben § 4 B rr 2. 152 So auch BVerfGE 15,46 (59 f.); 22, 349 (359 ff.). In So im Ansatz auch Ulsamer, in: MaunziSchmidt-Bleibtreu/KleinlUlsamer, BVerfOO, § 80 Rn. 139 (mit allerdings nicht überzeugenden Durchbrechungen); dazu noch unten § 4 C III.

B. Bestimmung des Begriffs der Entscheidungserheblichkeit

259

im Ausgangsverfahren ein Mitglied der vom Gesetz begünstigten Vergleichsgruppe (im entschiedenen Fall eine Frau). 154 Geht das Gericht im Ausgangsverfahren davon aus, daß zwar die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm vorliegen, jedoch diese Norm gegen den Gleichheitssatz verstoße, so stehen prozessuale Aspekte nicht einem Ergebnis entgegen, das zur Zulässigkeit der konkreten Normenkontrolle 155 und gleichzeitig zur Unzulässigkeit einer etwaigen Verfassungsbeschwerde der Begünstigten gegen ihre eigene Begünstigung 156 gelangt.

c) Das konkrete Normenkontrollverfahren als Zwischenverfahren und Folgerungen für die Beurteilungskompetenz der Entscheidungserheblichkeit

Das konkrete Normenkontrollverfahren ist ein Zwischenverfahren. Das konkrete Normenkontrollverfahren dient wie das Ausgangsverfahren der Entscheidung über den dort anhängigen Verfahrensgegenstand. 157 Aus diesem Grunde ist die konkrete Normenkontrolle nur zulässig, wenn die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Norm im Ausgangsverfahren entscheidungserheblich ist (Art. 100 Abs. 1 GG). Aus der Anbindung des Normenkontrollverfahrens an die Entscheidung des Ausgangsverfahrens ergibt sich die Konsequenz, daß für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgeblich ist. 158 Denn das Fachgericht entscheidet, welche Normen im Ausgangsverfahren anzuwenden sind; nur weil es gehindert ist, Gesetze ohne Anrufung des Bundesverfassungsgerichts außer Anwendung zu lassen, muß es zur Normverwerfung das Bundesverfassungsgericht einschalten. Die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts zur Entscheidungserheblichkeit ist jedoch dann nicht maßgeblich, wenn sie (aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen) offensichtlich unhaltbar

1~4 Als Gründe kann man sich vorstellen, daß die Verwaltung die Gewährung der Begünstigung mit der (unzutreffenden) Begründung abgelehnt hat. daß die Tatbestandsvoraussetzungen der Anspruchsnorm nicht vorlägen. I~~ Gegen Zu lässigkeit auch der konkreten Normenkontrolle in diesen Fällen freilich BVerfGE 66. 100 (105 f.); 67, 239 (243 f.). Näher dazu noch unten § 4 C 1lI. 1~6 So die ganz h.M .• die das Rechtsschutzbedürfnis verneint. vgl. z.B. Lübbe-Wo/ff. Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte. S. 241 f.; Völlmeke. NJW 1992. 1345 (1347); a.A. Sachs. in: Festschrift für Friauf. S. 309 (325) unter Bezugnahme auf die ..selbständige Bedeutung des Gleichheitsanliegens und das zu seinem Schutz bestehende Gleichheitsgrundrecht". 157 BVerfGE 42. 42 (49); 74. 182 (198); 77. 259 (261); Schlaich. Das Bundesverfassungsgericht. Rn. 139. 158 BVerfGE 2. 181 (190 f.); Löwer. HStR n. § 56 Rn. 81; Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht. Rn. 145. 17"

260 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

ist. 159 Diese Einschränkung bedarf jedoch wegen der genannten ,,Arbeitsteilung" zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgericht einer restriktiven Handhabung l60 ; das Fachgericht ist auf die ,,Mitwirkung" des Bundesverfassungsgerichts angewiesen. 161

c. Schlußfolgerungen für die Behandlung der ProbleDÜälle Versucht man, die genannten Kriterien zu einem möglichst widerspruchsfreien Gesamtbild der Zulässigkeitsvoraussetzung ,,Entscheidungserheblichkeit" zusammenzufügen und anhand dessen die Behandlung der o.g. Problemfalle durch das Bundesverfassungsgericht zu überprüfen, so ist zunächst die strikte Anbindung des Normenkontrollverfahrens an das Ausgangsverfahren vor dem Fachgericht hervorzuheben. Über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm ist also nur dann zu entscheiden, wenn es im Ausgangsverfahren auf die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes gern. Art. 100 Abs. 1 GG ankommt. Insofern darf die Frage der Verfassungsmäßigkeit nicht erkennbar bedeutungslos für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens sein. 162

I. Zulässigkeit der konkreten Normenkontrolle trotz bloßer Pro-futuro-Wirkung der Unvereinbarerklärung 163 1. Zu erwartende Fortgeltung der Norm auch bei Verfassungswidrigkeit a) Endgültige Hinnahme des verfassungswidrigen Zustands für die Vergangenheit Es fragt sich, wie es sich auf die Entscheidungserheblichkeit auswirkt, daß die Norm selbst dann weiter anzuwenden wäre, wenn das Bundesverfassungsgericht sie für verfassungswidrig halten würde. Betrifft das Ausgangsverfahren etwa die Besoldung oder Besteuerung für 01 und entscheidet das BundesverfasIS9BVerfGE 81, 40 (49) m.w.N.; 86,52 (56); 87,114 (133); 93, 386 (395); st. Rspr. So auch Ehlers, in: SchochlSchmidt-AßmannlPietzner, Anhang § 40 VwGO Art. 100 Abs. I GG Rn. 42; Geiger, EuGRZ 1984,409 (413 f.); Klein, in: UmbachlClemens, BVerfGG, § 80 Rn. 38. 161 Geiger, EuGRZ 1984, 409 (415). Ähnlich Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 769; Löwer, HStR Il, § 56 Rn. 81, 83. 162 Vgl. oben § 4 B II11 c aa. 163 Oben Fallkonstellation § 4 A II1. 160

C. Schlußfolgerungen für die Behandlung der Problemfälle

261

sungsgericht etwa in 09, so steht von vornherein fest, daß sich an der Entscheidung des Ausgangsverfahrens nichts ändern wird, wenn die verfassungswidrige Norm von immenser haushaltsmäßiger Bedeutung ist. In diesen Fällen muß der verfassungswidrige Zustand nur für die Zukunft beseitigt werden. So lag es etwa bei der Besteuerung des Existenzminimums infolge zu niedriger Grundfreibeträge, der Vermögensteuer, der Erbschaftsteuer oder der verfassungswidrigen Ausgestaltung der Umsatzsteuer; 164 die rückwirkende Herstellung eines verfassungsmäßigen Zustandes hätte zu einer untragbaren Belastung gegenwärtiger Haushalte geführt. Damit ist von vornherein erkennbar, daß bei Verfassungsmäßigkeit der Normen im Ausgangsverfahren keine andere Entscheidung zu treffen ist als im Falle ihrer Verfassungswidrigkeit. 165

164 Nachweise oben § 3 B II 2 b. - Soeben hat das Bundesverfassungsgericht allerdings in seinen Entscheidungen zur Familienbesteuerung vom 10.11.1998 angeordnet, daß (nur) die Anlaßfälle von einer ansonsten bloß pro futuro wirkenden Unvereinbarerklärung profitieren müßten; vgl. BVerfGE 99, 216 (245 f.). Siehe dazu bereits oben § 1 Fn. 41 m.w.N. In diesen Fällen ist die Entscheidungserheblichkeit in den Ausgangsverfahren jedenfalls zu bejahen, so daß diese neue Entscheidungsvariante des Bundesverfassungsgerichts, die der Rechtslage nach Art. 140 Abs. 7 S. 2, 3 der österreichischen Bundesverfassung entspricht, der aber im deutschen Recht eine rechtliche Grundlage fehlt (Schwenke, DStR 1999, 404 (407); so auch noch Kirchhof, Focus 10/1996, 94 (98); anders aber ders., HStR V, § 125 Rn. 79 a.E.) im vorliegenden Zusammenhang außer Betracht bleiben soll. 165 Dies gilt nicht nur für den Tenor zur Sache, sondern auch für die Kostenentscheidung. So hatten etwa die Kläger des Ausgangsverfahrens, die die Verfassungswidrigkeit der Besteuerung ihres Existenzminimums (BVerfGE 87, 153 ff.) oder die Gleichheitswidrigkeit der Vermögensbesteuerung (BVerfGE 93, 121 ff.) gerügt hatten, die Kosten des Verfahrens selbst zu tragen, da sie wegen der bloßen Pro-futuro-Wirkung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unterlegen waren. Denn § 135 Abs. 1 FGO, der anordnet, daß der unterliegende Beteiligte die Kosten des Verfahrens trägt, unterscheidet nicht danach, worauf das Unterliegen beruht, und läßt dementsprechend für Billigkeitserwägungen keinen Raum. Vgl. BFH BStBI II 1994, 473 (475) und 522; 1996, 20 (24 f.); Ruban, in: Gräber, FGO, § 135 Rn. 2; Schwarz, in: Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 135 FGO Rn. 21. Kritisch dazu etwa Balke, BB 1995,762 f.; Kirchhof, DStJG 18 (1995), 17 (43 f.); Seer, in: TipkelLang, Steuerrecht, § 23 Rn. 260; Tipke/ Kruse, § 135 FGO Tz. 10. - Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen Urteile auch in Entscheidungen mit bloßer Pro-futuroWirkung (z.B. BVerfGE 91,186 (207) - Kohlepfennig) teilweise die zugrundeliegenden Urteile aufgehoben, um dem Beschwerdeführer durch die Zurückverweisung die Möglichkeit zu geben, die Forderung im Hinblick auf die Weitergeltungsanordnung anzuerkennen, um insoweit der Kostenlast zu entgehen. Auch wurde insoweit die Erstattung der notwendigen Auslagen nach § 34a Abs. 3 BVerfGG angeordnet, vgl. BVerfGE 91, 186 (207). Um eine Zurückverweisung mit der Möglichkeit für den Beteiligten, auf die Weitergeltungsanordnung zu reagieren, geht es im Normenkontrollverfahren jedoch nicht, so daß es sich um nicht übertragbare Besonderheiten der Verfassungsbeschwerde handelt. - Rechtspolitisch erscheint es allerdings in der Tat zweifelhaft, denjenigen Steuerpflichtigen, dessen verfassungsrechtliche Bedenken sich bereits das Fachgericht zu eigen gemacht hat, gegenüber demjenigen in bezug auf die Kostenerstattung zu benachteiligen, der erst Verfassungsbeschwerde gegen die finanzgerichtlichen Entscheidungen erhoben hat. Zweifelhaft erscheint ferner, daß deIjenige, der wenigstens die Be-

262 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

Dennoch geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, daß die Entscheidungserheblichkeit dadurch nicht entfallt,166 wenngleich es in früheren Entscheidungen die Verneinung der Entscheidungserheblichkeit ausdrücklich darauf gestützt hatte, daß eine Unvereinbarerklärung nicht notwendig zu einer Unanwendbarkeit der Norm führen müsse. 167 Eine Begründung findet sich fast nie. 168 Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich ausgeführt, daß es für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlage keine Rolle spielen könne, daß das Bundesverfassungsgericht "im Falle einer Unvereinbarerklärung gemäß § 35 BVerfGG die weitere Anwendung des bisherigen Rechts anordnen kann.,,169 Diese Begründung ist irreführend. Dem Bundesverfassungsgericht steht kein Ermessen bei der Rechtsfolgenbestimmung im Falle der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen zu. Grundsätzlich fordert die Verfassung, daß verfassungswidrige Gesetze auch rückwirkend beseitigt werden. Der Vorrang der Verfassung gilt unbedingt, auch zeitlich. Eine auch nur befristete Weitergeltung verfassungswidrigen Rechts wäre geeignet, den absolut geltenden Vorrang der Verfassung zu relativieren. Ein verfassungswidriger Zustand kann nur dann für eine Übergangszeit hingenommen werden, wenn der eigentlich von der Verfassung geforderte Rechtszustand der Verfassung noch ferner stände als die die Hinnahme des an sich verfassungswidrigen Zustands für die Vergangenheit. 170 Dies kann etwa der Fall sein, wenn die rückwirkende Beseitigung der verfassungswidrigen Rechtslage an logische Grenzen stößt (Beispiel der Nichtigkeit eines Wahlgesetzes; dort stellt sich die Frage, wer das neue Wahlgesetz beschließen soll) oder wenn sie zu von der Verfassung nicht gewollten Konsequenzen führen würde, z.B. einer völligen finanziellen Überforderung, die die Funktionsfähigkeit des Staates, die das Grundgesetz zu gewährleisten sucht, beeinträchtigen

seitigung des verfassungswidrigen Zustands für die Zukunft erkämpft hat, noch mit den Kosten des Verfahrens belastet wird, wenn bereits das Fachgericht sich seine Bedenken zu eigen gemacht hat. 166 BVerfGE 72,51 (62); 87, 153 (180); 93, 121 (131). Anders aber BVerfGE 66, 100 (105). Abweichend auch BVerfGE 79, 245 (250) für den Fall, daß eine untergesetzliche Norm, die auf einem verfassungsrechtlich unzureichenden Ermächtigungsgrundlage beruht, weiter anzuwenden sei. 167 BVerfGE 66, 100 (105). Sehr deutlich auch der Bezug auf die konkret zu erwartenden Rechtsfolgen in BVerfGE 79, 245 (250 f., 252). Dazu oben § 4 A III a.E. 16~ Apodiktisch für Zulässigkeit etwa BVerfGE 72, 51 (62). - Begründungen wären insbesondere vor dem Hintergrund wünschenswert gewesen, daß das Bundesverfassungsgericht selbst seine Ausführungen mit einem "Obwohl" einleitet, diese auch noch am Ende der Begründetheit nachschiebt (vgl. BVerfGE 87, 153 (180» und daß das Bundesverfassungsgericht in anderen Entscheidungen die Unzulässigkeit der Richtervorlage gerade mit Blick auf die konkret zu erwartenden Rechtsfolgen - nämlich die weitere Anwendbarkeit des Gesetzes - begründet hat, vgl. BVerfGE 66, 100 (105); 79, 245 (250 f., 252). 169 BVerfGE 93, 121 (131). - Hervorhebung nur hier. 170 Siehe oben § 2 C III 3 c.

C. Schlußfolgerungen für die Behandlung der Problemfälle

263

würde. 171 Damit ist die Anordnung der weiteren Anwendung einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht jedoch an (enge) Voraussetzungen geknüpft. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, könnte das Bundesverfassungsgericht jedenfalls vorab - schon bei der Prüfung der Zulässigkeit des Verfahrens - feststellen. Wenn das Bundesverfassungsgericht in diesen Fällen die Vorlagen dennoch für zulässig erachtet, so ist die strikte Bindung an die Erfordernisse des Ausgangsverfahrens jedenfalls gelöst. Als weiteres Argument dafür, daß die Entscheidungserheblichkeit nicht entfallt, wenn die verfassungswidrige Rechtslage nur für die Zukunft korrigiert werden muß, führt das Bundesverfassungsgericht an, daß "es Sache des Gesetzgebers (sei) zu entscheiden, ob die Neuregelung die Kläger des Ausgangsverfahrens ... begünstigen wird."I72 Damit setzt das Bundesverfassungsgericht sich jedoch in Widerspruch zu seiner Rechtfertigung für die Anordnung der Fortgeltung der Norm. Diese wurde gerade damit begründet, daß "Gesichtspunkte einer verläßlichen Finanz- und Haushaltsplanung sowie einer entsprechenden Finanz- und Haushaltswirtschaft" einer rückwirkenden Neuregelung entgegenstehen. 173 Durch die "Belastung der gegenwärtigen Haushalte mit Steuererstattungsansprüchen von außerordentlicher Höhe" wäre "die staatliche Finanzplanung gefährdet" und überdies "die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staates bedroht, es sei denn, die Steuern würden temporär erheblich erhöht.,,174 Wenn die genannten engen Voraussetzungen, die eine ausnahmsweise Fortgeltung verfassungswidrigen Rechts für die Vergangenheit und damit eine Relativierung des Grundsatzes des Vorrangs der Verfassung (Art. 20 Abs. 3, Art. lAbs. 3 GG) rechtfertigen können, tatsächlich vorliegen, erscheint eine - überdies vom Bundesverfassungsgericht als rein freiwillig bezeichnete - rückwirkende Neuregelung durch den Gesetzgeber von vornherein ausgeschlossen. 17S Nur am

171 Näher oben § 2 C m 3 c. 172 BVerfGE

87,153 (180). 87,153 (178 f.). 174 BVerfGE 87,153 (179). 175 Dies wird besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß etwa die Vorlage des FG Münster - 2 BvL 8/91 - die Veranlagungszeiträume 1978 bis 1984 betraf und die Entscheidung BVerfGE 87, 153 ff. im September 1992 - also bis zu 14 Jahre später - erging. - Erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch, daß im Sachregister unter BVerfGE 87, 448 unter dem Stichwort "Steuer(n; -recht; -gesetz; verfahren)" wörtlich aufgeführt ist: "Gesichtspunkte einer verläßlichen Finanz- und Haushaltsplanung sowie Finanz- und Haushaltswirtschaft gegen rückwirkende Neurege/ung bei Unvereinbarkeit einer steuerrechtlichen Norm." Auch dieser Erwähnung liegt das Verständnis zugrunde, daß eine rückwirkende Neuregelung nicht in Betracht kommt, zumal das Bundesverfassungsgericht eine Differenzierung zwischen bestandsoder rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren und noch offenen Fällen jedenfalls dann für unzulässig erachtet, wenn "allgemeine, jedem Einkommensteuerfall zugrundeliegende Tatbestände" betroffen sind, vgl. BVerfGE 87, 153 (180). 173 BVerfGE

264 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

Rande sei bemerkt, daß der Gesetzgeber auch tatsächlich von dieser Möglichkeit freiwilliger rückwirkender Neuregelung keinen Gebrauch gemacht hat. Dennoch erscheint es zutreffend, wenn das Bundesverfassungsgericht in diesen Fällen die Entscheidungserheblichkeit (bzw. in Verfassungsbeschwerdeverfahren das Rechtsschutzbedürfnis) bejaht. Denn ansonsten könnte verfassungswidriges Staatshandeln partiell in Individualrechtsschutzverfahren nicht zur Überprüfung gestellt werden. Insofern muß dem Bürger wenigstens die Möglichkeit gegeben werden, ihn betreffende verfassungswidrige Gesetze zur Überprüfung zu stellen und so wenigstens für die Zukunft für Abhilfe sorgen zu können. Ansonsten wäre der Grundsatz des Vorrangs der Verfassung (Art. 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3 GG) auch für die Zukunft dauerhaft gefährdet. soweit es sich um besonders gravierende Mißstände (mit großen finanziellen Auswirkungen) handelt. Aus diesen Gründen erscheint eine teleologische Extension des Art. 100 Abs. 1 GG gerechtfertigt. Eine teleologische Extension kommt in Betracht, wenn eine planwidrige Regelungslücke vorliegt, weil der Gesetzgeber eine bestimmte Fallgestaltung nicht bedacht hat l76 , und ein nicht zu rechtfertigender Wertungswiderspruch vermieden werden muß. 177 Sie unterscheidet sich von der Analogie dadurch, daß bei der analogen Anwendung einer Norm der nicht geregelte Fall dem geregelten Fall ähnlich ist. Wenn ein von dem geregelten verschiedener Tatbestand nach dem Zweck des Gesetzes hätte einbezogen werden müssen, handelt es sich dagegen um eine teleologische Extension. 178 Der Verfassungsgeber ging davon aus, daß verfassungswidrige Gesetze stets nichtig sind, wie auch an der Verwendung des Begriffs der Gültigkeit in Art. 100 Abs. 1 GG deutlich wird. 179 Daß auch verfassungswidrige Gesetze U.V. für eine Übergangszeit fortgelten müssen, wurde erst später deutlich. Eine planwidrige Regelungslücke liegt damit vor. Der Wortlaut des Art. 100 Abs. 1 GG, der stets das Vorliegen der Entscheidungserheblichkeit in den Ausgangsverfahren fordert, ist zu eng. Der Anwendungsbereich des Art. 100 Abs. 1 GG muß daher zur Sicherung des unbedingten Geltungsanspruchs der Verfassung erweitert werden. Die Rechtsfolge der Zulässigkeit der konkreten Normenkontrolle tritt in diesen Fällen auch dann ein, wenn erkennbar ist, daß sich die Annahme der Verfassungswidrigkeit durch das Bundesverfassungsgericht im Ausgangsverfahren nicht auswirken würde. Entscheidungserheblichkeit der Frage der Verfassungswidrigkeit im Ausgangsverfahren - also für zurückliegende

Methodenlehre der Rechtswissenschaft. S. 398. Methodenlehre der Rechtswissenschaft. S. 399. 178 Barth. Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, S. 98 f. m.w.N.; Larenz. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 398. 179 Ausführlich oben § 2 C III 3 a. 176 Larenz.

177 Larenz.

c. Schlußfolgerungen für die Behandlung der Problemfälle

265

Zeiträume - ist also dann nicht zu fordern, wenn der Kläger des Ausgangsverfahrens eine Beseitigung des verfassungswidrigen Zustands für die Zukunft erreichen kann. Er hat ein berechtigtes Interesse daran, die verfassungswidrige Rechtslage, von der er in der Vergangenheit betroffen war, wenigstens für die Zukunft beseitigen zu können. Damit ist zumindest für die Zukunft die Einhaltung des Grundsatzes des Vorrangs der Verfassung aus Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 1 Abs. 3 GG gewährleistet. Noch ein weiteres Argument spricht dafür, daß im Rahmen der Beurteilung der Zulässigkeit einer konkreten Normenkontrolle l80 nur auf den idealtypischen Fall (also Nichtigerklärung bzw. bei gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlüssen Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre) und nicht auf die konkret zu erwartende Tenorierung im Falle der Verfassungswidrigkeit der Norm (also eine eventuelle Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm mit Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes nur für die Zukunft) abzustellen ist. Die Zulässigkeit der konkreten Normenkontrolle wäre jedenfalls dann unproblematisch zu bejahen, wenn man die Folgenberücksichtigung auf Tatbestandsseite vornehmen würde. 181 Würden die nicht hinnehmbaren Folgen einer rückwirkenden Beseitigung des verfassungswidrigen Zustands - z.B. eine völlige finanzielle Überforderung der öffentlichen Haushalte - dazu führen, daß das Gesetz für "noch verfassungsmäßig" erklärt werden müßte, so ergäbe sich von allein, daß im Falle der Verfassungswidrigkeit (Nichtigerklärung oder Unvereinbarerklärung mit Anwendungssperre) eine andere Entscheidung zu treffen wäre als im Falle der Verfassungsmäßigkeit (weitere Anwendung der Norm). Daß der Fall der Nichtigerklärung bzw. Verfassungswidrigerklärung mit Anwendungssperre in diesem Fall nur theoretisch denkbar wäre, würde für die abstrakte Prüfung nach Art. 100 Abs. 1 GG, ob bei Verfassungswidrigkeit eine andere Entscheidung zu treffen wäre als bei Verfassungsmäßigkeit, keine Rolle spielen. Nimmt man die Folgenberücksichtigung dagegen auf der Rechtsfolgenseite vor, indem man die konkreten Folgen der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes im Einzelfall modifiziert, so ist die Frage der Fortgeltung der Norm bei der Alternative zu berücksichtigen, wie das Gericht im Ausgangsverfahren bei Verfassungswidrigkeit der Norm zu entscheiden hat. Insoweit könnte man dann bei konkreter Betrachtung der Rechtsfolgen zu dem Ergebnis kommen, daß wegen der Anwendbarkeit der Norm für die Vergangenheit auch im Falle ihrer Verfassungswidrigkeit die Entscheidung im Ausgangsverfahren bei Verfassungsmäßigkeit der Norm nicht anders ausfällt als bei Verfassungswidrigkeit. Von der Einordnung, ob die Folgenberücksichtigung auf Tatbestands- oder auf

180 Gleiches gilt für die Verfassungsbeschwerde unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzbedürfnisses. 181 In diesem Sinne bekanntlich Teile der Literatur und ältere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Nachweise oben § 2 C III 1,2.

266 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

Rechtsfolgenebene zu erfolgen hat, kann jedoch nicht abhängig gemacht werden, ob ein Normenkontrollverfahren zulässig ist. In diesem Falle würden dogmatische Spitzfindigkeiten über die elementare Frage entscheiden, ob Rechtsschutz gewährt wird oder nicht. Zwar ist die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Norm in diesen Fällen für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens "erkennbar bedeutungslos"182; der "konkrete sachliche Bezug,,183 der Vorlagefrage zum Gegenstand des Ausgangsverfahrens wird in diesen Fällen aber über die grundsätzlich anzunehmenden idealtypischen Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit vermittelt. Die konkrete Normenkontrolle ist daher auch dann zulässig, wenn von vornherein feststeht, daß das Bundesverfassungsgericht im Falle der Verfassungswidrigkeit den ve1j'assungswidrigen Zustand für die Vergangenheit - und damit auch für das Ausgangsverfahren - akzeptieren wird. 184

182 Vgl. BVerfGE 42, 42 (50), wo dieses Kriterium zur Bestimmung der Entscheidungserheblichkeit genannt wird. 183 V gl. BVerfGE 42, 42 (50). 184 Abzulehnen daher insoweit BVerfGE 66, 100 (105); 79, 245 (250 f., 252), wo dem vorlegenden Gericht eine konkrete Prognose darüber abverlangt wird, ob es "noch im Bereich des Möglichen liegt", daß sich die Entscheidung für die Klägerin des Ausgangsverfahrens positiv auswirken könne. - Unzutreffend daher auch BFH BStBI. 11 1998, 671 (672) im vorläufigen Rechtsschutz gegen die Einkommensteuerbelastung 1993: "Bei einer Entscheidung in der Hauptsache (könnte es) nicht zu einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht kommen." Der BFH begründet dies wie folgt: "Das Bundesverfassungsgericht hat trotz der von ihm festgestellten Verfassungswidrigkeit der Vermögensteuer für die Vergangenheit nur Rechtsfolgen für die Zukunft (ab 1997) gezogen. Bei einer Ausdehnung des sog. Halbteilungsgrundsatzes auch auf die Ertragsteuern ist eine andere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht vorstellbar." Ob tatsächlich bereits für die Einkommensteuer 1993 Auswirkungen zu erwarten sind, kann jedoch nach dem Gesagten für die Entscheidungserheblichkeit keine Rolle spielen. Gerade wenn der BFH die Ausführungen in der Vermögensteuerentscheidung zum sog. Halbteilungsgrundsatz zutreffend nur für ein obiter dictum hält (vgl. dazu - auch zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Halbteilungsgrundsatz - Wernsmann, StuW 1998,317 (331 f.», käme es im Ausgangsverfahren vor dem BFH auf die Geltung des Halbteilungsgrundsatzes an. Die Tatsache, daß eine rückwirkende Auswirkung des Halbteilungsgrundsatzes nicht zu erwarten wäre, steht der Entscheidungserheblichkeit nicht entgegen, zumal diese Erwägungen auch für spätere Zeiträume gelten würden (etwa für Vorlagen in 2003 für Veranlagungszeitraum 1998). Der BFH geht daher unzutreffend davon aus, daß eine Vorlage mangels Auswirkungen für die Vergangenheit nicht in Betracht komme. Eine andere Frage ist natürlich, ob der BFH den Halbteilungsgrundsatz für Verfassungsrecht erachtet und das 1993 geltende Einkommensteuerrecht deshalb gern. Art. 100 Abs. 1 GG für verfassungswidrig "hält".

C. Schlußfolgerungen für die Behandlung der Problemnme

267

b) Vorübergehende Fortgeltung der veifassungswidrigen Norm mit späterer rückwirkender Beseitigung des veifassungswidrigen Zustands

In denjenigen Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht die weitere Anwendung der verfassungswidrigen Nonn zwar zuläßt, jedoch den Gesetzgeber zu einer rückwirkenden Beseitigung des verfassungswidrigen Zustands verpflichtet,185 ist die Entscheidungserheblichkeit ohnehin unproblematisch. In diesen Fällen ändert sich nämlich bei Neuregelung durch den Gesetzgeber auch der für das Ausgangsverfahren zugrundezulegende Maßstab.

2. Exkurs: Entscheidungserheblichkeit bei Vorlagen an den Großen Senat des Bundesfinanzhofs Ein interessantes Parallel problem zur Frage der Entscheidungserheblichkeit bei Auswirkungen der Entscheidung nur für die Zukunft betrifft die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs. Der Große Senat des Bundesfinanzhofs entscheidet nach § 11 Abs. 2 FGO, wenn ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats oder des Großen Senats abweichen will (sog. Divergenzanrufung). Ferner kann ihm gern. § 11 Abs. 4 FGO eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung zur Entscheidung vorgelegt werden, wenn das nach Ansicht des erkennenden (vorlegenden) Senats zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (sog. Grundsatzanrufung). Sowohl in den Fällen des § 11 Abs. 2 FGO als auch in den Fällen des § 11 Abs. 4 FGO muß die Rechtsfrage in dem zugrundeliegenden Verfahren l86 jedoch entscheidungs-

185 Dies ist etwa der Fall, wenn nicht die finanziellen Auswirkungen zu untragbaren Ergebnissen führen, sondern nur ein Rechtschaos infolge eines "Rechtsvakuums" verhindert werden muß. Entsprechende Entscheidungen stellen etwa BVerfOE 61, 319 (356 f.); 73, 40 (101 f.) dar. In diesen Fällen ordnete das Bundesverfassungsgericht die Anwendung des § 165 AO (vorläufige Steuerfestsetzung) an, wenngleich § 165 Abs. 1 AO a.F. mit Ungewißheit über die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer nur tatsächliche Ungewißheiten meinte, vgl. dazu oben § 3 B II 2 a; daher war die Anordnung der Anwendung des § 165 AO als Rechtsfolgenverweisung zu verstehen. Mittlerweile ist dieser Fall von § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO erfaßt. 186 Im Fall des § 11 Abs. 2 FOO auch in dem früheren Verfahren, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll.

268 § 4. Rechtsfolgen der Yerfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

erheblich sein. 187 Begründet wird dies damit, daß es nicht Aufgabe des BFH sei, theoretische Gutachten zu erstatten. 188

Der Große Senat des Bundesfinanzhofs führte zur Entscheidungserheblichkeit u.a. aus: 189 "Die Rechtsfrage ... wäre dann nicht entscheidungserheblich, wenn die in einem Teil des Schrifttums vertretene Ansicht zuträfe, daß eine verschärfende Rechtsprechung nicht rückwirkend angewendet werden dürfe. l90 Diese Auffassung ist nicht etwa so zu verstehen, daß der Große Senat zwar im Anrufungsfalle in der Entscheidung frei sei und daß nur die Yerwaltungsbehörden und - diesen folgend - die anderen Gerichte die neue Rechtsprechung nicht rückwirkend anwenden dürften. Vielmehr geht sie dahin, schon der Große Senat dürfe keine solchen neuen Rechtsprechungsgrundsätze entwickeln. 191"

Damit verneint der Große Senat des Bundesfinanzhofs die Entscheidungserheblichkeit, wenn von vornherein feststeht, daß sich die Entscheidung - wegen bloßer Wirkung für die Zukunft - auf den Ausgangsfall nicht auswirken werde. Die Parallele zu den Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit feststellt, aber eine Beseitigung nur für die Zukunft fordert, drängt sich auf. Das Bundesverfassungsgericht bejaht in diesen Fällen die Entscheidungserheblichkeit i.S.d. Art. 100 Abs. 1 GG I92 , obwohl sich für das Ausgangsverfahren, das regelmäßig vergangene Zeiträume betrifft, nichts ändern wird. Der Große Senat des Bundesfinanzhofs verwirft sodann die Rechtsansicht, daß eine rückwirkende rechts verschärfende Rechtsanwendung prinzipiell unzulässig sei, 193 mit folgenden Erwägungen: "Wäre sie (die genannte Rechtsansicht) richtig, dann müßte jeder einschlägige Rechtsfall nach den bisherigen Grundsätzen entschieden werden und alle weiteren Erwägungen des Gerichts hinsichtlich einer Fortbildung des Rechts dürften nicht den Streitfall betreffen, wären also obiter dicta, dürften damit gar nicht in die Entscheidung eingehen.,,194

187 ygl. nurBFH GrS BStBI. 11 1976,262 (264); 1981, 164 (167); Ruban, in: Gräber, FGO, § 11 Rn. 2, 11; Tipke/Kruse, § 11 FGO Tz. 5, 7. 188 BFH GrS BStBI. II 1968, 285 (286); Ruban, in: Gräber, FGO, § 11 Rn. 2; Tipke/ Kruse, § 11 FGO Tz. 7. 189BFHE (GrS) 141,405 (416). 190 ygl. Tipke. Steuerrecht, 9. Auflage 1983, S. 47 f. m.w.N. 191 So ausdrücklich Tipke. Steuerrecht, 9. Auflage 1983, S. 48. I92Ygl. BYerfGE 72,51 (62); 87,153 (180); 93,121 (131). 193 Y gl. zum heutigen Problemstand und der weiterhin in großen Teilen kritischen Literatur Tipke/Lang. Steuerrecht, § 4 Rn. 183 m.w.N. 194 BFHE (GrS) 141,405 (416).

c. Schlußfolgerungen für die Behandlung der Problemfälle

269

Eine ,,Erstarrung der Rechtsordnung" könne nicht durch die Möglichkeit einer Anwendung der geänderten Rechtsprechung für die Zukunft verhindert werden, da die Gerichte keine "Rechtsgutachten" erstatten dürften und es somit gar nicht erst zu einer solchen geänderten Rechtsprechung kommen könne. 195 Denn Anrufungen des Großen Senats wären in diesen Fällen mangels Entscheidungserheblichkeit unzulässig, so daß schon zwecks Vermeidung einer Erstarrung der Rechtsprechung eine rückwirkende verschärfende Rechtsanwendung hingenommen werden müsse. Daneben folgert der Große Senat des Bundesfinanzhofs die Zulässigkeit einer rückwirkenden verschärfenden Rechtsprechung aus der einfachgesetzlichen Regelung des § 176 AO, der aber zur Frage der verfassungsrechtlichen Zu lässigkeit ,,rückwirkender" Rechtsprechungsänderungen nichts aussagen kann. 196 Inhaltlich soll hier zur Frage der Zulässigkeit ,,rückwirkender" Rechtsprechungsänderungen nicht abschließend Stellung genommen werden. Aufschlußreich ist im vorliegenden Zusammenhang vielmehr die Argumentation des Großen Senats, die Entscheidungserheblichkeit zu verneinen, wenn das "an sich" richtige Ergebnis, das aufgrund der Gesetzesauslegung isoliert betrachtet zutreffend wäre, im Ausgangs/all nicht zur Anwendung kommen könnte, weil besondere übergeordnete Umstände 197 dies verhindern. In diesen Fällen kollidiert das Prinzip der Unabhängigkeit der Gerichte (Art. 97 GG), wozu auch die Möglichkeit einer Rechtsprechungsänderung zählt, mit der strikten Anbindung an den Ausgangsfall. Es fragt sich, ob insoweit nicht auch hier in einem ersten Schritt zu fragen ist, wie der Ausgangsfall zu entscheiden wäre, und erst in einem zweiten Schritt festzustellen, ob eine Anwendung dieser Grundsätze im Ausgangsverfahren ausnahmsweise wegen höher zu bewertender Vertrauensschutzgesichtspunkte nicht in Betracht kommt. Das Bundesverfassungsgericht ist diesen Weg im umgekehrten Fall, in dem Gesichtspunkte einer verläßlichen Finanz- und Haushaltsplanung 198 einer rückwirkenden Beseitigung des grundrechtswidrigen Zustandes entgegenstanden, gegangen. Die Entscheidungserheblichkeit wurde bejaht. Dadurch konnte wenigstens für die Zukunft eine verfassungsmäßige Rechtslage erreicht werden. Damit wird eine "Erstarrung in der Verfassungswidrigkeit" verhindert. Diese würde eintreten, wenn die Entscheidungserheblichkeit verneint würde und die Steuerpflichtigen gegen den verfassungswidrigen Zustand nicht vorgehen könnten. In dem Fall der "rückwirkenden" Rechtsprechungsänderung fragt es sich, ob hier nicht ebenfalls Vorgaben für die nunmehr als ,,richtig" erkannte

(GrS) 141,405 (416). Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 183. 197 Im genannten Fall kommen etwa aus dem Rechtsstaatsprinzip fließende Yertrauensschutzgesichtspunkte in Betracht; vgl. dazu etwa Dürig, in: MaunzIDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 402, 404 ff.; Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 183. 198 ygl. BYerfGE 81,363 (385); 87,153 (178 f.); 93,121 (148); 93,165 (178). 195 BFH

196 Zutreffend

270 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

Gesetzesauslegung gemacht werden könnten und die Entscheidungserheblichkeit trotzdem bejaht werden könnte.

11. Entscheidungserheblichkeit bei Nichtigerklärung der Drittbevorzugung l99 1. Uneingeschränkte Maßgeblichkeit des idealtypischen Falls

Die konkrete Normenkontrolle ist wie gesehen auch dann zulässig, wenn sich eine etwaige Normverwerfung durch das Bundesverfassungsgericht im Ausgangsveifahren wegen einer bloßen Pro-futuro-Wirkung nicht auswirken wird. Welche konkreten Rechtsfolgen sich an die Unvereinbarerklärung im Einzelfall knüpfen (bloße Pro-futuro- oder Ex-tunc-Wirkung), ist damit für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG unbeachtlich. Damit stellt sich die Frage, warum das Bundesverfassungsgericht in den Fällen, in denen eine gleichheitswidrige Drittbevorzugung für nichtig (also nicht nur für unvereinbar) erklärt werden würde, Richtervorlagen für unzulässig hält. In diesen Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht aufgrund hypothetischer Erwägungen annimmt, daß eine Einbeziehung des Klägers des Ausgangsverfahrens in die Begünstigung nicht in Betracht kommt,200 kann der Kläger des Ausgangsverfahrens seine Rechtsposition im Ausgangsveifahren nicht verbessern. Nur bei Betrachtung der konkret zu erwartenden Rechtsfolgen kann man zu dem Ergebnis kommen, daß sich im Falle der Verfassungswidrigkeit der Norm der "für das Ausgangsverfahren einschlägige Maßstab gegenüber der vorgelegten Norm" nicht ändert. 201 Abgesehen von den oben bereits genannten Bedenken gegen die Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Gesetzgebers durch das Bundesverfassungsgericht202 erscheint die Differenzierung danach, ob die Drittbevorzugung für unvereinbar oder für nichtig erklärt werden müßte, auch aus anderen Gründen verfehlt. Verfassungsverstöße, die nach dem vom Gesetzgeber gewählten Sy-

Oben Fallkonstellation § 4 A I. Rspr., vgl. z.B. BVerfGE 74,182 (195 f.); 84, 233 (237 f.); 93,386 (395 f.). 201 So die Formulierungen in BVerfGE 84, 233 (237) m.w.N. 202 Oben wurde nachgewiesen, daß die Ermittlung des hypothetischen Willens des Gesetzgebers durch das Bundesverfassungsgericht häufig zu Fehlschlüssen geführt hat, vgl. insbesondere die Ausführungen zum Beispiel der Vermögensteuerentscheidungen oben § 3 B I I c cc (2). Gegen die Berücksichtigung von Prognosen auch Ehlers, in: Schoch/Schmidt-AßmannlPietzner, VwGO, Anhang § 40 Art. 100 Abs. I GG Rn. 39. 199

200 St.

C. Schlußfolgerungen für die Behandlung der Problemfalle

271

stem 20J irreparabel erscheinen müssen - also völlig systemwidrige Drittbevorzugungen -, könnten dann nicht angegriffen werden, während Normen, die "reparabel verfassungswidrig,,204 sind, bei denen eine Neuregelung nach einer Verwerfung der Norm dem Bundesverfassungsgericht also nicht in eine bestimmte Richtung präjudiziert erscheint, angegriffen werden könnten. Ein solches Ergebnis erscheint in der Tat paradox. 2os In dieser Fallkonstellation gelten vielmehr dieselben Erwägungen, die in den Pro-futuro-Fällen zu einer teleologischen Extension des Art. 100 Abs. 1 GG geführt haben. Zwar hat die etwaige Nichtigerklärung der drittbevorzugenden Norm ebenfalls keinen Einfluß auf das Ausgangsverfahren. Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat jedoch ein berechtigtes Interesse daran, Gleichbehandlung zu erreichen. Zum einen wird nicht nur das Gerechtigkeitsempfinden verletzt, wenn der Gesetzgeber bestimmte Gruppen privilegieren kann und die benachteiligten Bürger keine Überprüfung durch das zuständige Gericht herbeiführen können, sondern die Bevorzugung anderer auf Dauer hinnehmen müssen. 206 Zum anderen bedeutet im Steuerrecht die Privilegierung der einen Gruppe stets auch eine über die bloße Ungleichbehandlung hinausgehende Benachteiligung der anderen Gruppe, da Einnahmeausfälle aufgrund der Verschonung der bevorzugten Gruppe tendenziell auf alle Steuerpflichtigen umgelegt werden müssen und dadurch die eigene Steuerbelastung tendenziell weiter steigt. 207 Auf dieses Argument kommt es zur Eröffnung des Rechtsschutzes nach der hier vertretenen Gesamtbetrachtung zwar nicht an, es mag jedoch verdeutlichen, daß hinter dem Gleichheitsanliegen durchaus nachvollziehbare Gerechtigkeitserwägungen stehen. Stützt das Bundesverfassungsgericht die Nichtigerklärung der Drittbegünstigung auf den hypothetischen Willen des Gesetzgebers, besteht außerdem die Möglichkeit, daß dieser sich doch anders als prognostiziert verhält. 208 Problematisch sind einzig die (seltenen) Fälle, in denen die Verfassung die Drittbevor203 Zur Behandlung eines Verfassungsverstoßes, der aufgrund den Vorgaben der Verfassung nur in eine Richtung geheilt werden kann, unten § 5. Dabei handelt es sich

um die Fälle der absolut verfassungswidrigen Drittbevorzugung. 204 Ehlers, in: SchochlSchmidt-AßmannlPietzner, VwGO, Anhang § 40 Art. \00 Abs. I GG Rn. 39. 205 Zutreffend Ehlers, in: SchochlSchmidt-AßmannlPietzner, VwGO, Anhang § 40 Art. 100 Abs. I GG Rn. 39; Völlmeke, NJW 1992, 1345 (1347). 206 Hierauf abstellend BFHE 165,172 (177); Völlmeke. NJW 1992,1345 (1347). 207Vgl. dazu oben § 3 B I I d aa (4) m.w.N. 208 Hier sei an die oben § 3 B I I c cc (2) dargestellten Vermögensteuer-Entscheidungen erinnert. Im Gefolge der Vermögensteuer-Entscheidung aus dem Jahre 1995 (BVerfGE 93, 121 ff.) fiel die Vermögensteuer ganz weg. Daraus folgte eine BessersteIlung der Wertpapierbesitzer, die BVerfGE 23, 242 (254 ff.) infolge reinen Argumentierens mit Alternativen bei Beibehaltung der Vermögensteuer noch für ausgeschlossen gehalten hatte. Insofern auch unzutreffend BVerfGE 84, 233 (237 f.).

272 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

zugung absolut - d.h. unabhängig von dem Verstoß gegen den Gleichheitssatz verbietet. Nach h.M. kann der Benachteiligte seine eigene Rechtsposition nicht verbessern ("keine Gleichheit im Unrecht") und auch nicht die Drittbevorzugung anfechten. Diese Fragen betreffen die Schutzrichtungen des Gleichheitssatzes; auf diesen Sonderfall wird unten 209 eingegangen. In den meisten Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungserheblichkeit unter Bezugnahme auf den hypothetischen Willen des Gesetzgebers verneint, ist diese wegen des Abstellens auf den idealtypischen Fall zu bejahen. Die Frage, ob auf die Zulässigkeitsvoraussetzung der Entscheidungserheblichkeit ausnahmsweise verzichtet werden kann,2IO wie es das Bundesverfassungsgericht in besonderen Ausnahmefällen in analoger Anwendung des § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG bei "allgemeiner und grundsätzlicher Bedeutung für das Gemeinwohl" zugelassen hat,211 stellt sich daher insoweit nicht.

2. Zwischenergebnis Eine konkrete Normenkontrolle ist auch dann zulässig, wenn von vornherein feststeht, daß die fragliche Norm auch im Falle ihrer Verfassungswidrigkeit weiter angewendet werden müßte,212 obwohl dann im Ausgangsverfahren im Falle der Verfassungswidrigkeit keine andere Entscheidung getroffen werden wird als im Falle der Verfassungsmäßigkeit. 213 Eine konkrete Normenkontrolle ist aber auch dann zulässig, wenn das Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, daß eine drittbevorzugende Norm für nichtig erklärt werden müßte, weil nach dem hypothetischen Willen des Ge-

§ 5. Vgl. dazu Völlmeke, NJW 1992, 1345 (13470, die mit dieser Argumentation zur Zulässigkeit der konkreten Normenkontrolle in den Fällen von Steuerprivilegien zu gunsten Dritter kommen will. 211 BVerfGE 47, 146 (Leitsatz und S. 159). Dort wurde die Entscheidungserheblichkeit bejaht, obwohl eine (sehr aufwendige) Beweisaufnahme zu atomrechtlichen Fragen noch nicht durchgeführt worden war und somit noch nicht sicher feststand, ob es auf die Verfassungsmäßigkeit der einschlägigen Nonnen gern. Art. 100 Abs. I GG ankam, vgl. BVerfGE 47, 146 (163). 212 Zutreffend BVerfGE 72, 51(62); 87, 153 (180); 93, 121 (131). Abweichend BVerfGE 66, 100 (105) sowie zu einem ähnlichen Problem (Fortgeltung der untergesetzlichen Norm bei Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Ennächtigungsgrundlage) BVerfGE 79,245 (250 f., 252). 213 Oben § 4 C I I a. 209

2lO

C. Schlußfolgerungen für die Behandlung der Problemfalle

273

setzgebers keine Chance besteht, daß die Benachteiligten in die bessere Regelung einbezogen werden könnten. 214 Abzustellen ist also immer auf den idealtypischen Fall. Im idealtypischen Fall kann eine gleichheitswidrige Belastung abgewehrt werden, und bei drittbegünstigenden Normen kann nach einer Unvereinbarerklärung (mit Anwendungssperre) eine Aussetzung bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber erreicht werden. Hinzutretende Erwägungen - sei es das Verhalten des Bundesverfassungsgerichts selbst, was die Anordnung der Fortgeltung der Norm angeht,215 sei es der hypothetische Wille des Gesetzgebers, welche Lösung dieser gewählt hätte, wenn er um die Verfassungswidrigkeit der Rechtslage gewußt hätte können richtiger Ansicht keinen Einfluß auf die Beurteilung der Zulässigkeit der Normenkontrolle haben. Insoweit steht die Bedeutungslosigkeit der Verfassungsmäßigkeit der Norm für das Ausgangsverfahren ausnahmsweise der Zulässigkeit der Normenkontrolle nicht entgegen.

111. Erfordernis der Beteiligung Benachteiligter am Ausgangsverfahren?216 1. Das Rechtsfolgenargument

Das Bundesverfassungsgericht hält Vorlagen für unzulässig, wenn der Richter in einem Rechtsstreit lediglich beanstandet, daß der Gesetzgeber eine am Verfahren nicht beteiligte Personengruppe zu Unrecht bei der Gewährung einer Leistung außer acht gelassen habe. 217 Wie bereits erwähnt, hat das Bundesverfassungsgericht seine These maßgeblich damit begründet, daß die Verfassungswidrigkeit "nicht schon zwangsläufig zur Nichtigkeit und damit zur völligen

214 Ebenso Ehlers, in: SchochlSchmidt-AßmannlPietzner, VwGO, § 40 VwGO Anhang Art. 100 Abs. 1 GG Rn. 39; Völlmeke, NJW 1992, 1345 ff. a.A. BVerfG (Nachweise oben § 4 AI). 215 Insoweit ebenso Löwer, HStR 11, § 56 Rn. 78 a.E. 216 Oben Fallkonstellation § 4 A 11. 217 BVerfGE 66,100 (105 ff.); 67, 239 (243 f.). Vgl. auch BVerfGE 66,226 (231 f.): "Eine Vorlage ist unzulässig, wenn das Gericht seinen verfassungsrechtlichen Beanstandungen einen konstruierten Sachverhalt zugrunde legt." Ähnlich BVerfGE 80, 68 (71). Implizit anders jetzt aber BVerfGE 99,280 (288 f. i.V.m. 298 ff.) zur Steuerfreiheit der StelIenzulage Ost. Die Vorlage hielt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts für zulässig, obwohl es im Ausgangsverfahren um Steuerprivilegien der Bevorzugten ging. Diese erklärte das Bundesverfassungsgericht aus Vertrauensschutzgründen trotz Verfassungswidrigkeit für weiter anwendbar. 18 Wernsmann

274 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

Unanwendbarkeit der beanstandeten Regelung führen (würde).,,218 Das Bundesverfassungsgericht folgert also aus der Tatsache, daß die begünstigende Anspruchs norm zugunsten der vom Gesetz begünstigten Person möglicherweise weiter angewendet werden muß, die mangelnde Entscheidungserheblichkeit in Verfahren der Begünstigten. 2J9 Wie soeben 22o dargelegt, kann die Bezugnahme auf hinzutretende Erwägungen bezüglich der konkreten Rechtsfolge im Einzelfall nicht zur Vemeinung der Entscheidungserheblichkeit führen. Auch führt eine Unvereinbarerklärung nicht dazu, daß die Begünstigten generell weiterhin in den Genuß der ihnen gleichheitswidrig gewährten Begünstigung bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber kommen. 221

2. Versubjektiviemng des Normenkontrollverfahrens? Das Bundesverfassungsgericht begründet die Zulässigkeitsvoraussetzung, daß Mitglieder der benachteiligten Vergleichsgruppe am Ausgangsverfahren beteiligt sein müßten, darüber hinaus wie folgt: "Eine verfassungsrechtliche Beanstandung könnte hier nur darin bestehen, daß Männer von der im Gesetz vorgesehenen Vergünstigung ausgeschlossen sind. In derartigen Fällen ist es aber Voraussetzung der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde oder eines Verfahrens der konkreten Normenkontrolle, daß im Ausgangsverfahren Ansprüche der benachteiligten Personengruppe strittig sind. ,,222

218 So BVerfGE 66, 100 (105). In BVerfGE 67,239 (243 f.) wird keine Begründung mehr geliefert. Ähnlich die Betrachtung der konkret zu erwartenden Rechtsfolgen BVerfGE 79, 245 (250). 219 Vgl. oben Beispiel § 4 A II. 220 § 4 C I, II. 221 Zutreffend Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 786, die darauf hinweisen, daß nicht immer Vertrauensschutzgesichtspunkte entgegenstehen. Außerdem wäre dies kollidierendes Verfassungsrecht auf der Rechtsfolgenseite. Eine darauf beruhende Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm wegen relativ größerer Verfassungsnähe stände der Zulässigkeit nach dem eben Gesagten nicht entgegen. Nicht überzeugend dagegen H. Klein, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 80 Rn. 59, der BVerfGE 66, 100 (105 ff.) und 67, 239 (243 f.) mit der Erwägung zustimmt, daß auch bei Verfassungs widrigkeit der Norm, die den Kläger des Ausgangsverfahrens begünstigt, im Ausgangsverfahren keine andere Entscheidung getroffen werden könnte als bei Verfassungsmäßigkeit der Norm. Eine Unvereinbarerklärung führt grundsätzlich auch und gerade zu einer Anwendungssperre des Gesetzes zum "Nachteil" der bisher Begünstigten; eine weitere Anwendung der begünstigenden Norm kann nur bei Vorliegen weiterer Umstände (relativ größerer Verfassungsnähe) in Betracht kommen. Siehe dazu oben § 3 B I 1 a dd (3). 222 BVerfGE 66, 100 (105 f.). Der Sache nach ebenso BVerfGE 67, 239 (243 f.).

C. Schlußfolgerungen für die Behandlung der Problemfalle

275

Aus diesem Zitat wird zweierlei ersichtlich: Erstens wird die "verfassungsrechtliche Beanstandung" nur auf den Ausschluß bezogen. Daß nicht nur das " Unterlassen" der Einbeziehung verfassungswidrig ist, sondern auch das "Tun" der Begünstigung nur einer Gruppe, wurde oben 223 bereits dargelegt. Zweitens setzt das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle Verfassungsbeschwerde und konkrete Nonnenkontrolle in den Zulässigkeitsvoraussetzungen gleich. Die Verfassungsbeschwerde ist indes ein primär subjektiv-rechtlicher Rechtsbehelf, der nur zulässig ist, wenn eine Verletzung des Beschwerdeführers in einem seiner in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG zumindest möglich erscheint, während das konkrete Normenkontrollverfahren ein objektiv-rechtliches Zwischenverfahren ist. 224 Als solches dient es nicht dem individuellen Rechtsschutz im Einzelfall, sondern der Prüfung, ob eine Norm mit der Verfassung vereinbar ist oder nicht. 225 Wenn das Bundesverfassungsgericht für die Zu lässigkeit einer konkreten Normenkontrolle fordert, daß im Ausgangsverfahren Mitglieder der benachteiligten Vergleichs gruppe beteiligt sein müssen, so liegt darin eine verfehlte Versubjektivierung des Normenkontrollverfahrens und auch der Verfassungsmäßigkeit einer Norm. 226 Sehr deutlich wird die Versubjektivierung des Normenkontrollverfahrens auch daran, daß das Bundesverfassungsgericht in einer späteren Entscheidung die Unzulässigkeit einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG ergänzend damit begründet hat, daß "noch nicht einmal die Beklagte des Ausgangsverfahrens ihre Verpflichtung in Frage" gestellt habe. 227 Damit läßt das Bundesverfassungsgericht völlig außer acht, daß es im Ausgangsverfahren auch um die Bindung des Richters an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3 GG) geht. 228 Wenn die Beteiligten nicht schon im Ausgangsverfahren die Verfassungswidrigkeit einer Norm rügen, mag dies nach dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde zur Unzulässigkeit einer späteren Verfassungsbeschwerde führen. 229 Die Verfassungsbeschwerde ist ein

§ 3 B I I a dd (2). oben § 4 B III 2 a. m So auch BVerfGE 72, 51 (62). 226 Zutreffend Aretz, JZ 1984,918 (921 f.); Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 786; Löwer, HStR 11, § 56 Rn. 80; Sachs, DVBI. 1985, 1106 (1107, 1111). 227 BVerfGE 67,239 (244). 228 Vgl. Löwer, HStR 11, § 56 Rn. 79; ähnlich Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn. 786. Vgl. auch BFHE 154,383 (387) zum Fall einer mittelbaren Grundstücksschenkung, der also ein Mitglied der bevorzugten Gruppe betraf: "Nach allem ist der Senat wegen der Unzulässigkeit einer Richtervorlage gezwungen, im vorliegenden Fall von den Einheitswerten auszugehen, die er als auf verfassungswidrig gewordenem Recht beruhend ansieht." 229 So BVerfGE 69, 122 (125 f.); Kley/Rühmann, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 90 Rn. 96; kritisch dazu etwa Posser, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, S. 188 ff.; Warmke, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, S. 115 ff.; Schlaich, 223

224 Dazu

IS·

276 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

subjektiver Rechtsbehelf, den ein Beteiligter u.U. verlieren kann, wenn er bestimmte Rügen versäumt hat. Bei der Frage, ob das Fachgericht seiner Ansicht nach verfassungswidriges Recht anzuwenden hat, geht es jedoch auch um die Bindung der Richter an die Verfassung nach Art. 20 Abs. 3, Art. lAbs. 3 GG, die nicht von einer Rüge der Verfahrensbeteiligten abhängig sein kann. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts230 wird in der Literatur teilweise mit folgenden Erwägungen zu halten versucht: Der Richter, der über einen Begünstigungsausschluß solcher Personen nachdenke, die nicht an dem von ihm zu entscheidenden Prozeß beteiligt sind, denke "über seinen Prozeß hinaus. Denn er (benenne) zur Begründung der Vorlage gleichheitswidrig Benachteiligte, die mit seinem Prozeß nichts zu tun haben.'.231 Dieser Einwand geht indes völlig an der Struktur jedes Gleichheitsverstoßes vorbei. Wie oben 232 bereits dargelegt wurde, kann ein Gleichheitsverstoß immer nur erkannt werden, indem die (abweichende) Behandlung einer Vergleichsgruppe analysiert wird. Ein Gleichheitsverstoß setzt zunächst immer eine Ungleichbehandlung voraus, und diese ergibt sich stets nur aus dem Vergleich mit einer anderen - in der Regel nicht am Ausgangsverfahren beteiligten - Personengruppe. Insofern denkt jeder Richter, der einen Gleichheitsverstoß annimmt, über seinen Prozeß hinaus, und er muß dies auch tun, weil er sonst die Vergleichsgruppe nicht in den Blick bekommt. Insoweit kann auch nicht argumentiert werden, daß dem Bundesverfassungsgericht die Fallanschauung fehle,233 wenn es im Ausgangsverfahren um Rechte der bevorzugten Personengruppe geht. Denn von der Anschauung her macht es keinen Unterschied, ob die bevorzugte Frau im Ausgangsverfahren klagt oder der benachteiligte Mann. Das Bundesverfassungsgericht führt schließlich aus, es könne nicht Sinn der konkreten Normenkontrolle sein, daß ein Gericht im Wege einer Vorlage "Gesetzesinitiativen zugunsten Dritter" sogar dann auslösen könne, wenn diese selbst keine Ansprüche erheben. 234 Das Auslösen einer "Gesetzesinitiative" beruht in diesen Fällen indes darauf, daß ein verfassungswidriger Zustand besteht, der beseitigt werden muß, da ansonsten im Ausgangsverfahren ein gleichheits-

Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 241 m.w.N. Vgl. auch Stern, Staatsrecht III/2, § 91 IV 3 g (S. 1327 ff., insbes. 1329 ff.). S. ferner oben § 1 A. 230 BVerfGE 66, 100 (Leitsatz und S. 105 ff.); BVerfGE 67, 239 (Leitsatz und S. 243 f.). 231 So Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 142 a.E. 232 Näher § 3 B I 1 c. m Zur Wichtigkeit der Fallanschauung durch fachgerichtliche Vorklärung, um ein ,,sich-Vergreifen" des Bundesverfassungsgerichts auszuschließen, vgl. nur Löwer, HStR 11, § 56 Rn. 157 m.w.N. 234 S0 BVerfGE 66,100 (106 f.).

C. Schlußfolgerungen für die Behandlung der Problemfalle

277

widriges (gleichheits widrig begünstigendes) Gesetz angewendet werden muß. Der Gleichheitssatz ist - anders als Freiheitsrechte in ihrer originären Funktion - sowohl auf Begünstigungen als auch auf Belastungen anwendbar 235 ; dann ist aber auch eine gleichheitswidrig erfolgende Begünstigung verfassungswidrig. Daß das Bundesverfassungsgericht in diesen Fällen u.U. auf eine Nichtigerklärung - wegen der verschiedenen Möglichkeiten für den Gesetzgeber, eine verfassungskonforme Neuregelung zu treffen - verzichtet und damit "Gesetzesinitiativen" auslöst, ist nur eine Besonderheit des Gleichheitssatzes, vermag jedoch nicht die angebliche Unzulässigkeit der Richtervorlage zu begründen. 236 Die Unvereinbarerklärung bei drittbegünstigenden Gesetzen diente der aus systematischen und prozeßökonomischen Gründen gebotenen Erweiterung der Vorlagemöglichkeiten und damit einer Ausdehnung des Rechtsschutzes der Benachteiligten im Bereich des Leistungsrechts. 237 Die "Chance der Verbesserung der eigenen Rechtsstellung" ist eine hinreichende Bedingung der Entscheidungserheblichkeit. Es ist jedoch unzutreffend, diese hinreichende Bedingung in eine notwendige Bedingung urnzuqualifizieren. Genau dies ist jedoch der Fall, wenn das Bundesverfassungsgericht Vorlagen für unzulässig erklärt, in denen der Beteiligte des Ausgangsverfahrens seine Rechtsposition nicht verbessern kann, weil er etwa selbst der gleichheitswidrig Begünstigte ist.

3. Niemals Entscheidungserheblichkeit?

Gegen die Rechtsprechung spricht schließlich noch folgendes: Betrachtet man die beiden Fallkonstellationen oben § 4 A I und 11 und setzt sie zueinander in Bezug, so wird offenkundig, daß es Konstellationen gibt, in denen die Verfassungsmäßigkeit einer Norm weder in Verfahren der Benachteiligten noch in Verfahren der Bevorzugten entscheidungserheblich wäre, wenn die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts richtig wären. Die These, daß eine Vorlage unzulässig sei, wenn der Richter lediglich beanstandet, daß eine am Verfahren nicht beteiligte Personengruppe benachteiligt werde,238 hat das Bundesverfassungsgericht zwar zunächst maßgeblich mit den zu erwartenden Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit (nämlich der Weitergewährung der Begünstigung im konkreten Fall) begründet,239 jedoch später verallgemeinert und vollständig von

Nachweise oben § 3 B I I a aa. Im Ergebnis ebenso Sachs, DVBI. 1985, 1106 (l107). 237 Nachweise oben § 4 B 11 2. 238 BVerfGE 66, IOD (Leitsatz und S. 105 ff.); BVerfGE 67, 239 (Leitsatz und S. 243 f.). 239 BVerfGE 66, IOD (105). 235 236

278 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

dem Bezug auf die konkret zu erwartende Weiteranwendung der begünstigenden Norm gelöst. 240 In Verfahren der möglicherweise gleichheitswidrig Bevorzugten wäre die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Norm somit nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht entscheidungserheblich. 241 In Verfahren der möglicherweise gleichheitswidrig Benachteiligten würde das Bundesverfassungsgericht die Frage der Verfassungsmäßigkeit nicht für entscheidungserheblich erachten, wenn keine Chance auf Verbesserung der eigenen Rechtsstellung des Klägers bestünde 242 (und die drittbevorzugende Vorschrift somit für nichtig (und nicht bloß für unvereinbar) erklärt werden müßte). Dies ist etwa bei Steuerprivilegien der Fall, bei denen die Ausgeschlossenen nicht damit rechnen können, einbezogen zu werden. 243 Damit besteht in diesen Fällen ein Raum, in dem kein Individualrechtsschutz möglich ist?44 Lediglich abstrakte Normenkontrollverfahren wären in diesen Fällen möglich. Paradox erscheint außerdem, daß es in diesen Fällen weder in den Verfahren der Bevorzugten noch der Benachteiligten auf die Verfassungsmäßigkeit etwa der Norm, die das Steuerprivileg gewährt, ankommen soll. Auf die Verfassungsmäßigkeit einer Norm, die in einer Vielzahl von Fällen angewendet und in einer Vielzahl von Fällen - auf die Ausgeschlossenen - nicht angewendet wird, soll es also niemals ankommen.

240 BVerfGE 67, 239 (243 f.) nimmt nicht mehr auf die zu erwartenden Rechtsfolgen im Falle der Verfassungswidrigerklärung Bezug. Ebenso Ulsamer, in: MaunziSchmidtBleibtreu/KleinlUlsamer, BVerfGG, § 80 Rn. 139. Demgegenüber geht Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 40 Anhang Art. 100 Abs. 1 GG Rn. 38 mit Fn. 129 unter Bezugnahme auf BVerfGE 66, 100 (105) davon aus, daß bei zu erwartender Nichtigerklärung der den Beteiligten des Ausgangsverfahrens begünstigenden Nonn die Entscheidungserheblichkeit zu bejahen sei. Indes ist diese Differenzierung in BVerfGE 67, 239 (243 f.) nicht mehr zu finden, so daß davon auszugehen ist, daß es sich bei der Bezugnahme auf die Rechtsfolgen nur um eine ursprüngliche Begründung der Rechtsprechung handelte, deren unzutreffende Folgerungen sich später zu einem nicht begründbaren Dogma verselbständigt haben. - Diese Verwirrung zeigt jedenfalls auch die Fragwürdigkeit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 241 Anders nunmehr aber BVerfGE 99, 280 (288 f. LV.m. 298 ff.) auf Vorlage von FG Brandenburg EFG 1995, 977 (981). Ebenso auch bereits Pezzer, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, A III 3 Rn. 7 a.E. (S. 71) (alle ohne Auseinandersetzung mit BVerfGE 66, 100 ff. und 67, 239 ff.). 242Vgl. nur BVerfGE 61,138 (146); 71, 224 (228); 74,182 (195); 84, 233 (237); 93, 386 (395), st. Rspr. 243 Vgl. FG Münster EFG 1998, 1647 (1648 f.); FG Brandenburg EFG 1995, 977 (981); Pezzer, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, A III 3 Rn. 7 f. (S. 70 f.). 244 Kritisch zu den Prämissen des Bundesverfassungsgerichts insbesondere für den Bereich des Steuerrechts etwa BFH BStBI. II 1991, 885 (887 f.); BirkiBarth, in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 301 mit Fn. 198; Pezzer, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, A III 3 Rn. 7 f. (S. 70 f.); Völlmeke, NJW 1992, 1345 ff. Allgemein kritisch auch Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 40 Anhang Art. 100 Abs. 1 GG Rn. 39; Rinken, in: Alternativkommentar zum GG, Art. 100 Rn. 11. Der restriktiven Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zustimmend dagegen Klein, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 80 Rn. 58.

C. Schlußfolgerungen für die Behandlung der Problemfälle

279

Insofern kann nicht einmal in jedem Fall ein Benachteiligter den Gleichheitsverstoß thematisieren. 245 Dies belegt, daß von einer "umfassenden Überwachungspflicht der Gerichte auch und gerade im Bereich des Gleichheitssatzes,,246 unter diesen Umständen keine Rede mehr sein kann. 247

IV. Zusammenfassung 1. Die konkrete Normenkontrolle ist auch dann zulässig, wenn von vornherein feststeht, daß das Bundesverfassungsgericht im Falle der Verfassungswidrigkeit den veifassungswidrigen Zustand für die Vergangenheit - und damit auch für das Ausgangsverfahren - akzeptieren wird.

2. Die Entscheidungserheblichkeit ist im konkreten Normenkontrollverfahren auch dann immer zu bejahen, wenn der Kläger des Ausgangsverfahrens belastet wird, während Dritte gleichheitswidrig ausgenommen werden. Dieser Fall wird auch mit dem Begriff des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses belegt, wenngleich dieser Begriff im Eingriffsrecht fehl am Platze ist248 und nur zu unzutreffenden Schlußfolgerungen verleitet. Ob eine Chance für den Kläger besteht, in diese Drittbevorzugung (z.B. Steuerfreistellung) einbezogen zu werden, ist unerheblich. Die Besserstellung des Klägers infolge der Verfassungswidrigkeit der Norm folgt dann schon daraus, daß er seine eigene gleichheitswidrige Belastung idealtypischerweise abwehren kann. Dann reduziert sich das Problem auf die Frage, ob die Belastung für die Vergangenheit trotz Verfassungswidrigkeit aus übergeordneten verfassungsrechtlichen Gründen - etwa überragender haushaltsmäßiger Auswirkungen - aufrechterhalten werden muß. 249 3. Die Frage, ob ein den Kläger des Ausgangsveifahrens bevorzugendes Gesetz gleichheits widrig und damit verfassungswidrig ist, ist schließlich auch dann gern. Art. 100 Abs. 1 GG entscheidungserheblich, wenn im Ausgangsverfahren nur Rechtspositionen der Bevorzugten im Streit sind. Auch die gleichheitswid245 Auch aus diesem Grunde daher abzulehnen BVerfGE 66, 100 (105 ff.); 67, 239 (244). 246 V/samer, in: MaunzlSchmidt-Bleibtreu/KleinlUlsamer, BVerfGG, § 80 Rn. 139, der zutreffend hervorhebt, daß die Fachgerichte wegen ihrer Sachnähe vielfach besser Gleichheitsverstöße erkennen können. 247 Insofern ist nicht erkennbar, wieso V/samer, in: MaunzlSchmidt-Bleibtreu/Kleinl Ulsamer, BVerfGG, § 80 Rn. 139, BVerfGE 66, 100 ff. und 67, 239 ff. zustimmt. - Im Ergebnis zutreffend dagegen nunmehr die Bejahung der Entscheidungserheblichkeit durch BVerfGE 99, 280 (288 0. 248 Dazu oben § 3 B lId. 249 Dazu soeben § 4 C N I.

280 § 4. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit und Entscheidungserheblichkeit

rige Bevorzugung ist verfassungswidrig, nicht nur das Unterlassen der Besserstellung der Benachteiligten. Sowohl die Verfassungswidrigkeit der Behandlung der Benachteiligten als auch die Verfassungswidrigkeit der Behandlung der Bevorzugten folgt aus der Andersbehandlung der jeweiligen Vergleichsgruppe. Wenn die Bevorzugung auf die bisher privilegierte Gruppe aus übergeordneten verfassungsrechtlichen Gründen zunächst weiter angewendet werden muß und aus diesen Gründen sich für die Vergangenheit bei der bisher gesetzlich bevorzugten Gruppe nichts ändert, steht dies der Entscheidungserheblichkeit nicht entgegen. 250 4. Als Gesamtergebnis ist somit festzuhalten, daß es für die Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG in keinem Fall auf die konkret zu erwartenden Rechtsfolgen ankommt. Vielmehr ist immer auf den idealtypischen Fall abzustellen. Ob aufgrund hinzutretender Erwägungen im Einzelfall Auswirkungen auf das Ausgangsverfahren ausgeschlossen erscheinen, kann aus den genannten Gründen keine Rolle spielen. Daher ist es gleichgültig, ob das Bundesverfassungsgericht wegen relativ größerer Verfassungsnähe die Fortgeltung der Norm anordnen wird. Außerdem sind hypothetische Erwägungen, ob nach der Konzeption des Gesetzgebers eine Ausdehnung der Begünstigung bzw. Belastungsbefreiung auf die bisher benachteiligte Gruppe (BessersteUung des Klägers des Ausgangsverfahrens) ausgeschlossen erscheint, für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit bedeutungslos.

250 Siehe

dazu wiederum soeben § 4 C IV I.

Dritter Teil

Die Schutzrichtungen des Gleichheitssatzes § S. Keine Gleichheit im Unrecht? A. Fragestellung Schließlich ist noch auf den bisher noch nicht behandelten Sonderfall einzugehen, daß die Bevorzugung der Vergleichsgruppe absolut - d.h. unabhängig vom Gleichheitsverstoß' - verfassungswidrig ist. Insbesondere stellt sich die Frage, welche Bedeutung der Formel "Keine Gleichheit im Unrecht" im vorliegenden Zusammenhang zukommt. Diese Formel betrifft das Spannungsverhältnis zwischen dem Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG und der Bindung der Staatsgewalt an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG). Art. 20 Abs. 3 GG enthält den Vorrang der Verfassung und den Vorrang des Gesetzes. 2 Die Formel "Keine Gleichheit im Unrecht" wird herkömmlicherweise - ihrem häufigsten Anwendungsbereich entsprechend - im Bereich der Bindung der Exekutive an den Gleichheitssatz thematisiert. 3 Dort wird ihr der Inhalt entnom-

, Und unabhängig von modalen Verfassungsbestimmungen wie den Vorschriften über das Gesetzgebungsverfahren (Art. 76 ff. GG). Absolut verfassungswidrig sind nur solche Verfassungsverstöße, die "unheilbar" sind. 2 Vgl. nur Herzog, in: MaunzlDürig, GG, Art. 20 Rn. VI 16, 50 f.; Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 23, 26 m.w.N. Dagegen geht Arndt, in: Festschrift für Armbruster, s. 233 (239 f. und Fn. 22) davon aus, daß zwischen Gleichheit und Gesetzmäßigkeit kein Gegensatz bestehe, weil schon der Normtext des Art. 3 Abs. 1 GG nur "Gleichheit vor dem Gesetz" fordere, nicht "Gleichheit entgegen dem Gesetz". Diese Wortlautinterpretation ändert jedoch nichts daran, daß die rechtmäßige Behandlung des Benachteiligten entgegen der bisherigen rechtswidrigen Verwaltungspraxis eine Ungleichbehandlung darstellt. - Zu erforderlichen Ausweitungen des Wortlauts des Art. 3 Abs. 1 GG (insbesondere zur Verbürgung auch der Rechtsetzungsgleichheit) vgl. hier nur Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 358 f.; PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 471. S. ferner oben § 3 B I 1 f bb. 3 Vgl. exemplarisch v. MangoldtiKlein/Starck, Art. 3 Abs. 1 vor Rn. 1 und vor Rn. 184, der die Formel "Keine Gleichheit im Unrecht" unter A IV 3 c als Untergliederungspunkt der Bindung der Exekutive an den Gleichheitssatz erörtert. Ebenso PierothiSchlink, Grundrechte, Rn. 552 i.V.m. Rn. 548 (Überschrift: "Gleichheitsverstoß

282

§ 5. Keine Gleichheit im Unrecht?

men, daß niemand einen Anspruch aus Art. 3 Abs. 1 GG darauf hat, ebenfalls einen Vorteil zu erhalten, der einem Dritten rechtswidrig gewährt worden ist. 4 Die Rechtswidrigkeit kann etwa darauf beruhen, daß Dritten gleichheitswidrig durch Verwaltungsvorschriften eine Befreiung eingeräumt wird, die dem Kläger nicht gewährt wird. Indes stellt sich das Problem, ob der Benachteiligte "Gleichheit im Unrecht" erreichen kann, nicht nur bei Verstößen der Verwaltung gegen Verfassung oder Gesetz zugunsten Dritter. Vielmehr wird die Frage der "Gleichheit im Unrecht" auch dann aufgeworfen, wenn der Gesetzgeber Dritten einen absolut rechtswidrigen Vorteil einräumt. 5 Ist eine bestimmte Belastung aller Bürger von der Verfassung zwingend vorgeschrieben oder ist eine bestimmte Begünstigung von der Verfassung generell verboten, so darf der Gesetzgeber nicht den Vorgaben der Verfassung zuwider handeln. Tut er es dennoch zugunsten einer Gruppe A und behandelt er die Gruppe B der Verfassung entsprechend, aber gleichheitswidrig, so stellt sich die Frage, welche Rechtsschutzmöglichkeiten B hat. Beispiel: 6 Art. 26 Abs. 2 GG bestimmt, daß zur Kriegführung bestimmte Waffen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden dürfen. Würde ein Gesetz nunmehr die Genehrnigungspflicht näher ausgestalten, jedoch Personen mit dem Anfangsbuchstaben Z von dem veifassungsrechtlich statuierten Genehmigungserfordernis freistellen, würde sich die Frage stellen, welche Rechtsschutzmöglichkeiten dem A zur Verfügung stünden.

Der den Dritten (Z) eingeräumte Vorteil ist absolut veifassungswidrig, d.h. nicht nur wegen der Andersbehandlung der Vergleichsgruppe (A). Nur in diesem seltenen Ausnahmefall kann sich überhaupt bei Anfechtung einer eigenen gleichheitswidrigen Belastung die Frage stellen, wie es sich auswirkt, daß der benachteiligte A - auch bei Verstoß der Regelung gegen den Gleichheitssatz durch die Verwaltung"); Rüjner, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Abs. I Rn. 181 f. i.V.m. Überschrift vor Rn. 169. 4 Vgl. BVerwGE 92, 153 (157) m.w.N.; Erichsen, Jura 1995, 550 (551); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 30 f.; Ossenbühl, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rn. 47; § 10 Rn. 20. Tendenziell abweichend VG Leipzig, NVwZ 1995,617. 5 Ebenso implizit Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (321 f.), der im Zusarnrnenhang mit der Fonnel "keine Gleichheit im Unrecht" ausfUhrt, daß es nicht angehe, den Gleichheitssatz schlichtweg "dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (oder auch der Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung)" unterzuordnen. Insoweit nochmals ders., (S. 328). - Hervorhebungen nur hier. - Vgl. auch Dürig (als den "Erfinder" der Fonnel), in: MaunzlDürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 179, der den Entstehungsgrund der Fonnel sogar in der Überprüfung eines Gesetzes am Maßstab der Verfassung sieht. Vgl. ferner BVerfGE 50, 142 (166); Vällmeke, NJW 1992, 1345, die ihren Beitrag "Die Gleichheit, das Unrecht und die Richtervorlage an das BVerfG" überschrieben hat. 6 V gl. bereits oben § 3 B I 1 g.

A. Fragestellung

283

seine eigene Rechtsstellung durch die verfassungsgerichtliche Entscheidung nicht verbessern kann. Denn die eigene Belastung (Genehmigungserfordernis) muß ihm - wegen Art. 26 Abs. 2 GG - weiter auferlegt werden, auch wenn das Bundesverfassungsgericht tatsächlich einen Gleichheitsverstoß annimmt. In diesem Fall hat der Gesetzgeber keinen Gestaltungsspielraum. In allen übrigen Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeit von konkreter Normenkontrolle oder Verfassungsbeschwerde mit der Begründung verneint, eine Ausdehnung der Begünstigung (bzw. Belastungsbefreiung) sei auch bei Verfassungswidrigkeit der Privilegierung Dritter nicht zu erwarten, kann dieses Argument indes wie gesehen 7 keine Rolle spielen. In diesen Fällen hat der Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum. Wenn er in diesen Fällen Befreiungstatbestände schafft, so kann der gleichheitswidrig Belastete seine Rechtsstellung idealtypisch schon dadurch verbessern, daß er seine eigene Belastung insoweit abwehren kann. Bei Begünstigungen Dritter käme es nicht darauf an, ob eine Ausdehnung nicht erwartet werden kann, weil der Gesetzgeber ein bestimmtes Ziel mit der Ausnahmebestimmung verfolgte. Entweder kann dieses Ziel die Ungleichbehandlung rechtfertigen, dann läge kein Gleichheitsverstoß vor, und die Richtervorlage bzw. Verfassungsbeschwerde wäre unbegründet; oder das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel vermag die Ungleichbehandlung nicht zu rechtfertigen, dann darf den Dritten die Begünstigung nur gewährt werden um den Preis eines gleichheitsgerechten Vorgehens, und das bedeutet Gewährung der Begünstigung an alle. Im folgenden wird wie folgt vorgegangen: Werden Dritte gleichheitswidrig privilegiert, indem ein Gesetz ihnen einen absolut verfassungswidrigen Vorteil einräumt, so können sie nach der Formel "Keine Gleichheit im Unrecht" ihre eigene Rechtsstellung durch eine gerichtliche Entscheidung nicht verbessern. Hier wird (B.) die Richtigkeit der neuerdings vermehrt angegriffenen oder differenzierter betrachteten Formel erörtert, die bisher überwiegend akzeptiert wurde. Sodann wird (c.) überprüft, welche Rechtsschutzmöglichkeiten für gleichheitswidrig Benachteiligte bestehen.

7 Oben

§ 4.

284

§ 5. Keine Gleichheit im Unrecht?

B. Überprüfung der Formel "Keine Gleichheit im Unrecht" I. Anwendung der Formel im Bereich des Verwaltungshandelns 1. Inhalt der Formel

Verstößt die bisherige Verwaltungspraxis, die ggf. auf Verwaltungsvorschriften beruht, gegen das Gesetz und weicht die Verwaltung in einem Einzelfall von der gegenüber der Gesetzeslage für den Bürger günstigeren Verwaltungspraxis ab, so kann derjenige Bürger, der dem Gesetz entsprechend (,,rechtmäßig"), aber im Widerspruch zu der bisherigen (und künftigen 8) Verwaltungspraxis behandelt wird, nach überwiegender Meinung9 nicht gern. Art. 3 Abs. 1 GG verlangen, daß er wie die gleich gelagerten Fälle vor ihm entsprechend der bisherigen Verwaltungspraxis behandelt wird. Er hat keinen Anspruch auf "Gleichheit im Unrecht"lO; Art. 3 Abs. 1 GG gewährt keinen ,,Anspruch auf Fehlerwiederholung,,11 .

8 Vorausgesetzt wird also, daß die Verwaltung ihre bisherige Praxis beibehalten und nur in dem jetzt aktuellen Einzelfall davon abweichen will. Wollte die Verwaltung ihre (gleichgültig, ob rechtmäßige oder rechtswidrige) Praxis für die Zukunft generell umstellen, so stände dem der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 00 ohnehin grundsätzlich nicht entgegen; vg\. nur larasslPieroth, 00, Art. 3 Rn. 25 m.w.N.; Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 74 a.E.; ders., DStJG 18 (1995), 17 (30); v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 181. 9 BFH BStB\. II 1989,836 (840); BVerwGE 5, I (8 f.); 34, 278 (282 ff.); 36, 313 (316 f.); 92, 153 (157); Birk/Barth, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 425; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 182 ff., 437; Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 10 Rn. 20; ders., Jura 1995,550 (551); larasslPieroth, 00, Art. 3 Rn. 26; Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 66; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 30; Menger, VerwArch 63 (1972),213 (214); Ossenbühl, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 47; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 552; RandelzhoJer, JZ 1973, 536 (542); Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 72; Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 23 Rn. 127. Im Ansatz ebenso Arndt, in: Festschrift für Armbruster, S. 233 (238); v. Mangoldt/Klein/Starck, 00, Art. 3 Abs. 1 Rn. 184. JO Grundlegend Dürig, in: Maunz/Dürig, 00, Art. 3 Abs. I Rn. 171, 179, 185 ff; ebenso (zu einem Gesetz) BVerfGE 50, 142 (166); vgl. ferner die zuvor Genannten. 1I Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 182, 187 sowie die zuvor Genannten.

B. Überprüfung der Formel "Keine Gleichheit im Unrecht"

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2. Herleitung und Begründung der Formel a) Grund/all: Rechtswidrige Verwaltungspraxis

Die (zumindest grundsätzliche l2 ) Richtigkeit der mit der Formel verbundenen Inhalte folgt aus der Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht nach Art. 20 Abs. 3 GG. 13 Würde sich der Gleichheitssatz gegen die Bindung der Verwaltung an Gesetz und Verfassung durchsetzen, so könnte die Exekutive bewußt oder unbewußt, beabsichtigt oder unbeabsichtigt - durch ein nicht gesetzeskonformes Verhalten Gesetze entgegen der Fundamentalnorm des Art. 20 Abs. 3 GG de facto außer Kraft setzen, wenn sie nicht bereit wäre, ihre rechtswidrige Praxis künftig zu ändern, und damit den ,,rechtsstaatlich und demokratisch gebotenen Primat des Parlamentsgesetzes,,14 geHihrden. Dementsprechend wurde auch formuliert, der Formel gehe es um den "Verfassungsstaat als Gesetzgebungsstaat,,15.

b) Sonderfall: Durch rechtswidrige Verwaltungsvorschriften determinierte Verwaltungspraxis

Für den Sonderfall, daß die rechtswidrige (driubevorzugende) Verwaltungspraxis auf Verwaltungsvorschriften beruht, so gelten ohne weiteres die soeben gemachten Ausführungen, sofern man die Verwaltungsvorschriften mit der h.M. 16 nicht als Rechtsquellen ansieht. Sieht man Verwaltungsvorschriften dagegen als originäres Administrativrecht mit Außenwirkung an,17 so würden diese in der Normenhierarchie auf unterster Stufe stehen. Das bedeutete dann aber gleichzeitig, daß sie im Falle ihrer Rechtswidrigkeit - also bei einem Verstoß 12 So auch differenzierende Ansichten, vgl. etwa Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 51; Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 66. 13 Birk/Barth, in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 425; Erichsen, Jura 1995, 550 (551); Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 66, der allerdings in der Formel nur eine Wegweisung im Prinzipiellen sieht; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 30; Rü!ner, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Abs. I Rn. 181; Völlmeke, NJW 1992, 1345. Kritisch zur Formel, die auch edukatorisch als verfehlt anzusehen sei und deshalb aus dem juristischen Sprachgebrauch verdrängt werden solle, etwa Arndt, in: Festschrift für Armbruster, S. 233 (236, 250). 14 Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 10 Rn. 21. I~ Dürig, in: MaunzIDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 180 a.E. 16 Siehe hier nur Birk, Steuerrecht I, § 5 Rn. 3; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 26. 17 So insbesondere Ossenbühl, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rn. 50 ff. m.w.N.

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§ 5. Keine Gleichheit im Unrecht?

gegen ein Gesetz - ungültig wären 18 und keine Rechtswirkungen erzeugen könnten. Aus einer ungültigen Norm lassen sich indes keine Ansprüche herleiten. Bei Rechtswidrigkeit der Verwaltungsvorschrift bestünde dann auch kein Anspruch der bisher Bevorzugten. Allerdings bliebe auch bei dieser Sichtweise das Problem, daß sich die bisher Begünstigten nicht gegen die ihnen ohne gültige Rechtsgrundlage aufgedrängte Bevorzugung wehren würden und die Benachteiligten jedenfalls nicht in die rechtswidrige Begünstigung einbezogen werden könnten und nach h.M. auch keine Handhabe hätten, die (rechtswidrige) Bevorzugung der Vergleichsgruppe abzustellen. Der Gleichheitsverstoß würde also auch bei dieser Sichtweise perpetuiert.

11. Anwendung der Formel auf Gesetze Die Formel "Keine Gleichheit im Unrecht" wird auch bei der Überprüfung von Gesetzen am Maßstab des Gleichheitssatzes verwendet. So hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: "Schließlich ist zu bedenken, daß es keine 'Gleichheit im Unrecht' gibt. Eine strafrechtliche Norm kann grundsätzlich nicht deshalb als verfassungswidrig angesehen werden, weil bestimmte besonders gelagerte Sachverhalte, die einen entsprechenden Unrechtsgehalt aufweisen, von ihr nicht erfaßt werden. Ebensowenig wie ein Straftäter seine Straflosigkeit mit dem Hinweis darauf fordern kann, daß andere Gesetzesbrecher nicht verfolgt worden sind 19, ist es durch den Gleichheitssatz geboten, an sich strafwürdige und zu Recht mit Strafe bedrohte Handlungen deswegen straffrei zu lassen, weil bestimmte andere, möglicherweise gleich zu bewertende Verhaltensweisen von der Strafvorschrift nicht erfaßt werden .... Eine Grenze (mag) dort liegen, wo willkürlich nur eine Minderheit des strafwürdigen Verhaltens herausgegriffen und mit Strafe bedroht wird ...20

18 Zutreffend

Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 30. 9,213 (223). 20 BVerfGE 50, 142 (166) (ergangen zu § 170b StGB, der die Strafbarkeit der Verletzung der Unterhaltspflicht anordnet.) - Exakt dieselbe Argumentation mit der Formel "Keine Gleichheit im Unrecht" im Zusammenhang mit möglicherweise gleichheitswidrigen Strafrechtsnormen findet sich schon bei Dürig, in: MaunzlDürig, 00, Art. 3 Abs. I Rn. 179, der diese Fallkonstellation sogar als Entstehensgrund der Formel bezeichnet. - In der Sache ebenso Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 544: "Wird den Bürgern eine begründete und gerechtfertigte Belastung auferlegt und wird davon eine Gruppe willkürlich ausgenommen, dann verbürgt das Gleichheitsgebot den Bürgern weder, daß auch sie in den Genuß dieser Willkür kommen, noch daß die Willkür beseitigt und die Belastung der Gruppe auferlegt wird." (Hervorhebungen nur hier.) 19 BVerfGE

B. Überprüfung der Formel "Keine Gleichheit im Unrecht"

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1. Was ist "Unrecht"? Nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts kann in diesen Fällen also keine Gleichheit verlangt werden. Art. 3 Abs. 1 GG läuft damit insoweit leer. Damit wird gleichzeitig Art. 1 Abs. 3 GG beeinträchtigt, der anordnet, daß die nachfolgenden Grundrechte - also auch der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG - unmittelbar geltendes Recht sind, und der gern. Art. 79 Abs. 3 GG änderungsfest ist. Für eine derartige (Teil-)Entleerung des Gleichheitssatzes bedürfte es einer besonderen Rechtfertigung. Diese liegt wie gesehen darin, daß grundSätzlich die Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung nicht gelockert werden darf. Sonst könnte der Gesetzgeber sich von seiner in Art. 20 Abs. 3 GG statuierten Bindung an die Verfassung, die gern. Art. 79 Abs. 3 GG ebenfalls änderungs fest ist, befreien. Beispiel 1: Ordnet Art. 26 Abs. 2 GG für alle an, daß zur Kriegführung bestimmte Waffen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden dürfen, und ordnet ein Gesetz generelle Genehmigungsfreiheit für Bürger mit dem Anfangsbuchstaben Z an, so kann A nicht über Art. 3 Abs. 1 GG erreichen, ebenfal1s vom Genehmigungserfordernis freigestellt zu werden. Die Verfassung läßt nur einen Weg zu, nämlich die Erforderlichkeit einer Genehmigung für alle. Der Gesetzgeber hat insoweit keinen Gestaltungsspielraum. Die Freistellung von dem Genehmigungserfordernis ist objektiv .. Unrecht", da eine entsprechende Regelung gegen die Verfassung (Art. 26 Abs. 2 GG) verstößt. Insoweit ist die Formel "keine Gleichheit im Unrecht" zutreffend.

Es fragt sich jedoch, was dieser richtige Inhalt der Formel mit der konkreten Folgerung zu tun hat, daß eine Strafrechtsnorm nicht als verfassungswidrig angesehen werden könne, nur weil vergleichbare Sachverhalte mit einem entsprechenden Unrechtsgehalt von ihr - oder anderen Strafrechtsnormen, wie zu ergänzen wäre - nicht erfaßt werden. 21 Der Gleichheitssatz gebiete nicht, ,,an sich strafwürdige und zu Recht mit Strafe bedrohte Handlungen deswegen straffrei zu stellen, weil bestimmte andere, möglicherweise gleich zu bewertende Verhaltensweisen von der Strafvorschrift nicht erfaßt werden.,,22 Dem ist entgegenzuhalten, daß diese Schlußfolgerung nur dann zutrifft, wenn die Strafbarkeit des fraglichen Verhaltens von der Verfassung geboten ist. Nur in diesem Fall kann die Straffreiheit "Unrecht" sein. Dies vermengt auch das Bundesverfassungsgericht in der genannten Entscheidung, indem es lediglich darauf abstellt, ob die Handlung "an sich strafwürdig" und "zu Recht mit Strafe bedroht" sei. Der Gesetzgeber mag zutreffend ein bestimmtes Verhalten als strafwürdig einordnen. 21 Nachweise oben § 5 B 11 vor 1. 22 BVerfGE 50, 142 (166). Hervorhebungen nur hier. Ebenso Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 179, der diesen Fall ausdrücklich der Fallgruppe "Keine Gleichheit im Unrecht" zuordnet.

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§ 5. Keine Gleichheit im Unrecht?

Ob er dies jedoch auch muß, ist eine ganz andere Frage. Nur wenn er von Verfassungs wegen eine strafrechtliche Sanktion verhängen muß,23 wäre jedoch eine Freistellung von Strafe" Unrecht". Der Gesetzgeber ist gern. Art. 20 Abs. 3 GG nur an die Verfassung gebunden, und nur diese kann bestimmen, was für den Gesetzgeber Unrecht ist. 24 Beispiel 2: § 211 StGB wird dahingehend geändert, daß es nunmehr heißt: "Ein Mann, der einen Menschen ermordet, wird ... bestraft." Nur in diesem Fall kann sich

die Frage stellen, ob der Mann Gleichheit im Unrecht (nämlich Straffreiheit, wie sie nach der Norm Frauen gewährt wird) erreichen kann. Hierbei ist vorausgeschickt, daß die Verfassung die strafrechtliche Ahndung von Tötungsdelikten fordert.

Ob dagegen die Verfassung eine strafrechtliche Verfolgung für Menschen forderr 5 , die ihre Unterhaltspflicht verletzen (§ 170b StGB)26 oder die Drogen konsurnieren27 , erscheint zweifelhaft. Ist dies jedoch nicht der Fall, kann die Straffreiheit vergleichbarer Sachverhalte nicht als "Unrecht" erscheinen. Die Formel "Keine Gleichheit im Unrecht" ist in diesem Bereich28 also gar nicht anwendbar. Prinzipiell ist also kein Grund ersichtlich, warum derjenige, den das Gesetz bestraft wissen will, die Strafe nicht soll abwehren können, wenn tatsächlich vergleichbare Verhaltensweisen nicht bestraft werden. Der Gesetzgeber muß dann entscheiden, ob er entweder alle wesentlich gleichen Verhaltensweisen unter Strafe stellt oder ob er generell Straffreiheit herbeiführt. Warum eine Überprüfung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG in diesen Fällen nicht möglich sein soll, ist nicht ersichtlich. Das Gleichheitsgrundrecht ist kein Grundrecht zweiter Klasse, auch wenn es nichts über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Gesetzes "an sich" aussagt, sondern die Verfassungswidrigkeit eines gleichheitswidrigen Gesetzes nur aus der Andersbehandlung einer anderen Gruppe durch den Bindungsadressaten folgt. Das Bundesverfassungsgericht muß also überprüfen, ob tatsächlich ein Gleichheitsverstoß vorliegt, ob

23 Dies nimmt BVerfGE 88, 203 (Leitsatz 8 und S. 257 f.) für den Schutz menschlichen Lebens aufgrund von aus Art. 2 Abs. 2 GG folgenden Schutzpflichten an. 24 Die Frage des Anwendungsvorrangs europäischen Gemeinschaftsrechts soll hier nicht näher thematisiert werden, vgl. dazu etwa Ehlers, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 3 Rn. 30 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 171 ff., insbesondere 179 ff. 25 Es geht also, um es nochmals zu betonen, an dieser Stelle nicht darum, ob die Verfassung eine entsprechende Bestrafung zuläßt. 26 Darum ging es in BVerfGE 50, 142 (166), wo mit der Formel "keine Gleichheit im Unrecht" argumentiert wurde. 27 Dieses Beispiel bringt Dürig, in: MaunzIDürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 179: Nur weil Alkohol- oder Nikotinmißbrauch nicht unter Strafe gestellt seien, könne der Drogenkonsument nicht aus Art. 3 Abs. I GG Straffreiheit verlangen. 28 Ausgerechnet diesen bezeichnet Dürig als der Erfinder der Formel jedoch als deren Entstehungsgrund.

B. Überprüfung der Formel "Keine Gleichheit im Unrecht"

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die Ungleichbehandlung also nicht gerechtfertigt werden kann. 29 Insofern geht es darum, daß das Bundesverfassungsgericht nicht mit Hilfe der Formel "Keine Gleichheit im Unrecht" eine Sachentscheidung umgeht.

2. Relativ größere Verfassungsnähe Die Gründe, warum die Bestrafung aufgrund einer gleichheitswidrigen Strafnorm nicht soll abgewehrt werden können, liegen wohl auch darin, daß in den Fällen, in die Strafbarkeit ein legitimes Vorgehen des Gesetzgebers darstellt, nicht ein strafrechtsloser Raum entstehen soll, nur weil andere Verhaltensweisen nicht mit Strafe bedroht sind. Das Problem entschärft sich indes, wenn man sich vergegenwärtigt, daß bei Veifassungsmäßigkeit der Norm - wenn die Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht also ergibt, daß die Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden kann - diese ohnehin weitergilt. Und selbst bei Verjassungswidrigkeit kann die gleichheitswidrige Norm vorübergehend weitergelten, wenn die Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm den Zielen der Verfassung näher kommt als deren rückwirkender Wegfall. 3o Im Ergebnis ist also festzuhalten, daß wegen Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich Bestrafungen aufgrund von Strafrechtsnormen abgewehrt werden können, wenn vergleichbare Verhaltensweisen mit einem entsprechenden Unrechtsgehalt nicht mit Strafe belegt sind. Voraussetzung ist natürlich, daß die entsprechenden Ungleichbehandlungen tatsächlich nicht gerechtfertigt werden können; dies hat das Bundesverfassungsgericht jedoch inhaltlich zu überprüfen und kann sich der Kontrolle nicht mit der Begründung entziehen, daß eine Gleichheit im Unrecht (nämlich in der Straffreiheit) ohnehin nicht in Betracht komme. Steht die vorübergehende Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm der Verfassung jedoch näher als deren rückwirkender Wegfall, kann die verfassungswidrige Norm ausnahmsweise weiter angewendet werden.

29 In Dürigs Beispielsfall müßte das Bundesverfassungsgericht also in der Sache prüfen, ob die Ungleichbehandlung der Drogenkonsumenten gegenüber den Alkoholtrinkern durch das Strafrecht gerechtfertigt werden kann. Eine solche Sachprüfung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG hat BVerfGE 90, 145 (195 ff.) vorgenommen. 30 Zum Gesichtspunkt der relativ größeren Verfassungsnähe der Fortgeltung der Norm oben § 2 C III, § 3 B I 2, II 2. 19 Wernsmann

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§ 5. Keine Gleichheit im Unrecht?

3. Vergleich mit den Fällen der Rechtsanwendungsgleichheit Das Bundesverfassungsgericht setzt die Folgerungen aus der Fonnel "Keine Gleichheit im Unrecht" sowohl im Bereich des Verwaltungshandelns als auch im Bereich der Gesetzgebung gleich. 31 Indes bestehen zwischen der Anwendung der Fonnel im Bereich der Gesetzgebung und im Bereich des Verwaltungshandelns Unterschiede: Geht es um Verwaltungshandeln, so sind ständig neue EinzelJalientscheidungen zu treffen; deshalb wird die Fonnel "Keine Gleichheit im Unrecht" in diesem Bereich auch so umschrieben, daß es "keinen Anspruch auf Fehlerwiederholung,,32 gebe. Steht gesetzgeberisches Handeln zur Überprüfung, handelt es sich dagegen regelmäßig um abstrakt-generelle Regeln, die für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen anwendbar sind. 33 Das "Unrecht" - die bevorzugende Behandlung der anderen Vergleichsgruppe - ist also ebenso wie die rechtmäßige Behandlung der benachteiligten Vergleichsgruppe bereits in der Welt, so daß es insoweit ohnehin nicht um Fehlerwiederholung geht. Auf diesen bedeutsamen Unterschied wird noch zurückgekommen. 34

C. Rechtsschutzfragen bei absolut rechtswidrigen Drittbevorzugungen Faßt man die Aussagen der Fonnel "Keine Gleichheit im Unrecht" kurz zusammen, so ergibt sich folgendes: (1) Kehrt die Behörde im Eingriffsrecht (z.B. Steuer- oder Wehrpflichtrecht) in einem Einzelfall von ihrer rechtswidrigen (gegenüber dem Gesetz günstigeren) Verwaltungspraxis ab, so wäre eine entsprechende Klage gegen die den-

31 Vgl. BVerfGE 50, 142 (166): "Ebensowenig wie ein Straftäter seine Straflosigkeit mit dem Hinweis darauf fordern kann, daß andere Gesetzesbrecher nicht verfolgt worden sind (BVerfGE 9, 213 (223», ist es durch den Gleichheitssatz geboten, an sich strafwürdige und zu Recht mit Strafe bedrohte Handlungen deswegen straffrei zu lassen, weil bestimmte andere, möglicherweise gleich zu bewertende Verhaltensweisen von der Strafvorschrift nicht erfaßt werden." - Soweit die Nichtverfolgung "anderer Gesetzesbrecher" allerdings auf "Vollzugsmängeln" beruht, "wie sie immer wieder vorkommen können und sich auch tatsächlich ereignen", liegt eine Verletzung des Gleichheitssatzes schon deshalb nicht vor, weil der Sachverhalt, in dem die Behörde unbewußt einen Fehler begangen hat, nicht mit dem jetzt zu entscheidenden Fall vergleichbar ist, vgl. auch zutreffend BVerfGE 84, 239 (272) (zur Frage, in welchen Fällen eine gleichheitswidrige Rechtsanwendung auf die Verfassungsmäßigkeit der Norm durchschlägt); ebenso insoweit Pauly, JZ 1997,647 (649). 32 Nachweise oben § 5 B I 1. 33 V gl. Degenhart, Staatsrecht I. Rn. 231. 34 Unten § 5 C 11 1 und 2.

C. Rechtsschutzfragen bei absolut rechtswidrigen Drittbevorzugungen

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noch auferlegte Belastung zwar - wegen der Möglichkeit einer Verletzung zumindest in den Rechten aus Art. 2 Abs. 1 GG 35 - zulässig, aber unbegründet. (2) Räumt ein Gesetz der Vergleichsgruppe B einen absolut verfassungswidrigen Vorteil ein, wird jedoch der Gruppe A die von der Verfassung zwingend geforderte Belastung durch das Gesetz auferlegt, so könnte A gegen die Belastung zulässigerweise36 klagen. Entsprechende Richtervorlagen nach Art. lOO Abs. 1 GG sollen aber mangels Entscheidungserheblichkeit unzulässig sein. 37 Denn auch bei Verstoß des Gesetzes gegen den Gleichheitssatzes könnte die benachteiligte Gruppe ihre Rechtsstellung nicht verbessern, weil es nur einen Weg zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes gibt. Es müßte nämlich nach einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung die Belastung auch auf die bisher zu Unrecht verschonte Vergleichsgruppe erstreckt werden. Danach könnte der gleichheits widrig Benachteiligte weder eine eigene Besserstellung (dazu 1.) noch eine gleichheitsgerechte rechtmäßige Behandlung der Vergleichsgruppe (dazu 11.) erreichen. Indes fragt es sich, ob in den Fällen der absolut rechts- bzw. verfassungswidrigen Driubevorzugung tatsächlich keinerlei Rechtsschutz besteht mit der Folge, daß der Gleichheitssatz insoweit keinerlei Wirkungen entfalten kann.

I. Rechtsschutz zur Verbesserung der eigenen Rechtsstellung? 1. Rechtswidrige drittbevorzugende Verwaltungspraxis Die uneingeschränkte Anwendung der Formel "keine Gleichheit im Unrecht" stößt zunehmend auf Kritik. In Rechtsprechung und Literatur werden vermehrt differenzierende Lösungen 38 gefordert, die zwar die von der Staatsfundamental-

35 Sog. Adressaten-"Theorie", vgl. nur Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 510. 36 V gl. soeben (I). 37 Entsprechendes würde mangels Rechtsschutzbedürfnisses für Verfassungsbeschwerden gegen die negativen fachgerichtlichen Entscheidungen gelten. 38Vgl. Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 65 ff., 84 ff.; ders., DStJG 18 (1995),17 (32); Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 46 ff., 50 ff.; Pauly, JZ 1997,647; RandelzhoJer, JZ 1973, 536 ff.; Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (32 I f.); Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1395 ff.; Wolny, UPR 1987, 121 ff.. Vgl. auch bereits VGH Bad.Württ., NJW 1971,954 f. = DVBI. 1972, 186 ff. m. Anm. Götz, DVBI. 1972, 188 f.; Hess. VGH, NVwZ 1986, 683 (684 f.); VG Leipzig, NVwZ 1995, 617; v. Mangoldt/ K1ein/Starck. GG. Art. 3 Rn. 184, der die Formel für "mehr provozierend als sachlich zutreffend" erachtet und unter bestimmten Voraussetzungen von einem ..befristeten Vorrang der gesetzwidrigen Gleichheit" ausgeht. Auch die Vertreter der h.M. erkennen an, daß die Formel "keine Gleichheit im Unrecht" .. nicht stets zu befriedigenden Ergebnissen" führe, halten sie jedoch für erforderlich, um nicht ..die Gesetzesbindung der Ver-

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§ 5. Keine Gleichheit im Unrecht?

nonn des Art. 20 Abs. 3 GG postulierte Bindung an Gesetz und Verfassung beachten, andererseits aber den Gleichheitssatz in diesem Bereich nicht völlig leerlaufen lassen.

a) Abwehr der gleichheitswidrigen Belastung bei Zurechnung der rechtswidrigen Verwaltungspraxis an den Gesetzgeber Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang erneut die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Besteuerung der Zinseinkünfte39 , der folgender Sachverhalt zugrunde lag: Aufgrund der gesetzlichen Regelung des § 30a AO (Nachfolgeregelung des sog. Bankenerlasses 1979), der eine wirksame Ermittlung und Kontrolle der Einkünfte aus Kapitalvennögen verhinderte und sich damit als strukturelles Vollzugshindernis darstellte,40 wurde die gleiche Belastung aller Steuerpflichtigen, die das materielle Steuergesetz (dort §§ 2 Abs. 1 Nr. 5, 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG 1979) erreichen wollte, generell verfehlt. Ein Steuerpflichtiger, der seine Einkünfte aus Kapitalvermögen in der tatsächlichen Höhe zutreffend erklärt hatte und demgemäß insoweit zur Einkommensteuer veranlagt wurde, klagte dagegen. Das Finanzgericht41 hielt die Ermittlungs- und Erhebungspraxis der Finanzverwaltung zwar für verfassungswidrig, meinte jedoch, daß dieses Vollzugsdefizit den materiellen Besteuerungsanspruch gegen den Kläger nicht in Frage stellen könne. Der Kläger habe nämlich keinen Anspruch auf Gleichstellung im Unrecht und kein subjektives Recht auf Änderung der Verwaltungspraxis. 42 Das Bundesverfassungsgericht43 führte demgegenüber aus, daß es nicht um eine Gleichstellung im Unrecht - also eine Verschonung von der Steuer entgegen den gesetzlichen Regeln der §§ 2 Abs. 1 Nr. 5, 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG, die die Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen anordnen - gehe. Vielmehr wirke unter den genannten Voraussetzungen (strukturelle Verfehlung der Ziele einer materiell-rechtlichen Nonn durch eine Verfahrensregelung und Zurech-

waItung aus den Angeln zu heben". So etwa Ossenbühl, in: Erichsen, Allgemeines VerwaItungsrecht, § 6 Rn. 47 a.E. Vg\. auch Erichsen, Allgemeines VerwaItungsrecht, § \0 Rn. 20 a.E.: Gleichheit im Unrecht gebiete Art. 3 Abs. I GG "grundsätzlich" nicht. 39 BVerfGE 84, 239 ff. - Vg\. zu dieser Entscheidung unter dem Aspekt der Gesamtbetrachtung oben § 3 B I I c cc (l). 40 BVerfGE 84, 239 (278). 41 FG Baden-Württemberg EFG 1986,451. Offenlassend BFH BStB\. II 1989,836 = NJW 1989, 2417 (2419). 42 So BFH BStB\. II 1989, 836 = NJW 1989, 2417 (2419); FG Baden-Württemberg EFG 1986,451. 43 BVerfGE 84, 239 (284).

C. Rechtsschutzfragen bei absolut rechtswidrigen Drittbevorzugungen

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nung dieses Zustands an den Gesetzgeber) ein Verstoß gegen die Belastungsgleichheit auf die materiell-rechtliche Grundlage der Steuererhebung zurück. Deshalb seien die gesetzlichen Regelungen der §§ 2 Abs. I Nr. 5, 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG selbst verfassungswidrig. 44 Nur deshalb könne sie vom Steuerpflichtigen unter Berufung auf Art. 3 Abs. 1 GG abgewehrt werden. 45 Rechtsdogmatisch wird also der dem materiellen Steuergesetz entsprechend besteuerte Kläger nicht in die ,,Begünstigung" (die rechtswidrige Verwaltungspraxis) einbezogen und damit im Unrecht gleichgestellt. Vielmehr führt das strukturelle Defizit im Gesetzesvollzug zur Verfassungswidrigkeit auch des materiellen Steuergesetzes (des Belastungstatbestands), sofern die rechtswidrige Verwaltungspraxis dem Gesetzgeber zuzurechnen46 ist. Schlägt die Verfassungswidrigkeit des Gesetzesvollzugs auf das materielle Gesetz durch,47 kann der Bürger die auf dem dann verfassungswidrigen Gesetz beruhende Belastung abwehren. In dieser Entscheidung wird zunächst zutreffend der Perspektivenwechsel vollzogen: Es geht nicht um Einbeziehung in die (vorteilhafte) rechtswidrige Verwaltungspraxis - die ursprünglich nur auf dem Bankenerlaß beruhte, der wirksame Kontrollen verhinderte -, sondern um die Abwehr der eigenen steuerlichen Belastung. 48 Schließlich wird mit dem Merkmal der "Zurechnung" des rechtswidrigen Verwaltungs vollzugs an den Gesetzgeber verhindert, daß überhaupt ein Spannungsverhältnis zwischen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG) auftreten kann. Sind die Mängel im Gesetzesvollzug dem Gesetzgeber selbst zurechenbar und entstammen sie nicht nur der Sphäre der Verwaltung, so besteht keine Gefahr, daß die Verwaltung den Willen des parlamentarischen Gesetzgebers überspielen kann. Damit ist in dieser Konstellation das zentrale Argument ausgeschaltet, das gegen eine Gleichstellung im Unrecht spricht, nämlich die Möglichkeit der Verwaltung, den Willen des Gesetzgebers auszuhebeln. Wenn die gesetzwidrige Verwaltungspraxis dem Gesetzgeber selbst zurechenbar ist,49 so bestehen von vornherein keinerlei Bedenken, insoweit selbst einen Anspruch auf Gleichheit im Unrecht zu gewähren. Das Bundesverfassungsgericht ging demgegenüber davon aus, daß es begrifflich gar nicht um Gleichheit im Unrecht gehe, da wegen des Durchschlagens der zurechenbaren Vollzugsmängel die materielle

44 Im entschiedenen Fall wurde der Gleichheitsverstoß allerdings für eine Übergangszeit noch hingenommen. Vgl. BVerfGE 84, 239 (284 f.). - Vgl. dazu auch oben § 2 C 11 3. 45 BVerfGE 84, 239 (284). Hervorhebung nur hier. 46 BVerfGE 84, 239 (Leitsatz 4). 47 BVerfGE 84, 239 (271 ff., 284). 48 V gl. zu diesen Elementen der Entscheidung oben § 3 B I 1 c cc (1). 49 Zu den Voraussetzungen einer derartigen Zurechenbarkeit vgl. BVerfGE 84, 239

(272).

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§ 5. Keine Gleichheit im Unrecht?

Steuernorm selbst verfassungswidrig werde und insoweit keine Rechtsgrundlage mehr bestehe. 50 Damit nimmt das Bundesverfassungsgericht hier eine (begrüßenswerte) Gesamtbetrachtung VOr. 51 Auch die materielle Steuernorm, die in ihrem Wortlaut nicht zwischen den einzelnen Vergleichsgruppen differenziert, ist wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz verfassungswidrig. Das führt dazu, daß Verfassungsbeschwerden und Richtervorlagen in solchen Fällen zulässig sind, da es auf die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage für die Besteuerung im Ausgangsverfahren gern. Art. 100 Abs. 1 GG ankommt bzw. der Beschwerdeführer seine Rechtsposition durch den etwaigen Wegfall des Besteuerungstatbestandes infolge Verfassungs widrigkeit verbessern kann. 52 Indes stellt sich die Frage, ob es der Konstruktion des Durchschlagens auf die materielle Steuernorm in der genannten Entscheidung überhaupt bedurft hätte, wenn man in diesem Fall einen Anspruch auf Gleichheit im Unrecht bejaht hätte. Dies wäre angesichts der o.g. Gründe in dem entschiedenen Fall jedenfalls möglich gewesen. Hätte das Bundesverfassungsgericht einen Anspruch aus Art. 3 Abs. I GG auf Gleichheit im Unrecht bejaht (De-facto-Steuerfreiheit auch für diejenigen, die ihre Zinseinkünfte "freiwillig" angeben), so hätten die bisher gleichheitswidrig Benachteiligten ihre Einkünfte aus Kapitalvermögen im Ergebnis nicht mehr versteuern müssen. Bei der Konstruktion des Bundesverfassungsgerichts schlägt der gleichheits widrige Normvollzug auf die materielle Steuernorm selbst durch mit der Folge, daß die Rechtsgrundlage für die Be50 BVerfGE

84, 239 (284). Zum Erfordernis der Ausweitung dieses Ansatzes oben § 3 B I I c, d. 52 BVerfGE 84, 239 (272 f., 285) - Zinsbesteuerung; insoweit ebenso Kirchhof, DSUG 18 (1995), 17 (32 f.). - Soweit Kirchhof, DSUG 18 (1995), 17 (33) allerdings die Zinsamnestie-Entscheidung BVerfGE 84, 233 (237 f.) verteidigt, die eine Vorlage betreffend die Steuerfrei stellung für Steuersünder mangels Entscheidungserheblichkeit für unzulässig erklärt hatte, kann dem nicht gefolgt werden. Eine Gesamtbetrachtung, wie sie das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 84, 239 ff. vorgenommen hat, hätte auch hier zu dem Ergebnis führen müssen, daß der materielle Besteuerungstatbestand selbst verfassungswidrig ist, wenn eine verfassungswidrige Befreiungsnorm zugunsten Dritter besteht. Dann wäre aber die Vereinbarkeit der Steuerbefreiungsnorm (Ausnahmenorm) als Vorfrage entscheidungserheblich gewesen für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Besteuerungstatbestands (§§ 2 Abs. I Nr. 5,20 Abs. I EStG). Insoweit ist es zu kurz gedacht, wenn Kirchhof, DSUG 18 (1995), 17 (33) ausführt, eine Nichtigerklärung (sc. der Befreiungsnorm) hätte den Kläger nicht begünstigt. Weiter ergänzt Kirchhof, DSUG 18 (1995), 17 (33) die Begründung der Unzulässigkeit der Vorlage durch BVerfGE 84, 233 (237 f.): "Ein besonderer Befreiungstatbestand, der die auf dem Rückweg in die Steuerehrlichkeit unverzichtbare Selbstbezichtigung in ihren Folgen abschwächt, muß nach dem Grundsatz der Besteuerungsgleichheit nicht auch auf denjenigen erstreckt werden, der als Steuerehrlicher sich selbst nicht zu bezichtigen braucht." Welche Anforderungen der Gleichheitssatz inhaltlich stellt, ist indes eine Frage der Begründetheit, nicht der Zu lässigkeit. Sofern die Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden kann, liegt kein Gleichheitsverstoß vor. Eine Sachprüfung kann indes nicht mit der Erwägung verhindert werden, der Kläger könne seine Rechtsstellung (angeblich) nicht verbessern. 51

C. Rechtsschutzfragen bei absolut rechtswidrigen Drittbevorzugungen

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steuerung der Zinseinkünfte wegen Verfassungswidrigkeit entfällt, so daß die bisher Benachteiligten die Besteuerung ihrer Einkünfte aus Kapitalvermögen ebenfalls abwehren können. Der Sache nach ist also in der genannten Entscheidung die Frage der "Gleichheit im Unrecht" betroffen. 53 Ein Unterschied besteht allerdings in der flexibleren Rechtsfolgenauswahl, wenn man von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes ausgeht. Das Bundesverfassungsgericht hat im konkreten Fall die Anwendung des bisherigen Rechts für eine Übergangszeit hingenommen,54 die Ungleichheit für die Vergangenheit also endgültig akzeptiert. In diesem Sinne kann auch eine Unvereinbarerklärung mit bloßer Profuturo-Wirkung statt einer Nichtigerklärung einerseits dem Vertrauen der bisher bevorzugten Bürgers Rechnung tragen, andererseits aber auch den verfassungswidrigen Zustand wenigstens mit Wirkung für die Zukunft beseitigen. 55 Als Zwischenergebnis kann somit festgehalten werden, daß der Satz ,,keine Gleichheit im Unrecht" jedenfalls dann nicht gilt, wenn das "Unrecht" (die gesetzwidrige56 Verwaltungspraxis) dem Gesetzgeber zuzurechnen ist. Denn in diesen Fällen kann keine Kollision zwischen den Verfassungsinhalten des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) und der Gesetzesbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) eintreten. Es fragt sich jedoch, ob die Formel "keine Gleichheit im Unrecht" darüber hinaus noch weiter einzuschränken ist (dazu b).

b) Weitergehende Verdrängung der Gesetzesbindung durch den Gleichheitssatz? Das Schweizerische Bundesgericht57 verneint grundSätzlich einen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht, etwa auf Reduzierung des zu versteuernden Einkommens abweichend vom Gesetz, aber in Übereinstimmung mit einer rechtswidrigen dritt-"begünstigenden" Verwaltungspraxis. In der Regel gehe also der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung dem Postulat gleichmä-

53 Ebenso BirkiBarth, in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 425; Pauly, JZ 1997,647 (649) m.w.N. Ausdrücklich dagegen BVerfGE 84, 239 (284). 54 BVerfGE 84, 239 (240, 268, 284 f.). Zur Frage, ob es sich um eine AppellEntscheidung handelt, die die Nonn für "noch verfassungsmäßig" erklärt, oder ob die Nonn für verfassungswidrig, aber weiter anwendbar erklärt wurde, siehe oben §2CIII. 55 Vgl. Kirchhof. DStJG 18 (1995), I7 (32). S. ferner Pauly, JZ 1997, 647 (649). 56 Ist die Verwaltungspraxis absolut verfassungswidrig, tritt allerdings wieder eine Kollision zwischen der Bindung der Verwaltung an die Verfassung (Art. 20 Abs. 3 00) und dem Gleichheitssatz auf; eine bloße Zurechnung des absolut verfassungswidrigen Gesetzesvollzugs an den Gesetzgeber kann dann nicht ausreichen. 57 BGE 98 I a, 151; 99 I b, 283; 103 I a, 242.

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ßiger Rechtsanwendung vor. Dies gelte jedoch nur, wenn lediglich in einem einzigen oder einigen wenigen Fällen eine abweichende Behandlung dargetan ist. Wenn dagegen die Behörden die Aufgabe der in anderen Fällen geübten gesetzwidrigen Praxis ablehnen, könne der Bürger verlangen, daß die gesetzwidrige Begünstigung, die dem Dritten zuteil wird, auch ihm gewährt werde. Dem Bürger wird somit ein gleichheitsrechtlicher Anspruch auf eine "widerrechtliche Begünstigung,,58 gewährt. Voraussetzung ist eine rechtswidrige Verwaltungspraxis in einer Vielzahl von Fällen und die Weigerung der Behörde, diese Praxis aufzugeben. Gegen diesen Weg sprechen indes die bekannten Bedenken: Die Verwaltung kann sich über den Willen des parlamentarischen Gesetzgebers hinwegsetzen. Auch aus Gründen der Gewaltenteilung kann es nicht angehen, daß die Verwaltung die Gesetze mißachtet und über dieses rechtswidrige Handeln die Tore noch weiter öffnet, indem nunmehr die Gesetze für alle nicht mehr angewendet werden sollen. In der Literatur werden differenzierende Lösungen für das Problem der "Gleichheit im Unrecht" gesucht. Teilweise wird in der Behandlung differenziert zwischen gleichheitswidrigen selbst erlittenen Belastungen und Begünstigungen. Eine gleichheitswidrige Belastung sei wegen des Gleichheitsverstoßes stets rechtswidrige Belastung und könne daher als solche abgewehrt werden. 59 Verstoße dagegen eine gleichheitswidrige Vorteilsgewährung (Begünstigung) zugleich auch noch in anderer Weise gegen Verfassung oder Gesetz, so könne Gleichheit im Unrecht nicht verlangt werden. 6O Die Differenzierung zwischen Belastungen und Begünstigungen ist indes in diesem Bereich nicht angezeigt: Auch eine gleichheitswidrige Belastung durch die Verwaltung ist, wenn die Belastung zwingend durch Gesetz vorgeschrieben ist, hinzunehmen, weil ansonsten die Gesetzesbindung gelockert wird. 61 Denn auch hier treten - wie im Falle der gleichheitswidrigen gesetzlich verbotenen Begünstigungen durch die Verwaltung - Spannungen zwischen den Erfordernissen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und dem Gleichheitssatz auf. Aus diesem Grunde vermag in diesem Bereich62 eine Differenzierung zwischen Begünstigungen und Belastungen nicht zu überzeugen. Wenn die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung dem Gleichheitssatz

58 So explizit BGE 98 I a, 151 (162); 99 I b 283 (291); 103 I a, 242 (245). - Tenninologisch müßte indes nach dem oben § 3 B I 1 a aa Gesagten zwischen Begünstigung und Belastungsbefreiung unterschieden werden. 59 Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (322). 60 Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (324). 61 So im Ansatz auch Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (321 0. 62 Zu erforderlichen Differenzierungen zwischen Begünstigungen und Belastungen in anderen Bereichen vgl. jedoch oben § 3 B I I b ce, d, e.

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vorgeht, so kann ein Gleichheitsverstoß nicht die Rechtswidrigkeit des Verwaltungshandelns auslösen, so daß auch keine Abwehrmöglichkeit besteht. 63 Überwiegend wird zumindest im Grundsatz anerkannt, daß der Bürger nicht mit dem Hebel des Gleichheitssatzes den Rechtsstaat zwingen kann, "seine eigene Fundamentalregel - die Herrschaft des Gesetzes - außer Kraft zu setzen".64 Allerdings fordere eine "vorsichtige Abwägung zwischen dem Legalitätsprinzip und dem Gleichheitssatz ... einen schonenden Ausgleich zwischen zwei Verfassungsprinzipien: dem Prinzip vom Vorrang des Gesetzes und der Maßgeblichkeit des Gleichheitssatzes".65 Danach soll ein Individualanspruch auf Gleichbehandlung gegenüber einer bisherigen und auch für die Zukunft geplanten gesetzwidrigen Praxis bestehen, wenn "a) die gesetzwidrige Handhabung des Gesetzesvollzugs die Dichte einer gleichheitserheblichen Regelpraxis gewonnen hat (Vielzahl oder Mehrzahl der Fälle), b) die Behörde sich weigert, die gesetzwidrige Praxis aufzugeben, und diese Weigerung in dem konkreten Gerichtsverfahren nicht überwunden werden kann und c) ein überwiegendes öffentliches Interesse nicht die richtige Anwendung des Gesetzes zwingend verlangt".66

Als Beispiel für ein Überwiegen öffentlicher Interesse gegenüber dem Gleichheitsanliegen wird ein nicht angewendetes Bauordnungsgesetz genannt, das der Standsicherheit von Häusern diene. Der als einziger in Anspruch genommene Eigentümer könne dann nicht den Abbruch des baufälligen Hauses verhindern. 67 Dagegen solle der Nichtvollzug eines Gebührengesetzes und die daraus folgende Haushaltsminderung dem Gleichstellungsanspruch nicht entgegenstehen. 68 Im übrigen wird die zu c) erforderliche Abwägung dahingehend präzisiert, daß eine gleiche rechtswidrige Begünstigung verlangt werden könne, wenn der Verwaltungsfehler nur eine Gleichheitswidrigkeit bewirke und kein weiteres gleichrangiges Rechtsgut verletze. 69 Für den Bereich des Steuerrechts 63 So wohl auch Rüjner, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Abs. I Rn. 182 a.E.: "Daraus, daß ... in ... Einzelfällen rechtswidrig nicht eingeschritten wird, erwächst dem, der rechtmäßig, aber ungleich belangt wurde, kein Recht auf Aufhebung der Belastung." 64 Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 66. In der Sache ebenso Amdt, in: Festschrift für Armbruster, S. 233 (238); Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 51; Randelzhofer, JZ 1973,536 (542); Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (321 f.). 65 Kirchhof, DStJG 18 (1995), 17 (32). 66 So Kirchhof, DStJG 18 (1995), 17 (32). In der Sache ebenso ders., HStR V, § 125 Rn. 88. 67 V gl. Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 88. 68 Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 88 a.E. 69 Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 89, der dies für den Fall einer gesetzwidrigen an einen Konkurrenten gewährten Subvention annimmt. Wenn die Subvention nicht zurück-

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könne "erwogen werden, dem Gleichheitssatz durch gleichmäßige Steuerentlastung (aller) zur Wirkung zu verhelfen und das öffentliche Interesse an einem vollständigen Steueraufkommen zurücktreten zu lassen," falls eine Lastenungleichheit aufgrund eines strukturellen Vollzugsdefizits bestehe und eine weitere rechtserhebliche Auswirkung allein in einer unerheblichen Minderung des Haushaltsvolumens bestehe. 70 Eine Gleichstellung durch Nichtbesteuerung dürfe im übrigen aber keine Ungleichheit gegenüber anderen Schuldnern derselben Steuer oder in der steuerlichen Gesamtbelastung jedenfalls von Konkurrenten schaffen; deshalb scheide eine entlastende Gleichstellung bei bloßen Vollzugsdefiziten für einzelne Anwendungsgruppen einer Steuer aus. 71 Prozessual sei nach dem Rechtsschutzsystem des Grundgesetzes nur die Gleichstellung durch eigene Begünstigung, nicht aber Gleichstellung durch Belastung anderer einklagbar. 72 Soweit der Bürger Rechtsbehelfe gegen eine ihn treffende ungleiche "Belastung oder Nichtbegünstigung" einlege, suche er nicht im Wege der Popularklage allgemein die Rechtswidrigkeit eines unzulänglichen Gesetzesvollzuges zu bekämpfen, sondern begehre Gerichtsschutz gegen ein ihn "belastendes Verwaltungshandeln".73 Klage und Verfassungsbeschwerde zielten auf die Abwehr eines Eingriffs. 74 Nach dieser Konzeption soll "Gleichheit im Unrecht" nicht nur dann gewährt werden, wenn die rechtswidrige Verwaltungspraxis dem Gesetzgeber zurechenbar ist. Dann ist der Gesetzgeber indes nicht davor geschützt, daß die Exekutive sich über seinen Willen hinwegsetzt und das Gesetz mit Hilfe des Gleichheitssatzes auch zugunsten der bisher noch rechtmäßig Behandelten nicht mehr befolgt werden darf. Dies wäre eine Verletzung des Grundsatzes der Gewaltenteilung und des aus dem Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) folgenden 75 Anwendungsgebots von Gesetzen. Ist das Vollzugsdefizit dagegen dem Gesetzgeber zurechenbar, weil dieser den Nichtvollzug des von ihm

gefordert werden könne, könne die Ungleichheit nur ausgeglichen werden, wenn auch der benachteiligte Unternehmer die gesetzwidrige Subvention erhält. (Die Minderung der Haushaltseinnahmen soll als Abwägungskriterium ("überwiegendes öffentliches Interesse") also offensichtlich von vornherein ausscheiden.) 70 So Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 90. - Hervorhebung nur hier. 71 Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 90. 72 Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 91. Nach der oben § 3 B I 1 a aa dargelegten tenninologischen Differenzierung wäre statt von "Begünstigung" bzw. "Belastung" hier von "Besserstellung" bzw. "Schlechterstellung" zu sprechen. 73 Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 94. 74 Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 94; vgl. auch dens., HStR V, § 124 Rn. 274 f. - Zur Frage, ob Belastungen und Nichtbegünstigungen gleichen Maßstäben unterliegen, siehe oben in diesem Abschnitt. 75Vgl. nur Erichsen, Jura 1995,550 (551) m.w.N.

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erlassenen Gesetzes zu vertreten hat,76 spricht nichts gegen eine Abwehrmöglichkeit der gleichheitswidrig auferlegten gesetzlichen Belastung. Es bleibt also dabei, daß die grundsätzlichen Bedenken gegen eine Gleichstellung im Unrecht nur insoweit ausgeräumt werden können, wie dem Gesetzgeber, der im Bereich des Verwaltungshandelns durch die Formel "Keine Gleichheit im Unrecht" geschützt werden soll, die rechtswidrige Verwaltungspraxis zurechenbar ist. Abgesehen von diesen grundsätzlichen Bedenken können auch die einzelnen Voraussetzungen, unter denen eine Gleichheit im Unrecht ausnahmsweise möglich sein soll, nicht überzeugen: Wenn eine Gleichheit im Unrecht im Bereich des Steuerrechts nur bei "unerheblichen" Haushaltsausfällen in Betracht kommen soll,77 könnten gerade die besonders schweren Gleichheitsverstöße, die erhebliche Auswirkungen auf das Haushaltsvolumen hätten, nicht bekämpft werden. 78 Sofern die differenzierende Auffassung als Voraussetzung der "Gleichheit im Unrecht" fordert, daß durch diese keine neuen Ungleichheiten gegenüber weiteren Vergleichsgruppen auftreten dürften,79 so ist dem entgegenzuhalten, daß gerade dies regelmäßig der Fall sein wird. 8o

76 BVerfGE

84, 239 (Leitsatz 4 und S.271 f.). So Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 90. 78 Wie hier Birk/Barth, in: HübschmannlHepp/Spitaler, § 4 AO Rn. 425 a.E. 79 Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 90. 80 Dies soll am Beispiel des Sachverhalts, der BVerwGE 34, 278 ff. zugrunde lag, verdeutlicht werden: Nach § 12 Abs. 4 WPflG soll ein Wehrpflichtiger zurückgestellt werden, wenn die Einberufung eines Wehrpflichtigen einen bereits weitgehend geförderten Ausbildungsabschnitt unterbrechen würde. Diese Voraussetzung nimmt das Bundesverwaltungsgericht in st. Rspr. dann an, wenn der Wehrpflichtige schon mindestens ein Drittel der für den Ausbildungsabschnitt vorgeschriebenen oder regelmäßig erforderlichen Ausbildungszeit erreicht hat, vgl. BVerwGE 34, 278 (279) m.w.N. In einer Verwaltungsvorschrift des Bundesministers der Verteidigung wurden die Voraussetzungen des § 12 Abs. 4 WPflG zugunsten von Ingenieur-Studenten als von Beginn des Studiums an gegeben fingiert. Diese Verwaltungsvorschrift hielt das Bundesverwaltungsgericht für rechtswidrig, da sie mit dem Gesetz nicht in Einklang stehe und die Verwaltung keine weitergehenden Zurückstellungsgründe schaffen könne, vgl. BVerwGE 34, 278 (280, 282). In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt klagte ein Ingenieur-Student, der entgegen der rechtswidrigen Verwaltungsvorschrift, aber gemäß dem Gesetz nicht zurückgestellt worden war, auf Zurückstellung. Die Klage hatte keinen Erfolg, da der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nur Gleichbehandlung im Recht verbürge, vgl. BVerwGE 34,278 (283). Hätte in diesem Fall der Ingenieur-Student mit seinem auf Zurückstellung gerichteten Begehren Erfolg gehabt, so würde er zwar mit den bisher rechtswidrig bevorzugten Ingenieur-Studenten gIeichbehandelt, aber gegenüber Studenten anderer Fachrichtungen und Auszubildenden, mit denen er eigentlich ebenfalls gleichbehandelt werden müßte, ungleich behandelt. Dem will Pauly, JZ 1997,647 (651 Fn. 52) dadurch begegnen, daß alle in Ausbildung befindlichen Wehrpflichtigen bis zur Behebung des Vollzugsmangels Zurückstellung nach Art. 3 Abs. I GG - entgegen § 12 Abs. 4 WPflG - erreichen könnten. Aber selbst bei einer solchen Ausdehnung würde sich die Frage stellen, warum Studenten des 1. Semesters generell einen Anspruch auf Zurückstellung hätten, während Wehrpflichtige vor Aufnahme des Studiums 77

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§ 5. Keine Gleichheit im Unrecht?

Als vorläufiges Ergebnis ist festzuhalten, daß "Gleichheit im Unrecht" somit regelmäßig nicht erreicht werden kann. Eine Ausnahme ist dann möglich, wenn eine rechtswidrige Verwaltungspraxis dem Gesetzgeber zurechenbar ist. In diesem Fall wird das aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende Anwendungsgebot von Gesetzen nicht verletzt. Wird kein Anspruch auf "Gleichheit im Unrecht" gewährt, so tritt indes der Gleichheitssatz, der ebenfalls in der Verfassung verankert ist, zurück und bleibt völlig wirkungslos. Insoweit würde die Möglichkeit, "Gleichheit im Recht" herbeizuführen, am ehesten zu befriedigenden Ergebnissen führen. Inwieweit der rechtmäßig behandelte benachteiligte Bürger dies zulässigerweise erreichen kann, wird unten erörtert. 81

2. Absolut verfassungswidrige Drittbevorzugung durch Gesetz Die Formel "keine Gleichheit im Unrecht" wird bei der Überprüfung von Gesetzen im Rahmen der Zulässigkeit relevant. Das Bundesverfassungsgericht fordert in st. Rspr. sowohl für Verfassungsbeschwerden als auch für Richtervorlagen, daß infolge der verfassungsgerichtlichen Entscheidung für den Kläger des Ausgangsverfahrens bzw. den Beschwerdeführer die Chance bestehen muß, daß dieser seine Rechtsstellung verbessern kann. 82 Es reicht nicht aus, daß der Kläger des Ausgangsverfahrens bloß die Rechtsstellung der Vergleichsgruppe verschlechtert. Dies wurde auch damit umschrieben, daß mit Hilfe des Gleichheitssatz der Standard "nicht nach unten gepegelt" werden dürfe. 83 Damit ist die Konstellation, in der der bevorzugten Vergleichsgruppe ein absolut verfassungswidriger Vorteil eingeräumt wird, eine wichtige Fallgruppe, in der die h.M. - wegen der fehlenden Verbesserungsmöglichkeit für den Kläger bzw. Beschwerdeführer - konkrete Normenkontrollen bzw. Verfassungsbeschwerden für unzulässig erachtet. Klagt der Bürger im Ausgangsverfahren darauf, so behandelt zu werden wie die absolut verfassungswidrig bevorzugte Vergleichsgruppe,84 so wäre eine ent-

keine Zurückstellung erreichen könnten. Auch für die Studenten des 1. Semesters liegt die Zurückstellungsvoraussetzung der weitgehend geförderten Ausbildung nicht vor. Es entstünden also infolge der Gleichstellung im Unrecht neue rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlungen. 81 § 5 C H. 82 Nachweise oben § 4 A I. 83 Dürig. in: Maun:zJDürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 179, der dies auch im Zusammenhang mit der Erörterung der Formel "keine Gleichheit im Unrecht" hervorhebt. 84 Im oben § 5 B H 1 genannten Beispiel I könnte A etwa auf Feststellung klagen, ebenfalls wie Z (entgegen Art. 26 Abs. 2 GG, aber gemäß für Z geltenden Gesetz) genehmigungsfrei Kriegswaffen herstellen zu können.

C. Rechtsschutzfragen bei absolut rechtswidrigen Drittbevorzugungen

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sprechende Vorlage mangels Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage nach Art. 100 Abs. 1 GG unzulässig. In diesen seltenen Ausnahmefällen kann dem Rechtsschutzbegehren auf Verbesserung der eigenen Rechtsstellung tatsächlich keinesfalls entsprochen werden, und zwar auch in den Fällen, in denen ein gleichheits- und damit rechtswidriger Eingriff vorliegt.

11. Rechtsschutz zum Nachteil Dritter? Nach dem Gesagten kommt Rechtsschutz mit dem Ziel der unmittelbaren Verbesserung der eigenen Rechtsstellung also grundsätzlich85 in den Fällen nicht in Betracht, in denen die Behandlung der bevorzugten Vergleichsgruppe absolut rechtswidrig ist. Es stellt sich dann die Frage, ob der Benachteiligte wenigstens die Beseitigung der Drittbevorzugung - also die Verschlechterung einer fremden Rechtsstellung - erreichen kann. Nach h.M. ist ihm dies nur dann möglich, wenn durch die Bevorzugung Dritter zugleich auch eigene Rechtspositionen - über das Interesse an Gleichbehandlung hinaus - beeinträchtigt werden. 86 In diesen Fällen liegt in der Verschlechterung fremder Rechtspositionen zugleich eine (mittelbare) Verbesserung der eigenen Rechtsposition. Dies wird etwa angenommen für den Fall, daß eine Subventionierung des Konkurrenten die eigene Wettbewerbsfähigkeit beseitigt. 87 Mit dem Mittel des Gleichheitssatzes allein kann nach h.M. die Drittbevorzugung zulässigerweise jedoch nicht bekämpft werden, wenn eine solche mittelbare Verbesserung der eigenen Rechtsstellung ausgeschlossen ist. 88 Plakativ wurde formuliert, daß mit Hilfe des Gleichheitssatzes nicht alles, was über dem

85 Nur ausnahmsweise kommt eine Gleichstellung im Unrecht dann in Betracht, wenn dem Gesetzgeber die gesetzwidrige Verwaltungspraxis zurechenbar ist, weil in diesem Fall kein schutzwürdiges Interesse an der Beachtung des gesetzgeberischen Willens besteht. 86 Vgl. BVerfGE 18, I (12 f., 17); BFHE 184,212 (Leitsatz 5 und S. 219 f.). 87 BVerfGE 18, I (12 f., 17); BFHE 184,212 (Leitsatz 5 und S. 219 f.). - Zu der Frage, ob im Bereich des Steuerrechts durch gleichheitswidrige Drittbevorzugungen insoweit eigene "Rechte" des Steuerpflichtigen beeinträchtigt werden, als die benachteiligten Steuerzahler über die bloße Ungleichbehandlung hinaus auch die Einnahmeausfälle auszugleichen haben, die durch Drittprivilegierungen entstehen, vgl. oben § 4 C 11 1 und § 3 B lid aa (4). 88 BFHE 184, 212 (Leitsätze I und 3); Dürig, in: Maun:zJDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 468 a.E.: Erichsen, VerwArch. 71 (1980), 289 (296); Kirchhof, HStR V, § 125 Rn. 91; Seer, in: TipkelLang, Steuerrecht, § 23 Rn. 127; Trzaskalik, DStJG 5 (1982), 315 (335 f.). Wohl auch larass!Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 8 a.E.: "Ist die Begünstigung rechtswidrig, schließt der Vorrang des Gesetzes meist eine Beeinträchtigung aus."

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eigenen Standard liege, "nach unten" gezogen werden könne. 89 Die Erwartung des "Hinunterpegelns" (sc. der Positionen anderer) stelle eine ,,Richtungsverfehlung" des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes dar. 90 ,,Eines" sei ,,Art. 3 Abs. 1 GG prozessual... grundsätzlich nicht: Ein Hebelgrundrecht zum Eindringen in eine fremde Rechtssphäre; ein Prozeßrecht auf Abbau und Verbot von Begünstigungen anderer schlechthin; eine Popularklage des Neids. ,,91

1. Gleichheitswidrige VerwaItungspraxis Beispiel: Ein Steuergesetz wird zugunsten der Vergleichsgruppe A nicht vollzogen, auf die Vergleichsgruppe B jedoch angewendet. Es stellt sich die Frage, welche Rechtsschutzmöglichkeiten einem Mitglied der benachteiligten Gruppe B zur Verfügung stehen. Klagt B darauf, daß das Steuergesetz auf ihn ebenfalls nicht angewendet wird, und liegen die Voraussetzungen der Zurechnung dieser Vollzugsmängel an den Gesetzgeber nicht vor92 , so kann er eine unmittelbare Verbesserung seiner eigenen Rechtsposition nicht erreichen. Dann stellt sich die Frage, ob er eine rechtmäßige Behandlung der Vergleichsgruppen erreichen kann, also Herstellung von Gleichheit durch Verschlechterung der fremden Standards.

Dies wird in der Literatur teilweise gefordert. Danach soll die Abwehr einer absolut rechtswidrigen Drittbevorzugung generell in jedem Falle möglich sein. 93 Verstößt die absolut rechtswidrige Drittbevorzugung auch gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG - sog. relative Rechtswidrigkeit94 ), so liegt darin zugleich eine Ungleichbehandlung des Benachteiligten. Daraus wird zum Teil gefolgert, daß die Behörde nicht nur objektives Recht, sondern auch das sub-

89 Vgl. im Zusammenhang mit der Formel "Keine Gleichheit im Unrecht" Dürig, in: MaunzIDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 179. 90 Dürig, in: MaunzIDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 171. 91 Dürig, in: MaunzIDürig, GG, Art. 3 Abs. I Rn. 468 a.E. (im Zusammenhang mit der Bedeutung des Gleichheitssatzes fUr die Verwaltung, vgl. Gliederung vor Rn. 1 und Überschrift vor Rn. 414). - Hervorhebungen im Original. 92 BVerfGE 84, 239 (284) bejahte in diesem Fall zwar nicht einen Anspruch auf Gleichheit im Unrecht, sondern nahm an, daß in diesen Fällen ein Vollzugsmangel auf die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes durchschlägt. Dies fUhrt zum selben Ergebnis, da insoweit die eigene steuerliche Belastung ebenfalls abgewehrt werden kann. Aus den genannten Gründen bestehen insoweit jedoch keine Bedenken, auch eine Gleichbehandlung im Unrecht zuzulassen. 93 In diesem Sinne insbesondere Sachs, in: Festschrift fUr Friauf, S. 309 (325 ff.); Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1395. Wohl auch Friauj, DVBI. 1969, 368 (371 f.). 94 Vgl. Maurer, in: Festschrift fUr Weber, S. 345 (354).

C. Rechtsschutzfragen bei absolut rechtswidrigen Drittbevorzugungen

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jektive Recht des Benachteiligten aus Art. 3 Abs. 1 GG verletze, wenn sie bestimmte Bürger besser behandele als vom Gesetz vorgesehen. 95 Der dem Gesetz entsprechend behandelte Bürger könne demnach zulässigerweise die Anwendung des Gesetzes auf andere durch Klage durchsetzen. 96 In einer rechtsstaatlichen, dem Gleichheitssatz unterworfenen Gemeinschaft der Steuerpflichtigen habe jeder gegen jeden einen Anspruch auf Erfüllung seiner gesetzlichen Steuerpflicht. 97 Dieser Anspruch bedeute ein ..Weniger" gegenüber dem Anspruch, ebenfalls nicht zu zahlen. 98 Für diese Argumentation spricht, daß die Möglichkeit des Angriffs auf die absolut rechtswidrige Driubevorzugung die regelmäßig mit einer Gleichstellung im Unrecht verbundenen Probleme zu vermeiden vermag. 99 Eine Ausdehnung der Rechtsschutzmöglichkeiten, die sowohl Gleichbehandlung herbeiführen als auch einen Konflikt mit den in Art. 20 Abs. 3 GG enthaltenen Grundprinzipien der Verfassung vermeiden könnte, erscheint prinzipiell vorzugswürdig gegenüber den Ergebnissen, die eine ..Gleichstellung im Unrecht" grundsätzlich herbeiführt. In diesem Fall würde zwar Gleichheit erreicht, aber Art. 20 Abs. 3 GG in nicht hinnehmbarer Weise beeinträchtigt. Gewährt man hingegen weder Gleichheit im Unrecht noch eine prozessuale Möglichkeit, die Driubevorzugung zu beseitigen, ist zwar Art. 20 Abs. 3 GG Rechnung getragen, jedoch läuft Art. 3 Abs. 1 GG dann völlig leer. Insofern hat die Mindermeinung durchaus den Vorzug für sich, daß sie nicht ein Verfassungsprinzip unter völliger Ausschaltung des gegenläufigen Verfassungsprinzips optimiert. Auch ist der Mindermeinung einzuräumen, daß Freiheitsrechte und Gleichheitsrechte eine unterschiedliche Struktur haben; hervorzuheben ist an dieser Stelle insbesondere, daß (1) der Gleichheitssatz auf Begünstigungen und Belastungen anwendbar ist, während Freiheitsrechte grundSätzlich nur auf Belastungen anwendbar sind, und daß (2) Gleichheitsrechte grundsätzlich eines Bezugspunktes (Vergleichspaares) bedürfen und damit relativ wirken, während Freiheitsrechte grundsätzlich absolut wirken. Auf alle soeben genannten Gesichtspunkte wird im Zusammenhang mit der Überprüfbarkeit von Gesetzen noch zurückgekommen. 100 Im Bereich des Verwaltungshandelns wird man sich indes zu vergegenwärtigen haben, daß die Eröffnung der Möglichkeit, Drittbevorzugungen unter Berufung auf den Gleichheitssatz anzufechten, dazu führen würde, daß Art. 20

Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1395. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1395. 97 Tipke. Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1396. 98 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1397. 99 Ebenso Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (328), der zutreffend hervorgeht, daß es bei der Angriffsrichtung auf die absolut rechtswidrige Drittbevorzugung um eine ..Gleichstellung im Recht" geht. 100 § 5 C I 2. 95

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§ 5. Keine Gleichheit im Unrecht?

Abs. 3 GG versubjektiviert würde und Art. 3 Abs. 1 GG dann einen allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch einräumen würde. 101 Wird ein vergleichbarer Steuerpflichtiger unzutreffend zu niedrig besteuert, könnte jeder ordnungsgemäß behandelte Steuerpflichtige in der Konsequenz dieser Auffassung unter Berufung auf Art. 3 Abs. 1 GG dagegen klagen. Damit würde das geltende Rechtsschutzsystem, dem Popularklagen fremd sind, unterlaufen. 102 Zwar können einfachgesetzliche Bestimmungen wie §§ 42 Abs. 2 VwGO, 40 Abs. 2 FGO nicht darüber bestimmen, wie die Verfassung auszulegen ist. Ferner ließe sich auch gerade vertreten, daß Art. 3 Abs. 1 GG insoweit ein von §§ 42 Abs. 2 VwGO, 40 Abs. 2 FGO gefordertes subjektives öffentliches Recht darstellt. Indes ergibt sich aus der Verfassung selbst, daß die Rechtmäßigkeit der Verwaltung durch Art. 20 Abs. 3 GG als objektivem Recht gewährleistet ist. Dann kann aber nicht über den Umweg des Art. 3 Abs. 1 GG ein allgemeiner Gesetzesvollziehungsanspruch eingeräumt werden. 103 Insoweit ist die Problematik vergleichbar mit der von der Verfassungsbeschwerde her bekannten Frage, ob spezifisches Veifassungsrecht verletzt iSt. 104 In diesem Bereich ist anerkannt, daß nicht jede unrichtige Gesetzesanwendung gegenüber dem Beschwerdeführer die Verfassungsbeschwerde eröffnen kann. Zwar liegt konstruktiv in jeder unrichtigen Gesetzesanwendung ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG, weil die Behörde den Vorrang des Gesetzes mißachtet hat. Ergeht gegenüber dem Bürger eine belastende Maßnahme, so läge auch ein verfassungswidriger Eingriff mindestens in das Recht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG vor. lOS Nach dem Rechtsschutzsystem des GG soll das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht Superrevisionsinstanz sein, so daß konstruktiv als Veifassungsverletzungen versteh bare gesetzwidrige Einzelfallentscheidungen nicht zur Überprüfung 101 Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit besagt, daß die Rechtsnormen auf jeden Fall, der unter ihren Tatbestand fällt, und auf keinen Fall, der nicht unter ihren Tatbestand fällt, anzuwenden ist. Dies ist deckungsgleich mit der Anordnung, daß Rechtsnormen zu befolgen sind; vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 358. Genau diese Aussage enthält jedoch auch Art. 20 Abs. 3 GG mit der Statuierung des Vorrangs des Gesetzes, vgl. nur Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 276. Aus dem Vorrang des Gesetzes folgt ein Anwendungsgebot von Gesetzen, vgl. Erichsen, Jura 1995, 550. 102 Gegen die "generelle Anerkennung der Popularklage gegen begünstigende Regelungen" auch Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (327). Sachs verneint die Gefahr der Eröffnung einer Popularklage über Art. 3 Abs. I GG allerdings mit der Begründung, daß klageberechtigt nur Mitglieder der in Betracht zu ziehenden Vergleichsgruppe sein sollen, "etwa bei der Vergabe von Subventionen ein dem Zweck der Leistungen entsprechend abgegrenzter Personenkreis", vgl. dens., S. 327 Fn. 59. Diese Beschränkung auf einen relativ eng umgrenzten Personenkreis mag im Subventionsrecht bestehen, im Massenfallrecht Steuerrecht trifft sie jedenfalls nicht zu. IOJ Gegen die Herleitung eines allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruchs aus Art. 3 GG auch Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 62. 104 Vgl. dazu BVerfGE 18, 85 (92), seitdem st. Rspr.; s. ferner Wernsmann, StuW 1998,317 (321) m.w.N. IO~ Sog. Adressaten-"Theorie", vgl. etwa Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 510.

C. Rechtsschutzfragen bei absolut rechtswidrigen Drittbevorzugungen

305

des Bundesverfassungsgerichts gestellt werden können. 106 Insofern zwingt auch in dem hier zu erörternden Fall die Annahme einer Ungleichbehandlung i.S.d. Art. 3 Abs. 1 GG nicht zur Eröffnung von Rechtsschutz, wenn dieser in einem solchen Umfang vom GG nicht gewollt ist. Es trifft daher zu, wenn durch einen unzureichenden Gesetzesvollzug typischerweise nur das Allgemeininteresse beeinträchtigt gesehen wird, aus dessen "Anonymität ein besonderes Individualinteresse abstrahierbar" sein muß, um die Klagebefugnis zu begründen. 107 Ein Vorgehen gegen einen drittbevorzugenden Gesetzesvollzug ist also nur dann möglich, wenn die Nichtbesteuerung oder zu niedrige Besteuerung gegen eine Norm verstößt, die zumindest auch drittschützend iSt. 108

2. Gleichheitswidrige Gesetze

a) Möglichkeit der Gleichstellung zum Nachteil Dritter in den Fällen der absolut veifassungswidrigen Drittbevorzugung Bei EinzelJallentscheidungen läßt sich somit regelmäßig lO9 aus Art. 3 Abs. 1 GG kein von dem öffentlichen Interesse auf rechtmäßigen Normvollzug gesondertes Individualrecht herleiten, eine Drittbevorzugung zu beseitigen. 110 Bei Gesetzen (im formellen und materiellen Sinn) handelt es sich hingegen um abstrakt-generelle Regelungen, die für eine Vielzahl von Fällen Geltung beanspruchen. Räumt das Gesetz der Vergleichsgruppe einen absolut verfassungswidrigen Vorteil ein, so kann die benachteiligte Vergleichsgruppe ihre eigene Rechtsstellung auch bei Bejahung eines Verfassungsverstoßes durch das Bundesverfassungsgericht nicht erreichen. Könnte sie in diesen Fällen auch nicht eine (absolut lll und relativ l12 ) verfassungsmäßige Behandlung der Vergleichsgruppe erreichen, so würde der Gleichheitsverstoß perpetuiert. Dies gilt um so mehr vor dem Hintergrund, daß die Verwaltung der bevorzugten Vergleichs-

dazu nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 1255 ff. BFHE 184,212 (Leitsatz I und S. 215 ff.); Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, S. 258; ders., in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 23 Rn. 127. 108 BFHE 184,212 (Leitsatz I und S. 214 ff.). 109 Zu Ausnahmen (etwa Wettbewerbsbeeinträchtigung durch Konkurrentensubventionierung) siehe oben § 5 C II I. 110 Ausnahmsweise (bei Zurechnung der Vollzugsdefizite an den Gesetzgeber) kann der Bürger jedoch eine Verbesserung seiner eigenen Rechtsposition erreichen, vgl. dazu oben § 5 C I I a. I I I Absolut verfassungsmäßig ist etwa im oben § 5 BIll genannten Beispiel I im Hinblick auf Art. 26 Abs. 2 GG die Genehmigungspflicht für alle, also auch für Z. 112 Relativ verfassungsmäßig sind Normen, die dem Gleichheitssatz genügen. 106 V gl.

107

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§ 5. Keine Gleichheit im Unrecht?

gruppe die von dem verfassungswidrigen Gesetz eingeräumten Vorteile regelmäßig gewähren würde und selbst bei Verweigerung (etwa mit der Begründung, daß die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm nicht vorliegen) die Gerichte die Norm dem Bundesverfassungsgericht nach Ansicht der Rechtsprechung nicht gern. Art. 100 Abs. 1 GG vorlegen könnten. 113 Würde man gleichheitswidrig Benachteiligten Rechtsschutz gegen absolut und relativ verfassungswidrige Gesetze verweigern, würde dies dazu führen, daß Art. 3 Abs. 1 GG auf prozessualem Wege "kaltgestellt" wird. Es bestünde dann keinerlei Rechtsschutz: Die Benachteiligten könnten wegen der Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) keine Verbesserung ihrer Rechtsposition ("keine Gleichstellung im Unrecht") und auch keine "Gleichstellung im Recht" durch Angriff der Drittbevorzugung erreichen, und selbst in Verfahren der Bevorzugten soll die Verfassungsmäßigkeit der Norm nicht gern. Art. 100 Abs. 1 GG entscheidungserheblich sein. Fraglich ist, ob ein derartiges Leerlaufen des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) gerechtfertigt werden kann. Art. 3 Abs. 1 GG ist gern. Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar geltendes Recht. Er ist nach der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und der Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) an den Anfang des Grundrechtskataloges und des Grundgesetzes gestellt und befindet sich damit an hervorgehobener Position. 114 Daher bedürfen Rechtsschutzrestriktionen dann besonderer Rechtfertigung, wenn eine Perpetuierung des Unrechts droht, wie es bei Verfassungsverstößen durch Gesetze der Fall ist. 115 Kann das regelmäßige Primärziel des Benachteiligten, selbst so behandelt zu werden wie die Bevorzugten, aus Gründen des Vorrangs der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht erreicht werden, weil die Verfassung die Bevorzugung der Vergleichsgruppe absolut verbietet, so muß zumindest der weniger weitreichende Rechtsschutz (Angriff der Drittbevorzugung) möglich sein. Nur weil über den relativen Verfassungsverstoß hinaus auch noch ein absoluter Verfassungsverstoß vorliegt, kann nicht Rechtsschutz ausgeschlossen sein. Art. 20 Abs. 3 GG steht einer Verbesserung der eigenen Rechtsposition in diesen Fällen entgegen. Ein Spannungsverhältnis mit Art. 3 Abs. 1 GG besteht jedoch nicht, soweit es um die Gleichstellung im Recht - nämlich durch Beseitigung der DriUbevorzugung - geht. Fordert Art. 20 Abs. 3 GG, daß der Gleichheitssatz insoweit zurücktreten muß, als der Benachteiligte seine Rechtsposition verbesIIJ Vgl. BVerfGE 67, 239 ff. Zur Kritik daran oben § 4 C III. Anders aber jetzt implizit BVerfGE 99, 280 (288 f.); dieser Entscheidung ist zuzustimmen. 114 Vgl. Sachs. in: Festschrift für Friauf, S. 309 (329). 115 Auch bei rechtswidrigem Verwaltungshandeln liegen in Fällen massenhafter Vollzugsmängel u.U. die Voraussetzungen für eine Zurechnung an den Gesetzgeber vor; vgl. BVerfGE 84, 239 (272).

c. Rechtsschutzfragen bei absolut rechtswidrigen Drittbevorzugungen

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sem will, so muß dem Gleichheitssatz dann jedenfalls insoweit zur Geltung verholfen werden, als Gleichheit durch Beseitigung der Drittbevorzugung hergestellt werden kann. Dies folgt daraus, daß bei einem Widerstreit zwischen verschiedenen Verfassungswerten nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung l16 ein möglichst schonender Ausgleich gesucht werden muß, der beiden betroffenen Verfassungswerten trotz des Widerstreits zu möglichst optimaler Geltung verhilft. 11 ? Dies wäre jedenfalls nicht der Fall, wenn der Gleichheitssatz aus prozessualen Gründen völlig leerlaufen würde. Da auch die Argumente derer, die sich generell gegen die Möglichkeit der Gleichstellung zum Nachteil Dritter aussprechen, im Bereich der für eine Vielzahl von Fällen geltenden Gesetze nicht überzeugen, müssen entsprechende Gleichstellungsbegehren prozessual als zulässig erachtet werden.

b) Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG Berücksichtigt man diese aus den Schutzrichtungen des Gleichheitssatzes gewonnenen Ergebnisse bei der Auslegung des Begriffs der Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. 1 GG, so kommt es in Verfahren, die auf Rechtsschutz zum Nachteil Dritter zielen, auf die Frage der Vereinbarkeit von Gesetzen mit dem Gleichheitssatz auch dann an, wenn die Drittbevorzugung zugleich absolut verfassungswidrig wäre und eine unmittelbare oder mittelbare Verbesserung der eigenen Rechtsstellung deshalb ausgeschlossen ist.

116 BVerfGE 19,206 (220); Hesse, Grundzüge, Rn. 71; larasslPieroth, GO, Einleitung Rn. 6. 117 BVerfGE 93, I (21) m.w.N., st. Rspr.; Hesse, Grundzüge, Rn. 72; Lerche, HStR V, § 122 Rn. 5 f.; Stern, Staatsrecht I, § 4 III 8 b. - Vgl. außerdem Kirchhof, DStJG 18 (1995), 17 (32), der im Ansatz ebenfalls einen "schonenden Ausgleich zwischen zwei Verfassungsprinzipien" (nämlich Art. 3 Abs. I GG und Art. 20 Abs. 3 GO) fordert und daraus herleitet, daß in bestimmten Fällen ein Anspruch auf Gleichstellung im Unrecht besteht (dort für eine gesetzwidrige Verwaltungspraxis). Vgl. ferner Sachs, in: Festschrift für Friauf, S. 309 (322): "Doch geht es ebensowenig an, den Gleichheitssatz schlichtweg dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (oder auch der Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung) unterzuordnen." Sachs folgert daraus, daß gleichheitswidrige Belastung stets rechtswidrige Belastung sei und daher abgewehrt werden könne. Dem ist indes wie gesehen nur insoweit zuzustimmen, als die Belastung gerade nicht von der Verfassung zwingend gefordert ist; in Fällen der Gleichheit im Unrecht geht Art. 20 Abs. 3 GG vor, so daß insoweit keine Abwehrmöglichkeit besteht.

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Sachwortverzeichnis AItersbesteuerung 40 f., 57 Fn. 123 Anfechtungssituation 84 f., 103 f., 125 Anlaßfälle 26 Fn. 41,261 Fn . 164 Appell-Entscheidung 37 ff. s. auch Verfassungswidrigwerden von

Nonnen - Änderung der rechtlichen Verhältnisse 42 ff. - Änderung der tatsächlichen Verhältnisse 39 ff. - Chaos 40, 43 f., 46, 47, 53 ff., 214 - Evidenz des Verfassungsverstoßes 40, 42 f., 46ff., 50 f., 54 - Gesetzgebungsaufträge 52 f. - Komplexität 45 f. - obiter dictum 57 - Rechtfertigung 63 ff. - und Unvereinbarerklärung 214

Begünstigungsausschluß. gleichheitswidriger 60. 83 ff. - ausdrücklicher 86 - gerichtliche Überprüfbarkeit s. Entscheidungserheblichkeit - konkludenter 86 - unterschiedliche Regelungssysteme

86f Belastung 83 ff.. 229 Fn. 5 Bestandskraft 20 ff.. 75 f.. 78 Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen 93 Eingriffsabwehr 129. /44 f, 148ff.. 152 ff.• 175. /78f Eingriffsrecht - Rechtsschutzdivergenz gegenüber Leistungsrecht 178 ff.

s. auch Eingriffsabwehr Beamtenpensionen s. Altersbesteuerung Begünstigung - absolut verfassungswidrige 230,

28/ ff. - Ausdehnung 28 f. - Aussetzungspflicht s. unter Unvereinbarerklärung, Nor-

manwendungssperre - Begriff 83 ff., 104, 200, 229 Fn. 5 - Bindungsintensität des Gleichheitssatzes /99 ff. - Chance auf Einbeziehung 102 f., 114, 129, 145 f., 225 - der Beteiligten des Ausgangsverfahrens 29 f., 231, 243, 273 ff.. 277 ff. - Normanwendungssperre s. unter Unvereinbarerklärung - Steuerentlastungstatbestände /57 ff. s. auch Steuerprivileg

21 Wcrnsmann

Einheit der Verfassung 63 f, 67 Entscheidungserheblichkeit 28 ff., 95 f.

228ff. - erkennbare Bedeutungslosigkeit für Ausgangsverfahren 31 f .• 254 f, 266 - Begriff 235 ff. - bei bloßer Pro-futuro-Wirkung 146f. 231. 232 ff.. 26/ ff. - drittbevorzugende Norm 115. 118. 130 ff.. /33 ff.. I 57ff.• 229 ff.. 240 ff.. 270 ff.. 277 ff. - Gesamtbetrachtung 137 ff.. 150 f., 157 f. - hypothetische Reaktion des Gesetzgebers 143 f., 272f - idealtypischer Fall 265 f. 270 ff. - Rechtsprechungsentwicklung 239 ff. - Steuerprivilegien s. drittbevorzugende Norm - und Gesetzestechnik /36 f

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Sachwortverzeichnis

- und Rechtsfolge der Normenkontrollentscheidung 228 Jf. - Vorlage an Großen Senat 267 Jf. - Zusammenwirken mehrerer Normen 150 ff. Ergebnisse s. Zusammenfassungen Ergreiferprämie s. Anlaßfälle Ermessen 99 ff., 125 Europarechtsverstoß s. unter Folgenberücksichtigung Evidenz s. unter Appell-Entscheidung Existenzminimum, Besteuerung 41, 101, 128 f. Familienbesteuerung 19 Fn. 8, 75 f. Feuerwehrabgabe 76 f. Folgenberucksichtigung 50 f., 55 Jf., 61 f., 177 - Fortgeltung einer europarechtswidrigen Norm 66 f. Fortgeltung der Norm - vorläufige 219 Jf. - endgültige s. unter Sanktionslosigkeit des Verfassungsverstoßes s. auch Unvereinbarerklärung. Profuturo- Wirkung Gesamtbetrachtung s. unter Gleichheitsverstoß Gesetzestechnik s. unter Gleichheitssatz Gesetzesvollziehungsanspruch s. Popularklage Gesetzesvorbehalt 184 f. Gesetzgebungskompetenz - steuerliche Lenkungsnorm 185 ff. Gesetzgebungsverfahrensmängel47 ff. Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers s. unter Unvereinbarerklärung Gewaltenteilung 100, 125 Gleichheit im Unrecht 153, 155 ff., 281 Jf. - Gesetzgeber 156 Fn. 317,282/. 286Jf.

- Verwaltung 281 f., 285/ Gleichheitssatz - als modale Norm? 51 Fn. 84, 82 mit Fn.50 - Belastungen 118Jf., 229 Fn. 5 - Benachteiligung 83 ff.• 104, 200, 229 Fn. 5 - Besserstellung als Sachentscheidungsvoraussetzung 148/.152,230 s. auch Eingriffsabwehr - Haushaltsentlastung durch Drittbelastung 159 Jf. - Bevorzugung 83 Jf., 104,200,229 Fn. 5 - Bindungsintensität bei Begünstigungen und Belastungen 191 Jf.. 199 Jf. - Bindungsintensität bei Typisierungen 192 ff. - Ergebnisoffenheit 82Jf., 107, 125. 154 Jf. - Gesetzestechnik 85 Jf., 120 ff.• 133 ff., 136/,142 - Historische Bedeutung 203 f. - Relation 83 f., 90 f., 134/ - Relativität 51 f., 134 f., 168 f., 202, 302 - Strafrecht 288/ - Struktur 134 f., 149 f., 303 - subjektives Recht 113, 154 Jf., 302 - und Freiheitsrechte 126 f., 164 Jf., 170Jf.,303 - und Normvollzugsmängel 137 Jf., 153,295 Jf. Gleichheitsverstoß - durch späteres Gesetz 137 - Gesamtbetrachtung 89 ff., 121 ff., 130 Jf.. 137 Jf.. 293/ - Rechtsfolgen 17 ff. - Rechtsschutzziel 95 Jf.. 103 f .• 105, 125 f., 152Jf.. 218, 244 Jf. - Verbesserung der eigenen Rechtsstellung 291 Jf. - Verschlechterung der RechtssteIlung Dritter 301 Jf., 305 ff. s. auch Eingriffsabwehr - Typisierungen 192 Jf., 206 f. - und Pro-futuro-Wirkung 70 f., 78 - Unvereinbarerklärung 71 f., 81

Sachwortverzeichnis - Vertiefung 114 f. - Voraussetzungen 191 ff. - Willkürverbot und Verhältnismäßigkeit 205 ff. Grundrechte Dritter 175 ff. Grundrechtskonkurrenzen 164 ff., 168Jf. Halbteilungsgrundsatz 59 mit Fn. 136 Haushaltsrelevanz s. unter Steuerrecht Investitionshilfegesetz 76 Knappheit der Haushaltsmittel s. Vorbehalt des Möglichen Kohlepfennig 77 f., 80 Fn. 36, 261 Fn. 165 Konkrete Normenkontrolle s. auch Entscheidungserheblichkeit - objektives Verfahren 46,255 ff., 274 Jf. - Zulässigkeit 228 ff. - Funktionen 252 Jf. - und Verfassungsbeschwerde 258 f Kostenerstattung 26, 60 f., 261 Fn. 165 Landesabfallabgabe 76, 188 f. Lenkungsnorm 185 ff. Minderheitenschutz 205 f. Nachtarbeitszuschläge - Steuerfreiheit 132 Fn. 227 Neid 108, 162 Nichtigerklärung 17 ff., 28 ff. - als Regelfall 64 f., 75 ff. - Rechtsschutzziel 123 ff. Nichtigkeitsdogma - Abwägungsfähigkeit 65 ff. Normfortgeltung s. auch Sanktionslosigkeit des Verfassungsverstoßes; Unvereinbarerklärung, Pro-futuro- Wirkung - schonender Übergang 77 f., 223 f. Objektives Recht

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- Bestandteil der Grundrechtsprüfung 166 ff., 172 ff. Österreich 66 Popularklage 108, 304 Rechtsfolgen - Ermessen des BVerfG? 58 f., 262 f. - Normenkontrollentscheidung 35 ff. - Verknüpfung mit Zulässigkeit des Rechtsschutzes 32 f., 58 f. Rechtsprechungsänderung - Vertrauens schutz 44,59,267 ff. Rechtsschutzziel s. unter Gleichheitsverstoß Richterliches Prüfungsrecht - Weimarer Republik 235 ff. Richtervorlage s. konkrete Normenkontrolle Rückwirkung s. Vertrauensschutz Sanktionslosigkeit des Verfassungsverstoßes 27 f., 221 ff. Schweiz 295 f. Spezifisches Verfassungsrecht 304 Steuerbescheide - Korrekturpflicht 22 ff. Steuerprivileg 152 ff. s. auch Begünstigung, Steuerentlastungstatbestände - Beseitigung 29 f. - Einbeziehung 28 f. - Entscheidungserheblichkeit s. dort Steuerrecht - Eingriffsrechtl48 ff., 184 f. - Gleichbehandlung 20, 25 f. - Haushaltsrelevanz 27, 54 f., 77 f., 89, 155,215f. - Massenfallrecht 20 - Verfassungswidrigkeit 20 Steuervergünstigungen 83 ff. s. auch Lenkungsnorm; Begünstigung, Steuerentlastungstatbestände Subventionen 163, 180Jf. - Gleichheitssatz 204 - Kostentragung 189 f. System des Gesetzes 141 Jf., 230, 27 J

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Typisierung 78, 192 ff., 206 f. Umsatzsteuer 54 ff. Unterlassen, gesetzgeberisches 81, 105, 157 f. - beim konkludenten Begünstigungsausschluß 106 ff., 110 f. - Besoldungsrecht 116 f. Unvereinbarerklärung 17 ff., 28 ff., 79 ff. s. auch Verfassungsnähe, relativ größere - abstrakte Normenkontrolle 96 f. - bei Verstoß gegen Freiheitsrechte 128 f. - belastende Normen 123 ff., 213, 247 ff. - Fallgruppen 80 ff., 212 ff. - Zuordnung zu den jeweiligen Rechtsfolgen 224 ff. - Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers 82ff., 88 f., 92/,100 f., 103 f., 108 f., 283 - bei Kassation belastender Normen 92/,123ff. - Normanwendungssperre 94, 96, 102 f., 111 ff., 127, 134 ff., 212 f., 217/ - Pro-futuro-Wirkung 29 ff., 31 f., 147 f., 218 f., 221 ff. - Rechtfertigung 63 ff., 67 ff. - Rechtsfolgen 112 ff., 127 ff., 213, 217ff. - Rechtsschutzziel s. unter Gleichheitsverstoß - Rückabwicklung im Steuerrecht 19 ff., 27 ff., 215 f. - Wirkungen 95 - Zusammenwirken mehrerer EinzeIregelungen 81,91, 150ff.

Verfassungsbeschwerde - Rechtsschutzbedürfnis 96, 230 f. - Selbstbetroffenheit 96, 230 f. Verfassungskonforme Auslegung 35 ff. Verfassungsnähe, relativ größere 40, 53 ff., 63, 80, 212 ff., 218, 226 f., 289 Verfassungswandel42 Verfassungswidrigkeit - Vertiefung 214 f. Verfassungswidrigwerden - von Normen 38 f., 45 f., 137 - von VerwaItungsakten 38 f. VerhäItnismäßigkeit 223 - und Gleichheitssatz 205 ff. Vermögensteuer 18 Fn. 8, 90 Fn. 69, 139 ff. Vemichtbarkeitslehre 64 ff. Verpackungssteuer 76, 185 ff. Verpflichtungssituation 84 f., 99 ff., 152 f. Vertrauensschutz 27,92 Fn. 77, 100 Fn. 109, 128 Fn. 211, 250 f. Vorbehalt des Möglichen 61 Fn. 145, 69 f., 207 f., 223 f Vorrang des Gesetzes 281 ff. Vorrang der Verfassung 281 ff. Wahlgesetz - Verfassungswidrigkeit 39 f., 46 Wehrpflicht 299 Fn. 80 Willkürverbot s. unter Gleichheitsverstoß Wohneigentumsförderung 84 Zinsamnestie 230, 294 Fn. 52 Zinsbesteuerung 42 f., 137 ff., 294 Fn.52 Zusammenfassungen 73 f., 208 ff., 244, 279 f. Zweitwohnungssteuer 196 ff.