Das erlebende Ich und sein Dasein [Reprint 2019 ed.]
 9783111493572, 9783111127224

Table of contents :
VORWORT
INHALT
I. DAS LEBENDE UND ERLEBENDE ICH
II. DAS ICH IN BEWUSSTSEIN UND DASEIN

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DAS E R L E B E N D E ICH UND SEIN DASEIN

DAS ERLEBENDE ICH UND SEIN DASEIN VON

P R O F . AN DER PÄD. AKADEMIE D O R T M U N D A. O . P R O F . AN DER UNIV. MÜNSTER I. W.

B E R L I N U N D L E I P Z I G 1932

W A L T E R DE G R U Y T E R & CO. V O R M A L S G . J. G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G — J. G U T T E N T A G , V E R L A G S B U C H H A N D L U N G — G E O R G REIMER — K A R L J. T R Ü B N E R — V E I T S C O M P .

ARCHIV-Nr. 420532

DRUCK VON J. J. AUGUSTIN IN GLÜCKSTADT UND HAMBURG

VORWORT Die folgende Untersuchung geht nicht darauf aus einen Beitrag zur phänomenologischen A n t h r o p o l o g i e der Gegenwart zu liefern. E s geht ihr nicht um die Vorkommnisse und Vollzüge einer p e r s o n a l e n Sphäre und damit um eine höhere Ebene der Ichbewandtnis, sondern um das, was diese Ebene überdacht und in ihrer Entfaltung unbesehen vorwegnimmt: um das Ich selber, seine zentrierende Funktion, seine bestandhaften und ideellen Verbindlichkeiten in einem „Felde" des Daseienden, um sein eigenes Dasein und die Frage seiner Existenz. An Hand pathologischer Zustände — wie solcher der Entfremdung, der Depersonalisation, der Alternation usw. — werden die hier allenthalben in Anspruch genommenen „Wesens"verhalte einer Kritik unterworfen und die Frage erwogen, ob sie nicht lediglich von spezifischen Organisationsformen „unterbauender" Wirklichkeit her bedingt sind und folglich unter anderen Voraussetzungen dieser Wirklichkeit auch anders geartet sein könnten. Es wird der Meinung entgegengetreten, als sei es möglich, der hier waltenden, vielgestaltigen und keineswegs bis zum letzten erschöpften Problematik von der Basis p e r s o n a l e r Bereiche her beizukommen und so die Begreiflichkeit eines Verhältnisses umzukehren, in dessen Spannungsweite das Personale nur eine späte und vermittelte Geltung beanspruchen dürfte.

INHALT I. D A S « L E B E N D E » UND « E R L E B E N D E » ICH 1. Die Aufnahme und Entfaltung des Ich Die Theorien der Einkreisung und die Inhaltlosigkeit des Ich. Die qualitativen Tinktionen des Ich. Der Gedanke seiner «Veränderung». 2. Über die Ichzugehörigkeit und Ichfremdheit und die Partizipation des Ich am Charakter des Leiblichen . . . . . . . Wesen und Kriterien der Zugehörigkeit und Fremdheit. Das Problem der räumlichen Orientierung des Ich. Vom Geltungsbereich der Partizipation.

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3. Die Entfremdung der Wahrnehmungs- und Gefühlswelt Fremdheit und Entfremdung der Wahrnehmungswelt. Die hierhin zielenden Theorien von K . Oesterreich und P. Schilder. Das Verlöschen des emotionalen «Widerhalls» und der Realitätseindruck. Die Hemmungen des Gefühlslebens. Das Entschwinden der Persönlichkeit.

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4. Die Schemata des «Lebens» und «Erlebens» Leben «in» etwas. Das Schema des *Er»-lebens. Seine vermeintliche Intentionalität. Die «Tiefe» des Erlebens. Die «Stofflichkeit» des Seelischen und der Sinn seiner «Dynamik».

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5. Die Lockerung der Wesensverfassungen des Ich und das Problem der Depersonalisation Die «Einmaligkeit» des Ich im Daseinsfelde. Die simultane und successive «Spaltung». Das vfremdeigene» Ich und die Zwangserscheinungen der Besessenheit. 6. Die Erfassung des fremden Seelenlebens Die vermeintliche Gegebenheit fremden Seelenlebens und die Theorie seines Zuganges. Widerhall und Ausdruck. Die «Entwicklung» des Ich und der Gedanke des subliminalen Seelenlebens.

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Inhalt

7. Die ideellen Tinktionen des lebenden Ich 109 Die Angewiesenheiten des Ich und ihre vermeintliche «Wesens»notwendigkeit. Das Ich als Urheber. Das in Gefühlen, Appetenzen, Stellungnahmen fungierende Ich. Das Ich in der Intentio. II. DAS ICH IN BEWUSSTSEIN UND DASEIN 1. Uber den Schematismus des intentionalen und relationalen «Bewußtseins von etwas» und das «Feld des Daseins» . . 122 Der Gedanke des ichterminierten Bewußtseins und die Kritik der intentionalen und relationalen Bewußtseinslehre. Die Ablösung des «Bewußtseins von etwas» und das Feld des Daseienden. 2. Die Ebenen der Ichbezeugung und die Schöpfung des Geistigen 145 Seele, Person, Mensch. Die Schöpfung «noetischer» und «emotionaler» Geistigkeit. 3. Die Bestimmtheitsentfaltung des Daseins und Soseins und der Sinn der „Existenz" 163 Wesen des Daseins und Abhebung der Existenz. Sosein und Dasein. 4. Vom Vorrange des Soseins 182 Sinn des Vorranges. Vom Terminus des Soseins. Das terminierende Ich. 5. Die Verirrungen des Seinsproblems in der «Hermeneutik» des «Daseins» 199 Die Verkennung des Daseins und die Fehlwege der Seinsinterpretation bei M. Heidegger. Das «In-der-Welt sein». Die ontologische Grundhaltung. Das «Mitdasein der Anderen». 6. Zur Metaphysik des Ich

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I. DAS LEBENDE UND ERLEBENDE ICH 1. D i e A u f n a h m e u n d E n t f a l t u n g d e s

Ich

In welchem Bereiche, sei es der Zuständlichkeiten oder Veränderungen, sei es der Appetenzen, Stellungnahmen oder Handlungen eines Daseinsfeldes, das seltsame Etwas, welches wir « I c h » nennen, auch immer betroffen werde, es ist d a s e i n e und unverkennbare Ich, w e l c h e s wir «in u n s » v o r f i n d e n und von dem wir, ohne damit schon theoretische Verbindlichkeiten eingehen zu wollen, bedeuten, daß es selber so etwas wie « D a s e i n » habe. Als Ich der « S e e l e » fungiert es inmitten eines auf dieses Ich hin orientierten und gewissermaßen in ihm zentrierten Verflechtungsgebildes, in welchem sich qualitative («bestandhafte») Besonderheiten und Gestalten in eine Fülle beziehentlicher und nur als ideell anzusprechender Bestimmtheiten unaufhebbar verstrickt finden. Als Ich der « P e r s o n » — einer «Person», die, unter Abhebung von der Seele, dennoch diese Seele «hinter» sich hat — gilt es als das Subjekt mannigfacher und auf Werterfüllung gerichteter Aktvollzüge. Als Ich des « M e n s c h e n » , der Seele und Person in einer Leiblichkeit bindet, wird es zum Urheber von H a n d l u n g e n , die sich in eine Raumwelt erstrecken und damit an der Wirklichkeit dieser Raumwelt teilhaben. In diesen Ebenen der Ichbezeugung, die keineswegs stufenweise und in durchsichtiger Gliederung aufeinander aufgebaut sind, sondern sich vielfältig berühren oder gar durchdringen, die aber dennoch ebensoviele Richtungen freigeben, in denen die Auslegung des Philosophen zu verfahren vermöchte, in diesen Ebenen waltet d a s e i n e u n d s e l b e , unaufhörlich nachweisbare I c h , ein Ich das weder «Seiten» seines Wesens kennt noch Umfangsbestimmungen zuläßt, die seine schließliche Reduktion und Denaturierung auf ein «reines», nur noch «logisch» oder «begrifflich» zu nennendes Ich ermöglichen. Ohne hier schon die Frage des D a s e i n s oder gar der E x i s t e n z des Ich zu berühren, sei einmal festgestellt: Mag immer das Ich, sei es nun als «lebendes» oder «erlebendes» und sofern es Dasein besitzt, durch Bestände unterlegt sein, die sein Dasein bedingen und die entweder selber dem Daseinsfelde angehören mögen, oder, darüber hinaus, bereits einer «Wirklichkeit» zuzumessen sind — d a s I c h w ä r e n i e m a l s d i e wie i m m e r zu v e r s t e h e n d e 1

Janssen

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I. Das lebende und erlebende Ich

ideelle oder nichtideelle B e s t i m m t h e i t eines E t w a s , das h i e r d u r c h d e n C h a r a k t e r e r h i e l t e e i n I c h z u s e i n . So mögen, einer Theorie zufolge, jeweils aktuelle, gefühls- oder stimmungsmäßige Zuständlichkeiten, oder gar ein spezifisches «Lebensgefühl» es sein, welche dem Ich zur «fundierenden» Voraussetzung seines Daseins u n d Soseins dienen, nie würden solche Zuständlichkeiten in die Lage geraten, das Ich auf sich zu nehmen, d. h. irgendwie v o n der «Bestimmtheit» betroffen sein, selber dieses Ich auszumachen. W a s solche Zuständlichkeiten auf das Ich hin 1 , dessen Dasein sie möglicher Weise bedingten, kenntlich machte, wäre, gemeinhin und sofern sie selber dem Daseinsfelde einwohnten, eine «Zugehörigkeit» zum Ich, der gemäß sie sich in einem sehr engen Sinne als «mein» bezeugten; aber was «mein» ist, ist niemals dieses I c h selber. Aus alledem wird sofort die Sinnlosigkeit des Anspruches ersichtlich, die darin liegt durch Zurechnung oder A b e r k e n n u n g v o n Beständen die vermeintlich das Ich ausmachen sollen, es in der Weise näherer oder entfernterer F ü h r u n g seiner Grenzlinien einzukreisen; denn solche Einkreisung würde nur die engeren oder weiteren Umlagerungen des «Mein», niemals aber das I c h a l s s o l c h e s betreffen. A u f Grund verschiedenartiger Bezugnahmen zum Ich, die ein Mannigfaltiges ideeller Verbindlichkeiten vermittelte, lassen sich Zonen der Ichbewandtnis abgrenzen, deren Inhalte j e einen gemeinsamen Sinn des «Mein», — sei es in der Weise engster Ichzugehörigkeit, bloßer Abhängigkeit v o m Ich oder gar eines puren «Gegenüber» zu ihm — , rechtfertigen. A b e r niemals würde das Ich selber solche Aichungen eines «Umfanges» dulden, denn a l s s o l c h e s , u n d in Absehung dessen, was «sein» wäre, wehrte es den Anspruch der Enge oder Weite von sich ab. Der Gedanke einer wenn auch nur begrifflich vorzunehmenden Umfangsregulierung, etwa im Sinne eines «psychophysischen» oder «psychischen» Ich, oder auch schlechthin gesagt einer «Sphäre» des Ich, aus der es ein «Heraus», oder in die es ein «Hinein» gäbe, wäre in Strenge genommen absurd. E s bedarf k a u m eines Hinweises, daß damit auch die Theorien hinfällig werden, die v o n einer Zusammensetzung und inneren Vielheit des Ich reden möchten, indem sie die vermeintlichen «Elemente» solcher Zusammensetzung dem Bereiche des i m engsten Sinne «mein» zu Nennenden, entnehmen, oder nur des Glaubens sind eine s p e z i f i s c h e Zuständlichkeit, wie etwa die eines «Lebensgefühls», müsse die Eigenart des Ich ausmachen. D e n n ungeachtet dessen, d a ß 1 Wobei wir nicht ausschließen möchten, daß noch andere, dem Daseinsfelde einwohnende und das Ich bedingende Momente aufgewiesen würden, die darum noch nicht in die Bestimmtheit des «Mein» eingingen.

1. Die Aufnahme und Entfaltung des Ich

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alle jene Verfassungen, so «tief» sie auch im Ich wurzeln mögen, doch beinahe ohne Ausnahme die gewisse Distanz des bloßen «Mein» innehalten, vermöchten wir uns einfach nicht vorzustellen, wie etwa Gefühle, Appetenzen, Stellungnahmen je die Funktion auf sich nähmen, nicht etwa nur dieses Ich, — d e s s e n Gefühle sie im Sinne des «mein» wären —, zur unaufhebbaren Ergänzung ihrer selbst zu fordern, sondern selber dieses Ich zu sein und sich zu einer Verfassung zu konstituieren, die dem Wesensverhalt jener Bestände eine neue und unvergleichliche Instanz mitteilte. Träte doch im Charakter des Ich, so wie es sich gleichförmig und terminierend in Habe und Stellungnahme, in Zuständlichkeit und Handlung bekundete, etwas zutage, woran auch nur der Versuch einer emotionalen oder appetitiven Deutung nicht im entferntesten zu rühren vermöchte. — Damit aber erledigte sich auch der Gedanke, als sei das Ich zwar nach Art emotionaler Besonderungen oder auch deren Verflechtung auszulegen, allein man müsse hinzufügen, es gehöre zum «Wesen» dieser Besonderungen unter keinen Umständen in der Bewandtnis, wie in der Distanz des «Mein» zu stehen und sich an ein ihm vorgeordnetes Etwas in der Weise der «Zugehörigkeit» zu binden. Denn wenn man auch die Möglichkeit dieser Wendung zugeben wollte, eines bliebe doch mit ihrer Annahme übersehen, nämlich, daß im Charakter der I c h h e i t etwas offenbar wird, was sich weder in einem Gefühl, noch in einer Stellungnahme, — rein auf ihr Sosein hin betrachtet und unter Ausschluß jeder Tinktion des «Mein» — im mindesten vorgesehen oder auch nur vorbereitet fände. Wer folglich das Ich als eine Weise des Gefühls- oder Stimmungsmäßigen, der Stellungnahme usw., namhaft zu machen versuchte, der müßte diese Termini ihres geläufigen Sinngehaltes entkleiden und etwas an ihre Stelle setzen, was zum wenigsten durch ein Moment, nämlich die Ichheit selber, vom Sinne jener Zuständlichkeiten und Haltungen grundsätzlich und entschieden abrückte. Die seltsame Inhaltlosigkeit — man möchte sagen «Unstofflichkeit» — des Ich könnte uns den Gedanken eingeben, als sei das Ich in der Weise einer bloßen I d e a l i t ä t aufzunehmen und zu beschreiben. Nicht einer solchen Idealität, die wie das sogenannte «reine» oder «erkenntnistheoretische» Ich angeblich im bloßen « B e g r i f f e » seiner Geltung gelegen bliebe, sondern in der Weise eines Ideellen, das — sui generis freilich — in der Bestimmtheit seines D a s e i n s anzutreffen wäre: eines Daseins gewiß, das nicht in unbegreiflicher Selbständigkeit stünde, sondern unabänderlich fundiert bliebe durch Bestände, die solche Funktion noch diesseits der Funktion ihrer Ichzugehörigkeit im «Mein», bekundeten. Allein, so gewiß es auch ist, daß jegliche Ichheit, wie bald zu bereden sein 1*

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I. Das lebende und erlebende Ich

wird, mit sehr eigentümlichen und nur als ideell zu verstehenden Bestimmtheitsweisen aufwartet, gibt es doch eine Reihe von Instanzen, welche die pure Idealität des «daseienden» («lebenden» oder «erlebenden») Ich auszuschließen scheinen. Hierhin gehörte einmal eine sehr merkwürdige Steigerung oder Auftreibung, die das Ich in den Lebensweisen des Stolzes, der Selbstgefälligkeit, der Verachtung usw. erfährt und dem entgegen eine Art E i n e n g u n g , A b s c h w ä c h u n g , V e r k l e i n e r u n g , die es etwa in der V e r z a g t h e i t , der E n t m u t i g u n g , der S c h a m erleiden könnte. Man erwidere nicht, daß es sich lediglich hier um die Verfassungen engster Bereiche des «Mein» oder um eine noch vom Ich abzuhebende Zone des «Selbst» handele, die hier betroffen werde; nein, das «lebende» oder «erlebende» Ich, dieses gewisse letzte, zentrierende Etwas, das sich in Daseinsbestimmtheit ausweist, ist ganz offensichtlich selber in jene Dimension der «Stärke» oder «Schwäche», des Auftriebs oder der Verkümmerung eingegangen. Dessen versicherte uns der einfältigste Erlebnisbesitz und wäre unter keinen Umständen aus ihm herauszureden. Man denke weiter etwa an L o c k u n g und Z w a n g , die unzweifelhaft an das I c h s e l b s t rühren und es erlebensmäßig in ihren Bann ziehen, oder an die höchst merkwürdige « U r - h e b e r s c h a f t » des Ich, die es in seinen auf willentlicher Stellungnahme beruhenden Inszenierungen bezeugt und die nichts mit seiner möglichen « U r - s ä c h l i c h k e i t » zu schaffen hätte. Man denke ferner an die durchaus erlebniswahren Bekenntnisse, nach denen etwa ein Gefühl das Ich «in d e r T i e f e » rühre, es errege und fortreiße oder nur an der «Oberfläche» bleibe, oder an die ihrem expliziten Charakter noch zu wenig gewürdigte Antithese des Ichzugehörigen und Ichfremden, die keineswegs im Sinne einer l e d i g l i c h i d e e l l e n , räumlichen oder unräumlichen Distanzierung zu verstehen wäre. Und nicht minder ist dieses «wahrnehmende», «fühlende», «wollende» Ich, welches ich selbst bin, ein Ich in der Zeit; das heißt: es hat die Tinktion alles dessen, was «zeitlich» ist, «in» dieser Zeit — vorerst einer Zeit des Daseinsfeldes und seiner Bestände, nicht aber der Wirklichkeit — «dahinzufließen». Daß dieses Ich einmal « w a r » , ist ebenso sinnvoll wie, daß es « j e t z t » ist, und wiederum, daß es sein « w i r d » , gleichviel, ob es sich in bloßer Passivität, oder als Urheber von Handlungen bezeuge, die selber «in» der Zeit hingehen. Viel umstritten hingegen ist die F r a g e seiner etwaigen Veränderlichkeit und hier gilt es zuvor eine Reihe unmöglicher Deutungen zu berichtigen: Wer von der einzig möglichen Einsicht ausgeht, nach welcher die Identität eines Etwas eben nur d i e s meine, daß es es s e l b e r und folglich k e i n z w e i t e s ihm gleiches oder auch von ihm verschie-

1. Die Aufnahme und Entfaltung des Ich

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denes sei, der wird keinen Sinn in der Behauptung finden, das Ich könne in der Zeit «identisch» oder auch «nicht-identisch b l e i b e n » . Ein Etwas i s t identisch, so wie sein Bleiben oder auch mögliches Anderswerden in der Zeit, identisch ist, aber die Identität eines Bleibenden oder Nichtbleibenden, bzw. des Bleibens oder Nichtbleibens selber meint unter keinen Umständen ein Bleiben oder Nichtbleiben der I d e n t i t ä t , wie denn auch die nur gedanklich erwogene Möglichkeit ein Etwas könne möglicher Weise «nicht identisch bleiben», die volle Unsinnigkeit des Anspruches enthüllte. Das in d e r Z e i t b l e i b e n d e o d e r a u c h s i c h v e r ä n d e r n d e E t w a s bezeugt nicht seine I d e n t i t ä t o d e r N i c h t i d e n t i t ä t in d i e s e r Z e i t , sondern — völlig abgelegen vom Sinne der Identität — eine sehr merkwürdige Geltung der Bestimmtheiten des Gleichen und Verschiedenen auf die Zeitlichkeit eines Einen, das im kontinuierlichen Fortgange s e i n e s Bleibens oder s e i n e r Veränderung, « e b e n s o » b l e i b t , oder « a n d e r s » w i r d , als es vorher war. Ein zweites viel bedeutsameres Gefahrenmoment betrifft den Sinn der « V e r ä n d e r u n g » . Zu jedem kontinuierlichen Anderswerden eines Etwas gehört dies, daß ein Etwas sei, das im Wandel s e i n e r Veränderung «anders» werde. Das heißt: Das numerische Eines-sein eines Etwas stellt die ideelle Voraussetzung s e i n e r Veränderung, d. h. s e i n e s möglichen Anderswerdens insofern dar, als es nie im Sinne der Veränderung dieses Etwas liegen könnte sich «zu» e i n e m Z w e i t e n o d e r A n d e r e n zu v e r ä n d e r n . Hierbei ist es d a s s i c h v e r ä n d e r n d e E t w a s s e l b e r , das — als ein sich veränderndes — in der Bestimmtheit e i n e s zu sein begriffen ist; es wäre folglich nicht erlaubt zu meinen: die ideelle und aller Veränderung wesenhafte Bestimmtheit des Einessein müsse allemal besetzt sein von einer Qualität, einem Bestände usw., die — etwa als Teilgehalte des sich Verändernden — die Veränderung «überdauerten» und daher a n s i c h s e l b e r der Veränderung überhoben seien. Würde doch solche Auslegung den unsinnigen Versuch in sich bergen das seltsame Eines-sein des sich Verändernden dadurch zu «erklären», daß man versuchte ihm in etwa den Sinn der veränderungslosen D a u e r , d. h. des puren B l e i b e n s aufzupfropfen. Denn selbst wenn es zuträfe, daß jegliche Veränderung, die ein Etwas erführe, zugleich eine Hinsicht seines Überdauerns zu unaufhebbarer Bedingung forderte, so wäre doch jenes Eines-sein eben nicht die Bestimmtheit d e s Ü b e r d a u e r n d e n , sondern d e s s e n , w a s sich veränderte, d. h. der Veränderung anheimfiele. Allein die Geltungssphäre e i g e n t l i c h e r Veränderung ist über das Bereich des Quantitativen hinaus und entgegen der vielseitigen

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I . Das lebende und erlebende Ich

Verwendung des Terminus außerordentlich beschränkt, j a , es fragte sich, ob von einer Veränderung des Qualitativen in einer anderen Hinsicht, als in derjenigen seiner «Intensität» — hier aber gewiß in den mannigfachen Dimensionen seiner «Stärke», qualitativen «Fülle», «Sättigung», «Helligkeit» usw. — überhaupt die Rede sein dürfte. Die e i n e Qualität, z. B . eine Farbe, «verändert» sich nicht «in» eine noch so nahe benachbarte Qualität derselben Gattung, sondern nimmt sie in der Weise eines im Kontinuum des « F a r b i g e n » vermittelten bloßen « U b e r g a n g e s » und sicher auch unterstützt durch die Kontinuität eigentlicher, aber wiederum nur in einer Dimension des «Intensiven» verbleibender Veränderungen zu sich herüber. Das vermochten wir an anderer Stelle ausführlich darzutun 1 : der «kontinuierliche Ubergang» eines Etwas zu e t w a s liegt nicht in der Richtung einer Kontinuität, in der es — nach Maßgabe der Veränderung — e i n e s im Wandel s e i n e s Andersseins wäre. Treten wir mit diesen, vorerst rein formalen, Einsichten vor das in uns «lebende Ich», welches wir selbst sind hin, so werden wir, noch ohne es näher bestimmt zu haben, versichern dürfen, daß es in seinem letzten Gehalte keinen Wandel seines Andersseins in einer V e r ä n d e r u n g erfahre. Daß dies Ich, welches ich selbst bin, und in e b e n s e i n e r I c h h a f t i g k e i t sich zu etwas, das, dem Sinne der Veränderung gemäß, immer noch dieses e i n e sein müßte, veränderte, erschiene uns im tiefsten Grunde sinnlos, wenn wir auch weit davon entfernt sind zu behaupten, daß solche Veränderung außer dem Bereiche des M ö g l i c h e n läge. Und hier fügen wir, kommende Erwägungen vorausnehmend, hinzu, daß die pathologischen Störungen der Ichhaftigkeit — wie etwa in der Depersonalisation, der Alternation, der Besessenheit usw. — auch dann keine eigentliche V e r ä n d e r u n g des Ich erweisen würden, wenn es sich, entgegen unserer heutigen Auffassung, herausstellte, daß tatsächlich das I c h dahinginge, oder einem «andern» allmählich seine Stelle einräumte; denn auch hier handelte es sich im günstigsten Falle entweder um einen durch unbekannte Kontinuitäten unterbauten «Ubergang» oder, wenn auch dies durch die Wesensnatur des Ich verwehrt sein sollte, um einen bloßen und unübergänglichen W e c h sel und damit um die pure Ablösung, die ein Eines durch ein Anderes erfahren könnte. Und dennoch verändert sich das Ich, wenn auch nur im Hinblick auf die vorhin genannten und sehr merkwürdigen, ihm nur allein zukommenden Dimensionen s e i n e r «Intensität». Wenn ich, im Zustande der Depression befindlich, 1 Man vergleiche hierzu des V f s « Vorstudien zur Metaphysik» Bd. II S. 59ff. die grundlegenden Betrachtungen zum Begriff der Veränderung in Bd. I S. 31 f f .

und

1. Die Aufnahme und Entfaltung des Ich

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durch eine mir höchst angenehme Nachricht aufgeheitert j a im tiefsten beglückt werde, so ist es gewiß nicht das Ich selber und in seinem innersten Kerne, das im Sinne der Veränderung «anders» wird, und dennoch ä n d e r t es sich im Hinblick auf etwas, was s e i n e Intensität und nicht etwa die Intensität eines ihm im Sinne des «Mein» Zugehörigen ausmachte: es hebt sich aus der bekümmernden Enge der Depression in eine Ebene beglückender Höhe und Weite hinauf und vermag so eine merkwürdige aber unzweifelhafte S t e i g e r u n g s e i n e r s e l b s t zu erfahren. Andere Dimensionen möglicher «Intensitäts»änderung würde das Ich in S p a n n u n g und E r r e g u n g bezeugen. Sie alle vermitteln, trotz oder vielleicht wegen ihrer in etwa nur «formalen» Natur, wie wir noch sehen werden, das, was man «Lebendig»-sein des einen und in qualitativer Hinsicht unberührbaren Ich «in» seinen gefühlsmäßigen, wünsch- und willensmäßigen Zugehörigkeiten nennen dürfte, Zugehörigkeiten, die durch die Tinktion des «Mein» immer noch in einer gewissen Distanz zu ihm stehen und jedenfalls nicht mit ihm zu identifizieren sind. Denn dem haben wir soeben Ausdruck gegeben und vermöchten es auch im einzelnen zu belegen, daß, wenn wir Verfassungen gefühlshafter Art, wie etwa die des Unwohlseins, oder des Mißmutes, des Frohsinns oder der Begeisterung mit dem Terminus des «ich bin» auszudrücken pflegen, sie dennoch von diesem Ichcharakter nicht in der Weise der I n h a l t l i c h k e i t b e s e t z t sein dürften, sondern in einer gewissen, durch die Qualität der Verfassung anzugebenden «Entfernung» von ihm verharren, so sehr sie auch sonst in der Lage sein mögen dies Ich — und zwar zufolge jener ihm so eigenartig zukommenden « I n t e n s i t ä t e n » — einzuengen oder auch zu erregen, zu dämpfen oder fortzureißen —. Ich b i n mißmutig oder froh, das will — h i e r ü b e r d e n b l o ß e n C h a r a k t e r d e r I c h z u g e h ö r i g k e i t h i n a u s — besagen, daß das Ich am Mißmut oder an der Freude, d e s s e n Mißmut oder Freude sie sind, in einer unvergleichlichen Hinsicht seines So- oder Andersseins «teilhabe». Nicht eines So- oder Andersseins, das die « Q u a l i t ä t » des I c h und seiner möglichen Veränderungen und Umgeltungen in Betracht zöge oder nur ziehen könnte — denn es überdauerte schlechthin die Änderung oder den Ubergang seiner emotionalen Verfassungen und wäre zudem in der Hinsicht seines qualitativen Andersseins überhaupt unausdenkbar — sondern lediglich in der Weise seines M i t e r g r i f f e n - oder M i t e r r e g t s e i n s . Und alle diese, offenbar vielfältigen Richtungen seiner «Intensität» sind es, welche die Rede rechtfertigen: das Ich sei «in» seinen gefühlsmäßigen Zuständlichkeiten, Appetenzen, Stellungnahmen usw., erregt oder « l e b e n d i g » .

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I. Das lebende und erlebende Ich

Der Sinngehalt einer V e r ä n d e r u n g meiner selbst schlechthin — sei es in der Weise eigentlicher Veränderung, sei es in der unechten Weise eines i m K o n t i n u u m v e r m i t t e l t e n « Ü b e r g a n g e s » — betrifft somit in Wahrheit eine wie immer zu umzirkelnde Zone des «Mein», und mit ihr, und noch tiefer vielleicht, eine Zone des nicht mehr e i g e n t l i c h «mein» zu Nennenden, das, als aufweisbarer und dennoch aufs schwerste abzuhebender Bestand, den Charakter des Ich unterbaut oder ihm zur Basis dient, während das Ich selber nur jene erwähnten, wenn auch gewiß mehrdimensionalen, formalen und peripheren Änderungen seines «Ergriffenseins» zu erfahren vermöchte. Was in der Beschreibung nachweisbar ist, wenn ich feststellen muß, ich sei «anders» geworden, das ist dies, daß ich — oft ziemlich isoliert und durchaus nicht immer in Ganzheiten gebunden — mich «anders» fühle als vorher, «anders» begehre und wünsche, aber auch «anders» vorstelle und denke als es bis dahin geschah. Aber es kann auch gemeint sein, daß, noch d i e s s e i t s jener Zugehörigkeiten und zugehörenden Verhaltungen meiner selbst, eine — vielleicht nur gefühlshaft zu verstehende — B a s i s des Ich betroffen werde, eine Basis, die, wie gesagt, noch im Daseinsfelde aufweisbar wäre und die eine besonnene Einkehr auch abzuheben vermöchte. Allein der Gedanke e i n e r Ä n d e r u n g m e i n e r s e l b s t ließe sich nicht an dem genügen, was evident aufweisbar ist, sondern er suchte auf einen Urgrund zurückzugehen, in welchem die «Kräfte» solcher Änderung wurzeln und aus dem sie sich stetig erneuern sollen. Und hier wird das daseiende Ich als solches, zufolge einer etwas einfältigen und freilich schon echt metaphysischen Überlegung, zu einer bloßen Überkuppelung verborgener und gleichwohl immer noch als i c h h a f t angesehener «Tiefen», aus denen die Zugehörigkeiten und damit die engeren Kreisbestände des «Mein» in die Verfassung ihres Daseins hinaustreten und aus dem sie die Möglichkeit ihrer «Veränderung» empfingen 1 . Theoretisch endlich ließe sich sagen, daß w e n n von einer Veränderung des Ich — und sei es lediglich in der Dimension seiner seltsamen «Intensitäten» — die Rede sein dürfte, damit auch die Rede von einer «Substanzialität» des Ich hingehen könnte. Einzig in jenem i d e e l l e n Sinne freilich, nach welchem jegliches sich Verändernde, E i n e s (nicht etwa «identisch») im Wandel s e i n e s möglichen Andersseins zu nennen wäre, nicht aber in dem weiteren Sinne, der solche «Sub1 Daß diese ganze Auffassung irrtümlich sei, daß die metaphysischen Untergründe des Ich schwerlich noch ichhaft genannt werden dürften, und daß andererseits die vermeintlichen und wie immer zu verstehenden «Tiefen» des Ich nicht als Tiefen der «Wirklichkeit» anzusprechen seien, haben wir an anderer Stelle nachzuweisen versucht. Siehe Bd. II unserer «Vorstudien», S. 409ff., 258ff.

1. Die Aufnahme und Entfaltung des Ich

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stanzialität» auf das Eines-sein einer körperlichen oder auch unkörperlichen D i n g h a f t i g k e i t verpflichtete. Ausdrücklich nur weisen wir jede Erklärung ab, die das Ich als eben das Moment aufnehmen möchte, in welchem der Wandel der Intentionen, der Appetenzen und Stellungnahmen e i n e s s e i , oder, in Verkennung der gültigen ideellen Verhältnisse, eines — oder gar «identisch» — «bliebe». Denn nicht nur, daß es in solcher Deutung keineswegs um das Eines-sein des I c h s e l b e r ginge, es hieße auch den eigentümlichen Charakter des Ich völlig und von Grund aus verfehlen, wollte man ihn in einem Umstände suchen, den es mit jedem, s e i n e r Veränderung oder s e i n e m Anderssein unterliegenden E t w a s teilte. Das «Wesen» des Ich wäre nur in der unvergleichlichen Tinktion seines «Wer»-seins, der Einzigkeit usw., und in keiner anderen Richtung, anzutreffen. Mit alledem fiele auch der Gedanke, als sammele das Ich in der Gegenwart, als in der Zeit seines Daseins, «Erlebnisse» auf, um sie — dem rollenden Schneeball vergleichbar, der die Materie aufnimmt und mitführt, die er berührt — sich selber gleichsam bereichernd der Zukunft entgegen zu tragen. Denn auch hier wäre es keineswegs das in der Verfassung seines Daseins vorfindliche I c h , w e l c h e s sich bereicherte und damit eine Änderung seines «Umfanges» oder «Inhaltes», — als eines Inhaltes seiner Ichhaftigkeit —, zu erfahren vermöchte. Und so ist auch schon eine vulgäre Metaphysik zu der Annahme bereit, daß nicht das daseinende Ich, wohl aber, seine immer n o c h i c h h a f t v e r s t a n d e n e n , subliminalen «Tiefen» die Funktion des Sammeins und Einbehaltens übernähmen und somit die «Ursachen» beherbergten, aus denen ich, zufolge der aufgenommenen «Erlebnisse», dauernd oder vorübergehend so fühlte, mich so verhielte. Indessen weiß die schlichte Entfaltung der Sachlage vorerst nichts von solchen «Tiefen»; sie registriert Veränderungen und Übergänge in der engeren und engsten Zone des «Mein» und sucht ihre Abhängigkeit von vorgängigen Verfassungen und Haltungen meiner selbst sicher zu stellen. Mehr als den bloßen H i n w e i s darauf aber vermag sie nicht zu erbringen, daß unter diesem zeitlichen Sooder Anderssein meiner Zuständlichkeit und meines Verhaltens noch ein Unbekanntes und Anderes — gleichviel welcher Art es sei — einhergehe, welches den wahren Grund der Wandlungen ausmache, in denen wir «leben» und die vielleicht als die äußersten Auftreibungen dieses Unbekannten in die Daseinsverfassung eintreten. Aus dem Vorhergehenden wird Eines ersichtlich: Eine Charakteristik, welche lediglich die ideellen Eigentümlichkeiten des Ich hervorzukehren versuchte, würde unter keinen Umständen seiner Eigenart Genüge tun; denn das Ich bezeugte Seiten seines Wesens,

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I. Das lebende u n d erlebende Ich

die wir unbedenklich dem « Q u a l i t a t i v e n » zurechnen dürften. Und dennoch wäre das Ich nie und nimmer eine «Qualität» zu nennen, denn mit diesem Terminus würden wir gerade dasjenige Moment verfehlen, das keiner der uns geläufigen Qualitäten — seien sie im Ichfremden oder Ichzugehörigen, «seelisch» zu nennenden, gelegen — zu eigen wäre, nämlich, nicht etwa nur im Ich zu wurzeln, oder auch ihm «gegenüber» zu sein usw., sondern die Ichhaftigkeit als etwas ihnen Zukommendes in sich zu bergen und damit selber ein Ich auszumachen. Ungeachtet seiner i d e e l l e n und sehr bald zu beredenden Bestimmtheitsbesonderungen und nicht weniger ungeachtet seiner gewissen q u a l i t a t i v e n Tinktion offenbart das daseiende Ich, in eben dem Charakter seiner I c h h e i t , ein letztes und unauflösbares Moment, an dem die Versuche einer bestandhaft qualitativen, wie die einer ideellen Aufklärung zunichte würden 1 . Kein besseres Los wäre endlich der Auffassung beschieden, als sei das Ich im Sinne einer «Gestalt» zu verstehen, einer «Gestalt», die über einer Mannigfaltigkeit «unterbauender» und bei angemessener Einstellung selber in die Gegebenheit fallender Bestände — vornehmlich wiederum des Gefühlsmäßigen und Appetitiven — zur Abhebung gelangte. Denn auch hier wird man mit Recht fragen, wieso es komme, daß diese «Gestalt», entgegen allem Brauche ichfremder oder auch seelischer «Gestalten», des so ganz und gar unvergleichlichen Charakters des W e r teilhaftig werde, oder auch, wie diese «Gestalt» es anfange etwa eine Handlung zu vollziehen oder auch etwas im Sinne des «Mein» zu «haben» oder zu besitzen. Und es wäre noch nicht einmal ausgemacht, ob überhaupt eine «seel i s c h e » Fundierung des Ich darzutun oder nur wahrscheinlich zu machen sei, und — falls eine solche Fundierung bestehe — wieso es komme, daß das Ich von den doch so mannigfachen und inhomogenen Verschiebungen der Fundierungsebene im wesentlichen unberührt bleibe. Nein, selbst wenn eine Fundierung des Ich bestünde — und es wird später noch darüber zu reden sein — würde sie der «Gestalts»auffassung des Ich noch kein Argument hinzutragen. Mit einer Definition bzw. einer definitorischen «Zurückführung» des Ich ist es nichts. Und wenn wir nur meinen wollten, das Ich sei ein Z e n t r u m aller, in einem weiten Sinne «seelisch» zu nennender, 1 Man könnte zur Illustrierung der qualitativen bzw. ideellen Indifferenz des Ich die entsprechende Indifferenz einer im übrigen natürlich weit entfernten Instanz heranziehen, nämlich die des Wertes. Auch der Wert und im besonderen, soweit er ein gegebener oder daseiender Wert ist, d. h. als Wertbestimmtheit von etwas im Felde des Daseins aufgewiesen wird, ermöglicht Hinsichten seiner qualitativen und ideellen Charakterisierung. Und dennoch bleibt auch hier ein letzter und unauflöslicher Rest, an dem alle vom Qualitativen (vBestandhaften») oder Ideellen aus unternommenen Deutungsversuche zerbrechen.

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Zuständlichkeiten und Haltungen, so würde doch eine solche Deutung nicht viel besagen. Z e n t r u m ist einmal räumliche und geometrische Mitte, Z e n t r u m ist weiter Mittelpunkt und gemeinsamer Ausgang der «Kräfte» in einer Welt der unlebendigen Dinge, ist ferner der, wie immer verstandene «substantielle Kern» aller möglichen Eigenschaften und Beziehungen, die ihm angehören. Als Zentrum aber kann auch die disponierende und an ein Organ gebundene «Mitte» zielstrebiger, wenn auch vielleicht nicht zielb e w u ß t e r Vorgänge und Veränderungen hingehen, die unter der Geltung einer Lebenspotenz stehen. Allein in keiner dieser Deutungen wäre schon im mindesten Bezug genommen auf das, was das eine oder andere dieser Zentren zum daseienden I c h machte, nämlich die I c h h e i t selber, das heißt dieß, daß ich es bin, dieses gewisse seltsame I c h , oder «Wer», das Stimmungen und Gefühle «sein» eigen nennt, das in Haltungen eingeht und Handlungen «äußerer» oder «innerer» Art in Szene setzt. Wer das Ich als die bloße Mitte oder das Zentrum seiner ihm «zugehörenden» seelischen Verfassungen erklären wollte, hätte von dem unvergleichlichen Charakter des Ich noch nichts verstanden. Und viel mehr werden wir zur Umschreibung dessen, was das evident aufzuweisende Ich seinem «Wesen» nach sei nicht vorzubringen vermögen. Gefühle und Stimmungen beispielsweise sind solche eines Etwas, d e s s e n Gefühle und Stimmungen sie sind. Aber gerade darin besteht die Eigentümlichkeit dieses, vor allen irgend denkbaren übrigen ausgezeichneten Etwas, daß es ein I c h ist, und ferner darin, daß es jene Zuständlichkeiten nicht ebenso «hat» oder «besitzt», wie ein beliebiges Etwas d a s besitzt, was s e i n e Eigenschaften, Inhaltlichkeiten oder dergleichen ausmachte, sondern in der völlig unvergleichlichen, nie wiederkehrenden Weise, in welcher Stimmungen und Gefühle ihm z u g e h ö r e n , im Sinne des «Mein», s e i n e Gefühle sind. Eben darin, daß die Gefühle solche eines Wer und nicht eines W a s sind, hebt sich, mit der Eigenart des H a b e n d e n , auch die des H a b e n s heraus, eines Habens, für das wir nirgends die Spur eines Vergleiches finden. Und weiter: wenn ich nach dem E t w a s frage, das etwas t u t oder b e g e h t und damit vollzieht, was wir eine «Handlung» nennen, so wäre damit nicht ein b e l i e b i g e s Etwas gemeint, das in einem Vorgange oder einer Veränderung begriffen wäre, oder nur als die «Ursache» eines solchen Vorganges figurierte, sondern wiederum ein unvergleichliches Etwas: ein Wer oder I c h , das eben mit s e i n e m Tun oder Begehen und weiter zufolge seiner ichhaften Stellungnahme, den Vorgang zur H a n d l u n g machte u n d d a d u r c h in d i e u n v e r g l e i c h l i c h e u n d v o n aller Ursächlichkeit abgelegene Position des «Ur-

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h e b e r s » r ü c k t e . J a , m a n d ü r f t e noch die engere Unterscheidung zulassen, nach der e i n m a l das Ich im H a n d e l n oder B e g e h e n figurierte — u n d das könnte immer n u r u n d ausschließlich in der Weise jener seltsamen « U r - h e b e r s c h a f t » des Ich, als des W e r , d e r handelt oder begeht, geschehen — u n d die andere Weise, der gemäß es — noch fern von jeglicher U r h e b e r s c h a f t — in einen bloßen Vorgang oder in ein ur-„sächliches" Verhältnis eingelassen erschiene. D a ß Letzteres n u r auf Grund der Q u a s i Veränderungen des Ich zu geschehen vermöchte, h a b e n wir gesehen. So ist im echten Triebvorgange, der längst keine H a n d l u n g mehr ist, das Ich zufolge des seltsamen Zwanges, den es an sich e r f ä h r t u n d ohne sich etwa zur Urheberschaft «ermannen» zu können, m i t in den Triebverlauf gleichsam hinemgerissen, u n d so k a n n andererseits das Ich — freilich nur wieder im H i n b l i c k auf seine der V e r ä n d e r u n g f ä h i g e n U n m i t t e l b a r k e i t e n , d. h. nicht im Hinblick auf seine k e r n h a f t e N a t u r , u n d auch diesmal f e r n a b von jeder «Urheberschaft» — im Ganzen einer «Ursache» oder «Wirkung» figurieren, indem etwa solche Quasiveränderungen des Ich weitere Veränderungen in einem Anderen u n d Zweiten «erwirken», oder selber von diesen «erwirkt» werden. Die Urheberschaft des I c h in der H a n d l u n g n ä h m e dagegen, wie der T a t b e s t a n d ohne weiteres zeigt, — u n d wie es andererseits i m Falle der U r s ä c h l i c h k e i t sein m ü ß t e — die mögliche V e r ä n d e r u n g seiner selbst, bzw. seiner seltsamen Intensitäten u n t e r keinen U m s t ä n d e n zur Vorbedingung. Die A n n a h m e einer Ursächlichkeit des Ich in der H a n d l u n g , würde den Sinn des hier waltenden Verhältnisses, das ein Verhältnis des T u n s oder H a n d e l n s u n d d a m i t eben der U r - h e b e r s c h a f t besagt, v o n Grund aus zerstören. Ließe m a n dem Ich ein Nicht-Ich entsprechen, so bliebe zu bedenken, d a ß man, so wenig m a n gewisse Bestände der Seele, wie etwa perennierende Gefühle, als v o m Ich besetzt oder das Ich ausmachend beglaubigen d ü r f t e , so wenig auch ein beliebiges «außer«seelisches E t w a s im analogen Sinne als N i c h t - I c h anzusehen sei. Meine H a n d oder das H a u s da draußen, wären daher in diesem Sinne ebenso wenig als N i c h t - i c h zu bezeichnen, wie ich andererseits etwa meine Gefühle u n d S t i m m u n g e n oder auch ein spezifisches Lebensgefühl, selber als Ich oder n u r als Träger der Ichheit, aufnehmen d ü r f t e . Vielmehr bezeichnete der Terminus N i c h t - I c h in einem strengen Sinne u n d unseren A u s f ü h r u n g e n gemäß alles, was dieses Ich nicht i s t u n d zwar dieses Ich r e i n i m C h a r a k t e r s e i n e r I c h h a f t i g k e i t besehen u n d u n t e r Absehung v o n allem, was eine fehlgehende I n t e r p r e t a t i o n als I n h a l t , Träger, Besetztheit des Ich zu reklamieren versuchte. E t w a s ganz anderes besagte es

2. Über die Ichzugehörigkeit und Ichfremdheit

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freilich, wenn wir das Haus i n s o f e r n als ein Nicht-Ich bezeichneten, als es auch nur einem der vielfältigen und durch sehr verschiedene Bestimmtheitskriterien fixierten Kreise des «Mein» entrückt bliebe. Aber solche Erweiterung durch die Kreise des «Mein» wäre dem Sinn der Ichhaftigkeit durchaus zuwider und dürfte hier unter keinen Umständen in Frage kommen. 2. Ü b e r die I c h z u g e h ö r i g k e i t u n d I c h f r e m d h e i t und d i e P a r t i z i p a t i o n des Ich am C h a r a k t e r des L e i b l i c h e n Doch hier fesselt uns zunächst ein anderes, dessen Klärung zugleich die Aufhellung eines jeglichen «Mein»-Bezuges einleiten sollte: Es ist die Antithese des « I c h z u g e h ö r i g e n » und des « I c h f r e m d e n » , eine Antithese, die noch völlig ohne den Rekurs auf ein intentionales oder nur beziehentliches «Bewußtsein» und seine Distanzierungen zu verstehen wäre 1 , vielmehr auf der Unterschiedenheit eines s a c h l i c h e n K o n t a k t e s zum Ich beruhte. «Ichzugehörig» nennen wir etwas, wenn es derart im Ich gebunden ist, daß diese seine Bindung zur S o s e i n s Verfassung dieses Etwas unumgänglich gehört, bzw. zu gehören scheint. Zum S o s e i n einer aktuell daseienden Freude gehört es als etwas diesem Sosein Unumgängliches, daß sie mir zugehört: Nicht etwa im Sinne ihres Perzipiertseins und einer daraus sich ergebenden Unselbständigkeit ihrer, a l s einer perzipierten, gegenüber dem Ich und seinem «Bewußtsein»; — denn dergleichen würde auch ein ichfremdes Etwas im Sofern seines Da-seins für sich beanspruchen dürfen —, noch auch im Sinne eines sonstigen Modus des «Besitzens», oder gar einer räumlichen Nähe oder Entferntheit, sondern in dem Sinne daß sie — ganz abgesehen von ihrem Nichtd a s e i n — auch eben nicht das S o s e i n der F r e u d e aufwiese, wenn sie n i c h t jene unmittelbare Bindung an ein Ich, und zwar in der Weise einer nur bildlich aufzunehmenden Einschmelzung in dieses Ich bezeugte, welch letzteres geradezu «in» dieser Freude gegenwärtig zu sein, ja, sie irgend zu durchdringen schiene. Wir meinen aber ferner, daß das Verhaftetsein der Freude an das Ich und hinwiederum die Gegenwart des Ich in der Freude zwar die B a s i s dessen besagt, was wir das « L e b e n d i g s e i n » des Ich «in» der Freude nennen möchten, aber noch nicht dieses «Lebendigsein» selber. Denn hierunter verstanden wir ein durch die Dimensionen seiner intensiven Veränderung vermitteltes Miterregt- oder Ergriffensein des Ich durch eben das, was ihm «zugehörte»: Das in seiner Freude gegenwärtige Ich ist nicht stumpf oder unerregt in 1

Man vgl. hiermit unsere Ausfuhrungen

in Bd. II unserer «Vorstudien» S. 2 8 f f .

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dieser Freude, sondern es ist mit ihr bzw. in ihr «lebendig» und aufgetrieben. Was irgend «ichfremd» zu nennen wäre, würde, wenn auch ohne in der Bestimmtheit des Räumlichen zu stehen, ein derartiges Verhaftetsein an das Ich, nie und nimmer bekunden. Mag immer das D a s e i n der vor mir befindlichen Farbe von ihrem Perzipiertsein und damit vom Ich, das ich selbst bin, in Abhängigkeit verbleiben, nie würde jene unmittelbare « G e b u n d e n h e i t » an das Ich, wie sie etwa einem Gefühle eignete, zur S o s e i n s v e r f a s s u n g d e r F a r b e gehören. Und so könnte auch das Ich auf Grund einer Betrachtung der Farbe und vermittelt durch gewisse in mir auftretende Gestimmtheiten erregt und «lebendig» sein; aber niemals « l e b t e » es in der Farbe, so wie es in einem Gefühle «lebte»1. Hierüber täuschte auch der Umstand nicht hinweg, daß die Farbe mitunter wie in uns einzuziehen, uns auf's nachdrücklichste zu bedrängen schiene, j a , daß wir gelegentlich, wenn wir uns in einem farbig durchfluteten Räume aufhalten, etwa den Eindruck gewinnen, als sollten wir selbst wie in einem farbigen Dunste verschwimmen. Denn mit alledem meinen wir keineswegs, daß die Farbe dem Ich in eben dem Sinne jener Ichgebundenheit « z u g e h ö r e » , sondern daß sie — übrigens ziemlich analog dem Durchfluten räumlich «unvollendeter» Töne — unter Aufgabe ihrer örtlichen Distanzierung in eine Art Bewegung gerate, die keine Grenze an der Peripherie unserer Leiblichkeit finde, sondern durch sie hindurchzugehen scheine, wobei freilich auch das Ich selber eine durch gefühlsoder stimmungsmäßige Verfassungen vermittelte Erregtheit erfahren könnte. Die hier aufgewiesenen Fälle sollen nur gleichsam die Grenzpunkte markieren zwischen denen sich der Geltungsbereich des Ichzugehörigen und Ichfremden erstreckt. Halten wir in Strenge die Kriterien ein, die ihre Unterscheidung bewerkstelligte, und ohne die Beispiele einer sehr merkwürdigen «Partizipation» zu berücksichtigen, von der sogleich die Rede sein wird, so ließe sich zunächst eine Zone des im e i g e n t l i c h e n Sinne « I c h z u g e h ö r i g e n » abgrenzen. Sie umfängt unsere Gefühle und Stimmungen, unsere Willens- und Wunschregungen, Haltungen und Stellungnahmen und konstituiert so zum wenigsten den materialen Gehalt dessen, was wir in einem wahrhaften Sinne «seelisch» zu nennen befugt sind. Aber Manches von dem, was eine unbefangene Einteilung der 1 Daß die Farbe selber eine farbige Erregtheit besitzen kann, eine Erregtheit die geradezu einen physiognomischen (Ausdrucks-)Charakter anzunehmen vermöchte, hat natürlich mit der hier behandelten Frage nichts zu tun.

2. Über die Ichzugehörigkeit und Ichfremdheit

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«Seele» zuwiese, gehörte bereits den Bereichen des offenkundlich I c h f r e m d e n an. So vor allem, was uns i m Sinne des Vorstellungsm ä ß i g e n vorschwebte u n d abgesehen v o n d e m , w o v o n es Vorstellung wäre, oder auch v o n d e m , w a s sich «vorstellungsmäßig e r i n n e r n d in i h m als ein Selbst» g ä b e ; d e n n dies, d a ß wir eine, wenn a u c h sehr m i t t e l b a r e u n d n u r e n t f e r n t d u r c h die K o n f i g u r a t i o n e n der A u f m e r k s a m k e i t b e d i n g t e , «Macht» ü b e r das vorstellungsm ä ß i g Vorschwebende ausüben, w ü r d e f ü r sich noch keineswegs den C h a r a k t e r der Ichzugehörigkeit zu befestigen v e r m ö g e n . Nicht weniger i c h f r e m d im l e t z t e n Sinne, weil u n t e r keinen U m s t ä n d e n i c h h a l t i g oder i m Ich wurzelnd, wären ferner alle «Sinnes-qualitäten» zu n e n n e n , gleichviel, ob sie «da d r a u ß e n » , sei es als K o n s t i t u e n t e n körperlich d i n g h a f t e r Abgeschlossenheit, oder als bloße «Äußerungen» eines D i n g h a f t e n , sei es, wie e t w a W ä r m e u n d Ton, f ü r sich g e n o m m e n u n d in einer A r t «unvollendeter» räumlicher Orient i e r u n g da sind, oder aber — zufolge einer d u r c h a u s anderen Daseinsweise — i n m i t t e n unserer Leiblichkeit o f f e n b a r werden. Die Q u a l i t ä t eines körperlichen Schmerzes, wie e t w a des Kopf- oder Z a h n s c h m e r z e s , ist rein auf seine sinnliche Q u a l i t ä t , j a selbst auf seine p h ä n o m e n a l e Bewegtheit u n d innere U n r u h e hin besehen, u n d u n t e r A b s e h u n g von aller U n a n n e h m l i c h k e i t die sie m i r bereiten, etwas nicht weniger I c h f r e m d e s , wie der H u n g e r oder der D u r s t , die d a „in unserem I n n e r e n " a u f t a u c h e n , u n g e a c h t e t dessen, d a ß wir, w i e d e r u m im Sinne des Ichzugehörigen, nämlich gefühlsu n d s t i m m u n g s m ä ß i g , a n i h n e n t e i l h a b e n , bzw. v o n ihnen «ger ü h r t » sein k ö n n e n . Aber ohne Zweifel gibt es, wie wir a n d e r w ä r t s n ä h e r a u s f ü h r t e n , auch u n t e r den innerorganisch v e r m i t t e l t e n Sensationen solche, die gewissermaßen in einer Zone d e r N e u t r a l i t ä t verweilen u n d sich nicht f ü r eine Z u o r d n u n g , sei es i m Sinne des I c h f r e m d e n oder auch Ichzugehörigen zu entscheiden vermögen. H i e r h i n seien alle diejenigen Sensationen gezählt, die — wie z. B . die leibliche Mattigkeit u n d Frische — n u r noch m i t Mühe die Abh e b u n g sinnlicher u n d g e f ü h l s h a f t e r «Komponenten» zulassen. D e n n w ä r e z. B. a u c h eine gewisse I c h z u g e h ö r i g k e i t der «Frische», die meine Leiblichkeit zu durchdringen scheint, nicht zu verkennen, so wäre diese doch sicher nicht in d e m ausdrücklichen Sinne i c h z u g e h ö r i g zu nennen, in welchem etwa eine S t i m m u n g , ein Gef ü h l oder eine Stellungnahme diesen Titel verdiente. Allein es lassen sich a n j e n e r Sensation u n d wiederum u n t e r möglicher A b h e b u n g v o n allem Gefühls- oder S t i m m u n g s m ä ß i g e n k a u m « S e i t e n » oder E i n z e l h e i t e n aufzeigen, die ihre, wenn auch n u r partielle Zuo r d n u n g i m Sinne des I c h f r e m d e n oder auch des Ichzugehörigen r e c h t f e r t i g t e n u n d deren B e s t e h e n eben auch das « E i n e s - s e i n »

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I. Das lebende und erlebende Ich

der Sensation im Sinne des E i n f a c h e n und damit auch die Neutralität ihres Zugehörens, aufheben würde. Es scheint eine Art Übergänglichkeit der Daseinsweisen zu geben, die diese wie auf dem Grunde einer gedachten K o n t i n u i t ä t der Ichnähe bzw. Ichfremdheit anordnet und damit einem ebenso übergänglichen Charakter der Zonen des «Mein» Vorschub leistet. Doch hierzu wird es nötig sein, einige zwar längst bekannte, in ihrer ideellen Verbindlichkeit jedoch noch wenig geklärte Umstände in Betracht zu ziehen. Es gibt innerhalb des Daseinsfeldes Weisen der Unselbständigkeit oder Axigewiesenheit auf einander, deren evidente Geltung wir anerkennen müssen, ohne doch — aus den verschiedensten Gründen — die Uberzeugung gewinnen zu können, sie sei eine «ursprüngliche», habe «ursprünglich» schon bestanden. Man hilft sich etwa mit der Wendung: jene Angewiesenheit sei das Ergebnis einer sekundären «Übertragung», einer Übertragung, die freilich nicht willentlich von uns vollzogen sei, für deren Vollzug vielmehr die «Erfahrung» und im besonderen eine gewohnheitsmäßige Verknüpfung verantwortlich gemacht werden müsse. Aber man vergißt zu leicht, daß alle hier aufgewiesenen Erklärungsversuche notwendig ihr Ziel verfehlen, daß es sich vielmehr um eine sehr profunde Angelegenheit handelt, zu deren Lösung nichts von dem hinreicht, was eine «Erfahrung» an aufzuweisender Tatsächlichkeit vorbringen würde. Ein Ton z. B . hat seine merkwürdige, eher die ö r t l i c h e P o s i t i o n oder « H e r k u n f t » , als die Weise seiner «Ausdehnung» fixierende Räumlichkeit, eine Räumlichkeit, die wir an anderer Stelle als «unvollendet»1 bezeichneten, die aber dessen ungeachtet ebenso eine u n u m g ä n g l i c h e Bestimmtheit des — ihr gegenüber «unselbständigen» — Tones darstellte, wie sie andererseits, und in höherer oder minderer «Vollendung» die einer beliebigen Farbe abgeben würde. Das heißt: Es ist nicht ein untergeschobenes «Gesichtsbild», das «eigentlich» die Bestimmtheit des Räumlichen trüge, sondern es ist d e r g e g e b e n e T o n a l s s o l c h e r , der diesen seinen unsicheren Ort, seine unsichere «Ausdehnung» ebenso in der Weise s e i n e s unaufhebbaren Bestimmtseins besitzt, wie die Farbe ihre «vollendetere» und sichere Örtlichkeit und Ausdehnung besitzen würde. Sollte nun jemand, sei es aus Gründen der Unbestimmtheit des Räumlichen, sei es deshalb, weil solche Räumlichkeit stets relativ auf das «Wahrnehmen» des Menschen bleibe, zu der Auffassung gelangen, letztere sei nicht «ursprünglich» dem Tone zu eigen ge1 Über die «Unvollendetheit» des Räumlichen Observanz siehe « Vorstudien» Bd. II, S. 231 f f .

und ihre mögliche

metaphysische

2. Über die Ichzugehörigkeit und Ichfremdheit

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wesen, sondern ihm erst zufolge einer «Übertragung» aus anderen Sinnesgebieten, — hier also etwa aus der Räumlichkeit der sichtoder tastbaren Ton q u e l l e — zuteil geworden, so würde er doch, wollte er verständlich bleiben, nicht m e h r meinen dürfen als dies: es habe eine Zeit bestanden, zu welcher der wahrgenommene Ton noch keinerlei, wenn auch «unvollendete» Räumlichkeit besaß; denn dazu fehlte uns jedes Organ einzusehen, wie Etwas durch den zeitlichen Prozeß seines W e r d e n s und also seiner V e r ä n d e r u n g , in eine ihm zukommende ideelle und unaufhebbare Bestimmtheit e i n z u g e h e n vermöchte. Was wir innerhalb eines zeitlichen Daseins und daher auch innerhalb des Daseinsfeldes selbst — im günstigsten Falle — zu erfahren vermöchten, das wäre ein bloßer, im Zeitverlauf sich bezeugender und durch andere, etwa benachbarte, Daseinsweisen vermittelter G e l t u n g s w e c h s e l ; aber auch so bliebe völlig dunkel und undurchdringlich, wie solcher Geltungswechsel « g e s c h e h e n » , d. h. zur Geltung gelangen sollte, da alle uns geläufigen Weisen der Aufklärung, vor allem die der gewohnheitsmäßigen Verknüpfung, hier von Grund aus versagen. — «Ursprünglich sei der Ton nicht räumlich gewesen», könnte jedoch in einer metaphysischen Sinnwendung noch etwas mehr bedeuten: es könnte bedeuten, daß Töne, so wenig differenziert und «vollendet» sie auch s e l b e r noch sein mochten, nicht erst sekundär und b e reits in der B e s t i m m t h e i t ihres Daseins oder Gegebens e i n s s t e h e n d , die unaufhebbare Tinktion ihrer Räumlichkeit «gewonnen» haben, sondern, daß ihnen solche Bestimmung zugleich mit dem «Eintreten» in die Daseinsgeltung zuteil wurde, wobei es noch unausgemacht bliebe, ob sie sich in dieser ihrer Daseinsgeltung erschöpften, oder schon eine «Existenz» im Wirklichen besaßen und eben aus dieser Wirklichkeit gleichsam in die Verfassung ihres Daseins oder Gegebenseins einbrachen 1 . 1 Von einem «Eintreten» in die Daseinsgeltung könnte unter der Voraussetzung der Unwirklichkeit der Töne, natürlich nur in bildhaftem Sinne die Rede sein. Im übrigen würde die Unvollendetheit und Relativität des Tonraumes für sich genommen natürlich noch keinen hinreichenden Grund abgeben, ihn den möglichen Tönen einer «Wirklichkeit» abzuerkennen — wofern überhaupt ein Recht dazu bestünde Töne als in einer Wirklichkeit «existierend» hinzunehmen. Andererseits würde die höhere «Vollendung» des Farbenraumes, wie die Tatsache, daß er weniger relativ auf die «Wahrnehmung» sei, noch keinen unzweideutigen Hinweis darauf besagen, daß die Farbe der Wirklichkeit schon in der Bestimmtheit des Räumlichen existiert hätte —, und zwar wiederum unter der Voraussetzung, daß überhaupt von «existierenden» Farben der Wirklichkeit die Rede sein dürfte. Könnte es doch auch hier so liegen, daß die Farbe erst mit ihrem Einbruch in die Daseins- oder Gegebenheitsgeltung ihre Räumlichkeit «gewonnen» hätte. Ja, selbst der Gedanke, daß sie erst im Laufe ihrer Daseinsgeltung, wenn auch gewiß an einem frühen und sehr weit zurückliegenden Punkte derselben, ihre Räumlichkeit «empfing»), wäre nicht von vorneherein abzuweisen. 2

Janssen

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I. Das lebende und erlebende Ich

Wie i m m e r die Verhältnisse i m Wirklichen selber, oder an der Schwelle der Daseinsverfassung beschaffen sein mögen, wir glauben, daß i m z e i t l i c h e n A b l a u f des D a s e i e n d e n , u n d d a m i t i m i c h t e r m i n i e r t e n D a s e i n s f e l d e s e l b e r — u n d dennoch nicht zufolge eines Prozesses der V e r ä n d e r u n g oder des W e r d e n s — solche tief r ä t s e l h a f t e n G e l t u n g s w e c h s e l möglich sind, g e m ä ß deren ein E t w a s e i n e B e s t i m m t h e i t o d e r E r g ä n z u n g e r f a h r e , die i h m f e r n e r h i n in der W e i s e eines « U n a u f hebbaren», ja vermeintlich «wesenhaft Notwendigen» a n h a f t e n . Indessen, da wir nicht ein einziges Beispiel vorweisen k ö n n t e n , in welchem sich ein solcher Geltungswechsel u n d d a m i t der Beginn einer «Teilhabe» oder «Partizipation» gleichsam vor aller Augen u n d in voller Deutlichkeit bezeugte, müssen wir ann e h m e n , d a ß sie sich jeweils, u n d , wenn ü b e r h a u p t , auf einer f r ü h e n S t u f e biologisch f u n d i e r t e r Daseinsverfassung u n d innerhalb einer Zone des i m Sinne der E m p o r h e b u n g weit Z u r ü c k t r e t e n d e n u n d , a n den Möglichkeiten des «reifen» Daseins gemessen, tief U n d e u t lichen, vollzog. I h r e B e g r ü n d u n g aber wäre in j e d e m Falle nicht m e h r d u r c h das Dasein selbst zu erbringen, sondern w ü r d e unverzüglich in das Bereich eines u n t e r b a u e n d «Wirklichen» zurückweisen. Das Beispiel des Tones zeigt die U n a u f h e b b a r k e i t des B e s t i m m t seins u n d die m i t ihr sich ergebende P r o b l e m a t i k noch in einer verh ä l t n i s m ä ß i g deutlichen Weise. Aber es k a n n auch Beispiele geben, die derart m e r k w ü r d i g gelagert sind, d a ß sie, ehe die K l ä r u n g j e n e r «Ursprünglichkeit» zur A u f g a b e wird, die sehr viel simplere F r a g e a u f t a u c h e n lassen, ob die hier zugestandene U n a u f h e b b a r k e i t oder Angewiesenheit ü b e r h a u p t s t a t t h a b e , u n d noch viel m e h r : ob es sich ü b e r h a u p t u m die B e s t i m m t h e i t dieses oder jenes E t w a s h a n d e l e u n d nicht vielleicht, u n d i m Augenblicke seiner E m p o r h e b u n g , u m ein Anderes, das sich u n v e r m e r k t unterstellte u n d d a m i t die Sachlage völlig u m g e s t a l t e t e . E s sind j e n e Fälle, die uns vermöge i h r e r tiefen u n d perennierenden Undeutlichkeit zweifelhaft sein lassen, — n i c h t , ob etwas u n t e r a n d e r e r B e d i n g u n g noch d a sein w e r d e , oder auch, zufolge des Ansatzes einer m e t a p h y s i s c h e n Wirklichkeit, « w i r k l i c h » sei oder « e x i s t i e r e » , sondern ob es t a t s ä c h l i c h e s D a s e i n o d e r G e g e b e n s e i n h a b e , oder — m i t einer W e n d u n g in die Bewußtseinslehre — ob es mir«» t a t s ä c h l i c h «gegeben» oder «für mich da» sei 1 . E s sind Fälle der Bedenklichkeit, auf die eine 1

Daß solche Zweifelhaftigkeit als «eigentlicher» Daseinszweifel, entgegen dem berühmten Cartesianischen Ansätze (oder vielmehr entgegen der gewissen, von uns vorgenommenen Umbiegung) bestehe, habe ich eingehend zu zeigen versucht. Siehe Seite 325f.). Im übrigen können wir keines der Argumente für zutreffend halten, die Schilder gegen Osterreich ins Feld führt. Über die Frage des Nachweises der Gefühle haben wir bereits gesprochen. Daß ferner Patienten, welche über Gefühlshemmung Klage führen, sich nicht immer auch depersonalisiert vorkommen, würde 0. mit Recht dahin beantworten, daß nicht immer auch das «Lebensgefühl» tangiert zu sein brauche, und daß die Depersonalisation überhaupt nicht von der Hemmung dieser oder jener Emotion abhängen könne. Ferner bemängelt Schilder, daß, wenn der neue Zustand der Depersonalisierten nur unter völliger Hemmung der Emotionen zustande komme, auch eine doch, wie er meint, von Osterreich angenommene «Apperzeption» dieses Zustandes nicht möglich sei. Aber diese Frage wäre in derselben Weise zu erledigen, wie die: woher es komme, daß die Kranken, trotz Leugnung ihrer Willentlichkeit (bzw. ihrer willentlichen «Zuwendung»), doch noch zu Willensleistungen imstande seien. Der Einwand endlich, daß es Fälle gäbe, in denen nur die Gegenwart entfremdet erscheine, nicht aber die Vergangenheit und umgekehrt, würde überhaupt keine entscheidende Schwierigkeit in sich bergen.

3. Die Entfremdung der Wahrnehmungs- und Gefühlswelt

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Sache, wofern wir nur eingestehen, daß im Fortgang unseres ichverwurzelten emotionalen Lebens eine konstante und ohne wesentliche Schwankungen dauernde Verfassung, als der stets durchscheinende Boden wechselnder Regungen unseres Seelenlebens ersichtlich wird, daß ich trotz aller Buntheit meines emotionalen Seins doch stets mich s e l b s t habe — nicht wiederum im Sinne der I c h h e i t a l s s o l c h e r , sondern im Sinne einer letzten dauernden Zuständlichkeit, in der ich mich b e f i n d e und deren Aufhebung mir a b s u r d erschiene1). Und dennoch ist sie nicht absurd, wie die mannigfachen Aussagen der Kranken lehren, die von einer mehr oder minder vollkommenen Aufgabe ihres Selbst reden. «Meine eigentliche normale Persönlichkeit», so äußert sich Ka., «rückte ständig weiter zurück und trat endlich nur noch für Momente hervor. Meine Persönlichkeit begann zu schwinden. — Alles Selbstbewußtsein hörte auf. Das Bewußtsein blieb ganz klar. Es bestand eben nur noch Bewußtsein, aber kein Selbstbewußtsein mehr. — Eine gewisse innere Empfindung war freilich vorhanden. Doch fehlt mir ein Wort dafür. Lethargie paßt vielleicht am ehesten. Jedenfalls war es nicht einmal Apathie». Und weiter: «Es ist einem dabei, als ob man (ich möchte statt «man» nicht «ich» sagen, ich fühle mich selbst nicht recht, man ist wie ein halber Automat, mechanisch) aus einem hohlen leeren Blechgefäß heraus schreibt, aus dessen Boden da und dort tote, taube Vorstellungen kommen». Triebe, Willens strebungen, Gefühle bilden den Kern der Person, wie er meint, sie sind stets irgendwie erregt. «Auch werden sie als Potenzen, Möglichkeiten stets empfunden. Ist es nicht der Fall, so liegt eben — Herabsetzung des Ichgefühls vor». Oder die Aussage Prau.'s: «Es fehlte mir eben das volle, deutliche Bewußtsein, oder vielleicht besser das lebendige Gefühl meines Lebensverlaufes». — Der Patient Ball's sagt: «Seit dieser Zeit ist meine Persönlichkeit absolut vollständig verschwunden und trotz allem, was ich tue, um mein entschwundenes Ich wieder zu erlangen, kann ich es nicht. — Es scheint mir, als wenn ich seit zwei Jahren tot, und als wenn das Ding, welches existiert, sich nichts von dem erinnert, was auf mein altes Ich Bezug hat.» Die nur durch das Selbst vermittelte Urheberschaft des Ich ist gleichfalls dahin: «Ich bin nichts als eine Maschine», sagt die Patientin Lise (bei Janet). «Ich handele immer im Traum, wie eine Somnam1 Daß dieses «Lebensgefühl» nicht etwa die Totalität der die Viszeralqualitäten «begleitenden» Gefiihle ausmacht, scheint daraus hervorzugehen, daß «bei Totalanästhesie mit gleichzeitiger Depersonalisation die Restitution des Persönlichkeitsbewußtseins der der Körperempfindungen vorauszugehen scheint.» Bei Österreich «Phänomenologie des Ich» Seite 319.

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bule,» gibt Nadia an. Ich bin in meinen Anfällen ein Automat,» sagt Dob., «ich sehe meine Hände und Füße, ich fühle sie handeln, ohne daß ich es will. Warum machen sie nicht Dummheiten, da sie doch ohne mich handeln ?» Die Kranke Pick's meint, sie habe nicht das Gefühl, dieselbe Person wie früher zu sein, aber auch nicht eine andere. — «Ich weiß nicht, daß ich das bin, ich erkenne mich ganz und gar nicht.» Die Patientin Wernicke's: «Ich bin mir meiner selbst nicht bewußt, muß mir immer vorsagen wer ich bin, wie ich heiße.» Von Pot. berichtet Janet: «Wenn diese Gefühle mich packen, so empfinde ich das Bedürfnis, daß die Meinigen mich liebkosen, um mich zu überzeugen, daß ich noch bei ihnen bin.» Oder die Patientin Is. «Es schien mir, daß ich überhaupt nicht mehr existierte; daß ich sah, aber daß nicht ich es war, die sah, daß ich hörte, aber daß nicht ich es war, die hörte.» Von der Kranken PI. erklärt Janet: «Im Grunde ist es ihr als wenn sie tot wäre, nur ihre Beine leben noch; aber sie, sie ist verschwunden, überall ist sie abwesend.» — «Es ist ganz seltsam, nicht wahr, irgendwo zu sein und doch selber nicht dabei zu sein, sein Leiden zu fühlen und doch nicht zu existieren.» Erwähnt sei endlich von der Kranken Pick's: «Die Sinne verwirren sich, es wirren sich die Gedanken durcheinander; und von da ab Klagen über Verändertsein ihres Ich, sie sei nicht mehr sie selbst, spricht von sich selbst in der dritten Person.» Und zum Schluß der berühmte Fall des verwundeten Soldaten, der von sich selbst sagt, daß er in der Schlacht bei Austerlitz von einer Kugel fortgerissen wurde: «Das was Sie sehen, ist er nicht; das ist eine Maschine, die man ganz nach seinem Muster gemacht hat und die sehr schlecht gemacht ist.» Wenn er von sich spricht, sagt er niemals «ich» sondern «es» usw. 1 . Es möge dahingestellt bleiben, ob sich die Theorie eines in seinen «Tendenzen» sich widersprechenden Seelenlebens vielleicht unter der Annahme eines s u b l i m i n a l e n Lebens der Seele und der auf Grund solcher Annahme versuchten Trennung zwischen ihren «Wirklichkeiten» und deren bloßer Daseinsobservanz, diskutieren ließe, wir stellen nur dringend in Abrede, daß, im bloßen Felde des Daseins besehen, sich Ausfall oder Entfremdung des Selbst als widersprochene Tendenzen des emotionalen Lebens vorweisen, oder nur einen Hinw e i s darauf enthielten, daß solcher Widerspruch der Tendenzen für ihr Zustandekommen entscheidend würde. Auch hier folglich entbehrte es des Sinnes zu versichern, das Selbst sei auch dann noch «vorhanden», wenn es von seinen Inhabern nicht mehr «erlebt» werde. Nein, wofern es -wahrscheinlich wird, daß sie mit ihren Worten 1

Die angeführten

Beispiele

bei

Österreich.

3. Die Entfremdung der Wahrnehmungs- und Gefühlswelt

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wahrhaft d a s S e l b s t , so wie es eben umzirkelt wurde, meinen, dürfen wir auch sicher sein, daß es für sie erlebensmäßig ganz oder vorwiegend dahin ist und zwar nicht nur solange sie ihren Blick auf das Peinliche ihres Zustandes gerichtet halten —, denn darüber lassen die Aussagen nichts verlauten —, sondern bereits im schlichten Hingegebenheitsvollzuge an eine Welt der Objekte. Zu sagen das Selbst sei dennoch «vorhanden», obwohl es nicht «erlebt» sei, wäre in d i e s e r Ebene besehen und damit auf Grund unseres früheren Ansatzes, ein Nonsens. Und nun würde wiederum die Annahme nahe liegen, daß im Falle eines allmählichen Schwindens der «Persönlichkeit» nicht nur jene seltsame K o n s t a n t e eine Schwächung erfahre, sondern daß auch das Ich s e i n e s t i l l e « L e b e n d i g k e i t » in ihr aufgäbe. Aber wiederum wäre auch hier an eine eigentümliche Lockerung zu denken, die jene Konstante zwar keineswegs dem Banne der Ichzugehörigkeit entrisse, wohl aber dazu hinreichte, so etwas wie eine r e l a t i v e Ichfremdheit innerhalb der Dimension des Ichzugehörigen zu bewerkstelligen, wodurch ferner vielleicht gewisse, nur für d i e s e Zustände charakteristische, «Spaltungs»erscheinungen eingeleitet würden. J a , es wäre selbst daran zu denken, daß die Depersonalisierten eben nichts als diese bloße seltsame Lockerung im Sinne trügen, wenn sie von einer Aufhebung der Persönlichkeit die Rede gehen ließen. Aber nicht minder wären wir bereit zuzugeben, daß jene Erlebenskonstante des Selbst auch völlig und radikal aufgehoben sein könnte und mit ihr alles, was sich an emotionalen Regungen auf ihrem Boden erhebt; denn nicht anders würden wir die so entschiedenen Erklärungen der Kranken zu verstehen vermögen. Ob in diesem Falle — wie etwa im Beispiele des K a . — ein anderer Zustand von unbekannter Beschaffenheit an die Stelle träte, das bliebe einer ferneren Untersuchung vorbehalten. Aber aus der unvoreingenommenen Betrachtung gerade der absonderlichsten Beispiele der Depersonalisation, ringt sich noch eine neue und nicht minder quälende Problematik hervor. Mit allen besonnenen Forschern auf diesem Gebiete kommen auch Österreich und Schilder in der Uberzeugung überein, daß zum wenigsten an der Integrität der I c h h a f t i g k e i t nicht gerüttelt werden dürfe. Die Gründe sind einmal der Axiomatik der Erkenntnislehre entnommen: Nicht einer der Depersonalisierten klagt, wenn auch nur retentiv, über eine Einbuße oder einen Ausfall des i n t e n t i o n a l e n B e w u ß t s e i n s . Sie nehmen doch wenigstens wahr, mag immerhin das Wahrgenommene seltsam verändert erscheinen. Aber wie sollte ein Wahrnehmen möglich sein, das nicht in einem Ich terminiert wäre ? Falls also die Depersonalisierten von sich, wie von

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I. Das lebende und erlebende Ich

einer dritten Person, redeten, könnten sie unter keinen Umständen die Ichhaftigkeit selber im Sinne haben, die in jedem Falle unverletzt bliebe. — Der andere Grund ging auf den Widerspruch zurück, der darin zu liegen scheint, daß Depersonalisierte, die von der Aufhebung des Ich — als des Ich das sie selbst sind — reden, doch unausgesetzt und zwar durchaus sinnvoll dieses Ich im Munde führen. Wir werden nachzuweisen versuchen, daß dem letzteren der hier angeführten Argumente wenig Beweiskraft zustünde, das erstere dagegen auf Umwegen der Überlegung zu Folgerungen führt, die seine anfängliche Absurdität zum wenigsten in einem anderen Lichte erscheinen lassen. Das daseiende Ich — gleichviel ob es als bloßes Ich des Habens und der Vollzüge, oder erst in einer Rückwendung des Bewußtseinsblickes «da» sei — zeigt eine Reihe von Angewiesenheiten, die eine phänomenologische Analyse aller Voraussicht nach als « n o t w e n d i g zu i h r e m W e s e n g e h ö r i g » erachten würde. Indessen vermochten wir an anderer Stelle nachzuweisen, nicht nur, daß man dem Sinn des «Wesens» hier eine ziemlich fragwürdige Auslegung zuteil werden läßt, sondern daß auch die «Notwendigkeit», von der die Rede ist, unter allen Umständen nur eine h i n g e n o m m e n e sein kann und sich niemals — und also auch «wesenhaft» nicht — in blanker Tatsächlichkeit oder «Evidenz», lind damit selber als eine im ideellen Sinne «daseiende» zu bezeugen vermöchte 1 . Ohne von den sonderbaren Umgehungen des anormalen Lebens zu wissen, würde man es vielleicht für nicht minder «wesensnotwendig», bzw. «wesenunmöglich» halten, daß etwa ein Gefühl eine wenn auch nur r e l a t i v e Ichferne zu bekunden vermöchte, daß ein Mensch seines Selbst verlustig ginge oder gar Umgeltungen einträten, die ihn ernsthaft von sich sagen ließen, daß er geradezu das Ich, das er selbst sei, verloren habe. Wenn wir daher von den Fundierungen der Ichhaftigkeit als von denjenigen ichzugehörigen oder ichfremden Beständen reden, denen gegenüber das Ich die U n s e l b s t ä n d i g k e i t seines Daseins wie seines Soseins an den Tag lege, so soll damit weder ein «wesenhafter» Zug des Ich oder seiner Fundiertheiten verkündet werden, noch dies, daß es sich um ein notwendiges und etwas aus dem «Wesen» erfolgendes Angewiesensein handelt. Würde doch etwa dadurch, daß ein Geltungszusammenhang in keiner Hinsicht seines möglichen «Vorgestellt»- oder selbst leer «gedanklichen» (bzw. «begrifflichen») Erfaßtseins aufgehoben erschiene, noch nichts über die Notwendigkeit seines Bestehens ausgemacht sein, da alle 1 Über die Eigenart des und den Charakter seines bloßen «im Begriffe Liegens» und damit auch seiner puren Hinnahme habeivir eingehend gehandelt. Siehe > befindet,

4

Jansse n

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I. Das lebende und erlebende Ich

Aber das eine w ü r d e m a n wohl auch f ü r das normale Seelenleben in Anspruch n e h m e n dürfen, d a ß nämlich das I c h zwar nicht gegenü b e r d e m Selbst, wohl aber d e m I n b e g r i f f d e r g l e i c h s a m v o n i h m a u s s i c h e r h e b e n d e n E m o t i o n e n j e d w e d e r A r t eine eigentümliche Selbständigkeit zu bezeugen v e r m a g . W e r zu der G a t t u n g v o n Menschen gehört, die allmorgendlich erst eine S p a n n e Zeit b r a u c h e n u m zu «fühlenden» u n d «wollenden» Wesen zu erwachen, wird h ä u f i g die E r f a h r u n g m a c h e n , d a ß die ersten Augenblicke seines E r w a c h t s e i n s v o n einer m e r k w ü r d i g e n e m o t i o n a l e n L e e r e begleitet sind, v o n einer inneren S t a r r e u n d U n b e l e b t h e i t , die sich erst l a n g s a m e r w ä r m t u n d a u f l ö s t . U n d doch ist in j e n e n Augenblicken nicht n u r das I c h in voller «Stärke» v o r h a n d e n , sondern auch das Selbst, dessen erste, noch s p a r s a m e gefühls- u n d stimmungsmäßige A u f t r i e b e a u c h in aller Deutlichkeit erlebt werden 1 . Aber die F r a g e der Angewiesenheit des I c h zöge weitere Kreise. W i e d e r u m v o n den E r f a h r u n g e n des n o r m a l e n Seelenlebens ausgehend, w ü r d e m a n schwerlich H a l t m a c h e n bei der B e h a u p t u n g , v o m Dasein des I c h k ö n n e nicht ohne das Dasein seines S e l b s t , wie u m g e k e h r t n i c h t v o n einem Selbst, ohne das Ich, d e s s e n Selbst es wäre, die R e d e sein, sondern m a n w ü r d e bei besonnener B e t r a c h t u n g der Sachlage d a r ü b e r h i n a u s zu d e m E r g e b n i s gelangen, d a ß vermöge einer A r t Unselbständigkeit des Selbst u n d seiner emotionalen A u f t r i e b e gegenüber den «inner-taktilen» Sensationen («Viszeralqualitäten»), auch das Ich selber auf das Dasein dieser Qualitäten u n d ihres Soseins angewiesen bleibe. U n d in der T a t , ich v e r m ö c h t e m i r nicht einmal «vorzustellen», wie dieses Selbst u n d seine emotionalen A u f t r i e b e anders, als u n t e r der Voraussetzung gewisser, bisweilen diffuser u n d k a u m deutlich zu orientierender, «innerer» u n d q u a l i t a t i v e r Verfassungen zur O f f e n b a r u n g gelangen sollten. S t i m m u n g e n wie die der A n g s t , des F r o h s i n n s u n d der E r h e b u n g , Gefühle wie die des Zornes, der Liebe, der Veracht u n g , Sehnsüchte u n d Willenregungen h a b e n ihre u n b e s t i m m t aufweisbare q u a l i t a t i v innerleibliche Basis v o n der sie gleichsam «anheben», u n d d e r a r t u n z w e i f e l h a f t erscheint diese, selbst f ü r unsere «höheren» R e g u n g e n geltende, G e b u n d e n h e i t , d a ß wir nicht von ihr absehen k ö n n t e n , o h n e z u m wenigsten das Dasein, a b e r sicher auch u n d in gewisser H i n s i c h t das Sosein der E m o t i o n e n f r a g w ü r d i g den er am ehesten mit dem Ausdruck der Lethargie bezeichnen möchte. Aber dann wäre diese Lethargie etwas ganz anderes, als man gewöhnlich unter ihr verstände; denn gewöhnlich tritt sie eben als ein Auftrieb eines zu Grunde liegenden Selbst in Erscheinung. Man vergl. hierzu Österreich «Ph. des Ich» S. 325f. 1 Eine andere Frage ginge, wie schon erwähnt, dahin, ob nicht z. B. auf das fundierende Selbst, als auf ein wie immer zu verstehendes «Lebensgefühl», die Tinktion des «Mein» keinerlei Anwendung mehr finde usw.

3. Die Entfremdung der Wahrnehmungs- und Gefühlswelt

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erscheinen zu lassen. Ein Angewiesensein des Ich und seines Selbst auf die viszeralen und durchaus qualitativen Erfahrungsweisen aber bedeutete zugleich ihr Angewiesenheit auf das Raumganze, welches diese Qualitäten «erfüllen» und somit auf den Leib, oder zum wenigsten auf gewisse Bereiche des Leibes. Das heißt: Ungeachtet der vielleicht nicht «ursprünglichen» Räumlichkeit, in welcher das Ich selber figurierte, bekundete es sich mittelbar und auf dem Wege über die fundierenden «innerorganischen» Qualitäten auch als unselbständig gegenüber dem Leibganzen, in welchem sich letztere zufolge ihrer diffusen und «unvollendeten» Räumlichkeit erstreckten. Dieses räumliche Leibding wäre, wie wir sahen — als K ö r p e r d i n g u n t e r a n d e r n D i n g e n und in einem vulgären Sinne des «Physischen» — eben d a s s e l b e Ding, dessen Räumlichkeit i n der W e i s e o p t i s c h e r u n d « g e t a s t e t e r » E r f ü l l u n g gegenwärtig zu sein vermöchte; aber als Leibding wäre es nicht allein durch die unvergleichliche und nirgends antreffbare Natur seiner (ich-«näheren») viszeralen «Erfüllungen» ausgezeichnet, sondern nicht minder dadurch, daß seine Räumlichkeit — die gleichwohl die e i n e u n d s e l b e R ä u m l i c h k e i t des getasteten und gesehenen, ja möglicherweise « h i n d u r c h » gesehenen Dinges bleibt — sich in seltsamer, ideell räumlicher « U n v o l l e n d u n g » darstellte. Nur dieser «unvollendeten» Räumlichkeit des L e i b d i n g e s 1 gegenüber würden sich Ich und Selbst als «unselbständig» erweisen, nicht aber gegenüber d i e s e r e i n e n u n d s e l b e n , wenn zwar «vollendeten» Räumlichkeit im Sofern ihres optischen und «äußerlich» (wie «innerlich») haptischen Erfülltseins. Nicht auf das Leibding folglich, so weit es sich als in farbiges und greifbares und andern Körperdingen vergleichbares darstellte, erschienen das Ich und seine Emotionen angewiesen; denn ihrer könnte das Ich im e v i d e n t e n D a s e i n s s i n n e sehr wohl entraten, nicht aber entriete es dieses selben wiewohl unvollendeten Leibdinges — oder besser gesagt: nur einiger 1 Das in unvergleichlicher Weise «erfüllte» Leib ding wäre noch in eben demselben «vulgären» und unphysikalischen Sinne «physisch» zu nennen, wie wir das gesehene und getastete Ding, im Sofern seiner optischen und taktilen «Erfiilltheit», ein «physisches» Ding nennen dürften. Das «Ding» einer wissenschaftlichen und exakten Physik würde dagegen lediglich die ideellen und quantitativ räumlichen Verhältnisse als solche in ihrer Unselbständigkeit und unter Absehung von aller «Erfiilltheit» in Betracht ziehen können. In der Frage der A ngewiesenheit auf das räumliche Leibding aber handelte es sich natürlich nicht um ein Stück aus der Problematik des psychophysischen Zusammenhanges. Denn während dessen Erwägung uns ohne Zweifel und in der Folge nötigte das Physische in der Verfassung seiner Wirklichkeit auf- und hinzunehmen, ginge es hier um seine ausschließlich «vulgäre und qualitativ» «erfüllte» Daseinsgeltung. Auch pflegen wir den Raumcharakter des Physischen — ob zu Recht oder zu Unrecht bleibe dahingestellt — einzig und allein in der Weise seiner «Vollendetheit» für die Sphäre des Wirklichen in Ansatz zu bringen.

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seiner durchaus undeutlichen Bereiche — in der «Erfülltheit» seiner « v i s z e r a l e n » Erfahrungsweisen. «In» ihm « s t ü n d e » das Ich nicht nur, es würde auch seine unumgängliche Ergänzung in ihm fordern. Oder wie m a n auch sagen dürfte : der Leib im Sofern seiner «unvollendeten» und innerorganisch «erfüllten» Räumlichkeit: das wäre d e r Leib, dem gegenüber die Ichheit, die zudem «in» diesem Leibe figurierte, im bloßen Daseinssinne «unselbständig» zu nennen wäre. Und solche Angewiesenheit würde möglicher Weise auch im umgekehrten Sinne zu gelten haben. Indessen würden die Erfahrungen der Depersonalisation auch hier wieder das Bild der vermeintlichen «Wesenszusammenhänge» erheblich verwirren. Greift der Charakter der Entfremdung von der Welt der außerleiblichen «Wahrnehmungen» auf die der innerleiblichen hinüber, so wird auch das räumlich «unvollendete» und viszerale Leibganze seine E n t f r e m d u n g erfahren, aber diese Entfremdung wird in gewisser Weise anders geartet sein, als die der «äußeren» Wahrnehmungsobjekte und damit auch dieses meines Leibkörpers, sofern er a l s ein «gesehener» oder «tastbarer» mit in die «äußere» Wahrnehmungswelt gehörte. Denn so viel würde deutlich: Schaffte die Hemmung des Gefühlslebens u n d des Selbst in einer wenn auch dunklen Weise und vermöge einer Art Aufgabe ihres emotionalen «Widerhalles», wie möglicherweise auch noch anderer Momente, das, was wir die E n t f r e m d u n g der «gesehenen» und «getasteten» Dingwelt nennen, so würde an solcher Entfremdung auch mein «gesehener» und «getasteter» Leib, wie etwa auch das Spiegelbild meines Antlitzes teilhaben. Und wie alles im Grund Ichfremde von dieser seltsamen «Entseelung» des «Widerhalles» betroffen würde, so würde auch dieser selbe Leib, im Sofern seiner innerleiblichen Erfülltheiten von ihr angegangen sein; denn auch diese Erfülltheiten gehören noch, wie wir sahen, der Zone des Ichfremden an. Allein die hier mögliche E n t f r e m d u n g ginge noch um einen Schritt weiter. Da nämlich im Daseinsfelde der «Normalen» durch das Angewiesensein des Selbst und seines Gefühls- und Willenslebens auf die — sie dergestalt im Daseinsfelde fundierenden und im Grunde ichfremden — viszeralen Qualitäten, auch andererseits so etwas, wie eine Partizipation dieser letzteren an dem, was wahrhaft ichzugehörig zu nennen wäre und folglich eine Art «relativer» Ich-nähe, vermittelt wird, so wird es geschehen, daß bei 1

«Nous voyons», sagt Sollier, «que les malades considèrent leur membres et les différentes parties de leur corps comme étranger à eux comme faisant partie du monde extérieur, comme des objets, qu'ils perçoivent en tant qu'objet s mais qu'ils ne rapportent pas à leur personalitê.» Zitiert nach Osterreich «Phänomenologie des Ich» Bd. I, S. 52.

4. Die Schemata des Lebens und Erlebens

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Gelegenheit der Gefühlshemmung oder zum wenigsten gewisser Hemmungen wahrhaften und ichverfestigten emotionalen Lebens, auch diese «relative» Nähe zum Ich (im Sinne des Ichzugehörigen) wieder aufgehoben wird und damit die viszeralen Qualitäten in dieselbe Ebene entschlossener Ichfremdheit eintreten, die schon den Gesichts- und Tastqualitäten, wie den dergestalt tingierten Gegenständen einer «normalen» Dingwelt «da draußen» zu eigen waren. Und so verstehen wir die Urteile mancher Depersonalisierter, dahin gehend, daß ihr Leib, und zwar gerade im S o f e r n s e i n e s i n n e r o r g a n i s c h e n E r f ü l l t s e i n s nicht mehr ihr eigener Leib sei, sondern sie wie ein beliebiger Gegenstand der Außenwelt anmute, daß sie den Bewegungen dieses Leibes zuschauen und sich darüber wundern, daß Hände und Füße «keine Dummheiten machen», und alles dies ohne daß eine Anästhesie des Körpers bestünde 1 . Aber der vermeintliche «Wesenszusammenhang» scheint selbst dahin durchbrochen werden zu können, daß, wenigstens vorübergehend, ein ichterminiertes emotionales Leben der Kranken bei völliger Aufhebung der innerleiblichen Qualitäten statthaben kann. Über einen schweren Fall traumatischer Hysterie den Sollier beobachtete, berichtet Österreich: «Der Kranke befand sich zunächst in einem Zustande vollständiger Depersonalisation, fast absoluter Gefühlsstarre. — Allmählich kehrte nun unter dem Einfluß der eigentümlichen suggestiven Behandlung Solliers das Gefühlsleben und damit auch das Persönlichkeitsbewußtsein zurück, nicht aber auch, und das macht für uns den Fall so wertvoll, die Gesamtheit der Körperempfindungen. Sollier berichtet vielmehr: «Il e s t . . . à remarquer que si la sensibilité était revenue au front et au crâne par le réveil cérébral, accompagné du retour de la mémoire et de la représentation mentale, les membres et les viscères n'avaient recouvré que très imparfaitement leur sensibilité, dont l'état rudimentaire contrastait singulièrement avec celle du crâne. Or malgré cela, l'émotivité était très grande, et les émotions se produisaient normalement. 1 » — Die vermeintlichen «Wesens»-zusammenhänge des seelischen Lebens erfahren hier ihre erste nachdrückliche Erschütterung; wir werden sehen, daß auch die Lehre von den ideellen, und sie durchflechtenden Grundverhältnissen eine Neuordnung fordert. 4. Die S c h e m a t a des L e b e n s und E r l e b e n s Wollte man das «Leben» des Ich in schlichter Bescheidung auf die «seelischen» Tinktionen dieses «Lebens» zu bestimmen versuchen, d. h. ohne etwa zu erfüllender Werthinsichten zu gedenken, 1

Bei Österreich

a. a. 0. S.

54f.

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die erst mit dem Charakter der « P e r s o n » oder des «Menschen» offenbar würden, aber auch ohne auf ideelle Konfigurationen hinzudeuten, die das Leben in einer wie immer zu verstehenden Weise als dessen «Sinn» überschwebten, wie endlich ohne Hinsicht auf ein W o - , oder W o r i n leben, so würden wir uns etwa dermaßen ausdrücken. «Leben» des Ich ist hier nichts als zeitlicher Fortgang seiner selbst als eines Daseienden, inmitten seiner von ihm terminierten dauernden oder wandelbaren und von Intentionen beseelten Befindlichkeiten, inmitten seiner Stellungnahmen und seiner Urheberschaft. Das «Leben» des I c h ist hier folglich nicht so zu verstehen, daß es noch in einer besonderen und ausgezeichneten Hinsicht seines Wesens, d. h. etwa als ein spezifisches Verhalten des Ich und ü b e r die mannigfache Verhaftung an das, was im seelischen Sinne das «Seinige» ist, h i n a u s zur Abhebung gelange, sondern Leben des Ich ist dies Verhaftetsein des Ich, dieses Sosein inmitten dessen, was ihm zugehört, selber, nur gesehen gleichsam im Aspekte der Zeit: nicht einer Zeit freilich, die ins W i r k l i c h e hinzunehmen wäre, sondern einer in ihrer Idealität daseienden oder «gegebenen» Zeit, die als geltende Bestimmtheit des Ich und seiner seelischen Verhalte figurierte. Hier würde sich ein erster Sinngehalt des L e b e n s «in» e t w a s abzweigen. Ich lebe «in» meinen E m o t i o n e n , das will noch nicht besagen, daß ich «in» ihnen «lebendig» bin, daß sie das Ich vermöge der Tinktionen seiner «Intensität», in die Erregtheit ihres Wesens hineinziehen, sondern in schlichtester Weise nur dies, daß ich sie in einem primären Sinne «habe», unvermittelt an sie vergeben bin, nicht aber vorgängig an die Willentlichkeit oder den Trieb einer Z u w e n d u n g , die sich auf sie selber, bzw. auf das sie terminierende Ich erstreckten. Das bloße Leben «in» etwas aber brauchte das Ich noch nicht des puren B e w u ß t s e i n s seiner selbst, wie seiner terminierenden und inaugurierenden Funktion zu entheben, sofern solches Bewußtsein nur nicht im Modus der distanzierenden Beachtung oder Zuwendung Geltung gewänne. Das Motiv dieser Unterscheidung ist zu bekannt, als daß wir Anlaß fänden, es eingehend zu entwickeln. «Lebe» ich «in» meinem Gefühle, so will das bedeuten, daß ich es unter der Bedingung «in mir» habe, unter der es allein seine Fülle und Konstanz zu erweisen vermag, nämlich, daß es nicht selber im «Blick der Beachtung» stünde, da dieser «Blick» es verdünnen und schließlich auflösen würde. Aber auch hier gibt es, wie wir heute wissen, keine Unabänderlichkeit; finden sich doch Stimmungen von höchster Gewalt, die selbst eine maßvoll geübte Zuwendung kaum zu entkräften vermöchte. Nur von den i n t e n t i o n a l e n , und vor allem den a f f e k t i v

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i n t e n t i o n a l e n Gefühlen würde das eben Gesagte in vollerem Umfange gelten1. Volles «Leben im» Gefühle und damit seine wie immer verstandene Echtheit wäre, wie wir wissen, nur dann zu gewährleisten, wenn der «Blick des Bewußtseins» dem i n t e n d i e r t e n G e g e n s t a n d oder S a c h v e r h a l t e in der E i g e n a r t seiner w i d e r h a l l m ä ß i g e n und e m o t i o n a l e n F ä r b u n g zugekehrt bliebe. Die Richtung des «Blickes» auf den Sachbestand, den das Gefühl intendierte und damit über das Gefühl selber hinaus, schiene hier also unabänderlich zur Geltung des echten und intentionalen Gefühles zu gehören; derart, daß jede, wo immer hin gerichtete Ablenkung desselben eine der Angewiesenheiten des i n t e n t i o n a l e n Gefühles und damit dieses selber — wenn auch zunächst nur im Charakter seiner Intentionalität a u f den v o r g ä n g i g «erblickten» S a c h b e s t a n d — außer Geltung setzte2. Ahnliches wäre auch über unsere intentionalen Stellungnahmen und im besonderen auch über die Konfigurationen des «Willens» zu etwas auszusagen. Aber so wie wir in unseren Emotionen «leben», läßt eine erweiterte Sinngebung dieses Terminus uns auch in den Dingen der Umwelt «leben». Wahrlich, kein geheimnisvoller und magischer Akt ist hier gemeint, noch eine Art von Leben im e m o t i o n a l e n « W i d e r h a l l » der Dingwelt3, sondern einfach dies: daß wir uns der Illusion hingeben, als seien wir in ichzentrierter und durchaus räumlich zu verstehender Leiblichkeit «im» Dinge und versuchten nun, in seine — meist vorgängig schon physiognomisch erscheinenden — «Glieder» und Bewegungen gleichsam hineinschlüpfend, auch das entsprechend 1 Übrigens gibt es auch ohne Zweifel selbst ein Beobachten leiser Stimmungen, ohne daß dadurch die Stimmungen aus ihrer Erlebensstellung und Ichnähe gleichsam hinausgetrieben und möglicherweise sogar vernichtet werden. Dies gegen M. Geiger: «Das Bewußtsein von Gefühlen». Münchener Philosophische Abhandlungen S. 1 2 5 f f . 2 Damit stünde natürlich nicht im Widerspruch, daß eine solche Ablenkung Anlaß dafür sein könnte, daß das eine intentionale Gefühl einen anderen und neuen Sachbestand intendierte. So wäre es z. B., wenn das Gefühl allererst seinen Gegenstand zu «suchen» schiene. 3 Wir haben in früheren Zusammenhängen und wie oben schon sehr sorgfältig unterschieden: einmal zwischen dem evident, d. h. tatsächlich gegebenen und sehr merkwürdigen emotionalen « Widerhall» der Dingwelt, so wie er etwa in der «Stimmung» einer Landschaft oder gar schon eines einzelnen Tones, einer einzelnen Farbe, vorliegt, und der niemals gegebenen immer nur «gedanklich» zu erfassenden und stets als ichgebunden hingenommenen «Beseeltheitwie sie «hinter» einer an sich nicht weniger seltsamen Physiognomik (in «Ausdruck», Mienen, Gesten usw.) in Ansatz zu bringen wäre. Aber freilich kann solche Physiognomik nun an sich wieder jene unmittelbaren, «widerhallmäßigen» Momente des Emotionalen aufweisen. Das Eigenartige des «Ausdrucks» aber liegt wie uns scheint und wie wir auch nachzuweisen versuchten, zunächst nicht im Widerhallmäßigen. Siehe das Folgende, sowie «Vorstudien» Bd. II, S. 2 7 0 f f , 360ff.

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ichverfestigte emotionale Leben in uns zu erwecken, das wir hinter dieser «Mimik», und freilich zumeist im Bewußtsein seiner illusorischen Geltung i n A n s a t z b r i n g e n . So ist es, wenn wir im Baume, in der Welle, in der Wolke, im Grashalm, aber nicht viel anders auch, wenn wir im tierischen Mitgeschöpfe «leben». Da alles, auch das schlechthin und im o r g a n i s c h e n S i n n e «Tote», — und sei es ein Felsblock oder eine Sonate — in irgendeiner Hinsicht eine solche Physiognomik offenbart, so ist grundsätzlich überall ein «Leben im» Dinge möglich, wenn auch zuzugestehen ist, daß Unbeweglichkeit und Armut an physiognomischen Charakteren jenes Einleben fast unmöglich machen und daß sich in vielen Fällen die Grenzen zwischen emotionalem Widerhall und bloß hingenommener und ichzentrierter Beseeltheit — eben auf der Basis der Physiognomik der Dinge — merkwürdig zu verwischen scheinen. Aber alle diese, schon vielfältig und mit Glück behandelten Umstände sollen hier nicht bedacht werden, sondern statt ihrer das, was den Sinn des « E r - l e b e n s » gegenüber dem des bloßen L e b e n s «in» etwas ausmacht. Auch hier sei den vielfachen Sinnrichtungen des Wortes nicht weiter nachgegangen, vielmehr begnügen wir uns mit der Feststellung, daß das « E r l e b e n » bedeutungsgemäß einmal durchaus in die eben behandelte Funktion des « L e b e n s in» e t w a s , einzutreten vermöchte. Ein intentionales Gefühl, eine nicht intentionale Stimmung «erleben» wäre eins mit dem, was wir «Leben im» Gefühle, in der Stimmung nannten. Aber das Erleben würde auch Tatbestände bezeichnen, zu denen das Leben «in etwas» nur noch in einem modifizierten Sinne Gefolgschaft leistete. Würden wir der Lehre vom intentionalen «Bewußtsein» beipflichten, so ließen wir uns auch zu der Feststellung herbei, daß so etwas wie ein «Leben» im « W a h r n e h m e n » , im « V o r s t e l l e n » , im « g e d a n k l i c h e n E r f a s s e n » usw., und zwar im Sinne eines unabgelenkten, durch volle Zuwendung der Aufmerksamkeit getragenen, « B e w u ß t - h a b e n s » von Gegenständen und Sachverhalten stattfinde. Gewiß unter ähnlichen Kriterien stattfinde, die auch das Leben des Ich «in» seinen E m o t i o n e n festlegten. Und demgemäß ließe sich ein Leben im W a h r g e n o m m e n e n , im Vorg e s t e l l t e n usw. in einer nun freilich schon erheblich abschweifenden Sinnrichtung insofern bestimmen, als ich etwa über der Eindringlichkeit des Wahrgenommenen mich selbst vergäße, als ich in einer Welt des mir vorstellungsmäßig Vorschwebenden ganz und gar und ohne noch die Distanz meiner «faktischen» Daseinssphäre, bewußt innezuhalten, «aufginge» usw. Aber würde schon auf die letztgenannten Beispiele der Sinn des Er-lebens nicht mehr recht zutreffen, so beanspruchte er seine eigene Domäne auch wahrhaft

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in einer ganz anderen Richtung. Wir verstehen hier unter «Erleben» dies, daß wir zufolge einer den Dingen und Ereignissen gegenüber bezeugten Bereitschaft und Zuwendung, so etwas wie eine Gestimmtheit durch sie erfahren. Die Bedingungen solchen «Erlebens» sind vom Erleben selbst sorgfältig zu scheiden. Bedingung für das Erleben eines Musikwerkes ist nicht so sehr die Gegenwart seiner selbst als vielmehr dies, daß wir ihm für die Dauer des «Erlebens» z u g e w a n d t bleiben. Bedingung ist ferner eine Art E n t l e e r u n g des Selbst von all den Regungen, die geeignet wären, Eigenart und Schwingungsstärke des Erlebens zu schwächen oder gar aufzuheben, also von allen, dem jeweiligen Erleben gegenüber feindlichen Regungen. Aber Bedingung wäre zum wenigsten auch eine Dämpfung des a f f e k t i v e n Charakters f r e u n d l i c h e r Regungen, die zwar das Erleben zu stärken vermögen, aber seine Differenzierung hintanhalten 1 . Und nun würde das E r l e b e n des Musikwerkes einmal darin liegen, daß ich gemäß der vorhin beschriebenen Weise des «Lebens in» etwas, «in» eigenartigen Regungen «lebe», die, wie wir einmal unvoreingenommen sagen wollen, von dem Wahrgenommenen und sicher schon vorgängig emotional («widerhallmäßig») gefärbten 2 Werke, und gewiß auch meiner stets aktuell zu gestaltenden Überzeugung nach — in mir «hervorgerufen» oder «erwirkt» werden. Im vorliegenden Beispiel würde voraussichtlich eine spezifische und nichtintentionale Stimmung in mir auftauchen, die irgendwie mit dem wenig differenzierenden Charakter der inneren «Erhobenheit» zu belegen wäre und von der ich hier nur das eine sagen würde, daß sie mit dem Musikstücke, das außer s e i n e r emotionalen und widerhallmäßigen Färbung auch alle Tinktionen des «Ästhetischen» i m m e r n u r « o b j e k t i v » u n d im b l o ß e n S o f e r n s e i n e s Das e i n s «da d r a u ß e n » m i t s i c h f ü h r t e , durch ziemlich fest erscheinende Bande der «Erwirktheit» verknüpft wäre 3 . Allein wieso 1 Eine schon vorhandene ichhafte und dem Unheimlichen irgend entsprechende Gestimmtheit verstärkt das Erleben unheimlicher Situationen oder Erzählungen; aber ein vorhandenes Grauen wird uns niemals das Unheimliche der Situation oder Erzählung differenziert erleben lassen. 2 Kann ich doch — etwas verärgert in den Konzertsaal tretend — der Lieblichkeit einer Musik inne werden, ohne sie doch schon sogleich als solche zu er-leben. 3 Wir wollen also mit diesem Beispiele keineswegs die einem Kunstwerke gegenüber angemessene Einstellung kennzeichnen. Gewiß, ich kann natürlich auch ein Kunstwerk «erleben». Aber nicht darauf kommt es an im Falle des Kunstbetrachtens, daß ich hier, im Blick auf das Kunstwerk befangen, «in» Gefühlen «lebe», die es in mir wachrief; letzteres ist ziemlich unwesentlich, sondern vielmehr daß ich die ästhetischen Charaktere des Kunstwerkes als etwas «objektiv» im Wahrnehmungsbestande Liegendes zur mittelbaren oder unmittelbaren Gegebenheit bringe.

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ist das «Leben in» derart «hervorgerufenen» und dem vernommenen Musikwerke, wie immer, «in mir» entsprechenden Regungen ein « E r - l e b e n » des M u s i k w e r k e s und nicht etwa ein Erleben jener R e g u n g e n ? — Insofern, als wir dem Musikwerke z u g e w a n d t sind, ja, zugewandt sein m ü s s e n , wenn wir des « L e b e n s in» jener emotionalen Erwirktheit teilhaftig werden wollen, und daß es wiederum nur die Zuwendung auf das Objekt ist, die uns des «Erwirktseins» jener Regung, a l s v o n i h m e r w i r k t o d e r herk o m m e n d , unmittelbar inne werden ließe. Letzteres gilt freilich nur für die höhere Form des d i s t a n z i e r t e n Er-lebens, während das undistanzierte, uns, die wir gewiß wiederum im Blick auf das Objekt oder Ereignis «im» Gefühle « l e b e n » , gleichsam überrumpelt und emotional mit sich reißt. Der Tatbestand oder die Objekte aber, w e l c h e wir «erlebten», blieben in ihrer phänomenalen Position vor uns bestehen und würden auch im Sofern ihres Daseins und nach keiner ihrer möglichen Auslegungen «in uns» hineinrücken. Immerhin bliebe zugestanden, daß der Anteil des emotionalen Lebens auch hier so etwas wie eine Art Ichnäherung des also Erlebten vermitteln könnte. Nur eine Korrektur noch forderte unsere Darstellung. Nicht immer schon nennen wir ein Etwas «erlebt», wenn wir, i h m zugewandt, «in» Gefühlen leben, die das Ereignis in« uns» weckte und die i n t e n t i o n a l a u f d i e s e s E t w a s « g e r i c h t e t » s i n d . Das liegt im Wesentlichen daran, daß das distanzierende «Erleben», welches wir gemeinhin bei der Verwendung dieses Terminus im Sinne haben, vorwiegend ein «Leben in» zuständlichen und stimmungsmäßigen Verfassungen besagt, in welchem die eigentlichen und intentionalen Gefühle, vor allem, wenn sie noch einen affektiven Charakter erhalten, schon etwas Störendes, die Möglichkeit und Fülle des Erlebens Hintanhaltendes, j a , die Gleichmäßigkeit der Zuwendung Beeinträchtigendes mit sich führen. Und dies gilt keineswegs nur dann, wenn die Gefühle den Charakter des Peinlichen annehmen. Man könnte daher ernsthaft darüber streiten, ob die, wenn auch «erwirkten» Regungen v o n i n t e n t i o n a l e r B e s e e l t h e i t noch wahrhaft dem hier vorgeführten engeren Sinn des «Erlebens» gerecht werden. «Erleben» im strengen und typischen Sinne würde mithin nicht so viel besagen, a l s « l e b t e » ich in E m o t i o n e n , d i e i n t e n t i o n a l a u f d i e s e s E t w a s hin«ger i c h t e t » s e i e n . Wollten wir die Z u w e n d u n g , als bloßes «im Blicke»-Haben des jeweils Erlebten, und i h r e intendierende Funktion hier außer acht lassen, so läge es geradezu im «Wesen» echten und typischen E r l e b e n s , daß es jede — selbst gefühlsmäßige — Intention oder Haltung dem zu erlebenden Objekte gegenüber ab-

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lehnte, um nur die F ü l l e e r w i r k t e n G e s t i m m t s e i n s in u n s f r e i z u g e b e n . Vielleicht würde solches Erleben noch emotionale, wenn auch in fremder Richtung gehende Intentionen zulassen, allein diese doch wiederum nur insoweit als sie jene Zuwendung an das zu e r l e b e n d e Objekt nicht hintanhielten.. Indessen gäbe es auch ein durchaus analoges «Erleben» unserer eigenen emotionalen Verfassungen, in dem sich das vorgeführte Schema getreulich wiederholte: H i n g e w a n d t a u f Regungen unseres eigenen emotionalen Lebens, « l e b t e n » wir andererseits «in» Regungen, die als «Erwirktheiten» der ersteren «in uns» offenbar werden. Man mag solche emotionale Selbstbezugnahme für widernatürlich und logizistisch halten, sie besteht tatsächlich und ist ohne Schwierigkeit aus den Verhalten herauszusehen. Zwar «erl e b e n » wir in dem h i e r b e z e i c h n e t e n S i n n e sicher keine intentionalen Gefühle von a f f e k t i v e r S t ä r k e , aber schon dürfte es zutreffen, daß wir überhaupt intentionale Gefühle zu erleben vermögen, wenigstens solange sich die bedingende Zuwendung noch unterhalb der Höhe eigentlicher B e o b a c h t u n g hält. Sicher dagegen ist, daß wir Stimmungen, die uns beseelen, und selbst solche mitunter von beträchtlicher Stärke unter voller Zuwendung, j a bisweilen sogar unter beobachtender Zuwendung, zu «erleben» vermögen. An einem schönen Frühlingsmorgen erwachend, bin ich nicht nur froh erregt, sondern ich «erlebe» auch in der bedeuteten Sinnrichtung die Freude. Das heißt: dieser meiner — hier durchaus nicht intentionalen — F r e u d e zugewandt, j a , sie gegebenenfalls beobachtend, «lebe» ich in einer, wie immer «erwirkten» neuen und abhebbaren Verfassung der Freude, die nun für sich wiederum pure Stimmung, pures Frohsein oder auch wahrhafte und intentionale (und nicht mehr streng «er-lebens»mäßige) Freude an meiner eigenen frohen Stimmung sein könnte 1 . Es ist indessen nicht gesagt, daß die hier auftretenden Regungen nur solche der «Lust» oder «Unlust» sein müßten. Der «Genuß» und sein Gegenspiel bildete nur eine der Möglichkeiten, in welcher unsere eigenen Emotionen von uns «erlebt» würden. Aber man glaube nicht, daß nun die eigenseelische und gleichsam von einem anderen Stockwerk her «erlebte» Regung, etwa um dessentwillen, weil wir ihr z u g e w a n d t sind, j a , sie vielleicht sogar näher «im Blicke» haben, uns zwinge, auch nur das mindeste von dem, was wir unser «Leben in» ihr nennen, aufzugeben. Eine mich erfüllende Stimmung kann auf Grund «innerer» Zuwendung «erlebt» 1 Man denke etwa an die Lust, die wir an der Stimmung des Gruseins an den Genuß der Melancholie, an die Furcht vor einer eigenen und triebhaft lichen Regung.

haben, gefähr-

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sein, derart, daß ich etwa «in» einer durch sie «erwirkten» Lust, die wiederum eine Lust «an» ihr sein könnte, «lebe»; aber darum brauche ich keinen Augenblick aufzuhören auch in jener Stimmung zu « l e b e n » , d. h., sie kann ebenso innig mir z u g e h ö r i g bleiben, wie ich zum anderen auch, und in der früher beschriebenen Weise, in ihr « l e b e n d i g » bliebe. E s brauchte also weder die e r l e b t e Reg u n g , wenn auch kaum merklich, in der Richtung des I c h f r e m d e n zu entweichen und damit jene gewisse seltsame Lockerung eintreten zu lassen, von der wir vorhin redeten, noch brauchte das Ich etwas vom Charakter seiner «Lebendigkeit» in dieser Regung aufzugeben. Vielmehr bliebe die «erlebte» Regung noch ebenso unangefochten und deskriptiv in demselben und engsten «Subjekt»-bereich der Zugehörigkeiten gelegen, in dem auch die Stimmung oder das Gefühl anzutreffen wäre, «in» w e l c h e n wir sie «erleben». Das wäre immer wieder gegen eine Auffassung zu erinnern, die befangen in dem elenden Schematismus einer «Subjekt»-«Objekt»relation, noch eher bereit wäre, sich die «inneren» Objekte der Zuwendung wie auf einem Projektionsschirme und hinter einem quasi-räumlichen Vorfelde ausgespannt zu denken, als die zwar seltsame aber schlichte und jedenfalls allem Schematismus zuwidere Tatsache sprechen zu lassen, nach welcher faktisch die Seele sich selber zu «er-leben» vermag. Grundsätzlich aber könnte auch von einem Erlebtsein des Ich — als bloßer Ichhaftigkeit — geredet werden. Wollte man auch hier vorerst ein pures «Leben im» Ich in Erwägung ziehen, so würde dieses de fakto nichts anderes, als das vorhin bedeutete « L e b e n in» seinen emotionalen Verfassungen besagen, d. h. es würde so viel besagen, daß das Ich an eine beliebige Zuständlichkeit, eine Stellungnahme, einen Handlungsvollzug usw. in der Weise seiner terminierenden oder inaugurierenden Verfassung unvermittelt und unreflektiert vergeben sei, und zwar immer noch als ein in s o l c h e r V e r f a s s u n g d a - s e i e n d e s und gleichviel wie solches « D a s e i n » im Hinblick auf Jemanden, «für den» es da wäre, verstanden würde und ob es nur noch soeben und gleichsam mit einem Seitenblick des Bewußtseins zu erhaschen sei, nicht also dergestalt, daß es in diesen Vollzügen völlig und ohne Rest aufginge oder untertauchte; denn solcher Art würde vom Ich fernerhin nur unter Bezugnahme auf seine etwaige subliminale «Tiefe» die Rede sein können. Meinte nun in strenger Analogie zum Vorgehenden, die Frage nach einem Er-lebtsein des Ich eben dies, ob es — im Bewußtseins«blicke» und damit in der Zuwendung stehend — Regungen seines emotionalen Lebens «wachrufe» in denen es sich selber «erlebt» finde, so bliebe zu bedenken, ob hier wahrhaft ein Erleben des puren I c h m o m e n t e s stattfinde und ob es nicht vielmehr stets eine ichterminierte Zu-

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ständlichkeit, Stellungnahme usw., j a , das Lebensgefühl selbst sei, die wir «erleben» oder «erlebend» auskosten. Die so oft beredete «Tiefe» des Erlebens aber wäre bereits dem « L e b e n in» etwas zu eigen: es wäre ein Leben, das nach der Vorstellung der Vulgärpsychologie in der «Tiefe» des Ich wie des Selbst vonstatten ginge. Wir haben inmitten fernerer Überlegungen schon einmal in einem anderen Sinne von einer vermeintlichen «Tiefe» des Ich wie des Selbst reden dürfen. Wir meinten dort, daß zufolge der Emporhebung, die das Ich und seine Zugehörigkeiten in «reflexiver Blickrichtung» erfahren, mannigfache Momente in das Daseinsfeld gelangen, von denen wir unvoreingenommen sagen würden sie seien «immer schon vorhanden» gewesen und nur einer in die «Tiefe» dringenden Zuwendung sei es zu verdanken, daß sie aus einer Art seelischer Verdecktheit hervorgeholt wurden. Es ließ sich indessen wahrscheinlich machen, daß die «Tiefe» um die es sich hier handelte, eine nur vermeintliche Tiefe sei, und daß keinerlei schlüssige Hinweise dafür gefunden würden, daß es hier echte Verdeckungen gibt, die seelisches Leben, und mit ihm das zentrierende Ich — in einer Weise, die nicht mehr diejenige des D a s e i n s sein könnte — für uns hintanhielten 1 . Hier dagegen steht ein anderer Sinn der «Tiefe» in Frage, es ist der, welcher eine d u r c h a u s d e m D a s e i n a n h e i m f a l l e n d e «Tiefe» oder Innerlichkeit des Ich-Selbst gegen seine Oberfläche zur Abhebung bringen möchte. Der «tiefen», weil aus der «Tiefe des Ich» kommenden Stimmung, dem «tiefen» Gefühl etwa, die «in» mir «leben», die stark und dauernd sind und ebenso dauernd auch ihren intentionalen Gegenstand festhalten, stehen — in äußerster Distanz freilich nur — die nicht «in die Tiefe» gehenden, schwachen und schnell verwehenden Emotionen gegenüber, Stimmungen und Gefühle, die gleichsam nur den Spiegel unseres Ich-Selbst bewegen und durch jede beliebige ausdrücklichere oder tiefere Regung ohne weiteres verdrängt zu werden vermöchten. — Allein es zeigt sich sofort, daß die hier angegebenen Kriterien doch nicht so unbedingt auf Tiefe oder Oberfläche der Emotionen verpflichten. So wenig alle starken Emotionen aus der «Tiefe» kämen, so wenig wären alle schwachen Regungen solche der bloßen «Oberfläche». Man vergegenwärtige sich die «sanfte Melancholie», die eines Menschen seelische Grundstimmung ausmacht und von der niemand sagen wird, daß sie nur die peripheren Seiten seines Wesens berühre, und vergleiche damit die Stärke einer momentanen, etwa leiblich be1

Vergl. unsere «Vorstudien» Bd. II, S. 258ff.,

420ff.

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dingten Unlust, die keineswegs in die «Tiefe seiner Seele» hinabreicht. Desgleichen würde das Kriterium der D a u e r nicht wesentlich bestimmend sein. E s gibt starke Gefühle, die tief sind, und dennoch nicht dauern, sondern rascher verdampfen als der Sinn einer auch für sie normierend wirkenden und durch Werthinsichten oder sonstwie vermittelten «Echtheit» es zuließe. Andererseits gibt es schwache und lediglich tangierende Gefühle, die dennoch durch eine relative Dauer ausgezeichnet sind, ja, erst dieser Dauer vielleicht eine allmähliche Vertiefung ihrer selbst verdanken. Aber schließlich stünden auch E c h t h e i t und U n e c h t h e i t der Emotionen zu den Unterschieden ihrer Tiefe in keinem eindeutigen Verhältnis. Nicht jedes Gefühl, das stark ist, und, wenn auch für den Augenblick nur, aus der «Tiefe» kommt, ist — wie A. P f ä n d e r sehr eindrucksvoll an dem Redner zeigte, der sich in seine Gefühlsüberschwänglichkeit gewissermaßen hineinspricht — schon ein «echtes» Gefühl, aber andererseits wäre auch ein Gefühl nicht deshalb schon ein «unechtes» zu nennen, weil es schwach wäre, und nicht in die «Tiefe» meines Wesens hinabtauchte. Das Mitgefühl, das mich bei der Lektüre eines Romanes etwa mit dem Schicksale seines Helden erfaßt, ist vielleicht weder ein besonders tiefes, noch starkes noch dauerndes Gefühl; ist es doch fast augenblicklich dahin, wenn ich das Buch zur Seite lege; aber deswegen würde ich mich doch nicht veranlaßt sehen, jenes Mitgefühl als ein «unechtes» zu bezeichnen. Vielleicht werden wir sagen dürfen, daß sich der Sinn der Gefühlst i e f e mit d e m Sinne der G e f ü h l s e c h t h e i t begegne, der sich an der « E r g r i f f e n h e i t » des I c h orientieren möchte. Ein Gefühl — und sei es beispielsweise auch ein «verstiegenes» und, aus einem besonderen Echtheitssinne gesehen, «unechtes» Gefühl, das im Augenblick zu entschweben bereit wäre, —wäre, wenn selbst vorübergehend nur, ein « t i e f e s » Gefühl, wenn das Ich und mit ihm das Selbst, wie wir nun sagen dürfen, sich in ihm nachhaltig erregt und aufgetrieben fände, wenn es vermöge seiner seltsamen Intensitäten in s e i n e m Gefühle «lebendig» wäre. Auch ein schwächeres Gefühl wird dieser Bedingung seiner «Tiefe» zu genügen vermögen, j a , gerade die schwächeren aber um so dauernderen Gefühle und Stimmungen, in denen das Ich in einer Art stiller und doch «lebendiger» Erregtheit gegenwärtig ist, werden zum emotionalen Grundstock der Seele gehören. «Oberflächliche» Gefühle dagegen, die zumeist, wenn auch keineswegs ausschließlich, schwächere Gefühle sind, werden das Ich entweder «kalt» lassen oder es nur unvollkommen in die Schwingungen ihrer Erregtheit hineinziehen. Und doch muß es noch eine andere Unterscheidung sein, die hier bedeutsam wird. Man vergleiche etwa zwei Weisen der Unlust, die

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ihrer qualitativen Beschaffenheit nach recht verschieden sein mögen, allein im Hinblick auf das Moment ihrer «Tiefe». Ein Zahnschmerz kann dauernd und heftig sein und mir eine sehr beträchtliche «Unlust» bereiten, eine «Unlust», •welche die Ichhaftigkeit selber — hier unter dem negativen Vorzeichen ihres depressiven Charakters, ihrer Gedrücktheit — in ihr «lebendig» sein ließe. Und doch greift diese Unlust offenbar lange nicht so tief an die Wurzeln unseres Wesens, wie eine andere und vielleicht schwächere, die ich verspüre, wenn ich — wie etwa im Falle eines grippeartigen Unwohlseins — mich faktisch «krank» fühle. In wieweit hier das Ich in seiner Gestimmtheit «lebendig» sei, stehe dahin, aber das eine ist doch nicht zu bezweifeln, daß in diesem Falle die Unlust in einer irgendwie ichnäheren Schicht, und zwar so zu sagen innerhalb der Zone des Selbst, zum Austrag komme. Und in Vergleich hierzu ziehe man eine «Lust» von der Art eines selbst ausgelassenen Vergnügtseins, welche das Ich beträchtlich miterregt und auftreibt, in ihrem Verhältnis zu einer uns tief durchwaltenden, an sich vielleicht nicht so ich-«lebendigen» F r e u d e , die wiederum bis an die inneren Grenzen emotionaler Ichverwurzelung im Selbst heranführt und uns «in der Tiefe» zu treffen scheint. Demnach möchten wir behaupten, daß schon die Bereiche des ausdrücklich Ichzugehörigen der Gefühle und Stimmungen, und zwar diesseits der Zustände krankhafter Entfremdung und auch nicht etwa erst in der Folge einer Zuwendung, so etwas wie Zonen relativ größerer Ichnähe oder Ichfremdheit mit sich führen, die für jene Bereiche konstitutiv sind und die mit dem, was wir Stärke, Dauer, Gewicht, j a , selbst Ich-«Lebendigkeit» der Emotionen nennen, weder identisch sind noch ihnen in strenger Zuordnung zu entsprechen brauchen. Es gibt eine Entferntheit der Emotionen vom Ich, die ohne das Band der Ichzugehörigkeit zu zerreißen, aber auch ohne einer wahrhaften E n t f r e m d u n g Vorschub zu leisten, doch eben den Eindruck mitführt, als ginge uns dies alles im letzten nichts an, als handele es sich um ein Spiel der Oberfläche, an dem zwar die Ichheit teilhabe, j a , in dem sie bis zu einem gewissen Grade «lebendig» sein könne, das aber dennoch — peripher und belanglos wie eben ein Spiel — gar nicht an das herunterreiche, was die emotionale «Tiefe» der Seele ausmache. Und wiederum gibt es — wenn auch hier in einer äußersten und schematisierenden Distanz gesehen — Stimmungen und Gefühle die schlechthin ichnahe sind und in einem schwer erleuchtbaren Sinne an d e r m e r k w ü r d i g e n K o n t i n u i t ä t des « S e l b s t » , m i t d e m s i e i n e i n e r E b e n e zu l i e g e n s c h e i n e n , teilhaben. Gefühle und Stimmungen, die, wiewohl dem e i n e n u n d s e l b e n I c h zugehörig und letztlich von

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dem e i n e n S e l b s t aufsteigend, dennoch in einer Art Feindseligkeit und Antagonismus zu den Gefühlen entfernterer Zonen stehen können, und zumeist auch von dauerhafterer Art sind. Aber nicht darum in der Tiefe leben, w e i l s i e , wenn auch nicht ohne Ausnahme, a n d a u e r n , sondern vielmehr andauern, weil sie dem allemal tiefen, konstitutiven und kontinuierlichen Charakter des S e l b s t um so viel ausdrücklicher verhaftet bleiben. Aber auch dies möchten wir zu bedenken geben, daß die «tiefen» Gefühle im Hinblick auf ihre innerleibliche Orientierung und damit im Sinne ihrer Quasiräumlichkeit «innerlicher» zu sein und damit auch in dieser Hinsicht «tiefer» zu liegen scheinen als die leichten und leichtverschwebenden Stimmungen und Gefühle und sicher auch häufig die Affekte. Denn während die an der «Oberfläche» liegenden und leicht dahinschwebenden Gefühle die fundierende Leiblichkeit und mit ihr deren räumliche Verfassung, an der sie in so merkwürdiger Weise teilhaben, sehr viel weniger offenbar machen, oder während andererseits die Affekte sich wie am Orte der zu erwartenden Tatauslösung zu versammeln scheinen, bleiben die Tiefen und noch im Zonenkreis des Selbst perennierenden Stimmungen und Gefühle «tief in der Brust» gelegen, in der sie sich in seltsam diffuser Weise ausbreiten und die sie in einer Art stiller Gegenwart auszufüllen scheinen. Nach alledem aber ließe sich sagen, daß sich die Tiefe des « E r l e b e n s » letztlich durch die Selbst-Nähe und Ich-Lebendigkeit der Emotionen bestimme, deren «Erwirktheit» in uns wir m i t d e m B l i c k a u f Zustände, Ereignisse, Dinge usw., als eben von i h n e n «erwirkt», innewerden. Determiniere ich eine vor mir befindliche Farbe um alle diejenigen Momente, die entweder von ausdrücklich ideeller Natur sind, wie etwa ihre Identität, ihr numerischer Charakter oder die ihr zukommenden Bestimmtheitsweisen des Räumlichen und Zeitlichen usw., wie ferner um die nicht mehr «ideell» zu nennenden und gewiß auch a n s i c h nicht «qualitativen» Tinktionen ihrer Stärke und Helligkeit, ihrer möglichen Eindringlichkeit und ihres inneren «Lebens», so «gelange» ich schließlich auf ein Letztes, durchaus Unselbständiges, «Stoffliches», wenn ich so sagen darf, das ich als puren Farbton, pure Qualität der Farbe, im engeren Sinne, bezeichnen dürfte. — Ich frage: würde entfernt Ähnliches etwa auch für eine aus der Ganzheitsverflechtung der Seele gleichsam herausgebrochene Besonderheit gelten können ? Liegt etwa einer Stimmung die mich beseelt, gleichfalls eine solche, gewiß nur phänomenal zu verstehende, «Stofflichkeit» zugrunde — sozusagen eine unselbständige, aber unzweifelhaft im Daseinsfelde aufweisbare «Qualität»,

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zu der ich gelange, wenn ich auch hier v o n allem absehe, was ihr a n q u a l i t a t i v e n Akzidenzen wie an ideellen Bestimmtheitsweisen zu u n a u f h e b b a r e r E r g ä n z u n g dient ? Die endgültige B e a n t w o r t u n g dieser F r a g e d ü r f t e wohl solange ausstehen, als es nicht gelingt, die tiefe «objektive» u n d perennierende U n d e u t l i c h k e i t zu beheben, die das v e r s c h w i m m e n d e Eingelassensein des Seelischen in seine innerleiblich f u n d i e r e n d e n qualit a t i v e n Sensationen zur Folge h a t , oder solange wir nicht einem Menschen begegnen, den eine t o t a l e Anästhesie zu einem « r e i n e n » seelischen Leben tauglich machte 1 . Liegt doch ü b e r den hier a u f z u weisenden T a t b e s t ä n d e n o f t genug j e n e a n a n d e r e m O r t e b e d a c h t e , «eigentliche» Zweifelhaftigkeit des Daseins. E i n e Zweifelhaftigkeit, die, wie wir nochmals versichern, i m Anblick eines evidenten Daseins oder Soseins, n i c h t e t w a bedenklich m a c h t ü b e r das, was a n s e i n e r S t e l l e d a , bzw. g e g e b e n oder a u c h w i r k l i c h s e i n k ö n n t e , (oder u m g e k e h r t ) , sondern welche die E v i d e n z des Daseins oder Soseins selber in Zweifel stellte, also u n e n t s c h i e d e n ließe, ob beispielsweise etwas — in schlicht p h ä n o m e n a l e m Sinne — tatsächlich d a oder «gegeben», oder nicht gegeben bzw. d a sei. Zwar w e r d e n wir festzustellen f ä h i g sein, o b gewisse, den Q u a l i t ä t e n eignende Tinktionen, wie die der S t ä r k e , der inneren Fülle, j a selbst der Eindringlichkeit, einer beliebigen S t i m m u n g etwa, z u k o m m e n , a b e r wie diese S t i m m u n g u n t e r reinlicher A b h e b u n g — nicht Scheidung natürlich — v o n q u a l i t a t i v e n u n d innerleiblichen F u n d i e r t h e i t e n sich ausn e h m e n w ü r d e , das bleibt bis zu einem gewissen Grade zweifelhaft, wenn wir auch i m m e r h i n a n n e h m e n d ü r f e n , d a ß die hier o f f e n b a r werdende L e t z t h e i t noch den N a m e n der « Q u a l i t ä t » t r a g e n d ü r f t e . Aber diese «Qualität» wird nicht m e h r durch den C h a r a k t e r «stofflicher» Fülle u n d K o m p a k t h e i t 2 ausgezeichnet sein, wie sie e t w a einer F a r b e oder einem Tone, einer G e r u c h s q u a l i t ä t oder der Qualit ä t des Schmerzes, j a selbst den viszeralen Q u a l i t ä t e n z u z u k o m m e n p f l e g t e n , sondern in einer unvergleichlich u n f e s t e n u n d schwebenden Weise, f ü r die wir kein W o r t in unserer Sprache bereit h a b e n , die a b e r doch einigermaßen unserer E r f a h r u n g zugänglich ist, w e n n wir das i m Ganzen hoffnungslose Geschäft j e n e r A b h e b u n g zu be1

Wir wissen — um nur ein Beispiel anzuführen — auch heute noch nicht einmal mit voller Zuversicht, ob ettva die «Spannung», wie wir sie in der «Aufmerksamkeit», der «Erwartung», aber auch in bloßen Zuständlichkeiten «erleben», etwas ist, was dem wahrhaft Seelischen und im strengsten Sinne Ichzugehörigen eignet, oder ob es sich «eigentlich» um eine Bestimmtheit des qualitativ Innerleiblichen und de fakto schon Ichfremden handelt, das wiederum — durch eben jene «Partizipation» etwa — lediglich am Seelischen «teilhabe». 2 Darunter verstehen wir natürlich hier nicht etwas im körperlich dinghaften Sinne Stoffliches oder Materiales. 5

Janssen

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sorgen versuchen. So gerechter Weise man aber auch die Frage an alle qualitativen Letztheiten der Seele zu richten vermöchte, der Ichheit selber gegenüber scheint sie ihren Sinn zu verlieren, wenn man bedenkt, daß diese — obwohl sie i r g e n d w i e von den Charakteren des Qualitativen berührt wird — doch im letzten, wie wir schon bemerkten, eine gänzlich unvergleichliche Verfassung für sich in Anspruch nimmt, innerhalb deren vor allem auch i d e e l l e Verbindlichkeiten eine bedeutsame Rolle spielen. Gewiß aber dürfen uns alle diese Umstände nicht dazu verleiten, in den Letztheiten der Seele rein «dynamische» Charaktere zu sehen, für die jene vorhin genannten Eigenschaften der Stärke, der Fülle usw., nur wiederum in der Weise ihrer d y n a m i s c h e n Sinnwendung beansprucht zu werden verdienten. Hier würde zunächst die Vieldeutigkeit des «Dynamischen» zu genauerer Formulierung nötigen. Im bloßen Daseinsfelde, und im Besonderen innerhalb der Sphäre des «seelischen» Daseins verbleibend, bedeuten wir gewohnheitsmäßig mit dem Terminus des «Dynamischen» schon die nackte Tatsache der qualitativen, bzw. intensiven V e r ä n d e r u n g , und nicht nur diese, sondern auch mit ihr die durch Veränderung vermittelte, doch und im Grunde sehr wohl von ihr zu unterscheidende Form des in der Zeit sich vollziehenden Ü b e r g a n g e s , wie endlich sogar den bloßen und ebenso in der Zeit stattfindenden Daseins Wechsel 1 . Aber als «dynamisch» gelten uns die hier genannten Konfigurationen häufig erst insoweit, als vor ihrem Vollzug eine gleichfalls e r l e b e n s m ä ß i g e «Kraft» zu stehen schiene, gleichviel, ob das Ich selbst und von sich aus diese «Kraft» — etwa im Vollzuge seiner «Urheberschaft» und zufolge seiner unmittelbaren oder mittelbaren Willentlichkeit — « a u s ü b t e » , oder aber ihr an und für sich unterliege. Den Terminus des «Dynamischen» reklamieren wir indes ebenso bereitwillig für diese erlebensmäßigen und von einer Weise psychologischer Auslegung einzig der Zone der i n n e r l e i b l i c h e n Q u a l i t ä t e n zugeschriebenen « K r ä f t e » allein, wiewohl diese nicht an sich selbst bewegt sind und vielleicht nur durch die seltsame «Partizipation» oder «Teilhabe» so etwas wie Veränderung oder Vorgang in sich bergen, wie ferner für ganz spezifische Weisen erlebensmäßiger, wenn auch mit Vorsicht so zu nennender «Kraft1 Obwohl vornehmlich und im Hinblick auf die Eigenart des seelischen Lebens hier an Konfigurationen innerhalb der Bereiche des Qualitativen bzw. Intensiven zu denken wäre, wäre doch in Anbetracht unserer Erörterungen über die räumliche Natur des Seelischen, die Möglichkeit seiner räumlichen d. h. irgendwie im Räume sich vollziehenden Veränderung nicht ganz außer Acht zu lassen; wie wir denn auch den unzweifelhaft räumlichen «Vorstellungen», wofern wir bereit wären sie dem Umkreis des Seelischen zuzurechnen, die Möglichkeit räumlicher Veränderung zugestehen müßten.

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äußerung», wie sie e t w a in der « S p a n n u n g » oder andererseits in der sehr wohl zu u n t e r s c h e i d e n d e n , v o m I n n e r l e i b l i c h - Q u a l i t a t i v e n a b z u h e b e n d e n emotionalen « E r r e g t h e i t » o f f e n b a r w e r d e n . Aber als «dynamisch» gilt gelegentlich schon d e r C h a r a k t e r der bloßen S t e l l u n g n a h m e unserer selbst, wie sie e t w a i n Wille, E r w a r t u n g u n d Ü b e r z e u g u n g , j a selbst in der B e h a u p t u n g vorliegt, u n d zwar ohne R ü c k s i c h t n o c h auf ein in «inneren» V o r g ä n g e n erfolgendes sich E i n s t e l l e n oder Stellung n e h m e n , wie a u c h o h n e oder m i t R ü c k sicht auf den i n t e n t i o n a l e n C h a r a k t e r der S t e l l u n g n a h m e , der gleichfalls, seinem l e t z t e n u n d i n n e r s t e n W e s e n n a c h , v o n Vorgängen oder V e r ä n d e r u n g e n , aber sicher a u c h v o n «Kräften» nicht das mindeste weiß. Als «dynamisch» gilt endlich, das nicht m e h r als Weise der S t e l l u n g n a h m e zu v e r s t e h e n d e S t r e b e n , Begehren, Verlangen usw., u n d zwar noch abseits v o n allem h a n d l u n g s ä h n l i c h e n Vollzuge, der aus solchem S t r e b e n u n d B e g e h r e n h e r a u s erfolgen könnte. Ließe m a n alles dies f ü r einen Augenblick als «dynamisch» gelten, so w ä r e gleichwohl ein u n d y n a m i s c h e s «Leben» des I c h u n d der Seele möglich. E s gibt, — w e n n a u c h vielleicht n u r v o r ü b e r g e h e n d — , ein «Leben» des Ich u n d der Seele, das weder V e r ä n d e r u n g noch Übergang, weder S p a n n u n g noch E r r e g t h e i t , weder S t e l l u n g n a h m e noch ichgeleitetes «inneres» T u n , noch bloßes — «Kräften» u n t e r liegendes — Erleiden d a r s t e l l t : ein rein zuständliches In-sich-selbst R u h e n der Seele, das sogar v o n der vermeintlichen D y n a m i k k o n t e m p l a t i v e r «Aufmerksamkeit» frei ist — u n d dessen u n g e a c h t e t n o c h d u r c h a u s d e n N a m e n des « L e b e n s » v e r d i e n t e . W e r hier noch v o n «Dynamik» r e d e n wollte, d e m bliebe b e s t e n Falles noch v e r g ö n n t a n die, freilich sehr m e r k w ü r d i g e , D y n a m i k gewisser Sinnesqualit ä t e n zu erinnern, die, wie z . B . ein völlig gleichförmig erklingender T o n , keinerlei q u a l i t a t i v e oder intensive V e r ä n d e r u n g noch R h y t h m i k a n den T a g legen u n d dennoch etwas zu e n t h a l t e n scheinen, was über d e n C h a r a k t e r bloßer «Dauer» in der Zeit hinausreicht, nämlich ein eigenartiges räumliches Fließen oder Gleiten durch die Zeit hin, nicht gar so u n ä h n l i c h einem B a n d e , das kontinuierlich vor u n s a b l ä u f t . D a diese s o n d e r b a r e D y n a m i k j e d o c h f a s t ausschließlich auf das Reich der T ö n e b e s c h r ä n k t bleibt — sie f i n d e t wohl k a u m in einer der a n d e r e n u r t ü m l i c h r ä u m l i c h e n oder n i c h t räumlichen Qualitätsgebiete s t a t t — so darf die A n n a h m e gewagt werden, d a ß die vor allem f ü r unsere menschliche T o n e r z e u g u n g e n geltende «dynamische» Herstellungsweise der Töne, a u c h die Töne selber u n d zwar vermöge ihrer eigenen, obwohl unsicheren u n d schweifenden R ä u m l i c h k e i t m i t a n jener D y n a m i k «partizipieren» lasse. Aber es ist deutlich, d a ß solche «Erklärung» nicht m e h r f ü r 5*

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den «Fluß» eines in sich ruhenden, spannungslosen und unerregten seelischen Lebens hinreichte. Indessen wäre auch der «Dynamik» des seelischen «Widerhalles» hier Erwähnung zu tun. Wir verstehen hierunter die vorgenannten dynamischen Charaktere, nicht in d e m Sinne, als sie gleichsam «hinter» einer « b e s e e l t » und i c h z e n t r i e r t gedachten Dingwelt — die insofern in Gesten, Mimik usw. « A u s d r u c k » bezeugte — spontan in Ansatz gebracht werden, sondern als Charaktere jener oft gänzlich unphysiognomischen und n i c h t ichzentrierten, aber dafür u n m i t t e l b a r g e g e b e n e n — widerhallmäßigen — «Beseeltheit» der Dinge selber und ganz so, wie wir dies oben darzustellen versuchten. So wie Seelisches in der Dingwelt, begegnet — nicht im «eigentlichen» Sinne i c h t e r m i n i e r t e n u n d w a h r h a f t d a s e i e n d e n s e e l i s c h e n L e b e n s , sondern in der undefinierbaren und doch unmittelbaren Weise seines bloßen «Widerhalles» — so begegnet auch «widerhallmäßig» eine D y n a m i k dieses Seelischen, gleichviel in welchem Sinne wir diese «Dynamik» verstehen sollten. Es wäre hier demnach nicht von einer unwirklichen, wenn auch daseienden oder g e g e b e n e n Raumbewegtheit die Rede, wie sie Schnörkel, Ornamente usw., oder etwa die seltsam quirlende Bewegtheit intensiver und gesättigter Farben und Töne vorweist, sondern etwa von der « g e d r ü c k t e n » Stimmung einer Landschaft, von der « h e i t e r e n K r a f t » , die ein Frühlingsmorgen ausstrahlt, von der erwartungsvollen « G e s p a n n t h e i t » der Natur vor Ausbruch eines Gewitters, von der inneren « E n e r g i e » von Farben und Tönen, ihrer lodernden E r r e g t h e i t oder müden « K r a f t l o s i g k e i t » usw. Und auch die sogenannte « E i n d r i n g l i c h k e i t » der Wahrnehmungswelt würde nur bedingungsweise hierher gehören. Nicht dies, daß etwa Farben und Töne nur uns bedrängen, d. h. eine Weise der Bewegtheit zeigen können, durch die sie auf unseren Leib —• und vermöge der vorhin besprochenen raumhaften Partizipation des Ich und seiner Zugehörigkeiten auch gleichsam auf diese selber einzudringen, j a gelegentlich sogar in sie hineinzufahren und sie zu durchwalten scheinen, ist hier das Wesentliche, sondern ob diese Bewegung unter der selber «widerhallmäßigen» Dynamik jener fremdgegebenen Beseeltheitsverfassung erfolgte, oder geradezu als von ihr ausgelöst erschiene, und ob demgemäß das Eindringen in der emotionalen und dynamischen Resonanz eines «Impetus» von statten ginge, eines «Impetus» den wir nicht etwa nur «hinter» der Bewegung spontan in A n s a t z bringen, sondern der selber — «widerhallmäßig» —• g e g e b e n oder d a wäre. Nie aber würde das Ich selber im Begriff des «Dynamischen» aufgehen, so bereitwillig man auch eingestehen dürfte, daß es zufolge

5. Die Lockerung der Wesensverfassungen des Ich

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seiner merkwürdigen «Intensitäten» an seelischer Dynamik teilhaben könnte. Denn wo immer wir ichzentriertem seelischem Leben begegnen, zeigt es sich letzten Sinnes in etwas verfestigt, auf das kein einziges der Kriterien des «Dynamischen» mehr zutreffen würde, woraufhin aber alles Leben der Seele und damit auch alle tatsächliche oder auch vermeintliche Dynamik in ihr grundsätzlich angewiesen erschiene. Wir werden in der Daseinsfrage des Ich nochmals auf diesen Umstand zurückkommen. 5. D i e L o c k e r u n g d e r W e s e n s v e r f a s s u n g e n des I c h d a s P r o b l e m der D e p e r s o n a l i s a t i o n

und

Unter den ideellen Charakteren des Ich pflegt man — noch unbesehen um jede metaphysische Ausdeutung — e i n e n als völlig unvergleichlich und für seine Wesensnatur konstitutiv, j a geradezu entscheidend, namhaft zu machen, und das ist der Charakter seiner E i n m a l i g k e i t . Zum «Wesen» des Ich soll es gehören, daß es nur in dieser einmaligen, unwiederholten Ausfertigung, da s e i , und schon der Name des «Ich» soll unverzüglich seinen Sinn verlieren, wenn er nicht diese unvergleichliche Besonderung seines Bedeutungszieles mitmeine. Was hieße hier Einmaligkeit? — Sicher nicht das, was wir als eine bloße ideelle und unabänderliche Folge aus dem — recht verstandenen — Prinzip der Identität ansehen würden. Denn nach ihr wäre jedes, und in welcher Ebene der Gegenständlichkeit auch immer gelegenes Etwas, eben sofern es «es selber» wäre, kein anderes und zweites, möge dies andere nun von ihm verschieden sein, oder ihm «vollkommen» gleichen. E i n m a l i g wäre mithin jegliches Etwas, sofern es nicht in einem zweiten, von ihm verschiedenen oder auch mit ihm übereinstimmenden, «es selber» wäre 1 . Aber dergleichen ist hier gewiß nicht gemeint, und ebenso wenig ist gemeint, daß es nicht außer dem Ich, welches ich selbst bin, noch andere Ich «geben» könnte; sei es wiederum, daß sie in einer zunächst unbekannten Hinsicht mehr oder minder von ihm abwichen oder auch Zug um Zug mit ihm übereinstimmten 2 . Wir meinen vielmehr, daß i m i c h z e n t r i e r t e n D a s e i n s f e l d e — und es wird dieser Terminus bald näher zu erörtern sein — nur das eine Ich, welches ich selbst bin, in der Verfassung seines unreflektierten oder reflektierten Daseins betroffen werde, und daß die, wenn auch nur vorVergleiche hierzu unsere « Vorstudien», Bd. I, S. 31 f f . «Vollkommene» Übereinstimmung des Vielfachen «schafftet> natürlich weder «Eines-sein» noch «Identität!»; denn Vielheit, selbst des Übereinstimmenden, ist keine, — auch keine «letzte» — Hinsicht des Verschiedenseins. 1 2

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stellungsmäßige, Gegenwart eines anderen Ich, sei es w i e d e r u m in der Verfassung seiner Unreflektiertheit (und damit auch in der seines «Subjekt»-seins), sei es in der eines vielmehr Gehabten — «Wahrgenommenen» oder nur «Vorgestellten» — schlechthin verwehrt bleibe. In der Tat erschiene die so verstandene Vielheit vom Ichwesen völlig unmöglich. Daß «neben» oder «gegenüber» dem Ich, welches ich selbst bin, u n d i n m i t t e n d e s D a s e i n s f e l d e s , w e l c h e s d u r c h d i e s e s I c h z e n t r i e r t w i r d , noch ein Anderer, bzw. ein anderes Ich als ebenso d a s e i e n d , vorgefunden würde, erschiene uns als gänzlich absurd und über dem Bereiche des Möglichen stehend; die Ichheit eines durch eben diese Ichheit zentrierten Daseinsfeldes würde, i n m i t t e n d i e s e s D a s e i n s f e l d e s , kein anderes Ich, in der Weise seines unmittelbar präsenten oder auch nur vorstellungsmäßigen D a s e i n s , «außer» sich dulden. Damit ist einmal gesagt — und wiederum ist dies alles durch unmittelbaren Nachweis zu belegen — daß jedes «andere» Ich, möge es nun in der Haltung des Subjektseins, oder wiederum ausdrücklich als ein Gehabtes, «innerlich Wahrgenommenes» usw., in Ansatz gebracht werden, eben nur «gedanklich» erfaßt, oder, wie wir es an anderer Stelle nannten, nur « i m B e g r i f f e » s e i n e s D a s e i n s gelegen sein kann, und n i c h t nur das andere oder fremde I c h , sondern auch alles, was ihm im engsten Sinne zugehört und seiner Soseinsverfassung nach unaufhebbar diesem Ich verhaftet bleibt, wie etwa das Selbst oder beispielsweise die Ganzheit seines emotionalen Lebens. Nicht in einem l e e r e n «Begriff» freilich ist dieses fremde Seelenleben gelegen: er orientiert sich bezüglich des W a s des «im Begriffe» L i e g e n d e n durchaus nach den Vorfindlichkeiten unserer selbst bzw. unseres eigenen seelischen Verhaltens und nur dies soll versichert sein, daß nichts von dem, was hier «im Begriffe» g e l e g e n ist — nämlich seelisches Leben im Sofern seiner Verwurzelung in diesem fremden Ich und schließlich dies Ich als solches — j e im mindesten anschaulich oder vorstellungsmäßig u n d in d e m v o n m i r s e l b e r z e n t r i e r t e n D a s e i n s f e l d e g e g e n w ä r t i g zu sein vermöchte. Und sind wir dennoch des Glaubens, der fremden Ichheit, wenn auch sicher «nur in der Vorstellung», teilhaftig zu werden, wenn wir, in die fremde Leiblichkeit hineinfahrend, auch in den fremden Seelenregungen zu «leben» vermeinen, j a , das Ich, das wir selber sind, mit dem anderen gleichsam auswechseln, so handelt es sich auch hier, und selbst in der Ebene des Vorstellungsmäßigen, um das e i n e in Daseinsverfassung aufweisbare Ich, w e l c h e s ich s e l b s t b i n , als «lebend» vorgestellt «in» allemal schon vertrauten Zuständlichkeiten, die den fremden und «im Begriffe» liegenden nahezukommen scheinen, und so zwar «vor-

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gestellt», daß e i n w a h r e s u n d r e a k t i v i e r t e s , wenn auch mehr oder minder abgeblaßtes und mitunter durch mancherlei «Wissen» um seine Echtheit betrogenes «Leben in» diesen Zuständlichkeiten hervorzutreiben vermöchte. Und dies alles kann, auf Grund immer nur «begrifflicher» Erfassung des fremden Ich und seiner Zuständlichkeiten, wie versehen sein mit dem Exponenten einer puren H i n n a h m e oder S e t z u n g , einer Setzung freilich, die nicht im mindesten durch die Umstände gerechtfertigt erschiene, dahin lautend: es ist ein n e u e s u n d z w e i t e s I c h , auf welches hin besehen die Zuständlichkeiten, «in» denen ich nunmehr lebe, «meine» Zuständlichkeiten sind, und auch die Welt des Ichfremden ist, soweit sie in irgendeinem Sinne die meinige zu sein beanspruchte, zu einem neuen Ich in Opposition getreten. Daß solche Setzung oft gar nicht «zum Bewußtsein» kommt, j a , um so weniger zum Bewußtsein kommt, j e ausdrücklicher das «Leben» ist, das wir in den reaktivierten und fremdangenäherten Zuständlichkeiten, Intentionen usw., führen — man denke an die buntbesetzten und bis zum vollen Aufgehen in fremde Ichwesen führenden «Einfühlungen» — ändert nichts an der Tatsache, daß sie, wenn auch zu Unrecht, vollzogen wird, wiewohl faktisch jedes fremde Ich, wie fremde Zuständlichkeiten dieses Ich, einem i c h t e r m i n i e r t e n Daseinsf e l d e endgültig überhoben bleiben. Indessen wäre der Satz von der Einmaligkeit des Ich in s e i n e m D a s e i n s f e l d e , so gänzlich unvorstellhaft auch seine Durchbrechung erschiene, alles andere als aus der « W e s e n s n a t u r » des I c h zu folgern und so wäre Umschau zu halten, ob nicht zum wenigsten die Grenzzustände des Seelenlebens so etwas wie einen Hinweis auf mögliche Ausnahmen zulassen. Hier wären zunächst die Beispiele einer « s i m u l t a n e n S p a l t u n g 1 » des I c h zu nennen, die dem von ihr Befallenen den Eindruck erwecken, als sei noch ein zweites Ich «in ihnen», das seelische Zuständlichkeiten und Akte terminiere, die n e b e n den vom eigentlichen und primären Ich terminierten einhergingen. Aber K . Ö s t e r r e i c h hat in seiner schönen Darstellung und an Hand mancher Bekenntnisse den Nachweis geliefert, daß hier, als einzig dem Kranken aufweisbar, seelische Z w a n g s p r o z e s s e zu Grunde liegen, die neben den normalen einherlaufen und mitunter in heftigsten «Widerstreit» zu diesen geraten können, daß aber auch dann, wenn der Kranke ein zweites Ich, gleichsam als den Verfestigungs1 Der Ausdruck «Spaltung» ist natürlich ebenso wie der der « Verdoppelung» an sich wenig zu empfehlen, denn er nährt den Gedanken, als habe sich etwas ursprünglich Einfaches in zwei Teile geteilt. In Wahrheit soll nur gesagt sein, daß statt des Einfachen ein in irgendeiner Hinsicht Zwiefaches vorliege.

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punkt der Zwangsprozesse und Zuständlichkeiten glaubt ansetzen zu müssen, sich dennoch dieses Ich niemals als ein Selbst im Felde des Daseins darstellt, niemals neben dem eigentlichen und normalen Ich in diesem Felde in Erscheinung tritt. Aber es kann auch geschehen, daß inmitten eines stürmischen Verlaufes jener Prozesse und zufolge ihrer personhaften und höchst konkreten Gebundenheit — einer Gebundenheit, die dem Kranken die Gegenwart eines fremden Ichwesens geradezu aufrängen müßte — dennoch die Uberzeugung einfließt, daß das e i n e u n d n o r m a l e Ich auch der Verfestigungspunkt aller dieser zwangsmäßigen Äußerungen und damit auch der alleinige Urheber jenes inneren Tumultes sein müsse 1 . Wäre aber eine Doppelheit oder «Spaltung» des I c h hier mit aller Wahrscheinlichkeit auszuschließen, so würde zum anderen keineswegs ausgemacht sein, daß es im Laufe der Zwangsprozesse zum wenigsten und allemal zu einer Doppelung des S e l b s t komme. Denn davon abgesehen, daß diese Frage nur insoweit Sinn erhielte, als die Zwangsläufigkeiten bis in die Tiefe unseres emotionalen Lebens hineinreichten, würden die Kranken, vermöge der irrtümlichen Unterstellung, die das Ich durch das Selbst zu erleiden pflegte, wie durch die erfahrungsmäßige Unaufhebbarkeit, die ersteres ihm gegenüber bekundete, viel öfter und unumwundener erklären, es sei eine zweite Person — und vielleicht ein zweites Ich — tatsächlich und aufweisbar «in ihnen» vorhanden und vermöchte, zumal in jenen gesteigerten Formen, die wir schon mit dem Namen der Bes e s s e n h e i t belegen, mit ihrem normalen und ichzentrierten Seelenleben in Widerspruch zu geraten. Und darum wird vermutet werden dürfen, daß wenn die Kranken von einem in ihnen auftretenden zweiten S e l b s t reden, häufig nichts anderes vorliegt, als daß sie hinter gewissen, vornehmlich emotionalen, Zwangsprozessen lediglich ein neues Selbst i n A n s a t z b r i n g e n . Aber es gibt andere Zustände, welche das Auftreten eines n e u e n Selbst n e b e n dem vertrauten und normalen zum mindesten sehr wahrscheinlich machen. Der vorhin gezeichnete Fall einer sehr normalen «Einfühlung» in ein fremdes, vorhandenes oder fingiertes Ichwesen, und zwar durch die Reaktivierung eigener und immer schon irgendwie vertrauter, seelischer und vornehmlich emotionaler Verfassungen und «Akte», und im Nachtasten der immer nur «im Begriffe» zu erfassenden fremden Regungen, braucht noch keineswegs das Auftreten eines 1 Man sehe etwa den Bericht des Paters Surin bei Österreich: «Phänomenologie des Ich» Seile 4 3 5 f f . Dieses Beispiel zeigt auch besonders schön das Beisammensein antagonistischer und aufs höchste gesteigerter Gefühle: eine dem normalen Seelenleben unbekannte Erscheinung.

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neuen Selbst einzuschließen. Aber Anzeichen eines n e u e n S e l b s t machen sich geltend, wenn die im Nachtasten vollzogene Reaktivierung — ohne im mindesten ihre primäre Ichbezogenheit aufzugeben — einen so ausnehmend hohen Grad der Stärke, der Dauer und der personhaften Konzentrierung erhält, daß die nachfühlend beseelten Schöpfungen gewissermaßen ein eigenes Dasein führen und die Akte einer sogenannten produktiven Ein- oder Nachfühlung beginnen 1 . In noch ausgesprocheneren Fällen, die wir infolge ihres reinen Zwangscharakters auch in einem w e i t e r e n Sinne nicht mehr als Einfühlung bezeichnen würden, scheint sich ein z w e i t e s S e l b s t als ein n e u e r A k t i o n s b o d e n s e e l i s c h e r u n d pers o n h a f t g e s c h l o s s e n e r R e g u n g e n gleichsam a u f z u d r ä n g e n . Es überkommt den Kranken, ohne daß er sich dagegen zu wehren vermöchte, eine n e u e und k o n s t i t u t i v e s e e l i s c h e V e r f a s s u n g , über der ein in sich verfestigtes System von Zuständlichkeiten und «Akten» zur Äußerung gelangt. Aber gewiß ist dies alles nicht so neu, daß es nicht schon im primären Selbst, wie in den seelischen Auftreibungen dieses Selbst vorbereitet läge; und so wird auch dem sich «Spaltenden» weder die grundlegende Verfassung, noch die von ihr sich abhebende seelische Regung etwas schlechthin Unbekanntes vermitteln. Neu ist vielmehr das Hineindrängen eines zweiten Selbst, unter dem Fortbestehen oder der mehr oder minder endgültigen Aufgabe des alten, und die wachsende Ohnmacht sich dieser Aufdringlichkeit zu erwehren; neu ist ferner das « L e b e n in» d i e s e m S e l b s t und damit die Tatsache, daß nicht hinter gewissen Zwangsprozessen lediglich ein zweites Selbst — und damit wohl meist auch ein zweites Ich — lediglich in b l o ß e n A n s a t z gebracht würde 2 , und neu wäre endlich eine noch später zu besprechende p e r s o n a l e 1 Man vergl. Österreich a. a. 0. S. 4 4 8 f f . Der Dramatiker Curel sagt: «Meine Personen nehmen einen so ausgesprochenen Charakter an, daß ich schließlich weiter kein Bewußtsein mehr von meiner eigenen Existenz habe als insofern und dadurch, daß ich sie betrachte. Ich befinde mich ihnen gegenüber genau in der Rolle eines schweigenden Beobachters, der ich oft unter meinen Freunden bin, die sich unterhalten.» (Seite 454). — «Anhaltende Aufmerksamkeit und lange Gewohnheit, mich durch Phantasie in andere Iche, die von meinem gewöhnlichen Ich leicht verschieden sind, zu versetzen, sind es, durch die ich dahin gelange, meine gewöhnlichen Empfindungen und meine eigenen Erinnerungen zu unterdrücken. Was bleibt dann übrig? Personen, die alles das haben, was das Ich ausmacht, ich kann also versichern, daß sie augenblickweise leben und wirklich existieren. Obwohl ich sie übrigens höre, bewahre ich ein leichtes Bewußtsein meiner selbst, das ist es, was die Verdoppelung ausmacht.» 2 Merkwürdigerweise gilt auch dies nicht einmal ganz und gar, wie wenigstens der höchst eindrucksvolle Fall Hanna lehrt, von welchem Österreich (Seite 470f.) berichtet. Dieser Fall ist noch besonders dadurch merkwürdig, daß beide gegenwärtige Zustände H. «wie irgend eine Erinnerung an die Vergangenheit» erschienen und gleichwohl verschieden waren. Auf die Frage des Arztes, wieso er gewußt habe, daß die

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V e r f e s t i g u n g , die sich durch solche Übernahme des fremden Selbst einleitete. Sehr mannigfach aber gestalten sich die Beispiele simultaner Spaltung. Das neue Selbst kann völlig fremd erscheinen, oder inne werden lassen, daß es sich lediglich u m eine frühere Verfassung des einen und selben Subjektes handelt. Statt des einen sich aufdrängenden Selbst können mehrere das Feld beherrschen und mit einander streiten, ja, es kann geschehen, daß deren Streit sich, wie in den merkwürdigen Fällen Claire's und Lise's bei Janet gar bis in den Traum hineinzieht. Auch ist die Art, in welcher das primäre Selbst immer noch sein Dasein bezeugt, eine andere, je nachdem es noch in voller Unmittelbarkeit «lebt» und sich zur Wehr setzt, oder als bloßer Statist im Hintergrunde verweilte, oder, wie es häufig im Falle der Depersonalisation geschieht, an die Stelle des vermeintlich entwichenen Selbst eine eigentümliche und noch nicht als «fremd», geschweige denn als ein fremdes Selbst beanspruchte Zuständlichkeit getreten ist, usw. So oft wir aber auch hier schon Wendungen begegnen, wie denen: sie seien in mehrere Personen gespalten oder eine zweite Person suche die primäre zu bedrängen, ließe sich doch nirgends ein unzweideutiger Hinweis darauf erkennen, daß hier eine M e h r h e i t phänomenaler I c h w e s e n am Werke sei 1 . Mit einer gewissen Einschränkung freilich wird man auch diejenigen Fälle unter die Gattung der «simultanen Spaltungen» einbetten Leben ihm angehörten, wenn sie ihm wie zwei verschiedene Persönlichkeiten erschienen, gibt er eine seltsame Antwort, die darauf schließen läßt, daß im Augenblick des Kampfes keines der beiden «Leben», für deren eines er sich entscheiden möchte, sein Leben ist, da er erst auf den Gedanken kommen muß, daß beide ihm angehören. «Woher wußten Sie», fragt der Arzt, «daß die beiden Leben Ihnen angehörten, wenn Sie wie zwei verschiedene Persönlichkeiten erschienen?» Die Antwort lautet: «Der Umstand, der mir diesen Gedanken eingab, war, daß ich mich erinnerte, daß Sie in meinem ersten Zustand von einem zweiten Zustand sprachen, und im zweiten von einem ersten neben dem zweiten; als deshalb nun zwei Individualitäten zusammen erschienen, die mir beide als meine eigenen bekannt waren, dachte ich es müßten meine sein. Es war auch ein unaussprechliches Gefühl vorhanden, daß beide meine seien.» — Gleichwohl darf man nicht die Behauptung wagen, daß gewissermaßen ein drittes, und sich1 für eines der beiden Leben entscheidendes Ich-Selbst hinter den beiden Leben stünde. Das gilt selbst für den von Österreich angeführten Fall Hill Tout's: «Es schien mir ein Wechsel meiner Persönlichkeit zu erfolgen. Es kam mir vor, als sei ich gleichsam bei Seite getreten und als beherrsche irgend eine andere Seele meinen Organismus. Ich war lediglich ein passiver interessierter Zuschauer, bei dem was geschah. Mein zweites Selbst schien eine von mütterlicher Liebe und Besorgnis für irgend jemand überfließende Mutter zu sein usw.» Der Zwangscharakter des neuen Selbst führt auch zwangsmäßig neue Gefühle ein, die — wie auch das Selbst — dem einen und selben Ich ebenso zugehören, wie das verdrängte Selbst und das, was sich von seiner Basis erhebt. Da aber dieses alte Selbst noch nicht völlig beseitigt ist, kann von seinem Aspekte aus zugleich eine Betrachtung der neuen Zuständlichkeit stattfinden. Ob damit etwa die Gefühle der neuen Situation, im Blicke der alten besehen, dieser gegenüber eine gewisse Fremdheit bekunden, erscheint nach den Bekenntnissen fraglich.

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ordnen dürfen, bei denen d a s e i n e u n d p r i m ä r e S e l b s t gewissermaßen in einer d o p p e l t e n A u s f e r t i g u n g vorhanden zu sein schiene. Aber wie schon Österreich in aller Klarheit und an äußerst instruktiven Beispielen nachweist, handelt es sich lediglich darum, daß das eine und primäre Ich-Selbst, welches sich normaler Weise nur in anderen Situationen und in anderen schon irgend vertrauten seelischen Verfassungen — vielleicht unter schwacher Reaktivierung der Emotionen — «vorzustellen» vermag, statt dessen mit der vollen Wucht der Unmittelbarkeit «in» diesen Verfassungen lebt und inmitten einer mit halluzinatorischer Eindringlichkeit wahrgenommenen Umwelt. Wollte man hier von einer echten und eigentlichen «Spaltung» reden, so ginge dies nur insofern, als in der nebengeordneten und voll erlebenskräftigen Situation eigensinnige und mit der normalen Verfassung unvereinbare Regungen auftauchten. Von einer «Spaltung» des Ich oder auch nur des S e l b s t aber dürfte schwerlich geredet werden 1 . Aber schon hier tritt eine Erscheinung zu Tage, die dringend der Aufklärung bedarf, die aber gleichfalls in ihren Ansätzen in die Vertrautheiten des normalen Seelenlebens hinabreicht. Man erinnere sich unserer früheren Erörterungen über die räumliche Orientierung des Ich und sein Angewiesensein auf innerleibliche Sensationen und frage sich einmal, wie es beispielsweise geschehen könne, daß i c h , der ich im Augenblick am Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer sitze, mich zugleich, und wie man sagt, «in d e r V o r s t e l l u n g » in die Situation versetzen kann, als stünde ich drüben auf dem Kirchturm und sähe auf die Stadt hinunter. Müßten wir nicht, um dergleichen zu ermöglichen, unseren Gedanken einer auch räumlich zu verstehenden Verhaftung des Ich an die Leiblichkeit aufgeben, oder im anderen Falle zugestehen, daß zum wenigsten «in der Vorstellung» eine Verdoppelung des puren Ichcharakters angehe ? — Aber bei näherer Vergegenwärtigung der Sachlage zeigt sich sofort, daß wir weder den einen, noch den anderen Weg einzuschlagen haben. Stelle ich mir vor, «ich» stünde dort drüben auf dem Kirchturm, so würde der Aufgabe nicht dadurch Genüge geschehen, daß ich meine bloße K ö r p e r l i c h k e i t im Sofern ihres Gesehenoder Getasteseins «vorstellungsmäßig 2 », und nicht anders wie ein 1 Man vergleiche hierzu den schönen von Lemaitre beschriebenen Fall bei Osterreich a. a. 0. S. 481 f . 2 Wir sehen hier der Einfachheit halber davon ab, daß wir natürlich nicht in der — gleichuiohl und als solche bereits «da draußen> befindlichen und sich mit dem Wahrnehmungsbestand verschmelzenden — Situation des Vorstellungsmäßigen (bzw. vorstellungsmäßig sich Gebenden) verbleiben, sondern durch sie hindurch die anschauliche Situation eines gemeinhin weiter als wirklich Hingenommenen im Sinne haben, eines Wirklichen, das natürlich nicht etwa wahrhafte Geltung zu beanspruchen brauchte.

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Filmbild etwa, da draußen vor mir hätte und neben ihr vielleicht und ebenso vorstellungsmäßig einen Ausschnitt des von oben her sichtbaren Stadtbezirkes, vielmehr müßte ich mir «vorstellungsmäßig» vergegenwärtigen, wie ich «inmitten» meiner viszeralen Leiblichkeit — und auch von hier aus nur gewisser Seiten meines «tast»- und «sichtbaren» Körpers inne werdend — auf dem Kirchturm postiert bin und in die Stadt hinabschaue. Dann aber erfahre ich unverzüglich, daß sich nicht einmal in der Ebene des «Vorstellungsmäßigen» ein zweites Ich, das ich selbst bin, dem primären und «ursprünglichen» entgegen- bzw. zur Seite stellt. I c h , der ich in dieser gewissen Leibgebundenheit am Schreibtisch sitze, befinde mich zugleich in einer völlig anderen — die raumerfüllte Wahrnehmungswelt hier sinnvoll erweiternden, im anderen Falle aber diese auch ganz und gar durchstreichenden — Sphäre des Vorstellungsmäßigen und zwar stehe ich, in ihrem Bannkreise befangen, auf dem Turme, nicht als ein in diese Sphäre enthobenes und damit in die Welt des Vorstellungsmäßigen entrücktes Gegenstück meiner selbst, sondern als das eine u n d e i n m a l i g e I c h , d a s ich s e l b e r b i n , und im ganzen seiner uns unabänderlich scheinenden Fundierungen. Indessen erheben sich sofort gewisse Schwierigkeiten, wenn man bedenkt, daß hier zwei wohl zu unterscheidende Situationen möglich sind, die keineswegs auf eine bloße Unterschiedenheit der Inszenierung zurückgehen. E s ist etwas anderes, ob ich mir, der ich am Schreibtisch sitze, d. h. diesem leiblich fundierten und selber in räumlicher Orientierung vorfindlichen Ich — etwas grob geredet — den Kirchturm und mit ihm das Stadtbild unter die Sohlen schiebe, oder ob ich dieses selbe Ich «in der Vorstellung» auf den Kirchturm versetze. Denn während im ersteren Falle das Ich sein Dasein und Leben in anschaulicher Unmittelbarkeit voll bewahrt, findet es sich im letzteren selber gleichsam in die Ebene des Vorstellungsmäßigen emporgetragen, und damit auch dem eigentlich undefinierbaren und von allem, was anschaulich wahrnehmbar zu nennen wäre, abweichenden Charakter dieser Ebene anheimgegeben. Die Frage hätte nun dahin zu lauten, ob im letzteren Falle und trotz meiner Enthebung in die Vorstellungswelt, ich dennoch der faktischen Situation, in der ich mich befinde, nämJich daß i c h « t a t s ä c h l i c h » a m S c h r e i b t i s c h in m e i n e m Z i m m e r s i t z e , inne zu werden vermag, und ob sich nicht — eben zufolge dieser zwar nur durch die Vorstellungsebene möglichen Unterscheidung — ein primäres Ich von einem ihm in jeder Hinsicht gleichenden, gegebenenfalls zeitlich nebengeordneten, wenn auch nur «vorstellungsmäßigen», zur Abhebung bringen lasse.

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Unsere Antwort lautete dahin, daß zwar die letztgenannte «Doppelung» bestehen könnte, daß sie aber unter keinen Umständen eine Doppelung des I c h bekundete, auch wenn man das «Eine» dieser Ichwesen nur in der Sphäre des Vorstellungsmäßigen gelten lassen möchte. N e b e n einem wahrgenommenen Gegenstande der «Außenwelt» vermöchte ich einen i h m v ö l l i g g l e i c h e n , zweiten und vorstellungsmäßigen auftauchen zulassen. Dann dürfte ich, sofern ich mit dem letzteren nicht wiederum einen wahrnehmungsmäßigen Gegenstand «meinte», sondern entschlossen in d e r E b e n e des V o r s t e l l u n g s m ä ß i g e n verbliebe 1 , behaupten, daß mir zwei «Gegenstände» in dem e i n e n R ä u m e gewärtig seien, nämlich n e b e n dem w a h r g e n o m m e n e n , der in der V o r s t e l l u n g s s p h ä r e sich präsentierende. Und ebenso würden die Verhältnisse liegen, wenn ich mit dem in der puren Vorstellungssphäre sich präsentierenden «Gegenstande» einen in «ihm» sich irgendwie darstellenden, w a h r n e h m u n g s m ä ß i g e n «meinte». Aber die Umstände können auch anders geartet sein. Ich kann einen wahrnehmungsmäßig vor mir befindlichen Gegenstand «in der Vorstellung» bei Seite rücken, so daß er gewissermaßen «neben sich selber» zu stehen käme. Aber de fakto steht er gar nicht neben dem sich immer noch präsentierenden wahrnehmungsmäßigen Gegenstande, denn er «meint» j a diesen selber, oder wie wir genauer sagen, er «gibt» d i e s e n W a h r n e h m u n g s g e g e n s t a n d — in der Sphäre des Vorstellungsmäßigen — «als ein Selbst», nicht aber gibt er in sich einen, wenn auch durchaus übereinstimmenden Neuen und Zweiten, der sich in der Weise des Vorstellungsmäßigen, neben sich selber, als dem Wahrnehmungsmäßigen, den er in der Weise der Vorstellungsmäßigkeit als ein Selbst gäbe, befände. Die Unterschiedenheit folglich, von der es verstattet wäre auch hier noch zu reden: nämlich wenn wir in uneigentlicher Wendung bedeuten wollten, der wahrnehmungsmäßige Gegenstand sei «immer noch» als solcher gegeben, nachdem wir i h n in der Vorstellung bei Seite rückten, ginge also lediglich darauf hinaus, daß in den Parallelismus der Sphären, jene seltsamen nie und nimmer von uns gesetzten, sondern aus ihnen selber heraus gültigen Bezugnahmen verschlungen wären. Ebenso aber, wie es verwehrt wäre einem primären, wahrnehmungsmäßigen Gegenstande i h n s e l b e r , als in der Vorstellungsebene sich gebend, zu opponieren, so sinnlos — und zwar aus genau denselben Gründen 1 Daß in der Sphäre des Vorstellungsmäßigen selbst körperlich Dinghaftes zu begegnen vermöchte, das keineswegs über sich selbst hinaus auf ein wahrnehmungsmäßig und gar als owirklich» im «Begriffe» Gelegenes, wenn auch nicht ernsthaft Hingenommenes zurückweist, das es vorstellungsmäßig zu «gebem) versuchte, haben wir früher darzulegen gesucht. Siehe «Vorstudien» Bd. I, S. 111 f f .

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sinnlos — erschiene es uns, in der Situation der Ichversetzung einem «primären» Ich, d i e s e s s e l b e I c h als ein zweites und übereinstimmendes, wenn auch nur in der Vorstellungsebene befindliches Ich zur Seite zu halten. Hier wie dort liegen die Verhältnisse durchaus entsprechend. Man denke sich, die vorstellungsmäßige Enthebung des Ich so, wie wir sie soeben zeichneten, sei allemal in voller und « w a h r n e h m u n g s m ä ß i g e r » U n m i t t e l b a r k e i t vollzogen, so würden sich die Beispiele einer v e r m e i n t l i c h «simultanen Spaltung» ergeben, von denen soeben die Rede war 1 . Mit dem Unterschied freilich, daß w ä h r e n d der Versetzung des Ich-Selbst die «primäre» Situation, wie es wohl kaum anders erwartet werden dürfte, mehr oder minder ausgewischt erschiene. Aber nun fesseln uns vor allen Dingen die Fälle, die das «gespaltene» Selbst und, wie in zwangsläufiger Folge, auch das Ich an örtlich unterschiedene Träger gleichsam vergeben und die seltsame Behauptung hervorrufen, das «wahre» Ich befände sich neben ihnen, oder es sei in einem, dem Kranken übrigens völlig fremden, Mitmenschen realisiert, oder endlich, sie wüßten nicht recht, ob sich das Ich hier oder dort befinde. Was sollen wir zu diesen merkwürdigen Bekundungen sagen? Ist es möglich, daß das aufgehobene, oder verdrängte Selbst, das doch vermöge seiner vornehmlich emotionalen Natur eine innigste und «unaufhebbare» Bindung an das Ich bezeugen sollte, diese derart entschlossen preiszugeben vermag, daß der Kranke, in geradezu räumlich verstandener Wendung erklären kann, das wahre Selbst sei aus ihm herausgetreten und befände sich neben ihm ? Aber in Wahrheit scheint etwas anderes obzuwalten: Die Fälle, in denen sich beispielsweise jemand als neben sich stehend, neben sich im Bette liegend wähnt — ein übrigens gar nicht so seltenes Phänomen — mögen darauf zurückzuführen sein, daß wie oben schon bemerkt, in gewissen Konfigurationen mehr oder minder dauernder oder nur blitzartig vorübergehender Depersonalisation die qualitative und viszerale Leiblichkeit in die Ebene des Ichfremden entschwindet. Verbinden sich hiermit noch seelische Zwangsprozesse, die nicht auf eine fremde Persönlichkeit hinweisen, vor allem aber halluzinatorische Autopsien, so mag es zu der vollkommenen Illusion der konkreten und raumgebundenen Verdoppelung führen, die, wenn auch selten und stets an Beispiele der Depersonalisation gekettet, auftreten kann. Reicht dagegen die Depersonalisation an die Tiefen des Selbst heran und gehen die Erklärungen der Kranken dahin, daß ihr Selbst, und mit ihm das Ich, 1

Man vergl. den eben zitierten Fall von Lemaitre.

Österreich S. 481 f .

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an eine außer ihnen befindliche, vorgestellte oder halluzinierte und eventuell der ihrigen vollkommen gleiche, oder auch wirklich vorhandene Körperlichkeit, verloren sei, so handelt es sich gewiß nicht um ein phänomenal aufweisbares Entweichen des Selbst in die Zone ausdrücklicher Ichfremdheit, sondern lediglich darum, daß für das vermeintlich entwichene Selbst und an Hand vermittelnder Momente — wie etwa Zwangsprozesse, Halluzinationen, Leibentfremdungen usw. — ein Ort und hier natürlich ein leiblich erfüllter Ort i n p u r e n A n s a t z g e b r a c h t w i r d , an dem sich jenes Ich-Selbst befindet 1 . In dieser Weise sind wohl Fälle zu erklären, wie sie J a n e t berichtet: «Wenn man in sie dringt, so erzählt Ciaire sogleich eine Menge von Fällen, wo sie ihre wahre Person außer sich sieht. Oft sieht sie sich außerhalb von sich, ,nett, liebenswürdig, lebhaft, gut, ganz so, wie sie früher war; es ist eine Person, die von der, die ich jetzt bin, ganz verschieden ist', am öftesten sieht sie sich traurig; ihre wahre Person weint über s i e . . . » . Dabei sind die Halluzinationen, wie J a n e t meint, keineswegs deutlich, «das Subjekt glaubt sich außerhalb von sich weinen zu sehen, es ist dessen nicht sicher; es scheint ihm, daß es draußen über sich weinen müßte» 2 . Oder J a n e t berichtet von einer Epileptikerin: «Ebenso klagt sie über eine ganz einzigartige Illusion; es scheint ihr, daß ihre Persönlichkeit, die nicht mehr in ihr ist, neben, außerhalb ihrer ist, denn sie fühlt sich doppelt. Dieses zweite Ich inkarniert sich in einen Anwesenden, in der Regel in eine etwas entfernte Person, und sie seufzt, indem sie sagt, es werde dieser Person, die sie selbst zu sein glaubt, etwas zustoßen. In diesem Augenblick verliert sie dann im allgemeinen das Bewußtsein» 3 . Wir unterlassen es auf die Beispiele einer vermeintlich s u c c e s s i v e n Spaltung oder A l t e r n a t i o n des Ich hier näher einzugehen. Auch sie würden, wie schon Ö s t e r r e i c h mit aller Deutlichkeit nachweist, keineswegs zu der Folgerung führen müssen, daß es das 1 Claudine £...», sagt Österreich, einen Bericht von Sollier zitierend, «sah sich nachts neben sich liegend. Es war ihr als wäre sie selbst aus Holz oder Stein und als machte sich ihr Doppelgänger über sie lustig, er beleidigte sie und warf ihr vor krank Zustand der Miss d,Esperance zu sein.» Ahnlich ist wohl auch der somnambulieartige zu erklären, die im Zimmer herumgeht, während sie selbst auf dem Stuhle sitzt. 2 Bei Österreich a. a. 0. S. 494. 3 Bei Österreich a. a. O. S. 493ff. Daß simultane Spaltungen häufig und trotz der Depersonalisation auftreten, möchte Ö. damit erklären, daß die Depersonalisierten, selbst wenn sie sagen, ihr Ich-Selbst sei verschwunden, sich häufig in einem neuen Zustand befinden, sodaß der Ausdruck «ich bin nicht mehr» gleichbedeutend wird mit dem anderen, «ich bin ein anderer», und daß während dieses neuen Zustandes, der alte «in jener leisen gefühlshaften Erregung, die wir Gefühlsvorstellung nennen», noch mitschwingt. Hierbei kann es wiederum geschehen, daß der Depersonalisierte das «alte Ich) als da draußen befindlich wähnt und dies wiederum unter Zwangsprozessen und mit halluzinatorischer Autopsie eines früheren Zustandes seiner Leiblichkeit.

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Ich als solches sei, welches sich «verdoppelt» habe, sondern daß es sich lediglich um das Auftreten eines neuen Selbst, als der ihrem letzten Wesen nach fragwürdigen, aber gewiß noch an und für sich g e g e b e n e n oder d a s e i e n d e n Basis neuer Zuständlichkeiten und «Akte» des seelischen Lebens handele; wobei man das Verhältnis der Alternation zur «simultanen Spaltung» sich einfach dahin verdeutlichen könnte, daß erstere gewissermaßen zeitlich auseinander gezogen sei und zudem eine weitgehende — a b e r ' k e i n e s w e g s r e g e l h a f t e — Amnesie des einen Zustandes für den anderen bestünde. Allein wir glauben trotz allem, daß die Frage der Ichverdoppelung noch nicht völlig als erledigt angesehen werden dürfte. Offenbar wären zwei mögliche Weisen dieser Verdoppelung in Betracht zu ziehen. Die erste bestünde, wie oben schon angedeutet, darin, daß neben dem Ich des ichzentrierten Daseins- oder Gegebenheitsfeldes, und zwar zu eben d i e s e m D a s e i n s f e l d e a l s ein S e l b s t gehörend und folglich nicht etwa nur «vorgestellt» oder «gedanklich erfaßt», ein zweites in zentrierender Subjektverfassung befindliches Ich auftauchte, so daß, wenn von dem wahrnehmungsmäßigen und unmittelbaren Ich, welches ich selbst bin, die Rede wäre, ein Zweifel darüber bestehen könnte, w e l c h e s Ich gemeint sei, und ebenso die evidente «Ichzugehörigkeit», j a , das «bewußtseinsmäßige» Gegebensein für «mich», jeweils das eine oder andere dieser Ich betreffen könnte. Gewiß ist diese Möglichkeit sehr gering, aber ganz ausgeschlossen ist sie nicht und jedenfalls schiene es uns völlig verfehlt l o g i s c h e Argumente gegen sie ins Treffen zu führen, denn so unvorstellbar der Tatbestand auch wäre, — der Tatbestand des doppelten S e l b s t wäre es übrigens in kaum geringerem Grade —, es gäbe keinen Grundsatz der Logik oder der Erkenntnislehre, der ihn zu erschüttern vermöchte 1 . Und so würden wir wenigstens 1 Hier müssen wir Österreich entschieden widersprechen. Übrigens würde der Ausspruch des Patienten Ka. gerade im Gegenteil beweisen, daß — im anormalen Zustande — eine Doppelung («Spaltungo) des Ich vorhanden sein kann; denn er drückt sich so aus: «Einmal sagte ich mir: wenn dieser Zustand der Spaltung des eigenen Ich nicht krankhaft, sondern der normale wäre, so würde man das Identitätsprinzip nicht aufgestellt haben: a = a, sondern man würde sagen: a braucht nicht sich selber gleich zu sein. Das zweite Ich gehörte eben zu mir und doch auch wiederum nicht.» — Natürlich wäre der Gedanke einer logischen Axiomatik für «gesunde und kranke Tage» ein Nonsens; aber überhaupt würde die Idee des Doppelich erst mit dem Augenblick gegen das Prinzip der Identität verstoßen, wo ich die Behauptung wagte, daß das eine Ich «in« dem zweiten, ihm vielleicht völlig gleichen, oder andererseits, daß ein Ich als ein zweifaches, es selber wäre. Es waltet hier die gewohnte mißverständliche Verwechslung zwischen Identität, Selbstgleichheit und «vollkommener» Gleichheit vor. —• Im übrigen halten wir die Erklärung Ka.'s für höchst bedeutsam, denn offenbar rechnet sie zuversichtlich damit, daß tatsächlich bei ihm eine Ichverdoppelung stattgefunden habe, wenn er diesen Zustand auch eben für «krankhaft» hält.

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der V e r m u t u n g Ausdruck geben dürfen, d a ß es in seltenen Fällen und gelegentlich einer ausdrücklichen Doppelung des Selbst auch zu einer Doppelung — nicht etwa Z e r s p a l t u n g — , des Ich kommen könne, selbst wenn ein solcher Zustand unsere «Vorstellung» völlig leer lassen sollte. Manche Erklärungen der K r a n k e n deuten höchst vernehmlich in dieser Richtung. Ihnen einzig aus Gründen der Logik zu widersprechen, hieße nur die Verbindlichkeitsweite ihrer Satzungen mißverstehen. K ö n n t e doch das «Gesetz» der Identität nur durchkreuzen, was dem Sinn der «Selbigkeit» entgegen wäre, aber der Gedanke des Doppelich widerstritte diesem Sinne, wenn wir ihn in der rechten Weise auslegen, nicht i m geringsten 1 . Eine nächste Stufe der Verdoppelung oder Spaltung des Ich würde sich immer noch i n d e m e i n e n u n d s e l b e n D a s e i n s f e l d e abspielen, jedoch dergestalt, d a ß das jeweils andere und «abgespaltene» Ich im zeitlichen Sinne nicht neben-, sondern vorgeordnet wäre. I n diesen Zuständen wären nicht zwei Ich zugleich in der Gegenwart und im Dasein ihrer Subjekthaltung aufweisbar, vielmehr wäre das e i n e Ich nur insofern noch als daseiend zu bezeichnen, als eine Erinnerung an s e i n Gewesensein in der Vergangenheit und z w a r sein Gewesensein innerhalb einer früheren Verfassung dieses e i n e n Daseinsfeldes bestünde. D a n n entstehen jene überaus erstaunlichen Zustände, in denen die Erinnerung an ein früheres Ichwesen und die unmittelbare und erlebensmäßige seelische Verfassung dieses Ichwesens besteht und insofern auch immer noch der Zusammenhang des e i n e n Daseinsfeldes, wenn auch lediglich in zeitlicher Projektion, gewährleistet würde, aber dieses Ichwesen würde nicht als d a s Ichwesen, welches der Erinnernde selbst ist, sondern als ein zweites und anderes Ich in Anspruch genommen. «Es ist eine brave, aber ziemlich dumme Frau, aber ich bin es nicht,» sagt die berühmte Leonie Janet's v o n ihrem dritten Zustande aus über ihren ersten. U n d v o n ihrem zweiten Zustande erklärt sie: «Wie können sie nur glauben, daß ich dieser tollen F r a u ähnlich bin ? Ich habe glücklicherweise nichts mit ihr zu schaffen». Oder Morton Prince stellt Miss B e a u c h a m p zur Rede, warum sie in der Hypnose v o n «sich» im Hinblick auf den W a c h z u s t a n d «Sie»

1 Unter dieser Voraussetzung wäre die angstvolle Frage des Patienten, welches Ich denn nun eigentlich «seines» sei, nicht mißzuverstehen. Es kann sinnvoll nur die Erwartung ausdrücken, daß von den beiden in dem einen Daseinsfelde befindlichen Ich eines verschwinde, um dem anderen dauernde Geltung zu verschaffen. Redete ein wahrhaft Ich«gespaltener» vom Ich, das er selbst sei, so könnte er (d. h. eines dieser Ichwesen) dies eben nur genau so tun, als wenn er von zwei Ichwesen redete, die vor allen anderen die seltsame Eigenschaft auszeichnete, in demselben und einen Daseinsfelde und in der gleichen «Subjekte-Verfassung da zu sein.

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Janssen

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sagte: «Sie sind «sie».» «Nein, ich bin es nicht.» «Ich sage sie sind es.» Erneutes Ableugnen. «Warum sind Sie nicht «sie» ?» «Weil «sie» nicht dieselben Dinge weiß wie ich.» «Aber Sie haben beide doch dieselben Arme und Beine, nicht wahr ?» « J a , aber Arme und Beine machen uns nicht identisch». «Gut, aber wenn Sie verschiedene Personen sind, welches sind dann Ihre Namen ?» «Hier wurde sie verwirrt, sie sah offenbar ein, daß wenn ihrer Vorstellung entsprechend das mit mir sprechende hypnotische Selbst Miss Beauchamp war, das wache Selbst nicht auch Miss Beauchamp sein konnte, bzw. umgekehrt 1 »... Es geht nicht an, den so betroffenen Personen etwas wegdisputieren zu wollen, was sie mit unzweideutigen Worten erklären, nur weil diese Erklärung mit gewissen — immer nur aus der «Erfahrung», als vermeintlich «unabänderlich», aufzulesenden — Argumenten in Widerspruch zu stehen scheint; und so möchten wir auch hier die Möglichkeit offen halten, daß es sich wiederum nicht um eine bloße «Spaltung», bzw. Doppelung des S e l b s t , sondern faktisch und darüber hinaus, um die des I c h handeln könne. Aber die sogenannte «Spaltung» des Ich könnte auch in völlig anderer Weise zu verstehen sein, nämlich so, daß das zugleich bestehende Ich a l s i n e i n e m e i g e n e n u n d a b z u h e b e n d e n D a s e i n s f e l d e g e l t e n d , l e d i g l i c h i m « B e g r i f f e » s e i n e s Das e i n s g e l e g e n w ä r e . Dann würden wir diesem «abgespaltenen» Ich ganz ebenso «gegenüber sein», wie dem Ich eines Mitmenschen, und nur in der Hinsicht ließe sich eine grundsätzliche Trennung ausmachen, als das n e b e n g e o r d n e t e Ich zugleich mit dem Felde, welches es terminierte, den e i n e n u n d s e l b e n , i n die W i r k l i c h k e i t h i n z u n e h m e n d e n O r g a n i s m u s a u f r u h t e . Neben einem «primären» und terminierenden Ich und seinem Daseinsfelde würde — von diesem her freilich nur «im Begriffe» erfaßbar und unter ganz besonderen nicht zu übersehenden Umständen — gleichsam parasitäre und i h r eigenes F e l d t e r m i n i e r e n d e Ichwesen auftauchen, die, oft nur von kürzester Dauer, irgendwie auch den Stempel des Flüchtigen und Unvollendeten an sich trügen, aber 1 Bei Österreich S. 3 6 2 f f . Diese durch Prince nachträglich vielleicht erzwungene Einsicht der Person ist natürlich nicht so zu verstehen, als korrigiere sie nun ihr «Erleben», sondern als die Folge sehr sekundärer Gedanken, die sie sich über ihr Erleben macht, das als solches unverrückbar seine Geltung beibehält. — Übrigens wäre in all diesen Fällen nicht so ganz klar, ob wirklich ein wenn auch fremdes Ich-Selbst und seine seelische Verfassung erinnert wird, oder ob die Person nicht vielleicht nur des «Aussehens» und Gehabes der früheren, die als solche fremd «anmutete:), mit simultaner und nicht unmittelbarer Erfassung ihrer seelischen Zuständlichkeiten —• also etwa so, wie der Normale die seelischen Zuständlichkeiten eines Mitmenschen erfaßte — inne würde.

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doch im Grunde ebenso aufzunehmen seien, wie das «primäre» oder auch das ausdrücklich fremde Ich, die jeweils i h r Feld des Daseins zentrierten. Es soll zugestanden werden, daß dieser, übrigens schon mehrfach in der «okkulten» Literatur angedeuteten, Auffassung mancherlei Schwierigkeiten entgegenstehen. So einmal die, daß diese «Wesen» wie mit einem Schlage aus dem Nichts emportauchen, daß sie, obwohl sie sich ohne weiteres zu P e r s o n e n verdichten, doch häufig genug als die pure Ergänzung oder zweite Ausfertigung der «primären» Person in Erscheinung treten, daß sie zwar gelegentlich höchst originelle Abweichungen ihrer «seelischen» Verfassung darbieten, aber in ihrem «Erfahrungs»bestande gewissermaßen auf den der primären Person angewiesen erscheinen und, von gelegentlichen und sehr rätselhaften Ausnahmen abgesehen, kaum diesen Bestand überschreiten würden usw. Allein demgegenüber ist zu bedenken, daß es sich bei diesen « f r e m d e i g e n e n » P e r s o n e n , ihren emotionalen Zuständlichkeiten, ihren Stellungnahmen, wie «inneren» und «äußeren» Vollzügen, nicht etwa um fremde M e n s c h e n handelt, und das, was wir, vulgär gesagt, ihre seelische oder personale «Entwicklung» auf der B a s i s e i n e r s e l b s t ä n d i g e n u n d p h y s i o l o g i s c h e n O r g a n i s a t i o n nennen, sondern um nebengeordnete und parasitäre Auftreibungen über dem Grunde der e i n e n Organisation, die wir selber, — a l s E i n z e l m e n s c h —, mitführen, und daß aus diesem Blickwinkel gesehen, keine der genannten Eigenheiten absurd erschiene1. Die «fremdeigene» Person bliebe der «primären» doch irgendwie, und vermöge der Gemeinsamkeit des vitalen Untergrundes, verhaftet und nur dies eine sollte bedeutet werden, daß so unvollendet, grotesk und einseitig sich diese «Lebewesen» auch anließen, sie doch grundsätzlich das mitbringen, was unabänderlich zur Person gehörte, nämlich die Geltung des ichzentrierten Daseinsfeldes. — Die hier dargelegte Auffassung aber brauchte nicht mit dem Ansätze der sogenannten «Tiefenpsychologie» im Widerspruch zu stehen: als sei die «fremdeigene» Person irgendwie in die «unbewußte» Finalität des primären und ichzentrierten Daseins — bzw. in eine vermeintlich unterlagernde und «unbewußte» Schicht dieses Daseins — eingelassen und als stelle solche Deper1 Wenn Österreich in Schwierigkeit darin findet, zuvor erfahren zu haben, Aus Gründen, die wir hier daß es eben im Charakter «Persönlichkeiten» gelegen Person teilzuhaben.

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seinem schönen Werke über «Die Besessenheit» S. 35 eine daß das «neue Subjekt» zahllose Dinge wüßte, ohne sie so können wir ihm in diesem Punkte nicht beipflichten. nicht näher ausführen möchten, wäre es sehr wohl möglich, dieser flüchtigen ungewachsenen und gänzlich parasitären sei, auch an den «subjektivstem> Erfahrungen der primären

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sonalistion nur eines der möglichen Arrangements dar, durch welche sich die primäre und irgend in ihrer Selbstbehauptung bedrohte Person zu sichern trachte. — Allein, selbst wenn wir dem «unbewußten» Seelenleben seine Geltung einräumen wollten, wäre doch der Ausgang jener dunklen Finalität gewissermaßen in einem Stockwerk tiefer und zwar innerhalb der bedingenden Zweckfügungen des o r g a n i s c h e n L e b e n s zu suchen. Würde doch ein vermeintlich «unbewußtes», wenn zwar immer noch dem primären Ich zuerkanntes Seelenleben niemals a u s s i c h h e r a u s die Geltung eines anderen Daseinsfeldes und mit ihm die Geltung eines in einem fremden Ich terminierten Seelenlebens verständlich zu machen vermögen. Stellten wir uns für Augenblicke einmal und statt von einem ichzentrierten «Daseinsfelde» zu reden, auf den Boden der konventionellen Bewußtseinslehre, die wir an anderem Orte so energisch bekämpften, so ließe sich — gleichfalls in der Folge der Konvention — behaupten, es handele sich hier um «unterbewußte» Personen, wie um das unterbewußte» Seelenleben — und damit auch um eine Art «unterbewußten Bewußtseins» — dieser Personen. Wir haben, gleichfalls in anderem Zusammenhange, die tiefe Unwahrscheinlichkeit eines Seelenlebens, das nicht irgendwie in den Kreis des «Bewußtseins» falle, darzulegen versucht und zugleich die Möglichkeit erörtert, daß wo immer das Prinzip der Kontinuität eine Art Fortdauer seelischer Verfassungen «unterhalb» der Schwelle des Bewußten, bzw. des Bewußtseins (oder z. B. auch des Ich selber, wie etwa im traumlosen Schlafe) zu fordern scheine, nicht lediglich unseelische und erneuter Erregung fähige «Spuren» in einem physiologischen «Substrate» zurückbleiben, noch auch das «scheinbar» Entschwundene, immer noch «seelisch» zu Nennende, in der b l o ß e n Verfassung seiner Existenz irgendwie aufbewahrt bleibe bzw. fortbestehe, sondern daß statt dessen eigentümliche, an sich noch v ö l l i g u n s e e l i s c h e , aber unter der Geltungspotenz eines organischen «Lebens» stehende Konfigurationen und Veränderungen hinzunehmen sind, die sich vom Wirklichen her und in dunkler «Zweck»Fügung dieser Wirklichkeit in die Daseinswelt bezeugen, und letzten Grund für die Gegebenheits- oder Daseinsverfassung aller der Momente bilden, die unsere so wichtige Uberzeugung von der Geltung seelischer Kontinuität vermitteln, o h n e d a ß d i e s e dochin W a h r h e i t b e s t ü n d e . Doch gesetzt, wir wollten die hier versuchte Auslegung hintanstellen und uns die Lehre vom «unbewußten Seelenleben» vorübergehend zu eigen machen, so würden jene « f r e m d e i g e n e n » P e r s o n e n , doch e b e n s o w e n i g als « s u b l i m i n a l e » P e r s o n e n zu bezeichnen sein, wie d i e Personen, die uns

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als «Mitmenschen» zur Seite sind; denn nach der vorgegebenen Annahme würde gerade dies ihre Besonderung ausmachen, daß sie, obwohl sie u n s s e l b e r vielleicht — und ganz so, wie unsere Mitmenschen bzw. deren seelische und personale Verfassung — entweder gar nicht oder nur durch die Vermittelung ihres Ausdrucks «bewußt» wären, doch f ü r s i c h g e n o m m e n u n d d u r c h a u s der N a t u r des « p r i m ä r e n » Subjektes entsprechend, ein «Bewußtsein von etwas» wahrscheinlich machten. J a , diese «fremdeigenen» Persönlichkeiten gehörten so wenig zum «unterbewußten», «subliminalen» Grunde der p r i m ä r e n Person, daß sie erst von sich aus, und insofern der primären Person völlig gleichstehend, d. h. ganz so wie Personen unserer Umgebung, die Frage rege machten, ob i h n e n ein derartig «subliminales» Seelenleben zuzurechnen sei und wie sich im übrigen die Art dieses Seelenlebens gestalte. Der Grund aber, der uns veranlaßt die Theorie « f r e m d e i g e n e r » und « b e w u ß t e r » Seelenleben überhaupt in Betracht zu ziehen und nicht statt dessen und zur Deutung jener merkwürdigen «Personen» o h n e U m s c h w e i f e u n d u n v e r z ü g l i c h auf ein «unbewußtes» Seelenleben der « p r i m ä r e n » Person, auf unseelische «Spuren», oder auch auf anderweitige Bedingtheiten vorzustoßen, welche den puren S c h e i n bewußtseinsbegabter Ichwesen hervorrufen, liegt geradezu im Verhalten dieser Wesen selber beschlossen. Wer j e schon und bei voller Wachsamkeit des «primären» Seelenlebens die so leicht zu erlangende Gelegenheit hatte der Persönlichkeiten inne zu werden, die sich im Falle des «automatischen Schreibens» ankündigen, wer je ihre überaus scharfe Profilierung beobachtete, die Schlagfertigkeit, mit der sie dem primären Subjekte mitunter grotesken Widerpart bieten, ihre überraschenden Einwürfe, ihre unermüdliche Erfindung in kleinen Bosheiten und originellen Invektiven, der kann sich — einmal auf dem Boden der Bewußtseinslehre stehend — kaum dem Eindruck entziehen, daß hier noch etwas anderes, und mehr, vorliege, als ein «unter der Schwelle» wesendes «blindes» Seelenleben, das gleichsam auf eigene Faust und doch «unwissentlich», das Schattenspiel eines lebenden und persönlichen Ichwesens aufführt. Und dieser Eindruck begleitet einen, wenn man sich manche der im Wachen sich aufdrängenden Zwangsprozesse vergegenwärtigt, oder auch die so vielfarbigen Beispiele der somnambulen oder Trancepersönlichkeiten, wie endlich die stupenden Zustände der Besessenheit in Betracht zieht. Und, wie schon gesagt, es ließe sich gegen diese Auffassung nicht etwa ins Feld führen, daß die zu vermutende parasitäre Person gelegentlich wie der getreue Abzug der primären erscheine, j a , daß diese mitunter selbst von der Überzeugung durchdrungen sein kann, als handele es sich «im Grunde»

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um die eine und selbe Person1. Denn wenn wir schon gerne zugeben — und darauf führte wohl vornehmlich die letztere Bemerkung hinaus, — daß nicht das Ich eines fremden Menschen, eines entkörperten Geistes oder auch eines Dämons sich in die Leiblichkeit einniste und die Tastatur unserer Ausdrucksmittel bediene, so würden andererseits die Fälle, in denen das fremdeigene Ichwesen Zug um Zug das primäre wiederspiegelte, nichts gegen die von u n s in Erwägung gezogene Auffassung besagen. Wenn der Schlafwandelnde Handlungen selbst geistiger Art vornimmt, deren Sinn denen der «wachen» Persönlichkeit völlig gemäß ist, ja, gelegentlich die von dieser begonnenen in konsequenter Weise weiterzuführen scheint, so würde gleichwohl zu bedenken sein, ob nicht auch hier, wie beispielsweise auch im Falle posthypnotischer Auftragserfüllungen — und gesetzt es handele sich nicht um einen eigentümlichen «Bewußtseins«-Zustand des «primären» Subjektes mit lediglich nachfolgender Amnesie —, ein seiner Leistungen «bewußtes», «anderes» Ich am Werke sei, gleichviel ob dieses Bewußtsein ein eingeschränktes oder etwa sonstwie «unvollendetes» zu nennen sei und ebenso ungeachtet der Möglichkeit, daß sein Selbst, wie der Inbegriff der seelischen und ideellen Voraussetzungen, die es zu seinen Leistungen aufbringen würde, dem «primären» Ichwesen aufs Haar gliche, ja, selbst dessen subjektivste Erfahrungen als die seinigen ausgäbe. Dennoch wäre es schwer zu sagen, ob und unter welchen Umständen die Geltung «fremdeigener» Ichwesen in Ansatz zu bringen sei. Ob beispielsweise schon jeder «sinnvoll» und auf ein Fremdich verweisende Ausdrucksvorgang, etwa in automatischer Schrift, Trancereden, Mimik usw. bereits die Geltung solcher nebenseelischer und personhaft verfestigter Strukturen wahrscheinlich machte, ehe er auf bedingende Untergründe organischer Wirklichkeit zurückwiese, oder ob es sich in ihnen um u n m i t t e l b a r e Auftriebe dieser Wirklichkeit handelte, um Auftriebe also, die sich nicht z u n ä c h s t u n d vor ihrer Bedingtheit vom Wirklichen her als Äußerung eines nebenoder untergeordneten, «zweiten» Ichlebens bezeugten 2 . Da wir nichts 1 Wenn Schilder in einem Falle hysterischer Depersonalisation die Unsinnigkeit eines zweiten Ich daran erweisen möchte, daß der Kranke «Kenntnis» davon habe, daß die «fremde» Person er selber sei, so vermögen wir ihm auch darin nicht beizujener pflichten. «Kenntnis» im Sinne der bloßen und selbst begründeten Überzeugung Identität, d. h. ohne daß diese sich auch in Selbstgegebenheit darstellte, wäre kein schlüssiger Hinweis darauf, daß sie auch in der Tat bestünde. (Siehe Schilder a. a. 0. S. 240). a Wir haben gleichfalls an anderer Stelle, und im Gegensatz zur Hypothese vom «unbewußtem> Seelenleben, dem Gedanken Ausdruck verliehen, daß eine unter der Geltungspotenz des Lebens stehende, an sich völlig unseelische Wirklichkeit auf Grund der selber ins Wirkliche hinzunehmenden nervösen Organisation Ausdruck-

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von der inneren Verfassung jener Persönlichkeiten, den möglichen Graden ihrer «Vollendung» und inneren Konsistenz kennen, und daher auch niemals anzugeben vermöchten, was zum Mindestmaß ihrer eigen-«bewußten» Geltung gehörte, d ü r f t e diese Frage schwer zu entscheiden sein. Eine Abart endlich der auf dieser Stufe zu nennenden Möglichkeiten bestünde darin, d a ß zwar das fremde Ich selber einem eigenen und abzuhebenden Daseinsfelde angehörte u n d folglich nach wie vor «im Begriffe» seiner Geltung gelegen bliebe, im übrigen aber als die «notwendig» hinzunehmende Ergänzung gewisser seelischer Zwangsprozesse, j a , vielleicht sogar eines Selbst erschiene, die a l s s o l c h e d e m e i n e n u n d s e l b e n «primären» Daseinsfelde angehörten. Mehrfach, wenn auch nicht ausdrücklich berührt, aber haben wir schon die letzte Stufe der vermeintlichen Ichspaltung. Sie würde vorliegen, wenn k e i n e r l e i Erinnerung an eine in der Vergangenheit liegende fremdeigene Person stattfände, sei es in der Verfassung ihres Ich-Selbst und in der Weise jener merkwürdigen Quasi-Simultaneität, die sich auf eine frühere Phase des Daseinsfeldes erstreckte, sei es in der Weise ihres nur «äußerlichen» und fremd anmutenden Gehabes. Aber die hier auftretenden Erscheinungen ließen sich auf die schon besprochenen einer e r l e b e n s m ä ß i g e n Doppelheit des Ich-Selbst im streng simultanen, wie im quasi-simultanen Sinne zurückführen, sobald man die hier auftretenden Amnesien in Abzug bringt. Denn nicht allein, daß diese Amnesien keineswegs wechselseitig zu gelten pflegen, es hat sich auch gezeigt, daß sie gelegentlich im hypnotischen Zustande in Wegfall geraten können. — Gegen die hier gezeichneten u n d gewiß nicht bedingungslos von uns anzunehmenden Möglichkeiten dürfte man indessen noch ein gewichtiges Argument anführen. Ließe sich nicht die Meinung vertreten, es handele sich überall hier u m nichts anderes, als um die bloße Steigerung dessen, was uns als «Unterhaltung in Gedanken», als Dramatisierung in phantasieerhobener Rede und Gegenrede bekannt ist ? Und könnte man nicht verallgemeinern, was K . Ö s t e r r e i c h im Hinblick auf die Besessenheit erklärt, wenn er sagt: «Es entwickelt sich in der Psyche eine Art sekundären Persönlichkeitsvorgänge (im weitesten Sinne des Wortes) bedingen könnte, die, ohne vorgängig von seelischen Tatbeständen bedingt zu sein, lediglich den Schein ihrer seelischen und personalen Führung hervorriefen. — Übrigens vermöchten wir uns der Auffassung Schilder's (a. a. 0. S. 241) in keiner Weise anzuschließen, wenn er erklärt: «Die Bewußtseinserlebnisse sind kreisförmig um das Ich angeordnet, nach jedem hin zieht ein Ichstrahl, ein jedes ist im unmittelbaren Ichfelde, nur trennen radiär angeordnete Scheidewände die Erlebnisse so, daß sie nicht durch unmittelbaren Willensentschluß zueinander in Beziehung gesetzt werden können.»

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s y s t e m s , d a s gegen d e n W i l l e n des I n d i v i d u u m s sein L e b e n f ü h r t . D a s S u b j e k t v e r l i e r t die H e r r s c h a f t ü b e r einen e r h e b l i c h e n Teil s e i n e r Z u s t ä n d e u n d es f ü h r t — zwangsweise — m i t d i e s e m Teil s e i n e r selbst die R o l l e d e s D ä m o n s d u r c h ? J ». D i e s eine w ä r e h i e r z u n ä c h s t zu e r i n n e r n , d a ß n ä m l i c h d a s I c h s c h o n i m n o r m a l e n Z u s t a n d e seiner seelischen V e r f a s s u n g gegen seine eigenen Z u s t ä n d e u n d L e i s t u n g e n S t e l l u n g zu n e h m e n v e r m ö c h t e , u n d dies n i c h t allein — v u l g ä r gesagt — in «cogitativem» S i n n e , s o n d e r n a u c h willens- u n d w u n s c h m ä ß i g , u n d selbst i m S i n n e seines g e f ü h l s m ä ß i g e n V e r h a l t e n s . U n d j e d e n A u g e n b l i c k w ä r e hier a l s e v i d e n t z u b e l e g e n , d a ß i c h e s s e l b s t b i n , d e m die e n t g e g e n g e r i c h t e t e n Z u s t ä n d l i c h k e i t e n oder V e r h a l t u n g s w e i s e n einw o h n e n , b z w . i n d e m sie z e n t r i e r t s i n d , u n d so z w a r , d a ß ich es b i n , d e r «hinter» j e d e r seiner R e g u n g e n i m v o l l e n B e s i t z e s e i n e r s e l b s t s t ü n d e , so d a ß es e i n f a c h n i c h t a n g i n g e zu s a g e n , d a s S u b j e k t , u n d also das i c h t e r m i n i e r t e S e l b s t , k ö n n e jeweils m i t e i n e m « T e i l » seines W e s e n s in d i e s e m o d e r j e n e m S i n n e in A n s p r u c h g e n o m m e n sein, w ä h r e n d es v i e l l e i c h t f a k t i s c h n u r i n der einen o d e r a n d e r e n R e g u n g weniger «lebendig» w ä r e . F e r n e r a b e r bliebe z u b e d e n k e n , d a ß w i r ü b e r h a u p t u n d i m a l l g e m e i n e n , eine n u r sehr b e d i n g t e u n d m i t t e l b a r e « H e r r s c h a f t » ü b e r u n s e r seelisches L e b e n , u n d z w a r i n j e d e r seiner S c h i c h t e n , a u s ü b e n , u n d dies k e i n e s w e g s n u r d a n n , w e n n w i r — a n s c h e i n e n d v o n selber — in eine S t e l l u n g n a h m e z u u n s g e d r ä n g t w e r d e n , s o n d e r n schon i m u n w i d e r s p r o c h e n e n Vollzuge u n s e r e r R e g u n g e n 2 . A b e r w e n n selbst d i e R e g u n g e n , ü b e r die w i r eine, w e n n a u c h n u r m i t t e l b a r e H e r r s c h a f t a u s ü b e n , a u c h o h n e j e g l i c h e A n t e i l n a h m e u n s e r e r s e l b s t , oder a u c h g e r a d e z u , u n d unseren a u f g e w a n d t e n Bemühungen entgegen, z w a n g s m ä ß i g v o r sich g e h e n sollten — e t w a als Z w a n g s f ü h l e n , Z w a n g s d e n k e n u s w . — so w ü r d e d o c h die Z u v e r s i c h t eines f r e m d e n , p e r s o n a l e n U r s p r u n g e s s o l a n g e n i c h t i n u n s rege w e r d e n , als e b e n i c h es w ä r e , d e r « i n » i h n e n « l e b t e » u n d d e m sie v e r h a f t e t b l i e b e n , selbst w e n n die A r t des Vollzuges a u t o m a t i s c h oder g e r a d e z u z w a n g s m ä ß i g v o n s t a t t e n ginge 3 . I n d i e s e r H i n s i c h t a b e r g ä b e es a u c h ein Z w a n g s 1

Vergl. K. Österreich: «Die Besessenheit» S. 62ff. Daß wir nur in einem Falle von einer unmittelbaren Herrschaft unserer selbst zu reden vermögen, haben wir an anderem Orte darzulegen versucht. 3 Man verzeihe die summarische Ausdrucksweise. Gefühle, Stimmungen, ja, selbst Stellungnahmen sind natürlich als solche noch keine Vollzüge. Andererseits kann nur das «automatisch»> genannt werden, was unter anderen Umständen eine, wenn auch nur mittelbare Beherrschung seines Ablaufes zuläßt. •— Zwangsgefühle wären solche, die sich, meist unverständlich in ihrer Daseinsbegründung, gegen jeden Versuch ihrer Abschwächung, Beseitigung oder Ablenkung unbeeinflußbar erwiesen usw. 2

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« d e n k e n » , das seine « G e d a n k e n » — u n d zwar als Zwangsged a n k e n , die gleichwohl die m e i n i g e n w ä r e n , u n d «in» deren Stiftungsvollzuge ich passiv «lebte» — in einem «inneren» oder «äußeren» R e d e n z u m A u s d r u c k zu bringen v e r s t ü n d e . U n d zwar k ö n n t e solche R e d e , die i m m e r noch als A u s d r u c k m e i n e r G e d a n k e n zu bezeichnen wäre, in stiller oder l a u t e r A r t vollzogen sein, in freier a u t o m a t i s c h e r oder selbst zwangsläufigen Weise v o r sich gehen. Aber solches R e d e n k a n n a u c h das R e d e n eines A n d e r e n sein. E i n e s A n d e r e n , v o r h a n d e n e n oder n i c h t v o r h a n d e n e n Menschen, in dessen «Gedanken» -— die dennoch deskriptiv v o n m i r gestiftet werden, u n d also nicht e t w a n u r auf mich als i h r e n U r h e b e r « s c h l i e ß e n » lassen, — i c h «einfühlend» l e b e . D a n n bin ich es, der gleichsam d u r c h den A n d e r e n h i n d u r c h gedankliche S c h ö p f u n g e n vollzieht u n d wie durch dessen M u n d v e r k ü n d e t . Allein a u c h diesmal k a n n das D e n k e n , in d e m ich mich selber vielleicht z u n ä c h s t als U r h e b e r f ü h l t e , wie in d e m oben e r w ä h n t e n h ö c h s t eindrucksvollen Falle v o n Curel, den C h a r a k t e r des A u t o m a t i s c h e n , j a , eine m e h r oder m i n d e r s t a r k e Z w a n g s f ä r b u n g a n n e h m e n . I c h «fühle» nicht m e h r die willentliche u n d p r o d u k t i v e T e i l n a h m e meiner selbst: «es» d e n k t , w e n n ich so sagen d ü r f t e , aber gleichwohl d e n k t «es» i n m i r , das h e i ß t : ich bin es, der — wenngleich zwangsmäßig — die «Akte» des D e n k e n s v e r r i c h t e t u n d d e m sie, w e n n er auch keine Macht ü b e r ihren Verlauf m e h r besitzt, v e r h a f t e t bleiben. Aber wie ist, w e n n ich, wie z u m Beispiel i m Falle der Mitteilungen des «automatischen» Schreibens, des Tranceredens, der Besessenheit usw., nicht einmal passiv u n d völlig hingegeben «in» diesem D e n k e n « l e b e » , w e n n v o n d e m ganzen Geflecht seiner vielfältig b e d i n g t e n «Akte» u n d der in diesen «Akten» gestifteten Gebilde nicht m e h r d a ist, als v o n d e m D e n k e n , das v o n der Basis eines f r e m d e n , d. h. einem Mitmenschen «gehörenden» Daseinsfeldes a n h e b t , u n d w e n n dies, i m m e r n u r «im Begriffe» seiner Geltung gelegene, D e n k e n sich dennoch in sinnvoller Rede 1 z u m Ausdruck b r i n g t , so sinnvoll vielleicht, d a ß sie unverzüglich auf das Dasein einer sehr «konkreten» u n d v o n der unsrigen ausdrücklich sich a b h e b e n d e n Persönlichkeit zurückverwiese ? — U n d w e n n ich dennoch u n d t r o t z der endgültigen Ü b e r h o b e n h e i t eines solchen Denkens, a n n e h m e n wollte, es sei m e i n D e n k e n : w ü r d e ich nicht sogleich wieder der Auffassung zugetrieben, es f i n d e — i m Sinne der Bewußtseinslehre zu 1 Die Art dieser, stets von selber oder gar zwangsmäßig sich einstellenden Rede kann sehr mannigfaltig sein. Sie kann sich in stiller Weise und wie in der Ebene des «Vorstellungsmäßigen» vollziehen, sie kann aber auch die Eindringlichkeit der Halluzination besitzen oder sich schließlich durch die Sprachwerkzeuge, durch Schrift oder Mimik der «primärem> Person äußern.

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reden — ein «unbewußtes» Denken statt, d. h. ein Denken von dessen Verlaufsweise, Zielen und Mitteln ich nicht das mindeste «Bewußtsein» habe, wofern ich nicht etwa glauben wollte, die sinnvolle Rede werde, o h n e jenem «unbewußten» Denken zum Ausdruck zu dienen, unverzüglich von den K o n f i g u r a t i o n e n lebendiger Wirkl i c h k e i t her bedingt und gleichsam in das «wache» Bewußtseinsfeld emporgetragen ? Und angenommen, ich wollte den letztgenannten Ausweg einschlagen, sollte m a n nicht erwarten, daß die u n m i t t e l b a r v o m W i r k l i c h e n h e r b e d i n g t e sinnhafte Rede sich nach der Art eines M o n o l o g e s ausnehmen würde, keinesfalls aber, wie es so häufig geschieht, nach der Art einer lebendig geführten Unterhaltung, einer Unterhaltung, die gegebenen Falles in nichts, aber auch in gar nichts, von d e r abwiche, die ich mit einem verständigen u n d sehr persönlichen Mitmenschen führe, der mir zwar nicht an «Erfahrungen», wohl aber mitunter an Schlagfertigkeit, Erzählungsgabe, Ironie usw. beträchtlich überlegen zu sein schiene 1 ? Und wenn wir statt dessen wieder zu der Annahme eines «unterbewußten Seelenlebens» zurückkehrten, würden wir nicht wieder denselben schweren Bedenklichkeiten begegnen, die wir vorhin n a n n t e n : sich vorzustellen, daß die ganze so verwickelte Struktur des Denkens — in seiner emotionalen Bedingtheit, in seinem zielstrebigen Verlaufe, wie im Charakter seiner ideellen und geistigen Schöpfungen — sich gewißermaßen komplett und in voller Ausfertigung u n t e r h a l b d e s « w a c h e n » S e e l e n l e b e n s nochmals und von dem einen Ich zentriert realisiere, nur des einen scheinbar harmlosen Umstandes beraubt, nach dem es in «bewußter» Weise von statten ginge ? Liegt nicht an Stelle des höchst unphilosophischen Gedankens einer solchen Wiederholung die andere, u n d sicher auch nicht g a n z unbedenkliche, Wendung um vieles näher, nämlich, daß hier «fremdeigene», wenn auch flüchtige u n d irgendwie «unvollendete» und parasitäre Ichwesen «neben» dem Ich, das ich selbst bin und der eigenen organischen Wirklichkeit aufruhend, zu kurzer Geltung gelangen und daß mithin die sinnvolle Rede auch irgendwie Ausdruck eines sinnvollen und «bewußt» verfahrenden Denkens sein muß ? Wer von einem anderen u n d zweiten Ich — «außer» dem Ich, welches er selbst ist — die Rede gehen läßt, wird häufig genug und in der Meinung vielleicht einer logischen Forderung Genüge zu tun, dadurch sagen wollen, daß dieses Ich irgendwie von dem 1

Wir denken hier zunächst an die ungewöhnlich fesselnden und psychologisch noch lange nicht genug gewürdigten Tatsachen des «automatischen Schreibens», ferner an das Reden in somnambulen Zuständen und schließlich an die Kontroversen im Zustande der Besessenheit.

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«seinigen» verschieden sei 1 . Aber die V i e l h e i t ist, wie man mitunter irriger Weise annimmt, keine «Hinsicht», auch keine « l e t z t e » Hinsicht, in welcher beliebige Etwas, mögen sie einander auch «vollkommen» gleichen, «immer noch» von einander verschieden sind, vielmehr wäre sie die geltende und unaufhebbare V o r a u s s e t z u n g jeder, auch der «vollkommenen», Gleichheit zu nennen. Und so wäre es beispielsweise auch abwegig zu meinen, daß mit Uberwindung jener vermeintlich «letzten» Hinsicht der Verschiedenheit, — nämlich eben der des Numerischen — , auch die wahre «Vollkommenheit» der Übereinstimmung erreicht sei und damit die Übereinstimmung in eine Identität «übergehe». Denn die Identität besagt etwas völlig anderes und vermöchte niemals durch einen Rekurs auf die Gleichheit — etwa als Gleichheit «mit sich selber» — bestimmt zu werden. Indessen: was darf man überhaupt und gerechter Weise im Sinne haben, wenn von einer Verschiedenheit der Ichwesen die Rede ist ? — Daß S e e l e n im Hinblick auf ihre Struktur, wie auf die in dieser Struktur sich verflechtenden «Bestände» von einander abweichen, leuchtete uns unverzüglich ein, wie weiter, daß der Sinn solcher Unterscheidung noch um vieles mehr die «Person» angehe: in ihrem aktuellen und im Daseinsfelde anzutreffenden Gehabe sowohl, wie in den dunklen und vermeintlich hinzunehmenden «Tiefen» ihres «Charakters», ihres «Gemütes», ihres «Verstandes», ihrer «Veranlagung». Aber nicht ebenso leuchtete uns ein, daß auch das hier überall gleichmäßig begegnende letzte und kernhafte I c h m o m e n t der Sinn der Verschiedenheit, oder auch nur — da es keinerlei «Komponenten» seines Wesens aufweist oder vermuten läßt und offenbar etwas Einfaches darstellt — d e r Sinn der bloßenAhnlichkeit oder U n ä h n l i c h k e i t berühre. I n der T a t , wofern man die vorhin genannten seltsamen Weisen der «Ergriffenheit» des Ich ebensowenig zu seiner l e t z t e n «wesentlichen» Verfassung zu rechnen gesonnen ist, wie etwa seine erlebensmäßige «Urheberschaft» oder seine — nicht minder erlebensmäßige — Auslieferung an alles, was es zwangsmäßig überkommen könnte usw., wäre wohl kaum noch eine Instanz aufweisbar, welche die Unterscheidung des einen Ich gegenüber einem anderen rechtfertigte. Aber freilich: mit aller Entschiedenheit ließe sich auch dies nicht behaupten. Und zwar nicht nur um dessentwillen, weil eben das «andere» Ich ausschließlich «im Begriffe» seines Daseins (wie seiner Geltung) gelegen bleibt, sondern weil das Ganze 1 Von «meinem» oder «seinem» Ich zu reden, ließe sich natürlich nur durch die Bequemlichkeit des Wortgebrauches rechtfertigen. Das Ich, im Hinblick auf welches im ausschließlichen Sinne ein Etwas «mein» oder «sein» ist, kann nicht selber «mein» oder «sein» genannt werden.

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I . Das lebende und erlebende Ich

der hier waltenden Verhältnisse in hoffnungsloser Undeutlichkeit verharrt. Einer Undeutlichkeit, die für diese Bereiche des Daseinsfeldes konstitutiv ist und die nicht etwa der Unzulänglichkeit unserer Zuwendung zur Last fällt, sondern, im Gegenteil, ihrem Ursprünge nach von höchst «objektiver» Natur ist und in dem merkwürdig diffusen und verschwimmenden und durch keine Emporhebung zu beseitigenden Charakter der Sachverhalte ihren Grund findet. Daß an dieser Undeutlichkeit der Strukturen ganz ohne Zweifel auch die Hinsicht ihres i d e e l l e n B e s t i m m t s e i n s teilhabe, haben wir in anderem Zusammenhange nachzuweisen versucht. Hier möchten wir nur bemerken, daß sich im Geiste der auftretenden Bedenken etwa die Frage stellen ließe, ob die hier in Erwägung gezogene UnUnterschiedlichkeit der Ichcharaktere es noch zulasse von einem numerischen Bestimmtsein dieser Charaktere in einer « V i e l h e i t » zu reden. Gewiß nicht deshalb, weil das Fehlen solcher Unterschiedlichkeit sie «in eins» zusammenfallen» ließe, — denn das wurde soeben als völlig absurd beiseite geschoben — , sondern weil alles, was nicht selber und in einer weiteren Fassung, R a u m g e s t a l t ist, wie z. B . das «Qualitative» jedweden Sinnes, aber auch weite Gebiete des Ideellen, ohne zum mindesten die Geltung der Gleichheit wie der Verschiedenheit, der Ähnlichkeit wie der Unähnlichkeit, zu verwehren, dennoch diejenige des N u m e r i s c h e n in seltsam «objektiver» Unsicherheit befangen zeigen 1 . Worin der Grund dieser Tatsache zu suchen sei, möge hier auf sich beruhen bleiben, aber das eine wäre wohl kaum zu bezweifeln, daß wenn die Ichwesen — mögen sie nun «Seelen» oder «Personen» terminieren — ebenso wie die sie entfernt fundierenden Körperlichkeiten wahrnehmungsmäßig und unmittelbar «gegeben», d. h. für uns «da» wären, ihre numerische Angabe sich dennoch einzig nach eben dieser Körperlichkeit orientierte, während sie, rein auf sich selber hin besehen, — und ganz so, wie etwa Farben als solche und in der Besonderung des Unselbständigen, wie ferner Töne, Gefühle, aber auch wie mancherlei Idealitäten, vor allem, sofern sie in der Bestimmtheit ihrer U b e r e i n s t i m m u n g betroffen würden — , voraussichtlich dieselbe seltsame numerische Unsicherheit bekunden würden. — Indessen soll hier etwas anderes, nämlich das Verhältnis des Ich, welches ich selbst bin, zu jedem «anderen» Ich zur Entscheidung stehen. Inwiefern ein anderes oder zweites Ich «da» sein könne, ohne doch in demjenigen Felde des Daseins «da» zu sein, welches ich selber terminiere, möge uns vorläufig noch nicht bekümmern. Hier möge 1 Wir haben diese Tatsachen Lehre von den Spezies behandelt. Untersuchung (b).

vor allem in ihrer sehr wichtigen Beziehung Vergl. «Vorstudien» Bd. I, S. 191 f f . und II,

zur VIII

6. Die Erfassung des fremden Seelenlebens

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nur festgestellt werden, daß ich es ganz so — «lebend» in seinen Zus t ä n d i g k e i t e n und Stellungnahmen — verstehe, wie das Ich, welches ich selbst bin und gänzlich unbekümmert um die H i n s i c h t der Haltung, die es einzunehmen bereit wäre. Eine Differenzierung aber besagte schon der Versuch, das «fremde» Ich in der Weise des «Du» aufzunehmen; denn dieses D u bedeutete lediglich das fremde Ich im Modus der «An»-rede und setzte seinerseits die besondere und eingeschränkte H a l t u n g v e r s t e h e n d e r K e n n t n i s n a h m e und damit auch die S t e l l u n g n a h m e zu mir voraus. Wollte ich folglich das Verhältnis des Ich, welches ich selbst bin, zum D u in Erwägung ziehen, so glitte ich unvermerkt und verbotener Weise in eine tiefere Betrachtungsebene hinab; dem D u würde nur das Ich i m M o d u s der a u s d r ü c k e n d e n K u n d g a b e «für» das fremde Ich bzw. «für» die fremde Person und damit wiederum nur eine g a n z g e w i s s e Haltung meiner selbst diesem Ichwesen gegenüber, zu entsprechen vermögen 1 . Vom D u aber soll hier nicht die Rede sein. 6. D i e E r f a s s u n g d e s f r e m d e n

Seelenlebens

Zwei Fragen sind es, zu denen sich das Problem einer Erfassung des fremden, anderen Ich und seiner seelischen Regungen verdichtet. Die erste möchte erkunden, ob es «wahrnehmungsmäßig» oder sonstwie a l s e i n S e l b s t u n s « g e g e b e n » bzw. f ü r u n s «da» sei; die zweite, wie wir, falls es sich n i c h t als ein Selbst geben sollte, zu einem «Wissen» von ihm vordringen. Da wir uns über beide — vor allem aber über die Lösungsmöglichkeiten der zweiten Frage — ausführlich an anderer Stelle geäußert haben, erübrigt sich hier ein näheres Eingehen auf sie und wir begnügen uns mit der Darlegung einiger uns wesentlich erscheinender Ergänzungen 2 . Die ein wenig groteske, übrigens zuerst von Loskij vertretene Auffassung, wir vermöchten fremden, ichzentrierten Seelenlebens i n u n m i t t e l b a r e r S e l b s t g e g e n w a r t und auf Grund eines «Wahrnehmens» inne zu werden, ist wieder mit Recht preisgegeben worden. Fremdes Seelenleben ist •— wenn wir v o n der g ä n z l i c h a n d e r s zu v e r s t e h e n d e n s e e l i s c h e n u n d k e i n e s w e g s i c h z e n t r i e r t e n «Resonanz» innerhalb einer ichfremden Wahrnehmungswelt absehen — niemals evident a l s e i n S e l b s t da, sondern 1 Natürlich kann ich mit dem «Du» auch schlechthin das andere Ich meinen; aber dann meine ich es gewissermaßen durch die Haltung verstehender Kenntnisnahme und damit auch «durch» die besondere Stellung zu mir «hindurch». 2 Man vergleiche zum Folgenden die Darstellung in unseren «Vorstudien» Bd. I I , S. 270ff. und 360ff.

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i m m e r n u r u n d ausschließlich «im Begriffe» seines Daseins wie seiner Geltung gelegen, — nicht in einem «leeren» Begriffe freilich, sondern in einem solchen, der d u r c h eine vorstellungsmäßige I l l u s t r i e r u n g auf G r u n d eigenen seelischen Lebens «erfüllt» zu sein •verm ö c h t e . Allein, wie soll ich des f r e m d e n Seelenlebens inne w e r d e n , w e n n ich es n i c h t als ein Selbst w a h r n e h m u n g s ä h n l i c h e r f a h r e ? E t w a auf G r u n d eines Analogieschlusses ? Indessen, so h e i ß t es, wie soll ich durch einen Schluß wahrscheinlich m a c h e n , d a ß sich «hinter» d e m Antlitz des Mitmenschen ein Seelenleben f i n d e , w e n n ich, u n f ä h i g , das eigene Antlitz zu sehen, nicht einmal des f ü r mich selber geltenden Z u s a m m e n h a n g e s i n n e werde ? K a n n aber f r e m d e s Seelenleben nicht «aus Erfahrung» erschlossen werden, und v e r m a g es sich ebensowenig als ein Selbst darzustellen, so bliebe n u r die schwer zu begreifende Möglichkeit übrig, d a ß eine A r t O f f e n b a r u n g dieses Seelenlebens «im» puren « B e g r i f f e » s t a t t f i n d e , d. h . d a ß zwar das Fremdseelische u n d mit i h m das f r e m d e Ich nicht selber g e g e b e n oder d a sei, d a ß es a b e r dennoch u n d zielsicher, w e n n a u c h vielleicht n u r auf die bloße « S p h ä r e » 1 f r e m d e n Seelenlebens hin, in einem puren, u n d s i c h n i c h t e r s t a n e i n e r E r f a h r u n g orient i e r e n d e n , «Begriffe» e r f a ß t werde. A b e r diese T h e o r i e n besagen nichts anderes, als eine voreilige K a p i t u l a t i o n vor «Unmöglichkeiten», in die sich eine B e t r a c h t u n g , die v o n zu enger u n d ad hoc hergerichteter Basis a n h e b t , n u r zu leicht v e r r e n n e n k a n n . Auch ohne unser Antlitz vor u n s g e h a b t zu h a b e n « w i s s e n » w i r , wie wir a n d e r w ä r t s a u s f ü h r t e n , v e r m ö g e d e r vielfachen u n d a n allen möglichen Stellen unserer K ö r p e r f l ä c h e e r p r o b t e n Koinzidenz des «von außen» h e r E r t a s t e t e n , wie des innerleiblich (viszeral) T a k t i l e n , m i t dem, was wir «sehend» vor u n s h a b e n , v o n der anschaulich s i c h t b a r e n F o r m v e r ä n d e r u n g u n s e r e s Antlitzes, wie d a v o n , d a ß «hinter», bzw. «vor ihm» ein seelisches L e b e n webt, u n d d a ß eben diese F o r m v e r ä n d e r u n g Hinweis auf dieses L e b e n sein k ö n n t e , welches ich selber f ü h r e . A b e r keineswegs w ä r e dies der einzige Weg, der zu f r e m d e m seelischem L e b e n zu führen vermöchte, denn auch an Stimme und Körperbewegung ja, 1 Da die Idee der «Vorgegebenheil», des fremden seelischen Einzelwesens — aus Gründen seiner evidenten Unsinnigkeit — nicht haltbar erschien, erfand man, nur um den Schrecken des Analogieschlusses zu entrinnen, die «Vorgegebenheit» der leeren «Sphäre» des Fremdseelischen. — Auch von dieser «Sphäre» würde natürlich gelten, daß sie niemals im strengen Sinne des Wortes gegeben oder da sei, höchstens könnte es sich auch hier wieder um eine durch keinerlei Erfahrung vermittelte im «Begriffet> erfolgende «Offenbarung» fremden Seelenlebens, bzw. seiner puren «Sphäre» handeln. Allein solche Offenbarung der«Sphäre» würde wie wir sehen und anderwärts noch genauer ausführten, eine ähnliche Widerlegung erfahren, wie sie die «Offenbarung» konkreter und fremdseelischer Einzelwesen zuteil wurde.

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selbst i m bloßen A b t a s t e n der eigenen u n d f r e m d e n Gesichtszüge w ü r d e sich die Wissensvermittelung u m f r e m d e s Seelenleben vollziehen k ö n n e n 1 . E s wäre d a h e r keineswegs e r l a u b t , den Analogieschluß u n d mit i h m die in der Gegenwart so gern gelästerte «Erfahrung» auszuschließen, w e n n auch die Analogie keine explizite u n d gliedhaft gegenwärtige zu sein b r a u c h t e , sondern i n i h r e r i d e e l l e n A b f o l g e u n d nicht anders, als es in vielen anderen Beispielen logisch ideeller Y e r m i t t e l u n g geschieht, in der E b e n e des «theoretischen Nichtdaseins» bzw. «theoretischer Nichtgeltung» verbleiben k ö n n t e 2 . Der so geläufige E i n w u r f : das K i n d in f r ü h e m Lebensalter vermöge doch sicher noch keinen Analogieschluß zu vollziehen u n d bezeuge dennoch d u r c h sein L ä c h e l n , w e n n die M u t t e r a n seine Wiege t r ä t e , d a ß es diese a l s P e r s o n erkenne, beweist n a t ü r l i c h nicht das Geringste. D e n n d a v o n abgesehen, d a ß m a n sich dieses «Schließen» nicht so vergegenwärtigen darf, als gehe es in «Akten» eines b e h a u p t e n d e n , zielstrebigen, A u f g a b e lösenden D e n k e n s vons t a t t e n , u n d dergestalt wie wir den Analogieschluß an einem Schulbeispiele u n d in H e r v o r k e h r u n g all seiner Requisiten erproben w ü r d e n u n d nicht viel mehr n a c h A r t einer bloßen u n d s p o n t a n e n E r f a s s u n g gegebener oder auch n u r i m «Begriffe» ihrer Geltung gelegener Sachverhaltsabhängigkeiten 3 , w ü r d e eine Fülle anderer Möglichkeiten zu n e n n e n sein, e h e die äußerste u n d e x t r e m e einer auch n u r «undeutlichen» E r f a s s u n g des f r e m d e n Ichwesens — nicht a l s e i n e s s e e l i s c h e n I c h w e s e n s n a t ü r l i c h , sondern noch völlig u n b e s t i m m t , u n d vielleicht als etwas, das irgendwie «aus sich selber tut», das nicht v e r f ü g t w i r d , sondern s e l b e r v e r f ü g t oder dergleichen — a u f t a u c h t e . D e n n ohne auf die Möglichkeit einzugehen, d a ß j e n e s Lächeln noch rein in der E b e n e des I n s t i n k t e s gelegen sein k ö n n t e u n d folglich noch u n t e r h a l b eines jeglichen «Erkennens», j a vielleicht sogar einer differenzierteren W a h r n e h m u n g s t a t t f i n d e , k ö n n t e es beispielsweise geschehen, d a ß die g e w o h n t e n u n d a u s Gewohnheit zu e r w a r t e n d e n Annehmlichkeiten, die m i t der Gegenwart des v o r die Wiege t r e t e n d e n «Etwas» v e r k n ü p f t zu sein pflegen, das L ä c h e l n des K i n d e s h e r v o r r u f e n , oder, noch weiter, d a ß eben diese A n n e h m 1

Der Blindgeborene z. B. würde, wenn die bekämpfte Argumentation zu Recht bestünde, durch die Maschen jener «Unmöglichkeit» unbedenklich hindurchschlüpfen; denn er würde durch das Abtasten seiner Gesichtszüge, wie derjenigen seiner Mitmenschen ohne weiteres durch einen, wenn auch nicht expliziten (vielleicht selber nur im «Begriffe» gelegenen) Analogieschluß, des fremden Seelenlebens inne zu werden vermögen. 2 Vgl. Vorstudien Bd. II, S. 274. 3 Vgl. unsere Ausführungen über das nichtbehauptende Denken. «Ideeller Aufbau» Bd. I, S. 139ff.

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lichkeit, die das «Etwas» spendet, auch dieses E t w a s selber i n der Gloriole j e n e r , der eigenen R e g u n g o f f e n b a r k o e x i s t e n t e n u n d sicher h i e r stets u n m i t t e l b a r e n , j a , vielleicht ü b e r h a u p t «vorgängigen» «seelischen Resonanz» erscheinen ließe, die alles, was «angenehm» ist, u m k l e i d e t u n d die wir m i t Sicherheit auch f ü r das Daseinsfeld des j u n g e n Kindes anzusetzen h a b e n . U n d auch dies wäre zu b e d e n k e n , d a ß die durch Analogie v e r m i t t e l t e F r e m d e r f a s s u n g — g e s e t z t , es h a n d e l t e sich b e i m K i n d e w a h r h a f t schon u m so etwas, wie die E r f a s s u n g eines f r e m d e n , w e n n a u c h noch so u n b e s t i m m t e n I c h w e s e n s — v o n einer n i c h t m i n d e r d i f f u s e n u n d u n g e g l i e d e r t e n E r f a h r u n g s e i n e r S e l b s t i h r e n Ausgang n ä h m e . D e n n w e n n auch ein f r ü h e s Lebensalter schon «im Besitze» des Ich, wie «im Besitze» s e i n e r seelischen V e r h a l t e wäre, so w ü r d e doch deren D a s e i n s v e r f a s s u n g , wie ebenso deren A b h e b u n g — , nicht n u r v o n der viszeralen Leiblichkeit, sondern auch v o m eigenen, «gesehenen» oder «getasteten» Leib- bzw. K ö r p e r d i n g e — , noch lange i m Z u s t a n d e der a n d e r w ä r t s beschriebenen « t h e o r e t i s c h e n » Nichtgeltung verweilen müssen. W ä r e somit G r u n d v e r h a l t u n d Ausgang j e n e r analogischen H i n n a h m e noch keineswegs das i c h h a f t e Seelenleben des «reifen» Daseinsfeldes, so d ü r f e n wir — u n t e r der a n g e n o m m e n e n Voraussetzung — g l a u b e n , d a ß auch das f r e m d e Seelenwesen hier noch lange nicht in seiner «reifen» Abgehobenheit, sondern vielmehr noch ebenso als etwas D i f f u s e s u n d Unabgehobenes e r f a ß t sei. Die bloße «seelische R e s o n a n z » , v o n der wir i m Vorhergehenden sprachen, w ü r d e in das P r o b l e m der E r f a s s u n g f r e m d e n seelischen Lebens n u r beiläufig hineingehören. Sie w ü r d e nicht zur B e d i n g u n g m a c h e n , d a ß ein A n t l i t z , welches den « A u s d r u c k » jenes «Widerhalles» t r ü g e , aus d e n D i n g e n hervorlugte, sei es n u n w a h r n e h m u n g s m ä ß i g in ihnen gegeben, oder schliche es sich n u r «in der Vorstellung» gleichsam in sie hinein. D e r t r ü b e N o v e m b e r t a g , der heitere F r ü h l i n g s m o r g e n , der u n h e i m l i c h e R i c h t o r t k ö n n e n einen e v i d e n t g e g e b e n e n , d. h . d a s e i e n d e n Gehalt a n «Stimmung» aufweisen, der sich keineswegs a n ein «Gesicht» oder a n «Gebärden» der L a n d s c h a f t b i n d e t ; a b e r andererseits v e r m ö c h t e n Gesicht oder G e b ä r d e n eines Menschen — u n d zwar vorzüglich seine G e b ä r d e n — etwas v o n dieser seelischen «Resonanz» a n sich zu t r a g e n , die m e h r oder m i n d e r v o n allem w a h r n e h m u n g s m ä ß i g e n Gegebenen widers t r a h l t . Aber m a n meine n u n n i c h t , d a ß wir den beseelten «Ausdruck» in Menschenantlitz u n d - g e b ä r d e — u n d g e l e g e n t l i c h auch, u n d s o b a l d sie sich p h y s i o g n o m i s c h a u f n e h m e n lassen, in der Dingwelt, in der L a n d s c h a f t usw. — auf j e n e n C h a r a k t e r seelischer «Resonanz» z u r ü c k f ü h r e n m ö c h t e n . W ä h r e n d die «Resonanz» ihren n u r uneigentlich n o c h «seelisch» zu n e n n e n d e n u n d keineswegs

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ichzentrierten Charakter unmittelbar als ein Selbst gibt, ist die Beseeltheit, die «im Ausdruck 1 zu liegen» scheint, in Wahrheit «hinter» ihm, und zwar auf Grund ihres e v i d e n t e n , d. h. t a t s ä c h l i c h e n N i c h t d a s e i n s im b l o ß e n «Begriffe» i h r e r G e l t u n g gelegen; aber jedesmal ist sie a l s e i n e i c h z e n t r i e r t e in ihm gelegen und ohne Zweifel auch dann, wenn wir gerade hinaus «wissen», daß .es sich nicht um ein w a h r h a f t bestehendes Seelenleben handeln könne. Es ist also etwas ganz anderes, ob beispielsweise eine Landschaft jene wahrhaft gegebene, «resonierende», «widerhallmäßige» seelische Gestimmtheit bezeuge, oder ob etwa vorhandene p h y s i o g n o m i s c h e Momente, wie z. B. ein «Gesicht» in der Landschaft, die bloße, wenn auch spontan erfolgende H i n n a h m e einer ichzentrierten seelischen Verfassung, der eben diese Stimmung «zugehörte», «in» oder «hinter» der Landschaft ermöglichen. Denn in diesem Falle meinen wir nicht, daß sie einen Stimmungsgehalt ausstrahle, sondern daß sie selber in dieser oder jener Weise «gestimmt» sei, d. h., daß die ihr a n h a f t e n d e n Charaktere den Zustand eines «dahinter» liegenden Wesens «ausdrücken», das sich in jener, zwar nicht selber g e g e b e n e n , wohl aber im «Begriffe» ihrer Geltung liegenden Stimmung befindet. D a ß solcher « A u s d r u c k » einer nicht selber gegebenen seelischen Verfassung, der unter keinen Umständen mit der Frage der «Resonanz» vermengt oder gar identifiziert werden dürfte, an und f ü r sich etwas sehr Seltsames und Undurchdringliches sei, haben wir anderwärts zugestanden, aber er ist w e d e r s e l b e r , wenn auch n u r im Sinne bloßer «Resonanz», von s e e l i s c h e r Natur, noch ist er «Teil» oder gar bloße «Ansicht» von etwas Seelischem. Vielleicht würden wir ihn, wenn auch mit einer gewissen Vorsicht, zu den «Gestalten» rechnen 2 , wenn sich nicht unverzüglich und von neuem die Frage erheben würde: was ist es, w o r ü b e r die selber gegebene oder daseiende Ausdrucksgestalt des A n t l i t z e s , in der Betrübnis, im Ingrimm, in der lächelnden Heiterkeit usw., und zwar im Sofern ihres Daseins, zur Geltung gelangt. Was «fundiert» solche Gestalten im ichzentrierten Daseinsfelde, wenn als fundierende Instanz weder das der Gegebenheit überhobene fremde seelische Leben in Betracht zu ziehen wäre, noch jene «Resonanz», die im Grunde etwas ganz 1 Wir haben uns in unseren früheren Darlegungen (Vorstudien, Bd. I I , S. 270 u. 360ff.) in beiden sehr verschiedenen Fällen der einen Bezeichnung «Ausdruck» bedient. Zweckmäßiger ist es, sie einzig und allein fiir den Fall jener nicht vresonierenden», aber dennoch ichzentriert «im Begriffe» gelegenen seelischen Verfassung, sofern sie «hinter» aller Physiognomik in Ansatz gebracht wird, zu verwenden. 2 Dann dürften wir aber nicht schon jeden gestalthaft physiognomischen Charakter als «Ausdrucks»-Gestalt bezeichnen; gibt es doch gewiß Gesichter, die dauernd oder vorübergehend jeglichen «Ausdrucks» bar sind.

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anderes meinte ? — Und dennoch gibt es auch hier, wie uns scheint, und wie wir in anderem Zusammenhange an der «Gestalt» der lächelnden Heiterkeit» nachzuweisen versuchten, einen Weg der Deutung. Wir gingen dort von der Tatsache aus, daß uns die «Gestalt» jener Heiterkeit aus unseren eigenen und durchaus an uns selber zu erprobenden Erfahrungen bekannt sei und zwar derart, daß hier das gewissermaßen fehlende und die Gestalt «unterbauende» 1 Etwas in seiner ganzen Fülle und Selbstgegenwart zur Geltung gelangte : «Indem ich heiter bin und zugleich mit dieser, rein seelisch zu verstehenden Heiterkeit meiner selbst eine Veränderung m e i n e r Gesichtszüge erfahre, gelangt an und f ü r sich schon ein eigentümlicher und i m G e g e b e n e n l i e g e n d e r « G e s t a l t » c h a r a k t e r zur Abhebung, der als das Eine und Undefinierbare, das er ist «über» dem Beisammen der rein seelisch zu verstehenden Heiterkeit, die mich «erfüllt», wie der tatsächlich gegebenen viszeral erfahrenen Veränderung meiner Gesichtszüge seine Geltung bekundet. Allein wie zufolge der unendlich oft erprobten Koinzidenz .zwischen «Gesehenem» und «äußerlich» oder «von innen her» Ertastetem, letzteres allemal in der vorstellungsmäßigen, wenn auch noch so undeutlichen Vergegenwärtigung des G e s e h e n e n sich darstellt, so vermag auch das in freier Vorstellung «gesehene» Bild m e i n e r Züge an der Fundierung jener seltsamen Gestalt einen tätigen, wenn auch nur mittelbaren, Anteil zu nehmen. — Und nun zeigt sich, daß, wo immer am Antlitze des Mitmenschen, oder auch nur an den hingeworfenen Strichen einer Federskizze, eine ähnliche Beschaffenheit echter, oder nur — wie in der Skizze — nachgeahmter Formen offenbar wird, auch w i e m i t e i n e m die zugehörige Ausdrucksgestalt als gegeben herausspringt, freilich hier nicht zugleich auf Grund eines eigentlich Fremdseelischen, das, jene Gestalt «unterbauend», selber z u r t a t s ä c h l i c h e n G e g e b e n h e i t gelangte, sondern — wie sofort am Beispiele der Federskizze ersichtlich werden kann — auf Grund dessen, daß diese fremde Seelenverfassung als eine die Gestalt fundierende, hier ganz so i m b l o ß e n « B e g r i f f e » gelegen ist, wie sie im Falle unserer selbst und in eben derselben fundierenden Funktion als m e i n e seelische Verfassung 1

Die Rede von der « Unterbauung» von Gestalten ist natürlich nicht wörtlich zu verstehen, denn Gestalten sind nicht das Produkt eines Aufbaues der die Gestalt fundierenden und sich als solche etwa zusammenfügenden oder «aufbauenden» Momente. Es soll eben hier nur gesagt sein, daß «üben dem Zusammenhalt der fundierenden Momente und in Unselbständigkeit zu diesem Zusammenhalte etwas Neues und völlig Eigenartiges zum Dasein gelange. Aber die Gestaltinterpretation rechnet auch mit der Möglichkeit, daß umgekehrt die Einzelmomente sich als Unselbständig gegenüber dem Gestaltcharakter erweisen könnten. Ja, selbst von einer genetischen Vorgegebenheit der Gestalt könnte wie wir wissen, die Rede sei.

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t a t s ä c h l i c h «da» w a r . Die Ausdrucks«gestalt» ist mithin a m M i t m e n s c h e n t a t s ä c h l i c h g e g e b e n o d e r d a , u n d sie b l e i b t i n d i e s e r Gegebenheitsweise, die a l s s o l c h e nicht m e h r den Charakter eines «Physischen» oder «Psychischen» innehielte1.»; z u m wenigsten ä h n l i c h d e r j e n i g e n , d i e i c h i m e b e n g e s c h i l d e r t e n S i n n e «an mir» erf a h r e ; a b e r w ä h r e n d sie h i e r ü b e r e i n e r t a t s ä c h l i c h g e g e b e n e n u n d insofern m i r z u g e h ö r e n d e n S e e l e n v e r f a s s u n g zur A b h e b u n g gelangte, bliebe diese Verfassung i m Falle der Zeichnung, wie des f r e m d e n Antlitzes — die hier durchaus in derselben E b e n e liegen — lediglich i m « B e g r i f f e » i h r e s D a s e i n s gelegen. E s wäre mithin eine i m m e r nur i m « B e g r i f f e » l i e g e n d e f r e m d e seelische Verfassung, «über» der — z u g l e i c h m i t d e n g e g e b e n e n Z ü g e n , v o n d e r e n V e r h a l t e n z u e i n e m «hinter» i h n e n l i e g e n d e n t a t s ä c h l i c h S e e l i s c h e n w i r ursprünglich schon a n u n s selber erfahren h a b e n — die gegebene Ausdrucksgestalt dort d r a u ß e n z u m D a s e i n gelangte»2. Indessen handelte es sich an dieser Stelle nicht u m die E r k u n d u n g dessen, w i e wir ü b e r h a u p t zu einer, w e n n auch nur «begrifflichen» E r f a s s u n g des F r e m d s e e l i s c h e n gelangten, sondern lediglich u m die Frage, v o n w e l c h e r A r t der g e s t a l t h a f t e C h a r a k t e r d e s A u s d r u c k s sei u n d w a s 1 Die Ausdrucksgestalt ist, wie alle Gestalten, wie ferner «Schönheit», «Bekanntheit» usw., «seelische» Resonanz und tausend andere selbständige oder unselbständige Gegebenheitsweisen als mehr oder weniger «psychophysisch neutral» zu bezeichnen. — Wir bedauern es übrigens, uns an dieser Stelle nicht mit der feinsinnigen aber sicher imGrunde nicht annehmbaren Auffassung H. Pleßner' s auseinandersetzen zu können, in der er die herkömmlichen Probleme des Ausdrucks und Ausdrucksverstehens als Beispiele «selbstgeschaffener Hindernisse» zu entlarven versucht. (Siehe «Die Stufen des Organischen und der Mensch) S. 2 6 f f . und Buytendijk und Pleßner: «Die Deutung des mimischen Ausdrucks». Philosophischer Anzeiger I, S. 1 0 7 f f , insbesondere S. 120). Das Verstehen des Ausdrucks bleibt nicht, wie Pleßner zu glauben scheint, in der «Sphäre evident» gegebener Ausdrucksgestalten, sondern weist unverzüglich auf das in ihnen sich ausdrückende fremde Seelenleben zurück. Aber obwohl dieses fremde Seelenleben, wie auch PI. zugibt, gewiß nicht in unserem Sinne gegeben oder da ist, ist doch keines der oben vorgewiesenen Probleme gegenstandslos geworden. So bestünde nach wie vor die Frage: wie ist es möglich, von jenem sich ausdrückenden Seelenleben und ohne das Medium vermeintlicher Schlußfolgerung zu «wissen», oder die andere Frage: welcher Art die psychophysisch indifferente «Gestalt» des Ausdrucks sei, und wie sie «dazu komme» ein nicht evident und unmittelbar gegebenes seelisches Leben auszudrücken usw. 2 Vgl. unsere «Vorstudien» Bd. I I , S. 279ff. Natürlich wird solche «begriffliche» Erfassung fremden Seelenlebens in der Mehrzahl der Fälle auf Grund der «theoretischen» Nichtgegebenheit des «im Begriffe» Gelegenen erfolgen. D. h. wir werden unsdes evidenten Nichtdaseinsfremden Seelenlebens, unbeschadet seines «begrifflichen» Erfaßtseins ebenso wenig (im Sinne der Bewußtseinslehre zu reden) «bewußt» sein, wie wir uns gemeinhin der Totalität eines Hauses bewußt sind, dessen bloße Vorderderseite uns gegeben ist und das wir doch irgendwie — und zwar keineswegs auf Grund des evidenten Nichtdaseins seiner verborgenen Seiten, Inhalte usw. — insofern «im Begriffe» erfaßt haben.

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dieser Ausdrucksgestalt zur Fundierung ihrer an sich unrückführbaren Eigenart diene. Wer aber auch hier wieder meinen wollte, daß der Erfassung des fremden Ausdrucks — a l s eines Ausdrucks, bzw. a l s einer Ausdrucksgestalt — die wenn auch «begriffliche» Erfassung und Hinnahme fremder und «unterbauender» Seelenverfassung vorweg sei, dem wäre zu entgegnen, daß hierfür keinerlei Anhalt gegeben sei, daß vielmehr, wie soeben am Beispiel der Federskizze ersichtlich würde, mit der puren Formgestalt des Antlitzes zugleich die wenn auch hier nur « b e g r i f f l i c h e » E r f a s s u n g ihrer seelischen Fundiertheit, gemäß der an uns selber einsichtigen und evidenten Verhältnisse e i n s p r i n g t , — einer Fundiertheit, welche die bloße Formgestalt unverzüglich als eine A u s d r u c k s g e s t a l t im oben bezeichneten Sinne offenbar machte. Nach allem Vorhergehenden möchten wir behaupten, daß das sein Daseinsfeld zentrierende Ich aus sich selber den Weg zum fremden Ich, wie zu dessen seelischer Verfassung, finden könnte, und daß es hierzu weder einer wahrnehmungsähnlichen Selbstgegenwart dieses Seelenlebens bzw. seiner bloßen «Sphäre», noch auch einer geheimnisvollen, im puren «Begriffe» sich vollziehenden Offenbarung des einen oder anderen bedarf. Aber freilich eins wäre natürlich Voraussetzung, nämlich, daß — wie wir uns an anderer Stelle ausdrückten — «überhaupt die Idealität eines «Begriffes von etwas» Geltung habe, und sodann, daß die pure, noch v ö l l i g l e e r e Möglichkeit bestehe, neben jenem seelischen Ichwesen, welches ich selbst bin, noch andere — mit ihm übereinstimmende wie in irgend einer Hinsicht unterschiedene — seelische Ichwesen grundsätzlich im bloßen «Begriffe» ihres Daseins erfassen zu können 1 ». Eine andere wohl zu unterscheidende Frage wäre jedoch die, ob es zutreffe, daß, wenn wir auf das fremde Ich allererst sekundär und vom Ich her, das ich selbst bin und seinem Daseinsfelde her, gelangen, wir von diesem a l s e i n e m I c h her gelangen, d. h. ob das Innewerden dieses Ich, a l s e i n e s Ich aus sich selber möglich sei und nicht erst durch die «Erfassung» und Hinnahme des fremden Ich v e r m i t t e l t werde. Hier wäre vielleicht der einzig zu rechtfertigende Sinn ersichtlich, welcher der «Vorgegebenheit» des fremden Ich oder seiner puren «Sphäre» eignen könnte; die Verwechselung beider Standpunkte aber würde zur Quelle unaufhörlicher Verwirrungen werden können. Und nun glauben wir nach allem Vorhergehenden versichern zu dürfen, daß wenn das Ich aus der Verfassung seines «theoretischen» Nichtdaseins oder andererseits aus der bloßen «theoretischen» 1

Siehe «Vorstudien» Bd. II, S. 275.

6. Die Erfassung des fremden Seelenlebens

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Nichtgeltung seiner Daseinsbestimmtheit gleichsam heraustrete, dies nicht e r s t a u f Grund einer wenn auch nur « b e g r i f f l i c h e n » E r f a ß t h e i t fremder Ichwesen, bzw. deren «Sphäre», geschweige denn ihrer, wenn auch nur sphärenhaften, H i n n a h m e , geschehe. Oder im Sinne der Bewußtseinslehre zu reden: Wir glauben, daß wir des Ich, welches wir selbst sind, wie auch der Daseinsverfassung dieses Ich und damit seiner Abhebung gegenüber allem Ichzugehörigen oder Ichfremden ohne eine bedingende Erfassung des fremden Ich und auf Grund der mannigfaltigen Konfigurationen in die es sich indem einen Daseinfelde versetzt findet «bewußt» werden können, glauben also, daß in diesem Sinne von einer im «Begriffe» vermittelten V o r « g e g e b e n h c i t » fremder Ichwesen oder nur deren «Sphäre» unter keinen Umständen die Rede sein müßte. Ist doch nie und nirgends dargetan, daß die pure « b e g r i f f l i c h e E r f a s s u n g » u n d H i n n a h m e von B e s t ä n d e n , w e l c h e d a s i c h z e n t r i e r t e D a s e i n s f e l d n i c h t , oder z u m w e n i g s t e n v o r l ä u f i g n i c h t an den T a g l e g t e , a u c h n u r « s p h ä r e n » m ä ß i g d e m Auf w e i s d e r B e s t ä n d e , b z w . i h r e r E n t s p r e c h u n g e n i n e b e n d i e s e m D a s e i n s f e l d e , v o r w e g sei. Nur das eine würden wir bereit sein zuzugestehen, daß nämlich die dem Ich zugemessenen Bestimmungen, durch welches es in den Modus «Ich» gegenüber dem «Du» tritt die «begriffliche» Erfassung fremder Ichwesen vorausnehmen, aber dieser Modus ist nicht etwas dem Ich und seinem Sosein bedingungslos zugehörendes1. Es war die Rede davon, daß wenn wir durch Analogien oder sonstwie zur Geltung fremder Ichwesen vordringen sollen, zweierlei Voraussetzung sei: nämlich überhaupt die Geltung des bloßen «Begriffes von etwas», und weiter, daß die noch v ö l l i g l e e r e Mögl i c h k e i t bestehe neben dem seelischen Wesen, welches ich selbst bin, noch andere mit ihm übereinstimmende oder von ihm verschiedene im bloßen «Begriffe» ihres Daseins erfassen zu k ö n n e n . Man dürfte fragen: ist mit dieser letzteren Wendung nicht stillschweigend das eingestanden, was wir gerade widerlegen möchten, das heißt: ist mit der bloßen M ö g l i c h k e i t fremde Ichwesen «im Begriffe» zu erfassen, nicht schon zugestanden, daß wir sie — wenn auch eben als Leersphäre und noch unbesetzt von geltenden oder als geltend hinzunehmenden Ichcharakteren — « e r f a ß t e n » und weiter dieser Erfassung zufolge h i n n a h m e n ? — Allein, was wir 1 Auch die Einzigkeit des Ich würde zum wenigsten niemals die auf«begrifflicher Erfassung» ruhende Hinnahme von fremden Ichwesen, wohl aber natürlich deren bloße «begriffliche» Erfassung selber vorwegnehmen. D. h.: Wie jedes «Einzige» die (wenn auch völlig «leere,)) «begriffliche•> Erfassung seinee Vielfachen vorwegnähme, so würde dies auch vom Ich gelten.

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I . Das lebende u n d erlebende Ich

hier besagen wollen, ist nichts anderes, als die pure, formale und leere Möglichkeit, gemäß deren der «Begriff von etwas» ebenso wie er von allem irgendwie Auszudenkendem, Sinnvollem oder Sinnlosem, j a selbst Sinnwidrigem, zu gelten vermöchte, er auch darauf gerichtet sein könnte, daß ein — vielleicht Doch unvollkommen abgehobenes — Ich-Selbst andere wie auch immer übereinstimmende oder fremdgeartete Ich-Selbst neben sich duldete, gleichviel, ob wir uns die mindeste «Vorstellung» von solcher Vielfältigkeit zu machen vermöchten. Diese Möglichkeit der «begrifflichen Erfassung» a l s e i n e f o r m a l e u n d in d e r N a t u r des « B e g r i f f e s v o n e t w a s » l i e g e n d e Möglichkeit, würde also in i h r e r G e l t u n g keineswegs vorausnehmen, daß zum wenigsten eine L e e r s p h ä r e fremder Ichwesen bereits vorgängig erfaßt und z u f o l g e d i e s e r E r f a s s u n g als g e l t e n d h i n g e n o m m e n oder g e s e t z t sei, bzw. g e s e t z t s e i n m ü s s e und erst hierdurch die vorstehende Erwägung ermögliche 1 . Aber es liegt noch eine andere Schwierigkeit vor. Vermag, so könnte man fragen, das Ich, welches ich selbst bin, ohne die v o r g ä n g i g e Erfassung fremder Ichwesen, soviel von sich zur Abhebung zu bringen, daß es überhaupt einen Angriffspunkt für jede in beliebiger Richtung verfahrende «begriffliche Erfassung» und sei es auch nur der seiner möglichen Vielheit, oder der möglichen Mannigfaltigkeiten seines Lebens «in» etwas bieten würde? Gesetzt, man dächte sich alle Gegenstände der Dingwelt gleichförmig und schattenlos in e i n e r Farbe gegeben und ohne jedwede Hinsicht ihrer Intensität oder Helligkeit, würden wir auch nur einen puren A n s a t z finden für die wenn auch nur «im Begriffe» erfolgende Erfassung anderer Farben bzw. einer anderen Intensität und Helligkeit; oder anders ausgedrückt: würde eine solche Erfassung, die grundsätzlich natürlich auch in diesem Falle unverwehrt bliebe, nicht völlig l e e r genannt werden müssen? — Aber der Vergleich würde schwerlich passen; denn eine A b h e b u n g a l s s o l c h e würde das Ich schon auf Grund der Tatsache zulassen, daß es sich in einer Mannigfaltigkeit von Zuständen sowohl, wie von Stellungnahmen und inaugurierten Handlungen als dasselbe e i n e und fernerhin überdauernde erwiese. Es wäre mithin nicht die Erfassung des fremden Ich, die vorgängig und überhaupt die A b h e b u n g des Ich, welches ich selbst bin, sowie aller an ihm auftretender Verhalte, allererst ermöglichte. — Würde indessen nicht, so ließe sich weiter argumentieren, die soeben betrachtete p u r e M ö g l i c h k e i t «begriff1 In dieser Weise sind unsere früheren Ausführungen « Vorstudien» Bd. II, S. 275 zu verstehen. Auch von einer Identität kann hier natürlich keine Rede sein; d. h. die formale Möglichkeit begrifflicher Erfassung fremden Ichwesens wäre nicht identisch mit deren vorgängiger Hinnahme oder auch nur der Hinnahme einer puren Leersphäre.

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licher» Erfassung anderer Ichwesen uns lediglich d a h i n gelangen lassen, neben dem einen, «in» seinen Regungen «lebenden» Ichwesen, — dessen «Einmaligkeit», vielleicht noch in keiner Richtung einleuchtete —, ein zweites zu «denken», das nur die Züge des ersteren, getreulich wiederholte nicht aber ein davon verschiedenes und anders zu verstehendes ? In der Tat würde vom Ich selber, diesem seltsam qualitativ tingierten W e r seiner Zugehörigkeiten und seiner Urheberschaft, das in dieser seiner letzten Verfassung unbeirrbar beharrte, gelten, daß jedes mögliche Anderssein in diesem Betracht — sei es des Ich, welches ich selber bin, sei es fernerer Ichwesen — in einem völlig «leeren» Begriff seiner Geltung gelegen bliebe. Scheinen doch in dieser äußersten Hinsicht und in Rücksicht auf das e i n e d a s e i e n d e Ich, (welches ich selbst bin), keinerlei Abweichungen offenbar zu werden, auf welche sich eine Bd. I, S. 4 1 7 f f . und Bd. II, S. lff. Über das Wesen der Geltung und der Geltungsbestimmtheit handelten wir eingehend in unseren «Vorstudien» Bd. II, S. 182ff. sowie in Jemanden, in der Weise des nBewußP>-seins auf, sondern würde von letzterem zum wenigsten noch—