Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten: Mit Fallstudien zu Kafka, Perutz und Werfel 9783050057163, 9783050051963

Emotionen sind mittlerweile zu einem wichtigen Thema der Literaturwissenschaft avanciert. Allerdings ist bisher nicht ge

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Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten: Mit Fallstudien zu Kafka, Perutz und Werfel
 9783050057163, 9783050051963

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Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten

Deutsche Literatur. Studien und Quellen Band 6 Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Claudia Hillebrandt

Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten Mit Fallstudien zu Kafka, Perutz und Werfel

Akademie Verlag

Gefördert von der Studienstiftung des deutschen Volkes e. V. Gedruckt mit freundlicher Hilfe der Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2011 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: hauser lacour unter Verwendung eines Fotos: Johann Wolfgang Goethe an Johann Gottfried Herder, wahrscheinlich zwischen Mitte Januar und Mitte Februar 1786 Druck & Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706 ISBN 978-3-05-005196-3

Inhalt

VORWORT ......................................................................................................................... 9 1. LITERATURWISSENSCHAFTLICHE EMOTIONSFORSCHUNG: EINE EINLEITUNG ....................................................................................................... 11 1.1 Zur Relevanz eines textzentrierten Analyseverfahrens ............................................ 15 1.2 Aufbau der Arbeit .................................................................................................... 23 2. ZUM EMOTIONALEN WIRKUNGSPOTENZIAL VON ERZÄHLTEXTEN ............................ 27 2.1 Emotionen in Texten: Ein kultursemiotisches Modell ............................................. 28 2.1.1 Zu einem integrativen Emotionsbegriff .......................................................... 29 2.1.2 Emotionen und Sprache .................................................................................. 34 2.2 Zum Verhältnis von Textstruktur und Wirkungspotenzial....................................... 41 2.2.1 Probleme der Wirkungsästhetik...................................................................... 42 2.2.2 Zum Begriff des ,Wirkungspotenzials‘........................................................... 47 2.3 Entwurf eines narratologisch-kognitionspsychologisch fundierten Analysemodells ....................................................................................................... 51 2.3.1 Zum inferenzbasierten Modell des Leseprozesses.......................................... 53 2.3.2 Zum Begriff des ,Modell-Lesers‘ und zum simulierten Rezeptionsprozess ... 58 2.3.3 Zusammenfassung .......................................................................................... 60 2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen .......................................................... 62 2.4.1 Figurenbezogene Emotionen .......................................................................... 63 2.4.1.1 Figurenkonstitution und emotionsbezogenes Wissen................................... 64 2.4.1.2 ,Empathie‘: Problemaufriss und Begriffsexplikation................................... 72 2.4.1.2.1 Empathieermöglichende Textstrukturen ...................................... 76 2.4.1.2.2 Erzähltechnik und Empathie ....................................................... 84 2.4.1.3 ,Sympathie‘ als Gefühlsdisposition und wertende Einstellung .................... 88 2.4.1.3.1 Sympathiegenerierende Textstrukturen........................................ 92 2.4.1.4 Zusammenfassung......................................................................... 102 2.4.2 Durch die Erzählkonstruktion ausgelöste Emotionen................................... 103 2.4.2.1 Spannungserzeugung im Erzähltext........................................................... 104 2.4.2.1.1 Interesse und Spannung ............................................................. 106

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Inhalt

2.4.2.1.2 Spannungsarten: Suspense und Rätselspannung ....................... 115 2.4.2.2 Überraschung und Desorientierung .......................................................... 123 2.4.2.3 Zusammenfassung...................................................................................... 127 2.5 Zum Problem der „Artefakt-Emotionen“ ............................................................... 128 2.6 Zusammenfassung.................................................................................................. 136 3. LITERATURGESCHICHTLICHE ANWENDUNGSPERSPEKTIVEN: DREI FALLSTUDIEN ZU ROMANEN AUS DEM UMFELD DER PRAGER DEUTSCHSPRACHIGEN LITERATUR ............................................................................ 139 3.1 Prager deutschsprachige Literatur und Moderne.................................................... 141 3.1.1 Was ist Prager deutschsprachige Literatur? .................................................. 149 3.2 Modellanalyse zu Franz Kafkas Das Schloß .......................................................... 152 3.2.1 Figurenbezogene Emotionslenkungsstrategien in Das Schloß ..................... 155 3.2.1.1 Erzähltechnik und Charakterisierungsverfahren: K. als dominante Wahrnehmungs- und Bewertungsinstanz ................................................... 157 3.2.1.2 Bewundernde Einstellung: Amalia als sympathische Figur ...................... 173 3.2.2 Durch die Erzählkonstruktion hervorgerufene Emotionen ........................... 183 3.2.3 Interpretation als emotionale Reaktion: Rezensionen aus den 1920er Jahren............................................................................................................ 192 3.3 „Ein Buch für schlaflose Nächte“: Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages ......... 210 3.3.1 Zum emotionalen Wirkungspotenzial unzuverlässiger Erzählverfahren am Beispiel des Meisters des jüngsten Tages............................................... 218 3.3.2 Turlupin: Ein kontrastiver Vergleich ............................................................ 230 3.3.3 Doppelte Kodierung: Perutz als Erfolgsschriftsteller ................................... 236 3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper .......... 245 3.4.1 Emotionale Intensität: Pathetisches und emphatisches Sprechen in Werfels Verdi................................................................................................ 252 3.4.1.1 Verdi. Roman der Oper als opernhafter Roman? ...................................... 258 3.4.1.2 Librettoanaloge Strukturen: Verdi als Metakommentar zur Gattung Oper ........................................................................................................... 265 3.4.2 Werfels erster Romanerfolg und seine Kritiker ............................................ 287 4. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK ....................................................................... 299 4.1 Leistungsfähigkeit des vorgeschlagenen Modells .................................................. 300 4.2 Forschungsdesiderata ............................................................................................. 304 5. VERZEICHNISSE 5.1 Siglenverzeichnis ................................................................................................... 309 5.2 Literaturverzeichnis................................................................................................ 309 5.2.1 Primärtexte.................................................................................................... 309 5.2.2 Sekundärliteratur zum systematischen Teil .................................................. 310

Inhalt

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5.2.3 Sekundärliteratur zum historischen Teil ....................................................... 318 5.2.4 Rezeptionszeugnisse ..................................................................................... 325 5.2.5 Bibliographien .............................................................................................. 327 6. INDEX........................................................................................................................ 329 6.1 Sachregister ............................................................................................................ 329 6.2 Namensregister....................................................................................................... 330

Vorwort

Auch wenn ich diese Arbeit allein verfasst habe, so waren doch viele Personen am Entstehen und Gelingen beteiligt (für alle Fehler und Ungenauigkeiten hingegen trage natürlich ich selbst die Verantwortung): An erster Stelle bedanke ich mich bei meinen „Doktoreltern“ Simone Winko und Heinrich Detering, die mir durch Ihre wohlwollende und konstruktiv-kritische Begleitung immer wieder wesentliche fachliche Impulse und den nötigen „familiären“ Rückhalt gegeben haben und mir auch ganz allgemein in vielerlei Hinsicht zum Vorbild wurden. Claudia Stockinger und Ulrich Marzolph danke ich für viele herausfordernde Fragen und wertvolle Anregungen während des Prüfungsgesprächs; Claudia Stockinger herzlich auch dafür, dass die Arbeit in diese Reihe aufgenommen werden konnte. Weiterhin danken möchte ich den Teilnehmern der beiden Forschungskolloquien von Claudia Stockinger/ Simone Winko und Heinrich Detering für viele Denkanstöße und eine stets sachliche und faire Diskussionskultur. Das Gleiche gilt für vielfältige Gespräche mit den Stipendiaten des Promotionskollegs „Wertung und Kanon“ und den Mitgliedern des Netzwerks „Grundbegriffe der Erzähltheorie“. Außerdem gilt mein Dank den Mitgliedern des Oxford Kafka Research Centre für viele bereichernde und anregende Diskussionen. Vor allem sind hier zu nennen Manfred Engel, Rachel Harland, Katrin Kohl, Claudia Nitschke, Ritchie Robertson und Emily Troscianko. Caroline Coble, Carolin Duttlinger, Katrin Kohl, Meena Rowland, Regina Sachers und Helen Watanabe-O’Kelly danke ich für die Gastfreundschaft am OKRC und am Exeter College. Dieter Lamping möchte ich herzlich dafür Dank sagen, dass er mir in der akuten Überarbeitungs-, Abgabe- und Prüfungsphase den nötigen Freiraum gelassen hat, um alle Schritte des Verfahrens zügig und doch in Ruhe abschließen zu können. Meinen Korrekturlesern sei ebenso herzlich gedankt für die mühevolle Kleinarbeit: Matthias Borngrebe, Andrea Glang, Marion und Fritz Hillebrandt, Tilmann Köppe, Katrin Kroh, Stefanie Preuß, Hanna Stegbauer und Nadine van Holt, außerdem Dr. Katja Leuchtenberger und Dr. Veit Friemert vom Akademie-Verlag.

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Vorwort

Die Studienstiftung des deutschen Volkes e.V. hat mich während der Promotionszeit finanziell und ideell gefördert und mir damit ermöglicht, mich sorgenfrei auf meine Arbeit konzentrieren zu können. Namentlich erwähnen möchte ich hier Dr. Peter Antes, Dr. Gabriele Kersting, Prof. Dr. Frank Kirchhoff und Gabriele Matheja. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften danke ich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses zu dieser Arbeit. Der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG) bin ich ebenso für das vielfältige und bereichernde Förderangebot zu Dank verpflichtet. Für den nötigen privaten Rückhalt möchte ich zum Abschluss von ganzem Herzen meiner Familie und meinen Freunden Dank sagen, ohne die es gar nicht gegangen wäre. Gewidmet ist dieses Buch meinem Bruder Jan, der mir in allem vorausgegangen ist.

1. Literaturwissenschaftliche Emotionsforschung: Eine Einleitung

Teddy looked at him directly for the first time. „Are you a poet?“ he asked. „A poet?“ Nicholson said. „Lord, no. Alas, no. Why do you ask?“ „I don’t know. Poets are always taking the weather so personally. They’re always sticking their emotions in things that have no emotions.“ Nicholson, smiling, reached into his jacket pocket and took out cigarettes and matches. „I rather thought that was their stock in trade,“ he said. „Aren’t emotions what poets are primarily concerned with?“1 Sofern sie die zunehmende Marginalisierung nicht als ihr unabänderliches Schicksal begreifen will, sollte die Literaturwissenschaft sich gegenüber diesen Phänomenen [d.i. der emotionalen Wirkung literarischer Texte, C.H.] nicht nur öffnen. Angesichts eines Kulturbegriffs, der sich immer weniger auf allgemein verbindliche Wissensstrukturen stützen kann, und zunehmend dadurch bestimmt wird, dass Kunst und Literatur uns auch emotional ansprechen, uns nicht nur kognitiv etwas ,zu sagen‘ haben, müsste es im ureigenen Interesse der Disziplin liegen, eine wissenschaftliche Debatte um Darstellungsformen von literarisch gestalteter und vermittelter Emotion und deren Erforschung ins Zentrum des Faches zu holen.2

Nicht nur die literarische Gestaltung von Emotionen, sondern auch deren Hervorbringung im Leser ist eine der zentralen Funktionen, die literarische Texte im Rezeptionsprozess erfüllen und die ihnen traditionell in vielen poetologischen Programmen und Ästhetiken zugesprochen wird. Mittlerweile sind Emotionen dabei nicht mehr nur ein Lieblingsthema von Literaturproduzenten, sondern auch die deren Produkte erforschende Literaturwissenschaft beschäftigt sich neuerdings verstärkt mit ihnen – insbesondere mit der Darstellung von Emotionen in literarischen Texten sowie mit den emotionalen Wirkungen von Literatur.3 Dass literarische Texte ihre Leser auch und in 1 2 3

Jerome D. Salinger, Teddy, in Nine Stories, 282. Martin Huber, „,Noch einmal mit Gefühl‘. Literaturwissenschaft und Emotion“, 344. Dies lässt sich sowohl an der mittlerweile kaum mehr überblickbaren Vielzahl der neu erschienenen Publikationen zum Themenbereich „Literatur und Emotionen“ ablesen wie auch an der institutionellen Verankerung entsprechender Forschungsprogramme (wie etwa des interdisziplinär ausgerichteten „Swiss Centre for Affective Sciences“ der Universität Genf, des ebenfalls interdisziplinär arbeitenden Exzellenzclusters „Languages of Emotion“ oder dem von Ingrid Kasten geleiteten Teilprojekt im Sonderforschungsbereich 447 „Emotionalität in der Literatur des Mittelalters“, die beide an der Freien Universität Berlin angesiedelt sind), dem Angebot einschlägiger Tagungen und Workshops (z.B „Focus aesthetic emotions: Character and emotions“ am 25. April 2008 am Swiss Centre for Affective Sciences in Genf, „Emotionale Grenzgänge. Konzeptualisierungen von Liebe,

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1. Literaturwissenschaftliche Emotionsforschung: Eine Einleitung

besonderer Weise emotional ansprechen, ist unbestritten. Dieser Umstand trägt sicherlich nicht wenig dazu bei, dass nicht nur professionell mit Literatur befasste Personen einen mehr oder weniger großen Teil ihrer Freizeit mit der Lektüre von Romanen, Gedichten, Dramentexten etc. verbringen. Wie die folgende Zitatcollage veranschaulicht, ist in der Regel mit komplexen kognitiven und emotionalen Wirkungen im Rezeptionsprozess zu rechnen, die ganz wesentlich den Reiz der Lektüre gerade fiktionaler literarischer Werke ausmachen: Daß das Wahre nicht in diese Welt [in Franz Kafkas Das Schloß, C.H.] eintritt, taucht sie in eine An gs t , die dem Märchenglück entgegengesetzt ist. Die Hexe frißt im Roman wirklich Hänsel und Gretel; jene Angst, an die keine andere Angst reicht: daß die Wahrheit verschüttet sei, umhüllt die Erscheinungen und Gespräche. Allein der Träumende kennt sie vielleicht, der im Traum zerfallene Mensch, der den nicht nur durch das Spiel der Triebe verrückten Daseinselementen preisgegeben ist. Der Mensch, der in das Antlitz der Meduse blickt, wird nach mythologischer Vorstellung versteinert; der Jude Kafka trägt das Entsetzen in die Welt, weil sich ihr das Antlitz der Wahrheit entzieht. Böte es sich: sie müßte irrsinnig werden vor Glück.4 Die Geschehnisse [in Leo Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages, C.H.] sind ineinandergekapselt und grausam aufgeschlitzt. Es ist ein „Roman“, den man offenen Mundes durchrast und den man mit einem Donnerwetter der Erschütterung aus der Hand legt. Ein Buch voller Mysterien und Qualen und Phantasmagorien. Voll Erleuchtung und männlicher Kraft.5 Lieber Bertram, ich bin selten so an ein Buch gefesselt gewesen, wie in den letzten Tagen. Unbedingt muß ich Ihnen das Objekt empfehlen: Es ist „Verdi, Roman der Oper“ von Werfel. Bitte, lesen Sie es! Denken Sie, das Milieu: Venedig. Die Hauptpersonen: Verdi und Wagner. Der geistige Gegenstand: Süden und Norden. Unbestochen durch die Stellungnahme des Autors, der natürlich dem Süden huldigt, muß ich sagen: es ist der beste Roman seit vielen Jahren. Etwas konventionell in der Verknüpfung der Schicksale, zuweilen etwas melodramatisch, aber ungeheuer interessant. Sie werden öfters den Dampfer nach Hammerfest bestellen, ich that es auch. Aber ich bin sicher, daß auch Sie das Buch halten wird. Verschaffen Sie es sich gleich!6

In den vergangenen fünfzehn Jahren sind Emotionen als Forschungsgegenstand stärker in den Fokus verschiedener Wissenschaftsdisziplinen gerückt – neben Kognitions- be-

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Trauer und Angst in Sprache und Literatur“ vom 8. bis 10. Oktober 2009 an der Ludwig-Maximilians-Universität München oder „Sentimentalität und Grausamkeit. Poetische (De-)Figurationen von Emotion und Emotionslosigkeit in der literarischen Moderne Skandinaviens und Deutschlands“ vom 26. bis 28. Oktober 2009 an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster) sowie der Erstellung von Themenheften in wichtigen Fachorganen (vgl. u.a. die Themenhefte „Emotionen“ auf literaturkritik.de 12 (2006), „Literatur und Emotion“ der Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 54,3 (2007) oder „Emotions“ des Journal of Literary Theory 1,2 (2007). Viel beachtet wurden auch die Beiträge aus dem Sonderheft „Emotions and Cultural Products“ der Zeitschrift Poetics 23,1/2 (1995).) Siegfried Kracauer, „,Das Schloß‘: Zu Franz Kafkas Nachlaßroman“, zitiert nach Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924–1938, 142 (Sperrung im Original). Hans Reimann, „Tisch mit Büchern. Frey und Perutz“, in Das Tage-Buch 4 (1923), 1125. Thomas Mann, „München 23.VI.[19]24“, in Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910–1955, 127f.

1. Literaturwissenschaftliche Emotionsforschung: Eine Einleitung

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ziehungsweise Emotionspsychologie, Philosophie, Soziologie, Geschichtswissenschaft oder Linguistik auch in den der Literaturwissenschaft.7 Im Blickfeld der literaturwissenschaftlichen Forschung stehen Emotionen dabei zumeist entweder als Rezeptions- oder als Textphänomene. So liegt mittlerweile etwa eine Fülle von Untersuchungen aus dem empirischen Paradigma der Literaturwissenschaft und aus der Lesepsychologie vor, die verstärkt die emotionalen Wirkungen im Leseprozess erforschen.8 Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive werden Emotionen vermehrt seit den 1990er Jahren vor allem im Rahmen diskursanalytisch orientierter Studien9 eingehender betrachtet.10 Rüdiger Schnell etwa unterscheidet in seinem Forschungsüberblick über die sehr fruchtbare literaturwissenschaftliche Emotionsforschung im Bereich der Mediävistik insgesamt zehn verschiedene Perspektiven, unter denen literarische Emotionsdarstellungen in der literaturwissenschaftlichen mediävistischen Praxis analysiert werden; er nennt mediale und performative, geistes- und wortgeschichtliche, semiotische, narratologische, mentalitätsgeschichtliche beziehungsweise psychohistorische, gattungsgeschichtliche, anthropologische und psychoanalytische Zugriffe auf Emotionen in Texten.11 Auch wenn Emotionen als Forschungsgegenstand in den letzten Jahren in vielen Wissenschaftsdisziplinen also auf ein gestiegenes Interesse stoßen, sind bisher jedoch nur wenige literaturwissenschaftliche Arbeiten erschienen, die sich eingehender mit den genuin sprachlichen und spezifisch literarischen Möglichkeiten der Darstellung und Evokation von Emotionen befassen. Zumeist wird Emotionen Aufmerksamkeit im Hinblick auf Produktions- und Rezeptionsprozesse geschenkt12 oder die in literarischen 7

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In literaturwissenschaftlichen Forschungsbeiträgen zum Thema herrscht deswegen mittlerweile auch weitgehend Einigkeit darüber, dass Arbeiten, die sich mit Emotionsdarstellungen in oder emotionalen Wirkungen von literarischen Texten beschäftigen, interdisziplinär angelegt sein sollten. Strittig ist allerdings, wie und in welchem Umfang Erkenntnisse aus den anderen beteiligten Wissenschaften in die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung integriert werden können beziehungsweise sollen. Vgl. dazu z.B. die Beiträge im Sammelband Literatur und Kognition. Unter dem Stichwort „Identifikation“ beziehungsweise „Empathie“ beispielsweise beschäftigt sich die empirische Literaturwissenschaft vor allen Dingen mit der emotionalen Wirkung von Literatur anhand konkreter Rezeptionsvorgänge. Vgl. dazu die Forschungsüberblicke von David S. Miall für die empirische Literaturwissenschaft sowie von Nadine van Holt und Norbert Groeben für die Lesepsychologie: David S. Miall, „Feeling from the Perspective of the Empirical Study of Literature“; Nadine van Holt und Norbert Groeben, „Emotionales Erleben beim Lesen und die Rolle text- sowie leserseitiger Faktoren“. Vgl. paradigmatisch den von Jean-Daniel Krebs herausgegebenen Sammelband Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Dies zum Teil mit der kulturwissenschaftlichen Zielsetzung der Rekonstruktion einer „Geschichte der Gefühle“. Vgl. Ingrid Kasten, „Einleitung“, in Codierungen von Emotionen im Mittelalter/ Emotions and Sensibilities in the Middle Ages, XV. Rüdiger Schnell, „Erzähler – Protagonist – Rezipient im Mittelalter, oder: Was ist der Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung?“, 2–5. Henrike Alfes’ Studie Literatur und Gefühl. Emotionale Aspekte literarischen Schreibens und Lesens beispielsweise betrachtet aus der Sicht des Radikalen Konstruktivismus Emotionen in literarischen Texten vor allem produktions- und rezeptionsbezogen. Evelyne Keitels Monographie Von

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1. Literaturwissenschaftliche Emotionsforschung: Eine Einleitung

Texten rekonstruierbaren Emotionskonzepte werden kulturhistorisch diachron miteinander in Beziehung gesetzt.13 Dagegen fehlt es an Arbeiten, die am Einzeltext orientiert die spezifisch literarischen Möglichkeiten der Thematisierung und Präsentation von Emotionalität sowie das jeweilige daraus resultierende emotionale Wirkungspotenzial untersuchen. Martin Huber hatte dieses Desiderat bereits 2003 beim 26. Germanistischen Symposion der DFG benannt: „Komplementär zu einem kulturwissenschaftlichen Interesse an Gefühlen ist diese textuelle Basis, die Erforschung der verschiedenen Strategien der textuellen Gestaltung von Emotionen und deren Vermittlung auf den Leser, die Kernaufgabe einer literaturwissenschaftlichen Emotionsfor14 schung.“ Wünschenswert wäre folglich eine Zusammenführung text- und rezeptionsbezogener Ansätze innerhalb der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung, denn auch aus textanalytischer Sicht erscheint es lohnend, sich mit den sprachlichen und hier in erster Linie literarischen Techniken der Emotionsdarstellung und deren potenzieller Wirkung auseinanderzusetzen. Vor allem Erzähltexte entfalten bekanntlich oft sehr starke emotionale Wirkungen, indem sie ein dichtes Netz an Informationen über ihre Figuren bereitstellen und auch durch rein strukturelle Mittel emotionale Gehalte vermitteln.15 Wie dieser Zusammenhang zwischen Textstruktur und dem weiten Spektrum möglicher emotionaler Wirkungen im Rezeptionsprozess systematisch genauer beschrieben wer-

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den Gefühlen beim Lesen. Zur Lektüre amerikanischer Gegenwartsliteratur ist an den Theorien Lacans orientiert. Als Textoberflächenphänomene, die auf das nicht benennbare Lacan’sche Begehren verweisen, nennt sie lediglich Metapher und Metonymie. Vgl. dazu beispielsweise einige mediävistische Arbeiten zur literarhistorischen Emotionalitätsforschung, so etwa den von C. Stephen Jaeger und Ingrid Kasten herausgegebenen Sammelband Codierungen von Emotionen im Mittelalter (kritisch dazu Armin Schulz, „Die Verlockungen der Referenz. Bemerkungen zur aktuellen Emotionalitätsdebatte“) oder die Monographien von Jutta Eming, Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12. bis 16. Jahrhunderts, Elke Koch, Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters oder Miriam Riekenberg, Literale Gefühle. Studien zur Emotionalität in erzählender Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts. Überblicksdarstellungen bieten Rüdiger Schnell, „Erzähler – Protagonist – Rezipient im Mittelalter“ und Jutta Eming, „Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft“. Innerhalb der Mediävistik wird mittlerweile eine fruchtbare Debatte über den Status von Emotionsdarstellungen in mittelalterlichen Texten, die Reichweite interpretatorischer Annahmen über die Wirkung dieser Darstellungen und deren Indiziencharakter für zeitgenössische Emotionskonzepte geführt (vgl. dazu neben den oben bereits genannten Beiträgen auch z.B. Katharina Philipowski, „Wer hat Herzeloydes Drachentraum geträumt? Trûren, zorn, haz, scham und nît zwischen Emotionspsychologie und Narratologie“). Für die neuere deutsche Literaturwissenschaft wäre, mit dem Schwerpunkt auf gattungstheoretischen Überlegungen, neuerdings etwa die Arbeit von Burkhard Meyer-Sickendieck, Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen zu nennen. Martin Huber, „,Noch einmal mit Gefühl‘“, 346 (Hervorhebung im Original). Den Beitrag zu ermitteln, den formale Mittel der Textgestaltung für die emotionale Wirkung von literarischen Texten leisten, ist u.a. der Anspruch beispielsweise der Cognitive Poetics. Vgl. dazu Reuven Tsur, „Aspects of Cognitive Poetics“.

1.1 Zur Relevanz eines textzentrierten Analyseverfahrens

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den kann, ist bis jetzt jedoch nicht umfassend erarbeitet worden.16 Ziel der vorliegenden Arbeit soll daher sein, in systematischer Hinsicht ein Modell zur Analyse der auf Emotionen bezogenen rezeptionslenkenden Strukturen in Erzähltexten zu entwickeln und dieses Modell in einem zweiten, historischen Teil an einem ausgewählten Textkorpus auf seine Leistungsfähigkeit hin zu überprüfen. Dass die Erarbeitung eines solchen Modells überhaupt möglich und in Bezug auf literaturwissenschaftliche Fragestellungen außerdem geboten ist, liegt keineswegs auf der Hand und bedarf daher der Begründung.

1.1 Zur Relevanz eines textzentrierten Analyseverfahrens In literaturwissenschaftlichen Interpretationen werden häufig Annahmen über das emotionale Wirkungspotenzial bestimmter Textstrukturen gemacht, meist ohne dass eingehender erläutert würde, aufgrund welcher Schlussfolgerungen sich solche Annahmen rechtfertigen lassen. Um dies zu verdeutlichen, greife ich willkürlich einige Beispiele aus der Forschungsliteratur heraus: Die Recherche [du temps perdu, C.H.] ist pluraler Natur, vergleichbar einem polytonalen (polymodalen) System, wie es für einige Zeit, und zwar ebenfalls im Jahre 1913, Le sacre du printemps begründet hat. Natürlich darf man diesen Vergleich nicht wörtlich nehmen; doch immerhin verdeutlicht er uns sehr schön diesen typischen und sehr verwirrenden Zug der Proustschen Erzählung, den wir ihre Polymodalität nennen möchten.17 Nunmehr stehen zwei Diskurse nebeneinander: der Diskurs des Erzählers und die vom Rezipienten konstruierten, vermeintlich wahren Geschehnisse. Solchermaßen angewandt, ermöglicht die unzuverlässige Erzählweise einen Grad von Identifikation und Verständnis für die Ursache der Unzuverlässigkeit – und damit von Sympathie für die Erzählinstanz – wie es mit anderen Perspektiven kaum realisierbar ist.18 Gewiß, Kafkas Romane sind artifizielle Übungen in einer Form der Ironie, die wie der schwebende Ton eines Instruments verklingt, darauf angelegt, im Leser einen abgewogenen Ausgleich hervorzubringen zwischen emotionaler Anteilnahme und der Erfahrung, aus distanzierter Überschau zu höherer Einsicht gelangt zu sein. Insbesondere Der Prozeß ist ein Meisterstück kunstvoll-ironischer Konstruktion [...].19

In den drei zitierten Beispielen werden verschiedene Formen emotionaler Reaktionen auf Erzähltexte angesprochen: Im ersten Fall ist von Verwirrung die Rede, im zweiten 16

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Einen wichtigen Beitrag aus Sicht einer evolutionspsychologisch informierten Literaturwissenschaft liefert allerdings Katja Mellmann, Emotionalisierung. Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärungsepoche. Gérard Genette, Die Erzählung, 149 (Kursivdruck im Original, Unterstreichung von mir, C.H.). Ronny Bläß, „Satire, Sympathie und Skeptizismus. Funktionen unzuverlässigen Erzählens“, 195 (Kursivdruck im Original; Unterstreichung von mir, C.H.). Ritchie Robertson, Kafka. Judentum Gesellschaft Literatur, 5 (Kursivdruck im Original, Unterstreichungen von mir, C.H.).

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1. Literaturwissenschaftliche Emotionsforschung: Eine Einleitung

von Sympathie mit einer Erzählerfigur, im dritten wird allgemein von emotionaler Anteilnahme gesprochen, hervorgebracht durch eine mit bewunderndem Unterton als „kunstvoll ironisch[...]“ bezeichnete „Konstruktion“ des Autors Franz Kafka. Allen drei Beispielen ist gemeinsam, dass eine wie auch immer geartete Wechselbeziehung zwischen literarischem Erzähltext oder allgemeiner einem bestimmten Erzählverfahren und dessen emotionaler Wirkung angenommen wird: So schreibt Genette dem Textmerkmal der wechselnden internen Fokalisierung in Prousts À la recherche du temps perdu die Eigenschaft zu, beim Leser Verwirrung hervorzurufen; Bläß unterstellt einer speziellen Variante des unzuverlässigen Erzählens, dass durch die Verwendung dieses Erzählverfahrens Sympathie für die Erzählinstanz geweckt werde, mitsamt der damit verbundenen leserseitigen Gefühle; Robertson geht davon aus, dass es Kafkas meisterhaftes erzählerisches Können sei, das beim Leser im Rezeptionsprozess eine Balance zwischen emotionaler Anteilnahme und distanzierter Betrachtung hervorrufe. Die Betrachtung der Textstruktur berechtigt die Interpreten also zu Annahmen über deren emotionales Wirkungspotenzial. Wie genau diese Wechselbeziehung zwischen Textmerkmalen und emotionaler Wirkung aussieht, wird im Allgemeinen jedoch nicht ausgeführt.20 Ein solches eher intuitives Vorgehen soll dabei keineswegs abqualifiziert werden. Im Gegenteil: Wie wissenspsychologische Forschungen zeigen, wird emotionsbezogenes Wissen nicht bloß rein individuell erworben, sondern beruht zum Teil auch auf intersubjektiv geteilten Wissensbeständen,21 sodass sich auch Experten in der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis auf dieses Wissen über die regelhaften Beziehungen zwischen Text und Leserreaktion in emotionaler Kommunikation berufen können.22 Nichtsdestotrotz sollte aus den vorstehenden Überlegungen deutlich geworden sein, dass es durchaus wünschenswert ist, eben diese Regeln mitsamt den Zuordnungsvoraussetzungen, auf denen die oben zitierten Annahmen zur Wechselwirkung zwischen Textmerkmalen und vermuteter emotionaler Wirkung beruhen, zu explizieren und auf ihre Stichhaltigkeit hin zu prüfen. Exemplarisch hat etwa Thomas Anz diejenigen Regeln emotionaler Kommunikation genauer beschrieben, die der Poetik des Aristoteles zugrunde liegen. Er listet insgesamt zehn Stück auf, von denen die ersten vier hier zur Veranschaulichung genannt seien:

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Für die zitierten Beispiele liegt dies auch daran, dass diese Frage sich nicht oder nur am Rande mit dem unmittelbaren Erkenntnisinteresse der jeweiligen Untersuchung berührt. Vgl. dazu Simone Winko, Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900, 78–81. Diese Feststellung ignoriert dabei natürlich nicht die schlichte Tatsache, dass ein großer Teil der emotionalen Wirkungen im Leseprozess durch hochgradig individuelle Faktoren begründet ist und damit nicht in dem hier verwendeten Sinne als regelgeleitet erklärt werden kann. Diese Formen emotionaler Leserreaktionen sind der literaturwissenschaftlichen Beschreibung nicht zugänglich, sie sind vielmehr Gegenstand der Lese- und Emotionspsychologie, deren Beschreibungsmodelle und Methoden dazu geeignet sind, u.U. Regeln für diese stärker auf dem Voraussetzungssystem des Lesers basierenden emotionalen Reaktionen formulieren zu können.

1.1 Zur Relevanz eines textzentrierten Analyseverfahrens

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Szenarien, die in der Lebenswelt der Autoren und ihrer Adressaten bestimmte Emotionen hervorrufen, evozieren ähnliche Emotionen auch dann, wenn sie durch ihre literarische Simulation imaginiert werden. [...] Einzelne Textmerkmale evozieren spezifische Emotionen immer in Kombination mit anderen Textmerkmalen. [...] Literarische Texte evozieren Mitleid, wenn Figuren, die sie zu Sympathieträgern machen, ein Unglück erleiden. [...] Literarische Texte evozieren Genugtuung, wenn Figuren, die sie zu Antipathieträgern machen, ein Unglück zustößt. [...]23

Nach der Formulierung dieser Regeln nennt Anz eine Reihe von Anschlussfragen, die von zentraler Bedeutung für die Analyse emotionaler literarischer Kommunikation sind: Ohne Regelformulierungen dieser Art kommt literaturwissenschaftliche Emotionsforschung wohl nicht aus. Sie lassen jedoch noch viele Fragen offen: Wie ist ihr empirischer Gehalt einzuschätzen? Gelten sie auch da, wo gegen sie bewusst verstoßen wird? Gehören Verstöße gegen sie wiederum zu literarischen Emotionalisierungstechniken, die eigenen Regeln folgen? Wie resistent sind solche Regeln gegenüber kulturellen Wandlungsprozessen und Abnutzungserscheinungen? Lassen sich einige solcher Regeln als Universalien fassen? Welche sozialen und biologischen Funktionen haben emotionale Kommunikationsprozesse im Medium literarischer Texte, die auf solchen Regeln basieren?24

Aus Anz’ Fragenkatalog wird deutlich, dass literaturwissenschaftliche Arbeiten zur Emotionsforschung stets eingebunden sein sollten in einen interdisziplinären Forschungszusammenhang mit all denjenigen Wissenschaften, die sich mit den verschiedenen Aspekten der menschlichen Fähigkeit zur Emotionalität auseinandersetzen. Fragen wie diejenige nach sozialen und biologischen Funktionen emotionaler Kommunikationsprozesse etwa fallen in den Zuständigkeitsbereich von Soziologie, Sozial- und Evolutionspsychologie und Biologie; kulturelle Wandlungsprozesse des oben skizzierten Regelgefüges lassen sich besonders gut aus kulturwissenschaftlicher Perspektive beschreiben; die Frage nach dem empirischen Gehalt solcher Regeln sollte am besten von den an der Emotionsforschung beteiligten empirischen Wissenschaften beantwortet werden. Deren Ergebnisse können anschließend jedoch rückgebunden werden an literaturwissenschaftliche Arbeiten, deren Kernkompetenz eben genau im Bereich der Beschreibung und Analyse von literarischen Texten liegt. Gerade angesichts einer prospe-

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Vgl. dazu Thomas Anz, „Literaturwissenschaftliche Text- und Emotionsanalyse. Beobachtungen und Vorschläge zur Gefühlsforschung“, 63–65 (Kursivierung im Original). Die genannte Liste ist nicht als abschließend zu verstehen, sondern kann ergänzt, abgewandelt und ausdifferenziert werden. Ebd. 65.

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1. Literaturwissenschaftliche Emotionsforschung: Eine Einleitung

rierenden literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung25 überrascht deswegen die Tatsache, dass dezidiert textzentrierte Ansätze zur emotionalen Wirkung von Literatur, die sich mit diesem wenigstens partiell regelhaften Zusammenhang von Textstrukturen und emotionaler Leserlenkung auseinandersetzen, eher die Ausnahme bilden.26 Für die historische Rezeptionsforschung beispielsweise, der ein empirisches Vorgehen zur Überprüfung der emotionalen Wirkung literarischer Texte nicht möglich ist, kann der Rückgriff auf ein solches systematisches Verfahren zur Analyse der vom Einzeltext ausgehenden Emotionslenkungsstrategien sehr hilfreich sein: Historische Rezeptionszeugnisse erlauben hier zumeist nur bedingt differenziertere Aussagen hinsichtlich unterschiedlicher kognitiver und emotionaler Wirkungen oder gar den sie bedingenden Textmerkmalen; gleichwohl können beispielsweise Veränderungen des literarischen Geschmacks und damit einhergehend von Schreibverfahren, der Bewertung oder Kanonisierung von Texten und Autoren etc. mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auf solche „emotionalisierenden“ Textmerkmale zurückgeführt werden beziehungsweise deren Veränderung kann auf entsprechende kulturelle Wandlungsprozesse hindeuten.27 Solche Veränderungen können jedoch nur dann genau beschrieben werden, wenn klar ist, mit welchen emotionalen Wirkungen im Rezeptionsprozess überhaupt zu rechnen ist, welche davon auf Textmerkmale zurückgeführt werden können und welche Textmerkmale genau in diesem Zusammenhang potentiell auslöserelevant sein können. Hierzu bedarf es eines systematischen Analysemodells. Um den Nutzen eines solchen Modells pointierter zu veranschaulichen, sei an dieser Stelle kurz auf einen Teilaspekt innerhalb der derzeit in der germanistischen Mediävistik geführten Debatte über den Status von Emotionsdarstellungen in mittelhochdeutschen Texten eingegangen: nämlich bezüglich der Frage, welche erzähltechnische Funktion diesen zukomme. Die Debatte soll dazu vorab kurz skizziert werden: Rüdiger Schnell beklagt in seinem oben bereits erwähnten Forschungsbericht, dass das Erkenntnisinteresse vieler Studien, die sich mit Emotionsdarstellungen in mittelhochdeutschen Texten beschäftigen, oft nicht recht klar konturiert sei, weswegen es häufig zu „Vermischungen der Analyseebenen“ komme: Ganz grob lassen sich in der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung zwei Typen des Zugriffs voneinander abgrenzen. Dabei zeichnet sich eine zweifache Dichotomie bei der Fokussierung des ,Objektes‘ ab: 1. Studien, die sich vornehmlich für die literarische Gestaltung von Emotionen interessieren, und solche Studien, die sich vornehmlich für deren psychohistorische Implikationen interessieren und von den Emotionen der Protagonisten wie von Gefühlszuständen ,realer‘ Personen reden. 2. Die erste Gruppe unterteilt sich nochmals in zwei Rich25

26 27

Zum Teil ist sogar von einem „Emotional Turn“ die Rede. Vgl. Thomas Anz, „Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung“ sowie ders.: „Literaturwissenschaftliche Text- und Emotionsanalyse“, 39–40 und Dietmar Till, „Text, Kommunikation und Affekt in der Tradition der Rhetorik. Zur Vorgeschichte des ,Emotional turn‘“, 286. Vgl. dazu Simone Winko, „Text-Gefühle. Strategien der Präsentation von Gefühlen in Gedichten“. Für die Aufklärungsepoche etwa beschreibt Mellmann diese Wandlungsprozesse mit Hilfe einer evolutionspsychologischen Heuristik. Vgl. Katja Mellmann, Emotionalisierung.

1.1 Zur Relevanz eines textzentrierten Analyseverfahrens

19

tungen: in Arbeiten, die sich ausschließlich mit der Analyse der zur Darstellung von Emotionen eingesetzten literarischen Mittel befassen und auch nur darüber Aussagen machen wollen, und in solche Arbeiten, die ihre Einsichten in die literarischen Techniken von Emotionsdarstellungen nutzen für Hypothesen bezüglich des in den Emotionsdarstellungen ,vermittelten‘ Gefühlshaushalts und Emotionswissens einer Epoche oder einer sozialen Schicht.28

Im Zentrum der Debatte steht laut Schnell also die Frage nach der Reichweite von Annahmen, die auf der Basis von Textanalysen zur Emotionsdarstellung in mittelhochdeutschen Texten gewonnen werden: Können sie als Belegstück für emotionsbezogenes Wissen ihrer Entstehungszeit gelten beziehungsweise welche Form des Wissens fließt bei der Niederschrift oder im Zuge des Vortrags in die Erzählung ein? Kann hier gar von einer Sonderform der Wiederspiegelungstheorie ausgegangen werden? Inwiefern ist es überhaupt statthaft, von emotionalen Zuständen fiktionaler Figuren zu reden? Unproblematisch erscheint Schnell die Identifizierung und Beschreibung der sprachlichen Strukturen, aufgrund derer wir bestimmte Textmerkmale überhaupt als „emotional“ identifizieren. Doch aufgrund welcher sprachlichen Merkmale erkennen wir eigentlich eine literarische Emotionsdarstellung als solche? Schon die Möglichkeiten der sprachlichen Kodierung von Emotionen sind vielfältig und deren Rekonstruktion deswegen keineswegs in jedem Fall eindeutig oder einfach – insbesondere für Texte, zu denen die historische und kulturelle Distanz relativ größer ist als beispielsweise für die meisten Texte aus dem Zuständigkeitsbereich der neueren deutschen Literaturwissenschaft. Die meisten der von Schnell aufgeworfenen Probleme lassen sich wahrscheinlich nur durch eine genaue Angabe des jeweiligen Erkenntnisinteresses und mit einem Hinweis darauf lösen, welche grundsätzliche Haltung zum Verhältnis von Literatur- und Kulturwissenschaft der jeweilige Interpret einnimmt. Interessant ist aber auch für den Bereich der Mediävistik, dass kaum rezeptionsbezogene Studien zur Wirkung der Emotionen kodierenden sprachlichen Einheiten vorliegen: Gerade mittelalterliche Texte, denen gemeinhin wirkungsästhetische Absichten unterstellt werden, verdienen auch auf die jeweils intendierte Rezeption hin untersucht zu werden. Es hat den Anschein, dass die zunächst nur als und durch Schrift und Sprache konstituierten Emotionen durch das Zusammenspiel von Text und Rezipienten einen neuen Seinsstatus erhalten: Die Rezipienten leihen den Protagonisten die vom Autor gewünschte Emotion bzw. werden durch die vom Autor den Protagonisten unterstellte Emotion affiziert.29

Wie genau der Zusammenhang zwischen Emotionsdarstellung und „Affizierung“ des Rezipienten zu konzeptualisieren sei, wird nicht ausgeführt. Dabei geht Schnell auch auf narratologische Ansätze ein, die nach der Funktion der in mittelalterlichen Texten enthaltenen Emotionsdarstellungen fragen.30 Er konzediert, dass diese Ansätze einen 28 29 30

Rüdiger Schnell, „Erzähler – Protagonist – Rezipient im Mittelalter“, 6f (Kursivdruck im Original). Ebd. 51. Armin Schulz, „Die Verlockungen der Referenz“; Katharina Philipowski, „Wer hat Herzeloydes Drachentraum geträumt?“.

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1. Literaturwissenschaftliche Emotionsforschung: Eine Einleitung

fruchtbaren Beitrag zur altgermanistischen Emotionalitätsdebatte leisteten, beklagt jedoch auch, dass sie insofern reduktionistisch seien, als sie lediglich nach textinternen Funktionen von Emotionsdarstellungen fragten und diese hauptsächlich in der kausalen Motivationsstruktur des Textes verorteten.31 Die Annahme, dass eine solche Emotionsdarstellung auch emotionale Wirkung entfaltet haben könnte, ist dadurch nicht ausgeschlossen, sie wird jedoch aus der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis ausgeklammert, wenn Emotionen in Texten nur als „Knotenpunkte der erzählten Handlung (also als narrative Größen)“32 aufgefasst werden. Gegen diese Position meldet Schnell Bedenken an: „Eine literarische Emotionsdarstellung gäbe folglich Auskunft nicht nur über die narrative Funktion eines Protagonisten im Text, sondern auch über die vom Autor intendierte Rezeption.“33 Wie dieser Zusammenhang textanalytisch genauer zu fassen wäre, bleibt jedoch auch in Schnells Überlegungen offen. Beide Vorgehensweisen – die Selbstbeschränkung auf textinterne Funktionen von literarischen Emotionsdarstellungen wie auch die simple Gleichsetzung mentaler Zustände von fiktionalen Figuren und realen historischen Individuen oder ganzen Personengruppen – erscheinen intuitiv nicht einsichtig. Für die Interpretationspraxis ist daher eine Klärung des Verhältnisses von literarischer Emotionsdarstellung und emotionaler Leserlenkung sinnvoll und erforderlich: Wie wirken solche Emotionsdarstellungen überhaupt? Welche mentalen Operationen spielen im Leseprozess dabei eine Rolle? In welchem Verhältnis stehen verschiedene Darstellungen von Emotionalität zueinander? Konzediert man einmal, dass Textstrukturen im Rezeptionsprozess auch emotionale Wirkung entfalten können, bleibt darüber hinaus bei der Konzentration auf Emotionsdarstellungen in Texten auch die Frage ausgeklammert, inwiefern weitere Textstrukturen angegeben werden können, die keine Emotionen kodieren, gleichwohl aber ebenfalls emotionale Wirkung entfalten. Dabei ist intuitiv erst einmal davon auszugehen, dass auch sprachliche Strukturen, die keine emotionalen Gehalte transportieren, emotional wirken können, zum Beispiel bei der Erzeugung von Neugier, Überraschung oder Desorientierung. Die Frage nach der emotionalen Wirkung von Literatur lediglich im Zusammenhang mit literarischen Emotionsdarstellungen zu stellen verengt somit die Perspektive in Bezug auf mögliche textbasierte emotionale Reaktionen im Leseprozess. Der heuristische Nutzen des in dieser Arbeit vorgestellten Analysemodells besteht folglich in der Bereitstellung einer textbezogenen Analysesystematik, mit deren Hilfe möglichst umfassend Aussagen über die Phänomene getroffen werden können, die den 31

32 33

Rüdiger Schnell, „Erzähler – Protagonist – Rezipient im Mittelalter“, 4. Schnells Überblicksdarstellung ist gleichzeitig eine in Teilen äußerst kritische Auseinandersetzung mit einigen Arbeiten, die im Teilprojekt A2 „Emotionalität in der Literatur des Mittelalters“ im Sonderforschungsbereich 447 „Kulturen des Performativen“ der Freien Universität Berlin entstanden sind. Schnells Kritik gilt insbesondere dem performanztheoretischen Zugriff dieser Arbeiten. Vgl. ebd. 2–3, Anm. 2. Katharina Philipowski, „Wer hat Herzeloydes Drachentraum geträumt?“, 273f. Rüdiger Schnell, „Erzähler – Protagonist – Rezipient“, 12.

1.1 Zur Relevanz eines textzentrierten Analyseverfahrens

21

Teil der literarischen emotionalen Kommunikation zwischen Text und Leser ausmachen, von dem sinnvollerweise angenommen werden kann, dass er auf regelgeleiteten Wechselwirkungen zwischen Text und Rezipient beruht, und der deswegen konzeptuell genauer gefasst werden kann. Die Arbeit führt dazu ein möglichst breites Spektrum an Forschungsansätzen aus der Literaturwissenschaft, der Soziologie, der Lesepsychologie, der Philosophie und anderer Humanwissenschaften zusammen, die sich mit der emotionalen Wirkung literarischer Texte befassen. Ein solches Vorgehen birgt das Risiko, dass Forschungsdiskussionen in den einzelnen Fächern und Teildisziplinen nicht in allen, möglicherweise auch für die vorliegende Fragestellung wichtigen Details zur Kenntnis genommen, geschweige denn hier adäquat abgebildet werden können. Gerade für Forschungsliteratur aus anderen Disziplinen als der der Literaturwissenschaft besteht so die Gefahr, dass wichtige abweichende Forschungspositionen nicht als solche erkannt werden. Dieser Nachteil lässt sich grundsätzlich zwar nicht beheben, er wird jedoch einerseits dadurch aufgewogen, dass es mittlerweile neben sehr differenzierten Forschungsansätzen im Bereich der interdisziplinären Emotionsforschung innerhalb der einzelnen beteiligten Fächer in der Regel auch sehr gute Forschungsüberblicke gibt, auf die für die vorliegende Studie zurückgegriffen werden kann. Andererseits gibt die hier verfolgte Fragestellung Selektionskriterien vor, die es erlauben, aus der Fülle der Forschungsliteratur eine Auswahl zu treffen: Von Interesse sind vor allem all diejenigen Arbeiten, die Aufschluss über die emotionale Wirkung von Artefakten, und spezieller literarischen Artefakten, geben können. Im Einzelnen wird dazu auf folgende Fragen einzugehen sein: – Mit welchen emotionalen Reaktionen ist im Leseprozess grundsätzlich zu rechnen? – Auf welche leserseitigen Dispositionen können sie zurückgeführt werden? – Worauf können sich emotionale Reaktionen in Bezug auf Erzähltexte überhaupt richten und wie können sie dementsprechend systematisiert werden? – Über welche emotionalen Reaktionen können von der Textstruktur ausgehend Aussagen getroffen werden und über welche nicht? – Welche Textstrukturen kodieren Emotionen? – Welche Textstrukturen sind potentiell auslöserelevant in Bezug auf emotionale Reaktionen im Leseprozess? – Können gegebenenfalls Intensifikatoren angegeben werden beziehungsweise gibt es wirksamere und weniger wirksame Arten der textuellen Gestaltung oder Vermittlung von Emotionalität? – Wie können solche Textstrukturen sinnvoll in ein Modell des Leseprozesses integriert werden? Die Arbeit versteht sich somit als „Baustein“ innerhalb des Projektes einer historischen Narratologie, wie es etwa Fotis Jannidis skizziert hat,34 deren Ziel eine möglichst um34

Fotis Jannidis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie.

22

1. Literaturwissenschaftliche Emotionsforschung: Eine Einleitung

fassende Simulation historischer Rezeptionsprozesse auf der Basis einer genauen Betrachtung von Textmerkmalen ist. Sie bietet dazu einen knappen Überblick über die interdisziplinäre Forschung an der Schnittstelle von Emotionsdarstellung und emotionaler Wirkung von literarischen Texten und benennt möglichst vollständig emotionsbezogene rezeptionslenkende Strukturen von Erzähltexten. Ein wesentliches Ziel ist darüber hinaus das Aufzeigen von Forschungsdesiderata, denn obwohl sich die interdisziplinäre Emotionsforschung mittlerweile zu einem fruchtbaren und produktiven Forschungsfeld entwickelt hat, sind noch viele Fragen in Bezug auf die emotionalen Wirkungen von Literatur ungeklärt und bedürfen der Überprüfung. Dementsprechend kann in vielen Fällen nur auf einschlägige Fachdiskussionen verwiesen werden, ohne dass die dort verhandelten Fragen im Rahmen dieser Studie beantwortet werden könnten. So wird beispielsweise in der vorliegenden Arbeit nicht darauf eingegangen, welcher ontologische Status Emotionsdarstellungen in Texten nun eigentlich zukommt. Genauer wird die Frage ausgeklammert, ob oder vielmehr in welcher Weise sie als Belegstücke für emotionsbezogenes Wissen ihrer Entstehungszeit herangezogen werden können, beziehungsweise was fiktionale von faktualen Emotionsdarstellungen unterscheidet – von dem jeweiligen ontologischen Status der Subjekte, die diese Emotionen erleben, einmal abgesehen. Anders gesagt, leistet diese Arbeit keinen Beitrag zur Fiktionalitätsdebatte oder zur Debatte um das so genannte ,Paradox der Fiktion‘.35 Auch medienspezifische Überlegungen finden nur am Rande Erwähnung. Bisher ist beispielsweise noch ungeklärt, inwiefern sich eine empathische Reaktion auf eine filmische Figur von der auf eine literarische Figur unterscheidet. Ebenso wenig ist die Klärung des Verhältnisses von anthropologischen Grundlagen und kultureller Prägung bei der Emotionsgenese Zielpunkt der hier vorgetragenen Überlegungen. Dieses kann (noch) nicht schlüssig ermittelt werden. Auf eine umfassende Rekonstruktion einzelner Emotionskonzepte und deren kultureller Varianz kann im systematischen Teil nicht näher eingegangen werden. Eine solche Kulturgeschichte einzelner oder gar aller Emotionen kann vielmehr als ein Fernziel der kulturwissenschaftlichen Emotionsforschung gelten.36 Auf einige zentrale Emotionen und deren Konzeptualisierungen wird jedoch im Rahmen der Textanalysen im historischen Teil zurückzukommen sein. Zwar liegt eine umfassende Kulturgeschichte der Emotionen für den Untersuchungszeitraum nicht

35

36

Im Rahmen dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass Emotionen, die sich auf fiktionale Gegenstände richten, nicht kategorial von „echten“ Emotionen unterschieden sind. Unterschiede bestehen aber vermutlich in Bezug auf die Art der beobachtbaren Emotionen, deren Intensität sowie ihr verhaltenssteuerndes Potenzial. Vgl. dazu Alex Neill, „Fiktion und Emotionen“ sowie Katja Mellmann, „Literatur als emotionale Attrappe. Eine evolutionspsychologische Lösung des ,paradox of fiction‘“. Einen guten Überblick über die Debatte zum Paradox der Fiktion liefert Jerrold Levinson, „Emotion in Response to Art. A Survey of the Terrain“. Aus philosophiegeschichtlicher Sicht etwa haben Christoph Demmerling und Hilge Landweer eine solche Beschreibung einzelner Emotionskonzepte vorgelegt. Vgl. dazu Christoph Demmerling und Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn.

1.2 Aufbau der Arbeit

23

vor,37 für den hier verfolgten Zweck, Textanalysen zur Veranschaulichung und Erprobung des im ersten Teil entworfenen Analysemodells vorzunehmen, kann jedoch auf Untersuchungen zurückgegriffen werden, die sich einzelnen Emotionen und deren Konzeptualisierung widmen. Die angesprochenen Fragen nach dem ontologischen Status von literarischen Emotionsdarstellungen sowie dem Verhältnis von biologischen und kulturellen Faktoren bei der Emotionsgenese werden derzeit in den einzelnen Fachwissenschaften und auch im interdisziplinären Dialog kontrovers diskutiert, ohne dass diese Diskussionen bereits zu einem Abschluss gekommen wären.38 Insgesamt besteht der Vorzug des hier vorgeschlagenen Modells darin, eine knappe Bestandsaufnahme des derzeitigen Kenntnisstands zur emotionalen Reaktion auf Literatur zu liefern, sowie in der Bereitstellung eines systematischen Beschreibungsrasters zur Analyse des emotionalen Wirkungspotenzials von Erzähltexten, das sich an den bisher erarbeiteten Forschungsergebnissen zum Thema orientiert und gleichzeitig den derzeit noch bestehenden vielfältigen Desiderata in diesem Bereich Rechnung trägt. Das Modell ist vorwiegend systematisch ausgerichtet und kann durch kulturgeschichtliche Untersuchungen entsprechend ergänzt werden: So sind historische Verstehensprozesse auch im Bereich emotionaler Kommunikation durch fiktionale Erzähltexte nur dann umfassend beschreibbar, wenn die virulenten Emotionskonzepte des entsprechenden soziokulturellen Umfeldes rekonstruiert werden. Nur auf diese Weise können Über-, Unter- und Neukodierungen von Emotionen in literarischen Texten und deren emotionales Wirkungspotenzial erfasst werden. Das Ziel der Rekonstruktion eines entsprechenden historischen „emotionalen“ Rezeptionsprozesses kann nur durch eine kulturhistorische „Anreicherung“ der vorgestellten Analysesystematik erreicht werden, die späteren Forschungsarbeiten vorbehalten bleibt.

1.2 Aufbau der Arbeit Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile mit einer abschließenden Zusammenfassung: Im ersten, systematischen Teil wird nach einer kurzen Begriffsbestimmung unter Rückgriff auf psychologische, soziologische, philosophische und literaturwissenschaftliche For-

37

38

Dies stellt ein weiteres Forschungsdesiderat dar. Einschlägig für den hier betrachteten Untersuchungszeitraum ist allerdings Helmut Lethens Studie zur Neuen Sachlichkeit. Vgl. Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Die Literaturwissenschaft selbst kann zu ihrer Klärung m.E. nur einen geringen Beitrag leisten, die Beantwortung dieser Fragen hat aber wiederum weitreichende Konsequenzen für die literaturwissenschaftliche Textanalyse.

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1. Literaturwissenschaftliche Emotionsforschung: Eine Einleitung

schung gezeigt, dass und wie Emotionen sprachlich kodiert werden können.39 Daran anknüpfend wird erläutert, welches Modell emotionaler Kommunikation und genauer emotionaler Kommunikation im Leseprozess zugrunde gelegt wird und mit Hilfe welcher Methodik sich Wirkungsannahmen aus der Beschreibung von Textstrukturen ableiten lassen.40 Anschließend wird ein Verfahren entwickelt, mit dem von im Text ermittelbaren Emotionsdarstellungen sowie rein strukturellen Mitteln der Textgestaltung auf potentielle emotionale Wirkungen geschlossen werden kann. Dazu werden Konzepte und Analysemethoden der Cognitive Poetics, der Narratologie, der Medienwirkungsforschung, der Filmwissenschaft, der empirischen Literaturwissenschaft und der Lesepsychologie einbezogen. Die Forschungsarbeiten aus dem empirischen Paradigma der interdisziplinären Emotionsforschung dienen hier der Entwicklung einer Heuristik, um den Phänomenbereich emotionaler Reaktionen auf literarische Texte erst einmal abstecken und klassifizieren zu können. Anschließend wird überprüft, welche dieser Reaktionen so enge Korrelationen mit Textmerkmalen aufweisen, dass sie im Rahmen des hier verfolgten Erkenntnisinteresses für literaturwissenschaftliche Zwecke operationalisiert werden können. Im Einzelnen wird dazu auf Emotionen eingegangen, die sich auf die erzählte Welt richten – vor allem auf figurenbezogene Emotionen – , auf Emotionen, die durch die Art der Informationsvergabe im Erzählprozess ausgelöst werden können, sowie auf die so genannten „Artefaktemotionen“, die sich auf den Text als Kunstwerk richten. Ziel ist es, durch die Simulation eines Rezeptionsprozesses Aussagen über das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten treffen zu können. Im zweiten Teil der Arbeit soll dieses Analysemodell an einem historischen Beispielkorpus überprüft werden. Die drei Beispieltexte (Franz Kafkas Das Schloß, Leo Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages, Franz Werfels Verdi. Roman der Oper) werden dazu in einem ,close reading‘ unter dem Aspekt der Emotionsgestaltung und -lenkung und unter Einbezug zeitgenössischer Emotionskonzepte näher betrachtet. Die aus den Textanalysen gewonnenen Hypothesen werden anschließend anhand zeitgenössischer Rezeptionszeugnisse auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft. Die Analyse des Schlosses führt alle im systematischen Teil vorgestellten Analyseschritte ausführlich vor. Dieser Teil der vorliegenden Studie liefert damit unter anderem auch einen Beitrag zur rezeptionsorientierten Kafka-Forschung, indem es die Erzählstruktur von Kafkas Fragment gebliebenem letzten Roman erstmals unter emotionsbezogener Perspektive genauer betrachtet. Bei den Beispielanalysen zu Perutz und Werfel werden für einzelne in der Fachliteratur diskutierte interpretatorische Problemstellungen 39

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Dazu beziehe ich mich auf die für den Zusammenhang von Sprache und Emotionen grundlegenden semiotisch fundierten Arbeiten von Simone Winko und Monika Schwarz-Friesel. Vgl. Simone Winko, Kodierte Gefühle sowie Monika Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion. Als Rahmen dient mir ein allgemeines kommunikationstheoretisches Modell emotionaler Kommunikation, das Anne Bartsch und Susanne Hübner vorgelegt haben, sowie ein von Fotis Jannidis im Anschluss an psycholinguistische Forschungsarbeiten von Dan Sperber und Deirdre Wilson entwickeltes narratologisch-kognitionspsychologisch fundiertes Modell des Leseprozesse

1.2 Aufbau der Arbeit

25

besonders signifikante Aspekte der textuellen Strategien zur emotionalen Leserlenkung fokussiert. Für Leo Perutz wird ausführlich auf den Unterschied zwischen zuverlässigen und unzuverlässigen Erzählverfahren und deren emotionale Wirkung sowie auf die damit verknüpfte Phantastikdebatte näher eingegangen. Für Franz Werfels Romanerstling Verdi. Roman der Oper bietet sich ein intermedialer Vergleich von Emotionsgestaltung und -lenkung in Oper und Roman an. Das Abschlusskapitel diskutiert die Leistungsfähigkeit des vorgestellten Analysemodells und benennt Forschungsdesiderata.

2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

In diesem Kapitel wird ein Modell zur systematischen Beschreibung von Textstrukturen in fiktionalen Erzähltexten vorgestellt, von denen angenommen werden kann, dass sie das Potenzial haben, das emotionale Erleben während der Lektüre zu beeinflussen. Zur Erarbeitung eines solchen systematischen Analyserasters wird zu Beginn in Abschnitt 2.1 geklärt, wie der Begriff ,Emotion‘ im Rahmen dieser Arbeit verstanden wird. Da zum Emotionsbegriff eine Vielzahl von Definitionen mit je unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen existiert, wird hier für eine weite Begriffsverwendung plädiert, um möglichst alle relevanten Aspekte des Phänomens ,Emotion‘ für literaturwissenschaftliche Fragestellungen berücksichtigen zu können. Anschließend wird gezeigt, dass und wie emotionale Gehalte durch Sprache vermittelt werden können. In Abschnitt 2.2 wird der Begriff des emotionalen ,Wirkungspotenzials‘ näher bestimmt. Dazu ist kurz auf ein älteres textzentriertes und wirkungsbezogenes Modell literarischer Kommunikation einzugehen: das der von Wolfgang Iser entwickelten Wirkungsästhetik. Die dort zugrunde gelegten Prämissen werden expliziert, vor dem Hintergrund der hier angestellten Überlegungen zur emotionalen literarischen Kommunikation diskutiert und auf ihre Applizierbarkeit hin überprüft. Auf der Grundlage dieser Problematisierung wirkungsästhetischer Annahmen wird anschließend erläutert, was im Zusammenhang dieser Studie unter dem Begriff des ,Wirkungspotenzials‘ zu verstehen ist. Wenn vom Wirkungspotenzial von Textstrukturen die Rede ist, sind Angaben über die Art der Interaktion zwischen Text und Leser, über das zugrunde gelegte Kommunikationsmodell also, erforderlich. Besonders geeignet für die hier vorgestellte methodische Herangehensweise, die empirisch gewonnene Erkenntnisse zur emotionalen Wirkung von Leseprozessen in die textwissenschaftliche Beschreibung integriert, erscheint mir ein narratologisch-kognitionspsychologischer Zugriff, wie er etwa von Fotis Jannidis erarbeitet worden ist. In Abschnitt 2.3 wird daher Jannidis’ Konzept eines inferenzbasierten Kommunikationsprozesses knapp mit Bezug auf das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit dargestellt. In Abschnitt 2.4 schließlich werden diejenigen in Erzähltexten isolierbaren Strukturen benannt, die dazu geeignet erscheinen, emotionale Wirkungen beim Rezipienten hervorzurufen. Wie Abschnitt 2.4.1 zeigt, wirken sich literarische Emotionsdarstellun-

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

gen vor allem im Rahmen empathischer Prozesse der „Einfühlung“ in die Figuren und den figuralen Erzähler der erzählten Welt aus. Werthaltige Textmerkmale beeinflussen die figurenbezogene Sympathiebildung. Rein strukturelle Mittel, in erster Linie die Art der Informationsvergabe, die durch das gewählte Erzählverfahren vorgegeben wird, lenken ebenfalls in vielfältiger Weise das emotionale Erleben des Rezipienten. Näher betrachtet werden hier das Konzept literarischer Spannung und die damit zusammenhängenden Emotionen der Neugier, Hoffnung und Furcht sowie Überraschung und Desorientierung und die jeweiligen sie bedingenden Textmerkmale (Abschnitt 2.4.2). Kurz soll in Abschnitt 2.5 auf die so genannten „Artefakt“-Emotionen eingegangen werden. Der von Ed Tan geprägte Begriff bezeichnet Emotionen, die sich auf den Text oder einzelne Aspekte desselben als Kunstwerk richten. Hier wird argumentiert, dass diesen Emotionen eine jeweils kultur- und schichtenspezifische oder auch individuell geprägte Bewertung vorausgeht, die erst nachrangig auf Textmerkmale zurückgeführt werden kann. Abschnitt 2.6 fasst die Ergebnisse des Kapitels 2 kurz zusammen, geht auf weitere, nur mit empirischen oder kulturwissenschaftlichen Methoden erfassbare Formen emotionaler Rezeptionswirkung ein und benennt Desiderata. Es bietet damit Anknüpfungspunkte für weitere text- und kulturwissenschaftliche sowie empirische Forschung.

2.1 Emotionen in Texten: Ein kultursemiotisches Modell Was sind Emotionen und wie können sie sprachlich dargestellt und kommuniziert werden? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt für jede Überlegung zur emotionalen Wirkung sprachlicher und spezieller literarischer kommunikativer Akte. Zu ihrer Beantwortung kann auf eine Vielzahl von Forschungsarbeiten vor allem aus der Emotionspsychologie, der Soziologie und der Philosophie zurückgegriffen werden. Nach einer knappen Beschreibung des Phänomens ,Emotion‘ schließt sich die vorliegende Studie einem weiten Begriffsverständnis an, das der Linguist Norbert Fries vorgeschlagen hat. Anschließend wird – hauptsächlich unter Rekurs auf linguistische und psycholinguistische Forschung – nachgewiesen, dass Emotionen zumindest partiell in geschriebener Sprache dargestellt werden können. Dazu wird auf ein von Winko erarbeitetes kultursemiotisch fundiertes Modell zurückgegriffen. Sie bezieht sich unter anderem auf soziologische Arbeiten, die ein sozialkonstruktivistisches Emotionskonzept vertreten. Sozialkonstruktivistische emotionswissenschaftliche Ansätze gehen von der Annahme aus, dass Emotionen in Kommunikationsprozessen sinnvoll aus einer semiotischen Perspektive betrachtet werden können, und sind damit besonders gut geeignet Zusammenhänge von Sprache und Emotionen theoretisch zu begründen.

2.1 Emotionen in Texten: Ein kultursemiotisches Modell

29

2.1.1 Zu einem integrativen Emotionsbegriff Was eine Emotion eigentlich sei, ist in der Emotionspsychologie – und ebenso bei den sich auf sie beziehenden philosophischen, soziologischen, linguistischen und literaturwissenschaftlichen Arbeiten zum Thema – nicht abschließend geklärt.1 Als „klassisch“ kann die integrative Begriffsbestimmung von Paul und Anne Kleinginna gelten, die in den meisten Einführungen in die Emotionspsychologie zitiert wird. Nachdem sie in einer Metastudie 101 verschiedene Definitionen des Phänomens ,Emotion‘ ausgewertet haben, schlagen Kleinginna und Kleinginna folgende Arbeitsdefinition vor: Emotion is a complex set of interactions among subjective and objective factors, mediated by neural-hormonal systems, which can (a) give rise to affective experiences such as feelings of arousal, pleasure/displeasure; (b) generate cognitive processes such as emotionally relevant perceptual effects, appraisals, labeling processes; (c) activate widespread physiological adjustments to the arousing conditions; and (d) lead to behavior that is often, but not always, expressive, goal-directed, and adaptive.2

Demzufolge lassen sich Emotionen in vier Dimensionen betrachten: Sie weisen eine affektiv-phänomenologische, eine kognitive, eine physiologische und eine handlungsmotivierend-funktionale Komponente auf. Weitere Definitionsversuche akzentuieren meist eine der oben genannten Komponenten stärker oder stellen sie gar in den Mittelpunkt. So nennt etwa Dieter Ulich in seinem Merkmalskatalog für Emotionen „Selbstbetroffenheit – als das vielleicht einzige notwendige Bestimmungsmerkmal von Emotionen.“3 Keith Oatley und Jennifer M. Jenkins betonen dagegen den handlungsmotivierend-funktionalen Aspekt stärker.4 Nadine van Holt und Norbert Groeben konstatieren in ihrem Forschungsüberblick aus Sicht der Lesepsychologie, dass sich im heterogenen Feld der Emotionspsychologie eine Tendenz zur Favorisierung kognitiver Emotionstheorien ausmachen lasse: Viele Definitionen stellten mittlerweile den selbstbezüglich bewertenden Aspekt von Emotionen in den Mittelpunkt.5 1

2

3 4 5

Dies betonen z.B. einführende Werke zur Emotionspsychologie. Vgl. dazu etwa Jörg Merten, Einführung in die Emotionspsychologie, 12; Dieter Ulich, Das Gefühl. Eine Einführung in die Emotionspsychologie, 32; Wulf-Uwe Meyer, Rainer Reisenzein und Achim Schützwohl, Einführung in die Emotionspsychologie, Bd. 1, 22. Paul R. Kleinginna und Anne M. Kleinginna, „A categorized list of emotion definitions, with suggestions for a consensual definition“, 355 (Kursivdruck im Original). Ulich kritisiert an dieser Definition, dass sie verschiedene Theorien so bündele, dass die spezifischen Fragestellungen und Erkenntnisinteressen der jeweiligen Forschungsrichtungen nicht deutlich würden. Dieter Ulich, Das Gefühl, 31. Ebd. 34 (Kursivdruck im Original). Keith Oatley und Jennifer M. Jenkins, Understanding emotions, 96. Nadine van Holt und Norbert Groeben, „Emotionales Erleben beim Lesen“, 113. Paradigmatisch wird in diesem Zusammenhang häufig die Arbeit von Brigitte Scheele genannt: Brigitte Scheele, Emotionen als bedürfnisrelevante Bewertungszustände. Grundriss einer epistemologischen Emo-

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

Ulich konstatiert in Anlehnung an Kleinginna und Kleinginna: Aus den Begriffsdiskussionen in der Literatur gehen eigentlich nur zwei Punkte unstrittig hervor: Emotionen zeigen leib-seelische Zuständlichkeiten einer Person an; je nach Fragerichtung und Betrachtungsebene kann man unterschiedliche Komponenten eines zweifellos komplexen Geschehens hervorheben bzw. akzentuieren: eine subjektive Erlebniskomponente, eine neuro-physiologische Erregungskomponente, eine kognitive Bewertungskomponente, eine interpersonale Ausdrucks- und Mitteilungskomponente.6

Emotionen erscheinen somit als komplexes Phänomen, das nicht einfach definitorisch fassbar ist, sondern dem man sich in der Emotionspsychologie auf verschiedenen Wegen über Arbeitsdefinitionen anzunähern versucht. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, einen möglichst weiten Emotionsbegriff anzunehmen, der keine der genannten Aspekte emotionalen Erlebens ausschließt.7 So hält Fries in einer integrativen Begriffsbestimmung fest:

6 7

tionstheorie. Allgemein zu Bewertungstheorien in der Emotionspsychologie siehe Anne Bartsch und Susanne Hübner, Emotionale Kommunikation – ein integratives Modell, 42–61. In der philosophischen emotionstheoretischen Debatte wird paradigmatisch für kognitiv orientierte Ansätze meist Bezug genommen auf die Arbeit von Anthony Kenny, Action, Emotion and Will. Einen Überblick über kognitive philosophische Emotionstheorien bieten Ronald de Sousa, „Emotion“ sowie Christiane Voss, Narrative Emotionen. Eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien, 76–151. Vgl. auch die Position Friederike Worthmanns, die Emotionen als hedonistische Formen der Wertung auffasst: Literarische Wertungen. Vorschläge für ein deskriptives Modell, 178. Dieter Ulich, Das Gefühl, 32. Zu diesem Ergebnis kommen auch andere sprach- oder literaturwissenschaftlich ausgerichtete Forschungsüberblicke. Vgl. z.B. Monika Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, 48, Simone Winko, Kodierte Gefühle, 109. Für die benachbarte Disziplin der Filmwissenschaft, innerhalb derer eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der Wechselwirkung zwischen Filmwahrnehmung und emotionalen Rezeptionseffekten zu beobachten ist, kann ein ähnliches Vorgehen beobachtet werden. Vgl. Jens Eder, „Casablanca and the Richness of Emotion“, 233: „[...] emotions are increasingly seen as psychophysical phenomena shaped by both biology and culture, as multidimensional events in the mind and body of an individual that come into being in response to external and internal stimuli.“ Aus kommunikationstheoretischer Perspektive greifen Bartsch und Hübner für die Entwicklung eines allgemeinen Modells emotionaler Kommunikation auf insgesamt vier Definitionsansätze aus der Emotionspsychologie zurück: Sie beziehen sich auf neurologische Emotionstheorien, Bewertungstheorien, Definitionsansätze aus der Prototypenforschung und sozialkonstruktivistische Ansätze und kommen zu dem Ergebnis, dass emotionale Kommunikation am besten beschrieben werden kann, wenn alle diese Untersuchungsperspektiven der Emotionsforschung mit den damit verbundenen Begriffsbestimmungen in einem allgemeinen auf Emotionen bezogenen Kommunikationsmodell Berücksichtigung finden: Emotionale Kommunikation, 18–103, 310.

2.1 Emotionen in Texten: Ein kultursemiotisches Modell

31

Gefühle sind somit auf komplexe Reaktionsmuster bezogene theoretische Einheiten der Biologie, der Affektlogik, der Psychologie usw. Diese Reaktionsmuster können als eine Kombination dreier Verhaltensebenen betrachtet werden: nämlich der subjektiv-psychologischen, der motorisch-verhaltensmäßigen und der physiologisch-humoralen Ebene.8

Diese Minimaldefinition ist als begriffliche Basis für das hier verfolgte literaturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse ausreichend, da erstens eine abschließende, konkretere Definition des Phänomens ‚Emotion‘ derzeit nicht abzusehen ist und zweitens die Erarbeitung einer solchen auch nicht im Fokus dieser Untersuchung steht.9 Um Emotionsdarstellungen und emotionsbezogen rezeptionslenkende Strukturen in Texten genauer beschreiben zu können, genügt ein entsprechend grobes Begriffsverständnis. Ähnlich argumentiert Winko, wenn sie feststellt: „Was Emotionen als mentale Größen ,sind‘, läßt sich nur in einem dezisionistischen Akt festlegen.“10

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Norbert Fries, „Grammatik und Emotionen“, 39. Vgl. auch ders., „Grammatik, Emotionen und Äußerungsbedeutung“, 6. Fries verwendet den Begriff ,Gefühl‘ zur Beschreibung des psychophysischen Phänomens, ,Emotion‘ als linguistischen Terminus für sprachliche Einheiten, die Gefühle kodieren. Diese Differenzierung scheint mir aus Gründen der terminologischen Einheitlichkeit innerhalb der interdisziplinären Emotionsforschung ungünstig, da schon in der Emotionspsychologie unterschieden wird zwischen ,Gefühl‘ als die subjektive Wahrnehmung fokussierendem und ,Emotion‘ als umfassenderem Begriff, der alle der vier oben genannten Aspekte von Emotionen einschließt. Vgl. Jörg Merten, Einführung, 11. Ich werde im Folgenden den Terminus ,Emotion‘ daher in seiner emotionspsychologischen Ausprägung verwenden. Statt ,Gefühl‘ lies in der obigen Definition also ,Emotion‘. Zur Diskussion und Problematisierung der Dichotomie von Gefühl als introspektivem und Emotion als Ausdrucksbegriff vgl. auch Klaus Herding, „Emotionsforschung heute – eine produktive Paradoxie“, 7f. Meyer, Reisenzein und Schützwohl weisen darauf hin, dass eine solche abschließende Definition auch gar nicht nötig ist, um das Phänomen ‚Emotion‘ untersuchen zu können, dass diese vielmehr das Resultat der wissenschaftlichen Erforschung von Emotionen sein müsse (Wulf-Uwe Meyer, Reiner Reisenzein und Achim Schützwohl: Einführung. Bd. 1, 23). Simone Winko: Kodierte Gefühle, 73. Im Anschluss an Stephan Vogel fasst sie Emotionen daher in ähnlich weiter Form „als emergente Eigenschaften des physischen Systems“. Ebd. (Kursivdruck im Original). Da auf das zugrunde liegende Phänomen nur sehr knapp eingegangen werden konnte und viele Aspekte offen geblieben sind, sei auf einige Forschungsüberblicke verwiesen: Für die Emotionspsychologie vgl. z.B. Wulf-Uwe Meyer, Reiner Reisenzein und Achim Schützwohl, Einführung. Für die (hier ausgeklammerte) philosophische Fachdiskussion Christoph Demmerling und Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn und Voss, Narrative Emotionen. Aus Sicht der Sprachwissenschaft vgl. Monika Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, 43–88. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive bieten u.a. Henrike Alfes (Henrike Alfes, Literatur und Gefühl, 70–85) oder Simone Winko (Kodierte Gefühle, 70–78) eine zusammenfassende Darstellung. Nicht näher betrachtet wurden die neurophysiologischen Aspekte emotionalen Erlebens (vgl. dazu z.B. Joseph LeDoux, The Emotional Brain. The Mysterious Underpinnings of Emotional Life). Auf soziologische Beschreibungsansätze gehe ich weiter unten ein.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

Allgemein lassen sich Emotionen von rein kognitiven mentalen Prozessen sowie homöostatischen Trieben abgrenzen. Fries fasst unter Kognition „Ereignisse der Wahrnehmung, des Erinnerns, des Abstrahierens und des Urteilens“.11 Diese Trennung hat durchaus einen heuristischen Wert, da sie es z.B. erlaubt Emotionen anhand ihres kognitiven Gehaltes zu unterscheiden. Sie ist jedoch als eine rein analytische zu verstehen: Wie neurophysiologische Untersuchungen gezeigt haben, sind emotionale und kognitive Prozesse als eng miteinander verknüpft und in der Praxis nicht getrennt voneinander ablaufend vorzustellen.12 Homöostatische Triebe wie Hunger, Durst etc. tragen zur Stabilisierung des Organismus bei und zeigen einen zyklischen Verlauf, während Emotionen azyklisch auftreten.13 Darüber hinaus verweist das psychoanalytisch geprägte Triebkonzept auf weitere Merkmale wie Unbewusstheit und Unkontrollierbarkeit auf der Verhaltensebene, die Emotionen nicht oder zumindest nicht immer zugeschrieben werden können.14 Terminologisch muss der Begriff ‚Emotion‘ weiterhin gegen synonyme beziehungsweise verwandte Begriffe wie ‚Gefühl‘, ‚Affekt‘ oder ‚Stimmung‘ abgegrenzt werden. Erwähnt wurde bereits, dass ‚Emotion‘ hier im Anschluss an die übliche Begriffsverwendung in der Emotionspsychologie als der umfassendere Begriff gegenüber ‚Gefühl‘ angesehen wird, der stärker die introspektiv-phänomenologische Wahrnehmung einer Emotion fokussiert,15 und ‚Affekt‘, bei dem stärker die passive Erfahrung und unkontrollierbare Heftigkeit von Emotionen im Vordergrund steht.16 Im Folgenden wird also 11

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13 14

15 16

Norbert Fries, Sprache und Emotionen. Ausführungen zum besseren Verständnis. Anregungen zum Nachdenken, 38. Winko spricht von Kognition i. S. v. „,Denk-Operationen‘“ (Simone Winko, Kodierte Gefühle, 72). Auch im vorliegenden Zusammenhang genügt zur Veranschaulichung der analytischen Trennung von Emotion und Kognition ein grobes Begriffsverständnis. Vgl. z.B. Antonio R. Damasio, Descartes’ Error. Emotion, Reason and the Human Brain. Im sechsten Heft der Zeitschrift Cognition and Emotion aus dem Jahr 2007 wurde diese Annahme allerdings wiederum kritisch hinterfragt. Problematisiert wird Damasios Befund z.B. bei Andreas B. Eder, Bernhard Hommel und Jan de Houwer, „How Distinctive is Affective Processing? On the Implications of Using Cognitive Paradigms to Study Affect and Emotion“, bestätigt hingegen bei Seth Duncan und Lisa Feldman Barrett, „Affect is a Form of Cognition: A Neurobiological Analysis“. Vgl. dazu Norbert Fries, Sprache und Emotionen, 38. Vgl. dazu Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Bd. 2, 527. Vgl. Anm. 8 in diesem Kapitel. Vgl. dazu Jörg Merten, Einführung, 11. Ebenso Simone Winko, Kodierte Gefühle, 73. Die Konnotation der unkontrollierbaren Heftigkeit und überwältigenden Wirkung der Affekte resultiert aus der in der Rhetorikschelte Kants kulminierenden aufklärerischen Kritik an der barocken Affektenlehre, die bis heute nachwirkt. Vgl. dazu Dietmar Till, „Text, Kommunikation und Affekt in der Tradition der Rhetorik“, 294f sowie Birgit Recki, „Wie fühlt man sich als vernünftiges Wesen? Immanuel Kant über ästhetische und moralische Gefühle“. Fries verweist darüber hinaus darauf,

2.1 Emotionen in Texten: Ein kultursemiotisches Modell

33

von ,Emotion‘ gesprochen und gegebenenfalls näher erläutert, welche Komponente des psychophysischen Phänomens im konkreten Fall im Vordergrund steht. ,Stimmungen‘ werden in der Psychologie von ,Emotionen‘ üblicherweise durch eine längere Dauer abgegrenzt. Ergänzend wird angenommen, dass Stimmungen von ihrem Träger nicht auf unmittelbare, spezifische Reize zurückgeführt werden können: Sie seien nicht auf etwas gerichtet, werden weniger intensiv empfunden, laufen teilweise unbewusst ab.17 Dennoch wird davon ausgegangen, dass Stimmungen auf eine bestimmte Emotion verweisen können. Ein eindeutiges Distinktionskriterium für Emotionen und Stimmungen liegt derzeit also noch nicht vor. Wie bereits erwähnt, weisen Emotionen unter anderem auch eine evaluative Komponente auf, auf die sich viele Emotionsdefinitionen stützen. Für die literaturwissenschaftliche Analyse scheint mir die Eingrenzung, dass Emotionen selbstbezogene Bewertungen seien, jedoch problematisch. Fiehler etwa fasst Emotionen als „bewertende Stellungnahme“ auf.18 Er verengt damit das Phänomen auf seinen kognitiv-klassifikatorischen Aspekt. Aus Fiehlers interaktionsorientierter Perspektive ist dies eine zulässige Einschränkung. Da literarische Texte jedoch auch und gerade die nicht interaktionsrelevanten Aspekte von Emotionen darstellen können – etwa wenn physiologische Vorgänge einer emotional bewegten Figur präsentiert werden –, sollte der Bewertungsaspekt hier nicht von vornherein einseitig im Vordergrund stehen. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass die Verknüpfung emotionaler mit evaluativen Prozessen gerade für die Analyse von Emotionslenkungsstrategien interessant ist: Wenn ein Text zum Beispiel eine bestimmte emotionale Einstellung einer seiner Figuren gegenüber nahe legt, so impliziert er auch eine damit verbundene Wertung.19 Diese evaluative Komponente von Emotionen kann insofern relativ „einfach“ sein, als Emotionen hedonistisch als positiv oder negativ erfahren werden und

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dass „Gefühl“ in der Alltagssprache häufiger Verwendung findet als „Emotion“, was ebenfalls für die terminologische Verwendung von ,Emotion‘ spricht. Affekte fasst er als „angeborene rudimentäre Reaktionsmuster“ auf (Kursivdruck im Original). Vgl. Norbert Fries, „Sprache, Gefühle, Emotionen und emotionale Szenen”, 8. Vgl. hierzu z.B. Jörg Merten, Einführung, 11; Simone Winko, Kodierte Gefühle, 77f; Wolfgang Lenzen, „Grundzüge einer philosophischen Theorie der Gefühle“, 90. Reinhard Fiehler, Kommunikation und Emotion, 36f, 40, etc. Fiehler selbst weist darauf hin, dass emotionale evaluative Prozesse einen stärkeren Ich-Bezug bei Bewertungsvorgängen aufweisen als „rein“ evaluative, die eher objektzentriert ablaufen. Reinhard Fiehler, Emotion und Kommunikation, 49. Die bewertende Komponente von Emotionen hebt auch Jahr hervor: Silke Jahr, Emotionen und Emotionsstrukturen in Sachtexten. Ein interdisziplinärer Ansatz zur qualitativen und quantitativen Beschreibung der Emotionalität von Texten, 16, 38, 41 und öfter.

2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

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mehr oder weniger intensiv, ohne dass die dem Gefühl zugrunde liegende Wertung in jedem Fall auf ein kognitiv elaboriertes Werturteil zurückgeführt werden kann.20 Für die praktischen Erfordernisse der Textanalyse ergibt sich aus dem werthaltigen Charakter von Emotionen der Vorteil, dass Emotionsdarstellungen somit auch Rückschlüsse über zugrundeliegende Wertungen erlauben: Die in dem oben herausgearbeiteten Sinne selbstbezüglich bewertende Funktion von literarischen Emotionsdarstellungen kann jeweils kontextabhängig ermittelt werden und es lassen sich daraus Annahmen darüber ableiten, inwiefern dem Leser auf diese Weise eine bestimmte Einstellung einer Figur gegenüber oder gar die Übernahme des dargestellten Gefühls nahegelegt wird.21 Hierbei spielen innertextuelle, auch nicht emotionale Wertungen, wie noch zu zeigen sein wird, eine große Rolle. Man kann die Perspektive nämlich auch umdrehen und danach fragen, inwiefern evaluative mentale Prozesse wiederum emotionale Prozesse auslösen können. Auf diesen Zusammenhang von Emotionen und Wertungen gehe ich unter dem Stichwort ,Sympathie‘ in Kapitel 2.4.1.3 ein. Allgemein ist davon auszugehen, dass z.B. Normverstöße, die in einem literarischen Text thematisiert werden, starke moralische Gefühle bei ihren Rezipienten auslösen können. Grundsätzlich sollte daher unterschieden werden zwischen den werthaltigen Anteilen von Emotionen und allgemein werthaltigen Textmerkmalen, die unter Umständen emotionale Reaktionen beeinflussen können. Mit diesen knappen Bemerkungen unter Verweis auf ausführlichere Forschungsüberblicke ist das zugrunde liegende Phänomen erst einmal grob umrissen. Wie können nun aber Emotionen durch Sprache dargestellt werden? Um diese Frage zu beantworten, wird im Folgenden ein kultursemiotischer Ansatz im Anschluss an Winko vertreten.22 Dieser bietet gerade für literarische Kommunikationsprozesse gute Anknüpfungspunkte und seine theoretischen Voraussetzungen sind deswegen gut mit dem weiter unten erläuterten inferenzbasierten Verstehensmodell vereinbar.

2.1.2 Emotionen und Sprache Neben den wissenschaftlichen Arbeitsdefinitionen existiert auch ein Alltagsverständnis von Emotionen, das z.B. wie folgt konzeptualisiert werden kann: Gefühle existieren primär in unserem Inneren.

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21 22

Fries differenziert bei seiner Analyse nicht eingebetteter syntaktischer Strukturen in „positiver/ negativer Affekt (...) Intensität des Affekts (...) emotionale Nähe (...).“ Norbert Fries, „Grammatik und Emotionen“, 56. Auch Jahr listet unter den von ihr gebildeten Emotionsgruppen nur die Bewertung ,positiv‘ oder ,negativ‘ auf. Außerdem verweist sie auf verschiedene I-Variablen, die die Intensität einer Emotion beeinflussen. Silke Jahr, Emotionen und Emotionsstrukturen, 25–28, 44. Vgl. dazu Simone Winko, Kodierte Gefühle, 101. Vgl. ebd.

2.1 Emotionen in Texten: Ein kultursemiotisches Modell

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Gefühle sind etwas Privates. [...] Gefühle können auf unserer Oberfläche Ausdruck finden [...]. Sie können aber auch verborgen oder beherrscht werden. Gefühle sind nicht immer vorhanden. [...] Gefühle sind dynamische Erscheinungen. [...] Gefühle sind ein Widerfahrnis und eine fremde Macht. [...] Gefühle können uns zu ungewollten Handlungen veranlassen. [...] Es gibt verschiedene, abgrenzbare Gefühle. [...] Es gibt angenehme und unangenehme Gefühle. Es ist möglich, dass man sich über seine Gefühle nicht im klaren ist. Gefühle bilden eine eigene Welt und stehen im Gegensatz zu Verstand und Denken. Gefühle sind authentisch und verlässlich. [...] Es gibt Gefühlsmenschen und gefühlslose Menschen. [...]23

Dieses Alltagsverständnis von Emotionen weicht zum Teil von der wissenschaftlichen Konzeptualisierung ab, ist in sich nicht vollständig konsistent und hebt einzelne Aspekte emotionalen Erlebens stärker hervor. Da alltagspsychologische Annahmen über die „Natur“ unserer „Gefühle“ auf die Vorstellungen einer Gesellschaft von emotionalen Phänomenen einwirken, ist es für die Rekonstruktion emotionaler Kommunikationsprozesse wichtig, das allgemeine Emotionskonzept der zu untersuchenden Epoche, Gesellschaft oder auch nur Person sowie die damit verbundenen Annahmen über einzelne Emotionen zu rekonstruieren.24 Solche Emotionskonzepte prägen die Art und Weise, wie in einer Gesellschaft über Emotionen gesprochen wird und beeinflussen damit auch die Emotionsdarstellungen in literarischen Texten – sei es durch Übernahme eines Konzeptes und des damit verbundenen Sprachgebrauches oder durch Abgrenzung gegenüber der alltagspsychologischen Konzeptualisierung von Emotionen. Die problematische Frage hingegen, ob es Basisemotionen gebe – Emotionen also, die anthropologisch konstant und von Geburt an erfahrbar sind –, klammere ich an dieser Stelle aus.25 Als Kandidaten für Basis- oder Primäremotionen gehandelt werden 23 24

25

Reinhard Fiehler, Emotion und Kommunikation, 41f. Winko z.B. tut dies für die Zeit ,Um 1900‘, indem sie sowohl das Alltagsverständnis von ,Gefühl‘ als auch den wissenschaftlichen Emotionsdiskurs der Zeit rekonstruiert sowie poetologische Aussagen von Lyrikern der Zeit auf das zugrunde liegende Emotionskonzept hin untersucht. Ähnlich, mit einem Fokus auf wissenschaftlichen Konzeptualisierungen von Gefühl verfährt auch der von Uffa Jensen und Daniel Morat herausgegebene Sammelband Rationalisierungen des Gefühl Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880–1930. Vgl. dazu sowie allgemeiner zum Verhältnis von biologischen und sozialen Faktoren bei der Emotionsgenese zusammenfassend Anne Bartsch und Susanne Hübner, Emotionale Kommunikation, 94–102.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

unter anderem Ärger, Angst, Freude und Trauer. Auch wenn die Diskussion um den Grundbestand menschlicher Emotionen und darüber, welche Emotionen dieser Gruppe zuzurechnen seien, noch offen ist, so gibt diese Liste doch einen ersten Anhaltspunkt für wissenschaftliche Konzeptualisierungen von Emotionen.26 Welche sprachlichen Ausdrücke bezeichnen nun Emotionen und welche nicht? Zur Klärung dieser Frage scheint mir ein prototypensemantischer Ansatz sinnvoll zu sein. So gibt es Begriffe, die besonders „gut“ eine Emotion bezeichnen, wie z.B. „Traurigkeit“, und andere, die dies weniger eindeutig tun, wie z.B. „Niedergeschlagenheit“, womit eher eine Stimmung bezeichnet sowie eventuell ein körperlicher Erschöpfungszustand angezeigt werden soll. Vertreter des prototypischen Ansatzes gehen davon aus, dass es kein Set notwendiger und zusammen hinreichender Bedingungen gibt, damit eine Emotion einem bestimmten Begriff zugeordnet werden kann.27 Sie schlagen eine schematheoretische semantische Füllung von Emotionswörtern vor: To know the sense of a term like anger, fear, or jealousy is to know a script for that emotion. The present hypothesis is that the meaning of each such term, the concept it expresses, is a script. [...] Nevertheless, few or no features of the script are necessary; rather, the more features present, the closer the resemblance and the more appropriate the script label.28

Emotionskonzepte werden demnach durch die Annahme einer für sie charakteristischen Abfolge von Ereignissen in einem feststehenden situativen Rahmen gebildet. Diese stereotypen Vorgaben werden anschließend mit einem Emotionsbegriff belegt. Nicht alle Teile des Skripts müssen realisiert werden, um eine Emotion beispielsweise als „Ärger“ bezeichnen zu können: „Membership in an emotion class is considered a matter of degree based on the similarity with the corresponding emotion prototype.“29 In literaturwissenschaftlichen Arbeiten wird mitunter vermutet, dass die Wirkung literarischer Emotionsdarstellungen davon abhängt, welche Teile des jeweiligen Skripts oder Schemas wie kongruent zu eigenen emotionalen Erfahrungen dargestellt werden.30 Allerdings ist bisher unklar, wie der Grad dieser Schemakongruenz genau zu ermitteln wäre. Analog zum schematheoretischen Ansatz nehmen auch kognitiv ausgerichtete philosophische Emotionstheorien häufig an, dass Emotionskonzepte und die mit ihnen verbundenen Begriffe narrativ verfasst, also an eine spezifische Situation und eine typische Verlaufsform geknüpft sind. Christiane Voss z.B. sieht die Einheit menschlicher Emotionen in der narrativen Verknüpfung der einzelnen für diese charakteris26

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Vgl. Heinz-Günter Vester, Emotion, Gesellschaft und Kultur. Grundzüge einer soziologischen Theorie der Emotionen, 32f. Vgl. dazu Marc Schröder, Speech and emotion research. An Overview of Research Frameworks and a Dimensional Approach to Emotional Speech Synthesis, 23f. Vgl. ausführlicher zum Prototypenansatz in der Emotionspsychologie Bartsch/Hübner: Emotionale Kommunikation, 62–81. James A. Russell, „In Defense of a Prototype Approach to Emotion Concepts“, 39. Marc Schröder, Speech and emotion research, 23. Vgl. z.B. Katja Mellmann, Emotionalisierung, 52.

2.1 Emotionen in Texten: Ein kultursemiotisches Modell

37

tischen intentionalen, behavioralen, körperlich-perzeptiven und hedonistischen Komponenten begründet.31 Bei der lexikographischen Erfassung von Emotionswörtern geht man mittlerweile davon aus, dass die bloße Angabe subjektiver Erlebnisqualitäten für die Erfassung des emotionalen Wortschatzes nicht ausreicht. Unter Rekurs auf Wittgenstein hält Sabine Plum fest: Zur Beschreibung dieser Sprachspiele und Verhaltensmodelle würde unter anderem die Angabe von emotionserzeugenden Anlässen und von konventionalisierten Formen emotionalen Benehmens gehören, Faktoren, die sicher nicht im Sinne der traditionellen Definitionslehre als notwendige Merkmale interpretiert werden dürfen, die aber wohl einen stereotypischen Rahmen für den Gebrauch von Gefühlswörtern konstituieren.32

Mit einem prototypischen Ansatz lässt sich zwischen einfachen und komplexen Emotionen unterscheiden: Komplexe Emotionen sind im Gegensatz zu einfachen mit mehreren Skripts verbunden.33 So sind z.B. Ärger oder Freude einfache Emotionen im Vergleich zu Hass oder Liebe, die unter anderem auf die basalen Skripts Ärger und Freude rekurrieren. Ebenso wie die alltagsweltliche Konzeption von Emotionen im allgemeinen sind auch die Skripts, die einzelnen Emotionen zugrunde liegen, historisch und sozial variabel und müssen kulturhistorisch und schichtenspezifisch rekonstruiert werden. Mit der Frage nach Alltagsverständnis von Emotionen und lexikographischer Explikation von Emotionswörtern ist schon die Brücke geschlagen zu soziologischen Arbeiten, die sich mit der Analyse von Emotionen befassen. Bereits an den Arbeiten soziologischer Klassiker wie Simmel, Durkheim oder Weber lässt sich zeigen, dass Emotionen eine wichtige Rolle für die Konstitution gesellschaftlicher Strukturen zugestanden wird – auch wenn diese Rolle erst spät Ausgangspunkt für soziologische Forschungen wurde.34 Systematisch hat sich als erster für den deutschen Sprachraum Jürgen Gerhards mit der soziologischen Analyse von Emotionen befasst. Er betrachtet „Emotionen als Ergebnis des Zusammenspiels der Systeme Organismus, Persönlichkeit, Sozialsystem und Kultur.“35 Im Fokus des soziologischen Forschungsinteresses stehen dabei die Beteili31 32

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Vgl. Christiane Voss, Narrative Emotionen, 184f. Sabine Plum, „Gefühlswörter im Wörterbuch. Überlegungen zur lexikographischen Bedeutungserläuterung des emotionalen Wortschatzes”, 172. Simone Winko, Kodierte Gefühle, 92. Vgl. dazu Helena Flam, Soziologie der Emotionen. Eine Einführung, 15–89; Jürgen Gerhards, Soziologie der Emotionen. Fragestellungen, Systematik und Perspektiven, 24–51. Besonders interessant für den Zusammenhang dieser Arbeit ist die von Max Weber vertretene Auffassung, Emotionen seien symbolisch soziale Konstrukte. Vgl. Jürgen Gerhards, Soziologie der Emotionen, 32, 50. Bartsch und Hübner beispielsweise halten fest, dass insgesamt drei Verarbeitungsebenen mentaler Prozesse unterschieden werden können, die Emotionen generieren: angeborene Reiz-Reaktionsmuster, assoziative Schemata und symbolisches Denken. Anne Bartsch und Susanne Hübner, Emotionale Kommunikation, 109. Jürgen Gerhards, Soziologie der Emotionen, 190, 208.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

gung von Sozialsystem und Kultur an der Emotionsgenese, -deutung, -präsentation etc. Physiologische Aspekte werden als Umweltdatum, als Ausgangspunkt für die Interpretation der emotionalen körperlichen Erregung berücksichtigt.36 Den Einfluss der Sozialstruktur auf die Entstehung von Emotionen sieht Gerhards im Anschluss an Theodore Kemper vor allem in der wechselseitigen Interpretation der Dimensionen ,Status‘ und ,Macht‘ durch verschiedene Interaktionspartner. Besonders die Änderung dieser Dimensionen setzt emotionale Prozesse in Gang.37 Die kulturelle Dimension emotionaler Prozesse ist nach Gerhards sowohl unmittelbar als auch mittelbar spürbar: „Kultur prägt das Fühlen zum einen direkt via Gefühlsregeln, zum zweiten durch Kodierung von Sozialstruktur und zum dritten durch kulturelle Definitionen von Identität.“38 Allerdings betont Gerhards, dass Emotionen erst durch die Konstruktionsleistung des Individuums entstehen, dementsprechend nicht durch Kultur und Sozialsystem determiniert sind.39 Er verbindet so den positivistischen Zugriff Kempers mit sozialkonstruktivistischen Ansätzen.40 Die Tatsache, dass Emotionen auch als kulturell kodiert aufgefasst werden können, damit partiell typisiert und intersubjektiv nachvollziehbar sind, rechtfertigt die literaturwissenschaftliche Analyse von Texten im Hinblick auf Emotionen auch ohne empirische Verfahren. Die Frage, wie die kulturelle Kodierung von Emotionen vor sich geht, muss dazu genauer betrachtet werden: Fiehler nennt in seiner interaktionsorientierten, diskursanalytisch ausgerichteten Studie zum Verhältnis von Emotionen und Kommunikation vier verschiedene basale Emotionsregeln, die die Genese, die Manifestation, eine korrespondierende Reaktion und die Kodierung von Emotionen betreffen: Wenn eine Situation gedeutet wird als vom Typ X, ist es angemessen und wird sozial erwartet, ein emotionales Erleben vom Typ Y zu haben. [...] Wenn eine Situation gedeutet wird als vom Typ X, ist es angemessen und wird sozial erwartet, Manifestationen des Typs Y in interaktionsrelevanter Weise zu zeigen. [...] Wenn gedeutet wird, dass der Interaktionspartner die Emotion X hat, dann ist es angemessen und wird sozial erwartet, daß man eine korrespondierende Emotion Y hat und/oder interaktionsrelevant manifestiert. [...] Wenn unter den Bedingungen B1-Bn die Verhaltensweise X bzw. die Verhaltensweisen X1-Xn auftreten, dann gilt dieses als Manifestation der Emotion Y.41

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Jürgen Gerhards, Soziologie der Emotionen, 194. Umgekehrt kann die Interpretation einer Situation auch eine körperliche Erregung hervorrufen. Vgl. ebd. 195. Ebd. 198. Ebd. 204. Gerhards legt einen Kulturbegriff zugrunde, der „ein System kollektiver Sinnkonstruktionen, [...] Schemata der Weltinterpretation“, „normative Deutungssysteme der Welt“ meint und als Gegenbegriff zu Sozialstruktur zu verstehen ist. Ebd. 200, 208. Ebd. 208. Vgl. dazu Helena Flam, Soziologie der Emotionen, 127–136 sowie allgemein zu sozialkonstruktivistischen Ansätzen innerhalb der Emotionspsychologie Anne Bartsch und Susanne Hübner, Emotionale Kommunikation, 82–103. Reinhard Fiehler, Emotion und Kommunikation, 78–80.

2.1 Emotionen in Texten: Ein kultursemiotisches Modell

39

Tatsächlich empfundene Emotionen und Emotionsmanifestation sind folglich nicht gleichzusetzen: Emotionen werden in der Regel den Emotionsregeln adäquat manifestiert. Dementsprechend müssen Emotionsmanifestationen keine Emotionen zugrunde liegen oder empfundene Emotionen können bewusst nicht manifestiert werden. Dies hängt davon ab, ob die Emotionen des Interaktionspartners mit der jeweiligen Emotionsregel korrespondieren und inwieweit er bereit ist, sich auch gegen eigenes Empfinden den sozial ausgehandelten Emotionsregeln anzupassen.42 Die Umgestaltung und Neukonstruktion von Emotionen durch Emotionsregeln lässt sich als Emotionsarbeit bezeichnen.43 Die einer Gesellschaft zugrunde liegenden Emotionsregeln verändern sich auf der diachronen Ebene und sind synchron sozial diversifiziert,44 müssen also je nach Zeitabschnitt und gegebenenfalls auch für die jeweilige soziale Gruppe rekonstruiert werden. Für literarische Texte bleibt festzuhalten, dass sie auch und gerade die nicht interaktionsrelevanten Aspekte emotionalen Erlebens darstellen können. Die Schilderung emotional kodierter Situationen in literarischen Texten erlaubt unter Zuhilfenahme der entsprechenden Emotionsregel jedoch Rückschlüsse auf vorhandene oder zumindest stereotyp erwartbare Emotionen. Was genau ist aber darunter zu verstehen, wenn man davon spricht, dass Emotionen kulturell kodiert werden? Ein ausgearbeitetes Modell hat in diesem Zusammenhang Heinz-Günter Vester vorgelegt. Er geht davon aus, dass Emotionen einen dritten Kode – neben dem sprachlichen und dem bildlichen – im Informationsverarbeitungsprozess lebender Systeme bilden. Der Emotionskode ist partiell in die beiden anderen Kodes übersetzbar.45 Gleichzeitig sind Emotionen nach Vester aber selbst schon kodiert: Ihre En- und Dekodierung ist von Kontextwissen abhängig.46 Vesters Modell ist somit dazu geeignet, sowohl die subjektive Erlebniskomponente von Emotionen als auch die Frage ihrer intersubjektiven Vermittelbarkeit (zumindest partiell) auf kulturelle Konventionen zu beziehen. Fünf Aspekte kennzeichnen laut Vester die doppelte Kodestruktur von Emotionen: - „Codes repräsentieren das kollektive Wissen über Emotionen.“47 Emotionen müssen dazu nicht selbst erfahren werden, um als solche identifiziert werden zu können. Vielmehr wird das kollektive Wissen über sie auch medial vermittelt und dies „in oft prototypischer Form.“48

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Fiehler spricht in diesem Zusammenhang von „Emotionsregulation“. Vgl. Reinhard Fiehler, Emotion und Kommunikation 87–93. Vgl. dazu Helena Flam, Soziologie der Emotionen, 130, die von „Gefühlsarbeit“ spricht. Vgl. Reinhard Fiehler, Emotion und Kommunikation, 85. Heinz-Günter Vester, Emotion, Gesellschaft und Kultur, 76. Ebd. Vester legt hier Ecos Kodebegriff zugrunde, der Kode als ein System kultureller Konventionen versteht. Vgl. dazu Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 220. Heinz-Günter Vester, Emotion, Gesellschaft und Kultur, 94 (Kursivdruck im Original). Ebd. 94.

2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

40

„Codes formen die Emotionen.“49 Die Herausbildung emotionaler Prototypen regelt in einer Gesellschaft, welche Emotionen häufiger auftreten und als „richtig“ oder „wahr“ gelten. Dies geschieht in Abhängigkeit von „sozialen Problemlagen und [...] von kulturellen Orientierungen und Werthaltungen.“50 - „Codes aktualisieren die Emotionen.“51 Emotionskodes verbinden bestimmte soziale und kulturelle Konstellationen mit entsprechenden Emotionen, so dass eine bestimmte emotionale Reaktion auf eine ihr zugeordnete Konstellation wahrscheinlich wird. Der Grad der Vorhersagbarkeit hängt davon, ob es sich um eine stark typisierte Konstellation handelt. - „Codes kontrollieren die Emotionen.“52 Die angemessene oder unangemessene Präsentation von Emotionen wird durch Kodes vorgegeben. - „Das Verhältnis zwischen dem System der Codes und dem der Emotionen ist durch eine unauflösliche Inkommensurabilität gekennzeichnet; d.h., der Code geht niemals vollständig auf, codiert nicht alles und jedes in einem eindeutigen Entsprechungsverhältnis von eins zu eins. Zwangsläufig treten Über- und Untercodierungen auf [...].“53 Beispielhaft für eine Überkodierung nennt Vester den Bereich der Liebeslyrik, in dem die zugrunde liegende Emotion zusätzlich zum propositionalen Gehalt des einzelnen Textes unter anderem auch durch intertextuelle Bezüge und formale Überstrukturierung kodiert wird. Umgekehrt sind beispielsweise Begegnungen mit fremden Kulturen bekanntlich oft deswegen problematisch, weil Emotionen für den hinzukommenden Beobachter unterkodiert sind und das nötige Kontextwissen fehlt, um ein bestimmtes Verhalten der Emotion zuordnen zu können, auf die es innerhalb dieser Kultur verweisen soll. An Vesters Modell anschließend verortet Winko dieses kodifizierte kulturelle Wissen über Emotionen sowohl im deklarativen als auch im prozeduralen Gedächtnis.54 Prozedurales Wissen fasst Winko im Anschluss an Klaus Foppa als auf sozialen Konventionen basierendes Wissen und Wissen, das auf der Kenntnis sachverhaltsbezogener Abläufe basiert.55 Im deklarativen Gedächtnis wird Wissen über Emotionen propositional wie auch episodisch gespeichert. Propositionales Wissen wird durch Abstraktion und sprachliche Vermittlung gewonnen,56 episodisches Wissen wird individuell erworben und hängt von den jeweiligen autobiographischen Erfahrungen des erlebenden Subjekts -

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Heinz-Günter Vester, Emotion, Gesellschaft und Kultur, 95 (Kursivdruck im Original). Ebd. Ebd. (Kursivdruck im Original). Ebd. (Kursivdruck im Original). Ebd. 96 (Kursivdruck im Original). Simone Winko, Kodierte Gefühle, 80. Ebd. 79. Vgl. ebd.

2.2 Zum Verhältnis von Textstruktur und Wirkungspotenzial

41

ab.57 Die Explikation dieses Wissens über Emotionen aus allen Bereichen des kulturellen Gedächtnisses kann helfen die Analyse von Emotionen und Emotionslenkungsstrategien in literarischen Texten sinnvoll zu kontextualisieren. Es kann je nach Fragestellung sowohl kulturhistorisch wie auch schichten- oder gruppenspezifisch oder für einen einzelnen Autor rekonstruiert werden. Das hier knapp umrissene kultursemiotische Emotionsmodell ist besonders geeignet, um zu erklären, wie Emotionen aufgrund welcher Wissensbestände sprachlich dargestellt und anschließend kommuniziert werden können. Es bietet somit den theoretischen Rahmen, der es erlaubt, Emotionsdarstellungen in Texten zu analysieren.58 Wie wirken sich diese Emotionsdarstellungen dann aber im Rezeptionsprozess aus? Und gibt es noch andere, nicht unbedingt emotional konnotierte Strukturen, die zu emotionalen Rezeptionswirkungen führen? Bevor diese Fragen geklärt werden können, muss zuerst erläutert werden, warum und wie es möglich sein soll, Wirkungshypothesen mit Hilfe von Beschreibungen von Textmerkmalen aufzustellen.

2.2 Zum Verhältnis von Textstruktur und Wirkungspotenzial Geht man davon aus, dass auch literarische Kommunikationsprozesse aufgrund eingespielter Mechanismen, Regeln und Konventionen zumindest dann in den meisten Fällen einigermaßen, ,gelingen‘, wenn Autoren und Leser unter annähernd gleichen kulturellen Voraussetzungen agieren, dann ist zu vermuten, dass empirische Untersuchungen ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen intendierten und faktischen Emotionen nachweisen können.59

Die vorliegende Studie geht davon aus, dass literarische Rezeptionsprozesse zumindest partiell über die Beschreibung von zugrunde liegenden regelhaften Prozessen und damit in Form eines kommunikativen Aktes erklärt werden können. Unter dieser Prämisse erscheint es sinnvoll anzunehmen, dass auch die Merkmale der Kommunikate selbst, in diesem Fall narrativer literarischer Texte, regelgeleitet Einfluss auf den Empfänger nehmen. Dies begründet die genaue Beschreibung der Struktur dieser Kommunikate unter Berücksichtigung ihrer rezeptionslenkenden Wirkung im Hinblick auf Emotionen. Die Annahme, dass bestimmte Eigenschaften eines Textes Auswirkungen auf dessen Rezeption haben, ist bekanntlich weder neu noch originell. Schon die Lehren der antiken Rhetorik bauen auf dieser Voraussetzung auf. So zeigt sich die rhetorische Befähigung eines Redners bekanntlich darin, ob es ihm gelingt, auf die Affekte des Publikums und des Richters zweckorientiert einzuwirken in solchen Fällen, in denen eine Entscheidung schwer oder gar nicht unter Rückgriff auf die eigene Sachkenntnis 57 58

59

Vgl. Simone Winko, Kodierte Gefühle, 79. Auf welche Weise Emotionen in literarischen Texten sprachlich kodiert werden können, wird in Abschnitt 2.4.1.2.1 erläutert. Thomas Anz, „Literaturwissenschaftliche Text- und Emotionsanalyse“, 51.

42

2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

getroffen werden kann. Die affekterregende Redewirkung wird auch auf den Gebrauch bestimmter Redeformen der elocutio, inhaltlicher wie struktureller sprachlicher Mittel also, zurückgeführt. Allerdings wird der Zusammenhang zwischen Textmerkmalen und Wirkungsarten im Laufe der langen historischen Tradition der Rhetorik jeweils unterschiedlich bestimmt. In der Scholastik beispielsweise ging man von einem impliziten stimulus-response-Modell aus, indem eine eindeutige Zuordnung von Textmerkmalen und affekterregender Wirkung angenommen wurde, in anderen Rhetoriklehrbüchern wird ein solcher eindeutiger Entsprechungszusammenhang nicht vorausgesetzt.60 Grundsätzlich kann angenommen werden, dass dieses rhetorische affektinduzierende Wissen noch heute in verschiedenen Gesellschaftsbereichen mehr oder weniger stark wirksam ist, wenn auch in reduzierter, nicht systematischer Form.61 Auch innerhalb des rezeptionsästhetischen Paradigmas der Literaturwissenschaft, genauer in Wolfgang Isers Konzept einer Wirkungsästhetik, wird vorausgesetzt, dass Aussagen über die Wirkung eines Textes aufgrund von dessen Struktur getroffen werden können. Generell ist davon auszugehen, dass keine Interpretation eines literarischen Textes ohne implizite Annahmen über dessen mögliche Wirkung auskommt – mindestens in Form von Annahmen über mögliche „Verstehensleistungen“ in einem weiten Sinn. Da solche Wirkungsannahmen im vorliegenden Fall jedoch im Zentrum der Überlegungen stehen, sei an dieser Stelle etwas ausführlicher darauf eingegangen, was genau darunter zu verstehen ist, wenn vom Wirkungspotenzial eines Textes die Rede ist.

2.2.1 Probleme der Wirkungsästhetik Innerhalb des rezeptionsästhetischen Paradigmas der Literaturwissenschaft finden sich auch textzentrierte Ansätze, die auf der Basis einer genauen Beschreibung von Strukturen literarischer Texte Aussagen über deren Wirkung treffen wollen. Beispielhaft wird dazu hier kurz das von Iser entwickelte Konzept einer Wirkungsästhetik62 erläutert.

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Vgl. dazu Dietmar Till, „Text, Kommunikation und Affekt in der Tradition der Rhetorik“, 298– 300. Vgl. Gert Ueding und Bernd Steinbrink, Grundriß der Rhetorik. Geschichte . Technik . Methode, 158 sowie Dietmar Till, „Text, Kommunikation und Affekt in der Tradition der Rhetorik“, 286f. Zur Terminologie: Die Bezeichnungen „Wirkungsästhetik“ und „Rezeptionsästhetik“ werden teilweise auch synonym verwendet. Um zu betonen, dass es sich im Falle der von Iser vertretenen Spielart wirkungsbezogener Zugänge zu literarischen Texten um einen stärker textzentrierten Ansatz als bei rezeptionsgeschichtlichen Zugängen handelt, werde ich im Folgenden von „Wirkungsästhetik“ sprechen. Vgl. dazu „Einführung“, in Wissenschaft und Systemveränderung. Rezeptionsforschung in Ost und West – eine konvergente Entwicklung? Hrsg. v. Wolfgang Adam, Holger Dainat und Gunter Schandera, 13. Insgesamt ist die Rezeptionsästhetik, wie sie die Konstanzer

2.2 Zum Verhältnis von Textstruktur und Wirkungspotenzial

43

Isers methodisches Vorgehen, Interpretationen von literarischen Texten unter Einbeziehung von Erkenntnissen der Rezeptionsforschung vorzunehmen, deckt sich grundsätzlich mit dem hier vertretenen Ansatz und bietet insofern einen guten Ausgangspunkt für allgemeine Überlegungen zum Verhältnis von Textstrukturen und deren Wirkungspotenzial. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Kritik an den Grundbegriffen, mit deren Hilfe Iser seine Textanalysen vornimmt, bedenkenswert. So ist zum einen häufig deren begriffliche Unschärfe kritisiert worden. Zum anderen ist problematisch, dass Iser von einem stark normativen Literaturbegriff ausgeht und seine Analysekategorien vor diesem Hintergrund entwickelt. Die Kritik an einzelnen Begriffen sollte aber nicht vorschnell zu dem Schluss verleiten, das Vorhaben einer wirkungsbezogenen Beschreibung von Textmerkmalen für unmöglich zu erklären. Vielmehr können die von Iser vorgeschlagenen Analysekategorien gerade daraufhin überprüft werden, inwiefern sie Anhaltspunkte für die Entwicklung eines eigenständigen wirkungsbezogenen Analysemodells liefern können. Näher einzugehen ist daher auf die Begriffe ,Erwartungshorizont‘, ,Unbestimmtheits- und Leerstellen‘, ,Negationspotenzial‘ und ,Aktualisierung‘ beziehungsweise ,Konkretisation‘ sowie auf denjenigen des ,impliziten Lesers‘: „,Aktualisierung‘ meint die „Entfaltung des Textes durch die Lektüre“63. Mit der Einführung dieses Terminus trägt Iser der schlichten Tatsache Rechnung, dass Textmerkmale nur als solche beschrieben werden können, wenn sie von jemandem rezipiert werden. Der Begriff betont einerseits also den Prozesscharakter des Lesens, impliziert darüber hinaus aber eine starke Abhängigkeit des Textverständnisses von der Textstruktur: Ein durch diese vorgegebener Rezeptionseffekt wird im Leseprozess lediglich reproduziert. Diese Annahme steht im Widerspruch zu den Erkenntnissen der empirischen Literaturwissenschaft wie auch zur gängigen Interpretationspraxis innerhalb der Literaturwissenschaften.64 Teilweise verwendet Iser alternativ auch den neutraleren Begriff der ,Konkretisation‘, der offen lässt, wie genau text- und leserseitige Anteile im Rezeptionsprozess zusammenwirken. Methodisch verbindet sich mit dieser Terminologie der Anspruch der Wirkungsästhetik, einen Rezeptionsvorgang, in erster Linie im Hinblick auf die Bedeutungskonstitution beim Lesen, zu simulieren. Zwei Punkte sind bei der Simulation dieses Rezeptionsprozesses allerdings unklar: zum einen, wie das Zusammenwirken von Texteigenschaften und Leserdispositionen konzeptuell genau gefasst und anschließend für die Textanalyse operationalisiert werden kann, oder anders gesagt, wie Prozesse der Rezeptionslenkung beschrieben werden können – Iser spricht hier zwar vom „impliziten Leser“, jedoch ist unklar, was genau unter diesem Begriff zu

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Schule um Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser vertrat, damit stärker textzentriert ausgerichtet als die in der damaligen DDR vertretene Richtung der Rezeptionsforschung. Vgl. ebd. 19. Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, 6. Vgl. z.B. für die empirische Literaturwissenschaft Gunnar D. Hansson, „Emotions in Poetry: Where Are They and How Do We Find Them?“ oder die in Abschnitt 3.2 erwähnte Vielzahl der Schloß-Interpretationen.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

verstehen ist65 –; zum anderen, wie die Simulation eines solchen Prozesses konkret aussehen kann und auf welche Wirkungen diese bezogen sein soll. Dies wird nicht theoretisch ausformuliert, kann jedoch zum Teil aus Isers Interpretationspraxis erschlossen werden.66 Hier zeigt sich, dass Isers Erkenntnisinteresse primär den kognitiven Vorgängen bei der Lektüre gilt. So geht es ihm um „Sinnvollzüge“67, die während des Leseprozesses beobachtet und beschrieben werden können. Was genau mit dem Begriff „Sinnvollzüge“ gemeint ist, wird nicht ganz deutlich; Iser differenziert nicht hinsichtlich emotionaler und kognitiver Wirkungen im Rezeptionsprozess. Allerdings geht es ihm in der Interpretationspraxis in der Regel um in erster Linie kognitive Verstehensprozesse von Makrostrukturen literarischer Texte. Dennoch scheint er davon auszugehen, dass Sinnkonstitution auch von emotionalen Wirkungen begleitet ist, wenn er zum Beispiel konstatiert: „Sinn als Wirkung macht betroffen, und eine solche Betroffenheit ist durch Erklärung gar nicht mehr aufhebbar, sondern läßt diese eher scheitern.“68 Damit impliziert er einerseits, dass Verstehensprozesse beim Lesen immer auch von Emotionen begleitet sind, unterstellt aber andererseits, dass diese einer wissenschaftlichen Erklärung nicht mehr zugänglich seien.69 Vermutlich ist daher der Zusammenhang zwischen emotionalen und kognitiven Prozessen bei Iser theoretisch auch nicht weiter ausgefaltet. Problematisch ist, dass Isers Textanalysen trotz seiner anders lautenden programmatischen Äußerungen dazu tendieren, festschreibende Interpretationen eines Werks zu liefern. So nennt er beispielsweise in Auseinandersetzung mit Samuel Becketts Roman Murphy drei Interpretationsmöglichkeiten, die jedoch in einer klaren Deutungshierarchie stehen: Als „beste“ Sinnkonstitution erweist sich diejenige, die die ideologiekritische Wirkungsabsicht des Textes erkennt.70 Diese Setzung hängt eng mit Isers normativem Literaturbegriff zusammen, der auch die anderen von Iser eingeführten Analysekategorien inhaltlich festlegt: Er geht davon aus, dass Literatur „nicht-affirma65

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70

So meint der Begriff keinen fiktiven oder realen Leser, jedoch auch keinen idealen oder vom Autor intendierten. Vielmehr scheint der Begriff dazu zu dienen, metaphorisch rezeptionslenkende Textstrukturen zu umschreiben: „Der implizite Leser meint den im Text vorgezeichneten Aktcharakter des Lesens und nicht eine Typologie möglicher Leser.“ Wolfgang Iser, Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, 9. Bei seinen Textanalysen nimmt er zwar keine Gattungsdifferenzierung vor, wählt als Beispiele jedoch hauptsächlich Erzähltexte aus, sodass sein Vorgehen prinzipiell den im zweiten Teil dieser Arbeit vorgestellten, ebenfalls auf Erzähltexte ausgerichteten Textanalysen vergleichbar ist. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, 8, 36, 42 und öfter. Ebd. 22f. Vgl. dazu auch: „Nahezu jede in fiktionalen Texten ausmachbare Struktur zeigt diesen Doppelaspekt: sie ist Sprachstruktur und affektive Struktur zugleich. Der verbale Aspekt steuert die Reaktion und verhindert ihre Beliebigkeit; der affektive Aspekt ist die Erfüllung dessen, was in der Sprache des Textes vorstrukturiert war.“ Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, 39f. Ebd. 269f.

2.2 Zum Verhältnis von Textstruktur und Wirkungspotenzial

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tiv“, „ideologiekritisch“, „partial“, „innovativ“ oder „systemkritisch“ sein solle,71 und wählt dementsprechend für seine Analysen nur solche Beispiele aus, die diesem Literaturbegriff entsprechen. In erster Linie sind es darüber hinaus Konkretisationen von Makrostrukturen, zumeist in Form von ganzen Romantexten, die Iser aus wirkungsästhetischer Perspektive beschreibt. Für eine rezeptionsbezogene Beschreibung von Textstrukturen müssten jedoch prinzipiell auch kürzere Textausschnitte in den Blick genommen werden, wenn die Rede von der Beschreibung eines Rezeptionsprozesses ernst genommen werden soll, wenn also, anders gesagt, auch lokal begrenzte Rezeptionseffekte beschrieben und erklärt werden sollen. Mit dieser Vorgabe einer dominant ideologiekritischen Funktion von Literatur führt Iser zwei weitere Begriffe ein, die diese ideologiekritische Wirkung genauer beschreiben helfen sollen: denjenigen des ,Erwartungshorizonts’ sowie denjenigen des ,Negationspotenzials‘. Der Begriff ,Erwartungshorizont‘ ist als eine primär beim Leser zu verortende Rezeptionskategorie zu verstehen. In Auseinandersetzung mit einem literarischen Text kommt es zur Veränderung dieses Erwartungshorizonts des Lesers. Iser wählt zur Erklärung dieses Prozesses eine schematheoretische Beschreibung, indem er festhält, „daß der ästhetische Gegenstand ein Vorstellungsgegenstand ist, der vom Leser über deformierte und dementierte Schemata hervorgebracht werden muß.“72 Literarische Texte bewirken demnach in erster Linie einen Vorstellungs- und gegebenenfalls Einstellungswandel in Form einer Schemaakkomodation. Genauere Angaben dazu, wie dieser Erwartungshorizont ermittelt werden kann, werden jedoch nicht explizit gemacht. Als textseitiges Korrelat zum Erwartungshorizont des Lesers verwendet Iser den Begriff des ,Negationspotenzials‘. Dieser ist auf textimmanente Wertungen bezogen und bewirkt ein „Durchstreichen“ von Bekanntem.73 Eine stärker deskriptive Analysekategorie stellen die sogenannten ,Leer‘- oder ,Unbestimmtheitsstellen‘ dar. Unter der Prämisse, dass fiktionale Gegenstände immer unvollständig bestimmt sind, soll dieser Terminus das Bestehen einer logischen Komplettierungsnotwendigkeit im Rahmen von auf fiktionale Gehalte bezogenen Imaginationsprozessen anzeigen, die von literarischen Texten hervorgerufen werden. Iser nimmt allerdings keine Differenzierung hinsichtlich notwendiger und probabilistischer komplettierender Verstehensoperationen vor und erläutert auch nicht näher, auf welche Strukturen die von ihm beschriebenen Leerstellen genau zurückgeführt werden können. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass zwischen den programmatischen Erklärungen der Wirkungsästhetik und der praktischen Textanalyse eine deutliche Lücke klafft: Die von Iser eingeführten Begriffe erweisen sich – wie schon des öfteren kritisiert wor71 72 73

Vgl. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, 25, 27, 29, 53, 83 und öfter. Ebd. 154. Ebd. 267: „Die Negationspotentiale rufen Bekanntes oder Bestimmtes auf, um es durchzustreichen; als Durchgestrichenes jedoch bleibt es im Blick und verursacht angesichts seiner gelöschten Geltung Modifizierungen in der Einstellung: die Negationspotentiale bewirken damit die Situierung des Lesers zum Text.“

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

den ist – als zu vage.74 Angaben zu ihrer Operationalisierbarkeit fehlen zumeist ganz oder sind nur implizit in Isers Textanalysen enthalten. Diese wiederum sind stärker auf Textstrukturen konzentriert, die kognitive Prozesse der Sinnkonstitution in Gang setzen und zur Bedeutungskonstitution des Gesamttextes in Form einer einzigen Wirkung und der daraus hervorgehenden „richtigen“ Bedeutungszuschreibung beitragen. Isers Textanalysen liegt damit ein implizites stimulus-response-Modell zugrunde. Die Kopplung an einen stark wertenden Literaturbegriff nimmt darüber hinaus ungewollt den programmatischen Anspruch einer auf die neutrale Beschreibung eines Rezeptionsprozesses konzentrierten Interpretationspraxis partiell zurück. Die Analysepraxis der Wirkungsästhetik bleibt damit deutlich hinter ihrer eigenen Programmatik zurück, die der aktiven Beteiligung des Rezipienten im Lektüreprozess im Gegensatz zur klassischen Hermeneutik verstärkt Rechnung tragen will. Wenn sich also zeigen lässt, dass die Wirkungsästhetik keine für die Textanalyse brauchbaren Beschreibungskategorien zur Verfügung gestellt hat, so heißt dies jedoch nicht, dass damit auch das Programm einer rezeptionsbezogenen Textanalyse verabschiedet werden müsste. Einige Grundannahmen der Wirkungsästhetik haben sich im Gegenteil als fruchtbar für die literaturwissenschaftliche Analysepraxis erwiesen und können daher hier übernommen werden: Dass beispielsweise Textstrukturen häufig nur dann sinnvoll beschrieben werden können, wenn man ihre potenzielle Wirkung im Leseprozess mitbedenkt, wird kaum jemand bestreiten. Dass Lektürevorgänge Prozesse sind, die nicht nur von ihrem Ende her rekonstruiert werden können, sondern außerdem auch in ihrem Verlauf, ist ebenso wenig von der Hand zu weisen – auch wenn natürlich im Rahmen einer Textinterpretation nie ein vollständiger Lektüreprozess beschrieben werden kann, sondern immer nur interpretative „Schnitte“ vorgenommen werden können, die als im Rahmen eines solchen Prozesses ablaufend gedacht werden. So können die Schwierigkeiten bei der Entwicklung einer adäquaten Begrifflichkeit zur Beschreibung der Wirkungspotenziale von Erzähltexten, wie sie oben dargestellt worden sind, dazu dienen, ein differenzierteres und genaueres Analysemodell zu entwickeln. Dieses sollte den wesentlichen Einwänden gegen Begrifflichkeit und Interpretationspraxis der Wirkungsästhetik Rechnung tragen. Insbesondere muss es daher folgende Anforderungen erfüllen: Es sollte - eine Differenzierung hinsichtlich kognitiver, emotionaler und konativer Wirkungen von Rezeptionsprozessen vornehmen, - explizieren, welches Verstehensmodell vorausgesetzt wird,75 74

75

Vgl. zur Übersicht über die Kritik an wirkungsästhetischen Grundbegriffen Matthias Richter, „Wirkungsästhetik“, 530–534. In Der Akt des Lesens wechselt Iser zwischen kodebasierten, sprechakt- und schematheoretischen und gestaltpsychologischen Erklärungsmodellen der Text-Leser-Interaktion hin und her ohne zu erläutern, wie diese jeweils aufeinander bezogen sein könnten. Er stellt somit kein integratives Modell des Leseprozesses zur Verfügung, auch wenn sein Anspruch eines interdisziplinären Vorgehens bei der Beschreibung von Rezeptionsprozessen prinzipiell zu begrüßen ist.

2.2 Zum Verhältnis von Textstruktur und Wirkungspotenzial

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-

das Zusammenwirken von Texteigenschaften und Leserdispositionen erklären beziehungsweise, so dies nicht möglich ist, den Status und Geltungsbereich der eigenen Textanalysen entsprechend markieren und einschränken, - das Aufstellen von Interpretations- beziehungsweise Lektürehierarchien nach Maßgabe des jeweiligen Erkenntnisinteresses begründen statt sie aufgrund eines zu engen, ideologiekritischen Literaturbegriffs allgemein festzuschreiben, - einen möglichst weiten, deskriptiven Literaturbegriff verwenden, um der Gefahr zu entgehen, dass durch eine verengte Perspektive auf das zu untersuchende Phänomen von vorneherein bestimmte Wirkungen literarischer Texte ausgeklammert werden, - genauere und begrifflich klarer gefasste Kategorien bereitstellen, mit deren Hilfe rezeptionsbezogene Textanalysen vorgenommen werden können. Mit diesen Einschränkungen versehen, lassen sich in Auseinandersetzung mit den wirkungsästhetischen Annahmen einige Hinweise für die Entwicklung eines integrativen Modells des Leseprozesses und die Identifizierung von Textstrukturen gewinnen, die auf Emotionen bezogen potentiell wirkungsrelevant sind. Insbesondere die Bedeutung von innertextuellen Wertungen, die Iser mit dem Begriff des ,Negationspotenzials‘ umschreibt, muss hierbei bedacht werden: Sieht man von einer primär ideologiekritischen Funktion literarischer Texte einmal ab, so lässt sich neutraler formuliert fragen, wie innertextuelle Wertungen und die vom Rezipienten vertretenen Wertvorstellungen miteinander interagieren und ob diese nicht ebenfalls für die Analyse von Emotionslenkungsstrategien interessant sein könnten.

2.2.2 Zum Begriff des ,Wirkungspotenzials‘ Nach diesen Vorüberlegungen ist nun zu fragen, was genau darunter verstanden werden kann, wenn vom emotionalen Wirkungspotenzial von Textstrukturen die Rede ist. Dazu wird kurz darauf einzugehen sein, wie in der allgemeinen Kommunikationstheorie emotionale Wirkungsprozesse erklärt werden. Ein integratives Modell emotionaler Kommunikation haben hier z.B. Anne Bartsch und Susanne Hübner vorgelegt.76 Sie formulieren 76

Anne Bartsch und Susanne Hübner, Emotionale Kommunikation. Vgl. dazu auch den Überblicksartikel von Peter F. Jorgensen, „Affect, Persuasion, and Communication Processes“. Dem von Bartsch und Hübner vorgeschlagenen Modell wird hier aus zwei Gründen der Vorzug gegenüber demjenigen von Nicole M. Wilk gegeben: 1. berücksichtigen sie im Gegensatz zu Wilk größere Mengen emotionstheoretischer Forschungsliteratur, 2. geht Wilk in ihrem Modell, das stärker auf sprachliche emotionale Kommunikationsprozesse fokussiert ist, von einem psychosemiotischen Verstehensmodell aus, das an Freud, Lacan, Deleuze und Guattari orientiert ist und damit ein ganz bestimmtes, mit dem hier vorgeschlagenen Lesemodell nicht zu vereinbarendes Verstehenskonzept vertritt. Vgl. Nicole M. Wilk, Verstehen und Gefühle. Entwurf einer leiborientierten Kommunikationstheorie.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

nach einem Forschungsüberblick über eine Vielzahl von Emotionstheorien ein DreiEbenen-Modell der Emotionsgenese: In den meisten Modellen der Emotionsentstehung werden – explizit oder implizit – drei Verarbeitungsebenen unterschieden: angeborene Reiz-Reaktions-Muster, assoziative Schemata und symbolisches Denken. Die Diskussion von Aussagen der verschiedenen Emotionstheorien zu Zusammenhängen und Funktionsweisen der drei Verarbeitungsebenen ergab, dass die drei Ebenen aufeinander aufbauende Komplexitätsebenen bilden, die durch Bottom-up- und Topdown-Prozesse koordiniert werden. Die abstrakten Sinnstrukturen der übergeordneten Verarbeitungsebenen bauen auf den sinnlich konkreten Fähigkeiten der untergeordneten Ebenen auf und wirken gleichzeitig als Steuerungsmechanismen auf die untergeordneten Ebenen zurück. Bottom-up- und Top-down-Prozesse zwischen angeborener und assoziativer Ebene bewirken, dass angeborene Reiz-Reaktions-Muster an gelerntes Erfahrungswissen angepasst und in koordinierte Handlungsskripts integriert werden. Bottom-up- und Top-down-Prozesse zwischen Schema-Ebene und Zeichen-Ebene sorgen dafür, dass emotionale Skripts symbolisch reflektiert und mit den Regeln und normativen Erwartungen des sozialen Umfelds abgestimmt werden. Im Idealfall führen Bottom-up- und Top-down-Prozesse zwischen den Verarbeitungsebenen zu einem Gleichgewichtszustand, der es Menschen ermöglicht, als kohärente Einheit zu denken, zu fühlen und zu handeln. Da jede Verarbeitungsebene nach eigenen Gesetzmäßigkeiten funktioniert, sind jedoch Widersprüche und Diskrepanzen vorprogrammiert, die immer wieder neu gelöst werden müssen.77

Die drei Ebenen unterscheiden Bartsch und Hübner wie folgt: Angeborene Reiz-Reaktionsmuster werden von allen Emotionstheorien als überlebenssichernde Automatismen aufgefasst, die in der biologischen ,Hardware‘ des menschlichen Gehirns verankert sind. Assoziative Schemata werden als erlernte Wissensstrukturen beschrieben, die emotionale Erfahrungen verallgemeinern und Wahrnehmung und Verhalten auf einer vorsymbolischen Ebene strukturieren. Symbolisches Denken gilt als ein bewusst kontrollierter Verarbeitungsmodus, der dazu dient, spontane Emotionen zu hinterfragen und mit den Regeln und normativen Erwartungen des sozialen Umfelds abzustimmen. 78

Diese Ebenenmodelle bieten „keine absolut widerspruchsfreie Metatheorie der Emotionsentstehung [...]. Dennoch ermöglichen sie es, übereinstimmende Aussagen der einzelnen Theorien in einen sinnvollen Zusammenhang einzuordnen und emotions79 theoretische Kontroversen in systematischer Weise zu reformulieren.“ Kontrovers beurteilt werden die Abgrenzung der genannten Verarbeitungsebenen, der Anteil jeder dieser Ebenen bei der Entstehung von Emotionen sowie die konkrete Ausgestaltung des Wechselverhältnisses von Bottom-up- und Top-down-Prozessen zwischen den einzelnen Verarbeitungsstufen. Auch die Modellbildung insgesamt wird so nicht von allen Emotionstheoretikern akzeptiert. 77

78 79

Anne Bartsch und Susanne Hübner, Emotionale Kommunikation, 305. Ähnlich unterscheidet schon William McDougall einfache, abgeleitete und komplexe Emotionen. Wie genau die einzelnen emotionalen Prozesse miteinander verschaltet sind, beziehungsweise ob sie dies überhaupt sind, bleibt bei McDougall allerdings offen. Vgl. Katja Mellmann, Emotionalisierung, 88. Anne Bartsch und Susanne Hübner, Emotionale Kommunikation, 110. Ebd. 111.

2.2 Zum Verhältnis von Textstruktur und Wirkungspotenzial

49

Dessen ungeachtet können Bartsch und Hübner zeigen, dass die verschiedenen in der Emotionsforschung diskutierten Theorien der Emotionsgenese mit den Modellbildungen der allgemeinen Kommunikationstheorie vermittelt werden können. Ihnen zufolge kann also grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass emotionale Gehalte kommunikativ vermittelbar sind. Dieses abgeleitete Ergebnis erzielen sie, indem sie die verschiedenen in der Psychologie vertretenen Modelle der Emotionsgenese auf allgemeine kommunikationstheoretische Modellbildungen beziehen und ermitteln, aufgrund welcher theoretischen Übereinstimmungen in den Auffassungen über mentale Steuerungsmechanismen in Kommunikationsprozessen diese zu einer allgemeinen Beschreibung emotionaler Kommunikation herangezogen werden können. Dabei kommen sie zu dem Ergebnis, dass alle drei Ebenen der Emotionsentstehung in Einklang zu bringen sind mit je verschiedenen etablierten Kommunikationstheorien: Die verhaltensbiologische Auffassung von Kommunikation als Verhaltenskoordination schließt die Erfolgskriterien emotionaler Kommunikation auf der Reiz-Reaktions-Ebene, Stimmungsbeeinflussung und Aufmerksamkeitslenkung durch Emotionsausdruck, ein. Die Auffassung von Kommunikation als soziales Handeln steht im Einklang mit Erfolgskriterien der Schema-Ebene – der Zuschreibung von Emotionen und sozialen Intentionen aufgrund des Emotionsausdrucks und der Überprüfung solcher Zuschreibungen im Rahmen der anschließenden Interaktion. Die Kriterien von Sprach- und Zeichentheorien lassen sich auf die Zeichen-Funktionen emotionaler Kommunikation übertragen – wie etwa die Konventionalität des Zeichens und seiner Bedeutung sowie die Reflexivität und Offenheit zeichenbasierter Kommunikation für alternative Sinngebungen, die im Kommunikationsprozess neu ausgehandelt werden.80

Das von Bartsch und Hübner entwickelte Modell emotionaler Kommunikation ist bewusst integrativ und allgemein gehalten und nicht speziell auf Prozesse literarischer Kommunikation abgestimmt. So bleibt offen, welche Kommunikationsformen in literarischen Texten am häufigsten zu finden sind.81 Insbesondere wäre zu überprüfen, ob, wie und wie intensiv literarische Texte angeborene Reiz-Reaktions-Muster aktivieren können. So verwendet etwa Katja Mellmann in ihrer evolutionspsychologisch orientierten Studie zur Literatur der Aufklärungsepoche eine evolutionspsychologische Heuristik, um verschiedene in diesem Zeitraum rekonstruierbare Emotionskonzepte dahingehend genauer zu bestimmen, welche biologisch evolvierten psychischen Prozesse diesen möglicherweise zugrunde gelegen haben könnten. Sie argumentiert, dass in diesem konkreten Fall die Prämisse der Evolutionspsychologie von der Existenz und Wirkmächtigkeit angeborener Reiz-Reaktions-Muster besonders fruchtbar auf poetologische und literarische Texte und deren Wirkung an80 81

Anne Bartsch und Susanne Hübner, Emotionale Kommunikation, 309. Vorüberlegungen für ein Modell emotionaler literarischer Kommunikation finden sich bei Gesine Lenore Schiewer, „Sprache und Emotion in der literarischen Kommunikation. Ein integratives Forschungsfeld der Textanalyse“.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

zuwenden sei, weil gerade in der Zeit der Aufklärung allgemein menschliche Dispositionen des Fühlens im Zentrum der Aufmerksamkeit der Zeitgenossen standen.82 Unklar bleibt dann allerdings, ob nicht auch für diese Epoche gezeigt werden kann, dass die Annahme solcher angeborenen Reiz-Reaktions-Muster im Untersuchungszeitraum durch kulturelle Kodierungen und soziale Normierungen überformt oder von diesen gar hervorgebracht worden sind. Ließen sich evolutionär erworbene Reiz-Reaktions-Muster und die mit ihnen verbundenen Emotionsprogramme eindeutig von den sozial ausgehandelten und kulturell kodierten Prozessen der Emotionsgenese trennen, wären einfache und eindeutige Aussagen über die emotionale Wirkung von Textstrukturen in Form eines stimulus-response-Modells möglich. Soweit ich sehe, können diese evolutionär bedingten, psychologisch grundständigen auslöserelevanten Schemata derzeit jedoch nicht trennscharf von kulturell erworbenen unterschieden werden.83 Im Anschluss wäre außerdem zu zeigen, inwiefern diese Schemata in ausreichender Kongruenz durch literarische Texte nachgebildet werden können. Zur Veranschaulichung dieses Problems kann man sich Fälle sogenannter somatischer Empathie vor Augen führen: Fernseh- oder Kinozuschauer reagieren auf eine im Film dargebotene Gefahr häufig mit starken emotionalen Reaktionen bis hin zur Verhaltensbeeinflussung in Form von Weggucken, Schreien o.ä. Für den Film wird jedoch in evolutionspsychologischen Ansätzen auch eine höhere Schemakongruenz bei der Abbildung „tatsächlicher“ angstinduzierender Situationen vermutet, die für die von der Evolutionspsychologie angenommenen Umweltbedingungen zur Zeit der evolutionären Anpassung unserer Gehirne typisch waren.84 Es wäre mit Hilfe medienpsychologischer Untersuchungen zu überprüfen, inwiefern literarische Texte eine ähnliche Schemakongruenz herstellen können. Zu vermuten ist aber, dass sie dies entweder nicht, in anderer Intensität oder in Hinsicht auf andere Situationen und Vorstellungsgegenstände erreichen. Aus diesen Erwägungen heraus soll mit Bartsch und Hübner erst einmal davon ausgegangen werden, dass literarische Texte ihre Rezipienten auf allen Ebenen des oben knapp umrissenen emotionalen Kommunikationsmodells ansprechen und auf sie einwirken können, dass literarische Kommunikation aber nicht bevorzugt über die Aktivierung angeborener Reiz-Reaktions-Muster erfolgt. Da im Falle literarischer Kommuni82 83

84

Vgl. Katja Mellmann, Emotionalisierung, 158. Es ist auch fraglich, ob dieses Unternehmen grundsätzlich gelingen kann. Vgl. dazu etwa die Position Michael Tomasellos, der davon ausgeht, dass kulturelle und biologische Entwicklungsprozesse nicht oder nur schwer mit Hilfe empirischer Methoden klar voneinander abgegrenzt werden können, vielmehr als eng aneinander gekoppelt vorgestellt werden müssen. Eine Trennung biologisch evolvierter und kulturell bedingter Schemata – besonders wenn sie in einem literarischen Text nur sprachlich vermittelt dargeboten werden können – dürfte unter dieser Voraussetzung sehr schwierig sein. Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denken Zur Evolution der Kognition, 250f. Vgl. dazu John Tooby und Leda Cosmides, „Schönheit und mentale Fitnes Auf dem Weg zu einer evolutionären Ästhetik“, 22.

2.3 Entwurf eines narratologisch-kognitionspsychologisch fundierten Analysemodells

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kation in der Regel von einer „zerdehnten Sprachhandlungssituation“85 ausgegangen werden muss, kommt dabei den durch den Text ausgedrückten Emotionen und weiteren emotionslenkend wirkenden sprachlichen Strukturen besondere Bedeutung zu. Der Begriff des Wirkungspotenzials wird im Rahmen dieser Arbeit daher auf Textstrukturen angewandt, die dazu geeignet erscheinen, bestimmte emotionale Wirkungen beim Rezipienten hervorzurufen. Es handelt sich somit um einen relationalen Begriff, der Texteigenschaften mit bestimmten potentiellen Wirkungen in Verbindung bringt. Das Wechselverhältnis zwischen Texteigenschaften und möglicher Wirkung ist jedoch nicht im Sinne eines automatisierten stimulus-response-Verhältnisses zu verstehen, sondern lediglich als ein Einflussfaktor neben anderen, stärker beim Rezipienten zu verortenden Faktoren, die sich rezeptionssteuernd auswirken können. Um das emotionslenkende Potenzial von Textstrukturen zu ermitteln, muss vorab erst einmal bestimmt werden, welche emotionalen Reaktionen in literarischen Rezeptionsprozessen beobachtet werden können und bei welchen es überhaupt sinnvoll ist anzunehmen, dass sie nicht nur von Textstrukturen beeinflusst wurden, sondern außerdem auch auf Dispositionen zurückgeführt werden können, die auf psychophysiologisch stabilen ReizReaktions-Mustern oder kulturspezifisch intersubjektiv nachvollziehbaren Wissensbeständen beruhen. Vorab muss jedoch geklärt werden, welches Modell speziell literarischer Kommunikation hierbei zugrunde gelegt werden kann.

2.3 Entwurf eines narratologisch-kognitionspsychologisch fundierten Analysemodells Ein allgemeines Modell literarischer Kommunikation, das anschlussfähig für die Analyse von Emotionslenkungsstrategien ist, sollte verschiedene Bedingungen erfüllen, die hier noch einmal genannt seien: Es sollte vereinbar sein mit dem oben skizzierten kodebasierten Modell der sprachlichen Emotionsvermittlung, den Einbezug emotions-, sprach- und lesepsychologischer und psycholinguistischer Konzepte ermöglichen, diese mit allgemein anerkannten literaturwissenschaftlichen Analyseverfahren zur Erzähltextanalyse verbinden sowie geeignet sein auch für die Analyse größerer Textpassagen. Einen solchen Rahmen bietet das von Fotis Jannidis vertretene Konzept der analytischen Hermeneutik, das Erkenntnisse aus den Kognitionswissenschaften, insbesondere 85

Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, 118: „Die Sprachhandlungssituation ist zerdehnt: Produktions- und Rezeptionssituation sind getrennt; Autor und Leser werden nur durch den Text in eine globale, wenn auch zerdehnte Sprachhandlungssituation zusammengebunden.“ Fiktionale und faktuale Formen narrativer Kommunikation unterscheiden sich dabei durch eine je unterschiedliche sozial verfasste und regelgeleitete Praxis. Vgl. dazu Peter Lamarque und Stein Haugom Olsen, Truth, Fiction, and Literature. A Philosophical Perspective, 32f.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

der Psycholinguistik und der linguistischen Pragmatik, bei der Beschreibung von Leseprozessen berücksichtigt und gleichzeitig zentrale Analysekategorien der Narratologie in dieses Modell integriert.86 Alternativ zu Jannidis’ könnte auch ein leibzentriertes Modell aus dem Bereich der Cognitive Poetics zugrunde gelegt werden. Darauf wird hier jedoch wegen der derzeit noch mangelnden Anwendbarkeit auf längere Texte und der noch zu leistenden theoretischen Ausdifferenzierung verzichtet.87 Je nach Begriffsverständnis ergeben sich auch Unterschiede auf theoretischer Ebene: Versteht man die Bezeichnung als Sammelbegriff für textbezogene literaturwissenschaftliche Ansätze, die Bezug auf kognitionswissenschaftliche Forschung nehmen, so kann auch Jannidis’ inferenzbasiertes Modell den Cognitive Poetics zugerechnet werden. In einem engeren Verständnis ergeben sich allerdings Unterschiede in der zugrunde gelegten Zeichentheorie: Während innerhalb der Cognitive Poetics von einer leibzentrierten Bedeutung sprachlicher Zeichen ausgegangen wird, so liegt dem Inferenzmodell der analytischen Hermeneutik eine allgemein kodebasierte Zeichentheorie zugrunde, die sehr gut mit dem oben erläuterten kultursemiotischen Emotionsmodell vereinbar ist.88 Die Prämissen der analytischen Hermeneutik können im Rahmen der vorliegenden Arbeit also gewinnbringend übernommen und für die Analyse emotionaler Rezeptionswirkungen entsprechend modifiziert werden. Es soll daher im Folgenden knapp erläutert werden.

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Vgl. Fotis Jannidis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie sowie ders., „Analytische Hermeneutik. Eine vorläufige Skizze“. Die Verknüpfung von narratologischen Analyseinstrumentarien mit Erkenntnissen aus den Kognitionswissenschaften ist bereits häufiger programmatisch eingefordert worden. Vgl. dazu z.B. Bruno Zerweck, „Der cognitive turn in der Erzähltheorie: Kognitive und ,Natürliche‘ Narratologie“; Jens Eder, „Narratology and Cognitive Reception Theories“ und neuerdings speziell für die Emotionsforschung Gesine Lenore Schiewer, „Kognitive Emotionstheorien – Emotionale Agenten – Narratologie. Perspektiven aktueller Emotionsforschung für die Sprach- und Literaturwissenschaft“. Vgl. dazu etwa die in dem Sammelband Cognitive Poetics in practice vereinten Studien, die entweder sehr kleinteilige Analysen vornehmen (vgl. z.B. Reuven Tsur, „Deixis and abstraction. Adventure in space and time“), oder mit aus den Kognitionswissenschaften entlehnten Modellen wie „possible worlds theory“ oder „mental space theory“ arbeiten, selbst aber einräumen, dass diese noch weiterentwickelt werden müssen, um in angemessener Weise die Komplexität des Leseprozesses abbilden zu können und gleichzeitig zur Reformulierung des gängigen erzähltextanalytischen Vokabulars geeignet zu sein. Vgl. z.B. Elena Semino, „Possible worlds and mental spaces in Hemingway’s ,A very short story‘“, v.a. 89, 97. Vgl. dazu Peter Stockwell, Cognitive Poetics. An introduction, 4f sowie ders., „Cognitive Poetics and Literary Theory“, 137f.

2.3 Entwurf eines narratologisch-kognitionspsychologisch fundierten Analysemodells

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2.3.1 Zum inferenzbasierten Modell des Leseprozesses Grob gesagt stellt das literaturbezogene Kommunikationsmodell der analytischen Hermeneutik eine Erweiterung kodebasierter Kommunikationsmodelle dar, indem es die Bedeutung pragmatischer Faktoren, insbesondere der Kommunikationssituation und anderer relevanter Kontexte, im Kommunikationsprozess stärker hervorhebt. Jannidis geht von einem in der Psycholinguistik entwickelten inferenzbasierten Verstehensmodell89 von Texten aus, in dessen Rahmen auch der Kenntnis der relevanten Kodes eine bedeutende Rolle zukommt. Damit stellt das Lesemodell der analytischen Hermeneutik keinen Bruch mit kodebasierten Ansätzen der Informationsvermittlung dar, sondern ist vielmehr als Ergänzung zu verstehen. Jannidis kritisiert, dass in kodebasierten Kommunikationsmodellen ein zu starrer Informationsübermittlungsprozess angenommen werde, der von weitgehend unproblematischen En- und Dekodierungsleistungen von Produzenten und Rezipienten ausgehe und zu wenig der Tatsache Rechnung trage, dass Kommunikation immer auch kontextgebunden abläuft, insbesondere durch die Kommunikationssituation und kommunikative Regeln bestimmt wird.90 Damit wird deutlich, dass die analytische Hermeneutik sich nicht kategorial von den meisten semiotischen kommunikationstheoretischen Ansätzen unterscheidet. Zum Beispiel berücksichtigt bekanntlich auch Umberto Eco in der Ausformulierung seines Modells den Einfluss von Kontextfaktoren wie enzyklopädischem, kontext- und situationsbezogenem Wissen im En- und Dekodierungsprozess. Inferenzziehungen erfolgen ihm zufolge durch Einbezug von Wissen aus dem Wörterbuch, Koreferenzregeln, kontextuelle und situationelle Selektionen, rhetorische und stilistische Überkodierung sowie allgemeine und intertextuelle Szenographien.91 Allerdings geht Eco z.B. bei der Beschreibung dieses situationsgebundenen Wissens, das er mit Hilfe des Begriffs der ,Szenographie‘ genauer fasst, von einer klaren Hierarchie im Prozess der Bedeutungskonstitution aus: Die wichtigste Rolle spielen die maximalen Szenographien in Form von vorgefertigten Fabulae, Gattungsregeln, danach kommen die Motiv-Szenographien ohne festgelegte Ablaufregeln, im Anschluss situationsbezogene Szenographien, „[...] welche die Entwicklung eines Teils der Geschichte zwingend festlegen, aber auf verschiedene Weise verändert werden, so daß daraus verschiedene Geschichten entstehen können“,92 und zum Schluss die rhetorischen Topoi. Die Unterstellung einer solchen hierarchischen Struktur von Szenographien basiert auf der Annahme, dass es invariante Regeln für die Bedeutungskonstitution eines Textes gebe und dementsprechend bessere 89

90 91 92

Der Verstehensbegriff hat bei Jannidis folgende Implikationen: „1) Mit dem Begriff des ,Verstehens‘ wird eine Ähnlichkeitsbeziehung angenommen zwischen zwei Bedeutungszuschreibungen: der des Autors und der des Leser / 2) Diese Bedeutungszuschreibung kann von einem Beobachter regelgeleitet ermittelt werden.“ Fotis Jannidis, „Analytische Hermeneutik“, 132. Fotis Jannidis, Figur und Person, 45. Vgl. Umberto Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, 102. Ebd. 102f.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

oder schlechtere Konkretisationen desselben. Eco kann damit eindeutigere Kriterien für die Dekodierung literarischer Texte angeben als Jannidis, sein Modell ist jedoch auch stärker idealisiert und in erster Linie an der Interpretationspraxis von wissenschaftlich geschulten Lesern ausgerichtet. Es trägt damit wesentlich dazu bei, den Interpretationsbegriff in den Literaturwissenschaften zu konturieren, ist aber weniger auf grob gesagt „durchschnittliche“ Rezeptionsprozesse beziehbar. So argumentiert Hans-Harald Müller, dass Eco eigentlich den Typ der wissenschaftlichen Interpretation genauer umreiße, nicht denjenigen eines „Durchschnittslesers“.93 Jannidis’ Modell ist dagegen vager, hat aber den Vorzug, dass es Regelhaftigkeit und individuelle Varianz der Bedeutungskonstitution literarischer Texte Rechnung trägt und damit zur Erklärung emotionaler Wirkungen literarischer Texte besser geeignet ist: Gerade in Bezug auf emotionale Wirkungen von Literatur spielen bei der Lektüre neben durchaus vorhandenen intersubjektiven Übereinstimmungen sehr stark kontext- und leserseitige Faktoren eine Rolle, die möglicherweise zu noch stärker variierenden Wirkungen beitragen als bei rein kognitiven Prozessen der Bedeutungskonstitution. Trotzdem handelt es sich auch bei Jannidis’ Modell um eine analytische Rekonstruktion literarischer Kommunikationsprozesse, die ebenso wie andere auf der Annahme von Kodes basierende Kommunikationsmodelle idealtypischen Charakter hat: Im Anschluss an Überlegungen von Sperber und Wilson94 nimmt Jannidis ein Inferenzmodell literarischer Kommunikation an. Als „Inferenzen“ werden „alle Formen von Schlußfolgerungen“ verstanden, „seien es nun streng deduktive, oder aber auch relativ weiche, probabilistische und fallible“95: Es [das Inferenzmodell der Kommunikation, C.H.] umfaßt die Codes, die Auswahl von relevanten Kontextfaktoren wie z.B. Situationstypus oder Kommunikationsmotivation und -geschichte, sowie die Heuristiken zur Ermittlung der Bedeutung. Die Codes sind, wie gesagt, nicht identisch mit der Bedeutung der Äußerung, auch nicht in dem Sinne, daß die Bedeutung der Äußerung durch eine einfache Zuordnungsregel des Codes ermittelt werden kann, sondern sie haben heuristische Funktion bei der Ermittlung der Bedeutung. Diese Ermittlung aber ist als Inferenzprozeß aufzufassen.96

Neben der Kenntnis der Kodes sind es die Kategorien der Relevanz und der Manifestheit von textuell vermittelten Informationen, die die Selektion von Informationen und damit den Rezeptionsprozess steuern: Das Textverständnis basiert auf im Text tatsächlich vorhandenen Informationen, die vom Rezipienten im Hinblick auf dessen Bedeutungskonstitution für wichtig gehalten werden. Präziser formuliert:

93

94

95 96

Vgl. Hans-Harald Müller, „Eco zwischen Autor und Text. Eine Kritik von Umberto Ecos Interpretationstheorie“, 147. Sperber und Wilson entwickeln ihre Relevanztheorie der Sprachverarbeitung mit Rekurs auf das pragmatischen Überlegungen geschuldete Kooperationsprinzip von Paul Grice. Fotis Jannidis, „Analytische Hermeneutik“, 136. Fotis Jannidis, Figur und Person, 51f.

2.3 Entwurf eines narratologisch-kognitionspsychologisch fundierten Analysemodells

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Bedingung 1: Eine Annahme ist relevant in einem Kontext in dem Ausmaß, in dem ihre Kontexteffekte in diesem Kontext groß sind. Bedingung 2: Eine Annahme ist relevant in einem Kontext in dem Ausmaß, in dem der Aufwand diese Annahme in diesem Kontext zu verarbeiten klein ist.97

Dazu muss der Empfänger dem Sender unterstellen, dass die Äußerung mit der Intention relevant zu sein getätigt wurde. Diese Inferenzziehung ist besonders plausibel für sprachliche und damit auch literarische Kommunikation. Textoberflächenphänomene werden also durch verschiedene Arten von Inferenzziehungen zu Textstrukturen zusammengefügt. Semantische und pragmatische Verarbeitungsschritte wechseln sich bei der Lektüre ab.98 Für narrative Kommunikation gelten darüber hinaus bestimmte Konventionen sowohl des Erzählens wie auch der erzählten Welt: So existieren zum Beispiel unterschiedliche Konventionen für den Umgang mit faktualen und fiktionalen Texten, die Konventionen der erzählten Welt sind stark genre- oder gattungsabhängig etc. Diese Konventionen sind kulturhistorisch variabel. Es besteht jedoch kein kategorialer Unterschied zwischen narrativer und nichtnarrativer Kommunikation, ebenso wenig zwischen fiktionaler und faktualer Kommunikation.99 Auf Basis der im Text manifestierten Informationen, der Kenntnis der einschlägigen Kodes, der für die Kommunikationssituation gültigen Konventionen und bestimmter Relevanzannahmen finden diejenigen Inferenzziehungen statt, die zum Verständnis des Textes führen. Im Falle allgemein sprachlicher und speziell literarischer Kommunikation ist die häufigste Form der Inferenzziehung nach Jannidis diejenige der abduktiven Inferenz: ,Abduktive Inferenz‘ soll also im folgenden ein Schlußverfahren zur Identifikation und Bedeutungszuweisung von Zeichen genannt werden. In einem ersten Schritt wird ein Phänomen als Zeichen identifiziert. Im zweiten Schritt wird eine Regel herangezogen, die zu dem Phänomen paßt. Und im dritten Schritt wird ein Schluß aus Phänomen und Regel gebildet. Die abduktive Inferenz ist an drei Stellen fallibel: Es kann etwas als Zeichen betrachtet werden, das gar keines ist. Die herangezogene Regel kann falsch sein oder zu weit bzw. eng formuliert. Der Schluß kann falsch sein.100

Im Gegensatz zur deduktiven und induktiven Inferenz wird bei der abduktiven Inferenz vom Ergebnis und der Regel auf den Fall geschlossen. Die herangezogene Regel wird im Text im Allgemeinen nicht vorgegeben, sondern muss vom Rezipienten ergänzt werden. Diese Ergänzungsleistung beruht auch auf der Kenntnis der narrativen Konventionen.101 Insbesondere für literarische Texte ist diese Form der Inferenzbildung sehr fehleranfällig, weil hier zwei Arten von Zeichen unterschieden werden müssen: primäre zur Erzeugung der fiktionalen Welt und sekundäre, die innerhalb der fiktionalen Welt 97

Sperber/Wilson zitiert in Übersetzung nach Fotis Jannidis, „Analytische Hermeneutik“, 136. Vgl. ebd. 137. 99 Ebd. 138. 100 Fotis Jannidis, Figur und Person, 79. 101 Vgl. ebd. 76. 98

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

wiederum ein Zeichen sein können, zum Beispiel in Form von Symbolen.102 Vor allem das Erkennen eines sekundären Zeichens ist schwierig und kann in der Regel nur durch Hinweise im Text selbst plausibel gemacht werden. Dennoch können Faktoren angegeben werden, die die Wahrscheinlichkeit einer irrtümlichen Schlussfolgerung minimieren, nämlich „etablierte kulturelle Praktiken zur Identifikation von Zeichen, zu typischen Regelmäßigkeitsannahmen und zu häufigen Schlüssen“, die zum Beispiel durch das Relevanzprinzip vorgegeben sein können.103 Mit Hilfe eines inferenzbasierten Verstehensmodells kann somit erklärt werden, warum verschiedene Textkonkretisationen voneinander abweichen und literarische Verstehensprozesse also hochgradig fehleranfällig sind und individuell variieren, gleichzeitig das „basale“ Textverständnis in den meisten Fällen dennoch intersubjektiv nachvollziehbar gemacht werden kann und häufig auch ähnlich ist.104 Gerade in Bezug auf emotionale Wirkungen von Literatur scheint mir ein solches Modell deswegen besonders adäquat, da es ebenso dazu geeignet ist, intersubjektiv nachvollziehbare emotionale Reaktionen auf literarische Texte zu erklären wie auch der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Verstehensprozesse und die sich daran anschließenden kognitiven, emotionalen und konativen Wirkungen dennoch variieren können. Anders gesagt, besteht sein Vorzug in der Vermeidung eines stark normativen Literatur- und Verstehensbegriffs. Das Modell bleibt bei der Formulierung eigener Analysekategorien offen, sodass es anschlussfähig ist für die gängigen literaturwissenschaftlichen Analyseverfahren. Man mag die Vagheit dieses Modells kritisieren, sie scheint mir jedoch eher ein Vorzug zu sein, da es die oben in Auseinandersetzung mit der Wirkungsästhetik dargelegten Probleme bei der Beschreibung von Wirkungspotenzialen durch seine Offenheit gerade vermeidet. Unterstrichen wird damit unter anderem, dass literaturwissenschaftliche Interpretationen nicht implizit normativ sein sollten, vielmehr ihr jeweiliges Erkenntnisinteresse und die damit verbundenen Selektionsentscheidungen und Inferenzziehungen explizieren. Für das hier verfolgte Erkenntnisinteresse ergibt sich die methodische Konsequenz möglichst kleinschrittiger, gut begründeter und „einfacher“ Textrekonstruktionen. Dennoch lassen sich auch die hier vorgestellten Textanalysen dem Interpretationstyp der wissenschaftlichen Interpretation zurechnen. Auch die im historischen Teil dieser Arbeit vorgestellten Beispielanalysen haben also den Status von (hoffentlich) plausiblen Wirkungshypothesen, die teilweise auch anders aufgestellt werden können. Deren empirische Überprüfung könnte dann aber immerhin den Grad 102

Fotis Jannidis, „Analytische Hermeneutik“, 140. Vgl. ebd. 141. 104 Hansson zum Beispiel unterscheidet zwei Arten von Leseprozessen: analytische und synthetische. Im letzteren Fall ist die innere verstandene Textversion stark von Emotionen begleitet, nur schwer verbalisierbar und kann sogar falsch sein. Dass eine solche synthetische Lesart aber überhaupt als ,falsch‘ klassifiziert werden kann, lässt sich nur damit erklären, dass literarische Kommunikation ein regelgeleiteter Prozess ist, der bis zu einem gewissen Grad intersubjektiv nachvollziehbar ist. Vgl. Gunnar D. Hansson, „Emotions in Poetry“. 103

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der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit und damit den Geltungsbereich verschiedener interpretativer Rekonstruktionen des emotionalen Wirkungspotenzials eines literarischen Textes ermitteln helfen. Einwenden könnte man weiterhin, dass ein solches Inferenzmodell lediglich auf die kognitive Verarbeitung von Textstrukturen abgestimmt und somit für die Analyse von Emotionslenkungsstrategien unbrauchbar sei. Da mit dessen Hilfe jedoch auch ganz basale Prozesse des unmittelbaren Textverstehens beschrieben werden können, auf denen Prozesse emotionaler Wirkung sprachlicher Artefakte notwendigerweise aufbauen müssen, kann ein inferenzbasiertes Verstehensmodell auch zur Erklärung emotionaler Wirkungen von Erzähltexten herangezogen werden. Es trägt darüber hinaus programmatisch der Tatsache Rechnung, dass zur Aufstellung von literaturwissenschaftlichen Wirkungshypothesen Forschungserkenntnisse aus den Kognitionswissenschaften einbezogen werden sollten;105 gleichzeitig ist es so allgemein gehalten, dass es anschlussfähig ist für das oben entwickelte kodebasierte Emotionsmodell wie auch für den narratologischen Zugriff auf längere Erzähltexte. Aus methodischen Erwägungen heraus ziehe ich Jannidis’ Inferenzmodell anderen, von einer leibzentrierten Bedeutungstheorie ausgehenden Modellen vor. Im Gegensatz zu den mir bekannten Arbeiten aus dem Bereich der Cognitive Poetics etwa ist ein inferenzbasiertes Verstehensmodell allgemeiner gehalten und damit anschlussfähiger für narratologische Analyseverfahren, die die zielgerichtete Beschreibung längerer Textpassagen sowie die Vergleichbarkeit von Textkorpora ermöglichen. Insgesamt scheinen mir die Analysemethoden der Cognitive Poetics noch nicht so weit entwickelt zu sein, dass sie für die Auswertung größerer Textmengen herangezogen werden könnten, auch wenn sie für Mikroanalysen – zum Beispiel bei der Erklärung von Metaphern durch die dahinter liegenden mentalen Konzepte – bereits sehr fruchtbare Ergebnisse geliefert haben. Die Erkenntnisse aus diesem literaturwissenschaftlichen Paradigma sollen daher im Einzelfall Berücksichtigung finden, können aber (noch) nicht für die systematische Beschreibung von Erzähltexten herangezogen werden.106 Unterschiede zwischen einem inferenzbasierten Verstehensmodell und den gängigen strukturalistisch ausgerichteten narratologischen Textbeschreibungsverfahren bestehen zwar in den jeweiligen theoretischen Voraussetzungen, methodisch sind beide Ansätze jedoch durchaus miteinander vereinbar. So wird beispielsweise im in der germanistischen Narratologie etwa von Michael Scheffel im Anschluss an Genette und Scholes vertretenen „low structuralism“ zwar von keiner streng begrenzten Zahl von vorhandenen Erzählformen ausgegangen, wie etwa in hochstrukturalistischen narratologischen Modellen, sondern von einem „grundsätzlich erweiterbaren Katalog von frei kombinier105

Dass das hermeneutische Verstehenskonzept und dasjenige der Kognitionswissenschaften, zumindest in ihrer schematheoretischen Ausprägung, prinzipiell miteinander vereinbar sind, hat Winko gezeigt: Simone Winko, „Verstehen literarischer Texte versus literarisches Verstehen von Texten“, 22–26. 106 Vgl. dazu Peter Stockwell, „Cognitive Poetics and Literary Theory“.

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baren Merkmalen“, die textanalytisch genauer beschrieben werden können.107 Unterschiede bestehen aber im Umfang und der Art der herangezogenen Kontexte (Paratexte, Gattungszuordnungen etc. statt kulturhistorischer Wissensbestände und alltagspsychologischer Annahmen) sowie in dem zugrunde gelegten Verstehensmodell, das nicht von „durchschnittlichen“, sondern von elaborierten Deutungen anhand genauer Beschreibungen der Strukturen und Relationen im Text ausgeht. In gängigen narratologischen Textanalysen wird, grob gesagt, von einer fester umrissenen Bedeutung eines literarischen Textes ausgegangen, die in dessen Struktur begründet liegt. Gleichwohl zeigt sich Scheffel offen für die Reformulierung narratologischer Beschreibungsgrößen unter Rückgriff auf Konzepte aus benachbarten Wissenschaftsdisziplinen wie zum Beispiel der Kulturwissenschaft oder den empirischen Wissenschaften.108 Jannidis wiederum versteht sein Modell dezidiert als „Beitrag zu einer historischen Narratologie“. Narratologische Beschreibungskategorien wie diejenigen der Stimme und der Fokalisierung beispielsweise können dazu unter Berücksichtigung kognitionspsychologischer Erkenntnisse reformuliert und mit Hilfe psycholinguistischer Methoden an die sie bedingenden Textmerkmale rückgebunden werden. Missverständlich erscheint mir allerdings Jannidis’ Begriff des „Modell-Lesers“. Er soll im Folgenden daher nicht übernommen werden, die hinter dem Begriff stehenden Überlegungen liefern jedoch einige Hinweise für weiterführende methodische Erwägungen, wie emotionale Wirkungspotenziale von Erzähltexten beschrieben werden können.

2.3.2 Zum Begriff des ,Modell-Lesers‘ und zum simulierten Rezeptionsprozess Jannidis geht davon aus, dass zur Simulation eines historischen Rezeptionsprozesses ein „Modell-Leser“ konstruiert werden müsse, der als „ein anthropomorphes Konstrukt“ konzeptualisiert werden könne, „das gekennzeichnet ist durch die Kenntnis aller einschlägigen Codes und auch über alle notwendigen Kompetenzen verfügt, um die vom Text erforderten Operationen erfolgreich durchzuführen.“109 Geschuldet ist die Annahme eines solchen „Modell-Lesers“ der Überlegung, dass zur Beschreibung historischer Rezeptionsprozesse erst einmal die im entsprechenden kulturhistorischen Zusammenhang geltenden Kodes und kommunikativen Konventionen ermittelt werden müssen, auf Basis derer ein inferenzgesteuerter Rezeptionsvorgang ablaufen kann. So steht zur Rekonstruktion eines solchen Rezeptionsvorgangs neben gegebenenfalls greifbaren Re107

Vgl. Michael Scheffel, „Das Urteil – Eine Erzählung ohne ,geraden, zusammenhängenden, verfolgbaren Sinn‘?“, 60f sowie allgemein zum Konzept des „low structuralism“ Robert Scholes, Structuralism in Literature. An Introduction, 157f. 108 Vgl. Michael Scheffel, „In What Direction Is Literary Theory Evolving: Response“, 463. 109 Fotis Jannidis, Figur und Person, 31.

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zeptionszeugnissen in erster Linie der Text zur Verfügung, aus dessen Struktur Annahmen über eine entsprechende Wirkung abgeleitet werden können. Jannidis will den „Modell-Leser“ daher als „textbasiertes Konstrukt“110 verstanden wissen. Gegen diese Begriffsprägung können zwei Einwände vorgebracht werden, ein terminologischer sowie ein „begriffsökonomischer“: Zum einen findet der Begriff des „Modell-Lesers“ bereits bei Eco Verwendung und bezeichnet dort „ein Zusammenspiel glücklicher Bedingungen, die im Text festgelegt worden sind und die zufriedenstellend sein müssen, damit ein Text vollkommen in seinem möglichen Inhalt aktualisiert werden kann.“111 So vage diese Formulierung bei Eco gehalten ist, so missverständlich ist es auch, wenn Jannidis in ähnlicher Weise von einem „Modell-Leser“ spricht, vor allem wenn er damit nicht genau dasselbe meint wie Eco. Nach Jannidis zerfällt der „Modell-Leser“ in den narrativen Leser, der dem Erzähler alles glaubt, und den auktorialen, der ein intendierter, kritischer Leser sein soll. Jannidis schließt damit an Überlegungen von Peter Rabinowitz an, verschenkt mit dieser Festlegung eines differenzierteren Leserkonzepts meiner Ansicht nach jedoch das Potenzial des inferenzbasierten Ansatzes, das ja gerade darin besteht zu akzentuieren, dass Verstehensprozesse eben probabilistisch sind.112 Zum anderen ist fraglich, ob ein idealisierter Leserbegriff überhaupt eingeführt werden muss, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass historische Rezeptionsprozesse in ausreichendem Maße stichhaltig nur dann simuliert werden können, wenn der jeweilige kulturhistorische Kontext, in dem sie stattgefunden haben, rekonstruiert werden kann. Im Rahmen der vorliegenden Studie wird daher auf den Begriff des „Modell-Lesers“ verzichtet. Allerdings soll an dieser Stelle noch einmal unterstrichen werden, dass gerade zur Simulation eines historischen Rezeptionsprozesses unter besonderer Berücksichtigung emotionaler Wirkungen möglichst umfassende Beschreibungen des soziokulturellen Umfeldes notwendig sind. Insbesondere müssen die für die jeweilige Epoche virulenten Emotionskonzepte mit den entsprechenden Kodierungen rekonstruiert werden. Dies kann im Rahmen der vorliegenden Studie allerdings nicht umfassend geleistet werden. Sie versteht sich insofern vielmehr als ein Baustein im Zusammenhang des Projektes einer historischen Narratologie, als sie eine Systematik für die Beschreibung emotionaler Wirkungen von Erzähltexten bereitstellt. Die hier durchgeführten Textanalysen beziehen relevante Emotionskonzepte der Entstehungszeit der Texte im Einzelfall mit ein, liefern jedoch keine umfassende kulturhistorische Rekonstruktion. Um die textwissenschaftlich gewonnenen Ergebnisse abzusichern, werden daher Rezeptionszeugnisse herangezogen und im Hinblick auf die dort dargestellten Emotionen analysiert: Vorausgesetzt wird, dass sich in den Rezeptionszeugnissen sowohl Indika110

Fotis Jannidis, Figur und Person, 31 (Kursivdruck im Original). Die Begriffsprägung verdankt sich somit einer textwissenschaftlichen Perspektive. Vgl. ebd. 136f. 111 Umberto Eco, Lector in fabula, 76 (Hervorhebung im Original). 112 Vgl. Fotis Jannidis, Figur und Person, 32f.

2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

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toren für kulturhistorisch variable emotionale Wirkungen als auch Indizien für die hier interessierenden, für weitgehend intersubjektiv invariant gehaltenen Rezeptionsphänomene finden lassen. Die Rezeptionsanalyse kann also einerseits als Korrektiv zur Überprüfung des Analyseverfahrens herangezogen werden, andererseits bildet sie die Voraussetzung für eine spätere abgesicherte kulturgeschichtliche Kontextualisierung. Hierbei gilt es allerdings zu beachten, dass es sich bei den meisten Rezeptionszeugnissen um Rezensionen zu den einzelnen Beispieltexten handelt, sodass hier mit sehr elaborierten, wenig spontanen Reaktionen zu rechnen ist, die eben lediglich als Korrektiv zu den Textanalysen dienen, jedoch in der Regel nicht genug Anhaltspunkte für die differenzierte Beschreibung klar voneinander abgrenzbarer emotionaler Reaktionen liefern können. Eine solche Differenzierungsleistung ist nur mit weiteren empirischen, text- und kulturwissenschaftlichen Methoden zu erzielen.

2.3.3 Zusammenfassung Die in den ersten drei Abschnitten dieses Kapitels angestellten Überlegungen zur literarischen Emotionsdarstellung, zum Begriff des Wirkungspotenzials und zum zugrunde gelegten Verstehensmodell haben zu folgenden Ergebnissen geführt: Die vorliegende Arbeit versteht sich als textzentrierter Beitrag zur Beschreibung emotionaler Wirkungspotenziale von fiktionalen Erzähltexten und damit als systematisch ausgerichteter „Baustein“ im Rahmen einer historischen Narratologie, deren Ziel „die Rekonstruktion der [narrativen, C.H.] Kommunikation insgesamt“ ist, „der sie ermöglichenden Codes und Konventionen und der Verwendung, die ein Autor in einem spezifischen Werk davon macht, um sein kommunikatives Ziel zu erreichen“.113 Dieser Anspruch ist natürlich nie vollständig zu verwirklichen, sollte aber zu möglichst genauen und materialreichen Rekonstruktionen führen. Die Studie stellt dazu eine Analysesystematik bereit, die in der Auseinandersetzung mit Erkenntnissen aus den Kognitionswissenschaften, insbesondere der Lese- und Emotionspsychologie und der empirischen Literaturwissenschaft sowie mit Hilfe von Analyseverfahren der Literaturwissenschaft und der Linguistik entwickelt wird. Zugrunde gelegt wird dabei ein inferenzbasiertes Modell des Textverstehens, das entsprechend weit gefasst und damit anschlussfähig ist für kodebasierte Kommunikationsmodelle, gleichzeitig jedoch auch Erkenntnisse aus den Kognitionswissenschaften berücksichtigt. Aus methodischen Erwägungen heraus wird dieses Modell anderen Modellierungen des Leseprozesses vorgezogen, deren Analyseverfahren bisher noch nicht weit genug entwickelt sind, um für die Beschreibung und Analyse längerer Textpassagen herangezogen werden zu können – dies gilt für viele neuere Studien aus dem Bereich der Cognitive Poetics – oder die theoretische Vorannahmen machen, die es lediglich gestatten, 113

Fotis Jannidis, Figur und Person, 28.

2.3 Entwurf eines narratologisch-kognitionspsychologisch fundierten Analysemodells

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einzelne Aspekte emotionaler Kommunikation zu betrachten – wie zum Beispiel evolutionspsychologisch argumentierende Ansätze. Emotionen wurden in diesem Kapitel als komplexes psychophysiologisches Phänomen beschrieben, das von verschiedenen Untersuchungsperspektiven aus definitorisch unterschiedlich gefasst werden kann. Um solche für andere Forschungsinteressen durchaus notwendige, aber hier gerade nicht erwünschte begriffliche Einengungen zu vermeiden, wurde für einen weiten Emotionsbegriff sowie ein integratives Modell emotionaler Kommunikation plädiert. Dieses umfasst alle kommunikativen Ebenen sowie die damit in Verbindung zu bringenden wissenschaftlichen Emotionsmodelle. Um speziell narrativer Kommunikation in einer zerdehnten Sprachhandlungssituation Rechnung zu tragen, wurde das für diese entwickelte Kommunikationsmodell der analytischen Hermeneutik zugrunde gelegt. Zur Erklärung von emotionsbezogenen Verstehensprozessen wurde Winkos kultursemiotisch fundiertes Modell der sprachlichen Kodierung von Emotionen herangezogen. Es erklärt, wieso emotionale Gehalte in Texten überhaupt intersubjektiv nachvollziehbar „transportiert“ werden können. Um daran anknüpfend emotionale Wirkungspotenziale von Texten beschreiben zu können, müssen nun aus der Bandbreite beobachtbarer emotionaler Reaktionen auf Erzähltexte diejenigen ermittelt werden, von denen mit guten Gründen angenommen werden kann, dass sie stark von Textfaktoren beeinflusst werden und außerdem intersubjektiv nachvollziehbar sind. Im Anschluss daran sollen die diese Reaktionen potentiell auslösenden Textstrukturen genauer benannt werden. Für eine genaue Simulation eines historischen Rezeptionsprozesses müssen darüber hinaus die zeitgenössischen Emotionskonzepte ermittelt werden. Dies ist im Rahmen dieser Studie jedoch nur begrenzt möglich. Zur Überprüfung der aufgestellten Wirkungshypothesen werden diese daher zum Abschluss mit Hilfe von Auswertungen zeitgenössischer Rezeptionszeugnisse auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft. In den folgenden Kapiteln sollen nun einige Formen emotionaler Wirkungen von Erzähltexten genauer betrachtet werden, über die sich von der Textstruktur ausgehend Aussagen treffen lassen. Als Differenzkriterium zu Systematisierungszwecken dient der jeweilige Objektbezug dieser Emotionen. Im Einzelnen sind dies emotionale Reaktionen auf die erzählte Welt – insbesondere figurenbezogene Emotionen, die sich auf die menschlichen Fähigkeiten zur Empathie und Sympathie zurückführen lassen –, durch die Art der Informationsvergabe hervorgerufene emotionale Reaktionen – in Form von Spannung, Überraschung und Desorientierung – sowie Emotionen, die sich auf den Erzähltext als Artefakt richten.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen In diesem Abschnitt wird diskutiert, welchen Textstrukturen die Funktion zugeschrieben werden kann, Emotionen hervorzurufen, die sich auf Elemente der Diegese von Erzähltexten richten. Betrachtet werden emotionale Rezeptionsprozesse, die von der Qualität der über diese vermittelten Informationen – dem ,Was‘ der erzählten Welt – beziehungsweise von der Art und Weise der Informationsvergabeprozesse – narratologisch gewendet also dem ,Wie‘ – abhängen. Dabei wird vor allem auf emotionale Reaktionen auf Figuren und figural gestaltete Erzähler114 sowie auf Prozesse der Erzeugung von Spannung, Überraschung und Desorientierung eingegangen. Diese emotionalen Lektürewirkungen weisen besonders enge und „einfache“ Korrelationen mit Textfaktoren auf und deren Einfluss auf die Leseremotionen kann mit Hilfe einer textzentrierten, linguistisch-narratologischen Methodik daher besonders gut für literaturwissenschaftliche Analysen operationalisiert und beschrieben werden. Nur ganz am Rande wird dabei auch auf die Evokation von Stimmungen eingegangen: Da Stimmungen von Emotionen klassifikatorisch durch einen unklaren Objektbezug und einen geringeren Grad an Bewusstheit abgegrenzt werden, stehen sie zum einen nicht im Fokus des hier verfolgten Erkenntnisinteresses.115 Zum anderen ist die Hervorbringung von Stimmungen durch literarische Texte gerade wegen dieses unklaren Objektbezuges bisher nur sehr allgemein und mehr oder weniger intuitiv zu fassen. Andere Elemente der Diegese, die den Bezugspunkt emotionaler Reaktionen bilden können, sind alle dort geschilderten unbelebten Objekte. Diese emotionalen Reaktionen lassen sich in Teilen mit der im Folgenden dargestellten Methodik erklären: Die Objekte der erzählten Welt können in vielfältiger Weise Bezugspunkt oder Auslöser von Emotionen sein – analog zu den Figuren der Diegese durch das Mittel der Anthropomorphisierung, durch ko- oder kontextgebundene Kodierung als symbolische Repräsentationen eines bestimmten Emotionskonzepts, als handlungsfunktionale Elemente im Rahmen emotionaler Situationen oder Szenarien oder ganz simpel als Bezugspunkt in114

Für figural gestaltete Erzähler kann davon ausgegangen werden, dass diese ähnliche emotionale Reaktionen wie die Figuren hervorrufen und damit mit der hier zu entwickelnden Methodik in analoger Weise beschrieben werden können. Ob es dagegen sinnvoll ist, bei Abwesenheit eines figural gestalteten Erzählers überhaupt eine im Text lokalisierbare Erzählinstanz anzunehmen, ist des öfteren mit guten Gründen bestritten worden. Vgl. z.B. Tilmann Köppe und Jan Stühring, „Against Pan-Narrator-Theories“. Der Annahme, dass es auch Erzähltexte ohne Erzähler geben kann, schließe ich mich an. Daraus ergibt sich notwendig die Konsequenz, dass erzählerlose Erzähltexte trivialerweise auch keine erzählerbezogenen Emotionen auslösen können. Nichtsdestotrotz kann es natürlich passieren, dass Leser aufgrund eines diffus emotionalisierenden Darstellungsverfahrens in einem erzählerlosen narrativen Text eine Erzählinstanz annehmen, der sie diese Emotionen im Anschluss zuschreiben. Aus einer textorientierten Perspektive sind solche Zuordnungen jedoch nicht begründbar. 115 Vgl. Abschnitt 2.1.1.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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dividueller Vorlieben und Interessen von Rezipienten. Insofern kommt den in der erzählten Welt geschilderten Objekten im Hinblick auf alle im Folgenden vorgestellten psychischen Prozesse der Herausbildung von Empathie, Sympathie, Spannung, Überraschung und Desorientierung sowie weiteren individualpsychologisch oder durch höherstufige Inferenzprozesse erklärbaren emotionalen Reaktionen auf Literatur eine mehr oder weniger bedeutsame Funktion zu, die im jeweiligen Argumentationszusammenhang genauer expliziert werden muss. Grundsätzlich soll an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass viele Aspekte des emotionalen Erlebens beim Lesen von einer textzentrierten Methodik selbstverständlich nicht zu erfassen sind. Dies wird in Abschnitt 2.5 kurz am Beispiel der sogenannten Artefaktemotionen dargelegt. Auf die vielfältigen anderen Möglichkeiten der emotionalen Teilhabe an literarischen Texten wird daher in Abschnitt 4 im Zuge der abschließenden kritischen Diskussion des vorgeschlagenen Modells zurückzukommen sein.116

2.4.1 Figurenbezogene Emotionen While K. becomes more skillful in playing his role, the text undermines the very integrity which he is trying to portray. During the period of time in which K. operates from the basis of his self-made fiction, the narrative reveals in several instances that K.’s judgements are flawed by misconceptions and a certain blindness.117 Wem soll der Leser Glauben schenken: dem Freiherrn von Yosch oder dem namenlosen Herausgeber der Aufzeichnungen oder soll er sich gar ein eigenes Bild machen? Kann diese Frauge überhaupt entschieden werden? Anders ausgedrückt: Haben wir es mit einem phantastischen Kriminalroman oder einem psychologischen Roman zu tun?118 Es fragt sich, ob der Individualpsychologe Alfred Adler Werfels Roman gelesen hat, doch hätte er den Abbau von Verdis Geltungsbedürfnis und den Aufbau seines Gemeinschaftsgefühls sowie seiner Mitmenschlichkeit bestimmt gutgeheißen.119

Literaturwissenschaftliche Interpretationen befassen sich häufig mit der Analyse von Figuren in Erzähltexten. Eine wichtige Rolle für literaturwissenschaftliche Argumentationen spielt hierbei implizit nicht zuletzt die Frage nach der Möglichkeit der emotio116

Vgl. zu den vielfältigen Möglichkeiten der emotionalen Anteilnahme an literarischen Artefakten auch die – teilweise allerdings überholte – Taxonomie bei Keith Oatley, „A Taxonomy of the Emotions of Literary Response and a Theory of Identification in Fictional Narrative“. Für die emotionale Kommunikation im Film vgl. Jens Eder, „Casablanca and the Richness of Emotions“, 234. 117 Karoline Krauss, Kafka’s K. versus the Castle. The self and the Other, 43. 118 Fotis Jannidis, „Leo Perutz: Der Meister des jüngsten Tages“, in Leo Perutz’ Romane. Von der Struktur zur Bedeutung, 49. 119 Harry Zohn, „Das annus mirabilis 1813 und die Folgen: Werfels Roman der Oper“, in Sympaian 1 (1996), 130.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

nalen Anteilnahme des Lesers an diesen Figuren und ihrer Sympathiewirkung – dies unter Berücksichtigung der Figurenkonstellation des Textes insgesamt. Ein systematisches Verfahren, mit dessen Hilfe der Status einer Figur im Hinblick auf ihre emotionale „Anschlussfähigkeit“ für den Rezipienten genauer beschrieben werden kann, liegt allerdings bislang nicht vor. Es soll daher im vorliegenden Abschnitt entwickelt werden. Im Folgenden werden daher die in diesem Zusammenhang relevanten und in der Forschung diskutierten Möglichkeiten der emotionalen Anteilnahme an literarischen Figuren kurz vorgestellt und daraufhin überprüft, inwiefern für eine textorientierte Untersuchungsperspektive, wie sie diese Arbeit einnimmt, aussagekräftige Analysekategorien bereitgestellt werden können, mit deren Hilfe die im Allgemeinen intuitiv oder durch die literaturwissenschaftliche Beschreibung des jeweiligen Einzeltextes gewonnene Einschätzung literarischer Figuren hinsichtlich ihrer Sympathiewirkung etc. emotionstheoretisch genauer gefasst werden können. Dazu wird hier auf zwei Begriffe näher einzugehen sein, die in der Forschungsliteratur im Zusammenhang mit emotionalen Reaktionen auf Figuren genannt werden und für die Textanalyse entsprechend operationalisiert werden können, nämlich Empathie und Sympathie. Bevor die beiden genannten Begriffe mit Blick auf die vorliegende Fragestellung expliziert werden, soll zunächst knapp der theoretische Rahmen der narratologischen Figurenanalyse umrissen werden. 2.4.1.1 Figurenkonstitution und emotionsbezogenes Wissen Als zentral für die narratologische Figurenanalyse aus der Sicht einer historischen, kognitionspsychologisch fundierten Narratologie kann wiederum die Habilitationsschrift von Jannidis gelten.120 Im Folgenden werden daher kurz die wichtigsten von Jannidis bereitgestellten Begriffe und Analysemethoden zur Beschreibung literarischer Figuren vorgestellt und auf das in dieser Arbeit vertretene kodebasierte Emotionsmodell bezogen. Im Anschluss an Sperbers und Wilsons psycholinguistische Sprachverarbeitungstheorie fasst Jannidis Figuren121 als „sprachlich erzeugte konzeptuelle Einheiten“122 beziehungsweise „mentale Modelle“123 auf, die sich im Laufe des Leseprozesses durch verschiedene sprachliche Mittel konstituieren. Diese mentalen Modelle sind im Sinne der Prototypensemantik so organisiert, dass es keine notwendigen oder zusammen hinreichenden Bedingungen gibt, die zur Bildung eines Figurenkonzepts führen, dass stattdessen ein ganzes Set von Textmerkmalen zur Erzeugung eines Figurenkonzepts zur Verfügung steht, die je unterschiedlich kombiniert werden können, und dass Figuren120

Fotis Jannidis, Figur und Person. Zur Terminologie: Der Begriff der ,Figur‘ bezieht sich auf Personen in fiktionalen Welten, damit auch auf anthropomorphe Agenten, derjenige der ,Person‘ auf menschliche Individuen. 122 Fotis Jannidis, Figur und Person, 147. 123 Ebd. 177, 183 und öfter.

121

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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konzepte in unterschiedlichem Maße ausdifferenziert sind.124 Jannidis skizziert einen ,Basistypus‘, der das Grundgerüst der beim Lesen erzeugten Figurenkonzepte bildet. Folgende Annahmen sind für das Konzept des ,Basistypus‘ kennzeichnend: Die Unterstellung 1. von wahrnehmbaren und nicht-wahrnehmbaren Anteilen (innerhalb der Diegese), 2. der Fähigkeit zum intentionalen Handeln, 3. einer Innen-Außen-Differenz sowie 4. der Unterscheidbarkeit stabiler von transitorischen Merkmalen.125 Hierbei handelt es sich um basale Schemata der Personenwahrnehmung, die die Figurenmodellierung in fiktionalen Texten beeinflussen.126 Eine Differenzierung hinsichtlich des ontologischen Status wird bei der Konstituierung des ,Basistypus‘ noch nicht vorgenommen. Dieser kann also in gleicher Weise als grundlegendes Konzept für die Personenwahrnehmung gelten. Fraglich ist dann allerdings, an welcher Stelle im Lektüreprozess die Zusatzinformation ,fiktional‘ zum Tragen kommt. Dies spielt insbesondere für die Frage der emotionalen Anteilnahme eine große Rolle, da das Merkmal ,fiktional‘ als Bestandteil eines Figurenkonzepts bestimmte mit Emotionen verknüpfte Verhaltensmuster außer Kraft setzen kann. Auch die Qualität der emotionalen Reaktion kann durch den Fiktionalitätsmarker beeinflusst werden. Unter der Prämisse, dass für die Konstruktion des Basistypus keine kategoriale Unterscheidung zwischen Personen- und Figurenkonzepten vorgenommen wird, lassen sich die genannten vier Aspekte für Prozesse der emotionalen Anteilnahme weiter konkretisieren. Voraussetzung für die emotionale „Einfühlung“ in literarische Figuren ist die Annahme, dass die Figur ähnlich wie Personen des Alltagslebens mit einer Psyche und damit auch mit der Fähigkeit zum emotionalen Erleben ausgestattet ist.127 Diese wird auch als „psychopoetischer Effekt“ bezeichnet.128 In die Konstruktion des ,Basistypus‘ geht weiterhin alltagspsychologisches129 emotionsbezogenes Wissen ein, wie z.B. dass Emotionen nur zum Teil äußerlich wahrnehmbar sind, Handlungsentscheidungen beeinflussen können, eine Differenz zwischen einem Gefühl und der von außen

124

Fotis Jannidis, Figur und Person, 114. Ebd. 127. 126 Ebd. 127 Ein Indiz dafür, dass diese Form der Figurenwahrnehmung basal ist, findet sich zum Beispiel in der Science-Fiction-Serie Star Trek: Der Figur des Mister Spock beziehungsweise dem Volk der Vulkanier muss dort die Fähigkeit zum emotionalen Erleben im Sinne des Prinzips der minimalen Abweichung explizit abgesprochen werden. Vgl. zum Prinzip der minimalen Abweichung MarieLaure Ryan, „Fiction, Non-Factuals, and the Principle of Minimal Departure“. 128 Vgl. Katja Mellmann, Emotionalisierung, 103. 129 Vgl. Fotis Jannidis: Figur und Person, 197. 125

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

wahrnehmbaren Manifestation einer Emotion besteht sowie dass Emotionen transitorische mentale Zustände sind.130 Figurenkonzepte können teilweise noch stärker konventionalisiert sein und zwar in Form von Figurenmodellen, figuralen Schemata sowie als Elemente situativer Schemata. Figurenmodelle sind [t]ypisierte Konfiguration[en] von Figureninformationen mit der Struktur des Basistypus; z.B. der Melancholiker, die Extrovertierte, der Schönling, der Vamp. [...] Quelle der Figurenmodelle ist das Wissen über den Typus der erzählten Welt, das literarische Wissen, das Wissen über fiktionale Welten sowie Universen und das Wissen über die aktuale Welt, z.B. der Habitus von sozialen Gruppen.131

Je nach Typus geht auch ein mehr oder minder großer Anteil an Informationen über emotionale Zustände der jeweiligen Figur in diese „[t]ypisierte Konfiguration“ mit ein, zum Beispiel im Falle des Melancholikers das Wissen darüber, dass diesem in der Regel eine bestimmte Form der Traurigkeit zugeordnet ist. Figurale Schemata sind gekennzeichnet durch eine „Regelmäßigkeitsannahme, die mindestens zwei Informationen miteinander verbindet. Ist eine der Informationen mitgeteilt, kann aufgrund des Schemas auf die andere geschlossen werden.“132 Auch hier kann Wissen über Emotionskodes erforderlich sein, um das entsprechende Schema aufrufen zu können. Zum Beispiel gehört zum Verständnis der Rolle der Vertrauten auch das Wissen darüber, dass diese gut über den emotionalen Zustand der ihr zugeordneten Figur orientiert ist, besonderen Anteil an deren emotionalem Erleben nimmt und sich dementsprechend in der Regel durch ein besonders gut entwickeltes „Einfühlungsvermögen“ dieser gegenüber auszeichnet. Situative Schemata ordnen eine Figur einem bestimmten Ort sowie einem bestimmten Geschehen an diesem Ort zu: Ein ,situativer Rahmen‘ umfaßt Figuren an einem Ort sowie das Geschehen an diesem Ort. Dieses Geschehen kann wiederum durch typische Handlungsabläufe (scripts) [...] und zusammengehörige Informationssets (frames) [...] organisiert sein, und in nicht-situativem Text wird u.a. Information solcher Art präsentiert.133

Für bestimmte situative Rahmen muss auch emotionsbezogenes Wissen zum Verständnis herangezogen werden, so zum Beispiel im christlich-europäischen Kulturkreis für das Schema der Hochzeit oder der Trauerfeier, die mit der Ortszuordnung Kirche und eines dort anwesenden Priesters oder Pastors verbunden sind, dem in diesem Rahmen in der Regel die Fähigkeit zu besonderem Mitgefühl und die Rolle einer stellvertretend für eine Gruppe Freude oder Trauer ausdrückenden Person zugeschrieben wird. 130

Eine ausführliche Auflistung dieses alltagspsychologischen Wissens bietet Reinhard Fiehler: Emotion und Kommunikation, 41f. 131 Fotis Jannidis: Figur und Person, 253. 132 Ebd. 252 (Kursivdruck im Original). 133 Fotis Jannidis: Figur und Person, 133f.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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Figurenmodelle, figurale Schemata sowie situative Schemata stellen hochgradig konventionalisierte Informationen über bestimmte Figuren bereit, die im Text selbst nicht mehr vollständig explizit gemacht werden müssen, um zur Ausbildung eines Figurenkonzeptes beitragen zu können. Rezipienten können mit Hilfe des entsprechenden Schemawissens so den oben skizzierten ,Basistypus‘ mit weiteren ko- oder kontextuell ermittelbaren Informationen anreichern. Für die textuelle Ausgestaltung eines Figurenkonzepts muss zwischen Informationsvergabe und Charakterisierung unterschieden werden, da nicht jede einer Figur zugeordnete Information diese auch charakterisieren muss. Jannidis nennt vier skalare Dimensionen, hinsichtlich derer Informationen als für die Herausbildung eines Figurenkonzepts konstitutiv eingeschätzt werden können: Zuverlässigkeit, Modus, Relevanz und Offensichtlichkeit.134 So kann etwa ein unzuverlässiger Erzähler möglicherweise falsche oder zumindest fehlerhafte Informationen über eine Figur mitteilen, eine Information kann lediglich ironisch mitgeteilt, wenig aussagekräftig im Hinblick auf ein mögliches Figurenkonzept oder relativ schwer einer bestimmten Figur zuzuordnen sein. Hierbei ist auch zu beachten, in welcher Weise die Zuordnung der entsprechenden Information zu einer Figur motiviert ist, ob kausal, final, kompositorisch oder zur Erzielung eines „Realitätseffektes“.135 Weiterhin kann angenommen werden, dass Informationen über den Existenzmodus Konsequenzen für die emotionale Einstellung des Rezipienten zu einer Figur haben können. Jannidis nennt insgesamt fünf Modi: faktisch, kontrafaktisch, hypothetisch, möglich, rein subjektiv.136 Eine eindeutige Zuordnung von Existenzmodi zu Graden emotionaler Beteiligung erscheint allerdings unplausibel, man denke etwa an die Figur eines imaginären Freundes, die u.U. besonders gut Sympathieeffekte erzielen kann, wohingegen eine faktisch in der erzählten Welt auftretende Nebenfigur in dieser Hinsicht relativ uninteressant sein dürfte. Jedoch ist davon auszugehen, dass das Wissen darüber, ob eine Figur Teil der erzählten Welt ist oder explizit nicht beziehungsweise welchen ontologischen Status sie innerhalb der Diegese hat, die Intensität dieser Beteiligung für bestimmte, stereotyp emotional konnotierte Situationen beeinflussen kann, etwa in einer Trauersituation. Der Zusammenhang zwischen figuralem Existenzmodus und emotionaler Anteilnahme muss also für jeden Fall einzeln explizit gemacht werden. Die an eine bestimmte Figur gebundenen Informationen ermöglichen dem Rezipienten unter anderem auch die Simulation von deren mentalem Zustand. Diese „Einfühlungsprozesse“ gelten als basal für das Textverständnis und bilden die Voraussetzung für die emotionale Anteilnahme an Figuren. Im Folgenden wird deswegen genauer darzulegen sein, wie ein solcher „Einfühlungsvorgang“ sinnvollerweise konzeptualisiert werden kann und wie dieser mit dem Wissen über Emotionskodes verknüpft ist. Um 134

Fotis Jannidis: Figur und Person, 201. Ebd. 223, 228. 136 Ebd. 129, 254. 135

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

diesen Zusammenhang genauer zu beschreiben, orientiere ich mich an einem VierEbenen-Modell mentaler Operationen im Hinblick auf literarische Figuren, das Mellmann vorgelegt hat. Sie nennt insgesamt vier empathieermöglichende „hermeneutische Basisprozesse“137: neben der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme138 und der Grundannahme eines mit einer Psyche versehenen Gegenübers („psychopoetischer Effekt“) als dritten denjenigen der ,Theory of Mind‘.139 Grob ist damit die Repräsentation des mentalen Zustandes einer anderen Person bezeichnet, die mit Hilfe der metarepräsentativen Fähigkeiten des Menschen gebildet werden kann.140 Diese umfasst nach Mellmann jedoch nur die Simulation epistemischer und motivationaler Voraussetzungen. Erst der vierte Basisprozess der ,Empathie‘ integriert ihr zufolge auch die Simulation des emotionalen Zustandes dieser Person.141 Mit Hilfe dieser analytischen Trennung vierer verschiedener Operationen im Leseprozess und ihren entsprechenden Resultaten sind grob die verschiedenen Voraussetzungen benannt, die gegeben sein müssen, um emotional mit einer Figur „mitfühlen“ zu können. Problematisch erscheint allerdings die Beantwortung der Frage, wie die genannten Prozesse metasprachlich aufeinander zu beziehen sind. Insbesondere die Unterscheidung von ,Theory of Mind‘-Effekten von demjenigen der Empathie erscheint nicht trennscharf und wird teilweise auch anders vorgenommen. So fasst Zunshine „mind-reading“-Vorgänge als komplexere, höherstufige Prozesse auf, die „our ability to explain people’s behavior in terms of their thoughts, feelings, beliefs, and desires“ umfassen.142 Ihr Begriff der „Theory of Mind“ entspricht somit demjenigen der „Empathie“ bei Mellmann. Dies veranschaulicht, wie stark sich die Begriffsverwendung von ,Empathie‘ häufig mit verwandten Bezeichnungen für mentale Prozesse überschneidet, und unterstreicht die Notwendigkeit von Begriffsklärungen. ,Empathie‘ wird in zwei Hinsichten sehr unterschiedlich expliziert: 137

Katja Mellmann, Emotionalisierung, 97ff. Narratologisch gewendet setzt dies das Erkennen der Rede- sowie der Fokalisierungsinstanz voraus, also der Fähigkeit, die Fragen „Wer spricht?“ sowie „Wer nimmt wahr?“ beantworten zu können. 139 Vgl. dazu ausführlich Lisa Zunshine, Why we read fiction sowie dies., „Theory of Mind and Experimental Representations of Fictional Consciousnes“ 140 Vgl. dazu Deirdre Wilson, „Metarepresentation in Linguistic Communication“ sowie Katja Mellmann, Emotionalisierung, 111. 141 „Als ,Empathie‘ wird im folgenden der Vorgang bezeichnet, daß e i n e m e n t a l e R e p r ä s e n t a t i o n e i n e s f r e m d e n , i n n e r e n ‘ Z u s t a n d e s gebildet wird. Diese mentale Repräsentation kann das Ergebnis einer b e l i e b i g ko m p l e x e n p s yc h i s c h e n O p e r a t i o n sein, die zahlreiche kognitive Algorithmen wie z.B. der allgemeinen Situationsanalyse qua Perspektivenübernahme (,In welcher Situation befindet sich der andere?‘), der Absichtsanalyse qua ,theory of mind‘ (,Was will er?‘), der Reaktualisierung von eigenen Gedächtnisinhalten (,Wie fühlt man sich in einer solchen Situation?‘) und mehr umgreift.“ Katja Mellmann, Emotionalisierung, 115f (Sperrdruck im Original). 142 Lisa Zunshine, Why we read fiction, 6 sowie dies., „Theory of Mind“, 271. 138

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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einerseits im Hinblick auf den Zusammenhang mit anderen mentalen Operationen wie beispielsweise der der Theory of Mind, andererseits nach dem Grad der emotionalen Involviertheit des Rezipienten. Um Empathie als Analysekategorie für literaturwissenschaftliche Interpretationen fruchtbar zu machen, muss der damit bezeichnete Vorgang phänomenologisch genauer umrissen und begrifflich so expliziert werden, dass er für die Textanalyse operationalisiert werden kann. Zusammenfassend lässt sich erst einmal festhalten, dass mit der Benennung einer Figur143 das entsprechende Figurenkonzept aufgerufen und damit in der Regel auch ein „psychopoetischer Effekt“ erzielt wird, an den anschließend je nach Art der Informationsvergabe im Text mentale Zustände einer Figur in unterschiedlicher Differenziertheit simuliert werden können – Figuren, die an einen bestimmten situativen Rahmen gebunden sind, z.B. werden in der Regel vom Leser weniger deutlich wahrgenommen beziehungsweise nicht mit einer Theory of Mind ausgestattet.144 Die Möglichkeiten, emotional auf ein so gebildetes Figurenkonzept zu reagieren, sind vielfältig. Jens Eder beispielsweise nennt in seinem Forschungsüberblick fünf verschiedene Möglichkeiten, wie Prozesse emotionaler Anteilnahme an Figuren konzeptualisiert werden können.145 Diese unterscheiden sich vor allen Dingen im Hinblick auf die Gewichtung von Artefaktmerkmalen und rezipientenseitigem Voraussetzungssystem bei der Emotionsgenese. Als stark durch die strukturellen und inhaltlichen Vorgaben des Textes beeinflusste Reaktionsweisen lassen sich empathische Einfühlungsvorgänge und sympathie- und antipathiegeleitete Einstellungen gegenüber literarischen Figuren qualifizieren, die daher unten genauer betrachtet werden sollen. In ähnlicher Weise benennt eine mediävistische Arbeit von Verena Barthel Empathie, Mitleid und Sympathie als zentrale Kategorien zur Beschreibung emotionsbezogener rezeptionslenkender Textstrukturen.146 Das von Barthel vorgeschlagene Analysemodell erweist sich jedoch als zu schematisch und in der Benennung einzelner rezeptionslenkender Textmerkmale zu ungenau, um übernommen werden zu können. Vielmehr muss ein eigenständiges Verfahren entwickelt werden, das eine differenziertere Beschreibung dieser rezeptionslenkenden Textelemente ermöglicht. Um das eigene Vorgehen zu profilieren sei an dieser Stelle deswegen Barthels Vorgehen kurz umrissen: Barthel nimmt unter Rekurs auf Ansgar Nünning ihre Analyse rezeptionslenkender Strukturen in drei Schritten vor, die sich auf drei von Nünning genannte kommunikative

143

Die entsprechenden sprachlichen Mittel nennt Fotis Jannidis, Figur und Person, 114ff. Vgl. Catherine Emmott, „Reading for Pleasure. A Cognitive Poetic Analysis of ,Twists in the Tale‘ and Other Plot Reversals in Narrative Texts“, 149. 145 Er unterteilt in Identifikation/Empathie, objektive Bewertung, subjektive Bewertung, Aktivierung emotionaler Gedächtnisinhalte, situative Parteinahme auf der Basis emotionaler Dispositionen. Jens Eder, „Drei Thesen zur emotionalen Anteilnahme an Figuren“, 368f. 146 Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie. Rezeptionslenkende Strukturen mittelalterlicher Texte in Bearbeitungen des Willehalm-Stoffes. 144

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

Ebenen des Textes147 beziehen und für die sie je einzeln empathielenkende Textstrukturen benennt. Unter die empathielenkenden subsumiert sie Textstrukturen, die Empathie, Mitleid und Sympathie hervorrufen können. Diese Strukturen werden von ihr zum einen inhaltlich bestimmt – zum Beispiel werden bestimmte Raumbeschreibungen, Innensichtdarstellungen von Figuren etc. aufgelistet –, zum anderen benennt Barthel auch rein formal bestimmbare erzähltechnische Mittel, die empathielenkendes Potenzial haben, etwa Ana- und Prolepsen sowie den so genannten „Primacy-Effekt“148. In den Beispielanalysen beschreibt Barthel anschließend für jede kommunikative Ebene einzeln deren empathielenkendes Potenzial. Problematisch erscheint dieses Vorgehen in mehrerlei Hinsicht: So finden bei Barthel empirische und vor allem psychologische Forschung in den Begriffsexplikationen kaum Berücksichtigung. Beispielsweise erscheint nicht einsichtig, warum Sympathie lediglich als Sonderform von Empathie aufgefasst werden sollte, da in der psychologischen Forschung weitgehend Konsens darüber besteht, dass beide Begriffe unterschiedliche psychologische Prozesse beschreiben und durch ein je unterschiedliches Verhältnis zu einer Person oder Figur verbunden sind.149 Ebenso ist die Beschränkung auf Mitleid als einzige ein Gefühl mitempfindende Lesehaltung nicht überzeugend, da auch Fälle von „Mitfreude“ einer Figur gegenüber denkbar erscheinen.150 Es sollte deswegen, trotz der Dominanz des Mitleidbegriffs in der christlich-abendländischen Kultur besser von Mitgefühl oder verschiedenen „Mitgefühlen“ gesprochen werden, auch wenn mitleiderregenden Darstellungsverfahren eine besonders prominente Rolle zukommen mag, wenn von Leseremotionen die Rede ist. Weiterhin geht Barthel auf die sprachlichen Möglichkeiten der Kodierung von Emotionen, mit deren Hilfe Innensichtdarstellungen von Figuren sprachlich erzeugt werden, nicht näher ein. Auch wertungstheoretische Forschung findet in ihrer Studie kaum Berücksichtigung, obwohl Barthel davon ausgeht, dass Sympathie im Kern ein Werturteil über eine Figur darstellt. Problematisch erscheint auch die Aufgliederung in drei Analyseebenen: Erst einmal kann vermutet werden, dass alle textuell vermittelten Informationen für die Herausbildung eines Figurenkonzeptes sowie für dessen Bewertung relevant sind. Eine starre Aufteilung der Analyseschritte nach Kommunikationsebenen suggeriert jedoch eine generalisierbare hierarchische Ordnung der auf den einzelnen Erzählebenen rekonstruierbaren Informationsvergabeprozesse und Bewertungshandlungen. 147

Dies sind diejenige des epischen Berichts, der persönlichen Erzählinstanz sowie der Figurenreden. Vgl. Ansgar Nünning, Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung. Die Funktion der Erzählinstanz in den Romanen George Eliots. 148 Hierbei wird davon ausgegangen, dass der ersten Benennung besonderes Gewicht bei der Konstituierung des Figurenkonzeptes zukommt, vor allem in Bezug auf die Einstellung des Lesers zu dieser Figur. 149 Vgl. Lauren Wispé, „The Distinction Between Sympathy and Empathy: To Call Forth a Concept, A Word Is Needed“ sowie Douglas Chismar, „Empathy and Sympathy: The Important Difference“. 150 Vgl. Christoph Demmerling und Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, 167.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

71

Außerdem erweist sich die Verteilung der von Barthel genannten empathielenkenden Textstrukturen auf den einzelnen kommunikativen Ebenen als deutlich ungleichgewichtig. Die meisten und am konkretesten bestimmbaren empathielenkenden Strukturen lassen sich für die Ebene des epischen Berichts angeben, wohingegen auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz und der Figurenreden nur ein beziehungsweise zwei Analysekategorien genannt werden, die teilweise vage bleiben. In Abgrenzung von Barthels Vorgehen soll in der vorliegenden Arbeit ein zu schematisches Vorgehen und die starre Unterteilung von Analyseschritten anhand kommunikativer Ebenen vermieden werden. Die zugrunde gelegten Analysekategorien müssen dazu terminologisch eindeutig expliziert sowie deren sprachliche Korrelate genauer beschrieben werden. Trotzdem kann Barthels Arbeit als Ausgangspunkt für die nun folgenden Überlegungen dienen, da sie den Anspruch erhebt, von Textstrukturen ausgehend Aussagen über Wirkungspotenziale von Erzähltexten zu machen, und eine Möglichkeit umreißt, die für Prozesse emotionaler Anteilnahme an Figuren zentralen Begriffe ,Empathie‘, ,Mitleid‘ und ,Sympathie‘ für die Textanalyse zugänglich zu machen. Die Unterteilung der Analyseschritte im Hinblick auf die verschiedenen Kommunikationsebenen des Textes soll dabei zwar nicht aufrecht erhalten, die zugrunde liegende Annahme, dass es insbesondere die Perspektivierung des dargestellten Geschehens ist, die die emotionale Anteilnahme an literarischen Figuren beeinflusst, hingegen bedacht werden.151 Im Einzelnen werden in einem ersten Schritt Empathie und Sympathie expliziert und in einem zweiten Textoberflächenphänomene und mittels basaler Inferenzziehungen gebildete Textstrukturen benannt, die Prozesse empathischer Einfühlung oder sympathieorientierter Parteinahme für eine Figur steuern können.

151

Vgl. auch Jens Eder, „Drei Thesen zur emotionalen Anteilnahme an Figuren“, 371 (Kursivdruck im Original): „Den Kern der emotionalen Anteilnahme an Figuren bildet die perspektivierte Einschätzung ihrer Eigenschaften und Situationen.“ Sowie Fotis Jannidis, Figur und Person, 232.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

2.4.1.2 ,Empathie‘: Problemaufriss und Begriffsexplikation ,Empathie‘152 ist neben ,Identifikation‘ einer der zentralen Begriffe, die genannt werden, wenn es um die emotionale Anteilnahme an anderen Personen und eben auch an Figuren in fiktionalen Welten geht.153 Als relationaler Begriff bietet er die Möglichkeit, Textmerkmale und Rezeptionseffekte miteinander in Beziehung zu setzen und so von Textstrukturen ausgehend Hypothesen über die emotionale Wirkung dieser Strukturen ableiten zu können.154 Allerdings ist, wie oben bereits angedeutet wurde, relativ unklar, 152

Zur Begriffsgeschichte, auf die ich an dieser Stelle nicht weiter eingehe, vgl. Suzanne Keen, Empathy and the novel, 39f sowie Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie, 30f; zur Abgrenzung von den verwandten Begriffen ,Einfühlung‘ und ,Identifikation‘ Claudia Breger und Fritz Breithaupt, „Empathie und Erzählung“, in DVjS 82,3 (2008), 352, Anm. 2. Kuiken, Miall und Sikora fassen Identifikation als Form einer metaphorischen Ersetzung auf, mit deren Hilfe der Rezipient sich als literarische Figur imaginiert. Eine identifikatorische Lektüre kann anschließend dessen Welterleben ändern. Dies gilt vor allem für depressive Patienten oder solche, die gerade eine Krise durchleben. Don Kuiken, David S. Miall und Shelley Sikora, „Forms of SelfImplication in Literary Reading“. Neuerdings konnte empirisch bestätigt werden, dass das Lesen literarischer Texte unabhängig von Persönlichkeitsmerkmalen auch die Fähigkeit zur empathischen Teilhabe an anderen verbessert. Vgl. Raymond A. Mar, Keith Oatley und Jordan B. Peterson: „Exploring the Link between Reading Fiction and Empathy: Ruling out Individual Differences and Examining Outcomes“. Allgemein verbessert eine empathische Lesehaltung das Textverstehen. Vgl. Tammy Bourg, Kirsten Risden, Shellie Thompson und Ellen C. Davis, „The Effects of an Empathy-building Strategy on 6th Graders’ Causal Inferencing in Narrative Text Comprehension“. Allerdings ist z.B. noch unklar, ob es bestimmte Emotionen gibt, die eher empathisch geteilt werden als andere. Vgl. Keith Oatley, „An Emotion’s Emergence, Unfolding, and Potential for Empathy: A Study of Resentment by ,The Psychologist of Avon‘“. 153 Dass wie auch immer geartete empathisch orientierte „Einfühlungsprozesse“ auch für fiktionale Texte und deren Figuren möglich sind, ist unstrittig, der ontologische Status der beobachtbaren emotionalen Reaktionen jedoch nicht. Dies zeigt insbesondere die philosophische Debatte um das sogenannte „paradox of fiction“. Vgl. dazu z.B. Jerrold Levinson, „Emotion in Response to Art“; Feagin: „Emotions from the Perspective of Analytic Aesthetics“, 277f sowie zusammenfassend aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Simone Winko, Kodierte Gefühle, 37–40. Aus Sicht einer evolutionspsychologisch ausgerichteten Literaturwissenschaft vgl. Mellmann, die die Debatte als begriffs- und nicht sachorientiert kritisiert: „Literatur als emotionale Attrappe. Eine evolutionspsychologische Lösung des ,paradox of fiction‘“. Neuerdings hat Davies eine Lösung des Paradox vorgeschlagen, die hinsichtlich unterschiedlicher emotionaler Reaktionen auf literarische Artefakte differenziert. Stephen Davies, „Responding Emotionally to Fictions“. 154 Auf die neuronalen Prozesse bei der Simulation des mentalen Zustandes einer anderen Person soll hier nicht weiter eingegangen werden. Eine wesentliche Rolle scheinen dabei die so genannten „Spiegelneuronen“ zu spielen, die in den 1990er Jahren von der Forschergruppe um Giacomo Rizzolatti an der Universität von Parma entdeckt wurden. Vgl. dazu z.B. Giacomo Rizzolatti und Corrado Sinigaglia, Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls; Vittorio Gallese und Alan Goldman, „Mirror neurons and the simulation Theory of Mind-reading“ sowie aus literaturwissenschaftlicher Sicht Gerhard Lauer, „Spiegelneuronen. Über den Grund des Wohl-

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

73

welche im Lektüreprozess beobachtbaren Phänomene eigentlich unter dem Stichwort ,Empathie‘ zusammengefasst werden können. Zwei unterschiedliche Verwendungsweisen in Bezug auf die Extension lassen sich unterscheiden: eine weite und eine enge Verwendung des Empathiebegriffs. Im ersten Fall bezeichnet ,Empathie‘ die komplexe Simulation eines mentalen Zustandes einer anderen Person oder auch Figur inklusive der entsprechenden Emotionen.155 Im zweiten Fall wird der Begriff nur auf das Verstehen von deren emotionalem Zustand bezogen.156 Intensional wird der Grad der emotionalen Involviertheit des Rezipienten begrifflich unterschiedlich gefasst, von einem lediglich nachvollziehenden, rein kognitiven Verstehen157 bis hin zu einer quasi-identifikatorischen Übernahme des dargestellten Gefühls.158 Van Holt und Groeben haben für die Lesepsychologie folgende Minimaldefinition vorgeschlagen: gefallens an der Nachahmung“, Suzanne Keen, Empathy and the novel, 12–15 und Katja Mellmann, Emotionalisierung, 119. 155 Vgl. z.B. Mellmanns Empathiebegriff (Anm. 141 in diesem Kapitel), der eine gewisse Bandbreite in der Komplexität empathischer Repräsentationen vorsieht. Einen Sonderfall, auf den im Folgenden nicht weiter eingegangen werden soll, stellt Breithaupts Theorieentwurf dar: In seinem spekulativen, kulturalistischen Ansatz bezieht sich die empathische Tätigkeit zwar nicht ausschließlich auf emotionale Gehalte, der Begriff wird aber insofern wiederum sehr eng gefasst, als Breithaupt eine sehr spezifische Form der empathischen Teilhabe als empathische Urszene zu deren Grundform erhebt: „Im Folgenden möchte ich vorschlagen, Empathie als eine Form der Parteinahme in einer Dreierszene zu beschreiben. Empathie, so die einfache These, kann entstehen, wenn ein Beobachter die nicht-harmonische Interaktion von mindestens zwei Individuen beobachtet und mental Partei für eine der beiden Seiten ergreift, ohne aber notwendigerweise in die Handlung einzugreifen.“ Fritz Breithaupt, Kulturen der Empathie, 152 (Kursivdruck im Original). Darüber hinaus betont Breithaupt den selektiven und narrativen Charakter empathischer Einfühlungsprozesse. Ebd. 12. Breithaupts Konzept, das von ihm selbst als „auch spekulativ“ bezeichnet wird (Ebd. 16, 189), steht allerdings konträr zum üblichen Begriffsgebrauch von Empathie in der Psychologie und soll deswegen im Folgenden nicht weiter berücksichtigt werden. Da seinem Konzept ein sehr voraussetzungsreiches und empirisch (noch) unbestätigtes mentales Modell zugrundeliegt, besteht andernfalls die Gefahr, eine mit empirischen Daten unvereinbare Analysesystematik aufzustellen und eindeutig falsifizierbare textanalytische Ergebnisse zu erhalten. 156 So beispielsweise Fotis Jannidis, Figur und Person, 231. 157 So etwa Mellmann: „Sicher, wir können uns vo r s t e l l e n , wie eine Figur fühlt. [...] Eine empathische Vorstellung aber ist etwas anderes als die Initialisierung eines Emotionsprogramms bei uns selbst.“ (Katja Mellmann, Emotionalisierung, 111 (Sperrdruck im Original)). 158 So zum Beispiel Keen, die unter ,Empathie‘ „a vicarious, spontaneous sharing of affect“ versteht. Suzanne Keen, Empathy and the novel, 4. In sich widersprüchlich erscheint die Definition von Barthel: „Als Empathie (und Einfühlung) wird nun generell der psychische Vorgang definiert, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt eines anderen Menschen kognitiv einzufühlen und die Welt aus dessen Sicht zu sehen.“ Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie, 31.

74

2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten Als Minimalverständnis, das den meisten Ansätzen zugrundeliegt, kann folgende Begriffsbestimmung gelten: Empathie ist das mit- bzw. nachempfindende Teilen eines Gefühls mit einer anderen Person. [...] In der neueren Forschung wird meist eine Interaktion von kognitiven und emotionalen Komponenten zum empathischen Erleben angesetzt.159

Hierbei gelten sowohl die Übereinstimmung im emotionalen Erleben zweier Personen wie auch die Antizipation devianter Gefühlszustände des anderen als empathische Reaktionen. Häufig wird zusätzlich angenommen, dass der Beobachter stärker aus der Perspektive des Beobachteten als aus der eigenen empfindet. Van Holt und Groeben beschreiben diese Art des Texterlebens als „realselbstfern“ und „figurennah“.160 Die Frage, wie genau sich das Wechselverhältnis zwischen eigenem emotionalen Erleben und den dargestellten Figurengefühlen konkret gestaltet, bleibt dabei weitgehend offen und wird in Abhängigkeit von der zugrunde gelegten Emotionstheorie und dem damit verbundenen Lesemodell je unterschiedlich beantwortet. So wird auf der Beschreibungsebene häufig eine Staffelung nach Intensitätsgraden der „emotionalen Ansteckung“ vorgenommen.161 Auch in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem „Mitfühlen“ einer Emotion und der Selbstbewusstheit des Rezipienten herrscht keine Einigkeit.162 Van Holt und Groeben unterscheiden in ihrem integrativen Modell, das eine Vielzahl von Forschungsansätzen aus der Lesepsychologie und der empirischen Literaturwissenschaft berücksichtigt, vier Modi der emotionalen Beteiligung an Figuren hinsichtlich des Selbst- und Figurenbezuges der beobachteten Emotionen des Rezipienten.163 Dies sind ein Modus

159

Nadine van Holt und Norbert Groeben, „Emotionales Erleben beim Lesen und die Rolle text- sowie leserseitiger Faktoren“, 119. 160 Ebd. 125. 161 Winko beispielsweise unterscheidet aus einer textwissenschaftlich ausgerichteten Untersuchungsperspektive „Verstehen“, „Nachvollzug“ und „Übernahme“. Simone Winko, Kodierte Gefühle, 141–143. Keitel trennt vom Text evozierte Gestimmtheiten von identifikatorischem Lesen. Evelyne Keitel, Von den Gefühlen beim Lesen, 11f. Als Beispiele aus dem empirischen Paradigma der Literaturwissenschaft seien genannt Andringa, die von „Involvement“ und „Sympathy“ spricht (Els Andringa, „Effects of ,Narrative Distance‘ on Readers’ Emotional Involvement and Response“, 438), und Cupchik, der einen „Strong“ und einen „Weak mode of identification“ unterscheidet. Gerald Cupchik, „Identification as a Basic Problem for Aesthetic Reception“, 20. 162 Coplan z.B. versteht unter ,Empathie‘: „[...] a complex imaginative process involving both cognition and emotion. When I empathize with another, I take up his or her psychological perspective and imaginatively experience, to some degree or other, what he or she experience [...] although I am deeply engaged in what he or she – the target of my empathy – is undergoing, I never lose my seperate sense. I preserve a representation of myself that is distinct from my representations of the other.“ Amy Coplan, „Empathic Engagement with Narrative Fictions“, 143. 163 Nadine van Holt und Norbert Groeben, „Emotionales Erleben beim Lesen“, 125.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

75

- der Identifikation (selbstfern, figurennah)164, - der Beobachtung (selbstnah, figurenfern), - der analytischen Lesehaltung (selbstfern, figurenfern) sowie - der Verschmelzung (selbstnah, figurennah)165. Empirische Befunde belegen, dass vor allem im ersten Lesemodus als „empathisch“ zu qualifizierende, stärker figurenbezogene Emotionen auftreten.166 Für eine textbezogene Analysemethode ist der Empathiebegriff aus zwei Gründen problematisch: zum einen durch seine terminologische Unschärfe, zum anderen – und dieser Einwand ist schwerwiegender – im Hinblick auf die Frage nach seiner Operationalisierbarkeit. So löst sicherlich nicht jede textuell gestaltete Emotion im Sinne eines stimulus-response-Modells dieselbe Emotion beim Rezipienten aus. Weiterhin ist fraglich, ob Fälle emotionaler Ansteckung durch literarische Texte überhaupt ein weit verbreitetes Phänomen sind.167 Diesen Problemen soll auf zwei Arten begegnet werden: einerseits mit einer Begriffsexplikation, die Überschneidungen mit verwandten Konzepten wie dem der Theory of Mind weitestgehend vermeidet, andererseits durch die Einschränkung, dass im Rahmen einer textwissenschaftlich ausgerichteten Untersuchungsperspektive lediglich Aussagen über empathieermöglichende Textstrukturen getroffen werden können und sollen. Mit dieser Einschränkung versehen, kann der Empathiebegriff intensional entsprechend weit gefasst und expliziert werden, sodass möglichst viele Konzeptualisierungen von Empathie Berücksichtigung finden. Um eine klare begriffliche Abgrenzung von Theory of Mind-Effekten zu gewährleisten, wird er extensional auf Phänomene spezifisch emotionaler Anteilnahme eingegrenzt:

164

„Unter Identifikation als empathischer Rezeptionshaltung ist also eine Haltung der Bereitschaft zur Perspektivenübernahme und zur Einfühlung in fiktive Figuren zu verstehen.“ Nadine van Holt und Norbert Groeben, „Emotionales Erleben beim Lesen“, 122. Zur Problematik des Identifikationsbegriffs, der für die Textanalyse nicht fruchtbar zu machen ist, sowie zu Jauß’ Konzept von Identifikation vgl. Fotis Jannidis, Figur und Person, 231. 165 Dieser Lesemodus wird von van Holt/Groeben im Anschluss an psychoanalytische Forschungen angenommen. 166 Nadine van Holt und Norbert Groeben, „Emotionales Erleben beim Lesen“, 126. 167 Vgl. Katja Mellmann, Emotionalisierung, 122, die davon ausgeht, dass emotionale Ansteckung ein medienspezifisch zu differenzierendes Phänomen darstellt: „Mit Phänomenen der emotionalen Ansteckung ist im literarischen Rezeptionsprozeß weniger zu rechnen, da sie vor allem Emotionen mit starker visuell-adaptiver Display-Funktion betreffen, die sich sprachlich nur bedingt in ausreichender Schemakongruenz nachbilden lassen.“ Ebenso Fotis Jannidis, Figur und Person, 234. In der Filmwissenschaft wird auch von „somatischer Empathie“ oder „motor mimicry“ als direkter Reaktion auf einen wahrgenommenen Gesichtsausdruck gesprochen. Vgl. Hans Jürgen Wulff, „Empathie als Dimension des Filmverstehen Ein Thesenpapier“, 137.

2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

76 Explikation 1:

,Empathie‘ bezeichnet einen mentalen Prozess und dessen Resultat in Form einer Repräsentation des emotionalen Zustandes einer anderen Person beziehungsweise Figur, die vom repräsentierenden Subjekt rein kognitiv verstanden oder auch emotional nachvollzogen werden kann bis hin zur Übernahme des dargestellten Gefühls.

Über die Leserdispositionen, die das emotionale Erleben in Bezug auf literarische Figuren beeinflussen, können aus textwissenschaftlicher Perspektive keine Aussagen getroffen werden, wohl aber über die Textstrukturen, die empathische Leseprozesse auslösen und steuern können. Zur Ermittlung dieser empathieermöglichenden Textstrukturen168 kann auf eine Reihe literaturwissenschaftlicher und linguistischer Arbeiten zurückgegriffen werden, die sich mit der En- und Dekodierung von Emotionen in Texten auseinandersetzen. 2.4.1.2.1 Empathieermöglichende Textstrukturen Um empathisch auf eine Person oder Figur reagieren zu können, müssen erst einmal Hinweise über deren emotionalen Zustand gegeben sein, will man nicht sein vermutetes eigenes emotionales Erleben in einer bestimmten Situation einfach auf das wahrgenommene Gegenüber projizieren. Im Falle sprachlicher Vermittlung emotionaler Kodes müssen dabei explizite von impliziten Darstellungsverfahren unterschieden werden. Darüber hinaus lässt sich auch zwischen allgemein sprachlicher und spezifisch literarischer Kodierung von Emotionen – beispielsweise durch ein bestimmtes Reimschema, literarische Topoi etc. – differenzieren. Für literarische, genauer lyrische Texte hat Winko ein Analysemodell zur sprachlichen Gestaltung von Emotionen vorgelegt, das für Erzähltexte entsprechend modifiziert werden kann. Sie unterscheidet explizite von impliziten Darstellungsverfahren und unterteilt die Vorkommen von Emotionen in Texten anhand ihres propositionalen beziehungsweise nicht-propositionalen Status mit Hilfe des Begriffspaars ,Thematisierung‘ und ,Präsentation‘.169 Mit dem Begriff ,Thematisierung‘ werden Textstrukturen 168

Barthel spricht in ähnlicher Weise von „Empathieförderung“ durch bestimmte Textstrukturen. Vgl. Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie, 32. 169 Die Differenzierung in explizite Benennung von Emotionen und ihrem impliziten Vorkommen in jeder Form sprachlicher Interaktion betont auch Reinhard Fiehler, Emotion und Kommunikation, 3, 36f, 98 etc. Er bezeichnet diese beiden Arten Emotionen sprachlich zu kodieren mit den Begriffen „Thematisierung“ und „Ausdruck“. Schwarz-Friesel spricht von „Darstellung“ und „Ausdruck“. Monika Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, 144, 151 und öfter. Da jedoch Emotionen und ihre Manifestation in keinem Äquivalenzverhältnis stehen (müssen), für fiktionale Entitäten wie literarische Figuren ohnehin nicht angenommen werden kann, dass diese „echte“ Emotionen einfach ausdrücken und der Ausdrucksbegriff medienspezifisch genauer gefasst werden müsste, schließe ich mich Winko an, die statt von „Ausdruck“ von „Präsentation“ spricht. Vgl. Simone Winko, Kodierte Gefühle, 114. Alternativ wird auch der Begriff der „Inszenierung“ verwendet, der jedoch zu weit

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

77

bezeichnet, in denen propositionale Aussagen über Emotionen gemacht werden. Dazu zählen: Aussagen über das Wesen oder die Eigenschaften und Funktionen von Emotionen im allgemeinen und von einzelnen Emotionen im besonderen sowie über ihren angemessenen oder unangemessenen Ausdruck, [...] Themen, in deren Kontext Emotionen behandelt werden, die Aussagen über Situationen und Institutionen, an die sie gebunden werden.170

Um die Art und Weise der Thematisierung beschreiben zu können, sind vor allem die Betrachtung von Begrifflichkeit und Bildlichkeit, Sprachebene und Häufigkeit der Thematisierung entscheidend.171 Bei der Analyse von Erzähltexten kann so quantitativ ermittelt werden, ob überhaupt, und wenn ja, welche Emotionen wie oft thematisiert werden. Qualitativ können Aussagen darüber getroffen werden, in welcher Form dies geschieht, welche Konzepte von Emotionalität sowie spezifischer Emotionen auf diese Art und Weise rekonstruiert werden können und wem die entsprechenden Emotionen zugeschrieben werden.172 Die so ermittelten Emotionskonzepte können im Rahmen diskursanalytischer Studien in synchroner und diachroner Perspektive mit anderen Konzepten verglichen werden. Doch auch für das hier vorgestellte, auf den Einzeltext bezogene Vorgehen kann die Rekonstruktion von Emotionskonzepten relevant sein: Einerseits können sie als Vergleichsfolie dienen, um Übereinstimmungen oder Abweichungen mit Emotionskonzepten der Zeit herausarbeiten und daraus auf potenzielle emotionale Wirkungen schließen zu können; andererseits gibt die Art der Thematisierung unter Umständen Aufschluss über die den thematisierten Emotionen attribuierten Werte und erlaubt damit Rückschlüsse auf zugrunde liegende axiologische Werte, die wiederum für die Herausbildung einer sympathieorientierten Lesehaltung von Bedeutung sein können.173 In diesem Zusammenhang ist auch wichtig zu beachten, welche Instanz im Text die entsprechenden Konzepte und die damit einhergehenden Wertungen vertritt. Unter ,Präsentation‘ lassen sich im Gegensatz zur ,Thematisierung‘ inhaltliche wie formale Mittel subsumieren. Unter der ,Präsentation‘ von Emotionen in Texten wird hier die sprachliche Gestaltung von Emotionen verstanden, deren Vorkommnisse nicht selbst Propositionen bilden (wohl aber Be-

gefasst und damit zu unspezifisch ist. Vgl. z.B. Norbert Fries, „Die Kodierung von Emotionen in Texten. Teil 1: Grundlagen“, 295; ebenso Jutta Eming, „Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft“, 251. Zur Kritik am Inszenierungsbegriff vgl. Simone Winko, Kodierte Gefühle, 115f. 170 Simone Winko, Kodierte Gefühle, 112. In etwa entspricht dies der Kategorie der „Erlebensbeschreibung“ bei Reinhard Fiehler, Emotion und Kommunikation, 120. 171 Simone Winko, Kodierte Gefühle, 112. 172 Im Falle der ,Thematisierung‘ ist dies meist nicht der Sprecher. Vgl. Norbert Fries, „Die Kodierung von Emotionen in Texten Teil 1“, 329. 173 Vgl. unten Abschnitt 2.4.1.3.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten standteil von Propositionen sein können) und die im Text durch implizite sprachliche und strukturelle Mittel umgesetzt sind.174

Die Rekonstruktion präsentierter Emotionen gestaltet sich durch ihr implizites Vorkommen aufwändiger, als dies für thematisierte Emotionen der Fall ist. Auch die Präsentation von Emotionen ist wie deren Thematisierung nicht an literarische Texte gebunden; es ist jedoch davon auszugehen, dass in literarischen Texten mehr und teilweise andere strukturelle Mittel zur Emotionspräsentation eingesetzt werden, als dies in den meisten nicht literarischen Texten der Fall ist. Beispielsweise lässt sich in Erzähltexten eine ästhetisch motivierte Beziehung zwischen Gegenständen oder Personen herstellen, wie sie etwa in pragmatischen Texten in der Regel nicht vorkommt und die dann gegebenenfalls auch Rückschlüsse auf präsentierte Emotionen erlaubt. In erster Linie sind es die präsentierten Emotionen, die eine empathische Lesehaltung hervorrufen können, da sie in der Regel an eine bestimmte Figur beziehungsweise den Erzähler gebunden sind – im Gegensatz zur Thematisierung, die auch als allgemeine Rede ohne direkten Figurenbezug erscheinen kann. An der Textoberfläche können Emotionen auf vielfältige Weise sprachlich kodiert werden. Die folgende Liste fasst die wichtigsten Oberflächenphänomene zusammen. Sie ist weder abschließend noch vollständig distinkt:175 1. LEXIKALISCHE BENENNUNG: In diesen Bereich gehören die prototypischen Emotionswörter (Substantive, Verben – z.B. erlebensdeklarative Formeln wie „ich fühlte mich x“176 oder bestimmte psychische Verben177 –, Adjektive und Adverbien) sowie Routineformeln („Mein herzliches Beileid!“) oder Ausdrücke, die stereotyp emotionale Bilder kodieren („Ich war echt sauer.“).178 174

Simone Winko, Kodierte Gefühle, 116. Den Beitrag, den formale Mittel für die emotionale Wirkung von literarischen Texten leisten, zu ermitteln ist der Anspruch etwa der Cognitive Poetics. Vgl. dazu Reuven Tsur, „Aspects of Cognitive Poetics“, 279, 281, etc. Beispielsweise geht Tsur davon aus, dass bestimmte deiktische Elemente starke emotionale Wirkung haben können, insbesondere in Verbindung mit abstrakten Substantiven. Reuven Tsur, „Deixis and abstraction. Adventures in space and time“. Die Forschung steht hier allerdings noch am Anfang. Vgl. Peter Stockwell, „Cognitive Poetics and Literary Theory“, 146. 175 Vgl. dazu auch Simone Winko, Kodierte Gefühle, 132–137 und Reinhard Fiehler, Emotion und Kommunikation, 96f. Die genannten Analysekategorien sind nicht vollständig distinkt und liegen hierarchisch nicht alle auf der gleichen Ebene. Rhythmisch-metrische Aspekte habe ich ausgeklammert, da sie nur in Ausnahmefällen für Erzähltexte relevant sind (beispielsweise bei eingeschobenen lyrischen Passagen, auffällig rhythmisierten Dialogen o.ä.). Sie sollten jedoch auch für Erzähltexte nicht generell unberücksichtigt bleiben. 176 Reinhard Fiehler, Emotion und Kommunikation, 120–122. 177 Norbert Fries, „Die Kodierung von Emotionen in Texten“, 301. 178 Vgl. dazu z.B. George Lakoff und Mark Johnson, Metaphors we live by, die alltagssprachliche Metaphern auf die dahinter liegenden mentalen Konzepte zurückführen, sowie neuerdings Peter

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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2. IMPLIKATION/ KONNOTATION: a. Physiologisch/Mimisch-gestisch/Vokal nonverbal: Diese Aspekte emotionalen Erlebens können in einem Erzähltext geschildert werden und weisen gegebenenfalls auf eine Emotion hin (Herzklopfen, Lächeln, Schluchzen etc.). Im Rahmen indirekter Charakterisierungsverfahren ist vor allem der gesamte Bereich der Körpersprache interessant. Zu unterscheiden sind dabei komitative, also sprachbegleitende, und selbstständige Formen nonverbaler Kommunikation (NVK).179 Beide können Aufschluss über das emotionale Erleben einer Figur geben. Im Falle der komitativen Körpersprache sind vor allen Dingen Schilderungen diskordanter Körpersprache für die Rekonstruktion präsentierter Emotionen aufschlussreich, also derjenigen Formen von NVK, die nicht im Einklang mit der sprachlichen Äußerung der Figur oder des Erzählers stehen und gegebenenfalls auf innerhalb der Diegese explizit nicht manifestierte emotionale Zustände verweisen.180 Ähnlich verhält es sich auch mit der selbstständigen NVK, die an Stelle expliziter sprachlicher Mittel Aufschluss über die Emotionen einer Figur geben kann. Umgekehrt kann die Schilderung konkordanter komitativer NVK im Zusammenhang mit emotionsgeladenen Äußerungen zur Intensivierung eingesetzt werden.181 NVK, deren Bedeutung vage bleibt, kann diffus emotionalisierend wirken.

Crisp, „Conceptual metaphor and its expression“. Crisp nennt eine Reihe leibzentrierter, hochgradig allgemeingültiger konzeptueller Metaphern (EVENTS ARE ACTIONS, STATES ARE LOCATIONS, CHANGES ARE MOVEMENTS, PURPOSES ARE DESTINATIONS, MEANS ARE PATHS, Ebd. 101), unter anderem auch HAPPINESS IS UP, das vielen stereotyp mit Freude konnotierten Wendungen zugrunde liegt, wie z.B. „Ich bin in Hochstimmung/obenauf“ etc. Vgl. ebd. 106. 179 NVK lässt sich weiter unterteilen in Kinesik (Gesichts-, Blickdarstellungen, Schilderungen von Körperhaltungen und Automatismen wie Zittern, Rotwerden etc.), Haptik (Berührungsverhalten, das jeweils kultur- und geschlechtsspezifisch geregelt ist) und Proxemik (Bewegungen im Raum). Vor allem dem Bereich der Proxemik kommt hohe Relevanz für die Dekodierung einer dargestellten Emotion im Rahmen der Figurenkonstellation zu. Prinzipiell ist aber schon allein die Tatsache, dass die NVK einer Figur im Erzähltext geschildert wird, signifikant. Sie dient häufig als Indikator für deren emotionale Beteiligung. Vgl. Barbara Korte, Körpersprache in der Literatur. Theorie und Geschichte am Beispiel englischer Erzählprosa, 3, 71, 74, 78. 180 Ebd. 34. Emotionen sind im Gegensatz zur sprachlichen Kodierung in Form von Emotionswörtern in NVK indexikalisch, also analog und intrinsisch kodiert. Vgl. Norbert Fries, „Die Kodierung von Emotionen in Texten Teil 1“, 300 und Barbara Korte, Körpersprache in der Literatur, 41f. Die Unterteilung in konkordante und diskordante komitative NVK ist insofern nicht als dichotom, sondern skalar zu verstehen. Es kann also nur in hinreichend deutlichen Fällen von einer diskordanten komitativen NVK gesprochen werden. Vgl. ebd. 106. 181 Ebd. 137.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

b. Phonetisch-lautlich: Hier sind in der Regel Informationen aus dem Ko-Text nötig, um Informationen beispielsweise über Sprechpausen, den Exklamativakzent oder die Lautstärke einer Äußerung in einem Dialog zu erhalten, die gegebenenfalls auf einen emotionalen Zustand und dessen mögliche Intensität verweisen können („,Dorthin gehe ich auch‘, schrie K. auf einmal mehr als alle andern [...].“182). c. Lexikalisch: Lexeme, die zwar keine Emotion bezeichnen, aber emotional konnotiert183 sind, fallen unter diese Kategorie („Bude“ statt „Haus“). Die emotionale Konnotation wird entweder durch den Ko- oder den Kontext markiert. Besonders Interjektionen („Igitt!“)184, Diminutiv- und Augmentativbildungen („Kindchen“), bestimmte Prä- und Suffigierungen („Superfilm“, „Gewinnler“, „Schönling“), Phraseologismen („Du kannst mich mal!“) und Modalwörter („leider“, „bedauerlicherweise“) deuten auf emotionale Zustände hin.185 d. Grammatisch-syntaktisch: Bestimmte nicht eingebettete Satzstrukturen oder Satzfragmente verweisen auf eine emotionale Beteiligung („Hätte K. doch lieber ihn als Gehilfen gehabt!“186, „Mein Beileid!“), ebenso wie einige intensivierende Genitivkonstruktionen („Das Buch der Bücher“). e. Bildlichkeit: Metaphern187, Metonymien, Allegorien, Vergleiche188 etc. können auf Emotionen verweisen (z.B. „Amor“ für „Liebe“ usw.). Hier sind nicht unbedingt die konventionalisierten, alltagssprachlichen Bilder zu nennen, sondern eher die „ungewöhnlicheren“ – auch wenn das Spektrum der dahinter liegenden mentalen Konzepte genauso gering sein mag wie das der konventionellen Bildlichkeit. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass literarische Topoi als literarisch konventionalisierte Bilder einfacher zu entschlüsseln sind als „kühne“ Bildschöpfungen.189

182

Franz Kafka, Das Schloß, 26 (Kursivdruck von mir, C.H.). Eine detaillierte Darstellung der Emotionspräsentation durch phonetisch-phonologische Mittel in gesprochener Sprache liefert Marc Schröder, Speech and emotion research. 183 Zum Begriff der ,Konnotation‘, auf den ich hier nicht näher eingehe, vgl. Silke Jahr, Emotionen und Emotionsstrukturen, 64f und Monika Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, 162–171. 184 Monika Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, 154–160. 185 Vgl. Norbert Fries, „Grammatik und Emotionen“, 45f. sowie ders., „Die Kodierung von Emotionen in Texten Teil 1“, 305 und Silke Jahr, Emotionen und Emotionsstrukturen, 89f. 186 Franz Kafka: Das Schloß, 38 (im Folgenden DS). Vgl dazu genauer Norbert Fries, „Grammatik und Emotionen“, 47–53 sowie ders., „Die Kodierung von Emotionen in Texten Teil 1“, 305–308. 187 Monika Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, 199–207. 188 Ebd. 190–195. 189 Vgl. dazu auch Evelyne Keitel, Von den Gefühlen beim Lesen, 70–76.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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f.

Rhetorische Präsentation: Hierunter fallen die Positionsfiguren (Inversion, Parallelismus etc.), Wiederholungsfiguren, Amplificatio, Appellfiguren (Apostrophe, Interrogatio, Exclamatio) und andere rhetorische Stilmittel.190 g. Situationsbezug: In Erzähltexten können Situationen geschildert werden, die prototypisch emotional konnotiert sind (z.B. der Verlust eines nahen Freundes oder Verwandten, der eine emotionale Trauerreaktion erwarten lässt). Die Emotion, auf die sie verweisen, muss unter Zuhilfenahme von sprachgeschichtlichem, kultur- und literarhistorischem Wissen rekonstruiert werden. Für gut kodierte Situationen, historisch und kulturell nahe liegende Texte wird diese Rekonstruktion in der Regel einfacher möglich sein als für schwach kodierte Konstellationen, ältere Texte oder Texte, die aus einem vom Rezeptionskontext kulturell stärker abweichenden Umfeld kommen. Auch von der Art der erzählten Welt hängt es ab, wie eindeutig die Zuordnung von Situation und Emotion gelingt.191 h. Intertextualität: Dieser Punkt stellt einen Sonderfall von g dar. Ein Text kann auf einen anderen Text verweisen, in dem eine bestimmte Emotion thematisiert oder präsentiert wird,192 und damit diese Emotion selbst präsentieren. Auch literarische Topoi sind hier noch einmal zu nennen (z.B. der „locus amoenus“, der auf eine heitere Stimmung und die Emotion ,Freude‘ verweist.). Für den gesamten Bereich der impliziten oder konnotierten Emotionen bleibt festzuhalten, dass die Identifizierung einer bestimmten Emotion in den meisten Fällen nur durch die Betrachtung einer Vielzahl von Textmerkmalen möglich ist. Die impliziten Darstellungstechniken sind dabei besonders gut geeignet, die Intensität einer im Text kodierten

190

Eine detaillierte Liste bietet Simone Winko, Kodierte Gefühle, 136. Für die rhetorischen Mittel der Emotionspräsentation gilt ebenso wie für die rhythmisch-metrischen, dass sie in Bezug auf lyrische Texte eine höhere Relevanz haben dürften als für Erzähltexte. Sie tragen jedoch wesentlich dazu bei, die Intensität einer thematisierten oder präsentierten Emotion zu spezifizieren. Vgl. dazu die verschiedenen Möglichkeiten der Intensivierung sprachlicher Ausdrücke, die Fries, Jahr und Schwarz-Friesel auflisten. Norbert Fries, „Die Kodierung von Emotionen in Texten Teil 1“, 313f, Silke Jahr, Emotionen und Emotionsstrukturen, 91f sowie Monika Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, 187–198. 191 Punkt a, g und h sind schon nicht mehr auf der Wort- oder Satzebene anzusiedeln, sondern beziehen sich auf einzelne Teiltexte, Motive oder ganze Handlungsstränge. Hier sind komplexere Inferenzziehungen nötig, um die entsprechenden Textstellen als „emotionsgeladen“ dekodieren zu können. Punkt g und insbesondere h setzen hierfür literarhistorisches Wissen voraus. 192 Vgl. zum Beispiel die berühmte Ballszene im Werther, wenn Werther und Lotte das Gewitter betrachten und nach der Erwähnung des Namens „Klopstock“ zu weinen beginnen.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

Emotion zu vermitteln, und können auch einen „Realitätseffekt“ erzielen.193 Die Beschreibung dieser intensivierenden Darstellungsverfahren kann Indizien dafür liefern, inwiefern eine präsentierte Emotion gegebenenfalls übernommen werden soll. Die Zuordnung einer Emotion zu der Instanz, die sie empfindet, dürfte im Gegensatz zu lyrischen Texten für Erzähltexte in der Regel unproblematisch(er) sein. Gelingt eine eindeutige Zuordnung nicht oder wird nur deutlich, dass eine, aber nicht, welche Emotion sprachlich kodiert ist, kann von einer emotionalisierenden Darstellung gesprochen werden, die beim Rezipienten eine diffuse emotionale Gestimmtheit hervorrufen kann.194 Mit Hilfe der angegebenen Liste von Analysekategorien zur sprachlichen Kodierung von Emotionen können die Angebote, die ein Erzähltext macht, um dem Rezipienten den empathischen Zugang zu „seinen“ Figuren zu ermöglichen, rekonstruiert werden. Wichtig ist hierbei auch, dass nicht nur die Emotionen einer Figur betrachtet werden, sondern dass dies immer im Rahmen der Figurenkonstellation des Gesamttextes geschieht. Analog zur Erstellung von Figurenkonstellation und -konfiguration195 lässt sich so dessen „empathisches Feld“196 synchron und diachron rekonstruieren. Dies kann ein erster Indikator für die intendierte Sympathiewirkung einer Figur sein. Grob lassen sich die Analyseschritte zur Ermittlung dieses „empathischen Feldes“ in folgendem Fragenkatalog auflisten: - Figurenname: Wie wird die Figur bei ihrem erstmaligen Auftreten benannt (Name, Rollenbezeichnung, Funktionsträger etc.)? Wie ändert sich die Benennung im Laufe der Lektüre? Lassen sich emotional konnotierte Figurenbezeichnungen nachweisen? - Figurenkonzept: Welcher Existenzmodus wird der Figur zugeschrieben? Wie lässt sie sich charakterisieren? Welchen Status hat sie im Gesamttext, ist sie Haupt- oder Nebenfigur? Wie hoch ist der Grad der Typisierung? Ist ein Figurenmodell beziehungsweise ein figurales Schema erkennbar? Wie ist die Figur im Rahmen der Figurenkonstellation zu verorten? Wie ist ihr Verhalten motiviert? Welcher mentale Zustand kann ihr zugeschrieben werden in der Situa193

Für die Schilderung von NVK weist Korte allerdings darauf hin, dass das Maß der Anwendung solcher Darstellungstechniken für die Erzielung eines „Realitätseffektes“ unklar ist. Zu ausführliche Beschreibungen werden als „unrealistisch“ empfunden. Dies gilt in ähnlicher Weise vermutlich auch für andere Formen präsentierter Emotionen. Vgl. Barbara Korte, Körpersprache in der Literatur, 148. 194 Vgl. Simone Winko, Kodierte Gefühle, 143 und Barbara Korte, Körpersprache in der Literatur, 91. 195 Vgl. Manfred Pfister, Das Drama. 11. Auflage, 225–240. 196 „Als Regel gilt, dass Empathie nicht isoliert und auf einzelne Figuren gerichtet ist, sondern dass ein feldartiger Zusammenhang von Konterperspektiven der beteiligten Figuren und der von ihnen vollzogenen Situationsinterpretationen den ,eigentlichen‘ Zielpunkt der empathisierenden Tätigkeit bildet. [...] Das empathische Feld ist ein Gefüge reziproker Figurenentwürfe.“ Hans Jürgen Wulff, „Empathie als Dimension des Filmverstehens“, 138, 146.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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tion, innerhalb derer ihr eine Emotion zugeordnet wird? Kann ihre Reaktion als angemessen bezeichnet werden? - Zugeordnete Emotionen: Welche Emotionen werden der Figur zugeordnet? Welche unter Umständen explizit abgesprochen? Wird die Figur als „emotional“ oder „kühl“ qualifiziert? Handelt es sich um positiv oder negativ bewertete Emotionen? - Positionierung und Umfang der Zuordnung: An welcher Position im Text wird der Figur eine bestimmte Emotion zugeordnet? Wie häufig und in welchem Umfang findet eine Zuordnung statt? Wie sind die entsprechenden Emotionen untereinander hinsichtlich der Häufigkeit der Zuordnung gewichtet? Wie hinsichtlich der Position im Text? Wie ist das Verhältnis zwischen empathieermöglichenden Textstrukturen insgesamt und denjenigen, die einer bestimmten Figur zuzurechnen sind? Wie gestaltet sich dieses Verhältnis in Relation zum Umfang des Gesamttextes? Lässt sich für einzelne Figuren eine emotionale Entwicklung nachweisen? - Art der Zuordnung: Welche Instanz bindet die entsprechende Information an die Figur (andere Figur,197 Erzähler, die Figur selbst)? Wie zuverlässig ist diese Instanz? Findet die Zuordnung durch Emotionsthematisierung oder Emotionspräsentation statt? Mit welchen sprachlichen Mitteln wird die Emotion thematisiert oder präsentiert? Als wie intensiv empfunden wird die entsprechende Emotion dargestellt? - Situativer Rahmen: In welcher Situation findet die Zuordnungshandlung statt? Welche anderen Figuren befinden sich in diesem situativen Rahmen? Welche Rolle spielen sie in dieser Situation? Welche Emotionen werden diesen gegebenenfalls zugeordnet? Lässt sich ein situatives Schema mit entsprechend stereotyp erwartbaren Emotionsattributionen erkennen? Lässt sich ein solches Schema erkennen, die Attribution bleibt aber aus? Wenn ja, aus welchen Gründen geschieht dies (Offensichtlichkeit, Abweichung etc.)? Dieser Fragenkatalog kann als Leitfaden dienen, um das „empathische Feld“ eines Erzähltextes „abzustecken“. Sicherlich ist es in der Regel wenig sinnvoll, alle Fragen ausführlich nacheinander abzuarbeiten. In vielen Fällen wird das Ergebnis auch durch ein weniger aufwändiges und schematisches Vorgehen hinreichend aussagekräftig sein. Der Leitfaden kann also je nach Fragestellung modifiziert und der Argumentationsgang entsprechend verkürzt werden. Mit seiner Hilfe lässt sich ermitteln, - welches emotionale Profil von einer Figur erstellt werden kann, ob und wenn ja welche emotionale Entwicklung eine Figur durchmacht,

197

Die Zuordnung würde in diesem Fall in der Regel durch Thematisierung erfolgen. Denkbar ist aber auch beispielsweise eine Art schauspielerischer Nachahmung einer Figur durch eine andere inklusive der Imitation präsentierter Emotionen.

2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

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-

wie bestimmte Figuren möglicherweise emotional aufeinander bezogen sind, z.B. durch komplementäre oder analoge Gefühle usw. usf., - ob unter Rekurs auf Emotionskonzepte des Entstehungskontextes die emotionalen Reaktionen einer Figur als angemessen eingeschätzt werden können, - ob es charakteristische Darstellungsverfahren für bestimmte Figuren gibt – insbesondere hinsichtlich des Umfangs, der Intensität oder der Offensichtlichkeit der zugeordneten Emotion, - ob sich die Darstellungsverfahren hinsichtlich ihrer Intensität unterscheiden, sodass Aussagen über die Wahrscheinlichkeit „emotionaler Ansteckung“ möglich werden. Wie oben erwähnt, sind Fälle „emotionaler Ansteckung“ für Erzähltexte eher selten zu erwarten. Allerdings kann ein textzentriertes Analyseverfahren Aufschluss darüber geben, welche Figurenemotionen genauer und als intensiver empfunden dargestellt werden als andere, sodass eine emotionale Ansteckung zumindest wahrscheinlicher wird. Dies lässt auch Hypothesen über einen intendierten „Mitgefühlseffekt“ zu. Auf diese Weise kann das empathische Potenzial des untersuchten Textes genauer beschrieben werden, insbesondere zur Beantwortung der Frage, welchen Figuren gegenüber durch die Textstrategie eine empathische Lesehaltung nahe gelegt wird und welchen eher nicht. Interessant dürfte in diesem Zusammenhang auch die vergleichende Betrachtung größerer Textkorpora ausfallen – sei es, um verschiedene Fassungen eines Textes, verschiedene Texte eines bestimmten Autors oder Texte verschiedener Autoren, Gattungen oder Epochen hinsichtlich ihres empathiegenerierenden Potenzials miteinander zu vergleichen. 2.4.1.2.2 Erzähltechnik und Empathie Abschließend bleibt zu fragen, ob bestimmte erzähltechnische Verfahren benannt werden können, die in besonderer Weise dazu beitragen, dass der Leser auf einzelne Figuren stärker empathisch reagieren kann als auf andere. Allgemein lässt sich nachweisen, dass Foregrounding-Effekte je nach Verfremdungsgrad Einfluss auf das emotionale Erleben der Rezipienten nehmen. Das relativ hohe Abstraktionsniveau der ForegroundingTheorie macht diese für textbezogene Analysemethoden jedoch kaum anschlussfähig.198 Ließen sich einzelne erzähltechnische Mittel als eindeutig empathiefördernd qualifizieren, könnten sichere Voraussagen über die Intensität einer evozierten empathischen Emotion getroffen werden. Voraussetzung hierfür wäre lediglich, dass die im kulturhistorischen Kontext des Textes virulenten Emotionskonzepte im Vorfeld ermittelt worden sind. Ein historischer Rezeptionsprozess wäre damit recht einfach zu simulieren.

198

Vgl. Nadine van Holt und Norbert Groeben, „Emotionales Erleben beim Lesen“, 129 sowie allgemein zur Foregrounding-Theorie Willie van Peer, Stylistics and Psychology. Investigations of foregrounding.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

85

In diesem Zusammenhang wird als perspektivierendes Darstellungsverfahren immer wieder die interne Fokalisierung genannt, die den Leser empathisch auf eine bestimmte Figur einstelle.199 Diese einfache Zuordnung von empathischer Lesehaltung und figurenperspektivischer Darstellung lässt sich für reale Leser jedoch nicht zeigen. Empirische Untersuchungen belegen zwar, dass die Wahl der Perspektive durchaus eine emotionale Wirkung auf den Rezipienten hat. Allerdings zeigen sie auch, dass sich diese Wirkung nicht eindeutig auf einzelne narratologische Beschreibungsgrößen wie Fokalisierung oder Modus beziehen lassen. Die Ergebnisse der empirischen Literaturwissenschaft zu diesem Thema sind entsprechend disparat. So sind einige narratologische Beschreibungsgrößen noch nicht auf ihr empathieförderndes Potenzial überprüft worden, etwa die zeitliche Anordnung der erzählten Ereignisse, der Wechsel von extraund intradiegetischen Erzählebenen, repetitives Erzählen, Pausen und Ellipsen sowie die Wirkung unzuverlässiger Erzählverfahren. Das Gleiche gilt für viele lexikalische sowie grammatisch-syntaktische Strukturen, wie zum Beispiel den Wechsel vom Präteritum ins Präsens oder die Art der Erstbenennung der Figur. Suzanne Keen bietet eine umfangreiche Liste mit Annahmen zum Wirkungspotenzial verschiedener erzähltechnischer Mittel, die noch nicht empirisch überprüft worden sind, und kommt zu dem Ergebnis, dass Einschätzungen einer bestimmten Erzähltechnik als typisch empathisch – denen ja implizit ein stimulus-response-Modell zugrunde liegt – vermieden werden sollten.200 Einige Studien deuten darauf hin, dass Rezipienten dazu tendieren, die raumzeitliche Perspektive des Protagonisten zu übernehmen, besonders dann, wenn er früh im Text eingeführt wird. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für seinen emotionalen Zustand.201 Allerdings scheint diese empathische Einstellung nicht davon abhängig zu sein, wie groß die narrative Distanz zum Geschehen und zu den Figuren ist. So hat Els Andringa in einer Studie empathisches Leseverhalten anhand zweier Versionen derselben Erzählung untersucht. Neben dem Original wurde den Probanden eine weitere Version vorgelegt, in der die Erzählerkommentare getilgt waren. Der Grad der emotionalen Involvierung der Rezipienten änderte sich durch die verminderte narrative Distanz überraschenderweise nicht. Dies ließ sich sowohl für erfahrene wie unerfahrene Leser feststellen.202 Andringa schlussfolgert: „[T]he measured degree of involvement must primarily be based upon the basic story’s content.“203 Es scheint also, dass es eher die geschilderten Emotionen selbst und die sie begleitenden Situationen sind, die Auswirkungen auf die Beteiligung des Lesers am emotionalen Erleben einer Figur haben. Die 199

Vgl. z.B. Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie, 53–56. Vgl. den Forschungsüberblick bei Suzanne Keen, Empathy and the novel, 92–99. 201 Vgl. Amy Coplan, „Empathic Engagement with Narrative Fictions“, 142. Einen solchen „PrimacyEffekt“ nimmt auch Barthel an: Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie, 67. 202 Els Andringa, „Effects of ,Narrative Distance‘ on Readers’ Emotional Involvement and Response“, 449. 203 Ebd. 449. 200

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

kulturelle Ähnlichkeit zwischen erzählter Welt und der Welt des Rezipienten erleichtert dabei das Textverständnis – also auch die Dekodierung stereotyp emotional konnotierter Situationen.204 Generell lässt sich sagen, dass eine konsistente Perspektive das Textverständnis erleichtert, wohingegen Perspektivwechsel meist mit einer längeren Lesezeit einhergehen.205 Dies lässt sich ebenso in Bezug auf Emotionen zeigen: Erhält der Leser neue Informationen über den emotionalen Zustand einer Figur, so steigt auch hier die aufgewandte Lesezeit für die betreffende Textstelle.206 So kann zumindest vermutet werden, dass die Identifizierung und damit auch das Verständnis emotionaler Situationen durchaus von der Art des Erzählverfahrens, mehr noch aber von dem durch den Text vermittelten figurenbezogenen Wissen abhängt.207 Aus einer textorientierten Untersuchungsperspektive kann die narratologische Beschreibung erzähltechnischer Mittel jedenfalls nur Indizien dafür liefern, dass der Wahrnehmung der genannten Figur besondere Bedeutsamkeit zugebilligt wird:208 - Zeit: Die chronologische, anachronische oder achronische Ordnung des Geschehens beeinflusst das Wissen des Rezipienten und kann damit auch seine emotionale Einstellung zu Figuren beeinflussen oder ändern.209 Auch die Gewichtung – welche Teile einer Geschichte werden erzählt beziehungsweise nicht erzählt (Ellipse) – und die Ausführlichkeit, mit der dies geschieht, spielen für den Wissenshorizont des Rezipienten und gegebenenfalls auch für die Dekodierung emotionaler Kodes eine Rolle. Durch zeitdeckendes oder zeitdehnendes Erzählen wird ein bestimmter Handlungsabschnitt stärker gewichtet, ebenso zum Beispiel durch repetitives Erzählen. 204

Vgl. Peter Dixon und Marisa Bortolussi, „Prolegomena for a Science of Psychonarratology“, 281. Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass empathische Einfühlungsprozesse auf Personen aus dem eigenen Kulturkreis beschränkt bleiben. Vgl. z.B. David S. Miall, „Feeling from the Perspective of the Empirical Study of Literature“, 388. Keen spricht für den Fall, dass Empathie als Mittel kulturübergreifender Verständigung eingesetzt wird, von „ambassadorial strategic empathy“. Suzanne Keen, „Strategic Empathizing: Techniques of Bounded, Ambassadorial and Broadcast Narrative Empathy“, in DVjS 82,3 (2008), 483 (Kursivdruck im Original). 205 Vgl. Peter Dixon und Marisa Bortolussi, „Prolegomena“, 283, Katja Mellmann, Emotionalisierung, 108. 206 Vgl. David S. Miall und Don Kuiken, „Shifting Perspectives: Readers’ Feelings and Literary Response“, 291. 207 Davon abzugrenzen ist die Frage, wie Stimmungen durch formale Elemente der Textgestalt erzeugt werden können, wenn sie nicht einer Figur zugeschrieben werden. Vgl. dazu Reuven Tsur, „Cognitive Poetics“, 287. Empirische Studien belegen, dass Rezipienten dazu tendieren die durch solche emotionalisierenden Darstellungsverfahren erzeugten Stimmungen dem Erzähler zuzuschreiben. Vgl. dazu David S. Miall und Don Kuiken, „Shifting Perspectives“, 291. 208 Es handelt sich hierbei um implizite textuelle Bewertungstypen. Vgl. dazu unten Abschnitt 2.4.1.3. 209 Ausführlicher wird darauf in Abschnitt 2.5 im Rahmen der Diskussion zu den Artefaktemotionen eingegangen.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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-

Modus: Der dramatische Modus erzeugt eine größere Unmittelbarkeit in der Wahrnehmung des Geschehens durch die an ihm beteiligten Figuren, sodass deren Selbstzuschreibungen von Emotionen erkennbar werden. Autonome direkte Figurenrede, erlebte Rede, autonomer innerer Monolog oder Bewusstseinsstrom sind hier besonders hervorzuheben. Alle Erzählverfahren mit größerer Distanz zur Figurenrede dagegen binden den Rezipienten eher an den Erzähler und seine Deutungen der Figurenemotionen. - Fokalisierung: Vor allem die interne Fokalisierung kann eine besondere Nähe zu der wahrnehmenden Figur erzeugen (dies gilt in besonderem Maße für die fixierte interne Fokalisierung), wohingegen Nullfokalisierung oder externe Fokalisierung wiederum eher eine Orientierung am Erzähler wahrscheinlich machen.210 Die Gewichtung einzelner Episoden, der Grad der Unmittelbarkeit der Darstellung sowie die Perspektivierung des Geschehens können also ein Indiz dafür sein, welchen Figuren und deren emotionalem Erleben im Text besondere Wichtigkeit zugesprochen wird.211 Die Wahl bestimmter erzähltechnischer Mittel, insbesondere der internen Fokalisierung und des dramatischen Modus erleichtern potenziell die Übernahme der Figurenperspektive. Allerdings sind es dann die Informationen über den emotionalen Zustand einer Figur auf der Ebene der histoire, die Empathie im oben explizierten Sinne anzuregen vermögen. Es muss dazu für jeden Text einzeln herausgearbeitet werden, wie die Informationen über Figurenemotionen durch welche erzähltechnischen Verfahren an welche Figur gebunden und als wie intensiv diese dargestellt werden. Im Vergleich mit anderen Figuren kann so ermittelt werden, welche Figuren mit ihrem emotionalen Erleben am deutlichsten im Text ausgestaltet sind. Die Beschreibung empathieermöglichender Textstrukturen und ihrer erzähltechnischen Vermittlung kann für verschiedene Fragestellungen fruchtbar gemacht werden, sei es in Bezug auf einzelne Figuren oder für eine bestimmte Figurenkonstellation. Insbesondere über die Bedeutsamkeit einer Figur in einer bestimmten Situation im Text sowie im Verlauf des Textes insgesamt können mit ihrer Hilfe Aussagen getroffen oder untermauert werden. Diese lassen sich mit Hilfe des vorgestellten Analyseinstrumentariums überwiegend quantitativ ermitteln. Zusätzlich zu der Möglichkeit, vom emotionalen Erleben einer Figur „angesteckt“ zu werden, besteht auch die Möglichkeit komplementäre Emotionen einer Figur gegenüber zu entwickeln. Mit der Skizzierung impliziter figurenbezogener Bewertungsverfahren 210

Die Kategorie der ,Stimme‘ habe ich hier ausgespart, da sie stärker für die Herausbildung einer sympathieorientierten Lesehaltung von Bedeutung ist. Der Zuverlässigkeit und der Stellung der Erzählinstanz zur Diegese kommt, wie oben erläutert, aber eine wichtige Rolle bei der Ausbildung eines Figurenkonzepts zu. 211 Diese Interpretationsleistung drückt sich ja dann z.B. in verschiedenen Figurentypologien durch Bezeichnungen wie Protagonist, Held etc. aus.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

durch die Textstruktur sind bereits Möglichkeiten genannt worden, wie die emotionale Einstellung des Lesers zu einer Figur auch durch formale Elemente der Textgestalt sowie aus dem Text erschließbare Figurenbewertungen gesteuert werden können. Dieser Zusammenhang soll anhand der Betrachtung von sympathiebasierten emotionalen Leserreaktionen genauer erläutert werden. 2.4.1.3 Sympathie als Gefühlsdisposition und wertende Einstellung Neben der Einfühlung in den emotionalen Zustand einer Figur („feeling with“) besteht auch die Möglichkeit, für diese Figur zu fühlen – ohne dass diese Gefühle identisch sind 212 mit deren emotionalem Erleben („feeling for“). So kann ein Leser sich beispielsweise für eine Figur freuen, wenn diese ein bestimmtes, für sie wichtiges Handlungsziel erreicht hat – auch ohne dass die Figur dieses selbst bereits schon weiß. Oder er kann wütend darüber sein, dass eine andere Figur sich über das Erreichen eines Zieles freut, weil er nicht wünscht, dass die Figur dieses Ziel erreichen möge. Emotionale Reaktionen dieser Art sind nur zu erklären, wenn man eine bestimmte „emotionale Disposition“ des Lesers der Figur gegenüber voraussetzt. Diese wird meist mit dem Begriff der ,Sym213 Der Sympathiebegriff ist aus textwissenschaftlicher Perspektive pathie‘ bezeichnet. insofern interessant, als er eine Relation auch zwischen nicht emotional konnotierten Textstrukturen und emotionalen Leserreaktionen herstellt, und damit im Spektrum der vielfältigen Möglichkeiten emotionaler Anteilnahme an Erzähltexten eine weitere figurenbezogene Leserreaktion umreißt. Allerdings wird ,Sympathie‘ ebenso wie ,Empathie‘ meist terminologisch unscharf verwendet, was wiederum die Operationalisierbarkeit für die Textanalyse erschwert. Zuerst wird daher ebenfalls eine Begriffsklärung erforderlich sein, bevor im Anschluss Textmerkmale benannt werden können, denen sympathiegenerierendes Potenzial zugeschrieben werden kann. Auch im Falle der ,Sympathie‘ lassen sich eine weite und eine enge Begriffsverwendung unterscheiden: Im ersten Fall meint ,Sympathie‘ allgemein eine irgendwie 212

Die Unterscheidung von „feeling with“ und „feeling for“ ist mittlerweile in der Forschung gebräuchlich. Vgl. z.B. Suzanne Keen, Empathy and the novel, 4 und Sophie Ratcliffe, On Sympathy, 19. Unklar ist allerdings, inwiefern die Herausbildung von Sympathie eine empathische mentale Repräsentation des emotionalen Zustands einer Person voraussetzt. Vgl. ebd. 10. 213 Ursprünglich wurde Sympathie weitgehend synonym mit Mitgefühl gebraucht. Zur Begriffsgeschichte vgl. Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie, 40f. Zur Doppelnatur des Sympathiebegriffs als „Nebeneinander von akuten Gefühlen und Verhaltens- und Gefühlsdispositionen“ vgl. Christoph Demmerling und Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle, 141. Im englischen Sprachraum wird „Sympathy“ einerseits bis heute synonym mit dem deutschen Wort „Mitleid“ gebraucht, andererseits rekurriert „Sympathy“ häufig auf das Bestehen einer Ähnlichkeitsrelation zwischen zwei Personen. Vgl. Shorter Oxford English Dictionary. 2 Bände. Oxford 2007. Bd. 2, 3147. Dass das englische „Sympathy“ und das deutsche „Sympathie“ nicht vollständig synonym sind, gilt es bei der Begriffsexplikation zu beachten.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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geartete emotionale Verbundenheit mit einer Figur, im zweiten bezeichnet sie eine 214 positive Einstellung des Rezipienten zu dieser. Wie bei der empathischen handelt es sich auch bei einer sympathischen Reaktion auf eine literarische Figur nicht notwendig auch um eine emotionale. Erscheint eine Figur sympathisch, wird es allerdings je nach erzählter Situation wahrscheinlicher, dass der Leser emotional auf sie reagiert. Und dies im Falle der ,Sympathie‘ mit Emotionen, die eine Parteinahme für die Figur erkennen lassen.215 Auch Mitgefühle wie Mit-Freude oder Mitleid lassen sich so zum Teil auf eine sympathieorientierte Lesehaltung zurückführen. Alessandro Giovanelli fasst als paradigmatische Form von Mitleid die „super-empathy“ auf, die einerseits durch imaginierte empathische Reaktionen auf eine andere Person gekennzeichnet ist und andererseits durch Betroffenheit und Interesse, die zu einer mindestens partiellen Übernahme der Ziele dieses anderen führen.216 Allgemein betont Giovanelli, dass Mitleid immer mit dem Auftreten eines Wunsches verknüpft ist. Seine Begriffsbestimmung bietet damit den Vorteil, eine Schnittstelle zwischen Empathie, Sympathie und Mitleid zu benennen: Die Herausbildung von Mitleid wäre damit auch von empathischen Prozessen abhängig; Betroffenheit und Interesse aber sind nur dann erklärbar, wenn 214

Vgl. z.B. Hans Jürgen Wulff, „Empathie als Dimension des Filmverstehens“, 141. „A concern for the well-being of a particular person or character is at the core of sympathy, reflecting a more deeply-embedded psychological disposition of the sympathizer.“ Susan L. Feagin: „Emotions from the Perspective of Analytic Aesthetics“, 285f. Worthmann fasst Sympathie als eine kongruente emotionale Reaktion auf eine präsentierte Figurenemotion auf. Vgl. Friederike Worthmann, Literarische Wertungen. Vorschläge für ein deskriptives Modell, 190. Diese Begriffsverwendung ist m.E. zu eng. Schließlich sind auch emotionale Reaktionen auf eine Figur denkbar, die zwar von Sympathie getragen sind, jedoch nicht kongruent mit geschilderten Emotionen einer Figur. Dies lässt sich etwa für den Fall von Wissensunterschieden zwischen Figur und Rezipient veranschaulichen: So kann eine Figur beispielsweise Angst empfinden, weil sie eine Situation als gefährlich einschätzt, der Rezipient jedoch weiß bereits, dass die Situation stattdessen eine positive Überraschung für die Figur bereit hält. Er wird dann vermutlich eher mit Neugier und (Vor-)Freude reagieren und antizipiert hier höchstens eine mögliche Figurenemotion. Ebenso kann eine Figur in einer bestimmten Situation Angst empfinden, weil sie bedroht wird, der Rezipient reagiert aus seiner sympathieorientierten Lesehaltung heraus jedoch mit Wut oder Empörung, weil der Figur Unrecht geschieht. Und nicht zuletzt sind auch emotionale Reaktionen auf eine sympathische Figur denkbar, ohne dass überhaupt Figurenemotionen geschildert oder vermutet werden können, etwa wenn eine Figur bewusstlos geschlagen wird, der Rezipient gegenüber dem Aggressor Wut empfindet und damit Partei für die unterlegene Figur ergreift. Demmerling und Landweer sprechen in diesem Fall von „stellvertretenden Gefühlen“. Christoph Demmerling und Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle, 188. Weiterhin kann von Sympathie auch dann gesprochen werden, wenn der Leser akut gar keine bestimmte Emotion empfindet. So kann eine Person in der Alltagssprache als sympathisch bezeichnet werden, ohne dass davon ausgegangen werden muss, dass der Sprecher in diesem Moment tatsächlich emotional beteiligt ist. 216 Vgl. Alessandro Giovanelli, „In Sympathy with Narrative Characters“, 83–85, 87f, 90f. 215

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

zusätzlich angenommen wird, dass vorher eine irgendwie geartete selbstbezogene Bewertung der bemitleideten Figur vorgenommen wurde. Die Herausbildung von Sympathie wird als ein längerfristiger Prozess beschrieben, der nur auf bestimmte Figuren gerichtet ist, während empathische Einfühlungsvorgänge prinzipiell für jede Figur möglich sind. Der Beitrag text- sowie leserseitiger Faktoren zur Herausbildung eines Figurenkonzeptes, das mit der Information ,sympathisch‘ markiert ist, wird je unterschiedlich gewichtet. So betont Mellmann vor allen Dingen, dass vom Rezipienten eine Ähnlichkeitsrelation zwischen sich selbst und der Figur hergestellt werden müsse: Damit [mit dem Begriff der ,Sympathie‘, C.H.] sei kein bestimmtes Emotionsprogramm bezeichnet, sondern soziale Kognitionen der Art „er ist mir ähnlich“ und daran anknüpfende Emotionen im Umkreis des attachment behavior. „Sympathetische“ psychische Akte also sind dann gegeben, wenn der Leser in Figur, Autor etc. irgendeine Gemeinsamkeit mit sich selbst erkennt – angefangen vom impliziten Befund, daß der andere auch ein irgendwie psychisch verfaßtes Wesen ist, bis hin zu dem emphatischen Befund „er ist genau wie ich“ – und ihm/ihr aufgrund dessen „irgendwie gewogen“ ist.217

Wie im Falle der Empathie können die leserseitigen Faktoren, die zur Herausbildung von Sympathie in Form einer Ähnlichkeitsrelation beitragen, nur empirisch, nicht aber durch die Beschreibung von Textstrukturen ermittelt werden. Dennoch lassen sich auch Aussagen über mögliche textuell vermittelte Sympathieeffekte machen, wenn angenommen wird, dass ,Sympathie‘ sich durch eine wertende Einstellung des Rezipienten einer 218 Kognitiv orientierte Forschungsansätze, literarischen Figur gegenüber auszeichnet. die sich mit der Sympathiewirkung von Figuren befassen, gehen davon aus, dass bei der 217

Katja Mellmann, Emotionalisierung, 137. Mellmann entwirft ein vierstufiges Modell von Sympathiegraden, das von Verständnis über Parteinahme und Familiarität bis hin zu Verbundenheit geht. Vgl. ebd. 138–143. Problematisch erscheint hier einerseits, dass nicht klar ist, inwiefern sich Verständnis mit Empathie und Theory of Mind-Effekten überschneidet, andererseits umfasst Parteinahme gerade keine rein individuell ausgeprägten Anteile bei der Herausbildung dieser Sympathiestufe, vielmehr will Mellmann hierunter explizit die Herausbildung einer wertenden moralischen Einstellung gegenüber einer Figur verstanden wissen. Moralische Wertmaßstäbe zeichnen sich aber per definitionem dadurch aus, dass sie normativ handlungsleitend für eine ganze Gruppe sind und dementsprechend intersubjektiv geteilt werden. 218 So etwa Barthel: „Sympathie ist als Haltung einer Person einer anderen gegenüber zu verstehen, als eine Form des sozialen Urteils, welches sich in personaler Attraktion oder Ablehnung manifestiert. [...] Sie ist damit keine Emotion, sondern ein Werturteil, welches in der Entstehung und in der Dauer komplexer ist als die Emotion.“ Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie, 41, Anm. 40. Die Auffassung, Sympathie sei als Werturteil über eine Figur beschreibbar, ist m.E. jedoch zu eng. Hätte Sympathie die Struktur eines Werturteils, wären damit alle Formen subjektiver beziehungsweise nicht-rationaler Bewertungen einer Person ausgeschlossen, wie sie sich zum Beispiel in Wertaussagen manifestieren können. Im Gegensatz zu Werturteilen, für die ein Sprecher allgemeine Geltung beansprucht, gilt für Wertaussagen, dass sie nicht mit der Absicht geäußert werden, intersubjektiv nachvollziehbar zu sein.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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Herausbildung dieser Einstellung neben idiosynkratischen Vorlieben auch intersubjektiv geteilte Wertmaßstäbe eine Rolle spielen.219 Angenommen wird entweder, dass es sich bei Sympathie um eine moralische Bewertung einer Figur handelt,220 oder, dass auch nicht-moralische Bewertungen aufgrund von Figureneigenschaften wie Kraft, Eleganz o.ä. für die Herausbildung von Sympathie eine Rolle spielen.221 Um möglichst viele Formen von intersubjektiv nachvollziehbaren Wertmaßstäben einbeziehen zu können, soll hier ein weiter Sympathiebegriff vertreten werden, auch wenn sich dadurch Schwierigkeiten im Hinblick auf die Operationalisierbarkeit für die Textanalyse ergeben: Explikation 2: ,Sympathie‘ bezeichnet die Einstellung einer Person A gegenüber einer anderen Person oder Figur B, die aus einer positiven Wertung des Objekts dieser Einstellung resultiert, welche in Form eines Werturteils oder einer Wertaussage sprachlich manifest werden kann und unter anderem eine Disposition zu emotionalen Reaktionen umfasst, die eine Parteinahme für B erkennen lassen. Explikation 3: ,Antipathie‘ bezeichnet eine Einstellung einer Person A gegenüber einer anderen Person oder Figur C, die aus einer negativen Wertung des Objekts dieser Einstellung resultiert, welche in Form eines Werturteils oder einer Wertaussage sprachlich manifest werden kann und unter anderem eine Disposition zu emotionalen Reaktionen umfasst, die eine Parteinahme gegen C erkennen lassen.

Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass für viele Figuren auch eine „Nullkategorie“ angenommen werden muss, die figurenbezogene Haltung des Rezipienten nicht notwendig durch Sympathie oder Antipathie bestimmt ist. Dies wird zum Beispiel dann der Fall sein, wenn sich aufgrund rudimentärer oder unzuverlässiger Informationsvergabe 219

Vgl. dazu paradigmatisch Noël Carroll, „Film, Emotion, and Genre“, 21, 45. Diese Position vertritt etwa Smith, der von einem dreistufigen Modell der Sympathiebildung ausgeht: „In addition, specatators [sic!] evaluate characters on the basis of the values they embody, and hence form more-or-less sympathetic or more-or-less antipathetic allegiances with them. [...] Allegiance pertains to the moral evaluation of characters by the spectator. [...] Allegiance depends upon the spectator having what she takes to be reliable access to the character’s state of mind, on understanding the context of the character’s actions, and having morally evaluated the character on the basis of such evaluations. Evaluation, in this sense, has both cognitive and affective dimensions; [...]. On the basis of such evaluations, spectators construct moral structures, in which characters are organized and ranked in a system of preference.“ Murray Smith, Engaging Characters. Fiction, Emotion and the Cinema, 75, 84 (Kursivdruck im Original). Zur Kritik an Smiths insgesamt reduktionistischem Sympathiebegriff, der nur kognitive moralische Bewertungen von Figuren umfasst, vgl. Sophie Ratcliffe, On Sympathy, 10. Einen wesentlich mit moralischen Wertmaßstäben korrelierten Sympathiebegriff vertritt auch Howard Sklar, „Narrative as Experience: The Pedagogical Implications of Sympathizing with Fictional Characters“, 482f. 221 Vgl. Jens Eder, „Drei Thesen zur emotionalen Anteilnahme an Figuren“, 368. 220

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

kein Figurenkonzept ausbilden kann, das ein Werturteil über die Figur erlaubt. Die Unterscheidung von Sympathie und Antipathie ist also als dichotom zu verstehen, in Bezug auf die „Nullkategorie“ sind Sympathie wie Antipathie jedoch als skalare Größen aufzufassen. Geht man davon aus, dass ,Sympathie‘ als eine personen- oder figurenbezogene wertende Einstellung aufzufassen ist, die auch auf intersubjektiv geteilten Wertmaßstäben beruht, stellt sich anschließend die Frage, wie dieser Befund für die Textanalyse fruchtbar gemacht werden kann. So liegen für den historischen Teil dieser Arbeit keine umfassenden Studien zum Werthorizont des Untersuchungszeitraums vor, die aus einer rezeptionsbezogenen Perspektive die eindeutige Zuordnung von Figureneigenschaften zu axiologischen Werten erlauben.222 Eine simple Übertragung eigener Wertmaßstäbe auf den Text hingegen ist selbstverständlich unzulässig. Es müssen daher im Text selbst Indizien für Wertmaßstäbe benannt werden können, die entsprechende Hypothesen über die Sympathiewirkung einer Figur erlauben. Wie aber können diese im Text rekonstruiert werden? Einen allgemeinen Begriffsrahmen für die Analyse von Wertungen und Werten in Texten aus Sicht der deskriptiv-sprachanalytischen Werttheorie stellt wiederum Winko bereit.223 Ihr textwissenschaftlicher Ansatz ist für die vorliegende Fragestellung fruchtbar zu machen, weil er einerseits sowohl sprachliche werthaltige Strukturen benennt, als auch andererseits ein systematisches Verfahren entwirft, wie diese auf die zugrundeliegenden Wertmaßstäbe bezogen werden können. Er soll deswegen im Folgenden kurz rekapituliert werden. Anschließend wird zu klären sein, inwiefern sich werthaltige Textmerkmale auf die figurenbezogenen Einstellungen des Lesers auswirken können. 2.4.1.3.1 Sympathiegenerierende Textstrukturen Werte, die in Bezug auf die Beurteilung literarischer Figuren relevant sind, können in Erzähltexten auf vielfältige Art und Weise gestaltet werden: Teilweise lassen sie sich an der Textoberfläche nachweisen, teilweise werden sie implizit ausgedrückt und müssen mit Hilfe interpretativer Verfahren rekonstruiert werden. Als hilfreich für die Analyse von sprachlichen wie motivationalen Wertungen224 hat sich die analytische Trennung 222

Barthel kann für ihren Untersuchungszeitraum dazu auf entsprechende mediävistische Arbeiten zurückgreifen. Als tendenziell positive Figureneigenschaften benennt sie u.a. „Gottglaube, Gottvertrauen, Ansehen“ usw., als negative etwa „Stolz, Hochmut, Gotteslästerung“ etc. Vgl. Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie, 42–52 (Liste mit als positiv gewerteten Figureneigenschaften 49). 223 Simone Winko, Wertungen und Werte in Texten. 224 „Der Begriff ,Wertung‘ bezeichnet eine Handlung, in der ein Subjekt in einer konkreten Situation aufgrund von Wertmaßstäben (axiologischen Werten) und bestimmten Zuordnungsvoraussetzungen einem Objekt Werteigenschaften (attributive Werte) zuschreibt. Diese Zuschreibung kann in Form nicht-sprachlicher Handlungen (motivationaler Wertung) oder in verbalisierter Form als sprachli-

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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des zugrundeliegenden Maßstabs von dem einem Objekt zugeschriebenen Wert erwiesen. Mit Hilfe dieser Trennung können aus der Beschreibung konkreter Wertungshandlungen beziehungsweise implizit genannter Werte Indizien für die Geltung allgemein(er)er figurenbezogener Wertmaßstäbe gewonnen werden, die zur Herausbildung einer sympathieorientierten Einstellung beitragen können. Werttheoretisch unterschieden werden grundsätzlich axiologische, attributive und quantitative Werte. Dabei bezeichnet der Begriff des ,axiologischen Wertes‘ den Maßstab, mit dessen Hilfe einem Objekt, einer Eigenschaft oder einer Handlung ein bestimmter Wert zugeschrieben werden kann: M ist ein axiologischer Wert, wenn M eine Relation ist, mit der Objekten, Eigenschaften oder Sachverhalten die Eigenschaft, wertvoll zu sein, zugeschrieben wird und die in einem gegebenen Wertsystem als Rechtfertigungsgrundlage für andere Zuschreibungsrelationen fungiert. 225

An der Textoberfläche können axiologische Werte in Form eines Wertprinzips manifestiert sein.226 Die Zuordnung dieses Maßstabes zu einem Objekt schreibt diesem einen entsprechenden attributiven Wert zu: A ist ein attributiver Wert, wenn A ein Objekt – Gegenstand, Sachverhalt, Handlung – oder eine Eigenschaft bezeichnet, dem bzw. der von einem Wertprinzip, d.h. auf der Grundlage eines in einem gegebenen Wertsystem geltenden axiologischen Werts, die Qualität zugeschrieben wird, werthaltig zu sein. 227

Die Beschreibung des Umfangs, in dem das so „aufgewertete“ Objekt die ihm zugesprochene werthaltige Eigenschaft besitzt, bezeichnet Winko als quantitativen Wert. 228 Die Zuordnungsvoraussetzungen für die Attribution eines Wertes zu einem Objekt können auf subjektiven Erfahrungen der Wertenden beruhen, aber auch auf kollektivem, konventionalisiertem Wissen.229 Dieses evaluative Wissen ist, wie Worthmann gezeigt hat, im deklarativen, prozeduralen und autobiographischen Gedächtnis der wertenden Subjekte verankert.230 Ähnlich wie für das Wissen über Emotionskodes gilt für che Wertung vollzogen werden.“ Renate von Heydebrand und Simone Winko, Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation, 39. 225 Simone Winko, Wertungen und Werte in Texten, 36. Vgl. außerdem Renate von Heydebrand und Simone Winko, Einführung, 40. 226 „P ist ein Wertprinzip, wenn P ein Aussagesatz ist, mit dem ein axiologischer Wert explizit ausgedrückt wird.“ Simone Winko, Wertungen und Werte in Texten, 39. Vgl. außerdem Renate von Heydebrand und Simone Winko, Einführung, 42. 227 Simone Winko, Wertungen und Werte in Texten, 40. Vgl. außerdem Renate von Heydebrand und Simone Winko, Einführung, 42. Dies kann in propositionaler Form durch einen Wertausdruck geschehen. Ebd. 43. 228 Simone Winko, Wertungen und Werte in Texten, 42. Vgl. Renate von Heydebrand und Simone Winko, Einführung, 46. 229 Vgl. Renate von Heydebrand und Simone Winko, Einführung, 44. Hierunter fällt beispielsweise auch Wissen über kollektiv geteilte moralische Wertmaßstäbe. 230 Vgl. Friederike Worthmann, Literarische Wertungen, 148.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

wertbezogenes Wissen, dass die kollektiv geteilten evaluativen Wissensbereiche auch im Rahmen einer textorientierten Analyse ermittelt werden können, zumindest insoweit sie an der Textoberfläche manifest werden. Um axiologische, attributive und quantitative Werte an der Textoberfläche rekonstruieren zu können, muss zwischen verschiedenen Bewertungshandlungen beziehungsweise Bewertungstypen unterschieden werden. Grob lassen sich, ähnlich wie bei der Thematisierung und Präsentation von Emotionen, explizite von impliziten Vorkommen unterscheiden. Explizite Bewertungstypen sind solche, in denen das elementare Prädikationsschema einer Bewertungshandlung evident ist; implizite hingegen müssen durch Interpretation aus dem Ko- oder Kontext abgeleitet werden. Beide Analysekategorien lassen sich weiter unterteilen: 231 1. EXPLIZITE BEWERTUNGSTYPEN: a. Direkt: Der propositionale Gehalt eines Satzes hat die Form eines Werturteils („,Ach‘, sagte K., ,Sie sind, Frau Wirtin, eine so kluge achtungeinflößende Frau und doch erschreckt sie jede Kleinigkeit.‘“ (DS 83, Hervorhebung von mir, C.H.)). b. Explizit: Auf den propositionalen Gehalt eines Satzes wird mit Hilfe einer ausdrücklich wertenden, performativen Formel verwiesen („Und da Frieda erst vor kurzem meine Gehilfen treu genannt hat, so sind wir ja Freunde unter uns.“ (DS 77, Hervorhebungen von mir, C.H.)). c. Indirekt: Der propositionale Gehalt eines Satzes zielt nicht auf eine Bewertung ab, diese kann jedoch durch Umformulierung gewonnen werden („Was die Wohnung betrifft, die Sie mir gewähren – Sie können damit nur dieses abscheuliche Loch meinen – [...].“ (DS 89, Hervorhebungen von mir, C.H.)). 2. IMPLIZITE BEWERTUNGSTYPEN: a. Verdeckt: Das evaluative Moment einer Aussage kann aus dem Ko-Text abgeleitet werden. So können bestimmte Figureneigenschaften im Text entsprechend als positiv oder negativ bewertet deklariert werden und die Attribution dieser Eigenschaft stellt dementsprechend eine positive oder negative Bewertungshandlung dar (So ist zum Beispiel Amalia in Das Schloß größer als der Schlossbeamte Sortini, der sie zu seiner Geliebten machen will. In Verbindung mit der Information, dass Größe im Roman mit dem Eindruck von Überlegenheit korreliert ist, lässt sich diese Form der Figurendarstellung als evaluativ beschreiben.).232 231 232

Vgl. Simone Winko, Wertungen und Werte in Texten, 134f. Auch die Semantisierung von Räumen kann dabei zur Figurenbewertung eingesetzt werden, etwa durch die Beschreibung räumlicher Positionierungen von Figuren. Vgl. Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie, 70.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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b. Implizit: In diese Kategorie fallen motivationale Bewertungshandlungen, die in Erzähltexten auf der Ebene der histoire zum Beispiel durch die Beschreibung von Figurenverhalten, etwa in Form von Körpersprache oder anderen Handlungen, auf der Ebene des discours aus der Gewichtung von Erzählabschnitten oder Figurendarstellungen, zum Beispiel durch zeitdeckende, -dehnende oder -raffende Erzählverfahren, Hervorhebungen durch auffällige stilistische Mittel, Schilderungen durch bestimmte Erzählinstanzen etc. erschlossen werden können. (So ist die Abwertung der Familie des Barnabas im Schloß aus dem Verhalten der Dorfbewohner abzulesen, die die Familie sozial ausgrenzen. K. als Hauptfigur tritt am häufigsten im Roman auf und es wird nahezu ausschließlich aus seiner Perspektive berichtet.) Schwierig bis unmöglich ist allerdings im Fall der impliziten Bewertungstypen auf der Ebene der histoire die Rekonstruktion des zugrundeliegenden axiologischen Wertes. Hier ist davon auszugehen, dass durch die Beschreibung entsprechend implizit wertender erzähltechnischer Mittel lediglich die Bedeutsamkeit einer Figur herausgearbeitet werden kann, ohne dass bereits klar ist, auf welche Weise sie bewertet werden soll. Die hier skizzierten Bewertungstypen können durch unterschiedliche sprachliche Korrelate wiedergegeben werden. Winko unterscheidet im Anschluss an Sandig lexikalische, textsemantische (also aus dem Ko-Text) und pragmatisch (aus dem Kontext) bestimmbare Arten sprachlicher Bewertungshandlungen. Die lexikalischen Bewertungsausdrücke können dabei quantifizierend (z.B. „eine so kluge achtungeinflößende Frau“ (DS 270, Hervorhebung von mir, C.H.)), emotionalisierend (d.h. emotional konnotiert, z.B. „dieses abscheuliche Loch“ (DS 89, Hervorhebungen von mir, C.H.)), emotionalisiert (d.h. durch Spezifikation durch ein emotional konnotiertes Attribut, z.B. „eine so kluge achtungeinflößende Frau“ (DS 270, Hervorhebung von mir, C.H.)), komparativ, superlativ oder negierend verwendet werden.233 Textsemantische und pragmatische Bewertungshandlungen können unter anderem durch Herantragen234, Parallelisierung, Kontrastierung, Ironie, Topoi und Sprichwörter erfolgen. Die den textsemantischen und pragmatischen Bewertungsarten zugrundeliegenden impliziten axiologischen Werte müssen dabei mittels Schlusspräsuppositionsverfahren ermittelt werden.235 Diese Inferenzziehungen sind probabilistisch und haben hypothetischen Charakter. Im Rahmen des hier vertretenen inferenzbasierten Textverstehensmodells lässt sich die Annahme ableiten, dass diese an der Textoberfläche manifesten sprachlichen Bewertungshandlungen das entsprechende wertbezogene Wissen beim Rezipienten aufzurufen vermögen und damit verbundene personenbezogene Bewertungsschemata mit 233

Vgl. Simone Winko, Wertungen und Werte in Texten, 138. Durch Vergleich oder metaphorische Ersetzung. Ebd. 139. 235 Ebd. 141. 234

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

den zugrundeliegenden axiologischen Werten aktivieren können.236 Diese können entweder kongruent mit den vom Rezipienten präferierten sein oder aber von diesen abweichen. Worthmann unterscheidet hier akkomodierende von assimilierenden Lektüreprozessen: Bei einer assimilierenden Lektüreweise paßt der Leser sein Textverständnis an die von ihm in die Lektüre eingebrachten Wertmaßstäbe (beispielsweise an Ideale, Wünsche, Ziele, Normen und Konventionen) an. Bei einer akkomodierenden Lektüreweise paßt er die Wertmaßstäbe an das Textverständnis an, so daß beispielsweise eine Diskrepanz entsteht zwischen dem, was er für wünschenswert hält, und dem, was im Text präsentiert wird; es kommt zu einer Infragestellung und eventuellen Veränderung und Anpassung gegebener Wertmaßstäbe.237

Ob also eine durch die Textstruktur nahegelegte Sympathiewirkung einer Figur mit den ihr entsprechenden Emotionen tatsächlich zur Ausbildung einer entsprechenden Einstellung beim Leser führt, hängt damit zusammen, ob die figurenbezogene Wertstruktur des Textes mit derjenigen des Rezipienten übereinstimmt beziehungsweise ob dieser seine eigenen Wertmaßstäbe im Zuge einer akkomodierenden Lesehaltung entweder entsprechend anpasst oder mindestens eine beobachtete Diskrepanz zwischen eigenem evaluativem Wissen und den im Text auftretenden Wertungsprozessen wiederum positiv oder negativ einschätzt.238 Mit Hilfe des oben knapp umrissenen Analysemodells ist es möglich, axiologische Werte in Texten zu rekonstruieren und innertextuelle Wertungshandlungen systematisch zu beschreiben. Die ermittelten Wertmaßstäbe können anschließend miteinander in Beziehung gesetzt werden, um beispielsweise die Werthaltungen239 einzelner Figuren oder auch des Erzählers und die ihnen entsprechenden Wertsysteme, Wertsprachen und Werthierarchien240 zu rekonstruieren. Problematisch ist allerdings die Frage, wie an236

Dazu ist ebenso wie für empathische Leseprozesse wichtig, dass der Leser sich in die Situation der Figur hineinversetzen kann. Vgl. Howard Sklar, „Narrative as experience“, 484. 237 Friederike Worthmann, Literarische Wertungen, 96. 238 Ebd. 96, 148. Eine positive Bewertung von Diskrepanzen zwischen leserseitigen Wertmaßstäben und denjenigen des Textes hängt wiederum stark vom Voraussetzungssystem des Rezipienten ab. Tendenziell scheinen häufiger assimilierende Leseprozesse aufzutreten als akkomodierende Durch eine akkomodierende Lektüre könnten literarische Texte prinzipiell auch zur moralischen „Besserung“ ihrer Leser beitragen. Inwiefern dies möglich ist und welche Rolle hierbei Empathie und Sympathie spielen, wird in der Forschung zur Zeit kontrovers diskutiert. Vgl. hierzu z.B. Suzanne Keen, Empathy and the novel, 4, 22, 40ff, 65 und öfter. 239 „Der Begriff ,Werthaltung‘ bezeichnet ein erworbenes, zentrales und relativ dauerhaftes ,Präferenzmodell‘ einer Person, das Handlungen auslöst und/oder steuert.“ Renate von Heydebrand und Simone Winko, Einführung, 50. Einzelne Wertungshandlungen sowie dauerhafte Werthaltungen von Personen werden durch Ideale, Wünsche, Ziele, Normen und Konventionen gesteuert. Vgl. Friederike Worthmann, Literarische Wertungen, 103–128. 240 Zu den entsprechenden Begriffsexplikationen vgl. Simone Winko, Wertungen und Werte in Texten, 86, 89, 90 sowie Renate von Heydebrand und Simone Winko, Einführung, 77.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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schließend die Werthierarchie des Gesamttextes ermittelt werden kann und, damit zusammenhängend, welche der zuvor ermittelten axiologischen Werte zur Bewertung von Figuren herangezogen werden und welche nicht. Diese höchstrangigen axiologischen Werte sind in der Regel implizit im Text enthalten und können nur durch sehr weitreichende interpretative Annahmen, die den Status von Selektionsleistungen haben, ermittelt werden.241 Auch zur Beschreibung der textuellen Vorgaben für die Herausbildung von figurenbezogenen Präferenzen in Form von Sympathie reicht die Beschreibung einzelner Wertungshandlungen nicht aus. Ein umfassendes Analysemodell, das die systematische Hierarchisierung figurenbezogener Wertungen erlaubt und auf das hier zurückgegriffen werden könnte, liegt bisher nicht vor. Ebenso wenig kann für den Untersuchungszeitraum des historischen Teils dieser Arbeit auf umfassende Studien zur Werthierarchie des soziokulturellen Entstehungsumfeldes der Korpustexte zurückgegriffen werden.242 Annahmen über das sympathische Wirkungspotenzial einer Figur müssen dementsprechend durch interpretative Verfahren eingeholt werden. Um diese intersubjektiv nachvollziehbar machen zu können, kann vor allem auf gängige narratologische Analyseverfahren zurückgegriffen werden. Dabei soll gelten, dass mindestens Rudimente von Wertungshandlungen im Text selbst explizit vorkommen müssen, damit weitreichende, nicht durch den Text selbst gestützte Annahmen über die Sympathiewirkung von Figuren vermieden werden können. Vorgeschlagen wird folgendes Analyseraster:243 - Stimme: Wer spricht? Handelt es sich um einen homodiegetischen oder heterodiegetischen Erzähler? Ist die Erzählerrede logisch privilegiert (heterodiegetischer Erzähler, „Seherfigur“ o.ä.)? Handelt es sich um einen unzuverlässigen Erzähler? Welchen Wahrheitswert haben dementsprechend Aussagen und insbesondere Bewertungen der Erzählinstanz über Figuren in der erzählten Welt? Wie glaubwürdig sind die Aussagen der Erzählinstanz insgesamt? 241

Vgl. Simone Winko, Wertungen und Werte in Texten, 183–190. Gerade für moderne literarische Kommunikationsprozesse kann dabei erst einmal von einem gesellschaftlichen Wertpluralismus ausgegangen werden. 243 Das von Barthel vorgeschlagene Analysemodell sympathielenkender Erzählstrategien ist für die vorliegende Arbeit nicht fruchtbar zu machen, weil es einerseits von bestimmten, für den mittelalterlichen Rezipienten verbindlichen Wertmaßstäben ausgeht, die auf den hier betrachteten Untersuchungszeitraum nicht übertragen werden können. Andererseits berücksichtigt Barthel die neuere literaturwissenschaftliche Wertungsforschung nicht, obwohl sie davon ausgeht, dass Sympathie als Werturteil aufzufassen ist. Als sympathielenkende Textstrukturen nennt sie den „Primacy-Effekt“, Analepsen und Prolepsen, Raum-, Handlungs- und Figurenbeschreibungen, explizit oder implizit imperativische Aussagen der Erzählinstanzen über einen postulierten Sympathieeffekt sowie sympathielenkende Reden von Figuren oder Figurengruppen. Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie, 82. Diese Kategorien erweisen sich als zu schematisch und inhaltlich zu ungenau, um die Wertstruktur eines Textes sowie figurenbezogene Wertungshandlungen systematisch erfassen zu können. 242

2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

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Wertattribution: Finden sich im Text wertende Aussagen über Figuren oder Eigenschaften von Figuren? Welche Figur wird bewertet? Von welcher Instanz wird sie bewertet? Welcher Bewertungstyp liegt vor? Durch welche Bewertungsart wird dieser an der Textoberfläche manifest? Haben die Wertungshandlungen den Status von Werturteilen oder Wertaussagen?244 Lassen sich motivationale Wertungshandlungen von Figuren oder Erzählinstanzen erkennen? Finden sich im Text figurenbezogene Emotionsdarstellungen, die als Wertindikatoren dienen können? Gibt es sich widersprechende Werturteile oder Wertaussagen über die Figur? Werden Figuren mit Hilfe quantitativer Werte miteinander verglichen? Zuordnungsvoraussetzungen: Gibt es einen Zusammenhang zwischen attributiven Werten und Figureneigenschaften? Wenn ja, auf Basis welcher Figureneigenschaften, -handlungen oder Situationen wird ein entsprechender Wert attribuiert? Erscheint die Zuordnung korrekt? Wie glaubwürdig ist die wertende Instanz? Rekonstruktion axiologischer Werte: Welche axiologischen Werte lassen sich aus den Bewertungshandlungen rekonstruieren? Werden Wertprinzipien im Text genannt? Wenn ja, von welcher Instanz? Um welche Art von axiologischen Werten handelt es sich?245 Lassen sich Hypothesen über die Werthaltungen oder Wertsprachen von Figuren oder Erzählinstanzen aufstellen? Werthierarchie: Welche axiologischen Werte in Bezug auf Personen werden im Text genannt? Wie häufig treten diese auf? Werden sie von einer oder von mehreren Figuren oder vom Erzähler genannt? Handelt es sich um Werturteile

Worthmann unterscheidet Wertungshandlungen im Modus des allgemein Wünschenswerten (axiologischer Wert ist vom Wertenden als ein Ideal gedacht, das Resultat ist eine Anerkennungswertung) und im Modus individueller Bedürfnisse (axiologischer Wert ist ein Wunsch des Wertenden, das Resultat ist eine Gefallenswertung). Unter die zweite Kategorie lassen sich auch im Text dargestellte figurenbezogene Emotionen subsumieren, da Emotionen ebenfalls eine evaluative Komponente aufweisen, allerdings mit stärkerem Selbstbezug des Wertenden als bei Idealwertungen. Vgl. Friederike Worthmann, Literarische Wertungen, 103–107, 175, 205, zum bewertenden Aspekt emotionaler Einstellungen Monika Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, 81f sowie paradigmatisch für die Kognitivierungstendenz innerhalb der Emotionspsychologie Brigitte Scheele, Emotionen als bedürfnisrelevante Bewertungszustände. 245 Von Heydebrand und Winko unterscheiden typologisch formale, inhaltliche, relationale und wirkungsbezogene axiologische Werte. Renate von Heydebrand und Simone Winko, Einführung, 114. Diese Typologie ist allerdings auf die Wertung von literarischen Texten bezogen. Es ist davon auszugehen, dass in literarischen Texten Figurenbewertungen in erster Linie inhaltlich bestimmt sind, also zum Beispiel auf ökonomisch, religiös, moralisch oder politisch fundierte axiologische Werte zurückgehen. Vgl. Simone Winko, Wertungen und Werte in Texten, 88. Wertaussagen hingegen können sich auch auf wirkungsbezogene axiologische Werte beziehen. Hier sind insbesondere auch affektive Werte zu nennen. Vgl. Friederike Worthmann, Literarische Wertungen, 205.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

99

oder Wertaussagen? Welchem Geltungsbereich sind die axiologischen Werte zuzurechnen?246 Welche Wertattributionen lassen sich als unzutreffend kennzeichnen? - Im Fall der Kollision mehrerer Bewertungen einer Figur: Welches Werturteil berücksichtigt mehr Eigenschaften der Figur? Lässt sich eine Hierarchisierung hinsichtlich des Geltungsbereichs vornehmen (Wertaussage vs. Werturteil)? Lässt sich eine figurenbezogene Wertung auf ein im Text ausgedrücktes Wertprinzip zurückführen? Wenn ja, wie ist dieses Wertprinzip beschaffen? Gibt es andere, diesem widersprechende Wertprinzipien? Lässt sich eine Gewichtung dieser Prinzipien im Text erkennen? - Kontextualisierung: Lässt sich ein Zusammenhang zwischen im Text ausgedrückten axiologischen Werten und Wertkonzepten oder -debatten aus dem soziokulturellen Umfeld zur Entstehungszeit des analysierten Textes herstellen?247 Handelt es sich hierbei um besonders stark emotionalisierte Debatten? Wenn ja, mit welchen Emotionen sind sie verknüpft? Die Hierarchisierung von Figurenbewertungen anhand der oben genannten Leitfragen muss für jeden Text einzeln vorgenommen werden, da kein allgemeines Verfahren zur Verfügung steht, mit dessen Hilfe einzelne figurenbezogene attributive Werte untereinander gewichtet werden könnten. Da Sympathie im Gegensatz zu Empathie eine längerfristige Einstellung gegenüber einer Figur bezeichnet, sollte die gesamte, auf die jeweilige Figur bezogene Wertstruktur des Textes betrachtet werden.248 Darunter fallen auch im Text ausgedrückte axiologische Werte, die auf Personen bezogen werden können, ohne dass dies für die entsprechende Figur tatsächlich geschehen muss. Im Einzelfall sollte dann entsprechend nachgewiesen werden, inwiefern es sich um einen für die Be246

Worthmann nennt Ideale, Wünsche, Vorbilder, Ziele, Normen und Konventionen als vom wertenden Subjekt vertretene Soll-Zustände, die entsprechende Wertmaßstäbe konstituieren. Friederike Worthmann, Literarische Wertungen, 103. 247 Dies ist in erster Linie für Debatten um die Gültigkeit einzelner moralischer Werte innerhalb einer Gesellschaft zu erwarten. 248 Dazu müssen erst einmal überhaupt genug Informationen über eine Figur zur Verfügung stehen, um die objektivierbaren Komponenten einer bewertenden sympathieorientierten Einstellung bestimmen zu können. Insofern bezeichnet ,Sympathie‘ ein emotionales Wirkungspotenzial von Erzähltexten, das sinnvollerweise nur in Anbetracht des Gesamttextes beschrieben werden kann, mindestens jedoch auf der Basis ausreichender Figuren- und wertungsbezogener Informationen. Barthel dagegen nimmt an, dass Primacyeffekte eindeutig sympathielenkendes Potenzial haben. Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie, 67, 82. Dies erscheint jedoch nicht überzeugend, schließlich bleibt beispielsweise durch die bloße Nennung eines Figurennamens noch vollkommen unklar, wie das dahinterliegende Figurenkonzept jenseits des Basistypus genauer bestimmt und damit bewertet werden kann. Die Bereitschaft, der Figur mit Sympathie entgegenzutreten, mag bei der ersten Nennung allerdings besonders hoch sein. Dass sich figurenbezogene Sympathie im Laufe des Lektüreprozesses ändert, zeigt etwa Howard Sklar, „Narrative as experience“, 489.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

wertung der Figur virulenten Wertmaßstab handelt. Hierzu ist vor allem die Beurteilung der Zuverlässigkeit derjenigen Instanz wichtig, die den entsprechenden axiologischen Wert vertritt. Für die Herausbildung von Sympathie lässt sich vermuten, dass vor allem zuverlässige und begründete Werturteile, die auf allgemein wünschenswerten Idealen beruhen, in der Regel moralische Wertungen, besonders relevant sind. Dies muss jedoch nicht der Fall sein.249 Auch axiologische Werte wie Rollenadäquatheit, Eleganz, Leidenschaftlichkeit etc. können hier eine Rolle spielen.250 Besonderes interpretatorisches Gewicht kommt den Erzählerwertungen zu, vor allen Dingen dann, wenn es sich um einen heterodiegetischen, nullfokalisierenden, zuverlässigen Erzähler handelt, dessen Wertungen nicht von eigenen Interessen innerhalb der erzählten Welt beeinflusst werden. Innerhalb der Diegese ermöglichen die impliziten Bewertungshandlungen Rückschlüsse auf die Bedeutsamkeit bestimmter Figuren und können damit unter Umständen auch Aufschluss über das interpretatorische Gewicht geben, das den von ihnen geäußerten Bewertungshandlungen beizumessen ist. Die Beschreibung der Figurenkonstellation ermöglicht Annahmen darüber, ob die von Figuren geäußerten Bewertungen durch eigennützige Interessen beeinflusst sein könnten. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass in den Einzelanalysen jeweils alle für die Beurteilung einer Figur virulenten Wertmaßstäbe genannt werden sollten und deren Abwägung entsprechend explizit gemacht werden muss. Hypothesen darüber, ob eine Figur als sympathisch, unsympathisch oder in dieser Hinsicht unbestimmt dargestellt wird, sowie Vermutungen über die Intensität dieser Dimension im Vergleich mit anderen Figuren sind deswegen relativ schwierig, weil einigermaßen valide Aussagen nur für an der Textoberfläche ausgedrückte Wertmaßstäbe möglich sind. Annahmen über

249 250

Vgl. die Analyse zu Das Schloß in Abschnitt 3.2. Aufgrund ästhetischer axiologischer Wertmaßstäbe können Figuren als Artefakte, Symptome oder Symbole entsprechend positiv oder negativ bewertet werden, zum Beispiel indem der Eindruck eines „runden“, besonders realistischen Figurenkonzepts auf die besondere Kunstfertigkeit des Autors zurückgeführt wird. Vgl. Fotis Jannidis, Figur und Person, 228 sowie Jens Eder, „Drei Thesen zur emotionalen Anteilnahme an Figuren“, 362, 368. Diese Wertmaßstäbe sind jedoch in der Regel im Text nicht ausgedrückt und dementsprechend der Analyse nicht oder nur schwer zugänglich. So ist zum Beispiel fraglich, ob Kriterien angegeben werden können, welche Textmerkmale zur „Rundheit“ eines Figurenkonzeptes beitragen. Vermutlich sind diese stark abhängig vom Genre des Textes und den hier geltenden Konventionen der Figurendarstellung. So kann ja auch eine Figur als unter ästhetischen Gesichtspunkten besonders gelungen bewertet werden, die prototypisch einem figuralen Schema oder einem Figurenmodell entspricht. Allgemein ist zu fragen, ob diese Form der Hochwertung zur Ausbildung einer sympathieorientierten Leserdisposition beiträgt. Diese bezieht sich ja vor allem auf die Figur als der Personenwahrnehmung angenähertes Konstrukt, sodass ästhetische axiologische Wertmaßstäbe für die Herausbildung von Sympathie wohl eher eine geringe Rolle spielen dürften.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

101

mögliche Sympathieeffekte müssen hierzu für jeden Einzeltext argumentativ überzeugend dargelegt werden.251 Abschließend bleibt zu fragen, ob es möglich und zweckmäßig ist, neben der Beschreibung des empathischen und sympathischen Wirkungspotenzials von Erzähltexten Hypothesen über Fälle möglicher emotionaler Ansteckung oder andersgearteter Formen starker emotionaler Involviertheit des Rezipienten aufzustellen. Oder anders ausgedrückt, ob es möglich ist, von der Textstruktur ausgehend Aussagen über die Intensität der rezeptiven emotionalen Beteiligung zu treffen. In Barthels Analysemodell ist es die Kategorie des Mitleids, die Annahmen über den Grad der emotionalen Anteilnahme ermöglichen soll.252 Als mitleidfördernd qualifiziert sie Textstrukturen, die Innensichtdarstellungen einer leidenden Figur bieten.253 Wie oben erwähnt ist hierbei die Reduktion möglicher Mitgefühle auf Mitleid254 im Rahmen eines allgemein mit emotionsbezogenen rezeptionslenkenden Textstrukturen befassten Analysemodells unter dem Gesichtspunkt der Vollständigkeit nicht einzusehen.255 Barthels Vorschlag jedoch, verschiedene Intensitätsgrade des empfundenen Mitleids aus der Textstruktur ableiten zu wollen, ist bedenkenswert. Mitleid stellt sich demnach als eine situative Parteinahme für eine Figur dar, die in stereotyp emotional konnotierten Situationen und hier insbesondere solchen, die mit Leid verknüpft sind, auftritt. Barthel nennt unterschiedliche Grade der emotionalen Involviertheit: (1) Moralisch legitimiertes Mitleid (bei aus Rezipientensicht unverdient erfahrenem, als tief vermitteltem Leid), (2) rein affektives Mitleid (bei oberflächlich dargestelltem Leid), (3) ratio251

Auch die Frage, inwiefern textuelle Wertungen als emotionsauslösende Anlässe fungieren können, kann bisher nicht systematisch beantwortet werden. Interessant wäre zum Beispiel, ob auch Aussagen darüber gemacht werden können, wie Leser emotional auf das Ausbleiben expliziter Bewertungen reagieren. Hier wäre etwa an Debatten zur poetischen Gerechtigkeit zu denken: Wird ein moralisch hochgradig fragwürdiges Verhalten einer Figur dargestellt, das weder bestraft noch entsprechend explizit abgewertet wird, reagieren viele reale Leser darauf mit moralischen Emotionen wie Empörung. Weitere Kandidaten für moralische Gefühle sind Achtung, und Verachtung, Ekel, Scham und Schuldgefühle sowie Zorn. Vgl. Christoph Demmerling und Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle, 35, 53, 100, 219, 301-305. 252 Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie, 33: „Bewegend ist Mitleid deshalb, weil durch die Übertragung des Leides auf den Rezipienten gleichsam ein heftiger Affekt bzw. eine intensive Emotion ausgelöst werden kann.“ 253 Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie, 33. 254 Zur Begriffsgeschichte vgl. Verena Barthel: Empathie, Mitleid, Sympathie, 33 sowie für die Philosophiegeschichte Christoph Demmerling und Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle, 168– 180. 255 Barthel nennt zwar auch Mit-Freude und Neid als weitere mögliche Mitgefühle, integriert diese jedoch nicht in ihr Analysemodell, da sie davon ausgeht, dass in diesen Fällen nicht mit ähnlich intensiven Gefühlsreaktionen zu rechnen sei. Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie, 33, Anm. 11.

2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

102

nal verweigertes Mitleid bzw. Schadenfreude (bei aus Rezipientensicht verdient erfahrenem Leid).256

Mitleid nimmt somit in Barthels Modell eine Mittelstellung zwischen Empathie und Sympathie ein: Einerseits ist die Evokation von Mitleid von evaluativen Komponenten abhängig, andererseits können Mitleidsreaktionen auch auf simpler emotionaler Ansteckung beruhen, solange das Leiden der Figur nicht als gerechtfertigt dargestellt wird. Die Aufnahme einer dritten Kategorie neben Empathie und Sympathie in das Analysemodell erscheint somit wenig sinnvoll, da Mitleidsreaktionen befriedigend als Folge von empathischen Einfühlungsvorgängen beziehungsweise der Sympathiewirkung einer Figur erklärt werden können. Annahmen über die Intensität emotionaler Reaktionen auf eine bestimmte Figur lassen sich durch die genaue Beschreibung der quantitativen Verteilung und die qualitative Ausgestaltung der empathieermöglichenden Textstrukuren im Rahmen des empathischen Feldes des Gesamttextes begründen sowie über die Analyse von dessen auf Figuren bezogene Wertstruktur. Bedenkenswert ist im letzteren Fall allerdings die Vermutung, dass es hier vor allem moralische Werturteile sind, die die Intensität der emotionalen Beteiligung intersubjektiv regulieren. 2.4.1.4 Zusammenfassung Hypothesen über emotionale Reaktionen auf literarische Figuren lassen sich aus textwissenschaftlicher Sicht auf zwei Beschreibungsgrößen zurückführen, die im vorangegangenen Abschnitt näher erläutert worden sind: Empathie und Sympathie. Andere relevante Formen des emotionalen Erlebens mit Bezug auf Figuren sind dagegen einer textwissenschaftlichen Beschreibung nicht zugänglich, da hier vor allem dem leserseitigen Voraussetzungssystem großes Gewicht zukommt, zum Beispiel im Falle identifikatorischer Lesehaltungen. Ein textbezogenes Analyseverfahren kann empathieermöglichende Strukturen quantitativ und qualitativ genauer bestimmen und über die Beschreibung des empathischen Feldes des Romans Annahmen darüber machen, welchen Figuren gegenüber empathische Einfühlungsvorgänge nahegelegt werden. Die Analyse der figurenbezogenen Wertstruktur des Textes erlaubt es, Aussagen über mögliche Sympathiewirkungen einzelner Figuren zu treffen. Das Verhältnis von Figur und Rezipient kann dabei entweder von Sympathie oder Antipathie geprägt oder hinsichtlich dieser Kategorie unbestimmt sein. Aus textbezogener Sicht lassen sich Aussagen über mögliche Sympathiewirkungen von Figuren aufgrund von im Text dargestellten axiologischen Werten und daraus ableitbaren möglichen Wertungshandlungen treffen, nicht jedoch über leserseitige Gefallenswertungen einer Figur. Mit der Beschreibung von Textmerkmalen, die empathie- oder sympathiegenerierendes Potenzial haben, werden keine Annahmen über einzelne Emotionen gemacht, die wäh256

Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie, 37.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

103

rend der Lektüre evoziert werden. Sie bietet jedoch den Ausgangspunkt für begründete Annahmen darüber, welche Emotionen eher zu erwarten und welche eher auszuschließen sind – vor allem im Hinblick auf die positive oder negative Dimension der postulierten emotionalen Reaktion. Um hier genauere Vorhersagen treffen zu können, müssen entsprechende Arbeiten über virulente Emotionskonzepte des Entstehungszeitraums sowie deren Kodierungen ergänzend hinzutreten.

2.4.2 Durch die Erzählkonstruktion ausgelöste Emotionen Emotionen, die sich auf einzelne Figuren oder den Erzähler richten, lassen sich allgemeiner auf vom Text hervorgebrachte Vorstellungsinhalte beziehen, die innerhalb der Narratologie traditionellerweise der Ebene der histoire zugerechnet werden. Daneben gibt es eine Reihe von emotionalen Wirkungen von Erzähltexten, die hauptsächlich durch die Art der Informationsvergabeprozesse gesteuert werden. Am häufigsten genannt werden in der Forschungsliteratur Spannung, Überraschung und Desorientierung. Diese sollen im Folgenden eingehender betrachtet werden. Die analytische Trennung von histoire und discours hat heuristischen Wert, ist aber natürlich bekanntermaßen eine idealtypische, da etwa die Intensität der empfundenen Spannung, besonders in Form von Suspense, wie noch zu zeigen sein wird, stark von der Beziehung des Rezipienten zu den Figuren beeinflusst ist. Nichtsdestotrotz lassen sich Spannung, Überraschung und mit Einschränkungen auch Desorientierung am besten danach unterscheiden, auf welche Weise die zu ihrer Erzeugung nötigen Informationen übermittelt werden. So geht beispielsweise die „Structural-Affect Theory of Narrative Suspense“ von William F. Brewer und Edward H. Lichtenstein davon aus, dass es wesentlich von der Positionierung bestimmter relevanter Informationen innerhalb der diskursiven Struktur einer Erzählung abhängt, ob mit emotionalen Reaktionen der Spannung, Überraschung oder Neugier beim Rezipienten zu rechnen ist. Brewers und Lichtensteins Hypothesen konnten im Anschluss experimentell bestätigt werden.257 Es soll hier also für eine analytische Trennung hinsichtlich emotionaler Wirkungen plädiert werden, die entweder auf die Figuren oder auf die Erzählkonstruktion bezogen sind: Zwar lässt sich eine intensitätssteigernde wechselseitige Abhängigkeit von empathischen, sympathiebasierten und auf Suspense-Spannung bezogenen Rezeptionsprozessen nachweisen, verknüpft man die einzelnen Wirkungsarten bei der Begriffsbildung und Analyse aber zu eng miteinander, geraten bestimmte Formen der Spannung, wie etwa die Mystery- beziehungsweise Rätselspannung oder die in der Spannungsforschung eher als statisch gefasste sogenannte „Tension“ nicht in den Blick. Weiterhin würde so ausgeschlossen, dass andere, vortheoretisch als eher spannungsarm qualifizierbare Texte Mitgefühl für ihre Figuren wecken können. Daher soll eine Begriffsexplikation 257

Vgl. etwa William F. Brewer und Edward H. Lichtenstein, „Stories Are To Entertain: A StructuralAffect Theory Of Stories“, 482.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

von Spannung, die das Spannungserleben an empathische Einfühlungsprozesse koppelt, vermieden werden. Die interdisziplinäre Spannungsforschung ist in der Literaturwissenschaft, vor allem der romanistischen258, bereits breiter rezipiert und operationalisiert worden. Auf die Ergebnisse dieser Studien kann für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung zurückgegriffen werden, vor allem da auch die literaturwissenschaftlichen narratologischen Publikationen zur Spannungsforschung Ergebnisse der Nachbardisziplinen – etwa der Film- und Fernsehwissenschaft und der empirischen Rezeptionsforschung – bei der Begriffsbildung und für die Entwicklung eines Analyseinstrumentariums berücksichtigen. Deren Ergebnisse sind daher sehr gut mit dem hier vertretenen methodischen Ansatz kompatibel. 2.4.2.1 Spannungserzeugung im Erzähltext Der Begriff der Spannung wurde in der Literaturwissenschaft, insbesondere in der germanistischen, in der Vergangenheit häufig implizit normativ gebraucht. Die Eigenschaft von Texten, spannend zu sein beziehungsweise Spannung zu erzeugen, wurde dementsprechend oft als konstitutives Merkmal der Trivial- oder Unterhaltungsliteratur zugerechnet259 und vermutlich hängt es auch mit diesem Umstand zusammen, dass bisher 258

Vgl. hierzu etwa die Monographie von Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung. Eine Studie am Beispiel der Reiseromane von Jules Verne sowie den von Kathrin Ackermann und Judith Moser-Kroiss herausgegebenen Sammelband Gespannte Erwartungen. Beiträge zur Geschichte der literarischen Spannung. 259 Vgl. Kathrin Ackermann, „Die Entstehung des Nervenkitzel Zum Verhältnis von psychologischer und literaturwissenschaftlicher Spannungsforschung“, 117. Ackermanns allgemein gehaltene Feststellung, dass „[d]ie Literaturwissenschaft [...] sich bislang wenig für dieses Phänomen [der literarischen Spannung, C.H.] interessiert“ und die Frage nach deren Erzeugung entweder als unerheblich qualifiziert habe, weil Spannung als konstitutives Merkmal jedes Textes angesehen wurde, oder „in die Randzone der Trivialliteraturforschung abgeschoben“ habe, ist so allerdings nicht ganz zutreffend. Im Bereich der Dramentheorie etwa ist Spannung traditionell schon länger eine relevante Analysekategorie auch in Bezug auf kanonische Texte gewesen. Auch für den Bereich der Erzähltextanalyse lassen sich bereits früh einzelne Studien zur Spannung finden, die sich auch mit kanonischen Texten beschäftigen. Vgl. dazu den Überblick bei Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 14–25 sowie beispielhaft die heute noch viel zitierte Studie von Heinz-Lothar Borringo aus dem Jahr 1980: Spannung in Text und Film. Spannung und Suspense als Textverarbeitungskategorien. Auffällig ist allerdings die sehr unterschiedliche und teilweise reduktionistische Verwendung des Spannungsbegriffs in vielen dieser Studien, der oft lediglich an einen Informationsmangel des Rezipienten oder der Figuren gekoppelt wird. Die Filmwissenschaft hingegen hat sich bereits früh im Rahmen ihrer relativ jungen Fachgeschichte intensiv und aus interdisziplinärer Perspektive dem Phänomen der Spannung und der Frage nach seiner Erzeugung zugewandt. Einflussreich, für narratologische Fragestellungen gut anschließbar und daher viel zitiert auch in literaturwissenschaftlichen Publikationen ist nach wie vor der von

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

105

wenig Untersuchungen zu Spannungsphänomenen in als hochliterarisch geltenden Texten vorliegen.260 In den wenigen literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die sich dennoch mit dem Phänomen der Spannung auseinander setzen, fällt die Heterogenität in der Theoriebildung und der damit einhergehenden Begriffsexplikationen auf, die auch daraus resultiert, dass die psychologische Spannungsforschung einerseits zum Zeitpunkt des Erscheinens älterer literaturwissenschaftlicher Studien noch nicht so weit gediehen war, um für textanalytische Belange fruchtbar gemacht werden zu können, andererseits in jüngeren Studien nicht immer genügend beachtet wurde.261 Dies mag ein Grund dafür sein, warum die Frage nach den Möglichkeiten der Spannungserzeugung im Erzähltext erst spät ein wichtigerer Bestandteil von Textanalysen auch der mit kanonischer Literatur befassten germanistischen Literaturwissenschaft geworden ist. Das Bemühen um eine bessere interdisziplinäre Vernetzung von vor allem narratologischer und empirischer Spannungsforschung hat dazu geführt, dass inzwischen ein relativ detailliertes und komplexes textwissenschaftliches Analyseinstrumentarium zur Spannungslenkung entwickelt werden konnte, das allerdings historisch noch ausdifferenziert werden muss.262 Dieses soll im Folgenden knapp dargestellt und später im Peter Vorderer, Hans Jürgen Wulff und Mike Friedrichsen herausgegebene Sammelband Suspense. Conceptualizations, Theoretical Analyses, and Empirical Explorations. 260 Als Ausnahmen vergleiche dazu neuerdings einige Aufsätze auch zu kanonischen Erzähltexten im Sammelband Zwischen Text und Leser. Studien zu Begriff, Geschichte und Funktion literarischer Spannung. Hg. von Ingo Irsigler, Christoph Jürgensen und Daniela Langer: Andreas Blödorn, „Lektüre als Fieberanfall – Empathie als Modell der (An-)Spannung. Mit einer neu gefassten ,Diagnose‘ der Leiden des jungen Werthers“, 165–188; Martin Maurach, „Modifizierte Antizipation und interlokutorische Retardierung. Zu Spannungseffekten in einigen Erzählanfängen bei Kleist“, 189–207; Ingo Irsigler und Christoph Jürgensen, „Über all ,das spukhafte Zeug‘. Zum Spannungsdiskurs in E.T.A. Hoffmanns Der unheimliche Gast“, 208–224 sowie den für den historischen Teil dieser Arbeit besonders relevanten Aufsatz von Malte Kleinwort, „Spannung(en) bei Kafka“, 265–282. 261 Vgl. dazu den Forschungsüberblick bei Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 11–30, vor allem die Zusammenfassung 25–27 und bei Daniela Langer, „Literarische Spannung/en. Spannungsformen in erzählenden Texten und Möglichkeiten ihrer Analyse“, in Zwischen Text und Leser, 12–32, vor allem 14. 262 Vgl. Kathrin Ackermann, „Möglichkeiten und Grenzen der historischen Spannungsforschung“, in Zwischen Text und Leser, 33–49. Hier sind insbesondere die historische Varianz des Spannungsbegriffs sowie des dahinter stehenden Konzeptes von Spannung zu beachten wie auch mediengeschichtliche Aspekte, die vermutlich wesentlich zur Herausbildung eigener „Spannungsgattungen“ wie Kriminal-, Feuilleton-, Abenteuer- oder Science-Fiction-Roman beigetragen haben. Im Bereich der historischen Spannungsforschung bestehen somit umfangreiche Forschungsdesiderate. Vgl. dazu etwa Kathrin Ackermann, „Einleitung“ in Gespannte Erwartungen, 7–13 sowie dies., „Die Entstehung des Nervenkitzels“, 125f. Ackermann selbst liefert einen knappen und groben Überblick über die literarische Entwicklung und Ausdifferenzierung verschiedener Spannungsformen und deren Kombinierung in der neuzeitlichen Literatur von Boccaccio über die französischen his-

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

historischen Teil der Arbeit angewendet werden. Die im Bereich der interdisziplinären Spannungsforschung noch bestehenden Forschungsdesiderate werden dazu ebenfalls angesprochen und es sollen einige Möglichkeiten skizziert werden, wie diese behoben werden können. 2.4.2.1.1 Interesse und Spannung Grundsätzlich muss der Spannungsbegriff erst einmal von demjenigen des ,Interesses‘ abgegrenzt werden. Wäre Spannung ein für jeden Text konstitutives Merkmal, könnte nicht erklärt werden, wie alltagssprachliche Aussagen möglich sind, die darauf abzielen, dass manche Texte für spannender gehalten werden als andere, und weshalb Texte, die von vielen Lesern für wenig spannend gehalten werden, dennoch von diesen gelesen werden.263 Interesse ist somit als der allgemeinere Begriff zu verstehen, der eine grundsätzliche konzentrierte Aufmerksamkeit und Bereitschaft zur Aufnahme und Verarbeitung von Stimuli bezeichnet. Hier wird somit ein minimalistischer Interessebegriff vertreten, der sich auf die Bereitschaft bezieht, bestimmte Elemente aus der Umwelt zu fokussieren und diese zu rezipieren, was mit Hilfe von Foregroundingstrategien durch den Text gesteuert werden kann. Spannung wird hingegen als höherstufiger Prozess aufgefasst, der eine basale Verstehensleistung von sprachlichen Elementen voraussetzt. Das Vorhandensein von Interesse bildet damit die für jeden Rezeptionsprozess notwendige Voraussetzung. Gleichzeitig sind die Bedingungen für das Auftreten von Interesse so stark von Leserdispositionen oder situativen Bedingungen abhängig, dass dieses einer textzentrierten Analyse nicht und einer kultur- und sozialgeschichtlich verfahrenden Untersuchung nur begrenzt zugänglich ist. Um einen historischen Rezeptionsprozess auf der Basis der Betrachtung von Textstrukturen und der Einbeziehung von Kontextfaktoren simulieren zu können, muss ein Interesse des Rezipienten deshalb immer schon vorausgesetzt werden. Spannung hingegen stellt sich, wie es der alltagssprachliche Gebrauch des Begriffs nahelegt und wie auch empirische Studien belegen, nur aufgrund bestimmter Vorgaben durch den Text ein.264 Unklar ist allerdings, inwiefern Spannung als emotionaler oder toires tragiques und den heroischen galanten Roman des 16. und 17. Jahrhunderts bis zu Walpoles The Castle of Otranto und Poes Erzählungen und skizziert damit eine mögliche Kulturgeschichte literarischer Spannung, die für die deutschsprachige Literatur um Autoren wie etwa Heinrich von Kleist, E.T.A. Hoffmann oder auch Leo Perutz ergänzt werden müsste. Vgl. Kathrin Ackermann, „Die Entstehung des Nervenkitzels“, 124–126. 263 Vgl. dazu Kathrin Ackermann, „Möglichkeiten und Grenzen der historischen Spannungsforschung“, 34 sowie Tilmann Köppe, „Kann man ein Buch spannend finden, obwohl man weiß, wie es endet? Überlegungen zum ,Paradox der Spannung‘“, in Zwischen Text und Leser, 68–81, hier 72f. 264 Gegenbegriff zum Rezeptionsbegriff der Spannung wäre die Langeweile. Sie ist bisher jedoch selten Gegenstand empirischer oder textwissenschaftlicher Forschung geworden. Auch wenn Lan-

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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kognitiver Prozess aufgefasst werden kann. Zillmann etwa fasst Spannung als emotionale Reaktion auf eine Gefährdung einer sympathischen Figur auf;265 Vertreter der Annahme, dass Spannung als eher kognitiver Prozess zu konzeptualisieren sei, gehen davon aus, dass die Ursache für das Entstehen von Spannung in der Notwendigkeit liege, ein bestimmtes von der Erzählung aufgeworfenes intellektuelles Problem zu lösen, das meist in einem Informationsmangel auf Seiten des Rezipienten bestehe.266 Im ersten Fall wird häufig von Suspense-, im zweiten von Rätselspannung gesprochen. Mittlerweile wird in der Emotionsforschung meist davon ausgegangen, dass das Spannungsempfinden sowohl auf emotionale als auch auf kognitive Komponenten zurückgeführt werden kann,267 beziehungsweise es wird umgekehrt angenommen, dass bestimmte Emotionen als Folge des von kognitiven Faktoren beeinflussten Spannungsempfindens erklärt werden können.268 Mellmann z.B. unterscheidet verschiedene Gruppen spannungserzeugender Emotionen und Kognitionen, die zu Aufmerksamkeitsfokussierung und antizipatorischer motorischer Aktivierung führen. Spannungsauslöser sind ihrzufolge Stress und Lust auslösende Emotionen sowie ein gestalttheoretisch be-

geweile und Spannung in keinem kontradiktorischen, sondern lediglich in einem konträren Verhältnis zueinander stehen und fehlende Spannung damit nicht zu der Annahme berechtigt, ein Text sei langweilig, wäre doch die Frage interessant, ob Textfaktoren angegeben werden können, die die Langweiligkeit eines Textes erhöhen. Vgl. dazu Christoph Deupmann, „Langeweile. Das Andere der Spannung“, in Zwischen Text und Leser, 103–122. 265 „I now can define the experience of drama-evoked suspense [...] as a noxious affective reaction that characteristically derives from the respondents’ acute, fearful apprehension about deplorable events that threaten liked protagonists, this apprehension being mediated by high but not complete subjective certainty about the occurence of the anticipated deplorable events.“ Dolf Zillmann, „The Psychology of Suspense in Dramatic Exposition“, in Suspense, 199–231, hier 208. 266 Vgl. etwa Thomas Anz, „Spannung“, in Reallexikon der Literaturwissenschaft, Bd. 3, 464–467. 267 Lothar Mikos, „The Experience of Suspense: Between Fear and Pleasure“, in Suspense, 37–49, hier 37. Zillmann und Junkerjürgen unterstreichen, dass das Spannungserleben als unangenehm empfunden werde, was allerdings die Frage aufwirft, wieso sich Rezipienten dann mit Vorliebe „spannungsgeladenen“ Artefakten aussetzen. Hier wird zumeist angenommen, dass es die physiologischen Veränderungen beim Spannungsauf- und -abbau in Kombination mit dem Bewusstsein der eigenen Sicherheit seien, die dem Rezipienten eine lustvolle Erfahrung ermöglichten: die sogenannte Funktionslust. Vgl. dazu Dolf Zillmann, „The Psychology of Suspense“, 208; Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 32; Katja Mellmann, Emotionalisierung, 70. 268 Vgl. Ed Tan und Gijsbert Diteweg, „Suspense, Predictive Inference, and Emotion in Film Viewing“, in Suspense, 149–188, hier 152, 165. Vgl. zu einem ausgearbeiteten, evolutionspsychologisch argumentierenden Modell von Spannung Katja Mellmann, „Vorschlag zu einer emotionspsychologischen Bestimmung von Spannung“, 245: „Spannung ist selbst keine Emotion, sondern ein Ensemble physisch-behavioraler Begleiterscheinungen verschiedener Emotionen.“

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

gründetes Bedürfnis nach Musterkomplettierung.269 An anderer Stelle hält sie fest, dass die von ihr als eher kognitiv geprägt gefasste Erwartungsspannung bestimmten ergebnisorientierten Planungsemotionen zugrunde liege wie etwa Hoffnung, Enttäuschung, Sehnsucht, Bedauern oder Verzweiflung.270 Donald Beecher, der ebenfalls für einen integrativen Spannungsbegriff argumentiert, welcher emotionale und kognitive Komponenten vereinigt, vermutet: It [Suspense, C.H.] is not a social emotion that interprets the environment and defines courses of action, but the attentional component of those emotions that keeps the mind excited about its options. It may in fact be defined as the arousal dimension of any emotion, such as hope or fear, or the cognitive urgency associated with vital information gaps or disorientation. In that regard, where it arises as a mind state, it exists phenomenologically and defines itself in terms of all its efficient causes.271

Ergänzend muss wohl angemerkt werden, dass nicht alle der von Mellmann genannten Emotionen Produkt eines akuten Spannungsempfindens sind, sondern zum Teil auch erst auftreten, nachdem eine spannende Episode aufgelöst worden ist, wie etwa im Fall von Enttäuschung, Bedauern oder Verzweiflung. Diese Emotionen wären somit während des Spannungserlebens selbst latent und würden erst nach Beendigung einer Spannungsepisode akut. Hoffnung, Sehnsucht oder Furcht hingegen, die sich ja auf ein künftiges Geschehen richten können, können auch akutes Spannungserleben hervorrufen und lassen sich vermutlich darauf zurückführen, dass der Rezipient empathisch mit einer Figur fühlt oder aufgrund von Sympathie emotional für sie Partei ergreift. Neugier, die sich stärker auf die Erwartung eines bestimmten kognitiven Zustandes der Auflösung eines Rätsels oder der Beseitigung eines Informationsmangels richtet, tritt vermutlich auch nur während einer Spannungsepisode auf. Die Tatsache, dass es verschiedene, stärker kognitiv oder emotional geprägte Spannungsauslöser zu geben scheint, ermöglicht eine typologische Einteilung in verschiedene Spannungsarten, die weiter unten in Abschnitt 2.4.2.1.2 genauer beschrieben werden. Grundsätzlich besteht in der Spannungsforschung Einigkeit darüber, dass Spannung auf der Ebene der Narration mittels einer antizipatorischen Leistung des Rezipienten entsteht, der ausgehend von den bisher im Text enthaltenen Informationen mehrere alternative Handlungsverläufe konstruiert.272 Nicht geklärt ist allerdings, ob Spannung zwingend an die Ungewissheit des Ausgangs oder mindestens des Verlaufs einer Geschichte gekoppelt ist, an eine bestimmte, angebbare Anzahl möglicher Ausgänge oder 269

Katja Mellmann, „Vorschlag zu einer emotionspsychologischen Bestimmung von Spannung“, 248, 250, 263, 265. 270 Katja Mellmann, Emotionalisierung, 114, 132f. 271 Donald Beecher, „Suspense“, 277. 272 Ed Tan und Gijsbert Diteweg konnten empirisch nachweisen, dass das Spannungserleben von Rezipienten von antizipatorischen, kausalen Inferenzziehungen begleitet wird und damit Produkt einer aktiven Konstruktionsleistung des Rezipienten ist. Vgl. Ed Tan und Gijsbert Diteweg, „Suspense, Predictive Inference, and Emotion in Film Viewing“, in Suspense, 149–188.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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gar die Bereitschaft zur emotionalen Anteilnahme an den involvierten Figuren. Kathrin Ackermann nennt zwar in ihrem Forschungsüberblick zur interdisziplinären Spannungsforschung „drei Grundbedingungen der Spannung“, über die weitgehend Konsens bestehe: (1) Spannung bzw. Suspense hat etwas mit Ungewissheit des Ausgangs zu tun. Sie kann nicht entstehen, wenn der Rezipient voll über den Gang der Handlung informiert ist. [...] (2) Die Anzahl der möglichen Ausgänge muss begrenzt sein. In den meisten Fällen handelt es sich um eine klare Alternative zwischen alles oder nichts, Sieg oder Niederlage, Leben oder Tod. Mit anderen Worten: Es muss etwas auf dem Spiel stehen, etwas, das einen möglichst hohen existentiellen Wert darstellt. [...] (3) Spannung setzt Identifizierung oder Empathie mit dem Protagonisten oder der Protagonistin voraus.273

Hierzu finden sich aber auch Gegenstimmen: So ist etwa in der philosophischen Diskussion um das sogenannte „Paradox der Spannung“ umstritten, ob Spannung nicht auch dann erfahren werden kann, wenn ein Rezeptionsprozess wiederholt wird, der (Aus-)Gang der Handlung also bereits bekannt ist.274 Zwar haben empirische Forschungen gezeigt, dass das Spannungserleben bei wiederholter Rezeption absinkt,275 dies bedeutet jedoch noch nicht, dass Robert Yanals These, beim Spannungserleben in wiederholten Rezeptionsprozessen handle es sich um Fehlattributionen der Rezipienten, die die an sich selbst empfundene Spannung bei der Erst- nicht klar von Mitgefühlen für die Figuren bei der Re-Lektüre unterscheiden könnten, recht zu geben ist. Ebenso könnte man Noël Carroll folgen, der davon ausgeht, dass im Falle einer (echten) Re-Lektüre die Vorstellung, der Ausgang sei nicht bekannt, beim Rezipienten Spannung erzeugt. Die erste Lösung geht von einer falschen Begriffsverwendung der Rezipienten aus, die zweite von einer psychologischen Spannungstheorie, die nicht an die Kenntnis des Ausgangs einer Spannungsepisode gebunden ist. Beide Lösungen können erklären, warum die Intensität des Spannungserlebens absinkt, denn beide gestehen zu, dass eine Bedingung für Spannung – die Unbekanntheit des Ausgangs – bei der Re-Lektüre entfällt. In Yanals Fall ist dieses Kriterium konstitutiv für den korrekten Gebrauch des Spannungsbegriffs, in Carrolls Fall handelt es sich nur um ein Zusatzkriterium, das die empfundene Intensität des Spannungserlebens erhöhen kann. Die These, dass der unbekannte Ausgang lediglich intensivierend wirkt, sieht Carrolls Lösungsvorschlag allerdings nicht vor. Damit er weiterhin als überzeugend gelten kann, muss er in dieser Hinsicht 273

Kathrin Ackermann, „Die Entstehung des Nervenkitzels“, 118f. Vgl. dazu etwa Richard J. Gerrig und Allan B. I. Bernardo, „Readers as problem-solvers in the experience of suspense“; Robert J. Yanal, „The Paradox of Suspense“; Noël Carroll, „The Paradox of Suspense“, in Suspense, 71–91; Richard J. Gerrig, „Is There A Paradox Of Suspense? A Reply To Yanal“; Juan Prieto-Pablos, „The paradox of suspense“. 275 Vgl. William F. Brewer, „The Nature of Narrative Suspense and the Problem of Rereading“, in Suspense, 107–127, hier 124f. 274

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

modifiziert werden, kann dann aber in befriedigender Weise die empirisch ermittelten Ergebnisse erklären. Lediglich Richard Gerrigs und Juan Prieto-Pablos’ Lösungen scheinen ausgeschlossen,276 denn wenn Rezipienten ihr Wissen über das Ergebnis einer Spannungsepisode tatsächlich vergessen würden oder die Spannung sich nur auf erwünschte Ereignisse unabhängig vom Wissen über den tatsächlichen Ausgang richten würde, müsste auch bei wiederholter Lektüre die Spannungskurve stabil bleiben. Hier soll die Annahme vertreten werden, dass die Spannung im Fall der Erstlektüre sowohl auf Neugier des Rezipienten über den Ausgang als auch auf empathische oder sympathiebedingte Interaktion mit den Figuren zurückzuführen ist, bei der Re-Lektüre nur auf letztere, da Neugier an die Unkenntnis des Ausgangs gekoppelt ist und somit nicht wiederholt auftreten kann. Spannung entstünde bei wiederholter Rezeption also durch die stellvertretende Übernahme der emotional getönten Perspektive einer Figur. Die Unkenntnis des Ausgangs wäre dann ebenso wie in Carrolls Lösung als Intensifikator des Spannungserlebens, nicht aber als konstitutives Merkmal für Spannung zu verstehen. Diese Annahme hat weitreichende Konsequenzen für die Explikation des Spannungsbegriffs, denn wenn Spannung nicht notwendigerweise nur Resultat der emotionalen Bindung an eine Figur ist, spricht dies für die Annahme einer eher kognitiv geprägten Rätselspannung neben dem Spannungserleben in Form von Suspense. Empathie oder Sympathie mit einer Figur wäre kein notwendiges Kriterium für das Spannungserleben. Gleichzeitig unterstellt diese Lösung jedoch nicht, dass Rezipienten, die bei wiederholter Lektüre noch Spannung empfinden, in irgendeiner Weise unter Irrationalitätsverdacht gestellt werden müssten, weil sie grob gesagt wider besseres Wissen Spannung empfinden – ein Einwand, der gegen Carrolls Lösung erhoben werden könnte. Im Gegenteil kann das Absinken der Spannungskurve bei der Zweitrezeption so gerade als Form rationalen Verhaltens interpretiert werden. 277 Unter Literaturwissenschaftlern, die für die Existenz einer Rätselspannung neben der Suspensespannung argumentieren, ist umstritten, ob Spannung nicht auch dann entsteht, wenn die empathische Einfühlung in die Figuren oder das Einnehmen einer sympathiebasierten Einstellung zu ihnen nicht möglich sind oder vom Text zumindest erschwert werden.278 Auch wäre bei der Rätselspannung die Zahl der möglichen Ausgänge nicht notwendig begrenzt. Im Gegenteil ist sogar zu vermuten, dass die Tatsache, dass etwa im Kriminalroman, vor allem im klassischen „Whodunnit“ die Anzahl der möglichen rätsellösenden Szenarien zu Beginn offen gehalten ist, für viele Leser gerade den Reiz dieses Krimigenres ausmacht. Beecher etwa argumentiert aus gestaltpsychologischer 276

Vgl. Richard J. Gerrig, „Is There A Paradox Of Suspense?“ Vgl. zusammenfassend zu den psychologischen, begrifflichen und rationalitätstheoretischen Problemen, die sich im Zusammenhang mit dem „Paradox der Spannung“ stellen Tilmann Köppe, „Kann man ein Buch spannend finden, obwohl man weiß, wie es endet?“ 278 Vgl. dazu etwa Doris Wieser, „Spannungserzeugung durch einen moralisch ambivalenten Protagonisten: Die Täterperspektive bei Patricia Melo“, in Gespannte Erwartungen, 167–179. 277

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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Sicht, dass Spannung auch dann hervorgerufen werden kann, wenn ein Text ganz allgemein die Notwendigkeit einer Musterkomplettierung anzeigt. Er unterscheidet eine weite und eine enge Begriffsverwendung von Spannung: Die erste entspricht im Wesentlichen derjenigen Zillmanns, die zweite umfasst auch allgemeiner Wirkungen der Neugier, von Musterkomplettierungs- und Problemlöseaktivitäten. Er bezieht sich dazu ähnlich wie Mellmann auf evolutionspsychologisch argumentierende Modelle mentaler Prozesse.279 Je nachdem, ob man Spannung als stärker kognitiv oder emotional dominierte Rezeptionswirkung konzeptualisiert, ob man sie also zum Beispiel eher als Folge eines Informationsmangels oder als Ergebnis der Sorge um einen sympathischen Protagonisten begreift, wie es verschiedene Explikationen literarischer Spannung getan haben, geraten somit auch verschiedene Formen von Spannung in den Blick, andere werden hingegen ausgeklammert. So hat sich etwa die empirische Forschung, die stärker von einem emotional geprägten Spannungsbegriff ausgeht, vor allem auf die Überprüfung von Hypothesen zur Suspense-Spannung konzentriert, die wesentlich mit der emotionalen Anteilnahme an einer gefährdeten literarischen Figur erklärt wird. In der Literaturwissenschaft dominiert dagegen ein eher kognitiv fundiertes Konzept literarischer Spannung, das von einer signifikanten Leerstelle im Text beziehungsweise einem vom Rezipienten als aufklärungsbedürftig empfundenen Informationsmangel ausgeht.280 Diese Form der Spannung war bisher kaum Gegenstand empirischer Untersuchungen.281

279

Donald Beecher: „Suspense“, 256, 265, 272. Legt man Beechers weiten, integrativen Spannungsbegriff zugrunde, lässt sich vermutlich auch der Begriff der Tension gewinnbringend in die literaturwissenschaftliche Spannungsforschung integrieren. Im Rahmen dieser Arbeit kann dieser Versuch leider nicht unternommen werden, hier eröffnet sich jedoch ein weites Forschungsfeld, das mit Hilfe emotionspsychologischer, sprachphilosophischer, psycholinguistischer und textwissenschaftlicher Methoden und Theorien auch für die literaturwissenschaftliche Spannungsanalyse interessante neue Ergebnisse erbringen kann. 280 So definiert auch Anz den Spannungsbegriff im Reallexikon der Literaturwissenschaft, indem er als dessen konstitutives Merkmal einen „Mangel an Information, verbunden mit dem Wunsch, ihn aufzuheben“ annimmt. Vgl. Thomas Anz, „Spannung“, 464. 281 Vgl. Kathrin Ackermann, „Die Entstehung des Nervenkitzels“, 126: „Die Unzulänglichkeiten der psychologischen Spannungsforschung liegen u.a. in der Auswahl einer schmalen Textbasis, die einen erkennbaren Einfluss auf die Theoriebildung hat. Sie stützt sich in der Regel auf relativ schematisierte, populäre Texte oder Filme, [...]. Was die oben genannte Unterscheidung von Rätsel- und Suspense-Spannung betrifft, so wird sie von der psychologischen Spannungsforschung häufig nicht einmal in Erwägung gezogen. [...] Umgekehrt könnte eine literaturwissenschaftliche Spannungsforschung, die die emotionale Reaktion auf Texte nicht von vorneherein aus ihrem Gegenstandsbereich ausklammern will, von den Erkenntnissen der kognitionspsychologischen Spannungsforschung profitieren, die Emotion und Kognition als zwei eng miteinander verknüpfte Phänomene ansieht.“

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

Selten gerät darüber hinaus in den Blick literaturwissenschaftlicher empirischer oder textwissenschaftlicher Studien, dass Spannung nicht nur als Analysekategorie von narrativen Makrostrukturen aufgefasst werden kann, sondern dass auch auf der syntaktischen, lexikalischen, morphologischen oder phonologischen Mikroebene von Texten von Spannung gesprochen werden kann, wie dies neuerdings etwa in der Linguistik diskutiert wird. Diese Form von Spannung wird häufig auch als „Tension“ bezeichnet, in literaturwissenschaftlichen Arbeiten kurz genannt, aber selten ausführlicher diskutiert oder gar in die Analyse einbezogen.282 Dies liegt auch daran, dass nicht recht klar ist, ob die in der linguistischen Forschung unter dem Aspekt der Spannung diskutierten Phänomene tatsächlich mit denjenigen vergleichbar sind, die in der literaturwissenschaftlichen Spannungsforschung untersucht werden: Die Begriffsexplikation von Spannung in der bisher einzigen dazu vorgelegten linguistischen Monographie von Alwin Fill jedenfalls ist so weit gefasst, dass sie kaum mehr als trennscharf bezeichnet werden kann. Fill spricht von einem „Prinzip Spannung“, das er als dynamischen, multiplen Gegensatz in der Zeit auffasst, der nach Lösung strebe, und das sich auch, aber nicht nur in der Sprache manifestiere.283 Fill bezeichnet seine Untersuchung als dezidiert „postmoderne[n] Ansatz“284 und beschreibt eine Reihe von im weitesten Sinne auf sprachliche Abweichungen konzentrierten Phänomenen, die er aufgrund dieser Abweichungen als „spannend“ klassifiziert und auf allen linguistisch relevanten Analyseebenen der Phonologie, Morphologie, Lexik, Syntax, Semantik, Pragmatik etc. verortet. Sprachliche Abweichungen erklärt Fill dabei im Sinne der Prototypentheorie als besonders wenig dem jeweiligen zugrunde gelegten Prototyp entsprechenden Sprachgebrauch.285 Bestimmt man Spannung in dieser Weise sozusagen 282

Junkerjürgen etwa konstatiert, dass es sich „bei den stilistischen Mitteln der Spannungsverstärkung grundsätzlich um fakultative Elemente handelt“, und geht im Anschluss nicht weiter auf mögliche Wechselwirkungen zwischen Mikro- und Makroebene ein. Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 26. 283 Alwin Fill, Das Prinzip Spannung, 10. Wenig hilfreich ist auch Gudrun Helds Begriffsexplikation: „Spannung resultiert stets aus der gezielten Veränderung eingespielter kognitiver Routinen in Bezug auf Verlauf und/oder Anordnung von Inhalten und Formen – sie erhöht sich – im wahrsten Sinne des Wortes – mit der räumlichen und/oder zeitlichen Spannweite. Intendierte Irreführung, Verzögerung der Lösung induzieren Neugier und abduzieren lustvolle Überraschungen.“ Gudrun Held, „Verfahren intermodaler Spannung in Kontakttexten“, 246f. Insbesondere die zweite Annahme, dass Spannung sich mit räumlicher und zeitlicher Spannweite addiere, ist so nicht nachgewiesen. Junkerjürgen etwa fasst Spannung als kurzen „Affekthöhepunkt“ auf, für den ein Schwellenwert angenommen werden müsse, ab dem das Spannungserleben beim Rezipienten dann wieder absinke. Vgl. Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 50f. Hier wäre auch die Frage zu klären, welche sprachlichen Mittel dazu beitragen können, dass eingespielte kognitive Routinen verändert werden. Eine Spannungslinguistik, die dies beantwortete, wäre für die literaturwissenschaftliche Spannungsforschung in hohem Maße interessant. 284 Alwin Fill, Das Prinzip Spannung, 19 (Hervorhebung im Original). 285 Ebd. 18.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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„abweichungsästhetisch“ als Regelverletzung vor einem normierten Erwartungshorizont, stellt sich allerdings die Frage, ob als Effekt dieser Abweichung nicht eher mit Überraschung als mit Spannung zu rechnen wäre. Weiterhin beschreibt Fill eine Reihe von kontrastierenden und damit gegebenenfalls spannungsinduzierenden Relationen zwischen Textoberflächenphänomenen. Diese linguistische Beschreibung von Spannungen, die durch die relative Positionsnähe von sprachlichen Einheiten, die zueinander im Verhältnis syntaktischer, semantischer, lautlicher oder grammatischer Gegensätzlichkeit stehen, dürften vor allen Dingen für die Mikroanalyse einzelner Textpassagen und hier insbesondere von lyrischen Texten interessant sein. Nicht deutlich wird in den wenigen linguistischen Arbeiten, die bisher zu diesem Thema vorliegen, allerdings, wie diese „Gegensätzlichkeit“ theoretisch genauer gefasst werden kann. Darüber hinaus ist derzeit noch nicht geklärt, wie diese Form von Spannung sich zu denjenigen auf der Ebene der Makroebene der Narration verhält, wie hier also spannungsbezogene bottom-up- und top-down-Prozesse modelliert und erklärt werden können. Fill geht von einer kontinuierlichen Steigerung aus: Je höher die sprachliche Ebene, eine desto größere Rolle spielt das Prinzip [Spannung, C.H.]. Seine Wirksamkeit beginnt auf der phonologischen Ebene, setzt sich auf der morphologischen, auf jener des Wortes, des Satzes und des Textes fort, indem es kontinuierlich an Bedeutung gewinnt.286

Gegen diese Hypothese lässt sich allerdings einwenden, dass Gefahren oder Konflikte auf der Ebene der Handlung nicht notwendigerweise durch semantisch gegensätzliche Begriffe, syntaktisch divergierende Satzkonstruktionen oder starke phonologische Varianz sprachlich gekennzeichnet werden, beziehungsweise dass sich solche auf der Mikroebene vorhandene Gegensatzpaare in jedem Fall auf der Makroebene eines Textes in ihrer spannungserzeugenden Wirkung addieren müssen. Nicht in den Blick gerät hier überdies die Frage, ob nicht auch einzelne Lexeme Spannung konnotieren können, wenn in einem Text etwa von „Kampf“, „Streit“ etc. die Rede ist. Spannung entstünde somit nicht nur durch die kontrastierende Gegenüberstellung gegensätzlicher Textelemente, sondern wäre auch als Teil der Wortbedeutung im Lexikon verankert oder könnte auch nur kontextuell zu ermitteln sein. Wie Mikro- und Makroebene hier zusammenwirken, wäre von einer textlinguistischen Spannungsforschung zu klären. Auch wenn also Fills Bemerkungen zur sprachlichen Manifestation verschiedener Spannungsformen im Einzelfall für literaturwissenschaftliche Spannungsanalysen aufschlussreich sein können, muss doch bezweifelt werden, ob, schließt man sich Fills Begriffsexplikation an, bei einer so weiten Verwendung des Spannungsbegriffs überhaupt noch die für die Lektüre fiktionaler Erzähltexte relevanten Formen von Spannung in 286

Alwin Fill, Das Prinzip Spannung, 21. Vgl. dazu ders., „Sprachliche Aspekte von Spannung und Suspense im literarischen Text“, in Gespannte Erwartungen, 221–238 oder Gudrun Held, „Verfahren intermodaler Spannung in Kontakttexten: Beobachtungen am Beispiel typischer Formulierungsstrategien auf Zeitschriften-Covers“, in ebd. 239–263.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

den Blick geraten. Vor allem der Abweichungsbegriff ist so vage, dass sehr viele und durchaus heterogene Phänomene unter ihn fallen können. Zudem wird aus Fills Erläuterungen nicht klar, wie sich sprachliche Abweichungen und Phänomene semantischer oder syntaktischer Differenz oder Gegensätzlichkeit zueinander verhalten, die Fill ebenfalls unter das „Prinzip Spannung“ subsumiert. Der Verdacht liegt nahe, dass hier recht unterschiedliche sprachliche Phänomene unter einen sehr allgemeinen Oberbegriff gebracht werden. Im Folgenden soll der Spannungsbegriff daher in erster Linie eingeschränkt im Hinblick auf narrativ erzeugte Spannung expliziert werden. Dennoch gilt es zu bedenken, dass die Annahme, dass Spannungsepisoden auch sprachlich markiert werden können, durchaus plausibel erscheint, dass also auch eher statische Formen von sprachlich induzierter Spannung existieren, die in einer irgendwie gearteten Kontrastrelation zwischen sprachlichen Einheiten besteht und sich auch auf das Verständnis der Makroebene von Texten und gegebenenfalls auch der narrativen Spannung auswirken kann.287 Diesen Zusammenhang gälte es vorab allerdings in linguistischer Perspektive wieter auszudifferenzieren – ein Desiderat, das in der vorliegenden Studie angesprochen, nicht aber behoben werden kann. Um all die weiter oben genannten Formen narrativer Spannung für die Textanalyse berücksichtigen zu können, soll nun wiederum von einem möglichst allgemeinen und weiten Spannungsbegriff ausgegangen werden. Angenommen wird, dass narrativ erzeugte Spannung sowohl emotionale als auch kognitive Komponenten umfasst und durch vom Text gesteuerte antizipatorische Inferenzziehungen bedingt ist. Ein auf Empathie oder Sympathie basierendes Verhältnis zu den Figuren des Textes wurde oben als ein nicht notwendiges Kriterium für das Auftreten von Spannung erachtet und soll daher nicht Eingang in die Begriffsexplikation finden, wohl aber in die Unterscheidung von Rätsel- und Suspensespannung. Allgemeiner wird stattdessen davon ausgegangen, dass der Rezipient das Eintreten eines bestimmten antizipierten Szenarios wünschen muss, andere mögliche Szenarien dagegen nicht erwünscht sind:

287

Einen ersten Versuch zu einer genaueren Beschreibung von rezeptionslenkenden sprachlichen Strukturen in Bezug auf Spannung und Überraschung mit Hilfe korpuslinguistischer Methoden hat Michael Toolan vorgelegt: Michael Toolan, „The textual tracking of suspense and surprise“, in ders., Narrative Progression in the Short Story. A corpus sytlistic approach, 165–188. Während Toolan allerdings für die narrative Progression in Kurzgeschichten insgesamt acht Parameter für computergestützte Suchprozeduren benennen kann (zusammenfassend vgl. 164), beschränken sich seine Analysen zu Spannung und Überraschung bisher auf Fallbeispiele, aus denen noch keine allgemeinen Suchroutinen abgeleitet werden können. Toolan vermutet, dass im Fall von Spannung und Überraschung statt mit binären mit skalaren Parametern gearbeitet werden müsse, um spannungserzeugende Textmarker isolieren zu können. Vgl. ebd. 169. Er trennt in seiner Untersuchung strikt sprachlich und narrativ erzeugte Spannung und behandelt sie als grundsätzlich verschiedene Phänomene. Vgl. ebd. 165f.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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Explikation 4: Im Fall der narrativ erzeugten Spannung handelt es sich um einen mentalen Prozess, der durch antizipatorische Inferenzziehungen des Rezipienten bedingt ist, die sich auf in der Zukunft liegende mögliche alternative Geschehensabläufe innerhalb der Diegese richten, wobei das Eintreten eines dieser antizipierten Szenarien vom Rezipienten gewünscht wird.

Eine solche Wunschkomponente sieht auch Junkerjürgen vor, er koppelt diese aber zu eng an die Beziehung des Rezipienten zur Figur.288 Unter die hier vertretene allgemeinere Wunschformulierung von Spannung können auch auf Empathie und Sympathie basierende Verhältnisse des Rezipienten zu den Figuren gefasst werden, denn einer sympathischen Figur wird jener vermutlich einen für diese positiven Ausgang einer gefährlichen Situation wünschen. Gleichwohl können es auch genre- oder gattungsbezogene Wünsche sein, die dazu führen, dass der Rezipient sich willentlich beispielsweise der Spannung einer Tragödienaufführung aussetzt, bei der er schon vorher weiß, dass die sympathische Hauptfigur sterben wird o.ä. Aaron Ridley geht allgemein davon aus, dass bei der Rezeption von Kunstwerken emotive und formale Wünsche ins Spiel kommen, deren Zielvorstellungen gleich sein oder aber auch konfligieren können. Emotive Wünsche sind solche, die sich auf einzelne fiktionale Gegenstände, z.B. einzelne Figuren richten. In der Komödie beispielsweise fallen der emotive Wunsch nach einem glücklichen Ausgang für das verliebte Paar und der formale Wunsch nach Erfüllung des Gattungsschemas im Ergebnis zusammen, im Falle der Tragödie gilt dies hingegen gerade nicht. Genauer sind es also emotive sowie formale Wünsche, die für das Auftreten von Spannung konstitutiv sind und die gegebenenfalls auch in Konflikt zueinander treten können.289 Narrativ erzeugte Spannung kann unter anderem emotionale Reaktionen der Hoffnung, Furcht oder Neugier bewirken bzw. von diesen induziert sein. Im Folgenden können nun die verschiedenen Formen narrativ erzeugter Spannung genauer betrachtet und einige der sie bedingenden, zum Teil auch intensivierenden Textfaktoren benannt werden. 2.4.2.1.2 Spannungsarten: Suspense und Rätselspannung Allgemein werden in der Forschungsliteratur, wie oben bereits erwähnt, zwei Grundformen von narrativ erzeugter Spannung unterschieden, die sich voneinander am besten durch ein je unterschiedliches Wissen des Rezipienten über den Zusammenhang von bestimmten Geschehensabläufen innerhalb der Diegese abgrenzen lassen: Suspense und Rätsel- oder auch Mysteryspannung. Das Spannungserleben wird bei beiden Spannungsarten in hohem Maße durch die Art und Reihenfolge der Informationsvergabe im

288 289

Vgl. dazu Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 34. Vgl. Aaron Ridley, „Desire in the Experience of Fiction“.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

Text gesteuert und kann daher gut unter Rückgriff auf narratologische Analysekategorien beschrieben werden. Gut erforscht ist vor allem die Suspense-Spannung. Nach dem berühmten und viel zitierten Beispiel von Alfred Hitchcock mit den drei Männern, die um einen Tisch sitzen, unter dem eine Bombe versteckt ist, tritt Suspense dann auf, wenn der Rezipient über die Existenz der Bombe unterrichtet ist, die Männer jedoch von der Bombe noch nichts wissen. Er wartet gespannt und möglicherweise besorgt auf die Explosion, während die Männer am Tisch noch vollkommen arglos sind. Demgegenüber steht die Rätselspannung, die dadurch erzeugt wird, dass ein Ereignis geschildert wird, dessen Ursachen noch unklar sind und die im Laufe der Erzählung aufgedeckt werden müssen. Im vorliegenden Beispiel wäre dies eine Bombenexplosion gleich zu Beginn, die im Verlauf der Erzählung aufgeklärt wird.290 Brewer und Lichtenstein konnten empirisch nachweisen, dass diese strukturelle Unterscheidung von Spannungsformen anhand des Wissens über eine drohende Gefahr oder einer fehlenden Information über den kausalen Zusammenhang eines für das Verständnis der Erzählung wichtigen Ereignisses tatsächlich mit dem Spannungserleben von Rezipienten korreliert und mit je unterschiedlichen emotionalen Reaktionen einhergeht.291 Für die empfundene Intensität von Suspense ist vor allem das Verhältnis zwischen Rezipient und Protagonist entscheidend. Junkerjürgen nennt im Anschluss an Zillmann drei Faktoren, die für Suspense wichtig sind: 1. die Erwartung unerwünschter Ereignisse innerhalb der Narration, die den Protagonisten schädigen können, 2. die positive, affektive Beziehung des Rezipienten gegenüber den Protagonisten, und 3. eine vom Rezipienten subjektiv hoch empfundene Wahrscheinlichkeit, dass die unerwünschten Ereignisse tatsächlich eintreten.292

Mit Junkerjürgen lassen sich folglich ein für Suspense konstitutives inhaltliches Kriterium angeben sowie zwei zusätzliche Faktoren, die das emotionale Erleben von Suspense stark intensivieren können: Im Text muss eine Gefahr geschildert werden, die eine der Figuren bedroht. Hierbei gilt es zu beachten, dass diese Gefahr noch nicht akut sein muss, um Spannung auslösen zu können. Sie muss lediglich aufgrund von kataphorischen Verweisen im Text vom Rezipienten als potentielle Gefahr erkannt und die Schädigung einer oder mehrerer Figuren muss von ihm als möglich eingeschätzt werden. Empirische Untersuchungen belegen, dass die Spannung um so höher ist, je wahrscheinlicher es erscheint, dass die mögliche Gefahr tatsächlich eintritt, beziehungsweise je gewisser sie in der akuten Gefahrensituation den Protagonisten vermutlich schädigen 290

Vgl. dazu ausführlicher Adrian Weibel, Spannung bei Hitchcock. Zur Funktionsweise des auktorialen Suspense, 15f. 291 Vgl. William F. Brewer und Edward H. Lichtenstein, „Stories Are To Entertain“. 292 Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 34.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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wird, und je weniger Lösungsmöglichkeiten dem Protagonisten in dieser akuten Gefahrensituation zur Verfügung stehen.293 Die Zahl der alternativen Lösungsszenarien muss also möglichst gering sein, darf aber auch nicht bei Null liegen. Zusätzlich wirkt sich eine positive Einstellung des Rezipienten zu der bedrohten Figur intensivierend auf das Spannungserleben aus. Insbesondere Hoffnung und Furcht des Rezipienten werden bei einem sympathischen, gefährdeten Protagonisten besonders häufig auftreten und deren Intensität wird dann besonders hoch sein. Unklar ist allerdings, ob dies notwendigerweise der Fall sein muss, oder ob nicht bereits die Gefährdung einer Figur, zu der der Rezipient eine nur irgendwie geartete parasoziale Beziehung aufgebaut hat, Spannung auslöst und das Spannungserleben beeinflusst.294 Am Beispiel von Suspense wird somit leicht klar, wieso es nicht einleuchtend ist, diese Form der Spannung zu eng an den Begriff der Empathie und Sympathie zu koppeln, wie etwa Junkerjürgen – Zillmann folgend – dies in seiner Begriffsexplikation tut.295 Denn erstens ist noch nicht empirisch gesichert, dass eine „positive affektive Beziehung“ des Rezipienten zu einer Figur eine notwendige Bedingung für das Auftreten von Suspense ist. Lediglich ihre intensivierende Funktion konnte bisher nachgewiesen werden.296 Zweitens besteht so umgekehrt für die begriffliche Explikation von Empathie die Gefahr, dass diese zu eng an bestimmte Figurenmerkmale gekoppelt wird, wie etwa bei Junkerjürgen an dasjenige der Vulnerabilität.297 Auch wenn dies für viele Texte oder gar ganze Genres zutreffen mag, können literarische Texte doch auch intensive empathische Wirkungen evozieren, ohne dass eine signifikante äußere Gefährdung des Protagonisten eintritt. Drittens wäre zu fragen, ob von Suspenseepisoden nur dann gesprochen werden sollte, wenn eine Gefährdung des Protagonisten geschildert wird und nicht auch dann, wenn etwa eine Nebenfigur bedroht ist. Problematisch ist auch die Frage, ab wann von einer Bedrohung für den Protagonisten gesprochen werden kann. Angenommen wird zumeist, dass es sich um eine innerhalb der Diegese lebensbedrohliche Gefährdung handeln muss oder wenigstens um eine Art von Gefahr, die die kör293

Vgl. dazu zusammenfassend Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 31–60. 294 Vgl. Peter Vorderer, „Toward a Psychological Theory of Suspense“, in: Suspense, 233–254, hier 247. 295 Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 34. Vgl. Dolf Zillmann, „The Psychology of Suspense in Dramatic Exposition“, 219. 296 So spricht Junkerjürgen an anderer Stelle auch in abgeschwächter Form davon, dass die „Einschätzung des Protagonisten durch den Rezipienten von erheblicher Bedeutung bei der Spannungserzeugung“ sei. Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 42. 297 Junkerjürgen bestimmt die Empathie-Kapazität einer Figur anhand von deren Vulnerabilität und entwirft im Folgenden eine Typologie von Figuren mit hoher Empathiekapazität, die allerdings eng auf seine Korpustexte aus dem Œuvre Jules Vernes abgestimmt ist. Insgesamt nennt er folgende vier Typen: Superheld, Everybody’s Darling, Empathie-Automaten, Gefahren-Blinde. Vgl. Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 330.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

perliche Unversehrtheit einer Figur stark beeinträchtigt. Es wäre jedoch ebenso denkbar, zum Beispiel den drohenden Verlust der personalen Integrität einer Figur als gefährlich einzuschätzen, den Verlust einer anderen geliebten Figur und so weiter. Schließlich kann eine Gefahr auch allein in der Tatsache bestehen, dass eine Figur vor der Möglichkeit steht, ein für sie wichtiges Handlungs- oder Erkenntnisziel nicht zu erreichen.298 Zusammenfassend kann diese Gefährdung inhaltlich wohl nur grob dadurch bestimmt werden, dass der Verlust eines vom Rezipienten als wertvoll eingeschätzten persönlichen Gutes im Text als wahrscheinlich dargestellt werden muss. Die Einwände gegen einen eng gefassten Gefährdungsbegriff, der nur auf die körperliche Unversehrtheit des Protagonisten abstellt, offenbaren das Manko vor allem der empirischen Spannungsforschung: Sie untersucht in der Regel kurze, meist handlungsorientierte Texte oder filmische Episoden,299 die in erster Linie aus dem Bereich der Unterhaltungsliteratur oder des Mainstreamkinos stammen und häufig ganz bestimmten genrebezogenen Schemata folgen. Die mit Hilfe dieser Texte gewonnenen empirischen Ergebnisse zum Spannungsempfinden lassen sich aber nicht vorbehaltlos auch auf längere Texte oder andere Genres und Gattungen übertragen. Sie können sehr gut bestimmte populäre und unter dem Aspekt der Spannung offenkundig hoch wirksame Erzähltechniken offenlegen, es ist damit aber noch nicht gesagt, ob nicht in anderen Genres, Texten mit anderen Gefährdungsszenarien etc. vergleichbar intensive Suspensewerte gemessen werden können. Deren Ergebnisse sollten daher nicht voreilig verabsolutiert und zu notwendigen Bestimmungsmerkmalen von Suspense erklärt werden. Anders gesagt besteht sonst die Gefahr, dass die Theoriebildung zu stark von der Einseitigkeit in der Wahl der untersuchten Gegenstände beeinflusst wird. Die auf empirischem Wege ermittelte prototypische Suspenseepisode beschreibt Junkerjürgen: Das signifikante Auslöseereignis wird dabei so frühzeitig wie möglich präsentiert, so dass sich der Rezipient leicht zeitlich orientieren kann und die folgenden Ereignisse mühelos antizipiert: Er ist auf das weitere gespannt und erfährt gerade dadurch den Ablauf der Zeit als besonders intensiv. Zusätzlich werden intervenierende Informationen in die Diskursstruktur eingebaut, die den Ausgang aufschieben.300

Zusammenfassend können nach Junkerjürgen folgende für die Erzeugung von Suspensespannung besonders wichtige Textmerkmale benannt werden: Spannung besteht demnach als Struktur ausgehend von Zillmanns eher inhaltlichen und Brewers und Lichtensteins eher strukturellen Definitionen aus drei Phasen: einem Auslöseereignis, d.h. dem Auftreten einer Bedrohung des Protagonisten, der Auseinandersetzung mit dieser Bedrohung und der abschließenden Auflösung der Situation. 298

Junkerjürgen spricht deswegen von Gefahren und Anreizen. Vgl. Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 35. 299 Vorderer spricht von „action texts“ im Gegensatz zu den bisher wenig getesteten „experience texts“. Vgl. Peter Vorderer, „Toward a Psychological Theory of Suspense“, 238. 300 Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 46.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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(1) und (3) sind dabei tendenziell punktueller, (2) vergleichsweise andauernder Natur. Bei allen drei Phasen verlaufen Ereignis- und Diskursstruktur parallel.301

Auf diese Weise lassen sich besonders spannende von weniger spannenden Episoden unterscheiden; allerdings ist umstritten, ob eine solche Trennung aus textwissenschaftlicher Sicht sinnvoll ist, da auch in wenig spannenden Episoden, in denen nach Junkerjürgen die antizipierte Gefahr nicht imminent und die empfundene Spannung somit gering ist,302 beispielsweise durch kataphorische Verweise303 Hinweise auf eine mögliche Gefahrensituation gegeben werden können.304 Diesem Problem kann terminologisch leicht damit begegnet werden, dass akute und latente Suspenseepisoden unterschieden werden. Als akut kann so grob eine Suspenseepisode bezeichnet werden, in der die dargestellte Gefahr handlungsbestimmend beziehungsweise thematisch wird, in latenten Suspenseepisoden finden sich kataphorische zukunftsgewisse oder zukunftsungewisse Vorausdeutungen, etwa in Form von geäußerten Vermutungen einzelner Figuren, Prophezeiungen, Erzählerkommentaren, textinternen Parallelstellen, intertextuellen Verweisen oder Prolepsen, die dem Rezipienten mehr oder weniger deutlich eine mögliche Gefährdung von Figuren anzeigen. Grundsätzlich ist Junkerjürgen dabei zuzustimmen, dass es für die Erzeugung von Spannung prinzipiell keinen Unterschied macht, ob diese kataphorischen Elemente als zukunftsgewiss oder zukunftsungewiss markiert sind.305 Die Intensität der empfundenen Spannung können sie möglicherweise jedoch sehr wohl beeinflussen, gerade wenn angenommen wird, dass das Spannungsempfinden dann besonders hoch ist, wenn eine Schädigung der Figuren sehr wahrscheinlich ist, aber nicht mit Sicherheit feststeht. Zwischen akuten und latenten Suspenseepisoden lässt sich 301

Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 48. „Vor diesem Hintergrund lässt sich nun auch die Frage beantworten, ob auf globaler Ebene Spannung erzeugt werden kann. Wenn Spannung ein zeitlich begrenzter Affekthöhepunkt ist, der sich über eine kurze Schadensantizipation und hohe Imminenz der Gefahr sowie erzähltechnisch durch die Annäherung von Erzählzeit und erzählter Zeit auszeichnet, kann die globale Ebene eindeutig keine Spannung erzeugen. Spannung ist damit grundsätzlich episodisch. Für den Rhythmus eines spannenden Romans bedeutet dies einen Wechsel von spannenden und nicht-spannenden Episoden.“ Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 54. 303 Wulff betont die besondere Funktion narrativer kataphorischer Verweise bei der Erzeugung von Suspense, weil diese die Erwartungshaltung des Rezipienten steuern können. Vgl. Hans Jürgen Wulff, „Suspense and the Influence of Cataphora on Viewers’ Expectations“, in Suspense, 1–17. Eco spricht analog von „Spannungssignalen“, die daraus resultieren, dass bestimmte im Text gegebene Wahrscheinlichkeitsdisjunktionen, in der Regel Handlungsalternativen, als relevant markiert werden. Vgl. Umberto Eco, Lector in fabula, 141. 304 So rechnet Junkerjürgen kataphorische Verweise unter die fakultativen Elemente der Spannungserzeugung im Text. Vgl. Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 58. Eine Gegenposition nimmt Langer ein, die kataphorische Verweise zur Spannungsepisode hinzurechnet. Vgl. Daniela Langer, „Literarische Spannung/en“, 26, Anm. 49. 305 Vgl. Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 58. 302

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

keine systematische Trennung ausmachen, vielmehr müssen sie jeweils im Einzelfall voneinander abgegrenzt werden. Es ist allerdings fraglich, ob diese terminologische Unterscheidung sich bei der Textanalyse signifikant auswirkt. Von besonders hohen Spannungswerten kann ohnehin nur dann ausgegangen werden, wenn die von Junkerjürgen beschriebene Suspenseepisode vorliegt. Hierbei ist auch zu bedenken, dass die Erwartungshaltungen von Rezipienten nicht nur durch Textsignale, sondern auch durch Kontextfaktoren, insbesondere in Form von schemagebundenem Wissen über typische, zum Beispiel prozedurale, autorspezifische, genreabhängige oder gattungsbezogene Handlungsabläufe, gesteuert wird.306 Junkerjürgen unterscheidet weiterhin Texte mit und ohne globale Suspenseebene.307 Diese Unterscheidung ermöglicht eine Grobkategorisierung von literarischen Texten anhand ihres globalen suspensegenerierenden Wirkungspotenzials: Je nachdem, ob in einem Text eine globale Spannungsebene vorliegt und wie diese inhaltlich ausgestaltet ist, lassen sich z.B. verschiedene Genres nach der Art der Spannungserzeugung unterscheiden. Hohe emotionale Suspensewerte erzielen allerdings vermutlich nur lokale Suspenseepisoden.308 Ob Makrostrukturen von Texten ebenfalls Spannung auslösen können, ist derzeit noch unklar. Als Intensifikatoren können folgende Textmerkmale genannt werden: die auf Sympathie oder starker Empathie basierende Bindung an eine Figur, die Wahrscheinlichkeit der Schädigung dieser Figur, der zeitliche Umfang der Schadensantizipation, der weder zu kurz noch zu lang sein sollte und erzähltechnisch mit Hilfe einer relativen Übereinstimmung von erzählter Zeit und Erzählzeit gesteuert werden kann,309 die Position der Episode im Gesamttext – finale Episoden entfalten hier vermutlich eine be

306

So ist die Intensität des Suspenseerlebens von erfahrenen und weniger erfahrenen Rezipienten durchaus unterschiedlich, wie empirische Untersuchungen zeigen. Vgl. dazu Peter Ohler und Gerhild Nieding, „Cognitive Modeling of Suspense-Inducing Structures in Narrative Films“, in Suspense, 129–147, hier 131. 307 Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 329: „Eine globale Ebene liegt vor, wenn Gefahr oder Anreiz zu Beginn des Textes als globales Ziel etabliert werden und sich am Textende erfüllen. Je nach Ausgestaltung kann diese globale Ebene statisch oder dynamisch sein. Sie ist dynamisch, wenn Anreiz oder Gefahr sich verändern bzw. ausgetauscht werden und der Text daher inhaltlich in mehrere Teile zerfällt. Sie ist statisch, wenn Anreiz oder Gefahr durchgehend beibehalten werden.“ 308 Ebd. 47. 309 Es handelt sich hier um ein aus der psychologischen Stressforschung und der empirischen Filmwissenschaft abgeleitetes Ergebnis. Schwellenwerte, unterhalb oder oberhalb denen das Spannungserleben sinkt, lassen sich bisher allerdings nicht angeben. Es lässt sich lediglich grob festhalten, dass der Rezipient weder zu wenig noch zu viel Zeit haben sollte, ein mögliches Gefahrenszenario zu imaginieren. Vgl. Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 49.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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sonders starke Suspensewirkung –, Spannungssignale in Form von Vorausdeutungen im Text.310

Textfaktoren zur Erzeugung und Steigerung von Suspensespannung können auf diese Art und Weise relativ gut beschrieben und mit möglichen rezeptionslenkenden Effekten korreliert werden. Die genannten Faktoren ermöglichen zwar keine absoluten Angaben zu Suspensewerten, sondern lediglich die relative Inbezugsetzung verschiedener Episoden oder Texte hinsichtlich ihrer Suspensekapazität. Es ist jedoch auch fraglich, ob solche absoluten Werte mit Hilfe interpretativer Verfahren überhaupt gewonnen werden können, geschweige denn sollten.311 Disparater stellt sich dagegen die Forschungslage zur Rätselspannung dar, die wesentlich seltener überhaupt Gegenstand empirischer Untersuchungen geworden ist. Als notwendige Bedingung für Rätselspannung wird ein signifikantes Informationsdefizit des Rezipienten über die Umstände eines Ereignisses oder Zustands auf der Ebene der histoire angesehen, zu dessen Beseitigung ein vorzeitiges Ereignis rekonstruiert werden muss. Rätselspannung bezieht sich also einerseits auf ein zukünftiges Ereignis innerhalb der Erzählung, nämlich auf die Aufhebung des Informationsdefizites, gleichzeitig jedoch resultiert dieses aus einem analeptischen Verweis. Rätselspannung richtet sich somit bezogen auf den discours auf ein zukünftiges, bezogen auf die histoire auf ein vergangenes Ereignis. Wenn man von den Schwierigkeiten absieht, die die genauere Abgrenzung von für das Auftreten von Rätselspannung signifikanten und nicht signifikanten Informationsdefiziten bereitet,312 kann das Auftreten von Rätselspannung relativ einfach mit Hilfe interpretativer Verfahren ermittelt werden. Dazu kann an narratologische Untersuchungen, z.B. zur analytischen Erzählung313 oder genrebezogene, etwa zum Kriminalroman314 angeknüpft werden: Peter Wenzel unterscheidet in Anlehnung an Roland Barthes und Dietrich Weber fünf Rezeptionsphasen beim Erleben von Rätselspannung: Die Wahrnehmungs- und 310

Diese Liste mit Intensifikatoren ist Junkerjürgens Monographie entnommen: Ebd. 62. Vgl. ebd. 63. 312 Ein Problem, das sich ganz analog bei der Bestimmung der wirkungsästhetischen „Leerstelle“ ergibt. Vgl. dazu oben Abschnitt 2.2.1. Da zu dieser Frage bisher keine empirischen Untersuchungen vorliegen, kann das Auftreten von Rätselspannung daher nur durch interpretative Verfahren plausibel gemacht werden. Rätselhaft können dabei nicht nur Ereignisse oder Zustände innerhalb der histoire sein, sondern auch beispielsweise die Beweggründe einer Figur oder andere psychologische Aspekte derselben. Langer spricht hier etwas missverständlich von „psychological suspense“, es handelt sich aber präziser um eine Variante der Rätselspannung. Daniela Langer, „Spannung/en“, 16. 313 Vgl. Dietrich Weber, Theorie der analytischen Erzählung. 314 Vgl. zum Beispiel Ulrich Suerbaum, Krimi. Eine Analyse der Gattung sowie neuerdings Der amerikanische und britische Kriminalroman. Genres – Entwicklungen – Modellinterpretationen. Hg. v. Vera Nünning. 311

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

Unbestimmtheitsphase dient dazu, das Rätsel als Rätsel zu etablieren. Dies kann durch explizite Benennung, durch Frageformulierungen des Erzählers oder der Figuren oder implizit geschehen. Während der Reflexphase drückt die Beobachterfigur Erstaunen über das erkannte Rätsel aus und bewirkt damit auch beim Rezipienten Spannung. In der dritten, der analytischen Phase wird die eigentliche Detektion des Rätsels vorangetrieben. Während der Widerstandsphase wird die Auflösung des Rätsels hinausgezögert, indem im Text entsprechende Hindernisse aufgebaut werden. Die Klärungsphase bringt dann abschließend die Aufdeckung des bisher rätselhaft gebliebenen Zusammenhangs.315 Ob diese idealtypische Trennung von Rezeptionsphasen im Rätselspannungsschema sich mit dem realen Spannungserleben von Rezipienten deckt, müsste allerdings noch ermittelt werden. Vor allem die analytische und die Widerstandsphase können erzähltechnisch sehr unterschiedlich ausgestaltet werden und es erscheint fraglich, ob Detektion und Verrätselung im Text tatsächlich in Form von voneinander abgrenzbaren Abschnitten und rezeptionsbezogen in einzelne, so klar inhaltlich umrissene Phasen unterteilt werden können oder ob sie nicht vielmehr als Struktureinheiten aufgefasst werden sollten, die von Text zu Text sehr unterschiedlich kombiniert werden können. Wenzel geht bei seinen Überlegungen prototypisch vom klassischen Kriminalroman aus und formuliert daher das Rätselspannungsschema als textuelle Makrostruktur; es lassen sich aber genauso gut auch einzelne Episoden in Bezug auf die Erzeugung von Rätselspannung untersuchen. Ebenso wie bei Suspensespannung können hier Texte mit globaler und ohne globale Rätselebene unterschieden werden. Schwierig ist angesichts der noch sehr lückenhaften empirischen Untersuchungen zur Rätselspannung die Angabe von Textmerkmalen, die hier intensivierende Wirkung entfalten können. Häufig wird unterstellt, dass die Rätselspannung im Gegensatz zur Suspensespannung stärker kognitive Wirkung entfaltet und somit insgesamt weniger intensive emotionale Reaktionen provoziert als die Suspensespannung.316 Andererseits betonen viele Studien, dass Rätselspannung besonders gut die Neugier des Lesers anregen könne.317 Ackermann äußert allerdings Vorbehalte gegen den Neugiersbegriff, weil er historisch unterschiedlich verwendet und entweder eher der Suspense- oder der Rätselspannung zugerechnet wurde.318 In der vorliegenden Studie wird daher davon ausgegangen, dass Neugier sowohl als Produkt von Suspense- als auch von Rätselspannung aufgefasst werden kann. Ihr Auftreten dient hier nicht als Distinktionsmerkmal, um 315

Peter Wenzel, „Spannung in der Literatur: Grundformen, Ebenen, Phasen“, in Spannung. Studien zur englischsprachigen Literatur. Hg. v. Raimund Borgmeier und dems., 22–35, hier 29f. 316 Vgl. Kathrin Ackermann, „Möglichkeiten und Grenzen der historischen Spannungsforschung“, 45f; Weibel: Spannung bei Hitchcock, 30. Nach Ackermann handelt es sich bei der Rätselspannung außerdem um das historisch jüngere Phänomen, das stärker von kulturellen Kodierungen abhängig ist. Kathrin Ackermann, „Möglichkeiten“, 48. 317 Vgl. William F. Brewer und Edward H. Lichtenstein, „Stories Are To Entertain“, 481; Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 68. 318 Vgl. Ackermann: „Die Entstehung des Nervenkitzels“, 126.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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beide Spannungsarten zu unterscheiden, sondern lediglich als Beleg dafür, dass auch Rätselspannung emotionale Wirkung entfalten kann. Außerdem wird der Begriff hier rein deskriptiv verwendet, nicht etwa wie bei Augustinus mit negativ wertender Konnotation. Grundsätzlich scheint der Unterhaltungswert von Rätsel- und Suspensespannung gleich hoch zu sein.319 Unklar ist allerdings, ob Rätselspannung dadurch erhöht wird, dass im Text ein besonders unübersichtliches Geschehen mit vielen alternativen Lösungsszenarien präsentiert wird, oder ob wie bei der Suspensespannung möglichst wenige Alternativen die höchste Spannung beim Rezipienten hervorrufen. Als abgeleitetes Ergebnis lässt sich festhalten, dass vermutlich besonders eine Kombination beider Spannungsformen das Spannungserleben steigert, indem etwa eine sympathische Beobachterfigur in einer rätselhaften, sie gefährdenden Situation geschildert wird. Für die Analyse wird es daher sinnvoll sein, Suspense- und Rätselspannung als Grundformen der narrativen Spannung in deren jeweiliger Kombination zu beleuchten. Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer globalen Spannungsebene sowie die dominante Spannungsart eines Textes können dabei zur Grobkategorisierung von Textkorpora dienen, intratextuell können akute und latente Spannungsepisoden unterschieden und intertextuell vergleichend spannende und weniger spannende Texte voneinander abgegrenzt werden.320 2.4.2.2 Überraschung und Desorientierung Im Gegensatz zu Spannungsphänomenen ist das Auftreten von narrativ erzeugter Überraschung auf kurze Phasen im Rezeptionsprozess begrenzt, so dass beide Wirkungsarten auch aufgrund ihres durativen oder punktuellen Charakters unterschieden werden können. Überraschung wird dabei ebenso wie Spannung narrativ durch eine bestimmte Art der Informationsvergabe gesteuert, im Gegensatz zu Spannung zeichnet sie sich jedoch durch einen kürzeren Erregungszustand aus, der verschiedene Anschlusskognitionen im Hinblick auf eine Schemaintegration bewirkt.321 Ein weiteres Distinktionsmerkmal zur Rätselspannung ist die Vorhersehbarkeit beziehungsweise Unvorhersehbarkeit eines Informationsdefizites im Falle der Überraschung. Bleibt man bei Hitchcocks Beispiel mit der Bombe unter dem Tisch, so lässt sich Überraschung dann erzeugen, wenn weder der Rezipient noch die Männer am Tisch von der Existenz der Bombe wissen und diese 319

Beide werden von zeitgenössischen Rezipienten gleich hoch geschätzt und für gleich spannend gehalten. Vgl. Hans Hoeken und Mario van Vliet, „Suspense, curiosity, and surprise: How discourse structure influences the affective and cognitive processing of a story“, 284. Siehe auch Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 47. 320 Vgl. dazu zusammenfassend Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 329–334. 321 Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 26, 46 sowie William F. Brewer und Edward H. Lichtenstein, „Stories are to entertain“, 480f.

2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

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plötzlich explodiert. Aus diesem überraschenden Ereignis kann dann wiederum Rätselspannung entstehen, indem im Verlauf der Narration aufgeklärt wird, wer die Bombe unter dem Tisch platziert hat und warum. Überraschung tritt aus textorientierter Perspektive nur dann auf, wenn für den Rezipienten zwar ein signifikanter Informationsmangel in Bezug auf die Handlungsentwicklung besteht, dieser jedoch nicht als solcher erkennbar ist, also auch nicht mit Hilfe von Vorausdeutungen etc. im Text markiert wird. Texte, die solche Überraschungseffekte bieten, werden von Rezipienten anscheinend besonders geschätzt.322 Sie bewirken eine kurzzeitige Desorientierung oder Verwirrung, bis die neue Information in das bisherige Textverständnis integriert werden kann.323 Explikation 5: Narrativ erzeugte Überraschung ist eine emotionale Reaktion, deren Ursache die Rezeption einer für den weiteren Handlungsverlauf textuell vermittelten signifikanten Information ist, mit deren Auftreten mittels einer Betrachtung der Textstruktur unter Rekurs auf motiv-, stoff- oder gattungsbezogenes Wissen oder kataphorische inner- oder allgemein intertextueller Verweise aufgrund antizipatorischer Inferenzziehungen nicht gerechnet werden kann.

Solche punktuellen Überraschungseffekte und die daraus resultierende kurze desorientierende Wirkung lassen sich relativ unproblematisch textanalytisch fassen. Lediglich die Definition eines unteren Schwellenwertes für Überraschung fällt schwer, denn natürlich löst nicht jede neue Information, die im Text gegeben wird, Überraschung aus. Auch wenn sich bisher keine verallgemeinernden Aussagen zu diesem Problem treffen lassen, ist doch anzunehmen, dass hier in erster Linie in einem weiten Sinne „geschehensrelevante“ Informationen, die für das Verständnis des kausalen Zusammenhangs von Ereignissen, Handlungen, Situationen oder mentalen Zuständen von Figuren relevant sind, gemeint sind. Problematisch ist allerdings, wie andere, nicht bloß punktuelle Formen von Desorientierung textwissenschaftlich genauer beschrieben werden können. Daniela Langer etwa geht davon aus, dass eine allgemeine textanalytische Beschreibung desorientierender Schreibverfahren sich einem klassischen narratologischen Zugriff entzieht.324 In der empirischen Forschung wird das Auftreten von Desorientierung allgemein schematheoretisch erklärt: Gerald Cupchik fasst Desorientierung als emotional aufgeladene Unsicherheit auf, was wohl so zu verstehen ist, dass Desorientierung einen komplexeren mentalen Zustand als Überraschung darstellt, der sowohl kognitive als auch emotionale Komponenten vereinigt.325 Er geht davon aus, dass Desorientierung dann auftritt, wenn 322

Vgl. Hans Hoeken und Mario van Vliet, „Suspense, curiosity, and surprise“, 284. Ein solcher Überraschungseffekt erhöht auch die Erinnerbarkeit vorangegangener Textpassagen. 323 Vgl. Gerald C. Cupchik, „Suspense and Disorientation: Two Poles of Emotionally Charged Literary Uncertainty“, in Suspense, 189–197, hier 195. 324 Vgl. Daniela Langer, „Spannung/en“, 29. 325 Vgl. Gerald C. Cupchik, „Suspense and Disorientation“.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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relativ basale Verstehensprozesse während der Lektüre mittels Schemadurchbrechung erschwert werden oder ganz scheitern.326 Explikation 6: Desorientierung ist ein mentaler Prozess, der dann auftritt, wenn ein Perzeptionsvorgang keine sofortige Schemaassimilation ermöglicht, und der als eine als unangenehm empfundene innere Erregung wahrgenommen wird.

Im Falle einzelner weniger Überraschungsmomente wird der desorientierende Effekt dieser Schemadurchbrechung nur kurzzeitig anhalten, bis die neue Information befriedigend in das bisherige Textverständnis integriert worden ist. Dies mag auch der Grund dafür sein, warum Überraschungseffekte mnemotechnisch so wirksam sind: Die neue Information muss mit den vorhergehenden verglichen und anschließend mit ihnen in Beziehung gesetzt werden. Es handelt sich somit um Inferenzziehungen, die sich auf eine Anpassung des bisherigen Textverständnisses richten, nicht um antizipatorische wie im Falle der Suspense- oder Rätselspannung. Je mehr Informationen jedoch die Bildung eines kohärenten Textverständnisses stören, desto größer ist vermutlich auch deren desorientierende Wirkung. Desorientierung kann also im Unterschied zu Überraschung lediglich lokal, aber auch über größere Textpassagen hinweg auftreten, bis dahin, dass sie das Verständnis von ganzen Texten erschweren. Auch ein textuell erzeugtes Rätsel kann also desorientierend wirken. Für einen textwissenschaftlichen Zugriff ergibt sich hierbei, wie Langer angemerkt hat, ein Operationalisierungsproblem327 – ähnlich wie dies auch in Bezug auf die weiter unten in Abschnitt 2.5 diskutierten Artefaktemotionen der Fall ist, denn neben konstatierbaren nicht auflösbaren Widersprüchlichkeiten im Text selbst können desorientierende Effekte auch auf die Überschreitung von Gattungs- und Genregrenzen, ungewöhnliche stilistische Schreibverfahren, die Wahl als ungewöhnlich empfundener Erzählperspektiven oder allgemeiner neuer narrativer Techniken zurückgeführt werden. Hierzu sind weitreichende historische Kontextanalysen zum schematisierten Wissen über diese autor-, stil-, genre- oder gattungsbezogenen Konventionen erforderlich. Andernfalls droht die Beschreibung desorientierender Textmerkmale, die sich vermutlich auf allen sprachlichen und erzähltheoretischen Beschreibungsebenen lokalisieren lassen, beliebig zu werden. Eine auch nur annähernd auf Vollständigkeit abzielende Liste desorientierender Schreibverfahren lässt sich vor diesem Hintergrund derzeit nicht aufstellen, zur Veranschaulichung des vermutlich sehr weiten Spektrums hierfür in Frage kommender Textfaktoren sei aber abschließend kurz auf einige Beispiele aus dem Korpus der vorliegenden Arbeit verwiesen:

326

Als prototypisches Beispielgenre, dessen Wirkungspotenzial wesentlich durch das Auftreten desorientierender Effekte mitbestimmt ist, nennt Cupchik das absurde Theater. Vgl. Gerald C. Cupchik, „Suspense and Disorientation“, 195. 327 Vgl. Daniela Langer, „Spannung/en“, 29.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

Im Falle des Schlosses lassen sich relativ leicht diverse textuelle Inkohärenzen benennen, wie etwa K.’s Selbstaussagen über den Status als Landvermesser und die teilweise anders lautenden Auskünfte der Schlossbehörden, sein Verhältnis zu Frauen etc. Dieses für Kafkas Texte sehr typische Schreibverfahren erzeugt starke desorientierende Effekte, die sich anhand von Rezeptionszeugnissen und teilweise auch in der Forschungsliteratur auch bei zeitgenössischen Rezipienten und Interpreten nachweisen lassen. Sie können relativ unproblematisch durch interpretative Verfahren aus der Textstruktur abgeleitet werden. Perutz’ Meister des jüngsten Tages erzeugt desorientierende Effekte dagegen vermutlich weniger durch Inkonsistenzen auf der Mikroebene, sondern eher durch die Durchbrechung von Genreerwartungen. Erwartet der Rezipient zu Beginn vermutlich, einen phantastischen Roman vor sich zu haben, wird er durch die Auflösung des zu Beginn aufgeworfenen Rätsels und das Nachwort des Herausgebers in dieser Erwartungshaltung enttäuscht. Liest er den Roman als Krimi, erfüllt Perutz’ Text sicherlich nicht in prototypischer Weise die Anforderungen an ein solches Genre, weil er keine eindeutige Auflösung der Ereignisse liefert. Hier werden desorientierende Effekte also vermutlich dadurch erzeugt, dass die an den Text herangetragenen Genreschemata nicht vollständig zur Textstruktur passen und somit durchbrochen werden. Für Turlupin und Werfels Verdi. Roman der Oper scheinen desorientierende Effekte auf der Textebene erst einmal keine wesentliche Rolle zu spielen. Allerdings setzen beide Romane recht weitreichendes Kontextwissen über historische Zusammenhänge (Turlupin) oder historische Personen und Kunstgattungen wie die italienische Oper voraus (Verdi). Ein Rezipient, der nicht über dieses Hintergrundwissen verfügt, kann sich möglicherweise überfordert fühlen, diejenigen Schlussfolgerungen, die auf dem vorausgesetzten Wissen aufbauen und die für die Bildung eines basalen Textverständnisses notwendig sind, zu ziehen. Auch dies kann desorientierend wirken. Solche Durchbrechungseffekte lassen sich aber nur noch durch Zuhilfenahme von Rezeptionszeugnissen nachweisen, da bei einer Betrachtung der Textstruktur dieses Hintergrundwissen bereits vorausgesetzt werden muss. Hier können also nur Rezeptionsdokumente aus der Entstehungszeit des Textes Hinweise darauf geben, ob ein narratologisch und linguistisch beschreibbares weitestgehend konsistentes Erzählverfahren eine kognitive Überforderung zeitgenössischer Leser bewirkt haben könnte. Anhand der genannten Beispiele dürfte damit deutlich geworden sein, dass die Beschreibung desorientierender Effekte derzeit nur durch interpretative Verfahren und die Rekonstruktion von Kontextmaterial erfolgen kann, mit deren Hilfe schemadurchbrechende Textmerkmale identifiziert werden können. Erst eine (möglicherweise noch) nicht vorliegende universalistische Theorie der Desorientierung könnte Kriterien benennen, anhand derer solche Textmerkmale allgemeiner beschreibbar werden.

2.4 Auf die fiktionale Welt bezogene Emotionen

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2.4.2.3 Zusammenfassung In diesem Unterkapitel wurde auf Emotionen eingegangen, deren Auftreten eine enge Korrelation mit der Art der Informationsvergabe in Erzähltexten aufweisen. Im Einzelnen wurden dazu Spannung, Überraschung und Desorientierung näher betrachtet. Interesse von Seiten des Lesers muss bei jeder Beschreibung von Wirkungspotenzialen bereits vorausgesetzt werden und entzieht sich damit einem in erster Linie strukturanalytischen Zugriff. Narrative Spannung kann auf zwei Arten vom Text erzeugt werden: entweder in Form von Suspense- oder von Rätselspannung. Eine basalere Form der eher auf gegensätzlichen sprachlichen Strukturen basierenden Spannung, der sogenannten „Tension“, kann derzeit noch nicht befriedigend in das hier verwendete narratologische Beschreibungsinstrumentarium integriert werden, sollte aber nach einer genaueren textlinguistischen Beschreibung Eingang auch in literaturwissenschaftliche Spannungsanalysen finden. Während sich für die Suspense-Spannung bereits recht genau Textmerkmale beschreiben lassen, die für deren Erzeugung wichtig sind und die sich teilweise auch intensivierend auswirken können, ist dies für die stärker kognitiv dominierte Rätselspannung noch nicht der Fall. Hier müssen weitere empirische Forschungsarbeiten erst eine Klärung erbringen. Als besonders wirksam können – dies ein abgeleitetes Ergebnis – Kombinationen aus Suspense- und Rätselspannung, vor allem mit globaler Suspense- oder Rätselebene gelten. Kulturhistorisch kann die literaturwissenschaftliche Spannungsforschung hier noch weiter ausdifferenziert und ergänzt werden, vor allem im Hinblick auf die Beschreibung der Historizität und kulturellen Bedingtheit von Spannungsgenres und allgemeiner kulturgeschichtlicher oder medienkomparatistischer Untersuchungen zur Spannung. Überraschung wurde im Gegensatz zu Spannung als punktuelle Rezeptionswirkung konzeptualisiert, die wesentlich an die Nicht-Vorhersehbarkeit geschehensrelevanter Informationsvergabeprozesse gekoppelt ist. Sie kann relativ einfach textanalytisch beschrieben werden, die aus ihr resultierenden desorientierenden Effekte lassen sich hingegen nur zu einem Teil aus der Textstruktur ableiten. In Bezug auf textuelle Strategien, die eine Desorientierung des Lesers bewirken können, wurde argumentiert, dass mit Ausnahme offensichtlicher textueller Inkonsistenzen oder eines für die Bildung eines kohärenten Textverständnisses besonders wichtigen andauernden Informationsmangels viele ebenfalls desorientierend wirkende Schreibverfahren nur durch umfassende literarhistorische oder kulturgeschichtliche Kontextrekonstruktionen auf Textmerkmale zurückgeführt werden können. Diese müssen also für den jeweilig zu untersuchenden Kulturraum vorab epochenspezifisch rekonstruiert werden. Nicht eingegangen wurde in diesem Zusammenhang auf die Frage, wie Komik in Erzähltexten erzeugt werden kann. Folgt man inkongruenztheoretischen Ansätzen, so können komische Effekte ähnlich wie desorientierende schematheoretisch ausbuchstabiert und anschließend auf Textmerkmale zurückgeführt werden. Hierbei handelt es sich je-

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

doch um komplexere mentale Prozesse als im Falle von Desorientierung, die insgesamt schwerer zu beschreiben sind und deswegen im theoretischen Teil der vorliegenden Studie ausgeklammert werden.328 Grob gesagt formulieren inkongruenztheoretische Bestimmungen als notwendige Bedingung für das Auftreten von Komik eine Normabweichung beziehungsweise eine Erwartungsdurchbrechung sowie als hinreichende das Vorliegen einer harmlosen Situation oder einer emotional distanzierten Rezeptionshaltung.329 Allgemein kann festgehalten werden, dass eine bestimmte Art der Auflösung von Spannungsepisoden oder auch desorientierende, verfremdende Schreibverfahren komische Effekte bewirken können.330 Abschließend sei nun noch auf Emotionen eingegangen, die sich ebenfalls auf Merkmale von Texten richten, jedoch nicht im Zuge eines involvierten Rezeptionsmodus entstehen, sondern aus einer stärker distanzierten Perspektive auf den Text als Artefakt gerichtet sind: die sogenannten „Artefakt-Emotionen“. Deren Betrachtung erscheint vor allem deswegen interessant, weil an ihnen gewonnene Einsichten gegebenenfalls neue Aspekte relativ „alter“ ästhetikgeschichtlicher Debatten herauszustellen vermögen, insbesondere für eine Theorie ästhetischer Erfahrung oder die unbeantwortete Frage nach der Lust am Leiden anderer.331

2.5 Zum Problem der „Artefakt-Emotionen“ Allerdings erscheint es auf den ersten Blick noch schwieriger als desorientierend wirkende Texteigenschaften zu benennen, Textmerkmale anzugeben, die emotionale Reaktionen auslösen können, die sich auf den Artefaktcharakter von literarischen Erzähltex-

328

Vgl. zu den Chancen und Schwierigkeiten einer universalistisch argumentierenden Inkongruenztheorie literarischer Komik Tom Kindt, „Die zwei Kulturen der Komikforschung“ sowie zu einem ausgearbeiteten Theorieentwurf ders., Literatur und Komik. Zur Theorie literarischer Komik und zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert. Im historischen Teil der Arbeit wird im Einzelfall auf komische Effekte zurückzukommen sein, im Falle des Schlosses etwa sei schon an dieser Stelle auf die Bürgelepisode verwiesen, die eindeutig als komisch qualifiziert werden kann. 329 Vgl. Tom Kindt, Literatur und Komik. Zur Theorie literarischer Komik und zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert; Frank Zipfel, Tragikomödien. Kombinationsformen von Tragik und Komik im europäischen Drama des 20. Jahrhunderts. 330 Vgl. dazu Adrian Weibel, Spannung bei Hitchcock, der Junkerjürgens spannungstheoretischen Analyseansatz mit Blick auf „comedy“-Effekte erweitert hat. Weibel nennt viele aufschlussreiche Beispiele, liefert aber keine Theorie von Komik beziehungsweise filmisch erzeugter „comedy“. 331 An dieser Stelle soll die möglicherweise beim Lesen entstandene Rätselspannung allerdings gleich wieder gedämpft werden: Hier wird argumentiert werden, dass textanalytische Verfahren zu deren Beschreibung nur einen sehr geringen Beitrag leisten können.

2.5 Zum Problem der „Artefakt-Emotionen“

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ten richten. Ed Tan hat diese als „Artefact-based emotion[s]“332 bezeichnet, mittlerweile hat sich der Terminus ,Artefakt-Emotion‘ auch in der Literaturwissenschaft etabliert.333 Das Auftreten von Artefaktemotionen setzt nach Tan einen distanzierten Rezeptionsmodus voraus, bei dem sich der Rezipient bewusst ist, dass er es mit einem künstlich hergestellten Produkt zu tun hat, das bestimmten Kompositionsprinzipien folgt.334 Implizit geht Tan folglich davon aus, dass bei der Entstehung von Artefaktemotionen relativ komplexe Bewertungsprozesse vorausgesetzt werden müssen. Medienspezifisch genauer nimmt Tan an, dass literarische Rezeptionsprozesse mit einem höheren Anteil an Artefaktemotionen verbunden sind als etwa filmische. Er bezieht sich dazu allerdings nur auf solche literarischen Texte, die der Hochliteratur zugerechnet werden können, die er wiederum dadurch von anderen literarischen Texten abgrenzt, dass diese einen anderen Rezeptionsmodus vom Leser forderten. Hier wird der zirkuläre Charakter von Tans Schlussfolgerungen deutlich: Der hochliterarische Rezeptionsmodus scheint nach Tan einerseits durch medienspezifische Besonderheiten begründet zu sein – durch den höheren Anteil symbolischer Zeichen in literarischen Erzähltexten im Vergleich zum überwiegend ikonischen Zeichengebrauch im Film –, andererseits aber auch durch spezifische Eigenschaften „hochliterarischer“ Texte, die aus einem verfremdenden Zeichengebrauch resultieren.335 Ganz unabhängig von solchen medientheoretischen Überlegungen ist allerdings schon ganz allgemein unklar, welche Merkmale den Rezipienten auf den Konstruktcharakter eines Textes hinweisen, und inwiefern diese dann welche Art von Emotionen auslösen können. So werden teilweise etwa auch Überraschung, Verwunderung und Erstaunen zu den Artefaktemotionen gerechnet336 – eine durchaus problematische Zuordnung. Natürlich kann ein Überraschungseffekt den Rezipienten dazu veranlassen, über die Gründe für diese Überraschung nachzudenken und dabei etwa auch eine Art „ma332

Ed H.-S. Tan, „Film induced affect as a witness emotion“, 7–32, hier 13; ders., Emotion and the structure of narrative film. Film as an emotion machine, 65. 333 Vgl. etwa Nadine van Holt und Norbert Groeben, „Emotionales Erleben beim Lesen“, 113; Katja Mellmann, Emotionalisierung, 152, Anm. 312. 334 Vgl. Ed H.-S. Tan, „Film-induced affect“, 13. 335 „For the present purpose only, let me define ,high literature‘ as the set of texts that necessarily evokes a literary attitude in the reader. According to Zwaan, the attitude involves a readiness to construct the goals of the narrator and the point of the text, which are not self-evident. As a result, there may be a stronger focus on surface decoding [...]. Due to frequent ambiguities and idiosyncracies, processing at other levels, such as the thematic, and that of interaction between the reader and author, is also considerably more intricate than is the case in reading, say, conventional stories. Texts invoking the attitude may show high levels of foregrounding [...], a literary device resulting in heightened awareness of the artefact. It seems, then, that high literature presents the reader with high complexity, and that understanding the texts at hand requires considerable problem solving, and manipulating elements of the artefact.“ Ebd. 27f. 336 Vgl. Nadine van Holt und Norbert Groeben, „Emotionales Erleben“, 125.

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2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

nipulativen Verhaltens“ auf Seiten des Autors zu unterstellen. Der Überraschungseffekt würde dann den Rezipienten auf den Konstruktcharakter des Textes hinweisen. Ob die Tatsache, dass ein Text seinen Leser auch überraschen kann, aber genügt, um Überraschung als Artefaktemotion in Tans Sinne zu rubrizieren, muss dagegen bezweifelt werden, denn auch in lebensweltlichen Zusammenhängen ist Überraschung eine häufig anzutreffende emotionale Reaktion, möglicherweise tritt sie dort sogar häufiger auf als bei der Rezeption von Kunstwerken. Aus dieser lebensweltlichen Erfahrung heraus muss sie also nicht notwendig die Aufmerksamkeit auf einen möglichen „Manipulationsvorgang“ richten. Zu vermuten ist außerdem, dass Überraschung eher bei involvierten Rezeptionsprozessen auftritt. Zumindest könnte auch argumentiert werden, dass bei einem distanzierteren Rezeptionsmodus, der den Konstruktcharakter des Wahrgenommenen mit bedenkt, mit Überraschungseffekten als Ausweis beispielsweise der Kompositionskunst des Autors eher gerechnet wird und die überraschende Wirkung daher schwächer ausfällt als bei involvierten Rezeptionsprozessen. Van Holt und Groeben haben empirisch dagegen bestätigt, dass Artefaktemotionen gehäuft dann auftreten, wenn eine mehr analytische, beobachtende Lesehaltung eingenommen wird.337 Sicherlich ist Überraschung jedenfalls gerade keine Emotion, die auf den Text als Artefakt bezogen ist, sondern wohl vielmehr eine, die von diesem „künstlich“ hervorgebracht wird.338 Tan nennt als weitere Artefaktemotionen daher vor allem auch Genuss, Sehnsucht, Bewunderung und Erstaunen.339 Diese Einteilung veranschaulicht die begriffliche Unschärfe des Terminus ,Artefaktemotion‘, unter den viele, möglicherweise disparate Phänomene versammelt werden. Nimmt man Tans Begriffsbestimmung jedenfalls ernst, so lassen sich Überraschung, Verwunderung oder Erstaunen wohl eher nicht unter die Artefaktemotionen rechnen, sie können aber die Funktion erfüllen, den Rezipienten auf die Gemachtheit des Kunstwerkes zu verweisen und damit unter Umständen Artefaktemotionen auszulösen. ,Artefaktemotion‘ sollte daher in Tans Sinne als Emotion verstanden werden, die sich auf den Text oder einzelne Aspekte desselben als Kunstwerk beziehen. In der Forschungsliteratur werden verschiedene Phänomene diskutiert, die unter diesen Voraussetzungen als Artefaktemotionen bezeichnet werden können. Anz etwa nennt Wohlgefallen, Faszination und Lachlust, die er alle auf ein allgemeineres, unspezifi-

337

Nadine van Holt und Norbert Groeben, „Emotionales Erleben“, 126. Natürlich sind auch Formen von Überraschung, Verwunderung oder Erstaunen denkbar, die nicht direkt durch die Art der Informationsvergabe im Text bedingt sind. So kann ich als Leser beispielsweise überrascht sein über eine unerwartete Änderung im Schreibstil oder der Themenwahl eines mir bekannten Autors, über die Art der literarischen Gestaltung eines bestimmten Themas, die ich aufgrund von stereotyp organisierten literarhistorischen, genrebezogenen oder kulturspezifischen Wissensbeständen nicht bei einem Text dieses soziokulturellen Entstehungshintergrundes vermutet hätte etc. 339 Ed H.-S. Tan, Emotion and the structure of narrative film, 82. 338

2.5 Zum Problem der „Artefakt-Emotionen“

131

sches Lusterleben zurückführt.340 Lust selbst ist allerdings keine Emotion. Mellmann beschreibt die sie hauptsächlich interessierende Funktionslust als halbbewusst, nicht emotional, aber auch nicht sexueller Lust vergleichbar. Sie sei Teil eines spielerischen Umgangs mit dem Artefakt und diene der Einübung und Feinjustierung von Adaptationen im Spielmodus. Sie fasst Lust allgemein als „la ten te[n ] Fo rtse tzun g simpuls“341 auf. Anz untersucht neben den oben genannten, als Emotionen klassifizierbaren Phänomenen auch erotische und pornographische Lust, die nicht als Artefaktemotionen bezeichnet werden können. Demgegenüber können natürlich auch in ihrer evaluativen Komponente entgegengesetzte Phänomene wie Ekel, Empörung, Langeweile oder Enttäuschung zur Gruppe der Artefaktemotionen gezählt werden. Im Zusammenhang mit diesen Formen emotionaler Reaktionen auf Kunstwerke im Allgemeinen und auf literarische Texte im Besonderen stellen sich im Anschluss eine ganze Reihe von interessanten Fragen, die bisher in der Forschung noch nicht erschöpfend und vor allem begrifflich und systematisch nicht befriedigend beantwortet worden sind. Dazu zählen zum Beispiel Fragen nach den Ursachen für lustvolle Rezeption selbst noch der grausamsten Kunstwerke: Wie kommt es etwa dazu, dass wir Lust am Leid fiktiver Figuren empfinden? Wieso setzen wir uns freiwillig der Betrachtung von Kunstwerken aus, die uns in Spannung und damit in einen eigentlich als unangenehm empfundenen Zustand versetzen? Wie kommt es zum Phänomen der sogenannten „Angstlust“? So wird oft vermutet, dass die empathisch oder sympathisch empfundene Angst in Lust umgewandelt wird, sobald der Rezipient erkennt, dass er selbst von der Gefahr nicht bedroht und somit sicher ist.342 Lässt sich vor diesem Hintergrund gar die Frage beantworten, welche emotionalen Komponenten allgemein der vielbeschworenen ästhetischen Erfahrung zugrunde liegen? Für die im Rahmen dieser Studie interessierende Frage nach Textfaktoren, die emotionale Rezeptionsprozesse beeinflussen können, ließe sich ganz einfach konstatieren, dass die bisher zu diesem Fragenkomplex vorliegenden Forschungsergebnisse es derzeit nicht gestatten, genauere Angaben zu einzelnen hier möglicherweise relevanten Textstrukturen zu machen343 – wenn man von der sehr globalen Feststellung absieht, dass 340

Thomas Anz, Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. Katja Mellmann, Emotionalisierung, 70 (Sperrung im Original). 342 Vgl. Lothar Mikos, „The Experience of Suspense: Between Fear and Pleasure“, 41 sowie zusammenfassend Thomas Anz, Literatur und Lust, 146–149. 343 Dies gilt vor allem für den sehr unscharfen Begriff der ästhetischen Erfahrung, hinsichtlich dessen nicht abschließend geklärt ist, ob es intrinsische Eigenschaften von Kunstwerken sind, die eine solche hervorrufen, oder nicht. So lange aber nicht klar ist, worin eine ästhetische Erfahrung genau besteht und ob sie von spezifischen Texteigenschaften hervorgebracht wird, beziehungsweise ob sie nicht besser über den Einfluss von Kontextfaktoren erklärt werden kann, muss auch die Frage nach den Emotionen, die eine ästhetische Erfahrung begleiten, unbeantwortet bleiben. Vgl. allgemein zu den Problemen, die sich in vergleichbarer Weise bei der Bestimmung des verwandten Begriffs des ,ästhetischen Urteils‘ stellen, Nick Zangwill, „Aesthetic Judgement“. 341

132

2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

angsterregende oder spannungsgenerierende fiktionale Szenarien anscheinend prinzipiell lustvoll erfahren werden können und dass dies offensichtlich mit der vorher erfahrenen Anspannung sowie der Art der Auflösung der Anspannung zu tun hat: In diesem Zusammenhang wäre etwa das von Dolf Zillmann entwickelte excitationtransfer-paradigm zu nennen, in dem davon ausgegangen wird, dass das Lustempfinden nach der Auflösung einer spannenden Episode umso stärker ist, je höher vorher die Spannung war und je mehr die Art der Auflösung vom Rezipienten erwünscht war. Zillmann nimmt an, dass die vorher durch die Anspannung verursachte Erregung, die sich nach der Auflösung nur langsam abbaut, bei einem erwünschten Ausgang durch kognitive Prozesse gesteuert in Euphorie umwandelt und die Auflösung der Spannungsepisode so je nach Art des Ausgangs mehr oder weniger lustvoll erfahren wird.344 In letzter Konsequenz müsste das allerdings bedeuten, dass Texte mit einem erwünschten glücklichen Ende, die jedoch negativ ausgehen, weniger lustbesetzt vom Rezipienten erfahren werden, was zur Folge hätte, dass etwa Komödien gegenüber Tragödien die beliebtere Gattung darstellen müssten, obwohl dies historisch so nicht für alle Rezipientenmilieus belegbar erscheint. Genereller wäre daher zu fragen, ob erwünschte oder unerwünschte Ausgänge nicht auch danach bestimmt werden müssten, ob bestimmte Genrekonventionen und damit verbundene Vorerwartungen von Rezipienten erfüllt werden oder nicht, und nicht allein danach, ob ein sympathischer Protagonist einer Gefahrensituation entrinnen kann oder in dieser geschädigt wird oder umkommt.345 Tan und Diteweg gehen allgemeiner davon aus, dass das Nachlassen der Spannung eine emotionale Reaktion der Freude auslöst, die als Artefaktemotion konzeptualisiert werden kann.346 Generell sind Spannungsanstieg und -abfall offensichtlich in gleicher Weise lustprämiert.347 Das Problem der Artefaktemotionen aus terminologischen und operativen Gründen weitgehend auszuklammern, muss aus der Perspektive einer mit literarischen Texten beschäftigten Wissenschaft allerdings unbefriedigend sein, denn so wäre ein ganz wesentlicher Teil der emotionalen Reaktionen auf Kunstwerke, die traditionell gerade nicht für bloß idiosynkratische Phänomene gehalten worden sind, aus dem Zuständigkeitsbereich der Literaturwissenschaft ausgegliedert, obwohl die gängige Interpretationspraxis häufig auch mit Annahmen über das Wirkungspotenzial von Erzähltexten in Bezug auf Artefaktemotionen arbeitet. Wie kann man sich in diesem Zusammenhang also behelfen? Da das hier aufgeworfene Problem, das schon viele Forschungsarbeiten

344

Vgl. Dolf Zillmann, „The Psychology of Suspense in Dramatic Exposition“, 225. Vgl. zum Problem konfligierender Wünsche in der Kunstrezeption Aaron Ridley, „Desire in the Experience of Fiction“. 346 Vgl. Ed H.-S. Tan und Gijsbert Diteweg, „Suspense, Predictive Inference, and Emotion in Film Viewing“, 151. 347 Vgl. Ralf Junkerjürgen, Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung, 32.

345

2.5 Zum Problem der „Artefakt-Emotionen“

133

angeregt hat und sicherlich auch in Zukunft anregen wird,348 im Rahmen dieser Arbeit nicht erschöpfend behandelt werden kann, sollen abschließend dennoch einige Überlegungen im Zusammenhang mit der Frage nach Operationalisierungskriterien angestellt werden. Dazu muss aber erst einmal begrifflich klar sein, was unter ,Artefaktemotion‘ überhaupt verstanden werden kann, wenn darunter so heterogene Phänomene wie Emotionen mit starkem Anteil subjektiver Lusterfahrungen und intersubjektiv nachvollziehbare Bewunderungsreaktionen fallen sollen. Grundsätzlich soll dazu Tans Annahme beibehalten werden, dass Artefaktemotionen immer eine bewertende Komponente aufweisen, die, so die Vermutung, entweder stärker auf individuellen Lust-UnlustErfahrungen349 wie etwa bei Genuss oder auf intersubjektiv geteilten Wertmaßstäben beruhen wie zum Beispiel im Falle der Bewunderung. Nur unter Berücksichtigung beider Wirkungsarten lässt sich erklären, warum bestimmte Texte, die extreme Unlusterfahrungen hervorrufen, dennoch geschätzt und gelesen werden und dies durchaus auch begleitet von emotionalen Reaktionen der Bewunderung, Begeisterung etc. Zur genaueren Beschreibung dieser Wirkungsarten kann die von Worthmann erarbeitete Unterscheidung zweier Bewertungsmodi, von Gefallens- und Anerkennungswertungen genutzt werden: Gefallen versteht sie als einen lustbesetzten Zustand, der auch emotional erfahrbar ist, während Anerkennenswertungen auf intersubjektiv geteilten Idealen basieren.350 Etwas missverständlich an Worthmanns Unterscheidung von Bewertungsmodi ist allerdings, dass das von ihr vorgeschlagene Begriffspaar impliziert, dass hier jeweils immer Positivwertungen vorgenommen würden. Im Modus einer Gefallensoder Anerkennungswertung können jedoch auch negative Bewertungen erfolgen. Beide Begriffe bezeichnen lediglich ein bestimmtes Set von Wertmaßstäben, vor deren Hintergrund ein Subjekt eine Wertung vollzieht: im ersten Fall vor dem Hintergrund als subjektiv gedachter Präferenzen, im zweiten vor dem Hintergrund von Wertmaßstäben,

348

Vgl. etwa das im Rahmen des Berliner Exzellenzclusters „Languages of Emotion“ unter der Leitung von Winfried Menninghaus durchgeführte Projekt „Ästhetische Modulation affektiver Valenz. Lust am Ekelhaften und verwandte Phänomene“ sowie das von Arthur Jacobs geleitete Projekt „Affektive und ästhetische Prozesse beim Lesen.“ Abrufbar unter http://www.languages-of-emotion.de/de/205.html sowie http://www.languages-of-emotion.de/de/110.html (letzter Abruf: 01.07.2011). Aufschluss über weitere, auch nicht-hedonistische Gratifikationen der emotionalen Kunstrezeption geben die aus dem DFG-Forschungsprojekt „Emotionale Gratifikationen während der Filmrezeption“ hervorgegangenen Publikationen von Anne Bartsch et al. (vgl. z.B. „Emotional Gratifications during Media Use – an Integrative Approach“) sowie der dort entwickelte standardisierte Fragebogen. 349 Der Lustbegriff ist wiederum problematisch, da er notorisch unscharf ist, historisch etwa bei Kant, Freud, Adorno oder Barthes sehr unterschiedlich verwendet wurde und häufig implizit wertend gebraucht wird. Zu seiner Präzisierung werden daher häufig Epitheta verwendet, zum Beispiel Funktionslust, sexuelle Lust etc. 350 Vgl. Friederike Worthmann, Literarische Wertungen, 158–161.

2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

134

die für allgemein verbindlich gehalten werden. So verstanden kann Worthmanns Begriffspaar für die hier interessierende Begriffsexplikation fruchtbar gemacht werden: Explikation 7: Artefaktemotionen sind Emotionen, die sich auf ein Kunstwerk oder Aspekte desselben als Kunstwerk richten und denen eine Gefallens- oder Anerkennungswertung zugrunde liegt.

Zu fragen wäre nun, ob und wenn ja welche Textfaktoren diese Wertungsprozesse beeinflussen. Grundsätzlich lässt sich die Debatte über die bedingenden Faktoren von Artefaktemotionen in eine größere, die sogenannten „Nature-Nurture-Debatte“ einordnen, die derzeit auch in der Literaturwissenschaft geführt wird:351 Rezeptionstheoretische Beiträge, die stärker betonen, dass Lektüreprozesse lustbetont ablaufen, konzentrieren sich nicht mehr im engeren Sinne auf Emotionen, sondern auf eine, viele Emotionen grundierende hedonistische Komponente von Rezeptionsprozessen. Dabei wird häufig, in letzter Zeit vor allem in evolutionspsychologisch argumentierenden Beiträgen angenommen, dass Lust als anthropologisch konstantes, im Laufe der menschlichen Evolution erworbenes Phänomen, auf bestimmte „Auslöseschemata“ im Text zurückgeführt werden könne.352 Das Lustempfinden angesichts (literarischer) Kunstwerke wird in diesem Zusammenhang zumeist auf eine allgemeine Lust an der Mustererkennung zurückgeführt, das als evolutionär adaptiv oder als evolutionsbedingtes Nebenprodukt verstanden werden kann: die sogenannte Funktionslust. Lust an der Mustererkennung als eine irgendwie als angenehm klassifizierbare basale Empfindung wäre somit der Grund für unser Interesse an kulturellen Artefakten. In Mellmanns Terminologie können Kunstwerke vom Betrachter als polynormale Attrappen aufgefasst werden, die dem Betrachter versprechen, bei intensiver Beobachtung überdurchschnittlich viele motivierte Zuordnungen zu erlauben und damit Funktionslust in besonders hohem Maße hervorzurufen.353 Literarische Texte wären sozusagen evolutionär funktionale Übungsfelder, um Mustererkennungsfähigkeiten zu trainieren und damit dem so geübten Individuum einen Überlebensvorteil zu sichern. Die Allgemeinheit dieses Erklärungsansatzes ist bestechend, vor allem im Hinblick auf die gesellschaftliche Relevanz eines Faches wie der Literaturwissenschaft, sie liefert jedoch keine brauchbaren Anhaltspunkte für einen textanalytischen Zugriff, denn evolutionspsychologisch argumentierende Forschungsbeiträge machen zumeist keine Angaben darüber, ob schon allein das Erkennen von Zusammenhängen und Mustern lustprämiert ist oder ob bestimmte Mustererfüllungen lustprämierter sind als andere.354 Nehmen sie

351

Vgl. etwa die Debatte zwischen Frank Kelleter und Karl Eibl im Journal of Literary Theory. Vgl. Katja Mellmann, Emotionalisierung, 33. 353 Ebd. 56. 354 Mellmann nimmt eine solche Unterscheidung im Einzelfall vor, etwa in Bezug auf die Erzählperspektive: „Eine bewegliche Wahrnehmungsinstanz ist ,besser‘ als eine wild zwischen mikroskopischer und All-Perspektive umherspringende. (,Besser‘ heißt hier: leichter verständlich und stärker 352

2.5 Zum Problem der „Artefakt-Emotionen“

135

aber an, dass bestimmte, in der Regel für das Überleben von Gruppen und Individuen besonders relevante Muster, etwa in Form bestimmter Handlungsschemata von Ausreise und Heimkehr usw., am meisten lustprämiert sind, geraten sie in Erklärungsnot in Bezug auf andere Formen emotionaler Bewertungen von Kunstwerken, denn oft sind es gerade nicht solchen evolutionär ererbten Mustern folgende Texte, die als kulturell bewunderns- und damit tradierenswert erachtet, entsprechend kanonisiert worden sind und also als Auslöser von Artefaktemotionen gehandelt werden können. Solche Prozesse lassen sich dagegen aus kulturwissenschaftlicher und literatursoziologischer Perspektive besser einfangen, die etwa literarische Wertungsprozesse in Form von Bewunderung oder anderen Emotionen mit starker soziokulturell „überformter“ evaluativer Komponente auf kulturelle Konzepte des allgemein für wünschens- und tradierenswert Erachteten zurückführen. Fasst man Artefaktemotionen als Mischung aus eher hedonistischen und eher soziokulturell „überformten“ wertenden Komponenten auf, ergeben sich so zwei Forschungsperspektiven, die nur im Zusammenwirken für die genauere Beschreibung von Artefaktemotionen einen Nutzen erbringen können: durch die Beschreibung der physiologischen Grundlagen des menschlichen Lustempfindens und der es auslösenden biologisch evolvierten Schemata; und durch die Beschreibung der kulturellen Kodierungen, die je nach Epoche bestimmte Texteigenschaften als besonders wertvoll, ästhetisch befriedigend oder moralisch wünschenswert ausweisen. Um einen historischen Rezeptionsprozess im Hinblick auf diese doppelte Perspektive plausibel rekonstruieren zu können, bietet es sich aus methodischen Gründen an zeitgenössische Rezeptionszeugnisse heranzuziehen, die als erster Anhaltspunkt dafür dienen können, auf welche im Hinblick auf Artefaktemotionen besonders interessante Texteigenschaften von Zeitgenossen besonders Bezug genommen wurde. In jedem Fall dürfte deutlich geworden sein, dass für die Ermittlung von Textmerkmalen, die Artefaktemotionen hervorrufen können, weitreichende Rekonstruktionen kultureller Kontexte und rezeptionspsychologischer Konstanten vorgenommen werden müssen, die derzeit noch nicht vorliegen und das Phänomen der ,Artefaktemotionen‘ somit nicht in den Zuständigkeitsbereich eines vorwiegend textzentrierten Zugriffs verweisen. Vor diesem Hintergrund darf aber auch rein prinzipiell mit Fug und Recht bezweifelt werden, ob primär textanalytisch verfahrende Methoden dem Phänomen der Artefaktemotionen gerecht werden können. Auch wenn diese nicht ausschließlich auf als idiosynkratisch beim einzelnen Rezipienten verankert gedachte evaluative Prozesse zurückgeführt werden können, sondern durchaus davon auszugehen ist, dass es bestimmte Texteigenschaften sind, die solcherart lustbetonte oder stärker kognitiv „durchdrungene“ evaluative emotionale Wirkungen bei einer Vielzahl von Rezipienten hervorbringen, können hier doch noch keine allgemeinen Angaben zu deren Art oder Beschaffenheit gemacht werden, die eine systematische Zuordnung erlauben, wie es etlustprämiert; wenn man so will: trivialer.)“ Ebd. 108. Diese Annahmen können für textanalytische Belange systematisch weiterentwickelt werden.

136

2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

wa für die figurenbezogenen oder auf die Erzählkonstruktion rückführbaren Emotionen der Fall war. Bei stark kulturell beeinflussten emotionalen Rezeptions- und Wertungsprozessen können textanalytische Verfahren hier nur einen Zusatzbeitrag leisten, indem sie danach fragen, inwiefern diese Zuschreibungen tatsächlich auf Korrelate in der Textstruktur zurückgeführt werden können oder ob diese Zuschreibungen nicht doch eher durch extratextuelle Einflüsse plausibel zu machen sind, wie etwa soziale oder kulturelle Faktoren. Hier ist ein primär diskursanalytisches, kulturwissenschaftliches und literatursoziologisches Vorgehen gefordert, das poetologische Konzeptionen, kulturelle Konzepte des allgemein Wünschenswerten und soziale Normierungen in den Blick nimmt.355 Die biologisch evolvierten Schemata dagegen lassen sich, sind sie einmal entsprechend isoliert worden, relativ einfach in der Textstruktur wiederfinden und erlauben damit allgemeine Hypothesen über Lust- und Unlusterfahrungen während der Lektüre. Hier ist allerdings zu vermuten, dass eine Textanalyse, die nur aufgrund dieser Schemata durchgeführt wird, wegen ihres sehr basalen Charakters keine sehr differenzierten Ergebnisse zeitigt. Im Gegenteil ist davon auszugehen, dass hier für relativ große Textmengen immer wieder ähnliche Ergebnisse erzielt werden, die für sich genommen den historisch in Form von Rezeptionszeugnissen nachweisbaren emotionalen Reaktionen kaum gerecht werden dürften.

2.6 Zusammenfassung Ausgehend von einem semiotisch fundierten Modell sprachlicher Emotionsdarstellung, einem möglichst weiten, integrativen Modell emotionaler Kommunikation und einem allgemeinen inferenzbasierten Verstehensmodell literarischer Texte ist in den letzten vier Unterkapiteln des theoretischen Teils dieser Studie ein allgemeines Begriffs- und Analyseraster zur Beschreibung von Emotionslenkungsstrategien in Erzähltexten erarbeitet worden. Zu Systematisierungszwecken wurde hierbei nach den verschiedenen

355

So betont auch Anz, dass etwa zur Beschreibung von lusterzeugenden Textfaktoren weitreichende Kontextrekonstruktionen erforderlich sind, wenn er von den Schwierigkeiten bei der Beschreibung von dem „in literarischen Texten hochkomplizierte[n] Zusammenspiel heterogener Reizkomponenten“ spricht: „Eine literaturwissenschaftliche Hedonistik muß sie einerseits analytisch zu trennen und ihre Wirkungsmöglichkeiten isoliert zu bestimmen versuchen. Das ist schon schwierig genug. Sie müßte andererseits die Effekte ihres Zusammenwirkens zu erkennen versuchen. Das ist noch weit schwieriger, zumal die Möglichkeiten zur literarischen Bedürfnisbefriedigung abhängig sind von den Praktiken und Möglichkeiten des außerliterarischen Gebrauchs von Lüsten.“ Thomas Anz, Literatur und Lust, 235.

2.6 Zusammenfassung

137

Bezugsgegenständen unterschieden, auf die sich emotionale Wirkungen von Texten, die sich auf Textfaktoren zurückführen lassen, richten können. Emotionen, die auf den Erzähler oder die Figuren gerichtet sind, wurden auf empathische oder sympathiebedingte Prozesse der Text-Leser-Interaktion zurückgeführt. Als Textfaktoren, die sich hier rezeptionssteuernd auswirken können, wurden verschiedene empathieermöglichende sowie sympathiegenerierende Textstrukturen benannt, die auf textuellen Emotionsdarstellungen und im Text explizit oder implizit ermittelbaren figurenbezogenen Wertmaßstäben basieren. Neben expliziten Textoberflächenphänomenen finden sich eine Vielzahl impliziter Darstellungstechniken und Wertungsformen, die durch verschieden komplexe Inferenzziehungen zu Textstrukturen zusammengefügt werden und als solche eine rezeptionssteuernde Wirkung entfalten. Im Rahmen einer wissenschaftlichen Interpretation können diese ermittelt und intersubjektiv nachvollziehbar beschrieben werden. Im Anschluss wurde auf Emotionen eingegangen, die in erster Linie durch die Art der Informationsvergabeprozesse im Text gesteuert werden, nämlich auf Spannung, Überraschung und Desorientierung. Hier wurde argumentiert, dass sich Spannungs- und Überraschungseffekte besonders gut unter Rückgriff auf klassische narratologische Beschreibungsverfahren aus der Textstruktur vorhersagen lassen, bei desorientierenden Wirkungen kann eine Textanalyse nur mit Einschränkungen versehen Aussagen über zu erwartende Effekte treffen. Abschließend wurde das Phänomen der Artefaktemotionen eingehender betrachtet, deren genauere Beschreibung einen erheblichen Erkenntnisgewinn für verschiedene ästhetikgeschichtlich virulente Fragestellungen wie etwa nach dem emotionalen Gehalt ästhetischer Erfahrungen oder von lustvollen Lektüreerfahrungen verspricht. Im Zusammenhang dieser Studie wurde allerdings gezeigt, dass sich bisher keine Textfaktoren ermitteln lassen, die einen weitgehend ahistorischen, systematischen Zugriff auf dieses Phänomen erlauben. Dies hängt zum einen mit entsprechenden noch bestehenden Forschungsdesiderata in denjenigen Nachbardisziplinen zusammen, die hier einen Erkenntnisgewinn versprechen, wie etwa der Evolutionspsychologie und der Humanethologie, zum anderen aber auch damit, dass diese Formen emotionaler Reaktionen auf Texte zwar von Textfaktoren beeinflusst sein mögen, in erster Linie jedoch auf kultur-, sozialgeschichtlich und individuell bedingte und damit auf historisch variable Wertungshandlungen zurückgeführt werden können. Diese sind zwar im Einzelfall vermutlich eng an Textfaktoren gekoppelt. Deren Beschreibung kann jedoch nur nachrangig erfolgen, nachdem die jeweils zugrunde liegenden, aus poetologischen Programmen und ästhetikgeschichtlichen Rekonstruktionen ermittelbaren Wertmaßstäbe erarbeitet worden sind. Eine historisch konstante Korrelation von Textmerkmalen und dem Auftreten von Artefaktemotionen kann somit vermutlich nur sehr bedingt angenommen werden und ist von einer evolutionspsychologisch informierten Literaturwissenschaft erst noch systematisch zu erarbeiten.

138

2. Zum emotionalen Wirkungspotenzial von Erzähltexten

Ziel des theoretischen Teils dieser Arbeit war, ein umfassendes systematisches Analyseraster zur Beschreibung von potentiell auf Emotionen bezogen wirkungsrelevanten Textstrukturen zu erarbeiten und damit ein allgemeines Beschreibungsmodell für textwissenschaftlich ausgerichtete Untersuchungen zu liefern. Dieses soll nun im zweiten, historischen Teil der Arbeit an den genannten Beispieltexten erprobt werden. Grundsätzlich ist anzumerken, dass das hier vorgestellte Analyseverfahren im Hinblick auf einzelne Emotionen ausdifferenziert und im Anschluss durch kulturgeschichtliche Kontextualisierungen „angereichert“ werden kann und sollte.

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven: Drei Fallstudien zu Romanen aus dem Umfeld der Prager deutschsprachigen Literatur

Nachdem im vorangegangenen, systematisch ausgerichteten Abschnitt das Hauptanliegen der vorgetragenen Überlegungen darin bestand, ein Analyseraster zur Beschreibung von Textstrukturen in Erzähltexten im Hinblick auf deren emotionales Wirkungspotenzial zu erarbeiten, verfolgt der vorliegende Abschnitt nun zwei, sowohl literarhistorisch wie auch systematisch relevante Ziele: Zum einen kommt das oben entworfene Analysemodell in den folgenden drei Beispielanalysen zur Anwendung und wird dabei einer kritischen Überprüfung unterzogen. Zum anderen verfolgen die vorgestellten Analysen damit gleichzeitig auch ein literaturgeschichtliches Anliegen, indem sie im Kontrast zu in der Forschungsliteratur gelegentlich geäußerten, zu Vereindeutigungen tendierenden Hypothesen über das emotionale Wirkungspotenzial spezifisch moderner Erzählformen die Bandbreite der Emotionsgestaltung und -evokation in als ,modern‘ klassifizierbaren Erzähltexten exemplarisch veranschaulichen wollen. Hierzu wird vorab auch zu explizieren sein, was im vorliegenden Zusammenhang unter dem Begriff der ,Moderne‘ verstanden wird. Darüber hinaus können die nun folgenden Fallstudien auch als Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Diskussion um die in Teilen immer noch ungenügend erforschte Prager deutschsprachige Literatur1, genauer zu drei hinsichtlich der emotionalisierenden Schreibverfahren stark differierenden Romane von drei Prager Autoren mit sehr unterschiedlichem Kanonizitätsstatus, gelesen werden. 1

Zur Terminologie: In der Forschungsliteratur werden die Bezeichnungen „Prager deutsche Literatur“ wie auch „Deutschsprachige Literatur Prags“ verwendet. Vgl. für die verschiedenen Positionen exemplarisch den von Eduard Goldstücker herausgegebenen Sammelband Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur sowie die von Jürgen Born et al. erarbeitete chronologischbibliographische Übersicht Deutschsprachige Literatur aus Prag und den böhmischen Ländern 1900–1925. Vertreter der ersten Bezeichnungsweise argumentieren, dass die behandelten Autoren selbst sich als Deutsche gesehen hätten, so dass historisch korrekt von „deutscher“, nicht von „deutschsprachiger“ Literatur gesprochen werden sollte. Vgl. z.B. Ernest Wichner und Herbert Wiesner, Prager deutsche Literatur vom Expressionismus bis zu Exil und Verfolgung, 9. Allerdings wird in denselben Studien immer wieder auch die Internationalität und Interkulturalität der deutschsprachigen Literatur Prags betont, so dass, um Missverständnisse zu vermeiden, in der vorliegenden Studie der im Hinblick auf kulturelle wie nationale Einordnungen unverfänglichere Begriff „deutschsprachig“ den Vorzug erhalten soll. Vgl. dazu etwa Eduard Goldstücker, „Die Prager deutsche Literatur als historisches Phänomen“, in Weltfreunde 23, 26.

140

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

An eine kurze literarhistorische Einordnung, in deren Zusammenhang auch der zugrundegelegte Modernebegriff sowie die Gründe für die Auswahl der drei genannten Texte erläutert werden, schließen sich die Beispielanalysen zu Kafkas Fragment gebliebenem letzten Roman Das Schloß, Leo Perutz’ im Wien der Jahrhundertwende angesiedelten Genrehybrid Der Meister des jüngsten Tages und Franz Werfels heute nahezu vergessenem Künstlerroman Verdi. Roman der Oper an. In diesen drei Fallstudien werden die einzelnen Analyseschritte nicht für jeden der drei Korpustexte nach dem im systematischen Teil vorgegebenen Muster stereotyp hintereinander abgehandelt. Vielmehr wird die im ersten Teil entwickelte Methodik herangezogen, um interpretatorische Einzelfragen, die in der Forschungsliteratur zu den drei Korpustexten diskutiert werden, klären zu helfen. In den Beispielanalysen sollen also bereits Anknüpfungspunkte für weitere literarhistorisch virulente Forschungsdebatten, die in Auseinandersetzung mit den drei behandelten Texten oder dem Gesamtwerk ihrer Autoren geführt werden, genannt werden beziehungsweise es sollen ebenfalls neue Fragestellungen, die sich aus einem emotionstheoretischen Zugang zu deren Werk ergeben, angesprochen und in die Forschungsdiskussion eingebracht werden. Anhand von Kafkas bereits gut erforschtem Roman Das Schloß wird das oben entwickelte Analyseverfahren dazu zu Beginn exemplarisch vorgeführt. Für Kafkas Romanfragment gilt, dass dieses zwar bereits aus vielfältigen literaturwissenschaftlichen und insbesondere literaturtheoretischen Perspektiven gewinnbringend betrachtet, allerdings im Hinblick auf emotionstheoretische Aspekte bisher noch nicht systematisch behandelt worden ist. Die Analyse will daher zeigen, dass und inwiefern sich ein emotionstheoretischer Zugang für eine differenzierte Betrachtung von Kafkas Texten als gewinnbringend erweist, indem sie einerseits das spezifische emotionale Wirkungspotenzial des Schlosses rekonstruiert, und andererseits Anknüpfungspunkte für eine Betrachtung des Gesamtwerks bietet, innerhalb dessen sich Veränderungen vom Frühzum Spätwerk gerade mit Blick auf die emotionalen Effekte von Kafkas Erzählstil abzeichnen. Die abschließende Betrachtung der zeitgenössischen Erstrezeption liefert darüber hinaus erste Hinweise für eine differenziertere kulturwissenschaftliche Beschreibung besonders relevanter Emotionskonzepte im Kontext der Zwischenkriegszeit der 1920er Jahre. Nachdem im Abschnitt zum Schloß der in Kapitel 2 vorgestellte theoretisch-methodische Zugang besonders detailliert auf einen allgemein bekannten Beispieltext angewendet worden ist, verfolgen die anderen zwei Fallstudien jeweils spezifischere interpretatorische Fragestellungen. Im Fall von Leo Perutz’ Roman Der Meister des jüngsten Tages werden durch einen kontrastiven Vergleich mit dem ein Jahr später erschienenen Turlupin mögliche Differenzen zwischen zuverlässigen und unzuverlässigen Erzählverfahren sowie verschiedenen Varianten erzählerischer Unzuverlässigkeit hinsichtlich ihres emotionalen Effekts diskutiert. Dabei steht ebenfalls das Problem der genrebezogenen Einordnung des Meisters im Zentrum der Überlegungen: Obwohl Perutz’ Werk immer wieder der literarischen Phantastik zugeordnet worden ist, ist diese Rubrizierung

3.1 Prager deutschsprachige Literatur und Moderne

141

in der Forschungsliteratur stets auch mit durchaus guten Gründen kritisch hinterfragt worden. Ein emotionstheoretischer Blick auf die Frage nach der Genrezugehörigkeit des Meisters kann hier von Nutzen sein, indem Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Perutz’ Roman und eindeutig als phantastisch zu klassifizierenden Texten aus einer neuen Perspektive analysiert werden. Im Kapitel zu Werfels Verdi. Roman der Oper stehen demgegenüber medienkomparatistische Aspekte im Mittelpunkt der Textanalyse: Werfels Gesamtwerk und insbesondere der Verdi-Roman werden in der Werfelphilologie häufig als „musikalisch“ qualifiziert – und zwar nicht nur unter thematischen Gesichtspunkten. So steht die italienische Oper zwar auch und vor allem inhaltlich im Zentrum des erzählerischen Interesses, jedoch findet sich in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Verdi auch häufiger die Annahme, Stil und Sprache des Romans selbst seien als musikalisch zu bezeichnen. Diese Musikalitätsthese wird in der Beispielanalyse unter Rückgriff auf Erkenntnisse der Librettoforschung emotionstheoretisch reformuliert und im Anschluss kritisch überprüft. Den Ausgangspunkt der dort vorgetragenen Überlegungen bildet die Annahme, dass sich in Werfels Text strukturelle Analogien zur Gestaltung von Emotionen in Libretti nachweisen lassen. Die drei Beispieltexte wurden gewählt, weil sie einerseits alle in einem ähnlichen kulturhistorischen Umfeld entstanden und rezipiert worden sind, auch nahezu zeitgleich publiziert wurden, andererseits aber stark differente Formen der Gestaltung und Evokation von Emotionen aufweisen und damit besonders gut geeignet sind, exemplarisch das Spektrum der in der Literatur der 1920er Jahre verwendeten Emotionalisierungstechniken zu veranschaulichen. Die Beispielanalysen verfolgen damit also sowohl literaturtheoretisch als auch literaturgeschichtlich und autorphilologisch relevante Ziel- und Problemstellungen, deren Ergebnisse im Anschluss im Abschlusskapitel noch einmal knapp zusammengefasst und diskutiert werden.

3.1 Prager deutschsprachige Literatur und Moderne Beide in der Überschrift genannten Etikettierungen erweisen sich bei näherer Betrachtung als erklärungsbedürftig, auch wenn sie in der Forschungsliteratur bekanntermaßen häufig und mit guten Gründen Verwendung gefunden haben. Im Folgenden soll daher knapp erläutert werden, was hier unter der Bezeichung ,modern‘ verstanden und wie die Prager deutschsprachige Literatur von der österreichischen oder gar der gesamten deutschsprachigen Erzählliteratur der 1920er Jahre abgegrenzt werden kann. Da beide Begriffe mit einer langen und – dies gilt zumindest für den Modernebegriff – auch unübersichtlichen Forschungsgeschichte aufwarten können, gehe ich hier aus pragmatischen Gründen selektiv vor.

142

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Der in der Literaturwissenschaft verwendete Modernebegriff lässt sich bekanntlich sowohl auf die Makroepoche, die eng auf den soziologisch-politischen Modernebegriff rekurriert, wie auch als Bezeichnung für die Mikroepoche um 1900 bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts anwenden, mit je unterschiedlichen und unterschiedlich stark differierenden zeitlichen Grenzziehungen.2 Ob darüber hinaus ein engerer, ästhetisch-stilistischer Modernebegriff angesetzt werden kann, ist allerdings umstritten. Vertreter eines engen, spezifisch literarischen strukturellen oder historischen Moderneverständnisses geraten zum Teil in Schwierigkeiten, wenn es darum geht, distinktiv Textmerkmale oder Autoren zu benennen, die als ,modern‘ gelten können.3 Umgekehrt würde ein undifferenzierter, nur an der historisch-soziologischen zeitlichen Eingrenzung orientierter Begriff von moderner Literatur dazu führen, dass ein riesiges Textkorpus als modern gelten muss, das für heuristische Zwecke zeitlich nicht genügend eingeschränkt, intern weitgehend undifferenziert und der historischen Begriffsverwendung zum Teil nicht angemessen ist. Winko hat deswegen im Anschluss an Werner Strube für den Bereich der Lyrik dafür plädiert, den Begriff in quasidisjunkter klassifikatorischer Funktion zu verwenden. 4 Um das als ,modern‘ rubrizierbare Textkorpus nicht von vornherein zu stark einzuschränken, erscheint es daher unter klassifikatorischen Gesichtspunkten sinnvoll, von einem Modernebegriff auszugehen, der Textfaktoren und soziohistorische Charakteristika des Modernisierungsprozesses auf sehr allgemeine, möglichst wenig normative Weise zueinander ins Verhältnis setzt. In seiner Studie über die Romane von Ernst Weiß hat Tom Kindt im Anschluss an die weitgehend übliche Begriffsverwendung in der Literaturwissenschaft folgende Explikation im Sinne Carnaps vorgeschlagen: Unter der literarischen Moderne wird fortan eine Teilmenge der literarischen Texte verstanden, die zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und der Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden sind; das Merkmal, das es neben der Entstehungszeit rechtfertigt, einen Text jener Menge zuzurechnen, ist die Bezugnahme auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse bzw. das breite Spektrum ihrer Folgeerscheinungen.5

Diese Begriffsexplikation bietet zwei Vorteile: Sie ermöglicht es einerseits, Texte, die weder eine thematische noch eine stilistische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen erkennen lassen, aus dem Korpus moderner Literatur auszugliedern, gleichzeitig eröffnet die allgemein gehaltene Formulierung von der „Bezug2 3

4 5

Vgl. dazu paradigmatisch Dirk Kemper, „Ästhetische Moderne als Makroepoche“. So nennt etwa Dieter Lamping für die moderne Lyrik ein Set von Textfaktoren, die für die „neue Sprache der Poesie“ in der Moderne kennzeichnend seien. Diese erweisen sich jedoch nicht in einem strengen Sinne distinktiv zur Formensprache vorangegangener Epochen, sondern als quasidisjunkt. Vgl. Dieter Lamping, Moderne Lyrik, 25–78. Vgl. für die Forschung zur modernen Lyrik auch den knappen Überblick bei Simone Winko, Kodierte Gefühle, 18–22. Ebd. 21f. Tom Kindt, Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß, 4.

3.1 Prager deutschsprachige Literatur und Moderne

143

nahme auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse“ einen relativ weiten Spielraum, so dass ein Großteil der im genannten Zeitraum produzierten Texte als ,modern‘ klassifiziert werden kann. Andererseits ignoriert ein solches Verständnis des Modernebegriffs Texte mit eindeutig antimodernem Impetus nicht. Durch die grobe zeitliche Eingrenzung wird darüber hinaus das zu analysierende Textkorpus literarhistorisch so eingeschränkt, wie es dem überwiegenden Gebrauch im Fach entspricht. Gleichzeitig legt die Explikation sich nicht auf umstrittene Anfangs- und Enddatierungen oder gar auf literarische Qualitätszuschreibungen oder charakteristische Textfaktoren fest. Für die genannten Beispieltexte ergibt sich in der Folge, dass sie unter den erwähnten Modernebegriff subsumiert werden können, was der tatsächlichen Einteilung in Literaturgeschichten und anderer Forschungsliteratur entspricht: Im Schloß werden Modernisierungsphänomene einerseits zum Beispiel durch die Schilderung bürokratischer Verwaltungsabläufe oder technischer Neuerungen wie etwa der Telefonzentrale dargestellt, andererseits ist auch die Erzähltechnik so gestaltet, dass Kafkas Romanfragment anschlussfähig wird zum Beispiel für die in der Moderne verstärkt geführten Entfremdungs- und Kontingenzdebatten. Ähnliches gilt für Perutz’ Meister, der die Erfahrung der Ich-Dissoziation sowohl thematisch als auch erzähltechnisch gestaltet und damit als literarische Auseinandersetzung mit der in der Moderne besonders drängenden Frage nach der personellen Integrität verstanden werden kann. Für Werfels Verdi gilt, dass der Erzähler wie auch sein Protagonist aus einer konservativen Haltung heraus gesellschaftliche wie ästhetische Modernisierungsprozesse kritisieren und damit aufgrund einer dezidiert antimodernen Einstellung Bezug auf die soziologische wie künstlerische Moderne nehmen. Bekanntermaßen wird als zentrales Bestimmungsmerkmal der literarischen Moderne darüber hinaus ihre Heterogenität oder Pluralität genannt, dementsprechend „die“ literarische Moderne gerade durch ein zeitliches Nebeneinander verschiedener literarischer Stilrichtungen, Schulen oder Strömungen gekennzeichnet ist. Inwiefern hiervon auch die kulturellen Kodierungen von Emotionen in modernen, pluralistischen Gesellschaften geprägt sind, ist bisher jedoch noch nicht umfassend erforscht worden. Gelegentlich wird die literaturwissenschaftliche Modernitätsthese jedoch mit emotionsbezogenen Wirkungsannahmen verknüpft. In ihrer stärksten Form besagt diese, dass moderne literarische Texte weder in erster Linie darauf abzielten, Emotionen sprachlich zu gestalten noch im Leser hervorzurufen. Diese Annahme ist verschiedentlich vor allen Dingen für die Lyrik geäußert worden;6 sie ist jedoch auch in Bezug auf die literarische Moderne allgemein und damit auch für Erzähltexte wirkmächtig geworden – zumal sie sich in Teilen mit poetologischen Stellungnahmen moderner Autoren deckt. So hat Helmut Lethen in seiner einflussreichen, diskursanalytisch orientierten Studie Verhaltenslehren der Kälte zur Literatur der Neuen Sachlichkeit dem dort häufig aufzu6

Vgl. dazu wiederum Simone Winko, Kodierte Gefühle, 22.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

findenden Kältetopos, der in den 1920er Jahren eine positiv besetzte Neubewertung erfährt, besondere Aufmerksamkeit geschenkt: Lethen zeichnet in seiner Studie nach, wie die Kältemetaphorik besonders im Werk Plessners für ein nicht-dualistisches, prozivilisatorisches Menschenbild funktionalisiert worden ist, und schreibt dem von ihm rekonstruierten neusachlichen Figurentypus der kalten persona mit dem Kältehabitus auch den Willen zu einer programmatisch möglichst stark gedämpften, disziplinierten emotionalen Einstellung zur eigenen Umwelt zu.7 Gleichzeitig hat Lethen aber auch den psychologischen Umschlagspunkt dieser Haltung genauer beschrieben, den die Kreatur verkörpert.8 Lethen konzentriert sich in seinen Überlegungen auf die Beschreibung der Diskursivierung der Kältemetaphorik in den 1920er Jahren, Annahmen zu deren rezeptionsästhetischer Bedeutung finden sich bei ihm nur am Rande. Aus verschiedenen emotional konnotierten Passagen seiner Rekonstruktion lässt sich jedoch schlussfolgern, dass die Hochwertung des Kältehabitus während der Weimarer Republik durchaus starke Emotionen der Bewunderung und Anerkennung, aber auch – wie Lethen selbst explizit hervorhebt – der Angst hervorgerufen hat: Künstlichkeit als genuines Medium humanen Verhaltens – das ist ein Axiom, mit dem das Polaritätsdenken der Lebensphilosophie über Nacht umgewertet wird. Die polare Spannung, in die eine ganze Epoche Triebregung und sozialen Zwang, unentfremdetes Sein und Verdinglichung, authentischen Ausdruck und verhaltene Konvention versetzt hatte, wird zwar nicht plötzlich aufgehoben, aber doch so gewendet, daß Entfremdungs-Kälte der ,Gesellschaft‘ als Lebenselixier denkbar wird. [...] In diesem Jahrzehnt entwirft neusachliche Literatur drei Kunstfiguren: kalte persona, Radar-Typ und Kreatur. In den ersten beiden sehe ich symbolische Zaubermittel, mit denen sich die Zeitgenossen angstfrei in den Prozeß der Modernisierung einmischen wollen. Die aus dem Bild der kalten persona entfernte Angst kehrt freilich in der Gestalt der Kreatur wieder.9

Der Habitus der kalten persona zielt somit zwar auf eine möglichst weitgehende Kontrolle und Verschleierung der eigenen Emotionalität, er ist aber gerade dadurch geeignet, wiederum starke emotionale Reaktionen auf Seiten der kalten persona selbst wie auch bei deren Beobachtern auszulösen. Die emotionale Distanz zur eigenen Umwelt ist 7

8 9

„In dieser Sammlung von Maximen [denjenigen des Jesuiten Gracián, C.H.] fallen die Stichworte des Kults der ,Sachlichkeit‘: das Verbot des Rituals und der Klage, die Disziplinierung der Affekte, die Kunstgriffe der Manipulation, die List der Anpassung, die Panzerung des Ich, die Verfahren des physiognomischen Urteils und die Reflexion des Verhaltens in einem Parallelogramm der Kräfte.“ Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, 57. Neuerdings ist darauf hingewiesen worden, dass der von Lethen beschriebene Kältehabitus bereits vor dem neusachlichen Jahrzehnt im Laufe der langen Jahrhundertwende zu einer ersten Hochphase der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Emotionen führt. Vgl. Uffa Jensen und Daniel Morat, „Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880–1930“, in Rationalisierungen des Gefühl Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880–1930. Hg. v. dens., 11–34. Jensen und Morat gehen davon aus, dass statt von Brüchen daher vor allem von einer Kontinuität der kulturellen Kodierung von Emotionen in der Zeit zwischen 1880 und 1930 ausgegangen werden sollte. Helmut Lethen, Verhaltenslehren, 140, 244–267. Ebd. 9, 11 (Hervorhebung von mir, C.H.).

3.1 Prager deutschsprachige Literatur und Moderne

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somit, wie Lethen in seiner Studie verdeutlicht hat, als zeittypisches anthropologisches Phantasma der Neusachlichen zu verstehen, dem implizit die Hoffnung zugrunde liegt, durch eine weitgehende Unterdrückung der eigenen Gefühle oder zumindest ihres Ausdrucks den politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen der 1920er Jahre sowie dem Modernisierungsprozess ganz allgemein besser begegnen zu können. Diese, anhand literarischer,10 in erster Linie aber aus den Schriften Graciáns und Plessners sowie anhand poetologischer Äußerungen neusachlicher Autoren wie Brecht, Serner oder Jünger gewonnene emotionsbezogene Variante der Modernitätsthese ist von Martin von Koppenfels unter Verwendung einer anderen metaphorischen Umschreibung – nämlich derjenigen der Immunität – für einen ganzen Strang der internationalen Erzählliteratur ausgeweitet und zum wesentlichen Bestimmungsmerkmal einer zentralen Traditionslinie des modernen Erzählens gemacht worden, die laut von Koppenfels ihren Ausgang von Flauberts erzählerischem Werk nimmt. Genauer geht von Koppenfels davon aus, dass die von ihm herausgearbeiteten immunisierenden Erzählverfahren vor allem darauf abzielten, eine unproblematische Einfühlung in die geschilderten Figuren zu verhindern sowie den unmittelbaren Zusammenhang von Auslöseereignis und emotionaler Reaktion zu entkoppeln.11 Lediglich ein Gefühl der Scham werde beim Lesen noch unmittelbar erfahren: 10

11

Lethen selbst räumt ein, dass die kalte persona sich in den literarischen Erzeugnissen der von ihm betrachteten Autoren weniger häufig auffinden lasse als in ihren programmatischen Schriften: „Ist es leicht, die Spur der ,kalten persona‘ im Selbstporträt der Künstler, ihren Theorien der Wahrnehmungsschärfe und ihrer Charakterologie zu entdecken, so ist es schwieriger, sie als Figur in ihren Werken zu finden. Die Ursache hierfür liegt darin, daß es in der Weimarer Republik keine sozialen Strukturen gab, in denen sich diese Figur hätte entfalten können – mit Ausnahme der marginalen Räume von Literatur und Kunst, in denen die ,kalte persona‘ als Figur der Expression geduldet wird. Damit ist sie allerdings in eine Entfernung zu den Machinationen der Macht gerückt, die die Neusachlichen gerade verringern wollten.“ Helmut Lethen, Verhaltenslehren, 139 (Kursivdruck im Original). Seine Ergebnisse sind damit insofern für das hier verfolgte Erkenntnisinteresse von zentraler Bedeutung, als sie implizit auch eine Möglichkeit der kulturellen Kodierung des Emotionsbegriffs im hier interessierenden Untersuchungszeitraum umreißen; sie liefern jedoch unter wirkungsbezogenem Aspekt nur sehr allgemein Anhaltspunkte für die Beschreibung einer spezifisch neusachlichen Textästhetik. Martin von Koppenfels, Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans, 11, 19, 22 und öfter. Implizit liegt eine ähnliche These der Studie von Winfried Menninghaus zur Kulturgeschichte des Ekels zugrunde: Menninghaus geht davon aus, dass besonders in Kafkas Texten ekelhafte Begebenheiten oder Sachverhalte durch die Art der Darstellung als nicht ekelerregend erscheinen. Vgl. Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, 334, 378, 394. In Bezug auf Das Schloß nennt Menninghaus z.B. das Schloß selbst, die als hässlich und hurenhaft dargestellten Frauenfiguren und die Sexualpraktiken der Schloßbeamten als eigentlich ekelerregend. Vgl. Ebd. 333, 342, 353, 392f. Problematisch an seiner Argumentation ist allerdings einerseits, dass er Diskursfragemente aus Tagebüchern und Briefen Kafkas und dessen literarischen Werken gleichwertig verwendet, um seine These zu untermauern, ohne deren jeweilige funktionale Einbettung zu berücksichtigen. Andererseits deklariert er bestimmte Sachverhalte innerhalb der erzählten Welt als grundsätzlich ekelerregend, um an ihnen anschließend Kafkas Er-

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven Ein Affekt ist auch in der Éducation glaubwürdig: die Scham. Wie bei anderen Autoren des 19. Jahrhunderts hat sie auch bei Flaubert eine Sonderstellung. Und wie später bei Kafka avanciert sie zu einem Affekt zweiten Grades, der die Wahrnehmung der anderen Affekte bestimmt; denn wie wir sehen werden [sic!] ist es nicht zuletzt der eigene Gefühlsschwund, dessen die Figuren sich schämen.12

Von Koppenfels geht in seiner Studie dabei von einem psychoanalytisch fundierten Übertragungs-Gegenübertragungsmodell des Lektüreprozesses aus, das programmatisch auf eine analytische Trennung von Textmerkmalen und Wirkungsphänomenen verzichtet: Die Psychoanalyse faßt die affekive Dimension der Rede als Wirkung von Übertragung, Wiederholung und Widerstand und trägt damit ihrem Ereignischarakter Rechnung. Eine Lektüre literarischer Texte, die sich die psychoanalytische Perspektive zu eigen macht, wird diesen Charakter gleichfalls nicht ignorieren können: Wo immer sie nach der affektiven Dimension einer Erzählung fragt, kann sie das Ereignis des Lesens – das selbst ein Übertragungsgeschehen ist – nicht aus ihrer eigenen Rede ausschließen. Sie muß die Antwort auf ihre Frage im Zwischenraum zwischen Text und Leser, zwischen Struktur und Leseakt suchen. Das heißt auch, sie muß notwendig eine Unschärfe ihrer Perspektive in Kauf nehmen: Was sie „Affekt“ nennt, wird sich kaum je eindeutig auf der Ebene des Erzählten, des Erzählens oder der Reaktion des Lesers lokalisieren lassen. Diese Unschärfe, oder besser: dieser Übergang ist der literarische Affekt. Zu den grundsätzlichen Aporien der Affektivität zählt auch die Tatsache, daß man die Qualität eines Affektes nur affektiv wahrnehmen kann. Für das Feld der Literatur folgt daraus die strukturelle Unmöglichkeit, zwischen dem Dargestellten und der Reaktion des Lesers darauf zu unterscheiden.13

Von Flauberts poetologischen Stellungnahmen zu einem immunen, emotionslosen Erzählgestus ausgehend, argumentiert von Koppenfels, der unmittelbare Zusammenhang von emotionsauslösendem Ereignis und der Reaktion des Rezipienten darauf sei in der Moderne spätestens durch die psychoanalytische Theorie entkoppelt worden.14 Als zentrale Merkmale dieses immunen Erzählgestus in der Tradition Flauberts nennt von Koppenfels Genauigkeit, ein methodisches Vorgehen, die Haltung der Unpersönlichkeit und Uneinfühlsamkeit; Leitbegriffe und -metaphern dieses poetologischen Programms sind diejenigen der Panzerung, des Skalpells, der Obduktion und Operation, der Hygiene und Zerstückelung, der Stockung, Stauung und Eindämmung sowie der Impfung. Es sei gegen das „Syndrom Weiblichkeit-Empfindsamkeit-Romantik“ gerichtet.15

12 13 14 15

zählverfahren der Ekeldämpfung beschreiben zu können. Ein solches Vorgehen birgt natürlich die Gefahr von Zirkelschlüssen: Vorab müsste gezeigt werden, dass die dargestellten Sachverhalte von zeitgenössischen Rezipienten bei einer anderen Darstellungsweise als ekelhaft rubriziert worden wären. Oder es müsste eine universalistische Theorie des Ekels herangezogen werden. Martin von Koppenfels, Immune Erzähler, 153. Ebd. 27. Damit vertritt von Koppenfels, wie deutlich geworden sein dürfte, ein anderes Leseprozessmodell als das hier zugrunde gelegte. Ebd. 22. Ebd. 187, 193f, 196, 198, 203.

3.1 Prager deutschsprachige Literatur und Moderne

147

Von Koppenfels’ These von einer weitgehend auf emotionale Wirkungen verzichtenden modernen Erzählweise ist aus theoretischen und methodischen Erwägungen heraus mit der hier vertretenen kaum vereinbar: Bedenkt man das zugrundegelegte Leseprozessmodell, so fehlen Angaben zur Operationalisierbarkeit, nämlich in Bezug auf die Frage, anhand welcher Kriterien die genannten Wirkungsannahmen abgeleitet werden können. Auf der Ebene der Textanalyse bleibt somit unklar, in welchem Verhältnis poetologische Äußerungen der behandelten Autoren – neben Flaubert vor allen Dingen Proust, Céline, Duras, Kertész, Arendt, aber auch Kafka –, textuelle Faktoren und Rezeptionszeugnisse, die von Koppenfels nicht in die Analyse einbezieht, zueinander stehen. Von Koppenfels selbst räumt ein, dass durch das Flaubert’sche immune Erzählverfahren16 die emotionale Anteilnahme an den Figuren erschwert, jedoch nicht immer verhindert werde.17 An anderer Stelle heißt es dagegen mit Bezug auf Kafka, dessen Texte seien durch ein „Pathos ohne Empathie“ gekennzeichnet und setzten den „identifikatorische[n] Wirkmodus außer Kraft“.18 Ein Blick auf die historische Rezeption von Kafkas Werk zeigt dagegen, dass diese These nur bedingt aufrechtzuerhalten, für die frühe Prosa möglicherweise sogar in dieser verallgemeinernden Form überhaupt nicht zutreffend ist. Allgemein ist die metaphorische Rede von der emotionalen Immunität moderner Erzählverfahren irreführend, da die Annahme einer vollkommen emotionsfreien Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit des Menschen aus anthropologischer Sicht unhaltbar ist, wie oben im theoretischen Teil ausgeführt worden ist und wie zahlreiche Studien aus der Emotionspsychologie belegen. Dies räumt auch von Koppenfels selbst ein.19 Als diskursive Phänomene sind die emotionsbezogenen Kälte- und Immunisierungsmetaphoriken, die Lethen und von Koppenfels herausarbeiten, demnach für die Kodierung des allgemeinen modernen Emotionskonzepts von hoher Relevanz. Die daraus abgeleiteten Wirkungsannahmen erweisen sich aber als zu undifferenziert und bedürfen daher der Ergänzung. Lethen wie von Koppenfels rekonstruieren in ihren Studien exemplarisch das Emotionskonzept von als ,modern‘ klassifizierbaren Autoren, vor allen 16

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Als Textmerkmale, durch die der immune Erzählerblick gekennzeichnet sei, nennt von Koppenfels die serielle Unterbrechung von Dialogen und Handlungen, die destruktive Kontrastierung durch parallel laufende Handlungsstränge, Figuren der Wiederholung, die die schematische Austauschbarkeit der affektiven Objekte z.B. in parodistischer Form offenlegen sowie die Destruktion von Katharsiserwartungen am Ende, an deren Stelle der empfundene Schrecken in Ekel überführt werde. Martin von Koppenfels: Immune Erzähler, 169. Ebd. 185. Ebd. 19. Vgl. ebd. 11, 18. Obwohl seine Studie also ein zentrales Merkmal vieler moderner poetologischer Programme im Hinblick auf die Rolle und den Stellenwert von Emotionen allgemein aufgreift und differenziert nachzeichnet, bleibt sie metasprachlich oft vage und ungenau, die abgeleiteten Wirkungsannahmen erscheinen in Teilen spekulativ oder programmatisch unklar. So wird der Modus der Affektverweigerung z.B. auch in einer paradox anmutenden Formulierung als „Gefühl der Gefühllosigkeit“ umschrieben. Ebd. 11.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Dingen unter Rekurs auf ästhetische Programme und poetologische Stellungnahmen, verzichten aber darauf, die Ebenen der Produktion, des Textes und seiner Rezeption analytisch voneinander zu trennen. Sie bleiben damit den Nachweis schuldig, dass die von den Autoren genannten Wirkungspostulate der tatsächlichen zeitgenössischen Rezeption entsprechen. Dadurch bleibt das methodische Problem ungelöst, wie gezeigt werden kann, dass die programmatisch getroffenen Aussagen der behandelten Autoren auch adäquate Beschreibungskategorien für die tatsächliche zeitgenössische Rezeption bereitstellen. Hier wäre ein kulturwissenschaftlicher Abgleich mit außerliterarischen Emotionskonzepten der Moderne hilfreich. Arbeiten, die systematisch und nach einzelnen Emotionen differenziert auch wissenschaftliche oder populäre Emotionskonzepte der 1920er Jahre rekonstruieren, liegen bisher allerdings nicht vor. Ob Kafkas Werk also in die von von Koppenfels skizzierte literarische Reihe eingeordnet werden kann, bleibt schon aus theoretischen wie methodischen Erwägungen heraus fraglich. Hinzu kommt, dass im Gegensatz zu von Koppenfels’ Studie in der Forschung zur Prager deutschsprachigen Literatur häufig von der „Prager Phantastik“ die Rede ist – eine Genrebezeichung, die aus emotionsbezogener Perspektive vor allem mit der Wirkung der Angst oder Verunsicherung20 korreliert. Gegen von Koppenfels’ These von der Schamwirkung von Kafkas Œuvre steht damit die implizite, aus der Forschungsliteratur zur literarischen Phantastik und zur Prager deutschsprachigen Literatur ableitbare These von dessen Angstwirkung. Ohne hier genauer zu erörtern, ob diese gegenteilige Wirkungsannahme insgesamt gerechtfertigt erscheint oder nicht, verweist die mit der Immunitätsthese unvereinbare, aber nichtsdestotrotz wirkmächtige Forschungsposition zur Prager Phantastik damit auf die Notwendigkeit zur metasprachlichen wie methodischen Differenzierung. Ein stärker deskriptiv angelegtes Analyseverfahren wie das hier vorgestellte kann dabei dazu beitragen, ein im Hinblick auf Emotionen differenzierteres Bild von der Bandbreite der Darstellungsformen und Wirkungsmöglichkeiten von Texten von Prager deutschsprachigen Autoren zu gewinnen. Notwendigerweise handelt es sich dabei allerdings um kleinschrittige Analysen der betrachteten Texte. Das gewählte Korpus fällt daher sehr schmal aus und berechtigt nicht zu weitreichenden kulturwissenschaftlichen Konklusionen wie zum Beispiel zur Konstruktion einer Traditionslinie, wie sie von Koppenfels entwirft. Ein solches Ziel muss späteren Forschungsarbeiten vorbehalten bleiben, die aber an die hier entwickelte Methodik und die daraus abgeleiteten Wirkungshypothesen anknüpfen können. Um das Rezeptionsumfeld der betrachteten Texte mitsamt den kulturellen Kodierungen der dargestellten und evozierten Emotionen möglichst stabil halten zu können, werden Texte gewählt, die alle im kurzen Zeitraum zwischen 1922 und 1924 publiziert worden sind.

20

Vgl. dazu zum Beispiel schon Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, 84.

3.1 Prager deutschsprachige Literatur und Moderne

149

3.1.1 Was ist Prager deutschsprachige Literatur? Generell ist mittlerweile in der Forschung unumstritten, dass die Versuche, die Prager deutschsprachige Literatur thematisch oder stilistisch21 von der übrigen deutschsprachigen Literaturproduktion abzugrenzen, nicht überzeugend ausgefallen sind.22 Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, soll die Bezeichnung „Prager deutschsprachige Literatur“ hier stattdessen vor allen Dingen mit Blick auf Sprache und Herkunft einer durchaus heterogenen Autorengruppe gebraucht werden. Zur Prager deutschsprachigen Literatur zählen demnach alle auf Deutsch verfassten Werke von Autoren, die zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Okkupation Prags durch die Nationalsozialisten in Prag gelebt haben oder zumindest dort geboren worden sind.23 21

22

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Hier wird v.a. in der älteren Forschungsliteratur ein spezifisches „Prager Deutsch“ angeführt, dessen Merkmale jedoch bisher nicht befriedigend bestimmt werden konnten. Ausgangspunkt solcher Annahmen ist die Beobachtung, dass die literarische Produktion in deutscher Sprache in der Moldaustadt trotz der sinkenden Zahl deutschsprachiger Einwohner zunahm und viele Prager Autoren überregional im gesamten deutschen Sprachgebiet Beachtung als Prager Autoren fanden. Vor allem in der Zwischenkriegszeit, also dem hier interessierenden Untersuchungszeitraum waren das Interesse und der Austausch mit den anderen großen literarischen Zentren Berlin und Wien besonders stark, so dass die Abgrenzung von Prager und Nicht-Prager Autoren bekanntermaßen teilweise schwer fällt und umstritten ist. Vgl. Ernest Wichner und Herbert Wiesner, Prager deutsche Literatur. Vom Expressionismus bis zu Exil und Verfolgung. Ausstellungsbuch, 10; Berlin und der Prager Kreis. Hg. v. Margarita Pazi und Hans Dieter Zimmermann. Die Rede von der „Sprachinsel“ Prag, die sich schon bei den Zeitgenossen findet, ist somit wohl eher nicht als metaphorische Umschreibung einer tatsächlichen sprachlichen Isolation zu verstehen. Vgl. dazu Jürgen Born, „,Insel‘ und ,Treibhaus‘: Sprachbilder zur Kennzeichnung der Prager deutschen Literatur“, in Prager deutschsprachige Literatur zur Zeit Kafkas. Hg. v. der Österreichischen Franz-Kafka-Gesellschaft, 18–26. Vgl. dazu etwa Christoph Stölzl, „Prag“, in Kafka-Handbuch in zwei Bänden, Bd. 1, 85. Besonders bekannt geworden ist Goldstückers Schlagwort vom „dreifache[n] Ghetto“ Prag, in dem die deutschsprachigen Autoren sowohl sprachlich als auch sozial und ethnisch-religiös isoliert gewesen seien. Vgl. dazu Eduard Goldstücker, „Die Prager deutsche Literatur als historisches Phänomen“, in Weltfreunde, 21–45, hier 27. Kritisch dazu schon Max Brod, Der Prager Kreis, 37 sowie Roger Bauer, „Literarische Ghettos, in Prag und Anderswo“, in Prager deutschsprachige Literatur zur Zeit Kafkas, 11–17. Reffet nennt als Merkmale für die Eigenständigkeit des Prager deutschsprachigen Erzählstils 1. Expressionismus und Sprachreinheit, Sprachskepsis und Sprachreflexion, 2. die psychologische Phantastik bzw. den magischen Realismus und 3. thematische Bezüge zur Lebenssituation in Prag. Damit untermauert er seine These, die Prager deutschsprachige Literatur der Zwischenkriegszeit sei nicht der Neuen Sachlichkeit zuzurechnen. Vgl. Michel Reffet, „Die Eigenständigkeit des Erzählstils in der Prager deutschen Literatur“, in Prager deutschsprachige Literatur zur Zeit Kafkas, 69–80. Auch dieser weitere Merkmalskatalog ist jedoch wegen seines unhaltbaren disjunktiven Anspruchs mit guten Gründen kritisiert worden. Vgl. Susanne Fritz, Die Entstehung des ,Prager Textes‘. Prager deutschsprachige Literatur von 1895 bis 1934, 7. Auch die zeitliche Eingrenzung wird je unterschiedlich vorgenommen. Stölzl etwa behandelt in seiner chronologischen Übersicht schon Texte, die ab 1848 entstanden sind. Vgl. Christoph Stölzl, „Prag“, 85f. Borns chronologische Übersicht beginnt im Januar 1900 mit Phia Rilkes Gedichtband Ephemeriden und endet im Dezember 1925 mit Hermann Ungars Die Ermordung des Hauptmanns Hanika. Die Abkopplung der Prager deutschsprachigen Literatur von der böhmischen und der ös-

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Dennoch lassen sich einige Merkmale benennen, die zwar nicht als distinktiv und damit charakteristisch nur für die deutschsprachige Literatur Prags aufzufassen sind, jedoch in der Forschungsliteratur als besonders typisch für viele Texte von deutsch schreibenden Autoren aus der Moldaustadt erachtet werden. Ernest Wichner und Herbert Wiesner etwa nennen gattungstypologische, motivische, thematische und autorphilologische Merkmale, die für die Prager deutschsprachige Literatur kennzeichnend seien: In Prag seien im Vergleich zur Literatur der Bukowina hauptsächlich epische24 und dramatische, häufig auch autobiographische oder diaristische Texte verfasst worden; Prag stehe in diesen häufig als literarischer Ort im Zentrum; bevorzugte Themen seien die Darstellung des Unheimlichen und sexueller Obsessionen. Hier ist des öfteren auch von einer spezifischen, meist psychologisch fundierten „Prager Phantastik“ die Rede.25 Als letztes und einzig allgemein akzeptiertes Bestimmungsmerkmal nennen Wichner und Wiesner soziodemographische Faktoren, nämlich die Geburt der dazugehörigen Autoren in Prag selbst sowie deren überwiegend jüdische Herkunft.26 Zum Teil wird auch betont, dass die in Prag entstandene Literatur im Vergleich mit der deutsch-böhmischen oder später der sudetendeutschen Literatur in hohem Maße interkulturell und international anschlussfähig gewesen sei. Auch die Vermittlungsleistungen vieler Prager Autoren zwischen der deutschen und der tschechischen Kultur wird in diesem Zusammenhang hervorgehoben.27 In der Frage, welche Autoren der Gruppe der Prager deutschsprachigen Schriftsteller zuzurechnen seien, gehen die Meinungen allerdings auseinander. Zum Beispiel ist unklar, ob allein die Geburt in Prag ausreichend ist, um einen Autor hinzuzuzählen, ebenso, wie lange ein Autor hierzu in der Moldaustadt gelebt haben und welchen Kreisen er

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terreichischen beginnt nach Born Mitte der 1890er Jahre. Vgl. Deutschsprachige Literatur aus Prag und den böhmischen Ländern 1900–1925, 2. Wichner und Wiesner nennen dagegen das Jahr 1910 mit dem Auftreten der Expressionisten als Ausgangspunkt für die Forschung. Ernest Wichner und Herbert Wiesner, Prager deutsche Literatur, 8. Fritz setzt die Zeitspanne zwischen 1895 und 1934 an. Sie unterteilt die Literaturproduktion des Prager Textes weiterhin in drei Phasen: Protokanonische (1895–1914) und kanonische (1914–1918) Texte sowie „Nachklänge“ (1918–1934). Vgl. Susanne Fritz, Die Entstehung des ,Prager Textes‘. Dass nach dem 1. Weltkrieg eine Diversifizierung der Literaturproduktion in Prag einsetzte, betont schon Karl Krolop, „Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur des ,expressionistischen Jahrzehnts‘“, in Weltfreunde, 47–96, hier 71. Vgl. auch Susanne Fritz, Die Entstehung des ,Prager Textes‘, 31f. Vgl. dazu Michel Reffet, „Die Eigenständigkeit des Erzählstils in der Prager deutschen Literatur“; Susanne Fritz, Die Entstehung des ,Prager Textes‘, 72. Ernest Wichner und Herbert Wiesner, Prager deutsche Literatur. Vom Expressionismus bis zu Exil und Verfolgung, 7. Dies vor allen Dingen in älteren, marxistisch ausgerichteten Forschungsbeiträgen. Vgl. dazu Eduard Goldstücker, „Die Prager deutsche Literatur als historisches Phänomen“, 24, 26 sowie Paul Reimann, „Die Prager deutsche Literatur im Kampf um einen neuen Humanismus“, in Weltfreunde, 7– 19, hier 7, 9.

3.1 Prager deutschsprachige Literatur und Moderne

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zugerechnet werden können muss.28 Für Kafka und Werfel29 ist die Zuordnung zur Gruppe der Prager Autoren unumstritten. Anders sieht es für Perutz aus: Er wird zwar in den meisten Veröffentlichungen zur Prager deutschsprachigen Literatur erwähnt30 – vor allem mit seinem letzten Roman Nachts unter der steinernen Brücke –, die Verbindungen zum Kreis um Brod und Kafka wie auch zu vielen anderen Prager Autoren waren aber nach Perutz’ Weggang nach Wien nicht sehr eng.31 Andererseits lassen sich durchaus persönliche wie literarische Einflüsse und Verbindungen nach Prag nachweisen. So hatte Perutz weiterhin Kontakt zu einigen Prager Autoren wie Werfel, Weiß und Kisch,32 die Erzählung Das Gasthaus zur Kartätsche aus dem Jahr 1920 spielt in Prag33 und bereits 1924 begann Perutz mit der Niederschrift des ersten Kapitels von Nachts unter der steinernen Brücke, das 1925 im Neuen Merkur separat abgedruckt wurde als „Legende aus dem Ghetto“.34 Ähnlich wie bei Ernst Weiß handelt es sich bei Perutz damit um einen Autor, der der Prager deutschsprachigen Literatur eher am Rande zugerechnet werden sollte.35 Gerade diese Randposition lässt jedoch auch erwarten, dass das 28

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31 32 33 34 35

Vgl. dazu Deutschsprachige Literatur aus Prag und den böhmischen Ländern 1900–1925, V. Fritz beispielsweise bestimmt den Begriff demgemäß im Gegensatz zur übrigen Forschungsliteratur auch erstaunlich eng, indem sie nur jene Texte zur Prager deutschsprachigen Literatur hinzuzählt, in denen Prag als Stadt thematisiert wird. Vgl. Susanne Fritz, Die Entstehung des ,Prager Textes‘, 7. Da diese enge Eingrenzung des „Prager Textes“ jedoch zu stark von der historischen und daher auch in der Forschung gebräuchlichen Begriffsverwendung abweicht, soll sie hier nicht übernommen werden. Werfel wird bekanntermaßen schon von Max Brod zum weiteren, Kafka dagegen zusammen mit Felix Weltsch, Oskar Baum, Brod selbst und später auch Ludwig Winder zum engeren Prager Kreis gerechnet. Max Brod, Der Prager Kreis, 35, 146–149. Vgl. etwa Deutschsprachige Literatur aus Prag und den böhmischen Ländern 1900–1925; Franz Kafka und die Prager deutsche Literatur. Deutungen und Wirkungen. Hg. v. Hartmut Binder; Eduard Goldstücker, „Die Prager deutsche Literatur als historisches Phänomen“; Erhard Jos. Knobloch, Handlexikon Deutsche Literatur in Böhmen • Mähren • Schlesien; Joseph Mühlberger, Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen 1900–1939; Prager deutsche Literatur. Vom Expressionismus bis zu Exil und Verfolgung; Jürgen Serke, Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft. In einer zeitgenössischen Publikation aus dem Jahr 1922 (Deutsche Erzähler der Tschechoslowakei. Hg. und eingeleitet von Otto Pick. Reichenberg 1922) ist Perutz ebenfalls vertreten. Vgl. Kafka und die Prager deutschsprachige Literatur. Eine Ausstellung der Forschungsstelle für Prager deutsche Literatur/Kritische Kafka-Edition, Bergische Universität – GHS Wuppertal, in Verbindung mit der Österreichischen Franz-Kafka-Gesellschaft, Klosterneuburg, und der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien (9. Juni – 1. Juli 1994), 14. „Perutz ist in Prag geboren, lebte aber fast immer in Wien, hatte kaum Verbindung mit uns.“ Max Brod, Der Prager Kreis, 194. Vgl. Hans-Harald Müller, Leo Perutz, 1992, 33. Vgl. Joseph Mühlberger, Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen 1900–1939, 226f. Vgl. Hans-Harald Müller, Leo Perutz, 53 sowie Ernest Wichner und Herbert Wiesner, Prager deutsche Literatur, 81. Vgl. Peter Engel, „Bilder von Glanz und Elend. Ansichten Prags im Werk von Ernst Weiß“, in Franz Kafka und die Prager deutsche Literatur, 95–105, hier 95. Vgl. auch Max Brod, Der Prager Kreis, 198.

152

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Spektrum der sprachlich-stilistischen Verfahren der Emotionsgestaltung und -evokation in den Beispielanalysen möglichst breit gefächert ist. Die soziodemographische Heterogenität der Prager deutschsprachigen Autorengruppe wie auch die stilistische Vielfalt der von ihnen verfassten Texte erweist sich für die vorliegende Studie damit insgesamt als Vorteil: Einerseits kann das Rezeptionsumfeld aufgrund des sehr eng gefassten Untersuchungszeitraums wie auch der für alle Korpustexte grob vergleichbaren kulturellen Einflüsse als relativ homogen bezeichnet werden, so dass für alle Texte ein soziodemographisch weitgehend ähnlich geartetes Publikum angenommen werden kann. Andererseits kann so das Manko einer aufgrund der bisher kaum vorhandenen kulturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse zu Emotionskonzepten der 1920er Jahre noch weitgehend kontextfrei gewonnenen Wirkungshypothesen partiell wieder ausgeglichen werden. Gleichzeitig weisen die gewählten Korpustexte so stark differente Formen der Gestaltung und Hervorbringung von Emotionen auf, dass das vorgestellte Analyseverfahren trotz des sehr kleinen Korpus an einer stilistisch und inhaltlich recht großen Bandbreite literarischer Darstellungsverfahren erprobt werden kann.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß In literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit der Prosa Franz Kafkas auseinandersetzen, ist es mittlerweile zum Topos geworden, auf die Unausdeutbarkeit des Werks des Prager Autors hinzuweisen. Els Andringa beispielsweise spricht im Kafka-Handbuch von Bettina von Jagow und Oliver Jahraus von einer „in den Strukturen angelegte[n] Triebfeder zum interpretativen Bemühen“36, das zu keinem Abschluss kommen könne.37 Kafkas Texte ermöglichen bekanntlich eine Vielzahl von Lektüren, die sich teilweise sogar widersprechen – meist ohne durch den Text eindeutig verifiziert oder falsifiziert werden zu können. Dieser Umstand wiederum hat zu einer mittlerweile unübersehbaren Flut an Forschungsliteratur unterschiedlichster literaturtheoretischer Provenienz geführt.38 In Forschungsüberblicken wird dabei immer wieder beklagt, dass die 36 37 38

Els Andringa, „Die Facette der Interpretationsansätze“, in Kafka-Handbuch 2008, 328. Vgl. dazu auch Deirdre Vincent, „,I’m the King of the Castle...‘: Franz Kafka and the Well-Tempered Reader“, 60f. So existieren zu Kafkas Werk und dessen Rezeption in der Literaturwissenschaft mehrere Bibliographien (als aktuellste und umfangreichste ist zu nennen: Franz Kafka. Internationale Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur. 2 Bände. Hg. v. Maria Luise Caputo-Mayr und Julius Michael Herz) sowie mittlerweile bereits sechs Handbücher (Kafka-Handbuch in zwei Bänden. Hg. v. Hartmut Binder. 1979; The Cambridge companion to Kafka. Hg. v. Julian Preece; A companion to the works of Franz Kafka. Hg. v. James Rolleston; A Franz Kafka Encyclopedia. Hg. v. Richard T. Gray; Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Bettina von Jagow und Oliver Jahraus. 2008; Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Bernd Auerochs und Manfred Engel.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

153

Struktur des Gesamttextes in vielen Untersuchungen nicht ausreichend Berücksichtigung finde, die Texte vielmehr oftmals als eine Art „Steinbruch“ genutzt würden, um das jeweilig zugrunde liegende literatur- oder kulturtheoretische Modell zu untermauern. So resümiert etwa Waldemar Fromm: Auch die neueren nicht-hermeneutischen Ansätze haben zu einer Ausdifferenzierung von Deutungsansätzen geführt, die in ihrer Vielfalt Anlass geben, von individuellen Lektüren zu sprechen. Hier ist die Zahl nicht Frevel, sondern Indiz eines Faches, das – um mit Peter Szondi zu argumentieren – Aussagen über individuelle Erscheinungen formuliert und nicht die Individualität der Erscheinung auf zugrunde liegende Strukturen zurückführt. [...] In dem Maße allerdings, in dem Kafka zum paradigmatischen Reflektor der Moderne avanciert, differenzieren sich die Erkenntnisinteressen bei der Lektüre aus. In der (dramatischen) Konsequenz liegt, dass die Textstruktur oder das Textganze zweitrangig werden [...].39

Die Voraussetzungen, die in die Lektüre Eingang finden, werden dabei oftmals nicht transparent gemacht, vielmehr wird die eigene Interpretation häufig als verbindlich ausgegeben.40 Wenn dieser Flut an Deutungsversuchen im Folgenden ein weiterer hinzugefügt werden soll, so geschieht dies nicht mit dem Ziel, eine weitere festschreibende Interpretation des Schlosses vorzulegen, sondern lediglich in der Absicht, einen bisher weitgehend unbeachteten Aspekt innerhalb der Kafka-Forschung zur Diskussion zu stellen, nämlich nach dem emotionalen Wirkungspotenzial der Struktur dieser zur individuellen Lektüre anregenden Texte zu fragen.

39 40

2010). Waldemar Fromm spricht von einer fünfstelligen Zahl an Arbeiten über Kafka. Vgl. Waldemar Fromm, „Kafka-Rezeption“, in Kafka-Handbuch 2008, 250. Angesichts dieses Befundes steht die vorliegende Untersuchung notwendigerweise unter einem Selektionszwang – zumal sie sich nicht ausschließlich Kafkas Werk widmet. Diesem Problem werde ich folgendermaßen zu begegnen versuchen: Zum einen schlage ich im Rahmen dieser Arbeit eine, soweit ich sehe, neue Lesart des Schlosses vor, so dass große Teile der Forschungsliteratur, die zum Beispiel stärker autorphilologisch vorgehen, die Materialität der Schrift in den Vordergrund rücken oder vorwiegend allegorisierende interpretative Zugänge zum Text favorisieren, für meine Fragestellung von eher geringer Relevanz sind und also nicht systematisch ausgewertet zu werden brauchen. Zum anderen müssen für das Ziel der vorliegenden Analyse, einen Rezeptionsprozess simulieren zu können, erst einmal grundlegend die erzähltechnische Anlage des Romanganzen sowie die Art der Informationsvergabeprozesse rekonstruiert werden, um zu Aussagen über das emotionale Wirkungspotenzial des Schlosses gelangen zu können. Dazu kann vor allen Dingen auf Forschungsbeiträge strukturalistischer und im weiteren Sinne narratologischer Herkunft zurückgegriffen werden, die bevorzugt Berücksichtigung finden sollen. In der Kafka-Forschung gilt spätestens seit der strukturalistischen Wende in den 1970er Jahren, dass eine genaue Beschreibung der Erzähltechnik jedem interpretativen Bemühen vorausgehen sollte, um die Grenzen der eigenen Deutung abstecken zu können. Wegweisend hierzu Lothar Fietz, „Möglichkeiten und Grenzen einer Deutung von Kafkas SchloßRoman“. Waldemar Fromm, „Kafka-Rezeption“, 251. Ebd. 252; Els Andringa, „Die Facette der Interpretationsansätze“, 317f. Die komplexe Rezeptionsgeschichte des Schlosses hat Stephen D. Dowden rekonstruiert: Stephen D. Dowden, Kafka’s Castle and the Critical Imagination.

154

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Eine emotionsbezogene Untersuchungsperspektive bietet hierbei den Vorteil, dass keine sehr weitreichenden, das dargestellte Geschehen als dominant symbolisch auffassenden Annahmen gemacht werden müssen, um zu Aussagen über das emotionale Wirkungspotenzial etwa von Kafkas Schloß41 zu gelangen, da die thematisierten und präsentierten Emotionen mit Hilfe des oben entworfenen Analyseverfahrens als Textoberflächenphänomene in mehr oder weniger unproblematischer Weise rekonstruiert werden können. Gleichzeitig wird gerade im Zusammenhang mit dieser Fragestellung notwendigerweise die Gesamtstruktur des Textes in den Blick genommen. Die von Peter Beicken bereits in den 1970er Jahren beklagte „Differenz zwischen Werkstruktur und Rezeption“42, wie sie vor allem für die frühen, allegorisierenden Deutungen von Kafkas Texten kennzeichnend ist, kann so weitestgehend minimiert werden.43 Eine leserorientierte, rezeptionsbezogene Beschreibung von Kafkas Prosa kann gegenwärtig noch als Forschungsdesiderat gelten.44

41 42 43

44

Franz Kafka, Das Schloß (im Folgenden: DS). Peter U. Beicken, „Typologie der Kafka-Forschung“, in Kafka-Handbuch 1979. Bd. 2, 817. Auch und gerade Das Schloß wurde wegen seines Fragmentcharakters immer wieder allegorisierend-vereindeutigend gedeutet. Vgl. Richard Sheppard, „Das Schloß“, in Kafka-Handbuch 1979. Bd. 1, 446–455. Vgl. etwa Yoseph Milman, „The Ambiguous Point of View and Reader Involvement in Kafka: A Reader Oriented Approach to The Castle and ,In the Penal Colony‘“, 262: „But critics seem not to have sufficiently studied one of the most important aspects of Kafka’s writing, namely, the way it works, what makes the reader re-read it, what the reader’s attitude is towards, the events and the narrator, and what his position is in relation to the universe it face“ Als Ausnahme hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang ein Forschungsbeitrag von Deirdre Vincent, die sich bereits 1987 mit den Auswirkungen der Textgestalt des Schlosses auf mögliche Lektürewirkungen beschäftigt hat. Sie weist nach, dass eine vollständig kohärente Lesart nur gegen die polyvalente Struktur des Romans selbst möglich ist: „[...] the substance of the work does not exist chiefly within the substance of their respective narrative lines but springs rather from the process initiated by means of any and every narrative line through which the values and expectations of the reader are assaulted – values and expectations set up and reinforced by what he reads initially and accepts as his framework.“ Vgl. Deirdre Vincent, „,I’m the King of the Castle‘“, 69. Die Fülle an Sekundärliteratur zu Kafkas Werk lässt sich folglich auch damit erklären, dass seine Prosa einen bestimmten Rezeptionseffekt erzielt, dem ein Bedürfnis nach Kohärenzbildung zugrunde liegt. Aus kommunikationstheoretischer Perspektive hat sich Georg Ernst Weidacher mit Kafkas Romanen Der Proceß und Das Schloß befasst. Georg Ernst Weidacher, Elemente des Kafkaesken. Problematische Kommunikationsstrukturen als Ursache einer Leserirritation. Wenig hilfreich für die genaue Beschreibung von Textfaktoren in der Text-Leser-Interaktion ist die psychoanalytisch argumentierende Arbeit von Alfrun von Vietinghoff-Scheel, Es gibt für Schnee keine Bleibe. Trauma-analoge Literaturdeutungstheorie als Beziehungsanalyse von Text und Leser am Beispiel von Franz Kafkas „Schloß“.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

155

3.2.1 Figurenbezogene Emotionslenkungsstrategien in Das Schloß Im Folgenden wird Kafkas letzter, Fragment gebliebener Roman Das Schloß in erster Linie unter dem Aspekt der Sympathielenkung näher betrachtet. Ein emotions- und figurenbezogenes Analyseverfahren eröffnet eine neue Perspektive auf Kafkas Texte, indem es zum Beispiel offene interpretatorische Fragen, etwa in Bezug auf den Status und die Bedeutung einzelner Figuren, klären helfen kann. Umgekehrt erweisen sich gerade Kafkas Texte als guter Testfall für die vorgestellte Analysemethode, da sich hier die Zuschreibungen emotionaler Zustände zu den einzelnen Figuren und die zur Beurteilung von Figuren und Situationen herangezogenen Wertmaßstäbe permanent ändern und so, wie noch zu zeigen sein wird, intersubjektiv nachvollziehbare Aussagen über die Sympathiewirkung der im Roman auftretenden Figuren nur sehr begrenzt möglich sind.45 Als Ausnahmefall wird lediglich die Figur der Amalia angesehen: Mit Hilfe des vorgeschlagenen Analyseinstrumentariums wird der Nachweis erbracht, dass diese Figur das größte Potenzial hat, Sympathien auf Seiten des Lesers zu wecken – und zwar in Form einer Bewunderungsreaktion. Um dies zeigen zu können, werden zunächst die erzähltechnische Anlage des Romanganzen sowie die erzählerischen Mittel zur Figurencharakterisierung analysiert, um die narrative Einbettung der empathieermöglichenden und sympathiegenerierenden Textstrukturen beschreiben zu können. Besonderes Gewicht, so wird mitunter unter Berufung auf den „Primacy-Effekt“ – wie oben in Abschnitt 2.4.1.3 dargelegt – vermutet, kommt dabei der Analyse des Romananfangs zu. Als Textbeispiele werden daher vorwiegend solche aus den ersten Kapiteln gewählt. Die episodische Struktur des Romans, in dem in den einzelnen Kapiteln in variierter Form stets wiederkehrende vergleichbare Grundsituationen und typische Verhaltensmuster K.’s vorgeführt werden, gestattet hier vorsichtige Verallgemeinerungen.46 Ziel ist eine Rekonstruktion der am häufigsten im Text präsentierten Emotionen sowie der Werthaltung des Protagonisten und dessen Relativierungen durch den Erzähler. Auf diese Weise können Aussagen über das empathieermöglichende Potenzial einzelner Textpassagen getroffen werden. Vor allem aber soll der Nachweis erbracht werden, dass von Kafka im Schloß kein deutlich auf Sympathieeffekte abzielendes Erzählverfahren gewählt worden ist, im Text also 45

46

Das Schloß kann befriedigend als Parabel über das Wechselspiel von Verstehen und Missverstehen gelesen werden: „[L]ike K., who can circle around the Castle but never reach it, we, too, as interpreters, continually circle around the heart of the text without being able to penetrate it. In this sense, Kafka’s novel is structured precisely as a parable about the conundrums of interpretation and the inevitability of misunderstanding. It is hence no coincidence that misinterpretation and misunderstanding are among the most prominent themes addressed by the characters of the novel.“ Artikel „Das Schloß“, in A Franz Kafka Encyclopedia. 247. Vgl. auch Georg Ernst Weidacher, Elemente des Kafkaesken, 6–38. Eine fundierte und detailliertere Darstellung zur Erzähltechnik im Schloß und einen allgemeinen Überblick über die narratologische Forschung hierzu findet sich bei Eric Miller, „Without a Key: The Narrative Structure of Das Schloß“.

156

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

keine stabile figurenbezogene Wertstruktur vorgegeben ist, die die Herausbildung einer wertenden Einstellung in Form von Sympathie begünstigt.47 Abschließend wird die Figur der Amalia einer genaueren Betrachtung unterzogen. Für diese Figur wird zu zeigen sein, dass gleich mehrere durch den Text nahegelegte personenbezogene axiologische Werte zu einer Positivbewertung dieser Figur führen, so dass Amalia als Ausnahme von der oben genannten Regel betrachtet werden kann.

47

Zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn auch nicht durch die Betrachtung der sympathielenkenden Strukturen des Textes, kommt bereits Sheppards einflussreiche strukturalistische Studie. Er nennt insgesamt acht Typen von verfremdenden sprachlichen Einheiten, die zu einer Distanzierung des Lesers von K. beitragen würden (Parallelismen, Diskrepanzen, Leitmotive, Registerwechsel, Selbstreflexivität der Hauptfigur, indirekter erzählerischer Kommentar, direkter Kommentar über K. durch andere Figuren sowie Brüche in der Erzählperspektive). Vgl. Richard Sheppard, On Kafka’s Castle, 35–126. Miller kritisiert allerdings, dass die distanzierende Wirkung dieser Textstrukturen lediglich fakultativ sei, ihre tatsächliche Wirkung von Sheppard so nicht belegt werde. Insbesondere sei unklar, ob ein Leser die genannten Muster in ihrer Differenziertheit alle tatsächlich erkennen müsse, um zu einer distanzierten Haltung gegenüber K. zu gelangen. Vgl. Eric Miller, „Without a Key“, 134.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

157

3.2.1.1 Erzähltechnik und Charakterisierungsverfahren: K. als dominante Wahrnehmungs- und Bewertungsinstanz In Das Schloß teilt ein heterodiegetischer Erzähler die dargestellten Ereignisse mit,48 sie werden jedoch nahezu vollständig intern fokalisiert aus K.’s Perspektive berichtet.49 Somit ist es überwiegend K., der die wahrgenommenen Ereignisse und Figuren im Roman bewertet. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Sympathiewirkung einzelner Figuren wird dementsprechend zu rekonstruieren sein, inwiefern K.’s Beobachtungen und Wertungshandlungen zur Herausbildung einer stabilen Figurenwertung führen beziehungsweise inwiefern diese durch bestimmte erzähltechnische Mittel relativiert werden. Richard Sheppard hat bereits darauf hingewiesen, wie schwierig die Rekonstruktion der Werthierarchie im Roman ist: Given that an „authorial truth“, an „overall scheme“, do not exist in Das Schloß in the form of stated comment or easily discernible attitude, to what criteria or frame of reference is it possible for the reader to appeal if he is to evaluate the events and characters of the novel?50

Um diesem interpretatorischen Problem gerecht zu werden – das letztlich auf die Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion der axiologischen Werte zweiter Ordnung auf der Ebene des Textganzen verweist –, sollen zwei meines Erachtens zentrale Lesarten und damit verbunden zwei Arten der Bewertung vorgestellt werden, die in Bezug auf die Sympathiewirkung der Figur der Amalia zu demselben Ergebnis führen und mindes48

49

50

Zunächst hatte Kafka bekanntlich einen autodiegetischen Erzähler vorgesehen und erst später die ersten beiden Kapitel entsprechend umgearbeitet. Vgl. dazu z.B. Artikel „Das Schloß“, in A Franz Kafka-Encyclopedia, 245–248, hier 246 sowie Dorrit Cohn, „K. enters The Castle. On the Change of Person in Kafka’s Manuscript“. Friedrich Beißner hat bereits früh auf diesen Umstand hingewiesen: „Kafka erzählt, was anscheinend bisher nicht bemerkt worden ist, stets einsinnig, nicht nur in der Ich-Form, sondern auch in der dritten Person. Alles, was in dem Roman ,Der Verschollene‘ [...] erzählt wird, ist von Karl Roßmann gesehen und empfunden; nichts wird ohne ihn oder gegen ihn in seiner Abwesenheit erzählt, nur seine Gedanken, ganz ausschließlich Karls Gedanken und keines andern, weiß der Erzähler mitzuteilen. Und ebenso ist es im ,Prozeß‘ und im ,Schloß‘.“ Friedrich Beißner, Der Erzähler Franz Kafka, 28. Dieser Befund ist von Richard Sheppard leicht eingeschränkt worden, der auf insgesamt vier Textstellen verweist, die nicht aus K.’s Perspektive berichtet werden. Vgl. Richard Sheppard, On Kafka’s Castle, 26–29. Eric Miller spricht von insgesamt zwanzig nicht intern fokalisierten Textstellen, argumentiert jedoch, dass diese keineswegs dazu beitragen würden, K.’s Perspektive zu hinterfragen. Eric Miller, „Without a Key“, 133, 139. K.’s inneres Erleben wird überwiegend durch erlebte Rede und Psychonarration dargestellt. Vgl. ebd. 133. Für einen allgemeinen Überblick über die ältere Forschung zur Erzählstruktur des Romans vergleiche Richard Sheppard, „Das Schloß“, in Kafka-Handbuch 1979. Bd. 2, 455–459. Wichtige Arbeiten stammen von Heinz Politzer, Franz Kafka, Parable and Paradox; Winfried Kudszus, „Erzählhaltung und Zeitverschiebung in Kafkas ,Prozeß‘ und ,Schloß‘“; Hartmut Binder, Motiv und Gestaltung bei Franz Kafka; Klaus Peter Philippi, Reflexion und Wirklichkeit. Untersuchungen zu Kafkas Roman „Das Schloß“, Barbara Beutner, Die Bildsprache Franz Kafkas; Ulrich Fülleborn, „Zum Verhältnis von Perspektivismus und Parabolik in der Dichtung Kafkas“ und Dietrich Krusche, Kafka und Kafka-Deutung. Richard Sheppard, On Kafka’s Castle, 31.

158

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

tens zwei wichtige im Text ausgedrückte axiologische Werte berücksichtigen, ohne dass diese jedoch in ihrem Verhältnis zueinander gewichtet werden. Insgesamt erweist es sich als schwierig, Textstellen zu benennen, die die den sprachlichen Wertungshandlungen zugrunde liegenden axiologischen Werte explizit machen. Dass sich keinerlei Belege für wertende, hierarchisierbare Textpassagen finden lassen, wie Miller konstatiert, halte ich zwar für überzogen.51 Allerdings müssen diese in der Regel erst interpretatorisch eingeholt werden. Ein gegenteiliger Befund ergibt sich für die dargestellten Emotionen: Sie werden in vielfältiger Weise präsentiert, vor allem aber thematisiert. Allein diese Tatsache ist bereits signifikant: Eine eindeutige Zuordnung von potentiell emotional konnotiertem Figurenverhalten und der dahinter stehenden Emotion gelingt zumeist nicht direkt, vielmehr müssen die verschiedenen Möglichkeiten, wie dieses Verhalten zu deuten sei, erst einmal besprochen, thematisiert werden. Vor diesem Hintergrund ist also durchaus mit den verschiedensten empathischen Leserreaktionen zu rechnen. Mark Blum etwa argumentiert, dass der gesamte Romantext selbst als Einübung K.’s in empathische Verstehensprozesse gelesen werden könne. Eine Schlüsselrolle kommt dabei nach Blum der Momusepisode zu, in der K. zur Selbstreflexion und zum Nachdenken über sein Verhältnis zu den anderen Dorfbewohnern angeregt werde.52 Ob auch die Empathie des Lesers hierdurch angeregt wird, wird im Folgenden diskutiert. Das Schloß beginnt bekanntlich mit der Ankunft K.’s im Dorf: Es war spät abend als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehn, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke die von der Landstraße zum Dorf führt und blickte in die scheinbare Leere empor. (DS 7)53

Auch wenn am Anfang des Romans unklar ist, ob der Blick auf das Schloss intern fokalisiert aus K.’s Perspektive oder durch Nullfokalisierung aus der des Erzählers ge51 52

53

Vgl. Eric Miller, „Without a Key“, 136: „No even partially privileged moral or otherwise evaluative judgments show how to begin thinking about what is happening.“ Vgl. Mark F. Blum, „Will Tempered by Empathy Establishes Community: The Significance of Momus in Kafka’s Das Schloß“, v.a. 111, 117. Ähnlich argumentiert schon Richard Sheppard, On Kafka’s Castle, 128f. Diese Textstelle wird von Sheppard als eine derjenigen angeführt, in denen nicht K., sondern der Erzähler Wahrnehmungsinstanz sei. Richard Sheppard, On Kafka’s Castle, 26. Er argumentiert, dass K. nicht wissen könne, dass das Schloss vor ihm liegt, da K. später gegenüber Schwarzer angibt, von dessen Existenz nichts zu wissen (DS 8). Denkbar wäre allerdings auch, dass doch K. derjenige ist, aus dessen Sicht der Blick auf das Schloss geschildert wird, da K.’s Verhalten – wie noch zu zeigen sein wird – in erster Linie zweckrationalen Überlegungen folgt. Seine spätere Leugnung könnte somit der Absicht geschuldet sein, Schwarzer lediglich abzuwimmeln. Generell muss K.’s Äußerungen anderen Figuren gegenüber mit Skepsis begegnet werden. Die Art der Fokalisierung ist jedenfalls m.E. am Romanbeginn noch nicht eindeutig erkennbar. Lediglich externe Fokalisierung ist ausgeschlossen. Vgl. dazu auch Eric Miller, „Without a Key“, 136.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

159

schildert wird, so sind es doch K.’s Ankunft im Dorf und die damit verbundenen Situationen, die im Zentrum der Darstellung stehen und die den Leser auf K.’s raumzeitliche Perspektive einstellen. Die Raumwahrnehmung folgt K.’s Blick und Bewegungen. So geht der Leser zum Beispiel mit K. in den Gasthof, wo dieser einnickt und dann von Schwarzer geweckt wird. Das dazwischen liegende Geschehen wird elliptisch ausgespart. Als Schwarzer K. dann weckt, blickt K., auf dem Strohsack liegend, die ihn umgebenden Personen „von unten her“ (DS 8) an usw. Über alle Kapitel des Romans hinweg bleibt K. die die einzelnen Episoden miteinander verbindende Instanz, und es wird überwiegend aus seiner Sicht erzählt.54 Der Wiedergabe der direkten Rede anderer Figuren sowie einzelner nachweisbarer Wertungen des Erzählers kommt somit ein besonderes Gewicht bei der Analyse zu, bilden sie doch das einzige Korrektiv zu K.’s Deutung der von ihm wahrgenommenen Ereignisse und Situationen. Im Textverlauf wird schnell klar, dass es sich bei K. um eine „unzuverlässige Reflektorfigur“ handelt. So äußert er zuerst gegenüber Schwarzer, sich in das Dorf verirrt zu haben, kurz darauf behauptet er jedoch, als gräflicher Landvermesser bestellt worden zu sein (DS 8f). Diese „Unzuverlässigkeit“ lässt sich auf breiter Basis im Text nachweisen, da sie sowohl von den anderen Figuren als auch von K. selbst thematisiert und außerdem auch durch Inkonsistenzen in K.’s Äußerungen und Verhalten markiert ist. So gibt er z.B. vor, in seiner Heimat Frau und Kinder zu haben (DS 13), später verlobt er sich jedoch mit Frieda, ohne diesen Umstand weiter zu thematisieren (DS 119). Es handelt sich hierbei weder um eine im strikten Sinne axiologische noch um eine mimetische Unzuverlässigkeit55, sondern diese äußert sich in erster Linie in einer Unkenntnis der Gepflogenheiten im Dorf – besonders im Umgang mit dem Schloss und seinen Beamten – und seiner damit verbundenen Unfähigkeit, die Einstellungen und Gefühle seines Gegenübers adäquat zu deuten und sich entsprechend angemessen zu verhalten. Genauer ließe sich wohl am ehesten von einer „kontextge54

55

Miller impliziert eine damit verbundene emotionale Wirkung der Beklemmung, wenn er von einer „klaustrophobischen Perspektive“ spricht: „The purity of the figural narration excludes her [den Leser, C.H.] both from the world outside K. and from his own nonconscious inner life. She is trapped in the cramped liminal space between inner and outer worlds: i.e., in K.’s immediate conscious life. This claustrophobic perspective is her only entrance into the world of Das Schloß. At the same time, however, she is also denied any coherent understanding of that consciousness itself. She is cut off from it even as an organizing principle and thus finds herself floating in a vertiginous ocean of uninterpreted detail.“ Eric Miller, „Without a Key“, 136. Ähnlich argumentiert auch Beißner: „Kafka läßt dem Erzähler keinen Raum neben oder über den Gestalten, keinen Abstand von dem Vorgang. Es gibt darum bei ihm keine Reflexion über die Gestalten und über deren Handlungen und Gedanken. Es gibt nur den sich selbst (paradox praeterital [sic!]) erzählenden Vorgang: daher beim Leser das Gefühl der Unausweichlichkeit, der magischen Fesselung an das alles ausfüllende, scheinbar absurde Geschehen, daher die oft bezeugte Wirkung des Beklemmenden.“ Friedrich Beißner, Der Erzähler Franz Kafka, 35f. Es scheint durchaus plausibel, dass der Leser analog zu K., dem eine kohärente Deutung der Umgebung misslingt, empathisch mit verunsichert wird. Vgl. dazu unten Abschnitt 3.4.2. Vgl. Tom Kindt, Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne, 49.

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

160

bunden-epistemologischen“ Unzuverlässigkeit sprechen. Pointiert gesagt ist K. mit den im Dorf geltenden Verhaltens- und den damit verbundenen Emotionsregeln anscheinend nicht vertraut. Dies wird beispielsweise in den beiden Gesprächen mit der Wirtin des Öfteren thematisiert, so etwa im ersten Gespräch: „Nur deshalb sage ich es Ihnen, daß sie hinsichtlich der hiesigen Verhältnisse entsetzlich unwissend sind, der Kopf schwirrt einem, wenn man Ihnen zuhört und wenn man das was Sie sagen und meinen in Gedanken mit der wirklichen Lage vergleicht.“ (DS 90)

K. räumt seine Unwissenheit ebenfalls ein: „Freilich unwissend bin ich, die Wahrheit bleibt jedenfalls bestehn und das ist sehr traurig für mich, aber es hat doch auch den Vorteil, daß der Unwissende mehr wagt und deshalb will ich die Unwissenheit und ihre gewiß schlimmen Folgen gerne noch ein Weilchen tragen, solange die Kräfte reichen.“ (DS 91)

Im zweiten Gespräch wird die Fehleranfälligkeit von K.’s Einschätzungen und seinen auf diesen begründeten Handlungen gezeigt: „Nun werde ich“, sagte K., „wenn Sie erlauben eine grobe Frage stellen.“ Die Wirtin schwieg. „Ich darf also nicht fragen“, sagte K., „auch das genügt mir.“ „Freilich“, sagte die Wirtin, „auch das genügt Ihnen und das besonders. Sie mißdeuten alles, auch das Schweigen. Sie können eben nicht anders. Ich erlaube Ihnen zu fragen.“ „Wenn ich alles mißdeute“, sagte K., „mißdeute ich vielleicht auch meine Frage, vielleicht ist sie gar nicht so grob. “ (DS 129f)

An dieser Stelle wird auch deutlich, dass K.’s „Unwissenheit“ keineswegs zu einem wagemutigeren Verhalten führt. Besonders evident ist dies etwa in Kapitel 23, der Begegnung mit Bürgel, während der K. die Chance erhält „frei vor einem Mächtigen“ zu sprechen (DS 82), die er jedoch nicht für sich zu nutzen weiß. Diese Diskrepanz zwischen den Selbsteinschätzungen K.’s und seinem tatsächlichen Verhalten lassen sich im gesamten Romanverlauf immer wieder nachweisen. Entsprechend wertet auch der Erzähler: „Es war wirklich leicht K. beizukommen, [...].“ (DS 44) Häufig werden K.’s Fehleinschätzungen jedoch nicht als solche markiert. Zumeist bleiben zwei mögliche Erklärungen ein- und derselben Situation nebeneinander bestehen. Diese Ambivalenz sozialer Situationen ist kennzeichnend für die meisten der im Roman dargestellten Bewertungsprozesse, und sie erschwert die Herausbildung stabiler Figurenkonzepte – vor allem in Bezug auf das emotionale Erleben der Hauptfiguren. Über den gesamten Roman hinweg finden sich allerdings gehäuft Textmerkmale, die empathische Rezeptionsvorgänge ermöglichen. Zur Veranschaulichung liste ich für den Romananfang alle potentiell emotional konnotierten Textoberflächenphänomene tabellarisch auf. Ein solch kleinschrittiges Vorgehen wird in der Regel für die Textanalyse nicht notwendig sein, die Rekonstruktion empathieermöglichender Textstrukturen

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

161

kann je nach Fragestellung entsprechend verkürzt werden. Die tabellarische Übersicht dient hier zur Illustration des in Kapitel 2.3.1.2.1 vorgestellten Analyserasters: EMPATHIEERMÖGLICHENDE TEXTSTRUKTUR „[...], von dem späten Gast äußerst überrascht und verwirrt [...]“ (7) „einige hatten ihre Sessel herumgedreht um besser zu sehn und zu hören.“ (8)

DARGESTELLTE EMOTION Überraschung/ Verwirrung

ART DER DARSTELLUNG Präsentation, lexikalische Benennung Präsentation, mimisch-gestisch

ZUSCHREIBENDE INSTANZ K./Erzähler (Art der Fokalisierung unklar) Leser (durch Inferenzziehung)

SUB-

[„K. hatte sich halb aufgerichtet, hatte die Haare zurechtgestrichen, blickte die Leute von unten her an und sagte: ,In welches Dorf habe ich mich verirrt? Ist denn hier ein Schloß?‘“ (8)] „[...] während hier und dort einer den Kopf über K. schüttelte, [...]“

[Angst]

-

[K.]

Unklar: Verwunderung oder Ärger

Präsentation, mimisch-gestisch

[Leser (durch Inferenzziehung: vorausgesetzt ist, dass es sich hier um eine mit Angst konnotierte Bedrohungssituation handelt)] Leser (durch Inferenzziehung)

[„[...] fragte K., als wollte er sich davon überzeugen, ob er die früheren Mitteilungen nicht vielleicht geträumt hätte.“ (8)] „[...] und es lag darin ein grober Spott für K., als der junge Mann mit ausgestrecktem Arm den Wirt und die Gäste fragte: ,Oder muß man etwa die Erlaubnis nicht haben?‘“ (8) „,Jetzt um Mitternacht die Erlaubnis vom Herrn Grafen holen?‘ rief der junge Mann und trat einen Schritt zurück.“

[Angst/ Verwirrung]

[Präsentation, phonetischlautlich]

[Leser (durch Inferenzziehung)]

[K.]

Verachtung

Präsentation, lexikalische Benennung, mimischgestisch, phonetisch-lautlich

K./Erzähler

Schwarzer

Unklar: Überraschung/ Empörung

Präsentation, phonetischlautlich, mimischgestisch

Leser (durch Inferenzziehung)

Schwarzer

Neugier

JEKT

Wirt

Bauern

Bauern, Wirt

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

162 EMPATHIEERMÖGLICHENDE TEXTSTRUKTUR „Nun geriet aber der junge Mann außer sich, ,Landstreichermanieren!‘ rief er, ,ich verlange Respekt vor der gräflichen Behörde!“ (9) „,Genug der Komödie‘ sagte K. auffallend leise, legte sich nieder und zog die Decke über sich, ,Sie gehn junger Mann ein wenig zu weit und ich werde morgen noch auf Ihr Benehmen zurückkommen. [...] Deshalb habe ich mich auch mit diesem Nachtlager hier begnügt, das zu stören Sie die – gelinde gesagt – Unhöflichkeit hatten. Damit sind meine Erklärungen beendet. Gute Nacht, meine Herren.“ (9f)

DARGESTELLTE EMOTION Wut/ Empörung

ART DER DARSTELLUNG Präsentation, lexikalische Benennung, phonetisch-lautlich

ZUSCHREIBENDE INSTANZ K./Erzähler

Unklar: Wut oder Angst

Präsentation, implizit lexikalisch („Komödie“, „ein wenig zu weit“, „gelinde gesagt“, „Unhöflichkeit“) Wut; mimischgestisch Angst; phonetisch-lautlich („auffallend leise“) unentscheidbar (unterdrückte Wut oder Angst)

Leser (durch Inferenzziehung)

K.

„Wie, auch ein Telephon war in diesem Dorfwirtshaus? Man war vorzüglich eingerichtet. Im einzelnen überraschte es K., im Ganzen hatte er es freilich erwartet.“ (10) „Er sah die Bauern scheu zusammenrücken und sich besprechen, die Ankunft eines Landvermessers war nichts Geringes.“ (10)

Überraschung/ Bewunderung

Präsentation, grammatischsyntaktisch, implizit lexikalisch („vorzüglich“)

Leser (durch Inferenzziehung)

K.

Angst/ furcht

Präsentation, mimisch-gestisch, lexikalische Benennung („scheu“), implizit lexikalisch („nichts Geringes“)

Leser (durch Inferenzziehung)

Bauern

Ehr-

SUBJEKT

Schwarzer

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

163

EMPATHIEERMÖGLICHENDE TEXTSTRUKTUR „Die Tür der Küche hatte sich geöffnet, türfüllend stand dort die mächtige Gestalt der Wirtin, auf den Fußspitzen näherte sich ihr der Wirt, um ihr zu berichten.“ (10)

DARGESTELLTE EMOTION Angst/ Ehrfurcht (Objekt unklar: Wirtin oder Gäste)

ART DER DARSTELLUNG Präsentation, mimisch-gestisch, implizit lexikalisch („die mächtige Gestalt“)

ZUSCHREIBENDE INSTANZ Leser (durch Inferenzziehung)

SUB-

„Das Gewecktwerden, das Verhör, die pflichtgemäße Androhung der Verweisung aus der Grafschaft habe K. sehr ungnädig aufgenommen, [...]. “ (11)

Ärger

Präsentation, lexikalische Benennung („ungnädig“)

Schwarzer

K.

„[...] K. blieb wie bisher, drehte sich nicht einmal um, schien gar nicht neugierig, sah vor sich hin.“ (11)

Unklar: gier

Präsentation, lexikalische Benennung in Verbindung mit „schien“

Unklar: Schwarzer, K., Bauern, Wirt, Wirtin, Erzähler

K.

„Die Erzählung Schwarzers in ihrer Mischung aus Bosheit und Vorsicht gab ihm eine Vorstellung von der gewissermaßen diplomatischen Bildung, über die im Schloß selbst so kleine Leute wie Schwarzer leicht verfügten.“ (11)

Bosheit

Präsentation, lexikalische nennung

K.

Schwarzer

„[...], denn sofort warf Schwarzer wütend den Hörer hin. ,Ich habe es ja gesagt‘, schrie er, ,keine Spur von Landvermesser, ein gemeiner lügnerischer Landstreicher, wahrscheinlich aber ärgeres.‘“ (12)

Wut

K.

Schwarzer

Neu-

Be-

Präsentation, lexikalische Benennung, phonetisch-lautlich, implizit lexikalisch („gemeiner lügnerischer Landstreicher“)

JEKT

Wirt

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

164 EMPATHIEERMÖGLICHENDE TEXTSTRUKTUR „Einen Augenblick dachte K., alles, Schwarzer, Bauern, Wirt und Wirtin würden sich auf ihn stürzen, um wenigstens dem ersten Ansturm auszuweichen verkroch er sich ganz unter die Decke, da – er steckte langsam den Kopf wieder hervor – läutete das Telephon nochmals und wie es K. schien, besonders stark.“ (12)

DARGESTELLTE EMOTION Angst

„Und wenn man glaubte durch diese geistig gewiß überlegene Anerkennung seiner Landvermesserschaft ihn dauernd in Schrecken halten zu können, so täuschte man sich, es überschauerte ihn leicht, das war aber alles.“ (12f) „Dem sich schüchtern nähernden Schwarzer winkte K. ab; ins Zimmer des Wirtes zu übersiedeln, wozu man ihn drängte, weigerte er sich, nahm nur vom Wirt einen Schlaftrunk an, von der Wirtin ein Waschbecken mit Seife und Handtuch und mußte gar nicht erst verlangen, daß der Saal ge-

Schrecken/ Angst [Bewunderung] – Freude56

Angst/ furcht

56

Ehr-

ART

ZUSCHREIBENDE INSTANZ Leser (durch Inferenzziehung)

SUB-

Präsentation, lexikalische Benennung, physiologisch („überschauerte“) [implizit lexikalisch („geistig gewiß überlegene“)]

K.

K.

Präsentation, implizit lexikalisch („schüchtern“), mimischgestisch

K.

Schwarzer/ Bauern/ Wirt/ Wirtin

DER

DAR-

STELLUNG

Präsentation, mimischgestisch

JEKT

K.

Auffällig ist hier, dass sich keine Textfaktoren finden lassen, die auf eine Freudenreaktion schließen lassen, obwohl eine solche in Anbetracht der Abwendung einer gefährlichen Situation und der Anerkennung als Landvermesser zu erwarten gewesen wäre.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

165

leert werde, denn alles drängte mit abgewendeten Gesichtern hinaus, um nicht etwa morgen von ihm erkannt zu werden, [...].“ (13) EMPATHIEERMÖGLICHENDE TEXTSTRUKTUR

DARGESTELLTE EMOTION

ART

DER

STELLUNG

DAR-

ZUSCHREIBENDE INSTANZ

SUBJEKT

Die tabellarische Auflistung zeigt, dass gerade K.’s emotionales Erleben nur durch teilweise aufwändige Inferenzziehungen rekonstruiert werden kann beziehungsweise eine eindeutige Zuschreibung emotionaler Zustände zu K. teilweise gar nicht möglich ist. Da sich gleich am Romanbeginn eine prototypisch emotional konnotierte Bedrohungssituation für K. ergibt, ist dieser Befund umso interessanter. Um emotional auf K. reagieren zu können, muss der Rezipient also relativ komplexe Vorannahmen machen, um K.’s emotionalen Zustand simulieren und gegebenenfalls auf diesen reagieren zu können. Die Wahrscheinlichkeit einer direkten emotionalen Ansteckung ist hierbei gering, ein Primacy-Effekt wird durch den Text eher erschwert. Wahrscheinlicher ist, dass Rezipienten mitleidsvoll reagieren, so lange sie keine Informationen aus dem Ko-Text erhalten, die K. als Opfer einer für ihn unüberblickbaren Bedrohungssituation in Frage stellen. Nach der ersten Handlungssequenz ändert sich dies jedoch: K. wird als Figur gezeigt, die bemüht ist den Wirt für seine Zwecke zu manipulieren, K.’s eigenes emotionales Erleben wird einfacher rekonstruierbar etc. Allgemein ist festzuhalten, dass die empathieermöglichenden Textstrukturen sich zum Teil widersprechen oder durch die Verwendung von Modalwörtern, Konjunktivformen oder Ähnlichem in ihrer Gültigkeit eingeschränkt sind, so dass die eindeutige Zuordnung emotionaler Zustände zu einzelnen Figuren in der Regel nicht möglich ist. Dies lässt sich vor allem für die K. nahe stehenden und hier vor allem die Frauenfiguren feststellen. Als Beispiel sei Frieda genannt, deren Hinwendung zu K. entweder im Rahmen eines romantisch-altruistischen Liebeskonzepts oder aufgrund von zweckrationalen Überlegungen erklärt werden kann: So beteuert Frieda selbst, dass sie einzig mit K. zusammen sein will und ihn nur verlassen habe, weil er sie im Stich gelassen habe (DS 216, 393, 399). Gleichzeitig bleibt jedoch unklar, ob Friedas Hinwendung zu K. nicht ein taktisches Manöver gewesen sein könnte, um Klamms Aufmerksamkeit oder das der Herrenhofbesucher zu erregen, wie Pepi vermutet (DS 464), oder lediglich aus Mitleid erfolgt ist, wie die Wirtin angibt (DS 88). Dies hat zur Folge, dass die Deutungsversuche von Intentionen und Gefühlen der Figuren selbst zum Redegegenstand im Roman werden und viele Dialoge im Kern Kontroversen darüber darstellen, in welcher Weise eine Figur empfindet. Thema sind die emotionalen Zustände anderer Figuren zum Beispiel in den Auseinandersetzungen zwischen K. und der Wirtin über Frieda (Kapitel 4 und 6), im Gespräch zwischen K. und

166

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Frieda über deren Gefühle für K. und die Gehilfen (Kapitel 12, 22), im Dialog mit Pepi (Kapitel 25) und vor allem in K.’s und Olgas Unterhaltung über Amalia. Insgesamt ist der Anteil der Dialoge am Gesamttext im Schloß im Vergleich zu den früheren Romanen Kafkas am größten.57 Diese Kontroversen führen in der Regel jedoch zu keinem letztgültigen Ergebnis und binden somit zwei sich widersprechende Informationen an dieselbe Figur. K.’s eigenes Erleben wird vom Erzähler dagegen meist unzweideutig wiedergegeben. Allerdings werden auch diese Aussagen vom Erzähler gelegentlich durch den Gebrauch des Konjunktivs oder von Modalwörtern eingeschränkt.58 K.’s eigene Aussagen über sein emotionales Erleben haben einen geringeren Stellenwert in Bezug auf ihre Zuverlässigkeit, da hier immer die Möglichkeit besteht, dass sie taktischen Überlegungen entsprungen sein könnten, also nicht zwingend eine Äquivalenz zwischen Emotionsmanifestation und Gefühl angenommen werden kann. K. nimmt Situationen und Ereignisse überwiegend im Schema des Kampfes wahr und deutet sie entsprechend:59 K. horchte auf. Das Schloß hatte ihn also zum Landvermesser ernannt. Das war einerseits ungünstig für ihn, denn es zeigte, daß man im Schloß alles Nötige über ihn wußte, die Kräfteverhältnisse abgewogen hatte und den Kampf lächelnd aufnahm. Es war aber andererseits auch günstig, denn es bewies seiner Meinung nach, daß man ihn unterschätzte und daß er mehr Freiheit haben würde als er hätte von vornherein hoffen dürfen. (DS 12)

Das direkte Ziel dieses Kampfes bleibt allerdings unklar. Mehrere Möglichkeiten werden genannt, zum Beispiel als Landvermesser aufgenommen zu werden beziehungsweise eine entsprechende Aufgabe zu erhalten (DS 268, Ziel 1), „frei vor einem Mächtigen gesprochen zu haben“ (DS 82, Ziel 2) oder auch nur „im Schloß etwas zu erreichen“ (DS 42, Ziel 3). Das erstgenannte Ziel lässt sich unter das letztgenannte subsumieren, Ziel 3 lässt sich als Hauptziel auffassen, zu dessen Erreichen vorher Ziel 2 erreicht werden muss. K. scheitert im Laufe des Romans schon an der Verwirklichung von Ziel 2. So ist er beispielsweise nach dem Gespräch mit Momus im Zweifel, „ob man standgehalten oder nachgegeben hatte.“ (DS 186) Auch wenn Ziel 2 und 3 vage bleiben, bestimmen sie doch K.’s Handlungen und sind, wie noch zu zeigen sein wird, deutlich emotional konnotiert.60 Um K.’s Zielvorstellungen zu konkretisieren könnte natürlich das Bemühen um die Anerkennung der Landvermesserschaft angeführt werden. Sie 57 58

59

60

Vgl. Dietrich Krusche, Kafka und Kafka-Deutung, 51f. Vgl. zum Beispiel gleich zu Beginn: „Wieder stand K. still, als hätte er im Stillestehn mehr Kraft des Urteils.“ (DS 18) Solche Passagen finden sich vor allem am Romananfang. Vgl. dazu Eric Miller, „Without a Key“, 137. Beutner listet für Das Schloß 72 Textstellen auf, an denen das Wort „Kampf“ erwähnt wird. Dem stehen noch einmal 72 Textstellen aus den anderen literarischen Texten Kafkas gegenüber. Insgesamt gehört das Vorstellungsbild des Kampfes mit 144 Textstellen zu den am häufigsten genannten Bildfeldern bei Kafka. Barbara Beutner, Die Bildsprache Franz Kafkas, 144–149, 305–307. Vgl. zum Schema des Kampfes auch Michael Müller, „Das Schloß“, in Kafka-Handbuch 2008, 524. Zu den divergierenden Forschungsmeinungen über K.’s eigentliches Handlungsziel vgl. Richard Sheppard, „Das Schloß“, 461f.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

167

scheint jedoch nicht das letztendliche Ziel dieses Kampfes zu sein, denn seine vorübergehende Aufnahme am Romananfang fasst K. ja nur als den Beginn desselben auf. Es geht K. darum, eine wie auch immer geartete Nähe zum Schloss und seinen Beamten herzustellen und von dieser Instanz Anerkennung zu erfahren oder in irgendeiner Weise einen Sieg über sie zu erringen. Worin sich dieser errungene Sieg beziehungsweise die erfolgte Anerkennung äußern soll und wie genau dieser Wunsch K.’s motiviert ist, bleibt vage und wird nicht weiter ausgeführt. Die zentralen mit dem Wahrnehmungsmuster des Kampfes einhergehenden Emotionen sind Angst, teilweise auch Scham, und Freude, die wesentlich an den Eindruck einer vermeintlichen Unter- beziehungsweise Überlegenheit K.’s gekoppelt sind. So reagiert er auf die Aufnahme als Landvermesser nach dem Telefongespräch Schwarzers furchtsam:61 „Und wenn man glaubte durch diese geistig gewiß überlegene Anerkennung seiner Landvermesserschaft ihn dauernd in Schrecken halten zu können, so täuschte man sich, es überschauerte ihn leicht, das war aber alles.“ (DS 12f, Hervorhebungen von mir, C.H.) Über das Angebot, als Arbeiter im Dorf zu bleiben, die K. als Abwertung empfindet, wird gesagt: K. wußte, daß nicht mit wirklichem Zwang gedroht war, den fürchtete er nicht und hier am wenigsten, aber die Gewalt der unmerklichen Einflüsse jedes Augenblicks, die fürchtete er allerdings, aber mit dieser Gefahr mußte er den Kampf wagen. Der Brief verschwieg ja auch nicht, daß, wenn es zu Kämpfen kommen sollte, K. die Verwegenheit gehabt hatte, zu beginnen [...]. (DS 43) [...]; ohne daß er es sich selbst erklären konnte, fühlte er sich Klamm gegenüber nicht so frei, wie sonst gegenüber dem Schloß, von ihm hier [im Herrenhof, C.H.] ertappt zu werden, wäre für K. zwar kein Schrecken im Sinne des Wirtes, aber doch eine peinliche Unzukömmlichkeit gewesen, so etwa als würde er jemanden, dem er zu Dankbarkeit verpflichtet war, leichtsinnig einen Schmerz bereiten, dabei aber bedrückte es ihn schwer zu sehn, daß sich in solcher Bedenklichkeit offenbar schon die gefürchteten Folgen des Untergeordnetseins, des Arbeiterseins zeigten und daß er nicht einmal hier wo sie so deutlich auftraten, imstande war sie niederzukämpfen. (DS 58)

In Bezug auf die gefürchtete Instanz selbst reagiert K. komplementär mit Bewunderung – so zum Beispiel im Gespräch mit dem Vorsteher, als er von einer „bewunderungswürdigen Einheitlichkeit des Dienstes“ spricht (DS 92). Das Gegenstück zu der Angst, sich jemand anderem gegenüber unterlegen zu fühlen, bildet die Freude über die mit einem Sieg verbundene Überlegenheit, wie sie zum Beispiel von K. erinnert wird, als er an die Besteigung der Friedhofsmauer in seiner Heimat zurückdenkt: 61

Ich verwende Furcht und Angst hier weitgehend Synonym. Der Furchtbegriff wird spätestens seit Kierkegaard häufig favorisiert, wenn es darum geht zu betonen, dass das entsprechende Gefühl auf etwas Bestimmtes gerichtet ist, Angst eher, um dessen spezifische leibliche Qualität hervorzuheben. Diese begriffliche Trennung lässt sich aber nicht durchgängig aufrechterhalten. Vgl. Christoph Demmerling und Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle, 83f.

168

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven Noch rieselte Gerölle unter ihm ab, schon war er oben. Er rammte die Fahne ein, der Wind spannte das Tuch, er blickte hinunter und in die Runde, auch über die Schulter hinweg auf die in der Erde versinkenden Kreuze, niemand war jetzt und hier größer als er. Zufällig kam dann der Lehrer vorüber, trieb K. mit einem ärgerlichen Blick hinab, beim Absprung verletzte sich K. am Knie, nur mit Mühe kam er nachhause, aber auf der Mauer war er doch gewesen, das Gefühl dieses Sieges schien ihm damals für ein langes Leben einen Halt zu geben, was nicht ganz töricht gewesen war, denn jetzt in der Schneenacht am Arm des Barnabas kam es ihm zuhilfe. (DS 49f)

Dass es sich hier um eine freudige Reaktion handelt, muss aus der Tatsache geschlossen werden, dass die beschriebene Situation des Sieges stereotyp emotional konnotiert ist und in der Regel von Freude begleitet erfahren wird. Mindestens jedoch handelt es sich im vorliegenden Fall um eine eindeutig positiv konnotierte Emotion. In ähnlicher Weise löst auch die Nähe zu Klamm bei K. Freude aus. Als Frieda ihm ihre Vermutung mitteilt, dass Klamm selbst sie und K. zusammengeführt habe, reagiert er mit den entsprechenden Emotionen: „,Wenn es so ist‘, sagte K. langsam, denn süß waren Friedas Worte, er schloß paar Sekunden lang die Augen, um sich von den Worten durchdringen zu lassen, ,wenn es so ist, ist noch weniger Grund, sich vor einer Aussprache mit Klamm zu fürchten.‘“ (DS 84) Hier ist K.’s Angst durch die vermutete Ebenbürtigkeit mit Klamm in seiner Verbindung mit Frieda in Freude beziehungsweise Wohlbehagen umgeschlagen. K.’s jeweilige Selbsteinschätzung als Unter- oder Überlegener verdankt sich einem ausgeprägten Hierarchiedenken und ist eng an die beiden Emotionen Angst und Freude gebunden. Im vorliegenden Zusammenhang sei auch noch einmal daran erinnert, dass aus soziologischer Perspektive die sozialen Dimensionen ,Status‘ und ,Macht‘ und vor allem Veränderungen hinsichtlich dieser Dimensionen als wesentlich emotionsauslösende Anlässe betrachtet werden.62 Der Konnotation von Freude in Verbindung mit dem Erreichen einer hohen Hierarchiestufe beziehungsweise eines Sieges wie dem Erklettern der Friedhofsmauer liegt aus einer leibzentrierten, kognitionspsychologisch argumentierenden Untersuchungsperspektive wie der der Cognitive Poetics die konzeptuelle Metapher ,HAPPINESS IS UP‘ zugrunde.63 Dieser Vorgang der leibzentrierten Semantisierung von Räumen und der mit ihr verbundenen emotional getönten Konnotation von Freude lässt sich z.B. auch anhand von K.’s Schilderung des Kirchturms in seiner Heimat belegen: Jener Turm, bestimmt, ohne Zögern, geradenwegs nach oben sich verjüngend, breitdachig abschließend mit roten Ziegeln, ein irdisches Gebäude – was können wir anderes bauen? – aber mit höherem Ziel als das niedrige Häusergemenge und mit klarerem Ausdruck als ihn der trübe Werktag hat. (DS 18)

Der Turm wird hier anthropomorphisiert und in seinem „Ausdrucksverhalten“ durch Kontrastbildung zum „trübe[n] Werktag“ als „freudig“ markiert. Als der „Überlegene“,

62 63

Vgl. dazu Jürgen Gerhards, Soziologie der Emotionen, 198. Vgl. z.B. Peter Crisp, „Conceptual metaphor and its expression“, 99–113, hier 106.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

169

Höhere wird er dem Turm des Schlosses gegenübergestellt, der ebenfalls personifiziert und wie der Werktag als „trübe“ dargestellt wird: [...] der Turm eines Wohnhauses, wie sich jetzt zeigte, vielleicht des Hauptschlosses, war ein einförmiger Rundbau, zum Teil gnädig von Epheu verdeckt, mit kleinen Fenstern, die jetzt in der Sonne aufstrahlten – etwas Irrsinniges hatte das – und einem söllerartigen Abschluß, dessen Mauerzinnen unsicher, unregelmäßig, brüchig wie von ängstlicher oder nachlässiger Kinderhand gezeichnet sich in den blauen Himmel zackten. Es war wie wenn irgendein trübseliger Hausbewohner, der gerechter Weise im entlegensten Zimmer des Hauses sich hätte eingesperrt halten sollen, das Dach durchbrochen und sich erhoben hätte, um sich der Welt zu zeigen. (DS 18)64

Die Raumdarstellung im Schloß, genauer die Darstellung von Proportionen und Relationen folgt also ko-textuell markiert einer bestimmten emotionalen Valenz. Der Wunsch K.’s nach einem irgendwie gearteten sozialen Aufstieg im Dorf oder auch einem Sieg über das Schloss steuert maßgeblich sein Verhalten. Andere Figuren scheinen für ihn oft nur dann interessant, wenn sie ihm dazu dienlich sein können, dieses Ziel zu erreichen. So beginnt er z.B. den Fuhrmann Gerstäcker, der ihn zum Wirtshaus zurückgebracht hat, schon zu vergessen, während er noch die Treppe zum Gasthof hinaufgeht. (DS 31) Auch ihm näherstehenden Figuren gegenüber wie z.B. Olga oder Frieda verhält sich K. meist selbstsüchtig. In diesem Sinne kann K.’s Verhalten stets als zweckrational motiviert interpretiert werden, all seine persönlichen Beziehungen scheinen danach beurteilt zu werden, inwiefern sie ihm einen Vorteil verschaffen könnten.65 Nachdem ihn Olga beispielsweise in den Herrenhof gebracht hat, schwindet K.’s Interesse an ihr sofort und er wendet sich umgehend dem Wirt zu, um mit diesem über einen Schlafplatz in dem von den Schlossdienern und -beamten besuchten Gasthaus zu verhandeln. Dieses auf den eigenen Vorteil bedachte Zweckdenken wird selbst vom sonst kaum greifbaren Erzähler negativ bewertet: „K. aber, undankbar, machte sich von Olga los und nahm den Wirt beiseite, Olga wartete unterdessen geduldig am Ende des Flurs.“ (DS 56, Hervorhebung von mir, C.H.)66 64

65 66

Vgl. zur konzeptuellen Verbindung von Überlegenheit beziehungsweise Macht und Körpergröße auch die Beschreibung von Kafkas Vaterfiguren in Das Urteil und Die Verwandlung. Interessant wäre hier eine genauere Untersuchung der Raumwahrnehmung K.’s im Gesamtverlauf des Roman Wenig hilfreich ist Jeong-Suk Kim, Franz Kafka. Darstellung und Funktion des Raumes in ,Der Prozeß‘ und ,Das Schloß‘. Vgl. Michael Müller, „Das Schloß“, 524f. Diese einzige deutliche Negativbewertung K.’s hebt auch Miller hervor. Eric Miller, „Without a Key“, 133f. Insgesamt geht er jedoch von der Annahme aus, der Erzähler des Schlosses erfülle eine bloße „Platzhalterfunktion“ und spricht in diesem Zusammenhang von einem „empty narrator“ (Ebd. 139). Gerade weil die Wertungen des Erzählers aber so selten sind, fallen sie umso mehr ins Gewicht und können eine entsprechende distanzierende Wirkung entfalten. Einschränkend muss konstatiert werden, dass die beschriebene Figurenwertung nicht dem Erzähler zugeschrieben werden muss, sondern auch intern fokalisiert aus K.’s Perspektive erzählt sein kann. In diesem Falle wäre es K., der sein eigenes Verhalten selbst unter moralischen Gesichtspunkten abwertet.

170

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Ein als genuin altruistisch zu bezeichnendes Verhaltensmuster ist dagegen nur selten zu finden beziehungsweise ein entsprechend interpretierbares Verhalten kann in der Regel ebenso gut im Sinne zweckrationaler Überlegungen gedeutet werden. Hier könnte man natürlich einwenden, dass beide Erklärungsmuster auch nebeneinander bestehen könnten. Dies erscheint mir jedoch deswegen fragwürdig, weil K. uneigennützige Motive in der Regel immer dann anführt, wenn er einen bestimmten Nutzen von dieser Behauptung hat oder keine weitere Handlungsoption zur Verfügung steht. K.’s Verhalten scheint allerdings von einem Gefühl von Einsamkeit67 und damit verbundener Traurigkeit, sogar Verzweiflung begleitet zu sein. Bevor er die Gehilfen erkennt, will er von ihnen mitgenommen werden, um nicht allein zu sein, nachdem er von Lasemann hinausgeworfen worden ist. Sie gehen aber an ihm vorüber, ohne dass K. sich ihnen anschließt oder dazu aufgefordert wird: „Dorthin [ins Wirtshaus, C.H.] gehe ich auch“, schrie K. auf einmal mehr als alle andern, er hatte großes Verlangen von den zwei mitgenommen zu werden; ihre Bekanntschaft schien ihm nicht sehr ergiebig aber gute aufmunternde Wegbegleiter waren sie offenbar. Sie aber hörten K.’s Worte, nickten jedoch nur und waren schon vorüber. [...] „Gelegenheit zu einer kleinen Verzweiflung“, fiel ihm ein, „wenn ich nur zufällig, nicht absichtlich hier stünde.“ (DS 26f)

Auf vokal-nonverbaler Ebene drückt sich hier die Verzweiflung aus, die K. durch Überlegung zu unterdrücken versucht. Diese Art von Gedankenbewegung, die ihm dazu dient, das Empfinden von Trauer und Verzweiflung angesichts von Ohnmacht und Einsamkeit zu kaschieren, indem er ihm widerfahrende Ereignisse in intentional-voluntative Akte umdeutet, ist typisch für ihn. Es erschwert den empathischen Zugang zu K., da so – ganz im Sinne der erzählperspektivischen Anlage des Romans – detailliertere Schilderungen seines emotionalen Zustandes im Text kaum vorkommen, dieser lediglich angedeutet wird. Die Simulation von K.’s emotionalem Erleben erfordert somit eine höhere „Eigenleistung“ des Rezipienten. K.’s Wunsch nach Nähe und Geborgenheit konfligiert im Übrigen, wie das obige Zitat verdeutlicht, immer wieder mit seinem Wunsch nach Auseinandersetzung mit den Schlossbehörden, welchem er in der Regel auch Priorität gibt. Beide Wünsche sind nicht dichotom organisiert, sondern der eine kann unter den anderen subsumiert werden. Dies legt zum Beispiel der Umstand nahe, dass K.’s Aufenthalt in Klamms Schlitten ein Gefühl von Behaglichkeit und Freude auslöst und von der Vorstellung einer engen persönlichen Nähe und Bindung begleitet ist: Er holte eine [Flasche, C.H.] hervor, schraubte den Verschluß auf und roch dazu [sic!], unwillkürlich mußte er lächeln, der Geruch war so süß, so schmeichelnd, so wie wenn man von jemand, den man sehr lieb hat, Lob und gute Worte hört und gar nicht mehr weiß, um was es sich handelt und es gar nicht wissen will und nur glücklich ist in dem Bewußtsein, daß er es ist, der so spricht.“ (DS 164) 67

Entsprechend äußert er sich dem Lehrer gegenüber: „Könnte ich Sie Herr Lehrer einmal besuchen? Ich bleibe hier längere Zeit und fühle mich schon jetzt ein wenig verlassen, zu den Bauern gehöre ich nicht und ins Schloß wohl auch nicht.“ (DS 20)

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

171

Das Ziel dieses Nähebedürfnisses scheinen also in erster Linie die Schlossbehörden selbst und ihre Vertreter zu sein, nicht die Dorfbewohner. Generell bleibt festzuhalten, dass K. sich aus dem Antrieb nach Akzeptanz bei den Schlossbehörden und bei Klamm heraus immer wieder „undankbar“ gegenüber ihm nahe stehenden Personen verhält, also aus Sicht des Erzählers ein negativ bewertetes Verhalten zeigt. Werttheoretisch ausbuchstabiert wäre hier grob als axiologischer ein moralischer Wert der Kooperationsbereitschaft und Dankbarkeit für erwiesene Hilfeleistung anzunehmen, der K.’s Verhalten eindeutig nicht attribuiert wird. Die Bezeichnung „undankbar“ fällt unter die expliziten Bewertungstypen in negierender Verwendungsweise und dürfte somit relativ unstrittig als Beleg für einen entsprechend anzunehmenden Wertmaßstab herangezogen werden können. Da dieser im Romantext so nur selten eindeutig greifbar ist, kommt dieser Textstelle entsprechend hohes interpretatorisches Gewicht zu. Auch Friedas Vorwürfe gegenüber K. können auf diesen axiologischen Wert bezogen verstanden werden.68 Somit lassen sich zwei Figurenkonzepte von K. mit je unterschiedlichen Informationen über seine Persönlichkeit bilden: Im ersten Fall ist K. ein einsamer, trauriger und verzweifelter Fremder im Dorf, der sich nach seiner Heimat zurücksehnt und sich von seiner Umgebung Akzeptanz und Anerkennung wünscht (K1), im anderen Fall ein egozentrischer, eigennützig handelnder und undankbarer Karrierist und Opportunist (K2). Welches der beiden Konzepte und der damit verbundenen Sympathiewerte im Rezeptionsprozess realisiert wird, lässt sich deswegen schwer angeben, weil gewisse für solche Hypothesen benötigte Zusatzinformationen aus dem Ko-Text nicht erschließbar sind, so etwa das letztendliche Ziel von K.’s Bemühungen oder der Grund für seinen Aufenthalt im Dorf.69 Es ist aber zu vermuten, dass eine sympathisch orientierte Lesehaltung K. gegenüber aus zwei Gründen eher erschwert wird: Das erste Figurenkonzept (K1) wird vor allem zu Beginn des Romans aufgebaut und beruht wesentlich auf Informationen, die durch K.’s eigene Äußerungen erschließbar sind, sowie auf Schilderungen seines emotionalen Erlebens durch den Erzähler. Im Laufe der Lektüre wird jedoch zunehmend deutlich, dass K. einerseits nicht alle wahrgenommenen Situationen adäquat deutet und andererseits innerhalb der Diegese nicht alle seine Äußerungen zutreffend sein können.70 So ist es entweder nicht richtig, dass er eine Ehefrau und Kinder in seiner Heimat zurückgelassen hat, und er hat in dieser Hinsicht gelogen, um sich den Brücken68 69 70

„[...], mein einziger Wert für Dich ist, daß ich Klamms Geliebte war, [...].“ (DS 245) Vgl. dazu auch Peter Benson, „Entering the Castle“, 82, 89. Vorausgesetzt wird hier, dass es sich um eine physikalisch mögliche Welt handelt, in der nicht gleichzeitig zwei sich widersprechende Propositionen wahr sein können, sowie dass widersprüchliche Äußerungen K.’s nicht auf Fehler des Autors zurückzuführen sind. Der zweite Aspekt kann jedoch dann für die Analyse unberücksichtigt bleiben, wenn eine befriedigende Erklärung der auftretenden Widersprüche angegeben werden kann, die sich kohärent in die Deutung des Textganzen einfügt – es geht ja in diesem Fall um die Simulation eines Rezeptionsvorgangs, der in der Regel ohne editionsphilologisches oder autorspezifisches Kontextwissen erfolgt.

172

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

hofwirt gewogen zu machen, oder aber die Verlobung mit Frieda ist unrechtmäßig und sie ist von K. belogen worden.71 Von dieser Information hängt aber wesentlich ab, inwiefern K.’s Lebenssituation Mitgefühl hervorrufen kann oder eben nicht, ob es sich zum Beispiel um eine selbstverschuldete oder eine erzwungene Einsamkeit handelt, unter der K. zu leiden hat. Darüber hinaus kann K.’s Verhalten anderen Figuren gegenüber, wie oben bereits ausgeführt worden ist, als deutlich von zweckrationalen Erwägungen geleitet erklärt werden; gleichzeitig erhofft er sich jedoch von den anderen Figuren uneigennützige Hilfe, wie zum Beispiel unterhalten, geführt, mitgenommen oder geliebt zu werden – ohne sich für diese Hilfeleistungen seinerseits im Anschluss dankbar zu erweisen. Dieses Verhaltensmuster wird in den einzelnen Episoden des Romans immer wieder vorgeführt und stellt das „mitgefühlsgenerierende“ Potenzial von K1 in Frage. Hinzu kommt, dass K.’s Wertschätzung von Siegerfiguren einer Mitleidsethik zuwiderläuft, die eine sympathiegeleitete Lesehaltung ihm gegenüber wahrscheinlicher machen würde, da K. doch immer wieder in Situationen gerät, in denen er nach seiner Selbsteinschätzung unterlegen ist. Übernähme der Leser diese Werthaltung K.’s, müsste er ein negatives Werturteil diesem gegenüber vertreten. Somit ist davon auszugehen, dass die Haltung dem Protagonisten gegenüber sich im Laufe der Lektüre zu größerer Distanz hin verschiebt. Selbst wenn jedoch K. gegenüber eine weniger vereindeutigende Bewertung bevorzugt und den nur selten vorkommenden Erzählerwertungen ein weniger großes Gewicht beigelegt wird, lässt sich als Minimalkonsens wohl festhalten, dass eine deutlich auf Sympathie basierende Lesehaltung aus einer an Textstrukturen orientierten Untersuchungsperspektive kaum plausibel zu machen ist. Sie scheitert an der Ambivalenz und Vagheit im Zusammenspiel der ihn charakterisierenden Figureninformationen.72 Generell sollte an diesem Beispiel deutlich geworden sein, wie inkohärent die den einzelnen Figuren zugeordneten Informationen insgesamt sind. Die Handlungen der anderen Figuren können ebenfalls im Sinne zweckrationaler Überlegungen gedeutet werden oder im Rahmen altruistischer, moralisch positiv besetzter axiologischer Werte und den sie begleitenden Emotionen wie Liebe, Geborgenheit, Dankbarkeit etc. Da diese Informationen fast ausschließlich durch K.’s Wahrnehmung gefiltert zugänglich sind, können sie kaum an diesem vorbei gegeneinander abgewogen werden. Auch für die anderen Figuren sind aus textanalytischer Sicht daher kaum Einschätzungen ihrer Sympathiewirkung möglich. 71

72

Als Präsupposition liegt dieser Inferenzziehung die Unterstellung zugrunde, dass wir es mit einer erzählten Welt zu tun haben, in der das Konzept der Monogamie und eine damit verbundene gesetzliche Kodifizierung Gültigkeit besitzt. Unter Berufung auf das Prinzip der minimalen Abweichung lässt sich diese Annahme insofern plausibilisieren, als keine Angaben darüber gemacht werden, dass dieses Konzept, das im soziokulturellen Entstehungskontext des Schlosses galt, außer Kraft gesetzt ist. Zu einem ähnlichen Ergebnis mit dem Schwerpunkt auf kommunikationstheoretischen Überlegungen kommt Georg Ernst Weidacher, Elemente des Kafkaesken, 85–87.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

173

Dieses Ergebnis ließe sich für Nebenfiguren wie Gerstäcker, Lasemann oder Schwarzer ausdifferenzieren. Vermutlich wirken diejenigen Figuren, die sich K. gegenüber uneigennützig und freundlich verhalten, wenigstens so lange sympathisch, bis sich herausstellt, dass auch sie mit diesem Verhalten eigene Absichten verfolgen. Dies gilt insbesondere für die Frauenfiguren Frieda, Olga und Pepi, aber auch für die Wirtin, die K. angeblich um Friedas willen hilft. Generell ist anzunehmen, dass die Nebenfiguren wohl eher als K. selbst die Sympathie des Lesers wecken können, da hier keine so eindeutige Gewichtung zweier Figurenkonzepte vorgenommen werden kann. Am Beispiel der Sympathielenkung lassen sich also die Grenzen eines textorientierten Analyseverfahrens mit dem Fokus auf Emotionslenkungsstrategien gut veranschaulichen: Hier lassen sich für Das Schloss nur sehr vorsichtig Aussagen treffen, deren Grad an intersubjektiver Nachvollziehbarkeit stark variieren kann. Anders verhält es sich mit der Analyse der durch die Erzählkonstruktion erzeugten Emotionen, für die dieser Befund umso fruchtbarer ist und auf die in Abschnitt 3.2.2 eingegangen werden soll. Auch die Tatsache, dass die Deutung manifestierter Emotionen selbst in stark emotional konnotierten Situationen K. problematisch erscheint, ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert. Dass sich in hinreichend eindeutigen Fällen dennoch plausible Aussagen über den Sympathiegrad einer Figur treffen lassen, kann besonders deutlich anhand der Figur der Amalia dargelegt werden. Die hier vertretene These lautet, dass diese Figur das größte Potenzial hat, sympathisch auf den Leser zu wirken. Um diese These zu untermauern, werden einerseits die beiden zuvor herausgearbeiteten unterschiedlichen axiologischen Werte der Ebenbürtigkeit beziehungsweise Überlegenheit gegenüber einem Mächtigen – der von K. vertreten wird – sowie der wechselseitigen Hilfe und Bezogenheit aufeinander – der stärker beim Erzähler zu verorten ist – dahingehend überprüft, inwiefern diese Amalia attribuiert werden können. 3.2.1.2 Bewundernde Einstellung: Amalia als sympathische Figur Das Figurenkonzept Amalias konstituiert sich auf zwei Ebenen im Roman: zum einen durch die Figurenrede, insbesondere über bewertende Aussagen K.’s und von Amalias Schwester Olga. Zum anderen wird Amalia auch indirekt über ihr Verhalten charakterisiert. Ihr eigener Redeanteil ist hingegen gering, was umso auffälliger ist, da K. mit den anderen Frauenfiguren im Roman in der Regel lange Dialoge führt. Da die Dialoge im Roman im Allgemeinen dazu dienen, ambivalente Figurenkonzepte auch der Sprecher zu etablieren, ist diese Feststellung umso interessanter und kann zur Stützung der folgenden Argumentation herangezogen werden. Amalia wird relativ spät im Text genauer beschrieben, so dass bei der Ausbildung ihres Figurenkonzepts bereits von einer distanzierten Haltung gegenüber K.’s Einschätzungen von ihr und ihrer Familie auszugehen ist.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Was die Charakterisierung durch die Figurenrede anbelangt, kann wiederum die bereits skizzierte ambivalente Informationsvergabe nachgewiesen werden. Amalias Blick wirkt auf K. zunächst hässlich und abstoßend: Ihr Blick war kalt, klar, unbeweglich wie immer, er war nicht geradezu auf das gerichtet, was sie beobachtete, sondern ging – das war störend – ein wenig, kaum merklich, aber zweifellos daran vorbei, es schien nicht Schwäche zu sein, nicht Verlegenheit, nicht Unehrlichkeit, die das verursachte, sondern ein fortwährendes, jedem andern Gefühl überlegenes Verlangen nach Einsamkeit, das vielleicht ihr selbst nur auf diese Weise zu Bewußtsein kam. (DS 264)

Charaktereigenschaften wie Stärke, Ehrlichkeit, Selbstsicherheit, die Amalia hier ex negativo attribuiert werden, sind positiv konnotiert, so sehr sie auch zuerst in ihrer Gesamtwirkung aus K.’s Sicht unangenehm erscheinen. Zugeschrieben wird ihr allerdings der Wunsch nach sozialer Isolation, die K. bemerkenswert vorkommt. Dies erscheint nachvollziehbar, betrachtet man die sozialen Verflechtungen der übrigen Romanfiguren im Dorf: Diese sind in K.’s Wahrnehmung überwiegend stark miteinander vernetzt und diese Art der sozialen Verbundenheit wird von ihm entsprechend positiv gewertet. Dass Amalia anderen Menschen keineswegs desinteressiert gegenübersteht, erweist sich, wenn sie sich K. gegenüber für ihre Schwester Olga einsetzt. Ihr Lächeln bewirkt ein Gefühl von Vertrautheit bei K. und stellt seine Diagnose eines Verlangens nach Einsamkeit in Frage (DS 265). Amalias Rede nötigt ihm ein Gefühl von Bewunderung ab73 und er bezeichnet infolgedessen ihre gesamte Familie als „gutmütig“ (DS 269). Insgesamt ist K.’s erster differenzierter Eindruck von Amalia von Sympathie und Anerkennung geprägt. Dies ändert sich durch K.’s Gespräch mit Olga über deren Schwester. Von K. wird Amalia nun als „herrisch“ und „unglücklich“ bezeichnet (DS 270), Olga beschreibt sie als entscheidungsfreudig „im Guten wie im Bösen“, aber auch als jemand, der die Konsequenzen seiner Entscheidungen in beiden Fällen ertrage (DS 271). Amalia verzichte auf Detailwissen über das Schloss (DS 283)74 und rede nicht über eventuelle Zweifel (DS 277). Schließlich berichtet Olga K. von dem Vorfall zwischen Amalia und Sortini, der zur Verelendung der Familie geführt habe. Amalias Verhalten erfährt dabei in Olgas Schilderung nach anfänglichen Verständnisbekundungen75 eine deutliche Abwertung76 73

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„[...] eine Art Hoheit war darin, die nicht nur K. fühlte, sondern offenbar auch Olga [...]“ (DS 268). Ob K. und Olga Amalia hier in gleicher Weise bewundern, wird nicht klar. Es könnte auch lediglich K. sein, der seine eigene emotionale Reaktion auf Olga überträgt. Mindestens belegt diese Textstelle allerdings, dass K. seine Einstellung zu Amalia und die diese grundierenden Wertmaßstäbe für intersubjektiv nachvollziehbar hält. So warnt sie K. auch vor einem zu großen Interesse an „Schloßgeschichten“ (DS 324), auch wenn Olga einschränkt, dass oft nicht klar sei, inwiefern Amalia ehrlich oder ironisch spreche: „[...] meistens ist es ja ernst, aber es klingt ironisch.“ (DS 324) Und sie misstraut laut Olga den Reden der Herren aus dem Schloss (DS 317). „,Ich kenne niemanden, der so fest im Recht wäre, wie Amalia bei allem, was sie tut. Wäre sie in den Herrenhof gegangen, hätte ich ihr freilich ebenso Recht gegeben; daß sie aber nicht gegangen ist, war heldenhaft. Was mich betrifft, ich gestehe es Dir offen, wenn ich einen solchen Brief be-

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

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bis hin zu der Unterstellung, Amalia unterdrücke ihre wahren Gefühle für Sortini (DS 311). Die ihr entgegengebrachte Verachtung sei dementsprechend nur angemessen (DS 307). Dieser Abwertung liegt die Annahme zugrunde, dass erstens ein Eintreten für die Belange der Familie über dem Interesse am eigenen Wohlergehen stehe und diese Norm von Amalia durch die Abweisung Sortinis verletzt worden sei, und dass zweitens dieses Eigeninteresse sogar selbst unbefriedigt bleibe, weil Amalia ihre Liebe zu diesem Schlossbeamten nicht anerkenne, also keinen Zugang zu ihren eigenen Gefühlen habe oder sich entgegengesetzt zu ihnen verhalte. K., der Amalias Tat zuvor Verständnis entgegengebracht hatte,77 bewertet diese nach Olgas Schilderung nun ebenfalls negativ, unterstellt ihr Lieblosigkeit und emotionale Kälte und wertet ihre äußere Erscheinung ab: „Nun Ihr [Barnabas, Olga und Amalia, C.H.] seid Euch alle sehr ähnlich, das aber, wodurch sie [Amalia, C.H.] sich von Euch zweien unterscheidet, ist durchaus zu ihren Ungunsten, schon als ich sie zum ersten Mal sah, schreckte mich ihr stumpfer liebloser Blick ab. Und dann ist sie zwar die jüngste, aber davon merkt man nichts in ihrem Äußern, sie hat das alterslose Aussehn der Frauen, die kaum altern, die aber auch kaum jemals eigentlich jung gewesen sind. Du siehst sie jeden Tag, Du merkst gar nicht die Härte ihres Gesichtes. Darum kann ich auch Sortinis Neigung, wenn ich es überlege, nicht einmal sehr ernst nehmen, vielleicht wollte er sie mit dem Brief nur strafen, aber nicht rufen.“ (DS 325)

Für K. ist der Eindruck von Schönheit eng an den sozialen Status gebunden. So erscheint ihm ja beispielsweise auch Frieda nur schön, solange er sie für Klamms Geliebte hält und sie in seinen Augen eine gewisse Entschlossenheit und Tatkraft an den Tag legt (DS 214). Frieda bestätigt die Unattraktivität Amalias später (DS 401). Die sich widersprechenden Werte, die Amalias Tat attribuiert werden – als ein Ausdruck von Stärke und Mut, die beide mit Bewunderung konnotiert sind, sowie als selbstsüchtig und unüberlegt bis hin zu selbstverleugnend und dementsprechend verachtenswert –, erzeugen erneut ein ambivalentes Bild dieser Figur, das auch deren emotionales Erleben undurchschaubar macht. So äußert sich auch K.:

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kommen hätte, ich wäre gegangen. Ich hätte die Furcht vor dem Kommenden nicht ertragen, das konnte nur Amalia.‘“ (DS 305) Wiederum wird Amalia, diesmal von Olga, die Eigenschaft zugesprochen mutig zu sein und deutlich Bewunderung hierfür ausgedrückt. So wird ihr beispielsweise ein Mangel an diplomatischem Geschick unterstellt, mit dem die Abweisung Sortinis besser hätte kaschiert werden können. Olga wirft Amalia vor, zu beleidigt gewesen zu sein, um sich entsprechend zu verhalten (DS 306). Damit unterstellt sie ihr indirekt selbstsüchtiges Verhalten. „Vor Sortini also schrecke ich zurück, vor der Möglichkeit, daß es einen solchen Mißbrauch der Macht gibt. Was in diesem Fall mißlang, weil es klipp und klar gesagt und völlig durchdacht war und an Amalia einen überlegenen Gegner fand, kann in tausend andern Fällen bei nur ein wenig ungünstigeren Umständen völlig gelingen und kann sich jedem Blick entziehn, auch dem Blick des Mißbrauchten.“ (DS 304) Vorausgesetzt ist hier, dass Überlegenheit gegenüber einem Mächtigen von K. als Ideal betrachtet wird. Dazu kann ergänzend darauf hingewiesen werden, dass diese Überlegenheit kompositorisch auch durch die Körpergröße ausgedrückt wird: Amalia ist größer als Sortini (vgl. DS 300).

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven „Amalias Tat ist merkwürdig, aber je mehr Du von dieser Tat erzählst, desto weniger läßt sich entscheiden ob sie groß oder klein, klug oder töricht, heldenhaft oder feig gewesen ist, ihre Beweggründe hält Amalia in ihrer Brust verschlossen, niemand wird sie ihr entreißen.“ (DS 312)

Wenn im Folgenden dennoch dafür plädiert wird, Amalia als eher sympathische Figur zu konzeptualisieren, so liegt dies daran, dass sich die Informationen über sie in ihrer Glaubwürdigkeit relativ eindeutig hierarchisieren lassen und ihr Verhalten Sortini gegenüber so insgesamt mit hoher Wahrscheinlichkeit als positiv bewertet werden wird. So ist zum Beispiel erst einmal darauf hinzuweisen, dass auf der Ebene der in der erzählten Welt berichteten Tatsachen im Hinblick auf Amalias Verhalten keinerlei Inkonsistenzen zwischen den ihr durch die Figurenrede zugeschriebenen positiven Charaktereigenschaften und ihrem dargestellten Verhalten nachzuweisen sind: Amalia beweist Entscheidungsfreude und Durchsetzungskraft, die K. und Olga fehlen, als sie vor den Gehilfen die Tür schließt (DS 364); sie zweifelt nicht an Olgas und K.’s wechselseitiger Liebe, obwohl K. beteuert, Olga nicht aus diesem Grund aufgesucht zu haben (DS 265f), und sie nennt K. sogar einen Vorwand, unter dem er Olga wieder besuchen könne, indem sie ankündigt, Barnabas in Zukunft zu verbieten K. aufzusuchen (DS 267); sie pflegt die kranken Eltern; ihre Verschlossenheit und Schweigsamkeit wird in der Figurenrede durch einen relativ geringen Redeanteil nachgebildet. Zuschreibungen wie „herrisch“, „stark“, „schweigsam“, „konsequent“ und „gutmütig“ finden also durchaus ein Äquivalent in den dargestellten Handlungen Amalias. Zentral für Amalias Sympathiewirkung ist die Beurteilung ihres Verhaltens gegenüber Sortini. Diese schwankt bei Olga und K. zwischen Bewunderung und Verachtung. Auffällig ist, dass Amalia mit ihrer Ablehnung die enge Verbindung zwischen Statusgewinn und sexueller Abhängigkeit, wie sie die anderen Paarbeziehungen im Roman kennzeichnet, nicht anerkennt beziehungsweise sich dieser nicht unterwirft. Es fällt also schwer, ihr Verhalten in demselben Sinne als zweckorientiert zu beschreiben, wie das für die anderen Figuren möglich ist, da ihre Entscheidung nicht so interpretiert werden kann, als ginge es ihr dabei um einen sozialen Aufstieg innerhalb des Dorfes. Dazu würde ein Anerkenntnis der entsprechenden Normen gehören, das die Abhängigkeit von der Gunst der Schlossbeamten mit einschließt. In ihrem Verhalten drückt sich aber gerade die Unabhängigkeit von den sozialen Erwartungen im Dorf und auch innerhalb ihrer Familie aus. Gleichzeitig ist sie bereit, die Konsequenzen ihrer „Uneinsichtigkeit“ insofern zu tragen, als sie die Pflege ihrer kranken Eltern übernimmt. Olga spricht hier von einer „übermenschlichen Anstrengung“ (DS 349), mit der Amalia durch ihre Pflege den erwarteten Tod der Mutter hinauszögere. Dabei beklagt sie sich anscheinend nicht über ihre eigene Situation. Lediglich aus ihren Blicken vermeint K. Unglück und Traurigkeit herauszulesen. Selbst Olga erkennt Amalias Leistung an: „Sie trug mehr als wir alle, es ist unbegreiflich wie sie es ertragen hat und noch heute unter uns lebt. [...] Aber Amalia trug nicht nur das Leid, sondern hatte auch den Verstand es zu durchschauen, wir sahen nur die Folgen, sie sah den Grund, wir hofften auf irgendwelche Mittel, sie wußte daß alles entschieden war, wir hatten zu flüstern, sie hatte nur zu schweigen, Aug in

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

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Aug mit der Wahrheit stand sie und lebte und ertrug dieses Leben damals wie heute. Wie viel besser ging es uns in aller unserer Not als ihr.“ (DS 331)

Diese Textstelle impliziert außerdem, dass Olgas und Barnabas’ Bemühungen, die Familie im Dorf zu rehabilitieren, letztlich nicht erfolgreich sein können und Olga dies auch bewusst ist. Dies wird auch durch den Ko-Text nahe gelegt, da weder Olgas Prostitution im Herrenhof noch Barnabas’ Arbeit als Bote bisher in irgendeiner Weise für die Familie erkennbar positive Resultate erbracht haben. Außerdem ist gar nicht entscheidbar, inwiefern der soziale Abstieg der Familie überhaupt vom Schloss initiiert ist: Unstrittig erscheint lediglich die Tatsache, dass die Dorfbewohner sich vor der Familie zurückgezogen haben und dieser Rückzug die Familie finanziell wie gesundheitlich geschädigt hat (DS 326). Ja, es ist sogar fraglich, inwiefern nicht die eigenen Ängste der Familie und die daraus resultierenden Bestechungsversuche etc. den sozialen Abstieg erst befestigt haben: „Man merkte, daß wir nicht die Kraft hatten, uns aus der Briefgeschichte herauszuarbeiten und man nahm uns das sehr übel, man unterschätzte nicht die Schwere unseres Schicksals, trotzdem man es nicht genau kannte, man hätte, wenn wir es überwunden hätten, uns entsprechend hoch geehrt, da es uns aber nicht gelungen war, tat man das, was man bisher nur vorläufig getan hatte, endgültig, man schloß uns aus dem Kreise aus, man wußte daß man selbst die Probe wahrscheinlich nicht besser bestanden hätte als wir, aber um so notwendiger war es sich von uns völlig zu trennen.“ (DS 332)

Damit erscheint der Kausalzusammenhang, den Olga zwischen Amalias Antwort an Sortini und der Verelendung der Familie herstellt, nicht zwingend. Hierzu passt auch, dass der Vater selbst, Olga zufolge, Amalia keinerlei Vorwürfe gemacht hat, obwohl er selbst ein Anhänger Sortinis ist (DS 326). Olgas Darstellung der Ereignisse um das Feuerwehrfest erweist sich somit als inkongruent und ihre Bewertung der Rolle der Schwester schwankt ständig, so dass ihre Darstellung ähnlich wie K.’s Eindrücke von Amalia für wenig glaubwürdig erachtet werden müssen. Hinzu kommt, dass Olgas eigene Motive für ihre Offenheit gegenüber K. nicht eindeutig zu ermitteln sind. Ihr erklärtes Redeziel ist, Barnabas und sich selbst vor K. zu rechtfertigen und ihn um Hilfe zu bitten (DS 292f). Dies ließe sich zum einen damit erklären, dass Olga wirklich, wie Amalia behauptet, in K. verliebt ist, oder aber sie agiert aus strategischen Erwägungen heraus, um K., den sie für einflussreich bei den Schlossbehörden hält, zu Hilfeleistungen und Fürsprache für die Familie zu überreden. Insofern wäre eine Charakterisierung Amalias als der allein Schuldigen zweckmäßig für sie, um K. von ihrer eigenen Schuldlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit zu überzeugen. Gleichzeitig kann ihre Rede als Versuch verstanden werden, auf diese Weise indirekt Frieda anzugreifen, wie K. vermutet (DS 312). Für wie plausibel auch immer diese Zuschreibungen von Intentionalität gehalten werden, bleibt doch festzuhalten, dass Olga als einzige Informantin über Amalia wenig glaubwürdig ist, so dass als gesichertes Faktenwissen über Amalia nur wenig übrig bleibt – vorwiegend ist dieses aus dem dargestellten Verhalten Amalias erschließbar.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Das so nur rudimentär eindeutig ermittelbare Figurenkonzept kann jedoch sowohl aus der Perspektive eines eher an K.’s Werthaltung orientierten wie aus derjenigen eines distanziert-kritischen Lesers positiv bewertet werden. Im ersten Fall ist davon auszugehen, dass der dominant von K. vertretene axiologische Wert der Ebenbürtigkeit mit einem Mächtigen zur Beurteilung Amalias herangezogen wird. Ihr Verhalten ist dann insofern positiv zu bewerten, als sie mutig und frei von Angst Sortinis Angebot ablehnt. Hierbei spielt es keine Rolle, ob sie damit gegen ihre eigenen Gefühle handelt. Die Freiheit ihrer Entscheidung erwiese sich dann in einer Freiheit von eben diesen Gefühlen, die den Zusammenhang zwischen sexueller Anziehungskraft und Status, der dem im Roman überwiegend vertretenen Liebeskonzept zugrunde liegt,78 ignoriert. Vorausgesetzt wird hier lediglich ein Minimalverständnis von ,Freiheit‘, wie es im Roman von K. vertreten wird. Es umfasst die Vorstellung, in irgendeiner Weise unabhängig und ebenbürtig einer eigentlich an Macht überlegenen Person entgegenzutreten und sich entsprechend auch zu äußern. ,Freiheit‘ in diesem Sinne wäre also genauer als ein persönliches Empfinden zu verstehen, frei von den Einflüssen anderer und insbesondere von dem Gefühl der Angst gehandelt zu haben. John Hibberd bezeichnet dies im Anschluss an Charles Taylor als Wunsch danach, ein sich selbst definierendes Subjekt sein zu können.79 Dieses Verständnis von Freiheit kann Amalia mit guten Gründen attribuiert werden, selbst wenn man die genauen Beweggründe für ihre Entscheidung nicht kennt. Dazu passt auch, dass Olga selbst Amalia dezidiert und unwidersprochen die Eigenschaft zuschreibt von Angst unbeeinflusst zu handeln (DS 303). K. selbst bezeichnet Amalia als Sortini überlegen. Dass es dennoch zu keiner dauerhaften Positivbewertung Amalias durch K. kommt, verdankt sich K.’s radikal egoistischer Perspektive in Verbindung mit der Tatsache, dass Amalia für ihre momentane Überlegenheit nicht mit einem Statusgewinn belohnt worden ist, also im Schloss nichts erreicht hat für die Familie. Die Bekanntschaft mit der Familie des Barnabas ist K., wie er im Gespräch mit Olga erfährt, nicht so nützlich wie erwartet, um Kontakt mit den Schlossbehörden aufzunehmen; es besteht sogar die Gefahr weiterer sozialer Ausgrenzung, wenn K. sich enger mit der Familie befreundet. Davor warnt ihn z.B. die Wirtin (DS 88). Gleichzeitig sind die Bot78

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Explizit gemacht wird dieses Konzept durch Olga selbst: „,Wir [dieses ,Wir‘ bezieht sich entweder auf Olga und K. oder kann als verallgemeinerndes ,Wir‘ aufgefasst werden] aber wissen, daß Frauen nicht anders können, als Beamte zu lieben wenn sich diese ihnen einmal zuwenden, ja sie lieben die Beamten schon vorher, so sehr sie es leugnen wollen, [...].‘“ (DS 311) Unter dieser Prämisse kann Olga nur davon ausgehen, dass Amalia ihre Gefühle für Sortini unterdrückt. Gleichzeitig ist im Rahmen dieses Konzeptes die Liebe deutlich von Angst begleitet: „,Man mußte dem Brief gegenüber zuerst empört sein, auch die Kaltblütigste, dann aber hätte bei einer anderen als Amalia wahrscheinlich die Angst überwogen, [...].‘“ (DS 303) Das hier artikulierte Verständnis von Liebe widerspricht ganz deutlich einem Alltagsverständnis, nach dem Liebe und Angst keine im oben genannten Sinne miteinander in Einklang zu bringende Emotionen sind. Vgl. dazu Elizabeth Boa, „Feminist Approaches to Kafka’s The Castle“, 119f. Vgl. Hibberd, John: „Kafka’s Das Schloß and the Problems of the Self-Defining Subject“, 629.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

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schaften des Barnabas weiterhin wichtig für K. und somit ist es für ihn zweckmäßiger, sich Olga und Barnabas zuzuwenden als Amalia.80 Auffällig ist auch, dass K. gegenüber Olga und Barnabas kein Gefühl der Scham empfindet81 – wie oben herausgearbeitet worden ist, sind Scham und Angst eng an den Eindruck von Unterlegenheit gekoppelt –, gegenüber Amalia dagegen schon.82 Bezeichnenderweise hat er diesen Eindruck bei seiner ersten Begegnung mit der Familie, als er Amalias Vorgeschichte noch nicht kennt. Ähnlich wie den Schlossbehörden bringt K. Amalia aus einer nicht zweckorientierten Perspektive in Kenntnis ihrer Lage Bewunderung entgegen und verteidigt sie, bis Olga ihm deutlich die vermeintlichen Konsequenzen der Zurückweisung Sortinis schildert. Wenn vorausgesetzt wird, dass K.’s Werthaltung vom Leser übernommen wird, nicht jedoch die K.’s egoistischen Motiven folgende abschließende Bewertung Amalias, kann diese als sympathische, bewunderungswürdige Figur betrachtet werden. Ohne diese Voraussetzung wäre immerhin eine momentane Bewunderungsreaktion analog zu K. wahrscheinlich. Im Falle einer distanzierteren Lesehaltung würde ein moralischer Wertmaßstab herangezogen werden müssen, der stärker kontextuell zu ermitteln ist. Grob lässt sich von einem axiologischen Wert der Gerechtigkeit sprechen, der im vorliegenden Fall die Vorstellung umfasst, dass es nicht gerecht ist, eine Person gegen ihren eigenen Willen und insbesondere ihre eigenen Gefühle zu körperlicher Nähe zu zwingen. Vorausgesetzt wird hier ein Alltagskonzept von ,Liebe‘, das wesentlich von einem romantischen Verständnis dieser Emotion geprägt ist. Grob lässt sich dieses Konzept etwa folgendermaßen beschreiben: „Vergeistigung und Idealisierung körperlicher Liebe“, „Komplementärbegriff zu Poesie, Religion, Freundschaft, Vernunft und Moral“, „zentrale[r] Lebenswert“ mit „utopische[r], kompensatorische[r] Funktion“ etc. Zusammenfassend „[dient] Liebe gleichermaßen wie Poesie als Katalysator [...], um die erfahrenen Defizite zu ersetzen und in dem Subjekt die verlorene Identität wieder herzustellen.“83 Das romantische Liebeskonzept umfasst bekanntlich auch ein von äußeren Faktoren wie Status oder Macht freies Empfinden einer anderen Person gegenüber sowie ein wechselseitig analoges Gefühl der Verbundenheit. Amalias Verhalten wäre dann ihrem emotionalen Erleben vollkommen adäquat, wenn davon ausgegangen wird, dass sie Sortini nicht liebt. Für diese Annahme lassen sich einige Indizien anführen, wie zum 80

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Zum Abschied sagt er zu Olga: „Zwar seien die Botschaften des Barnabas nicht seine einzige Hoffnung, sonst stünde es schlimm um ihn, aber verzichten wolle er keineswegs auf sie, er wolle sich an sie halten und dabei Olga nicht vergessen, denn noch wichtiger fast als die Botschaften sei ihm Olga selbst [...]. Wenn er zwischen Olga und Amalia zu wählen hätte, würde ihn das nicht viel Überlegung kosten.“ (DS 366) So heißt es über Barnabas: „[...] es war unmöglich daß dieser Mann jemanden beschämte.“ (DS 46). „[...] diese Familie mußte ihn hinnehmen wie er war, er hatte gewissermaßen kein Schamgefühl vor ihr. Darin beirrte ihn nur Amalia ein wenig mit ihrem ernsten geraden unrührbaren vielleicht auch etwas stumpfen Blick.“ (DS 55). Walter Hinderer, „Liebessemantik als Provokation“, in: Codierungen von Liebe in der Kunstperiode. Hg. v. dems., 316f.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Beispiel die Tatsache, dass es keinerlei persönlichen Kontakt zwischen Sortini und Amalia gegeben hat, ein romantisches Verständnis von Seelenpartnerschaft also von Amalias Seite gar nicht überprüft werden kann, außerdem die grobe Sprache Sortinis im Brief sowie ihre Ablehnung. Restbestände dieses romantischen Verständnisses von Liebe lassen sich im Text durchaus nachweisen und können ein solches Konzept mit den damit verbundenen Wertmaßstäben aufrufen. Es lässt sich, begleitet von der Vorstellung einer totalen aufopfernden Bezogenheit der Partner aufeinander bis hin zum gemeinsamen Liebestod, beispielsweise an einigen Äußerungen Friedas ablesen.84 Selbst K. leidet kurzzeitig unter Friedas vermeintlicher Treue zu Klamm (DS 128). Auch Amalias parabolische Erzählung von dem jungen Mann und der Aufwaschfrau kann in diesem Kontext gedeutet werden: „[...] ich hörte einmal von einem jungen Mann, der beschäftigte sich mit den Gedanken an das Schloß bei Tag und bei Nacht, alles andere vernachlässigte er, man fürchtete für seinen Alltagsverstand, weil sein ganzer Verstand oben im Schloß war, schließlich aber stellte es sich heraus, daß er nicht eigentlich das Schloß, sondern nur die Tochter einer Aufwaschfrau in den Kanzleien gemeint hatte, die bekam er nun allerdings und dann war wieder alles gut.“ (DS 324)

Diese kurze Erzählung folgt unmittelbar auf Amalias Warnung vor einem zu großen Interesse an „Schloßgeschichten“. Aufgerufen wird hier die Vorstellung von einer schon pathologisch zu nennenden Sehnsucht nach einem Partner, die der nur scheinbaren Schloss-Obsession zugrunde liegt, die aber nur durch die geliebte Person geheilt werden kann. Das Objekt dieser Sehnsucht ist hier deutlich erkennbar nicht das Schloss, sondern der potenzielle Partner. Die Kopplung einer Paarbeziehung an Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse erscheint im Rahmen dieser Geschichte ausgeschlossen. Sie ist vielmehr nur im Kontext eines romantischen Liebeskonzeptes adäquat zu verstehen.85 Dies passt zu der Tatsache, dass Amalia auch K.’s Interesse an Olga innerhalb dieses Paradigmas deutet. Amalia kann damit als Figur aufgefasst werden, die dieses in der Alltagskultur bis heute virulente Konzept von Liebe besonders deutlich artikuliert und 84

85

„,[...] nur ich bin verloren, doch ich habe Dich gewonnen.‘“ (DS 70); „,Das [K.’s mangelndes Mitleid mit den Gehilfen, C.H.] ist es ja“, sagte Frieda, ,was mich unglücklich macht, was mich von Dir abhält, während ich doch kein größeres Glück für mich weiß, als bei Dir zu sein, immerfort, ohne Unterbrechung, ohne Ende, während ich davon träume, daß hier auf der Erde kein ruhiger Platz für unsere Liebe ist, nicht im Dorf und nicht anderswo und ich mir deshalb ein Grab vorstelle, tief und eng, dort halten wir uns umarmt wie mit Zangen, ich verberge mein Gesicht an Dir, Du Deines an mir und niemand wird uns jemals mehr sehn.‘“ (DS 217f); „,Wären wir doch‘, sagte Frieda [...], , wären wir doch gleich, noch in jener Nacht ausgewandert, wir könnten irgendwo in Sicherheit sein, immer beisammen, Deine Hand immer nahe genug, sie zu fassen; wie brauche ich Deine Nähe, wie bin ich, seitdem ich Dich kenne, ohne Deine Nähe verlassen; Deine Nähe ist, glaube mir, der einzige Traum, den ich träume, keinen andern.‘“ (DS 399). Man könnte die Geschichte somit als Parabel deuten, in der das Bemühen um Anerkennung durch die Schlossbürokratie als, psychoanalytisch gesprochen, Fehler in der Objektwahl gekennzeichnet und entsprechend negativ bewertet wird.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

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auch vertritt. Es kann damit weiterhin angenommen werden, dass durch Verhalten und Äußerungen dieser Figur ein entsprechendes Deutungsschema nahegelegt wird. Zu klären bleibt die Frage, inwiefern die Konsequenzen für Amalias Familie als schwerwiegender bewertet werden müssen als eine mögliche Prostitution zugunsten ihrer Angehörigen und ob die Schuld für deren soziale Ausgrenzung Amalia zugeschrieben werden muss. Die Situation insbesondere von Amalias Eltern lässt mit hoher Wahrscheinlichkeit Mitgefühl entstehen, da beide schwer krank sind und mit ihrem baldigen Tod zu rechnen ist. Ihre Gebrechlichkeit und Hilfsbedürftigkeit wird im Text hinreichend drastisch beschrieben.86 Dies lässt eine Trauerreaktion der Kinder wahrscheinlich werden, wozu auch K.’s Beobachtung von Amalias traurigem Blick und die Feststellung passt, sie sei unglücklich. Dass die Schuld für diese Situation jedoch Amalia nicht eindeutig zugeschrieben werden kann, ist bereits oben belegt worden. Ebenso gut lässt sich die soziale Ausgrenzung durch die Dorfbewohner als Überreaktion begreifen, der die Schuld für die Verelendung der Eltern gegeben werden muss. Insofern ist eher damit zu rechnen, dass auch Amalia als direkt betroffenes Familienmitglied, das selbstlos die Pflege der Eltern übernommen hat und nicht einmal von diesen selbst beschuldigt wird, in dieses Mitgefühl mit eingeschlossen ist. In diesem Fall wirkt Amalia sympathisch, weil sie und ihre Familie einerseits ungerecht behandelt worden sind und sie dennoch andererseits weiterhin hilfsbereit und selbstlos auf ihre Umgebung eingeht, was dem Erzähler zufolge eine Reaktion der Dankbarkeit erfordern würde. Auch innerhalb dieses Paradigmas kann Amalia also mit Bewunderung und Sympathie begegnet werden. Abschließend soll noch auf ein kompositorisches Element hingewiesen werden, mit dessen Hilfe nahe gelegt wird, dass es sich bei Amalia um eine sympathische Figur handelt. Als K. zuerst Barnabas begegnet, reagiert er spontan mit Freude und Sympathie: Hätte K. doch lieber ihn als Gehilfen gehabt! Ein wenig erinnerte er ihn an die Frau mit dem Säugling, die er beim Gerbermeister gesehen hatte. Er war fast weiß gekleidet, das Kleid war wohl nicht aus Seide, es war ein Winterkleid wie alle andern, aber die Zartheit und Feierlichkeit eines Seidenkleides hatte es. Sein Gesicht war hell und offen, die Augen übergroß. Sein Lächeln war ungemein aufmunternd; er fuhr mit der Hand über sein Gesicht, so als wolle er dieses Lächeln verscheuchen, doch gelang ihm das nicht. (DS 38f)

Die Jacke scheint u.a. K.’s Freude ausgelöst zu haben; er bewundert ihre „Zartheit und Feierlichkeit“. Als Barnabas sie ablegt, reagiert K. enttäuscht (DS 52). Seine anfängliche Bewunderungsreaktion deutet auf eine Anerkennungswertung hin. Hier ist auch die Wortwahl mit den entsprechenden Konnotationen zu beachten: Bei ihrer ersten Begegnung wird sie als „Winterkleid“ bezeichnet, später, als Barnabas sie ablegt, nur noch als 86

Vgl. z.B. DS 298. K. selbst konstatiert, dass er, obwohl er diese Szene beobachtet hat, keinerlei Mitleid empfinde. Vgl. ebd. Im Umkehrschluss kann man wohl davon ausgehen, dass es sich hier um eine prototypisch emotional konnotierte Situation handelt, die in der Regel eine Mitleidsreaktion erwarten lässt.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

„Jacke“. Im Wortgebrauch drückt sich somit genau die Veränderung in K.’s Stimmung aus. Später stellt sich heraus, dass Amalia die Jacke hergestellt hat – und zwar noch bevor Barnabas Schlossbote geworden ist (DS 272). Sie kann somit als Symbol für die von Amalia vertretene Unabhängigkeit von der Schlossbürokratie verstanden werden. Wenn K. auf diese Jacke also spontan mit Freude und Bewunderung reagiert, so bestätigt er Amalias Wunsch nach Unabhängigkeit.87 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Amalia als potenziell sympathischste Figur im Schloß bezeichnet werden kann. Im Rahmen des rudimentär ermittelbaren Wertsystems des Protagonisten kann ihr ebenso mit Bewunderung begegnet werden wie aus der Perspektive eines K. gegenüber kritisch eingestellten Lesers, der eher einen, im Text selbst allerdings nur implizit ausgedrückten Wertmaßstab der gegenseitigen Hilfe und Kooperationsbereitschaft vertritt. Beide herausgearbeiteten Wertmaßstäbe ermöglichen eine emotionale Reaktion der Bewunderung und lassen Amalia daher mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer sympathischen Figur werden. Wesentlich für die Einstellung des Lesers zu Amalia ist die Frage, welches Konzept von Liebe dieser vertritt. Ein romantisches wie auch ein grob als pragmatisch zu bezeichnendes Konzept lassen sich im Text nachweisen. Letzteres wird, da es deutlich alltagspsychologischen Annahmen über Liebe widerspricht, aber vermutlich nicht übernommen. Insgesamt sollte deutlich geworden sein, wie komplex und widersprüchlich die Charakterisierungstechniken im Schloß ausgestaltet sind. Die sich ständig ändernden Wertungshandlungen K.’s und die nur marginal nachweisbaren Wertungen des Erzählers machen die Rekonstruktion des textinternen Wertsystems unmöglich. So konnte lediglich versucht werden, die These von der vermuteten Sympathiewirkung Amalias und K.’s hinsichtlich zweier an der Textoberfläche manifestierter Wertmaßstäbe zu plausibilisieren. Es gälte nun, dieses Ergebnis für die anderen Romanfiguren weiter „auszubuchstabieren“, um auf diese Art und Weise das gesamte empathische Feld des Romans abstecken zu können. Von dort aus ließen sich dann weitreichendere Annahmen über die Funktion einzelner Figuren, zum Beispiel in Bezug auf einen möglichen symbolischen Gehalt etc., für die Deutung des Romanganzen argumentativ stützen. Insbesondere genderspezifische Untersuchungen könnten von der Ermittlung einer nach Sympathiewerten differenzierenden Figurenkonstellation profitieren, da – so meine Vermutung – die Frauenfiguren im Schloß „sympathischer“ gestaltet sind als die männlichen, von Barnabas einmal abgesehen.88 87

88

Amalia könnte so auch als symbolische Figur, z.B. als Hoffnungsträgerin gedeutet werden. Diese Inferenzziehung ist allerdings probabilistisch und wird sich wegen ihrer Komplexität in einem tatsächlichen Rezeptionsprozess mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht oder aber nur bei wiederholter Lektüre einstellen. Boa etwa fasst Amalia als „radical separatist“ auf (Elizabeth Boa, „Feminist Approaches“, 120), die sich der patriarchalisch organisierten Dorfgemeinschaft entzieht, geht jedoch davon aus, dass Das Schloß weniger offensichtlich als Der Proceß Geschlechtsstereotype und patriarchale Herrschaftsformen in Frage stelle: „K. introduces irritation, but reaches a semi-accomodation, whereas

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

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Allgemein muss allerdings konstatiert werden, dass deutlich auf Sympathieeffekte abzielende Charakterisierungsverfahren eher untypisch für diesen Roman sind. Vielmehr macht es offenbar gerade den Reiz von Kafkas Prosa aus, dass eindeutige Bewertungen von Figuren oder Situationen erschwert beziehungsweise meist sogar unmöglich gemacht werden. Auch wenn diese Arbeit sich nicht der These anschließt, es seien keinerlei dominante Wertmaßstäbe im Schloß angebbar, die dem Rezipienten den Zugang zur erzählten Welt erleichtern würden, so muss doch konstatiert werden, dass es gerade die Schwierigkeit ist, diese Maßstäbe zu benennen und durch Interpretation „dingfest“ zu machen, die für Kafkas Erzählverfahren im Schloß charakteristisch ist.89 Inwiefern dieser Umstand weitere emotionale Reaktionen auslösen kann, soll im folgenden Abschnitt geklärt werden.

3.2.2 Durch die Erzählkonstruktion hervorgerufene Emotionen Die Tatsache, dass unklar bleibt, welche Intentionen und emotionalen Zustände den Figuren zugeschrieben werden können und wie die innerhalb der erzählten Welt geltenden Geschehnisse bewertet werden müssen, bewirkt einen desorientierenden Effekt auf der Ebene des gesamten Romantextes. Um die bestehende Desorientierung durch Schemaassimilation auflösen zu können, sind relativ weitreichende Kontextannahmen nötig, denn aus der Textstruktur selbst lässt sich ein Deutungsschema, das alle Inkonsistenzen auflöst, wie gezeigt worden ist, nicht ableiten. Diese Erkenntnis ist bekanntlich nicht neu, vielmehr ist sie in der Kafka-Philologie schon häufig bemerkt und beschrieben worden.90 Georg Ernst Weidacher nennt drei Deutungsschemata, mit deren Hilfe die

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the end of The Trial is, by comparison, more subversive, involving the death not of a man, but of a form of manliness, broken on its own contradiction In its very mastery, Kafka’s masterpiece, The Castle, is less radical. On the other hand, its anatomy of patriarchy uncovers endless contradictions: there may be accomodation, but scarcely affirmation, and a subterranean humour makes the scandal of patriarchy ludicrous.“ Aus einer rezeptionsorientierten Perspektive, die die sympathielenkenden Textstrukturen am Beispiel der Frauenfiguren im Roman genauer untersucht, könnte sich dagegen ein abweichender Befund ergeben, nach dem ein als „patriarchalisch“ zu qualifizierendes Gemeinwesen mit sehr subtilen erzählerischen Mitteln kritisiert wird. Allgemein zu Konzepten von Weiblichkeit im Werk Kafkas vgl. Reiner Stach, Kafkas erotischer Mythos. Hinzu kommt, dass diese durch kontextabhängige Faktoren mehr oder weniger stark „überschrieben“ werden können. Vgl. dazu unten Abschnitt 3.2.3. Vgl. paradigmatisch Els Andringa, „Die Facette der Interpretationsansätze“, 328, sowie Constanze Busse, Kafkas deutendes Erzählen. Perspektive und Erzählvorgang in Franz Kafkas Roman „Das Schloß“, 254 und Eric Miller: „In every intrusion of authorial narration, the reader faces the empty narrator, who by calling attention to himself has aroused expectations of a privileged perspective and reliable information but has answered these expectations either with what is essentially no information, and thus has simply highlighted the reader’s uncertainties. He exacerbates rather than assuages the disorientations and uncertainties resulting from the figural narration. The castle, the village, and their denizens, seen only through K.’s uncomprehending eyes, remain an enigma to us.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Inkonsistenzen des Romans und damit die desorientierende Wirkung des Textes interpretativ aufgelöst worden sind. Es sind dies die Distanzierung von K.’s Per-spektive, die Lektüre des Romans als fantastischer oder parabolischer Text.91 Hinzufügen ließen sich wohl die Deutung des Erzählten als Märchen oder als Anti-Märchen, als erzählerische Darstellung einer Traumvision etc. Als allgemeinstes Deutungsschema hat sich die Ansicht durchgesetzt, es gehe im Roman genau um die Thematisierung der Problematik von Verstehensprozessen in einem weiten Sinne. Von der im Schloß immer wieder dargestellten Zweifelhaftigkeit einmal erfolgter Deutungen von K.’s Umgebung, sind, wie oben gezeigt worden ist, auch und gerade die Emotionen der anderen Figuren wie auch seiner eigenen betroffen. Anders gesagt kann der Roman auch so gelesen werden, dass in den Gesprächen der Figuren über ihre Gefühle wie auch in den Beobachtungen des Erzählers zu K.’s emotionalem Zustand die unmittelbare Gegebenheit und leiblich unmissverständliche Erfahrbarkeit von Gefühlen problematisiert werden, ein für die literarische Moderne durchaus häufiger konstatierbares Erzählmuster.92 Dessen Pointe besteht aber darin, dass dieser Vorgang prozessual durchlaufen werden muss: Auf Angebote zur empathischen Teilhabe folgt deren mindestens partielle Rücknahme, also möglicherweise sogar ein „Wechselbad der Gefühle“ bezogen auf ein und dieselbe Figur. Die Konsequenzen, die im Hinblick auf die emotionale Rezeptionswirkung dieses für Kafka typischen Schreibverfahrens daraus abzuleiten sind, sind bisher nicht umfassend beschrieben worden. Die auf die oben skizzierte Weise durch den Text erzeugte Desorientierung beeinflusst nämlich sowohl die auf die Figuren und den Erzähler bezogenen als auch die anderen durch die Erzählkonstruktion hervorgerufenen Emotionen, wie im Folgenden kurz ausgeführt werden soll. Mit dem Auftreten hoher Suspensespannung ist im Schloß aus verschiedenen Gründen nicht zu rechnen: zum einen, weil, wie oben dargelegt worden ist, die Sympathie für K. eher gering sein dürfte, damit auch der Wunsch des Lesers, dass K. seine einzelnen Handlungsziele erreichen möge, zum anderen, weil K.’s Motivation und Zielsetzungen unklar und letztlich undurchschaubar bleiben, so dass auch die Simulation von K.’s innerem Zustand meist schwer fällt und damit auch die empathische „Einfühlung“ in K. in denjenigen Situationen, die deutlich emotional konnotiert sind. Da es in erster Linie K.’s Ziele, Absichten und Verhalten sind, die die Romanhandlung konstituieren und auch deren episodenhaften Charakter der immer neuen Begegnungen und Bemühungen K.’s bedingen, fällt auch das suspensegenerierende Potenzial der Nebenfiguren vermutlich schwach aus. Zu Beginn der Romanhandlung dürfte die zu erwartende Suspensespannung relativ höher sein, da K. hier noch in der Rolle des Opfers erscheint und ihm die Ablehnung und Mitleidlosigkeit der Dorfbewohner und der Schlossbehörden entgegenschlägt. Stellt sich im Laufe der Lektüre allerdings heraus, dass K.’s Ziele

91 92

And more than ever, K. himself, now further obscured by the subjunctives and hypotheticals, is opaque to the reader.“ Eric Miller, „Without a Key“, 139. Vgl. Georg Ernst Weidacher, Elemente des Kafkaesken, 85–102. Vgl. dazu Martin von Koppenfels, Immune Erzähler, 375.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

185

sowie die von ihm wahrgenommene Bedrohung letztlich diffus bleiben, wird das Suspenseerleben schnell absinken. Etwas anders stellt sich dies, folgt man der oben vorgeschlagenen Interpretation, in der Amalia-Episode dar, allerdings ist hier die Schädigung der Figur bereits eingetreten und die Annahme, dass Amalia und ihrer Familie geholfen werden wird, erscheint eher wenig plausibel: Dagegen stehen das im Laufe der Lektüre bereits etablierte Schema der uneindeutigen Bewertung sozialer Situationen. In den vorangegangenen Episoden ist schon nicht recht klar geworden, ob deren Ausgang für K. oder die anderen Figuren nun positiv oder negativ zu bewerten ist.93 Anders gesagt ist bisher immer wieder vorgeführt worden, dass von K. erwünschte Ausgänge entweder nicht eintreten oder aber zumindest später dann doch im Hinblick auf sein ebenfalls diffus bleibendes Hauptziel keinen großen Nutzen erbringen.94 Hinzu kommt, dass nicht deutlich wird, auf welche Weise Amalia und ihrer Familie noch geholfen werden könnte. Als Olga K. die Gründe für die Verelendung der Familie erläutert, wird klar, dass ihre, ihres Vaters und Barnabas’ Bemühungen bereits des Öfteren fehlgeschlagen sind. Dass ein positiver Ausgang der Ereignisse unwahrscheinlich erscheint, könnte grundsätzlich natürlich gerade das Aufkommen von Suspensespannung befördern. Dem steht allerdings entgegen, dass schon vorher im Roman ein Handlungsschema etabliert worden ist, durch das immer wieder die Vergeblichkeit von K.’s Bemühungen und den anderen im Dorf sozial ausgegrenzten Figuren vorgeführt wird. Eine positive Wendung im Leben der Nebenfiguren scheint sich immer nur dann zu ergeben, wenn diese sich dem Schloss zuwenden, was für die Frauen in der Regel die Prostitution bedeutet.95 K.’s Einfluss bei den Schlossbehörden scheint besonders gering, außerdem ist sein Verhalten bereits als wenig kooperativ dargestellt worden, so dass Hilfe von ihm eher nicht zu erwarten ist. Auch wenn ein Spannungsbogen, wie in Abschnitt 2.4.2.1.1 ausgeführt worden ist, sich gerade auch dann etabliert, wenn die Chancen auf Rettung der für sympathisch gehaltenen Figur relativ gering sind, so wirkt sich doch vermutlich deintensivierend auf das 93 94

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Beispielhaft seien hier genannt die Ankunft der Gehilfen, die Verbindung mit Frieda, die Gespräche mit der Wirtin und dem Vorsteher etc. Dies zeigt schon zu Beginn K.’s Annahme als Landvermesser durch die Schloßbehörden, die K. keinen erkennbaren Vorteil bringen: Weder erhält er von den Behörden eine Aufgabe noch eine Unterkunft. Auch die Dorfbewohner behandeln ihn daraufhin nicht besser. Ob Frieda sich K. zuwendet, weil er Landvermesser geworden ist, bleibt ebenso unklar. Würde Amalia diese Option nun doch wählen, würde sie allerdings vermutlich schnell ihren Status als Sympathieträger verlieren beziehungsweise es könnte wohl in diesem Fall kaum mehr von einer wirklichen Hilfe oder Rettung der Familie gesprochen werden, eher von einer Preisgabe der persönlichen Integrität. Dass dies positiv bewertet werden kann, gelingt auch den Interpreten des Romans nur dann, wenn sie eine durch den Text selbst nicht hinreichend gestützte allegorisierende Deutung unterlegen und Amalias Selbstopfer als eine religiöse Handlung analog zu der Opferung Isaaks verstehen. Vgl. hierzu kritisch Beicken, der ebenfalls von dem „nach unseren normalen Begriffen wahrscheinlich obszönen Ansinnen[ ] des Beamten Sortini“ spricht. Peter U. Beicken, Franz Kafka, 333. Dieses Alltagsverständnis von Obszönität, so ließe sich argumentieren, wird auch in der Struktur des Romans selbst durch die ausführliche Erläuterung und „Wegerklärung“ Olgas abgebildet.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Spannungserleben aus, dass einerseits die angesprochenen Möglichkeiten der Rettung vielfältig sind, andererseits aber auch ebenso diffus bleiben wie die konkrete Bedrohung und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Familie.96 Deren soziale Isolation im Dorf scheint zwar durch die Kommentare der Wirtin bestätigt zu werden, allerdings spricht dagegen auch wiederum Barnabas Ernennung zum Schlossboten. Anders gesagt wirkt sich vermutlich wiederum abschwächend auf das Spannungserleben der Umstand aus, dass Gründe und Konsequenzen des Elends vor allem der Eltern vage bleiben und damit auch die Zahl und die konkrete Ausformung der vom Rezipienten antizipierbaren Handlungsverläufe. Höher dürfte demgegenüber gerade diejenige Form von Spannung sein, die durch die vom Text aufgeworfenen Rätsel ausgelöst wird. Auf der globalen Ebene des Romans stellen sich vor allem Fragen der folgenden Art: - Wie ist K.’s Vorgeschichte? Lügt er beispielsweise oder hat er tatsächlich eine Familie? Wo kommt er her? Wie ist er in das Dorf gekommen? - Was genau will er im Schloss erreichen? - Was befindet sich überhaupt im Schloss? - Wie stehen die Schlossbehörden zu K.? - Wird K. Klamm treffen? - Liebt K. Frieda oder Olga? - Liebt Frieda K. oder Klamm? - ... Die dadurch erzeugte Neugier wird vermutlich im Laufe der Lektüre wiederum recht bald absinken, da zunehmend deutlich wird, dass die vom Text etablierten Rätsel weder explizit durch die Aufdeckung der rätselhaften Zusammenhänge noch implizit durch einfache Inferenzziehungen aufgelöst werden können. So gerät K. immer wieder in Situationen, in denen sein Verhältnis zum Schloss oder zu Frieda geklärt werden könnte, etwa in der Begegnung mit Barnabas, beim Gespräch mit dem Vorsteher, den beiden Auseinandersetzungen mit der Wirtin etc. Die geschilderten Situationen bringen in der Regel jedoch nicht die gewünschte Klärung der oben genannten Fragen, sondern bieten lediglich neue Deutungsmöglichkeiten des Geschehens, die jedoch in ihrem Plausibilitätsgrad und damit ihrer Hierarchisierbarkeit zueinander in kein eindeutiges Verhältnis gesetzt werden. Dass K.’s Bemühungen immer wieder zum Scheitern verurteilt sind beziehungsweise innerhalb der Logik des Erzählten sogar regelrecht scheitern sollen, zeigt prononciert das Gespräch mit Bürgel im 23. Kapitel. In diesem Gespräch, bei dem K. immer wieder einschläft und Bürgels Redeschwall kaum zuhören kann, zeigt sich 96

Bedrohlich ist die Erwartung des Todes der Eltern, allerdings ist wiederum undurchsichtig, inwiefern genau deren Verelendung nun mit der sozialen Ausgrenzung im Dorf zusammenhängt. Barnabas scheint ja Arbeit zu haben, ebenso Olga, eine grundständige materielle Versorgung ist also wohl gesichert. Die Entkräftung der Eltern ließe sich daher auch metaphorisch deuten als Veranschaulichung der Konsequenzen eines durch soziale Ausgrenzung erzeugten Schamgefühls im körperlichen Erleben der Figuren selbst.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

187

deutlich, dass K. die wichtigste sich ihm bietende Chance in Kontakt mit den Schlossbehörden zu treten nicht zu nutzen im Stande ist. Um diesen Schluss ziehen zu können, reicht es, davon auszugehen, dass der Erfolg nicht zu dem bisher in den einzelnen Episoden etablierten Handlungsschema passt. Dazu muss nicht entschieden werden, ob es K. selbst ist, der den Erfolg seiner Handlungen letztlich immer wieder torpediert, weil er ihn eigentlich gar nicht wirklich wünscht, oder aber eine irgendwie schicksalhafte Macht K.’s Kontakt zum Schloß immer wieder verhindert. Anders gesagt kann für die hier verfolgte Analyse offen bleiben, ob es sich um ein final oder kausal motiviertes wiederkehrendes Ereignisschema handelt. Die Vergeblichkeit von K.’s Bemühungen wird dabei ironisch gebrochen dargestellt, wenn er im Traum einen Sieg über die Schlossbehörden imaginiert, im Kontakt mit Bürgel aber nicht in der Lage ist, sein Anliegen, die Übertragung von Aufgaben in seiner Funktion als Landvermesser, vorzubringen: K. schlief, es war zwar kein eigentlicher Schlaf, er hörte Bürgels Worte vielleicht besser als während des frühern todmüden Wachens, Wort für Wort schlug an sein Ohr, aber das lästige Bewußtsein war geschwunden, er fühlte sich frei, nicht Bürgel hielt ihn mehr, nur er tastete noch manchmal nach Bürgel hin, er war noch nicht in der Tiefe des Schlafs, aber eingetaucht in ihn war er, niemand sollte ihm das mehr rauben. Und es war ihm, als sei ihm damit ein großer Sieg gelungen und schon war auch die Gesellschaft da es zu feiern und er oder auch jemand anderer hob das Champagnerglas zu Ehren des Sieges. Und damit alle wissen sollten, um was es sich handle, wurde der Kampf und der Sieg noch einmal wiederholt oder vielleicht gar nicht wiederholt sondern fand erst jetzt statt und war schon früher gefeiert worden und es wurde darin nicht abgelassen ihn zu feiern, weil der Ausgang glücklicher Weise gewiß war. Ein Sekretär, nackt, sehr ähnlich der Statue eines griechischen Gottes, wurde von K. im Kampf bedrängt. Es war sehr komisch und K. lächelte darüber sanft im Schlaf, wie der Sekretär aus seiner stolzen Haltung durch K.’s Vorstöße immer aufgeschreckt wurde und etwa den hochgestreckten Arm und die geballte Faust schnell dazu verwenden mußte um seine Blößen zu decken und doch damit noch immer zu langsam war. Der Kampf dauerte nicht lange, Schritt für Schritt und es waren sehr große Schritte [sic!] rückte K. vor. War es überhaupt ein Kampf? Es gab kein ernstliches Hindernis, nur hie und da ein Piepsen des Sekretärs. Dieser griechische Gott piepste wie ein Mädchen, das gekitzelt wird. Und schließlich war er fort; K. war allein in einem großen Raum, kampfbereit drehte er sich herum und suchte den Gegner, es war aber niemand mehr da, auch die Gesellschaft hatte sich verlaufen, nur das Champagnerglas lag zerbrochen auf der Erde, K. zertrat es völlig. Die Scherben aber stachen, zusammenzuckend erwachte er doch wieder, ihm war übel, wie einem kleinen Kind, wenn es geweckt wird, trotzdem streifte ihn beim Anblick der entblößten Brust Bürgels vom Traum her der Gedanke: „Hier hast Du ja Deinen griechischen Gott! Reiß ihn doch aus den Federn!“ (DS 415f)

Diese Traumszene veranschaulicht in gedrängter Form K.’s Selbstbild und dasjenige, das er vom Schloss entwirft, im Bild der Gegnerschaft, gleichzeitig werden hier die von K. subjektiv empfundenen Kräfteverhältnisse im manifesten Trauminhalt umgewertet und parallel dazu erzeugt dieser Kampf bei K. selbst während des Schlafes einen komischen Effekt. Ebenso bewahrt der Traum wie auch die Art seiner Schilderung ein Moment der Kritik, indem durch den Gebrauch des Konjunktivs und von Modalwörtern K.’s vermeintlicher Sieg wieder in eine Niederlage umgedeutet wird und die Wunscher-

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

füllung in Form eines Sieges und der Bewunderung durch andere am Ende selbst im Traum scheitert, ebenso wie letztendlich auch der Rückzug in den Traum vor Bürgel misslingt. Damit wird ein für K. typischer psychischer Mechanismus vorgeführt: Auch in der Traumszene wird nicht recht klar, ob K. nicht selbst erst Erfolge in Niederlagen umdeutet. Die Traumszene demonstriert das Ausmaß seiner eingetrübten Wahrnehmung. Durch die narrative Einbettung, innerhalb derer die Begegnung mit Bürgel nicht wesentlich weniger absurd wirkt als der Traum vom Sieg über den grotesk wie ein Mädchen piepsenden griechischen Beamtengott, wird K.’s Position in der Tat ironisiert, denn seine Unfähigkeit im eigenen Interesse trotz aller gegenläufigen Behauptungen tatsächlich auch zu handeln wird so wieder einmal – und in diesem Fall sogar besonders offensichtlich – hervorgehoben. Der komische Effekt, den die Szene erzeugt, lässt sich in der Analogie von Traumarbeit und kreativem Schaffensprozess auch als Metakommentar zum Erzählten selbst und der darin zum Ausdruck kommenden Absurdität von K.’s selbstbezogener Weltwahrnehmung verstehen, der wie im Traum die Dimensionen, Größen- und Machtverhältnisse verzerrt und alles Erlebte narzisstisch nur auf sich selbst bezieht. Anders gesagt kann die Episode auch als Rezeptionsanweisung verstanden werden, die einen in Bezug auf K. und die erzählten Ereignisse distanzierten, ironisch gestimmten Beobachter anvisiert. Ob man dieser Deutung von K.’s Traum folgen will oder nicht, mag letztlich für das hier verfolgte Interesse dahingestellt bleiben. Es dürfte allerdings deutlich geworden sein, dass spätestens in der Bürgel-Episode mit ihren detaillierten Darstellungen von K.’s tatsächlicher Ohnmacht und seiner lediglich imaginierten Allmacht den Schlossbehörden gegenüber das Handlungsschema des permanenten Scheiterns des Protagonisten inklusive der nicht erfolgenden Auflösung der aufgeworfenen Rätsel offensichtlich wird und damit das Spannungserleben insgesamt sehr niedrig sein dürfte. Anders sieht es dagegen vermutlich bei den komischen Effekten aus, die durch die Perpetuierung des genannten Handlungsschemas und dessen Ironisierung erreicht werden und die in dieser Szene kulminieren. Die Freude an komischen Effekten dürfte in dieser Episode besonders hoch sein. Das Erzählte und der Erzählvorgang können somit entweder als ironisch und komisch oder als quälend und ermüdend erlebt werden, je nachdem, ob die Komik als solche erkannt wird oder nicht beziehungsweise ob der Rezipient das Geschehen stärker aus K.’s Perspektive oder aus einer distanzierteren Beobachterposition heraus wahrnimmt. Aus dieser distanzierteren Beobachterperspektive kann der Betrachter allerdings gerade die kunstvolle Variation des oben beschriebenen Handlungsschemas von Kampf und vermeintlicher Niederlage mitsamt den daraus 97 entstehenden komischen Effekten in besonderer Weise genießen.

97

Anders gesagt, handelt es sich hier um eine Form der Artefaktemotion. Vgl. dazu auch Nutting, der sich aus einer biographisch-psychoanalytisch argumentierenden Perspektive mit der distanzierenden Wirkung des Humors im Schloß beschäftigt. Peter West Nutting, „Kafka’s ,strahlende Heiterkeit‘: Discursive Humor and Comic Narration in Das Schloß“.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

189

Die gesamte Episode mit Bürgel lässt sich nämlich unter inkongruenztheoretischen Gesichtspunkten als hochgradig komisch beschreiben: etwa aufgrund der Diskrepanz zwischen dem müden Bittsteller und dem hellwachen, aber dennoch im Bett liegenden Beamten, der gerade durch den Vertreter der gegnerischen Partei wieder zum Einschlafen gebracht werden möchte; des Kontrasts zwischen der Schilderung von K.’s Traum, in dem K. als Sieger über den Beamten erscheint, und seinem gleichzeitigen Unvermögen in der ihn umgebenden „realen“ Situation in gleicher Weise seine Interessen durchzusetzen; des larmoyanten Selbstmitleids Bürgels, der den Erschöpfungszustand seines Gegenübers nicht zu bemerken scheint und stattdessen die Sensibilität und Empfindlichkeit der Beamten vor einem Bittsteller, einem potentiellen Gegner, artikuliert; der genauen und detaillierten Schilderung der Möglichkeit, die sich der gegnerischen Partei während der Nachtverhöre in Auseinandersetzung mit den Beamten bietet, ohne dass deren Übertragbarkeit auf die eigene Situation von K. oder Bürgel bemerkt werden würde. Ganz allgemein muss die Art und der Rahmen, in dem das Gespräch stattfindet, einen zeitgenössischen Leser überraschen, der einen anderen typischen Ablauf im Gespräch zwischen Beamtem und Antragsteller erwarten würde:98 Beamte, die im Bett liegend Klienten empfangen, scheinen zwar in der erzählten Welt durchaus nicht untypisch für den undurchsichtigen, aufgeblähten und teilweise scheinbar absurd strukturierten Apparat der Schlossbürokratie, gesteht man allerdings zu, dass viele Elemente derselben an Alltagserfahrungen aus dem bürokratischen Arbeitsablauf der Entstehungszeit des Romans anschließen, kann das Gespräch über Kämpfe und Befindlichkeiten zwischen Beamtem im Bett und einnickendem Bittsteller auf der Bettkante als besonders seltsam, um nicht zu sagen komisch, befremdlich oder grotesk empfunden werden – dies vor allem vor dem Hintergrund der sehr ungewöhnlichen Gesprächssituation des „Nachtverhörs“, die auch im Text selbst thematisiert wird.99 Die BürgelEpisode kann damit als prototypisches Beispiel für das Schema von K.’s wiederholtem

98

99

Allgemein ist damit die Frage nach der Phantastik von Kafkas Texten angesprochen. In dieser Studie wird ein enges Verständnis des Phantastikbegriffs im Anschluss an Marianne Wünsch vertreten, nach dem Kafkas Texte nicht als phantastisch bezeichnet werden können. Vgl. Marianne Wünsch, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930). Definition, Denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen, 65–68. Genauer kann man wohl festhalten, dass Kafkas Schreiben an Alltagserfahrungen und damit verbundene Schemata und Skripts von bürokratischen Abläufen, partnerschaftlichen, familiären und freundschaftlichen Beziehungen anknüpft und diese in für ihn charakteristischer Weise abwandelt. Eine genauere Bestimmung dieser Abwandlungen, die möglicherweise zu dem Eindruck des „Kafkaesken“ an Kafkas Prosa beigetragen haben könnten, steht derzeit allerdings (noch) aus. Die im Rahmen der vorliegenden Studie vorgenommene Analyse des Schloß-Romans kann als ein Beitrag zu dessen genauerer Beschreibung im Hinblick auf emotionale Effekte verstanden werden. Dass für Kafkas literarische Darstellungen bürokratischer Abläufe die österreichische k.u.k.Bürokratie Pate gestanden haben dürfte, hat zuletzt Reiner Stach gezeigt. Vgl. Reiner Stach, Die Jahre der Entscheidungen, 316–334.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Scheitern verstanden werden, mit dem in diesem Fall sogar ein komischer, selbstreflexiver Effekt erzielt wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Intensität der empfundenen Spannung relativ gering sein dürfte und vor allen Dingen spätestens dann massiv absinkt, wenn erstens K. als Identifikationsfigur für den Rezipienten durch Vorgaben im Text fragwürdig gemacht worden ist und zweitens immer wieder Situationen geschildert werden, in denen die vom Text aufgeworfenen Rätsel scheinbar aufgelöst werden, am Ende der erzählten Episode aber doch wieder als Rätsel bestehen bleiben.100 Als zentraler Rezeptionseffekt lässt sich deswegen wohl derjenige der Desorientierung bestimmen, der von vielfältigen lokalen Überraschungseffekten begleitet ist, etwa wenn K.’s Landvermesserschaft immer wieder hinterfragt wird, sich herausstellt, dass die Wirtin eigentlich Friedas Mutter ist etc.101 So lässt sich vermuten, dass mit der Entfaltung der episodischen Struktur des Romans, die inhaltlich einem Wechselspiel von scheinbarer Detektion der aufgeworfenen Rätsel beziehungsweise von Verbesserung von K.’s Verhältnis zu den Schlossbehörden und den Dorfbewohnern und der anschließend erfolgenden Destruierung dieser Erwartungshaltung korrespondiert, ein Eindruck von Gleichförmigkeit erzeugt wird.102 Ob dieser als Langeweile empfunden wird, hängt sehr stark von dem vorausgesetzten Literaturkonzept sowie vom Rezeptionsmodus ab: Wird ein „spannender“ Text im Sinne hoher Suspense- oder Rätselspannung erwartet, so wird der Roman wahrscheinlich in der Tat relativ schnell „langweilig“ werden. Eine evolutionspsychologisch verfahrende Heuristik müsste wohl zu einem solchen Ergebnis kommen. Wird dagegen ein modernes Konzept von Hochliteratur vorausgesetzt, nach dem literarische Texte Modernisierungserfahrungen in einem weiten Sinne thematisieren sollen, so kann dem Roman mit guten Gründen attribuiert werden, er destruiere in Teilen die Zuschreibung von Bedeutung beziehungsweise unterlaufe den Kohärenzbildungspro100

Dies vermutet für die späte Prosa auch Kleinwort, ohne allerdings seine Analysen theoretisch überzeugend zu begründen oder am Text ausführlich zu belegen: Er geht davon aus, dass insgesamt eine polare Spannung in Form von tension für Kafkas Texte charakteristisch sei. Diese wird als permanentes dejà vu-Erlebnis aufgefasst, ohne dass diese Zuordnung jedoch genauer begründet würde oder im Anschluss für die Textanalyse fruchtbar gemacht wird. Malte Kleinwort, „Spannung(en) bei Kafka“, in Zwischen Text und Leser, 265–287, hier 266, 269, 271, 274. 101 „Jeder einzelne Handlungsteil weist eine unerwartete Wendung, eine verfremdende Drehung auf“. Peter U. Beicken, Franz Kafka. Eine kritische Einführung in die Forschung, 332. 102 So argumentiert auch Milman, dass die Erzählstruktur des Schlosses nicht hauptsächlich auf Spannungs- oder Überraschungseffekte hin konzipiert sei. Vgl. Yoseph Milman, „The Ambigous Point of View and Reader Involvement in Kafka“, 264. Der Roman erzeuge stattdessen ein Fremdheitsgefühl, dem in der hier vorgestellten Analyse wohl am ehesten das Gefühl der Desorientierung entspricht. Diese Stimmung der Fremdheit oder Desorientierung ist von zeitgenössischen und auch späteren Rezipienten immer wieder vereindeutigend der Figur K. selbst zugeschrieben worden, was wohl auch die für die frühe Schloß-Rezeption hochgradig identifikatorischen Lektüren erklären würde. K. wird hier als typischer Vertreter einer modernisierten und in den Zwischenkriegsjahren verunsicherten Gesellschaft wahrgenommen und trotz der durchaus ambivalenten Figurengestaltung als positiv zu bewertender Charakter imaginiert. Vgl. dazu unten Abschnitt 3.2.3.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

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zess gerade in der Absicht, die Modernisierungserfahrung etwa des Ich-Zerfalls und einer damit verbundenen kontingenten Weltwahrnehmung zu thematisieren. In diesem Fall wird gerade die Wiederholung und Variation des etablierten Erzählschemas von Kampf und Niederlage beziehungsweise unerkanntem Sieg und die damit verbundene Gleichförmigkeit der einzelnen Episoden als besonders interessant und vor allem auch als kunstvoll dargestellt wahrgenommen. Dieser Position widerspricht scheinbar Vincent: „[W]e are strangely aware of that this is somehow a dynamic novel, apparently lacking in progression and thematic excitement but in reality full of inner movement and tension.“ 103 Vincent geht allerdings von einer anderen Vorstellung von Spannung aus, wenn sie von „tension“ spricht. Dass in Kafkas Prosa und insbesondere im Schloß Wahrnehmungsvorgänge in ihrer Dynamik, Veränderbarkeit und in den daraus entstehenden Kontrasten dargestellt werden, soll durch die oben dargestellte Analyse nicht bestritten werden. Vielmehr sollte gezeigt werden, dass – ein Interesse des Lesers immer vorausgesetzt – gerade dieses Wechselspiel von kontrastierenden Deutungen derselben sozialen Situation und deren motivischer und stilistischer Ausgestaltung und Variation lustvoll erfahren werden kann, auch dann, wenn der Romantext keine hohe narrative Spannung in einem engen Begriffsverständnis erzeugt. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass gerade Kafkas Texte in besonderem Maße stark kulturell überformte Artefaktemotionen ausgelöst haben, was nicht zuletzt in deren internationalem Kanonisierungsstatus zum Ausdruck kommt wie etwa auch in dem alltagssprachlich gebräuchlichen, begrifflich vagen, aber dennoch viel verwendeten Schlagwort des „Kafkaesken“. Kafka avancierte so, vielleicht auch gerade wegen dieses sehr eigentümlichen, desorientierenden Schreibverfahrens, das empathische Leseprozesse immer wieder anregt und anschließend blockiert, zu einem länder- und kulturübergreifend paradigmatischen Vertreter der modernen Literatur. Nichtsdestotrotz wäre es wenig überzeugend Kafkas Schreibverfahren in toto so zu qualifizieren, als würden identifikatorische Lektüren dadurch prinzipiell ausgeschlossen oder als erzeugten seine Texte nur eine bestimmte Emotion.104 Zum einen handelt es sich beim Begriff der Identifikation um eine vom Rezipienten ausgehende Begriffsprägung, für deren Auftreten keine Indizien aus der Textstruktur abgeleitet werden können und daher bei der Beschreibung von Textfaktoren auch keine Verwendung finden sollte. Zum anderen finden sich im Text gehäuft Beschreibungen der Emotionalität von Figuren, die dem Leser eine empathische Einfühlung ermöglichen. Genauer müsste daher gesagt werden, dass durch das Problem der ambivalenten Informationsvergabe lediglich die tatsächliche Zurechnung der emotionalen Zustände zu den Figuren scheitert. Die eindeutige Zuschreibung von Emotionalität muss also sozusagen an der Figur vorbei erfolgen. Und dies ist, wie in Abschnitt 3.2.3 gezeigt wird, in der Tat auch häufig geschehen. 103 104

Deirdre Vincent, „,I’m the king of the castle‘“, 61. Vgl. Martin von Koppenfels, Immune Erzähler, 27, 153 und öfter.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Für die Figur der Amalia muss weiterhin einschränkend ergänzt werden, dass hier eine relativ unproblematische Einfühlung in die Figur und eine emotionale Parteinahme für diese durchaus auch durch die textintern nachweisbare, relativ stabile positive Figurenwertung selbst ermöglicht wird. Darüber hinaus steht die These von der emotionalen Immunität von Kafkas Stil in ihrer starken Form im Gegensatz zu zahlreichen poetologischen Selbstäußerungen Kafkas aus den Briefen und Tagebüchern, die eine irgendwie geartete starke emotionale Wirkung von Literatur, und nicht nur von einer Übertragung von Scham, geradezu zum Ziel des Schreibens erheben und außerdem Kafkas eigener Lektürepraxis entsprechen.105 Für die frühen Kafkatexte ließe sich mit Hilfe des oben entwickelten Instrumentariums darüber hinaus zeigen, dass und wie hier viel stärkere empathie- und sympathiebedingte Lektüreprozesse ermöglicht werden. Beispielhaft sei hier Die Verwandlung genannt, in der, so meine These, starkes Mitleid mit Samsa erzeugt werden soll. Gleiches gilt für das Heizerkapitel im Verschollenen. Bekanntermaßen hat Kafka dieses als „glatte Dickensnachahmung“ bezeichnet.106

3.2.3 Interpretation als emotionale Reaktion: Rezensionen aus den 1920er Jahren Zur Überprüfung und Ausdifferenzierung der am Text gewonnenen Hypothesen wird im Folgenden exemplarisch die Erstrezeption des Schlosses in zeitgenössischen Feuilletons betrachtet. Dabei soll erstens gezeigt werden, dass die zeitgenössischen Rezipienten dem Roman eine überwiegend starke emotionale Wirkung attestiert haben, dass und inwiefern diese zweitens als sehr komplex und vielschichtig beschrieben wurde und dass die emotionale Reaktion der Rezensenten drittens als sekundäre Reaktion auf Kafkas desorientierendes Schreibverfahren gedeutet werden kann. Ausführlicher wird dazu auf die Besprechungen von Max Brod, Siegfried Kracauer, Paul Leppin, Oskar Baum und Gert Bucheit eingegangen, die hinsichtlich der hier verfolgten Fragestellung die informativsten, differenziertesten und am deutlichsten differierenden Beiträge geliefert haben. Berücksichtigung finden aber prinzipiell alle nach der posthumen ersten Veröffentlichung des Fragments erschienenen Besprechungen. Vorab müssen jedoch einige methodische Probleme, die sich hinsichtlich der Vergleichbarkeit der aus der Textanalyse erhaltenen Ergebnisse und der Auswertung der Rezeptionszeugnisse ergeben, in Betracht gezogen werden. Die Rezeption des SchloßRomans zeigt, dass die desorientierende Schreibstrategie auch starke emotionale Reaktionen bei den zeitgenössischen Rezipienten hervorgerufen hat. Dowden hat die frühe 105

Vgl. hierzu diverse Tagebucheinträge Kafkas: Franz Kafka, Tagebücher 1910–1923, 11f, 21–24, 30, 61, 70, 73–75, 95f, 104f, 107, 113f, 132, 136f, 148, 154, 159f, 167, 176, 198, 212, 214–216, 224f, 227, 232f, 236f, 242, 247, 249, 251, 255, 259, 261, 273, 275, 294, 306f, 322, 326, 328, 340, 346f, 391, 394, 399, 408, 438, 469. Ähnliches lässt sich für die Briefe nachweisen. 106 Vgl. dazu Ritchie Robertson, Kafka, 95, 104.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

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Rezeption von Kafkas nachgelassenem letzten Roman ausführlich beschrieben. Er nennt für die Zeit der Weimarer Republik insgesamt vier zentrale Deutungsmuster, die die erste Phase der Rezeptionsgeschichte prägten, nämlich dasjenige der Religiosität – vor allem vorgegeben durch Max Brods einflussreiches Nachwort zur Erstauflage des Romans –, der mythischen Totalität – etwa bei Hermann Broch oder Siegfried Kracauer –, der Klassizität und der Präformierung der Deutung des Erzählten als politischer Parabel bei Walter Benjamin.107 Er erklärt diese mit mehr oder weniger ausgreifenden Kontextannahmen verbundenen, entsprechend auch mehr oder weniger plausiblen Deutungen im Anschluss an Peter Gay mit einem ausgeprägten Ganzheitsbedürfnis der Weimarer Ära.108 Dowdens Studie konzentriert sich auf die Gesamtdeutungen des Romans, nimmt dabei aber die emotionale Wirkung des Schlosses nicht genauer in den Blick. Im Folgenden soll daher anhand der ersten Besprechungen des Romans in zeitgenössischen Tageszeitungen und Zeitschriften gezeigt werden, welche emotionalen Wirkungen die Rezensenten diesem zugeschrieben haben.109 Allgemein muss festgehalten werden, dass es sich bei den ausgewerteten Rezeptionszeugnissen selbstverständlich um besonders elaborierte Texte handelt, die zur Veröffentlichung bestimmt waren, so dass in ihnen vor allem emotionale Wirkungen benannt werden, die den Rezipienten innerhalb der geltenden emotionalen Kodierungen und Regeln der Emotionspräsentation der Epoche als für die jeweilige Textsorte und allgemeiner die Rezeptionssituation passend erschienen. Mit anderen Worten kann eine solche Analyse von Rezeptionszeugnissen keine Aussagen darüber treffen, ob die beschriebenen emotionalen Wirkungen tatsächlich von den Rezensenten so erlebt worden sind, oder ob diese von den Autoren nur für sozial angemessen und der literarischen Lektürepraxis der Zeit entsprechend für adäquat gehalten worden sind. Sie unterliegt damit der Gefahr, der zeitgenössischen Diskurslogik mitsamt den entsprechenden sozialen Normierungen von Emotionalität aufzusitzen. Das Problem, das damit erkauft wird, nämlich Verzerrungen durch die zeitgenössische Diskursivierung der entsprechenden Gefühle hinnehmen zu müssen, ist nicht vollständig zu beseitigen; es kann jedoch durch die Einziehung einer emotionspsychologisch fundierten Heuristik, die von relativ basalen emotionalen Verarbeitungsprozessen wie Empathie, Sympathie, Spannung, Überraschung etc. ausgeht, minimiert werden. Ein anderes methodisches Vorgehen ist aus Gründen der Praktikabilität ausgeschlossen, da andere Formen der Überprüfung, 107

Stephen D. Dowden, Kafka’s Castle and the Critical Imagination, 10f, 16. „Intellectual life in the Weimar Era and its Austrian equivalent, the First Republic, was conspicuosly preoccupied with the theme of returning to some supposedly lost wholeness. A central aspect of finding the way back gave great force, in literature and politics, to the theme of redemption.“ Stephen D. Dowden, Kafka’s Castle and the Critical Imagination, 11. Vgl. auch Peter Gay, „The Hunger for Wholeness: Trials of Modernity“. 109 Diese finden sich gesammelt in Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924–1938, 139–182. Für die weitere Rezeptionsgeschichte siehe z.B. Richard Sheppard, „Das Schloß“ sowie Peter U. Beicken, „Typologie der Kafka-Forschung“.

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etwa durch empirische Nutzerbefragung, aufgrund des historischen Abstandes nicht möglich sind. Empirische Erhebungen unter heutigen Rezipienten können jedoch ergänzend hinzukommen, um die hier entwickelten, noch weitgehend ahistorisch gewonnenen Wirkungshypothesen weiter zu stützen oder zu falsifizieren.110 Die den genannten emotionalen Wirkungen unterliegenden zeitgenössischen kulturellen Kodierungen können im Anschluss mit Hilfe diskursanalytischer Verfahren eruiert werden. Mit diesen Vorbemerkungen versehen, kann die nun folgende Betrachtung von Rezeptionszeugnissen unter dem genannten Diskursivierungsvorbehalt zur Überprüfung und Ergänzung der oben entwickelten Wirkungshypothesen herangezogen werden. Ein erster Blick auf die Rezeptionszeugnisse zeigt, dass die meisten Rezensenten in Deutung und Bewertung des Romans Max Brod gefolgt sind, der K. bekanntermaßen als faustischen Menschen und seinen Kampf gegen die Schlossbehörden als allegorische Darstellung einer religiös motivierten Suche nach der göttlichen Gnade gedeutet hat. Brods Vorgaben prägen schon die den Rezensenten bekannte Textgestalt, denn Brod hat bekanntlich einige Änderungen und Streichungen im ursprünglichen Manuskript vorgenommen. So ist etwa die Kapiteleinteilung leicht verändert, die Kapitelüberschriften fehlen weitgehend – ausgenommen in der Amaliaepisode, in denen Brod Kafkas ursprüngliche Betitelung („Amalias Geheimnis“, „Amalias Strafe“, „Bittgänge“, „Olgas Pläne“) beibehält und damit die Kapitel, die keine eigene Nummerierung mehr erhalten, aus dem übrigen Textfluss heraushebt –; Orthographie und Interpunktion sind angeglichen worden. Die Bürgelepisode und das Gespräch mit Pepi nimmt Brod nicht mehr auf, das Gespräch zwischen K. und Hans und die Gisa-Schwarzer-Episode sind jeweils um eine Seite gekürzt worden. Im Nachwort nennt Brod außerdem bekanntlich noch das seiner Meinung nach von Kafka vorgesehene Ende, um seine allegorische Lesart zu untermauern: Der angebliche Landvermesser erhält wenigstens teilweise Genugtuung. Er läßt in seinem Kampfe nicht nach, stirbt aber vor Entkräftung. Um sein Sterbebett versammelt sich die Gemeinde, und vom Schloß langt eben die Entscheidung herab, daß zwar ein Rechtsanspruch K.’s im Dorfe zu wohnen nicht bestand – daß man ihm aber doch mit Rücksicht auf gewisse Nebenumstände gestatte, hier zu leben und zu arbeiten.111

Brods Eingriffe in die Textgestalt haben zur Folge, dass die oben anhand der Fassung der Handschrift entwickelten Wirkungshypothesen noch vorsichtiger auf die in den frühen Rezeptionszeugnissen artikulierten Wirkungen bezogen werden müssen. Lediglich Siegfried Kracauer und Paul Leppin distanzieren sich von dem von Brod vorgegebenen Deutungsschema: Ihr Interesse gilt stärker dem von Kafkas Schreibver110

Vgl. dazu etwa die noch unveröffentlichte, empirische Oxforder Dissertationsschrift von Emily Troscianko, The Literary Science of the ,Kafkaesque‘. 111 Franz Kafka, Das Schloss. Roman, in ders., Gesammelte Werke. Hg. v. Max Brod, 526f.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

195

fahren induzierten Effekt als der Auflösung von Widersprüchen im Text. Auf ihre Besprechungen wird daher genauer einzugehen sein. Auch Bucheits Besprechung weicht insofern von den in Brods Vorwort genannten Rezeptionsvorgaben ab, als der Autor zwar Brods Annahmen zum religiösen Hintergrund der Romanhandlung übernimmt, seine Rezension jedoch im Gegensatz zu Brod einen deutlich negativen evaluativen Charakter hat. Erkennbar von Brods Nachwort geprägt sind hingegen die Besprechungen von Hermann Menkes, Hans Sahl, Ludwig Winder, Wilhelm Emanuel Süskind, Paul Wiegler, Manfred Sturmann und Erik Ernst Schwabach. Brod verbindet seine Erläuterungen mit biographischen Daten des Autors, so dass seine wie auch die in der Tradition seiner Textrekonstruktion stehenden Rezensionen von einer identifikatorischen Lesehaltung bestimmt werden: So wird Kafka mit K. gleichgesetzt beziehungsweise K. mit Josef K. aus Der Proceß oder K. wird als prototypischer „Gefühlsträger“ seiner Zeit aufgefasst. Häufig treten die genannten Deutungsmuster auch in Kombination auf. Es passt zu dieser von Brod etablierten, stark autorzentrierten Interpretationspraxis, dass Kafkas Gesamtwerk – insbesondere seine zu diesem Zeitpunkt als Hauptwerke geltenden Romane – als stilistischer „Abdruck“ der Autorpersönlichkeit gedeutet worden ist und daher in den meisten Rezensionen vor allem die Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Texten betont werden. Parallelisierungen der beiden Romane sind daher ein charakteristisches Argumentationsmuster der in den Rezensionen häufig zu findenden autorintentionalen Textrekonstruktionen. Brod geht sogar so weit zu postulieren, in beiden Romanen sei „das Grundgefühl identisch.“112 Allerdings steht diese Annahme in einem Spannungsverhältnis zu seiner anschließenden These, dass im Proceß das Gericht, im Schloß dagegen die Gnade Gottes im Zentrum der Erzählung stehe – also zwei verschiedene Rollen der Gottheit und damit zwei sehr unterschiedliche kognitive Gehalte der die Lektüre begleitenden Emotionen. Intuitiv erscheint es daher erst einmal nicht folgerichtig, von einer identischen emotionalen Wirkung beider Romane auszugehen. Brods Erläuterungen prägen, wie sich leicht zeigen lässt, wesentlich die von den Rezensenten postulierten emotionalen Wirkungen von Kafkas letztem Roman; sie werden demgemäß häufig als direkter Ausdruck und Übertragung der Gefühle des Autors selbst beschrieben.113 So äußert sich schon Brod im Nachwort: 112

Max Brod, „Nachwort zu Franz Kafkas Roman ,Das Schloß‘“, in Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924–1938, 145. 113 Hinzu kommt, dass Brod mit dem Nachwort das seiner Meinung nach von Kafka beabsichtigte Ende des Romanfragments mitteilt, mit Hilfe dieser – bekanntermaßen umstrittenen – intimen Kenntnis der Absichten des Autors die Parallele zu Goethes Faust erst begründet und damit eine weitere Schlussfolgerung auf die intendierte ironische Gesamtwirkung des Romans ableitet. Gleichzeitig legt seine Festschreibung der Ziele K.‘s bereits eine positiv wertende Einstellung zu diesem nahe: „Mit diesem (allerdings sehr entfernten und ironisch gleichsam auf ein Minimum reduzierten) Anklang an Goethes ,Wer immer strebend sich bemüht, den dürfen wir erlösen‘ – sollte also das Werk enden, das man wohl als Franz Kafkas Faust-Dichtung bezeichnen kann. Freilich ist es ein ,Faust‘ in absichtlich bescheidenem, ja dürftigem Gewande und mit der wesentlichen Modi-

196

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven ,Das Schloß‘ ist sichtlich nicht so nahe an den druckfertigen Zustand herangebracht wie ,Der Prozeß‘, wiewohl es (ganz ebenso wie ,Der Prozeß‘) den Umkreis der Gefühle, den der Dichter durchmessen wollte, trotz seiner unvollendeten äußeren Gestalt innerlich restlos bewältigt. Es gehört dies mit zu den Geheimnissen und zu der absoluten Einzigartigkeit in Kafkas Dichtkunst, daß für den richtigen Leser der unvollendeten großen Romane von einem gewissen Punkt an, in dem die Voraussetzungen nahezu ohne Lücke gegeben sind, der äußere Abschluß an Wichtigkeit verliert. [...] - für all diesen Schabernack der Wertungen und Institutionen, für alle Hemmungen, Schwierigkeiten oder gar Unmöglichkeiten des Menschseins und die durch unsere Wirrnisse schwach durchleuchtende Ahnung einer höheren Sphärenordnung scheint mir Kafkas Roman ,Das Schloß‘ einen geradezu vollkommenen Ausdruck, gedanklich wie stimmungsmäßig (beides ununterscheidbar ineinander übergehend), geformt zu haben. Daß die an manchen Stellen vielleicht zunächst befremdende Ausführlichkeit absolut mit zum Wesen dieser Vollkommenheit gehört, wird nur der nicht verstehen, der es noch nie versucht hat, sich über irgendeine Tatsache des Lebens (z.B. Napoleon) und ihre Einordnung in den „rechten Weg“ (sei es des Mannes, sei es der Menschheit) ein Urteil zu bilden. [...] Als einer, der die Kraft und die große Fähigkeit gehabt hat, die Augen mit besonderer Energie und unter dem Antrieb der tiefsten Liebe (einer oft von Bitterkeit erfüllten und doch so zarten Liebe) offenzuhalten, hat Kafka – in seiner maßvollen Sprache ausgedrückt – „vieles gesehn“; vieles, was vordem ungeahnt war.114

Auch wenn aus Brods Bemerkungen nicht recht klar wird, welche Stimmung genau im Roman zum Ausdruck kommt und welchen spezifischen Gefühlsumkreis Kafka im Schloß durchmessen hat, so werden dem Roman hier doch emotionale Qualitäten wie Innerlichkeit, umfassende Darstellung emotionaler Gehalte, befremdliche Ausführlichkeit und liebevolle Genauigkeit der Beobachtung zugeschrieben. Diese werden als Eigenschaften gekennzeichnet, die auch das emotionale Erleben des Autors selbst geprägt haben. Des Weiteren werden dem Roman Eigenschaften wie Lebenslust, Ironie und ein daraus resultierender, eigenständiger Humor attribuiert: Daß ihn [K.] dies [die Zurückweisung durch die Schlossbehörden, C.H.] zu sehr despektierlichen Meinungen und Äußerungen über das „Schloß“ verleitet, vor dem er doch im Tiefsten seiner Seele ehrfürchtig bleibt, das konstituiert recht eigentlich die dichterische Lebenslust, die ironische Atmosphäre dieses unvergleichlichen Romans. [...] Dieses windschief-flächenhafte fikation, daß diesen neuen Faust nicht die Sehnsucht nach den letzten Zielen und äußersten Erkenntnissen der Menschheit treibt, sondern das Bedürfnis nach den primitivsten Lebensvoraussetzungen, nach Einwurzelung in Beruf und Heim, nach Eingliederung in die Gemeinschaft.“ An anderer Stelle nimmt Brod folgerichtig auf das im Roman zentrale Handlungsschema des Kampfes Bezug und beschreibt K.‘s Bemühungen in deutlich identifikatorischer Form als „Kampf um Liebe und um Eingliederung in die Gesellschaft“, während K. aus der Perspektive der anderen, Momus’ etwa, „mit Feindesblicken gesehen“ werde. Vgl. Max Brod, „Nachwort“, 146. 114 Max Brod, „Nachwort“, 144, 150. Brod rechtfertigt die Legitimität von Sortinis Brief unter Rückbezug auf Kierkegaard vor dem Hintergrund einer „Inkommensurabilität irdischen und religiösen Tuns“ und erklärt damit Amalias moralisches Recht der Verweigerung zu einem scheinbaren. Allgemeiner spricht er von der bizarren Gestaltung des Romans „von unendlicher und zartester Abgestuftheit“ und einer „dichterische[n] Lebenslust, [der] ironische[n] Atmosphäre dieses unvergleichlichen Romans“. Vgl. ebd. 148f.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

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Verhältnis von Mensch und Gott, die Unüberbrückbarkeit des Abstands auf rationalem Wege konnte nicht besser ausgedrückt werden (und deshalb ist die bizarre Gestaltung des Romans bei näherer Betrachtung doch die einzig mögliche) als durch die mit magischem Humor geschilderte Tatsache, daß das Himmlische, von Menschenvernunft aus visiert, bald als etwas Erhabenes und aller Liebe Würdiges erscheint, [...] bald aber höhnisch kritisiert wird, klugkritisch und dummkritisch, daß der Himmel gelegentlich sogar einen höchst verächtlichen (die Aktenregistratur), jämmerlichen, verwahrlosten oder launischen oder sinnlos koboldhaften (die Gehilfen), stets aber undurchdringlichen Anblick bietet.115

Die ironische und zum Teil auch humoristische Atmosphäre des Romans verdankt sich nach Brod also wesentlich der menschlichen und damit asymmetrischen Perspektivierung der Ereignisse und den aus dieser Asymmetrie und Undurchdringlichkeit hervorgehenden changierenden Bewertungen der beobachteten Personen, Dinge und Ereignisse. Genauer lässt sich festhalten, dass es K.’s scheiternde Versuche sind, den Apparat des Schlosses oder die sozialen Verflechtungen im Dorf zu durchschauen, die für die ironische116 Schreibweise des Romans kennzeichnend sind und damit einen komischen Effekt bewirken. Wenn gleichzeitig immer wieder von Wirrnissen und Befremdungserfahrungen die Rede ist, die sich dieses „undurchdringlichen Anblicks“ der Gottheit verdanken, so werden diese insgesamt jedoch unter der Prämisse der „schwach durchleuchtende[n] Ahnung einer höheren Sphärenordnung“117 und der inneren Vollkommenheit des Werkganzen als Resultat der Unerkennbarkeit der Gottheit interpretatorisch aufgelöst. Brods später in der Jüdischen Rundschau abgedruckte, religiös spezifizierte Deutung des Schlosses als die Problematik des assimilierten Judentums gestaltendem Roman ändert an den von ihm postulierten emotionalen Wirkungen während der Lektüre wenig.118 Hier ist ebenfalls mit deutlich identifikatorischen Zügen davon die Rede, dass der Roman „die Einsamkeitskomponente in uns [...] in überlebensgroßer erschreckender Deutlichkeit“ herausarbeite und damit „die große tragische Darstellung der Assimilation und ihrer Vergeblichkeit gegeben“ habe.119 Stärker betont Brod hier allerdings die Wirkung der Melancholie, die die Darstellung dieser vergeblichen Bemühungen erzeuge. Deren Spezifikum sei die für Kafka typische Abwesenheit einer die Verantwortung für die geschilderten Ereignisse übernehmenden Instanz: „(dies eine Stileigentümlichkeit Kafkas: Melancholie, die aus den Objekten, nicht aus subjektiver Willkür hervorzudringen scheint)“.120 Ursache der charakteristischen tragikomischen Wirkung des Romans sei die fehlende Transparenz der Verantwortlichkeit und des Verhältnisses von Recht 115

Max Brod, „Nachwort“, 149. Allerdings wird aus Brods Äußerungen nicht ganz klar, von welchem Konzept von „Ironie“ er ausgeht. 117 Max Brod, „Nachwort“, 150. 118 Max Brod, „Tragödie der Assimilation: Bemerkungen zu Franz Kafkas Roman ,Das Schloß‘“, in Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924–1938, 176–182. 119 Ebd. 177f. 120 Ebd. 179. 116

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und Unrecht: „Auf beiden Seiten ist Recht und Unrecht so unentscheidbar wie in Kafkas kompliziert tragikomischer Episode von dem unauffindbaren Akt des Landvermessers durcheinandergemischt.“121 Die Epitheta „unentscheidbar“ und „kompliziert“ deuten auf die verwirrenden Züge der Kafka’schen Prosa hin. Ausführlicher geht auf diese auf Verwirrung, Überraschung und Erheiterung des Lesers abzielende Schreibstrategie Oskar Baum ein, der außerdem das Ineinandergreifen von Komik und Angst als spezifischen Rezeptionseffekt des Romans ausweist. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Leitfrage: „Was ist das Wesen Franz Kafk as und der geheimnisvolle Zauber seines Werks?“122 Auffällig ist auch bei Baum die abschließende, in den einzelnen Rezensionen häufig wiederkehrende Referenz auf den Autor selbst und dessen Gemütslage. Dieser Umstand lässt sich natürlich auch damit erklären, dass der Roman posthum erschien und viele Rezensionen deswegen neben der Würdigung des Werks auch dessen Autor und sein Schreibverfahren zum Nebenthema ihrer Texte machen. Zum anderen dient die Referenz auf Kafkas vermuteten emotionalen Zustand beim Abfassen des Romans auch als Beglaubigungsstrategie der eigenen emotionalen Lektüre und steht außerdem in der Tradition der stark biographisch argumentierenden Werkdeutung Max Brods. Baum z.B. spricht ähnlich wie Brod von der „überirdischen Heiterkeit des Alleswissens und Allesverstehens“ als dominanter, vom Text evozierter Stimmung. Die abschließend von Baum genannten, oxymorontisch umschriebenen Qualitäten von Kafkas Stil und Persönlichkeit liegen dabei wohl in der ambivalenten Evaluation der dargestellten Ereignisse und Figuren des Romans begründet. Zu beachten ist auch, dass die Stimmungen von „Groll“ und „Verbitterung“ explizit als Rezeptionswirkungen ausgeschlossen werden: Und noch ein anderes scheint daran [an der innigen, nahen Verbindung von Schauer und Scherz, C.H.] beteiligt: Der Autor macht sich über den Leser lustig, neckt ihn, blamiert ihn, indem er mit advokatorischem Scharfsinn jedes Vorgefallene um- und umwendet. Erst überrascht er ihn durch eine günstige Wendung für den Helden, beweist aber sogleich, daß der Leser sehr oberflächlich und vorschnell geurteilt hat, und es, genau besehen, eigentlich eine ungünstige Wendung ist. Sobald man ihm das nun glaubt, klärt der nächste Satz darüber auf, daß es doch aber wieder nicht so ungünstig sei; es öffnet sich immerhin die eine oder andere nicht zu unterschätzende Aussicht; und der Schluß aller Erwägungen bleibt – wie ja wirklich zumeist im Leben – ein dünnes bißchen Hoffnungsschimmer, zu nichts nütze, als daß man nicht alle Möglichkeit des Weiterlebens als sinnlos aufzugeben, die Kraft hat, und geduldig weiterleidet. [...] Das ist das Wesen des Dichters und der geheimnisvolle Zauber seines Werks: Güte ohne Nachsicht, Sanftmut ohne Schwäche, fordernde sittliche Strenge ohne Hochmut; Schauer und Grauen der Wahrheit in einer kristallreinen, unerschrockenen, ausführlichen Klarheit, die

121 122

Max Brod, „Tragödie der Assimilation“, 182. Oskar Baum, „Die Wunder einer unscheinbaren Hölle“, in Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924–1938, 161 (Sperrung im Original)

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

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durch alles Fehlen von Verbitterung und Groll etwas von der überirdischen Heiterkeit des Alleswissens und Allesverstehens erhält.123

Zusammenfassend spricht Baum vom „geheimnisvollen Zauber des Werks“, betont das Ineinander von Tragik und Heiterkeit, attestiert K. ein Schuldbewusstsein124 und beschreibt ihn wie Brod als einen Suchenden: Es sind die Phantasien eines Verfolgten, der mit genialem Scharfblick durch alle trosthungrigen Selbsttäuschungen hindurch, seine wahre Lage erkennt, die Übermacht des feindlichen Schicksals richtig einschätzt und doch ohne Hysterie den aussichtslosen Kampf mit ungeheurer Seelenspannung in allen Phasen durchhält. Die Foltern haben den Anschein des Vorübergehenden, Einstweiligen, aber dennoch Unvermeidlichen. Sie sind vielleicht nicht wirklich vollauf verdient, aber auch nicht ganz unverschuldet. Tausend Augen verfolgen ständig in vorwurfsvoller Verwunderung den Helden, der etwas ändern zu können glaubt, und es erweist sich denn auch als Unternommenes als vergeblich und falsch.125

Baums Lektüre trägt deutlich identifikatorisch-bewundernde Züge, wenn er von K.’s „genialem Scharfblick“ und seiner „ungeheure[n] Seelenspannung“ als heldenhaft spricht. Ähnlich äußern sich auch viele andere Rezensenten. Dass eine dezisionistische Gesamtdeutung des erzählten Geschehens vor dem Hintergrund der polyvalenten Textstruktur letztlich unbefriedigend bleiben müsse, konstatiert dagegen wesentlich knapper Paul Leppin. Sein Interesse gilt dementsprechend gerade den durch den Text erzeugten Stimmungen und Emotionen und nicht der Auflösung der Rätsel oder der Vereindeutigung der für den Roman so charakteristischen ambivalenten Wertungshandlungen: Leppin schreibt Kafkas Stil grob gesagt das Potenzial zu, eine düstere Stimmung zu erzeugen, die als bedrohlich gekennzeichnet werden kann. Genauer ist die Rede davon, die geschilderten Ereignisse seien trotz ihrer Undurchschaubarkeit „angstvoll vertraut“, ihr Bild runde sich für den Rezipienten zu „einem Erlebnis quälend verschwimmender Grundfarbe [...], dessen magisch verhängte Wirkung in den Bezirken jener zwiespältigen, neuen Realität ihre Wurzeln hat, als deren Schöpfer Franz Kafka in der Literatur unseres Jahrzehnts ohne Zweifel angesprochen werden darf.“126 Als ebenso ambivalent wie die Darstellung der Ereignisse im Text charakterisiert Leppin die dadurch hervorgerufene Stimmung, wenn er die im Roman geschilderte Realität als „unheimlich und dennoch von nervenaufreizender Ge-

123

Oskar Baum, „Die Wunder einer unscheinbaren Hölle“, 164. Vorher spricht Baum dagegen von einer „eisige[n] Klarheit“ als charakteristischem Merkmal der vom Roman evozierten Gestimmtheit. Ebd. 161f. 124 „Die einzige Vorgeschichte des Romans ist eine Schuld, die der Landvermesser vor Eintritt in den Roman auf sich geladen haben muß, obgleich ihm keine Erinnerung, nur ein dunkles, vielleicht auch ganz grundloses Schuldbewußtsein, vorhanden ist, gewissermaßen nur ein Schatten der Schuld ohne sie selbst. (Die Erbsünde?)“ Ebd. 162. 125 Ebd. 163. 126 Paul Leppin, „Franz Kafkas andere Wirklichkeit“, in Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924– 1938, 166.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

wöhnlichkeit“127 bezeichnet. Er postuliert für das Schloß eine Stimmung der Trostlosigkeit, des Schuldgefühls und der Verzweiflung, die im Roman vorherrschend und auf deren Evokation hin Kafkas polyvalentes Schreibverfahren komponiert sei: Sich um die Deutung seiner [Kafkas, C.H.] Bücher befriedigend zu bemühen, halte ich für ein willkürliches, an hundert Kreuzwegen und Querstraßen ermüdendes Unterfangen. [...] Wichtiger als dieses scheint mir die Konstatierung eines Stils, der es vermag, eine fremde, bisher ungekannte Wirklichkeit, den unerschöpflichen Apparat ihrer Existenz, das ohnmächtig verzerrte Leben ihrer schlafwandlerisch erfühlten Welt in eine Luft zu bauen, die sich trostlos und unheilverkündend auf unsere Sinne legt, die arm ist an erlösendem Feuer, an Liebe und Himmelsbotschaft, in der man mit Atemnot kämpft, dumpfer Schuld und Verzweiflung.128

Im Gegensatz zu Brod geht Leppin nicht von starken religiös-allegorisierenden Vorannahmen aus und kommt in der Konsequenz zu dem Ergebnis, Kafkas Stil bewirke vornehmlich einen eher negativen emotionalen Effekt der Angst, der Verzweiflung, des Schuldgefühls und der Trostlosigkeit. Dies drückt sich auch in der Verwendung der Attribute in den Textteilen aus, in denen die Handlung referiert wird. Leppin spricht vom „sonderbare[n] Anonymus K., der irgendwie in seiner unklaren Eigenschaft als Landvermesser in ein unirdisch graues Dorf kommt“, von dem „zähe[n], von wunderlichen Schwierigkeiten beschwerte[n] Konflikt mit ungreifbaren ,Schloßbehörden‘“ und hält zu guter Letzt fest: [ ] der Roman, der leider trotz seines ansehnlichen Umfangs in seiner Durchführung allzusehr fragmentisch blieb, erschöpft sich in nutzlosen, von mystischem Druck gelähmten Versuchen einer rätselvollen Rechtfertigung. Ein schleimiger, an tausend Kleinigkeiten haftender Widerstand, unfaßbar, immer aufs neue gegenwärtig, rückt das Verhältnis der Personen, die in Kafkas Buch agieren, in ein trübes, lemurenhaft drohendes Licht.129

Die bedrohliche, angstinduzierende Wirkung des Romans wiederum resultiert, wie die von Leppin verwendete Blickmetaphorik nahelegt, aus der Undurchschaubarkeit der Ereigniszusammenhänge. Epitheta wie „trüb“, „sonderbar“, „unklar“, „verschwimmend“, „verhängt“ oder „verzerrt“ verweisen darauf. Verwandt damit sind Charakterisierungen wie „fremd“, „unheimlich“, „wunderlich“, „rätselvoll“, „ungekannt“ oder „unfaßbar“, die ebenfalls darauf hindeuten, dass etwas nicht gesehen, nicht verstanden, nicht eingeordnet werden kann. Undurchdringlichkeit und Angst, so legt es Leppins Besprechung nahe, gehören demnach eng zusammen und machen in Kombination die Spezifik der emotionalen Wirkung des Schloß-Romans aus. Pointiert eine charakteristische emotionale Wirkung von Kafkas Schreibverfahren herausgestellt hat dagegen Siegfried Kracauer, der den Roman als „Matrize eines Märchens“130, als Antimärchen versteht und ihm in Kontrast zum glücklichen und damit 127

Paul Leppin, „Franz Kafkas andere Wirklichkeit“, 166. Ebd. 166f. 129 Ebd. 166. 130 Siegfried Kracauer, „ ,Das Schloß‘: Zu Franz Kafkas Nachlaßroman“, zitiert nach Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924–1938, 139. 128

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freudigen Ausgang in der Tradition dieser Erzählgattung eine deutliche Angstwirkung attestiert: Daß das Wahre nicht in diese Welt eintritt, taucht sie in eine An gs t , die dem Märchenglück entgegengesetzt ist. Die Hexe frißt im Roman wirklich Hänsel und Gretel; jene Angst, an die keine andere Angst reicht: daß die Wahrheit verschüttet sei, umhüllt die Entscheidungen und Gespräche. Allein der Träumende kennt sie vielleicht, der im Traum zerfallene Mensch, der den nicht nur durch das Spiel der Triebe verrückten Daseinselementen preisgegeben ist. Der Mensch, der in das Antlitz der Meduse blickt, wird nach mythologischer Vorstellung versteinert; der Jude Kafka trägt das Entsetzen in die Welt, weil sich ihr das Antlitz der Wahrheit entzieht. Böte es sich: sie müßte irrsinnig werden vor Glück.131

Kracauer wendet sich in seiner Rezension gegen Brods religiös überformte Interpretation, versteht den Roman stattdessen als Parabel auf die „Abgesperrthe it des Me n schen von der Wahrhe it“.132 Der Roman hebt [...] die gewohnten Zusammenhänge auf und verschiebt die nunmehr vereinzelten Gegenstände, damit sie ihre Rückenansicht dem Beschauer zuwenden; denn gerade die Unzugänglichkeit ihrer Vorderansicht, die erst die wahre wäre, soll dargetan werden. Der Roman kehrt die normalen Tagesbilder und Oberflächenbeziehungen um, vielmehr er verkehrt sie nicht eigentlich, sondern gleitet über sie hinweg, als seien sie nicht vorhanden, und setzt an ihre Stelle ein Mosaik von Tatsachen und Begründungen, das die vertrauten Gegebenheiten völlig verdrängt.133

Ähnlich wie Leppin legt damit auch Kracauer grob gesagt ein Wechselverhältnis zwischen mangelnder Transparenz der geschilderten Ereignisse und einer damit verknüpften Angstwirkung nahe. Zu beachten ist allerdings der etwas anders gelagerte, erkenntnistheoretische Impetus seiner Überlegungen: Kracauers Analysen zielen im Gegensatz zu denen Leppins letztlich ähnlich wie bei Brod darauf ab, den erkenntnisphilosophischen Gehalt des Textes zu erfassen, die angenommene Angstwirkung dient nur zur Stützung der These von der „Verste llth eit des Irdischen“134, die der Roman gestalte. Knapp fasst Thomas Mann die in den anderen Rezensionen mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck kommenden Wirkungen der Angst, Komik, Bewunderung und Befremdung zusammen, wenn er Das Schloß als „[...] beängstigend, traumkomisch, treumeisterlich und krankhaft“ charakterisiert. Gleichzeitig verknüpft er diese Charakterisierung als einziger Rezensent mit der Feststellung einer betont lustvollen, verjüngend wirkenden Lektüre; der Roman sei „die sonderbar eindringlichste Unterhaltung, die man sich denken kann.“135 Alle weiteren ausgewerteten Rezensionen folgen im Wesentlichen den Überlegungen Brods, in Ausnahmefällen auch denjenigen Kracauers. Sie werden daher im Folgenden 131

Siegfried Kracauer, „,Das Schloß‘“, 142 (Sperrung im Original). Ebd. 141 (Sperrung im Original). 133 Ebd. 134 Ebd. (Sperrung im Original). 135 Thomas Mann, „Verjüngende Bücher: Kafka – Schwob – Schmeljow – Graf“, in Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924–1938, 169. 132

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nicht ausführlich wiedergegeben, sondern hinsichtlich einiger hervorstechender Merkmale überblicksartig dargestellt: Auffällig ist neben den Entsprechungen zu den oben herausgearbeiteten Wirkungen der Desorientierung und einer von den Rezensenten damit als verknüpft gedachten Angst oder Befremdung, dass dem Roman kaum je attestiert wird spannend zu sein. Die einzige Ausnahme bildet die Rezension von Wilhelm Emanuel Süskind, der sich „atemlos unterhalten“ fühlt, „rein als Spannung suchender Leser.“ 136 Allerdings attestiert Süskind diese Spannung der „Kunst und Kraft der Sprache“ und meint damit vermutlich nicht die hier in den Blick genommene narrativ erzeugte Spannung, sondern entweder die weiter oben in Abschnitt 2.4.2.1.1 beschriebene „tension“ oder das von Thomas Mann beschriebene Lusterleben während der Lektüre. Dagegen lassen sich häufig als identifikatorisch zu bezeichnende Lektüreprozesse nachweisen, indem K. im Sinne Brods als faustischer, nach Erlösung strebender Mensch oder im Sinne Kracauers als Wahrheitssuchender und damit als prototypischer Vertreter von Kafkas Generation verstanden wird. In deutlich weniger elaborierter Form als Autoren wie Brod oder Baum legt dies etwa Hermann Menkes dar, wenn er K.’s Kampf mit starken Geschlechtsstereotypen behaftet als Ausdruck von Männlichkeit deutet: Mit starker Kraft zwingt uns der Dichter zur Teilnahme an den Vorgängen, die uns wie eigene Angelegenheiten berühren. Das ist die dichterische Magie von Franz Kafka. Ein Dichter für Männer, dem alles Feminine fehlt und der in genialen Visionen im Einfachen das Große und Ewige allen Geschehens veranschaulicht.137

Ähnlich charakterisiert auch Wilhelm Emanuel Süskind Das Schloß als „gestaltgewordene, gleichsam bebilderte Konfession und Lebensdurchdringung eines Menschen.“138 Im Anschluss zählt er einzelne Aspekte des faustischen Strebens dieses „Jedermanns“ K. auf: Hier aber ist nichts Individuelles mehr: jeder ist wie K. in die Menschenwelt gestürzt, jeder hat den Auftrag, aus ihr heraus „schloßwärts“, himmelwärts zu tasten, jeden entsetzt die augenscheinliche Ungerechtigkeit und Schäbigkeit des Himmels, seine labyrinthische Allmacht. Jedermanns Sache ist es auch, in den Gedankengängen des Schlosses zu räsonnieren, d.h. Demut und Aufnahmebereitschaft für göttliche Gnade zu beweisen. 139

Solche als identifikatorisch oder genauer kollektiv identifikatorisch qualifizierbare Lektüren finden sich in ähnlicher Weise auch bei Manfred Sturmann140 und Erik Ernst

136

Vgl. Wilhelm Emanuel Süskind, „Franz Kafka“, in: Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924–1938, 160. 137 Hermann Menkes, „Neue Romane“, in Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924–1938, 152. 138 Wilhelm Emanuel Süskind, „Franz Kafka“, 158. 139 Ebd. 159. 140 Manfred Sturmann, „Ein Romanfragment Franz Kafkas“, in Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924–1938, 173.

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

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Schwabach. Schwabach lässt seine Analyse sogar in der pointierten Feststellung münden, Kafkas Geschichten seien eigentlich „Kafkas Gesichte“.141 Fehlt allerdings ein solches Deutungsschema, das K. als Typus begreift, fallen dessen Sympathiewerte nicht besonders hoch aus: Fremd, nie intim vertraut erscheint dagegen [gegen Heinrich Luhmanns Schreinermeister Anton Andreas Weitensicht aus Vogel Wunderlich, C.H.] Kafkas Hauptheld: der Landmesser „K.“ Trotzdem sich 486 Seiten ausschließlich mit seiner unscheinbaren Person beschäftigen, gewinnen wir kein Bild von ihm. Ja, wir erfahren nicht einmal seinen Namen. Auch sein Wollen und Tun bliebe uns ohne Max Brods erklärendes Nachwort ein Rätsel. [...] Um vieles einfacher, faßlicher und demgemäß packender gestaltet Luhmann sein dem „Schlosse“ verwandtes Motiv.142

Konsequent seiner Negativwertung des Romans folgend nimmt Bucheit an, dass Das Schloß keine starke emotionale Wirkung entfalte, wenn er Luhmanns Roman im Gegensatz zu Kafkas Romanfragment als wesentlich „packender“143 beschreibt und im Anschluss von „jener marmornen Sachlichkeit Kafkas“ spricht, „die fast mehr Virtuosität als Natur ist“.144 Auch wenn Bucheits Bemerkungen über Kafka und den mittlerweile kaum mehr bekannten Heinrich Luhmann unter ästhetischen Gesichtspunkten heute sicherlich nur wenige Leser überzeugen können,145 so veranschaulicht seine Rezension doch, welche stereotypen Erwartungen viele zeitgenössische Rezipienten an die Protagonisten der von ihnen gelesenen Romane hatten und wie im Vergleich dazu K. als wenig durchschaubarer Charakter auf diese wenig „heldenhaft“ gewirkt haben muss. Gleichzeitig macht Bucheits Bemerkung deutlich, dass die meisten zeitgenössischen Deutungen stark von Brods Erläuterungen und Deutungsvorgaben abhängig waren und dass der Roman ohne diese vielen zeitgenössischen Lesern möglicherweise völlig unverständlich geblieben wäre. Dieser Umstand führt für den hier verfolgten Zweck dazu, dass die oben gewonnenen Hypothesen nur begrenzt an den genannten Rezeptionszeugnissen überprüfbar sind, weil sie mit wesentlich weniger stark normativen interpretativen Verfahren aus dem Text abgeleitet worden sind. Insbesondere ergeben sich hieraus Probleme bei der Überprüfung von Amalias Sympathiewirkung. Im Kontext einer religiösen Deutung und vor dem Hintergrund der Annahme eines im Roman obwaltenden alttestamentarischen Gottes erklärt Brod Sortinis Antrag mit Kierkegaard zur religiösen Feuerprobe und damit zu einem Akt der Selbstopferung, der Amalia mit Fug und Recht abverlangt werden 141

Erik Ernst Schwabach, „Neue Bücher und Bilder“, in Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924– 1938, 175. 142 Gert Bucheit, „Neue Romane“, in: Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924–1938, 170f. Bucheit spricht auch von einem „Kreuzworträtsel[...] der Mono- und Dialoge“. Ebd. 171. 143 Ebd. 171. 144 Ebd. 172. 145 Den axiologischen Maßstab für Bucheits Bewertung bilden die Werke Gottfried Kellers und die diesen zugeschriebenen Eigenschaften: „[b]ehaglich, spitzpinselig, tiftelnd, bewegt, voller Blut“. Vgl. ebd. 172.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

kann.146 Ihre Weigerung auf Sortinis Brief einzugehen muss vor einer solch stark religiös überformten Deutungsfolie als wenig positiv eingeschätzt werden, da sie das Anstößige in Sortinis Antrag nivelliert. Auch wenn Brod hier nicht ausführlicher auf die emotionsbezogenen Implikationen seiner Interpretation der Amaliaepisode eingeht, ist vor dem Hintergrund seiner Analyse doch mit einer Abwertung und damit einer insgesamt negativen Beurteilung der Figur zu rechnen. Viele Rezensionen behandeln dagegen die Problematik um Amalia, Barnabas oder deren Familie gar nicht explizit. Bei Sahl ist am Rande von „einige[n] absonderliche[n] Gestalten um K., eine Olga und eine Amalie [sic!]“147 die Rede. Lediglich Wiegler geht neben Brod ausführlicher auf die Sortini-Episode ein und spricht von einer ungerechtfertigten „Verfemung Amalias und der ihren wegen Sortinis und seines schmachvollen Briefes“.148 Diese moralische Bewertung von Sortinis Antrag und damit indirekt auch von Amalias Verhalten lässt keine direkten Schlüsse in Bezug auf ihre Sympathiewirkung zu, immerhin zeigt Wieglers Bemerkung aber, dass er Sortinis Verhalten unter moralischen Gesichtspunkten für nicht gerechtfertigt hält und dass, so darf man wohl schlussfolgern, Amalias Verhalten nicht im Widerspruch zu Wieglers eigenen moralischen Wertvorstellungen steht. Die Tatsache, dass Wiegler Brod hier nicht folgt, ist umso interessanter, als Wieglers Besprechung insgesamt stark von Brods Nachwort beeinflusst ist. Auch wenn Wiegler nicht explizit auf Distanz zu Brods Verständnis der Amalia-Episode geht, so kann seine abweichende moralische Beurteilung von Sortinis Antrag doch als Indiz dafür gelten, dass Brods Annahmen in diesem Punkt auf stärkeren Widerstand gestoßen sind als seine Gesamtdeutung des Romans. Für die oben postulierte Sympathiewirkung der Figur jedenfalls lassen sich in den Rezeptionszeugnissen nicht genug stichhaltige Hinweise finden, allerdings auch keine Gegenbeispiele, wenn man von Brods kontraintuitiver Deutung absieht, die etwas angestrengt um eine Rationalisierung von Sortinis Verletzung allgemein akzeptierter moralischer Regeln des Rezeptionskontextes bemüht ist.149 Insgesamt lassen sich aber aus der Betrachtung der Rezeptionszeugnisse einige vorsichtige Verallgemeinerungen ableiten, die den oben entwickelten Hypothesen nicht widersprechen, diese in der Regel sogar stützen. Die These, dass als wichtigster emotionaler Rezeptionseffekt Desorientierung auftritt, lässt sich, wie oben bereits angedeutet, anhand zahlreicher Textstellen aus den ausgewerteten Rezensionen belegen: So ist von der „Unentwirrbarkeit der Zusammenhänge im Dorf“ die Rede und von der „unergründliche[n] Absicht“ der Schloßbehörden150, vom „undurchdringlichen Anblick“ des 146

Vgl. Max Brod, „Nachwort“, 148. Hans Sahl, „Das Buch, das das Tagebuch empfiehlt: Franz Kafka, ,Das Schloß‘“, in Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924–1938, 153. 148 Paul Wiegler, „West-östliche Romane“, in Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924–1938, 166. 149 Hingewiesen sei hier allerdings auf die frühe Forschungsliteratur zu Amalia, in der sehr kontrovers darüber diskutiert wurde, ob diese nun eine bewunderungswürdige Figur sei oder nicht. Vgl. dazu Richard Sheppard, „Das Schloß“, 464. 150 Siegfried Kracauer, „Das Schloß“, 140. 147

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

205

Himmels und der „rätselhaft[en]“ göttlichen Lenkung151, der „verwirrende[n] Größe“ und vom „Surrealismus“ des gesamten Romans152, seiner „ungewöhnliche[n]“ Perspektive und der „fremde[n], bisher ungekannte[n] Wirklichkeit“153, die im Text gestaltet werde, einem „Verzicht auf genaue Konturen“154, dem „Kreuzworträtsel der Mono- und Dialoge“155, der „marionettenhafte[n] Verzerrung“ des menschlichen Schicksals156 und der „wirklich-unwirkliche[n] Atmosphäre“157 innerhalb der erzählten Welt. Häufig finden sich Qualifikationen wie „merkwürdig“158, „rätselhaft“159, „verzerrt“160, „unbegreiflich“161 und andere mehr. Resümierend hält Menkes fest: „Die Romane [Der Proceß und Das Schloß, C.H.] bieten sich als Bruchstücke, denen es aber an innerer Geschlossenheit nicht fehlt, werfen Probleme auf, die nicht gelöst werden, jedoch zu tiefer Nachdenklichkeit stimmen.“162 Bemerkenswert ist, dass die zitierten Zuordnungen der Rätselhaftigkeit und Undurchschaubarkeit der Romanhandlung selbst von denjenigen Rezensenten getroffen werden, deren Textverständnis maßgeblich von Brods Nachwort beeinflusst ist. Brods Erläuterungen haben offensichtlich also nicht dazu geführt, dass die desorientierende Wirkung der zahlreichen vom Text aufgeworfenen Rätsel vollständig aufgehoben wird, vielmehr nutzen die Rezensenten Brods Textdeutung dazu, die Wirkung der Rätselhaftigkeit als intendierten Effekt dieser, ihrer Meinung nach religiösen Parabel über die göttliche Gnade auszuweisen. Als sekundäre Reaktion auf diese desorientierende Wirkung attribuieren die Rezensenten, wie die Auswertung der Rezeptionszeugnisse gezeigt hat, dem Schloß je nach Lesart insgesamt drei verschiedene Varianten der emotionalen Anteilnahme: nämlich diejenigen der Angst, der Komik sowie – dies lässt sich aus Bucheits kontrastivem Vergleich mit Heinrich Luhmanns Vogel Wunderlich ableiten – der Langeweile. Die drei genannten emotionalen Prozesse unterscheiden sich dabei hinsichtlich ihrer evaluativen 151

Max Brod, „Nachwort“, 148f. Hans Sahl, „Das Buch, das das Tagebuch empfiehlt“, 153, 155. 153 Paul Leppin, „Franz Kafkas andere Wirklichkeit“, 164, 167. 154 Paul Wiegler, „West-östliche Romane“, 167. 155 Gert Bucheit, „Neue Romane“, 170. 156 Manfred Sturmann: „Ein Romanfragment Franz Kafkas“, 172, 174. Schwabach spricht von der „unwirkliche[n] Wirklichkeit des Geschehens“. Erik Ernst Schwabach, „Neue Bücher und Bilder“, 176. 157 Manfred Sturmann, „Ein Romanfragment Franz Kafkas“, 174. 158 Hermann Menkes, „Neue Romane“, 151; Hans Sahl, „Das Buch, das das Tagebuch empfiehlt“, 154; Wilhelm Emanuel Süskind, „Franz Kafka“, 158, 160; Erik Ernst Schwabach, „Neue Bücher und Bilder“, 175f. 159 Hermann Menkes, „Neue Romane“, 151; Ludwig Winder, „Prager Autoren“, 155. 160 Paul Wiegler, „West-östliche Romane“, 167; Manfred Sturmann, „Ein Romanfragment Franz Kafkas“, 173. 161 Max Brod, „Nachwort“, 145. 162 Hermann Menkes, „Neue Romane“, 151. An dieser Stelle ist zwar nicht ganz klar, ob die von Menkes beschriebene Nachdenklichkeit mit dem hier betrachteten Phänomen der Desorientierung gleichzusetzen ist. Die Satzeinbettung legt diese Vermutung allerdings nahe. 152

206

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Komponente und des Grades der Distanz zu den Figuren beziehungsweise zum Erzähler. Gleichzeitig können sie nicht mehr eindeutig aus der Textstruktur abgeleitet werden, sie sind vielmehr hinsichtlich verschiedener Rezipientengruppen und/oder Rezeptionsmodi ausdifferenziert: Die beschriebenen Gefühle der Angst, des Grauens, der Trostlosigkeit, Qual, aber auch der Enttäuschung oder Langeweile lassen sich insofern mit den oben gewonnenen Hypothesen über die desorientierende, darin aber gleichförmige Wirkung des Romans in Einklang bringen, als diese als emotionale Folgereaktion auf das im Roman perpetuierte Handlungsschema des gegen einen diffus bleibenden Gegner gerichteten Kampfes und einer in ihren Intentionen und Emotionen nicht verständlichen sozialen Umgebung verstanden werden können. Im Falle der Angst, so lässt sich anhand von Kracauers Überlegungen demonstrieren, tritt eine empathische oder identifikatorische Lesehaltung hinzu, die die eingeschränkte Perspektive K.’s oder einer der anderen Figuren, sogar die präsupponierte des Autors übernimmt, diesen eine Angstreaktion auf die empfundene Verunsicherung attribuiert und demgemäß deren Desorientierung ebenfalls als bedrohlich empfindet. Im Falle der Langeweile oder möglicherweise gar der Enttäuschung dagegen muss ein distanzierter Rezeptionsmodus vorausgesetzt werden, kombiniert mit einem literaturbezogenen Wertsystem, das ein global desorientierendes Schreibverfahren wie im Schloß eher negativ bewertet. Eine Positivwertung dieser stilistischen Eigenschaften des Romans liegt dagegen Brods und Baums Annahme zugrunde, dieser erzeuge eine heiter-ironische Stimmung – vermutlich vorgenommen aus einem ähnlich distanzierten Rezeptionsmodus beziehungsweise einer stärkeren Orientierung am Erzähler oder Autor heraus. Auch die dem Roman des Öfteren attestierte Wirkung der Ironie oder Komik sowie der heiteren Gestimmtheit lassen sich also als Produkt der ambivalenten Informationsvergabeprozesse im Roman und hier vor allem der uneindeutig bleibenden Figurenkonzepte erklären. Deren Ambivalenz wird dann, so lässt sich aus den ausgewerteten Rezensionen ableiten, als eine Form der ironischen Distanzierung verstanden, die Komik erzeugt: von Baum etwa als Spiel des Autors mit dem Leser interpretiert, der sich über diesen lustig mache; von Brod als Reaktion auf die mit Hilfe dieses stilistischen Verfahrens erzeugte Einsicht in die beschränkte Erkenntnisfähigkeit des Menschen verstanden. Ebenso wie die oben knapp umrissenen emotionalen Folgereaktionen spricht die Adaption von Brods Werkdeutung für die stark verunsichernde Wirkung, die der Roman auf die Rezensenten ausgeübt haben muss. Interessant ist allerdings, dass diese Stimmung und deren Folgereaktionen häufig K. oder Kafka zugeschrieben wurde und dies im Anschluss als Argument für dessen Status als Typus beziehungsweise bewunderter genauer Beobachter der eigenen Zeit genutzt wurde. Hier ist bereits eine Werkdeutung präformiert, die sich später fortsetzen sollte und deren Bezugspunkt der Autor selbst bildet. Die oben entwickelten empathie- und sympathiebezogenen Hypothesen zum Protagonisten K. und zur Figur der Amalia lassen sich im Falle der letzteren aufgrund feh-

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

207

lender Informationen, im Falle des ersteren aufgrund des innerhalb des Rezeptionskontextes dominanten biographischen Deutung mit Hilfe der ausgewerteten Rezeptionszeugnisse nur teilweise bestätigen. Abschließend bleibt zu sagen, dass die für Kafkas Texte auffällige Deutungsflut auch darauf zurückzuführen ist, dass seine Texte hohe Ansprüche an eine konzentrierte und genaue Lektüre stellen, gleichzeitig trotzdem meist rätselhaft und widersprüchlich bleiben und dadurch Deutungsversuche des Lesers provozieren und verhindern. Diese Erkenntnis ist bekanntermaßen nicht neu, sondern liegt bereits der von Theo Elm und Jacques Derrida vertretenen und mitunter auch verabsolutierten Autoreferentialitätsthese zugrunde.163 Neu ist allerdings deren emotionstheoretisch fundierte Begründung, die auch mit einer geänderten Untersuchungsperspektive einhergeht: Nicht die Rekonstruktion der Bedeutung oder gar des „Sinns“ des Romans stand hier im Zentrum, sondern der emotionale Effekt der spezifischen Deutungsoffenheit des Schloß-Romans. Empirisch überprüft worden ist die These von der desorientierenden und faszinierenden Wirkung von Kafkas Œuvre in letzter Zeit z.B. in einer Studie von Troscianko, die anhand verschiedener Fassungen von Schakale und Araber zeigen konnte, dass die stärkste von allen Textfassungen induzierte Wirkung diejenige der Spekulationsbereitschaft und Verunsicherung ist. Insgesamt fiel die kognitive Beteiligung der Rezipienten höher aus als die emotionale.164 Der allgemeine, am Schloß hier noch einmal demonstrierte Befund von der Deutungsoffenheit sollte jedoch nicht dazu führen, Kafkas Schreibverfahren in toto so qualifizieren zu wollen, als schließe es den Rezipienten prinzipiell von der emotionalen Einfühlung in die Figuren aus und erzeuge dadurch eine bedrohliche, verunsichernde Atmosphäre. Vielmehr hat einerseits gerade die Undurchdringlichkeit der dargestellten Ereignisse und vor allem Personen je nach Rezeptionsumfeld wiederum teilweise sogar starke, historisch nachweisbare identifikatorische Leseprozesse bewirkt und ist andererseits erst noch zu prüfen, ob diese These vorbehaltlos auf andere Texte Kafkas übertragen werden kann. Ein Vergleich gerade mit der frühen Prosa käme wahrscheinlich zu einem deutlich differenzierteren Ergebnis. Schon in Bezug auf das Schloß ist die These vom immunen Erzähler Kafka nur mit Einschränkungen aufrechtzuerhalten. Anders gesagt, erweist sie sich aus einer textzentrierten Perspektive als zu vage, um für die 163

Vgl. dazu den Forschungsüberblick bei Friedrich Schmidt, Text und Interpretation. Zur Deutungsproblematik bei Franz Kafka, 285–297. Auch Deleuzes und Guattaris Anwendung des Rhizombegriffs auf Kafkas Werk und dessen Charakterisierung als „kleine Literatur“ ist u.a. von dessen Deutungsoffenheit motiviert. Vgl. Gilles Deleuze und Felix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, 7, 24–39, 57 und öfter. Neu ist allerdings deren emotionstheoretisch fundierte Begründung, die auch mit einer geänderten Untersuchungsperspektive einhergeht: Nicht die Rekonstruktion der Bedeutung oder gar des „Sinns“ des Romans stand hier im Zentrum, sondern der emotionale Effekt der spezifischen Deutungsoffenheit des Schloß-Roman 164 Vgl. Emily Trosicanko, The Literary Science of the ,Kafkaesque‘, 240, 262.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

historische Rezeption nachweisbaren emotionalen Wirkungen von Kafkas Prosa differenziert beschreiben und erklären zu können. Auffällig ist außerdem die hohe Dichte an Textstellen, die auf das Vorhandensein von Artefaktemotionen der Bewunderung, seltener der Lust hindeuten und die vor allen Dingen auf die Kunstfertigkeit, in der Regel sogar die gesamte, den Rezensenten in der Nachfolge Brods zufolge durchscheinende Persönlichkeit des Autors gerichtet sind. Genauer ist Letzteres bemerkenswert, denn der Gebrauch stark positiv oder negativ wertender Begriffe, auch in Bezug auf die künstlerischen Fähigkeiten des Autors, ist für die Textsorte „Rezension“ natürlich typisch. Durch Brods Vermittlung gerät allerdings schon sehr früh der Autor selbst, zum Teil auch ganz unabhängig vom besprochenen Werk, in den Fokus der Kritiker. Bereits zu Beginn der Rezeptionsgeschichte lässt sich hier also das Phänomen der Mythisierung und damit auch Emotionalisierung der Autorpersönlichkeit und damit verbunden von Kafkas Biographie beobachten, das auf Kafkas späteren Status als kanonischer Autor im weltliterarischen Maßstab, zum Teil ganz unabhängig von der tatsächlichen Kenntnis seiner Texte, vorausdeutet. So spricht Kracauer bewundernd vom „einzige[n] Kafka“165, Brod betont die „Einzigartigkeit von Kafkas Dichtkunst“ und den „vollkommenen Ausdruck“166 seiner gestalterischen Absichten im Roman, Menkes vergleicht Kafka mit Dostojewski und lobt die „innere[...] Geschlossenheit“167 seiner Romane. Es finden sich Attributionen wie „sublim-dichterische[r] Adel“168, „genial angelegtes Kunstwerk“, „zeitlos-prophetische[...] Kunst, eines Dante, eines Hölderlin“169 oder schlicht „der große Erzähler Franz Kafka“170, der „Epiker ganz groß en Fo rma ts“171. Häufig ist es das von Dowden herausgearbeitete Deutungs- und Wertungsmuster der Klassizität und Zeitlosigkeit, das Kafkas Œuvre wie seinem nachgelassenen Romanfragment mit emotional konnotiertem Vokabular zugeschrieben wird – nicht zuletzt nahegelegt durch Brods Schlagwort von der „Faustdichtung“. Bei Sahl ist vom „Klassisch-Große[n] an Franz Kafkas letzten Büchern“172 die Rede. Sturmann resümiert: Alle Fragen, welche unsere Zeit an uns stellt, und welche die Zeit überhaupt je an ihre Wesen gestellt hat, sehen wir in dem Werke Franz Kafkas berührt, das der Herausgeber Max Brod als eine Faust-Dichtung bezeichnet. darum sollten gerade wir Jüngsten diesen Dichter lieben lernen, der so „modern“ ist – eben weil er zeitlos ist.173

165

Siegfried Kracauer, „Das Schloß“, 140. Max Brod, „Nachwort“, 144, 150. 167 Hermann Menkes, „Neue Romane“, 151. Bei Baum ist vom „einheitliche[n] Organismus“ des Werks die Rede. Oskar Baum, „Die Wunder einer unscheinbaren Hölle“, 161. 168 Thomas Mann spricht von „sublimer Sorgfalt“. Thomas Mann, „Verjüngende Bücher“, 169. 169 Hans Sahl, „Das Buch, das das Tagebuch empfiehlt“, 153, 155. 170 Ludwig Winder, „Prager Autoren“, 156. 171 Manfred Sturmann, „Ein Romanfragment Franz Kafkas“, 173 (Sperrung im Original). 172 Hans Sahl, „Das Buch, das das Tagebuch empfiehlt“, 152. 173 Manfred Sturmann, „Ein Romanfragment Franz Kafkas“, 175. 166

3.2 Modellanalyse zu Kafkas Das Schloß

209

Süskind folgt am ausgeprägtesten dem von Brod etablierten Autormythos und kommt in Anbetracht von Kafkas Wunsch, seine Manuskripte zu vernichten, zu dem Schluss, die Romane dürften nicht mit „normalen“ literarischen Maßstäben gemessen werden: Staunenswertes Ereignis: einer, der zu unseren Schreibenden gehört, will seine Bücher nicht drucken lassen, vernichtet seine wichtigsten Manuskripte! Hat er denn Angst, sie möchten den Büchermarkt beunruhigen? Oder ist er vielleicht gar kein Literat, mehr: ist er vielleicht gar kein Dichter im Grunde, sondern etwas Größeres, Allgemeineres? Hat er vielleicht gar nicht geschrieben, damit gedruckt und gelesen werde, sondern aus persönlichen Gründen des Klarheit-Suchens, Ordnung-Schaffens, aus tiefster Pflicht der „Betrachtung“ [...]? Scheute er sich wohl, sein nur für ihn gültiges Räsonnement, von persönlichen Abkürzungen und Siegeln durchzogen, wie es vielleicht war, einer Öffentlichkeit vorzulegen, die einen Roman erwartete, einen Roman wie tausend andere? Man sollte dies alles wohl im Auge haben, wenn man diese Gott sei Dank geretteten Romane nun liest, [...]. Man sollte es im Auge haben, wie man wissen muß, daß man diese Bücher nicht etwa literarisch beurteilen und lesen darf, sondern als gestaltgewordne [sic!], gleichsam bebilderte Konfession und Lebensdurchdringung eines Menschen.174

Und Oskar Baum leitet seine Besprechung ein, indem er als die für Kafkas Werk angemessene Rezeptionsweise eine Haltung der Ehrerbietung und Liebe proklamiert: Ich möchte von jenem Dichter sprechen, den die Allgemeinheit immer noch so wenig kennt, den aber die führenden Geister als einen der ihren ehrerbietig grüßen und alle, denen das Wesentliche ihrer Epoche am Herzen liegt, als einen der ureigensten und reinsten dieser Zeit erkennen und lieben.175

Bewunderung für das Werk und eine von Bewunderung getragene Form der Liebe zum Autor, wie sie Baum nennt, werden von den Rezensenten deutlich häufiger genannt als eine primär auf den Lektüregenuss gerichtete Lusterfahrung. Die hier artikulierten Artefaktemotionen richten sich also bereits früh weniger auf einzelne Texte selbst, vielmehr bevorzugt auf das Gesamtwerk und vor allem dessen Autor. Hier würde sich im Anschluss ein diachroner rezeptionsgeschichtlicher Vergleich mit der späteren Kanonisierung des Gesamtwerks im Hinblick auf die dabei artikulierten Artefaktemotionen anbieten. Zu prüfen wäre, ob und in welcher Weise sich hier Verschiebungen ergeben, z.B. weg von der im Rahmen der frühen Rezeption geäußerten Bewunderungsreaktion hin zu stärker „lustbetonten“ Lektüren oder gar negativen emotionalen Reaktionen auf das Werk.

174 175

Wilhelm Emanuel Süskind, „Franz Kafka“, 157f. Oskar Baum, „Die Wunder einer unscheinbaren Hölle“, 161.

210

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

3.3 „Ein Buch für schlaflose Nächte“: Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages Leo Perutz’ Werk – insbesondere seine selbstständig verfassten Romane und die Kurzprosa – ist im Gegensatz zu demjenigen Kafkas nicht in den germanistischen Kernkanon aufgenommen worden, obwohl es seit den 1980er Jahren immer wieder Bemühungen gegeben hat, seine literarische Qualität in literaturwissenschaftlichen Studien stärker herauszustellen.176 So lässt sich Perutz’ Platz im Randkanon der Germanistik etwa auf der Ebene motivationaler Wertungen ablesen: Es erscheinen nach wie vor vergleichsweise wenige Studien zu seinen literarischen Arbeiten, es liegt bisher keine historisch-kritische Werkausgabe vor, Perutz’ Texte werden nur selten und dann in der Regel nicht exklusiv zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Vorlesungen oder Seminare etc. Obwohl seine Romane und Erzählungen also nicht vergessen, vielmehr im Buchhandel sogar als Taschenbuch lieferbar sind und er des öfteren Erwähnung in Handbüchern und Literaturgeschichten findet, kommt Ihnen ein anderer Kanonizitätsstatus zu als z.B. dem Werk Franz Kafkas. Dies hat, so meine These, auch mit dem emotionalen Wirkungspotenzial von Perutz’ Texten zu tun: Wie zu zeigen sein wird, sind seine Romane in der Regel ungemein spannend erzählt; dies wiederum hat ihnen teilweise beträchtlichen ökonomischen Erfolg in der Zwischenkriegszeit gesichert.177 Perutz’ Œuvre ist allerdings nicht zuletzt wegen dieses zum Teil großen Erfolgs auf dem zeitgenössischen Buchmarkt des öfteren mit einem Trivialliteraturverdikt belegt worden und zu diesem Zweck wurde häufig explizit oder implizit auch auf das starke emotionale Wirkungspotenzial der Texte Bezug genommen. Bisher ist deshalb die Frage, wie Perutz’ Werk literarhistorisch einzuordnen sei, ungeklärt.178 Schon die Zeitgenossen waren in ihrem Urteil über die literarische Qualität seiner Romane uneins.179 Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man die Forschungsliteratur, insbesondere die frühen wissenschaftlichen Studien zu Perutz’ Werk betrachtet: Masato Murayama klassifiziert Perutz’ historische Romane eindeutig als der Trivialliteratur zugehörig,180 Veronica Carbonell stuft Perutz als Autor von Unterhaltungsliteratur ein,181 Dietrich Neuhaus beschreibt sein Werk als manieristisch im Sinne von Gustav

176

Zu nennen sind hier vor allem die Publikationen von Hans-Harald Müller. Zuletzt ist erschienen: Hans-Harald Müller, Leo Perutz. Biographie 2007. 177 Vgl. ebd. 185. 178 Vgl. z.B. den Artikel „Perutz, Leo(pold)“, in Literaturlexikon: Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. v. Walther Killy. Gütersloh 1991, Bd. 9, 119. 179 Vgl. Hans-Harald Müller, Leo Perutz 1992, 98, 126 sowie ders., „Nachwort“, in Leo Perutz, Herr, erbarme dich meiner. Hg. und mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller, 241–243, 264–270. 180 Masato Murayama, Leo Perutz. Die historischen Romane, 92, 97 etc. 181 Veronica Jaffé Carbonell, Leo Perutz. Ein Autor deutschsprachiger phantastischer Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 256, 259 etc.

3.3 „Ein Buch für schlaflose Nächte“: Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages

211

René Hocke.182 Dagegen stehen Positionen wie etwa die Hans-Harald Müllers, der Perutz als „vollgültigen“ Vertreter der literarischen Moderne betrachtet.183 Auch wenn die mit zum Teil deutlich negativen Implikationen belegten Rubrizierungen von Perutz’ Œuvre in jüngeren Studien nur noch selten vertreten werden, liegt doch die Vermutung nahe, dass das in der frühen Forschungsliteratur ausgesprochene Werturteil des „ästhetisch guten“ Unterhaltungsschriftstellers bis heute nachwirkt. Die für Perutz’ Texte geäußerte Trivialitätsthese wird, wie erwähnt, häufig an die Beschreibung ihrer Struktur gekoppelt, und zwar im Hinblick auf deren potenzielle Wirkung. Für die hier verfolgte Fragestellung ist dabei besonders Carbonells Position zu nennen, da ihr Urteil, Perutz’ Werk biete „Beispiele einer konventionellen, konservativen aber humanistisch durchdrungenen und ästhetisch guten Unterhaltungsliteratur“184 auch an die für Perutz charakteristische, meist explizite Darstellungsweise von Emotionalität geknüpft ist.185 Carbonell konstatiert eine affirmative Tendenz in Perutz’ Romanen im Sinne einer „konservativen Gegenwartskritik.“186 Dieser affirmativen Tendenz entspreche eine emotionale Wirkung der Angstlust beim Leser, der schon mit der Wiederherstellung der Ausgangslage am Ende eines Romans rechne und deswegen auch ein eigentlich als angstbesetzt dargestelltes Geschehen lustvoll rezipieren könne:187 182

Dietrich Neuhaus, Erinnerung und Schrecken. Die Einheit von Geschichte, Phantastik und Mathematik im Werk Leo Perutz, 159. 183 „Wenn die Literaturgeschichte eines Tages reichhaltigere und differenziertere Klassifikationen anzubieten hat, wird Perutz’ eigenwillige Position zwischen Stilkonservatismus und literarischer Moderne vielleicht einer Traditionslinie eingefügt werden, die etwa von Schnitzlers konstruktiven Parabeln (z.B. ,Die dreifache Warnung‘) und Erzählungen (,Das Tagebuch der Redegonda‘) über einige Zwischenglieder zu Borges, Lem und Calvino führt.“ Hans-Harald Müller, Leo Perutz 1992, 102. 184 Veronica Jaffé Carbonell, Leo Perutz, 261. 185 Ebd. 148. 186 Ebd. 259. Nach Nusser besteht der affirmative Charakter der Trivialliteratur bekanntlich „in der Darstellung einer Ausgangslage, einer Abweichung von dieser Ausgangslage und einer Endlage, die der Ausgangslage in entscheidenden Punkten vergleichbar ist. Durch diesen Dreischritt werden zunächst Gewohnheiten des Lesers angesprochen, wird dieser dann während eines gewissen Abschnitts der Lektüre aus dem Gleichgewicht gebracht und verunsichert, um am Ende wieder in eine Gleichgewichtslage versetzt zu werden. Der Spielcharakter dieses Prozesses erlaubt es dem Leser, die in der Literatur dargestellten ,Abweichungen‘ und die dadurch hervorgerufenen Emotionen, und sei es die Angst, lustvoll zu erleben.“ Peter Nusser, Trivialliteratur, 119. 187 Vgl. Veronica Jaffé Carbonell, Leo Perutz, 122. Auch Matías Martínez postuliert in seiner einflussreichen narratologischen Studie über doppelte Welten in Erzähltexten eine solche emotionale Wirkung von Perutz’ Romanen. Matías Martínez, Doppelte Welten, 200, 205. So kommt er nach seiner Analyse von Der Marques de Bolibar zu dem Schluss, in diesem Roman lasse sich eine „tendenzielle Trivialisierung“ der von ihm herausgearbeiteten Erzählstruktur der doppelten Welt erkennen, und schließt sich damit der Trivialitätsthese an. Ebd. 203. An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die Rezeptionswirkung der Angstlust auch in vielen ästhetikgeschichtlichen Debatten, die mit „hochliterarischen“ Texten befasst sind,

212

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven Die Identifikationsmöglichkeiten mit Figuren, die der herrschenden gesellschaftlichen Hierarchie der bürgerlichen Vorstellungen entsprechen, und eine unproblematische konventionelle Erzählweise, die deutlich auf das Ereignishafte und auf die Handlungskette zurückgreift, erleichtern dem Leser die genußvolle, das Dargestellte einfach nachvollziehende Lektüre und entsprechen dem Bedürfnis nach unkomplizierter, dabei spannender Unterhaltung in der geeignetsten Weise.188

Carbonell entwickelt hier ex negativo einen Begriff von Hochliteratur, dem ein ganzes Set von Wertmaßstäben zugrunde liegt, die sich grob etwa folgendermaßen benennen lassen: Verhinderung von Identifikation; unkonventionelle, nicht dominant handlungsorientierte Erzählweise; Komplexität; Verhinderung einer hedonistischen Lektürepraxis. Sieht man einmal ganz grundsätzlich davon ab, dass eine solche wertende Unterscheidung von Hoch- und Unterhaltungs- oder gar Trivialliteratur durch verschiedene postmoderne literaturtheoretische Ansätze bekanntermaßen kritisiert worden ist, soll Carbonells Position hier auch deswegen widersprochen werden, weil sich zeigen lässt, dass Perutz’ Romane im Hinblick auf die meisten der oben explizierten axiologischen Wertmaßstäbe durchaus positiv bewertet werden können: Andere literaturwissenschaftliche Studien konnten mit Hilfe interpretatorischer Verfahren gegensätzlich zu Carbonells Argumentation plausibel machen, dass Perutz’ Romane als Artefakte beschrieben werden können, die komplexe Inferenzprozesse induzieren, spezifisch moderne Themen in nicht affirmativer Weise behandeln und durchaus mit guten Gründen als auf unkonventionelle Weise erzählt qualifiziert werden können.189 Mit Hilfe des im theoretischen Teil dieser Arbeit entwickelten Analyseinstrumentariums lässt sich darüber hinaus zeigen, dass etwa den hier interessierenden Korpustexten Der Meister des jüngsten Tages und Turlupin ein affirmatives emotionales Wirkungspotenzial in Form von Angstlust diskutiert worden ist. Häufig wird sogar davon ausgegangen, dass dieses Phänomen ein ganz basaler Rezeptionseffekt sei, der nicht als Distinktionskriterium für Hoch- und Unterhaltungsliteratur herangezogen werden könne. Man denke etwa an die gattungspoetische Äußerungen über die Tragödie wie etwa Aristoteles’ an ihr entwickelte Katharsisthese. Vgl. dazu Abschnitt 2.5 über die Artefaktemotionen in dieser Arbeit. 188 Veronica Jaffé Carbonell, Leo Perutz, 256. 189 Diese Schlussfolgerung wird allerdings nicht immer explizit gemacht, es handelt sich hierbei also um ein in Teilen von mir aus der vorhandenen Forschungsliteratur abgeleitetes Ergebnis. Vgl. dazu etwa Bettina Englmann, Poetik des Exil Die Modernität der deutschsprachigen Exilliteratur; Bettina Hey’l, Geschichtsdenken und literarische Moderne. Zum historischen Roman in der Zeit der Weimarer Republik; Arndt Krieger, „Mundus symbolicus“ und semiotische Rekurrenz. Zum ironischen Spiel der Wirklichkeitssignale in Romanen von Leo Perutz; Peter Lauener, Die Krise des Helden. Die Ich-Störung im Erzählwerk von Leo Perutz; Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung. Dokumentation des zweiten internationalen Perutz-Kolloquiums in Wien und Prag, 20.–23. September 2000. Hg. v. Brigitte Forster und Hans-Harald Müller; Leo Perutz ou L’Ironie de l’Histoire. Hg. v. Jean-Jacques Pollet; Leo Perutz’ Romane. Von der Struktur zur Bedeutung. Hg. v. Tom Kindt und Jan Christoph Meister; Michael Mandelartz, Poetik und Historik. Christliche und jüdische Geschichtstheologie in den historischen Romanen von Leo Perutz. Darüber hinaus liegen auch einige Aufsätze zu einzelnen Aspekten von Perutz’ Romanen vor, die zum Teil ähnlich argumentieren ( Literaturverzeichnis).

3.3 „Ein Buch für schlaflose Nächte“: Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages

213

nicht in dieser simplifizierenden Weise zugeschrieben werden kann, dass stark „identifikatorische“ Lektüreprozesse durch die Textstruktur eher erschwert werden. Diese Feststellung lässt sich auch durch die Betrachtung von Rezeptionszeugnissen untermauern. Hierzu muss die von Perutz verwendete Erzähltechnik genauer in den Blick genommen werden. Systematisch ist diese in narratologischer Perspektive bisher allerdings noch nicht beschrieben worden. In Hans-Harald Müllers Perutzbiographie von 1992 sind Hinweise zu einer solchen Systematik implizit enthalten: Er beschreibt die verschiedenen Arten von „psychischen Diskontinuitätserfahrungen und Identitätskonflikten, die von Problemen des Erinnerns und Vergessens herrühren“ und mit denen „es die Protagonisten nahezu aller Romane und Erzählungen von Perutz zu tun“ haben.190 Die Wahl des Erzählverfahrens und die Art der dargestellten Identitätsproblematik hängen, wie Müller zeigt, eng zusammen. Ganz allgemein konstatieren Interpreten, die die von Perutz bevorzugten Erzählverfahren aus einer deskriptiven Perspektive betrachtet haben, häufig deren „konstruktiven“191 Charakter: Das Anekdotische ist bei ihm [Perutz] zunächst die Hauptsache, und hier unterscheidet er sich freilich von den wenigen ganz großen Romandichtern, die weniger Geschichten erzählen, als Welten schaffen, den Balzac und Thackeray. Dem Dichter Perutz guckt immer der Mathematiker Perutz über die Schultern, er hat ein möglichst kompliziertes Beispiel gefunden, das mit möglichster Eleganz gelöst werden muß.192

Die unterschiedliche thematische und motivische Füllung und historische Einbettung des vorgeführten erzählerischen „Lösungsprozesses“ hat zu je unterschiedlichen Gattungs- beziehungsweise Genrezuordnungen von Perutz’ Texten Anlass gegeben: Sie sind als phantastische193 oder ,andere historische‘194 Romane gelesen, seine Kurzprosa als Novellen195 oder als Kurzgeschichten196 bezeichnet worden. Diese Klassifikationen 190

Hans-Harald Müller, Leo Perutz 1992, 112–125, hier 114. Hans-Harald Müller, „Nachwort“, in Leo Perutz, Herr, erbarme dich meiner, 212. 192 Zitiert nach Wener Berthold, „Richard A. Bermann und Leo Perutz. Anmerkungen zu einer Freundschaft“, 178. Diese Beschreibung des für Perutz typischen „anekdotischen“ Erzählverfahrens enthält bereits den mittlerweile teilweise auch in der Forschungsliteratur gebräuchlichen Topos vom „Mathematiker-Dichter“. Vgl. dazu z.B. auch Karl Sigmund, „Musil, Perutz, Broch. Mathematik und die Wiener Literaten“. 193 Vgl. dazu paradigmatisch Reinhard Lüth, Drommetenrot und Azurblau. Studien zur Affinität von Erzähltechnik und Phantastik in Romanen von Leo Perutz und Alexander Lernet-Holenia, 60–67. 194 Hans-Harald Müller, „Identitäts-Konstruktionen. Zur Architektur von Leo Perutz’ Roman Die dritte Kugel“, in Leo Perutz’ Romane. Von der Struktur zur Bedeutung, 11–21, hier 11. Die Arbeit von Masato Murayama zu den historischen Romanen von Perutz gilt mittlerweile als überholt: Masato Murayama, Leo Perutz. Zur Kritik an Murayamas Argumentation vgl. Reinhard Lüth, Drommetenrot und Azurblau, 36, sowie neuerdings Arndt Krieger, „Mundus symbolicus“ und semiotische Rekurrenz, 27 und Peter Lauener, Die Krise des Helden, 9. 195 Perutz selbst hat sie als Novellen bezeichnet. Vgl. dazu Hugo Aust, „Unterhaltungen deutscher Lehrenden über Poetik, Geschichte und Gegenwart der Novelle (Goethe – Benn – Perutz)“, ders.: „Amen! ... Die Suppe steht auf dem Tisch. Versuch über das Ende der Geburt des Antichrist von Leo Perutz“, in Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen, 34–49, hier 35 sowie 191

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

wiederum sind teilweise umstritten und haben zudem oft den Blick auf die einzelnen Texte verstellt.197 Viele Teilaspekte des Werks sind so bisher nicht untersucht worden oder fanden nur am Rande Erwähnung – etwa die Frage nach einem eventuell vorhandenen Bezug der historischen Romane zu aktuellen politischen Ereignissen ihrer Entstehungszeit198 oder nach einer aus dem Werk ableitbaren Poetik.199 Peter Lauener nennt als weitere unbeackerte Forschungsgebiete: Noch zu wenig bearbeitet sind Perutz’ Quellen [...], die auffällige Wiederholung von Motiven innerhalb einzelner Texte und des Gesamtwerks sowie die unterschiedliche Bearbeitung dieser Motive [...], die Erzählstrukturen sowie Erzählinstanzen und deren Perspektiven und Erzählsituationen. Auch mit Raum, Zeit sowie den Erzähltechniken, die mit den Themenkomplexen „Humor“ oder „Ironie“ zusammenhängen, der erzählerischen Ökonomie, dem Spiel mit Genres oder dem Tempo der Erzählung hat sich die Forschung noch nicht genügend beschäftigt.200

Die Analyse des emotionalen Wirkungspotenzials der Romane, wie sie im Rahmen dieser Studie an zwei Beispielen unternommen werden soll, bildet einen weiteren Baustein

Jean-Jacques Pollet, „Einige Randbemerkungen zu Perutz’ Novellistik oder Wie dem armen Kasperl seine Pointe gestohlen wurde“, ebd. 94–106, hier 103. Lüth konstatiert ein novellistisch geprägtes Erzählverfahren auch für die Romane. Reinhard Lüth, Drommetenrot und Azurblau, 331. 196 Sigurd Paul Scheichl, „Leo Perutz. Ein früher Meister der deutschsprachigen short story“, 27–42; Peter Lauener, Die Krise des Helden, 11, Anm. 8. 197 Zur Kritik an der Rubrizierung der nicht zeitgenössischen Romane als „andere historische Romane“ im Sinne von Hans Vilmar Geppert vgl. Michael Mandelartz, Poetik und Historik, 6–17. Die Erzählungen lassen sich wohl am besten als Genremischungen aus Novelle und Kurzgeschichte lesen. Vgl. Hugo Aust, „Unterhaltungen“, 100. Beide Gattungsdiskussionen werde ich hier aus Platzgründen aussparen. Wichtiger für die Analyse der Emotionslenkungsstrategien scheint mir die (heftig diskutierte) Frage, ob die Romane von Perutz phantastisch sind oder nicht, da hier die Art und die Reliabilität der Wissensvergabe in den Romanen im Zentrum stehen, die deren emotionales Wirkungspotenzial in entscheidender Weise beeinflussen. Auf diese Diskussion gehe ich daher unten in Abschnitt 3.3.3 ausführlicher ein. 198 Vgl. dazu z.B. Sigurd Paul Scheichl, „Der Marques de Bolibar – Leo Perutz’ Letzte Tage der Menschheit“, in Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen, 73–93. 199 Michael Mandelartz, „Kunst als Instrument der Erkenntnis. Zur Poetik des Spätwerks von Leo Perutz“, in ebd. 190–210. 200 Peter Lauener, Die Krise des Helden, 20. Perutz’ Dramen, die Romanfragmente, seine Übersetzungen und Bearbeitungen von Hugos Quatrevingt-treize und Bug-Jargal sowie die versicherungsmathematischen Aufsätze und die Feuilletons sind bisher kaum erforscht. Vgl. dazu Jaanus Vaiksoo, „Morgen ist Feiertag und Die Reise nach Preßburg. Zwei vergessene Dramen von Leo Perutz“, in Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen, 211–218; Hans-Harald Müller, „,Mainacht in Wien‘. Das Bild des ,Anschlusses‘ in einem Romanfragment von Leo Perutz“; Jan Christoph Meister, „Eviter le superflu – A propos du minimalisme narratif chez Leo Perutz“, in Leo Perutz ou L’Ironie de l’Histoire, 67–77. Die Filmscripts, die Perutz verfasst hat, sind zum Teil unauffindbar. Vgl. Ulrike Siebauer, Leo Perutz – „Ich kenne alle Alles, nur nicht mich.“ Eine Biographie, 204.

3.3 „Ein Buch für schlaflose Nächte“: Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages

215

in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Perutz’ Werk:201 Im Folgenden soll mit Hilfe einer genauen Analyse von Perutz’ viertem Roman Der Meister des jüngsten Tages von 1923 und einem anschließenden knappen Vergleich mit dem ein Jahr später veröffentlichten Turlupin gezeigt werden, dass und wie das dort jeweils von Perutz gewählte unzuverlässige Erzählverfahren starke emotionale Wirkungen hervorrufen kann, ohne dass deswegen eine simplifizierende Kategorisierung dieser beiden Erzähltexte als in affirmativer Weise unterhaltend aus der Betrachtung ihrer Struktur selbst zu rechtfertigen wäre. Im Meister des jüngsten Tages wie auch in Turlupin bedient sich Perutz des von ihm favorisierten Erzählverfahrens des „proleptischen Rätselromans“. Matías Martínez hat dieses wie folgt beschrieben:202 Das Ende der Hauptgeschichte wird in der Erzählgegenwart des (fiktionalen) Vorwortes vorweggenommen, aber zugleich auch als erklärungsheischendes Rätsel präsentiert. Einige der Romane [...] haben einen dreiteiligen Textaufbau mit Hauptgeschichte, Vor- und Nachwort. Andere Romane [...] sind zweiteilig in Vorwort und Hauptteil gegliedert. In jedem Fall wird analytisch in Form einer spezifischen, proleptischen Rätselstruktur erzählt: Der Leser wird zu Beginn des Textes, in der Erzählgegenwart des Vorwortes, mit einem erklärungsheischenden Sachverhalt konfrontiert, der durch die nachfolgend mitgeteilte Handlung genetisch erklärt wird.203

Für den Schwedischen Reiter spezifiziert Martínez mit Rekurs auf Dietrich Webers Theorie der analytischen Erzählung, dass der Roman analytisch erzählt ist im Hinblick auf Darstellung und Mitteilung der Geschichte, jedoch nicht in Bezug auf die Handlung. Dies gilt in gleicher Weise für Turlupin, im Meister des jüngsten Tages ist dagegen auch die Handlung analytisch. Diesen analytisch erzählten Texten schreibt Martínez vier unter dem Aspekt ihrer emotionalen Wirksamkeit besonders relevante Eigenschaften zu: 1. Explizit auf Emotionen bezogen postuliert Martínez einen Rezeptionseffekt der Neugier: „Weil das im Vorwort formulierte Rätsel bereits das Handlungsende vorwegnimmt, entsteht keine Finalspannung, sondern eine WieSpannung und dementsprechend beim Leser Neugier.“204 2. Die proleptische Struktur der Erzählung ändert den Verstehensrahmen des Rezipienten. „Perutz verwendet Vorworte (oder auch Nachworte), um einen 201

Vgl. dazu bisher lediglich Simone Winko, „Emotionsvermittlung in Leo Perutz’ Der schwedische Reiter“, in Leo Perutz’ Romane, 107–121. 202 Matías Martínez, „Proleptische Rätselromane. Erzählrahmen und Leserlenkung bei Leo Perutz“, in Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen, 107–129, hier 107. Martínez bezieht auch die zusammen mit Paul Frank verfassten Romane Das Mangobaumwunder und Der Kosak und die Nachtigall mit ein. Genauer nennt Martínez als dreiteilig aufgebaute analytische Erzählungen Die dritte Kugel, Der Meister des jüngsten Tages, St. Petri-Schnee und Nachts unter der steinernen Brücke. Zweiteilig sind Der Marques de Bolibar, Turlupin und Der schwedische Reiter. 203 Matías Martínez, „Proleptische Rätselromane“, 117. 204 Ebd. 119, 126.

216

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Rahmenwechsel im Sinne einer Umcodierung des Geschehens in ein anderes Möglichkeitssystem vorzunehmen.“205 Von dieser Umkodierung sind, dies eine abgeleitete Annahme, auch die im Text thematisierten und präsentierten Emotionen und damit das empathieermöglichende und sympathiegenerierende Potenzial der Emotionsdarstellungen betroffen. Die Umkodierung des Geschehens durch den Erzählrahmen bedingt nach Martínez die phantastische Wirkung vieler Perutz-Texte. Dieser Annahme soll unten in 3.3.3 insofern widersprochen werden, als sich zeigen lässt, dass Perutz’ Werk nicht der literarischen Phantastik im Sinne Todorovs oder Wünschs zugerechnet werden kann. Dagegen soll mit Hilfe des oben in Abschnitt 2 entwickelten Analyseinstrumentariums plausibel gemacht werden, dass Perutz’ Romane häufig desorientierende Wirkung entfalten und damit vermutlich einen ähnlichen emotionalen Rezeptionseffekt bedingen, wie dies Texte tun, die der literarischen Phantastik zugerechnet worden sind. 3. Durch den bereits zu Beginn feststehenden Ausgang der Handlung werden die Vorgänge tendenziell entzeitlicht. „Das Geschehen“ scheint „stattdessen durch eine schicksalshafte Macht determiniert zu sein.“206 Diese Entzeitlichung kann vermutlich wiederum das Spannungserleben des Rezi-pienten beeinflussen. 4. Die Virtuosität der Handlungsführung wird durch die Aufhebung der Finalspannung in den Mittelpunkt gerückt. Die Aufmerksamkeit wird auf „die Kompositionskunst des Autors“ gelenkt, „der das Ursache-WirkungsGefüge so einzurichten versteht, daß es nicht willkürlich, sondern konsequent zu dem vorausgesagten, aber rätselhaften Ende passt.“207 Diese Aufmerksamkeitsverschiebung kann, so ließe sich im Anschluss vermuten, das Auftreten von Artefaktemotionen beeinflussen. Martínez’ Beschreibung einer für Perutz typischen erzählerischen Makrostruktur hat, wie deutlich geworden sein dürfte, weitreichende Konsequenzen für die Analyse des emotionalen Wirkungspotenzials seiner Romane. Sie soll nun für beide Korpustexte ausdifferenziert werden. Für die Erzählstruktur des Meisters des jüngsten Tages wie auch für Turlupin muss zusätzlich konstatiert werden, dass beide Texte unzuverlässig erzählt sind. Sie weisen jedoch eine inhaltlich und formal je unterschiedliche Füllung und Kombination aus proleptischer Rätselstruktur und unreliabler Erzählhaltung und daraus resultierend ein je spezifisches emotionales Wirkungspotenzial auf. Anders gesagt: Die Beschreibung der Makrostruktur der Texte allein ist nicht dazu geeignet, 205

Matías Martínez, „Proleptische Rätselromane“, 126. Dies betrifft auch den nicht analytisch erzählten Roman Zwischen neun und neun. Hier liegt die intendierte „affektive Wirkung“ jedoch darin den Leser zu überraschen. Martínez bezeichnet den Roman daher als „retrograden Überraschungsroman“. Ebd. 120f. 206 Ebd. 121–124, 126. 207 Ebd. 124.

3.3 „Ein Buch für schlaflose Nächte“: Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages

217

Aussagen über ihr emotionales Wirkungspotenzial zu treffen, denn beide sind unzuverlässig erzählt und beide lassen sich als proleptische Rätselromane klassifizieren, haben aber dennoch, wie auch anhand der abschließenden Analyse von Rezeptionszeugnissen gezeigt werden kann, durchaus unterschiedliche emotionale Wirkungen induziert. Das vorliegende Kapitel versteht sich somit auch als Beitrag zur Forschungsdiskussion um mögliche rezeptive Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit, insbesondere in deren emotionsspezifischer Ausprägung. Den folgenden Überlegungen liegt dabei die Bestimmung erzählerischer Unzuverlässigkeit zugrunde, die Tom Kindt in einer Studie zum Werk von Ernst Weiß vorgelegt hat. Kindt orientiert sich an Booths’ Bestimmung des unzuverlässigen Erzählens, verzichtet aber auf den unklaren Begriff des impliziten Autors: „Der Erzähler in einem literarischen Werk ist zuverlässig, wenn er ausdrücklich für dessen Normen eintritt oder in Übereinstimmung mit ihnen handelt; er ist unzuverlässig, wenn dies nicht der Fall ist.“ 208 Dass die Rekonstruktion von innertextuellen Werten und Normen im Einzelfall schwierig sein kann, wurde schon im theoretischen Teil dieser Arbeit in der Auseinandersetzung mit sympathiegenerierenden Textstrukturen erörtert. Kindts Begriffsbestimmung hat gegenüber der sehr einflussreichen kognitiv-narratologischen von Ansgar Nünning jedoch den Vorteil, dass sie interpretationstheoretisch ausgerichtet ist und dementsprechend der Struktur des Erzähltextes höhere Bedeutung beimisst als Nünnings Modell, bei dem nicht klar ist, welche Rolle genau den Textfaktoren bei der Zuschreibung erzählerischer Unzuverlässigkeit zukommt. Da hier Wirkungspotenziale von Texten rekonstruiert werden sollen, keine realen Wirkungen auf einzelne Individuen, muss eine möglichst gut intersubjektiv nachvollziehbare, interpretationstheoretisch fundierte Textbeschreibung dem Aufstellen von Hypothesen über mögliche Wirkungen vorangestellt werden. Auch wenn die Zuschreibung erzählerischer Unzuverlässigkeit, wie Nünning betont, als „einer (von mehreren) kulturellen Bezugsrahmen“209 fungiert, mit dessen Hilfe textuelle Inkonsistenzen vom Rezipienten aufgelöst werden können, so sollte diese Zuschreibung doch durch eine genaue Betrachtung des Textes im Hinblick auf Unzuverlässigkeitssignale gestützt sein. Diese erlaubt es im Anschluss, Plausibilitätsabstufungen von Textrealisationen vorzunehmen, die diese Inkonsistenzen auf Fehler des Autors, (intendierte) erzählerische Unzuverlässigkeit oder andere kulturell geprägte Deutungsrahmen zurückführen. Pointiert gesagt fehlt in Nünnings Theorieentwurf ein Hinweis darauf, welche Deutungen hier aus welchen Gründen für plausibler gehalten werden können als andere, so dass Kindts Begriffsbestimmung, bei allen Problemen, die die Bestimmung erzählerischer Unzuverlässigkeit im Einzelfall macht, für das hier verfolgte Erkenntnisinteresse der Vorzug gegeben wird. Kindt unterscheidet genauer axiologische und mimetische Unzuverlässigkeit:

208 209

Tom Kindt: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne, 45 (Kursivdruck im Original). Ansgar Nünning, „Unreliable Narration zur Einführung“, 26.

218

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven Der Erzähler in einem literarischen Werk W ist genau dann axiologisch zuverlässig, wenn er in seinen Äußerungen ausdrücklich für die Wertew eintritt oder in Übereinstimmung mit Ihnen handelt, er ist genau dann axiologisch unzuverlässig, wenn dies nicht der Fall ist. [...] Der Erzähler in einem literarischen Werk W ist genau dann mimetisch zuverlässig, wenn seine Äußerungen in der fiktiven Weltw wahr sind; er ist genau dann mimetisch unzuverlässig, wenn dies nicht der Fall ist.210

3.3.1 Zum emotionalen Wirkungspotenzial unzuverlässiger Erzählverfahren am Beispiel des Meisters des jüngsten Tages Perutz’ vierter Roman Der Meister des jüngsten Tages kann im oben ausgeführten Sinne als unzuverlässig erzählt klassifiziert werden, denn beide Erzähler im Roman – der Rittmeister Freiherr von Yosch wie auch der fiktive Herausgeber können mit guten Gründen als unzuverlässige Berichterstatter bezeichnet werden und die Reichweite dieser Unzuverlässigkeit erstreckt sich auf den Hauptteil von Yoschs Geschichte mitsamt den für die Entwicklung eines kohärenten Textverständnisses relevanten, in der erzählten Welt geltenden Tatsachen. Die vorliegende Analyse schließt sich damit Hans-Harald Müllers These vom Vexierbildcharakter des Romans an: Müller geht davon aus, dass es sich beim Meister des jüngsten Tages grob gesagt um den Fall mimetisch unentscheidbaren Erzählens handelt: Auf der Suche nach der Wahrheit dessen, was im ,Meister des jüngsten Tages‘ geschehen ist, wird der Leser so in immer neue Rätsel verstrickt, auf die es nur hypothetische Antworten gibt – gleichwohl aber gelangt er auf der Suche nach diesen Antworten zu immer tieferen Einsichten in die möglichen Erklärungen des Geschehens.211

Genauer ist im Hinblick auf die Figur Yoschs unklar, inwiefern der Rittmeister als nur mimetisch oder auch axiologisch unzuverlässig bezeichnet werden kann beziehungsweise wie weit Yoschs mögliche axiologische Unzuverlässigkeit reicht und wie viele der von ihm berichteten Tatsachen in der erzählten Welt von einer möglichen axiologischen Unzuverlässigkeit betroffen sind. Für den Herausgeber ist davon auszugehen, dass dieser gegebenenfalls mimetisch unzuverlässig sein könnte, anders ausgedrückt ist fraglich, ob ihm alle Fakten bekannt sind, die zu einer Entscheidung über Yoschs Schuld oder Unschuld vonnöten sind. Eine letztgültige Entscheidung darüber, ob dem Herausgeber die Eigenschaft mimetischer oder Yosch diejenige axiologischer Zuverlässigkeit zugeschrieben wird, kann aber nur der Leser treffen, im Text selbst finden sich keine eindeutigen Beweise für Yoschs Schuld oder Unschuld. Zuletzt hat Jannidis dafür plädiert, dem Herausgeberbericht Glauben zu schenken, da Inhalt und Form von Yoschs Erzählung darauf hindeuteten, dass seine Geschichte er210

Tom Kindt, Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne, 49 (Hervorhebungen im Original). 211 Hans-Harald Müller, Leo Perutz 1992, 129f. Vgl. dazu auch Peter Lauener, Die Krise des Helden, 35.

3.3 „Ein Buch für schlaflose Nächte“: Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages

219

212

funden sei. Dies muss jedoch nicht automatisch ein Indiz für dessen Schuld sein. Es ließe sich auch anführen, dass Yosch die Geschichte um den Meister des jüngsten Tages zwar erfunden hat, dass er mit dieser Erfindung aber versucht, sich selbst zu entlasten. Denn einerseits liefert er selbst alle Indizien für seine Schuld und berichtet auch von dem negativen Bild, das die anderen Figuren von ihm haben. Andererseits gibt es keinen einzigen Beweis für eine tatsächliche Mitschuld an Eugen Bischoffs Selbstmord. Wenn er anschließend eine zwar unwahrscheinliche, aber in sich plausible Geschichte erzählt, die alle Fakten in einen für ihn entlastenden Zusammenhang stellt, verweist er damit darauf, dass es müßig ist, die Indizien gegen ihn auszulegen. Ebenso gut könnten sie für ihn sprechen: Eugen Bischoff könnte die Pfeife versehentlich mit ins Gartenhaus genommen haben, die Pistole muss nicht unbedingt von Yosch sein, Yosch könnte wirklich ziellos im Garten umhergeschlendert sein, sein Ehrenwort könnte er zu Recht gegeben haben etc. Das Ehrengericht wäre dann den gegen Yosch sprechenden Indizien gefolgt, ohne entscheiden zu können, ob er tatsächlich schuldig ist oder nicht. Dieses Vorgehen, den Leser selbst zum Detektiv zu machen, ist damit ungleich subtiler und wirkungsvoller als ein einfaches Dementi und macht Yosch in der Tat zum Künstler. Somit bliebe am Ende wieder offen, welchen der beiden unten ausführlicher beschriebenen Yoschs wir vor uns haben: ein angsterfülltes Opfer der Umstände, mit dem man Mitleid haben soll wie mit der verirrten Seele des H-Dur Trios, oder eine eiskalt berechnende, schillernde Figur, der man analog zu den anderen Figuren entweder mit kaltblütiger Fasziniertheit oder mit Abscheu gegenübertreten kann. Entscheidend für den hier verfolgten Zusammenhang scheint mir aber zu sein, dass aus der Textstruktur selbst nur verschiedene Lesarten des Geschehens mit je unterschiedlichen Plausibilitätsgraden abgeleitet werden können. Jannidis’ Deutung erweist sich als hochgradig plausibel, sie schränkt jedoch für die hier interessierende Frage nach dem emotionalen Wirkungspotenzial von Perutz’ Romankonstruktion das Spektrum emotionaler Wirkungen deutlich ein und wird außerdem vermutlich frühestens am Ende der Lektüre als solche realisiert. Hier interessieren jedoch besonders die Sukzession des Lektürevorgangs und die dadurch induzierten Wirkungen während der Erstlektüre. Grundsätzlich ist damit also die bisher noch ungeklärte Frage berührt, inwiefern interpretativ verfahrende Textanalysen und daraus gewonnene Wirkungsannahmen miteinander vermittelt werden können: Es muss an dieser Stelle offen gelassen werden, ob diese Frage systematisch beantwortet oder ob eine solche Vermittlung nur für jede Analyse einzeln plausibel gemacht werden kann. Methodisch wird im Anschluss hier so vorgegangen, dass nicht eine einzelne festschreibende Lesart des Romans herangezogen wird, auch wenn die hier vorgestellte Analyse natürlich nicht das ganze Spektrum emotionaler Wirkungen des Meisters beschreiben kann.

212

Vgl. Fotis Jannidis, „Leo Perutz. Der Meister des jüngsten Tages“, in Leo Perutz’ Romane, 49–67.

220

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

In Interpretationen ist der Roman als phantastischer,213 Kriminal-214 oder Künstlerroman215 verstanden und die beobachteten Inkohärenzen sind entsprechend aufgelöst worden. Nur das Deutungsschema des Künstlerromans erlaubt es allerdings, alle im Text enthaltenen Informationen in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen. Es ist andererseits aber so allgemein, dass es nicht gestattet, die Frage nach Yoschs Schuld oder Unschuld zu klären. Insgesamt ist davon auszugehen, dass keines der drei genannten Schemata dazu geeignet ist, der polyvalenten Struktur des Meisters des jüngsten Tages vollständig gerecht zu werden. Sie können allerdings als Anhaltspunkte für die Beschreibung des emotionalen Wirkungspotenzials des Romans dienen. Im Folgenden wird daher nach Maßgabe der oben genannten Schemata ein idealisierter emotionsbezogener Rezeptionsprozess simuliert. Bei der ersten Lektüre wird am Romananfang eine phantastische Lesart der Ereignisse nahegelegt: Vom 26. bis 30. September, nicht länger also als fünf Tage, hat dieser tragische Spuk gewährt. Fünf Tage dauerte die abenteuerliche Jagd, die Verfolgung eines unsichtbaren Feindes, der nicht von Fleisch und Blut war, sondern ein furchtbarer Revenant aus vergangenen Jahrhunderten. Wir fanden eine blutige Spur und gingen ihr nach. Schweigend öffnete sich das Tor der Zeiten. Keiner von uns ahnte, wohin der Weg ging, und es ist mir heute, als hätten wir uns mühsam, Schritt für Schritt, durch einen langen dunklen Gang getastet, an dessen Ende ein Unhold mit erhobener Keule uns erwartete ... Die Keule sauste nieder, zweimal, dreimal, ihr letzter Schlag traf mich, und ich wäre verloren gewesen, ich hätte Eugen Bischoffs und Solgrubs furchtbares Geschick geteilt, wenn mich nicht im letzten Augenblick ein rascher Griff zurück ins Leben geholt hätte. (MjT 8)

Die Hinweise auf die lebensgefährliche Bedrohung des Protagonisten durch den „furchtbaren Revenanten aus vergangenen Jahrhunderten“ erzeugen hohe Spannung auf globaler Ebene. Einerseits wird Neugier angeregt im Hinblick auf die Frage, worin genau die oben genannte Gefährdung des Protagonisten bestanden hat und wie die kausalen und ontologischen Ereigniszusammenhänge aussehen, die Yosch in diese gefährliche Situation gebracht haben, so dass mit dem Auftreten hoher Rätselspannung zu rechnen ist. Zum anderen ist zu diesem frühen Zeitpunkt auch davon auszugehen, dass zusätzlich mit dem Auftreten hoher Suspensespannung gerechnet werden kann, denn zu 213

Vgl. zur Frage, ob der Phantastikbegriff in Bezug auf Perutz’ Werk geeignet erscheint, unten Abschnitt 3.3.3. 214 Vgl. dazu etwa Walter Benjamins Rezension, der den Meister unter der Rubrik „Kriminalromane auf Reisen“ besprach und sich dafür heftigen Widerspruch von Perutz einhandelte. Vgl. dazu Leo Perutz 1882–1957, 129. 215 Neuhaus betont, dass der Roman auf mehreren Ebenen lesbar wird und auch eine poetologische Bedeutungskomponente aufweist. Müller hat Yoschs Erzählung als „Selbstbild eines Künstlers“, ganz im Sinne des fiktiven Herausgebers, gedeutet. ,Angst‘ wird zur zentralen Emotion, die den künstlerischen Schaffensprozess stimuliert und die Phantasie anregt: „Immer waren die großen Phantasten zugleich Besessene der Angst und des Grauens“, bemerkt Dr. Gorski am Ende. Leo Perutz, Der Meister des jüngsten Tages, 175 (Im Folgenden MjT). Vgl. Dietrich Neuhaus, Erinnerung und Schrecken, 61; Hans-Harald Müller, Leo Perutz 1992, 130.

3.3 „Ein Buch für schlaflose Nächte“: Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages

221

Beginn des Romans finden sich noch keine Signale im Text, die es erlauben würden, die Glaubwürdigkeit des Erzählers in Zweifel zu ziehen. Im Gegenteil kann dieser vor einem axiologischen Wertmaßstab der Aufrichtigkeit für zuverlässig gehalten werden, zumal er selbst seine eigenen Erinnerungslücken bereits im Vorwort betont: Während des Schreibens machte ich die Entdeckung, daß mein Gedächtnis eine Unzahl Einzelheiten – zum Teil recht unwichtige Dinge: Gespräche, Einfälle, kleine Vorfälle des Tages – lebendig und deutlich bewahrt hat; daß sich jedoch in mir von der Länge des Zeitraums, in dem sich das alles abgespielt hat, eine ganz falsche Vorstellung herausgebildet hat. (MjT 5)

Diese Ankündigung bewahrheitet sich im Laufe der Lektüre. So stellt Yosch wiederholt sein gutes Gedächtnis unter Beweis, hat aber deutliche Erinnerungslücken in Bezug auf die Geschehnisse um Eugen Bischoffs Selbstmord; im Aufruhr nach der Entdeckung des Selbstmordes verhält er sich auffallend passiv; unerklärlich bleibt für ihn die Kopfwunde, die er sich zugezogen hat, etc. Vor dem Hintergrund eines moralischen axiologischen Wertes der Kooperationsbereitschaft kann Yosch zu diesem frühen Zeitpunkt ebenfalls positiv bewertet werden, denn er verfasst seinen Bericht ja erklärtermaßen, um andere vor der selbst durchlittenen Gefahr zu warnen. Es ist also zu vermuten, dass die Sympathiewerte für Yosch hier noch relativ hoch sein dürften. Damit wird auch die erlebte Suspensespannung hoch sein. Vorausgesetzt ist hier, dass Suspensespannung auch dann erlebt wird, wenn das Ergebnis, in diesem Fall die Rettung des Protagonisten, bereits bekannt ist. Im Laufe der Lektüre sinken die Sympathiewerte für Yosch vermutlich ab, denn dessen moralische Integrität kann im Fortgang der Erzählung immer mehr in Zweifel gezogen werden. Grob lassen sich ausgehend von den Selbst- und Fremdcharakterisierungen Yoschs zwei mit je unterschiedlichen Wertungen verbundene Figurenkonzepte unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Sympathiewertungen für Yosch nahelegen. Das Fremdbild des Protagonisten, das wir freilich nur durch seine „Brille“ wiedergegeben finden, lässt Yosch als einen kühl berechnenden, ehrgeizigen Menschen erscheinen. So wird er von Felix, Dr. Gorski und seinen Freunden beschrieben. Felix beobachtet fasziniert Yoschs Versuche, Dina wieder für sich zu gewinnen, unterstellt ihm aber nur eine Art sportlichen Ehrgeiz: Daß eine Frau, die Sie unlösbar an sich gekettet zu haben glaubten, sich von ihnen losgemacht hatte und nun einem anderen gehören sollte – diesen Gedanken vermochten Sie, scheint es, nicht zu ertragen. Sie hatten ihre erste Niederlage erlitten und fühlten sich herausgefordert. Dina zurückzugewinnen, wurde zur Aufgabe ihres Lebens. [...] Ich habe mich auf sonderbare Art von Ihnen angezogen gefühlt. Sympathie, nein, das wäre nicht das richtige Wort. [...] Nun, man kann fasziniert auf eine Wildkatze oder einen Edelmarder starren, man kann von der Haltung und den Bewegungen dieses Geschöpfs, von der Kühnheit seines Sprunges etwa, bezaubert sein und es dennoch kaltblütig niederknallen, weil es eben Raubzeug ist. (MjT 58, 63)

Interessant ist, dass Yosch hier zwar die Eigenschaft attribuiert wird, faszinierend auf andere zu wirken – ein Umstand, der sich auch mit der Tatsache deckt, dass er bereits viele Geliebte hatte und augenscheinlich auch Solgrubs Aufmerksamkeit zu erregen

222

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

vermag –, dass diese laut Felix jedoch nicht zur Herausbildung von Sympathie geeignet erscheint. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass Yosch auch vom Leser als faszinierender Charakter bewertet wird, denn sein Bericht verstrickt ihn ja in immer neue rätselhafte Probleme, die inferentiell gelöst werden müssen. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass Yosch aufgrund dieses Wertmaßstabes der Faszinationskraft für sympathisch gehalten werden kann. Dr. Gorski hält Yosch hingegen einfach für brutal und fähig einen Mord zu begehen (MjT 72f). Darüber hinaus beschreibt er ihn jedoch auch als stolz und glaubt deswegen Yoschs Ehrenwort, dass er an Bischoffs Tod nicht beteiligt war. Yoschs Freunde aus dem Rennklub geben Solgrub gegenüber unverhohlen ihren Hass auf den Rittmeister zu und betonen, dass dieser auch mit unlauteren Mitteln versuche seine Ziele zu erreichen (MjT 93). Auch wenn sich aus diesen Informationen kein homogenes Bild von Yosch ergibt, so fallen doch alle Fremdcharakterisierungen äußerst negativ aus. In Bezug auf seine Kooperationsbereitschaft wird Yoschs Charakter daher zunehmend fragwürdiger und damit unsympathischer werden. Die erlebte Suspensespannung wird somit vermutlich abfallen, auch in Situationen, in denen Yosch etwa von Dinas Bruder Felix bedroht wird. Einschränkend muss aber bemerkt werden, dass durch das Schema des Kriminalromans, das vermutlich von Solgrubs Ermittlungsarbeit und den Übereinstimmungen zwischen seiner Ermittlungsmethode und derjenigen des klassischen Whodunnit in der Nachfolge von Arthur Conan Doyle aufgerufen wird, beim Rezipienten gegen die Indizien im Text selbst die Erwartung geweckt wird, dass Yosch unschuldig sein könnte. Dieser genrespezifische Erzählrahmen kann damit gegebenenfalls dazu beitragen, dass Yosch trotz der stark negativ ausfallenden Fremdbewertungen wiederum sympathischer erscheint. Das Bild, das Yosch in seiner Erzählung von sich selbst entwirft, zeigt dagegen einen ängstlichen216, melancholischen, musikbegeisterten Menschen, der von einer fast unerträglichen Eifersucht217 gequält wird. Yoschs Beschreibung des Scherzos aus Brahms’ H-Dur-Trio enthält in nuce die Vorstellung einer angstgequälten Seele, als die sich Yosch selbst in seiner Erzählung inszeniert. Ein gespenstisches Gelächter fegt durch den Raum, ein wildes und düsteres Karnevalsrasen bocksfüßiger Gestalten [...]. Und plötzlich löst sich aus dem Bacchanal der Hölle eine einsame Menschenstimme los, die Stimme einer verirrten Seele, die Stimme eines angstgequälten Herzens schwingt sich auf und klagt ihr Leid. 216

Als Felix ansetzt, Yosch zu beschuldigen, an Eugen Bischoffs Selbstmord beteiligt gewesen zu sein, bemerkt Yosch: „Und ein leises Angstgefühl beschlich mich, die Ahnung einer kommenden und mir unbekannten Gefahr, und diese Angst ließ mich nicht mehr los.“ (MjT 57) Diese aufkeimende Angst wird von Yosch immer wieder geschildert, sie schlägt jedoch meist in Wut um. 217 „Eifersucht ist es, klägliche Eifersucht, der Schmerz verratener Liebe. Wenn ich Dina sehe, werde ich zum Kettenhund, der sie bewacht.“ (MjT 16) Um seine doppelzüngigen Andeutungen gegenüber Eugen Bischoff und Dina zu entschuldigen, greift Yosch, wie etwa auch Jochberg im Marques de Bolibar, darauf zurück sein Verhalten mit dem Ausgeliefertsein an die eigenen Emotionen zu entschuldigen.

3.3 „Ein Buch für schlaflose Nächte“: Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages

223

Aber da ist Satans Gelächter wieder, dröhnend fährt er in die reinen Klänge und zerreißt das Lied in Fetzen. Nochmals erhebt sich die Stimme, zaghaft und leise, und sie findet ihre Melodie und trägt sie hoch empor, als wollte sie mit ihr in eine andere Welt entfliehen. Doch den Dämonen der Hölle ist alle Macht gegeben [...] und die klagende Menschenstimme stürzt herab aus den Höhen und versinkt in einem Judaslachen der Verzweiflung. (MjT 17)

Yosch rekurriert hier auf die bereits vor der Romantik herausgebildete Vorstellung von Instrumentalmusik als derjenigen Kunstgattung, die am besten und direktesten die Empfindungen und insbesondere Emotionen im Betrachter anzuregen und zu gestalten vermag. Angst ist die wichtigste im Text thematisierte und präsentierte Emotion, die das größte empathieermöglichende Potenzial hat. Sie wird im Text am häufigsten, ausführlichsten und als intensivsten gestaltet und immer ist es Yosch, der die geschilderten Angstzustände durchlebt. Der Leser wird sich somit vermutlich bei der Erstlektüre besonders stark auf Yoschs Perspektive einstellen. Unklar bleibt allerdings, welche konzeptuelle Vorstellung genau hinter den expliziten und impliziten Darstellungen von Yoschs Angsterleben steht. Genauer bleibt offen, ob Yoschs Angstzustände als Beweis für seine Schuld oder als Zeichen eines neurotischen Schuldkomplexes zu bewerten sind. So lässt sich zeigen, dass Yoschs Angst sich im Sinne der zum Entstehungszeitpunkt des Romans besonders virulenten psychoanalytischen Angsttheorie Freuds als neurotische Angst verstehen lässt, die aus einer unterdrückten sexuellen, auf Dina gerichteten Triebregung des Rittmeisters und einem damit verbundenen Schuldgefühl nach Bischoffs Tod resultiert, oder aber viel simpler als punktuell-gerichtetes Phänomen, als Angst vor der Aufdeckung einer tatsächlichen Schuld des Freiherrn.218 Am deutlichsten konzeptuell ausgeformt ist im Text die Vorstellung der Urweltangst, wie sie Dr. Gorski schildert: Aber was Sie vorher als Furcht erlebt haben, war nur ein schwacher Widerschein eines Gefühls, das seit Jahrtausenden in uns erloschen ist. Die wahre Furcht, die echte Furcht, die Furcht, die den Urmenschen überfiel, wenn er aus dem Schein seines Feuers ins Dunkle trat, wenn aus den Wolken die rasenden Blitze niederfuhren, von den Sümpfen her der Schrei des Vorweltsauriers ertönte, die Urweltangst der einsamen Kreatur – keiner von den lebenden Menschen kennt sie, keiner wäre fähig, sie zu ertragen. Aber der Nerv, der sie in uns hervorzurufen vermag, ist nicht tot, er lebt, liegt vielleicht in jahrtausendealter Betäubung, er rührt sich nicht und regt sich nicht – wir tragen einen furchtbaren Schläfer in unserem Hirn! (MjT 176) 218

Gegen diese Lesart des Romans als Indizienroman hat sich Irmgard Osols-Wehden gewandt: Sie geht davon aus, dass die erlebten Angstvisionen am besten mit Hilfe der analytischen Psychologie Jungs als kollektive Symbole gedeutet werden können. Folgt man dieser Annahme, wären sie aber nicht automatisch keine Indizien mehr, sondern können als Indizien für Yoschs Unschuld verstanden werden. Vgl. Irmgard Osols-Wehden, „Im Labyrinth der Meister. Leo Perutz und die Analytische Psychologie C.G. Jungs“. Ausführlicher gehe ich auf das Angstkonzept im Roman ein in „,Das grauenvolle Drommetenrot‘ – Zum Angskonzept in Leo Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages“, in Emotionale Grenzgänge – Konzeptualisierungen von Liebe, Trauer und Angst in Sprache und Literatur. Hg. v. Lisanne Ebert, Carola Gruber, Benjamin Meisnitzer und Sabine Rettinger. Würzburg 2011, 273–288.

224

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Wird Yoschs Angsterleben auf diese Weise als allgemein menschliches Phänomen deklariert, so dient dies seiner Entlastung, denn die im Drogenrausch erlebten Angstvisionen müssen im Zuge dieser Annahme nicht als Schuldeingeständnisse der potentiellen Täterfiguren Giovansimone Chigi, Solgrub oder Yosch gewertet werden. Dazu passt, dass auch die anderen, vermutlich schuldlosen Opfer Bischoff, der Marinesoldat und sein Bruder sowie Leopoldine Teichmann ähnliche Angstvisionen erleben. Insgesamt muss aber betont werden, dass nicht grundsätzlich entschieden werden kann, ob Yoschs Angst als diffus-chronische oder punktuell-gerichtete aufzufassen ist. Anders gesagt ist auch das im Roman gestaltete Angstkonzept von der Unzuverlässigkeit der Erzählerfigur betroffen. Damit wird die „Einfühlung“ in Yosch vermutlich erschwert, auch wenn der Rittmeister selbst ausführlich und mit eindeutigen Darstellungsverfahren – vor allem in Form von expliziten Nennungen des Lexems Angst sowie körpersprachlichen Präsentationen und der Beschreibung stark mit Angst konnotierter Situationen – sein emotionales Erleben im Text entfaltet. In Zweifel gezogen wird dessen Selbstentwurf als sensibles, angstgequältes Opfer einer misstrauischen Gesellschaft am Ende vom Herausgeber, dessen Behauptung, Yoschs Erzählung sei gelogen, jedoch ebensowenig bewiesen wird wie Yoschs Version der Ereignisse. Der Herausgeber erzielt mit dieser Feststellung vermutlich einen Überraschungs- und im Anschluss einen desorientierenden Effekt, denn obwohl die Inkonsistenzen in Yoschs Bericht bereits vorher deutlich zu Tage getreten sind, konnten diese doch bis hierhin als Produkt von Yoschs traumatisch bedingten Erinnerungslücken wie auch einer zum Teil geschönten Selbstdarstellungsstrategie interpretiert werden, ohne dass daraus die Annahme abgeleitet werden musste, der Rittmeister lüge bewusst. Diese desorientierende Wirkung des Romans lässt sich durch die Betrachtung von Rezeptionszeugnissen stützen: Hans Reimann spricht von einem „Donnerwetter der Erschütterung.“219 Und Siegfried Kracauer schreibt: „Wer aus dem neuen Roman von Leo Perutz [...] das Gruseln nicht lernt, der lernt es gewiß nimmermehr.“220 Im Anschluss an diesen Überraschungseffekt sind daher verschiedene Reaktionen des Rezipienten denkbar, die hier etwas schematisch wiedergegeben seien: Der Leser kann durch die aus dem genannten Überraschungseffekt resultierende desorientierende Wirkung des Romanschlusses neugierig gemacht und zur Re-Lektüre angeregt werden. Ebenso kann er Ärger darüber empfinden, dass die durch das zugrunde gelegte Schema des phantastischen oder des Kriminalromans erzeugten Erwartungen nicht erfüllt wurden: Das Geschehen um den Meister des jüngsten Tages lässt sich auf natürliche Weise als Produkt eines missglückten Drogenexperimentes erklären; am Ende des Romans ist der Täter nicht entlarvt – vorausgesetzt, der Rezipient schreibt dem Herausgeberbericht 219 220

Hans Reimann, „Tisch mit Büchern. Frey und Perutz“, in Das Tage-Buch 4 (1923), 1125. Siegfried Kracauer, „Der Meister des jüngsten Tages“, in Frankfurter Zeitung 68, Nr. 736 (4.10.1923), 1. Aus den Zitaten kann allerdings nicht zweifelsfrei erschlossen werden, auf welche Aspekte des Textes sich die genannten Wirkungen der „Erschütterung“, von „Grusel, Grauen und Spannung“ beziehen.

3.3 „Ein Buch für schlaflose Nächte“: Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages

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nicht die Eigenschaft der Zuverlässigkeit zu. Tut er dies allerdings, so wird sich möglicherweise ein Gefühl der Befriedigung über die Erfüllung der Erwartungshaltung einstellen, gegebenenfalls besonders deswegen, weil die Auflösung der Kriminalhandlung auf so überraschende und wenig vorhersehbare Weise herbeigeführt worden ist. Auch bei der Re-Lektüre wird die Rätselspannung hoch sein, die erlebte Suspensespannung allerdings wohl gering, da der Gang der Handlung nun bereits bekannt ist und mittlerweile auch Yoschs axiologische Zuverlässigkeit in Zweifel gezogen wurde, damit also auch eine Positivwertung in Bezug auf seine Aufrichtigkeit nicht mehr wahrscheinlich ist. Versucht der Leser nun bei der Re-Lektüre eindeutige Hinweise für Yoschs Schuld zu entdecken, so wird er wiederum enttäuscht werden. Dies kann unter Umständen zu Ärger und daraus resultierend einer Abwertung des Erzählten führen, allerdings in gleicher Weise auch zur Hochwertung, wenn ein Verständnis von Hochliteratur vorausgesetzt wird, das davon ausgeht, dass literarische Texte eben genau auf die Verwirrung und Desorientierung des Lesers abzielen sollen. Unter Umständen kann die destruierte Erwartungshaltung im Anschluss zu einer erneuten Re-Lektüre führen – auf der Suche nach einem anderen Schema, vor dessen Hintergrund der ganze Romantext adäquat verstanden werden kann. Dies ist dann der Fall, wenn der Roman, wie vom fiktiven Herausgeber angeboten, als Künstlerroman gelesen wird, der eine Poetologie oder allgemeiner eine Ästhetik der Angst entwirft, für deren Verständnis es unerheblich ist, ob Yoschs Bericht als Zeugnis seiner Schuld oder Unschuld verstanden wird. Die Aufmerksamkeit wird in diesem Fall auf die Kompositionskunst des Erzählers gelenkt und auf das „vexierbildhafte“ Erzählverfahren des Romans. Der Roman kann von dieser Prämisse ausgehend als narrative Entfaltung einer allgemeinen Idee wie der des epistemologischen Skeptizismus, der Problematisierung des Identitätsbegriffs oder als Kommentar zur modernen Künstlerproblematik verstanden werden. Nimmt der Rezipient diesen distanzierteren Rezeptionsmodus ein, so ist in diesem Fall vermutlich mit dem gehäuften Auftreten von Artefaktemotionen in Form von Lusterfahrungen oder Bewunderung für den Erzähler, den Autor, die Erzählstruktur etc. zu rechnen. Alle diese emotionalen Wirkungen hängen, wie ich zu zeigen versucht habe, jedoch entscheidend von der Art der Textrealisation ab. Die aus der Erzählkonstruktion resultierenden Emotionen der Spannung, Neugier und Desorientierung treten vermutlich in ähnlicher Weise auch bei wiederholter Lektüre auf, die auf den Rittmeister bezogenen empathischen oder sympathiebedingten Emotionen werden bei der Re-Lektüre vermutlich weniger intensiv ausfallen, dagegen kann das Mitgefühl für die Nebenfiguren wie Dina und Felix je nach Art der Textrealisation bei der Re-Lektüre gegebenenfalls steigen. Artefaktemotionen wiederum treten wahrscheinlich eher bei der Re-Lektüre auf beziehungsweise bei erfahrenen Rezipienten, die mit Perutz’ Schreibweise bereits vertraut sind und dementsprechend unter Umständen bei der ersten Lektüre bereits mit einer besonders ungewöhnlichen und komplexen Erzählkonstruktion rechnen. Natürlich sind hier auch negative Artefaktemotionen wie Ärger, Enttäuschung etc. denkbar. Dies hängt jedoch stark vom Leser und dem zeitgenössischen Geschmack ab, wie oben in

226

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Abschnitt 2.5 dargelegt worden ist. Setzt man aber beispielsweise Carbonells Wertmaßstäbe für Hochliteratur voraus, kann, wie die Textanalyse veranschaulicht hat, eher mit dem Auftreten positiver Artefaktemotionen gerechnet werden. Mit Blick auf die zeitgenössische Rezeptionswirkung des Romans kann erst einmal konstatiert werden, dass alle Rezensenten dessen spannende und auch grauenerregende Erzählweise hervorheben. Spannung und die Erzeugung einer unheimlichen Stimmung scheinen demzufolge sogar die hervorstechendsten Wirkungen des Textes zu sein. Auffällig ist weiterhin, dass die Rezensenten meistens auch darum bemüht sind, Gründe für diese Qualifikationen zu nennen, und dazu in der Regel die häufig als „kunstvoll“ oder „virtuos“ bezeichnete Erzähltechnik des Romans anführen. Kracauer etwa geht aus rezeptionsästhetischer Perspektive genauer auf die Spannungsdramaturgie des Romans ein, die sich gut mit den oben im theoretischen Teil angeführten Textfaktoren in Übereinstimmung bringen lässt: Wer aus dem neuen Roman von Leo Perutz, „Der Meister des jünsten Tages“ [...] das Gruseln nicht lernt, der lernt es gewiß nimmermehr. Selbstmorde, sämtlich unter den gleichen rätselhaften Umständen verübt, sind schon an sich unheimlich genug; wieviel unheimlicher noch, wenn man von Anfang an ihren mysteriösen Zusammenhang ahnt, ohne ihn doch vor Ablauf der Ereignisse unzweideutig ergründen zu können. Zweifel, Grauen, Spannung so lange wachzuhalten, ist eine nicht geringe Virtuosität aufgeboten.221

Gerade die begrenzte Zahl möglicher antizipierbarer Auflösungen, aber auch deren kunstvolle Variation scheinen es also zu sein, die nach Kracauer die Spannung beim Lesen erhöhen. Komplementär dazu betont Sünner gerade die überraschenden Wendungen, die der Roman nehme und die die Spannung während des Lesens aufrechterhielten. Er betont, dass „Unerwartetes und immer Ueberraschenderes [...] den Leser in atemlosem Wettlauf in einen wahren Hexenkessel grauenhaften Geschehens“ reiße. Sünner begründet damit seine Qualifikation des Romans als spannend und die seines Autors als „Meister des Grauens“.222 Allgemeiner hält der Rezensent der Literaturbeilage der München-Augsburger Abendzeitung fest, der Roman fessle „durch die Logik der psychischen Folgerung ebensosehr als durch die spannende, manchmal auch dramatisch stark bewegte Handlung“.223 Knapper resümiert Bermann die Spannungskunst des Romans und deren verunsichernden und angstinduzierenden Effekt, den er durch das Schlusswort gemildert sieht: „Der Meister des jüngsten Gerichts“ [sic!] ist eine höchst kunstreich komponierte Geschichte: ein schauerliches Geheimnis wird allmählich enthüllt; es wäre ein Geheimnis aus fast übersinnlichen Regionen der Phantasie, wenn es nicht als psychopathische Träumerei eines grü221

Siegfried Kracauer, „Der Meister des jüngsten Tages“, 124. Paul Sünner, „Vom Büchertisch“, in Psychische Studien 50 (1923), 561. 223 A. N., „Der Meister des jüngsten Tages“, in Der Sammler. Beilage der München-Augsburger Abendzeitung 59 (1923), 6. Er ist allerdings enttäuscht vom Nachwort, „das mir persönlich den Eindruck der Lektüre ziemlich stark abgeschwächt hat“. Ebd. 222

3.3 „Ein Buch für schlaflose Nächte“: Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages

227

belnden Gehirns realistisch erklärt würde, für Leute, die solche Erklärungen brauchen. [...] Es ist ein Buch für schlaflose Nächte, eines [sic!] das schlaflose Nächte erzeugt.224

Benjamin nennt in seiner überblickshaften Besprechung verschiedener „Kriminalromane“, zu denen er auch Perutz’ Meister rechnet, die charakteristischen emotional konnotierten Wirkungen der „Neugier, der Geistesabwesenheit und der Sensation“ und einen „Schauer der Spannung“.225 „[...] hier kann wirklich einmal von atemloser Spannung die Rede sein, und sie ist mit den Mitteln einer vornehmen Erzählungskunst erreicht“,226 urteilt knapper Ludwig. Euringer nennt den Roman einen „psychosynthetische[n] Detektivroman von nervöser Unbehaglichkeit und mitreißendem Temperament“227 und hebt damit sowohl die spannungsinduzierende Erzähltechnik als auch die verunsichernde Wirkung des Meisters hervor. Lloyd, der die besondere Qualität von Perutz’ Roman in seiner vergleichenden Rezension hervorhebt, lobt diesen gerade wegen seiner Fähigkeit, den Leser in Spannung zu versetzen: For an atmosphere of real growing tension and horror it would be hard to find many equals in similar books of recent years. [...] A haze of supernatural horrors clouds the book with increasing density, and the explanation which might easily, in the hands of a less distinguished writer, fall into the banal and commonplace, here takes on the correct tone of unearthly reality. It is decidedly not a book for the bedside: the springs of naked pagan fear are so well played on that an uncomfortable chill sensation must be left on even the midday reader. Those who like sensation will certainly not be disappointed. We all know the contrasts of the real and unreal which are so striking and forcible when the mind is in a hypersensitive state, and we must applaud the art which handles these delicate sensations, so that we are never oppressed, but feel a heightened absorption in the mind which is their focus.228

Spannung und Angst werden bei Lloyd also als eng miteinander korrelierte Wirkungsphänomene aufgefasst, die in ihrer Kombination und durch die Art ihrer Evokation eine besonders starke und verunsichernde Wirkung auf den Leser ausüben. Als ähnlich intensive emotionale Erfahrung beschreibt, wie schon erwähnt, Reimann die Wirkung während der Lektüre:

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Arnold Höllriegel [d.i. Richard A. Bermann, C.H.], „Leo Perutz“, in Der Tag 2, Nr. 91 (28.2.1923), 3. 225 Walter Benjamin, „Kriminalromane auf Reisen“, in Frankfurter Zeitung. Literaturblatt der Frankfurter Zeitung 63, Nr. 404 (1.6.1930). 226 Albert Ludwig, „Der Meister des jüngsten Tages“, in Die Literatur/Das literarische Echo 26 (1923/24), 36. 227 Richard Euringer, „Perutz, Leo, Der Meister des jüngsten Tages“, in Die schöne Literatur 24, Nr. 16 (15.8.1923), 310. 228 Franics Lloyd, „Fiction II: The Half Pint Flask, The Master of the Day of Judgement, The Melbourne Mystery, Who Killed Charmian Karslake?“, in London Mercury 21 (1930), 272. Die Frage nach der zeitgenössisch als „phantastisch“ empfundenen Wirkung des Romans, die von Lloyd angedeutet wird, klammere ich hier aus pragmatischen Gründen aus, weil sich Vergleichsprobleme auf der Ebene der Objektsprache ergeben – so gebraucht Bermann etwa den Begriff „phantastisch“ im Sinne von „phantasievoll“.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven Die Geschehnisse sind ineinandergekapselt und grausam aufgeschlitzt. Es ist ein „Roman“, den man offenen Mundes durchrast und den man mit einem Donnerwetter der Erschütterung aus der Hand legt. Ein Buch voller Mysterien und Qualen und Phantasmagorien. Voll Erleuchtung und männlicher Kraft.229

„Spannung“, „Grusel“, „Schauer“, „Angst“230, „Erschütterung“ sind demnach die wichtigsten emotionalen Qualitäten, die den Roman auszeichnen. Kracauer betont darüber hinaus auch die atmosphärische Wirkung des Unheimlichen und die Evokation einer Dekadenz- oder Untergangsstimmung, die von den Schilderungen Wiens unmittelbar nach der Jahrhundertwende hervorgerufen werde: Es gelingt weiterhin, durch Beschwörung abgerissener Klänge, Ausstreuung fahler Lichter auf Park, Straßen und Räume eine Stimmung zu erzeugen, die in alle Poren dringt und die Folge jener seltsamen Begebenheiten gespenstisch umlauert.231

Insgesamt rechnet Kracauer Perutz’ Roman ähnlich wie Benjamin der Unterhaltungsliteratur zu, wenn er ihn in einem kontrastiven Vergleich Dostojewskis Verbrechen und Strafe gegenüberstellt: Metaphysische Gehalte in dem Stoff des Kriminalromans auszudrücken, muß man schon ein Dostojewski sein; Perutz jedenfalls versagt genau dort, wo er die Grenzen einer auf Spannung aufgebauten Erzählung zu überschreiten strebt. [...] Wäre nicht, infolge des Mangels an hier zudem unnötig beanspruchtem dichterischem [sic!] Vermögen, der Weg allzu abgeblaßt, auf dem der Renaissancemaler Giovansimone Chigi, der Meister des jüngsten Tages, den nach solcher Vision Begierigen den Zugang zu ihr vermittelt, so bliebe ein Buch, das rein als Spannungsroman nicht leicht übertroffen werden kann.232

Dagegen stellt Sünner Perutz mit dem Meister „fast an d[ie] Seite der E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe“.233 Yoschs Charakter wird – ebenso wie die literarische Qualität des Romans –, wie die vorausgegangene Textanalyse bereits vermuten ließ, von den Rezensenten sehr unterschiedlich beurteilt und ist dementsprechend mit einer unterschiedlich starken emotionalen Anteilnahme am Protagonisten oder einzelnen anderen Figuren verknüpft. Insgesamt wird die Ausgestaltung der Figurenpsychologie und die daraus erwachsenden Möglichkeiten und Grenzen der emotionalen Anteilnahme unterschiedlich bewertet. Von einer eher distanzierten, wenig intensiven emotionalen Reaktion geht etwa A. N. aus: 229

Hans Reimann, „Frey und Perutz“, 1125. Diese ist bei Benjamin mit durchaus kathartischen Zügen belegt, wenn er von der „Betäubung der einen Angst [der Bahnfahrt, C.H.] durch die andere [der vom Buch ausgelösten, C.H.]“ spricht. Vgl. Walter Benjamin, „Kriminalromane auf Reisen“. Damit stellt Benjamin Perutz’ Roman deutlich in den Dienst einer heteronomen Lektürepraxis. Gegen die Gattungsbezeichnung „Krimi“ hat sich Perutz allerdings, wie bereits erwähnt, vehement zur Wehr gesetzt. 231 Siegfried Kracauer, „Der Meister des jüngsten Tages“. 232 Ebd. 233 Paul Sünner, „Vom Büchertisch“. 230

3.3 „Ein Buch für schlaflose Nächte“: Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages

229

Freilich, es sind keine erlebten, sondern geschilderte Schicksale, die uns hier vorgeführt werden, der Leser tritt in keinerlei seelische Beziehungen zu irgendeinem der auftauchenden, leidenden und sterbenden Charaktere und deshalb steigt er von der Hochwarte spekulativer, psychologisch freilich nicht uninteressierter Beobachtung auch kaum herab; seine innere Anteilnahme an den tropischen Schicksalen zweier Menschen, die das Opfer ihrer Sensibilität und eines selbst hypothetisch kaum faßbaren Hokuspokus werden, erreicht einen kaum wärmeren Grad als den einer kühl-konventionellen Beileidsformel.234

Kracauer sieht lediglich Solgrub als Typus des kühlen, emotional unbewegten Beobachters aus diesem Figurenensemble hervorstechen. Dies ist sicherlich der Hochschätzung des zeittypischen neusachlichen Topos der Kälte geschuldet: Aus diesem Halbdunkel tritt einzig der Ingenieur Solgrub scharf hervor: Deutschbalte, der einst im russisch-japanischen Krieg bei Munho eine Schützenkette von fünfhundert Japanern durch Hochspannungsströme vernichtete und nun die Erinnerung an die starre Reihe der Getöteten dauernd mit sich trägt. Durch jenes ihm eingegrabene Schreckensbild der Unmittelbarkeit des Lebens und Mitlebens enthoben, hat er den nötigen Abstand von Dingen und Menschen gewonnen, um ihre Verkettungen furchtlos zu erspähen. Er entwirrt, ein inwendig Erfrorener, mit dem Spürsinn des Detektivs die verborgenen Fäden und dringt am Ende, das Unbegreifliche kühl des Schleiers beraubend, bis zu dem Urheber der Selbstmorde, dem ,Meister des jüngsten Tages‘ vor, dem freilich auch er selber zum Opfer fällt.235

Indem Kracauer besonders Solgrubs Kühle und Rationalität hervorhebt, macht seine Beschreibung die von Bewunderung begleitete Hochwertung dieses Habitus während der Zwischenkriegszeit deutlich. Aus Ludwigs Beschreibung des Protagonisten scheint hingegen eine weniger distanzierte Haltung gegenüber Yosch durchzuscheinen: [...] aus eigener Schuld und eigenem Grauen spinnt der Erzähler sich sein Reich des Entsetzens, für das die Farbe Drommetenrot das meisterlich gefundene Symbol ist; er träumt nur von dem letzten, großen Erlebnis, von dem unmittelbaren Schauen des Unerhörten, Einzigen, das den Bann des Gewöhnlichen, der Routine ein für allemal bricht – er bleibt doch der Kavalier, für den der Ehrenkodex gilt, er mag wollen oder nicht. Den Leser aber hält er im Bann mit seiner Aufrichtigkeit, die scheinbar alles sagt und darum Glauben findet, auch wo an Stelle des

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A. N.. „Der Meister des jüngsten Tages“. In eine ähnliche Richtung deutet Kracauers Feststellung: „Es gelingt schließlich, die Träger der Handlung: Halbkünstler und Balkanexistenzen in eine dichte Atmosphäre der Verwesung zu stellen, unter Vermeidung unangebrachter psychologischer Vertiefung ihre Wurmstichigkeit gerade soweit anzudeuten, daß sie stets nur Hintergrund des die eigentliche Mitte ausfüllenden spannungshaften Geschehens bleibt. Zu dem alten Bischoff mit seiner erloschenen Gestaltungskraft und dem Freiherrn selber, der bereits zu sehr Spätling ist, um noch brutal zupacken zu können, gesellen sich die Schattenriß-Figuren des ehrenwerten Spaniolen Albachary, [...], des ausrangierten Majors Kubicek, wie der in allen Künsten dilettierenden Leopoldine Teichmann, [...] – gebrochen sie alle, lediglich in den Zwischenschichten zuhause und gut akklimatisiert an die Wiener Luft, deren Untergangshauch sie bestreicht.“ Kracauer: „Der Meister des jüngsten Tages“. 235 Ebd.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven tatsächlichen Berichtes die Wunsch- und Furchtträume des aus dem Gleichgewicht Geworfenen treten.236

Diese wenigen, hinsichtlich der Einstellung zu den Figuren informativen Befunde stützen die oben entwickelte Hypothese, dass die emotionale Nähe zum Protagonisten und den einzelnen Figuren je nach Lesehaltung stark variiert. Einheitlicher ist dagegen die Beschreibung der durch die Erzählkonstruktion evozierten Emotionen in Form von Spannung, einer unheimlichen Atmosphäre und einer verunsichernden Wirkung auf den Leser. Diese sind auch relativ unabhängig von der Textrealisation, denn diese fiel offenkundig recht unterschiedlich aus, bedenkt man Benjamins oder Kracauers Gattungszuordnung sowie A. N.s Enttäuschung über das Nachwort. Die auf die Erzählkonstruktion bezogenen Emotionen werden insgesamt, wie von Martínez bereits dargelegt, wesentlich durch den Erzählrahmen des proleptischen Rätselromans gesteuert. Abschließend bliebe zu fragen, ob das oben rekonstruierte Wirkungspotenzial des Romans mindestens partiell auch auf die Verwendung des unzuverlässigen Erzählverfahrens zurückgeführt werden kann. Diese Frage soll abschließend durch einen kurzen Vergleich mit Perutz’ kurz nach dem Meister entstandenen Roman Turlupin erörtert werden, der ebenfalls unzuverlässig erzählt ist.

3.3.2 Turlupin: Ein kontrastiver Vergleich Kindt hat darauf hingewiesen, dass wir es wie im Meister auch in Turlupin mit einem unzuverlässigen Erzähler zu tun haben – ein Umstand, der in der Perutzforschung bisher weitgehend unbemerkt geblieben ist:237 Er stellt Analogien zwischen dem Erzähler und dem Protagonisten selbst heraus und begründet damit die plausible Vermutung, dass der Erzähler ebenso wie seine Hauptfigur eine kohärente, letztlich aber auch innerhalb der Diegese erfundene Geschichte präsentiert und damit axiologisch unzuverlässig ist. Der Roman gehört neben Die dritte Kugel, Der Marques de Bolibar, Der schwedische Reiter, Nachts unter der steinernen Brücke und Der Judas des Leonardo zu Perutz’ historischen Romanen und liefert in einem erzähltechnisch analog zum Meister aufgebauten proleptischen Dreischritt eine fingierte Erklärung dafür, warum die französische Revolution nicht bereits im 17. Jahrhundert stattgefunden hat. Rätselspannung und Neugier, die sich auf den Gang der Handlung richten, werden daher hoch sein, nicht jedoch die empfundene Supsensespannung: Im Gegensatz zum Meister des jüngsten Tages wird der Protagonist in Turlupin von Beginn des Romans an als „Narr“238 dargestellt, seine 236

Albert Ludwig, „Der Meister des jüngsten Tages“. Vgl. Tom Kindt, „Turlupin oder: Und wo bleibt das Ethische, Herr Perutz?“, in Leo Perutz’ Romane, 69–79. Noch in einer 2009 erschienenen Studie zu unzuverlässigen Erzählverfahren bei Perutz wird Turlupin nicht untersucht: Markus Fleckinger, Der unzuverlässige Erzähler bei Leo Perutz. Eine Strukturanalyse unzuverlässigen Erzählen 238 Leo Perutz, Turlupin, 18 (Im Folgenden Tu). 237

3.3 „Ein Buch für schlaflose Nächte“: Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages

231

Perspektive auf das Geschehen als falsch gekennzeichnet. Insgesamt wirkt er damit von vorneherein unsympathisch und außerdem lächerlich. Dies lässt sich bis in Details der Figurengestaltung nachweisen: In einer Mischung aus interner und Nullfokalisierung führt der Erzähler immer wieder vor, wie Turlupin Situationen missversteht und seinem ganzen Leben einen als falsch gekennzeichneten Sinn zuschreibt. Turlupin lässt sich so als eine Abart des Schelmenromans lesen – allerdings ist er ein „Possenreißer wider Willen“.239 Ursprünglich bezeichnete der Name „Turlupin [...] einen albernen Spaßmacher.“240 Die vom Farceur Henri Le Grand in der Richelieu-Ära in Analogie zur Brighella-Figur der Commedia dell’arte kreierte Kunstfigur weist einige Ähnlichkeiten mit dem Turlupin des Romans auf: Beide sind tölpelhaft, von Natur aus glücklos, können aber auch liebenswert und durchaus angenehm sein. Damit endet aber schon jedwede Ähnlichkeit mit der Romanfigur. Der Turlupin der Bühne ist darüber hinaus auch noch ein gewiefter, abgefeimter Schlawiner, einerseits ein ganz geistvoller Farceur, andererseits einer, der „schlechte, geschmacklose Späße macht“. Auch ist er – im Gegensatz zum Turlupin des Romans – bar jeder Naivität. Obzwar sich unser Roman-Turlupin in heiklen Situationen häufig erstaunlich geschickt aus der Affäre zieht, ist er doch weit davon entfernt, ein Mann von ésprit zu sein. [...] Während der Farceur der Bühne Subjekt der Komik ist, wird Perutz’ Turlupin zum Objekt der Komik, der Leser aber – über das Medium des Erzählers – zum Zuschauer.241

Diese Komik trifft auch die im Text dargestellten Emotionen. Dank des vom Erzähler vermittelten Wissensvorsprungs lässt sich immer wieder beobachten, wie Turlupin emotionale Situationen missversteht. Damit sind die textuellen Voraussetzungen für Komik gegeben: Erwartungs- beziehungsweise Normdurchbrechung sowie Harmlosigkeit oder emotionale Distanz. So beachtet Turlupin die Witwe Sabot, die ihn liebt, nicht, obwohl sie ihm immer wieder unmissverständliche Zeichen gibt, zum Beispiel mit Hilfe des Medaillons (Tu 21); den leeren Blick der Herzogin von Lavan und den Diebstahl des Medaillons interpretiert er dagegen als hinreichenden Beweis seiner adligen Abstammung (Tu 48-50). Die erotischen Anspielungen der galanten Adelssprache begreift Turlupin ebenso wenig. Er entlarvt allerdings durch sein Unverständnis ganz in der Tradition des Schelmenromans die so thematisierten und präsentierten Emotionen als bloße Sprachhülsen, denen keine wirklichen Gefühle zugrunde liegen (Tu 107, 109–113). Auf diese Art und Weise wird eine empathische Einfühlung in die Hauptfigur eher erschwert. Ebenso kann Turlupin aus moralischen Gründen für unsympathisch gehalten werden, denn eine im Text aufgerufene christliche Mitleidsethik ist ihm fremd. Dies zeigt sich 239

Brigitte Forster, „Absichtliche Unabsichtlichkeit. Motive, Quellen und Erzählarchitekturen in Leo Perutz’ Turlupin“, in Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen, 163. Bettina Hey’l sieht in der Figur Turlupins eine Parodie des mittleren Helden des historischen Romans. Bettina Hey’l, Geschichtsdenken und literarische Moderne. Zum historischen Roman in der Zeit der Weimarer Republik, 263. 240 Brigitte Forster, „Absichtliche Unabsichtlichkeit“, 160. 241 Ebd.

232

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

besonders deutlich an seiner verqueren Einstellung zu den Bettlern von Paris: In jedem von ihnen sieht er einen potentiellen Ankläger vor Gott, der sich darüber beschwert, dass er von Turlupin kein Almosen erhalten hat. Dafür hasst er alle Bettler und ist sogar bereit anzunehmen, dass diese sich mit den empfangenen Almosen ein fürstliches Begräbnis leisten können (Tu 28, 37f). Dagegen steht der Vicomte de Saint-Chéron alias Monsieur Gaspard, der im Gegensatz zum Machtpolitiker Richelieu aus Überzeugung für die Gleichheit aller Bürger eintritt. Er fühlt Mitleid mit der notleidenden Bevölkerung und beweist damit ein Einfühlungsvermögen, das Turlupin fehlt. „Und Sie glauben, hochwürdiger Vater“, hörte man plötzlich die entsetzte Stimme des Monsieurs Gaspard, „Sie glauben, daß Gott diese Menschen dazu bestimmt hat, als Lasttiere zu leben und im Armenhaus zu sterben? Gütiger Himmel, welch eine Ordnung der Dinge! Verstehen sie denn nicht, dass die Menschen alle mit dem gleichen Anrecht auf Glück zur Welt gekommen sind?“ (Tu 62)

Diese Vorstellung von der Gleichheit aller Bürger prägt seit der französischen Revolution von 1789 das neuzeitliche Denken in Europa. Wenn Turlupin, der als einfacher Barbiergeselle ebenfalls von einer solchen Revolution profitieren könnte wie die Bettler von Paris, diese verhindert, so erweist er sich tatsächlich als Narr, mit dem Mitleid zu haben schwer fällt. Auch sein „quasiadliges“ Erhabenheitsgefühl über andere steht dem im Wege (Tu 21f). Alfred Polgar bemerkt dazu: „Er selbst, der Dichter, hat kein Mitleid mit Turlupin.“242 Doch er ergänzt: „Aber in dieser Trockenmethode des Leo Perutz steckt mehr Liebe zur Kreatur als in den gesamten Tief- und Trief-Produkten der neuern ,Bruder Mensch‘-Dichtung.“243 Die von Polgar konstatierte „Liebe zur Kreatur“ verweist darauf, dass Turlupin auch als eine Art prototypische Gegenfigur zur emphatisch-expressionistischen Mode gesehen worden ist. Dies ist die andere Seite der 242

So äußern sich auch einige andere zeitgenössische Rezensenten. Hegeler etwa beschreibt ihn als „eine recht armselige Topfpflanze“, „ehrsam, ruhsam, bigott und knickerig“ und redet von seinem „engen Hirn“. Insgesamt beschreibt er die Erzähltechnik in Bezug auf die Figuren als „trockne [...], prickelnde Kühle“. Wilhelm Hegeler, „Neues vom Büchertisch“, in Velhagen und Klasings Monatshefte 39,1 (1924/25), 109f. Ähnlich lässt sich auch Reisers Rezension verstehen, in der er von der „unpersönliche[n] Sachlichkeit“ und der „selbstverständlichen, ruhigen Stärke, der grandiosen Nüchternheit dieses strengen Erzählerstils“ spricht. Hans Reiser, „Perutz, Leo: Turlupin“, in Die schöne Literatur 26, Nr. 4 (4.1925), 157. Die meisten Rezensenten übernehmen daher auch Turlupins Qualifizierung als „Narr“. Vgl. z.B. K., „Tisch mit Büchern“, in Das Tage-Buch 5 (1924), 862. 243 Alfred Polgar, „Turlupin“, in Die Weltbühne 20, Nr. 40 (2.10.1924), 408. Ähnlich ambivalent ist auch Trebitsch-Steins Haltung zur Figur, wenn sie Turlupin als „tragikomisch“ und als „reine[n] Tor“ bezeichnet und sein Eintreten für den Adel am Ende des Romans gar als heldenhaft charakterisiert: „Denn auch das wahre Leben bringt es oft mit sich, daß mißverstandene Gefühle unsere Kräfte bis an ungeahntes Heldentum zu steigern wissen ...“ Marianne Trebitsch-Stein, „Historische Romane“, in Neue Freie Presse Nr. 21583 (12.10.1924), 29. Diese Einschätzung von Turlupins Ende teilt sie mit Schott: „[...] – mit diesem armen Phantomsjäger empfindet der Leser schließlich Mitleid, wenn er am Ende im Straßenkampf sein Leben läßt, damit seine niedrige Herkunft Geheimnis bleibe.“ Georg Schott, „Turlupin“, in Die Literatur/Das literarische Echo 26 (1923/24), 751.

3.3 „Ein Buch für schlaflose Nächte“: Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages

233

Figur Turlupin, die sich auch in seinem selbstgewählten Vornamen Tancrède ausdrückt. Er geht zurück auf germanisch „Tancrad“, der denkende Rat. Dem Namen nach hat Tancrède Turlupin damit doch zwei adelige Vorfahren, einen süditalienischen Normannenfürsten und einen König von Sizilien. Beide wurden zu Helden stilisiert, beide mussten um ihre Erbansprüche kämpfen.244 Brigitte Forster weist auch darauf hin, dass nur Gott ihn in dem von Turlupin imaginierten Gespräch mit seinem vollen Namen anspricht (Tu 28f).245 Alle anderen sehen in ihm ausschließlich den Turlupin, den Narren. Als Mensch mit Sehnsüchten und Träumen wird er von der Außenwelt nicht wahrgenommen. So wie diese ihm Mitleid verweigert, verweigert er selbst es anderen konsequenterweise ebenso. Turlupins Identität ist ungeklärt, sein Stigma ist die weiße Strähne (Tu 29). Seine Sehnsucht nach einer Vergangenheit, einer Familiengeschichte plausibilisiert sein Verhalten, rechtfertigt es aber vor einem moralischen Wert der Kooperationsbereitschaft im Sinne der christlichen Mitleidsethik nicht. Denn es geht ihm nicht nur um die Rekonstruktion seiner Vergangenheit, sondern einer ganz bestimmten, erträumten Vergangenheit, die ihn über die anderen erheben soll. Turlupin strebt nicht nach Erkenntnis, sondern nach Ruhm, Anerkennung und Reichtum. Dies zeigt beispielsweise sein Hass auf den jungen Herzog von Lavan, den Turlupin für seinen Bruder hält. Turlupin hob den Kopf. In seinen Augen glänzte Zorn, Haß und eine wilde, hämische, triumphierende Freude. „Er ist also ein jüngerer Sohn, dieser Herr von La Roche-Pichemer, und aus diesem Grunde besitzt er nichts“, wiederholte er lauernd. „Und sein älterer Bruder, der hat alles, wie? Das Landgut und das Stadthaus, die Pferde und die Karossen und das gemünzte Gold.“ (Tu 128)

Turlupin hält sich für den älteren Sohn und freut sich darüber, dem jüngeren die Erbansprüche streitig machen zu können. Folgerichtig stirbt er auch, ohne seinen Irrtum bemerkt zu haben. Nur der Leser erfährt von der Blindheit der Herzogin und dem Diebstahl des Medaillons. „,Turlupin‘ ist so gewissermaßen die Inkarnation von Perutz’ Überzeugung, dass die Fakten des menschlichen Lebens mit nahezu beliebig vielen Deutungen vereinbar sind.“246 Turlupins Narrheit ist für den Leser erkennbar, aber nur dank des Eingreifens des Erzählers. Wenn Herr Coquereau am Ende des Romans vermutet: „Vielleicht hat Gott nach Art der großen Herren sich einen guten Tag aus einem einfältigen Menschen gemacht“ (Tu 198), dann verweist er damit darauf, dass jede Art von Sinnzuschreibung mehr oder weniger eine Narrheit ist, die nur ein gottgleicher Erzähler aufdecken kann. Betrachtet man nur die Struktur des Textes, wird Turlupin dadurch vermutlich nicht sympathischer; als Stellvertreterfigur und Typus betrachtet, offenbart seine Geschichte allerdings einen Geschichtsskeptizismus und Erkenntniszweifel, der offenkundig als Kommentar zu Perutz’ eigener Epoche verstanden 244

Vgl. Brigitte Forster, „Absichtliche Unabsichtlichkeit“, 163f. Ebd. 167. 246 Hans-Harald Müller, Leo Perutz 1992, 118. 245

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

worden ist und ihn dadurch gegebenenfalls in den Augen der Zeitgenossen zu einer wenigstens rudimentär schätzenswerten Figur gemacht hat. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in Turlupin im Gegensatz zum Meister der durch den unzuverlässigen Erzähler bedingte desorientierende Effekt lokal begrenzt bleibt, da die Unzuverlässigkeit nicht die Kohärenz der erzählten Handlung selbst in Frage stellt, sondern lediglich deren ontologischen Status innerhalb der Diegese. Entsprechend finden sich auch in den ausgewerteten Rezeptionszeugnissen keine Hinweise auf eine verunsichernde oder angstinduzierende Wirkung des Romans. Vielmehr wird die Handlung als historisch glaubwürdig und als „buntes, abenteuerliches Geschehen“ beschrieben, vom dem ein „musikalische[r] Reiz“ ausgehe und das sehr „spannend“ erzählt sei.247 Das Spannungsempfinden wird insgesamt während der Lektüre geringer sein als beim Meister, da zu der durch das Verfahren des proleptischen Rätsels erzeugten Neugier eine eher geringe Suspensespannung in Bezug auf den Protagonisten tritt. Das Auftreten von Artefaktemotionen mag dagegen dadurch begünstigt werden, dass Turlupin als zeittypischer Charakter verstanden worden ist. Dazu passt auch, dass der Roman als Schelmenroman gelesen werden kann und mit diversen komischen Effekten aufwartet, die von den Zeitgenossen als Metakommentar zur virulenten Identitätsproblematik oder als neusachliche Absage an einen emphatischexpressionistischen Stil gelesen werden konnten. Aus dieser kurzen kontrastiven Analyse sollte deutlich geworden sein, dass es wenig sinnvoll erscheint, erzählerische Unzuverlässigkeit und das emotionale Wirkungspotenzial eines Erzähltextes in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander zu bestimmen. Implizit tut dies z.B. Bläß, wenn er davon ausgeht, dass es im Wesentlichen die Positionierung der Unzuverlässigkeitssignale im Text sei, die Sympathie für die erzählten Figuren und gegebenenfalls auch den Erzähler steuern könne.248 Auch wenn erzählerische Unzuverlässigkeit die Herausbildung stabiler Figurenkonzepte behindern kann, damit die Wahl einer unzuverlässigen Erzählinstanz sich gegebenenfalls auf Sympathiebildungsprozesse und Spannungsempfinden auswirkt und außerdem möglicherweise überraschende oder desorientierende Effekte bedingt, so ist doch kein eindeutiges wechselseitiges Bedingungsverhältnis von unzuverlässiger Erzählinstanz und für diese charakteristischen emotionalen Wirkungen anzunehmen. Zum Beispiel muss ein unzuverlässiger Erzähler oder eine unzuverlässige Erzählweise erst einmal als solche erkannt werden. Wird eine zuverlässige Erzählinstanz vorausgesetzt, so wird dieser Erkenntnisprozess vermutlich einen überraschenden Effekt bewirken. Dieser muss jedoch nicht notwendig global desorientierend wirken, wie etwa Booth dies annimmt.249 Vielmehr 247

Alfred Polgar, „Turlupin“, 103f, 106. Ebenso Trebitsch-Stein, Schott, Reiser, K. ReckMalleczewen charakterisiert die Erzähltechnik in Turlupin ganz allgemein als „straff und knapp und interessant“ und den Roman insgesamt als „ungewöhnlich gut erzählte[s] ungewöhnliche[s] Geschehen.“ Fritz Reck-Malleczewen, „Leo Perutz, Turlupin“, in Der Bücherwurm 9 (1924), 150. 248 Vgl. Ronny Bläß, „Satire, Sympathie und Skeptizismus“, 194–196. 249 Vgl. Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, 378.

3.3 „Ein Buch für schlaflose Nächte“: Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages

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kann er auch schnell, wie etwa in Turlupin, zu einem Rahmenwechsel und damit zur Schemaakkomodation führen. Auch eine Emotion wie Überraschung lässt sich damit nicht als Differenzkriterium für unzuverlässiges und zuverlässiges Erzählen benennen, auch weil überraschende Effekte, wie in Abschnitt 2.4.2.2 gezeigt worden ist, im Text noch auf andere Weise und in anderen Zusammenhängen erzeugt werden können. Unzuverlässige Erzähler und die von ihnen erzeugten Figuren müssen nicht notwendig unsympathisch erscheinen, vermutlich ist dies eher abhängig vom Typus des Erzählers und damit von der Art und der innertextuellen Begründung der erzählerischen Unzuverlässigkeit. Der Begriff des unzuverlässigen Erzählens wird, so zeigt die Analyse, letztlich auf zu viele unterschiedliche Erzählformen angewandt, als dass ihm ein charakteristisches emotionales Wirkungspotenzial zugeordnet werden könnte. Auch die von Martínez und Scheffel vorgeschlagene Binnendifferenzierung von theoretisch unzuverlässigem Erzählen, mimetisch teilweise unzuverlässigem Erzählen und mimetisch unentscheidbarem Erzählen hilft hier nur bedingt weiter. So kann beispielsweise angenommen werden, dass theoretisch unzuverlässiges Erzählen mit moralisch grundierten Emotionen wie etwa Empörung einhergehen kann und mimetisch unentscheidbares Erzählen sich global desorientierend auswirkt. Dies muss aber nicht der Fall sein, wie die Analysen vom Meister und Turlupin gezeigt haben: Im Falle von Turlupin haben wir es mit einem theoretisch unzuverlässigen Erzähler zu tun, dennoch lässt sich Empörung als Rezeptionseffekt so nicht nachweisen, der Meister kann als mimetisch unentscheidbar qualifiziert werden, dennoch lässt sich auch hier ein Schema, nämlich dasjenige des Künstlerromans, finden, das alle textuellen Inkohärenzen erklären kann. Auch für diese Binnendifferenzierung sollte also kein Zusammenhang mit charakteristischen emotionalen Wirkungen hergestellt werden.250 Letztlich kann als vermutlich einziges gemeinsames Merkmal der emotionalen Wirkung von unzuverlässigen Erzählverfahren festgehalten werden, dass das Erkennen des Merkmals der Unzuverlässigkeit einen Überraschungseffekt und einen mindestens kurzen desorientierenden Effekt beim Rezipienten hervorruft – vorausgesetzt die Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz ist nicht von vornherein im Text thematisiert worden. Dieser kann, wie etwa bei Perutz, dazu genutzt werden, den Leser auf die Fragwürdigkeit von Identitätskonzepten, epistemologischer Gewissheit oder der narrativen Strukturierung von Wirklichkeit hinzuweisen. Es scheint jedoch keine „package deals“ zwischen unzuverlässigen Erzählverfahren und für diese charakteristischen emotionalen Wirkungen zu geben. Im Anschluss bliebe zu fragen, ob es andere, möglicherweise für Perutz’ Werk typische Sets von emotionalen Wirkungen gibt, die es erlauben, sozusagen ein „emotionales Profil“ seines Schreibverfahrens zu entwerfen, wie dieses bei Martínez präformiert ist. Dazu sei abschließend kurz auf die Phantastikdebatte im Zusammenhang mit Perutz’ Werk eingegangen, aus der sich wertvolle Hinweise hierzu gewinnen lassen. 250

Vgl. dazu Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 100–104.

236

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

3.3.3 Doppelte Kodierung: Perutz als Erfolgsschriftsteller Seit Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Perutz wird sein Werk immer wieder der phantastischen Literatur zugerechnet.251 Diese Zuordnung ist umstritten und wird heftig diskutiert.252 Da das Phantastikkonzept eng mit dem Auftreten einer bestimmten Emotion, der Verunsicherung, verknüpft ist, erscheint es daher sinnvoll, diese Debatte aus emotionstheoretischer Perspektive neu zu betrachten. Ziel ist es 1. zu zeigen, dass Perutz kein Autor phantastischer Literatur ist. Im Anschluss soll 2. argumentiert werden, dass die Rubrizierung seines Werks als phantastisch damit erklärt werden kann, dass dieses in ähnlicher Weise emotional wirkt wie Texte, die der literarischen Phantastik zugeordnet werden können. Zugrunde lege ich hier wie schon in Abschnitt 3.2 die Definition von literarischer Phantastik, die Marianne Wünsch in Anlehnung an Tzvetan Todorov vorgeschlagen hat.253 Im Folgenden skizziere ich grob die Phantastikdebatte in der Perutzforschung: Michael Mandelartz bezweifelt ganz grundsätzlich, dass ,Phantastik‘ als Gattungsbegriff dazu geeignet ist, die spezifische Funktionsweise von als phantastisch bezeichneten literarischen Texten adäquat zu beschreiben: Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Begriff der Phantastik – als Gattungsbegriff verwendet – zu einer verkürzten Auffassung der Funktionen von Literatur 251

Vgl. etwa Stephan Berg, Schlimme Zeiten, böse Räume. Zeit- und Raumstrukturen in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts; Thomas Broß, Literarische Phantastik und Postmoderne. Zu Funktion, Bedeutung und Entwicklung von phantastischer Literatur im 20. Jahrhundert; Martina Buchner, Die Form der Identität in den phantastischen Romanen Leo Perutz’; Veronica Jaffé Carbonell, Leo Perutz; Peter Cersowsky, Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhundert Untersuchungen zum Strukturwandel des Genres, seinen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und zur Tradition der „schwarzen Romantik“ insbesondere bei Gustav Meyrink, Alfred Kubin und Franz Kafka; Reinhard Lüth, „Im Dämmerlicht der Zeiten. Ein Porträt des phantastischen Erzählers Leo Perutz“; ders., Drommetenrot und Azurblau; Florian F. Marzin, Die phantastische Literatur. Eine Gattungsstudie; Dietrich Neuhaus, „Im Hinterhof der Geschichte. Beobachtungen zum Werk Leo Perutz’“; ders., Erinnerung und Schrecken; Jean-Jacques Pollet, Essai sur la littérature fantastique allemande du début du XXe siècle (1900–1930); Marina Rauchenbacher, Wege der Narration. Subjekt und Welt in Texten von Leo Perutz und Alexander Lernet-Holenia; Clemens Ruthner, Am Rande. Kanon, Kulturökonomie und die Intertextualität des Marginalen am Beispiel der (österreichischen) Phantastik im 20. Jahrhundert; Marianne Wünsch, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930). Vgl. auch diverse Aufsätze zu Perutz in der mit phantastischer Literatur befassten Zeitschrift Quarber Merkur. 252 Hans-Harald Müller, „Nachwort“ in Herr, erbarme dich meiner, 211; ders., Leo Perutz 1992, 99– 102; ders., „Literarische Phantastik oder Interpretationsprobleme? Zur Erzählkonzeption von Leo Perutz – dargestellt an der Novelle ,Nur ein Druck auf den Knopf‘“; Michael Mandelartz, Poetik und Historik, 24; Peter Lauener, Die Krise des Helden, 57, 199; eingeschränkt auch Hans Krah, „Fantastisches Erzählen – Fantastisches Erzählen. Die Romane Leo Perutz’ und ihr Verhältnis zur fantastischen Literatur der Frühen Moderne“; Michael Niehaus, „Der Doppelgänger als Figur der Enthüllung“. 253 Vgl. Marianne Wünsch, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne, 65–68.

3.3 „Ein Buch für schlaflose Nächte“: Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages

237

führt. Mit dem Ambivalenzkriterium wird der Literatur überhaupt eine Eindeutigkeit unterstellt, die ihr nicht zukommt; diese theoretische Vorgabe hat ihrerseits zur Folge, dass die Suche nach eindeutigen Hinweisen auf Zweideutigkeiten in ,phantastischen‘ Werken zum Selbstzweck gerät.254

Lediglich als Texteigenschaft im Sinne Hans Holländers lässt Mandelartz das Phantastische gelten.255 Da die meisten Autoren, die Perutz der Phantastik zurechnen, mit dem Ambiguitätskriterium Todorovs256 argumentieren, wendet sich Mandelartz gerade gegen dieses. Er übersieht dabei jedoch, dass Todorov nicht generell eine poetische oder allegorische Lesart von Literatur negiert, sondern lediglich deren phantastische Wirkung an zwei sich gegenseitig ausschließende „realistische“ Lesarten des Geschehens koppelt.257 Auch Mandelartz’ Kritik, es sei „einmalig in einer Typologie literarischer Formen“, dass der Leser über die Zugehörigkeit zu einer Gattung entscheide,258 kann nicht als Einwand gegen Todorovs Definition des Phantastischen geltend gemacht werden. 259 Dass die Betrachtung von Einzeltexten über der Frage der Gattungszugehörigkeit zu kurz kommt, ist ein Einwand, der sich so ebenfalls für jede andere Gattungsdiskussion ergibt. Im Falle von Perutz trifft Mandelartz’ Kritik allerdings insofern zu, als die Rubrizierung als phantastischer Autor oft dazu geführt hat, dass interpretatorische Probleme, die sich in Perutz’ Romanen stellen, als phantastisch bezeichnet und anschließend nicht näher beleuchtet wurden. 260 Peter Cersowsky beispielsweise schreibt über den Meister des jüngsten Tages, der Roman sei „die Darstellung einer mythisch-spiritualistisch überhöhten Kriminalhandlung, wobei der Mörder nicht dem Reich der Materie angehört. Der Text evoziert durch rationalisierende ,Schlußbemerkungen‘ des fiktiven Herausgebers [...] die Ungewißheit des Lesers.“261 Nicht die Frage, ob der Mörder nun dem „Reich der Materie“ angehört oder nicht, führt aber ins Zentrum der interpretatorischen Probleme, die der Roman stellt. Von Interesse ist vielmehr, ob Yosch die Wahrheit gesagt hat. Die im Text deutlich erkennbaren Unzuverlässigkeitssignale und die Genremerkmale des Krimis lassen bereits früh eine phantastische Lesart des Textes unplausibel erscheinen. Wie oben gezeigt worden ist, wird diese nur zu Beginn nahegelegt, im Laufe der Erzählung aber schnell wieder destruiert. Stephan Berg beispielswei254

Michael Mandelartz, Poetik und Historik, 24 (Kursivdruck im Original). Ebd. 17f. 256 Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, 33. 257 Vgl. ebd. 55–68. 258 Michael Mandelartz, Poetik und Historik, 18. 259 Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, 31. Auch wenn die Begriffe „impliziter Autor“ beziehungsweise „impliziter Leser“, wie bereits in Abschnitt 2.2.1 kurz ausgeführt worden ist, problematisch sind, so ist es für den hier verfolgten Zusammenhang doch ausreichend festzuhalten, dass Todorov seine Gattungsdefinition nicht an konkrete Rezeptionsvorgänge koppelt, sondern an das Wirkungspotenzial der Textstruktur. 260 Dies merkt auch Krieger kritisch an: Arndt Krieger, Mundus symbolicus, 11. 261 Peter Cersowsky, Phantastische Literatur, 135. 255

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

se rechnet den Meister deswegen nicht zur Phantastik, weil er dem Herausgeberbericht glaubt.262 Insgesamt kann der Meister somit mindestens als Grenzfall im Spektrum phantastischer Erzähltexte betrachtet werden. Legt man allerdings Wünschs Begriffsdefinition zugrunde, nach der die phantastische Lesart im Text dominant sein müsse, ist fraglich, ob man dem Roman überhaupt als phantastisch erzählt rubrizieren kann. Meines Erachtens ist eine solche Einordnung deswegen unglücklich, weil sie gerade die Pointe von Perutz’ Erzählkonstruktion, die der Problematisierung von Identität dient, verfehlt. Zugespitzt formuliert: Es wäre zu fragen, ob literarische Phantastik und unzuverlässiges Erzählen sich nicht gegenseitig ausschließen. Grundsätzlicher müsste überlegt werden, inwiefern der Begriff des Phantastischen sowie derjenige des unzuverlässigen Erzählens derzeit noch zu unscharf gefasst werden, um hier Unterschiede und Überschneidungen beider dahinter stehender Konzepte erfassen zu können. Weiterhin bleibt festzuhalten, dass der Begriff der Phantastik mittlerweile nicht mehr als Gattungsbegriff verwendet wird. Wünsch bestimmt ihn vielmehr als „narrative Struktur“.263 „Die Klassenbildung ,fantastische Literatur‘ ist dann keine elementare, sondern eine abgeleitete Größe: sie bezeichnet die Texte, in denen das Fantastische dominant ist.“264 Somit wäre auch nicht jeder Text, der ein potentiell phantastisches Ereignis im Sinne von Wünsch265 enthält, ein phantastischer Text. Erst die Dominanz phantastischer Ereignisse macht ihn dazu. Mandelartz’ Kritik muss also dahingehend relativiert werden, dass die Annahme einer Gattung des Phantastischen wie bei Todorov problematisch ist, der Phantastikbegriff als Beschreibungsgröße für literarische Texte jedoch durchaus heuristischen Wert besitzt. Folgt man Wünschs Definition des Phantastischen, so ist dennoch fraglich, ob Perutz’ Werk(e) dort ihren Platz haben. Zum einen wird damit nicht das gesamte Werk erfasst.266 Reinhard Lüth zum Beispiel untersucht Die dritte Kugel, den Meister des jüngsten Tages, den Marques de Bolibar, St. Petri-Schnee und Zwischen neun und neun,267 Wünsch bezieht auch den Schwedischen Reiter und Nachts unter der steinernen Brücke mit ein.268 Turlupin, Wohin rollst du, Äpfelchen? oder Der Judas des Leonardo werden nach meiner Kenntnis nicht unter der Prämisse der Phantastik untersucht. Neuhaus’ Feststellung, dass Perutz „historische Romane als phantastische Romane geschrieben hat“,269 lässt sich bei einem Blick auf die Sekundärliteratur in dieser generalisierenden Form also nicht aufrecht erhalten. Zum anderen verfehlt eine

262

Stephan Berg, Schlimme Zeiten, böse Räume, 166, 169. Marianne Wünsch, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne, 65 (Kursivdruck im Original). 264 Ebd. 13. (Kursivdruck im Original). 265 Ebd. 65–67. 266 Ebd. 73. 267 Reinhard Lüth, Drommetenrot und Azurblau. 268 Marianne Wünsch, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne. 269 Dietrich Neuhaus, Erinnerung und Schrecken, 8. 263

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solche Einordnung die eigentliche Pointe der Erzählkonzeption der vermeintlich phantastischen Perutz-Romane. Dies soll im Folgenden kurz ausgeführt werden. Neuhaus verweist auf den Realismus phantastischer Texte, vor dessen Hintergrund sich die Unschlüssigkeit über die Einordnung eines Ereignisses als wunderbar oder unheimlich erst entfalten kann: Die phantastische Literatur will genau diese Vorstellung der Welt als eines geschlossenen Zusammenhanges attackieren; ihr notwendiger Realismus ist dadurch bedingt, dass sie diesen Zusammenhang immer wieder erst schaffen muß, um ihn in Frage stellen zu können [...].270

Im Falle der historischen Romane muss dabei ein anderes Realitätskonzept angesetzt werden als für die zeitgenössischen, denn „wo eine Epoche an Geister, Hexen, Werwölfe, Vampire usw. glaubt, kann ein Text, in dem ein solches Phänomen auftritt, [...] durchaus als ,mimetisch‘ gelten [...].“271 Wünsch bezieht sich hier nicht auf das im Text vorherrschende Realitätskonzept, sondern auf das kulturelle Wissen der Epoche, in der der Text entstanden ist. Dazu gehört aber auch das „Wissen über das (für wahr oder falsch gehaltene) Wissen anderer Gruppen, Epochen, Kulturen“.272 Hier müsste klarer abgegrenzt werden, welche Art des Rezipientenwissens bei der Zuschreibung der Eigenschaft ,phantastisch‘ eine Rolle spielen soll. „Auf der Mischebene der historischen Perutz-Romane“ jedenfalls „treffen wir manchmal auf ein nicht-empirisches Weltbild, in dessen Rahmen eigentlich irritierende Ereignisse ohne weiteres natürlich integrierbar sind“:273 Die Figur des toten Müllers oder das Gottesgericht im Schwedischen Reiter sind mit dem im Roman vorherrschenden Realitätskonzept des Diebes kompatibel – es ist dabei irrelevant, ob der Müller tatsächlich tot ist und seine Seele dem Bischof verkauft hat oder ob er, wie er vorgibt, dessen Fuhrmann ist und deswegen die Mühle selten betreibt. Ebenso bricht über der Frage, ob der Dieb das Gottesgericht geträumt oder ob es tatsächlich stattgefunden hat, nicht das im Roman vorherrschende Realitätskonzept zusammen. Die ausgesprochene Strafe erscheint dem Dieb nur unverhältnismäßig. „Wenn’s nicht geträumt wär’,“ sagte er, als er den Hügel hinunterritt, zu sich, „dann hätt’ ich keine Angst mehr vor Gottes feuerbrennendem Zorn. Was wollt’ er denn anderes, als daß mein gewesenes Dasein verborgen bleibt, das will ich auch. Ich werd’ ein Narr sein und den Leuten sagen, wer ich gewesen bin und was ich getrieben hab’! Das große Gericht, das ist ein ander Ding, da wird mit so viel Trompeten durcheinandergeblasen, daß es einem in den Ohren gellt, ich hab’ aber nicht einmal eine Sackpfeife wimmern gehört, es war alles nur Schattenwerk des Traums.“274

Auch wenn er weder Lutheraner noch Papist ist, so ist sein Weltbild doch von Volksglaubenselementen geprägt und schließt die Existenz eines Cherubs mit Schwert oder 270

Dietrich Neuhaus, Erinnerung und Schrecken, 154. Marianne Wünsch, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne, 17. 272 Ebd. 18 (Kursivdruck im Original). 273 Peter Lauener, Die Krise des Helden, 57. 274 Leo Perutz, Der schwedische Reiter. Hg. und mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller, 148. 271

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

eines untoten Müllers nicht aus. Und nur dieses Weltbild wird auf der intradiegetischen Erzählebene vermittelt.275 Auch für die anderen historischen Romane gilt, dass der Diegese ein Weltbild zugrunde liegt, das mit unserem modernen nur begrenzt übereinstimmt. Die Teufelsgestalten, Zaubertränke und Flüche in der Dritten Kugel, der „ewige Jude“ Salignac276 im Marques de Bolibar, die magischen Fähigkeiten des Hohen Rabbi Loew in Nachts unter der steinernen Brücke gehören einem anderen Realitätskonzept an, das im Text auch nicht problematisiert oder einer alternativen Deutung unterzogen wird, und produzieren damit keine phantastische Unschlüssigkeit.277 Allenfalls könnte man die genannten Motive als wunderbare Ereignisse bezeichnen, weil sie mit unserem heutigen Realitätskonzept nicht übereinstimmen. Von den zeitgenössischen Romanen sind Der Meister des jüngsten Tages, St. PetriSchnee und Zwischen neun und neun als phantastische gelesen worden. Im Fall von Zwischen neun und neun und St. Petri-Schnee gelingt dies nur mittels einer Hilfskonstruktion, denn auch hier gibt es kein einziges Ereignis, das nach den Maßstäben der Zeitgenossen von Perutz oder unseren heutigen oder gar denen der Romane als nicht kompatibel mit „der“ Realität bezeichnet werden könnte. Reinhard Lüth betrachtet sie dennoch als phantastische Romane, weil er Todorovs Ambiguitätskriterium ausweitet „auch auf eine zwischen den fakultativen Klärungskomponenten Traum und Wirklichkeit offen bleibende Darstellungsweise.“278 Es ist zu fragen, ob auf diese Art und Weise die bei Wünsch klar umrissene Definition von Phantastik nicht ausgehöhlt

275

„Zum einen ist zu berücksichtigen, daß es nie ein auktorialer Erzähler ist, der von übernatürlichen Ereignissen berichtet, sondern es sind zumeist die Protagonisten selbst, die hiervon erzählen. Sie sind diejenigen, die sich erinnern müssen, wobei ihre Erinnerungen lückenhaft und subjektiv sind.“ Arndt Krieger, Mundus symbolicus, 41. Krieger stützt damit Müllers ablehnende Haltung zur Phantastikdebatte. Insgesamt ist seine Argumentation aber nicht in sich konsistent, da er an anderen Stellen doch wieder phantastische Elemente in den Texten erkennen will. Vgl. ebd. 29, 33, 35 etc. 276 Mona Körte weist nach, dass die Figur des „Ewigen Juden“ den Offizieren lediglich dazu dient, sich von eigener Verantwortung zu entlasten und das Kriegsgeschehen zu mythologisieren. Vgl. Mona Körte, „Die Metamorphose des erzählenden Ich. Leo Perutz’ Der Marques de Bolibar“. 277 Im Marques de Bolibar zweifeln die deutschen Offiziere zwar am „Aberglauben“ der spanischen Bevölkerung. Allerdings ist nicht klar, ob Jochbergs Erzählung insgesamt im Rahmen der Diegese überhaupt wahr ist. Möglich ist auch, dass er gelogen und sich den Aberglauben der Spanier zunutze gemacht hat, um sich dadurch von persönlicher Schuld entlasten zu können. Vgl. dazu Michael Niehaus, „Der Doppelgänger als Figur der Enthüllung“, 74; Bettina Hey’l, Geschichtsdenken und literarische Moderne, 263. In Nachts unter der steinernen Brücke identifiziert sich der stud. med. Jakob Meisl sogar mit dem Realitätskonzept seiner Erzählung, wenn er sagt: „Und da kannst du wieder sehen, wie die Geschichtsprofessoren am Gymnasium und die Herren, die die Geschichtsbücher für die Schulen verfassen, wie die alle zusammen nichts wissen und nichts verstehen. Sie werden dir erzählen und haargenau beweisen, daß die böhmischen Aufständischen die Schlacht am Weißen Berge verloren haben, weil auf der anderen Seite der Tilly kommandierte [...]. Das ist alles Unsinn.“ Leo Perutz, Nachts unter der steinernen Brücke, 33. 278 Reinhard Lüth, Drommetenrot und Azurblau, 24.

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241

wird.279 Viele literarische Texte thematisieren das Changieren der Erfahrungen ihrer Protagonisten zwischen Traum- und Wachzustand.280 Wenn allerdings nicht einmal der Traum phantastische Ereignisse enthält, kann sich auch keine potentielle phantastische Unschlüssigkeit einstellen. In Bezug auf St. Petri-Schnee kommt Lüth nach einer eingehenden Betrachtung sogar zu einer vollkommen kohärenten Lesart des Romans als „Ich-Einverleibung der Welt im Fiebertraum“.281 In Zwischen neun und neun legt der Schluss eine „allegorische“ Lesart nahe, die die Aporie von Erzähltechnik und Erzähltem auflöst.282 Der Meister des jüngsten Tages enthält zwar ein potentiell phantastisches Ereignis. Dieses erweist sich jedoch schnell als Drogenexperiment und wird nur von Yosch berichtet. Dessen Glaubwürdigkeit wiederum wird durch die „Schlußbemerkung“ in Zweifel gezogen. In vielen Fällen – Die dritte Kugel, Der Meister des jüngsten Tages, St. Petri-Schnee, Der Marques de Bolibar, Turlupin – haben wir es in Perutz’ Romanen mit unzuverlässigen Erzählern zu tun. In diesen Texten kann u.U. gar kein festes Realitätskonzept etabliert werden, das durch ein phantastisches Ereignis dann aus den Angeln gehoben wird. Im Meister des jüngsten Tages schildert uns Yosch zwar ein Ereignis, dass potentiell phantastisch ist. Die zentrale Frage, die die „Schlußbemerkung“ aufwirft, ist jedoch nicht, ob dieses Ereignis wunderbar oder unheimlich war, sondern ob Yosch die Wahrheit sagt oder ob doch er es war, der Eugen Bischoff in den Tod getrieben hat. Lauener beispielsweise geht daher davon aus, dass sich literarische Phantastik und unzuverlässiges Erzählen gegenseitig ausschließen: Ein herkömmlicher phantastischer Roman ist zwar auf zwei Erzählebenen aufgebaut. Doch damit sich beim Lesenden die beabsichtigte Unschlüssigkeit einstellt, muss ihm die Realität im Roman möglichst kompatibel mit seiner eigenen erscheinen. Nur dann kann die gattungstypische Störung dieser Alltagsrealität [...] wirkungsvoll eintreten; „unreliability“ ist hierbei wenig geeignet, die Erwartungshaltung auf einen objektiven Bericht zu erzeugen.283

279

Nach Wünsch bringt der Traum das Phantastische zum Verschwinden, weil er ein Ereignis „nicht als real gesetzt“ kennzeichnet. Marianne Wünsch, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne, 41 (Kursivdruck im Original). 280 Dieses Erzählschema ist spätestens seit der deutschen Romantik immer wieder verwendet worden. Vgl. exemplarisch etwa Den blonden Eckbert von Ludwig Tieck. Phantastisch wird die Märchennovelle allerdings nicht durch den Umstand, dass der Protagonist sich zwischen Traum und Realität nicht mehr zurechtfindet, sondern dadurch, dass die Figur der alten Frau plötzlich aus der Traumebene in die (vermeintliche) Realität übertritt, ihre übernatürlichen Fähigkeiten jedoch bewahrt. Vgl. dazu Ulrike-Christine Sander, „Tiecks Der blonde Eckbert – Alptraum der Indifferenz“. 281 Reinhard Lüth, Drommetenrot und Azurblau, 323. 282 Demba selbst ahnt seinen wahren Zustand bereits voraus: „,Ja. Vielleicht träume ich‘, sagte Demba leise. ,Sicher ist alles nur ein Traum. Ich liege zerschlagen und zerfetzt irgendwo in einem Spitalbett, und du und deine Stimme und das Zimmer da, ihr seid nur ein Fiebertraum der letzten Minuten.‘“ Leo Perutz, Zwischen neun und neun. Mit einem Nachwort hg. von Hans-Harald Müller, 83. 283 Peter Lauener, Die Krise des Helden, 199.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Müller zeigt für die einzige Erzählung von Perutz, in der okkultistische Praktiken thematisiert werden, für Nur ein Druck auf den Knopf, eine völlig kohärente, nicht phantastische Lesart auf.284 Er hält fest: Auf der Oberfläche besitzen zahlreiche Erzähltexte von Perutz planmäßig konstruierte Plausbilitätsdefizite, Passagen, in denen der Sprecher oder Erzähler ein Bild des Geschehens oder ein Selbstbild entwirft, das zu anderen Teilen des Textes nicht passt. Die Bilder erfüllen in der Realität versagte Wünsche oder verleugnen in der Wirklichkeit geschehene Taten. Die erwähnten Plausibilitätsdefizite aber verweisen in der Regel auf Kompromißbildungen aus dem, was geschehen ist, und dem, was geschehen sollte bzw. nicht geschehen durfte, sie besitzen in Perutz’ Erzählungen die Funktion eines Fensters, das einen Blick in die Tiefenstruktur und Konstruktionsprinzipien des Textes ermöglicht und den Leser so zur Rekonstruktion und Deutung des Erzählten einlädt.285

Dazu spielt Perutz lediglich mit potentiell phantastischen narrativen Strukturen, um davon ausgehend Weltdeutungsmuster und Identitätsvorstellungen zu problematisieren.286 In den historischen Romanen lässt sich nur rezeptionsbezogen von einer phantastischen Struktur sprechen – nämlich dann, wenn der Rezipient sein modernes Weltbild an den Text heranträgt. Hier und auch in den zeitgenössischen Romanen sind diese phantastischen Strukturen aber nie dominant. Perutz lässt sich damit, wie gezeigt werden konnte, nicht unter die phantastischen Autoren subsumieren, eine solche Einordnung verfehlt vielmehr die eigentliche Pointe seiner Erzählkonstruktionen. Sinnvoller erscheint es mir, Perutz’ Romane dem Erzähltyp der doppelten Welt zuzuordnen, wie Martínez dies tut. Dieser Erzähltyp, der vom Nebeneinander einer kausalen und finalen Motivation des Geschehens geprägt ist, weist Ähnlichkeiten mit der Phantastik auf, ohne in ihr aufzugehen: Der Erzähltyp der doppelten Welt fällt allerdings nicht mit dem Bereich der phantastischen Literatur zusammen, sondern ist einerseits enger, andererseits weiter. Er ist enger, weil er mit der paradoxen Koexistenz von kausaler und finaler Motivation nur einen speziellen Fall übernatürlichen Geschehens darstellt; in ihm scheinen nämlich nicht nur nicht-empirische 284

Müller plädiert dafür, Aladars Bericht so zu lesen, dass Dr. Keleti zwar eines natürlichen Todes gestorben ist, der an einem Inferioritätskomplex leidende Aladar seine Ermordung in der Erzählung aber lustvoll imaginiert, um sich an Keleti zu rächen, mit dem seine Frau ihn betrogen hat. Gleichzeitig distanziert sich Aladar von seiner zum Ausdruck kommenden Aggressivität und der mit dem Mord imaginierten Schuld durch das Bild vom Knopfdruck und der Schilderung der okkultistischen Sitzung. So werden alle Widersprüche, in die der Erzähler sich verstrickt, plausibel. Hans-Harald Müller, „Literarische Phantastik oder Interpretationsprobleme.“ Vgl. auch Hans Krah, „Nur ein Druck auf den Knopf. Zur Genese einer Denkfigur im ästhetischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts”. 285 Hans-Harald Müller, „Literarische Phantastik oder Interpretationsprobleme“, 189f. 286 Krah bezeichnet seine Romane dementsprechend als „Metatexte“. Hans Krah, „Fantastisches erzählen – fantastisches Erzählen“, 240. Seine Argumentation, dass der von den Texten aufgeworfene Erklärungsbedarf sie auch ohne phantastische Ereignisse zu phantastischen Texten mache, erscheint allerdings nicht überzeugend. Schließlich werfen zum Beispiel auch Kriminalromane einen Erklärungsbedarf auf, ohne damit gleich phantastisch zu sein.

3.3 „Ein Buch für schlaflose Nächte“: Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages

243

Kausalitäten wirksam zu sein, sondern es wird zudem eine zukunftsgewisse Vorbestimmtheit des Geschehens suggeriert. Andererseits ist der Erzähltyp der doppelten Welt weiter als der Bereich der phantastischen Literatur, weil die finale Motivation der doppelten Welt nicht notwendig als übernatürlich markiert werden muß.287

Die für Perutz’ Romane charakteristische Schicksalsmetaphorik und die darauf beruhende mögliche finale Motivation des Geschehens ist demnach entweder Produkt eines anderen Weltbildes mit anderen Grenzziehungen zwischen „natürlichen“ und „übernatürlichen“ Phänomenen oder sie dient der Entlastung der Protagonisten von eigener Verantwortung für ihre Handlungen und ist damit nicht phantastisch. Legt man also Todorovs oder Wünschs Phantastikbegriff zugrunde, so können, wie gezeigt worden ist, Perutz’ Romane nicht der literarischen Phantastik zugerechnet werden. Damit stellt sich abschließend die Frage, warum Perutz dennoch immer wieder als Autor phantastischer Literatur bezeichnet worden ist. Im Hinblick auf die Frage der emotionalen Wirkung seiner Texte ließe sich annehmen, dass Perutz’ Romane durchaus eine Art Unschlüssigkeit beziehungsweise Verunsicherung beim Rezipienten hervorrufen – gerade weil sie scheinbar feststehende Tatsachen und unverrückbare Vorstellungen verrätseln und in Frage stellen. Es lässt sich dann vermuten, dass seine Romane eine ähnliche emotionale Wirkung entfalten, wie es für die phantastische Literatur charakteristisch ist. Dies hat mit dem Doppelcharakter des Phantastikbegriffs zu tun, der eine text- wie eine rezeptionsbezogene Komponente impliziert. Todorov postuliert nämlich für die phantastische Literatur eine bestimmte, für diese charakteristische Wirkung der Unschlüssigkeit,288 die im Sinne des hier vorgeschlagenen Modells wohl am ehesten einem desorientierenden Effekt entspricht: Dem Rezipienten werden zwei Deutungsschemata der Ereignisse nahelegt, die sich gegenseitig ausschließen und keine Schemaassimilation ermöglichen. Gleichzeitig ist die phantastische Wirkung vermutlich mit hoher Rätselspannung bei der Lektüre verknüpft, da der Rezipient eine Entscheidung des phantastischen Rätsels erwartet. Hinzu kommen vermutlich meist empathische oder sympathiebedingte emotionale Reaktionen der Angst, des Schreckens etc. Es dürfte deutlich geworden sein, dass diese emotionalen Reaktionen auf Texte der von Todorov postulierten Gattung der phantastischen Literatur große Ähnlichkeit mit denjenigen emotionalen Wirkungen aufweisen, die etwa für den Meister des jüngsten Tages herausgearbeitet worden sind. Weniger hohe Übereinstimmungen ergeben sich dagegen mit Turlupin. Dieser Umstand kann möglicherweise erklären helfen, wieso der Meister im Gegensatz zu Turlupin überhaupt unter der Prämisse der literarischen Phantastik untersucht worden ist. Mit anderen Worten: Der emotionale Rezeptionseffekt ist im Falle des Meisters vermutlich sehr ähnlich zu

287

Matías Martínez, Doppelte Welten, 36. Bei Perutz resultiert nach Martínez aus der Wahl dieses Erzähltyps die ästhetische Erfahrung der ,Angstlust‘ in Analogie zu den ,urban legends‘. Vgl. ebd. 200. 288 Vgl. Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, 33.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

demjenigen der phantastischen Literatur und hat dementsprechend möglicherweise zu den oben genannten Einordnungen beigetragen. Die oben knapp ausgeführten Beispielanalysen zu Perutz’ Roman haben deutlich gemacht, wie komplex die Erzählstrategien, derer sich Perutz bedient, und wie unterschiedlich dementsprechend die von ihnen induzierten emotionalen Wirkungen ausfallen. Von einer „konventionellen Erzählweise“ der Romane kann deswegen nur eingeschränkt die Rede sein, insofern Perutz im Gegensatz zu anderen modernen Erzählern keine auf allen Ebenen des Textverständnisses desorientierenden Effekte einsetzt wie beispielsweise Kafka und empathische Lektüreprozesse nicht auf globaler Ebene verhindert. Werden diese Texteigenschaften als Merkmale einer „konventionellen Erzählweise“ betrachtet, so lässt sich aber wiederum zeigen, dass diese gerade nicht allein dem „Bedürfnis nach spannender Unterhaltung“ dient: Damit er seine Romane als Experimentierfeld für die Thematisierung von Ich-Störungen nutzen kann, baut Perutz mittels konventioneller Darstellung ein starkes Gerüst auf. Die Konventionalität ist die Voraussetzung dafür, dass er schwache Figuren psychische Störungen durchleben lassen kann.289

Die Entschlüsselung der Ursachen dieser psychischen Störungen, der dahinter liegenden Weltdeutungsmuster, der Kausalzusammenhänge sowie die Hierarchisierung und Einstufung der Reliabilität von Informationen erfordert die Mitarbeit des Lesers,290 so dass von einer „das Dargestellte einfach nachvollziehenden Lektüre“ nur dann ausgegangen werden kann, wenn eine festschreibende Lektüre erfolgt, die der Polyvalenz der Textstruktur in entscheidenden Punkten zuwiderläuft. Eine Tendenz zur Typisierung der Figuren und damit auch ihrer Emotionalität lässt sich in Perutz’ Romanen zwar feststellen (Turlupin, Zwischen neun und neun), sie dient jedoch dazu, eine nicht affirmative und damit auch nicht triviale Verunsicherung hervorzurufen, indem die Beliebigkeit von Weltentwürfen, Selbst- und Fremdbildern und historischen Deutungsmustern vorgeführt wird. Damit kann die Desorientierung über den Text hinaus wirken und wird am Ende nur affirmierend zurückgenommen, wenn der Rezipient eine bestimmte Lesart festlegt:291 In der Architektonik besitzen alle diese Romane eine geschlossene Form, aber diese ist nur die ästhetische Klammer, die Brüche und Widersprüche des Inhalts zusammenhält. Die Geschichten, die in der reizvollen Anordnung geschlossener Formen enthalten sind, bleiben fragmentarisch, können nicht zuende erzählt werden, liegen im Streit mit anderen Geschichten, scheinen Widersprüche und Ungereimtheiten zu besitzen, werden von unzuverlässigen Erzählern erzählt und in ihrem Wahrheitsanspruch von Herausgebern oder anderen Erzählerfiguren bestritten. Perutz’ Romane zerbrechen die überkommenen Formen nicht, aber sie exponieren deren un289

Peter Lauener, Die Krise des Helden, 201. Vgl. Arndt Krieger, Mundus symbolicus, 16. 291 In Bezug auf die gemeinsam mit Paul Frank verfassten Romane Das Mangobaumwunder und Der Kosak und die Nachtigall ergäbe sich dagegen wohl ein anderes Bild.

290

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

245

zeitgemäßen Illusionscharakter auf eine demonstrative Weise; nicht zuletzt aus diesem Grund gehören die – bei allem modernen erzähltechnischen Raffinement – formkonservativen Romane von Perutz der Moderne an.292

Perutz hat bewusst Romane geschrieben, die seinem Anspruch nach auch unterhalten und ein Massenpublikum ansprechen sollten.293 Dieser Unterhaltungswert sollte jedoch nicht dazu genutzt werden, sein Werk unter ästhetischen Gesichtspunkten abzuqualifizieren, wie dies der Begriff der „Unterhaltungsliteratur“ nahelegt.294 Sinnvoller erscheint es mir, wie Broß vorschlägt, von einer doppelten Kodierung seiner Texte auszugehen, die sowohl eine synthetisch-oberflächliche wie auch eine analytisch-kritische Lektüre der Romane ermöglicht.295 Friedrich Torbergs Charakterisierung von Perutz’ Werk als einer seltsamen Mischung aus Agatha Christie und Kafka296 wäre dann insofern zutreffend, als in seinen Romanen nicht triviale Aussagen zu Identitätsproblematik, Kontingenzerfahrung und Krieg sowie generellen Fragen der ,conditio humana‘ nach dem Verhältnis von Liebe und Stolz, Gerechtigkeit und Macht, Gut und Böse, Glauben, Aberglauben und Unglauben getroffen werden, dies jedoch auf durchaus auch spannende und unterhaltsame Weise.

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper Im Vergleich mit Kafkas Schloß oder Perutz’ Meister des jüngsten Tages ist Werfels erster Roman Verdi. Roman der Oper wiederum durch eine signifikant andere Form der Emotionsgestaltung gekennzeichnet: Emotionen werden im Roman häufig sowohl thematisiert als auch präsentiert, gleichzeitig ist die Erzählkonstruktion so gestaltet, dass empathische und sympathiebedingte Zugänge zu den Figuren in unproblematischer Weise ermöglicht werden. Der Roman zeichnet sich durch eine globale Suspenseebene aus, die in den einzelnen Episoden immer wieder aktualisiert wird. Desorientierende Schreibverfahren oder Überraschungseffekte sind dagegen lokal begrenzt und wirken sich auf der globalen Ebene der Handlung nicht rezeptionssteuernd aus. 292

Hans-Harald Müller, Leo Perutz 1992, 126f. Vgl. ebd. 104, 109 sowie Arndt Krieger, Mundus symbolicus, 35, 283 und Michael Mandelartz, „Kunst als Instrument der Erkenntnis“, 203f. 293 So schreibt er beispielsweise in der Wiener Zeitung Der Neue Tag vom 30. März 1919 als Antwort auf einen Aufruf von Wiener Schriftstellern, die die Verwertungsrechte verstorbener Kollegen für sich fordern: „Sie mögen, wenn sie sich in die Reihe der Arbeiter stellen, vor allem ihr Werk sozialisieren. Kunst für alle schaffen und nicht, ichbefangen, Kunst für sich und ihresgleichen. Dann werden sie auf die Tantiemen der großen Toten verzichten können.“ Zitiert nach Leo Perutz 1882– 1957, 105. 294 Vgl. Peter Nusser, Trivialliteratur, 3. 295 Thomas Broß, Literarische Phantastik und Postmoderne, 35f. 296 Friedrich Torberg, Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten, 191.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Diese Textmerkmale mögen dazu beigetragen haben, dass einige Rezensenten und Literaturwissenschaftler den Roman der Unterhaltungsliteratur zugeordnet haben. Dem stehen allerdings die langen, teilweise polemischen kunstreflexiven Passagen gegenüber, in denen der Erzähler sich zu Verdis Stellung innerhalb der Musikgeschichte und spezieller derjenigen der Gattung Oper äußert, sowie die nicht zufällige Entscheidung für Verdi als Protagonisten und Richard Wagner als dessen Gegenspieler. Figurenkonstellation und kulturgeschichtlicher Hintergrund des Romans setzen damit für ein adäquates Textverständnis ein gewisses Maß an musikhistorischem Kontextwissen voraus, das traditionell der Hochkultur zugerechnet wird – man vergleiche etwa in diesem Zusammenhang den Verdi mit Thomas Manns fruchtbarer Wagner-, Mahler- und Schönbergrezeption. Der Verdi-Roman kann dabei als Nachfolgetext zum Tod in Venedig wie auch als Vorläufertext zum Doktor Faustus betrachtet werden. 297 Insgesamt wird in literarhistorischen Darstellungen und in der Expressionismus- und Werfelforschung die zentrale Bedeutung der Person Werfels für die Literatur des Expressionismus und später auch die Literatur der 1920er bis 1940er Jahre in Österreich und den USA nicht bestritten, über die literarästhetische Qualität seines Œuvres ist man sich jedoch ähnlich wie bei Perutz uneins. Dies gilt schon für die Zeitgenossen. Beispielhaft sei hier Franz Bleis ambivalente „tierische“ Beschreibung Werfels genannt, in der er parodistisch auch auf die emotionalen Qualitäten von dessen Werk eingeht: Von kugeliger Runde besitzt das Werfel nicht wie der Igel dessen Fähigkeit, sich einzurollen, sondern eher auszubreiten. Aber es hat vom Igel dessen Stacheln. Nur sind diese ganz zart und weich und manchmal auch, das Tier schmerzend, nach innen gekrümmt mit der Spitze. Dieser Widerspruch zwischen dem Aussehen und dem Sein des Werfels machen das runde, weichmütige, etwas faule Tier zu einem heute sehr beliebten mondänen Schoßigel empfindsamer Seelen. Kaum ein Salon, in dem man ihm nicht begegnet, und wo es nicht herumgereicht wird. So im Schoße liegend wie eine spitzstachelige Granate, bewundert der mit der Art dieser Stacheln nicht vertraute die Hände, welche diesen Stachelhügel streicheln können wie eine Katze, und soll solches auch in der Tat beim Streichelnden sehr angenehme Gefühle auslösen. Doch ist das Werfel vornehmlich um einer anderen Eigenschaft willen beliebt, mit der es Gott ausgestattet hat. Es kann singen wie ein Caruso und tut es so gern wie oft, besonders wenn Lärm ist. Lärmt zum Beispiel ein Krieg, so singt das Werfel, daß, druckte man das Gesungene, gleich ein Oktavband von 308 Seiten damit zu füllen wäre. Um dieser seiner ausgezeichnet Arien und Triller singenden Tenorstimme wird das Werfel von anderen Tieren, die es nachzuahmen suchen, stark beneidet.298

Bleis Beschreibung changiert zwischen pejorativen („Schoßigel“, „faul“) und meliorativen sprachlichen Epitheta („singen wie ein Caruso“, „stark beneidet“), fällt aber nicht zuletzt in Folge des satirischen Stils des Bestiariums eher negativ aus. In den letzten Sätzen des Zitats wird dabei ein stilbildender Einfluss der italienischen Oper auf Werfels Werk nahegelegt, eine Annahme, die im Folgenden exemplarisch am Verdi-Roman plausibilisiert werden soll. 297 298

Vgl. Thorsten Valk, Literarische Musikästhetik. Eine Diskursgeschichte von 1800 bis 1950, 204. Franz Blei, Das große Bestiarium der modernen Literatur, 70.

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

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Wie C.E. Williams belegt, wurde dieser „emotionale Stil“ Werfels von den Zeitgenossen insgesamt eher geschätzt.299 Zu diesen gehörte nicht zuletzt auch Kafka, der bekanntlich besonders von Werfels Lyrik begeistert war. Der Verdi-Roman ist vermutlich das letzte Buch, das Kafka vor seinem Tod las.300 Robert Musil hingegen störte sich gerade an der ostentativen Betonung der Emotionalität und der Unverbundenheit von Gefühl und Verstand in Werfels Werk. In dieser Weise karikierte er Werfel auch im Mann ohne Eigenschaften in der Figur Feuermauls.301 Auch Karl Kraus, dessen Feindschaft mit Werfel allerdings bekanntermaßen auch persönliche Gründe hatte, kritisierte dessen emotional getönten Monismus.302 In der eher spärlichen Forschungsliteratur zum Roman303 ist bereits häufiger die überwiegend klare Dichotomie und Typenhaftigkeit der Figurendarstellung herausgearbeitet worden,304 die – wie leicht gezeigt werden kann – eine unproblematische „Einfühlung“ in den Helden Verdi und dessen sympathieorientierte Hochwertung ermöglichen und den abschließenden Triumph der italienischen Oper über die deutsche Instrumentalmusik bereits von Beginn an erahnen lassen. Hier spielt natürlich auch das entsprechende kulturhistorische Kontextwissen eine rezeptionssteuernde Rolle: Es kann als weitgehend bekannt vorausgesetzt werden, dass Giuseppe Verdi Richard Wagner um zwanzig Jahre überlebt und nach der Komposition der Aida und des Requiem mit Otello und Falstaff zwei hochgelobte Spätwerke der 299

Vgl. C. E. Williams, The Broken Eagle. The Politics of Austrian Literature from Empire to Anschluss, 60. 300 Vgl. Malcolm Pasley, „Werfel and Kafka“, in Franz Werfel. An Austrian Writer Reassessed. Hg. v. Lothar Huber, 81–91, hier 82. 301 Vgl. Frederick G. Peters, „Robert Musil on Franz Werfel as ,Pseudodichter‘ and his artistic ,Gegenbild‘“, in Unser Fahrplan geht von Stern zu Stern. Hg. v. Joseph Strelka und Robert Weigel, 41–73. 302 Vgl. Edward Timms, „Poetry, Politics and Personalities: The Kraus-Werfel Controversy“, in ebd. 111–138. 303 Zentral für die vorliegende Analyse sind die musikwissenschaftliche Studie von Mautner, die Publikationen zum Verdi-Roman von Valk sowie der erste Band der Schriften der Internationalen Franz-Werfel-Gesellschaft, der Werfels Verhältnis zur Musik gewidmet ist: Hendrikje Mautner, Aus Kitsch wird Kunst. Zur Bedeutung Franz Werfels für die deutsche ,Verdi-Renaissance‘; Thorsten Valk, Literarische Musikästhetik; ders., „Die Geburt der Zwölftontechnik aus dem Geist der Spätromantik. Musikästhetik als Kulturkritik in Werfels ,Verdi‘-Roman“; ders., „Deutscher Idealismus – italienischer Sensualismus: Werfels dichotomische Musikästhetik im Kontext der klassischen Moderne“; Sympaian. Schriften der Internationalen Franz Werfel-Gesellschaft. Hg. v. Karlheinz F. Auckenthaler, Bd. 1, 1997. Vgl. außerdem Raymond Furness, „A discussion of ,Verdi: Roman der Oper‘“, in Franz Werfel. An Austrian Writer Reassessed, 139–151; Norbert Abels, „,Die Wahrheit erfinden‘. Über Franz Werfels ,Verdi. Roman der Oper‘“, in Musik und Literatur. Komparatistische Studien zur Strukturverwandtschaft. Hg. v. Albert Gier und Gerold W. Gruber, 215–236. Auf die mit der weitgehend dichotomischen Struktur des Romans verknüpften politischen Implikationen wird hier nicht weiter eingegangen. Vgl. dazu Marc A. Weiner, Undertones of Insurrection. Music, Politics and the Social Sphere in the Modern German Narrative, 153–181. 304 Thorsten Valk, Literarische Musikästhetik, 175, 185, 252, 255.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

italienischen Oper geschrieben hat. Die Annahme, dass der Roman von diesen allgemeinen biographischen Rahmendaten des historischen Verdi nicht signifkant abweichen dürfte, wird durch den Vorbericht des Autors gestützt, außerdem durch das Auftreten des Erzählers in der Rolle eines das äußere Geschehen deutenden Historikers. Im Gegensatz zur Erzählerfigur in Turlupin treten Autor und Erzähler hier nicht mit dem Anspruch auf, eine alternative Version der offiziellen Geschichtsschreibung aufgrund neuer Quellenfunde zu liefern, es geht ihnen vielmehr darum, die Innensicht des Protagonisten ergänzend zur offiziellen Biographik hinzuzudichten: Allerdings, das genaueste biographische Material eines Lebens, alle Tatsachen und Widersprüche, Deutungen und Analysen sind diese Wahrheit noch nicht. / Wir müssen sie aus ihnen gewinnen, ja sie erst erschaffen die reinere eigentlich mythische Wahrheit, d i e S a g e v o n e i n e m M e n s c h e n . 305

Als einzige poetische Freiheit ist das Zusammentreffen der beiden Protagonisten in Venedig anzusehen, das so historisch nicht verbürgt ist, mit dem sich Werfel aber literarhistorisch etwas salopp formuliert eher auf „quasi-schiller’schem“ Terrain bewegt als auf demjenigen des unzuverlässigen „Möchtegernhistorikers“ bei Perutz. Im Finale des Romans werden in einer allgemeinen pathetischen Geste der Verbrüderung und Versöhnung306 die zuvor etablierten Gegensätze nur scheinbar aufgelöst – indem diese Aufhebung des Antagonismus von italienischem Sensualismus und deutschem Idealismus im „Nachspiel“ in einen Triumph der einzig als „natürlich“ und „human“ gekennzeichneten Form der Oper verkehrt wird: der italienischen Verdi’scher Prägung nämlich. Werfels Roman der Oper ist insgesamt von einem irrationalistischen Kunstverständnis durchzogen, das programmatisch im gesamten Handlungsverlauf stets aufs Neue entfaltet wird.307 Die Annahme, dass jede Form des Kunstschaffens produktionsästhetisch durch ein unproblematisches, ja emphatisches Verhältnis des Künstlers zur eigenen Emotionalität geprägt sein sollte, wird durch den heterodiegetischen, alles 305

Franz Werfel, Verdi. Roman der Oper, Vorbericht (o.S., Sperrdruck im Original, im Folgenden VRO). Vgl. auch VRO 207. 306 Dieses „Weltverbrüderungspathos“, außerdem der Gestus des emphatisch bejahten Ich-Zerfalls sowie ein nietzscheanischer Vitalismuskult und eine programmatisch zur Schau getragene Naivität sind bekanntermaßen charakteristische Merkmale des messianisch-emphatischen Expressionismus, als dessen prototypischer Vertreter Werfel angesehen werden kann. Vgl. Lyrik des Expressionismus. Hg. und eingeleitet v. Silvio Vietta, 217f, 273; Silvio Vietta und Hans-Georg Kemper, Expressionismus, 186–194 sowie Ivana Vízdalová, „Expressionismus in Prag – ein Dialog der Sprachen und Kulturen“. 307 „Ganze tote Meere von Tinte wurden von ihnen verbraucht, damit die Binsenwahrheit herauskäme, daß die Form der Oper ein Unsinn sei. Von diesen Leuten [den Anhängern der Camerata dei Bardi, die die Oper als Kunstform zur Wiederbelebung des antiken Dramas begründeten und daher von einem Primat des Textes ausgingen, sowie deren Nachfolgern, C.H.] hat keiner den nötigen Respekt vor dem Leben, um zu erkennen, daß alles Seiende und Wirkende höher begründet ist, als unsere Logik, unsere Schönheitstheoreme, unsere Kulturentlarvungen sich träumen lassen.“ (VRO 371f) Vgl. auch VRO 255f, 313, 456f.

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

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überschauenden Erzähler wie auch vom allen anderen Figuren letztlich überlegenen Protagonisten immer wieder nahezu apodiktisch postuliert. Ihren kulturgeschichtlichen Ursprung hat diese emphatische Einstellung zur eigenen Emotionalität in den neomystischen, lebensphilosophischen und monistischen Vorstellungen der Jahrhundertwende um 1900 sowie in der Philosophie Friedrich Nietzsches. Auch wenn Werfel den Einfluss Nietzsches auf den Verdi später leugnete, sind im Roman doch deutliche Anleihen vor allen Dingen bei der Wagnerkritik zu erkennen, wenn auch eher in der generellen Ablehnung Wagners als in den einzelnen Gründen dafür.308 Mitunter wurde dieses Programm eines von starker Emotionalität geprägten künstlerischen Schaffensprozesses auch auf Werfels eigene literarische Produktion übertragen. Hans Mayer etwa konstatiert rückblickend: Bei Werfel waren die Emotionalität, der romantische Einfall, die lyrische Substanz, die Sprachgewalt das Entscheidende. Er hatte eine eigene Sprache! [...] Ich glaube, was Werfel fehlte: er hat sich selbst kaum jemals in Frage gestellt. Und er konnte Marxist sein, er konnte anarchistisch oder konservativ sein, er konnte Katholik sein – das alles war austauschbar, es hing von der jeweiligen Wallung, dem Einfall, der Emotion ab.309

Betrachtet man Werfels literarische Ursprünge als Protagonist des messianischen Expressionismus, so überrascht diese Kontinuität im literarischen Schaffen nicht.310 Der Roman ist in der Folge auch als Werfels Resümee des literarischen Expressionismus verstanden worden, allerdings mit unterschiedlichen Standpunkten in Bezug auf die Frage, ob Verdi eine kritische Distanz zu diesem einnehme oder eine Fortschreibung von Werfels expressionistischer Programmatik darstelle.311 Im Folgenden soll diese zum Teil stark autorphilologisch argumentierende Debatte nur insofern weiterverfolgt werden, als gezeigt wird, dass sich im Hinblick auf die Gestaltung von Emotionalität mit guten Gründen Kontinuitäten zwischen Werfels lyrischen, expressionistischen Arbeiten und seinem Roman der Oper nachweisen lassen. Dieser Form der literarischen Darstellung von Kunst als von einem Primat der Gefühle geprägter Praxis war auf dem österreichischen Buchmarkt großer Erfolg be308

Vgl. Norbert Abels, „Universalia ante rem. Musikphilosophische Aspekte bei Nietzsche und Werfel“, in Sympaian, 33–46, hier 44; Hans Wagener, „Werfel contra Wagner“, ebd. 77–104, hier 96f; Jennifer E. Michaels, „Franz Werfel, die Oper und Giuseppe Verdi“, ebd. 105–120, hier 109, 111 sowie allgemein zu den entsprechenden zeitgenössischen Emotionskonzepten Simone Winko, Kodierte Gefühle, 170–179 und zu Wagners Bedeutung für die moderne Literatur Dieter Borchmeyer, „Richard Wagner und die Literatur der frühen Moderne“. 309 Hans Mayer zitiert nach Peter Stephan Jungk, Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte, 173. Vgl. zu dieser in Bezug auf Werfels Gesamtwerk geäußerten Emotionalitätsthese auch Franz Brunner, Franz Werfel als Erzähler, 23. 310 Vgl. dazu Lyrik des Expressionismus, 217. 311 Erstere Ansicht vertritt etwa Sokel, letztere Gresch. Vgl. Walter H. Sokel, The Writer in Extremis: Expressionism in Twentieth Century German Literature, 134f, 151, 159, 269; ebenso Hellmut Thomke, Hymnische Dichtung im Expressionismus, 300; Donald Gresch, „The Fact of Fiction: Franz Werfel’s Verdi: Roman der Oper“, 37.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

schieden: Als erster Titel des neu gegründeten Zsolnay-Verlages erschien Verdi im April 1924 und wurde zu einer lukrativen Einnahmequelle für den Verlag wie für den Autor.312 Der Erfolg des Romans markiert zugleich den Beginn der sogenannten „Verdi-Renaissance“ im deutschsprachigen Raum in den 1920er Jahren. Im Anschluss an sein Erscheinen setzte sich Werfel auch als Übersetzer und Bearbeiter einiger zur damaligen Zeit in Deutschland und Österreich weniger häufig gespielter Opern Verdis und durch die Übersetzung und Herausgabe von Verdis Briefen für dessen Werk ein.313 Darüber hinaus verfasste er mehrere Essays, in denen er sich ähnlich emphatisch wie im Roman der Oper mit Verdis Werk beschäftigte. Die Essays erscheinen allerdings erst nach der Romanpublikation ab dem Jahr 1926. In den Verdi-Essays nimmt Werfel die vom Erzähler geäußerten zentralen Ansichten zu Verdis Biographie, seiner musiktheoretischen, kulturgeschichtlichen, -geographischen und -politischen Bedeutung wieder auf. Analog zum Roman sind auch die Essays von diversen argumentativen Brüchen durchzogen. Ziel von Werfels Bemühungen ist es, eine Hochwertung von Verdis Opern unter ästhetischen Gesichtspunkten zu erreichen; die Schlüssigkeit der Beweisführung steht dabei nicht im Vordergrund, vielmehr soll die künstlerische Überlegenheit der 312

So bot Zsolnay Werfel den höchsten jemals vergebenen Honorarsatz in seiner Verlagsgeschichte von 22%, so dass Werfel sich entschied, von Kurt Wolff aus Leipzig zu dem von Paul von Zsolnay neugegründeten Wiener Verlag zu wechseln. Diese Investition lohnte sich: Die ersten Auflagen waren schnell vergriffen. 1930 folgte eine „Sonderausgabe“ zum besonders günstigen Preis von 2,85 Mark, die sich in drei Auflagen von September bis Dezember verkaufte. Mit dieser zweiten Ausgabe reagierte Werfel auf die Kritik an der zum Teil sehr rigiden dichotomischen Darstellung der beiden Musiker Verdi und Wagner, indem er vor allen Dingen die stark abwertenden Aussagen über die deutsche Musik deutlich abschwächte. Ab den 1930er Jahren sanken die Verkaufszahlen des Romans allerdings, nicht zuletzt aufgrund der sich ändernden politischen Situation in Deutschland und Österreich. Vgl. dazu Murray G. Hall, „Franz Werfel und sein Verleger Paul Zsolnay“, 67f sowie Peter Stephan Jungk, Franz Werfel, 151f. Die folgende Analyse bezieht sich auf die Erstausgabe des Romans, einerseits um die Vergleichbarkeit mit den auszuwertenden Rezeptionszeugnissen zu gewährleisten, andererseits, weil es gerade diese erste Fassung war, die den Erfolg Werfels als Romancier trotz der zum Teil heftigen Kritik begründete. 313 1926 gibt Werfel gemeinsam mit dem österreichischen Musikwissenschaftler Paul Stefan ausgewählte Briefe Verdis heraus (Giuseppe Verdi. Briefe. Hg. und eingeleitet von Franz Werfel. Übersetzt von Paul Stefan. Berlin/Wien/Leipzig 1926). Er veröffentlicht Nachdichtungen von La forza del destino (1926), Simon Boccanegra (1930), Don Carlos (zusammen mit Lothar Wallerstein, 1932), die alle zu dieser Zeit im deutschen Sprachraum selten oder gar nicht gespielt wurden, und regte damit weitere Aufführungen von bisher unbekannten Verdi-Opern auf deutschsprachigen Bühnen an. Gemeinsam mit Alexander von Zemlinsky und Fritz Busch kann Werfel somit zu einem der wichtigsten Protagonisten dieser sogenannten „Verdi-Renaissance“ gerechnet werden, die mitten hineinfiel in den von den Zeitgenossen als krisenhaft empfundenen Stilpluralismus in der post-wagnerianischen Opernlandschaft. Wichtig für diese Re-Evaluierung von Verdis Opernschaffen waren allerdings vermutlich auch soziale Faktoren: Im Laufe der 1920er Jahre änderte sich die demographische Zusammensetzung der Opernpublika, damit auch der sich in den Verkaufszahlen niederschlagende Publikumsgeschmack. Vgl. Hendrikje Mautner, Aus Kitsch wird Kunst, 15, 83f, 88.

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

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italienischen Oper durch das während der Rezeption ausgelöste starke Gefühl und durch ihre lebensspendende Wirkung beglaubigt werden.314 Sein Roman initiierte einen Prozess der Um- und Neubewertung von Verdis Œuvre: Die sogenannte ,Verdi-Renaissance‘ der zwanziger Jahre unterscheidet sich insofern von anderen Renaissancen und retrospektiven Tendenzen jener Zeit, als sie eine Beschäftigung mit einem Komponisten der unmittelbaren Vergangenheit bedeutete, dessen Person und Werk nicht erst in Erinnerung gerufen werden mußten. Ihre Besonderheit besteht vielmehr darin, daß der bis ins 20. Jahrhundert in Deutschland als trivial eingeschätzte Komponist im Hinblick auf seine ästhetische Qualität rehabilitiert wurde, was eine neue Auseinandersetzung besonders auch mit dem unbekannten Teil seines Œuvres ermöglichte. [...] Die Antinomie Verdi – Wagner, die zuvor mit der Diskrepanz der ästhetischen Qualität begründet worden war, verlor als Modell der Bewertung beider Komponisten an Bedeutung. Statt dessen [sic!] begann man, Verdi und Wagner als Repräsentanten zweier unterschiedlicher musikdramaturgischer Konzeptionen zu betrachten, denen man schließlich gleichermaßen Legitimität zuzugestehen begann, was die Voraussetzung für eine neue Einschätzung Verdis schuf.315

Diese Umwertung von Verdis Werk in der zeitgenössischen Publizistik und an den führenden deutschen Opernhäusern ist von Mautner detailliert beschrieben und anhand zeitgenössischer Rezensionen und Spielpläne umfassend belegt worden. Die Aufwertung der italienischen Oper in der Tradition des Belcanto, insbesondere deren Niederschlag im Werk Verdis, lässt sich dabei auch als programmatische Hochwertung eines Irrationalismus in der Kunst, genauer – und das ist so bisher in der Werfel-Forschung nicht umfassend diskutiert worden – als präskriptive Aufforderung zu einer emotionalen Form der Produktion und Rezeption von Kunst verstehen. Diese wird im Text thematisiert316 und durch die Darstellung der inneren Zustände der Figuren auch immer wieder präsentiert. Somit lässt sich in Bezug auf den produktionsästhetischen Stellenwert der Emotionalität und deren stilbildender Rolle in den literarischen Texten durchaus von einer Kontinuität zwischen Werfels lyrischem Frühwerk und dem Verdi-Roman sprechen. Diese lässt sich genauer in den Begriffen von ,Pathos‘317 und ,Emphase‘ fassen. Pathos beziehungsweise Emphase sind ebenso wie für Werfels vorwiegend lyrische Schaffensperiode während des expressionistischen Jahrzehnts auch für seinen ersten Roman die leitenden stilbildenden Kategorien. Diese wiederum lassen sich auf das hier ent314

Vgl. zu den Essays ausführlich Michel Reffet, „Werfels Strategien in seinen Verdi-Essays“, in Sympaian, 147–180. 315 Hendrikje Mautner, Aus Kitsch wird Kunst, 13f. 316 Vgl. dazu Frank Zipfel, „Erzählter Gesang: Literarische Opernreflexionen“. 317 In der Nachfolge Nietzsches erfährt das pathetische Sprechen in der Literatur des Expressionismus bekanntermaßen eine Aufwertung. Vgl. Peter Stücheli, Poetisches Pathos. Eine Idee bei Friedrich Nietzsche und im deutschen Expressionismus, 53–65. Alternativ wurden zur Beschreibung der stilistischen Besonderheit von Werfels Lyrik auch die Attribute „hymnisch“, „ekstatisch“, „prophetisch“ oder „messianisch“ gebraucht. Das Begriffspaar „pathetisch“ – „emphatisch“ scheint mir allerdings am geeignetsten, um die spezifisch emotionalen Qualitäten von Werfels expressionistischem lyrischen Stil zu bezeichnen.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

wickelte Analyseinstrumentarium zurückbeziehen, indem man beide Begriffe so auffasst, dass sie zwei Varianten einer von starker emotionaler Beteiligung geprägten Sprechweise bezeichnen. Pathos und Emphase sollen im Folgenden daher als Formen einer besonders intensiven emotionalen Beteiligung verstanden werden, die ihren Bezugspunkt in einem für den Emotionsträger in hohem Maße wertvollen Gegenstand, einer Person oder eines Themas findet. Ich verwende, anders gesagt, also einen recht allgemeinen, wenig voraussetzungsreichen Begriff von Pathos beziehungsweise Emphase: Beide Begriffe werden hier als reine termini technici zur genaueren Beschreibung eines bestimmten, für Werfels Roman besonders charakteristischen Stils herangezogen. Während ,Pathos‘ als allgemeinerer Begriff hier so verstanden werden soll, dass er eine qualitativ unbestimmte, starke emotionale Beteiligung beschreibt, ist die ,Emphase‘ demgegenüber durch eine positiv-freudige Erregung gekennzeichnet.

3.4.1 Emotionale Intensität: Pathetisches und emphatisches Sprechen in Werfels Verdi Wie leicht gezeigt werden kann, sind viele Passagen des Verdi-Romans, insbesondere die intern fokalisierten Schilderungen innerer Vorgänge der Figuren wie auch die relativ häufig auftretenden Erzählerkommentare von starker pathetischer oder emphatischer emotionaler Beteiligung geprägt. Um dies zu veranschaulichen, greife ich zwei Beispiele vom Beginn und Schluss des Romans heraus: Ach! Ach! – Ich Schwerfälliger sitze schon im Zug und fahre hierher. – Aber wenn man selbst alt ist, soll man den Tod nicht besuchen! Da liegt das arme, zusammengeschrumpfte Männchen. – Man hält eine schlüpfrige Hand. – Der hochangesehene Arzt kann sich selber nicht helfen! – Nun, die moderne Wissenschaft wird auch über dich hinweggeschritten sein! – Auch über dich! (VRO 27) Ich habe das Glück gehabt, manches Helden Freund gewesen zu sein. Sie wissen es! [...] Und jetzt will ich ihnen sagen, warum Verdi ein Gott ist. Er ist der verhältnismäßig uneitelste Mensch dieser Erde. Kein Wesen kenne ich, das einen so furchtbar-unerbittlichen Selbstblick besitzt wie er. Er steht immer vollkommen plastisch vor sich. Darum auch ist er der objektivste Mensch dieser Erde. Wäre es anders möglich, daß er, der aus dem finstersten AnalphabetenProletariat der zwanziger Jahre kommt, diesen Weg genommen hätte? Welch ein Krieg gegen sich selber! Jahr um Jahr! Werk um Werk! Giuseppe Verdi, das ist der göttliche Aufstieg der Menschheit. Beide, die Menschheit und Verdi, werden den Augenblick der Verdüsterung überwinden. (VRO 546)

Festzustellen ist zunächst, dass beide Sprecher – Verdi im ersten wie auch der Senator im zweiten Beispiel –, der Redesituation angemessen, keine sprachlich expliziten Angaben zu ihrem emotionalen Zustand machen. Nichtsdestotrotz wird ihre emotionale Bewegung bei der Lektüre unmittelbar deutlich. Dies wird mit Hilfe einer Vielzahl im-

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

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pliziter sprachlicher Darstellungstechniken erreicht, von denen die wichtigsten hier aufgelistet seien: 318 IMPLIZITE/KONNOTIERTE EMOTIONEN a. physiologisch/mimisch-gestisch/vokal nonverbal: keine (wegen Abwesenheit der Erzählerrede) b. phonetisch-lautlich: 1. Ausrufezeichen zur Markierung des exklamativen Charakters des autonomen inneren Monologs (im ersten Beispiel sechsmal in acht Sätzen, im zweiten viermal in dreizehn Sätzen) 2. Gedankenstrich zur Markierung der Sprechpausen und der assoziativen gedanklichen Sprünge der Figur (sechsmal in acht Sätzen, nur im ersten Beispiel)319 c. lexikalisch: 1. Lexeme: „Schwerfälliger“; „Tod“; „arme; zusammengeschrumpfte“; „schlüpfrig“; „hochangesehen“; „Glück“; „Helden“; „Freund“; „Gott“; „uneitelste“; „furchtbar-unerbittlichen“; „finstersten Analphabeten-Proletariat“; „Krieg“; „göttliche Aufstieg“; („Menschheit“); „Verdüsterung“; „überwinden“ 2. Interjektionen: „Ach! Ach!“ 3. Diminutiv- und Augmentativbildungen: „Männchen“; „verhältnismäßig uneitelste“; „vollkommen plastisch“; „objektivste“; „finstersten“ 4. Prä- und Suffigierungen/Komposita: „hochangesehen“; „furchtbar-unerbittlich“; „Analphabeten-Proletariat“ 5. Phraseologismen: keine 6. Modalwörter: keine d. grammatisch-syntaktisch: 1. nicht-eingebettete Satzstrukturen: „Ich Schwerfälliger sitze schon im Zug und fahre hierher! – Aber wenn man selbst alt ist, soll man den Tod nicht besuchen!“; „Nun, die moderne Wissenschaft wird auch über dich hinweggeschritten sein!“ 2. intensivierend gebrauchte Syntagmen: „Jahr um Jahr! Werk um Werk!“ e. Bildlichkeit: 1. Metonymie: „den Tod nicht besuchen“ 2. Personifikation: „die moderne Wissenschaft wird auch über dich hinweggeschritten sein!“ 3. Metapher: „warum Verdi ein Gott ist.“; „Giuseppe Verdi, das ist der göttliche Aufstieg der Menschheit.“ f. rhetorische Präsentation: 1. Apostrophe: „Auch über dich!“; „Welch ein Krieg gegen sich selber!“ 318 319

Vgl. dazu die Liste empathieermöglichender Textstrukturen in Kapitel 2.4.1.2.1. Besonders starken Gebrauch von den Möglichkeiten der graphischen Wiedergabe phonetischlautlicher Aspekte der wörtlichen Rede wird bekanntlich u.a. im Naturalismus im so genannten „Sekundenstil“ gemacht, dem Werfel sich hier jedoch nur annähert. Vgl. Norbert Fries, „Die Kodierung von Emotionen in Texten Teil 2: Die Spezifizierung emotionaler Bedeutung in Texten“, 49.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

2. Inversion: „Kein Wesen kenne ich, das einen so furchtbar-unerbittlichen Selbstblick besitzt wie er.“; „Darum auch ist er der objektivste Mensch dieser Erde.“ 3. Klimax: „Aber wenn man selbst alt ist, soll man den Tod nicht besuchen.“; „Der hochangesehene Arzt kann sich selber nicht helfen.“; „Ich habe das Glück gehabt, manches Helden Freund gewesen zu sein. [...] Und jetzt will ich ihnen sagen, warum Verdi ein Gott ist.“ 4. rhetorische Frage: „Wäre es anders möglich, daß er, der aus dem finstersten AnalphabetenProletariat der zwanziger Jahre kommt, diesen Weg genommen hätte?“... g. Situationsbezug: im ersten Beispiel eine prototypisch emotional konnotierte Situation der Sorge um einen guten Freund sowie der Angst vor der eigenen Sterblichkeit, im zweiten Beispiel eine der Hochachtung vor einem geliebten Freund und geschätzten Vorbild (Situation der Lobrede) h. Intertextualität: keine (lediglich im ersten Beispiel ein vager Bezug z.B. zu Thomas Manns Der Tod in Venedig durch die aufgerufene Künstler- und Todesproblematik, im zweiten zu unspezifiziert bleibenden mythologischen Helden- und Götterfiguren)

Die emotionale Bewegtheit der Figuren wie auch des Erzählers wird in den theoretischen Sätzen des Erzählers, den mimetischen Schilderungen des Innenlebens der Figuren und der Figurenrede selbst mit Hilfe dieser und anderer Textoberflächenphänomene präsentiert und vor allem intensiviert. Hierbei muss allerdings unterschieden werden zwischen im engeren Sinne sprachlichen Intensifikatoren und einer allgemein intensivierenden Darstellungsweise. Unter sprachlichen Intensifikatoren im engeren Sinne versteht Fries im Anschluss an Kammerer markierte Verstärkungsausdrücke mit emotional-expressiver Funktion. Das bedeutet, nicht alle sprachlichen Mittel mit verstärkender Funktion wie etwa unmarkierte Attribute wie „heftig“ oder „stark“ sind nach Kammerer und Fries als emotionale Intensifikatoren aufzufassen, sondern nur solche, die eine emotionale Einstellung des Sprechers signalisieren wie etwa „entsetzlich“, „kolossal“ usw.320 Schwarz-Friesel hingegen nennt umfassender als sprachlich intensivierende Mittel Exklamativsätze, Hyperbel, Vergleich und Metapher, Dimensionsadjektive und Partikeln, die Kombination aus Modalpartikel und emotivem Adjektiv sowie bestimmte intensivierende Morpheme.321 Welche sprachlichen und erzähltechnischen Mittel in literarischen Texten ganz allgemein als emotional intensivierend aufgefasst werden können, ist aber wiederum stark ko- und kontextabhängig. Es soll daher hier davon ausgegangen werden, dass sich ein relativ großer Überschneidungsbereich mit den in Kapitel 2.4.1.2.1 genannten impliziten Darstellungsverfahren ergibt. Besonders häufig finden sich im Roman, wie die beiden oben genannten, für die Figurenrede typischen Beispiele anschaulich machen, nicht eingebettete syntaktische Strukturen, stark emotional konnotierte Lexeme, klimaktische Redefiguren sowie Inter320 321

Vgl. dazu Norbert Fries, „Die Kodierung von Emotionen in Texten Teil 2“, 33, Anm. 22. Monika Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, 185–188.

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

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jektionen und andere phonetisch-lautliche emotionalisierende sprachliche Mittel, aber auch Wortwiederholungen oder asyndetische, meist triadische Reihungen,322 die die Intensität des emotionalen Erlebens der sich überwiegend im Zustand der Wallung, Aufregung oder Überhitzung befindenden Figuren ebenfalls sprachlich kodieren. Erst durch die Kombination dieser sprachlichen Kodes und in der Verbindung mit situativem, intertextuellem und kulturellem emotionalen Wissen entfalten die an der Textoberfläche nachweisbaren, überwiegend impliziten emotionalen Präsentationsverfahren, wie oben im theoretischen Teil bereits gezeigt, ihre intensivierende emotionale Wirkung.323 Um dies zu illustrieren, sei noch einmal die erste der beiden Textstellen betrachtet, in der Verdi über seinen dem Tode nahen Freund Vigna und die eigene Sterblichkeit reflektiert: Dem inneren Monolog vorausgegangen ist die Szene im Teatro Fenice, in der Wagner und seine begeisterten Anhänger an Verdi, der unerkannt geblieben ist, vorbeiziehen. Dabei gelingt es dem werbenden Blick Wagners nicht, Verdi in seinen Bann zu ziehen. Im vorangegangenen Gespräch Verdis mit Dario ist Wagner bereits als Neuerer und Antipode Verdis eingeführt worden; gleichzeitig demonstriert das Desinteresse der Gondoliere an Wagners Musik, mit dem das Kapitel eingeleitet wird, den elitären Anspruch von Wagners Kunst. Im nun folgenden autonomen inneren Monolog wird einerseits offengelegt, warum Verdi überhaupt nach Venedig gekommen ist – nämlich nicht um seinen sterbenden Freund zu besuchen oder mit seinem Verleger Ricordi persönlich zu sprechen, sondern um Wagner zu sehen –, andererseits führt er im Kontrast zu Verdis äußerer, gottgleich unbewegter Erscheinung, dessen innere emotionale Erregung vor und legitimiert durch deren Heftigkeit Verdis eigentlich egoistische Motive. Durch die Wiedergabe seiner Gedanken enthüllt der Erzähler Verdis persönliche Situation als altem, als Epigone abgewerteten und unproduktiven Künstler. Wenn Verdi im Folgenden über den drohenden Tod seines Freundes Vigna reflektiert, ist seine derzeitige Situation als aus seiner Perspektive weitgehend hoffnungslos klar umrissen: im Hinblick auf seine künstlerische Schaffenskraft und seinen Nachruhm – gerade im Kontrast zu Wagner; im Hinblick auf seinen privaten Rückhalt – Verdi reflektiert hauptsächlich über vergangene Zeiten und Freunde, die er verloren hat; und im Hinblick auf seine eigene Lebenserwartung. Gleichzeitig ist durch Zuhilfenahme von Ko- und Kontextwissen aus den Hinweisen auf Verdis körperlichen Zustand und sein Interesse an Boitos 322

Diese finden sich besonders häufig in den theoretischen Sätzen des Erzählers, z.B.: „Der Geist der Romantik hat über den Geist von Achtundvierzig gesiegt. Der Geist der Romantik, Verbündeter aller heiligen Allianzen, Knecht jeder zweifelhaften Autorität, dieser Geist des Wahnsinns, sofern Wahnsinn die Flucht vor der Wirklichkeit bedeutet, dieser Dämon unaufgeräumter und deshalb schwulstiger Gemüter, dieser Narzissus der Tiefe, dem der Abgrund lüsterner Kitzel ist, dieser Gott der Verwicklung und Widerklarheit, dieser Abgott erstorbener Sinnlichkeit, verbotener Reize, scheinheiliger Gebärden, krankhafter Vergewaltigungen, der böse Geist der Romantik, terroristisch von rechts und links, diese Pest Europas hat die lebenswilligste Jugend besiegt, um heute noch zu herrschen.“ (VRO 39) 323 Vgl. dazu etwa Norbert Fries, „Die Kodierung von Emotionen in Texten Teil 2“, 32f, 49 und öfter.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Otello-Libretto schon ersichtlich, dass Verdis Ängste und Zukunftssorgen sich nicht bewahrheiten werden. Die oben wiedergegebene Textstelle ermöglicht somit einerseits den empathischen Nachvollzug von Verdis verzweifelter Gemütslage, andererseits aber wird die als besonders intensiv dargestellte Verzweiflung auch als nicht zukunftsgewiss markiert und erlaubt damit eine distanziertere, bei positiver Bewertung des Protagonisten sogar mit stellvertretender Vorfreude verbundene Haltung. Die Intensität der im Rahmen dieser prototypisch emotional konnotierten Situation erwartbaren Sorgen wird durch die Interjektionen „Ach! Ach!“ angezeigt: Eine emotional distanzierte Betrachtung der eigenen Lage ist Verdi in diesem Moment offensichtlich nicht mehr möglich. Dies illustriert auch die anschließende, durch Gedankenstrich markierte Pause. Wenn sich Verdi im Anschluss als „Schwerfälliger“ bezeichnet, so hebt er damit die eigene Müdigkeit und Reiseunlust hervor, die er bereits vorher des öfteren thematisiert hat. Gleichzeitig lässt sich seine Schwerfälligkeit allgemeiner auf sein Lebensalter und seine mangelnde Fähigkeit zur künstlerischen Produktion beziehen. Diese Deutung wird nach der nächsten Sprechpause noch plausibler, wenn Verdi den Besuch bei seinem sterbenden Freund Vigna metonymisch als Besuch beim Tod selbst deutet und gleichzeitig die Möglichkeit des eigenen Sterbens reflektiert („Aber wenn man selbst alt ist, soll man den Tod nicht besuchen!“). Die nächsten drei Sätze artikulieren Verdis Mitleid mit dem sterbenskranken Freund und steigern dieses noch durch die resignierte, antithetische Feststellung, dass der Freund, obwohl er Arzt sei, sich selbst nicht mehr helfen könne. Mit dieser Bemerkung wird einerseits ganz allgemein das menschliche Ausgeliefertsein an den Tod und das Unvermögen der modernen Wissenschaft diesem zu begegnen hervorgehoben; andererseits weist sie auch auf die befürchtete nivellierende Wirkung der Modernisierungsentwicklung im Hinblick auf die eigene Lebensleistung hin, die Verdi mit dem Sterbenden verbindet und die er direkt im Anschluss artikuliert. Die nach der nächsten Sprechpause folgende Behauptung, die moderne Wissenschaft werde auch über den Freund hinweggeschritten sein, ist allerdings aus den vorangegangenen Überlegungen nicht unmittelbar verständlich, denn auch die vormoderne Wissenschaft hätte dessen Sterbeprozess vermutlich nicht aufhalten können. Dieser Ausspruch und der pathetisch gebrauchte Ausruf: „Auch über dich!“ zur Bekräftigung dieser Sorge lässt damit offenbar werden, dass Verdi eher auf den Nachruhm seines Freundes rekurriert als auf dessen physischen Tod und sich dabei offenkundig selbst stark mit Vigna identifiziert („Auch“). Damit ist der Zielpunkt von Verdis Gedankengängen eigentlich nicht das Mitleid mit dem sterbenden Arzt, sondern die Angst vor dem eigenen Tod und genauer dem Vergessenwerden. Durch die vorausgegangene Schilderung von Wagners Anhängerschar ist dessen Rolle als Antipode des „Maestro“, der Verdis Nachruhm bedroht, bereits auf der Handlungsebene in Szene gesetzt worden. Die darauf folgende Wiedergabe der auf sich selbst bezogenen Ängste Verdis erfüllt nun eine doppelte Funktion: Sie macht die in der Figurenkonstellation angelegte konflikthafte Beziehung zwischen beiden Figuren auf emotionaler Ebene nachvollziehbar. Und sie tut dies ausschließlich aus der Perspektive des (scheinbar) Un-

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

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terlegenen, dessen starke innere Bewegung vor allem durch die Angaben zu den prosodischen Merkmalen des Monologs und dem assoziativen Charakter der dargestellten Gedanken angezeigt wird. Darüber hinaus ist dieser Monolog Verdis insofern besonders gelungen gestaltet, als er die Selbstbezüglichkeit der Figurengefühle auf indirekte Art verdeutlicht. Verdi wird damit als Figur charakterisiert, die sich ihres eigenen inneren Zustands zum einen (noch) nicht klar ist, dies zum anderen aber auch deswegen, weil sie erst einmal nicht an sich selbst denkt, sondern an den sterbenden Freund. Die Gedanken der Figur entsprechen somit der Charakterisierung Verdis als selbstlos durch den Erzähler und ermöglichen die intensive emotionale Teilhabe an ihrer Situation – gerade auch durch die indirekte, damit aber simultane und besonders plastische Form der Vermittlung. Nimmt man alle auf die Sprecheremotionen verweisenden rekonstruierbaren Textoberflächenphänomene zusammen, so wird anschaulich, auf wie vielschichtige Weise Verdis Gefühle hier sprachlich präsentiert und intensiviert werden: Die durch Gedankenstriche und Ausrufezeichen markierten phonetisch-lautlichen Merkmale des (nur als gesprochen imaginierten) inneren Monologs sowie der Gebrauch von Interjektionen und nicht-eingebetteten Satzkonstruktionen verdeutlichen, dass Verdis momentaner innerer Zustand intellektueller Kontrolle nur noch bedingt zugänglich ist, er vielmehr gedanklich assoziativ hin- und herspringt. Der negativ-erleidende Charakter dieses Gefühlszustandes, der sich zu Beginn in den Interjektionen andeutet, wird disambiguiert durch die Beschreibung der eigenen Gefühlssituation als altem, möglicherweise lebensmüden Mann und dem Mitleid mit dem todgeweihten Freund, aber auch der angedeuteten Furcht vor dem eigenen Sterben und letztendlich der dahinter stehenden Angst vor dem Vergessenwerden. Am Ende des Monologs gesteht Verdi sich daher ein: „Bin ich wirklich nur des kranken Freundes wegen nach Venedig gekommen? Hat mich nichts anderes hergetrieben? Täusche ich mich nicht selbst?“ (VRO 27) Dieser hohe, pathetische, teilweise auch emphatische324 Ton, der über weite Passagen für den Roman kennzeichnend ist, ist in der Forschung zum Teil als negativ zu bewertende Diskrepanz zwischen Thema und Stil aufgefasst worden. So urteilt etwa Henry O. Lea: „[I]ts [des Romans, C.H.] expressionistically inflated prose is not well suited to the subject.“325 Zu fragen wäre hier, wieso ein möglicherweise in der Tradition des literari324 325

Vgl. dazu noch einmal das zweite Textbeispiel aus der Rede des Senators auf Verdi. Henry A. Lea, „Musical Politics in Werfel’s Verdi“, 231. Vgl. auch Peter Stephan Jungk, Franz Werfel, 149: „ ,Verdi‘ bedeutete einen Wendepunkt in Werfels literarischer Entwicklung, ließ die Facette des Romanciers erstmals deutlich erkennbar werden. [...] Allzu üppig aber klang seine Prosa nach wie vor, unüberhörbar blieb sein hymnischer Stil. [...] Eklatant Mißlungenes bleibt unmittelbar neben fesselnden, geglückten Szenen stehen, Tief-Peinliches neben Mitreißendem. Venedig, der faszinierende Rahmen, in dem die Figuren der Handlung sich jubelnd und leidend bewegten, war in seiner traumähnlichen Einzigartigkeit höchst überzeugend getroffen. Und doch rückte der ,Roman der Oper‘ [...] seinen Autor erstmals in die Nähe gefälliger Unterhaltungsliteratur – ausgerechnet auf jenes Terrain also, auf welchem Karl Kraus den Verachteten vor Jahren bereits angesiedelt hatte.“ Auch Werfels zweiter Biograph Norbert Abels nennt einige Schwächen des Romans,

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

schen Expressionismus gründender Stil in Bezug auf ein Thema wie dasjenige des Verdi-Romans, in dem es immerhin um die tiefgreifende künstlerische und damit auch existentielle Krise des Protagonisten geht, unangemessen sein sollte. Der Grund für diese Form der Abwertung wird nicht explizit gemacht, zu vermuten wäre allerdings, dass es die Übertragung einer für die lyrische Form erprobten Stil- und Tonlage auf ein im wahrsten Sinne des Wortes „prosaischeres Medium“ ist, die für inadäquat gehalten wird. So ließe sich etwa der Eindruck des „Tief-Peinliche[n]“ erklären, den Jungk angesichts des „allzu üppig[en]“ Stils des Romans introspektiv beschreibt. Mit anderen Worten spielen bei der negativen Beurteilung des Stils neben persönlichen Präferenzen der Wertenden vermutlich auch gattungsbezogene Schemata eine Rolle. Mit Hilfe einer genaueren Betrachtung der Emotionsgestaltung im Roman soll hier die entgegengesetzte These aufgestellt und begründet werden: Angenommen wird, dass es gerade das Thema der italienischen Oper ist, das die Wahl eines derart stark emotional getönten Stils plausibel erscheinen lässt. Anders gesagt, lässt sich der ostentative Gebrauch emphatisch-pathetischer Rede im Roman als nicht bloß für Werfel typischen emotional getönten Stil beschreiben, sondern auch als dem gewählten Thema durchaus angemessene Darstellungsweise von Emotionalität. Diesen Zusammenhang gilt es im Folgenden zu entwickeln. Genauer soll plausibel gemacht werden, dass Werfels Roman signifikante Strukturähnlichkeiten zum Libretto aufweist und dass es gerade diese Strukturähnlichkeiten sind, die die Wahl eines derart stark emotional beteiligten Erzählgestus’ begründet erscheinen lassen. Dies schließt natürlich nicht aus, dass dieser Stil von Rezipienten als übertrieben, schwülstig, melodramatisch oder ähnliches empfunden wird. Allerdings hat die hier verfolgte, deskriptiv verfahrende Analyse den Vorzug, dass eine mögliche kompositorische Motiviertheit dieses Stilmerkmals ins Blickfeld gerät, die einen plausiblen Erklärungszusammenhang zum anschließend nachweisbar gestiegenen Interesse an Verdis Opern herstellt und Werfel außerdem nicht bloße handwerkliche Ungeschicklichkeit in der Behandlung des Themas der italienischen Oper attestiert. 3.4.1.1 Verdi. Roman der Oper als opernhafter Roman? Der oben knapp als pathetisch-emphatisch qualifizierte Duktus des Romans lässt sich auf breiter Basis im Text nachweisen. Meist sind es Verdis oder des Senators Empfindungen, die auf diese Weise geschildert werden: lokalisiert diese jedoch eher in den langen Einschaltungen des Erzähler Dagegen lobt er explizit die gelungene atmosphärische Gestaltung und die Figurendarstellung. Dies schließt wohl, so lässt sich vermuten, auch die Darstellung von Emotionalität im Roman mit ein: „Gut gelungen sind das Atmosphärische und die Gestaltenzeichnung. Störend wirkten die fortgesetzten didaktischen Interpolationen des Erzählers, langgestreckte essayistische Passagen, die Werfel leider nicht in die ästhetischen Debatten der Figuren gelegt hat.“ Norbert Abels, Franz Werfel. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 69.

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

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Da [in Nabucco und La Battaglia di Legnano, C.H.] sind keine Taktwechsel in jeder Phrase drin, keine Alterierungen, verbotenen [sic!] Quinten, komplizierten Stimmunterbrechungen und Querstand, keine der modernen Eitelkeiten. Aber dafür ist etwas drin, etwas ... etwas Mächtiges! – Für mich und für keinen sonst! Basta! – Und ist die Reise nach diesem Venedig nicht mehr als eine Sentimentalität? – Hätte ich früher so weich reagiert? – Ricordi erzählt mir, der alte Vigna sei sterbenskrank. O, wie tut mir gleich das Herz weh! – Ich sehe sehnsüchtig das Venedig von einundfünzig und dreiundfünfzig vor mir. Vigna! Das war doch ein Mensch, ein Kerl, ein Entdecker, ein Forscher! Bis drei Uhr morgens haben wir uns gegenseitig immer nach Hause begleitet! – Wie brannte der Kopf uns von Gespräch! (VRO 26f)

Zu beachten ist hier vor allen Dingen der häufige Gebrauch des Ausrufezeichens. Schon die typographische Anordnung zeigt so die emotionale Bewegtheit des Sprechers an, vermittelt allerdings durch den auffallend gehäuften Gebrauch von Interjektionen eine dauerhafte emotionale „Überhitzung“ der Figuren und bewirkt damit auf lange Sicht möglicherweise eine Desensibilisierung, da der Text sich fast ohne Pause von einem emotionalen Höhepunkt der Figuren zum nächsten bewegt. Auffällig ist, dass Verdi nach außen auf die anderen Figuren ruhig wirkt – ein Umstand, auf den der Erzähler des öfteren hinweist326 –, während er innerlich, wie exklusiv nur der Erzähler zu berichten weiß, stark emotional bewegt ist, gepeinigt von seiner Schaffenskrise und leidend unter der Rivalität mit Wagner.327 So wird er äußerlich immer wieder als beeindruckende Figur geschildert, mit nahezu klassizistisch-zeitlosen, gottähnlichen Zügen – beispielsweise gleich bei seinem ersten Auftritt im Roman: Der also abgefertigte Herr trug einen dunkelbraunen Überrock und hielt seinen schwarzen Schlapphut in der Hand. Er blieb ruhig vor dem Livrierten stehn [sic!] und sah ihm mit langsamen, sehr blauen, etwas feuchten Augen an, deren Blick erst aus der Ferne zurückgeholt werden mußte. Dieser Augen abwesend-verträumte Kühnheit war von der stark vorspringenden Stirnwölbung überdunkelt und drückte nicht Ärger, sondern nur eine leichte Verwunderung aus, daß jemand diesen Einspruch gewagt hatte. Trotzdem der natürlich gewachsene, kurze Bart fast schon durchwegs weiß, das weiche, jünglingshaft-dichte Haar, - es fiel in schöner Locke über ein plastisch großes, gleichsam gierig geöffnetes Ohr, - trotzdem dieses Haar schon mehr als grau war, wäre es doch niemandem eingefallen, zu sagen, der Mann sei alt. Dem widersprach die nicht allzu kleine, ökonomisch wie ein Geigenkörper gebaute Gestalt mit ihren fast zierlichen Gliedern, welche mit jener ruhig atmenden Lässigkeit in den Kleidern stak, die zehnfach mehr von Jugend zeugt als alle bewußte Straffheit. Eine große, sehr gebogene sonnverbrannte Nase, ein ganzes System von Falten und Fältchen um die Augen, die von Zeit zu Zeit auch im Dunkel wie von einer imaginären Sonnenblendung zusammengekniffen wurden, gaben diesem Gesicht die wechselnde Miene eines Bauern, der im weiten Abendstrahl sein Land betrachtet, den großen Ausdruck eines verwegenen Piraten, der von seiner Klippe aufs Meer hinausblickt, meist aber die Ruhe eines vornehmen Mannes, der alle Zweifel überwunden und keine Mühe mehr hat, seines Wertes sich bewußt zu sein. Die Götter, deren Attribut die ewige Jugend ist, wurden keineswegs immer als Jünglinge, viel öfter als reife, ältere Menschen dargestellt: Jupiter, Neptun und Vulkan! Auch auf diesem Ge326 327

Vgl. etwa VRO 14, 98. Bezeichnenderweise sollte der Roman ursprünglich den Untertitel „Roman der Rivalen“ tragen. Vgl. Hendrikje Mautner, Aus Kitsch wird Kunst, 159.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven sicht war das Alter nichts als eine schön verwandelte Form der göttlichen Jugend und Zeitlosigkeit. (VRO 15)

Die Textstelle wurde deswegen so ausführlich wiedergegeben, weil sich schon hier – an der ersten körperlichen Schilderung Verdis als zeitlos-jugendlichem, überlegen-gottgleichen, bäuerlich-weltmännischen Heros, den selbst die eigene Physiognomie als professionellen Musiker und Musikliebhaber ausweist – wesentliche Charakteristika von Erzählhaltung und Handlungsführung verdeutlichen lassen: Der Roman folgt, wie Mautner und Valk gezeigt haben, einer überwiegend klaren dichotomischen Struktur, die schon in der symbolisch überhöhten, ans Typenhafte grenzenden ersten Figurenbeschreibung Verdis abzulesen ist. Der Konflikt zwischen Verdi und Wagner wird somit nicht allein als Konflikt zweier unterschiedlicher Künstlerfiguren dargestellt, sondern viel allgemeiner als derjenige zweier antagonistischer Prinzipien von italienischem Sensualismus und deutschem Intellektualismus. Diese lässt sich, wie Mautner gezeigt hat, weiter ausbuchstabieren im Hinblick auf klimatisch-nationalistische, musiktheoretische, ästhetische und personenbezogene Dichotomien. So werden Süden und Norden, italienische und deutsche, Vokal- und Instrumentalmusik, Oper und Symphonie, Melodie und Harmonie, Sinnlichkeit und Geist, Gefühl und Verstand, Heteronomie und Autonomie der Kunst, Rossini und Beethoven, Verdi und Wagner einander dichotomisch gegenübergestellt.328 Der vom Erzähler zugrundegelegte höchste axiologische Wert der moralisch-emotionalen Funktion der Oper und von Kunst ganz allgemein begründet innerhalb der Dichotomie die Hochwertung des italienischen Sensualismus gegenüber dem deutschen Rationalismus. Bekanntermaßen geht diese Dichotomie auf die im frühen 19. Jahrhundert in Deutschland im Zuge der romantischen Musikästhetik sich ausbildende Trennung in Kunst- und Gebrauchsmusik zurück. Im Zuge dieser Dichotomisierung gerät auch der diskontinuierliche Handlungsverlauf der italienischen Oper zunehmend in die Kritik.329 Die Sympathien des Erzählers sind dabei klar verteilt, sie gelten eindeutig der italienischen Vokalmusik und deren Repräsentanten Verdi.330 Alle Figuren, die sich dem Lager der Gegner Verdis zuordnen lassen, wie etwa Wagner, Italo, die Sängerin Margherita Dezorzi, Sassaroli und mit Einschränkungen auch Claudio Monteverdi werden als dekadent, lebensfern, narzisstisch und letztlich menschenverachtend, aber auch als kühl, berechnend und ohne tiefe Gefühle dargestellt. Dass diese Zuschreibungen sich in 328

Vgl. Hendrikje Mautner, Aus Kitsch wird Kunst, 35–44 und Thorsten Valk: Literarische Musikästhetik, 175f, 178, 188. 329 Vgl. ebd. 330 Für Werfels Werk lässt sich hier eine Kontinuität nachweisen, die sich als Primat der Melodie mit dem singenden Menschen im Zentrum beschreiben lässt. Vgl. Erich Wolfgang Partsch, „,Die Begierde nach Musik ist schon ein Musizieren‘. Zur Musikanschauung Franz Werfels“, in Sympaian, 23–32, hier 26f. In Werfels Werk und Ästhetik spielt Musik und die Welt der Oper von Beginn an eine zentrale Rolle, so etwa schon in den frühen Erzählungen Die Stagione, Die schwarze Messe, Nicht der Mörder der Ermordete ist schuldig und Die Erschaffung der Musik. Vgl. Anita Auckenthaler-Nikics, „Musikalität im frühen Erzählwerk Werfels“, in Sympaian, 65–76.

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

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Teilen widersprechen, dürfte offensichtlich sein. Dieser Umstand führt zu einigen Inkohärenzen bei der Merkmalsattribution und damit der psychologischen Glaubwürdigkeit der Figurendarstellung wie auch zu argumentativen Brüchen in den theoretischen Sätzen des Erzählers. Obwohl Wagner und seine Anhänger beispielsweise häufig als kalt oder maschinenartig gekennzeichnet werden, schildert sie der Erzähler nämlich ebenso häufig im Zustand der Ekstase und des dionysischen Rausches: Niemand schien zu merken, wie das irdische Gefäß dieser gewaltigen Vitalität [d.i. Wagner, C.H.], eine arme, überanspruchte Maschine, klopfte und zuckte. Nur seine Frau neben ihm war nervös, suchte ihn zu beruhigen, seine Rede zu dämmen, seinen Gang zu beschleunigen, um ihn endlich von dieser Gefolgschaft zu retten. Die jungen Menschen, an die Wagner sein Wort und seine Gestikulation richtete, waren nicht bei sich. Mit den Augen von Wüst-Fanatisierten, mit dem schlaff-offenen Mund von Trunkenen, mit den pfeifenden Atemstößen von Ekstatikern tranken sie die Worte, die sie nicht verstanden, nein, nicht die Worte tranken sie, sie tranken die Laute, sie tranken das Leben dieses Menschen, ein Leben zehnfach weiterer Dimension und höherer Potenz, wie es schien, als jedes andere. (VRO 21)

Genauer muss daher gesagt werden, dass es eine bestimmte Art von Emotionalität ist, die der vom Erzähler verfolgten Hochwertung von Verdis Persönlichkeit entspricht: nämlich diejenige, die sich mit dessen heteronomem, moralisch grundierten Kunstverständnis verbindet und als nicht dekadent und narzisstisch markiert ist. Begründet sehen der Erzähler und mit ihm auch Verdi und die diesem zugeordneten Figuren wie Bianca, Carvagno, der Senator, Dario und Mario die narzisstisch-selbstgenügsame Emotionalität der Wagnerianer in einer spezifisch modernen, allerdings in stark abwertender Weise geschilderten, quasi-religiös überhöhten Kunstvorstellung: O, bald wird sie der Norden ganz verschlungen haben, sie und alle goldenen Denkmäler der Mittelmeer-Gezeiten. Denn er allein ist an der Reihe der Herrschaft und drückt der Erde das harte Zeichen seiner Satansmoral auf. Die eckige Form, den Kubus, die Barschheit, die Maschine, die exakte Grimasse, die innere Nebel-Verschwommenheit, die Kaserne in tausend Formen, den leidenschaftslosen Mord, die Leistung aus Lebensleere, das Laster aus Unsinnlichkeit, den alkoholischen und intellektuellen Fusel, die amerikanische Hatz der sinnlos Einsamen, die hoffnungslose Trauer derer, die auf dem Eise Korn bauen müssen und keine Stimme zum Singen haben. Und sein Jahrtausend der Barbarei hat er erst angetreten, der nordische Luzifer, aber schon sind alle Hirne vergiftet. Verhöhnt und ohne Geltung schämen sich die leichtfüßigen Tugenden der Sonne: Der Adel der Trägheit, die ruhevolle Genügsamkeit inmitten des Überflusses, der herrliche Kuß ohne Nebengedanken und Reue, das Aufkochen des Blutes, seine abrupte Kälte, das tägliche Fest, der Dolchstoß ohne Besinnung, der rasche Krieg mit Fahnengeflatter, der am Abend die Feinde beim gemeinsamen Becher verläßt, der Gesang, den die Geschlechter sich reichen, damit die Lobpreisung niemals verstumme, die süße und heilige Symmetrie. Für lange nun ist euer Stern dahin! Lebet wohl, sterbet wohl! (VRO 256f)331 331

Dieser Kampf der zwei Prinzipien wird dabei explizit an Verdis Person gebunden: „Verdi, der solch einen langen Kampf gegen Menschen und Epochen kämpfen mußte, war niemals unterworfen worden; immer, welche Zeit die große Uhr auch schlug, immer blieb er der Mensch s e i n e r Zeit,

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Der Konflikt zwischen Verdi und Wagner wird wahlweise „christomythologisch“ überhöht als Kampf von Luzifer und antikem Gott, „national-klimatisch“ argumentierend als Gegensatz von kaltem Norden und warmem Süden oder abstrakter als Widerstreit einer emotional unterkühlten, bloß intellektuell kalkulierenden beziehungsweise emotional wie moralisch fragwürdigen Kunst und einer als unproblematisch ausgegebenen emotionalen Kunstproduktion dargestellt, die sich auf monistische Vorstellungen zurückführen lässt.332 Bezeichnenderweise kann der Erzähler Verdi in obigem Zitat allerdings nicht an die Stelle Gottes setzen, obwohl dies die passende Gegenposition zum luziferischen Wagner wäre, denn bereits zu Beginn wird Wagners Selbststilisierung als gottähnlicher Künstler als blasphemisch gebrandmarkt. Allerdings legt etwa die Beschreibung eines ehemaligen engen Freundes als „Judas“ (VRO 29) die Verdi zugedachte Rolle als Messias nahe. So sehr der Erzähler also darum bemüht ist, seinen Helden mit allen Attributen auszustatten, die ihn von vorneherein als heroisch-überlegenen Antipoden Wagners kennzeichnen, so problematisch erweist es sich im Folgenden, die einmal etablierte Axiologie mit Hilfe der dichotomischen Merkmalszuweisung im gesamten Roman aufrecht zu erhalten. So entfaltet Verdi eine ähnliche erotische Wirkung auf den Senator wie Wagner auf Italo (VRO 77, 102); Wagners Aristokratismus wird als elitär gebrandmarkt, Verdi selbst zieht sich aber ebenfalls, wenn auch aus Scheu, vor den Menschen zurück, obwohl der Erzähler gleichzeitig immer wieder dessen Volksnähe beteuert (VRO 31, 160); scheint Wagner ständig im Zustand der geniehaften Überhitzung durch Venedig zu laufen, so gilt dies für Verdi und den Senator in ähnlicher Weise (VRO 21, 100f); an Wagners Musik wird kritisiert, dass sie das Individuum auslösche, eine ähnliche Erfahrung stellt sich dann jedoch für Verdi, den Senator und den Erzähler in der emphatisch bejahten Karnevalsszene und beim Besuch in der italienischen Oper selbst ein etc. (VRO 373f, 377). Ein wesentlich größeres erzähllogisches Problem stellen in diesem Zusammenhang die moralischen Qualitäten dar, mit denen Verdi ausgestattet worden ist: Als gütiger, demütiger Bauer aus Sant’ Agata erweist er sich als der falsche Gegner für den luziferischen Wagner, sind es doch gerade diese Eigenschaften der Demut und Opferbereitschaft, aus denen heraus Verdi letztendlich zur Versöhnung mit dem Gegner geneigt sein muss. In dieser Versöhnungsbereitschaft zeigt sich paradoxerweise aber wiederum die moralische Überlegenheit Verdis wie seiner Kunst, so dass Valks Ansicht, die abschließende Versöhnung mit Wagner stelle einen Bruch mit der ursprünglichen dichotomischen Erzählkonzeption des Romans dar, hier widersprochen werden soll. Vielmehr erweist sich gerade in dieser finalen Geste der Versöhnung Verdis künstlerische und moralische Überlegenheit, die im symbolisch überhöhten Tod Wagners und dessen niemals ein Mann von Gestern, niemals ein Mann von Morgen, stets der Mann von heute, und als solcher frei und einsam auf dem Gipfel des Tage“ (VRO 98f, Sperrdruck im Original). 332 Vgl. dazu auch Jennifer E. Michaels, „Franz Werfel, die Oper und Giuseppe Verdi“, in Sympaian, 105–120, hier 111.

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

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vorheriger anerkennender Äußerungen in Bezug auf die italienische Oper und den Kontrahenten Verdi kulminiert und dadurch erzählerisch bestätigt wird. 333 Diese klar erkennbare Hierarchisierung von italienischer Oper und deutschem Musikdrama korrespondiert mit dem Primat eines dezidiert antimodern-heteronomen gegenüber einem modern-autonomen Kunstkonzept. Die italienische Oper erweist sich gegenüber der deutschen einerseits schon dadurch als überlegen, dass sie für eine Gemeinschaft geschaffen wird, gar naturwüchsig aus dieser hervorgeht. Andererseits wird ihr außerdem gemeinschafts- und sogar nationenbildende Kraft zuerkannt, sie wird vom Erzähler als moralisch und damit auch ästhetisch überlegene Kunstform präsentiert.334 Ihre Überlegenheit gewinnt sie allerdings aus der spezifischen Art ihrer Produktion, einer prononciert emotionalen Form der Inspiration. Verdis Schaffenskrise währt genau so lange, bis er wieder ein „Gefühl“ für seine Kunst gewonnen hat. Etwas vereinfacht ausgedrückt folgt Verdi, beglaubigt durch den Erzähler, einer lebensphilosophisch inspirierten Ästhetik des Herzens, die keine andere Regel kennt als diejenige des tief Gefühlten zur Legitimation des Geschaffenen als großer Kunst. So ruft er an zentraler Stelle programmatisch aus: Wenn mein Haus brennt und ich, starr vor Schreck, erkenne, daß in einem Zimmer das mir auf der Welt liebste Wesen in Todesgefahr schwebt, werde ich da den zur Rettung eilenden Feuerwehrleuten eine komplizierte Erklärung geben, wo sie dieses Zimmer finden sollen? Nein, ich werde versuchen, mit äußerster Kürze und Klarheit das N o t w e n d i g e ihnen zuzurufen, damit sie mich verstehen, ohne Zweifel verstehen!! Nichts anderes darf die Kunst tun. Sie auch ja ist ein Hilferuf des Herzens. Ist das aber ein echter Hilferuf, der sich selbst verwirrt, der im Grunde gar nicht verstanden werden will? Nein! Nein! Ein solcher Ruf kommt nicht aus wirklicher Not. (VRO 422, Sperrdruck im Original)335

Inspiration erwächst in diesem Modell künstlerischer Kreativität nur aus einer tief empfundenen existentiellen Not des Künstlers und wird damit insofern für den Protagonisten zum Problem, als diese Form der nicht-rationalen künstlerischen Produktion eben nicht planmäßig herbeigeführt werden kann. So ist im Roman des Öfteren vom „ung e heuerlic he[n ] Augenb lick“ (VRO 338f, Sperrdruck im Original) die Rede: Nach einem Anfall von Angst vor dem Ich-Verlust, der genauer als Tod der eigenen Seele beschrieben wird, folgt ein von Tränen begleiteter Moment der künstlerischen Eingebung für eine neue Melodie. Dies wird analeptisch am Beispiel des Gefangenenchors in Nabucco geschildert und wiederholt sich unmittelbar vor und während des Todes von Wagner mit einer Vorausdeutung auf die Komposition des Otello in den „Vendetta“333

Vgl. Thorsten Valk, Literarische Musikästhetik, 252. Vgl. VRO 40, 54, 94, 173, 264, 403. 335 Vgl. auch: „Die Deutschen schienen doch eine unheilbar literarische Nation zu sein, eine Nation von strebsamen Schuljungen. Die gebildete Anspielung war ihr größter Stolz. Der Maestro hatte vor wenigen Wochen den Faust von Goethe wieder gelesen. Schlug in diesen geistreichen Versen ein wirkliches Herz? Nein! Aber dafür war er durchsetzt mit wissenschaftlichen Terminologien und abseitigen Eitelkeiten. Welche Verlogenheit, dieses Stück ein Volksgedicht zu nennen!“ (VRO 321)

334

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Rufen.336 Auf diesen Moment der neomystisch anmutenden quasi-religiösen Zungenrede hin ist der gesamte Roman komponiert. So äußert sich auf der intradiegetischen Erzählebene etwa Claudio Monteverdi, der insgeheim die später von Verdi vertretenen Ansichten teilt, obwohl er nach außen eher ein „Wagnerianer“ zu sein scheint: „Alles ist ein überwältigender Synergismus. Die Welten und die Götter spielen einander in die Hand. Es gibt keine Einsamkeit. Auf den einzelnen kommt es nicht an. Das Individuum ist ein Irrtum. Aber die höhere Absicht vollbringt mittels dieses Irrtums die Wahrheit, die sie will. Nichts kommt aus uns. Und das ist der Sinn des Wortes: Herr, dein Wille geschehe. Aber wir sind verantwortlich dafür, daß, Herr, dein Wille geschehe! Alle Kunst ist nur Einflüsterung, die wir weitergeben. Wessen Ohr am reinsten hört, dessen Mund wird am reinsten tönen! Oh, Geige sein...“ (VRO 366)337

Mit Hilfe von Vorausdeutungen, aber auch durch die Schilderung der Angriffe auf Verdi und die Vernichtung der Lear-Partitur wird die Spannung bis zu diesem Augenblick der Inspiration aufrecht erhalten. Verdis künstlerische Unproduktivität wird dabei metaphorisch als Krankheit beschrieben, ausgelöst durch den scheinbaren Erfolg des intellektuell erdachten Musikdramas Wagner’scher Prägung und damit gleichbedeutend den Triumph einer kühl-rationalistischen respektive dekadent-narzisstischen Moderne.338 Der Roman lässt sich somit auch als symbolisch überhöhte Beschreibung der Restituierung eines durch künstlerische Modernisierungstendenzen geschwächten Modells eines funktional-heteronomen Kunstverständnisses lesen, das sich auf einen in erster Linie emotionalen Zusammenhang von Künstler, Welt und Rezipient beruft.339 Man kann diese polare Gegenüberstellung einer heteronom-funktionalen und einer autonom-narzisstischen Form des Opernschaffens durchaus als eindimensional bezeichnen, vor allem, da sie in dieser einseitigen Zuspitzung vom Erzähler argumentativ kaum durchzuhalten ist und immer wieder Widersprüche auf der Ebene der mimetischen wie auch der theoretischen Sätze und ebenso zwischen diesen Ebenen generiert, allerdings korrespondiert dieses prononciert irrationale Kunstverständnis durchaus mit dem dargestellten Gegenstand, der italienischen Oper. Genauer gesagt lässt sich der Verdi-Roman auch unter der Fragestellung betrachten, ob bestimmte, für die Oper charakteristische Darstellungsverfahren zumindest teilweise im Roman reproduziert werden. Im Folgenden soll daher gezeigt werden, dass sich einerseits Strukturähnlichkeiten des Romans mit der Textsorte Libretto nachweisen lassen, andererseits wird Werfels Roman der Oper auch als Anleitung zur adäquaten Rezeption der italienischen Oper gelesen. Diese These soll durch eine genauere Betrachtung der Technik der Emotionslenkung im Roman belegt werden. 336

Vgl. VRO 490f, 507f. Bezeichnenderweise ist Verdis Körperbau, wie bereits erwähnt, zu Beginn des Romans als „geigenhaft“ beschrieben worden. 338 Vgl. VRO 195, 381. 339 Diese Hochwertung des Gefühls gerade im Erleben von Musik mag auch von Schopenhauers Musikphilosophie beeinflusst sein. Vgl. Hans Wagener, „Werfel contra Wagner“, 92. 337

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

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3.4.1.2 Librettoanaloge Strukturen: Verdi als Metakommentar zur Gattung Oper In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Werfels Gesamtwerk wird häufig die Annahme vertreten, seine Lyrik und Prosa seien musikalisch: Franz Werfels [lyrische, C.H.] Ausdrucksformen sind immer musikalisch. Die rhythmische Reimprosa, die psalmodierenden Langzeilenstrophen, die häufigen Barkarolentakte, das arienhafte Melos, Adaptionen der Fugentechnik, kontrapunktische Konstellationen, polyphone Stimmführungen sind nur einige Beispiele hierfür. Das gilt ebenso für die Metaphernwelt der Prosa. [...] Zur Apotheose aller Versöhnung von Musik und Sprache, Ton und Mensch wird Werfel die italienische Oper mit ihrem Primat der Kantilene: Monteverdi, Rossini, Donizetti und allen voran Giuseppe Verdi.340

Schon die erste zu Werfels Œuvre verfasste Dissertation von Klarmann aus dem Jahr 1931 geht von dieser Musikalitätsthese aus. Klarmann nennt folgende, seines Erachtens nach als musikalisch zu bezeichnende Merkmale von Werfels Texten: musikbezogene 341 Titel, akustisch-lautmalerische Ausdrücke, rhythmisch-metrische Aspekte , Leitmotive, Klangbilder und Variationen von Motiven und Themen.342 Problematisch ist an diesem Merkmalskatalog, dass hier einige allgemeine strukturelle Kompositionsprinzipien wie Variation oder Leitmotiv metaphorisch als musikalische Strukturen bezeichnet werden – ein Missverständnis, das aus Klarmanns unkritischer Haltung gegenüber Werfels Musikkonzept resultiert, wie schon des Öfteren in der Forschung angemerkt worden ist.343 Genauer ist die von Fürst-Fiala aufgestellte Typologie von thematischen Bezugnahmen auf musikalische Strukturen in Werfels Werk. Sie nennt die Darstellung von Musik als transzendenter Kunst, die Schilderung von Begebenheiten aus dem Musikleben, die Beschreibung musikalischen Erlebens sowie eine – allerdings eher schwach ausgeprägte – musikalische Metaphorik als Referenzpunkte für intermediale Vergleiche in Werfels lyrischem Frühwerk. Die Annahme, die Klarmanns Arbeit implizit zugrunde liegt, dass sich nämlich auch stilistische Analogien zu musikalischen Strukturen in Werfels Werk aufzeigen ließen, verneint Fürst-Fiala hingegen. Auch in Bezug auf den Verdi-Roman ist die hier knapp erläuterte Musikalitätsthese geäußert worden, diesmal allerdings mit einem thematologischen Schwerpunkt. So kon340

Norbert Abels, Franz Werfel. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 65. Abels rekonstruiert allgemeiner eine „Erlösungstrias“ von Christentum, Weiblichkeit und Musik in Werfels Werk. Ebd. 56. Vgl. dazu auch Karlheinz F. Auckenthaler, „Einleitende Gedanken zum Thema , Musikalität bei Franz Werfel‘“, in Sympaian, 11–21. 341 Genauer identifiziert er steigende, fallende und gemischte Rhythmen mit einer Tendenz zum prophetisch-steigenden Rhythmus. Das Attribut „prophetisch“ bezieht sich auf den Inhalt der so rhythmisierten Passagen. Adolf D. Klarmann, Musikalität bei Werfel, 35, 37, 43. 342 Ebd. 6, 52, 63–77. 343 Vgl. z.B. Ingeborg Fürst-Fiala, „Das lyrische Frühwerk Franz Werfels und seine musikalischen Qualitäten”, in Sympaian, 47–64, hier 50. Ähnlich wie Klarmann argumentiert noch Kerekes, wenn er dem Erzählstil in Verdi eine fugenartige Form attestiert. Vgl. Gábor Kerekes, „Zwischen Leidenschaft und Leitmotiv? – Franz Werfels Verdi. Roman der Oper als Roman der Musik“, in Sympaian, 133–146, hier 145.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

statiert etwa Klarmann: „Werfel liebt das Opernhafte, Balladesk-Grausige, RomantischSensationelle“.344 Er hält fest, dass Werfel in der Stoffwahl zu Themen neige, die als besonders „opernhaft“ bezeichnet werden könnten.345 Allerdings qualifiziert er nicht weiter, welche Merkmale ein solch „opernhafter“ Stoff aufweisen müsse. Da eine Opernaufführung ein plurimediales Geschehen ist, das in der Romanform nicht bruchlos reproduziert werden kann, muss, will man der These von der Opernhaftigkeit des Verdi weiter nachgehen, erst einmal genauer expliziert werden, was unter dem Begriff der „Opernhaftigkeit” überhaupt verstanden werden kann, und zwar möglichst ohne weitreichende spekulative Annahmen über das Verhältnis von Sprache und Musik. Da das Thema einer Oper durch Sprache vorgegeben ist, lässt sich Klarmanns These mit einem Blick in die Librettoforschung untermauern und an Werfels Roman mit Einschränkungen auch belegen. Die Wahl eines Analyseverfahrens, dessen Ziel die Beschreibung librettoanaloger Strukturen in Erzähltexten ist, hat hierbei den Vorteil, dass keine intermedialen Vergleiche zwischen Sprache und Musik vorgenommen werden müssen, die, wie oben anhand von Klarmanns Merkmalskatalog angedeutet worden ist, durchaus problematisch sein können.346 Vielmehr können Merkmale der Textsorte Libretto mit Werfels Roman verglichen werden und im Anschluss lässt sich aus emotionstheoretischer Perspektive zeigen, dass sich die Strukturanalogien von Libretto und Verdi-Roman auch stilbildend auf dessen Erzählgestus ausgewirkt haben. Anders gesagt, lässt sich die in Bezug auf Werfels Prosa geäußerte Musikalitätsthese in ihrer stilistischen Ausprägung zumindest im Hinblick auf den Verdi auf diese Weise durchaus plausibel machen. Allgemeiner kann gezeigt werden, dass der Roman sich als Metakommentar zur Gattungsgeschichte der Oper lesen lässt, insofern als er einerseits librettohafte Textstrukturen thematisiert und nachahmt, und andererseits als Anweisung zum korrekten Verständnis und zur angemessenen Rezeptionsweise der Kunstform Oper verstanden werden kann. Dieser Untersuchungsperspektive im Hinblick auf librettoanaloge Strukturen wird der Vorzug gegeben gegenüber einer solchen, die allgemein „opernhafte“ Merkmale des Verdi in den Blick nimmt. Das „Opernhafte“ ist nämlich als plurimediales Phänomen für textanalytische Zwecke wesentlich schwieriger zu fassen. Zu seiner Betrachtung bedürfte es eines komplexeren, dem Medienwechsel angemessenen Instrumentariums, das noch zu erarbeiten wäre und das darüber hinaus gegenüber dem hier verfolgten Ziel

344

Adolf D. Klarmann, Musikalität bei Werfel, 32. Ebd. 45, 48. 346 Vgl. allgemein zu den Problemen solcher intermedialer Vergleiche mit dem Ziel des Nachweises von Strukturverwandtschaften Gerold W. Gruber, „Literatur und Musik – ein komparatives Dilemma“, in Literatur und Musik, 19–33. 345

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

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eines emotionsbezogenen typologischen Vergleichs von Libretto und Roman vermutlich keinen wesentlichen zusätzlichen Erkenntnisgewinn erbringen kann.347 Welche Strukturen sind also charakteristisch für die Textsorte Libretto? Albert Gier benennt insgesamt fünf konstitutive Merkmale von Libretti. Diese sind: - Kürze, - eine diskontinuierliche Zeitstruktur, - die relative Selbständigkeit der Handlungsteile, - eine paradigmatische Kontraststruktur, - der Primat des Wahrnehmbaren.348 Ein Libretto ist damit bekanntermaßen ein dramatischer Text zu einer Oper, einer Operette oder einem Musical, der als meist kürzeres literarisches Textsubstrat der musikalischen Komposition zum Zwecke der Vertonung unterlegt wird. Im Gegensatz zum Sprechdrama weist das Libretto eine stärker diskontinuierliche Zeitstruktur auf, bedingt durch die Dominanz von Arien und tableauartigen Ensembleszenen, während derer die äußere Handlung gewissermaßen „erstarrt“. Diese, aus der syntagmatischen Anordnung der Einzelszenen herausgehobenen paradigmatischen ariosen oder tableauartigen Elemente sind häufig durch eine zirkulär-repetitive Struktur gekennzeichnet – etwa in der in der italienischen Oper typischen Form der dacapo-Arie. Der kontemplative Charakter dieser Szenen offenbart sich darin, dass in ihnen das innere Erleben der Figuren im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, die kausallogische syntagmatische Verknüpfung der Handlung demgegenüber in den Hintergrund tritt. Einfache Oppositionen und Äquivalenzen innerhalb der Figurenkonstellation und dem in der Regel aus diesen resultierenden zentralen Konflikt erleichtern es dem Zuschauer, die Handlung auch dann mitzuverfolgen, wenn das Textverständnis durch den Gesang teils erschwert wird. Das innere Erleben der Figuren und deren zentrale innere Konflikte werden im äußeren Konflikt der eigentlichen Opernhandlung abgebildet. Dies führt zu einer antithetisch aufgebauten, eher statischen Kontraststruktur in den herausgehobenen Arien und Ensembles. Im Gegensatz zum Sprechdrama ist das prototypische Libretto nach Gier als stärker epische darstellende Gattung zu bezeichnen, die sich klar vom klassisch-aristotelischen, geschlossenen Drama unterscheidet: Die einzelnen Handlungsteile sind im Libretto selbstständiger, weniger stark aufeinander bezogen; gerade viele Buffoopern wiesen eine solch deutlich erkennbare episodische Struktur auf. Dieser von Gier beschriebene Prototyp des Librettos, der wesentlich von der italienischen Operntradition geprägt worden ist, wandelt sich erst im zwanzigsten Jahrhundert in der Nachfolge Wagners: Nun rückt stärker die Darstellung der Wirklichkeit in ihrer Totalität ins Zentrum, die Libretti weisen häufiger selbstreflexive Züge auf, indem nicht nur die Figuren 347

Vgl. dazu z.B. die nahezu tautologische und damit wenig hilfreiche Begriffsbestimmung des „Opernhaften“ bei Immacolata Amodeo, Das Opernhafte. Eine Studie zum „gusto melodrammatico“ in Italien und Europa, 9f. 348 Albert Gier, Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung, 3–14.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

aus dem zeitlichen Ablauf der Handlung herausgehoben, sondern auch auktoriale Erzählerfiguren eingeführt werden, die das Geschehen als Unbeteiligte kommentieren etc.349 Gegen eben diese Tendenzen ist ein wesentlicher Teil von Verdis und auch des Erzählers Kritik im Roman gerichtet. Auf emotionale Wirkungen bezogen lassen sich die von Gier benannten Merkmale des prototypischen, wesentlich von der italienischen Operntradition geprägten Librettos wie folgt qualifizieren: - eine auf einfachen Oppositionen und Äquivalenzen aufbauende dichotomische Figurenkonstellation, deren Sympathie- und Antipathiewerte eindeutig verteilt sind; - eine Dominanz der Schilderungen des inneren Erlebens dieser Figuren, insbesondere von deren emotionalen Zuständen und hier vor allem derjenigen der für sympathisch gehaltenen Figuren, vor allem des Protagonisten, mit daher hohem empathiegenerierenden Potenzial; - mehrere separate Handlungsstränge, die jeweils eigene Spannungsverläufe und Überraschungsmomente aufweisen können; - Dominanz von Schilderungen prototypisch emotional konnotierter, vor allem konflikthafter Situationen; - die Symbolisierung dieser Konflikthaftigkeit und der damit verbundenen Emotionen in äußeren Merkmalen, Attributen oder körpersprachlichem Verhalten der Figuren. Als charakteristisches Merkmal dieser Librettohaftigkeit lässt sich folglich auch ein Primat der Emotionalität benennen: Die ausführliche Darstellung der Emotionen der Figuren hat gegenüber der kausallogischen Verknüpfung der Handlung Vorrang; deren intensiver Nachvollzug wird dem Rezipienten insbesondere durch das plurimediale Zusammenwirken von Text, Musik und Schauspiel ermöglicht. Für Verdi gilt, dass sich ein Teil der oben genannten, emotionstheoretisch interessanten Merkmale von Libretti im Text wiederfinden lassen. So lassen sich mehrere Handlungsstränge des Romans benennen, die um hochgradig emotional konnotierte Konstellationen kreisen und die hier illustrierend genannt seien: Den zentralen Konflikt stellt natürlich Verdis Schaffenskrise dar, die gerade aus der Unzugänglichkeit des eigenen Gefühls für die künstlerische Inspiration resultiert. Dieser innere Konflikt des Helden wird am ausführlichsten geschildert und hat damit hohes empathie- und sympathiegenerierendes Potenzial, das aus dem schieren Umfang der intern fokalisierten Emotionsdarstellungen Verdis sowie der figurenbezogenen Axiologie des Romans resultiert. Der Rezipient erhält viele textuelle Angebote, sich in Verdis emotionalen Zustand hineinzuversetzen, und wird außerdem dazu angeregt ebenso wie der italienische Komponist selbst zu wünschen, dass dieser seine Schaffenskrise über349

Albert Gier, Das Libretto, 12f.

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

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winden möge.350 Dieser Konflikt wird im Roman nicht nur intern fokalisiert in Form eines Gedankenberichts, sondern häufig auch in der äußeren Handlung des Romans dargestellt. Dies geschieht vor allem in den wechselnden kurzen Begegnungen mit Wagner. Wagners Blick sah ein Menschengesicht, das er nicht kannte, ein Menschengesicht von großer Fremdheit, über das ihm keine Macht gegeben war, ein Gesicht, das sich hart verschloß und ihm nicht entgegenschmeichelte wie jedes andere. Er sah einen Augenstrahl, getränkt von Stolz und unnahbarer Einsamkeit, eine mühelose Kraft, die seiner nicht bedurfte, die ohne verborgenen Erobererwunsch bestand und wirkte. Verdis Blick sah zuerst ein fragendes, betroffenes und gleichsam gestörtes Auge. Aber sogleich verschwand die Hemmung, und die diesem Auge eingeborene Strahlung flammte auf: Liebeswerben, Einbeziehenwollen, etwas fast Weiblich-Mächtiges, etwas Ewig-Stürmisches, ein stummer, selbstbegeisterter Ruf: „Sei mein!“ (VRO 23)

Wie Valk bereits ausführlich belegt hat, wird Wagner deutlich als narzisstischer Décadent ganz in der Tradition Nietzsches dargestellt, von dem eine lebensfeindliche, erotische Anziehungskraft ausgeht, der sich seine Anhänger nicht entziehen können.351 Verdis Musik hingegen entspricht dem im Roman emphatisch vertretenen lebensphilosophischen Konzept in nahezu mustergültiger Weise: Seit Monaten tat Italo nichts anderes, als die deutsche Sprache studieren, oder in den Klavierauszügen von Tristan oder Walküre zu schwelgen. Wenn er vom Klavier aufstand, hatte er einen benommenen Kopf, zerschlagene Glieder wie nach ausschweifender Liebesnacht und seine Augen waren umrändert. Wie anders wirkte doch auf seinen Vater eine Verdische Melodie. Er mußte sie nur vor sich hinpfeifen, damit ihm die Augen hell wurden und irgend ein unternehmender kriegerischer Geist durch seinen Körper fuhr. (VRO 92f)

An anderer Stelle wird die Wirkung von Verdis Musik auf den Senator noch deutlicher als belebend, moralstärkend und heilsam beschrieben.352 Wagner hingegen ist der erste, der die Beziehung zwischen Italo und Bianca gefährdet, die zumindest von Biancas Seite durch ein tiefes Gefühl und ständige Opferbereitschaft moralisch aufgewertet wird. Wenn Italo sich dann in die nach dem Muster der zwischen einer veristischen und wagnerianischen Opernästhetik oszillierend gestalteten Figur der Sängerin Dezorzi verliebt, gelingt Wagner damit ein indirekter Sieg über die Verdi-Heroine Bianca. Sein Verrat an Bianca wird aber auch von Italo selbst als „moralische Defloration“353 (VRO 300) empfunden. Verdis viel häufigere Begegnungen mit den Anhängern Wagners wie

350

Vgl. z.B. gleich zu Beginn des Romans VRO 25-27, 30–32. Vgl. Thorsten Valk, Literarische Musikästhetik, 262, 266. 352 Vgl. VRO 42f. 353 Vgl. VRO 95. Valk weist im Übrigen, wie schon erwähnt, zu Recht darauf hin, dass das Wagnerbild im Roman deutliche Inkohärenzen aufweist: Einerseits wird Wagner eine erotisierend-narkotisierende Wirkung zugeschrieben, andererseits jedoch wird seine Musik als intellektualistisch und kalt abqualifiziert. Thorsten Valk, Literarische Musikästhetik, 194, 270. 351

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

Italo,354 Margherita Dezorzi, Sassaroli355 oder den Musikritikern Venedigs lassen sich in diesem Zusammenhang als „Stellvertreterkämpfe“ verstehen. Die Kussszene zwischen Verdi und der Dezorzi nimmt dabei zum einen die finale Versöhnung der beiden feindlichen Prinzipien von italienischer Oper und deutschem Musikdrama vorweg, zum anderen stellt sie ebenso wie diese letztlich doch einen Triumph des italienischen Komponisten dar. Denn Verdis Faszination für Margherita resultiert aus der geglückten Darstellung der Leonore in La forza del destino und ist damit Produkt ihres Bühneninstinkts. Als darstellende Künstlerin kennt die Dezorzi den italienischen Publikumsgeschmack genauer als Wagner, der nur vor einem ausgewählten, elitären Kreis von Anhängern musiziert.356 Die Dezorzi spürt die Anwesenheit Verdis und diese wiederum befähigt sie zu einer einzigartigen Darstellungsleistung: „Angefeuert durch die Gegenwart Verdis [...] gelang ihr an diesem Abend, was keiner Sängerin vor und nach ihr gelungen ist: Realistisch zu sein, ohne die Irrealität der Oper zu verletzen, opernhaft zu sein, ohne der Wahrheit Schaden zu tun.“ (VRO 466) Die Anziehungskraft, die sie auf Verdi ausübt, kann also einerseits als Resultat von Verdis unbedingtem Versöhnungswillen verstanden werden, andererseits aber auch als eine autoerotische Anziehung, die aus Margheritas erfühlter „werkgetreuer“ und „volksnaher“ Darstellung resultiert. Hinzu kommt die Namensgleichheit mit Margherita Barezzi, Verdis erster, frühverstorbener Frau. Die wechselseitige Anziehung kulminiert in einem Kuss: Die Musik beruhigte sich. Margherita Dezorzi näherte ihre glimmende Stirn dem Gesicht des Maestro. Ganz einfach und mit einem Klang von Demut flüsterte sie: „Giuseppe Verdi, mein Vater, küsset mich!“ Die duftende Sphäre des Mädchens umschloß den Maestro. Der Weihekuß, den Margherita heischte, war im Theaterleben nichts Ungewöhnliches. Aber auch diese Geste verlor im Wunsch der Dezorzi alles Gewöhnliche, Theatralische, bekam eine schönere Bedeutung. Der Maestro drückte leicht seine Lippen auf die Stirn des Mädchens. Margherita aber hob ihr Gesicht und näherte ihren Mund den Lippen des Mannes, der von kurzem Rausch überwunden, die Sängerin an sich preßte und einen wilden Kuß empfing. (VRO 474)

In der Kussszene kann mit vielfältigen emotionalen Wirkungen gerechnet werden: Sympathiebedingte Freude über die Anerkennung Verdis durch die Wagnerianerin, aber auch dem Volk nahestehende Künstlerin, über den dadurch errungenen Sieg über Wagner; empathische Trauer über die Erinnerung an die verstorbene Familie sowie Sehn354

Es ist Italo, der heimlich Klavierauszüge von Tristan und Isolde in Verdis Hotelzimmer platziert und damit die Krise des Komponisten verschärft. VRO 129f. 355 Vgl. VRO 199, 201, 222–233. Auch die Auseinandersetzung mit Sassaroli, der sich selbst als Vorläufer Wagners versteht, endet mit dem Nachweis von Sassarolis Korrumpierbarkeit und damit als Sieg Verdis. Darüber hinaus ist Sassaroli als lächerliche Figur dargestellt, deren neidvoll-haltlose Anschuldigungen gegen Verdi von dessen Verleger Ricordi öffentlich gemacht werden und deren komische Wirkung im Roman explizit thematisiert wird. Vgl. VRO 211. 356 Vgl. VRO 11.

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

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sucht nach Anerkennung und Liebe durch die verlorene Ehefrau, Überraschung und möglicherweise Ärger über den erschlichenen Kuss auf den Mund und Verdis Reaktion darauf. Gleichzeitig geht die Kussszene Verdis künstlerischer Erneuerung und Wagners Tod unmittelbar voraus, markiert einen Wendepunkt der Handlung und dient damit der Spannungssteigerung. Diese Szene mag als deutlich kolportagehaft empfunden werden, allerdings bündelt sie eine Vielzahl von im Roman entfalteten Isotopien und Konfliktpotenzialen und kann damit als eine emotionale Kernszene des Verdi bezeichnet werden. Zusätzlich zu diesen, in verschiedenen Episoden des Romans geschilderten Aufeinandertreffen zwischen Verdi und den Wagnerianern, muss dieser sich und seine Kunst auch in den Auseinandersetzungen mit dem Vertreter der alten Tradition des Belcanto, personifiziert durch den Marchese Gritti, und dem Neutöner Fischböck verteidigen: Gritti steht symbolisch für die alte, selbstgenügsam im Wohlklang schwelgende Tradition der belcantesken italienischen Oper in der Nachfolge Rossinis. Wie der Marchese selbst, wird diese jedoch als überlebt dargestellt. Seine fast zwanghaften Opernbesuche erhalten diesen zwar am Leben, allerdings erschöpfen sie sich mittlerweile auch in ihrer rein quantitativ-registrierenden Funktion als Zeitmaß für dem Tod abgetrotzte Lebenstage. Alle Besuche werden wie in Don Giovannis Register zu diesem Zweck von Grittis Diener vermerkt. Die neueren künstlerischen Entwicklungen der Oper kennt Gritti nicht, ohne dies allerdings als Mangel zu empfinden. Dennoch wohnt er der Aufführung von La forza del destino bei und beglaubigt damit Verdis gelungene Erneuerung der traditionellen Form der italienischen Oper durch seine Anwesenheit. Zu Beginn des Romans hatte er Verdis Leistung als Opernkomponist noch mit der Titulierung als „Maestro Filosofo“ einerseits bestätigt, andererseits aber auch durch die Wahl dieses Beinamens getadelt. Mit Grittis Alter geht eine Emotionslosigkeit einher, die den leeren Formalismus der belcantesken Operntradition veranschaulichen und damit Verdis Erneuerungsbestrebungen erzähllogisch begründen soll. Erst als Grittis Sammlung den Flammen zum Opfer fällt, zeigt der hundertfünfjährige Marchese „echte“ Gefühle: „Leiden und Leidenschaft waren plötzlich in diesem verkarsteten Köper da, der doch nur dadurch zu leben schien, daß jene Folgen des Lebens ihn längst vergessen hat357 (VRO 415) Wie die Manuskriptverbrennung des Lear beglaubigt so auch die ten.“ Episode des Brandes von Grittis Sammlung und dessen anschließender Wiederbelebung Verdis Aufgabe als Erneuerer der alten, als überlebt markierten italienischen Operntradition. Verdis Schaffenskrise kann, betrachtet man Grittis Funktion im symbolischen Figurenensemble, auch als Ausdruck der Schwierigkeiten verstanden werden, die sich aus seinem Bemühen ergeben, die positiven Elemente der überkommenen Tradition zu bewahren, diese jedoch gleichzeitig auch zu reformieren und den gegenwärtigen Verhältnissen und Bedürfnissen des Publikums anzupassen. Gritti und Wagner können da-

357

Vgl. außerdem zum oben gesagten VRO 66, 68f, 70, 73, 139, 415, 469f.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

mit als personifizierte Prinzipien von Tradition und Moderne angesehen werden, zwischen denen Verdi vermitteln muss. Ein weiterer Vertreter einer zugleich modernen wie in seinem Rückbezug auf die Formstrenge der Musik des Barock auch restaurativen Kunst ist dagegen Matthias 358 Als Gegner eines vor allem die Emotionen der Hörer ansprechenden Fischböck. Musikkonzeptes reiht sich Fischböck damit einerseits in die Riege der Kontrahenten Verdis ein, auch wenn ihm dieser nur unter Pseudonym entgegentritt.359 Andererseits bewundert er dennoch Verdis Kunstverstand, vertraut auf dessen Urteil und bestätigt damit wider den eigenen Willen die Überlegenheit Verdis im Einklang mit der dichotomen Axiologie des Romans. Fischböcks musiktheoretisches Konzept, das einen Ausweg aus der spätromantischen Kompositionstechnik weisen will, wird von Verdi gar nicht weiter kommentiert, sondern von diesem wie vom Erzähler als verblendet markiert. Gleichwohl empfinden sowohl Verdi als vermutlich auch der Rezipient mit ihm bei seinem Tod Mitgefühl mit Fischböcks Schicksal, das ihn letztlich in die Vergessenheit führt.360 Fischböcks von disparaten Elementen romantischer und neusachlicher ästhetischer Ansichten geprägtes Musikverständnis wird vom Erzähler und vom Protagonisten eindeutig als Irrweg gekennzeichnet. Ein distanzierter Leser mit Sympathien für die spätromantisch-wagnerianische oder die atonale beziehungsweise dodekaphone Musik wird allerdings befremdet sein von der pauschalen Ablehnung, mit der Verdi Fischböck begegnet, – und möglicherweise geradezu empört über die bewusste Täuschung des Komponisten an seinem Sterbebett.361 Weitere emotional besonders wirkmächtige Situationen des Romans stellen Verdis des Öfteren geschilderte Sehnsucht nach den beiden früh verstorbenen Kindern und seiner ersten Ehefrau Margherita Barezzi dar;362 weiterhin die asymmetrische Freundschaft zwischen Verdi und dem Senator;363 die unglückliche „Vierecksbeziehung“ zwi358

Ausführlicher geht Valk auf die musikästhetischen Debatten ein, die in der Figur Fischböcks gebündelt ihren Niederschlag im Roman gefunden haben. Biographische Bezüge lassen sich nachweisen zu Ernst Krenek, Anton Webern, Joseph Matthias Hauer und Francesco Maria Piave. Vgl. Thorsten Valk, „Die Geburt der Zwölftontechnik aus dem Geist der Spätromantik. Musikästhetik als Kulturkritik in Werfels ,Verdi‘-Roman“; Hendrikje Mautner, Aus Kitsch wird Kunst, 177. 359 Vgl. VRO 285f. 360 „Verdis Auge umfaßt das Bild des Sterbenden, den er nie mehr sehen wird. Das Antlitz eines gotischen Bildwerks hat die Farbe des Zwielichts. Wieder dieser Gedanke: ,Hier geht ein bedeutender Mensch zugrunde. Keiner wird von ihm wissen.‘ Seine Hand berührt zum Abschied die Fieberstirn, die arm-trockenen blonden Haare.“ (VRO 532) 361 Vgl. VRO 529–531. 362 Diese führt, wie oben schon ausgeführt worden ist, zum Kuss mit Margherita Dezorzi, und zu dem – unerfüllten – Wunsch den kleinen Hans Fischböck zu adoptieren. Vgl. VRO 243, 274, 447. 363 Der Senator liebt Verdi mit „Zärtlichkeit“ und „lebt für ihn“. Hier offenbart sich in der Figurencharakterisierung eine vermutlich nicht intendierte Parallele zwischen Verdi und Wagner, denn ähnlich wie Wagner auf Italo, übt auch Verdi eine fast erotische Anziehung auf den Senator aus – auch wenn diese in einer signifkant anderen, belebenden Wirkung ihren Niederschlag findet. Vgl. VRO 45f, 77f, 102, 546f.

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schen Italo, Margherita Dezorzi, Bianca und Doktor Carvagno;364 die nur angedeuteten monetären Probleme von Fischböcks Familie365 sowie Fischböcks tödliche Krankheit366 und seine als wahnhaft gekennzeichnete Vorstellung von der großen Künstlerkarriere; das Schicksal des verkrüppelten Sängers Mario; die Entfremdung des Senators von seinen Söhnen Italo und Renzo und seine damit einhergehende Vereinsamung; schließlich der Tod Wagners und die Geburt von Biancas und Italos Kind367 am Ende des Romans. Letztlich lassen sich alle im Roman geschilderten Konflikte als Ableger des zentralen Konfliktes zwischen Wagner und Verdi deuten, der in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder neu ausgetragen wird und schließlich in der Vereinigung der Gegensätze mündet, allerdings mit einer deutlichen triumphalen Hochwertung der italienischen Oper im „Nachspiel“. Verbrüderung und Unterwerfung liegen mit anderen Worten im Roman eng beieinander, am Ende steht allerdings Verdis über Wagners Tod hinausragender persönlicher Erfolg als Opernkomponist. Diese Konstellationen bilden die Konfliktkerne des Romans. Um sie herum entfalten sich emotionale Szenen, die von Wut, Angst und Verzweiflung, Trauer, Liebe, Hass und nicht zuletzt Freude geprägt sind. Alle diese Gefühle werden vom Erzähler ausführlich präsentiert und als intensive emotionale Erfahrungen dargestellt. Die ostentative Präsentation der Intensität dieser Emotionen übersteigt dabei möglicherweise die an mimetischen Maßstäben gemessene psychologische Glaubwürdigkeit der Figurendar364

Hier handelt es sich um eine klassisch „heine’sche“, allerdings vollkommen ironiefreie Situation: Während Italo die Dezorzi liebt, liebt diese ihn nicht, Bianca wiederum liebt Italo, Carvagno entdeckt erst dann die Liebe zu Bianca wieder, als diese mit Italos Kind schwanger ist und erkrankt und ihm klar wird, dass er in Italo einen Rivalen hat. Die Gestaltung dieser Konstellation der unglücklich liebenden Paare mag von derjenigen in Rigoletto zwischen Gilda, dem Herzog, Maddalena und Rigoletto beeinflusst worden sein. Im Text jedenfalls wird Italo explizit mit dem Herzog von Mantua verglichen (VRO 400). Bianca dagegen wird als opferbereiter, verzichtender Frauentyp geschildert, den Verdi selbst zu demjenigen erklärt, den er in seinen Opern bevorzugt dargestellt habe, indem er Carvagnos Feststellung zustimmt: „Sie haben, Signor Maestro, in Ihren Dramen fast durchwegs ein und denselben Frauentypus dargestellt. Die Liebende, die vom Manne aufgeopfert wird, oder sich selbst für ihn aufopfert. Ist es nicht so?“ Carvagnos Analyse gipfelt in der Rezeptionsanweisung: „Mitleid mit der Frau! Ja, das ist das Wort für Ihre Musik, Maestro. Mitleid mit der Frau!“ (VRO 240) Die nachweisbaren intertextuellen Bezüge zu verschiedenen Libretti Verdis können dabei als rezeptionssteuernde Hinweise auf den librettoanalogen Aufbau des Romans aufgefasst werden. 365 Die vor allem seine, wie Bianca überaus opferbereite Frau Agathe und den Sohn Hans treffen. Vgl. VRO 144, 291, 322. 366 Die Krankheit wird von Carvagno als körperliches, nach heutiger Terminologie vermutlich als „psychosomatisch“ zu bezeichnendes Symptom gedeutet: „Vielleicht gibt es Erregungszustände des Körpers, die von geistigen Einflüssen hervorgerufen werden. Bei diesem Fischböck scheint es, als ob der ganze Lebensprozeß, ungeduldig geworden, in höherer Verbrennungstemperatur ablaufen würde.“ (VRO 303) Bezeichnenderweise sterben Fischböck und Wagner kurz hintereinander und Fischböcks Tod hat eine Revitalisierung Verdis zur Folge. Vgl. VRO 503, 532f. 367 Betrachtet man Bianca als typische Verdi-Heroine, Italo dagegen als Wagner zugeordnete Figur, so lässt sich die Geburt des Kindes als Sinnbild der finalen Vereinigung der Gegensätze verstehen.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

stellung, beglaubigt aber die Notwendigkeit dieser deutlichen Schwerpunktsetzung bei der Schilderung der Innenansichten der Figuren. Dies verkündet der Erzähler auch programmatisch, indem er ausruft: „[...] – aber das Ereignis der Seelen mißt nicht nach Zeit und Bewußtsein.“ (VRO 23) Narratologisch gewendet treten Erzählzeit und erzählte Zeit im Roman schon aus programmatischen Erwägungen des Erzählers heraus häufig sehr weit auseinander. Die Dichotomie der Figurenkonstellation führt darüber hinaus zur Herausbildung von Suspense- und Rätselspannung. Zu Beginn des Romans ergeben sich eine ganze Reihe von Fragen, die für die gesamte Lektüre rezeptions- und antizipationsleitend wirken: Werden Verdi und Wagner sich begegnen? Wird Italo Bianca betrügen? Carvagno die Affäre entdecken? Gritti überleben? Deintensivierend wirkt sich allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit der Umstand aus, dass durch die typenhaft allegorisierenden Tendenzen der Figurenzeichnung und die schon im Vorwort ausgedrückte bewundernde Einstellung zu Verdi die abschließende siegreiche Überwindung der Schaffenskrise und der Wagner’schen Konkurrenz vorweggenommen werden. Das Vorwort sorgt in Kombination mit dem Titel darüber hinaus bereits vor Beginn der eigentlichen Romanlektüre für eine durch das persönliche Bekenntnis des Autors legitimierte emotionale Einstellung der Hochachtung für den Protagonisten: Er [Verdi, C.H.], der vor der Öffentlichkeit Schauder empfand, der die Zeitungen die Geißel unserer Epoche nannte, der die Publikation nachgelassener Briefe als Unrecht brandmarkte, der (nach Rossinis Ausspruch) sich in Paris alle Chancen verdarb, weil er es verabscheute Visiten zu machen, der Mann, der unnahbar auf seinem Hof lebte, - er sollte sich nicht wehren, als Hauptperson in einem Roman zu figurieren? Die Liebe, die Begeisterung, die ungetrübte Leidenschaft für seine Musik, ein Nicht-Loskommen von ihr, die Vertiefung in sein Werk, sein Leben, seine Menschlichkeit, all das hat ihn schließlich überwunden. Nicht ohne Bedingung freilich wollte er sich ergeben. Wie in alten Büchern die Nachsicht des Lesers, mußte während dieser Arbeit die Nachsicht des strengen Helden angerufen werden, der nicht die geringste Verletzung seiner Wahrheit dulden wollte. (VRO „Vorbericht“)

Hinzu kommt möglicherweise kulturhistorisches Wissen darüber, dass Wagner in Venedig gestorben ist, während Verdi ihn überlebt hat. Genauer konzentriert sich daher die Spannung vermutlich auf die noch unbekannte Nebenhandlung sowie auf die Frage, ob und wie die beiden Kontrahenten sich begegnen werden und wie die dann zu erwartende Auseinandersetzung gestaltet sein wird, außerdem darauf, wie Verdi seine Schaffenskrise schließlich überwinden wird. Emotionale Höhepunkte des Romans sind mit Sicherheit Verdis siegreiche Auseinandersetzungen mit Sassaroli, der Dezorzi und Fischböck, seine kurze, indirekte Begegnung mit Wagner, bei der dieser durch sein Verhalten Verdis Musik gegenüber seinen Kritikern verteidigt368, Verdis Autodafé der Lear-Partitur sowie abschließend die Rück368

So geht er während des Karnevals auf die Banda zu, die Verdis Musik spielt, und genießt offenkundig, was er hört. Im Anschluss verteidigt er die italienische Operntradition in der Nachfolge Be-

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kehr seiner musikalischen Schaffenskraft. Diese wird mit Hilfe stark emotionalisierender Stilmittel und durch die Kapitelüberschrift als finaler Höhepunkt des Erzählten gekennzeichnet: Zeitgleich mit Verdis Inspirationsmoment bricht die Sonne durch und beendet den venezianischen Winter, die Glocken läuten den Beginn der Fastenzeit ein (VRO 495, 497). Das Kapitel ist mit „Der Ausbruch der Melodie“ überschrieben und damit in die ästhetischen und poetologischen Erwägungen des Erzählers eingepasst. Verdis wiederkehrende Schaffenskraft wird vom Erzähler mit Hilfe einer Quellenmetaphorik dargestellt: Dem Maestro scheint es, als hätte ein jahrzehntelanges Duell, ein täglicher und nächtlicher Zweikampf stattgefunden, und jetzt sei er doch Sieger geblieben, nachdem er sich schon ergeben hatte. Seine Lungen füllen sich mit der schwarz-braunen Luft dieser Siegesfreude. Er denkt das Gleichnis der Quellen wieder: ,Will die eine fließen, muß die andere versiegen. Wagner ist tot.‘ Er kann nicht mehr weiterwirken. Vollendet, sichtbar, ohne neues Wachstum liegt das Seinige vor aller Augen. Der Maestro aber lebt noch. Wer weiß? Er lebt noch, folglich gibt es keine Möglichkeit, die nicht sein wäre! Er fühlt den wilden Blick, den diese Freude aus den dunkeln Eingeweiden am Herzen vorbei in sein Auge pumpt. (VRO 507)

Solche symptomatischen Schilderungen der physiologischen Komponenten emotionalen Erlebens finden sich häufiger im Roman; vor allem Verdis emotionale Zustände werden in dieser Weise als genuin körperliche Erlebenszustände geschildert und gedeutet: „Das erstemal im Leben konnte er stetige Mattigkeit nicht abschütteln, in seinem Körper lebte die Empfindung schweren Blutverlustes, in seinem Gemüt ein unbegreifllinis gegen Italos Kritik: „,Ich – sehen Sie –, in meinen Anfängen war durchaus der italienischen Melodie verfallen. Sie war die erste musikalische Wonne meiner Jugend. Es gibt eine ganz verschollene, oder besser, unterdrückte Oper von mir, in der ich recht orgiastisch dem Bellinismus geopfert habe. Mit zwanzig Jahren natürlich! Und heute, nach so vielen Jahrzehnten, verstehe ich meine Anfänge wieder. Das ist wohl merkwürdig. Aber die Entwicklung des Menschen ist eine Entwicklung zum Reaktionär. Sollte ich nochmals eine Oper schreiben, ihre Partitur würde noch durchsichtiger sein als die des Parsifal! Nun, ich sage es offen, Bellini war trotz aller Seichtigkeit der Faktur der Vater der langgeschwungenen Opernmelodie, die für alle dramatische Musik in der Folge maßgebend geworden ist. Ich selbst muß ihm und Spontini dankbar sein. Noch im Jubelchor des Lohengrin ist dieser treffliche und kriegerische Narr von Spontini deutlich zu erkennen. [...] Vor einigen Tagen am Karnevalsfest hat die Blechmusik der Piazza eine Phantasie aus einer neueren Oper gespielt. Ich kenne das Stück nicht. Aber das war echte Musik...‘“ (VRO 441) Wagners letzte Worte sind bezeichnenderweise „Caro mio amico, il carnevale è andato.“ (VRO 503) Er beendet damit sein Leben so, wie nach dem Feuerwerk und Verdis persönlichem Autodafé des Lear der venezianische Karneval beendet worden ist. Vgl. VRO 405, 423. Kompositorisch werden hier die verschiedenen Isotopieebenen des Romans zusammengeführt: Wie der Aschermittwoch das Ende des närrischen Treibens und damit das Ende der Unmoral markiert, markiert Wagners Tod das Ende einer als falsch apostrophierten, spezifisch modernen Entwicklung der Operngeschichte. Im Ausspruch Wagners wird diese Entwicklung als richtig anerkannt und damit Verdis künstlerischer Position als der dauerhafteren, realistischeren und wirkmächtigeren stattgegeben.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

liches Heimweh, dessen Ziel er nicht wußte.“ (VRO 455) Dies korrespondiert in auffälliger Weise mit der Naturalisierung der italienischen Oper, die den ganzen Roman durchzieht und diese als gleichsam natürlich gegebene Form des Welterlebens ausweist. So wird etwa die da-capo-Arie als natürliche Form des Gesangs präsentiert, gleiches gilt für die Ensembleszenen.369 Dementsprechend ist Verdi als intuitiv schaffender Künstler dargestellt, der diese immanente Naturgesetzlichkeit des Gesangs und der Melodie erkennt und in Musik umsetzt. So sehr der Erzähler dabei gegen das elitäre Künstlerbild der Romantik wettert, das Wagner in prototypischer Form verkörpert, so deutlich sind doch auch in der Figur Verdis die Bezüge zum romantischen Geniegedanken.370 Allerdings lässt sich der ganze Roman als Überwindung des Zwei-Welten-Modells verstehen, das in der romantischen Musikästhetik zunehmend problematisiert worden war. Diese Überwindung gelingt wiederum „naturwüchsig“ durch die Rückkehr zur und die Erneuerung der Tradition durch den emotionalen Zugang zum „Leben“, der Verdis Kreativität wieder entfacht.371 Global desorientierende Schreibverfahren lassen sich dagegen nicht benennen. Überraschung vermag möglicherweise die Tatsache auszulösen, dass ein Treffen der beiden Kombattanten Verdi und Wagner nicht stattfindet – oder zumindest kein argumentativer Austausch zwischen beiden. Die Erzählkonstruktion des Romans ist aber insgesamt so gestaltet, dass in keiner Passage ein basales Textverständnis in nennenswerter Weise gestört werden würde. Insgesamt lässt sich also plausibel machen, dass der Roman gewisse Strukturähnlichkeiten mit einem Opernlibretto aufweist und darüber hinaus die fehlende Plurimedialität der Kunstform Oper durch ein Schreibverfahren der emotionalen Überwältigung auszugleichen versucht. So werden offensichtliche argumentative Widersprüche des Erzählers und Inkonsistenzen in der Figurendarstellung durch die in nahezu jeder Textpassage nachweisbaren stark emotionalisierenden Darstellungsverfahren nicht aufgehoben, letztlich aber doch insofern nivelliert, als immer wieder emphatisch betont wird, dass diese Form permanenter intensiver emotionaler Bewegtheit die adäquate Form des Welt- und Selbsterlebens im Leben wie in der Kunst darstellen solle. Argumentative Stringenz oder eine konsistente Figurenzeichnung sind hingegen offensichtlich kein erklärtes Ziel des Erzählers, dienen Argumentationsmuster und Figurendarstellung doch lediglich der im Text vorherrschenden Axiologie. Dem heteronomen Kunstkonzept, das Verdi im Roman vertritt – Valk nennt als wesentliche Charakteristika einen klaren Adressatenbezug, eine deutlich erkennbare Zweckorientierung und eine programmatische Ausrichtung der Kunst auf die Aufnahme und Verarbeitung aktueller Tendenzen der Zeit372 – 369

Vgl. VRO 173, 264, 403. Vgl. VRO 456f. 371 Vgl. Thorsten Valk, Literarische Musikästhetik, 42, 225. 372 Vgl. Thorsten Valk, Literarische Musikästhetik, 217. Im Gegensatz zu Valk würde ich dieses Kunstverständnis jedoch nicht als vormodernes, sondern als antimodernes Konstrukt verstehen, 370

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liegt als höchster Wert derjenige des erlebten Augenblicks zugrunde, spezifischer des emotional erfahrenen Moments. Damit folgt er einer librettohaften Textästhetik, nach der einige konfliktbeladene, stark emotional konnotierte Szenen, insbesondere deren intrinsische Verarbeitung durch die Figuren im Zentrum der Romanhandlung stehen. Die qualitative Ausgestaltung der im Libretto knapp umrissenen Situationen, die in der Oper von der Musik übernommen wird, muss dabei im Roman sprachlich substituiert werden. Die Annahme, dass ein solcher Zusammenhang von emotionalisierendem Erzählstil und einer librettoanalogen Ästhetik besteht, lässt sich zusätzlich durch die Beobachtung erhärten, dass im Roman selbst explizite Verweise auf die Libretti Verdis nachgewiesen werden können. In der Regel treten solche intertextuellen Kommentare dann auf, wenn Verdis Auseinandersetzung mit dem Lear-Libretto im Mittelpunkt der Handlung steht. So entwirft der Erzähler etwa in nuce eine Poetik des Librettos, als er Sommas Umarbeitung des Lear-Stoffes für die Oper thematisiert. Dabei hebt er besonders die Unterschiede zwischen Sprechdrama und Opernlibretto hervor, die in der Konzentration auf wenige Höhepunkte der dargestellten Handlung gegenüber der stringenten kausallogischen Verknüpfung im Drama bestehe, und wertet dabei die dahinter stehende Poetologie entsprechend auf: Somma noch sehr abhängig vom Typus des italienischen Melodrams, wie es sich von Metastasio zu Felice Romani hinüber entwickelt hatte, konzentrierte Shakespeares Tragödie auf drei Akte, das heißt auf die großen Steigerungsszenen, die durch jene flüchtige, mit wegwerfender Hand gefügte Motivation verbunden wurden, die solchen Texten eben den Charakter des Opernhaften gab. Das Vorgehen dieser Librettisten war gar nicht so unweise, als die ästhetische Schulmeisterei uns beibringen will, denn das Drama der Musik spielt auf einer ganz anderen Ebene als das Drama der handelnden Leidenschaften, und nimmer können die beiden Sphären sich berühren. [...] Die Sendung Verdis war es, die traditionelle Oper, die Oper an sich zu retten und ihre Entwicklung für die Zukunft zu sichern. Seinem Genius hatte die Gedenn es ist in nicht übersehbarer Weise gegen die von Wagner, Fischböck, Bizet oder Sassaroli vertretene, auch sprachlich als „modern“ markierte Vorstellung von Musik gerichtet. Diese antimoderne Ästhetik gilt allerdings in Bezug auf die Kompositionsverfahren. In der Stoffwahl hingegen ist Verdi entschieden progressiver als Wagner, wie auch Valk bemerkt. Vgl. ebd. 219, Anm. 76. So überlegt Verdi Texte von Zola zu vertonen. Vgl. VRO 152. Allgemein schätzt er durchaus die technischen und gesellschaftlichen Errungenschaften der Moderne. Vgl. VRO 281, 390. Dem gegenüber steht allerdings die dezidierte Moderne- und Technikkritik des Erzählers, die im Wesentlichen als Kritik an der Spätromantik und der Décadence aufzufassen sind. Vgl. VRO 298. Insgesamt überwiegen damit im Roman die antimodernen Tendenzen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Erhard Bahr, „Modernism and Antimodernism in Werfel’s Work between 1923 and 1933: A Reassessment“, 416, der allgemeiner resümiert, dass Werfels erzählerisches Werk zwischen 1923 und 1933 insgesamt zwischen Modernismus und Antimodernismus changiere. Vgl. ebd. 415. Die Frage nach der Modernität von Werfels Werk ist in der Forschung insgesamt umstritten. Aufgrund des hier vertretenen Modernebegriffs einer allgemeinen Bezugnahme auf Modernisierungsphänomene kann der Roman jedoch durchaus auch in seiner antimodernen Ausrichtung als in einem weiten Sinne moderner Roman bezeichnet werden, auch wenn dies nicht unbedingt mit der Wahl von Stilmitteln einhergeht, die in der Literaturwissenschaft als im engeren Sinne ,modern‘ zu klassifizierende gehandelt werden.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven schichte die schwere Doppelaufgabe anvertraut, die alte leergewordene Form zu wahren, sie der Menschen-Wahrheit zu versöhnen und dennoch nicht an das musikalische Drama des Nordens zu verraten. Natürlich war ihm diese Aufgabe kein Programm, aber bis in die Nervenenden erfüllte sie ihn als Leben. (VRO 116f)

Die Konzentration auf einige Steigerungsszenen lässt sich auch im Roman identifizieren, vor allem gegen Ende. Zu nennen wären etwa die Karnevalsszene und die anschließende Vernichtung des Lear, die Aufführung von La forza del destino, der Tod Fischböcks und Wagners und die Geburt des Kindes sowie Verdis wiederkehrende kompositorische Fähigkeiten. Dem gehen die bereits oben ausführlich beschriebenen Stellvertreterkämpfe zwischen Verdi und den Anhängern Wagners und der alten italienischen Operntradition voraus. Die mangelnde kausale Motivation und Verknüpfung der einzelnen Szenen wird dabei nicht als Defizit begriffen, vielmehr ersetze die Oper diese für das Drama charakteristische Form der Handlungsführung durch eine thematische Schwerpunktverlagerung hin zu einer schwach motivierten Abfolge stark emotional konnotierter Szenen. So imaginiert Verdi sich selbst in der Rolle eines Librettisten, der das Erleben der handelnden Charaktere selbst in den Mittelpunkt stellt: Ach, alles drängte in ihm zum Ausruf, zum Aufschrei, zur Kürze, zur Interjektion! Wäre es möglich gewesen, hätte er Opern komponiert, deren Text nur Jubelrufe, Freudenlaute, Seufzer, Schmerz- und Racheschreie hätten sein müssen. Wozu Sätze aus vielen Worten, die doch niemand verstehn konnte, wenn Musik sie trug. Die musikalische Rede hat eine andere Logik als die des Wortes. Wozu also diese langen, seitenlangen Auseinandersetzungen mythologischer Götter, die begriffliche Diskussionen miteinander führen, und nur zu dem Zweck, daß ein nervösgewordenes Orchester diese Langeweile zu ertränken versucht. Nein! Darin lag eine Unwahrheit! Menschliche Erschütterung, Handlung, Charakter, Konflikt können Musik werden, niemals aber das abstrakte, kontemplative Wort. (VRO 120)373

Wenn Verdi später der Aufführung von La forza del destino beiwohnt, illustriert die Beschreibung der Darstellung der Dezorzi und Verdis Reaktion darauf, auf welche Weise eine adäquate Rezeption der so idealtypisch umrissenen Oper italienischer Prägung stattfinden solle. Das dort vertretene Realismuskonzept muss wohl genauer als „Realismus des Gefühls“ verstanden werden, der sich im Gesang selbst offenbart, nicht in der theatralischen Darstellung. Der Verzicht der begnadeten Schauspielerin Dezorzi auf jeden theatralischen Effekt ist dabei als unbewusst empfundene Reverenz an Verdis Musikdramaturgie und als Bekenntnis zu einem Primat des Gesangs zu verstehen: Das allerkleinste aber an Stilgefühl, an künstlerischer Empfindung leistete Margherita Dezorzi im Übergang des Rezitativs zur Romanze. Angefeuert durch die Gegenwart Verdis [...] gelang ihr an diesem Abend, was keiner Sängerin vor und nach ihr gelungen ist: Realistisch zu sein, 373

Im Rahmen dieser Textanalyse soll nicht näher erörtert werden, inwiefern des Erzählers Kritik an Wagners Ästhetik des Musikdramas damit gerechtfertigt ist oder nicht. Das obige Zitat zielt vor allem auf eine Kritik am Ring ab und wird in seiner polemischen Zuspitzung Wagners Tetralogie sicherlich nicht gerecht, allerdings ist eine differenziertere Auseinandersetzung mit Wagners theoretischen Schriften oder seinem Programm wohl auch nicht das Ziel der erzählerischen Polemik.

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ohne die Irrealität der Oper zu verletzen, opernhaft zu sein, ohne der Wahrheit Schaden zu tun. [...] Eine gewöhnliche Sängerin wäre nun niedergekniet, den Hilferuf an die Madonna darzustellen. Margherita Dezorzi aber fühlte, daß sie sich jetzt aus dem Rahmen des Dramas lösen müsse, um in die körper- und konfliktlose Welt des Gesanges zu treten. [...] Immer weiter hatte sich der Maestro aus dem Fond der Loge vorgewagt, schließlich beugte sich sein Oberkörper über die Brüstung. Berückt umfing sein Auge die schmächtige Gestalt der Sängerin. Sein Sinn hatte die Herkunft dieser Musik vergessen, daß sie auf seinem eigenen Notenpapier entstanden war. Er hörte, ohne daß sein Geist mitsprach, ohne daß er es wußte, sich selbst. Ein warmes, eine entzücktes Gefühl für die wunderbare Mittlerin dort unten! (VRO 466)

Der emotionale Effekt dieses körper- und konfliktlosen Gesangs sind emotionale Entzückung und eine paradox anmutende Selbstvergewisserung in der Selbstvergessenheit, die dem axiologischen Wert des emotionalen Kunstgenusses vollkommen adäquat sind. So lässt der Erzähler auch keinen Zweifel daran, dass Verdis Opernkunst derjenigen der Romantik und spezieller derjenigen Wagners eindeutig überlegen ist: Der Geist der Romantik hat über den Geist von Achtundvierzig gesiegt. Der Geist der Romantik, Verbündeter aller heiligen Allianzen, Knecht jeder zweifelhaften Autorität, dieser Geist des Wahnsinns, sofern Wahnsinn die Flucht vor der Wirklichkeit bedeutet, dieser Dämon unausgeräumter und deshalb schwulstiger Gemüter, dieser Narzissus der Tiefe, dem der Abgrund ein lüsterner Kitzel ist, dieser Gott der Verwicklung und Widerklarheit, dieser Abgott erstorbener Sinnlichkeit, verbotener Reize, scheinheiliger Gebärden, krankhafter Vergewaltigungen, der böse Geist der Romantik, terroristisch von rechts und links, diese Pest Europas hat die lebenswilligste Jugend besiegt, um heute noch zu herrschen. [...] In einem Gespräch diese Kabaletten und die ganze musikalische Jugend Verdis verteidigend, prägte einmal der Senator die Sentenz: ,Es kommt mehr auf Exspiration (Ausatmung) als auf Inspiration (Einatmung) an.‘ Ein Satz jener weltzugewandten edlen Jugend, die, wäre sie nicht zuschanden geworden, Europas Schicksal anders gestaltet hätte als die siegreiche Romantik, von deren giftigen Früchten wir jetzt in Krämpfen liegen. (VRO 39, 44)

Diese Romantikkritik ist ähnlich pauschal und undifferenziert wie diejenige an Wagner und sie weist ihren Zielpunkt im Verlauf des ganzen Romans nicht näher aus, passt sich dabei aber in die dichotomische Argumentationsstruktur des Erzählers ein. Dabei ist zu beachten, dass sich zwischen den Ansichten des Erzählers und denjenigen des Autors ebenso wie in Bezug auf das von ihnen vertretene Verdi-Bild auch in der Bewertung von Romantik und Décadence, die hier nahezu gleichgesetzt werden, kaum Unterschiede ergeben.374 Der Verweis auf die Bedeutung der Exspiration für das künstleri374

Werfels Verhältnis zur Romantik betrachtet ausführlich Fred Krügel, „Franz Werfel and Romanticism“, 91, 97, 102. Er weist nach, dass Werfels Vorstellung von „der Romantik“ auch in seinen theoretischen Schriften inkonsistent ist, auch wenn seine Äußerungen in dieser Hinsicht nicht strikt kontradiktorisch sind. Krügel kommt zu dem Schluss, dass es vitalistische Denkfiguren sind, die Werfel zu einer Abkehr von bestimmten romantischen Positionen bewegt haben. Insbesondere die Betonung ästhetischer gegenüber ethischen Wertmaßstäben in der spätromantischen Kunst werden zum Zielpunkt von Werfels Kritik. Gleichwohl nimmt der Erzähler des Romans, wie aus den zitierten Textpassagen deutlich geworden sein sollte, bei der Gestaltung der Hauptfigur deutliche Anleihen bei der frühromantischen Genieästhetik.

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

sche Schaffen ist sicherlich nicht zufällig, sondern lässt sich durchaus als Anspielung auf das expressionistische Frühwerk des Autors lesen. Werfels Verdi-Bild trägt damit, wie sich auch an den Essays ablesen lässt, stark identifikatorische Züge. Insgesamt lassen sich viele thematische und stilistische Kontinuitäten zwischen dem Verdi und Werfels expressionistischer Schaffensphase nachweisen, etwa in der Betonung der Bedeutung des schöpferischen Inspirationsmoments für die künstlerische Produktion375, die mit einem Primat des emotionalen Welterlebens verknüpfte monistische Vorstellung eines emphatischen Lebenskonzepts,376 der ostentative Antirationalismus und die „Weltallliebe“ des Protagonisten Verdi sowie die mit starken sprachlichen Mitteln artikulierte Emotionalität aller Figuren. Zu beobachten ist außerdem, dass nicht nur die Figuren als vor allem emotionale Wesen dargestellt werden. Auch die nicht-figurenbezogenen Beschreibungen tragen dazu bei, je nach Handlungszusammenhang positive oder negative Stimmungen zu evozieren. So ist etwa die räumliche Beschreibung der Stadt Venedig von stark emotionalisierenden Schreibverfahren geprägt. In der Tradition von Thomas Manns Der Tod in 375

So kündigt sich die Wiederkehr von Verdis Schaffenskraft genau in dem Moment an, als er künstlerisch und menschlich resigniert zu haben scheint und von einer Todesvision gepeinigt wird: „Verdi tritt hinaus in den wässerigen Dezember, in den dickschwebenden Schnee. Immerwährend spürt seine Hand in der Rocktasche das Heft Soleras. Er geht immer schneller, denn er fühlt, daß jetzt sich etwas Fürchterliches ereignen werde. Noch will er fliehen. Aber es ist zu spät. Angst, als ob nun endlich der Körper zusammenbrechen wolle, als ob ein Schlaganfall sich ankündige. Aber nicht der Körper sagt den Dienst auf, etwas anderes naht./ Noch einige Schritte machte der junge Mensch, dann mußte er stehen bleiben, mit beiden Händen sich an dem eisig-eisernen Gitter eines Portals festhalten. Ein Gefühl von unbeschreiblicher Grauenhaftigkeit wächst auf, eine Unerträglichkeitsempfindung des Lebens, als wolle nicht etwa der Körper sich im Tode von der Seele trennen, sondern diese Seele selbst sterben./ Unaussprechliche Furcht vor Untergang, vor Untergang, der mehr ist als nur Tod. Der u n g e h e u e r l i c h e Au g e n b l i c k ist da.“ (VRO 337f, Sperrdruck im Original) Vgl. auch VRO 106, 289. Dieser inspirierte Moment ist klar erkennbar als ein solcher ausgewiesen, der mit starken emotionalen Qualitäten verbunden ist: „Unvergleichlich und unmeßbar ist das Glück solcher Augenblicke. Was aber kann peinigender sein, als wenn einem Menschen das Vermögen verloren geht, die ursprünglichen unabhängigen Quellen zu schlagen, denen er ein halbes Jahrhundert lang Wünschelrute sein durfte?“ (VRO 456f). Das Gegenmodell zu diesem innerlich bewegten Inspirationsmoment ist die Versteinerung, wie sie zum Beispiel in der Monteverdiepisode bei dem ersten bedeutenden Opernkomponisten und Prä-Wagerianer von Dr. Carvagno regelrecht medizinisch diagnostiziert wird. Vgl. VRO 365. 376 Der dafür zentrale Begriff „Leben“ fällt häufig an exponierter Stelle. So wird Gritti und mit ihm die gesamte vergangene italienische Operntradition als unbelebt dargestellt (VRO 68, 141), Verdis Aufgabe sei es diese wieder mit „Leben“ zu füllen (VRO 161), in der Welt der Diegese waltet mit den Worten des Erzählers ein „eudämonische[s] Prinzip“, das Verdis beabsichtigten Verzicht auf weitere künstlerische Betätigung verhindert (VRO 427), als er von Wagners Tod erfährt, droht ein Teil Verdis ebenfalls zu sterben (VRO 524: „Das Leben in ihm mühte sich ab.“). Die Krisis des Komponisten wird vom Erzähler mit deutlichen Anklängen an psychoanalytisches Vokabular als innerer Konflikt zwischen „Lebenstrieb“ und „Todessucht“ gedeutet (VRO 188). Zur Vorbereitung hatte Werfel Freuds Das Ich und das Es herangezogen. Vgl. Hendrikje Mautner, Aus Kitsch wird Kunst, 284.

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

281

Venedig377 wird die Stadt als Ort der Liebe und des Todes von Anfang an als Schauplatz des Kampfes zwischen weltzugewandter Lebensfreude und lebensfeindlicher Décadence inszeniert. Als norditalienische Stadt bietet Venedig sich der klimatisch-geographischen Dichotomie des Romans folgend zur Schilderung als ein solcher Ort des Übergangs und des Aufeinanderstreffens von Gegensätzen geradezu an. Erzähllogisch korrespondiert dies mit der Unentschiedenheit des Konfliktes zwischen Protagonist und Antagonist. Die Stadt wird nicht ausschließlich der Sphäre Wagners zugeordnet, sondern fungiert in den Karnevalsszenen und den Beschreibungen der einfachen Bevölkerung ebenfalls als Zentrum einer unspezifischen Italianitá. Venedig wird im Roman somit als Ort der Ambivalenz dargestellt, in dem sich die in den Personen Wagners und Verdis dichotomisch einander gegenübergestellten Prinzipien begegnen können. Dies veranschaulichen auch die diffus emotionalisierenden Raumbeschreibungen: Je nachdem, ob Verdi oder Wagner die Szenerie dominieren, sind diese entweder positiv oder negativ konnotiert. So wird Verdis Ankunft in der Stadt nicht zufällig auf den Weihnachtsabend gelegt, der mit Wagners Geburtstag zusammenfällt. Dies ist eine kompositorische Freiheit des Autors, mit der einerseits Wagners blasphemische Anmaßung eines gottähnlichen Künstlertums symbolisch überhöht zum Ausdruck kommen soll, andererseits Verdis unerkannte Ankunft in der Stadt Venedig ihn als den „wahren“ Messias der Operngeschichte kennzeichnet: Ein unnatürlich starker Mond waltete in und über Venedig. Weichlich gleißende Nebel lagen auf den Kanälen, von denen alle Barken und Gondeln verschwunden waren. Die letzten Glockenwellen verebbten zum Himmel. In schneeweißer Leichenstarre grinsten verzerrt die Steinmasken von den Toren des Verfalls. (VRO 24)378

Dagegen schildert der Erzähler die Gärten auf der Insel der Giudecca als exotischen südländischen Ort der Pracht, Üppigkeit und Lebensfülle, der dem norditalienischen Winter abgetrotzt ist: Die Insel der Giudecca, der Stadt Venedig südlich vorgelagert, hat im Winter die schönste Morgen- und Vormittagssonne. Kenner Venedigs wissen, daß der langgestreckte, von fünf Kanälen durchschnittene Südstrand der Giudecca, voll geheimer und halbgeheimer Gartenanlagen, in den ersten Monaten des Jahres bei gutem Wetter den Charakter einer Riviera annehmen kann. 377

Dass Werfel Manns Novelle zur Vorbereitung auf seinen Venedig-Roman studiert hat, geht aus seinen Notizen zum Verdi hervor, die Mautner zugänglich gemacht hat. Vgl. Hendrikje Mautner, Aus Kitsch wird Kunst, 284. 378 So ordnet auch Matthias Fischböck den Ort explizit Wagners Sphäre zu: „Ich verstehe sehr wohl den musikalischen Magnetismus dieser Stadt. Man läuft stundenlang durch die Gassen, man schaut betäubt in den großen Kanal oder auf die Lagune. Immer wiegt den Menschen, auch wenn er auf dem Festland steht, der Wassertakt. Nicht die klare Musik der Sterne, aber die chaotische des Wassers herrscht hier. Darum, weil ich sie immer vor mir habe, kann ich sie leicht überwinden. NebelAuf und -Ab, Durcheinanderwogen, Spiel der Formlosigkeiten, Wassermusik, ist das nicht alles Wagner? Der Alte weiß sehr gut, warum er immer wieder herkommt.“ (VRO 306f) Bezeichnenderweise reagiert Verdi ausweichend auf diese Frage.

282

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven Diese Gärten, meist im Besitz oder Pacht reicher Engländer, sind sehr wohl gehalten, haben lange Glashäuser, dichte Weinlaubgänge, mit kleinen Muscheln statt Kieses bestreute Wege, und auch während des Winters sind sie voll des Grüns einiger härterer Palmenarten, der Myrtengewächse und südlicher Koniferen. Einer von diesen Gärten, ,Eden‘ oder ,Il Paradiso‘ genannt, zeichnet sich durch besonders schöne Treibhäuser, Lauben, Anlagen, Pergolen, die hübsche alte Gärtnervilla und eine Strandpromenade aus [...]. Hier, insbesondere im Winter, pflegen oft ein paar ältere Herren zu sitzen und stumpf vor Sonnengenuß in die Lagune hinaus oder in den ,Gazzettino‘ hinein zu starren. (VRO 272f)379

Der klimatisch-saisonalen Logik dieser jahreszeitbedingten Gartenbeschreibung folgend, lassen sich während der Lektüre vorausschauende Vermutungen über die Stimmungsdramaturgie des gesamten Romans anstellen, die sich bestätigen, wenn dieser mit dem Beginn der Fasten- und Osterzeit und des Frühjahrs ebenso wie mit Verdis „Re-Vitalisierung“ schließt. Venedig wird so zu einem Ort des Übergangs, jedoch in einem gegenläufigen Sinne zu Thomas Manns Novelle: Für Wagner führt der Aufenthalt in der Lagunenstadt ebenso wie für Fischböck vom Leben zum Tod, für den Protagonisten Verdi dagegen vom drohenden Versiegen der Schaffenskraft zu deren Wiederkehr und zum „Ausbruch der Melodie“. Das „Nachspiel“ stellt dann insofern einen finalen Höhepunkt dieser Stimmungsdramaturgie dar, als hier Verdis innerer Triumph proleptisch durch dessen tatsächlichen Erfolg auch innerhalb der Diegese sichtbar gemacht und durch die Liebe Boitos und Ricordis – eines ehemaligen Wagnerianers und eines am Publikum orientierten Musikverlegers also – beglaubigt wird.380 Wenn beide am Ende den Falstaff als radikalste Kunstleistung des Komponisten preisen, ist die heroische Rettung der italienischen Oper damit endgültig geglückt.381 Die Darstellung von Stimmungen und inneren Zuständen der Figuren, die dichotomische Anlage der Figurenkonstellation sowie die Spannungsdramaturgie des Romans dienen somit alle dem gleichen Erzählziel: der Hochwertung der italienischen Oper. Dabei lässt sich mit Hilfe des hier entwickelten Analyseverfahrens genauer zeigen, dass der Roman der Oper einige in Bezug auf die Darstellung von Emotionen charakteristische Merkmale aufweist, die einer librettoanalogen Ästhetik geschuldet sind. Dies sind: 1. eine klar erkennbare dichotomische Struktur der Figurenkonstellation, die sich wie folgt skizzieren lässt:

379

So sehr sich diese Gartenbeschreibung in die Stimmungsdramaturgie des Romans einpasst, so stark liegt doch auch die Vermutung nahe, dass die ausgestellte Exotik und das beschworene Lokalkolorit einem gewissen Selbstzweck dienen. 380 Vgl. VRO 563. 381 Vgl. VRO 569.

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

283

GIUSEPPE VERDI +

RICHARD WAGNER -

Oper Primat der Melodie und des Gesangs

Musikdrama Primat der Harmonik und des Orchesters

Natürlichkeit Kunstwerk entsteht aus dem emotional inspirierten Moment

Künstlichkeit Kunstwerk entsteht durch intellektuellplanmäßiges Vorgehen ODER im triebhaftdionysischen Rausch

intuitiv-

Formales Traditionsbewusstsein Inhaltliche Modernität

Formale Modernität Inhaltliche Rückwärtsgewandtheit

Wirkung der Belebung, moralischen Besserung, Freude Heteronomes Kunstkonzept

Wirkung der Betäubung, narzisstischen Abkehr von der Welt Autonomes Kunstkonzept

Massenkunst für „das“ Volk Zugeordnete Figuren: Senator, Bianca, Doktor Carvagno, Mario, das italienische Volk Primat der Emotionalität

Elitäre Kunst für überfeinerte Décadents Italo, Margherita Dezorzi, Sassaroli, die venezianischen Musikkritiker Primat von Rationalität UND Triebhaftigkeit

Äußere Charakterisierung als klassischer Heros, Vater, Bauer

Äußere Charakterisierung als Teufel, Weib, Décadent

Häufige interne Fokalisierung

Selten interne Fokalisierung

Diese Dichotomie gibt, wie oben bereits angedeutet wurde, die Handlungs- und Figurenkonstellation des Romans nicht vollständig adäquat wieder, allerdings lassen sich die wenigen Abweichungen als gut erkennbare Ausnahmen von der Regel verstehen: Während Gritti einerseits die Tradition des Belcanto verkörpert, in der auch Verdi steht, unterscheidet diesen von Verdi andererseits seine Lebensabgewandtheit sowie das Eintreten für einen leeren Formalismus. Fischböck verbindet mit Wagner der Wunsch nach Zertrümmerung musikalischer Formen, dennoch grenzt er sich von Wagner ab, indem er sich dazu auf die musikalische Formensprache des Barock in der Tradition Bachs und Buxtehudes zurückbezieht. Gleichzeitig ist er Verdi trotz aller künstlerischen Differenzen freundschaftlich verbunden, auch wenn er diesen nur unter dem Namen „Herr Carrara“ kennenlernt. Wie an der Namensgebung abzulesen ist, folgt aber auch diese Zweierbeziehung wieder der vorgegebenen Axiologie: Erinnert Verdis Deckname an die Dignität von Carrara-Marmor, so stammt Fischböck bezeichnenderweise aus Bitterfeld. Dass sich die hier aufgelistete dichotomische Struktur im Fortgang des Romans, z.B. bei der Merkmalsattribution in Bezug auf die Figuren, vom Erzähler nicht immer aufrechterhalten lässt, muss also mit berücksichtigt werden. Sie sollte daher in erster Linie als idealtypische Rekonstruktion der selbsterklärten Werthaltung des Erzählers verstanden werden. 2. Innerhalb dieser Figurenkonstellation lässt sich, gestützt auf die teils polemisch-pamphletistischen Äußerungen des Erzählers, eine klare Werthierarchie

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

284

3.

4.

5. 6.

erkennen: Der axiologische Wert einer moralischen Funktion von Kunst wird als höherstufig eingeschätzt als derjenige einer rein autonomieästhetischen Bestimmung der Oper. Verdi erfüllt mit seiner Kunst in vorbildlicher Weise dieses heteronome Kunstkonzept: Seine Musik schließt an die überkommene Tradition an und aktualisiert diese, anstatt mit ihr zu brechen; sie entspricht den Bedürfnissen des Volkes und hat während der Zeit des Risorgimento auch einen politischen Zweck erfüllt; sie bessert ihre Zuhörer moralisch und bewirkt deren Hinwendung zum Leben. Wagners Musik hingegen entspricht genau den gegenteiligen Anforderungen an das autonom-elitäre Kunstwerk und erfährt damit innerhalb der axiologischen Ordnung des Romans eine deutliche Abwertung. Verdi ist so einfach und eindeutig als Sympathieträger zu identifizieren, Wagner hingegen als dessen Gegenteil. Das ostentative Ausstellen dieser Wertstruktur mag dabei allerdings gerade eine Distanzierung des Rezipienten bewirken, insbesondere da es sich bei den beiden Hauptfiguren um historische Persönlichkeiten handelt, zu denen zeitgenössische Leser mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits vorher eine wertende Einstellung ausgebildet hatten. Die Wahl dieses historischen Stoffes legt daher die Vermutung nahe, dass hier mit vorwiegend assimilierenden Rezeptionsprozessen zu rechnen ist. Dagegen spricht allerdings das im Laufe der 1920er Jahre sich abzeichnende, oben knapp skizzierte Phänomen der „Verdi-Renaissance“. Die Schilderungen der inneren Zustände der Figuren nehmen breiten Raum im Roman ein, hier lässt sich insbesondere eine Schwerpunktsetzung bei der Darstellung der Emotionalität Verdis und den ihm zugeordneten Figuren Bianca, Doktor Carvagno und des Senators ausmachen. Es lassen sich mehrere separate Handlungsstränge mit je eigenen Spannungsverläufen voneinander abgrenzen: der Konflikt zwischen Verdi und Wagner beziehungsweise Verdi und Gritti, die Beziehungsproblematik zwischen Bianca, Italo, Doktor Carvagno und Margherita Dezorzi, der Todeskampf Fischböcks, die Auseinandersetzungen zwischen dem Senator und seinen Söhnen. Gleichzeitig spiegelt sich in jedem dieser Handlungsstränge der dichotomische Konflikt zwischen italienischer, positiv gewerteter naiver Emotionalität und deutscher Dekadenz und Rationalität. Überdies erinnern die dargestellten Konflikte zum Teil an Verdis eigene Opern. Einige werden explizit im Text benannt, zum Beispiel Rigoletto, La Traviata und La forza del destino. Teilweise werden die Figuren selbst unter Rückgriff auf Figuren aus Verdis Opern charakterisiert, dies gilt etwa für Bianca oder Italo. Schilderungen prototypisch emotional konnotierter, vor allem konflikthafter Situationen sind im Roman häufig zu finden. Der innere Konflikt Verdis wird symbolisch auch veräußerlicht dargestellt durch die typenhafte Zeichnung der Figuren Grittis, Fischböcks, Sassarolis und

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

285

Wagners sowie anhand der körperlichen Symptomatik von Verdis emotionalem Erleben. Darüber hinaus wird das Libretto als Textsorte sowie die spezifische Funktionsweise der Kunstform Oper im Roman immer wieder vom Erzähler selbst thematisiert und präsentiert. Dabei wird die italienische Oper als prototypisches Muster der Gattung dargestellt: Die Handlung und die kausale Verknüpfung ihrer Teile tritt zurück zugunsten des inneren Erlebens der Figuren. Emphatisch wird die Gesangsmelodie als direkter Gefühlsausdruck des Menschen beschrieben, demgegenüber die orchestrale Begleitung in den Hintergrund treten solle. Wagners Konzept des Musikdramas wird deswegen eine Absage erteilt, weil sie diese operntypische Form durch die Anbindung an das Drama untergrabe und damit der Oper ihre eigentlich „natürliche“, gemäße Form nehme. Indem er stärker narrative und dialogische Passagen einbaue, die nicht dem unmittelbaren Ausdruck des inneren Erlebens eines Subjektes dienen, missverstehe Wagner die Funktionsweise der Gattung Oper und führe diese in eine falsche Zukunft. Dabei zielt die Kritik des Erzählers und seines Protagonisten gerade auch auf die Zurückdrängung des Emotionsausdrucks in Wagners Musikdramen. Der Roman lässt sich somit auch als Rezeptionsanleitung für Opernbesucher verstehen. Er passt sich in Werfels Bemühen um eine Wiederbelebung von Verdis Werk im deutschsprachigen Raum ein, indem er erklärt, wie Verdis Kunst und mit ihr die Tradition der italienischen Oper insgesamt adäquat rezipiert werden müsse: nämlich in Form einer primär emotional geprägten Rezeptionshaltung. Insofern lässt der Roman sich als konsequente Fortschreibung von Werfels emphatisch-expressionistischen Arbeiten verstehen. Er ist dabei dezidiert antimodern und bedient durch das Anknüpfen an neomystische, lebensphilosophische und monistische Vorstellungen der Jahrhundertwendeliteratur ein Bedürfnis nach Ganzheit gerade im Gefühl. Dies mag zu einem großen Teil zu seinem Erfolg beigetragen haben. Dieses Programm findet sich im Verdi auch erzählerisch umgesetzt: Der Roman ermöglicht einen unproblematischen Nachvollzug der Emotionen und Stimmungen seines Protagonisten, er weist eine globale Suspenseebene auf, indem er den inneren Konflikt Verdis einerseits als Kampf um die eigene Inspiration, andererseits als innere Auseinandersetzung mit seinem Kontrahenten Wagner darstellt und damit Spannung in Bezug auf die Frage erzeugt, wie Verdi seine Krise überwinden und Wagner begegnen respektive sich mit diesem auseinandersetzen wird. Durch den Gebrauch von populärem biblischen, psychoanalytischen und ästhetikgeschichtlich geläufigen Vokabular wird Verdis Konflikt als tiefe innere Krankheit oder Verstörung dargestellt und dessen Überwindung im Roman als hohes Gut markiert. Verdis abschließender innerer und äußerer Triumph bildet damit den emotionalen Kulminationspunkt des Romans. Der häufige Gebrauch stark emotionalisierender Darstellungsverfahren lässt sich darüber hinaus auch so erklären, dass die emotionalen Qualitäten – die in der Oper vom Libretto nur skizzenhaft durch die Plotstruktur und einige wiederkehrende phrasenhafte Umschreibungen ausgedrückt, damit stärker in den Bereich der musikalischen Ausge-

286

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

staltung verlagert werden – hier gewissermaßen kompensatorisch im Medium der Sprache umschrieben und artikuliert werden müssen. Dies hat zur Folge, dass die Figurendarstellung im Roman fast permanent von einer starken emotionalen Bewegung gekennzeichnet ist. Es muss offen bleiben, ob dieser Umstand zu einer emotionalen „Ermüdung“ führt. In der Forschung jedenfalls wird Werfels stark emotional geprägter Stil, der nicht nur das Prosawerk kennzeichnet, kontrovers bewertet: Despite his popularity – or perhaps because of it – critical interest in Werfel’s works waned after his death, although he was never completely ignored. Responses to his work have ranged from enthusiastic and uncritical admiration and respect to sharp criticism and rejection. For many critics, Werfel was the greatest and most original lyric poet of expressionism. Others, however, complained that his verse was sentimental and often too derivative, and they objected to his overuse of abstraction, hyperbole, and ecstatic rhetoric. Many critics admired what they saw as the deeply ethical and religious foundation of his work and his sense of his mission as a poet, while others sharply rejected his religious views and called his philosophy opaque. Many praised his novels, several of which became bestsellers, for their imaginative power, realistic depiction of characters, and well-told stories, while others complained that Werfel was merely a scribbler who often worked carelessly and hastily. Many admired him as a social critic, while others rejected his views as superficial and reactionary. Even today critics do not agree about how to evaluate Werfel as a writer and thinker, and there is no consensus among them about the literary quality of his works.382

Auf einer stärker deskriptiven Ebene lässt sich in jedem Fall an der Art der Emotionsgestaltung im Roman zeigen, dass es unter dem Gesichtspunkt der sprachlichen Gestaltung von Emotionalität wie auch deren axiologischer Stellung im Werk wenig sinnvoll erscheint, den Verdi der Neuen Sachlichkeit zuzuordnen.383 Vielmehr lassen sich hier durchaus Kontinuitäten zu Werfels expressionistischer Schaffensphase nachweisen. Sein lyrisches Frühwerk in Der Weltfreund, Wir sind, Einander und Der Gerichtstag ist wesentlich durch einen emphatisch-pathetischen Stil geprägt. Die antimodernen Tendenzen im Verdi lassen sich insgesamt wohl besser als dem Gattungswechsel geschuldete Explikationen einer bereits vorher bestehenden konservativen Haltung verstehen, die eng mit dem hier rekonstruierten Konzept von Emotionalität verknüpft sind, nicht als eine eigentliche Abkehr vom expressionistischen Programm, wie Sokel oder Thomke dies annehmen.384 Zur Veranschaulichung dieser These sei dazu abschließend das Sonett Große Oper aus dem Weltfreund zitiert: 382

Jennifer E. Michaels, Franz Werfel and the critics, 2. So etwa bei Michel Reffet, „Werfels Strategien in seinen Verdi-Essays“, 155. Dies geschieht an teilweise anderslautenden Äußerungen des Autors selbst vorbei: „Die gestrige Mode, ,neue Sachlichkeit‘ genannt, ist im Grunde ,die alte Unwirklichkeit‘, nur verlogen. Sie ist die gewendete Romantik, die an Stelle mondbeglänzter Ruinen mit Chicagos Wolkenkratzern operiert.“ Franz Werfel, Realismus und Innerlichkeit. Ein flammender Aufruf des großen Dichters, 31. Vgl. dazu auch Frank Joachim Eggers, „Ich bin ein Katholik mit jüdischem Gehirn“ – Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth und Franz Werfel, 104f. 384 Vgl. Anm. 311 in diesem Kapitel. 383

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

287

Große Oper O stünde ich am Dirigentenpult, Die nun gelassnen Arme zu entketten! Die Leidenschaft in Rhythmen hinzubetten! Hah! alla breve Takt voll Ungeduld! Nein, mehr, verfolgt von Weiberzorn und Huld O könnt ich mich in Bühnenecken retten Und flammend in Duetten und in Stretten Aufstrahlen: „Rache, Liebe, Tod und Schuld!“ Wie wunderbar! mein weicher Sitz entschwand. Emporgehoben leicht verließ ich ihn, Und jetzo, wie durchschauerts meine Nerven... Steh’ ich aufschaukelnd, Arme ausgespannt, Bereit von himmelhoher Trampolin In das Finale mich hinabzuwerfen.385

3.4.2 Werfels erster Romanerfolg und seine Kritiker Abschließend bleibt zu klären, ob die oben herausgearbeitete librettoanaloge Textästhetik des Verdi einen starken emotionalen Effekt bei den zeitgenössischen Lesern bewirkt hat oder nicht. Ein Blick auf verschiedene Rezensionen des Romans zeigt ein durchaus heterogenes Bild: Wenn sie sich nicht ausschließlich der Frage nach der historischen Akkuratheit des Inhalts widmen, schwankt das Urteil der Kritiker zwischen Begeisterung und Ablehnung. Auffällig ist, dass sich in fast allen Kritiken Indizien für eine starke emotionale Beteiligung der Rezensenten im Hinblick auf die Hauptfigur Verdi und die Stimmungstechnik im Roman finden lassen. Die Bewertung des Romans selbst fällt demgegenüber jedoch meistens differenzierter und weniger wohlwollend aus. Beispielhaft lässt sich dies an Thomas Manns ambivalenter Reaktion auf den Roman verdeutlichen. In seiner Trauerrede auf Franz Werfel hat Thomas Mann den Verdi-Roman besonders hervorgehoben, indem er unter anderem eine persönliche, emotionale Nähe zu Werfels Text als Grund für seine Verbundenheit mit dem Verstorbenen nennt: Er war in Prag geboren, aber zum Wiener geworden, und sein Genie, wie ich die Fülle und Naivität seiner Begabung zu nennen wage, war getönt von der ost-südlichen Kultur-Atmosphäre der österreichischen Hauptstadt. Nicht umsonst besaß er auch ein Heim in Venedig, wo das mir teuerste seiner Werke spielt: ›Verdi‹, dieser durch Kunstwissen und Künstlerpsycholo385

Franz Werfel, Der Weltfreund, 59.

288

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven gie unbändig interessante Roman europäischer Kultur-Dialektik, die sich in den gleich groß und mit tiefer Genauigkeit gesehenen Gestalten Verdi’s [sic!] und Wagners verkörpert.386

Die erste, spontane emotionale Reaktion auf die Lektüre des gerade erschienenen Verdi war, wie ein Brief an Ernst Bertram belegt, ebenso begeistert, allerdings fiel Manns Gesamturteil über den Roman nach der Lektüre einer sehr kritischen Rezension von Bernhard Diebold insgesamt dennoch negativ aus: Lieber Betram, ich bin selten so an ein Buch gefesselt gewesen, wie in den letzten Tagen. Unbedingt muß ich Ihnen das Objekt empfehlen: Es ist „Verdi, Roman der Oper“ von Werfel. Bitte, lesen Sie es! Denken Sie, das Milieu: Venedig. Die Hauptpersonen: Verdi und Wagner. Der geistige Gegenstand: Süden und Norden. Unbestochen durch die Stellungnahme des Autors, der natürlich dem Süden huldigt, muß ich sagen: es ist der beste Roman seit vielen Jahren. Etwas konventionell in der Verknüpfung der Schicksale, zuweilen etwas melodramatisch, aber ungeheuer interessant. Sie werden öfters den Dampfer nach Hammerfest bestellen, ich that es auch. Aber ich bin sicher, daß auch Sie das Buch halten wird. Verschaffen Sie es sich gleich! [...] [Es folgt ein Umschlag „Drucksache“, Datumsstempel unleserlich. Er enthält: Zeitungsausschnitt mit Aufsatz von Bernhard Diebold: „Werfels Roman der Oper“. Dabei steht eine eigenhändige Randbemerkung von Thomas Mann: Nicht ohne Beschämung überreicht. Mein positives Urteil war Überkompensierung beleidigter Gefühle!]387

Interessant ist, dass die erste emotionale Reaktion auf den Roman durchaus positiv ausfällt, obwohl Mann gleichzeitig auch einige inhaltliche Schwächen wie z.B. langweilige Stellen, melodramatische Effekte oder die einseitige Haltung des Erzählers hervorhebt, den er mit dem Autor identifiziert. Die stilistischen Auffälligkeiten des Briefes wie das dreigliedrige elliptische Asyndeton, die direktiven Sprechakte oder die Tatsache, dass Mann den Brief mit seiner Empfehlung beginnt, bevor er auf die eigene Arbeit am Zauberberg zu sprechen kommt, unterstreichen die Begeisterung, die sich lexikalisch in den Attributen „gefesselt“, „der beste Roman seit vielen Jahren“, „ungeheuer interessant“ ausdrückt. Auch wenn bei der später gehaltenen Trauerrede textsortenspezifische Schemata eine Rolle gespielt haben mögen, deretwegen Kritik an Werfels Werk per se als unangemessen gelten muss, so ist doch auffällig, dass Mann unter Werfels Werken ausgerechnet den Verdi besonders hervorhebt – dies trotz der ihm bekannten Einwände, die ihn vorher noch beschämt hatten.388

386

Thomas Mann, „[Franz Werfel †] Frau Alma Mahler-Werfel in Liebe und Trauer“, in ders., Essays VI 1945–1960, 69–71, hier 69. 387 Thomas Mann, „München 23.VI.[19]24“, in ders., Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910–1955, 127f. 388 Diebold kritisiert in seiner Rezension, aus der weiter unten noch ausführlicher zitiert wird, der Roman sei in Bezug auf die Figur Verdis psychologisch zwar glaubwürdig, die gleichzeitig verfolgte Absicht, die gesamte Kulturgeschichte der Oper darlegen und deren Verlauf erklären zu wollen, sei aber überzogen, die ästhetische Polemik des Erzählers wirke gar peinlich. Vgl. Bernhard Diebold, „Werfels Roman der Oper“, in Frankfurter Zeitung (6.6.1924), 1f.

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

289

Thomas Manns Reaktion auf den Verdi ist damit durchaus typisch für die schwankende, überwiegend ambivalente Haltung der zeitgenössischen Kritiker zu Werfels Künstlerroman: Diese betrifft ebenso Werfels Umgang mit den historischen Figuren Verdi und Wagner wie auch den Stil und die Konstruktion des Romans selbst. Das Spektrum der emotional getönten Reaktionen reicht von Begeisterung über eine distanziert kritische, in Teilen aber auch lobend-anerkennende Meinung bis hin zu totaler Ablehnung.389 Was die vermutete Wirkungsintention angeht, sind die Rezensenten sich weitgehend einig, lediglich die dazu eingenommene emotionale Einstellung variiert. Die meisten Kritiker beschreiben den Stil des Romans als „fesselnd“ – selbst dann, wenn Sie die dahinterstehende dichotomische Wertstruktur ablehnen.390 So schreibt etwa Hans Brandenburg: Das ist eines der fesselndsten Dokumente jener hochliterarischen und großstädtischen Poesie, die mit Leidenschaft nach dem Tageskurse strebt. Der Held des Romans wird zum Idol des Romandichters, durch das allenthalben dieses Dichters Tendenz durchschimmert, geradezu eine Tendenz um des Tendenziösen willen, eine Tendenz z u r Tendenz. [...] Werfel hält die gleiche Linie des europäischen Romanes inne, er meistert dieselben schillernden venezianischen Dekadenzfarben wie seine Vorgänger, aber mit ganz anderer, mit erstaunlicher Kenntnis der Musik. Freilich schreibt er im Grunde bloß einen glänzenden Essai. Seine Handlung ist dünn, ist immer wieder gebrochen, sie dient nur seinem Manifest. [...] Seine Tendenz ist überall verräterisch, sie offenbart das, was er nicht ist und vielleicht auch nicht einmal sein möchte. Denn nichts kann sich mehr entfernen von unbewußter Kunst als dies krampfhaft ehrgeizige Buch, dies außerordentliche Stück geschmähter „l’art-pour-l’art“-Literatur, das – ein

389

Eine Kuriosität stellt die Debatte zwischen Werfel und Heinrich Simon in der Zeitschrift Das TageBuch dar: Simon hatte eine Reihe von orthographischen, fremd- und fachsprachlichen Fehlern im Roman identifiziert und im Tage-Buch minutiös aufgelistet. Werfel reagierte verärgert und wies seinerseits Simon einige Fehler, besonders in der Beherrschung des Italienischen nach. Simon entgegnete beleidigt, es sei seine Absicht gewesen, Werfel für die Überarbeitung des Romans einen Dienst zu erweisen, er habe des Autors Fähigkeit zur Kritik aber wohl überschätzt. Vgl. Heinrich Simon, „Steine des Anstosses [sic!] in Werfels Verdi-Roman“, in Das Tage-Buch 6 (28.3.1925), 457–460; Franz Werfel, „Ein Tadelzettel. Entgegnung auf Heinrich Simon ,Steine des Anstoßes‘ in Werfels Verdi-Roman“, in Das Tage-Buch 6 (2.5.1925), 639–642; Heinrich Simon, „Antwort“, ebd. 641f. 390 Die einzige Ausnahme bildet eine amerikanischsprachige, negative Rezension von Lloyd Morris: „[...] the reader becomes bored by the virtues [that are ascribed to Verdi by the narrator, C.H.] and aware of the insignificance of the episodes as elements of a coherent narrative.“ Lloyd Morris vergleicht Verdi mit Gabriele d’Annunzios Venedig-Roman Il Fuoco, der „superior in power and intensity“ sei. Insgesamt zeigt sich Morris enttäuscht von dem im deutschsprachigen Raum überwiegend gelobten Roman: „Discrepancy between anticipation and performance accounts for the degree of my disappointment in Herr Werfel’s ,Verdi‘. The novel was received with unusual enthusiasm in Germany and Austria. [...] It is alternately a critical biography and an historical romance of outmoded pattern. It falls between exposition and narrative; it accomplishes neither.“ Lloyd Morris, „Fact and Fable“, in Saturday Review of Literature 2 (4.1.1926), 475f.

290

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven atemberaubendes Schauspiel für Künstler – das aristokratische Martyrium des Künstlers zum einzigen künstlerischen Gegenstande wird.391

Wenn Brandenburg von den „schillernden venezianischen Dekadenzfarben“ und dem „krampfhaft ehrgeizige[n] Buch“ spricht, so bleibt unklar, ob diese Charakterisierungen von ihm nun eher positiv oder negativ bewertet werden. Sie liefern jedoch Hinweise darauf, wie die Qualifizierung „fesselnd“ zu verstehen sein könnte: nämlich als einer ambivalenten, gleichzeitig aber auch aufmerksamkeitsbindenden Wirkungseigenschaft des Textes, der laut Brandenburg zwischen stimmungstechnisch gut eingefangenem literarischen venezianischen Lokalkolorit und verkrampft selbstreflexiver Thematisierung der Künstlerproblematik changiert. Weißmann, der ebenfalls auf einige erzähltechnische Schwächen des Romans eingeht, diesen insgesamt aber positiv bewertet, spricht von der „dichterisch durchglühten Konstruktion“392 des Romans, in dem nur „da und dort [...] gewaltsam Spannung gesucht“ werde,393 und resümiert: Und doch, mag auch das Werk des schauenden Dichters vielfach durchfurcht sein: dieser Roman, der Oper und der Zeit, in stark suggestiver Sprache, wird jeden Leser innerlich beschäftigen. Ein Werk von mehr als vorübergehendem Wert; Meilenstein im Gesamtschaffen Franz Werfels.394

Auch die Rede von der „stark suggestive[n] Sprache“ und der „dichterisch durchglühten Konstruktion“ lassen sich als Hinweise auf die „fesselnde“, die Aufmerksamkeit der Rezipienten bindende stilistische Wirkung des Romans beziehen. Selbst Wellek, der Werfel insgesamt vorwirft, sich in der Gestalt Verdis nur selbst porträtiert zu haben,395 und den Roman wegen seiner historischen Ungenauigkeit scharf 391

Hans Brandenburg, „Werfel, Franz: Verdi. Roman der Oper.“, in Die schöne Literatur 25, Nr. 10 (23.10.1924), 376f (Sperrdruck im Original). 392 Adolf Weißmann, „Werfels Verdi-Roman. Das Problem der Oper“, in Literarische Umschau. 4. Beilage zur Vossischen Zeitung 282 (15.6.1924). 393 Ebd. 394 Ebd. 395 „Aber Werfel ist nicht der Mann, an einem anderen teilzunehmen und ihm dabei doch seine Wesenheit und Wahrheit unangetastet zu belassen. Selbst in seinen frömmsten Gefühlen, in seiner Verehrung, ist er dazu nicht fromm genug: dem Dichter des ,Spiegelmenschen‘ wird nur der Spiegel Gestalt, und selbst noch in einem Verdi sucht er den Spiegel: Gestalten, Schaffen und Sichspiegeln müssen ist ihm eins. Es sei anerkannt, daß das menschliche Verhältnis Werfels zu Verdi liebevoll und erwärmend ist, und daß er den Menschen Verdi so schön und lebendig erfaßt hat, als man nur wünschen konnte; aber wie sehr hat sich nicht Verdi um diesen Preis verwerfeln müssen! Zwei Themen sind bei Werfel ewig, ja geradezu der Urquell seiner Kunst, so daß er stets nur sie dichten kann: das S e l b s t m i ßt r a u e n u n d d a s g r e n z e n l o s e M i t l e i d . [...] aber je mehr der Leser dem Verdi dieses Romans näherkommt, desto mehr nähert er sich im Grunde doch nur Werfel und entfernt sich von dem wahren Verdi, ja versperrt sich vielleicht sogar den Weg zu ihm. Denn erwägen wir schließlich, was Werfel zu Verdi außer seiner Ich-Projektion hinzieht: der Eifer gegen den Pessimismus, gegen die ,Desperados‘, welche die Musik Wagners angeblich um sich schart (z.B. Humperdinck), das Entzücken an dem Unmystischen Verdis und an seinem volkstümlichen, ge-

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

291

kritisiert, konstatiert immerhin, dass die Lektüre nicht langweilig gewesen sei, wenn er von den „unstreitigen erzählerischen Werte[n]“ des Textes spricht, „namentlich die poetische Findigkeit und Findergabe für das epische Detail, die durch sinnvolle Verschlingung reicher Nebenhandlungen epische Breite ermöglichen, ohne je zu ermüden...“396 Bie stellt in seiner Besprechung verschiedener Musikerromane und -biographien Werfels Verdi an die erste Stelle und bewertet diesen implizit auch am höchsten, indem er an den Schluss seiner Rezension den Ausruf stellt: „Vorbei! Es lebe der schaffende Musiker, der seine Zweifel verbrennt – Verdi.“397 Um diese Hochwertung zu begründen, verweist Bie metaphorisch auf eine bestimmte Form von Musikalität, die für Werfels Prosa kennzeichnend und die seiner Ansicht nach eng an eine dichterische, emotionale Einstellung zur Welt gekoppelt sei:398 Die Liebe zur Melodie wird besungen und gesungen. Sein Stil ist nicht aus literarischer Entwicklung zu verstehen oder zu würdigen, es ist ein alter Stil, weil er eine alte Schönheit predigt und weil er eine Erfindung umsetzt, die vom alten Theater vielleicht mehr, als man von Werfel erwartete, in sich hat. [...] und was nachklingt, ist der Ton, die Stimmung eines Buchs, seine Grundempfindung, die sich mit einer Szenerie abgestufter Figuren bekleiden mußte. Es ist ein wahrhafter Ton, eine Musik, durch Gegenwart und Vergangenheit geschöpft, aus einem Ringen mit der Zeit, mit der eignen Jugend, in eine neue Jugend hinübergerichtet, das [sic!] wieder singen möchte, statt eines Egoismus der Tat Liebe in der Natur, statt des Systems im Willen die Freiheit in der Melodie. Es ist diese Atmosphäre des Risorgimento, in der Verdi lebte und weiter leben wird, historischer durch den Dichter, als ihn die Geschichte selbst je erfinden konnte. [...] Werfels Verdi, Weißmanns Verdi, Bekkers Wagner, Leichtentritts Händel, so habe ich die Skala vom Dichterischen übers Essayistische und subjektiv Systematische zum objektiv Systematischen. Die Musik selbst spaziert in diesen Stilen herum, begreiflich nur für das Gefühl oder die Fachkenntnis. Aber sie leuchtet, wie in den Werken selbst, mit einer unheimlichen Kraft heraus, die auch den Laien bindet, ohne daß er sich dieser Wirkung bewußt wird.

meinverständlichen Melos: - ist all dies bei dem Dichter des ,Spiegelmenschen‘ und so mancher mystischer und ,pessimistischer‘ Lyrik nicht am Ende eine verzweifelte, ganz und gar platonische Liebe?“ Albert Wellek, „Kreuz und Quer. Verdi oder Werfel?“, in Neue Zeitschrift für Musik 12 I,2 (12.1925), 739–741 (Hervorhebung im Original). Die von Wellek kritisierte Selbstprojektion führt dann gerade dazu, dass ausgerechnet Verdis Kontrahent Wagner Sympathien bei Wellek wecken kann: „Wagner selbst, der Gegenspieler des Romans, scheint mir dem gegenüber besser gefahren zu sein, wenigstens als Person: die Betonung des Napoleonischen, Suggestiven in seiner Persönlichkeit mutet sympathisch an.“ Ebd. 741. 396 Albert Wellek, „Kreuz und Quer“, 739. 397 Oskar Bie, „Bücher über Musik“, in Neue Rundschau 35,2 (2.1925), 195–204, hier 204. Bie stört sich an den Freiheiten und Abwandlungen in Verdis Biographie im Gegensatz zu Brandenburg nicht: „Der gedichtete Verdi ist vielleicht wahrer als der biographierte Wagner, weil Verwandtschaft das Wesen des Künstlers mehr trifft als Forschung.“ Ebd. 198. 398 Dazu muss allerdings vorausgesetzt werden, dass das Attribut „dichterisch“ auf der von Bie genannten Skala der Wertmaßstäbe am höchsten angesetzt werden kann, eine Schlußfolgerung, die sich stützen lässt, wenn man den oben zitierten Schlusssatz der Sammelrezension hinzunimmt.

292

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven Es ist die sonderbarste Bemühung erfüllter Menschen, anderen die Schönheit ihrer Kunst zu predigen.399

Aus Bies Überlegungen wird nicht ganz klar, ob „Gefühl“ und „Fachkenntnis“ im Verstehensprozess als gleichwertige Mechanismen aufzufassen sind und welcher dieser beiden eher geeignet ist, Werfels Roman angemessen zu erfassen, jedoch wird die diesem unterstellte Musikalität durch die Begriffe „Stimmung“ und „Grundempfindung“ mit emotionalen Konnotationen versehen und dem Erzählstil wird die Fähigkeit zugesprochen den Leser an die Lektüre zu binden. Auch der Rezensent der Büchertruhe bedient sich der Musikmetapher, um die emotionalen Qualitäten von Werfels Roman zu umschreiben, und kombiniert diese mit einer Feuer- und Brandmetaphorik, die er mit der Wirkung der italienischen Oper parallelisiert. Ebenso lobt er die Fähigkeit des Erzählstils, die Aufmerksamkeit zu binden und das Lokalkolorit Venedigs zu entfalten. Insgesamt ist seine Rezension, in der er Werfels Verdi mit Goethes Romanschaffen vergleicht, in einem deutlich emphatischen Stil verfasst: Werfel schreibt durchaus keinen langatmigen – trockenen Roman. Es geschieht wirklich etwas in diesen Büchern. Explosionen jagen und überschlagen sich. Welten zerkrachen, Menschen leiden, tanzen und flammen. Die Natur, als tiefe Kulisse, gibt ungebrochene Farben. Erde raucht, treibt Frucht, Wunderdinge und schlägt Brücken zum Unsichtbaren. [...] Wohl ist die südliche Glut des Tonbogens sichtbar. Die Entzündung am Schwung feurig-farbiger Tonwellen. Im Vergleich zur Oper Verdis: kongenial; besonders wenn man an den Troubadour, an Rigoletto, La Traviata denkt. Die Landschaft... das Erlebnis Venedig – : das ist Höchstleistung an dichterischer Gestaltung. Hier schwingen alle Register einer empfindsamen Seele. Hier glutet Glanz, Gnade, Schönheit, Gottunendlichkeit. Seit Goethe (man steinige mich!) ist mir dieser Kreis das letzte Erlebnis der zauberischen Erde. [...] Eine ungeheure Blutwelle quillt durch dieses Buch. Der deutschen Epik ist ein neuer Weg gewiesen worden. Er geht nicht von einem Zwanzigjährigen aus – : Die Generation von 1890–1899 fängt an, sich zu beweisen.400

Spunda, der ebenfalls von der Musikalitätsthese ausgeht, konstatiert im Gegensatz zu dieser Position, Werfels Stil sei ruhiger geworden, hebt allerdings ebenfalls die dem Ort der Handlung adäquate Emotionalisierungstechnik hervor: Die Linie des Buches steigt rein und edel zu Höhepunkten an, die stark einprägsam sind: Verdis Beklemmung und Stolz in der Nähe Wagners, sein Ringen mit dem Lear-Stoff, sein unsichtbares Kämpfen mit der Musik Wagners – und als er endlich zu dem großen Deutschen in den Palazzo Vendramin fährt, um jenem seine neidlose Huldigung darzubringen, in diesem Augenblicke erfährt er, daß Wagner gerade gestorben ist. [...] – welch ein Bogen durch die Jahrhunderte, weitgeschwungen, herrlich tönend in der Musik des Lebens! Die greisenhafte Pracht Venedigs atmet in dem Buch, das dunkle Wasser der Lagune, der Duft von Algen und feuchter Fäulnis, das starre Düster der alten Paläste und das flammende Rot des südlichen Himmels. Werfels Stil ist ruhig geworden, gemäßigt durch das Schicksal seines Helden, der zu

399 400

Oskar Bie, „Bücher über Musik“, 196f, 199. P. Z., „Roman um Verdi“, in Das dramatische Theater 2 (10.1924), 114–116.

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

293

sich selbst Distanz gewonnen hat und auf die Räusche seiner Jugend mit Wehmut zurückblickt.401

Eine mittlere Position zwischen Hochwertung und Ablehnung nimmt Baader ein, der Werfels Roman einige kompositorische Schwächen402 attestiert, weswegen er „auch nicht mit reiner Anerkennung“ erfreue, der Rezensent ihn gleichzeitig aber „doch mit einer dankbaren und respektvollen Hochachtung aus der Hand“ lege.403 Die Werthaltung des Erzählers hält Baader für zu einseitig, erklärt sie jedoch mit der emotionalen Einstellung des Autors selbst: „Werfels Buch ist das Bekenntnisopfer einer Liebe, die seinem großen Erlebnis der italienischen Melodie einen vielleicht etwas allzu dithyrambischen, darum, wie bei allen Seelenräuschen, nicht gerade objektiven Ausdruck ver404 leiht.“ Trotz der von Baader angesprochenen konstruktiven Schwächen und der einseitigen Haltung des Erzählers, attestiert er der Haupthandlung um Verdi die Fähigkeit Spannung zu erzeugen, gerade durch die glaubwürdige Gestaltung der Hauptfigur: Dichtung, wie dem Dichter freisteht, mit Wahrheit biographischer Treue mischend, verengert Werfel diesen Zweifelzustand zur dramatischen Spannung weniger Wochen: [...] Schade um ein Werk, das in seinem menschlichen Urerlebnis und seinem festgefügten Weltbild voll starker innerer Spannung ist. [...] Verdi, der Künstler, und Verdi, der Mensch, spiegeln sich klar, vollmenschlich, durchsichtig im Bilde dieses Liebenden [d.i. Werfel, C.H.]: [...] Und in manchen Szenen dieses engeren Schicksals, in der Schilderung der „Lear“-Vernichtung, der Todesstimmungen inmitten der Fleischeslust venezianischen Karnevals, der nächtlichen Fahrt auf den Kanälen neben dem vermeintlichen Widersacher, der Schicksalsversöhnung an der Pforte des Toten, steigert sich Werfels Umwelt und Innenwelt malende Begabung zu starken, die Bezirke des Dramatisch-Heroischen streifenden Wirkungen.405 401

Franz Spunda, „Franz Werfels Verdi“, in Orplid I, Nr. 7/8 (1924), 117f. „Engeres Thema dieses kunstvollen, in seiner geistigen Struktur beherrscht komponierten, dennoch als Kunstwerk ob der Fülle dieses Konstruktiven brüchig gewordenen Werkes ist die Schicksalsstunde eines Schaffenden, [...].“ Fritz Ph. Baader, „Werfels Verdi-Roman“, in Die Literatur 27, Nr. 5 (1.1925), 270–272. 403 Ebd. 272. 404 Fritz Ph. Baader, „Werfels Verdi-Roman“, 272. 405 Ebd. Die Nebenfiguren hingegen findet er weniger gelungen, da diese nur in die Symbolik des Romans eingepasst würden: Er stört sich an den „[...] Gestalten, von der Blässe der Symbolik angekränkelt, umrankt und mit Nebenhandlungen, die an sich gleichgültig sind und in ihrem Erfindungs- wie figurellen Material übliches Romanniveau nicht überragen“. Die Nebenhandlung um Fischböck findet er „unerquicklich und peinlich“. Ebd. Die meisten Rezensenten bewerten jedoch auch das Figurenarsenal um Verdi herum positiv, weil es realistisch dargestellt sei. W.W. etwa spricht von dem „geradezu aus der Gegenwart genommenen Matthias Fischböck“. W.W., „Franz Werfel: Verdi. Roman der Oper“, in Neue Zeitschrift für Musik 1 (1.1925), 28f, hier 28. Häufig werden neben Verdi und Wagner Gritti, der Senator und Italo aus dem Ensemble der Nebenfiguren hervorgehoben: „Welche herrliche Rolle, dieser uralte Mann, der die Erinnerungen seiner lebenslänglichen Opernhaft in dem welken Parfum seiner Bibliothek feiert, und wiederum welcher Tenorglanz in dem jungen Herrn Italo, dessen glühend helle Sinne den Weg von der süßen Heimlichkeit in die betrügerische Öffentlichkeit vollenden müssen. Es ist ein Szenarium, bunt und vielfältig

402

294

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

W.W., der ebenfalls betont, dass die Konstruiertheit des Romans deutlich hervorsteche, entschuldigt diesen Mangel damit, dass er gleichzeitig die Notwendigkeit zur Konstruktion konstatiert und darüber hinaus die Darstellungsverfahren als besonders plastisch und realistisch und dementsprechend Werfels Einfühlungsvermögen als bewundernswert lobt. Die Gründe dafür, warum der Rezensent diese Konstruktion für notwendig hält, werden allerdings nicht explizit gemacht: Wohl schimmert die Konstruktion des Werkes bisweilen stark durch, so stark etwa wie bei den Werken der modernen Malerei, aber man empfindet hier ihre Notwendigkeit, da man um ihre Aufgabe weiß. Dabei sind Werfels Phantasievorstellungen plastisch und von einer südlichen Realistik, die einen an Romane moderner Italiener erinnert. Bewundernswert ist sein Einfühlungsvermögen in die italienische Volksseele.406

Am eingehendsten und differenziertesten hat Diebold, von dessen Einfluss auf Thomas Manns Einschätzung des Verdi oben schon einmal die Rede war, den Roman besprochen und dabei überwiegend auch scharf kritisiert. Auch Diebold geht von einer musikalischen Metaphorik aus, wenn er unterscheidet, in welchen Hinsichten Werfel im Verdi den „richtigen Ton“ treffe. Die operngeschichtlichen wie die -ästhetischen Überlegungen des Erzählers qualifiziert er als langweilig oder sogar peinlich. Sie lenkten von der Darstellung des „menschlichen“ Konflikts der Hauptfigur ab: Die zweite Tonart, die h i s t o r i s c h e , klingt weniger erfreulich; die Stimme wird heiser an Überanstrengung: die ganze Geschichte der Oper erzählen zu müssen. [...] Die dritte Tonart ist die der ä s t h e t i s c h e n Polemik; sie ist die peinlichste. [...] Ein ruchlos defaitistisches Vergleichen von völlig Unvergleichbarem [d.i. das Werk Verdis und Wagners]. [...] Hätte sich Werfel auf diesen psychologischen Konflikt beschränkt: auf die Alterstragödie eines Künstlers [...] – er wäre von einem unerträglichen Ballast befreit worden und sein Roman hätte, statt an historigestellt, um den großen Konflikt Verdi – Wagner, den Werfel sich heraufbeschwört, um seine Liebe durch einen Sieg sich zu bestätigen.“ Oskar Bie, „Bücher über Musik“, 195f. „Man erlebt nun zwar, wie die leidenschaftliche Liebe zu Verdis Werk immer wieder von psychologischen Gegenströmungen durchkreuzt wird, und wie die Konstruktion sich selbst in das dichterische Schauen drängt; aber es tauchen köstliche Gestalten auf, es ergibt sich aus diesem Venedig des Karnevals und der Abenteuer eine solche Fülle und Buntheit, daß immer noch genug für den Romanleser übrigbleibt, wenn auch das Wesentliche dadurch getrübt erscheint. Was ist das für eine schön herausgemeißelte Gestalt, dieser Marchese Gritti, ein mumienhafter Hundertjähriger, der, ohne besonderes Interesse am Leben, nur den Ehrgeiz hat, das Naturgesetz Lügen zu strafen! Oder auch der alte Senator, der, fanatischer Verehrer Verdis, wie eine Säule in diese, nach ihm, völlig entartete Zeit hineinragt! Es treten Menschen auf, eigens dazu geschaffen, die tiefe Menschlichkeit des Maestro, die allerdings durch sein Leben erhärtet ist, vor der Welt kundzutun. So spielt ein Liebesbund mit tragischem Ausklang hinein. Da und dort wird gewaltsam Spannung gesucht.“ Adolf Weißmann, „Werfels Verdi-Roman“. Dagegen steht Morris’ durchweg kritische Auffassung sowohl in Bezug auf die Hauptfigur wie auch auf die Nebenfiguren: „Verdi as protagonist of Werfel’s fable, seems scarcely to live, he moves, like a marionette obedient to the author’s hand through a series of episodes while the author speaks his lines from the wings.“ Die anderen Figuren findet er ebenso „conventional“, lediglich die Automatenhaftigkeit Grittis erzeuge einen ironischen Effekt, allerdings einen nach Morris’ Ansicht nicht intendierten. Lloyd Morris, „Fact and Fable“, 475f. 406 W.W., „Franz Werfel“, 28f.

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

295

scher Gebundenheit zu platzen, eine poetische Verdichtung erfahren. Denn der Grundfehler dieses Werkes als einer erzählenden Darstellung ist seine Ausweitung über den menschlichen Anlaß Verdi – Wagner hinaus in den künstlerisch völlig abstrakten Bezirk der Operng e s c h i c h t e ; und noch weiter: in die graue Theorie der Opernä s t h e t i k . 407

Im Gegensatz zu den meisten anderen Rezensenten schätzt Diebold auch den Stil des Romans als zu heterogen und damit letztlich als der Gattung unangemessen ein, anstatt sich von ihm „fesseln“ zu lassen: Von Lyrik zu Dramatik zu Epik verlor Werfels Sprache immer mehr ihren musischen Ton: und damit ihre Macht über das Gegenständliche. „Italo, wisse, ist Geiger“ – solche Ausdrucksweise fordert zu viel „Poesie“ für den heutigen Prosasatz (auch in Werfels Weise). Und die Schilderung des Corso Vittorio Emanuele, „der eine Straße von fü r Venedig ungewöhnlicher Breite ist“, spricht andererseits wieder fast zu wenig „Prosa“. Denn auch „Prosa“ kann eine Kunst sein. 408

Das Ergebnis dieses teils zu poetischen, teils zu wenig der Prosa angemessenen Duktus: „Der „Roman der Oper“, dessen innerer Stil von Musik strotzen sollte, ist sprachlich Werfels musiklosestes Werk geworden.“409 Auch die Darstellung der Hauptfigur ist dabei nach Diebolds Meinung von der stilistisch-gattungsbezogenen Heterogenität betroffen. Verdi wird von ihm demgemäß als psychologisch unglaubwürdiger Charakter eingeschätzt, der damit nur wenig zu emotionaler Anteilnahme anrege: Was Werfel in seinem Vorwort verkündet: daß er über eine peinlich historische Wahrheit hinaus die „Sage von einem Menschen“ schaffen wolle – es ist nicht gelungen. Es ist mißlungen an der Übersteigerung der Einzelzüge, an der Konstruktion eines zum Mythus untauglichen Materials. Die Sage verlangt großlinige Eindeutigkeit, monumentale Konturen, weite Bewegungen. Garibaldi ist ein Sagenheld. Werfels Verdi aber ist aus Details zusammengesetzt wie der ganze Roman. [...] der Dichter hält nicht Abstand, gibt sich preis dem Geschöpf seiner Liebe und räuchert die Stimmung mit Tendenz.410

Erst in der zweiten Hälfte des Romans gewinne Verdi an psychologischer Glaubwürdigkeit und werde damit sympathisch: Die p s y c h o l o gi s c h e Gestaltung kommt am ehesten aus dem Dichter Werfel: der Künstler erfühlt den Künstler [...]. Im Anfang wird unsere Sympathie gefährdet: Verdi wirkt zu vergrämt, zu flügellahm, zu weibisch, zu ungerecht im Verhältnis zu seiner sonst geschilderten Herzensgröße und seinem „Königsmut“, der sich nun allerdings in der ersten Hälfte des Buches etwas kläglich ausnimmt. Aber in den späteren Partien trifft Werfel doch auch das bedeutend Menschliche: Verdi in biographischen Reflexionen, Verdi bei der heroischen Verbrennung des „Lear“; Verdi in den Todesstimmungen der Karnevalsnacht; Verdi in Versöhnung mit dem toten Widersacher. Hier ist künstlerische Wahrheit; und hier fand Werfel gelegentlich auch wieder eine Sprache, die daran erinnern mag, daß er als Lyriker ein Dichter ist. 407

Bernhard Diebold, „Werfels Roman der Oper“, 1 (Sperrdruck im Original). Ebd409 Ebd. 410 Ebd. (Sperrdruck im Original) 408

296

3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

In seiner Aufzählung benennt Diebold dabei genau diejenigen prototypisch emotional konnotierten Situationen, um die herum der gesamte Roman konstruiert worden ist. Wenn er dabei zugesteht, dass Verdi in diesen Passagen des Romans zu einem sympathischen Charakter avanciert, so lässt sich daraus schließen, dass das emotionale Wirkungspotenzial der genannten Szenen auch durch die diversen von Diebold herausgearbeiteten erzählerischen Schwächen immerhin nicht vollständig zunichte gemacht worden ist. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich in allen Rezensionen Indikatoren finden lassen, die es rechtfertigen, den stark emotional getönten Stil des Romans als aufmerksamkeitssteuernd und -bindend zu qualifizieren; diese Funktion erfüllt Werfels Prosa offenbar für die meisten Rezensenten selbst dann noch, wenn gleichzeitig gestalterische Schwächen des Romans genannt oder dieser gar insgesamt kritisiert und negativ bewertet wird. Die emotionale Bindung an die Hauptfigur, in Form empathischer Anteilnahme und sympathiebezogener Hochwertung, scheint bei den meisten Rezensenten stark ausgeprägt zu sein – zumindest dann, wenn diese sich nicht grundsätzlich an der Axiologie des Romans stören. Eine Abwertung der Figur Verdis, die von den Rezensenten im Allgemeinen als gelungen dargestellt bewertet wird, erfolgt in der Regel mit Bezug auf kontextbezogenes, musikhistorisches und -theoretisches Wissen. Häufig finden sich auch lobende Erwähnungen der Orts- und Landschaftsdarstellungen, die Werfels Verdi zu einem gelungenen Venedigroman erklären. Ein widersprüchlicher Befund ergibt sich dagegen bei der Bewertung der Nebenfiguren: Hier schwankt das Urteil der Kritiker zwischen Lob für eine plastisch-realistische Darstellungsweise und dem Vorwurf von deren holzschnittartiger Typenhaftigkeit. Insgesamt liefert die Auswertung der Rezeptionszeugnisse jedoch vielfältige Hinweise dafür, dass der oben beschriebene stark emotional getönte Stil des Romans ebenfalls starke emotionale Wirkungen bei seinen professionellen Lesern entfaltet hat, die, wie anhand von Thomas Manns Reaktion zu beobachten war, erst in einem zweiten Schritt einer Überprüfung und Neubewertung unterzogen worden sind. Auffällig ist jedenfalls, dass die Inhaltsangaben in den eher positiv ausfallenden Rezensionen teilweise ähnliche sprachliche Emotionalisierungstechniken verwenden, wie sie sich im Roman selbst nachweisen lassen, somit also als Symptome einer stilistischen „emotionalen Ansteckung“ gedeutet werden könnten: Baader etwa verwendet, ähnlich wie der Erzähler, viele dreigliedrige asyndetische Reihungen mit emotional konnotiertem Vokabular. Die teils ungewöhnliche Interpunktion, elliptische Verkürzungen und antithetische Gegenüberstellungen steigern die Beschreibung der konflikthaften Beziehung zwischen Verdi und Wagner; ebenso wird die Quellenmetaphorik, hier allerdings in der abgewandelten Form des Blutstroms übernommen: Der Menschenscheue, der in sich Verbissene, der (in Werfels Auge) Unselbstische und Opferbereite erschaut im Theater, in der Gondel, auf der Straße nicht nur den künstlerischen, auch

3.4 Die Erschaffung eines Sympathieträgers: Werfels Verdi. Roman der Oper

297

den menschlichen Antipoden. Einen selbstsicheren, ich-verströmenden Triumphator, eine die Seelen fangende Kundry. Und fühlt: – Zwiespalt nicht nur der Kunst, vielmehr: der Menschheit, Mannheit, Rasse. Erkennt: daß hier kein Weg der Anerkennung auf gleicher Ebene, bestenfalls vielleicht Umgarnung bei innerer Mißschätzung möglich wäre. [...] Dem aus sich selbst Befreiten ist der Vollendete kein Schatten mehr. Aufrecht wandert der jugendliche Greis zurück in die Stille seiner ländlichen Einsamkeit, seinem Glauben, seiner Kunst wiedergegeben. Neu strömen die Quellen des Blutes, die durch zehn Jahre versiegten.411

Ähnliche dreigliedrige Asydenta finden sich auch bei Weißmann, der außerdem das antagonistische, dichotomische Handlungsschema des Romans sowie die darin zum Ausdruck kommenden Bewertungen in emotional konnotierten Begriffen wie „Lichtkreis“, „Gegner“, „Nachahmer“, „verleumdet“, „dämonische[...] Macht“ oder „gereinigt“ und durch das adversative „aber“ markiert und in der Beschreibung übernimmt: Verdi, von Zweifeln gejagt, ist gerade nach Venedig gekommen, gerade in den Lichtkreis des Mannes getreten, der sein heftigster Gegner ist; als dessen Nachahmer er verleumdet wird; vor dem er sich aber, als vor einer dämonischen Macht, verneigt. Er arbeitet an seinem Lear, er ringt mit ihm, verwirft, verbrennt ihn gar; immer Wagner vor Augen, immer mit der Sehnsucht, zu ihm, als ein aus dem Geist seines Volkes, darum anders Schaffender, zu gehen und so die Versöhnung mit ihm zu vollziehen. Dies erfüllt sich nicht; denn in dem Augenblick, da der oft verschobene Besuch geschehen soll, da er durch die Pforte des Palazzo Vendramin tritt, ist Wagner tot. Verdi aber bleibt lebendig und noch immer fähig, ein gereinigtes Kunstwerk zu schaffen.412

Auch W.W.s Wiedergabe des Romaninhalts ist durch einen asyndetisch-klimaktischen Dreischritt gekennzeichnet, der Verdi als „Menschen“ in den Mittelpunkt des Interesses stellt. Unter dem Aspekt der Emotionalisierung interessant ist auch die biblisch inspirierte Atem- und Schöpfungsmetaphorik: Im Mittelpunkt der Handlung steht Verdi, Verdi, der Zeitgenosse Zolas und Tolstois, der mit den sittlichen, sozialen und künstlerischen Forderungen des um 1848 sich auswirken wollenden Freiheitsgeistes auf seine Weise ernst machte, Verdi, der Volksmann, der die alte Form der Oper nicht etwa zerschlägt – denn sie ist Notwendigkeit, beruht auf dem Gesetz der italienischen Volksnatur -, sondern mit seinem Feueratem aufs neue durchglüht, erweitert und entwickelt; und dann Verdi als Mensch, seine wilde, rauhe und doch so zarte und keusche Seele, seine und seines Werkes Beschattung durch den glänzendsten Kometen der Romantik: Richard Wagner, sein innerer Kampf dagegen, sein Schwanken, sein Sichwiederselbstfinden und damit seine Überwindung dieser Zeit.413

Diese stilistischen Ähnlichkeiten zwischen Romantext und den Inhaltswiedergaben einiger Rezensionen berechtigen selbstverständlich nicht zu der Annahme, die Autoren seien beim Schreiben tatsächlich vom emotionalisierenden Duktus des Romans „angesteckt“ worden. Vielmehr können sie auch mit textsortenspezifischen Besonderheiten erklärt werden, nämlich insofern als Inhaltswiedergaben sich schon aus schreibökono411

Fritz Ph. Baader, „Werfels Verdi-Roman“, 271. Adolf Weißmann, „Werfels Verdi-Roman“. 413 W.W.: „Franz Werfel“, 28.

412

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3. Literaturgeschichtliche Anwendungsperspektiven

mischen Gründen häufig(er) an Stil und Wertstruktur des Ausgangstextes orientieren. Die anderen Textteile der ausgewerteten Rezensionen weisen die oben skizzierten Stileigentümlichkeiten dementsprechend nicht oder nicht in dieser Häufung auf. Dennoch ist es bemerkenswert, dass gerade diejenigen Rezensionen, die Werfels Roman positiv bewerten, häufig eine längere und erkennbar an Stil und Wortwahl des Romans orientierte Inhaltswiedergabe liefern. Auch wenn diese daher nicht als eindeutiger Hinweis auf eine starke Form der emotionalen Anteilnahme an den Figuren und insbesondere an Verdi dienen können, so lassen sich die skizzierten Stileigentümlichkeiten in Kombination mit einer expliziten positiven Bewertung oder bestimmten erlebensdeklarativen Formeln der Rezensenten als Hinweis auf die von Thomas Mann beschriebene „fesselnde“, also die Aufmerksamkeit bindende sowie spannungsinduzierende Funktion der Erzähltechnik im Verdi verstehen. Dass diese stark von der Bauform des Librettos inspiriert und durch diese vorgeprägt sei, hat in diesem Zusammenhang bereits Bloch angemerkt: Erfunden ist darin viel, der Roman, obwohl nur knapp über historischer Anleihe und Mittelmaß, ist kein Panoptikum, gut erfunden, nämlich gefunden, ist jedoch am späten Verdi das allemal Odysseehafte der Produktion, mit der schwierigen Aurora zum gelingenden Werk. [...] Rollands Beethoven-Roman reproduziert Führungen durch eine siebente Symphonie, noch sicherer muß Werfels Verdi-Roman selber wie die Bekanntheit einer Verdi-Oper ablaufen. Gerade der Gang per aspera ad astra ist derart, trotz Lear-Nacht, unerwartetem Othello-Blitz, notwendig genormt; die beschriebene Bild-Weise ist schon über die Hälfte zugebaut.414

414

Ernst Bloch, „Philosophische Ansicht des Künstlerromans“, in Literarische Aufsätze. Frankfurt am Main 1965, 269f.

4. Zusammenfassung und Ausblick

Durch Werfels Gedichte hatte ich den ganzen gestrigen Vormittag den Kopf wie von Dampf erfüllt. Einen Augenblick fürchtete ich, die Begeisterung werde mich ohne Aufenthalt bis in den Unsinn fortreißen.1 2. Juli. Geschluchzt über dem Prozeßbericht einer dreiundzwanzigjährigen Marie Abraham, die ihr fast dreiviertel Jahre altes Kind Barbara wegen Not und Hunger erwürgte, mit einer Männerkrawatte, die ihr als Strumpfband diente und die sie abband. Ganz schematische Geschichte.2 Ich vergaß hinzuzufügen und habe es später mit Absicht unterlassen, daß das Beste, was ich geschrieben habe, in dieser Fähigkeit, zufrieden sterben zu können, seinen Grund hat. An allen diesen guten und stark überzeugenden Stellen handelt es sich immer darum, daß jemand stirbt, daß es ihm schwer wird, daß darin für ihn ein Unrecht und wenigstens eine Härte liegt und daß das für den Leser [...] rührend wird. Für mich aber [...] sind solche Schilderungen im Geheimen ein Spiel, ich freue mich ja in dem Sterbenden zu sterben, nütze daher mit Berechnung die auf den Tod gesammelte Aufmerksamkeit des Lesers aus, bin bei viel klarerem Verstande als er, von dem ich annehme, daß er auf dem Sterbebett klagen wird, und meine Klage ist daher möglichst vollkommen, bricht auch nicht plötzlich ab wie wirkliche Klage, sondern verläuft schön und rein. Es ist so, wie ich der Mutter gegenüber immer über Leiden mich beklagte, die bei weitem nicht so groß waren, wie die Klage glauben ließ. Gegenüber der Mutter brauchte ich allerdings nicht so viel Kunstverstand wie gegenüber dem Leser.3

Die obige Zitatcollage veranschaulicht abschließend noch einmal das breite Spektrum emotionaler Wirkungen von Alltagserzählungen sowie literarischen, auch fiktionalen Texten, das, wie die Fallstudien zu Kafka, Perutz und Werfel ergeben haben, den soziokulturellen Verschiebungen des Modernisierungsprozesses und der damit einhergehenden Rationalisierung und Problematisierung menschlicher Emotionalität zum Trotz auch in den 1920er Jahren von stärker schematisierten wie auch kunstvoller komponierten Texten ausgelöst werden kann – das selbst bei einem hochkanonischen Autor wie Franz Kafka. Die Kenntnis literarischer Emotionalisierungstechniken kann dabei offenkundig von Autoren mehr oder weniger bewusst strategisch genutzt werden, um deren potenzielle Leser emotional „zu rühren“. Einen Beitrag zur genaueren Beschrei1. 2 3

Franz Kafka, Tagebücher 1910–1923, 148. Ebd. 225. Ebd. 326.

300

4. Zusammenfassung und Ausblick

bung dieser Emotionalisierungspotenziale literarischer Texte hat die vorliegende Studie geleistet.

4.1 Leistungsfähigkeit des vorgeschlagenen Modells Emotionale Reaktionen auf Kunstwerke lassen sich auf allen Ebenen ästhetischer Kommunikation beobachten. So unterscheidet Eder aus der Perspektive des Filmwissenschaftlers beispielsweise 1. perzeptuelle, nicht objektgebundene Gefühle und Stimmungen, die durch Bilder und Geräusche angeregt werden, 2. diegetische Emotionen, die sich auf das ,Was‘ und ,Wie‘ der erzählten Welt richten, 3. thematische Emotionen, die sich auf indirekt generierte Bedeutungen, Assoziationen und höherstufige Bewertungsprozesse beziehen, sowie 4. kommunikative Emotionen – Emotionen also, als deren Auslöser die Elemente des kommunikativen Aktes selbst fungieren, wie Produzent, Text, Rezipient oder die vom Kommunikat induzierten emotionalen Wirkungen, die Meta-Emotionen auslösen können.4 Für literaturwissenschaftliche Untersuchungen dürfte die erste Ebene der perzeptuellen Emotionen von eher geringer Relevanz sein, allerdings sollte nicht ausgeschlossen werden, dass auch die typographische Gestaltung von Texten, die Einbettung von Bildmaterial5 in den Text sowie andere unmittelbar wahrnehmbare paratextuelle Elemente wie Cover- und Umschlaggestaltung, Papierart etc. den Leser in eine positive oder negative Stimmung versetzen oder gar Gefühle auslösen können. Stark mit Textfaktoren im engeren Sinne korreliert, so wurde oben argumentiert, das Auftreten diegetischer Emotionen wie Empathie, Sympathie, Spannung, Überraschung und Desorientierung. Die Strategien, mit deren Hilfe Texte Einfluss auf das Auftreten diegetischer Emotionen nehmen können, sind oben genauer beschrieben, an die zugrundeliegenden mentalen Prozesse rückgebunden und mit Hilfe linguistisch-narratologischer Analysemethoden für literaturwissenschaftliche Rekonstruktionen operationalisiert worden. 4 5

Vgl. Jens Eder, „Casablanca and the Richness of Emotion“, 234 sowie ders, Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, 134–147, 647–706. Vgl. für einen knappen interdisziplinären Überblick über die mit Bildern befasste emotions-, bildund kommunikationswissenschaftliche Emotionsforschung Arvid Kappas und Marion G. Müller, „Bild und Emotion – ein neues Forschungsfeld. Theoretische Ansätze aus Emotionspsychologie. Bildwissenschaft und visueller Kommunikationsforschung“ sowie den Sammelband Mediale Emotionen. Zur Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound. Hg. v. Oliver Grau und Andreas Keil und die ältere Studie von Christian Mikunda, Kino spüren. Strategien emotionaler Filmgestaltung. Vgl. auch die Projekte in der von Kerstin Thomas geleiteten Emmy Noether-Nachwuchsgruppe „Form und Emotion. Affektive Strukturen in der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts und ihre soziale Geltung“. Informationen unter: http://www.kunstgeschichte.uni-mainz.de/1645.php (letzter Abruf: 01.07.2011).

4.1 Leistungsfähigkeit des vorgeschlagenen Modells

301

Thematische wie kommunikative Emotionen sind dagegen textanalytisch schwerer, in vielen Fällen sogar gar nicht zu erfassen. So können beispielsweise Figuren sowohl als Elemente der erzählten Welt wie auch als Symbole, Symptome oder Artefakte Emotionen beim Leser auslösen: Als Träger übergeordneter Bedeutungen6 verstanden haben sie einen symbolischen Gehalt und erzeugen thematische Emotionen, als Anzeichen für kommunikative Ursachen und Wirkungen kommt ihnen eine symptomatische7 sowie als künstlich erschaffenen Wesen eine artifizielle Bedeutung8 zu, die kommunikative und Meta-Emotionen hervorrufen können.9 Diese emotionalen Wirkungen von Rezeptionsprozessen sind jedoch mit einer rein textzentrierten, linguistisch-narratologisch fundierten Methodik nicht mehr beschreibbar. Vielmehr erfordert deren Analyse weitreichende Kontextrekonstruktionen z.B. zeitgenössischer Emotionskonzepte, der kommunikativen Bedingungen des jeweiligen soziokulturellen Rezeptionsumfeldes, der in verschiedenen Autoren- und Lesermilieus geltenden literarischen Darstellungskonventionen etc. Studien, deren Ziel die Beschreibung der von literarischen Texten ausgelösten thematischen oder kommunikativen Emotionen ist, sind damit auf sozialgeschichtliche und kulturwissenschaftliche Methoden angewiesen.10 Um dabei überhaupt eingrenzen zu können, nach welchen Kriterien solche Rekonstruktionen vorgenommen werden können, empfiehlt sich auf systematischer Ebene der Einbezug einer emotionspsychologischen Heuristik sowie auf historischer Ebene, wie die im literaturgeschichtlichen Teil vorgenommenen Beispielanalysen verdeutlicht haben, die Auswertung historischer Rezeptionszeugnisse im Hinblick auf die dort angesprochenen emotionalen Wirkungen. Beide Vorgehensweisen haben notwendigerweise ihre „blinden Flecken“: Auf systematischer Ebene muss die Existenz relativ basaler psychischer Prozesse bei der Emotionsgenese vorausgesetzt werden, deren überzeitliche Konstanz derzeit noch nicht abschließend geklärt ist, vielmehr zum Beispiel aus evolutionspsychologischer und kulturwissenschaftlicher Sicht kontrovers diskutiert wird. Auf historischer Ebene ergibt sich einerseits das Problem, mit dem sich alle rezeptionsgeschichtlichen Untersuchungen konfrontiert sehen: nämlich dasjenige der Quantität und Qualität des zur Verfügung stehenden Materials; so geben etwa die hier herangezogenen Rezeptionszeugnisse in der Regel keine 6 7

8 9 10

Z.B. als Personifikationen eines bestimmten Prinzips, einer zeittypischen Geschlechterrolle etc. Z.B. als Träger einer politischen Botschaft des Autors, als Ursache für die Veränderung des Gesellschaftsbildes zeitgenössischer Rezipienten etc. Die stark identifikatorischen Reaktionen auf Kafkas Schloß lassen sich im Rahmen von Eders Modell folglich auch so erklären, dass K. als symbolischer, prototypischer Vertreter seiner Zeitgenossen wie auch als symptomatische Stellvertreterfigur Kafkas statt starker diegetischer vor allem thematische und kommunikative Emotionen bei seinen Rezipienten ausgelöst hat. Vgl. oben Kapitel 2.5 zu den Artefaktemotionen. Vgl. Jens Eder, „Drei Thesen zur emotionalen Anteilnahme an Figuren“, 375f. Es sei denn, literaturpsychologischen Untersuchungen gelingt es in der Zukunft, genauere Kriterien zu benennen, wie Texte beispielsweise Realitätseffekte hervorrufen können. Dann wären möglicherweise immerhin einige der in Abschnitt 2.5 knapp diskutierten textuellen Trigger von Artefaktemotionen genauer erfassbar.

302

4. Zusammenfassung und Ausblick

spontanen Reaktionen wieder und sind im Hinblick auf die Beschreibung emotionaler Wirkungen nicht immer hinreichend informativ. Damit ergibt sich notwendig ein mehr oder minder großer Vagheitsbereich bei der historischen Rekonstruktion emotionaler Wirkungen von Texten, der jedoch durch die Kombination von emotions- und lesepsychologischen, textanalytischen, rezeptionsgeschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Methoden sowie durch eine möglichst genaue und meta-sprachlich klare Argumentation minimiert werden kann. Der erste Teil einer so modellierbaren umfassenden Simulation emotionaler literarischer Kommunikation ist im systematisch ausgerichteten ersten Kapitel dieser Arbeit durch die Einziehung einer möglichst voraussetzungsarmen emotionspsychologischen Heuristik theoretisch sowie durch die Diskussion geeigneter textwissenschaftlicher Analysekategorien methodisch begründet,11 anschließend im historischen zweiten Teil angewandt und im Abgleich mit zeitgenössischen Rezensionen kritisch überprüft worden: Für Kafkas Romanfragment Das Schloß konnte mit Hilfe des in Abschnitt 2 entwikkelten textbezogenen Analyseinstrumentariums gezeigt werden, dass Informationsvergabepraxis und Erzähltechnik einen global desorientierenden Effekt erzeugen, der eine starke emotionale Anteilnahme an den Figuren sowie den Aufbau von Rätsel- oder Suspensespannung weitgehend unterbindet. Im Abgleich mit zeitgenössischen Rezeptionszeugnissen lässt sich diese These stützen, gleichzeitig wird sie durch das rezeptionsbezogene Kontextmaterial ergänzt und erweitert: Obwohl die Informationsvergabe im Roman den Aufbau stabiler Figurenkonzepte und der damit verbundenen Möglichkeiten der empathischen Teilhabe sowie der Herausbildung von Sympathie oder Suspensespannung erschwert oder gar verhindert, lässt sich bei vielen professionellen Lesern eine stark identifikatorische Haltung gegenüber der Hauptfigur K. nachweisen, die sich nur durch den Einfluss von Kontextfaktoren erklären lässt. Gerade die Opazität von K.’s Charakter wird augenscheinlich genutzt, um eigene, für zeittypisch gehaltene Gefühlszustände in das vom Text nur sehr rudimentär entworfene psychische Figurenkonzept zu integrieren und auf dieses anschließend wiederum mit starken, geradezu emphatischen Emotionen zu reagieren. Auch im Hinblick auf die emotionale Wirkung von Kafkas Text hat sich Brods religiös-existentialistische Deutung damit als besonders wirkmächtig für die erste Phase der Rezeption erwiesen. Allgemeiner lässt sich damit unter Verweis auf die Ergebnisse der exemplarischen Modellanalyse zu Kafka festhalten, dass vorgegebene Makroschemata in Kombination mit einer weitgehend ambivalenten Form der textuellen Emotionsgestaltung die emotionalen Reaktionen während des Rezeptionsprozesses offensichtlich entscheidend beeinflussen und daher für stärker kontextbezogene Analysen zwingend rekonstruiert und in der Analyse berücksichtigt werden müssen.

11

Vgl. dazu zusammenfassend Abschnitt 2.6.

4.1 Leistungsfähigkeit des vorgeschlagenen Modells

303

Die beiden folgenden Beispielanalysen zu Perutz’ Meister und Werfels Verdi haben bestimmte Einzelaspekte, die in Auseinandersetzung mit den jeweiligen Texten in der Forschung diskutiert worden sind, in den Mittelpunkt gestellt; im Falle des Meisters die Frage nach der Genrezugehörigkeit und dem emotionalen Wirkungspotenzial unzuverlässiger Erzählverfahren, im Falle des Verdi diejenige nach der Musikalität des Erzählstils. Die Ergebnisse beider Analysen verdeutlichen, dass die Berücksichtigung der vom Text induzierten emotionalen Wirkung eine wichtige und sinnvolle Ergänzung literaturwissenschaftlicher Interpretationen darstellt: In Bezug auf den Meister des jüngsten Tages wurde argumentiert, dass Perutz’ Text nach den im Fach üblichen und weitgehend akzeptierten Explikationen des Phantastikbegriffs zwar nicht diesem literarischen Genre zugeordnet werden kann, der emotionale Effekt des Romans jedoch mit demjenigen der Angst und Verunsicherung vergleichbar ist, der für die literarische Phantastik geltend gemacht worden ist. Diese These wird durch einen kontrastiven Vergleich mit dem ein Jahr später erschienenen Roman Turlupin untermauert. Die anhand von Perutz’ Text gewonnenen Einsichten unterstreichen damit die Notwendigkeit, auch die eigenen emotionalen Reaktionen während des Interpretationsvorgangs einer kritischen Überprüfung zu unterziehen, da diese das Untersuchungsergebnis stark beeinflussen, im ungünstigsten Fall auch verzerren können. Im Falle des Meisters etwa gilt es, das Verhältnis von erzählerischer Unzuverlässigkeit, Verunsicherung und Angst und literarischer Phantastik neu zu durchdenken. Wie die Textanalyse gezeigt hat, ist Vorsicht geboten bei dem Versuch, die zu vermutenden Rezeptionseffekte zu eng an die Zuschreibung zu einem bestimmten Genre zu koppeln. Umgekehrt kommt der jeweiligen Gattungs- und Genrezugehörigkeit u.U. nichtsdestotrotz hohe Relevanz bei der Beschreibung emotionaler Wirkungspotenziale von literarischen Artefakten zu. Allerdings lassen sich hier auf systematischer Ebene, so lässt die Analyse zu Perutz’ Roman vermuten, nicht für alle Gattungen oder Genres eindeutige Zuordnungen treffen. In diesem Fall sollten Annahmen über deren emotionalen Effekt also auch nicht Eingang in eine Explikation des jeweiligen Gattungs- oder Genrebegriffs finden, vielmehr als deren funktionale Elemente aufgefasst werden. Für Werfels Roman wurde die Frage nach der Musikalität seiner Prosa unter einem medienkomparatistischen Gesichtspunkt emotionstheoretisch reformuliert und anschließend mit Blick auf den Sprachstil, die Figurenkonstellation und den Handlungsverlauf überprüft. Hier wurde der Nachweis erbracht, dass die italienische Oper in Werfels erstem Roman nicht nur das Hauptthema des Textes selbst bildet, sondern dass sich unter emotionsbezogenem Aspekt auch stilistische Parallelen zwischen dem von Werfel favorisierten Schreibverfahren und den Emotionalisierungstechniken prototypischer Opernlibretti v.a. italienischer Provenienz nachweisen lassen. Damit lässt sich die für Werfels Prosa bereits in der frühen Forschungsliteratur genannte Musikalitätsthese aus wirkungsbezogener Sicht insofern rechtfertigen, als tatsächlich librettoanaloge Textstrukturen in Werfels Verdi benannt und genauer beschrieben werden können.

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4. Zusammenfassung und Ausblick

Die Beispielanalyen illustrieren damit anhand dreier Romane der Prager deutschsprachigen Literatur 1. exemplarisch die Bandbreite der literarischen Emotionalisierungstechniken in diesem Zeitabschnitt, die sich nicht simplifizierend als solche der Immunisierung oder der Erzeugung von Affektscham beschreiben lassen, und verweisen damit 2. auf die Notwendigkeit, diese Techniken in literaturwissenschaftlichen Interpretationen genauer zu analysieren und bei der Hypothesenbildung stärker zu berücksichtigen. Ausgehend von den hier vorgetragenen Ergebnissen lassen sich weitere literaturgeschichtliche Untersuchungen anschließen, die aus emotionswissenschaftlicher Perspektive beispielsweise die Veränderung der Figurendarstellung im Werk Kafkas, das Wechselverhältnis von Spannungserzeugung und erzählerischer Unzuverlässigkeit in Perutz’ Romanen oder die stilbildende Funktion der italienischen Opernästhetik für Werfels Œuvre genauer nachzeichnen oder allgemeiner die Vielfalt der Emotionalisierungstechniken in Erzähltexten oder anderen literarischen Gattungen der 1920er Jahre, auch in historisch-vergleichender Perspektive, umfassender in den Blick nehmen.

4.2 Forschungsdesiderata Auf der systematischen Ebene ergeben sich gleichfalls eine Reihe von Anschlussfragen und Forschungsperspektiven: nicht nur, was die Beschreibung thematischer und kommunikativer Emotionen angeht, sondern auch auf der Ebene der diegetischen Emotionen. Einige der hier noch zu lösenden Probleme sind bereits oben im zweiten Kapitel angesprochen worden. Diese betreffen vor allem verschiedene Formen der Sympathielenkung, der Erzeugung von Rätselspannung sowie der Hervorbringung desorientierender Effekte. Für Wertungs- und Sympathiebildungsprozesse im Hinblick auf literarische Figuren und figural gestaltete Erzähler ist bisher noch unklar, welche Wertmaßstäbe hier eine wichtige, möglicherweise sogar die entscheidende Rolle spielen und ob allgemeingültige Regeln angegeben werden können, wie sich figurenbezogene Werthierarchien auf der globalen Ebene literarischer Texte herausbilden. Diese Fragen wären nur durch weitere empirische Forschung zu klären; es kann jedoch bezweifelt werden, dass solche Allaussagen, die dem komplexen und variablen Prozess des Textverstehens letztlich nicht gerecht werden, überhaupt möglich sind. Nichtsdestotrotz kann aus pragmatischen Gründen angenommen werden, dass moralische Wertmaßstäbe im Sympathiebildungsprozess eine besonders wichtige Rolle spielen, da sie definitionsgemäß eine stark normative, handlungsleitende und einstellungsbildende gesellschaftliche Funktion erfüllen und damit am besten intersubjektiv nachvollziehbar und kommunizierbar sind. 12 Anders gesagt: Die Attribution moralischer Werte zu Figurenkonzepten erlaubt es

4.2 Forschungsdesiderata

305

dem Interpreten, besonders eindeutige Zuordnungen zu Sympathiewerten gerade wegen ihrer hohen sozialen Verbindlichkeit vorzunehmen. Textanalytisch interessant sind dann aber natürlich vor allen Dingen die Veränderungen dieser Figurenkonzepte und der ihnen zugeordneten Sympathiewerte im Fortgang der Lektüre und die dadurch erzeugten emotionalen Effekte der Spannung, Überraschung, Enttäuschung, Freude etc.13 sowie die Ausbildung unterschiedlicher figurenbezogener Standards in einzelnen Lesermilieus. Die Erzeugung von Spannung ist demgegenüber bereits besser erforscht, vor allem in ihrer Wechselwirkung mit dem Verhältnis zum Protagonisten in Form von Suspensespannung. Für die Rätselspannung lassen sich demgegenüber noch keine intensivierenden Textfaktoren benennen – ein Umstand, der sich vor allem damit erklären lässt, dass das Phänomen der Rätselspannung bisher kaum empirisch untersucht worden ist. Ein ähnlicher Befund ergibt sich für desorientierende Rezeptionseffekte. Hier müssen Folgeuntersuchungen detaillierter explizieren, welche verschiedenen Typen von Desorientierung aus textbezogener Perspektive beschrieben werden können und auf welche Textfaktoren sich diese möglicherweise zurückführen lassen.14 Insgesamt müssen die Wechselwirkungen der einzelnen hier diskutierten diegetischen emotionalen Effekte auf systematischer Ebene noch differenzierter zueinander in Beziehung gesetzt werden. So 12

13

14

Dagegen kann vorgebracht werden, dass diese normative, bindende Kraft moralischer Werte und der damit verbundenen Verhaltensmaßregeln vermutlich gerade durch die Regeln der Fiktionalität in ihrer Wirksamkeit abgeschwächt werden. Ein Argument gegen diese Annahme ließe sich möglicherweise aus der philosophischen Debatte um das Problem des imaginativen Widerstands ableiten: Diese geht von der Frage aus, welche Bedeutung es für das Verhältnis von ethischer und ästhetischer Bewertung von Kunst hat, dass es für Rezipienten leichter zu sein scheint, fiktionale Welten zu imaginieren, die in deskriptiver Hinsicht von unserer tatsächlichen Welt abweichen, als solche, in denen abweichende moralische Wertmaßstäbe gelten. Dieses Phänomen des imaginativen Widerstands könnte als Indiz gedeutet werden, dass akkommodierende Leseprozesse im Hinblick auf moralische Figurenbewertungen eher selten vorkommen und damit die These von der besonderen Relevanz gerade moralischer Wertzuschreibungen zu Figuren im Sympathiebildungsprozess stützen. Da der imaginative Widerstand die Konstitution der innerhalb der Diegese geltenden moralischen Wertstruktur betrifft, sollte er sich prinzipiell auch auf die Herausbildung der Figurenkonzepte auswirken. Mit der Feststellung einer besonderen Beharrungskraft lebensweltlicher moralischer Wertmaßstäbe bei der Rezeption von Kunstwerken ist aber noch nicht gesagt, dass diese auch dominant sind gegenüber anderen, nicht-moralischen Wertmaßstäben. Vgl. zum Problem des imaginativen Widerstands Catrin Misselhorn, „Künstliche Welten – echte Gefühle? Zum Problem der moralischen Bewertung von Kunst“. Dabei muss allerdings betont werden, dass es vermutlich gerade nicht die einem Figurenkonzept zugeordneten moralischen Werte sind, die besonders starke emotionale Wirkung während der Lektüre begünstigen, sondern vermutlich viel eher diejenigen Werte, die zu einer Gefallenswertung beim Rezipienten führen, weil sie eine stärkere Verbindung zu dessen persönlicher Biographie und Erfahrungswelt aufweisen. Diese intuitiv gewonnen Hypothese bedarf allerdings der empirischen Überprüfung. Vgl. dazu das Göttinger Promotionsprojekt von Kamil Siwiec zu Strategien der Desorientierung des Lesers in postmoderner Prosa.

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4. Zusammenfassung und Ausblick

konnte in der Kafkaanalyse gezeigt werden, dass global desorientierend wirkende Darstellungstechniken die Herausbildung stabiler Figurenkonzepte und damit empathische und sympathiebasierte emotionale Reaktionen ebenso wie den Spannungsaufbau stark abschwächen. Umgekehrt erzeugt und intensiviert eine enge emotionale Bindung an eine Figur in Kombination mit bestimmten Handlungsmustern und Ereignisstrukturen Suspensespannung. Andere verstärkende oder abschwächende Wechselwirkungseffekte müssen dagegen noch eingehender untersucht werden. Inwiefern z.B. die Rätselspannung durch Empathie oder Sympathie mit einzelnen Figuren oder durch die Anzahl der vom Text aufgeworfenen Rätsel beziehungsweise von deren Lösungsmöglichkeiten beeinflusst wird, ist bisher noch ungeklärt. Da Rätselspannung qua definitionem jedoch unabhängig vom Verhältnis zu den Figuren eines Textes erzeugt werden kann, sind die beobachtbaren Korrelationen im ersten Fall vermutlich nicht besonders stark ausgeprägt. Auch die Auslöse- beziehungsweise Folgephänomene der verschiedenen Spannungsarten, wie z.B. Angst, Hoffnung, Enttäuschung, Erleichterung, Komik, sind bisher auf systematischer Ebene nur unzureichend untersucht worden. Nur am Rande thematisiert wurde darüber hinaus die Evokation literarischer Stimmungen, die im Vergleich zum Film mit signifikant anderen Mitteln erzeugt wird. Allgemein wurde hier davon ausgegangen, dass der Gebrauch von stark emotional konnotierten Lexemen ohne klaren Objektbezug eine diffuse emotionale Gestimmtheit während der Lektüre erzeugen können. Wie solche Prozesse der Stimmungserzeugung genauer beschrieben werden können, stößt dabei mittlerweile auf ein verstärktes literaturwissenschaftliches Interesse,15 stand hier jedoch nicht im Fokus des Erkenntnisinteresses. Trotzdem verdient die Frage, wie mit Hilfe literarischer Mittel Stimmungen beim Lesen erzeugt werden, besondere Aufmerksamkeit gerade im Hinblick auf die medienkomparatistische Ausdifferenzierung des vorgestellten Modells. Erste Überlegungen zur medienspezifischen Varianz bei der Bereitstellung auslöserelevanter Schemata von Emotionen finden sich etwa bei Mellmann,16 jedoch bedarf es hier noch weiterer systematischer Klärungsversuche.17 15 16

17

Vgl. dazu etwa die vom 29. bis 31. Oktober 2009 an der Universität Mannheim durchgeführte Tagung „,Stimmung‘ – zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie“. Dies betrifft beispielsweise die Frage, inwiefern literarische Texte ähnlich wie Filme somatische empathische Reaktionen auslösen können. Mellmann vermutet hier, dass die dazu erforderliche Schemakongruenz von literarischen Texten nicht in ausreichendem Maße erzeugt werden kann. Vgl. Katja Mellmann, Emotionalisierung, 122. Einen Beitrag hierzu leistete die vom 18. bis 20.11.2010 von Sandra Poppe am ZiF in Bielefeld durchgeführte Tagung „Emotionsvermittlung und Emotionalisierung in Literatur und Film“. In der Abschlussdiskussion wurde vorgeschlagen eine medienspezifische Differenzierung hinsichtlich der jeweiligen medialen Möglichkeiten der Erzeugung von Schemakongruenz sowie der unterschiedlichen zeitlichen Entfaltung der emotionsrelevanten Stimuli vorzunehmen. Dazu müssten auch verschiedene Nutzungsgewohnheiten in den Blick genommen werden (z.B. einmalige vs. wiederholte Rezeption). Allgemein wurde darauf hingewiesen, dass die Rezeptionssituation bei der Hypothesenbildung stärker Berücksichtigung finden müsse. Offen blieb dagegen, welche Präsentationsfor-

4.2 Forschungsdesiderata

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Hinzu kommt weiterhin, dass die für die hier skizzierten umfangreichen Rekonstruktionen einer mit Emotionen befassten historischen Narratologie notwendigen Kontexte bisher zum Teil nur unzureichend erschlossen sind. So liegen kulturwissenschaftlich verfahrende Studien zu einzelnen Emotionskonzepten bisher nur für einige wenige Emotionen und in für einzelne Zeitabschnitte sehr unterschiedlicher Dichte vor. Damit eröffnet sich einer zukünftigen, mit emotionalen Wirkungen befassten Literaturwissenschaft ein umfangreiches Forschungsfeld, bei dessen Erschließung jedoch nicht vergessen werden sollte, dass emotionales Erleben beim Lesen ein dynamischer und stark von individuellen Voraussetzungen geprägter Prozess ist, der durch die oben entworfene Methodik nur in Teilen erfasst werden kann. Dieser intersubjektiv nachvollziehbare und stark mit Textfaktoren korrelierte Teil der Leseremotionen lässt sich jedoch, entgegen alltagspsychologischer Annahmen zur idiosynkratischen Form menschlicher Gefühle, durchaus mit Hilfe von literatur- und kulturwissenschaftlichen Methoden beschreiben. Als Grundlage für solche Beschreibungen ist hier eine relativ voraussetzungsarme und damit prinzipiell um zukünftige lesepsychologische Forschungsergebnisse erweiterbare kognitionspsychologische Heuristik entwickelt worden, die sich mit genuin sprach- und literaturwissenschaftlichen Analyseinstrumentarien verbinden und so gewinnbringend für die Textanalyse operationalisieren lässt. Die Studie illustriert damit ganz allgemein auch den Nutzen kognitionspsychologischer Forschungsergebnisse für die literaturwissenschaftliche Textanalyse, ohne damit allerdings für einen simplen Theorieimport plädieren zu wollen. Vielmehr sollte deutlich geworden sein, dass literatur- und kognitionswissenschaftliche Fragestellungen, Modelle und Methoden dann fruchtbar aufeinander bezogen werden können, wenn zuvor 1. eine einheitliche Terminologie entwickelt worden ist und die entsprechenden Methoden und Erkenntnisinteressen 2. von beiden Seiten zur Kenntnis genommen und kritisch reflektiert werden. Von Seiten der Literaturwissenschaft ist dabei immer zu fragen, welchen Vorteil eine solche interdisziplinäre Öffnung erbringen kann. Dass dieser für die differenziertere Beschreibung emotionaler Wirkungen literarischer Artefakte ganz erheblich sein kann, haben die vorliegenden Ausführungen gezeigt.

men gegebenenfalls eher im Stande sind empathische Rezeptionsprozesse auszulösen und ob bestimmte Emotionen eher empathisch geteilt würden als andere. Vgl. dazu auch den Vorbereitung befindlichen Tagungsband.

5. Verzeichnisse

5.1 Siglenverzeichnis Kafka, Franz: Das Schloß = DS Perutz, Leo: Der Meister des jüngsten Tages = MjT Ders.: Turlupin = Tu Werfel, Franz: Verdi. Roman der Oper = VOR

5.2 Literaturverzeichnis 5.2.1 Primärtexte Blei, Franz: Das große Bestiarium der modernen Literatur. Berlin 1922. Kafka, Franz: Das Schloß. In der Fassung der Handschrift hg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1982. Ders.: Das Schloss. Roman. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Max Brod. 22.–26. Tausend. Berlin 1967. Ders.: Tagebücher 1910–1923. Hg. v. Max Brod. Frankfurt am Main 1983. Perutz, Leo: Herr, erbarme dich meiner. Hg. und mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller. Wien 1995 Ders: Der Meister des jüngsten Tages. Reinbek bei Hamburg 1990. Ders.: Nachts unter der steinernen Brücke. München 2003. Ders.: Der schwedische Reiter. Hg. und mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller. München 1993. Ders.: Turlupin. Wien/Hamburg 1984. Ders: Zwischen neun und neun. Mit einem Nachwort hg. von Hans-Harald Müller. München 2004. Salinger, Jerome D.: Nine Stories. New York 1953. Werfel, Franz: Realismus und Innerlichkeit. Ein flammender Aufruf des großen Dichters. Berlin/Wien/Leipzig 1931. Ders.: Verdi. Roman der Oper. Berlin/Wien/Leipzig 1924. Ders.: Der Weltfreund. Gedichte. Nachdruck der Ausgabe von 1911. Nendeln 1973.

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5. Verzeichnisse

5.2.2 Sekundärliteratur zum systematischen Teil Ackermann, Kathrin: „Die Entstehung des Nervenkitzels. Zum Verhältnis von psychologischer und literaturwissenschaftlicher Spannungsforschung“, in Biologie, Psychologie, Poetologie. Verhandlungen zwischen den Wissenschaften. Hg. v. Walburga Hülk und Ursula Renner. Würzburg 2005, 117–128. Affekte. Analysen ästhetisch-medialer Prozesse. Mit einer Einleitung von Mieke Bal. Hg. v. Antje Krause-Wahl, Heike Oehlschlägel und Serjoscha Wiemer. Bielefeld 2006. Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. v. JeanDaniel Krebs. Bern/Berlin u.a. 1996. Alfes, Henrike: Literatur und Gefühl. Emotionale Aspekte literarischen Schreibens und Lesens. Opladen 1995. Der amerikanische und britische Kriminalroman. Genres – Entwicklungen – Modellinterpretationen. Hg. v. Vera Nünning. Trier 2008. Andringa, Els: „Effects of ,Narrative Distance‘ on Readers’ Emotional Involvement and Response“, in Poetics 23 (1996), 431–452. Anz, Thomas: „Literaturwissenschaftliche Text- und Emotionsanalyse. Beobachtungen und Vorschläge zur Gefühlsforschung”, in Literatur und Ästhetik. Texte von und für Heinz Gockel. Hg. v. Julia Schöll. Würzburg 2008, 39–66. Ders.: „Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung”, in literaturkritik.de 12 (2006), abrufbar unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10267&ausgabe=200612 (letzter Abruf: 15.06.11) Ders.: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 1998. Arcadia 44,1 (2009): „Kulturen der Leidenschaften – Leidenschaften in den Kulturen“. Hg. v. Dorothee Kimmich und Schamma Schahadat. Audiovisuelle Emotionen. Emotionsdarstellung und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medienangebote. Hg. v. Anne Bartsch, Jens Eder und Kathrin Fahlenbrach. Köln 2007. Barthel, Verena: Empathie, Mitleid, Sympathie. Rezeptionslenkende Strukturen mittelalterlicher Texte in Bearbeitungen des Willehalm-Stoffes. Berlin 2008. Barthes, Roland: Die Lust am Text. Aus dem Französischen von Traugott König. Frankfurt am Main 1974. Bartsch, Anne und Susanne Hübner: Emotionale Kommunikation – ein integratives Modell. Abrufbar unter: http://webdoc.sub.gwdg.de/ebook/dissts/Halle/Bartsch2004.pdf (letzter Abruf: 15.06.11) Bartsch, Anne, Roland Mangold, Reinhold Viehoff und Peter Vorderer: „Emotional gratifications during media use – an integrative approach“, in Communications 31,3 (2006), 261–278. Beecher, Donald: „Suspense“, in Philosophy and Literature 31 (2007), 255–279. Bläß, Ronny: „Satire, Sympathie und Skeptizismus. Funktionen unzuverlässigen Erzählens“, in Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. Hg. v. Fabienne Liptay und Yvonne Wolf. München 2005, 188–203. Borringo, Heinz-Lothar: Spannung in Text und Film. Spannung und Suspense als Textverarbeitungskategorien. Düsseldorf 1980. Breithaupt, Fritz: Kulturen der Empathie. Frankfurt am Main 2010. Brewer, William F. und Edward H. Lichtenstein: „Stories Are To Entertain: A Structural-Affect Theory Of Stories“, in Journal of Pragmatics 6 (1982), 473–486.

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Fietz, Lothar: „Möglichkeiten und Grenzen einer Deutung von Kafkas Schloß-Roman“, in Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Wissensgeschichte 1 (1963), 71– 77. Fleckinger, Markus: Der unzuverlässige Erzähler bei Leo Perutz. Eine Strukturanalyse unzuverlässigen Erzählens. Saarbrücken 2009. Foltin, Lore B. und John M. Spalek: „Franz Werfel’s Essays. A Survey“, in The German Quarterly 42,2 (1969), 172–203. A Franz Kafka Encyclopedia. Hg. v. Richard T. Gray. Westport 2005. Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924–1938. Hg. v. Jürgen Born unter Mitwirkung von Elke Koch, Herbert Mühlfeit und Mercedes Treckmann. Frankfurt am Main 1983. Franz Kafka und die Prager deutsche Literatur. Deutungen und Wirkungen. Hg. v. Hartmut Binder. Bonn 1988. Franz Werfel. An Austrian Writer Reassessed. Hg. v. Lothar Huber. Oxford 1989. Franz Werfel. Neue Aspekte seines Werkes. Hg. v. Karlheinz Auckenthaler, Szeged 1992. Fritz, Susanne: Die Entstehung des ,Prager Textes‘. Prager deutschsprachige Literatur von 1895 bis 1934. Dresden 2005. Fromm, Waldemar: „Kafka-Rezeption“, in Kafka-Handbuch 2008, 250–272. Fülleborn, Ulrich: „Zum Verhältnis von Perspektivismus und Parabolik in der Dichtung Kafkas“, in Wissenschaft als Dialog. Studien zu Literatur und Kunst seit der Jahrhundertwende. Hg. v. Renate von Heydebrand und Klaus Günther Just. Stuttgart 1969, 289–312 und 509–513. Gassmann, Arno A.: Lieber Vater, lieber Gott. Der Vater-Sohn-Konflikt bei den Autoren des engeren Prager Kreises (Max Brod – Franz Kafka – Oskar Baum – Ludwig Winder). Oldenburg 2002. Gay, Peter: „The Hunger for Wholeness: Trials of Modernity“, in Ders.: Weimar Culture. The Outsider as Insider. London 1969, 70–101. Geißler, Rolf: „Zur Lesart des magischen Prag. Perutz, Meyrink, Kafka“, in Literatur für Leser 12 (1989), 159–178. Gier, Albert: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung, Darmstadt 1998. Gresch, Donald: „The Fact of Fiction: Franz Werfel’s Verdi: Roman der Oper”, in Current Musicology 28 (1979), 30–40. Gruber, Gerold W.: „Literatur und Musik – ein komparatives Dilemma“, in Musik und Literatur, 19–33. Hall, Murray G.: „Franz Werfel und sein Verleger Paul Zsolnay“, in Brücken 3 (1995), 65–75. Hey’l, Bettina: Geschichtsdenken und literarische Moderne. Zum historischen Roman in der Zeit der Weimarer Republik. Tübingen 1994. Hibberd, John: „Kafka’s Das Schloß and the Problems of the Self-Defining Subject“, in Neophilologus 79,4 (1995), 629–643. Hinderer, Walter: „Liebessemantik als Provokation“, in Codierungen von Liebe in der Kunstperiode. Hg. v. Walter Hinderer in Verbindung mit Alexander Bormann et. al. Würzburg 1997, 311–338. Jungk, Peter Stephan: Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte. Frankfurt am Main 1987. Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Bernd Auerochs und Manfred Engel. Stuttgart 2010. Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Bettina von Jagow und Oliver Jahraus. Göttingen 2008. Kafka-Handbuch in zwei Bänden. Hg. v. Hartmut Binder. Stuttgart 1979.

5.2 Literaturverzeichnis

321

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322

5. Verzeichnisse

Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt am Main 1994. Lüer, Edwin: „Zeit und Zeitung. Über eine Parallele zwischen Ernst Weiß, Leo Perutz und Thomas Mann“, in Brücken 5 (1997), 107–114. Lüth, Reinhard: Drommetenrot und Azurblau. Studien zur Affinität von Erzähltechnik und Phantastik in Romanen von Leo Perutz und Alexander Lernet-Holenia. Meitingen 1988. Lüth, Reinhard: „Im Dämmerlicht der Zeiten. Ein Porträt des phantastischen Erzählers Leo Perutz“, in Die dunkle Seite der Wirklichkeit. Aufsätze zur Phantastik. Hg. v. Franz Rottensteiner. Frankfurt am Main 1987, 60–89. Lyrik des Expressionismus. Hg. und eingeleitet von Silvio Vietta. 4., verbesserte Auflage. Tübingen 1999. Mandelartz, Michael: Poetik und Historik. Christliche und jüdische Geschichtstheologie in den historischen Romanen von Leo Perutz. Tübingen 1992. Martínez, Matías: „Zwischen Apokalypse und Wahn. Leo Perutz’ Der Marques de Bolibar“, in ders.: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996, 177–202. Marzin, Florian F.: Die phantastische Literatur. Eine Gattungsstudie. Frankfurt am Main/Bern 1982. Mautner, Hendrikje: Aus Kitsch wird Kunst. Zur Bedeutung Franz Werfels für die deutsche ,Verdi-Renaissance‘. Schliengen 2000. Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt am Main 1999. Meister, Jan Christoph: „Das paralogische Lesen von Identität. Leo Perutz’ Roman Die dritte Kugel“, in Modern Austrian Literature 22 (1989), 71–91. Michaels, Jennifer E.: Franz Werfel and the Critics. Columbia, SC 1994. Miller, Eric: „Without a Key: The Narrative Structure of Das Schloß“, in The Germanic Review 66,3 (1991), 132–140. Milman, Yoseph: „The Ambiguous Point of View and Reader Involvement in Kafka: A Reader Oriented Approach to The Castle and ,In the Penal Colony‘“, in Neophilologus 77 (1993), 261–272. Mühlberger, Joseph: Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen 1900–1939. München/Wien 1981. Müller, Hans-Harald: Leo Perutz. Biographie. Wien 2007. Ders.: „Literarische Phantastik oder Interpretationsprobleme? Zur Erzählkonzeption von Leo Perutz – dargestellt an der Novelle ,Nur ein Druck auf den Knopf‘“, in Grenzüberschreitungen um 1900. Österreichische Literatur im Übergang. Im Auftrag der Auslandsgesellschaft NRW und der Gesellschaft für österreichische Literatur und Kultur hg. v. Thomas Eicher. Unter Mitarbeit von Peter Sowa. Oberhausen 2001, 177–191. Ders.: Leo Perutz. München 1992. Ders.: „Ich bin für Europa ein forgotten writer. Zur Rezeption des Werks von Leo Perutz in Deutschland und Österreich von 1945 bis 1960“, in Die Resonanz des Exils. Gelungene und mißlungene Rezeption deutschsprachiger Exilautoren. Hg. v. Dieter Sevin. Amsterdam 1992, 326–337. Ders.: „,Mainacht in Wien‘. Das Bild des ,Anschlusses‘ in einem Romanfragment von Leo Perutz“, in Austrian Writers and the Anschluss: Understanding the past – overcoming the past. Hg. v. Donald G. Daviau. Riverside, California 1991, 187–206. Müller, Michael: „Das Schloß“, in Kafka-Handbuch 2008, 518–529. Murayama, Masato: Leo Perutz. Die historischen Romane. Wien 1979. Musik und Literatur. Komparatistische Studien zur Strukturverwandtschaft. Hg. v. Albert Gier und Gerold W. Gruber. Frankfurt am Main 1995.

5.2 Literaturverzeichnis

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5. Verzeichnisse

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5.2 Literaturverzeichnis

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Weidacher, Georg Ernst: Elemente des Kafkaesken. Problematische Kommunikationsstrukturen als Ursache einer Leserirritation. Mit einem Vorwort von Hans H. Hiebel. Erlangen/Jena 1997. Weiner, Marc A.: Undertones of Insurrection. Music, Politics and the Social Sphere in the Modern German Narrative, Lincoln/London 1993. Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Hg. v. Eduard Goldstücker. Prag 1967. Wichner, Ernest und Herbert Wiesner: Prager deutsche Literatur vom Expressionismus bis zu Exil und Verfolgung. Berlin 1995. Williams, C.E.: The Broken Eagle. The Politics of Austrian Literature from Empire to Anschluss. London 1974. Wünsch, Marianne: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890 – 1930). Definition, Denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen. München 1991. Zipfel, Frank: „Erzählter Gesang: Literarische Opernreflexionen“, in Literarische Medienreflexionen. Künste und Medien im Fokus moderner und postmoderner Literatur. Hg. v. Sandra Poppe und Sascha Seiler. Berlin 2007, 137–154.

5.2.4 Rezeptionszeugnisse Der Meister des jüngsten Tages Benjamin, Walter: „Kriminalromane auf Reisen“, in Frankfurter Zeitung. Literaturblatt der Frankfurter Zeitung 63, Nr. 404 (1.6.1930). [Wiederabdruck in Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Sholem hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. IV, 1. Hg. v. Tilmann Rexroth. Frankfurt am Main 1972, 381–383.] Euringer, Richard: „Perutz, Leo, Der Meister des jüngsten Tages“, in Die schöne Literatur 24, Nr. 16 (15.8.1923), 310. Höllriegel, Arnold [d.i. Richard A. Bermann]: „Leo Perutz“, in Der Tag 2, Nr. 91 (28.2.1923), 3. [Wiederabdruck in Leo Perutz 1882 – 1957, 125–127.] Kracauer, Siegfried: „Der Meister des jüngsten Tages“, in Frankfurter Zeitung 68, Nr. 736 (4.10.1923), 1. [Wiederabdruck in Leo Perutz 1882 – 1957, 124f.] Lloyd, Francis: „Fiction II: The Half Pint Flask, The Master of the Day of Judgement, The Melbourne Mystery, Who Killed Charmian Karslake?“, in London Mercury 21 (1930), 272. Ludwig, Albert: „Der Meister des jüngsten Tages“, in Die Literatur/Das literarische Echo 26 (1923/24), 36. N., A.: „Der Meister des jüngsten Tages“, in Der Sammler. Beilage der München-AugsburgerAbendzeitung 59 (1923), 6. Reimann, Hans: „Tisch mit Büchern. Frey und Perutz“, in Das Tage-Buch 4 (1923), 1124f. [Wiederabdruck in Leo Perutz 1882 – 1957, 127.] Sünner, Paul: „Vom Büchertisch“, in Psychische Studien 50 (1923), 561. Das Schloß (zitiert nach: Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924–1938. Hg. v. Jürgen Born unter Mitwirkung von Elke Koch, Herbert Mühlfeit und Mercedes Treckmann. Frankfurt am Main 1983, 139–182.)

326

5. Verzeichnisse

Baum, Oskar: „Die Wunder einer unscheinbaren Hölle“, in Berliner Börsen-Courier (15.2.1927). Brod, Max: „Nachwort zu Franz Kafkas Roman ,Das Schloß‘“, in Berliner Tageblatt (1.12.1926). Brod, Max: „Tragödie der Assimilation: Bemerkungen zu Franz Kafkas Roman ,Das Schloß‘“, in Jüdische Rundschau (2.8.1927). [Wieder abgedruckt in Selbstwehr (26.8.1927) und in Jüdischer Almanach auf das Jahr 5688. Hg. v. Keren Kajemeth. Prag 1927, 108–114.] Buchheit, Gert: „Neue Romane“, in Der Gral (6.1927). Kracauer, Siegfried: „,Das Schloß‘: Zu Franz Kafkas Nachlaßroman“, in Frankfurter Zeitung (28.11.1926). Leppin, Paul: „Franz Kafkas andere Wirklichkeit“, in Dichtung und Welt. Beilage zur Prager Presse (13.3.1927). Mann, Thomas: „Verjüngende Bücher: Kafka – Schwob – Schmeljow – Graf“, in Frankfurter Zeitung (17.4.1927). Menkes, Hermann: „Neue Romane“, in Neues Wiener Journal (4.1.1927). Sahl, Hans: „Das Buch, das das Tagebuch empfiehlt: Franz Kafka, ,Das Schloß‘“, in Das TageBuch (22.1.1927). Schwabach, Erik Ernst: „Neue Bücher und Bilder“, in Zeitschrift für Bücherfreunde (7/8.1927). Sturmann, Manfred: „Ein Romanfragment Franz Kafkas“, in Königsberger Hartung’sche Zeitung (24.7.1927). Süskind, Wilhelm Emanuel: „Franz Kafka“, in Magdeburgische Zeitung (10.2.1927). Wiegler, Paul: „West-östliche Romane“, in Neue Rundschau (4.1927). Winder, Ludwig: „Prager Autoren“, in Deutsche Zeitung Bohemia (23.1.1927). Turlupin Hegeler, Wilhelm: „Neues vom Büchertisch“, in Velhagen und Klasings Monatshefte 39,1 (1924/25), 109f. K.: „Tisch mit Büchern. Leo Perutz, Turlupin“, in Das Tage-Buch 5 (1924), 862. Polgar, Alfred: „Turlupin“, in Die Weltbühne 20, Nr. 40 (2.10.1924), 406–408. [Wiederabdruck in Polgar, Alfred: Kleine Schriften. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. Bd. 4: Literatur. Reinbek bei Hamburg 1984, 102–106.] Reck-Malleczewen, Friedrich: „Leo Perutz, Turlupin“, in Der Bücherwurm 9 (1924), 150. Reiser, Hans: „Perutz, Leo: Turlupin“, in Die schöne Literatur 26, Nr. 4 (4.1925), 157. Schott, Georg: „Turlupin“, in Die Literatur/Das literarische Echo 26 (1923/24), 751. Trebitsch-Stein, Marianne: „Historische Romane“, in Neue Freie Presse Nr. 21583 (12.10.1924), 28f. Verdi. Roman der Oper Baader, Fritz Th.: „Werfels Verdi-Roman“, in Die Literatur 27, Nr. 5 (1.1925), 270–272. Bie, Oskar: „Bücher über Musik“, in Neue Rundschau 35, Nr. 2 (2.1925), 195–204. Bloch, Ernst: „Philosophische Ansicht des Künstlerromans“, in ders.: Literarische Aufsätze. Frankfurt am Main 1965, 263–276. Brandenburg, Hans: „Werfel, Franz: Verdi. Roman der Oper“, in Die schöne Literatur 25, Nr. 10 (23.10.1924), 376f. Diebold, Bernhard: „Werfels Roman der Oper“, in Frankfurter Zeitung (6.6.1924), 1f. Mann, Thomas: „München 23. VI. [19]24“, in Briefe an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910–1955. In Verbindung mit dem Schiller-Nationalmuseum hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Inge Jens. Pfullingen 1960, 127f.

5.2 Literaturverzeichnis

327

Mann, Thomas: „Frau Alma Mahler-Werfel in Liebe und Trauer“, in Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Heinrich Detering, Eckhard Heftrich et al. Bd. 19,1: Essays VI 1945–1950. Hg. und textkritisch durchgesehen von Herbert Lehnert. Frankfurt am Main 2009, 69–71. Morris, Lloyd: „Fact and Fable“, in Saturday Review of Literature 2 (4.1.1926), 475f. Simon, Heinrich: „Steine des Anstosses [sic!] in Werfels Verdi-Roman“, in Das Tage-Buch 6 (28.3.1925), 457–460. [dazu: Werfel, Franz: „Ein Tadelzettel. Entgegnung auf Heinrich Simon ,Steine des Anstoßes in Werfels Verdi‘“, in Das Tage-Buch 6 (2.5.1925), 639–642.] Ders.: „Antwort“, in Das Tage-Buch 6 (2.5.1925), 641f. Spunda, Franz: „Franz Werfels Verdi“, in Orplid 1, Nr. 7/8 (1924), 117f. Weißmann, Adolf: „Werfels Verdi-Roman. Das Problem der Oper“, in Literarische Umschau. 4. Beilage zur Vossischen Zeitung 282 (15.6.1924), Sp. 1f. Wellek, Albert: „Kreuz und quer. Verdi oder Werfel?“, in Neue Zeitschrift für Musik 12 (1925), 739–741. W.W.: „Franz Werfel: Verdi. Roman der Oper“, in Neue Zeitschrift für Musik 1 (1925), 28f. Z., P.: „Roman um Verdi“, in Das dramatische Theater 2 (10.1924), 114–116.

5.2.5 Bibliographien Foltin, Lore B.: Franz Werfel, Stuttgart 1972. Franz Kafka. Internationale Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur. 2 Bände. Hg. v. Maria Luise Caputo-Mayr und Julius Michael Herz. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. München 2000. Leo Perutz. Eine Bibliographie. Hg. v. Hans-Harald Müller und Wilhelm Schernus. Frankfurt am Main u.a. 1991. Mandelartz, Michael: „Bibliographie Leo Perutz“, in Leo Perutz’ Romane. Von der Struktur zur Bedeutung, 188–204.

6. Index

6.1 Sachregister Affekt 32, 41, 101 Anerkennungswertung 133, 181 Angst 35, 144, 148, 167f, 192–209 Angstlust 131f Antipathie 91, 102 Artefaktemotion 128–136, 208f, 225 Bewunderung 133, 135f, 173–183 Charakterisierung 67, 78, 157–173 Cognitive Poetics 52, 57, 60, 168 Desorientierung 191

103, 123–127, 137, 183–

Ekel 101, 131, 145 Emotion 29–33 Emotion, diegetische 62–128, 300, 304 Emotion, kommunikative 300, 304 Emotion, thematische 300, 304 Empathie 72–88 Emphase 252–287 Einstellung 67, 88–92, 97, 100, 117 Erzählung, analytische 215f Evolutionspsychologie 49, 137

Gefühl, perzeptuelles 300 Hermeneutik, analytische 51f Identifikation 72, 74, 202f, 206f Immunität 145, 148f, 192, 304 Inferenzmodell 53–58 Intensität 50f, 67, 74, 79–81, 84, 100–103, 109, 116f, 119, 252–258 Intermedialität 265 Interesse 89, 106f Kälte 143f, 229 Kanon 105, 139, 208f Kodierung, kulturelle 28–41 Kognition 32, 51–58 Komik 127, 188, 198, 231 Kommunikation, emotionale 34–40, 47–51 Konnotation 79–81 Libretto 265–287 low structuralism 57 Lust 130–135

Figur 63–70, 114f Figurenmodell 66 Fokalisierung 85, 87 Freude 35, 37, 132, 167–169 Funktionslust 107, 131, 134

Meta-Emotion 300 Metapher, konzeptuelle 57, 80, 168 Mitgefühl 70, 84, 89, 101, 103 Mitleid 69–71, 89, 101f Moderne 141–149 Modus 85, 87 Musikalität 265f

Gefallenswertung 102 Gefühl 32

Narratologie, historische 58–60 Neue Sachlichkeit 143f

6. Index

330

Neugier 103, 108, 110f, 115, 122 Paradox der Fiktion 22 Paradox der Spannung 109f Pathos 252–287 Phantastik 148, 236–245 Präsentation 76–78 Prager deutschsprachige Literatur 149–152 Primacy-Effekt 70 Prototyp 36f, 39f, 64, 112 Rätselspannung 107, 115–123 Rezeptionszeugnisse 126, 135 Scham 145f, 167, 179 Schemakongruenz 36, 50 Schema, figurales 66f Schema, situatives 66f Skript 36f, 48 Spannung 104–123 Stimme 58, 97 Stimmung 32f, 62 Suspense 115–123 Sympathie 88–102

Überraschung 103, 113, 123–127, 129 Unterhaltungsliteratur 104, 118, 210f, 228, 245f Unzuverlässigkeit 217–236 Unzuverlässigkeit, axiologische 218 Unzuverlässigkeit, mimetische 218 Tension 103, 112f, 127 Textstruktur 42–51, 55, 136 Thematisierung 76–78 Theory of Mind 68f, 75 Trieb, homöostatischer 32 Wert, attributiver 93, 98 Wert, axiologischer 92f, 95f, 98–100, 102 Wert, moralischer 91, 100, 102 Widerstand, imaginativer 305 Wirkungsästhetik 42–47 Wirkungspotenzial 47–51 Wünsche, konfligierende 115, 132 Zeit 85f

6.2 Namensregister Andringa, Els 85, 152 Anz, Thomas 16f, 130f

Fiehler, Reinhard 33, 38 Fill, Alwin 112f Fries, Norbert 28, 30f, 254

Barthel, Verena 69–71 Bartsch, Anne 47–50 Baum, Oskar 192, 197f, 205, 208 Benjamin, Walter 193, 227f, 230 Bermann, Richard A. 226f Bläß, Ronny 16, 234 Bloch, Ernst 298 Booth, Wayne C. 217, 235f Brod, Max 151, 192–197, 198–206

Hübner, Susanne 47–50 Iser, Wolfgang 27, 42–47

Carroll, Noël 110f

Jannidis, Fotis

Eco, Umberto 53f, 59 Eder, Jens 300

Junkerjürgen, Ralf 115, 117–120

Genette, Gérard 16, 58 Gerhards, Jürgen 37f Gier, Albert 267f Giovanelli, Alessandro 89 Groeben, Norbert 29, 74, 130

67, 218f

21, 27, 52–55, 57–59, 64f,

6.2 Namensregister

Kafka, Franz 140, 143–145, 148–210, 244f, 247, 302–304, 306

Keen, Suzanne 85 Kindt, Tom 142, 217f, 230 Kracauer, Siegfried 192–194, 200–202, 206, 208, 224, 226, 228–230 Leppin, Paul 192, 194, 199–201 Lethen, Helmut 143–145, 147 Mann, Thomas 201f, 246, 254, 280, 282, 287–289, 294, 296 Martínez, Matías 215f, 230, 235, 242 Mautner, Hendrikje 251, 260 Mellmann, Katja 49, 68, 90, 107f, 111, 131, 134, 306 Müller, Hans-Harald 211, 213, 218, 239 Nünning, Ansgar 70, 217 Perutz, Leo 140f, 143, 151, 210–245, 303f Polgar, Alfred 232f Scheffel, Michael 58, 235

331

Schwarz-Friesel, Monika 254 Sheppard, Richard 157f Tan, Ed H.-S. 129–133 Todorov, Tzvetan 216, 236–238, 240, 243 Valk, Thorsten 260, 262, 269, 276 Van Holt, Nadine 29, 74, 130 Vester, Heinz-Günter 39f Von Koppenfels, Martin 145–148 Voss, Christiane 37 Werfel, Franz 303f

140f, 143, 151, 245–297,

Winder, Ludwig 195 Winko, Simone 28, 31, 34, 40, 61, 76, 92f, 95, 142 Worthmann, Friederike 94, 96, 133 Wünsch, Marianne 216, 236, 238–241, 243 Yanal, Robert J. 109 Zunshine, Lisa

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