Das Formelleselernbuch: Was uns Formeln zu sagen haben [3. Aufl. 2019] 978-3-658-27138-1, 978-3-658-27139-8

Schwierigkeiten mit dem Lesen von Formeln? Sie kennen Menschen, die aus einer Formel scheinbar ganz ohne Mühe so viel he

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Das Formelleselernbuch: Was uns Formeln zu sagen haben [3. Aufl. 2019]
 978-3-658-27138-1, 978-3-658-27139-8

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XII
Front Matter ....Pages 1-1
Formel und Wirklichkeit (Ronald Höfer)....Pages 3-24
Die Ästhetik der Formel – Formeln sind Bilder (Ronald Höfer)....Pages 25-52
Front Matter ....Pages 53-53
Die mathematischen Akteure: 1 + 1 = 2, daraus folgt alles Weitere (Ronald Höfer)....Pages 55-105
Hier kommt Bewegung in die Formel: Eine kleine Algebra (Ronald Höfer)....Pages 107-122
Back Matter ....Pages 123-164

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Das Formelleselernbuch

Ronald Höfer

Was uns Formeln zu sagen haben

Das Formelleselernbuch

Ronald Höfer

Das Formelleselernbuch Was uns Formeln zu sagen haben 3., überarbeitete Auflage

Ronald Höfer Vöcklabruck, Österreich

ISBN 978-3-658-27138-1 ISBN 978-3-658-27139-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-27139-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. In der 2. Auflage erschien das Buch unter dem Titel „Formeln rasch erfassen und sicher nutzen“ © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2013, 2015, 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Thomas Zipsner Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorwort und Einstimmung ......................................................................................... VII Formeln und Gefühle .......................................................................................... VIII Geheimnisvolle Zeichen, Zahlen und fremde Worte ......................................... IX Der Aufbau dieses Buches ................................................................................. XII

Teil A: Die Formel ...............................................................................................

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1

Formel und Wirklichkeit ................................................................................... 1.1 Die Buchstaben und die Akteure ................................................................. 1.2 Objekte, Eigenschaften, Definitionen ......................................................... 1.2.1 Eigenschaften .................................................................................. 1.2.2 Messbare Eigenschaften ................................................................. 1.3 Formeln sind Sprache .................................................................................. 1.3.1 Typisch „mathematische“ Formulierungen .................................... 1.4 Aller guten Dinge sind drei: Das Formeldreieck ........................................

3 6 7 9 11 13 15 20

2

Die Ästhetik der Formel – Formeln sind Bilder .............................................. 2.1 Eine kleine Bildersammlung ....................................................................... 2.2 Bilder erfassen ............................................................................................. 2.3 Beispiele ...................................................................................................... 2.4 Vom Bilderfassen zum Lesen ..................................................................... 2.5 Das Formelbild ............................................................................................ 2.6 Besondere Bildelemente: Klein und wichtig – Indizes ............................... 2.7 Besondere Bildelemente: Klammern oder: was ich ignorieren kann ..........

25 26 27 33 37 40 41 49

V

VI

Inhaltsverzeichnis

Teil B: Elementare Mathematik .................................................................... 53 3

Die mathematischen Akteure: 1 + 1 = 2, daraus folgt alles Weitere ............. 3.1 Die ersten mathematischen Objekte ............................................................ 3.2 Die Grammatik einer Formel ...................................................................... 3.2.1 Theorem von der begrenzten Komplexität von Formeln ................ 3.2.2 „=“ ist nicht immer gleich ............................................................... 3.3 Die fantastischen Vier: Summe, Produkt, Differenz und Quotient ............ 3.3.1 Summe ............................................................................................ 3.3.2 Produkt ............................................................................................ 3.3.3 Differenz und Quotient ................................................................... 3.4 Das Zusammenspiel der elementaren Operationen und Objekte ................ 3.4.1 Eine kleine Wurzelkunde ................................................................ 3.4.2 Das „=“ stellt Bedingungen ............................................................ 3.4.3 Fünf Freunde ................................................................................... 3.5 Die glorreichen Sieben ................................................................................ 3.5.1 Differentialgleichungen und Integrale ............................................ 3.5.2 Die Ableitung und die Grundoperationen ....................................... 3.5.3 Das Integral .....................................................................................

55 56 61 61 62 64 65 66 67 69 72 77 77 79 88 91 101

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Hier kommt Bewegung in die Formel: Eine kleine Algebra .......................... 4.1 Der algebraische Werkzeugkasten .............................................................. 4.2 Kommutativ-, Assoziativ- und Distributivgesetz ........................................ 4.3 Das Neutrale und das Inverse ...................................................................... 4.4 Erweitern, Kürzen, Einsetzen usw. ............................................................ 4.5 Umformungen .............................................................................................

107 108 109 111 112 116

Teil C: Beispiele .................................................................................................... 123 Zu den Beispielperspektiven im Einzelnen .......................................................... Physik ................................................................................................................... Das Gewicht der Erde .................................................................................. Wirtschaft und Geographie .................................................................................. Geographie .................................................................................................. Wirtschaft .................................................................................................... Ein bisschen Wirtschaftspolitik ................................................................... Biologie ................................................................................................................ Über Wachstum ........................................................................................... Umformen – das Offensichtliche sichtbar machen ..................................... Über Beute und Jäger .................................................................................. Statistik ................................................................................................................. Die Vorgeschichte: Über  und  ............................................................... Sigma, eine kleine Detailstudie ....................................................................

125 132 132 138 138 139 141 145 145 148 151 153 154 158

Literaturhinweise .......................................................................................................... 163

Vorwort und Einstimmung

Eine Zeitungsnotiz: Vor nicht allzu langer Zeit konnte man in der Zeitung von einer Studie über das Verhalten des Lesers von Fachtexten lesen. Diese Studie zeigte, dass die durchschnittliche Verweildauer auf einer Seite deutlich abnahm, wenn auf dieser Seite mehr als eine Formel zu sehen war. Dafür kann es hauptsächlich zwei Gründe geben: Der Leser hat Angst vor Formeln oder er hat einfach nicht gelernt, wie man Formeln liest, was sie einem alles erzählen können. Denn wüsste er mit Formeln umzugehen, so würde die Verweildauer auf Seiten mit Formeln deutlich zunehmen, weil Formeln eine der kompaktesten und inhaltsreichsten Darstellungsformen von Wissen sind, über die wir überhaupt verfügen. Schade also, wenn man sie nicht nutzt. Dieses Buch zeigt Ihnen, wie man Formeln angehen kann, um sich den in ihnen enthaltenen Schatz an Wissen zu erschließen. Mit diesem Wissen erschließt sich einem mit einem Schlage die Welt aller Formeln und damit wird fast jedem falschen Respekt oder unbegründeter Ehrfurcht die Grundlage entzogen. Das Wissen, wie man eine Formel lesen muss, ist nicht auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt: Sie lernen ja auch nicht das Lesen von naturwissenschaftlichen oder biologischen Texten, sondern Lesen überhaupt. Wenn Sie bisher mit Schwierigkeiten mit Formeln hatten, so hat das einen ganz trivialen Grund: Es wurde Ihnen nie erklärt, wie man eine Formel „angeht“, wie man sich den Inhalt einer Formel erschließt. Denn genau das ist es, was in der Schule selten gesagt wird: Formeln haben einen Inhalt. Und genau den gilt es, sehen zu lernen. Genau zu diesem Zweck ist dieses Buch geschrieben worden. Das Erstaunliche – und zugleich die erfreuliche Nachricht – ist, dass Sie alles, was Sie zum Verstehen von Formeln benötigen, „eigentlich“ schon wissen, und: Man kommt mit der Kenntnis der Grundrechenartenarten aus. Auch ohne „höhere“ Mathematik kann man schon weit kommen, sehr weit.

VII

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Vorwort und Einstimmung

Es ist nicht zuletzt diese Verbindung von Formeln mit „Mathematik“, die bei vielen schon mulmige Gefühle auftreten lässt. Wenn diese Gefühle da sind, sind sie da. Wir werfen daher zur Einstimmung kurz einen Blick auf Formeln und einige Gefühlslagen, die der Anblick von Formeln hervorrufen kann:

Formeln und Gefühle Frustration und Euphorie liegen in der Mathematik oft knapp nebeneinander. Für den durchschnittlich begabten Anfänger genauso wie für den mathematischen Überflieger. In diesem kleinen Kapitel zähle ich nur ein paar Aspekte auf, die die begleitende Gefühlslage betreffen. Da Probleme an sich, auch mathematische, gefühlsmäßig neutral sind, können sie gegensätzliche Wirkungen hervorrufen: Faszination, Begeisterung, Antrieb zur intensiven Beschäftigung genauso wie Schrecken, Abstumpfung, eine innere Abwehr-haltung. Unsere Gefühlslage einer an sich neutralen Angelegenheit gegenüber wird stark durch das Verhalten anderer geprägt. Wenn die Mutter Rechnen als Erziehungsmaßnahme einsetzt mit den Worten „Wenn du nicht sofort … dann rechnen wir etwas“ kann man sich gut vorstellen, welche Gefühlslage allein schon der Gedanke an Rechnen und Mathematik bewirkt. Dabei hatte dasselbe Kind an demselben Tag ein völlig anderes Erlebnis. Im Rahmen der selbstständigen Lösung einer Aufgabe unter der ausschließlich unterstützenden Anleitung einer anderen Person machte dieses Kind die überraschte Entdeckung „das macht ja Spaß“. Weiterer Kommentar ist wohl überflüssig. Die wichtigste Beobachtung ist generell die: Wenn Sie negative Gefühle mit all diesen Dingen verbinden, gehen Sie davon aus, dass die Ursache dafür eigentlich woanders liegt. Dies wäre der erste Schritt zu einer positiveren Grundstimmung. Mein erstes Erlebnis mit der Faszination von Formeln und dem Geheimnisvollen hatte ich im Alter von circa acht Jahren. Während eines längeren Krankenhausaufenthaltes besuchte ich den internen Schulunterricht, in dem in einem Raum mehrere Altersstufen parallel unterrichtet wurden. Einige ältere Schüler nahmen in Mathematik gerade erste Rechnungen mit Klammerausdrücken vor. Ich verstand überhaupt nicht, worum es ging, aber ich war fasziniert. Ein anderes Erlebnis hatte ich über zehn Jahre später. In einer Mathematikvorlesung für Erstsemester – es war Analysis I oder Lineare Algebra I. Ich kam kaum mit dem Schreiben mit, der Vortragende beschrieb eine Folie nach der anderen; mitdenken war schwierig. Zwar hatte ich eine ungefähre Ahnung, worum es ging, aber an ein Durchdenken und echtes Mitdenken war sicher nicht zu denken. Und da stellte doch – mitten in den Vortrag hinein – ein Student eine Frage, und zwar eine Sachfrage. Ich konnte es kaum glauben! Als ich diese kleine Geschichte einem promovierten Mathematiker erzählte, konnte dieser nur lachen. Er meinte, dass der Betreffende diese Vorlesung wahrscheinlich schon zum zweiten, oder vielleicht dritten Mal besuchte. Wie andere auch. Ich hätte also keinen Grund an mir zu zweifeln.

Vorwort und Einstimmung

IX

Das Gefühl „draußen“ zu stehen hatte ich auch, als ich einmal einige mathematische Aufgaben lösen sollte, die ich kaum verstand. Als „Hilfe“ war einer Aufgabe eine Zeichnung beigefügt. Sie erraten es schon, ich verstand nicht einmal, was diese Zeichnung sollte, geschweige denn, wie diese Zeichnung mir eine Hilfe bei dem Beispiel sein sollte, zu dessen Lösung man also offensichtlich Unterstützung gut gebrauchen konnte, auch aus Sicht des Aufgabenstellers. Vorhergegangene Niederlagen, Angst vor Überforderung, Erinnerung an unschöne Situationen. Das hat alles nichts mit Mathematik zu tun und nichts mit Formeln, ist aber bei manchen damit fest verbunden. Wer die Formel 1 + 1 = 2 lesen und verstehen kann, hat kein mathematisches Problem. Das meine ich ernst. Die Ablehnung ist rein psychologisch: Ich habe Gespräche mit mathematisch angeblich Unbegabten geführt. Solange wir in einer sprachlich nicht ersichtlich „mathematischen“ Weise sprachen oder keine Formel verwendeten, konnten wir über alles reden. Kam aber ein mathematisches Reizwort oder ein ungewohntes Zeichen ins Spiel, so änderte sich die Grundhaltung schlagartig. Wer fast phobisch vor Formeln und allem, was nur nach Mathematik oder Rechnen riecht, zurückschreckt, ist meist mathematisch genauso begabt wie jeder andere auch. 1+1=2 Wenn Sie diese Formel lesen können und verstehen, dann können Sie prinzipiell alle Formeln lesen und verstehen lernen. Sie müssen nur dieses Buch lesen.

Geheimnisvolle Zeichen, Zahlen und fremde Worte Zeichen, die wir nicht kennen, Zahlen- und Zeichengebirge, große Tabellen, die wir nicht überblicken und exotische Namen, all das kann uns Respekt, ja Furcht einflössen – völlig unnötig. Unser Verständnis für Formeln führt all dies auf einfache, leicht verständliche Begriffe zurück: Die geheimnisvollen Zeichen erhalten eine ganz triviale Bedeutung, wir lernen die Übersicht zu gewinnen und exotische Namen sind auch nichts anderes als Namen. Aber selbst wenn man all dies weiß, kann man sich dem Zauber und dem Gefühl des Besonderen hingeben. Nur so als Beispiel: Zahlen und Figuren wurden erst in der Neuzeit auf spezifische Größen und Formen, die keine weiteren Bedeutungen mystischer oder magischer Art mit sich trugen, reduziert. Es gab keine Zauberzeichen und Symbole mehr, die nur Eingeweihten zugänglich waren, keine unverständlichen Geheimnisse mehr. Noch bei Johannes Kepler (1571 bis 1630) finden sich beide Aspekte, teilweise untrennbar miteinander verbunden. Falls Sie diese Aspekte von Zeichen, Geheimnissen und okkulten Bedeutungen interessieren, verweise ich auf die sprachwissenschaftlichen Arbeiten von Umberto Eco. In unserer Kultur ist jedoch dieses diffuse Gefühl des unzugänglich Geheimnisvollen bei Symbolen, die man nicht kennt oder versteht, geblieben. Nehmen Sie dieses Gefühl,

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Vorwort und Einstimmung

diese Faszination in eine moderne mathematische Formel unmerklich mit, so überladen Sie die Formel mit einer Bedeutung, die sie nicht hat und verwehren sich selbst den Zutritt zu einem ganz einfachen Verständnis. Beobachten Sie an sich selbst, ob für Sie die Funktion f(x) und die Funktion () wirklich „gleich“ sind.

f(x) … wirklich kein Unterschied? … () Ich konnte Menschen beobachten, bei denen tatsächlich durch „geheimnisvolle“ Zeichen wie in einem pawlowschen Reflex die Blockade ausgelöst wurde. „geheimnisvolles“ Zeichen  „davon versteh’ ich nichts“  totale geistige Blockade

Die Formel „entzaubert“ diese, ein kleiner Rest „Magie“ kann durchaus bleiben. Jetzt aber als positive Faszination. Vor mir liegt ein altes, geheimnisvoll anmutendes Buch aus dem Jahr 1904. Es ist ein dickes Buch von fast 600 Seiten voller Zahlentabellen. Es enthält unter anderem „die Logarithmen der Sinus und Tangenten von Sekunde zu Sekunde“. Diese eine Tabelle, die im Grunde „nur“ die Werte für 0 bis 45 Grad enthalten muss, erstreckt sich von Seite 188 bis 534, also über 347 Seiten. In diesem einen erklärenden Satz ist bereits der gesamte Inhalt genannt. Der Satz nennt den Begriff, die Einheit, die Synthese all dieser zigtausend Zahlen. Allein auf einer Seite finden wir 480 Zahlenwerte, über die gesamte Tabelle sind es 45  60  60  2 = Dreihundertvierundzwanzigtausend Zahlen und damit sechshundertachtundvierzigtausend Werte. Und trotzdem ist das immer nur dasselbe: sin  = ….

und

tan  = …

Mehr steht nicht da. Versuchen Sie genau das zu „sehen“, wenn Sie eine Tabelle aufschlagen. Es ist wie im Telefonbuch. Sie wollen nur die Telefonnummer von Manfred M. Müller wissen. Alle anderen „Müllers“ interessieren Sie nicht. Und Angst vor Müllers haben Sie auch nicht. Klingt „das Verhältnis zweier Differenzen“ sehr aufregend oder „besonders“? Wie aber steht es mit einem Wort wie das „totale Differential“? Potenzreihe, logarithmische Funktion, totales Differential, unitäre Räume, Satz von Banach, Fundamentalsatz der Arithmetik und wie sie alle heißen mögen. Ungewohnte Worte oder Wortzusammenstellungen, fremdsprachige Ausdrücke umgibt zuerst immer die Aura des Geheimnisvollen. Völlig zu Recht, denn bevor uns jemand erklärt, was das alles bedeutet, ist uns deren Bedeutung tatsächlich ein Geheimnis. Entscheidend ist aber die begleitende Gefühlslage, und da ist die Situation ähnlich wie bei den geheimnisvollen Zeichen. Eine Formel ist namenlos ist. Wenn da ein „totales Differential“ steht, so steht da beispielsweise d f / d x + d f / d y + d f / d z.

Vorwort und Einstimmung

XI

Ausgesprochen: Die Summe der einzelnen Ableitungen der Funktion f, jeweils nach den drei Größen x, y, z. Sprachlich ganz unspektakulär. Gelegentlich wird dafür ein „geheimnisvolles Zeichen“  eingesetzt, mit dem geheimnisvollen Namen „Nabla-Operator“. Und? Wenn Sie sich auch hier an den Begriff halten, beeindruckt sie vielleicht die Sache. Wer sich aber schon vom Wort beeindrucken lässt, der stößt gar nicht zur Sache selbst vor. So beeindruckt ist er. Wenn Sie ein Name wie „totales Differential“ noch immer zu sehr beeindruckt, obwohl sie das alles wissen, dann benennen Sie die Form „df / dx + df / dy + df / dz“ einfach um in „Till Eulenspiegel“ oder „Minnie Maus“.

Es interessiert uns nur eine einzige Zahl!

XII

Vorwort und Einstimmung

Der Aufbau dieses Buches Das Buch ist in drei Teile gegliedert. In Teil A beschäftigen wir uns mit Formeln ganz elementar, ohne uns irgendwie um die Mathematik „dahinter“ zu kümmern. Dabei fragen wir zum einen: Warum gibt es überhaupt Formeln, welche Funktion haben sie (Kapitel 1 „Formel und Wirklichkeit“) und zum anderen: Wie erfassen wir Formeln? Denn offensichtlich „lesen“ wir Formeln nicht in der gleichen Weise wie „normalen“ Text (Kapitel 2 „Die Ästhetik der Formel“). Nachdem wir uns in Teil A einen grundlegenden Zugang zu Formeln erschlossen haben, beschreibt Teil B alle wichtigen mathematischen Mitspieler und deren für unser elementares Verständnis wichtigsten Eigenschaften (Kapitel 3 „Die mathematischen Akteure: 1 + 1 = 2, daraus folgt alles Weitere“). Wie wir aus Reaktionen von Lesern der ersten Auflagen erfahren konnten, erwies sich dieses Kapitel für so manchen Leser als überraschend und hilfreich („Hätte mir das früher jemand so erklärt …“). Wie die mathematischen Mitspieler innerhalb einer Formel zusammenwirken, fasst Kapitel 4 „Eine kleine Algebra“ zusammen. Wer in Teil A mit Formeln vertraut geworden ist und in Teil B die üblichen mathematischen Verdächtigen (vielleicht in neuer Weise) einzuschätzen gelernt hat, für den stellt Teil C einige wenige, dafür bewusst ausführlich gehaltene Beispiele zur Verfügung.

Teil A: Formeln

Formel und Wirklichkeit

Die Ästhetik der Formel

Teil B: Mathematik

Mathematiksche Akteure

Eine kleine Algebra

Teil C: Beispiele

Beispiele aus: Physik, Geographie, Wirtschaft, Biologie, Statistik

Teil A Die Formel

Worum geht es in diesem Teil A? In diesem Hauptabschnitt A geht es darum, ein grundlegendes Verständnis für Formeln als Formeln zu entwickeln. Es gilt, Formeln ganz allgemein als ein Bild der Wirklichkeit verstehen und lesen zu lernen. Dabei nehmen wir „Bild der Wirklichkeit“ durchaus wörtlich. Entsprechend besteht unsere Aufgabe zum einen darin, Formeln in eine Beziehung zur Wirklichkeit zu setzen und zum anderen darin, Formeln in ihrem bildhaften Charakter zu erkennen und „lesen“ zu lernen.

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1 Formel und Wirklichkeit

Teil A: Formeln

Formel und Wirklichkeit

Die Ästhetik der Formel

Teil B: Mathematik

Mathematiksche Akteure

Eine kleine Algebra

Teil C: Beispiele

Beispiele aus: Physik, Geographie, Wirtschaft, Biologie, Statistik

Worum es in diesem Kapitel geht:

Formeln sind meist nicht deshalb für uns interessant, weil sie Formeln sind, sondern weil sie uns etwas über die Wirklichkeit zu sagen haben. In diesem Kapitel geht es vor allem darum, diese Beziehung einer Formel zur Wirklichkeit sehen zu lernen: Formeln tauchen nicht aus dem Nichts auf und sind dann einfach da. Sondern wir beschäftigen uns mit einem bestimmten Phänomen, das wir zu verstehen versuchen und in diesem Zusammenhang erweist sich die Verwendung einer Formel auf einmal als äußerst hilfreich und aufschlussreich. Je besser wir den jeweiligen Kontext einer Formel verstehen, umso leichter erschließt sich uns die Aussage einer Formel, erschließt sich uns das, was sie uns zu sagen hat.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Höfer, Das Formelleselernbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27139-8_1

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Formel und Wirklichkeit

Formeln als Darstellung von Zusammenhängen in der Wirklichkeit gibt es noch gar nicht so lange, so etwa seit dem 17. Jahrhundert. Galilei, Vieta, Kepler, Descartes, Newton sind nur einige Namen, die hier wichtig sind. Das 18. und 19. Jahrhundert sahen die Ausbreitung von Formeln in fast alle Wissensbereiche und die Theorie der mathematischen Modellbildung kam im 20. Jahrhundert so richtig in Fahrt. Dabei finden sich Inhalte, die wir heute wie selbstverständlich als Formel formulieren würden, bereits in mittelalterlichen Texten, etwa des 13. und 14. Jahrhunderts. Von arabischen Texten aus dem 9. Jahrhundert und aus dem alten Babylon ganz zu schweigen. Auch komplizierte mathematische Zusammenhänge wurden damals fast ausschließlich in Worten dargestellt. Dieser Aspekt wird für uns noch wichtig werden. Wir kehren ins 21. Jahrhundert zurück, kümmern uns nicht weiter um diverse Hintergründe, sondern gewinnen rasch einen Überblick über den Vorgang, wie eine Formel, die „etwas zu sagen hat“ entsteht. Denn daraus können wir schon einiges für das Verständnis von Formeln ableiten. Formeln sind nicht nur stets Teil eines Textes, sondern sind gemeinsam mit diesem Teil einer Wissenschaft, einer Anwendungstechnik usw. Die folgende Grafik soll Sie kurz an diesen Gesamtzusammenhang erinnern, der sich auch in dem Detail „Formel“ stets als ganzer wiederspiegelt. 1. Die Wirklichkeit 2. Wahl eines Ausschnitts der Wirklichkeit 3. Wissenschaftliche Begriffsbildung 4. Untersuchen der grundlegenden Objekte

12. Vergleich der Analyseergebnisse mit der Wirklichkeit 11. Formeln lesen und analysieren 10. Formeln als Abbildung der Wirklichkeit

5. Unterscheidung wichtiger qualitativer und quantitativer Eigenschaften

9. Mathematische Modellbildung

6. Zählen, Messen, Berechnen der quantitativen Merkmale

8. Auswahl geeigneter mathematischer Objekte und Operatoren

7. Vermutung von systematischen Zusammenhängen

Die Punkte 2 bis 5 stellen den Sachzusammenhang dar. Bei Punkt 6 kommen unsere Objekte erstmals so richtig mit Zahlen in Berührung, deshalb werden wir auf den Punkt „Messen“ einen etwas genaueren Blick werfen. Im Punkt 7 verbergen sich bei mathematischer Sichtweise schon die Begriffe der Korrelation (aus der Statistik) und der mathematisch wesentlich verlässlicheren Verwandten der Funktion. Damit wir aber mit unseren Messergebnissen und unseren Zusammenhangsvermutungen wirklich etwas anfan-

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Formel und Wirklichkeit

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gen können, müssen wir vollends den Sprung in die Mathematik wagen und die für unseren Zweck passenden mathematischen Objekte und Operatoren auswählen. Da diese Arbeit für uns längst erledigt ist, müssen wir bei Punkt 8 nur wissen:   

Welche Objekte und Operatoren stehen eigentlich zur Verfügung? Was können sie? Wie sehen sie innerhalb einer Formel aus?

Dieses Wissen genügt uns hier vollkommen, und gleich zur Beruhigung vorweg: Wir kommen mit sieben einfachen mathematischen Objekten aus und als „Operatoren“ sind wir mit unseren Grundrechenarten aus der Grundschule bereits sehr gut ausgestattet. Wenn die mathematische Modellbildung erledigt ist, dann liegen zum ersten Mal Formeln vor. Richtige, echte Formeln. Sie sehen an dieser Kurzdarstellung bereits, wie viele Schritte, wie viel Gedankenarbeit, wie viel Forschung in einer Formel zusammengefasst sein kann. Machen Sie sich damit zugleich auch klar, dass Formeln als Ergebnis eines solchen Prozesses gut und schlecht, zweckmäßig und nicht zweckmäßig, richtig oder falsch sein können; mit allen „Grauabstufungen“ dazwischen. Formeln sind Abbildungen der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst. Erst bei Punkt 11, also kurz vor 12 steigen wir mit dem Lesen und Analysieren von Formeln ein. Wir wollen aber gleich die ganze Wahrheit und blicken von unserer Formel auf und schauen, was die Wirklichkeit so bereithält. Wir erwarten am besten immer, dass an der Formel zwar einiges dran ist, dass die Wirklichkeit wahrscheinlich doch noch einiges mehr oder anders ist. Dann bringt uns eine gute Formelanalyse gerade auch durch Erkenntnis der Grenzen einer Formel dem eigentlichen Zweck, der Erkenntnis der Wirklichkeit und dem tieferen Verständnis unseres Wissensgebietes näher. Drei Dinge sind zum erfolgreichen Verstehen einer Formel erforderlich: Erstens müssen wir die Formel lesen können. Genauer gesagt müssen wir sie entziffern können, so wie wir auch die Worte einer uns unbekannten Sprache „lesen“ können, wenn sie in vertrauten lateinischen Buchstaben geschrieben sind. Zweitens müssen wir die mathematischen Strukturen und Zusammenhänge innerhalb der Formel wenigstens erkennen können und deren ungefähre Bedeutung verstehen. Das hat nichts mit „Rechnen“ zu tun. Drittens ist eine Kenntnis des Themas erforderlich, der jeweiligen Sache, der beteiligten Gegenstände und Objekte, quasi der „Akteure“ und ihres Handelns. Denn, kurz gesagt: Wer zu sehr auf die Formel fixiert ist übersieht, dass jede Formel Teil eines Textes ist und damit im Zusammenhang mit der Behandlung eines bestimmten Themas steht. Vor lauter Formelfixierung verliert man den Textzusammenhang aus dem Blick. Kurz: Zeichenkenntnis, mathematisches Wissen und Sachkenntnis kommen in jeder Formel zusammen. Verständnisprobleme beim Lesen von Formeln haben daher vier mögliche Ursachen:   

schlechtes, um nicht zu sagen schlampiges Lesen unzureichende Sachkenntnis unzureichende mathematische Kenntnisse.

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Formel und Wirklichkeit

Die vierte Ursache ist die übliche Kombination aus zwei oder mehr Problemen. Da eventuell vorhandene Verständnisprobleme spätestens beim Lesen, Erklären und Anwenden einer Formel nicht mehr verdeckt werden können, projizieren viele Ihr Unverständnis allein auf die „arme“ Formel, die so gar nichts dafür kann und sich nicht wehren kann ! Das zweite „Opfer“ ist dann die Mathematik. Falls überhaupt, kommt mangelndes Sachverständnis erst zum Schluss als Schuldiger für mein Unverständnis in Frage. Auf den Punkt gebracht heißt das nichts anderes als: Sie können nicht nur diese Formel nicht lesen, Sie können überhaupt nicht Formeln lesen. Sie kennen ein paar bestimmte Formeln, so wie Sie ein paar Redewendungen kennen zum Bestellen eines Kaffees oder zur Frage nach dem Wetter im Urlaubsland. Die Landesprache beherrschen wir deshalb noch nicht, nur weil wir uns in ein paar konkreten Situationen „durchschlagen“ können. Ich möchte nicht, dass Sie sich bei Formeln nur „durchschlagen“, sondern dass Sie souverän mit jeder Formel umzugehen wissen; auch und vor allem dann, wenn Sie nicht über vollständige Information verfügen.

1.1

Die Buchstaben und die Akteure

Die allererste und wichtigste Bekanntschaft ist die mit den Akteuren einer Formel. Diese kann man ganz ohne „Formellatein“ und Mathematik machen. Die Struktur der Formel ist uns zuerst einmal völlig egal, wir wollen uns nur einmal einen Überblick verschaffen, worum es überhaupt geht. Worum es wirklich geht. Jetzt werden Inhalte, Begriffe und Konzepte wichtig. Wer sind die Akteure, welche Objekte, Gegenstände spielen eine Rolle. Wir fragen nach den wichtigsten Eigenschaften dieser Akteure. Denn bereits ohne Berücksichtigung der Struktur der Formel werden auch durch die ganz spezielle Zusammenstellung der Akteure bestimmte Beziehungen nahegelegt, andere ausgeschlossen. Und zwar aus rein sachlichen Gründen. Je besser Sie also die Objekte, ihre Akteure verstehen, umso erhellender wird dann für Sie die anschließende strukturelle Formelanalyse. Noch völlig ohne mathematische Kenntnisse und ohne Wissen um formelmäßige Zusammenhänge können wir aus jeder Formel herauslesen, um wen es da geht. Wir wissen zwar nicht, was geschieht und nicht warum, aber wir können alle Beteiligten bereits kennenlernen. 

Man muss zuerst einmal wissen, mit wem man es zu tun hat.

Zwei Beispiele:

n  1

N ee 2 4 2 0v 2 me

Δ𝑦 −𝑚𝑦 + 𝑏𝑥𝑦 = 𝑟𝑥 − 𝑎𝑥𝑦 Δ𝑥

1.2

Objekte, Eigenschaften, Definitionen

7

Diese Formeln sagen uns zuerst einmal überhaupt nichts. Erst, wenn wir die Bedeutung der Buchstaben kennen, wissen wir, worum es geht. Ohne Kenntnis der Buchstaben sehen wir nur eine Wurzel und einen Bruch und dergleichen. Das aber ist für das Verständnis einer Formel zuerst völlig ohne Bedeutung. Denn der Inhalt und das Thema erfahren wir nur über die Akteure. n Ne e 

0 v me x y r m a b

Brechungsindex (für Lichtstrahlen in elektrisch leitenden Schichten) Elektronendichte in m–3 Elementarladung 1,602  10–19 Asec ( Coulomb) tja, ist tatsächlich die Zahl Pi, also 3,141592654… absolute Dielektrizitätskonstante 8,85  10 – 12 Asec/Vm Frequenz Elektronenmasse Anzahl der vorhandenen Beutetiere Anzahl der vorhandenen Raubtiere/Jäger die Pro-Kopf-Wachstumsrate der Beute bei Abwesenheit von Feinden sinngemäß das Gleiche für die Jäger, wenn es keine Beute gibt gibt den Jagderfolg eines Jägers relativ zur Beutepopulation an gibt an, wie sehr sich die Vermehrung der Anzahl von Beutetieren auf die Zahl der Jäger auswirkt

Allein aufgrund der genauen Kenntnis der Akteure gewinnen wir eine Vorstellung über das Geschehen, das in der Formel beschrieben wird. Das ist es, was Sie zuallererst in einer Formel suchen, denn dann wird die Formel auch ganz organischer Teil eines Textes und man überspringt die Formel dann nicht, sondern möchte genauer hinschauen und alles erfahren. Im zweiten Teil „Anwendungsbeispiele“ finden Sie für verschiedene Bereiche das alles noch genauer ausgeführt.

1.2

Objekte, Eigenschaften, Definitionen

Damit eine Formel eine Bedeutung bekommt, benötigen wir drei verschiedene Definitionen: 1. Jedem Zeichen muss ein bestimmter Inhalt, eine bestimmte Bedeutung zugeordnet werden. Definition heißt hier: Ich lege fest, dass der Buchstabe „F“ Kraft im physikalischen Sinne bedeuten soll. Durch diese Definition kann ich einen Ausdruck lesen. 2. Daraus ergibt sich gleich die Frage: Was bedeutet Kraft? Was bedeutet Kraft im physikalischen Sinne? Hier benötige ich eine fachliche Definition des Gegenstands, um den es geht. Diese Art von Definition beschreibt den Gegenstand so, dass ich zum einen eine wenigstens ungefähre Ahnung habe, um was es geht. Und – das ist sehr

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Formel und Wirklichkeit

wichtig – auch weiß, worum es sicher nicht geht. Ein alter Lateiner sagte mal den tollen Satz: Omnis determinatio est negatio. Soll heißen: Jede Bestimmung einer Sache heißt eigentlich sagen, was sie nicht ist. Der Hauptzweck dieser Art von Definition ist zweierlei. Erstens, dass wir über dasselbe reden, wenn wir von „Kraft im physikalischen Sinne“ reden und zweitens, dass wir den Gegenstand, die Sache, um die es geht, in der Wirklichkeit wiedererkennen. Wenn Sie eine Definition dieser Art verstanden haben, dann erkennen Sie den so definierten Gegenstand in vielerlei Formen und vielerlei Gestalten wieder, weil Sie einen Begriff von der Sache haben. Ein Begriff ist unabhängig von der Wahrnehmung; er hilft Ihnen nämlich, Ihre Wahrnehmung zu ordnen und zu strukturieren. Ob Sie eine solche Definition verstanden, tatsächlich begriffen haben erkennen Sie selbst leicht daran, ob Sie sich dazu auch etwas vorstellen können. Und zwar ganz handfest, bildhaft und sinnlich die Sache vor Ihrem geistigen Auge sehen können. Die gute Nachricht: Man kann viele Definitionen lernen und mit diesen Begriffen sogar sinnvoll umgehen, auch wenn man sie nicht voll verstanden hat. Das echte Verständnis kann dann später nachfolgen, oft erst viel später. 3. Die Wissenschaft, die die wahre Meisterin in Sachen Anwendung von Definitionen ist, ist sicher die Mathematik. Denn in der Mathematik beschreibt die Definition ein Objekt nicht nur, sodass Sie es dann wiedererkennen. In der Mathematik bringt die Definition das mathematische Objekt erst hervor. Und zwar vollständig. Die Definition im Sinne von 2. muss überhaupt nicht besonders „genau“ sein, denn es wird weniger mit der Definition selbst gearbeitet. Diese dient überwiegend nur der Identifizierung des richtigen Gegenstandes. In der Mathematik hingegen „ist“ die Definition das Objekt; wenn ich es ein wenig überpointiert sagen darf. Deshalb und (fast) nur deshalb sind Definitionen in der Mathematik so extrem wichtig. Das funktioniert auch nur deshalb, weil die Mathematik es mit sehr einfachen Gegenständen zu tun hat, im Vergleich zu den Gegenständen anderer Wissenschaften. Und aufgrund des Umstands, dass diese neuen Gegenstände in einfacher Weise aus den bereits bekannten hervorgehen. Wir verwenden Definitionen hier also zu dreierlei Zwecken: Um Zeichen überhaupt lesen zu können, um von bestimmten Dingen der Wirklichkeit zu sprechen und zur Schaffung von mathematischen Objekten. Zeichen-, Sach- und mathematische Definition Wenn Sie ein Zeichen schon kennen oder eine Sache oder ein mathematisches Objekt, d. h.: Wenn Sie Zeichen, Sache oder mathematisches Objekt wiedererkennen, dann haben Sie die Definition schon gelernt. Verwechseln Sie bitte nicht, eine Definition kennen mit der Fähigkeit, einen Satz wie: „Eine Kraft ist …“ hersagen zu können. Sie kennen sehr viel, ohne es sprachlich oder wissenschaftlich derart benennen zu können. Im Rahmen Ihres Studiums der Physik, der Medizin, der Volkswirtschaft, der Biologie, der Chemie, des Maschinenbaus etc. werden

1.2

Objekte, Eigenschaften, Definitionen

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Sie lernen, die typischen physikalischen, medizinischen, wirtschaftlichen, chemischen, technischen Sachverhalte ausdrücklich zu definieren. Sie benutzen aber sehr viel mehr Begriffe, die Sie alle kennen. Sonst können Sie Ihre Wissenschaft gar nicht betreiben. Reden wir eigentlich noch von Formeln? Vom Formellesen? Ja, und wie! Denn diese drei Anwendungen von „Definition“ beschreiben zugleich die notwendigen Vorrausetzungen, um Formeln nicht nur anschauen, sondern lesen zu können. Dabei gilt – wie schon erwähnt – das Minimumprinzip. Das bedeutet, der Bereich, wo Sie am schlechtesten sind, begrenzt Ihr Verständnis der Formel. Trivial: Wenn Sie ein Zeichen nicht kennen, wissen Sie nicht, worum es geht. Wenn Sie zwar wissen, dass Y das Volkseinkommen bezeichnet, aber keine wissenschaftlich brauchbare Vorstellung von „Volkseinkommen“, kommen Sie auch nicht weit. Selbst wenn Sie das alles aber gut beherrschen, aber haben mit einer Differentialgleichung nichts anfangen können, so verstehen Sie nicht einmal den in dieser Formel angedeuteten Zusammenhang. Umgekehrt kann der souveräne Mathematiker den Ausdruck lesen, aber nur mathematisch. Er kann nur von den „Größen“ Y, t, Ct, Ct–1 usw. reden; nicht von Einkommen, Konsum, diversen Zeitperioden. Alle drei gehören zusammen. Sonst wird’s nichts mit souveränem Formellesen. Sie werden allerdings verblüfft sein, wie viel Sie schon längst wissen; nur hat man Ihnen bisher nicht gezeigt, wie Sie all dieses schon vorhandene Wissen zusammenbringen können, um mit Formeln souverän umzugehen. Das „Ergebnis“ von Definitionen sind im weitesten Sinne Objekte, die wir dank der Definitionen erkennen und über die wir ebenso dank der Definition gemeinsam reden, diskutieren, streiten können. Definitionen sind der leichte Anfang für das eigentlich Interessante:

1.2.1

Eigenschaften

Jedes Objekt hat Eigenschaften, und zwar potentiell unendlich viele. Im Rahmen einer Wissenschaft sind zwar nur endlich viele Eigenschaften eines Objekts interessant, aber auch das sind meist hunderte und tausende. Ein Objekt „definieren“ ist der Ausgangspunkt für Erkunden, Entdecken, Erforschen und Analysieren der Eigenschaften dieses Objekts. Dieses Buch etwa untersucht einige Eigenschaften von Formeln, genauer: Eigenschaften des verständigen Lesens von Formeln. Dieser Unterschied zwischen Objekt (gemäß Definition) und den Eigenschaften dieses Objekts ist extrem wichtig. 

Das Objekt ist der Bezugspunkt für alle zugehörigen Eigenschaften.

Wenn Sie das Objekt aus den Augen verlieren, verlieren Sie den Zusammenhang. Denn Eigenschaften für sich haben keinen Zusammenhang.

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1

Formel und Wirklichkeit

Zelldruck, Verdunstung an der Blattoberfläche, Anordnung von Tracheen, Dampfdruck des Wassers bei 70 % Luftfeuchtigkeit sind für sich völlig zusammenhanglos. Wenn Sie das aber alles immer und sehr bewusst auf den Wasserhaushalt einer Pflanze beziehen, so wissen Sie, wovon die Rede ist und wozu Sie das alles wissen. Eine einfache Definition von Pflanze, mit der man arbeiten kann, ist schnell gefunden. Weil wir alle schon einen brauchbaren Begriff von Pflanze haben. Brauchbar, um darüber zu reden; sicher noch nicht ausreichend für ein tieferes botanisches Verständnis. Aber es genügt immer, dass man mit einer Definition – ganz wörtlich – „etwas anfangen“ kann. Wenn es nach dem Kennenlernen der Definition für mich nicht weitergeht, kann ich eben nichts damit anfangen; ich habe die Definition also noch nicht wirklich verstanden. Zwei Beispiele, was man sich beim Thema „Wachstum“ je nach Zusammenhang mindestens vergegenwärtigen sollte: Parameter: Länge, Gewicht Veränderung der Körpergröße gemessen in Metern und kg

Wachstum mit der Zeit

gemessen an periodischen Naturvorgängen

räumliche Verteilung Anzahl der Individuen Veränderung der Anzahl der Individuen einer Population

Zählmethoden/ Stichproben etc. Geburtsraten

Sterberaten Wachstum gemessen an periodischen Naturvorgängen mit der Zeit gemessen an Anzahl Generationen

Bei beiden Darstellungen sind noch überhaupt keine Wechselwirkungen mit der Umwelt oder innerhalb des jeweils dargestellten Systems berücksichtigt. Dass eine weitere Vertiefung des Begriffs von „Wachstum“ erforderlich ist, versteht sich fast von selbst. Wir bleiben am Anfang aber bescheiden und sehen klar: Ich muss überhaupt erst einen mehr

1.2

Objekte, Eigenschaften, Definitionen

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als nur ungefähren Begriff von „Wachstum“ haben, bevor ich mit einer Wachstumsformel zu hantieren beginne. Das muss ich vor jedem Blick auf eine Formel und vor jeder mathematischen Überlegung präsent haben.

1.2.2

Messbare Eigenschaften

Welche Aspekte der Beteiligten sind nun überhaupt der Mathematik zugänglich und können somit überhaupt sinnvoll in einen formelmäßig darstellbaren Zusammenhang gebracht werden? Die Antwort ist ganz einfach: Alles, was ich zählen oder messen kann. Nachdem man sich mit einem Akteur, einem Begriff allgemein vertraut gemacht hat, betrachten wir nun seine Eigenschaften: Wir blicken auf Objekte der Astrophysik = Sterne, der Volkswirtschaftslehre = Volkswirtschaften und der Botanik = Pflanzen. Sterne, Volkswirtschaften und Pflanzen haben viele Eigenschaften. Einige davon sind zähl- oder messbar, viele andere sind es nicht. Drei Beispiele: Sterne: Farbe Masse Volumen

keine messbare Eigenschaft messbar → Einheit: Kilogramm (kg) messbar → Einheit: Kubikmeter (m2)

Volkswirtschaft: Das Handeln wirtschaftender Menschen in einem Gebiet Die Exportbeziehung zwischen Land A und B Der Export von Gütern Der Wert aller exportierten Güter Pflanze: Standort Wuchsform Höhe Trockensubstanz Größe einer Population

keine messbare Eigenschaft keine messbare Eigenschaft zählbar Einheit: Stückzahl. Selten sinnvoll messbar Einheit: Geldeinheiten

keine messbare Eigenschaft nicht messbar messbar Einheit: Meter (m), Zentimeter (cm) messbar Einheit: Kilogramm (kg), Gramm (gr) messbar Einheit: Stück

Sie sehen an dieser kleinen Auflistung bereits, dass einige Eigenschaften der Objekte sehr gut, manche gar nicht und manche mit Schwierigkeit zählbar oder messbar sind. Und ebenso, dass nicht alles, was messbar ist, auch für das jeweilige Objekt interessant ist oder sinnvolles Wissen ergibt. Wenn wir also mit unseren Objekten in die Mathematik einsteigen, so lassen wir einiges zurück: Die Sterne haben keine Farben, die Volkswirtschaften sind keine Länder mehr, es gibt keine konkreten Güter und Menschen mehr, die Pflanzen haben keine Orte mehr und keine Formen. Das alles bleibt draußen. Das alles finden Sie in den Formeln nicht wieder. Wenn Sie die Formeln mathematisch betrachten. Wir müssen aber all das,

12

1

Formel und Wirklichkeit

unsere wirklichen Sterne und wirklichen Volkswirtschaften und wirklichen Pflanzen gegenwärtig haben. Dann verstehen wir, was wir durch die Formel für unser Fachgebiet gewinnen können, wenn und insofern wir unsere Akteure zu mathematischen Akteuren machen. Und wir wissen damit auch, was das besondere unserer Wissenschaften ist, was genau nicht allgemein mathematisch, was nicht durch zählen und messen allein begriffen werden kann. Unser Objekt der Wirklichkeit hat viele Eigenschaften. Einige davon sind zähl- oder messbar. Diese allein können wir zu mathematischen Akteuren werden lassen. Allerdings tauchen in vielen Formeln keine konkreten Werte und Zahlen auf, sondern nur „Größen“. Das Wort Größe bezeichnet eine messbare Eigenschaft, aber ohne Angabe, wie diese „Größe“ gemessen wird. In der einfachen Formel s = v  t, kurz: Der Weg ergibt sich als Produkt von Geschwindigkeit und Zeit werden nur Größen genannt: „Weg“, „Geschwindigkeit“, „Zeit“. Wie aber messen wir? Wir messen durch den Vergleich einer Größe mit einem Maß. Messen erfordert also ein Maß. Und eine Methode, wie wir dieses Maß in Beziehung zu dem zu messenden Objekt bringen können. Und eine Einheit, also jene „Größe“, zu der wir dann ein Vielfaches angeben können. Die Größe „Weg“ wird mithilfe des Längenmaßes „Meter“ gemessen. Bis vor nicht allzulanger Zeit konnte man jenen Körper noch angreifen, der die Länge „ein Meter“ darstellte. Der Vergleich der Länge dieses „Urmeters“ mit unserem „Weg“ heißt „Messen“ und ergibt als Ergebnis ein Vielfaches dieses Urmeters. Also etwa das 12.000-fache. Die Angabe ist vollständig wenn ich sage, wovon dieser Weg das 12.000-fache ist: Nämlich von diesem „Meter“. Das Maß für die Zeit kann sein soundsoviel Sekunden, Minuten, Stunden, das Maß für die Geschwindigkeit Meter pro Sekunde, Kilometer pro Stunde; auch den Weg können wir statt in Metern in Meilen oder Kilometern messen. Und da stoßen wir auf die interessante und für ein vertieftes Verständnis sehr wichtige Tatsache: 

Das Maß selbst kann man nicht messen.

Wie schwer ist 1 Kilogramm, wie lang ist 1 Meter, wie lange dauert 1 Sekunde? Jedes Maß endet in einem konkreten Gegenstand, einem konkreten Objekt, einer konkreten Tatsache in der Wirklichkeit. Messen heißt, die jeweilige Größe dazu in eine zahlenmäßig ausdrückbare Beziehung zu setzen. Das alles ist nur wichtig, wenn Sie eine Formel auch in ihrer Entstehung und Anwendung vollständig begreifen wollen; einige Hinweise dazu finden Sie bei den Anwendungsbeispielen (Ermittlung von g, Lungenvolumen, VGR) Die Elemente „Größe“, „Maß“, „Messmethode“, „Messwert“ und „Einheit“ stehen in vielfältigen Beziehungen zueinander. Eine Formel enthält entweder „Größen“ oder an deren Stelle das Produkt aus „Messwert  Einheit“. 

Durch das Zählen und Messen werden bestimmte Aspekte der Wirklichkeit auf Zahlen abgebildet.

1.3

Formeln sind Sprache

13

Aus diesen so ermittelten elementaren Größen können viele weitere abgeleitet werden. Geschwindigkeit etwa ist schon so eine abgeleitete Größe aus Weg und Zeit. Wenn man davon spricht, dass man eine Geschwindigkeit „misst“, so spricht man genau genommen von der simultanen Messung von Weg und Zeit. Für das Verständnis der Geschwindigkeit als „Größe“ ist das ohne Bedeutung. Für die Frage der konkreten Messbarkeit aber nicht. Der Formelzusammenhang allein gibt an, ob das für uns wichtig ist oder nicht. Was aber in jedem Falle hilfreich ist: Veranschaulichen Sie sich jede Formel, die Sie näher interessiert, durch konkrete Werte. Dadurch wird der Inhalt besser vorstellbar und Sie gewinnen zugleich größere Vertrautheit mit dem in der Formel dargestellten Phänomen. Sie gewinnen ein Gefühl für die Größen und Dimensionen und verbessern damit auch Ihre Urteilsfähigkeit. Messen ist jener Vorgang, der unsere Größen in eine ganz konkrete Beziehung zu unserer Wahrnehmung und zur Wirklichkeit setzt, und deshalb ist eine ungefähre Vorstellung, wie die „Größen“ in der Formel mit konkreten Werten und Einheiten versehen werden können, so wertvoll.

1.3

Formeln sind Sprache

Wir sprechen immer schon in Formeln. Wann immer wir Zusammenhänge zwischen verschiedenen Dingen herstellen, insbesondere quantitative Beziehungen, so sprechen wir Sachverhalte aus, die sich genauso gut auch als Formeln darstellen lassen. Jeder versteht einen Satz wie „Es wird kälter“. Oder „Meistens sind so vier fünf Gäste im Wirtshaus ,Zu den drei Linden‘“. Beides lässt sich als Formel schreiben. Es sind sprachliche Ausdrücke, die über eine bestimmte Sache etwas Quantitatives aussagen: Im ersten Fall, wie sich die Temperatur der Luft im Lauf der Zeit ändert, im zweiten Fall wird von der Schwankung der Gästezahl in einem Wirtshaus geredet. Jetzt schreiben wir die Sache so: 1: dT / dt < 0 2: mod(Gästezahl „Zu den drei Linden“) = 4,5. Schwierigkeiten? Oder können Sie sich einfach nur nicht mehr an die Zeichen und ihre Bedeutung erinnern? Das kleine „d“ steht für Differenz. Das große T für Temperatur und das kleine t für die Zeit (in lateinischen Zeiten „tempus“, aber zum Glück auf auch Englisch „time“). Den Bruch-„/“ kennen Sie sicher noch. Also steht da: Das Verhältnis der Differenz der Temperatur zur Differenz der Zeit ist kleiner als Null. Häh? Wenn Sie das so lesen, versteh’ ich es auch kaum. Aber dT / dt heißt nichts anderes als die Temperaturänderung. Da man sich fast immer auf die Zeit bezieht, spricht man die Zeit oft gar nicht mit aus. Wenn man sich nicht auf die Zeit bezieht, muss man es ausdrücklich erwähnen. In der

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1

Formel und Wirklichkeit

Formel wird / dt aber immer geschrieben. Diese Änderung einer Größe nach der Zeit ist so häufig, dass man als Zeichen dafür oft gar nurmehr einen Punkt „.“ über der jeweiligen Größe macht, also in unserem Beispiel dT. Wir sprachen also von der Änderung der … Temperatur im Laufe der Zeit. Ist diese Änderung positiv, wird es klarerweise wärmer, ist sie negativ, so wird es kälter. Und wie schreiben wir nun „kälter“? „Die Änderung ist negativ“ drückt man in Formeln gerne als „kleiner als Null“ aus; denn da sind nun mal die Werte „negativ“. Schon steht da „, 0

Gesprochen: Bei Ebbe ist die Änderung des Wasserstandes negativ, bei Flut positiv. Aber das ist wie im guten alten Lateinunterricht. Eine richtige Übersetzung ist noch keine schöne: Es geht noch besser: Bei Ebbe wird der Wasserstand niedriger, bei Flut erhöht sich der Wasserstand.  Bitte noch schöner: Bei Ebbe fällt das Wasser, bei Flut steigt es. Wie wir es ja „sonst“ auch sagen.  Dass wir hier schon in der Sprache die Höhe des Wasserstands als Funktion der Zeit ausgedrückt haben und die Ableitung nach der Zeit sogar eigene Namen trägt: Nämlich Ebbe und Flut, dass sogar die Extremwerte, also dh / dt = 0, eigene Namen erhalten haben: Nämlich Hochwasser und Niedrigwasser, zeigt die Nähe zum Phänomen in der Sprache. Diese Nähe zum Phänomen sollten wir auch beim Anblick der Formel spüren, und uns ist klar:  

Niedrigwasser: dh / dt = 0 und d 2h / dt > 0 und Hochwasser: dh / dt = 0 und d 2h / dt < 0

Die Natur und die Erde sind voll von solchen Phänomenen, die in der Sprache fest verankert sind und ohne Mühe auch in dieser Form dargestellt werden können. Je öfter man sich solche Übergänge in der Darstellung übt, umso selbstverständlicher wird auch diese Denkweise. Dass man damit einen Ausgangspunkt für eine völlig neue Betrachtung des vertrauten Phänomens gewinnt, genau darum geht es. Das Wetter, die Entwicklung der Vegetation in den Jahreszeiten, der Sonnenstand im Tages- und Jahresverlauf, Bevölkerungsbewe-

Wirtschaft und Geographie

139

gungen, und und und. Die Liste ist endlos. Wenn wir in dieser Art auf die Sprache achten, verbessern wir zugleich unser Verständnis für mathematische Zusammenhänge und für Formeln.

Wirtschaft Wie ich mein Geld verwende? Was ich nicht spare, gebe ich für Alltägliches aus. Okay, ein paar größere Anschaffungen habe ich auch jedes Jahr. Die einfache Übersetzung ist jedem Wirtschaftskundigen vertraut: Das private Einkommen verteilt sich auf Sparen, Konsum und Investitionsausgaben. Einkommen = Sparen + Konsum + Investitionen. Beliebt sind die englischen Abkürzungen Einkommen = Y für yield, Sparen = S für savings und I für – eh klar. Also: Y = S + C + I. Falls ein „Wirtschaftskundiger“ jetzt protestieren will, weil „I“, die Investitionen keine private Sache sind, sondern den Unternehmern zukämen, so ist das zugleich richtig und nicht richtig. Wenn wir zusammensitzen und über einige wichtige makroökonomische Zusammenhänge im Rahmen der klassischen Theorien sprechen, ist dieser Protest berechtigt. Wer aber behauptet, diese Formel wäre eine falsche Übersetzung der obigen Aussage, ignoriert den Kontext. Für mein privates Verhalten ist die Beschreibung in dieser Form(el) völlig richtig. Die „klassische“ Formel aber ist Y = C + I + G + Ex – Im, die Angabe, wie sich das Einkommen einer offenen Volkswirtschaft zusammensetzt. Y C I G Ex Im

Volkseinkommen (engl. yield). Konsum, gesamter Konsum aller Haushalte einer Volkswirtschaft (engl. consumption) Investitionen, gesamte Investition aller Unternehmen in einer Volkswirtschaft die wirtschaftliche Aktivität der Regierung, „Staatsanteil“ (engl. gouvernmental) Exporte Importe

Diese Worte sind alle so wohlvertraut. Gerade deshalb besteht die Gefahr zu glauben, man habe eine wissenschaftliche, also eine sachlich angemessene Vorstellung davon. Hier gilt es zum einen jeden Begriff wirklich zu durchdenken und mit dem zu verbinden, was man jeden Tag sieht, in der Zeitung liest und selbst tut. Zum anderen gilt es, das Zusammenspiel dieser verschiedenen Bereiche des Wirtschaftens zu verstehen. Wenn dies eine Definition von Y ist, so muss man in diesem neuen Wort „Volkseinkommen“ all die anderen Begriffe mitdenken. Also nicht etwa sinngemäß einen riesengroßen Geldhaufen vor sich sehen, sondern diese in sich strukturierte Entstehung des Begriffs Volkseinkommen erkennen. Ob diese Definition „richtig“ oder „brauchbar“ ist, hängt zum einen vom Zweck ab, zum anderen davon, ob die genannten fünf Begriffe auch

140

Teil C

Beispiele

Phänomene der wirtschaftlichen Wirklichkeit richtig erfassen. Wenn wir z. B. an einem Terminal eines großen Frachtenbahnhofs stehen, so können wir die Tätigkeiten, die Sie dort sehen unmittelbar mit dem Begriff des Exports oder Imports verbinden. Außerdem haben wir selbstverständlich einen guten und anschaulichen Begriff, von welchem „Volk“, also von welchem Gebiet, von welcher Bevölkerung da genau die Rede ist. Die Menschen, die wir täglich sehen, die um uns herum sind, wir selbst. Finden wir das alles wirklich wieder in diesen Begriffen? Oder sind es im Moment doch noch mehr „Worte“ für uns oder bloße Formelzeichen?

Thema: Definition des Gesamteinkommens einer Volkswirtschaft unter Berücksichtigung privater, staatlicher und internationaler Wirtschaftsaktivitäten

Mathematik: Addition, Subtraktion

Formel: Y = C + I + G + Ex – Im

Exporte

Importe

… wenn wir das sehen, denken wir natürlich sofort an … + Ex – Im.

Denn das ist in der Formel abgebildet. Nicht Buchstaben und Zahlen. Diese sind nur die erforderlichen Werkzeuge für diese Abbildung.

Wirtschaft und Geographie

141

Ein bisschen Wirtschaftspolitik Y = C + I + G + Ex – Im Diese sehr einfache Formel enthält aber noch mehr, viel mehr. Einiges davon schauen wir uns etwas näher an: Die Hierarchie ist sehr flach, es regiert die Summe, also sind alle Größen unabhängig voneinander. Ihre jeweilige Wirkung aufs Ganze ist relativ beschränkt. Das heißt, ihre Wirkung ist so groß wie ihr relativer Anteil, z. B. die Wirkung von I entspricht I / Y. Jede dieser einzelnen Beziehungen zum Ganzen hat einen eigenen Namen. I / Y heißt „Investitionsquote“ und ist ein recht wichtiger Wert. Entsprechend gibt es eine Konsumquote, Exportquote, Importquote, nur der Staat tanzt sprachlich aus der Reihe und nennt sich „Staatsanteil“. Jedes dieser Worte bezieht sich direkt auf den Inhalt dieser Formel. Diese Formel erwecken wir aber erst so richtig zum Leben mit konkreten Werten. Dabei setzen wir aber nicht probeweise Werte ein, sondern bleiben ganz nah an der Wirklichkeit: Da diese Werte alle nicht leicht und direkt messbar sind, ist es viel interessanter zu fragen, wo kommen die konkrete Werte her? In welchen Größen müssen wir denken? Wenn wir nicht für unser eigenes Land oder unsere Region, Stadt, Gemeinde, Landkreis diese Werte mindestens schon einmal angeschaut, studiert, zu unserem eigenen Einkommen in Beziehung gesetzt haben, so ist die Formel Y = C + I + G + Ex – Im völlig tot. Wir haben keine Vorstellung. Diese Einkommensgröße setzen wir dann auch in Beziehung zu diversen Unternehmen in unserer Region. Lesen Sie dann in der Zeitung „Unternehmen x investiert im nächsten Jahr 15mio“, so setzen Sie das in Beziehung zu den Gesamtdaten Ihrer Region, dann bekommen Sie eine gute Vorstellung, was Y = C + I + G + Ex – Im tatsächlich bedeutet. Formel und Wirklichkeit Wenn wir Y = C + I + G + Ex – Im mit Leben füllen wollen, so brauchen wir erst einmal konkrete Daten. Und schon hier stoßen wir auf Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten sind aber Teil der Wirklichkeit dieses Objekts „Volkseinkommen“. Deshalb ist ein grundlegendes Verständnis über die Datenbasis für jeden, der wirklich einen Wirtschaftsraum, z. B. hier diese Volkswirtschaft verstehen möchte, Pflicht. Die Erhebung der Daten, einer Unmenge von tatsächlich von Milliarden von Einzeldaten, sowie deren Zusammenfassung zu aggregierten Größen, also zu volkswirtschaftlichen Aggregaten, erfolgt durch Ökonometrie und volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. „Unsere“ Formel werden wir so genau nirgends abgebildet finden.

142

Teil C

Beispiele

Aber wir finden für ein Land für ein Jahr z. B. folgende Daten, in Millionen Geldeinheiten. Wir finden also Y = BruttoinKonsum 211.555,5 landsprodukt, C, I, Ex, Im. Aber kein G. Bruttoinvestitionen 61.938,3 Nach etwas Suchen entdecken wir endlich, dass beim Konsum der private Konsum Exporte 154.464,6 mit 151.861,7 und der staatliche Konsum Importe 142.133,9 mit 55.439,7 gesondert ausgewiesen werden. Die beiden zusammen ergeben aber nur etwa 207 Milliarden, nicht die angegebenen 211. Für die Investitionen finden wir vielleicht gar keine Aufteilung in staatliche und private Aktivitäten. Wir nehmen also hin, dass Konsum und Investition hier den gesamten Inlandskonsum und die gesamte inländische Investitionstätigkeit enthalten. Also Bruttoinlandsprodukt

286.197,3

Y = C + I + Ex – Im Setzen wir die uns bekannten Zahlen ein, so erhalten wir 286.197,3Y = 211.555,5C + 61.938,3I + 154.464,6Ex – 142.133,9Im 286.197,3Y = 285.824,5CIExIm Da liegen wir ja gar nicht so weit daneben, etwas mehr als 1/10 Prozent. Interessant sind nun vor allem die Größenverhältnisse zueinander. Wir sehen dass z. B. wesentlich mehr konsumiert als investiert wird. Etwa 20 % des Einkommens werden investiert, knapp ¾ gehen in den Konsum. Privat und öffentlich. 154.464,6Ex – 142.133,9Im bedeutet einen Exportüberschuss von etwa 12 Milliarden. Klingt viel? Sind in Prozent von Y etwa 4 %. Auch wenn wir privaten Konsum mit Import vergleichen, so sehen wir ein Verhältnis von 151 zu 142 Milliarden. Wir bekommen jetzt langsam eine Strukturvorstellung von Y = C + I + G + Ex  Im. Damit diese Strukturvorstellung aber wirklich trägt, sollten wir noch eine weitere Region, ein Land, einen Wirtschaftsraum, die EU, die USA, Japan … was auch immer vergleichen. Neben dieser Strukturvorstellung von Y = C + I + G + Ex  Im sollten wir auch eine Vorstellung der Größenordnung selbst bekommen. Betrachten wir zu diesem Zweck unser eigenes Einkommen. Sie haben als Student keines? Dann formulieren wir die Sache so: Summieren Sie alles, was Sie konsumieren. Lebensmittel, Kleidung, Verkehrsmittel, Lehrutensilien, Wohnung (gelegentlich?), geselliges Beisammensein usw. Wie Sie das finanzieren und wer bezahlt, ist dabei völlig egal. Nur, weil es Sie nichts kostet, ist es nicht kein Einkommen. Falls Sie aber über ein Geldeinkommen verfügen, ist dieses aus den gleichen Gründen noch nicht identisch mit Ihrem Einkommen. Aber darum geht es jetzt nicht. Also, zurück zur Größenordnung. Ob ein Volkseinkommen von 286 Milliarden viel oder wenig ist, sagt uns im Vergleich nach innen das „durchschnittliche Pro-Kopf“-

Wirtschaft und Geographie

143

Einkommen. Bei etwa 8,3 Millionen Einwohnern dieser Volkswirtschaft sind das – gemäß amtlicher Statistik – 34.120 Geldeinheiten. Steuern, Abgaben, indirekte und direkte Transferleistungen seitens des Staates? Das wissen wir alles aufgrund dieser Daten nicht. Aber es verbessert unsere Vorstellung. Mit Pro-Kopf-Angaben beziehen wir die Größen unserer Formel aber auf etwas, das gar nicht in ihr vorkommt. Begrifflich. Sachlich verweist der Begriff von Einkommen natürlich auf reale Menschen und ihr Handeln. Ebenso ist Y ja auch bezogen auf eine bestimmte Bevölkerung, auf ein bestimmtes Gebiet. Da ist dann für das detaillierte Verständnis aller Größen auch die Landesfläche wichtig, die Ressourcen im Lande, die im Lande genutzten Ressourcen anderer Länder, also Importe usw. Wenn wir also Y = C + I + G + Ex  Im wirklich verstehen wollen, so müssen wir die sachliche Geschichte jeder einzelner dieser Größen und deren Zusammenspiel kennenlernen und uns ein möglichst konkretes Bild davon in der Wirklichkeit machen. Wir erinnern uns an das Unternehmen, das 15 Millionen investiert. Das wären also 0,024 % der gesamten Investition. Oder anders formuliert: circa ein Viertausendstel. Das ist schon ziemlich viel. Daraus ersehen wir schon, dass dieses Unternehmen in dieser Volkswirtschaft relativ eher als groß einzustufen ist. Die genannten Größen für die USA, nur so zum Vergleich 14.256.300Y = 13.019.800C + 1.628.800I + 1.564.200Ex – 1.956.600Im 286.197,3Y = 211.555,5C + 61.938,3I + 154.464,6Ex – 142.133,9Im Diese Volkswirtschaft hat knapp 300 Millionen Einwohner, also etwa das 36-fache. Jetzt, wo wir zwei Volkswirtschaften vergleichen, taucht die Einheitenfrage wieder auf. Denn Geldeinheit ist bekanntlich nicht Geldeinheit. Hier Euro, da Dollar. Rechnen wir mit ca. 0,67 als Verhältnis Dollar zu Euro. Für einen strukturellen Vergleich ist das aber nicht wichtig. Denn auch so sieht man auf einen Blick, dass jetzt die Importe der USA bei weitem die Exporte überwiegen. Vergleichen wir dann die beiden Investitionsquoten. Relativ einmal 61/286, dann 1.628/14.256. Also etwa 21 % im kleinen Land hier, etwas über 11 % da. 14.256.300Y = 14.256.200CIExIm, also auf 99,999 % genau. Pro Kopf haben wir bei 299 Millionen natürlich ca 47.700 Dollar. Macht bei einem Umrechnungsfaktor von 0,67 also knapp 32.000 Euro. Eine Beurteilung dieser Daten und Zahlen können wir hier nicht vornehmen, aber hier ging es ja darum, die Formel Y = C + I + G + Ex  Im ein wenig lebendig zu machen. Genau das ist die Aufgabe bei jeder Formel, die sich auf einen sachlichen Zusammenhang bezieht. Ohne konkrete Werte, ohne reale Vergleiche und Vorstellungen verstehen wir die Formel nämlich genau genommen nicht. Auch wenn wir sie mathematisch souverän handhaben und in Modellrechnungen, die das Modell nicht verlassen, brillieren. Wenn wir das Geschehen auf einem realen Markt, beim Einkauf, beim Abendessen, beim Anblick einer Baustelle, wenn wir all dieses Geschehen strukturmäßig und größenmäßig zuordnen können, dann beginnen wir langsam zu verstehen, in welcher Weise

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Teil C

Beispiele

wir Y = C + I + G + Ex  Im später einmal wirklich verstehen werden – und wie viel wir noch nicht verstehen, obwohl da nur eine einfache Summe und eine kleine Differenz versammelt sind. Wir probieren noch etwas: Wir studieren die Änderungen von Y, wenn sich eine Größe relativ ändert. 14.256.200Y = 13.019.800C + 1.628.800I + 1.564.200Ex – 1.956.600Im Eine Summe dieser Art enthält ziemlich viel Strukturinformation. Je nach Betrachtung ist es interessant, jede einzelne Größe zur relativen Bezugsgröße aller anderen zu machen. Also etwa festzustellen, dass der Konsum ca. 6,6-mal so groß wie die Importe ist, die Investition ca. 80 % der Größe der Importe erreichen, und die Exporte noch weniger, nämlich 79 %. Lassen wir jetzt jede dieser Größen um einige Prozent wachsen und betrachten dazu die relative Änderung des Gesamteinkommens. Steigern wir den Konsum um 5 %: 13.019.800  0,05 = 650.990. Das entspricht einer relativen Einkommensänderung von über 4,5 %. Steigern wir jetzt die Exporte um extreme relative 30 %. Was das für die Wirtschaftsstruktur und Politik für Anstrengungen bedeuten würde, können wir uns ausmalen. Seien wir also auf dem Papier mutig, Exporte um 30 % rauf: 1.564.200  0,3 = 469.260. Das entspricht einer relativen Änderung des Volkseinkommens von etwa 3,3 %. Wenn wir aus sachlichen Gründen davon ausgehen, dass für die langfristige Stärke und Stabilität einer Wirtschaft zum einen die Investitionen, zum anderen auch die Exporte wichtig sind, diese in Relation zum Konsum relativ klein sein, so verstehen wir ein Dilemma jeder Wirtschaftspolitik. Maßnahmen, die relativ gesehen klein sind, aber auf den Konsum wirken, haben zuerst einmal eine unmittelbare und deutliche Wirkung auf das Volkseinkommen insgesamt. Umgekehrt ist sichtbar, dass auch relativ kleine Änderungen des Gesamtvolkseinkommens aus starken strukturellen Änderungen in Teilbereichen herrühren können. Lassen wir „ceteris paribus“ beiseite, und denken uns nun mehrere Wirkungen zugleich, so kann sogar ein Rückgang des Volkseinkommens insgesamt mit einer strukturellen Stärkung verbunden sein. Das alles können wir an dieser einfachen Formel bereits ausprobieren. Wenn Sie diese Daten dann für das Land Ihrer Wahl noch regional herunterbrechen und erneut studieren, so verstehen Sie vielleicht diverse innenpolitische und lokale Wirtschaftsdebatten noch besser. Dank Ihres Verständnisses für Formeln.

Biologie

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Biologie Über Wachstum Wachstumsprozesse haben neben vielen anderen auch die Eigenschaft, prinzipiell begrenzt zu sein. Unbegrenztes Wachstum gibt es nicht. Die einfachste Form unbegrenzten Wachstums ist linear, d. h. in jedem Zeitabschnitt wächst z. B. die Maispflanze um den gleichen Betrag. Oder die Bevölkerung eines Landes. Etwas komplexer war da schon die Idee von Thomas Robert Malthus (geb. 1766 in der Grafschaft Surrey, England, gest. 1834 in Somerset, ebenfalls England), der eine konstante Wachstumsrate angenommen hat; also Wachstum mit einen bestimmten Prozentsatz, genauso wie etwa die Verzinsung eines Kapitals. Malthus vermutete eine Gesetzmäßigkeit des Bevölkerungswachstums dy / dt = ry. Dabei ist y die Bevölkerungsgröße, r die relative Wachstumsrate. Über einen bestimmten Zeitraum hin ist die Qualität der Beschreibung gar nicht schlecht. Das Gleiche gilt für Wachstumsprozesse in der Wirtschaft. Jedem ist klar, dass die Bevölkerung nicht ins Unendliche wachsen kann. Dass überhaupt nichts ins Unendliche wachsen kann. Tatsächlich gibt es Phasen, da scheint das Wachstum unbegrenzt. Wenn man dann einfach die bisherige Entwicklung linear weiterdenkt, dann wäre Wachstum tatsächlich unbegrenzt. Ein solches Wachstum gibt es nicht. Daher ist eine einfache lineare Wachstumsformel sicher nicht richtig. Nun könnte ja Wachstum auch einfach aufhören. Einfach so, wie etwa ein Lebewesen stirbt. Als punktuelles, kaum vorhersagbares Ereignis. Dann wäre eine lineare Wachstumsbeschreibung völlig richtig. Die beginnt bei Zeitpunkt null und bricht nach z. B. zwei Jahren ab. Der Grashalm hört einfach auf zu wachsen. Betrachtet man aber Grashalme genauer – ja, Grashalme – z. B. Mais oder Getreide; so erkennt man verschiedene Wachstumsphasen. Erst sehr langsam, dann beschleunigt sich das Wachstum, bleibt dann eine Zeitlang konstant und es hört nicht plötzlich auf, sondern verlangsamt sich langsam bis es fast unmerklich zum Erliegen kommt. Warum ich diese genaue Beobachtung wichtig ist? Weil dieses Verständnis der realen, uns umgebenden Natur oder Wirtschaft und der wirklich beobachtbaren Wachstumsund Schrumpfungs- bzw. Abnahmevorgänge die Voraussetzung für zweierlei ist: Für verständige Suche und Auswahl geeigneter mathematischer Werkzeuge und für die Beurteilung der Tauglichkeit einer Formel. Aber der eigentliche Clou: Für die vier angedeuteten Phasen könnte man ja genauso gut vier verschiedene mathematische Zusammenhänge nehmen. Jede geht vom Beginn der einen bis zum Ende dieser Phase. Dann stimmen phasenweise alle möglichen Formeln. Die Formel von Malthus genauso wie andere „einfache“ Formeln. Da ein bisschen „exponentielles“ Wachstum, dort lineares Wachstum, da wieder eine ungefähr exponentielle Wachstumsverlangsamung.

146

Teil C

Beispiele

Wir gehen aber davon aus, dass viele Vorgänge einheitlich erklärt werden können. Wir nehmen an, dass es dieselben Ursachen sind, die Wachstum herbeiführen, beschleunigen, stabil halten, verzögern und beenden. Ob wir nun das Wachstum einer Pflanze, das Wachstum eines Marktes oder eines Muskels verstehen wollen. Oder die Entwicklung einer Zellkultur. Oder die Ausbreitung einer Stadt. Bevor wir in irgendeine Formel einsteigen oder uns in die zugehörige Mathematik vertiefen, beschäftigen wir uns mit dem Phänomen „Wachstum“. Ganz konkret. Beispielsweise mit einem Exemplar von zea mais, der Maispflanze, die wir selbst züchten, dem Automobilmarkt in Europa zwischen 1950 und 1980 oder dem Markt für Immobilien in einem Stadtentwicklungsgebiet unserer Stadt. Oder studieren Sie als angehender Physiotherapeut oder Mediziner den Zusammenhang von Trainingsmethode und Muskelaufbau der Beinmuskulatur nach sechswöchiger Ruhigstellung. Beobachten Sie das Objekt ganz konkret, messen Sie, zählen Sie. Wenn es geht, selbst. Wir sollten das Phänomen so gut es geht selbst erleben. Dann sind wir vorbereitet, und wir lesen dieselbe Formel völlig anders. Malthus publizierte seine Ideen zum Bevölkerungswachstum 1798, siehe auch im Kapitel Mathematik das Beispiel „Differentialgleichungen“. So klar erkennbar es war, dass sein Ansatz nicht allgemeingültig sein konnte, so klar war auch erkennbar, dass er etwas Wesentliches getroffen hatte. Vierzig Jahre später, im Jahr 1838, veröffentlichte P. F. Verhulst einen Aufsatz, in dem er die sogenannte „logistische Kurve“ als Grundlage für das Verständnis von Bevölkerungsentwicklungen und damit von Wachstumsvorgängen vorschlug. Diese Formel enthält gleichsam als Motor an einer bestimmten Stelle noch ert, durch das Zusammenspiel mit anderen Elementen entfaltet dieser Motor aber eine wohlabgestimmte, gleichsam „abgeregelte“ Wirkung.

y

 1   

y* y *   rt  1e y0 

Die „logistische Kurve“ gibt einen funktionalen Zusammenhang an. y = f(y*, y0, r, t). Die Größe z. B. einer Pflanze zu einem bestimmten Zeitpunkt kann ermittelt werden aus dem Wissen um die Größe der Pflanze im ausgewachsen Zustand, um die zu einem bestimmten Zeitpunkt t0 gemessene Größe der Pflanze, um den Zeitraum, der zwischen dieser gemessenen Größe und dem uns interessierenden Zeitpunkt, verstreicht. Und nicht zuletzt müssen wir natürlich die Wachstumsrate r kennen. Wir benötigen also schon eine ziemlich gute allgemeine Vorstellung der Wachstumsprozesse in unserem Zusammenhang und zugleich müssen wir konkret werden: Größen ermitteln und Zeiträume festlegen und dergleichen mehr.

Biologie

147

Hauptgruppen 𝑦∗ 𝑦 𝑦=

𝑦∗ 𝑦∗ −1 𝑒 𝑦

1+

1+

𝑒

𝑦∗ −1 𝑦

𝑦∗ − 𝑦 𝑦 𝑦∗

𝑦∗ −1 𝑒 𝑦

𝑦

Das ist die Hauptstruktur. Sachlich heißt das unter anderem, dass der Ausdruck unter dem Bruchstrich am Ende des Wachstumsprozesses gleich 1 sein muss, denn y* ist ja die Größe der ausgewachsenen Pflanze, oder Population. Damit aber ist in allen anderen sinnvollen Fällen der Ausdruck im Nenner immer größer als 1. Was zuerst stutzig machen sollte, denn d. h. ja: Wir fangen im Nenner mit einem Wert größer als 1 an und dieser Wert nimmt mit zunehmendem Wachstum ab. Vielleicht liefert uns aber dieser Ausdruck eine Erklärung. Und in der Tat, wenn wir  y *   rt   genau schauen, enthält dieses Produkt mit e–rt einen Quotienten, der  y 1e  0  negative Exponent sagt ja, der Faktor des Klammerausdrucks ist. y* y Ausdruck

1 𝑒

Dieser Wert wird also mit zunehmendem Wachstum gemäß dem Ausdruck r  t tatsächlich kleiner. Da dieser Ausdruck 1 / ert aber unbegrenzt klein werden, erkennen wir schon jetzt, dass diese Formel nur eine Näherung an die Darstellung eines Wachstumsprozesses sein kann.

Viel wichtiger aber ist, dass hier diese Darstellung des Wachstums zum Zwecke der stetigen Verkleinerung des Klammerausdrucks verwendet wird. Formen wir diesen Klammerausdruck aber nur ein klein wenig um:  y *  y0   y 0 

   

 y*     y 1  0 

In dieser Form sieht man den sachlichen Zusammenhang deutlicher: Hier ist gleichsam die Wachstumslücke relativ zur Ausgangsgröße y0 angegeben, also die Angabe, um wie viel muss diese Pflanze, Population etc. noch relativ wachsen, um die Endgröße y* zu erreichen.

148

Teil C

Beispiele

Dieser Wert ist in jedem Anwendungsfall eine feste Größe, ebenso wie r, die Wachstumsrate. So wird theoretisch, da e–rt gilt, die Endgröße erst nach unendlich vielen Wachstumsperioden t erreicht. Was kann man „dagegen“ tun? Entweder wir nehmen y* nicht als Punktwert, sondern lassen bereits einen Bereich, also etwa 95 % als Endgröße gelten. Wir kappen also die Funktion, wenn wir realistisch und nahe genug dran sind. Oder wir machen aus der Wachstumsrate r ebenfalls eine Funktion, die z. B. von y*, y0 oder t abhängt und die auch 0 werden kann. Dazu ist es notwendig, alle diese vier Größen einer verständigen sachlichen, dann auch mathematischen Untersuchung zu unterziehen. Insbesondere sind die Eigenschaften von Wachstum „in der Nähe“ von y* zu untersuchen, ebenso, ob das Verhältnis von y*/ y0 tatsächlich als konstanter Faktor wirksam ist. So, als ob die Pflanze ein „Gedächtnis“ für diesen Ausgangszustand hätte usw. Zu solchen Analysen gehören aber auch ganz praktische Untersuchungen, etwa der Bevölkerungsentwicklung in verschieden dicht besiedelten Gebieten, von Pionierregionen bis extrem dicht besiedelten Ballungsräumen, oder genauestes Studium des Wachstums von Pflanzen, der Wachstumsaktivität von Meristemen (Bildungsgeweben) ganz in der Nähe des Aussetzens des Wachstums. Das Entdecken, dass andere, überhaupt nicht berücksichtigte Faktoren wirksam sind und so weiter. Kurz: Vertrautheit mit realem Phänomen, Formelhierarchie und Formelmechanik, Mathematik.

Umformen – das Offensichtliche sichtbar machen Eigentlich steht mit einer Formel ja alles da. Die Information ist vollständig. Aber ist sie auch leicht zu sehen? Oder erkennen Sie aus ∗

𝑦=







sofort

𝑒

=



und 𝑒

=



Ich kann das nicht. Dieser Form sind wir bei jener Umformung begegnet, die das Ziel hatte, die Wachstumsrate zu ermitteln. Wenn wir wieder einmal rein sachlich überlegen, also noch ohne weiteres Rechnen und Umformen: Was müssen wir alles wissen, wenn wir die Wachstumsrate etwa einer Pflanze ermitteln wollen? Wir müssen wissen, wie groß die Pflanze wird, wie groß sie zu einem bestimmten früheren Zeitpunkt war und in welcher Weise sie seither gewachsen ist. Damit haben wir einmal y*, y0 und y. Mit dem „Wachstum seither“ erhalten wir sowohl y als auch t und uns fällt auf, dass vollständiger Weise auch y indiziert sein müsste, nämlich als yt. Der Ausdruck



entstand zwar beim Umformen, ist aber auch sachlich äußerst

interessant: y* – y0 kann gelesen werden als der Betrag, um den die Pflanze noch wachsen wird, relativ zur bis jetzt erreichten Größe. Dieser Quotient ist also sicher größer als 0. Diesen Betrag könnte man als „relative Wachstumslücke“ bezeichnen. Das Wachstum wird nun als Quotient der beiden relativen Wachstumslücken von y0 einerseits und von yt andererseits ausgedrückt.

Biologie

149

t0

ty

t*

Dass yt mit ert in direkter Verbindung steht, ist uns mittlerweile klar. Aber auch y0 hat solch eine Verbindung, denn der Zeitpunkt von y0 ist ja der Startpunkt unserer Zeitmes∗

sung, also für den Wert von t. Dieser Ausdruck 𝑒

=



sagt uns nun, dass wir die

Wachstumsfunktion ert erhalten, indem wir zwei ausgewählte relative Wachstumslücken miteinander vergleichen: die Größe der Pflanze zu einem beliebigen Zeitpunkt, den wir als Nullpunkt der Messung annehmen, und die Größe der Pflanze eine beliebige, aber genau gemessene Anzahl von Wachstumsperioden später. Diese beiden Größen setzen wir relativ zur Endgröße der Pflanze in Beziehung. Die gestrichelten Linien in der Graphik zeigen die absoluten Wachstumslücken. Die durchgezogenen Linien stellen die Größe der Pflanze zu den jeweiligen Zeitpunkten, markiert durch die gepunkteten Zeitlinien für t0, ty und t* dar. Die gemessene Zeit t, die in der Formel auftaucht, ist die Zeit, die zwischen t0 und ty verstreicht. Das ist der Schlüssel zum Verständnis dieses Sachaspekts unserer Formel. Wir sehen, dass mit dem Verschieben der ty-Linie sich automatisch die Verhältnisse ändern: von y, von y* – y, von t. Das Gleiche gilt für das Verschieben der t0-Linie. Die Formel sagt uns aber, dass diese Verhältnisse immer die gleiche Wachstumsrate liefern. Also müssen wir nur die Pflanze zu zwei verschiedenen Zeitpunkten messen, den Wachstumsfortschritt mit der (vermuteten) Endgröße in Beziehung setzen und wir erhalten die Wachstumsrate. Damit können wir schon ganz gut leben und auch ganz gut rechnen. Beim „Kern“ der Formel, bei ihrem Herzstück sind wir so aber immer noch nicht angekommen. Das haben wir bei den Umformungen schon getroffen und liegt genau einen Schritt vor der Formel, mit der wir hier wieder eingestiegen sind. Wenn wir bereits ein kleines Formelrepertoire erworben haben, so kennen wir vielleicht schon die eine oder andere Formeln mit dieser Form. 𝑝 = 𝑝 exp −

𝑔(ℎ) 𝑅 𝑇

In „exp(-…)“ erkennen wir natürlich genauso unser „e hoch minus …“ wieder. Unser indexgeschultes Auge erkennt ebenfalls die allgemeine Form „links p ohne Index“, „rechts p mit Index 0“. Die Größe p0 wird also gemäß einer Exponentialfunktion kleiner. Das beim p links „eigentlich“ der Index h stehen sollte, ist uns sowieso schon aufgefallen, wir gehen davon aus, dass das „aus dem Kontext“ selbstverständlich ist.

150

Teil C

Beispiele

Wenn wir also lesen: „ x = x0  e–Ausdruck“ so haben wir unser Repertoire aktiviert, und lesen als das Kernthema unserer Formel: Die relative Wachstumslücke nimmt exponentiell mit der Zeit und der Wachstumsrate r ab: 𝑦∗ 𝑦∗ −1 = −1 ∙𝑒 𝑦 𝑦

𝑦∗ − 𝑦 𝑦∗ − 𝑦 = 𝑦 𝑦

bzw.

∙𝑒

Wir erkennen wieder, wie hier die Idee von Malthus bewahrt wurde, indem die Frage des Wachstums gleichsam „von der anderen Seite“ her angegangen wurde. Da im Begriff der relativen Wachstumslücke y neben y* enthalten ist, formen wir diesen Sachverhalt, dieses Wachstumsgesetz so um, dass wir „unser“ y ganz für uns allein haben. Das also ist der Formel Kern, der dann zu unserer vertrauten Formel führt: 𝑦∗ −1 𝑦

𝑦∗ − 𝑦 𝑦∗ − 𝑦 = 𝑦 𝑦



𝑦 =

∙𝑒

𝑦∗ 1+

𝑦∗ 𝑦

−1 𝑒

Das alles sieht man aber erst, wenn man mit der Formel y =

∗ ∗

ein wenig her-

umexperimentiert. Und dazu will ich Sie unter anderem auch anregen.

𝑦∗ − 𝑦 𝑦∗ − 𝑦 = 𝑦 𝑦

∙𝑒



y

y*  y *   rt 1    1e   y0

Biologie

151

Über Beute und Jäger Ungestörtes Wachstum kennt in der mathematischen Modellierung oft keine Grenzen. Die einfachste Wachstumsformel = 𝑟𝑥 haben wir bereits als Modell für die Entwicklung einer Population kennengelernt. In dieser Formel gibt es keine Umwelteinflüsse, keine Wirkung von außen, die das Wachstum auch nur irgendwie bremsen könnte. Treffen aber zwei Populationen aufeinander, die zueinander im Verhältnis von Jäger und Beute stehen, so ändert sich die Situation grundlegend. Einer der ersten Versuche, die entsprechenden Entwicklungen zu verstehen, erfolgte im Jahr 1925 und führte zu folgender Gleichung: Seit Malthus sind also fast 130 Jahre vergangen. Δ𝑦 −𝑚𝑦 + 𝑏𝑥𝑦 = 𝑟𝑥 − 𝑎𝑥𝑦 Δ𝑥 x y r

m

a b

Anzahl der vorhandenen Beutetiere (fachsprachlich: Größe der Population) Anzahl der vorhandenen Raubtiere/Jäger die pro Kopf-Wachstumsrate der Beute bei Abwesenheit von Feinden. Sie stellt die absolute Differenz Geburten minus Todesfälle der Gesamtpopulation gegenüber, wodurch eine relative („prozentuelle“) Wachstumsrate angegeben werden kann. Wie bei Malthus? sinngemäß das Gleiche für die Jäger, wenn es keine Beute gibt. Auch eine prozentuale, d. h. relative Größe. Allerdings mit negativem Vorzeichen, denn ohne Beutetiere werden die Jäger langsam aussterben. gibt die Wirkung eines Jägers relativ auf die Beutepopulation an, gleichsam wie „erfolgreich“ ein Jäger durchschnittlich ist. gibt andererseits an, wie sehr sich die Vermehrung der Anzahl von Beutetieren auf die Zahl der Jäger auswirkt. Grob gesagt: Ab wie viel mehr möglichen Beutetieren gibt es einen Jäger mehr.

Hier gilt es vor allem zu durchdenken, wie das Zusammenspiel zweier so miteinander verbundenen Tiergruppen aussieht. In Abhängigkeit ihrer jeweiligen Größe, der Frage, wie viele Beutetiere benötigt ein jagendes Tier zum dauerhaften Überleben, wie hängt das alles mit den jeweiligen Geburten- und Sterberaten zusammen. Ohne noch in die Formel einzusteigen, kann man, ja muss man sich ein lebhaftes Bild davon machen. Ob wir in der Phantasie mehrere Rudel Löwen der Serengeti und Herden von Gnus vor uns sehen. Oder – was ich für viel besser halte – einen nahegelegenen Park aufsucht und aus einer Mischung von Beobachtung und Vorstellung in Gegenwart des „lebenden Objekts“ das Zusammenspiel zwischen Vögeln und Insekten durchdenkt. Oder im Keller mal über die Größe der Hausspinnenpopulation nachdenkt. Aber was fressen die bloß, ich meine wirklich? Bei uns im Keller? Der Ausdruck xy, also das Produkt aus den beiden Populationsgrößen ist kein bloßes Produkt der Größe zweier Populationen, sondern ein Ausdruck mit einer eigenen Bedeu-

152

Teil C

Beispiele

tung. „xy“ bezeichnet nämlich die – sehr idealisierte – Kontakthäufigkeit zwischen Beutetieren und ihren Jägern. Kleine Nebenbemerkung: Am Beginn der Entwicklung der Evolutionstheorie standen genau solche Überlegungen: Angesichts der ungeheuer großen Zahl von Nachkommen, die viele Tierarten hervorbringen, müsste die Erde von einigen dieser Tierarten innerhalb weniger Jahrzehnte vollständig bevölkert sein. Ist sie aber nicht. Was aber begrenzt deren Wachstum, und vor allem wie? Wenn wir darüber nachdenken, bei jedem einzelnen Individuum zugleich einen Repräsentanten einer spezifischen Population vor uns sehen und uns beim Aufeinandertreffen von einer Wespe und einer Spinne im Todeskampf nicht nur von diesem einzelnen Schauspiel beeindrucken lassen. Dann denken wir biologisch. Diesmal hat die Wespe gesiegt, die Spinne liegt tot im Gras, zweieinhalb Meter unter dem Netz, das der Wespe hätte zum Verhängnis werden sollen. In einem anderen Spinnennetz finden wir eine Wespe, bereits feinsäuberlich verpackt. Unsere Überlegungen jetzt: Wie oft treffen Spinnen und Wespen dieserart aufeinander? Wie oft endet die Begegnung mit Flucht und es gibt keine Verletzten? Wie oft endet sie tödlich für die Wespe, für die Spinne? Ja, soweit von der Form der Formel sollten wir weg sein, und so tief im Inhalt, in der Sache, um die es geht. Denn erst von der Sache her können wir beurteilen, welche Sachverhalte einer mathematischen „Behandlung“ überhaupt zugänglich sind, wo Mathematik hilfreich und sinnvoll ist und wo nicht. Thema: Die Abhängigkeit des Wachstums einer Population jagender Tiere von Größe, Wachstum und Kontaktintensität mit der Beutepopulation

Mathematik: Differenzen, Quotienten

Formel:

Δ𝑦 −𝑚𝑦 + 𝑏𝑥𝑦 = Δ𝑥 𝑟𝑥 − 𝑎𝑥𝑦 Wie so oft, beschäftigt sich diese Formel als Differenzenquotient mit der Veränderung der bestehenden Umstände. Wenn hier x Beutetiere leben und y Jäger, wie ändert sich die Situation? Leicht zu sehen ist das unterschiedliche Zusammenspiel von Wachstumsraten und der Wirkung der Kontakthäufigkeiten. Wird der Wert xy größer, so nimmt die Zahl der Jäger zu und die Zahl der Beutetiere ab. Soweit, so gut. Über genau diesen Ausdruck „xy“ werden aber Zähler und Nenner in unserem Quotienten miteinander verbunden. Dadurch entsteht zwischen Zähler und Nenner eine Wechselwirkung; und erst solche Wechselwirkungen machen diese Formel trotz aller Schwächen als Modell interessant. Nimmt die Zahl der Jäger – y – zu, so nimmt auch der Wert xy zu, entsprechend nimmt die Zahl der Beutetiere – x – ab. Wird x aber wieder kleiner, so auch xy und damit wird das Wachstum der Jäger durch ihre eigen Zunahme begrenzt. Das ist die Idee.

Statistik

153

Der Zähler beschreibt auch, wann die Population der Jäger stabil bleibt, nämlich dann, wenn my = bxy gilt. Wenn also die natürliche Sterblichkeit gleichgroß ist wie die Erfolgsrate beim Verhältnis der Populationen von x:y. Dass die Population der Beutetiere ohne Jäger „unbegrenzt“ wäre, ist aus dem Modell klar und zeigt eine seiner Schwächen. Dennoch lässt sich durchdenken, welche Wachstumsrate genau die Verluste durch Angriffe der Jäger ausgleichen würden. Diese Formel stellt einen guten Ausgangspunkt dar zum Durchdenken dieser Verhältnisse, weil sie uns ermöglicht und zwingt, mit konkreten Werten und Beziehungen zu hantieren.

Statistik Statistik bietet eine faszinierende Möglichkeit, über eine Vielzahl von einzelnen Elementen Aussagen zu machen, beschreibend oder analysierend oder prognostizierend, die aus dem Studium der Einzelelemente allein nicht möglich wären. Statistik verwendet zwar mathematische Methoden, ist aber an Sachverhalten der Wirklichkeit orientiert, genauso wie die mit ihr oft verbundene Wahrscheinlichkeit. Statistik ist nicht Mathematik, auch Wahrscheinlichkeit ist nicht Mathematik. Wir betrachten hier exemplarisch ganz elementare mathematische Zusammenhänge, die die Grundlage für statistische Begriffe bilden. Dabei ist zu beachten, dass statistische Begriffe – etwa des Mittelwerts oder der Varianz – eine Umdeutung von mathematischen Sachverhalten darstellen. Der jeweilige Sachverhalt bezieht sich auf Gegenstände der Wirklichkeit, und versucht, ein oder mehrere Merkmale besser zu verstehen, indem nicht nur der individuelle Fall untersucht wird, sondern eine bestimmte Art von Vergleichen und Beziehungen zu „allen individuellen“ Fällen hergestellt werden. Da diese „Gegenstände der Wirklichkeit“ auch einfache Zahlen sein können, kann man statistische Zusammenhänge auch scheinbar rein innerhalb der Mathematik abhandeln. Mit Blick auf unser Formeldreieck erkennen wir aber rasch, dass ein Zahlenhaufen, über den wir statistische Aussagen machen wollen etwas anderes ist als jene Zahlen, die wir zu deren Beschreibung und Analyse verwenden. Denn die Zahlen, mit denen wir den Zahlenhaufen beschreiben, sind auch benennbare statistische Größen, die Zahlen des Zahlenhaufens bloß Objekte, auf die sich diese Größen beziehen. Deshalb wird korrekterweise von statistischen Methoden gesprochen, die eben mathematische Möglichkeiten benutzen, um Objekte der Wirklichkeit in einer ganz speziellen Weise zu erfassen und zu untersuchen. Aber Statistik ist nicht Mathematik; und genau genommen wird die Mathematik in der Statistik „nur“ angewandt. Dass statistischen Problemstellungen Anregungen für mathematische Entwicklungen und Untersuchungen sein können, ändert daran nichts. Denn genauso verhält es sich z. B. mit physikalischen Fragestellungen.

154

Teil C

Beispiele

Die Vorgeschichte: Über  und  Als wir einen Blick auf die allerersten mathematischen Objekte warfen, lernten wir das Produkt als eine besondere Möglichkeit der Darstellung bestimmter Summen kennen: Sind in einer Summe Sn = a1 + a2 + … + an alle a gleich, so konnten wir statt der Summe das Produkt a  n schreiben. Bei einer Summe Sn, bei der dies nicht der Fall ist, bleibt es bei der Summe. Es gibt keine abgekürzte Schreibweise. Die abgekürzte Schreibweise n  a anstelle von a1 + a2 + … + an ist ja nur möglich, weil es über die einzelnen a nichts Unterschiedliches zu sagen gibt. Die Summe, d. h., die konkrete Angabe des Wertes jedes einzelnen Summanden bietet in diesem Falle nicht mehr Information als die Angabe n  a. Die Summe Sn = a1 + a2 + …+ an ist wenig informativ, im Vergleich zu S n = a1 + b2 + … + nn mit vielen unterschiedlichen Summanden. Etwas Eigenartiges geschieht, wenn ich nun einen Quotienten bilde, bei dem zwischen Zähler und Nenner folgender Zusammenhang besteht: Im Zähler steht die Summe oder das Produkt, im Nenner steht die Anzahl der Summanden der Summe bzw. der Faktor des Produkts, der diese Anzahl benennt. a + 𝑏 + ⋯+ 𝑛 𝑛(𝑆  )

=𝜇

Der Wert dieses Quotienten  hat nun die Eigenschaft, gemeinsam mit der Anzahl n (Sn) ein Produkt bilden zu können, dass der Summe S n gleichwertig ist: S n = n  . Die Summe aus n Elementen entspricht einem Produkt, in dem die Zahl der Summanden als Faktor auftritt. Aus dem Verhältnis der Summe zu ihren eigenen Summanden entsteht so eine Größe, die etwas über diese Summe aussagt: Würdest du, liebe Summe, aus lauter gleichen Summanden bestehen, könnten wir dich als Produkt auffassen. Und wir können sogar sagen, wie diese gleichartigen Summanden aussehen müssten. Die Gesamtwirkung all dieser n unterschiedlichen Werte ist gleich groß wie die, wenn n gleichartige Werte der Größe  zusammenwirken würden. Der Wert  entsteht nur aus einer Beziehung aller Elemente zum Ganzen. Es geht alle Information verloren, die etwas über den Einzelfall aussagt. Denn ein Produkt als „Kurzschreibweise“ für eine Summe lässt Unterschiede in den Summanden einfach nicht zu. Interessanterweise verschafft uns Informationsverlust oft zugleich einen Informationsgewinn! Wir erhalten mit  = S n / n eine Information, die wir kaum aus der Vielfalt der konkreten Einzelwerte direkt erkennen können. Je mehr Erfahrung wir mit einem konkreten Phänomen in unserem Fachgebiet haben, umso besser werden unsere Vorstellungen sein, welche Strukturen sich in dieser unendlichen Vielfalt von Einzelwerten zeigen. Aber erkennen können wir sie kaum. Den Mittelwert zu bilden, ist rechnerisch meist trivial. Aber die vielfältigen Beziehungen, auf denen er beruht, sind es nicht!

Statistik

155

Beachten wir aber einmal, welch eigenartigen Weg wir dazu einschlagen: Wir addieren Werte, deren Addition für sich genommen sehr oft überhaupt keinen Sinn macht! Welche Aussage gewinnen wir daraus, dass alle Schüler einer Klasse übereinandergestellt knapp 45 Meter hoch wären? Diesen Zwischenschritt aber machen wir, wenn wir dann in Folge zu einer Durchschnittsgröße von etwa 1 Meter 55 Zentimetern kommen. Bei der Ermittlung eines Durchschnittseinkommens hingegen ist die Summe, die wir als Zwischenschritt bilden, durchaus eine selbstständige und sinnvolle Größe: Sie ist das Gesamteinkommen Y der Bevölkerung eines bestimmten Landes. Das Durchschnittseinkommen Y / B enthält in seiner Bezeichnung daher noch die gesamte Beziehung. Wann immer wie einen Durchschnittswert vor uns haben, so gilt, es, diesen Hintergrund zu sehen. Denn ein Durchschnittswert ist stets der Durchschnittswert einer bestimmten Menge von Elementen und wird gebildet durch eine bestimmte Beziehung dieser Elemente zu einer messbaren Größe, sowohl des Einzelnen als auch des Ganzen. Alle Information haben wir aber nur, wenn wir alle einzelnen Elemente kennen. Aber diese Information ist zu viel des Guten. Der Mittelwert allein ist oft zu wenig. Was tun? Wir ergänzen den Mittelwert  um einen weiteren Mittelwert. Wir ermitteln ein neues Maß, eines, das uns für jeden einzelnen Wert angibt, wieweit dieser vom Mittelwert entfernt ist. Damit erhalten wir zuerst einmal wieder genauso viele Abstandswerte wie es Einzelwerte gibt. Diese enthalten jetzt aber eine andere Information. Für diese neue Information über die Abstände bilden wir wieder einen Mittelwert, der jetzt – ein wenig – Strukturinformation enthält. Der Mittelwert enthält eine sehr grobe Information über die Größe aller Werte einer Menge von Elementen. Der Mittelwert der Abstandsmaße liefert uns als Streuungsmaß eine Strukturinformation. Eines der wichtigsten Streuungsmaße ist , das aber als  2 berechnet ermittelt wird. Denn es wird nicht aus den Abständen aller einzelnen Werte zum Mittelwert berechnet, sondern aus den Abstandsquadraten. Also nicht aus (a1 – ), (a2 – ), … sondern aus (a1 – )2, (a2 – )2, … Ermittelt wird also  2, erst wenn wir daraus die Wurzel ziehen wird eine für uns vorstellbare Größe eines Abstandsmaßes daraus. Wir haben so über eine mehrfache Anwendung der Grundoperationen die Möglichkeit, mit nur drei Größen grundlegende Eigenschaften einer beliebig großen Menge von Einzelelementen darzustellen. Wenn man diese Grundbeziehung aus den Augen verliert, oder sie bloß mechanisch „rechnet“, dann verliert man die Beziehung zum konkreten Phänomen: Sei es die Höhe der Gezeit, das Einkommen pro Einwohner, die Bewegung von Molekülen, die Temperatur von Gasen, die Ermittlung vom „richtigen“ Messwert aus einer ganzen Serie von Einzelmessungen, oder die Größe „der“ ausgewachsenen Maispflanze. In  wird stets eine Vielfalt von Einzelphänomenen repräsentiert, und in  wird eine strukturelle Eigenschaft dieser Vielfalt sichtbar. Und diese „Vielfalt“ wird mit der Größe „n“ konkret benannt. , , n sprechen immer von der Wirklichkeit und über diese. Die Entstehungsgeschichte vieler Größen wird in Formeln oft nicht mehr genannt: Das geschieht recht häufig: Irgendwo steht ein Zeichen, irgendeine Größe, ein mathematisches Objekt, ein f (x), ein df / dx, ein , ein  2, ein  oder Ähnliches. Die stehen in der

156

Teil C

Beispiele

Formel einfach da und wirken so vor sich hin. Und haben ihre eigene Geschichte. Denn erkennbar sind das keine „einfachen Größen“ oder leicht durchschaubare Funktionen. Sie haben alle ihre Geschichte, die sie uns aber in dieser Formel verschweigen. Dafür kann es drei gute Gründe geben, ganz nach unserem Formeldreieck . Aus sachlichen Gründen etwa führen wir keine Details zum Diffusionskoeffizienten (siehe oben, Biologie/Medizin) aus. Es genügt völlig zu wissen, dass die Diffusionsrate von der Fläche, und dem Diffusionsgefälle abhängt und von einem „stoffspezifischen Wert“. Für das biologische Verständnis ist der Diffusionskoeffizient eine bloße Eigenschaft, nicht selbst ein studierenswertes Objekt! Aus mathematischen Gründen geht man dann nicht in die Details, wenn diese im jeweiligen Zusammenhang ebenfalls uninteressant sind. Die Zahl „e“, die Eulersche Zahl wird meist „nur benutzt“. Dann schreibt man einfach „e“. Warum gerade „e“ ist dem Mathematiker e klar. Wenn aber die spezifischen Eigenschaften von „e“ für diese Analyse hier wichtig sind, dann steht in der Formel eine der möglichen Darstellungen von „e“ gemäß den Grundoperationen und der ersten mathematischen Objekte. Also z. B. lim 1 + →

1 𝑛

oder 𝑒 =

𝑥 𝑛!

In diesen Formeln ist unter Umständen die Begründung enthalten, warum in dieser oder jener Formel jetzt gerade e hoch rt und nicht x hoch rt genommen wird. Aber das ist nicht mehr interessant und wird in der Formel daher auch nicht mehr ausgeschrieben. „e“ gehört dann schon zum mathematischen Repertoire oder wird vom Benutzer zu Recht einfach nur hingenommen. Einer der wichtigsten Gründe für die genannte Vorgehensweise ist die formelmäßige Entlastung. Die bekannte und statistisch beliebteste Verteilungsfunktion ist die sogenannte Gauß’sche Normalverteilung. In dieser Funktion werden für eine Menge z. B. von Messgrößen die einzelnen Messgrößen (xi), deren Mittelwert () und deren Streuung () um diesen Mittelwert in eine Beziehung gebracht. Freundlicherweise mit den beiden mathematischen Größen e und . Die Funktion wird üblicherweise so geschrieben:

f ( x) 

 1 e 2 

 x   2 2 2

Und so sieht sie aus:

Statistik

157

Die Größe , der Mittelwert wird bekanntlich als 𝜇=

1 𝑁

𝑥

berechnet, das Streuungsmaß  2 (genannt Varianz) wird berechnet als  =

1 𝑁

(𝑥 − ) oder  =

1 𝑁

𝑥 −

Sie sehen, dass schon bei der Berechnung von  2 der Wert für  als bekannt vorausgesetzt wird. Setzen wir also mal, so zum Vergnügen, die Formel für den Mittelwert in die zweite Formel ein:  =

1 𝑁

1 𝑁

𝑥 −

𝑥

Sieht schon ganz nett aus. Sie ahnen, was jetzt kommt. Jetzt gehen wir in die ursprüngliche Formel dieser Funktion und setzen munter ein: ∑

1

𝑓(𝑥) = 2

1 ∑ 𝑁

𝑥 −

𝑒 1 ∑ 𝑁





𝑥

Obwohl die Sache gar nicht so schwierig ist, ist dieses Formelbild furchtbar überladen, und die Zusammenhänge kommen überhaupt nicht heraus. Deshalb ist 𝑓(𝑥) =

1 √2

𝑒

(

) 

viel besser. Wir müssen uns nur um die Formelgeschichte, insbesondere die Geschichte von  2 und  kümmern. Dass sich für diese Geschichte einer Formel ein entsprechender Stammbaum darstellen lässt, überrascht wohl kaum.

158

Teil C

Beispiele

𝑑𝑥

𝑃(𝑎 ≤ 𝑥 ≤ 𝑏) =

1 √2𝜋𝜎

1

𝑒

(

)

𝑑𝑥 𝑒

√2𝜋𝜎

(

)

(𝑥 − 𝜇) 𝜎

(𝑥 − 𝜇) 𝜎 (𝑥 − 𝜇) 𝑥

𝜇

𝜎

Die Formelgeschichte ist aber nichts anderes als das Repertoire zum Verständnis dieser Formel. Ob mathematisch oder sachlich. Je größer unser Repertoire ist, sachlich wie mathematisch, umso kürzer und einfacher kann man Formeln gestalten, weil wir die vielstufige Geschichte, die dahinter steht, lesen können. Unser Repertoire ist groß genug und wir können auch die Zusammenhänge herstellen! Vor allem in der fortgeschrittenen Formelanalyse wird das regelrechte Arbeiten mit der Formelgeschichte wichtig, weshalb wir es hier, wo es um die Grundlagen geht, bei diesen wenigen Andeutungen belassen können. Wenn ich ein Unterscheidungsmerkmal zwischen einem mathematisch Interessierten und einem auch intensiven mathematischen Nutzer angeben sollte, so ist es die persönliche Einstellung zur Formelgeschichte. Dem Nutzer genügt es zu wissen, was die Formel „kann“, der Mathematiker will „die ganze Geschichte“.

Sigma, eine kleine Detailstudie Es gibt einige bekannte und verbreitete Formeln, die man ohne genaue Beachtung des Sachzusammenhangs und ihrer sachlichen und mathematischen Formelgeschichte nicht verstehen kann. Eine der bekanntesten ist wohl die Normalverteilung, eine „der“ Formeln der Statistik.

Statistik

159

Soll heißen, die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Wert von x zwischen a und b liegt, entspricht dem um einen bestimmten Faktor verkleinerten Integral innerhalb der Grenzen a und b. Der Integrand ist eine spezielle Exponentialfunktion. Wir betrachten diese Formel jetzt vor allem in Hinblick auf . Das Sigma taucht an zwei sehr unterschiedlichen Stellen auf, die wir beide für sich untersuchen. Wir haben einmal

(

)

im Exponenten der Exponentialfunktion innerhalb des Inte-

grals (im Integranden), und einmal außerhalb, in



als Koeffizienten vor dem Inte-

gral. Wir bemerken sofort, dass es von den beiden Fremdlingen  und  im Integranden nur  auch vor das Integral geschafft hat. Damit beginnt unsere Geschichte, die man kennen muss, denn aus der Formel allein und sogar aus der Mathematik allein weiß man nicht, warum das so ist. Die „Urform“ der obigen Formel war schlicht 𝑒

𝑑𝑥

Diese Formel hat viele Eigenschaften, unter anderem 𝑒

𝑑𝑥 = √𝜋

und natürlich, da x in quadratischer Form vorkommt, die Symmetrie des Integranden, mit dem erkennbaren Schwerpunkt „in der Mitte“ und einem langsamen Auslaufen zu beiden Seiten hin, bis ins Unendliche.

Im 18. Jahrhundert, als man sich schon intensiv mit „Wahrscheinlichkeit“ beschäftigte und den Begriff der Verteilung zu entwickeln begann, entdeckte man, dass eine Kurve  und damit Funktion  der Art 𝑒 ganz gut zu einigen Phänomenen der zufälligen Verteilung von Merkmalsausprägungen von Objekten der Wirklichkeit passte. Warum eine Exponentialfunktion und nicht einfach 1 /x2? Probieren Sie, setzen Sie für x = 0 ein und

160

Teil C

Beispiele

sehen, was dann passiert. Zurück zu den Merkmalsausprägungen: z. B. zur Körpergröße. Viele Leute sind „ungefähr“ so groß wie der Durchschnitt, wenige sind kleiner, wenige größer und sehr wenige sind sehr klein und sehr wenige sehr groß. Die Frage lautete nun: Wenn ich zufällig irgendeine Person auswähle, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Person z. B. zwischen 1,70 m und 1,93 m groß ist? Die Frage ist dann leicht zu beantworten, wenn ich eine Formel habe, mit der ich die Verteilung „ziemlich gut“ beschreiben kann. Die Form dieser Kurve passte ganz gut, wie einige Forschungsarbeiten des 18. und des 19. Jahrhunderts zeigten. Aber die Form allein reicht nicht, wir benötigen einige Eigenschaften, die aus dem Konzept der Wahrscheinlichkeit folgen. Die wichtigste: Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine ausgewählte Person irgendeine Körpergröße hat, muss 1 sein, also mit 100%-iger Sicherheit eintreten. Damit wissen wir bereits, dass 𝑒 𝑑𝑥 nicht passt, denn der Gesamtwert aller möglichen Größen von 𝑒 ist √𝜋. Da macht man sich das Leben aber leicht und ergänzt die Formel um einen Vorfaktor und hat schon das Ergebnis: 1 √𝜋

𝑒

𝑑𝑥 = 1

Damit haben wir wie gewünscht erreicht, dass die Wahrscheinlichkeit für das sogenannte „sichere Ereignis“, dass x zwischen –  und + liegt gleich 1, also 100 % ist. Minus unendlich? Negative Werte? Haben Sie schon Menschen mit negativer Größe gesehen? Was also tun? Wir betrachten nicht x selbst, sondern fragen uns, wie weit ist das jeweilige x vom Mittelwert entfernt. Und schon können wir negative Werte zulassen. Ganz nebenbei haben wir damit ein weiteres Problem gelöst: Der Mittelwert unserer mathematischen Ausgangsfunktion lag bei 0. Der Mittelwert der Körpergröße liegt sicher nicht bei 0. Dadurch aber, dass wir x auf den Mittelwert  bezogen haben (auch das können Differenzen leisten) haben wir  zum eigentlichen 0-Punkt gemacht! Jetzt kommt endlich unser  2 ins Spiel. Wir erinnern uns an die „Vorgeschichte“, daran, was dieses  2 ist: Die Größe  2 ist selbst ein Mittelwert, nämlich der Mittelwert aller „Abstandsquadrate“. Also der mittlere Wert von (x – )2. Deshalb wird dieser Wert, obwohl er selbst durch einfache arithmetische Mittelwertbildung entsteht als „Quadrat“ eingeführt. Dann kann man nämlich zeichentechnisch leichter die Wurzel daraus ziehen und erhält mit  ein Streuungsmaß, dass uns sagt, wie weit sich „die meisten“ Werte x vom Mittelwert  entfernen. Der Ausdruck mit x,  und  im Exponenten wird oft unterschiedlich geschrieben. Aus der Entstehungsgeschichte ist nun klar, welcher Unterschied zwischen diesen beiden Schreibweisen besteht: (𝑥 − 𝜇) 𝑥−𝜇 ≠ 𝜎 𝜎

Statistik

161

Die erste Form zeigt die „wahre“ Entstehung, die zweite suggeriert eine andere. Wieso aber steht dieses  2 im Nenner? Ganz einfach, es ist so ähnlich wie die Geschichte im Zähler. Uns interessiert nicht der absolute Abstand zum Mittelwert. Ist eine Abweichung vom Durchschnitt von z. B. 8 cm viel oder wenig? Liegt der Durchschnitt bei 185, so ist das relativ gesehen kaum auffällig, liegt der Durchschnitt bei 162, so fallen 8 cm deutlich stärker auf. Die konkrete Abweichung wird also durch die „übliche“, die sogenannte Standardabweichung  ausgedrückt. Das Quadrat der Standardabweichung ( )  2 dient hier im Nenner als Maß, und damit haben wir erst mit die auch sachlich angemessene Form um 𝑒 𝑑𝑥 für unsere Zwecke nutzen zu können. Wir sind aber noch nicht ganz fertig. Aus mathematischen Gründen, die ich hier jetzt nicht mehr ausführe, befindet sich im Exponenten noch ein –1/2 und Sie sehen im Vorfaktor vor dem Integral, dass da nicht nur  unter der Wurzel steht, sondern auch die 2. Was schließen wir daraus? Da der Zweck des Vorfaktors ist, sicherzustellen, dass der Wert des Integrals in den Grenzen von - bis +  gleich 1 ist, so sehen wir: Was in der Exponentialfunktion im Nenner steht, erhöht den Gesamtwert des Integrals um seine Wurzel. Da sich  2 genauso wie die 2 im Nenner befindet, wirkt es genau gleich auf das Integral. Also müssen wir wieder das gesamte Integral durch die Wurzel aus  2 teilen. Und da sehen wir noch einmal, wie gut die Bezeichnung dieses arithmetischen Mittels durch einen quadratischen Ausdruck war.

𝑃(𝑎 ≤ 𝑥 ≤ 𝑏) =



1 √2𝜋𝜎

𝑒

(

)

𝑑𝑥

²

Zwei völlig unterschiedliche Rollen von Sigma! 1. Vor dem Integral finden wir  aus mathematischen Gründen. Als Korrekturfaktor, der sich aus den mathematischen Eigenschaften der gewählten Funktion ergibt. Denn die sachliche Anforderung aus der Wahrscheinlichkeitstheorie war mathematisch nicht direkt zu erfüllen. 2. Im Integranden sehen wir  2 in seiner eigentlichen, sachlich begründeten Funktion, als Maß. Das gleichsam „in sich“ alle überhaupt auftretenden Abstandsquadrate enthält und deswegen als Maß für jedes einzelne Abstandsquadrat (x – )2 verwendet wird. Damit wir 2 im Integranden mit der sachlich gewünschten Wirkung verwenden können, müssen wir seine mathematische Nebenwirkung vor dem Integral wieder ausgleichen. So nebenbei haben wir als Nebenergebnis auch entdeckt, dass wir  2, weil es als Maß dient, auch als relative 1 lesen dürfen; ebenso haben wir durch (x – ) alle Werte auf  als relativen Nullpunkt bezogen.

162

Teil C

Wenn wir jetzt ausnutzen, dass mathematisch „natürlich“ sehr wohl

(

)

Beispiele

=

gilt, so können wir aus einer Menge X von Werten jedes beliebige x durch  und  2 umformen. Taufen wir die Größe einfach u, so können wir eine Tabelle erstellen, die alle interessanten Werte für 𝑃(−∞ < 𝑥 ≤ 𝑏) =

1 √2𝜋

𝑒

𝑑𝑥

enthält. Das entspricht dann einer Verteilung mit den beiden „neutralen“ Größen von  und  2, einem Mittelwert von 0, und einem Varianz / Standardabweichung von 1. In den „Formeln einer Ausstellung“ befand sich auch jenes Bild, das diese Geschichte erzählt. (

𝐹 𝑥|𝑁(𝜇, 𝜎 ) =

)/

1 √2𝜋

∙𝑒

/

𝑑𝑥 = 𝐹

𝑥−𝜇 |𝑁(0,1) 𝜎

Der Buchstabe N steht für die Normalverteilung. Dass im ersten Ausdruck  2 steht, und der letzte „nur“  ohne Quadrat enthält, das verstehen wir jetzt, nachdem wir die Formelgeschichte etwas näher kennengelernt haben. Ebenso ist der Zwischenschritt dieser Entwicklung in der Obergrenze des Integrals aus mathematischen Gründen allein nicht erklärbar. Denn erst, wenn wir die Sache verstehen und von daher auch sehen, dass mathematische Objekte erst angepasst werden müssen, können wir eine Formel wirklich lesen, und uns von der gedanklichen Leistung und der ästhetischen Form einer Formel einfach nur faszinieren lassen.

Literaturhinweise

Wer sein Verständnis für das Lesen von Formeln vertiefen möchte, findet Grundlegendes in entsprechenden Arbeiten zur Interpretation von Texten überhaupt. Denn es sind hier die gleichen grundlegenden Strukturen wirksam. Empfehlenswert:  

Eco U (1994), Einführung in die Semiotik, Wilhelm Fink Verlag, München Eco U (1995), Die Grenzen der Interpretation, Deutscher Taschenbuch Verlag, München

Es ist nicht erforderlich, spezielle Titel aus dem Bereich der Physik oder Wirtschaft anzuführen. Da gibt es sehr viele gute Bücher. Für den Bereich der Biologie sieht die Sache anders aus. Da ist einführend für Biologen, aber auch für Mediziner, zu empfehlen: 

Timischl W (1995) Biomathematik, Springer Verlag, Wien

Wer als Biologe noch weiter gehen möchte, findet reiches Material in 

Shonkwiler R, Herod J (2009) Mathematical Biology, Springer Verlag, New York

Nicht nur wegen seines exzellenten physikalisch-mathematischen Anhangs, sondern auch wegen seiner guten Einbindung von Formeln aus der Physiologie in den jeweiligen Sachzusammenhang für Mediziner: 

Silbernagl S, Despopoulos A (2001) Taschenatlas der Physiologie, Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Die faszinierend verschachtelte Formel aus dem Kapitel über Klammern stammt vom Begründer der modernen Kybernetik, und zwar aus 

Wiener N (1968) Kybernetik, Rowohlt, Hamburg

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Höfer, Das Formelleselernbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27139-8

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Literaturhinweise

Und viel Interessantes zur Geschichte der mathematischen Notation finden Sie in 

Cajori F (1993) A History of Mathematical Notations, Dover Publications, New York

Sehr viel lernen kann man natürlich von jenen Spezialisten, die Formeln konstruieren, bauen, zusammenstellen. Deshalb empfehle ich unbedingt die Beschäftigung mit dem Thema „mathematische Modellierung“ – und sei es auch nur ganz oberflächlich. Zwei Titel seien genannt, der erste ist mehr wirtschaftlich, der zweite mehr naturwissenschaftlich ausgerichtet: 



Eck Chr, Garcke H, Knabner P (2011) Mathematische Modellierung, Springer Verlag, Berlin Heidelberg Luderer B (Hrsg) (2008) Die Kunst des Modellierens, Springer Vieweg Verlag, Wiesbaden