Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit: Bewertungen und Perspektiven [1 ed.] 9783666352188, 9783525352182

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Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit: Bewertungen und Perspektiven [1 ed.]
 9783666352188, 9783525352182

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Gerd J. Nettersheim /Doron Kiesel (Hg.)

Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit Bewertungen und Perspektiven

Die Rosenburg

Schriften zur Geschichte des BMJ und der Justiz in der frühen Bundesrepublik Herausgegeben von Manfred Görtemaker und Christoph Safferling

Band 3

Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit Bewertungen und Perspektiven Herausgegeben von Gerd J. Nettersheim und Doron Kiesel

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Die Rosenburg in Bonn-Kessenich, von 1950 bis 1973 Sitz des Bundesministeriums der Justiz. © Gerd J. Nettersheim Lektorat: Caroline Gutberlet, Berlin Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2625-4476 ISBN 978-3-666-35218-8

Inhalt

Vorwort von Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland . . . . . . . . . . . . . 9 Geleitwort von Christine Lambrecht, Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz . . . . . . . . . . 13 Daniel Botmann / Doron Kiesel Ambivalenzen. Der Einfluss des Rosenburg-Projekts auf die deutsche Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. Das Rosenburg-Projekt – Vergangenheitspolitik und wissenschaftliche Aufarbeitung Gerd J. Nettersheim Von der Last einer historischen Hypothek. Die Gründerjahre des Bundesministeriums der Justiz zwischen Anspruch und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Hans-Jochen Vogel Der Beitrag der Rosenburg zur Bonner Republik . . . . . . . . . . . . . . . 67 Manfred Görtemaker Die Akte Rosenburg: Kontinuität und demokratischer Neuanfang. Ein historischer Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Christoph Safferling Exkulpationsstrategien: Das Verhalten von Mitarbeitern des Bundesministeriums der Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Markus Apostolow »Eine glückliche Mischung von Verfolgten und Mitläufern«. Staatssekretär Walter Strauß und die Personalpolitik im Bundesministerium der Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Gerrit Hamann Die Rosenburg und der Kriegsverbrecher: Der Fall Max Merten . . . . . . 123

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Inhalt

II. Die institutionelle Verantwortung der Bundesgerichtsbarkeit Stephan Harbarth Das Bundesverfassungsgericht und die Schatten der Vergangenheit . . . . 155 Bettina Limperg Die langen Schatten der »ersten« und der »zweiten« Schuld. Vom doppelten Justizunrecht und den (zu) späten Aufklärungsbemühungen des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . 159 Peter Frank Die Bundesanwaltschaft und die NS-Zeit – Verstrickung oder Neuanfang? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 III. Die Verantwortung des demokratischen Rechtsstaates Herbert Landau Die verfassungsrechtliche Dimension der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Boris Burghardt Die Untätigkeit des Gesetzgebers. Keine Sondernormen für NS-Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Rüdiger Mahlo Opfer zweiter Klasse? Der lange Weg zur gleichberechtigten Entschädigung jüdischer NS-Opfer in Ost und West . . . . . . . . . . . . 205 Werner Renz NS-Prozesse in Geschichte und Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Kerstin Hofmann Gründung und Tätigkeit der Zentralen Stelle in Ludwigsburg . . . . . . . 233 IV. Die Verantwortung der Juristen Edzard Schmidt-Jortzig Die »Akte Rosenburg«: Eindrücke und Rückschlüsse zur Aufarbeitung von NS-Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Inhalt

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Lena Foljanty Das Justizunrecht des 20. Jahrhunderts als Gegenstand der juristischen Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Markus Heintzen Das Berufsethos von Juristen als Thema der Juristenausbildung . . . . . . 275 V. Die internationale Rezeption des Rosenburg-Projektes Sir Thomas Stuart Legg Das Rosenburg-Projekt aus britischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Frank Mecklenburg Die »Akte Rosenburg« und ihre Rezeption in den USA . . . . . . . . . . . 303 Dan Assan Die »Akte Rosenburg«: Eine israelische Perspektive . . . . . . . . . . . . . 313 Rafael Seligmann Eine Frage der Gerechtigkeit. Israelis würdigen die Bedeutung der Rosenburg-Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 VI. Die Erinnerungskultur Hartmut Bomhoff »Worauf es ankam – unterblieb«: Erinnern und Vergessen in der jungen Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Hans-Christian Jasch Sehen und Wegschauen: Filmische Annäherungen an den Holocaust in den ersten Nachkriegsjahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Raphael Gross Wo stehen wir heute im Umgang mit dem Nationalsozialismus? . . . . . 375 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

Vorwort

Aus der Geschichte lernen, um der Demokratie willen. So könnte man den Leitgedanken des Rosenburg-Projektes formulieren. Und mit diesen Worten lässt sich auch die Essenz dieses Sammelbandes zusammenfassen. Denn das damalige Bundesministerium der Justiz, heute Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, hat es nicht dabei bewenden lassen, die Kontinuitäten zwischen der NS -Zeit und seinen Anfangsjahren auf der Rosenburg in Bonn wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen, sondern den öffentlichen Diskurs über den bedrückenden Befund der Forschungsarbeiten initiiert und auf vielfältige Weise gefördert. Das sogenannte Rosenburg-Projekt hat damit Modellcharakter für eine demokratische Vergangenheitspolitik. Die Erkenntnisse des unter dem Titel »Die Akte Rosenburg« veröffentlichten Forschungsberichts der Professoren Dr. Manfred Görtemaker und Dr. ­Christoph Safferling beschränken sich nicht auf die Ministerialverwaltung und die Justiz. Sie gehen uns alle an, auch und insbesondere die jüdische Gemeinschaft. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat daher schon sehr früh den Wert des Rosenburg-Projekts erkannt und es mit seinen Mitteln gefördert. Unter dem Titel »Die langen Schatten der Vergangenheit  – Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit« hat er im November 2018 eine eigene dreitägige Konferenz zu diesem Thema veranstaltet, auf der aus unterschiedlicher Perspektive die Anfangszeit des Justizministeriums beleuchtet wurde, die kein wirklicher Neubeginn war. Die Ergebnisse dieser Veranstaltung haben Eingang in diesen Sammelband gefunden. Weitere Beiträge sind hinzugekommen. Im Februar 2018 erschien eine Umfrage, die nach dem Verhalten von Familienangehörigen während des Nationalsozialismus fragte. Die Ergebnisse waren – je nachdem, wie man es betrachtet – verblüffend oder erschreckend: Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, dass ihre Vorfahren Opfer des NS-Regimes gewesen seien. Und sogar 18 Prozent meinten, ihre Vorfahren hätten potenziellen Opfern geholfen. Da kann ich aus jüdischer Sicht nur hinzufügen: Wenn es doch so gewesen wäre! In Wirklichkeit waren es viel, viel weniger Menschen, vermutlich unter einem Prozent der damaligen Bevölkerung, die Verfolgten halfen. Die Umfrage bestätigt jedoch letztlich die soziologische Forschung der vergangenen Jahre. Schon 2002 überschrieb der Soziologe Harald Welzer seine Studie über den Holocaust und den Nationalsozialismus im Familiengedächtnis mit dem Titel »Opa war kein Nazi«. Was in den Familien weitergegeben wurde, welche Familiengeheimnisse wirklich gelüftet wurden in Bezug auf die NS-Zeit –

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Vorwort

das ist so löchrig wie der berühmte Schweizer Käse. Und für viele Familien war es auch gar nicht schwierig, Verbrechen und Unrechtstaten zu vertuschen, denn nach dem Krieg konnten der Papa oder der Onkel ihre Karrieren als Jurist oder Arzt oder Wissenschaftler meist nahtlos fortsetzen. Warum sollten also Kinder oder Enkel später auf die Idee kommen, die Weste könnte in Wahrheit weniger weiß sein, als es in der Familie erzählt wurde? Das sind die Kontinuitäten, die im Rosenburg-Projekt eine zentrale Rolle spielen. Mit dieser Studie beleuchtet das Bundesjustizministerium nicht nur die Vergangenheit des eigenen Hauses, sondern liefert zugleich einen Schlüssel zum Verständnis von Nachkriegsdeutschland. Auch in der dazugehörigen Wanderausstellung ist das gut zu sehen. Ich hoffe, dass sie weiterhin an vielen Orten der Republik zu sehen sein wird. Das Justizministerium verdient Respekt und Anerkennung, sich der eigenen Vergangenheit vorbehalt- und schonungslos zu stellen, und den Professoren Görtemaker und Safferling gilt mein Dank für ihre exzellente Forschungsarbeit. Jahrzehntelang wurde in verschiedenen Berufsgruppen und Institutionen über diese Kontinuitäten geschwiegen. Seien es Ministerien, Ärzteverbände, Universitäten oder jüngst die Goethe-Gesellschaft in Weimar  – die kritische Auseinandersetzung begann vielmals erst dann, als die Personen, die in die Verbrechen persönlich verstrickt waren, in Rente oder gestorben waren. Den Mut, die direkte Konfrontation zu suchen, hatten nur ganz wenige Menschen. Es sind Ausnahmepersönlichkeiten wie der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Solche Persönlichkeiten zeigen uns bis heute, dass es möglich ist, sich gegen den Mainstream zu stellen und seinem Gewissen zu folgen. Es ist möglich, unpopuläre Wahrheiten auszusprechen und Pauschalurteilen entgegenzutreten. In unserer heutigen Zeit sollten wir uns Menschen wie Fritz Bauer zum Vorbild nehmen. Denn leider wird es in Deutschland wieder modern, bestimmte Gruppen auszugrenzen. Über Muslime mit Verachtung oder Häme zu sprechen. Israel an den Pranger zu stellen und dabei in Wahrheit Juden zu meinen. Die Pressefreiheit in den Dreck zu ziehen. Es wird höchste Zeit, unsere Demokratie nicht einfach als gegeben und unerschütterbar hinzunehmen, sondern für sie zu kämpfen. Wir müssen die demokratischen Grundwerte beherzigen, verteidigen und leben. Das gilt im echten Leben, also in unserem realen Miteinander. Und das gilt auch in der virtuellen Welt. Daher ist der Zentralrat der Juden in Deutschland sehr dankbar für das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das am 1. Oktober 2017 in Kraft getreten ist. Das Bundesjustizministerium hat für seinen Gesetzentwurf sehr viel Kritik einstecken müssen, vor allem aus der Netz-Community. Doch ich sage klipp und klar: Diesen Hass, die Volksverhetzung, ja diese Kriminalität, die sich insbesondere in den sogenannten sozialen Netzwerken ausbreitet, kann man nicht einfach so hinnehmen. Hier musste der Gesetzgeber handeln. Denn einen rechtsfreien Raum im Internet darf es nicht geben! Die Kommunikation im Netz hat einen immensen Einfluss auf die Entwicklung unserer Gesellschaft. Das

Vorwort

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dürfen wir nicht unterschätzen. Die Langzeitstudie »Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses« der TU Berlin hat jüngst deutlich gemacht, wie sehr der Antisemitismus im Internet zu einer Normalisierung von antisemitischen Haltungen beiträgt. Vor 80 Jahren, bei den Novemberpogromen von 1938, gingen in Deutschland nicht nur Synagogenfenster und Schaufenster jüdischer Geschäfte zu Bruch. Nein, es war die sichtbare und gewaltsame Fortsetzung des Zivilisationsbruchs durch die Nazis. Sie zerstörten nämlich auch zivilisatorische Errungenschaften wie Zivilcourage, Respekt oder Fürsorge. Sie schufen eine Gesellschaft von Wegduckern, Mitläufern und Tätern. Das darf nie wieder passieren! Die Bilder der brennenden Synagogen müssen im deutschen Gedächtnis immer verhaftet bleiben. Sie sind eindringliche Mahnung, warum es sich lohnt, für ein demokratisches und plurales Deutschland zu kämpfen. In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat von Fritz Bauer schließen, das am 14. Juli 1962 in der Frankfurter Rundschau zu lesen war: »Vaterland meint heute die Grundwerte unseres Grundgesetzes. Das ist die Würde des Menschen, die zu achten und zu schützen ist, das sind die Grundrechte, die Freiheit und Gleichheit, die Menschen- und Nächstenliebe, wie sie in den Gedanken des sozialen Rechtsstaates zum Ausdruck kommen.« Das ist der Patriotismus, den wir heute brauchen. Danken möchte ich allen Autoren, die an diesem Band mitgewirkt haben. Mein besonderer Dank gilt den beiden Herausgebern, Herrn Ministerialdirigenten a. D. Gerd J.  Nettersheim, der das Rosenburg-Projekt initiiert und begleitet hat, und Professor Doron Kiesel, dem Wissenschaftlichen Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrates. Möge dieser Band dem Rosenburg-Projekt weiter Auftrieb geben, um der Gegenwart und der Zukunft willen. Josef Schuster Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland

Geleitwort

Wer Zukunft gestalten möchte, muss seine Vergangenheit kennen. Denn Geschichte wirkt fort, manchmal vor aller Augen, manchmal untergründig. Auch eine Institution wie das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz ist aufgerufen, sich mit seiner eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Dies sogar in einem besonderen Maße. Denn das Bundesjustizministerium trägt als Verfassungsressort eine herausgehobene Verantwortung für den demokratischen Rechtsstaat. Umso wichtiger ist es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass aus dieser Vergangenheit Lehren gezogen werden können. Zu dieser Vergangenheit gehört die Zeit der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft von 1933 bis 1945. Wir alle wissen, dass Juristen maßgeblich an der Errichtung und Aufrechterhaltung dieser Herrschaft beteiligt waren. Aber wie sah es nach der Niederwerfung der NS-Diktatur in der Justiz und Ver­ waltung der jungen Bundesrepublik Deutschland aus? Wie sah es insbesondere im damaligen Bundesministerium der Justiz aus? Wie verfuhr man dort mit der nationalsozialistischen Vorgeschichte des eigenen Hauses? Welche personellen und institutionellen Kontinuitäten gab es? Oder umgekehrt gefragt: Wie tief war die Zäsur, die die Errichtung des Bundesministeriums der Justiz im Jahr 1949 bedeutete? Diesen Fragen haben wir uns lange nicht gewidmet. Mit den Widerständen gegen die Aufarbeitung der Vorgeschichte des Bundesjustizministeriums befasst sich Ministerialdirigent a. D. Gerd Nettersheim in seinem Beitrag zum vorliegenden Band. Seinem beständigen Einsatz haben wir es maßgeblich zu verdanken, dass ein Umdenken stattgefunden hat: Um den drängenden historischen Fragen nachzugehen, setzte das Ministerium unter meiner Vorgängerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Jahr 2012 schließlich eine Unabhängige Wissenschaftliche Kommission aus Juristinnen und Juristen, Historikerinnen und Historikern ein. Gerd Nettersheim betreute das Projekt der Aufarbeitung auch in seinem Ruhestand noch einige Jahre als Sonderberater ehrenamtlich weiter. Für seine großen Verdienste gilt ihm mein herzlicher Dank! Geleitet wurde die Kommission von den Professoren Manfred Görtemaker und Christoph Safferling, denen ebenfalls mein großer Dank gilt! Auch sie sind im vorliegenden Band mit wertvollen Beiträgen zur Geschichte meines Hauses vertreten. Was war uns bei unserer Aufarbeitungsstudie wichtig? Uns ging es von Anfang an darum, nicht nur Vergangenheitsforschung zu betreiben. Vielmehr wol-

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Geleitwort

len wir aus der Aufarbeitung auch Schlussfolgerungen für die Gegenwart ziehen. Zudem war es uns wichtig, von Anfang an die Öffentlichkeit in unser Projekt einzubeziehen. Die Forschungsarbeit wurde daher von öffentlichen Tagungen und Symposien begleitet. Damit ein umfassendes und detailreiches Bild gezeichnet werden konnte, wurde der Kommission unbeschränkter Zugang zu den Akten unseres Ministeriums eingeräumt. Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern standen alle Personal- und Sachakten offen. Sie hatten sogar Zugang zu den Verschlusssachen. Die Pensionärinnen und Pensionäre unseres Hauses wurden gebeten, sich für eine Zeitzeugenbefragung zur Verfügung zu stellen. Die Ergebnisse wurden erstmals im Herbst 2016 im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz vorgestellt. Der Bericht der Kommission wurde unter dem Titel »Die Akte Rosenburg« vorgelegt. Warum »Rosenburg«? Bei der »Rosenburg« handelte es sich um eine burgartige Villa in Bonn aus dem 19. Jahrhundert. Sie war nach dem Zweiten Weltkrieg der Dienstsitz des Bundesministeriums der Justiz in den Jahren 1950 bis 1973. Genau diesen Zeitraum beleuchtete die Unabhängige Wissenschaftliche Kommission in ihrer Arbeit. Der Bericht der Kommission erregte große Aufmerksamkeit. Manche Ergebnisse der Forschung hatte man erwartet; andere Erkenntnisse waren überraschend und zum Teil erschreckend. So fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heraus, dass in den 1950er und 1960er Jahren die meisten leitenden Mitarbeiter des Ministeriums dem NS-Staat in verschiedenen Funktionen verbunden gewesen waren. Einige waren an der Umsetzung des sogenannten »Führerwillens« beteiligt gewesen. Für die Arbeit meines Hauses ergeben sich aus diesem geschichtlichen Bild wichtige Impulse für die Gegenwart. Zum einen ist es unser Ziel, die gewonnenen Erkenntnisse der Öffentlichkeit anschaulich zu vermitteln – in Gerichten, an Hochschulen und in weiteren Bildungs- und Kultureinrichtungen. Zusätzlich zur Studie wurde deshalb eine Ausstellung konzipiert: »Die Rosenburg  – das Bundesjustizministerium im Schatten der NS-Vergangenheit«. Sie wurde im Juni 2017 im Landgericht Berlin zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt. Ich freue mich, dass die Ausstellung seitdem in vielen Städten im In- und Ausland gezeigt wurde und so dazu beiträgt, interessierten Personen diesen Teil unserer Geschichte näherzubringen. Zum anderen ist es uns besonders wichtig, möglichst vielen Juristinnen und Juristen die Erkenntnisse des Rosenburg-Projekts zu vermitteln. Zu diesem Zweck bieten wir den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Hauses Fortbildungen zum Rosenburg-Projekt an. Zudem veranstaltet mein Ministerium regelmäßig Rosenburg-Tagungen in der Deutschen Richterakademie. Die Erinne­ rung an Diktatur, Krieg und den Abgrund der Shoah sowie das Wissen um die Beiträge, die Juristen als Handlanger eines Unrechtsstaates dazu geleistet haben – sie sind für jede Juristin, jeden Juristen elementar für das eigene Berufsverständnis. Wir müssen uns immer wieder vergegenwärtigen, dass die Freiheit, die wir genießen, und der demokratische Verfassungsstaat, in dem wir leben, keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern stets von Neuem verwirklicht werden müssen.

Geleitwort

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Der Blick zurück in unsere Geschichte lehrt uns, wie eng Licht und Schatten beieinanderliegen, »wie dünn die Haut der Zivilisation war« (Fritz Bauer) – und ist. Der Blick in die Geschichte macht deutlich: Es ist wichtig, dass Juristinnen und Juristen, dass wir alle – Bürgerinnen und Bürger dieses Landes – die Werte der Verfassung leben und sie verteidigen: die Würde des Menschen, die individuelle Freiheit, die gesellschaftliche Vielfalt, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Ich danke dem Zentralrat der Juden in Deutschland, stellvertretend seinem Präsidenten Dr. Josef Schuster, und allen Autorinnen und Autoren dieses Bandes für ihren wertvollen Beitrag zur Aufarbeitung der dunklen Seite der Geschichte des Bundesministeriums der Justiz. Christine Lambrecht Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz

Daniel Botmann / Doron Kiesel

Ambivalenzen Der Einfluss des Rosenburg-Projekts auf die deutsche Erinnerungskultur

Befragt nach dem Gefühl der Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft, würden viele der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden sich zweifelsohne als integralen Teil der bundesrepublikanischen Kultur und Gesellschaft in Deutschland bezeichnen. Vergleiche mit anderen europäischen Staaten wie Frankreich oder Ungarn lassen erkennen, dass sich die meisten in Deutschland lebenden Juden auch nicht mit dem Gedanken tragen, aus der Bundesrepublik auszuwandern. Eigentlich eine erfreuliche Bestandsaufnahme im Jahre 75 nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Shoah. Dennoch sind Risse in der Fassade des gemeinsamen deutsch-jüdischen Gebäudes sichtbar: Mit dem größer werdenden zeitlichen Abstand zum Nationalsozialismus und dem Verblassen der Erinnerung nehmen Geschichtskonstruktionen, Verzerrungen oder Leugnungen der historischen Geschehnisse immer mehr zu. Subtile antisemitische Einstellungen werden zunehmend von offen ausgesprochenen juden- und israelfeindlichen Positionen überlagert. In den umliegenden europäischen Ländern gewinnen rechtspopulistische Parteien an Einfluss; in mehreren osteuropäischen Staaten geben nationalistische und unverhohlen antisemitisch argumentierende Regierungen die politische Richtung an. In der Bundesrepublik ist inzwischen eine rechtspopulistische und völkische Partei sowohl im Bundestag als auch in den Länderparlamenten vertreten. Umfragen ergeben immer wieder, dass circa 20 Prozent der deutschen Bürgerinnen und Bürger nationalistisch-antisemitische Einstellungen vertreten. Zur Erinnerung: Nach ihrer Befreiung aus den Konzentrationslagern durch Truppen der Alliierten wurden die jüdischen Überlebenden auf mehrere ­DP-Camps verteilt, die auf dem Boden der westdeutschen Besatzungszonen errichtet worden waren. Die Displaced Persons sollten nur vorübergehend im Land der Täter verweilen, um dann in einen der sie aufnehmenden Staaten auszureisen. Die meisten von ihnen waren – buchstäblich dem Tod entronnen – physisch erschöpft oder von den Qualen in den Lagern gezeichnet, und nach allem, was sie selbst erlebt hatten oder mitansehen mussten, psychisch traumatisiert. Die Auffanglager, die ihnen vorübergehend Schutz boten und die Ahnung eines Neuanfangs vermittelten, wurden in den 1950er Jahren wieder geschlossen, nachdem die meisten ihrer Bewohner ausgereist waren. Eine kleine Gruppe von

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rund 15.000 zumeist aus Osteuropa stammenden Überlebenden war jedoch aus überwiegend verfolgungsbedingten gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage oder willens, an einem dritten Ort einen Neuanfang zu wagen. Diese vor allem in den größeren Städten der jungen Nachkriegsgesellschaft ansässigen jüdischen Überlebenden bildeten den Grundstock der Nachkriegsgemeinden. Sie lebten buchstäblich unter den Tätern und führten ein Schattendasein in einer Gesellschaft, in der sie quantitativ keine relevante Größe repräsentierten und ihre eigenen Bewältigungsstrategien in einem ihnen unvertrauten und zum Teil feindlich gesinnten Umfeld entwickeln mussten. Zugleich wurden sie von jüdischen Organisationen heftig attackiert, weil sie sich in einem Land niedergelassen hatten, das weltweit wegen seiner Verbrechen diskreditiert und in der jüdischen Welt als Ort des Schreckens und des staatlich verordneten Terrors geächtet war. In Westdeutschland vergrößerte sich die kleine jüdische Gemeinschaft bis Ende der 1980er Jahre auf circa 30.000 Mitglieder in den jüdischen Gemeinden. Die Kinder der Überlebenden wuchsen in einem Land auf, zu dem sie äußerst ambivalente Beziehungen entwickelten. Sie wussten um die traumatischen Erfahrungen ihrer Eltern, die ihnen nicht selten suggerierten, dass es für Juden in Deutschland keine Zukunft gäbe, obwohl sie selbst dageblieben waren. In dieser zweiten Generation breitete sich zugleich die Erkenntnis aus, dass die politische Klasse der Bundesrepublik die Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Geschichte als zentrale Herausforderung der politischen Kultur verstand und das Ziel verfolgte, eine stabile liberale Demokratie im Rahmen verlässlicher politischer Strukturen zu etablieren. Die Bereitschaft, die Bundesrepublik als eigenen Lebensmittelpunkt zu akzeptieren und sich mit ihrem politischen System zu identifizieren, führte schließlich auch dazu, dass sich immer mehr jüdische Gemeinden aus ihrem Schattendasein lösten. Jüdische Gemeindezentren wurden ebenso gegründet wie jüdische Schulen und Kindergärten. Der Wiederaufbau von Synagogen, die Eröffnung jüdischer Museen und schließlich die Gründung der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg waren sowohl Ausdruck des wieder erstarkenden Selbstbewusstseins der Mitglieder jüdischer Gemeinden als auch von deren Bereitschaft, an verschüttete jüdische Traditionen anzuknüpfen und sich an öffentlichen Debatten zu beteiligen. Als die Perestroika in der UdSSR und die anschließende Auflösung des Warschauer Paktes Anfang der 1990er Jahre zu einer Massenauswanderung russischsprachiger Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion führten, wanderten die meisten zwar nach Israel aus. Rund 200.000 von ihnen entschieden sich jedoch für Deutschland, nachdem die Bundesregierung ihr Interesse erklärt hatte, jüdischen Einwanderinnen und Einwanderern aus den GUS-Staaten die Möglichkeit zu geben, sich in Deutschland niederzulassen. Sehr viele der Eingewanderten schlossen sich einer der inzwischen rund hundert bestehenden oder neu gegründeten jüdischen Gemeinden an. Mit der russischsprachigen jüdischen Zuwanderung verdreifachte sich innerhalb weniger Jahre die Zahl der Gemeindemitglieder in Deutschland. Die jüdische Stimme nahm damit an Bedeutung zu, und allen Prognosen und Warnungen zum Trotz ist die jüdische

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Gemeinschaft in Deutschland nach England und Frankreich nunmehr die drittgrößte in Europa. Befragt nach ihrem Integrationsverlauf, betonen heute die meisten überwiegend jüngeren Einwanderinnen und Einwanderer – also die Angehörigen der zweiten Generation der russischsprachigen jüdischen Immigranten –, dass sie ihre Zukunft in Deutschland sehen und sich am gesellschaftlichen Leben aktiv beteiligen möchten. Für viele, die in der ehemaligen Sowjetunion ihr Judentum nicht bewusst und offen leben durften, bot die jüdische Gemeinschaft in Deutschland die Möglichkeit, einen Zugang zur jüdischen Identität zu finden. Viele von ihnen konnten sich nach Jahrzehnten aufgezwungener Identitätsverdrängung endlich den Wunsch nach gemeinschaftlicher Zugehörigkeit und kultureller Anerkennung erfüllen. Bis vor wenigen Jahren ließen die meisten in der Bundesrepublik lebenden Jüdinnen und Juden auch keinen Zweifel daran, dass sie sich zwar als Minderheit, aber zugleich als Teil der politisch stabilen, demokratischen Gesellschaft sehen. Die systematische historisch-politische Bildung zum Nationalsozialismus hatte scheinbar gefruchtet und das Land der Täter sich in ein Bollwerk der Demokratie verwandelt. Selbstverständlich wussten und wissen in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden, wie dünn das Eis der Erkenntnis ist. Sie spürten auch schon damals, dass die offizielle Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der Shoah kein Garant für eine gewandelte Haltung gegenüber Juden ist. Der Antisemitismus war nach dem Ende des Nationalsozialismus nicht verschwunden. Das Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945 und die Tatsache, dass ein Großteil des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten ermordet wurde, markieren in der Geschichte des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts zwei tiefe historische Zäsuren, die Eingang in das kollektive Gedächtnis Europas gefunden haben und sein Geschichtsbild prägen. Die Erinnerung mit ihren Lücken und Leerstellen erscheint dabei als ein Mittel, mit dessen Hilfe Vergangenes dargestellt und kritisch reflektiert wird. Vor allem in mündlichen Tradierungen und in schriftlichen Erzählungen werden kollektive und individuelle Gedächtnisinhalte gestaltet und deren Bedeutung für die Konstitution von Identität und die (Re-)Konstruktion der historischen Vergangenheit veranschaulicht. Zahlreiche gesprochene und geschriebene Texte zielen darauf ab, ganz spezifische Gedächtniskonstellationen mit entsprechenden Wertungen für das »kollektive Bewusstsein« zur Verfügung zu stellen und auf diese Weise zur Stabilisierung von konkreten Vergangenheitsdeutungen beizutragen. Andere Retrospektiven konterkarieren hegemoniale Erinnerungsmuster und stellen überkommene Vergangenheitsversionen in Frage. So macht es sich zum Beispiel die Psychoanalyse zur Aufgabe, die verdrängten und verborgenen Erinnerungen einer Gesellschaft oder der in ihr lebenden Individuen zum Sprechen zu bringen, indem sie die »blinden Flecken« im Gedächtnis einer Erinnerungskultur ausleuchtet und dabei hilft, sie zu beleben. Die Beiträge dieses Bandes behandeln am Beispiel der deutschen Justiz vor und nach 1945 das komplexe Verhältnis von historischen Fakten und Fiktionen,

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die Spannung zwischen kollektivem und individuellem Gedächtnis sowie die Abhängigkeit der jeweiligen Retrospektiven von einem kultur- und epochenspezifischen Hintergrund. Geschichte erscheint dabei nicht als eindeutig und linear, also als abgeschlossener Entwicklungsprozess, sondern als eine immer noch gegenwärtige Vergangenheit, deren Bruchstücke mittels Erinnerung und Erzählung zum Vorschein gebracht werden können. Die Deutung der Vergangenheit erweist sich mithin als Voraussetzung für die adäquate Erfassung der eigenen Gegenwart. Wer, was und wie erinnert, wer aus welcher Perspektive Erinnertes selektiert und Bestimmtes vergisst, ist immer eine Frage der gegenwärtig lebenden Menschen und ihrer sozialen Erfahrungen. Der Orts- und Zeitgebundenheit der Erinnerung steht eine Ausdrucksform der Erinnerung gegenüber, die quer durch alle Räume und Zeiten rituelle und örtliche Kontinuitäten aufbaut. Es sind relativ stabile, wenn auch immer wieder flexible Netzwerke der Erinnerung, in denen durch vorgegebene Ortsgebundenheit bzw. durch die immer wieder erzählten Geschichten ganz bestimmte Perspektiven eingenommen werden. Die Erinnerungsgemeinschaft verfügt somit über eine im sozialen Gedächtnis verankerte soziale Konstruktion, die bis in die Formen der gesellschaftlichen Organisationen hinein Wirkung zeitigt. Das Rosenburg-Projekt, das durch die systematische Aufarbeitung einer kaum vorstellbaren Kontinuität von bereits im Nationalsozialismus handelnden und entscheidenden Juristen erinnert, spiegelt genau die Ambivalenzen wider, mit denen die Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland leben müssen. Während bis zur Veröffentlichung der Forschungsergebnisse zu den Anfangsjahren des Bundesjustizministeriums unter dem Einfluss jener Juristen, die im Namen des »Führers« Unrecht gesprochen hatten, das Erinnern und Trauern die jüdische Gemeinschaft charakterisierte, etablierte die deutsche nichtjüdische Gesellschaft Formen und Rituale des Gedenkens. Die unterschiedlichen Formen der Auseinandersetzung mit der Geschichte sind der Tatsache geschuldet, dass die Tätergeneration und ihre Nachkommen Wege suchen und Zeichen setzen wollten, die öffentlich erkennbar machen, dass die Vertreter der Bundesrepublik und ihre Institutionen sich ihrer Verantwortung für die Shoah bewusst sind. Es wurden gedenkpolitische Rituale eingeübt und öffentlich praktiziert. Diese Zeichenhandlungen beeinflussten und prägten sowohl die politischen als auch die pädagogischen Institutionen. Zugleich ersparten sie der Gesellschaft, sich mit den Aspekten der individuellen und kollektiven Schuld auseinanderzusetzen und somit die Strukturen nationalsozialistischer Rechtsvorstellungen zu rekonstruieren, um schließlich die persönliche Verantwortung der beteiligten Akteure zu erkennen und zu benennen. Dieser – bewussten oder unbewussten – Strategie der Schuldabwehr vermag die Radikalität der Aufklärung um die Geschehnisse in der Rosenburg eine überzeugende Alternative entgegenzusetzen. In einer präzisen Rekonstruktion von Denkmustern, Einstellungsverfahren, juristischen Entscheidungen und biografischen Narrativen von Vertretern des Justizapparats wird das Fundament

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unserer demokratischen Ordnung in den ersten fünfzehn Jahren der jungen Bundesrepublik ausgeleuchtet. Die Geschichten und Vorgeschichten der seinerzeit handelnden Personen wie auch deren Interessen, Abhängigkeiten und Seilschaften werden unverblümt dargestellt. Die Fakten und die Aktenlage legen nahe, dass die Zerrbilder und Mythen nationalsozialistischer Weltdeutungen der Entlastung der individuellen Verantwortung dienten. Doch die wesentliche und herausragende Aufgabe der filigranen Aufdeckung dieses Skandals ist der Wille der Wissenschaftler und der Vertreter der Politik, die Ergebnisse der Untersuchungen im Rahmen des Rosenburg-Projekts den gegenwärtig amtierenden Juristinnen und Juristen zu vermitteln. Hinter diesem Anliegen steht die Überzeugung, dass die Aufklärung und Durchdringung historischer, juristischer, sozialer und psychologischer Voraussetzungen, die das gesellschaftliche Leben der Nachkriegszeit prägten, die Anfälligkeit der heutigen Juristengeneration für demokratie- und verfassungsfeindliche Argumente erkennbar reduzieren und sie für antidemokratische und antisemitische Denkweisen sensibilisieren. Die vorliegenden Ergebnisse des Rosenburg-Projekts dienen damit nicht nur der Aufdeckung rechtsgeschichtlicher Wirkungszusammenhänge, sondern werden auch einem pädagogischen und bildungspolitischen Auftrag gerecht, indem sie einen überzeugenden Paradigmenwechsel in Form und Inhalt der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit vollziehen. Für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland bedeutet dieser Zugang zugleich das Versprechen, dass die bundesdeutsche Gesellschaft die notwendigen Schritte unternimmt, um ihr eigenes Versagen in der Vergangenheit verstehen zu wollen. Dieser Prozess ist vielversprechend, weil er eine Erinnerungskultur etabliert, die nicht auf Gedenkritualen basiert, sondern die schmerzhaften Erkenntnisse bezüglich der eigenen Berufsgruppe, ihrer Vorbilder und dramatischer Fehlentscheidungen in den Fokus des theoretischen wie auch praxisorientierten Diskurses stellt. Vor diesem Hintergrund erfüllt das Rosenburg-Projekt eine lang gehegte Hoffnung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland auf eine kognitive und emotionale Lernstrategie im Hinblick auf das grenzenlose Unrecht des NS-Staates und seine langjährige Einflussnahme auf die juristischen Spielregeln der Nachkriegszeit. Der Initiative zum Rosenburg-Projekt lag allerdings keine frühe vergangenheitspolitische Sensibilität und Einsicht zugrunde. Der Beginn der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Justizministeriums beruhte vielmehr auf den Bedingungen seiner Zeit, als die Bundesressorts die Notwendigkeit erkannten, die Kontinuitäten zu ihren organisatorischen Vorgängerinstitutionen aus der NS-Zeit wissenschaftlich zu erforschen. Diese Einsicht reifte jedoch spät, sehr spät. So richtete der Bundestagsabgeordnete Volker Wissing im April 2005 die schriftliche Frage an die Bundesregierung, in welchen Bundesministerien eine Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit stattgefunden habe und in welchen noch nicht. Die Antwort des Staatssekretärs im Bundesministerium des Innern, Göttrik Wewer, vom 29. April 2005 lautete wie folgt:

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»Die Bundesministerien sehen sich nicht in einer Kontinuität mit der ehemaligen nationalsozialistischen Reichsregierung. Alle Bundesregierungen sind nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland auf Grund demokratischer Wahlen gebildet worden. Die Bundesministerien haben daher keine ›nationalsozialistische Vergangenheit‹, die der ›Aufarbeitung‹ bedarf.«1

Tatsächlich haben sich die Bundesressorts lange Zeit hinter dieser formaljuristischen Ausrede verschanzt. Erst mit dem vom damaligen Außenminister Joschka Fischer in Auftrag gegebenen und 2010 unter dem Titel »Das Amt und die Vergangenheit« veröffentlichten Forschungsbericht über die NS-Belastung des Auswärtigen Amtes brach diese Front langsam in sich zusammen. Mittlerweile haben fast alle Bundesministerien ihre Vergangenheit wissenschaftlich aufarbeiten lassen. Ob diese Projekte stets eine Bereicherung der Erinnerungskultur mit sich gebracht haben, muss allerdings bezweifelt werden. Gewiss, mancher Forschungsbericht förderte wertvolle Erkenntnisse zutage und schloss die eine oder andere Lücke der historischen Forschung. Die wenigsten Auftraggeber haben diese Erkenntnisse aber in den Dienst einer nachhaltigen politischen Aufklärung gestellt. Mitunter kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier lediglich eine politische Pflichtaufgabe erfüllt wurde. Die Forschungsberichte sind zudem durchweg in wissenschaftlichen Fachverlagen veröffentlicht, wodurch sich in erster Linie ein Fachpublikum angesprochen fühlt. Einen anderen Kurs schlug hingegen das sogenannte Rosenburg-Projekt des ehemaligen Bundesministeriums der Justiz, heute Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, ein. Das Ministerium erkannte sehr früh die öffent­liche Bedeutung und die politische Dimension der Entdeckung und Erschließung der eigenen Vergangenheit. Im Fokus standen ein Ministerium, das zur NS-Zeit ein Machtressort gewesen war und mit der von ihm an kurzer Leine geführten politischen Strafjustiz einen wichtigen Stützpfeiler des Regimes dargestellt hatte und aus dem nach dem demokratischen Neubeginn eine Nachfolgeinstitution hervorging, die für den demokratischen Rechtsstaat und dessen Wiederaufbau eine ebenso wichtige Rolle spielte und diese bis heute innehat. Hier stellte sich die Frage, wie sich auf dieser Zeitschiene der Transformationsprozess vollzog. Dazu gab das Ministerium der von ihm eingesetzten Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission den Auftrag, die personellen und sachlichen Kontinuitäten zu untersuchen. Denn die hier tätigen »Staatsdiener« spielten sowohl im national­sozialistischen Unrechtsregime als auch beim Aufbau der jungen Bundesrepublik eine tragende Rolle. In den höheren und höchsten Funktionen waren und sind dies heute noch die Juristen, die nach ihrem Ethos Recht und Gesetz verpflichtet sind. Das Rosenburg-Projekt gibt eine Antwort darauf, wie sie im Reichsjustizministerium einerseits und im jungen Bundesjustizministerium andererseits agiert haben, und wirft gleichzeitig die Frage auf, welche innere Einstellung und welches historische Wissen der demokratische Rechtsstaat 1 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – Drucksache 15/5434 vom 06.05.2005.

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von den Angehörigen dieser Profession erwarten darf, an welcher Stelle auch immer diese tätig sind. Natürlich stand hier besonders die Ministerial­bürokratie im Fokus. Das Rosenburg-Projekt hat in dankenswerter Klarheit herausgestellt, dass es den unpolitischen Ministerialbeamten nicht gab und nicht gibt. Die Ministerialbeamten sind heute den unverbrüchlichen Werten unseres Grundgesetzes verpflichtet und tragen damit eine besondere Verantwortung gegenüber Staat und Gesellschaft. Die offengelegten Personalakten der Rosenburg-Angehörigen öffnen aber auch den Blick auf menschliche Schwächen und Abgründe. Hier geht es um Opportunismus, mangelnde Standfestigkeit bis hin zur Gewissenlosigkeit und damit einhergehend um mangelndes Verantwortungsbewusstsein, Verdrängen, Beschweigen und Leugnen. Die wichtigste Frage, die das Rosenburg-Projekt aufwirft und die gerade die jüdische Gemeinschaft bewegt, ist aber die, inwieweit die auf der Rosenburg vorherrschende Schlussstrich-Mentalität, die vom Ministerium initiierten Amnestiegesetze und schließlich die »kalte« Amnestie aus dem Jahr 1968 sich gesellschaftlich ausgewirkt haben. Auf den Punkt gebracht: Zählt auch die Vergangenheitspolitik der Rosenburg mit zu den Ursachen und ist daher mitverantwortlich für den Fortbestand von Rechtsextremismus und Antisemitismus? Eine resolute Ministerin, gefolgt von einem engagierten Amtsnachfolger und ebensolchen Amtsnachfolgerinnen haben die Aufarbeitung der Aufbaujahre ihres Ministeriums daher aus gutem Grund als ein Projekt der Vergangenheitspolitik verstanden und entsprechend gestaltet. Entgegen einem verbreiteten Muster beließ es das Ministerium nicht bei der Auftragsvergabe an ein Team von Wissenschaftlern und der abschließenden Entgegennahme ihres Forschungsberichts, sondern bezog von Anfang an die Öffentlichkeit ein und forcierte einen breiten Dialog über die wissenschaftlichen Erkenntnisse und deren gesellschaftliche Implikationen. Die Leiter der Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission, die Professoren Manfred Görtemaker und Christoph Safferling, waren die kongenialen Partner, denen ebenfalls daran gelegen war, den Forschungsprozess transparent zu gestalten und ihn der Öffentlichkeit zu vermitteln. Ministerium und Wissenschaftler haben diesen Prozess in vielfältiger Weise gemeinsam vorangetrieben. In zahlreichen Veranstaltungen, Symposien und Tagungen haben sie das Gespräch mit dem Publikum gesucht und Rede und Antwort gestanden. Im Ministerium in der Berliner Mohrenstraße fanden sich fortlaufend interessierte Besuchergruppen zu Gesprächsrunden ein, darunter Schüler und Auszubildende, die sich mit den Folgen des Holocaust beschäftigten oder die selbst die Vergangenheit ihrer Schulen und Unternehmen erforschten. Auch für jüdische Studenten, unter anderem aus Israel und den Vereinigten Staaten, waren das Ministerium und die Forscher geschätzte Gesprächspartner. Dass der Forschungsbericht von Görtemaker und Safferling, der 2016 unter dem Titel »Die Akte Rosenburg« erschien, auf die Bestsellerliste eines bekannten Nachrichtenmagazins gelangte, überrascht daher nicht. Die brisanten Ergebnisse hat das Ministerium in einer Wander- und Dauerausstellung anschaulich zusammengefasst. Diese ist mittlerweile an zahlreichen

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Standorten in der Bundesrepublik präsentiert worden und erfreut sich nach wie vor eines großen Zuspruchs. Wegen des ausländischen Interesses wurde auch eine englischsprachige Variante der Ausstellung aufgelegt, die bereits an mehreren amerikanischen Universitäten und in polnischen Städten gezeigt wurde. Als nächstes Land steht Israel auf der Programmplanung. In Israel hatte der damalige Bundesjustizminister Heiko Maas bereits im Februar 2017, kurz nach dem Erscheinen der »Akte Rosenburg«, zusammen mit den Wissenschaftlern die Forschungsergebnisse an der Universität Tel Aviv vorgestellt. Die Veranstaltung machte deutlich, dass in Israel die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit in Deutschland weiterhin aufmerksam verfolgt wird und das Rosenburg-Projekt gebührende Anerkennung findet. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat sehr früh das Potenzial des Rosenburg-Projektes als Werk der Aufklärung und als Bereicherung der Erinnerungskultur erkannt. Mit Schreiben vom 10. Mai 2012, wenige Tage nach der öffentlichen Auftaktveranstaltung des Projekts im Kammergericht in Berlin, wandte sich der damalige Präsident des Zentralrats Dieter Graumann an die seinerzeit amtierende Bundesministerin der Justiz Sabine Leutheusser-Schnarren­ berger und teilte ihr mit, dass er ihre Initiative zu diesem Projekt »für »außerordentlich wichtig und aus unserer Sicht nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch für geboten« halte. Für ihr Vorhaben sicherte der Präsident die Unterstützung des Zentralrates zu. Zwei Jahre später fand im Rahmen einer ersten Inhouseveranstaltung die Vorstellung des Projektes vor den Angehörigen des Ministeriums statt. Im Hinblick auf das teilweise noch skeptische, um den Ruf des Hauses fürchtende Auditorium diente die Präsentation erkennbar der Selbstvergewisserung der Initiatoren. Der Mitverfasser dieses Beitrags, Daniel Botmann, war als Vertreter des Zentralrats eingeladen worden, um als Gastredner seine Sicht dazulegen. Er wies auf die große Bedeutung der Aufarbeitung für die Öffentlichkeit hin und warb dafür, das Projekt auch als Chance für das Ministerium selbst zu verstehen. An den Rosenburg-Tagungen, die das Bundesjustizministerium jährlich an der Deutschen Richterakademie veranstaltet, hat sich der Zentralrat von Beginn an mit Vorträgen aktiv beteiligt. Die Zusammenkunft mit Vertretern aller Zweige und Ebenen der deutschen Justiz nimmt er gerne wahr, um die Bedeutung der NS-Aufarbeitung für die jüdische Gemeinschaft, gerade im Hinblick auf den heutigen Antisemitismus und Rechtsextremismus, zu diskutieren. Die Wertschätzung, die der Zentralrat dem RosenburgProjekt entgegenbringt, hat er im November 2018 in Berlin durch eine dreitägige Konferenz zur NS-Vergangenheit des Bundesjustizministeriums zum Ausdruck gebracht. Wer den Gang der Forschungsarbeiten und die Zwischenberichte der Wissenschaftler aufmerksam verfolgt hat, den konnte der Abschlussbericht – »Die Akte Rosenburg« – nicht überraschen. Leider wurden die schlimmsten Erwartungen noch übertroffen. Hinter den Mauern der Rosenburg hatten sich ehemalige Führungskräfte aus dem Reichsjustizministerium wieder eingefunden, um ihre angestammten Plätze aus der Berliner Wilhelmstraße zu besetzen. Spitzenjuristen,

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die ihre Meriten in der NS-Justiz erworben hatten, übernahmen neue Aufgaben beim Wiederaufbau des Rechtsstaates. Die alten NS-Kader hatten ihre Parteiabzeichen und ihre SA-Uniformen abgelegt und sich den Anstrich unpolitischer Biedermänner gegeben. Für die jüdische Gemeinschaft ist es kaum erträglich, dass in den Kreis der Führungskräfte auch zwei Beamte aufgenommen wurden, die während der NS-Zeit an der Vernichtung von Juden mitwirkten. Max Merten, ein von griechischen Gerichten verurteilter Kriegsverbrecher, hatte während des Zweiten Weltkriegs als Kriegsverwaltungsrat in Griechenland an der Umsiedlung, Ghetto­isierung und Einziehung des Vermögens griechischer Juden mitgewirkt und schließlich in Zusammenarbeit mit Dieter Wisliceny, einem Mitarbeiter Adolf Eichmanns, deren Deportation organisiert. Etwa 50.000 Menschen wurden dabei nach Auschwitz und Bergen-Belsen abtransportiert und kamen um. Die entscheidenden Befehle zu deren »Umsiedlung« hatte Merten unterzeichnet, der vor seiner Kriegsverwendung im Reichsjustizministerium das Referat Zwangsvollstreckungsrecht geleitet hatte. 1952 übernahm er auf der Rosenburg die gleiche Dienststellung. Sein Kollege Franz Massfeller hatte 1942 als Oberregierungsrat im Reichsjustizministerium an zwei Folgebesprechungen zur Wannsee-Konferenz teilgenommen und seine Treue gegenüber dem Regime durch einen Kommentar zum »Blutschutz- und Ehegesundheitsgesetz« dokumentiert. Im Bundesjustizministerium betraute man Massfeller 1950 mit den gleichen Aufgaben, die er zuvor im Reichsjustizministerium wahrgenommen hatte; er wurde Referent für Familien-, Personenstands- und Jugendrecht. Bei seiner Einstellung hatte er zu seiner Entlastung erklärt, bei den Folgebesprechungen zur Wannsee-Konferenz eine »Verzögerungstaktik« betrieben zu haben, »um Schlimmeres zu verhindern«. Auch in anderen Bereichen der Rosenburg war der Geist des Antisemitismus noch wahrnehmbar. Georg Petersen war während der NS-Zeit als Anwalt beim Reichsgericht tätig gewesen und hatte mit Hilfe der NS-Rassenideologie erfolgreich die Interessen seiner Mandanten durchgesetzt. In einem Plädoyer vor dem Reichsgericht im Jahr 1940 hatte er pointiert die Auffassung vertreten, dass der »aus den rassepolitischen Gesetzen entnommene allgemeine Grundgedanke berücksichtigt werden [müsse], den jüdischen Einfluss aus der deutschen Wirtschaft auszuschalten«. Auf der Rosenburg wurde ihm 1950 die Leitung der bürgerlich-rechtlichen Abteilung übertragen. Sein Kollege Ernst Geßler, NSDAP-Mitglied seit 1933, hatte 1936 in seinem dienstlichen Bericht über eine Tagung in Den Haag ausgeführt: »Zu bedauern war nur, dass unser Bruderland Österreich durch zwei Juden vertreten war. Zu ihnen wurde eine Verbindung nicht aufgenommen.« Seit 1950 war Geßler im Rang eines Ministerialrats tätig, Mitte der 1960er Jahre wurde ihm die Leitung der Abteilung für Handels- und Wirtschaftsrecht übertragen. Als 1965 seine Beförderung zum Ministerial­ direktor anstand, hielt ihm der Staatssekretär vor, dass sich aus den Geheimakten des Reichsjustizministeriums Anhaltspunkte dafür ergäben, dass er an der Ausschaltung des Judentums aus Handel und Gewerbe mitgewirkt hätte.

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Geßler führte zu seiner Entlastung spitzfindig an, da er diese Angelegenheiten nicht »federführend« bearbeitet habe, könne es sich nur um eine »Mitzeichnung« gehandelt haben. Der Staatssekretär gab sich mit dieser Auskunft zufrieden. Hatte die Zusammensetzung des Leitungspersonals der Rosenburg unheilvolle Verwurzelungen in der NS-Ideologie aufgezeigt, so wirkt die Erklärung irritierend, wer für diese Personalentscheidungen verantwortlich war. Es waren zwei Personen, die einen starken jüdischen Bezug aufwiesen, selbst vom NSRegime verfolgt worden waren und dessen Ende nur aufgrund glücklicher Umstände überlebt hatten. Gemeint sind der erste Bundesminister der Justiz, ­Thomas Dehler, und der langjährige Staatssekretär an seiner Seite, Walter Strauß. Thomas Dehler hatte während der NS-Zeit einer kleinen Widerstandsgruppe angehört. Seine Ehe mit einer Jüdin galt seit den »Nürnberger Rassengesetzen« als eine »privilegierte Mischehe«. Bis zum Kriegsende war Dehler zunehmend Pressionen ausgesetzt, sich von seiner Ehefrau zu trennen. Da Dehler als Rechtsanwalt seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten vorwiegend Juden vertrat, bescheinigte das von Julius Streicher herausgegebene Hetzblatt Der Stürmer ihm einen »minderwertigen Charakter« und nannte ihn einen »echten Judengenossen«, der von der Anwaltsliste zu streichen sei. Walter Strauß war jüdischer Abstammung und wurde 1934 deswegen aus dem Justizdienst entlassen. Sein Übertritt zum evangelischen Glauben 1939 schützte ihn natürlich nicht vor der Verfolgung der Machthaber. Seine Eltern wurden 1943 in das Ghetto Theresienstadt verschleppt. Sein Vater verstarb während der Deportation, seine Mutter an deren Folgen. Dass Strauß selbst die NS-Zeit unbeschadet überlebte, hatte er nur den Interventionen und dem Schutz einflussreicher Freunde zu verdanken. Warum Dehler und Strauß die Schaltstellen ihres Ministeriums ausgerechnet mit ehemaligen Nationalsozialisten und Antisemiten besetzten, wird wohl ein Rätsel bleiben. Auch die Forscher Görtemaker und Safferling haben dafür keine zufriedenstellende Erklärung gefunden. Andere Optionen für den Personalaufbau hätte es gewiss gegeben. Hier hätten sich zum einen die unbelasteten Angehörigen der Justiz angeboten, die sich sicherlich auch in die Abläufe eines Ministeriums und dessen Arbeitsweise eingefunden hätten. Zum anderen hätte man an das große Reservoir der Emigranten denken können, die von den Nationalsozialisten nach der »Machtergreifung« aus Justiz und Anwaltschaft entfernt worden waren. Ein Großteil von ihnen hatte zwar eine neue Heimat im Ausland gefunden und sich dort dauerhaft etabliert. Etliche von ihnen waren aber remigriert und wären bereit gewesen, sich in ihrer alten Heimat in den Dienst des staatlichen Wiederaufbaus zu stellen. Diese Kreise wurden von der Hausleitung auf der Rosenburg aber offensichtlich nicht in den Blick genommen. Ursula Krechel beschreibt in ihrem Roman »Landgericht« vor dem Hintergrund tatsächlicher Geschehnisse die Odyssee eines vom NS-Regime aus dem Dienst entfernten Richters und dessen Rückkehr nach seiner Flucht ins Ausland. In der Nachkriegsjustiz wird er keineswegs mit offenen Armen empfangen, sondern muss um sein Recht einen zähen Kampf führen. Er ist zurückgekehrt, aber nicht

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angekommen. Wie wäre es ihm wohl ergangen, wenn er am Tor der Rosenburg angeklopft hätte? Wen wundert es, dass man sich auf der Rosenburg einig war, die NS-Ver­ gangenheit so schnell wie möglich abzulegen und diesem Gedanken mit den Mitteln des Justizressorts nachzuhelfen. In diesem Punkt bestand völliges Einvernehmen zwischen der Hausleitung und der Belegschaft. Die Haltung des Hauses entsprach damit auch der in der deutschen Nachkriegsgesellschaft vorherrschenden Schlussstrich-Mentalität. Das erste Gesetz, das 1949 vom Ministe­ rium auf den Weg gebracht wurde, sah dann auch eine Amnestie vor, die nicht nur Delikte der in den Nachkriegsjahren begangenen Kleinkriminalität erfasste, sondern auch NS-Tätern zugutekam, die etwa wegen Tätlichkeiten oder ihrer Zugehörigkeit zu verbrecherischen Organisationen wie SS, Gestapo oder SD verurteilt worden waren. Das zweite von der Rosenburg vorbereitete und 1954 in Kraft getretene Amnestiegesetz stellte zudem typische Verbrechen aus der Endphase des NS-Regimes straffrei, wie die standrechtliche Tötung von Fahnenflüchtigen oder Verbrechen an Kriegsgefangenen. Von diesem Gesetz ging das Signal an die Justiz aus, die Strafverfolgung von NS-Verbrechen zu beenden. Der Strafverfolgungsstatistik ist zu entnehmen, dass dieses Signal in der Justiz auch ankam. Der im Ausland untergetauchten Kriegsverbrecher nahm sich auf der Rosenburg Hans Gawlik an, ein Alt-Nazi, der als Staatsanwalt an einem Sondergericht an zahlreichen Todesurteilen beteiligt gewesen war. Dieser missbrauchte seine Stellung als Leiter der Zentralen Rechtsschutzstelle im BMJ und seine Kenntnisse vom Aufenthaltsort »alter Kameraden«, um diese vor drohender Strafverfolgung im Ausland zu warnen. Dass das Ministerium bei den Debatten über die Verjährung von NS-Straftaten in den 1960er Jahren fest auf der Seite der Befürworter stand, lag auf dieser Linie. Der damalige Bundesjustizminister Fritz Schäffer erklärte am 24. Mai 1960 vor dem Deutschen Bundestag: »Ich bin der Überzeugung, das deutsche Volk und das deutsche Rechtssystem haben das Bestmögliche zur Verfolgung der Verbrechen aus der Nazizeit bereits getan. […] Die Gefahr, daß ein größerer Tatsachenkomplex aus diesem Bereich unentdeckt und deswegen insgesamt von der Verjährung bedroht ist, besteht nach meiner Überzeugung heute nicht mehr.«2 Als jüdische Organisationen 1965 in New York gegen die drohende Verjährung von NS-Unrecht demonstrierten, kommentierte Bundesjustizminister Ewald Bucher, ein ehemaliger dekorierter Parteigenosse, dies mit den Worten: »Man sollte nicht übersehen, daß diese vorwiegend von jüdischen Organisationen getragenen Demonstrationen einem latenten Antisemitismus in der Welt – er ist doch nicht nur eine deutsche Eigenschaft – Nahrung geben könnten.«3 Eine 2 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll der 117. Sitzung vom 24. Mai 1960, S. 6686 f. 3 Die Rosenburg – Das Bundesjustizministerium im Schatten der NS-Vergangenheit, Begleit­ broschüre zur Wanderausstellung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Rosenburg_ Broschuere.pdf?__blob=publicationFile&v=11, S. 36.

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geradezu perfide Form der Instrumentalisierung des Antisemitismus, die sich selbst dem Verdacht des Antisemitismus aussetzt. Den legislativen Schlussstrich unter die NS-Verbrechen zog dann die sogenannte kalte Amnestie aus dem Jahr 1968. Aufgrund einer »Panne« in einem vom Bundesjustizministerium betreuten Gesetzgebungsverfahren kam es zu einer vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten rückwirkenden Verjährung von NS-Straftaten. Laufende Ermittlungsverfahren mussten eingestellt werden, neue konnten nicht mehr aufgenommen werden. Tausende Täter gingen straffrei aus. Ob der zuständige Unterabteilungsleiter, Ministerialdirigent Eduard Dreher, diese Panne bewusst herbeigeführt hat, konnte zwar nicht bewiesen werden. Alle Indizien sprechen jedoch dafür, dass Dreher, ein ausgewiesener Strafrechtsexperte und einer der erfahrensten Beamten im Ministerium, die Folgen absah und bewusst nichts dagegen unternahm. Fest steht, dass Dreher selbst von der kalten Amnestie profitierte, da er danach wegen seiner Mitwirkung an Todes­ urteilen am Sondergericht Innsbruck nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Die Herren der Rosenburg hatten damit für mehr als vier Jahrzehnte der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen einen Riegel vorgeschoben. Erst mit dem Urteil des Landgerichts München gegen John Demjanjuk, den Wachmann eines NS-Todeslagers, im Jahr 2011 sowie mit den Verfahren gegen Oskar Gröning und Reinhold Hanning gelang der deutschen Justiz eine späte juristische Neubewertung der NS-Verbrechen. Seither steht fest, dass jeder, der in den NS-Vernichtungslagern die Mordmaschinerie am Laufen hielt, Beihilfe zum Mord geleistet hat und damit – auch in einem hohen Alter – zur Rechenschaft gezogen werden kann. Die Bedeutung dieser Strafverfahren liegt heute weniger in der Bestrafung von Greisen für Straftaten, die diese zum Teil noch als Jugendliche begangen haben, sondern in der Schärfung des öffentlichen Rechts­ bewusstseins und der Aufklärung des historischen Hintergrunds dieses düstersten Kapitels der deutschen Geschichte. Die fatale Vergangenheitspolitik des Justizministeriums nach 1949 hat bis in die jüngste Zeit auch dem immer noch virulenten Wunsch nach einem Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit Auftrieb gegeben. Eine entsprechende Forderung erhob 1993 in einem Interview etwa der sächsische Justizminister Steffen Heitmann, der seinerzeit sogar als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten im Gespräch war. Demoskopische Umfragen ergaben, dass eine große Mehrheit seine Auffassung teilte. Fünf Jahre später stieß Martin Walser in seiner Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in das gleiche Horn. Er kritisierte, dass man den Deutschen immerzu ihre nationalsozialistische Vergangenheit vorhalte. Dadurch bestünde die Gefahr, dass Auschwitz zur simplen »Moralkeule« verkomme. Der damalige Vorsitzende des Zentralrats Ignatz Bubis warf Martin Walser deshalb »geistige Brandstiftung« vor. Heute ist im Deutschen Bundestag eine Partei vertreten, die sich nicht scheut, die NS-Zeit und die Shoah in einer unaussprechlichen Weise zu bagatellisieren und die entsprechende Erinnerungskultur zu bekämpfen. Der frühere Bundespräsident

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Roman Herzog erkannte schon früh die Gefahr, die sich aus dieser gesellschaftlichen Strömung ergab. Am 3. Januar 1996 erklärte er daher den 27. Januar offiziell zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. In seiner Proklamation heißt es: »Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen.« Dieser Gedanke hat in dem 2005 feierlich eröffneten Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin einen in Stein gehauenen Ausdruck gefunden. Die wichtigste Lehre der »Akte Rosenburg« ist aber die, dass es entgegen einer weit verbreiteten Ansicht keine »Stunde null« gegeben hat und dass mit dem NS-Regime das nationalsozialistische Gedankengut nicht untergegangen ist. Die Wissenschaftler haben anhand der Biografien des Führungspersonals im Bundesjustizministerium nachgewiesen, dass unter ihnen auch antisemitisches Gedankengut verbreitet war. In ihren Köpfen trugen die Beamten den Antisemitismus in die Rosenburg hinein, obwohl sie es unter den neuen politischen Bedingungen tunlichst vermieden, ihre Haltung offenzulegen. Anhaltspunkte für eine kritische Auseinandersetzung der neuen Führungskräfte mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit wurden nicht entdeckt. Mit dieser Einstellung standen sie jedoch stellvertretend für Millionen Deutsche. Noch 1969, als sich die Rosenburg-Zeit langsam dem Ende zuneigte, erhielt die rechtsradikale NPD bei der Bundestagswahl über 1,4 Millionen Wählerstimmen und verpasste mit einem Stimmenanteil von 4,3 Prozent nur knapp den Einzug in den Deutschen Bundestag. Der Zentralrat hat seine Tagung zum Rosenburg-Projekt im November 2018 bewusst unter den Titel »Die langen Schatten der Vergangenheit« gestellt, denn der Schatten des Antisemitismus verdunkelt bis heute unser gesellschaftliches Leben. Der Anschlag von Halle an Jom Kippur 2019 und die Vorfälle von Chemnitz und Hanau waren ein Fanal. Aber sie sind nur die Spitze eines Eisbergs. Antisemitismus ist heute wieder zu einer alltäglichen Erscheinungsform geworden. Er macht sich auf dem Schulhof bemerkbar, er begegnet einem auf Demonstrationen und leuchtet vieltausendfach in den Netzwerken auf. Es ist eine Schande für unser Land, dass ein dreiviertel Jahrhundert nach dem Holocaust jüdische Bürgerinnen und Bürger in Deutschland aus Angst vermeiden, in der Öffentlichkeit als Juden erkannt zu werden, und jüdische Einrichtungen unter Polizeischutz stehen. Gewiss, Antisemitismus wird in der gesellschaftlichen Debatte selten offen artikuliert und kommt oft in sublimer Form als Kritik an Israel daher. Umso mehr stellt der Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus uns alle vor eine große dauerhafte Herausforderung. Dieser Kampf kann nur gewonnen werden, wenn es Staat und Gesellschaft gelingt, eine wirksame Strategie zu entwickeln und sie mit aller Entschlossenheit umzusetzen. Dabei weiß der Zentralrat der Juden in Deutschland das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz an seiner Seite. Mit dem 2017 in Kraft getretenen Netzwerkdurchsetzungsgesetz hat es einen wertvollen Beitrag zum Kampf gegen antisemitische Straftaten im Netz geleistet. Der Zentralrat ist sich auch mit Bundesministerin Christine Lambrecht einig, Antisemitismus ausdrücklich in

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das Strafgesetzbuch als Strafzumessungsgrund aufzunehmen, um derartige Delikte wirksamer zu bekämpfen und ein Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen. Ralph Giordano hat mit seiner 1987 erschienenen Schrift »Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein« das Verdrängen und Leugnen der NS-Vergangenheit in unserem Land angeprangert und die geistigen Grundlagen zur NSAufarbeitung gelegt. In seiner Rede am 13. Juni 2013 anlässlich der Vorstellung des Bandes »Die Rosenburg«, mit dem die Forschung zur Vergangenheitspolitik des Bundesjustizministeriums ihren Anfang nahm, bezeichnete ­Giordano das Rosenburg-Projekt dann als »Stoß ins Zentrum deutscher Lebenslüge, Töne, auf die ich lange gewartet habe«. Kurzum: Das Rosenburg-Projekt ist der Kontrapunkt zum Schlussstrich-Gedanken, das Gegengift zu Antisemitismus und Rechtsextremismus und ein Werk der Aufklärung für alle Ewiggestrigen.

I. Das Rosenburg-Projekt – Vergangenheitspolitik und wissenschaftliche Aufarbeitung

Gerd J. Nettersheim

Von der Last einer historischen Hypothek Die Gründerjahre des Bundesministeriums der Justiz zwischen Anspruch und Wirklichkeit

»[…] nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis«.1 An diesen Satz, den Friedrich Nietzsche 1887 in seiner »Genealogie der Moral« formulierte, hätte man sich nach 1949 auch im Bundesministerium der Justiz (BMJ) erinnern sollen. Doch die eigenen Anfangsjahre in Frage zu stellen, fiel dem Ministerium schwer. Auf der Rosenburg hoch über dem Rhein, seinem ersten Dienstsitz, festigte sich in den Anfangsjahren der Bonner Republik ein elitäres Selbstbild, das jeden späteren kritischen Rückblick blockierte. Spät, sehr spät, als die Notwendigkeit einer umfassenden Aufarbeitung der NS -Vergangenheit und deren Fortwirken in der jungen Bundesrepublik längst erkannt war und staatliche sowie gesellschaftliche Institutionen sich der eigenen Vorgeschichte stellten, machte auch das BMJ den Weg für die Erforschung seiner frühen Jahre frei. Im Auftrag des Ministeriums untersuchte nun eine »Unabhängige Wissenschaftliche Kommission« die personellen und sachlichen Kontinuitäten, die zwischen der NS-Zeit und den ersten Jahrzehnten des neu gegründeten BMJ bestanden. Der Befund ihres 2016 veröffentlichten Abschlussberichts »Die Akte Rosenburg« wurde nicht nur im Ministerium als niederschmetternd und beschämend empfunden. Auch der Illusion einer glorreichen Vergangenheit wurde damit ein Ende bereitet. Die Erkenntnisse aus diesem Bericht beschränkten sich allerdings nicht auf das Ministerium selbst, sondern lenkten den Blick ebenfalls auf die Justiz und den Juristenstand allgemein. Somit stellt sich nun die Frage, wie es um das Rechtsethos der Juristen und ihr Bewusstsein der Verantwortung für Staat und Gesellschaft steht. Es gilt, die richtigen Schlussfolgerungen aus der »Akte Rosenburg« zu ziehen, wobei man wohl nicht umhinkommen wird, auch gesetzliche Ergänzungen ins Auge zu fassen. Der Verfasser dieses Beitrages war Ministerialdirigent im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Er hat das Rosenburg-Projekt initiiert, vorbereitet und als Unterabteilungsleiter begleitet und unterstützt. Nach seinem Eintritt in den Ruhestand 2016 hat er diese Tätigkeit als Sonderberater des Ministeriums bis zum Jahr 2019 fortgesetzt und schildert nunmehr aus 1 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 2. Abh. Ziff. 3.

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seiner persönlichen Sicht, wie sich im Ministerium der schwierige Prozess der Bewusstseinsbildung für die Problematik der eigenen Vergangenheit vollzog und welche Ziele das Ministerium mit dem Rosenburg-Projekt verfolgte.

I.

Das »besondere« Ressort

Als ich 1980 nach meinem Zweiten Juristischen Staatsexamen in den Dienst des Bundesjustizministeriums in Bonn trat, genoss dieses Haus hohes Ansehen. Sein Rang als kleinstes Bundesressort mit dem weitaus kleinsten Etat stand in umgekehrtem Verhältnis zu seiner Bedeutung. Kurzum, es war klein, aber fein. Recht und Gesetz in einer besonderen Weise verpflichtet, zählte es auf der Bundesebene zu den Garanten des wiedererrichteten Rechtsstaates. Am Aufbau und der Weiterentwicklung einer liberalen Gesellschaftsordnung hatte es seinen Anteil und sein Verdienst. Immer dann, wenn bei politischen Entscheidungen die Grundgesetzkonformität in Frage stand, gab es als Verfassungsressort eine zuverlässige und belastbare Orientierung und wurde auf diese Weise zu einem wichtigen Stabilitätsanker der Bonner Republik. Sein permanenter Einsatz für die Grund- und Menschenrechte war allseits anerkannt und hatte wesentlich zu seinem exzellenten Ruf beigetragen. Auch die Gesetzgebungskultur des Bundes hatte es in vielfältiger Weise gefördert. An der Spitze des Hauses hatten große Gestalten wie Thomas Dehler und Gustav Heinemann gestanden. Sie hatten Spuren hinterlassen und dem Ministerium Profil und Glanz verschafft. Und den amtierenden Ressortchef Hans-­ Jochen Vogel umgab schon damals die Aura eines großen Staatsmannes, dessen Autorität unangefochten war und der auch beim politischen Gegner Respekt und Wertschätzung genoss. Die Tagespolitik hielt er nach Möglichkeit von seinem Haus fern. Verlautbarungen gegenüber der Presse gab er – sehr zum Leidwesen seines Sprechers – nur sehr sparsam. Aber jede seiner Äußerungen fand Aufmerksamkeit. Die hohe Fachkompetenz und Leistungsfähigkeit der Ministerialbeamten und der damals noch recht überschaubaren Zahl der Ministerialbeamtinnen war unbestritten und im Kreis der anderen Bundesressorts anerkannt. Die Ministerialen hatten allesamt die Befähigung zum Richteramt und waren durch Prädikatsexamina ausgewiesen. Ein Großteil von ihnen hatte zudem akademische Titel erworben. Sie stammten durchweg aus der Landesjustiz und brachten ihre reiche Erfahrung als Richter oder Staatsanwälte in ihre neue Wirkungsstätte ein. Nur die besten von ihnen wurden nach ihrer ministeriellen Bewährung und einer harten Auslese in den Bundesdienst übernommen. Als erster Berufsanfänger im Justizministerium stellte ich hier eine Ausnahme dar. Vielfach betätigten sich die Beamten neben ihrem Dienst auch schriftstellerisch, verfassten Beiträge in juristischen Fachzeitschriften oder veröffentlichten Kommentare zu den von ihnen vorbereiteten und betreuten Gesetzeswerken und nahmen auf diese Weise Einfluss auf deren Anwendung in der Praxis. Dass ihre Expertise allseits

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anerkannt und gefragt war, ihr Wort in Ressortverhandlungen und in Ausschüssen der parlamentarischen Gremien Gewicht hatte, verstand sich von selbst. Auch Hans-Jochen Vogel war sichtlich stolz und voll des Lobes auf das von ihm geführte Ministerium. Aus meinem Vorstellungsgespräch bei ihm sind mir seine Worte »Dieses Haus haben viele große Männer groß gemacht« in Erinnerung geblieben. Diese Männer wollte er mir wohl auch als Vorbild empfehlen. Es verwundert daher nicht, dass sich unter dem Dach des BMJ ein elitäres Selbstbewusstsein breitgemacht hatte. Und diese Selbsteinschätzung entsprach vielerorts in der Bonner Republik auch der Fremdwahrnehmung. Die Auffassung, ein »besonderes« Haus zu sein, wurde offen artikuliert und unterlag steter Selbstvergewisserung. Mir wurde jedenfalls zu Beginn meiner Tätigkeit klargemacht, dass es eine Ehre sei, dem Ministerium anzugehören und ihm zu dienen.

II. Im Paradies Man war aber nicht nur von der eigenen Bedeutung überzeugt, sondern blickte auch voller Stolz auf eine große Vergangenheit zurück. Die kollektive Erinnerung rankte sich hier um die Rosenburg, den ersten Dienstsitz des Justizministeriums. Die Gründergeneration des Ministeriums muss den Dienst in ihren Mauern als geradezu »märchenhaft« empfunden haben. Während die anderen Bundesressorts in der noch vom Krieg gezeichneten Bonner Innenstadt ehemalige Kasernen oder dienstliche Provisorien bezogen hatten, fanden sich die Beamten des Justizministeriums in einer alten, romantisch anmutenden burgähnlichen Anlage an einem Berghang hoch über dem Rhein zusammen. Weitab vom Regierungszentrum in einer von Weinreben, Wiesenmatten und Wald umgebenen landschaftlichen Idylle fanden die Mitarbeiter Ruhe und Inspiration für die vor ihnen liegenden Aufgaben beim Wiederaufbau des freiheitlichdemokratischen Rechtsstaates. Der Erfolg ihrer Arbeit wird auch von der Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission nicht bestritten, die im Auftrag des Justizministeriums in jahrelanger Arbeit die ersten Jahrzehnte seiner Geschichte untersucht hat. Beschreibt ihr Bericht den »Schatten«, der auf der Rosenburg lastete, muss man diese Leistungen der »Lichtseite« zurechnen. Die Rosenburg-Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucher­schutz (BMJV), wie es heute heißt, präsentiert daher zu Recht beide Seiten. Am Erfolg dieser Arbeit hatten der enge kollegiale Zusammenhalt der Mitarbeiter und das Vertrauensverhältnis zwischen der politischen Führung und der Fachebene gewiss ihren Anteil gehabt. Ursächlich für die spätere Überhöhung dieser Zeit war das teilweise überschwängliche Lob der ersten Justizminister und ihres Staatssekretärs Walter Strauß, das die Ministerialen aufgriffen und später zu einem Narrativ überformten. Der später so benannte »Geist der Rosenburg« materialisierte sich besonders in zahlreichen Reden der Minister und des Staatssekretärs Strauß aus Anlass von

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Amtsübergaben. Bereits 1953, beim Amtswechsel von Thomas Dehler zu Fritz Neumayer, befand der neue Minister, dass das, was in den ersten vier Jahren auf der Rosenburg geleistet worden sei, »der Geschichte angehöre«2 – ein Superlativ, der von seinen Nachfolgern, die ebenfalls nicht mit Lob sparten, kaum noch zu überbieten war. Als Erklärung hierfür mochte gelten, dass die Arbeit im Bundesjustizministerium besonders in den Anfangsjahren »eine enthusiastische Hingabe« verlangte, wie Staatssekretär Strauß bei diesem Anlass hervorhob.3 Auch später wurde vielfach die »Andersartigkeit«4 des Hauses betont, das im Vergleich zu den übrigen Ressorts »in stärkerem Maße sachbezogen« sei5 und dessen Mitarbeiter »in sehr viel höherem Maße als andere Ministerien eine geradezu wissenschaftliche und wissenschaftsgerechte Arbeit zu leisten« hätten.6 So bemerkte Bundesjustizminister Richard Jaeger bei seinem Amtsantritt 1965, dass er »von der objektiven Stelle eines zwölf Jahre lang amtierenden Vizepräsi­ denten des Parlaments« sagen könne, dass das Ministerium »als das qualitativ beste der Ministerien« zu gelten habe.7 Den Mitarbeitern selbst wurde vielfach eine »hohe moralische Qualität«8 und eine »wahrhaft gute Gesinnung«9 bescheinigt. Allseits gewürdigt wurde ebenfalls der »echte Gemeinschaftsgeist« des Hauses, »wo jeder dem anderen vertraut und alle hinter dem Minister stehen, wie dieser immer bereit ist, sich vor sein Haus zu stellen«10, das von dem Bewusstsein durchdrungen sei, »einer Einheit anzugehören, wo jeder auf seinem Platz seine Pflicht tut und alle von dem Pflichtbewußtsein zu einer Einheit verschmolzen sind«.11 Aber auch die Minister selbst müssen ihre Amtszeit als etwas Außergewöhnliches und Denkwürdiges erlebt haben. Thomas Dehler war nach dem Urteil 2 Fritz Neumayer, Ansprache aus Anlass seines Amtsantritts am 22. Oktober 1953, in: Ansprachen aus Anlaß von Amtsübergaben der Minister und Staatssekretäre im Bundesministerium der Justiz in Bonn 1953–1971, Bibliothek des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, Berlin (nachfolgend: Ansprachen), Abschnitt 1953, S. 2. 3 Walter Strauß, Ansprache aus Anlass der Amtsübergabe von Thomas Dehler an Fritz Neumayer am 22. Oktober 1953, in: Ansprachen 1953, S. 8. 4 Walter Strauß, Ansprache aus Anlass seiner Verabschiedung am 4. Februar 1963, in: Ansprachen 1963, S. 8. 5 Walter Strauß, Ansprache aus Anlass der Amtsübergabe von Fritz Neumayer an HansJoachim von Merkatz am 23. Oktober 1956, in: Ansprachen 1956, S. 6. 6 Walter Strauß, Ansprache aus Anlass der Amtsübergabe von Thomas Dehler an Fritz Neumayer am 22. Oktober 1953, in: Ansprachen 1953, S. 8. 7 Richard Jaeger, Ansprache aus Anlass seiner Amtseinführung am 27. Oktober 1965, in: Ansprachen 1965, S. 5. 8 Hans-Joachim von Merkatz, Ansprache aus Anlass seiner Amtseinführung am 23. Oktober 1956, in: Ansprachen 1956, S. 3. 9 Ebd., S. 6. 10 Walter Strauß, Ansprache aus Anlass seiner Verabschiedung am 4. Februar 1963, in: Ansprachen 1963, S. 25 f. 11 Fritz Schäffer, Ansprache aus Anlass seiner Verabschiedung am 14. November 1961, in: Ansprachen 1961, S. 13.

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seines Nachfolgers Fritz Neumayer12 »viel Liebe und Verehrung« von seinen Mitarbeitern entgegengebracht worden. Drei Jahre später bemerkte Neumayer, nunmehr auf seine eigene Amtszeit zurückblickend, dass er auf der Rosenburg »viele erhebende und schöne Stunden« erlebt habe und »mit besonderem Stolz« auf diese Zeit zurückblicken werde.13 Und Fritz Schäffer bekannte bei seinem Abschied 1961, dass er sich »in gewissem Sinn [als] ein Kamerad einer Arbeitsgemeinschaft« gefühlt habe.14 Der aus der Gesamtheit dieser Zuschreibungen spürbar werdende »Geist« wurde somit von allen Amtsträgern gerühmt. Es war aber Bundesminister Ewald Bucher, der 1963 bei seiner Amtseinführung den »Geist der Rosenburg« beim Namen nannte, der später so oft beschworen werden sollte.15 Als Bundesminister Hans-Joachim von Merkatz 1961 seinem Amtsnachfolger Wolfgang Stammberger zu seiner Ernennung gratulierte, gab er ihm daher die Worte mit auf den Weg: »Wissen Sie, Sie kommen jetzt ins Paradies, das ist für mich das Justizministerium.«16 Damit brachte er auch die Befindlichkeit seiner Mitarbeiter zum Ausdruck. Und als das BMJ 1973 seinen Dienstsitz wechselte und in den Godesberger Rheinauen einen modernen Zweckbau bezog, muss es ihnen wie eine Vertreibung aus dem Paradies vorgekommen sein. Die Tatsache, dass Gerhard Jahn, der damalige Hausherr, allen Bediensteten zur Erinnerung an die alte Wirkungsstätte den Neudruck einer Lithografie aus dem 19. Jahrhundert überreichte, verstärkte noch den Abschiedsschmerz. Denn darauf wirkte die Rosenburg wie ein romantischer Sehnsuchtsort. Die Jahre auf der Rosenburg wurden nun Teil des kollektiven Gedächtnisses, in dem sich die schwärmerischen Erinnerungen verdichteten. Der »Geist der Rosenburg« wurde in Gedichten gefeiert, in Liedern besungen und in den Feiern des Ministeriums immer wieder beschworen. Ein Rosenburg-Saal, ein Rosenburg-Foyer und zahlreiche Rosenburg-Bilder konfrontierten jedermann mit der Vergangenheit. Am Ende hatte sich das Rosenburg-Narrativ geradezu zu einem Mythos entwickelt. Als junger Beamter, der seinen Dienst in dem neuen, sogenannten Kreuzbau in Godesberg antrat und die Rosenburg nur vom Hörensagen kannte, hatte ich das Gefühl, zu spät gekommen zu sein und den wahren Ort und die richtige Zeit nicht mehr erlebt zu haben.

12 Fritz Neumayer, Ansprache aus Anlass seines Amtsantritts am 22. Oktober 1953, in: Ansprachen 1953, S. 2. 13 Fritz Neumayer, Ansprache aus Anlass seiner Verabschiedung am 23. Oktober 1956, in: Ansprachen 1956, S. 2. 14 Fritz Schäffer, Ansprache aus Anlass seiner Verabschiedung am 14. November 1961, in: Ansprachen 1961, S. 14. 15 Ewald Bucher, Ansprache aus Anlass seiner Amtseinführung 1963 [Januar?], in: Ansprachen 1963, S. 1. 16 Wolfgang Stammberger, Ansprache aus Anlass seiner Amtseinführung am 14. November 1961, in: Ansprachen 1961, S. 16.

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III. Mit sich und der Vergangenheit im Reinen Das Ministerium war aber nicht nur mit sich selbst im Reinen, sondern sah sich auch in einer großen Traditionslinie. Dies spiegelte der Festakt wider, der aus Anlass des 100-jährigen Gründungstages des Reichsjustizamtes am 24. Januar 1977 in der Godesberger Stadthalle stattfand und an dem der Bundespräsident, der Bundestagspräsident sowie zahlreiche hohe Repräsentanten aus der Bundespolitik und der Justiz teilnahmen. In seiner Festansprache bekannte der damalige Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel, dass sein Haus »in der ihm durch das Reichsjustizministerium vermittelten rechtlichen und organisatorischen Kontinuität« des Reichsjustizamtes stehe.17 Ausführlich ging Vogel in seiner Ansprache der Frage nach, welche Rolle das Justizministerium im »Dritten Reich« gespielt habe. Aus der Sicht des Ministers handelte es sich hier um »die Geschichte einer Institution, die den Schritt zum Widerstand versäumte und dadurch Stufe um Stufe in die Rolle der Handlangerin für einen Unrechtsstaat« herabgesunken sei. Das Reichsjustizministerium sei »dieser Entwicklung nicht gewachsen gewesen«. Es habe »Schritt für Schritt nachgegeben« und schließlich »der Diktatur für Gesetze und Verordnungen Formulierungshilfe [!] geleistet«. Als der Rechtsstaat dann von der Gewaltherrschaft abgelöst worden sei, seien vielen »die Augen aufgegangen«. Entsetzt habe man gesehen, »wie das Unrecht in die Form des Rechts gegossen« wurde und wie man ihnen zugemutet habe, »an dieser Form mitzuarbeiten«. Nur wenige Juristen jedoch, wie etwa Roland Freisler, so Minister Vogel, seien »selber fanatische Anhänger Hitlers« gewesen. Die große Mehrzahl habe sich dem NS-Regime aus anderen Gründen zugewandt: »weil ihr die Vorstellung vom Staat gesetzten Unrechts unfaßbar erschien, aber auch aus Naivität, Opportunismus und Schwäche«. Die »sublimen Justiz-Künstler, exakten Gesetz-Ingenieure und sorgfältigen Wort-Graveure«, wie Gustav Radbruch sie 1948 genannt habe, seien »häufig zu sehr auf die Eleganz der Form bedacht [gewesen] und zu wenig auf Recht und Billigkeit des Inhalts dessen, was sie da formulierten«. So hätten sie zu spät erkannt, »daß die Macht selbst dem Bruch der Verfassung und dem krassesten Unrecht den Mantel äußerer Legalität umzuhängen vermag«.18 Die damals noch aktiven Beamten des Bundesministeriums der Justiz, die schon im Reichsjustizministerium Dienst geleistet hatten, durften nach dieser Laudatio die Festveranstaltung erhobenen Hauptes verlassen. Kritischen Nachfragen zu ihrer Vergangenheit war damit der Boden entzogen. Bedauerndes 17 Hans-Jochen Vogel, Ansprache des Bundesministers der Justiz, Dr. Hans-Jochen Vogel, beim Festakt aus Anlass des 100jährigen Bestehens einer obersten deutschen Justizbehörde (nachfolgend: Festansprache), in: Hans-Jochen Vogel / Josef Esser, 100 Jahre oberste deutsche Justizbehörde. Vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz (= Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, H. 470), Tübingen 1977, S. 3. 18 Ebd., S. 8 f.

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Mitgefühl war eher angebracht. Einen ähnlichen Tenor stimmte auch eine Festschrift mit dem Titel »Vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz – Zum 100jährigen Gründungstag des Reichsjustizamtes« an, die aus Anlass des Jubiläums erschien.19 Der Kieler Rechtshistoriker Hans Hattenhauer übernahm es dabei, die Linie vom Reichsjustizamt bis in die Gegenwart nachzuzeichnen. Was das kritische Kapitel der NS-Zeit anbelangt, liest sich seine Darstellung wie eine klassische Tragödie.20 Gegenstand ist der Kampf eines übermächtigen Diktators in der Gestalt Hitlers gegen eine Schar honoriger »Herren« (Beamte des Reichsjustizministeriums), die tapfer und hinhaltend ihr Haus und die Werte, die es verkörperte, verteidigen. Man ahnt es: Am Ende sind diese ehrbaren, gleichwohl ahnungslosen und naiven Männer den immer heftiger werdenden Schlägen eines vom Hass gegen ihre Juristenzunft durchdrungenen Herrschers nicht gewachsen, der sie schließlich zu »Befehlsempfängern« erniedrigt, die ihre Tätigkeit nunmehr als »ständige Sklaverei«21 empfinden. »Das ehedem vornehme Haus«, so Hattenhauer wörtlich, »war am Ende seiner Kraft.«22

IV. Resistent gegen jedwede Enthüllung Die Jubiläumsfeierlichkeiten des Jahres 1977 veranschaulichten somit eindrucksvoll, dass das Justizministerium damals mit sich und der Vergangenheit noch ganz im Reinen war. Zu Beginn der 1980er Jahre wurde jedoch das grandiose Bild, in dem sich das Ministerium spiegelte, zunehmend brüchig. Denn inzwischen begann sich die Publizistik zunehmend für die Vergangenheit der Eliten in Staat und Gesellschaft zu interessieren. Und dabei gelangten auch die Führungskräfte der Rosenburg in ihr Visier. Investigative Recherchen deckten nach und nach die NS-Belastung einzelner Biografien auf. Auch die frühere Personalpolitik des Hauses geriet in die Kritik. Doch obwohl sich der Himmel über der Rosenburg zusehends verfinsterte, sah sich das Ministerium weiterhin über jeden Verdacht erhaben und zeigte sich resistent gegen jedwede Enthüllung. Neue Erkenntnisse wurden ignoriert. Ältere Kollegen, die wegen ihrer dunklen Vergangenheit Ziel von Veröffentlichungen wurden, konnten sich des Schutzes und der Verteidigung ihrer Nachfolger sicher sein. Damit gelang es dem Ministerium, eine kritische Phase zu überstehen und das Problem der eigenen Vergangenheit für eine lange Zeit »auszusitzen«. Mein eigener guter Glaube an die Integrität der Altvorderen geriet allerdings bereits ein Jahr nach meinem Dienstantritt ins Wanken, als das Nachrichten­ 19 Bundesministerium der Justiz (Hg.), Vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz. Festschrift zum 100jährigen Gründungstag des Reichsjustizamtes am 1. Januar 1877, Köln 1977. 20 Ebd., S. 73 ff. 21 Ebd., S. 81. 22 Ebd., S. 89.

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magazin Der Spiegel im November 1981 einen größeren Artikel über Eduard Dreher veröffentlichte.23 Dreher war zuletzt Ministerialdirigent im BMJ gewesen und galt wegen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auf dem Gebiet des Strafrechts als Autorität. Während meines Studiums in den 1970er Jahren hatte ich seinen Standardkommentar zum Strafgesetzbuch immer wieder zu Rate gezogen. Nun musste ich zur Kenntnis nehmen, dass Dreher während der NS-Zeit als Staatsanwalt am Sondergericht in Innsbruck mehrere Todesurteile, selbst in Bagatellfällen, erwirkt hatte. Dabei hatte er sich offenbar einer Diktion und rechtlicher Argumentationsmuster bedient, die ganz und gar der NS-Ideologie verhaftet waren und den Leitsätzen und Prinzipien seiner späteren Publikationen Hohn sprachen. Doch zu meiner Verwunderung fand der Spiegel-Artikel im Kollegenkreis keine wahrnehmbare Beachtung; er war jedenfalls kein Gesprächsthema. Dies galt aber nicht für den damaligen Staatssekretär des Justizministeriums Günther Erkel. Dieser nahm den Artikel vielmehr zum Anlass für eine Ehrenerklärung. In einem Schreiben an Dreher wenige Tage nach der Veröffentlichung erklärte er sein Bedauern, dass er »Gegenstand dieser Angriffe« geworden sei, und versicherte ihm, die erhobenen Vorwürfe gegen ihn seien im Ministerium mehrfach geprüft worden; »dieserhalb« sei »nichts gegen [ihn] zu veranlassen«.24 Dreher antwortete postwendend. In seinem Schreiben an den Staatssekretär heißt es: »Für Ihr liebenswürdiges Schreiben […] danke ich Ihnen verbindlichst. Es erfüllt mich mit Befriedigung, daß mir das Haus, dem ich so lange Jahre gedient habe, in dieser unerquicklichen Angelegenheit zur Seite steht.«25 Dass es sich bei Dreher nicht um einen Einzelfall aus dem Geschäftsbereich des Justizministeriums handelte, wurde 1987 öffentlich bekannt. In seinem fakten- und quellengesättigten Werk »Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz« wies Ingo Müller anhand einer Vielzahl dienstlicher Biografien nach, dass Juristen, die während der NS-Zeit in der Justiz aktiv an der Deformation des Rechts mitgewirkt und damit dem Terrorregime Vorschub geleistet hatten, in der jungen Bundesrepublik mühelos ihre Karriere hatten fortsetzen können. Zu diesem Personenkreis zählten auch weitere Beamte, die nach 1949 auf der Rosenburg untergekommen waren. Namen wie Josef Schafheutle, Ernst Kanter, Heinrich Ebersberg, Franz Massfeller und Eduard Dreher sollten später im Abschlussbericht der Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission beim Bundesministerium der Justiz ebenfalls eine besondere Rolle spielen. Damit verdichteten sich die Hinweise, dass bei der Personalpolitik und dem Personaltableau auf der Rosenburg einiges im Argen gelegen haben musste. Eine Reaktion des Ministeriums blieb jedoch aus. Erst 1989 präsentierte der damalige Justizminister Hans A.  Engelhard die Ausstellung »Im Namen des

23 Der Spiegel, Nr. 49, 30.11.1981, S. 206 ff. 24 Mitteilung von Christoph Safferling aus der Personalakte Eduard Dreher an den Verfasser vom 28. Januar 2020. 25 Ebd.

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Deutschen Volkes – Justiz und Nationalsozialismus«, in der auch die von Ingo Müller behandelte Personalie des Ministerialrats Franz Massfeller dargestellt wurde.26 Aus der Sicht der Rosenburg-Gemeinschaft bedeutete dies allerdings einen Tabubruch, wie mir sehr schnell deutlich wurde. Denn als ich einen älteren, unbelasteten Pensionär auf den Fall Massfeller ansprach, reagierte dieser empört. Er habe Massfeller sehr gut gekannt und lege für seine Integrität die Hand ins Feuer. Massfeller sei »streng katholisch« gewesen und habe immer nur »für das Familienrecht gelebt«. Auch anderen Rosenburg-Pensionären war die neue Entwicklung nicht entgangen. 1991 meldeten sie sich zu Wort. In einer vom damaligen Personalrat herausgegebenen Schrift »Der Geist der Rosenburg. Erinnerungen an die frühen Jahre des Bundesministeriums der Justiz« wandten sie sich an die aktiven Beamten, die nach dem Umzugsbeschluss des Deutschen Bundestages Bonn verlassen und sich aus ihrem Gesichtsfeld entfernen sollten. Die Botschaft der »Alten« war klar: »Soll die gute alte Zeit der Rosenburg nicht nach und nach dem Vergessen anheimfallen, so muß die Erinnerung zu Papier gebracht werden«, heißt es im Geleitwort. Das Anliegen, die Deutungshoheit über die Gründerjahre zurückzugewinnen, lag auf der Hand. In persönlichen, anekdotenhaft gefärbten Reminiszenzen ließen die Autoren in der Schrift die Zeit auf der Rosenburg aufleben und wärmten das alte Narrativ in ungebrochener Form wieder auf. Seit dem Abschlussbericht der Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission wissen wir, dass ein Teil der Autoren in das NS-Unrechtsregime verstrickt gewesen war und damit guten Grund hatte, sich in diese Schrift einzubringen. Dort heißt es unter anderem, man könne 40 Jahre nach Gründung des Ministeriums kaum noch erwarten, dass der Geist der 1950er Jahre »weiter im Hause weben« werde. »Haus, Organisation und Einstellung der Mitarbeiter des Ministeriums zum Dienst am Staat« seien »vom Wandel der Zeit nicht unberührt geblieben«.27 Eduard Dreher nutzte diese Gelegenheit sogar ganz ungeniert, seine Arbeit beim Sondergericht Innsbruck zu verharmlosen. Auf die Frage von Staatssekretär Walter Strauß, wie er bei seiner Tätigkeit als Staatsanwalt in Innsbruck mit den Österreichern ausgekommen sei, habe er geantwortet, »daß das gut gegangen sei, zumal [er] ja keinen preußischen Eindruck mache«.28 Trotz mancher Ungereimtheiten scheint sich der damalige Personalrat mit dem Inhalt der Schrift identifiziert zu haben. Ein Vorstandsmitglied, das für die Schrift verantwortlich zeichnete und einige Jahre später die Leitung der Zentralabteilung übernehmen sollte, verweigerte sich strikt einer Zeitzeugenbefragung, als die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Ministeriums begann. Seine ebenso kurze wie pointierte Begründung: »Auf der Rosenburg gab es keine Nazis.« 26 Bundesminister der Justiz (Hg.), Im Namen des Deutschen Volkes – Justiz und Nationalsozialismus, Katalog zur Ausstellung, Köln 1989, S. 381 ff. 27 Personalrat des Bundesministeriums der Justiz (Hg.), Der Geist der Rosenburg. Erinnerungen an die frühen Jahre des Bundesministeriums der Justiz, Bonn 1991, S. 205. 28 Ebd., S. 24.

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Vier Jahre nach der Veröffentlichung der Schrift, im Februar 1995, berichtete der Historiker Norbert Frei am Rande einer Tagung an der Evangelischen Akademie Loccum, an der ich aus dienstlichen Gründen teilnahm, von den Ergebnissen seines neuen Forschungsprojektes. In dessen Mittelpunkt stand die von einer Schlussstrich-Mentalität geprägte Vergangenheitspolitik der frühen Adenauer-Ära. Eine Schlüsselrolle habe dabei das Bundesministerium der Justiz mit seinen Amnestieplänen und Gesetzentwürfen gespielt. Hart ins Gericht ging Frei mit dem verantwortlichen Minister Thomas Dehler und dessen Fachbeamten, die fast alle ehemalige Parteigenossen gewesen seien. Von deren »Machenschaften« war die Rede. So habe der ehemalige SS-Gruppenführer und Personalchef der Gestapo Werner Best seine aus der NS-Zeit herrührenden Kontakte in das Justizministerium genutzt, um seine Pläne zugunsten einer Generalamnestie für NS-Straftäter einzubringen. Dehler und seine Beamten hätten dann bei den parlamentarischen Beratungen der von ihnen vorgelegten Straffreiheitsgesetze die Abgeordneten über deren Tragweite bewusst im Unklaren gelassen. Die Forschungsarbeit von Frei sollte ein Jahr später unter dem Titel »Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit«29 erscheinen und einen Markstein für die zeitgeschichtliche Aufarbeitung der Nachkriegszeit setzen. Ich fasste die Vorwürfe von Frei umgehend in einem Bericht an die Hausleitung des Justizministeriums zusammen. Dabei fügte ich hinzu, dass das Ministerium für den Fall, dass sich seine Darstellung als stichhaltig erweise, wohl nicht umhinkommen werde, seine frühe Vergangenheit einer umfassenden wissenschaftlichen Untersuchung zu unterziehen  – dies umso mehr, als Ingo Müller weitere Anhaltspunkte dafür aufgezeigt habe, dass in den frühen Jahren des Ministeriums eine größere Zahl von Mitarbeitern eine NS-Belastung aufgewiesen habe. Einige Zeit später wurde mir dann mitgeteilt, dass die Zentralabteilung den von Frei erhobenen Vorwürfen nachgegangen sei. Dabei habe sich herausgestellt, dass entsprechende Hinweise bereits in den 1950er Jahren im Hause geprüft und für haltlos befunden worden seien. Das Thema war damit erledigt und sollte in den folgenden eineinhalb Jahrzehnten nicht mehr aufgerufen werden. Erst die Unabhängige Wissenschaftliche Kommission hat 2016 die Ausführungen von Frei bestätigt30 und dessen Auffassung geteilt, dass das vom Justizministerium vorbereitete Straffreiheitsgesetz von 1954 zu »Lähmungserscheinungen« innerhalb der Justiz und einer »Aufweichung der Ahndungsmoral« geführt habe.31 Nach heutigem Erkenntnisstand ist es indessen wenig verwunderlich, dass die NS-belasteten Beamten damals bei der Prüfung in eigener Angelegenheit 29 Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996. 30 Manfred Görtemaker / Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016, S. 186 ff. 31 Ebd., S. 190.

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zu einem entlastenden Ergebnis gelangten. Geradezu blauäugig erscheint es allerdings, dass man 1995 im Justizministerium das Ergebnis dieser Prüfung unkritisch übernommen hat. Offenbar glaubte man, mit der Wanderausstellung »Justiz und Nationalsozialismus« in historischer Hinsicht das Erforderliche veranlasst zu haben. Die Ausstellung wurde allenthalben in vielen Städten präsentiert und erfreute sich eines großen Zuspruchs. Seit Beginn der 1990er Jahre stand zudem die Aufarbeitung der SED-Justiz im Fokus des Ministeriums und des öffentlichen Interesses. Das Ministerium nahm sich dieser Aufgabe in verdienstvoller Weise an und ermöglichte durch eine großzügige finanzielle Förderung nicht nur die Forschungsarbeiten von Hubert Rottleuthner32, sondern bereitete auf Anregung des Deutschen Bundestages auch eine weitere Wanderausstellung vor, die unter dem Titel »Im Namen des Volkes? – Über die Justiz im Staat der SED« parallel zur NS-Ausstellung gezeigt wurde. Mit dem Umzug von Bonn nach Berlin 1999 verlor das Ministerium dann recht schnell den alten Regierungssitz und die eigene Bonner Geschichte aus dem Blickfeld. Die Zeit dort hatte jedoch das kollektive Bewusstsein oder zumindest Unterbewusstsein des BMJ nachhaltig geprägt.

V. Der Weg frei für ein Forschungsvorhaben Seit der Jahreswende 2010/11 konnte das Justizministerium nicht länger der Frage ausweichen, wie es sich zur eigenen Vergangenheit verhalten sollte. Denn im Oktober 2010 erschien unter dem Titel »Das Amt und die Vergangenheit« der Forschungsbericht einer vom Auswärtigen Amt eingesetzten Historikerkommission, die mit der Legende aufräumte, das Amt sei während der NS-Zeit ein Hort des Widerstandes gewesen. Die Diplomaten seien vielmehr, hieß es dort, tief in die Gewaltpolitik des Regimes eingebunden gewesen und hätten dessen Vernichtungspolitik aktiv unterstützt. Das Buch war ein Weckruf auch für die übrigen Bundesressorts, die eigene Vergangenheit kritisch in den Blick zu nehmen. Durch die Vorbildwirkung des Auswärtigen Amtes stieg der Druck stetig. In einer Leitungsrunde des Justizministeriums war man jedoch noch im November 2010 der Auffassung, dass das eigene Haus »nicht die Probleme des AA habe«.33 Meinem Einwand, dass die Publikationen von Ingo Müller und Norbert Frei darauf hindeuteten, dass die frühe Geschichte des Hauses im Dunkeln liege und der Aufarbeitung bedürfe, wurde mit allgemeinem Schweigen begegnet. Allerdings brachten wenig später zwei Interpellationen von Fraktionen des Deutschen Bundestages Bewegung in die Thematik. Eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen34 und eine Große Anfrage der Fraktion Die 32 Hubert Rottleuthner, Steuerung der Justiz in der DDR. Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Köln 1994. 33 Abteilungsleiterrunde bei der Staatssekretärin am 15.11.2010. 34 BT-Drucksache 17/3929 vom 23.11.2010.

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Linke35 widmeten sich der Vorgeschichte der Bundesressorts während der NS-​Zeit sowie dem Umgang der Ressorts mit der eigenen Vergangenheit. Die Schwierigkeiten der Ministerien bei der Beantwortung der breit gefächerten und ausdifferenzierten Fragenkataloge werden bereits daraus ersichtlich, dass die Bundesregierung für ihre Antwort auf die Große Anfrage ein Jahr benötigte.36 Auch dem Justizministerium wurde nun bewusst, dass es nicht umhinkommen würde, sich der eigenen Vergangenheit zuzuwenden. In einer ersten Projektskizze wurde die Einsetzung einer Historikerkommission nach dem Vorbild des Auswärtigen Amtes als zu teuer und zu zeitaufwendig verworfen. Einer »schnellen und kostengünstigen« Alternative in Form eines Symposiums wurde der Vorzug gegeben.37 Die Vorbereitung der Tagung wurde mir übertragen. Dazu wurde mir eine eigens gegründete Projektgruppe unterstellt. Als wissenschaftliche Berater konnten Michael Stolleis, bis 2009 Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main, Manfred Görtemaker, Historiker an der Universität Potsdam, sowie der Straf- und Völkerrechtler Christoph Safferling von der Universität Marburg gewonnen werden. Im Juni 2011 erhöhte die Opposition im Deutschen Bundestag den Druck, die NS-Vergangenheit der Bundesressorts systematisch und stringent zu erforschen, als die SPD-Fraktion und die Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen ähnlich lautende und auf der gleichen Linie liegende Entschließungsanträge in das Parlament einbrachten, unabhängige fachkundige Historiker­ kommissionen mit dieser Aufgabe zu betrauen.38 In der ersten Lesung dieser Anträge am 30. Juni 2011 gaben aufseiten der Regierungskoalition auch die Vertreter der FDP-Fraktion zustimmende Stellungnahmen zu Protokoll.39 Gleichzeitig wuchsen meine Zweifel an der Tragfähigkeit der vom Justizministerium ins Auge gefassten Vorgehensweise. In einem Arbeitsgespräch mit den wissenschaftlichen Beratern Ende Juli 2011 zeichnete sich ein komplexer Forschungsbedarf ab, dem nur durch ein breit angelegtes Konzept entsprochen werden konnte. Diese Erkenntnis übermittelte ich der Hausleitung in Form einer differenzierten schriftlichen Gegenvorstellung, der allerdings in einer Dienstbesprechung bei der Staatssekretärin eine klare Absage erteilt wurde.40 Vielmehr wurde entschieden, es bei einer eintägigen Veranstaltung zu belassen, die zudem abseits der Öffentlichkeit im Dienstgebäude des Ministeriums stattfinden sollte.41 Ein solches Vorgehen hätte den Hautgout einer bloßen internen AlibiVeranstaltung gehabt und wäre nach meiner Überzeugung jedenfalls mit dem 35 36 37 38

BT-Drucksache 17/4126 vom 06.12.2010. BT-Drucksache 17/8134 vom 14.12.2011. Vermerk des Büros der Ministerin vom 10.01.2011, Az. 4000/6–13-R5 221/2011. Antrag der SPD vom 28.06.2011, in: BT-Drucksache 17/6297; Antrag Bündnis 90/Die Grünen vom 20.06.2011, in: BT-Drucksache 17/6318. 39 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll der 117. Sitzung vom 30.06.2011, S. 13607 ff. 40 Vorgang BMJ 4000/6 13 – R 5 vom 24.08.2011. 41 Handschriftliche Verfügung der Staatssekretärin vom 13.09.2011 auf Vorgang BMJ 4000/6 – 13 – R 5 vom 05.09.2011 nebst Leseabschrift.

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Gedanken einer seriösen Aufarbeitung unvereinbar gewesen. In einer persönlichen Unterredung mit Ministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger konnte ich meine Bedenken vortragen und sie von meinem Vorschlag überzeugen. Die Ministerin erteilte mir sogar den Auftrag, ein entsprechendes Forschungsvorhaben vorzubereiten, und sagte mir zu, sich persönlich für die Einwerbung der nicht unbeträchtlichen erforderlichen Haushaltsmittel zu bemühen.42 Sie hat dann auch umgehend Gespräche mit den Haushaltsberichterstattern im Deutschen Bundestag geführt, die schließlich Erfolg hatten.43 Damit war der Weg für ein Forschungsvorhaben und die Berufung einer wissenschaftlichen Kommission frei.

VI. Das Rosenburg-Projekt Am 11. Januar 2012 überreichte die Ministerin in einem Pressetermin den Professoren Manfred Görtemaker und Christoph Safferling die Bestallungsurkunden zu Leitern der »Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission beim Bundesministerium der Justiz zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit«. Die Kommission sollte die personellen und sachlichen Kontinuitäten des NS-Staates in das Regierungshandeln des Bundesministeriums der Justiz in der Nachkriegszeit der 1950er und 1960er Jahre untersuchen. Anders als das Auswärtige Amt und später auch andere Ressorts entschied sich das Ministerium nicht für eine reine Historikerkommission, sondern für eine interdisziplinäre Forschergruppe, weil deren Arbeit neben der zeitgeschichtlichen Perspektive im Hinblick auf die spezifische Tätigkeit und Arbeitsweise des Hauses auch der juristischen Expertise bedurfte. Görtemaker und Safferling waren ausgewiesene Experten auf ihren Fachgebieten und hatten bereits bei der Konzeption des »Memoriums Nürnberger Prozesse«, einer Ausstellung im Nürnberger Justizpalast, wo von 1945 bis 1949 die Nürnberger Prozesse stattgefunden hatten, Hand in Hand gearbeitet.44 Zudem hatten sie sich als fachkundige Berater des Ministeriums für ihre neue Aufgabe empfohlen. Dem Ministerium war bewusst, dass die Unabhängigkeit einer wissenschaftlichen Kommission im Falle einer Auftragsforschung auf grundsätzliche Skepsis in Historikerkreisen stoßen würde. So hatte Hans Mommsen allen öffentlichen Auftraggebern, die sich mit der Unabhängigkeit ihrer Auftragnehmer als Qua42 Gespräch d. Verf. mit Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger vom 15.09.2011. 43 Handschriftlicher Vermerk der Ministerin vom 10.10.2011 auf Vorgang BMJ 4000/6 – 13 – R 5 vom 05.09.2011. 44 Das »Memorium Nürnberger Prozesse« ist eine Ausstellung der Museen der Stadt Nürnberg. Von 1945 bis 1949 fanden im Schwurgerichtssaal des Nürnberger Justizpalastes die Nürnberger Prozesse statt. Das Memorium informiert am historischen Ort über Vorgeschichte, Verlauf und Nachwirkungen der Verfahren.

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litätssiegel schmückten, bereits 2010 vorgehalten, dass eine von der Regierung eingesetzte Kommission nicht per Definition unabhängig sei.45 Die Historiker Frank Bajohr und Johannes Hürter sahen die Gefahr, dass das Interesse der Behörde nicht mit dem Erkenntnisinteresse eines Historikers vereinbar sei. Das in der Auftragsforschung häufigste Format eines quasi offiziellen »De factoAbschlussberichts« möglichst schon nach drei oder vier Jahren, verfasst von einer mehrköpfigen, dennoch wie mit einer Stimme sprechenden Kommission, erscheine kaum kompatibel mit einer (ergebnis)offenen und pluralistischen Forschung. Letztlich erwarte der Auftraggeber als Gegenleistung für die Einräumung einer dramatischen Belastungsgeschichte und die Bereitschaft, diese kritisch erforschen zu lassen, die öffentlichkeitswirksame Anerkennung, sich vorbildlich verhalten zu haben  – und damit eine moralische Zertifizierung.46 Norbert Frei zog daraus auf einer Podiumsveranstaltung des Justizministeriums den Schluss, dass die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nicht Aufgabe der Behörden sei, sondern der Wissenschaft selbst überlassen werden sollte.47 Nicht um diese Bedenken zu zerstreuen, sondern im eigenen Interesse an der wissenschaftlichen Entfaltung der Forscher und der Validität ihrer Arbeitsergebnisse räumte das Justizministerium der Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission daher ein Höchstmaß an Forschungsfreiheit ein und war bemüht, diesen Freiraum von administrativer Seite zu sichern. Der Erfolg des Projekts dürfte diesen Ansatz bestätigt haben. Anders als die üblichen Regelwerke bei derartigen Forschungsprojekten es sonst vorsehen, erhielten die beiden Wissenschaftler bei der Umsetzung des Forschungsauftrags somit freie Hand. Das Ministerium verzichtete auf jegliche Kautelen und Fristsetzungen, sodass die Kommission unter keinerlei Zeitdruck stand, der möglicherweise der Gründlichkeit ihrer Arbeit abträglich gewesen wäre. Ebenso wenig waren Berichtspflichten vorgesehen, um von vornherein den Anschein eines Einfallstores für eine Inhaltskontrolle oder Einflussnahme zu vermeiden. Aus der gleichen Erwägung wurde den Wissenschaftlern sogar gestattet, ihren Forschungsbericht ohne vorherige förmliche Abnahme durch das Ministerium im eigenen Namen zu publizieren. Diese Verfahrensoffenheit korrespondierte mit der Ergebnis- und Methodenoffenheit, die die Forscher genossen. Das Ministerium verband mit der Auftragsvergabe keine inhaltlichen Erwartungen. Einig war man sich allerdings mit den 45 »Das ist schon ein ziemlicher Makel«. Hans Mommsen im Gespräch mit Christoph Schmitz, Deutschlandfunk: Kultur heute, 30.11.2010, abrufbar unter: https://www. deutschlandfunk.de/das-ist-schon-ein-ziemlicher-makel.691.de.html?dram:article_id=​ 54927 (zuletzt aufgerufen am 22.04.2020). 46 Frank Bajohr / Johannes Hürter, Auftragsforschung »NS-Belastung«. Bemerkungen zu einer Konjunktur, in: Frank Bajohr u. a. (Hg.), Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik, Göttingen 2016, S. 221–234, hier 230 f. 47 Norbert Frei, Podiumsbeitrag auf der Konferenz »Das Bundesministerium der Justiz und sein Umgang mit der NS-Vergangenheit« am 26.04.2012 im Plenarsaal des Kammer­ gerichts Berlin.

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Forschern, dass die Vergangenheit des Hauses vorbehaltlos auf den Prüfstand gestellt werden sollte. Die Schwerpunktbildung und die wissenschaftliche Vorgehensweise blieben jedoch ausschließlich der Kommission vorbehalten. Vertraglich bindend war lediglich der vom Ministerium geprüfte Kostenplan der Forscher, auf dessen Grundlage der Deutsche Bundestag die entsprechenden Haushaltsmittel bewilligte.48 Abruf und Inanspruchnahme dieser Mittel unterlagen der doppelten Prüfung durch das Ministerium und die Universitätsverwaltungen, die diese als Drittmittel verwalteten. Das Ministerium unternahm überdies alles in seiner Macht Stehende, damit die Wissenschaftler diesen Freiraum auch effektiv nutzen konnten. So erhielt die Kommission Einblick in alle Personal- und Sachakten. Selbst die Verschluss­ sachen standen ihr offen. Den für eine Zeitzeugenbefragung in Betracht kommenden ehemaligen Angehörigen des Hauses wurde nicht nur eine generelle Aussagegenehmigung erteilt, sondern diese wurden sogar aufgefordert, sich für ein Interview bereit zu erklären. Im Dienstgebäude des Ministeriums in der Berliner Mohrenstraße standen der Kommission in einem großzügigen Umfang die für ihre Recherchen erforderlichen räumlichen und Sachmittel zur Verfügung. Und die neu gebildete Projektgruppe begleitete und unterstützte die Forschungsarbeiten nach Kräften. Die Wissenschaftler selbst haben die vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit mit der Projektgruppe schätzen gelernt und später anerkennend festgestellt, dass diese so manches Hindernis für ihre Arbeit beiseite geräumt habe.49 Starken Rückenwind von politischer und wissenschaftlicher Seite erhielt das Rosenburg-Projekt bei seiner Auftaktveranstaltung im April 2012, zu der das Ministerium und die Kommission eine Reihe von Experten in das Kammergericht in Berlin geladen hatten. Das eintägige Symposium diente dazu, eine Bilanz des aktuellen Forschungsstandes zu ziehen, den Forschern eine konzeptionelle Selbstvergewisserung zu ermöglichen und Anregungen für die weitere Exploration zu gewinnen. Die mitwirkenden Historiker und Rechtswissenschaftler sahen übereinstimmend die Dringlichkeit, die Rosenburg-Jahre intensiv zu beleuchten und ein quellengestütztes Gesamtbild zu erstellen. Waren Ministerium und Kommission bislang von der Einschätzung ausgegangen, dass die Abteilung für Handels- und Wirtschaftsrecht des Ministeriums für die Forschung eher von peripherem Interesse sein werde, weil deren Aufgabe nicht im Zentrum des Machtapparates und der Ideologie des NS-Regimes gestanden habe, sodass ein Experte aus diesem Fachgebiet gar nicht erst eingeladen worden war, wurden sie auf der Tagung allerdings eines Besseren belehrt. So legte Jan Thiessen, damals Lehrstuhlinhaber für deutsche Rechtsgeschichte, juristische Zeitgeschichte

48 Bundeshaushaltsplan 2013 Einzelplan 0701 Titel F 544 01 – 059. 49 Manfred Görtemaker / Christoph Safferling (Hg.), Die Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit – eine Bestandsaufnahme, Göttingen 2013, S. 12; dies., Die Akte Rosenburg, S. 13 f.

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sowie Handels- und Gesellschaftsrecht an der Universität Tübingen, in einem Diskussionsbeitrag überzeugend dar, dass das Wirtschaftsrecht entgegen einem weit verbreiteten Irrtum weder unpolitisch noch unbelastet gewesen sei, sondern eine wichtige Steuerungsfunktion für das NS-Regime gehabt habe. Seine Erkenntnisse sind in einem ausführlichen Aufsatz niedergelegt, der in dem 2013 erschienenen Tagungsband des Symposiums veröffentlicht wurde.50 Auch der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, und die auf dem Symposium anwesenden Politiker bestärkten die für das Projekt Verantwortlichen darin, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Vor allem der ehemalige Bundesjustizminister Klaus Kinkel und die ehemalige Berliner und Hamburger Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit ließen auf der Tagung keinen Zweifel daran, dass das Rosenburg-Projekt unumgänglich sei. Kinkel, der ein Jahrzehnt lang das Ministerium geführt hatte, zunächst als Staatssekretär (1982–1990) und anschließend als Minister (1991–1992), räumte sogar ein, seinerzeit nicht erkannt zu haben, dass die Geschichte des Hauses nicht ungetrübt war. Hans-Jochen Vogel, dessen Amtszeit von 1974 bis 1981 an die Rosenburg-Jahre anschloss, suchte im Juli 2013 auf einer Veranstaltung zur Rosenburg am Institut für Zeitgeschichte in München ebenfalls nach einer Erklärung, warum er in seiner Amtszeit den Kontinuitäten zwischen der NS-Zeit und dem jungen Ministerium kein Augenmerk gewidmet habe, obwohl er sich doch mit diesem Teil der Geschichte in seiner Rede aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums des Reichsjustizamtes befasst habe. Vogel begleitete dann das Rosen­ burg-Projekt konstruktiv und unterstützte es auch in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Vereins »Gegen Vergessen – Für Demokratie«. Seine Münchner Erklärung vom Juli 2013 wiederholte er im November 2016 in einer Video­ botschaft an die Teilnehmer des 7. Rosenburg-Symposiums in Bonn.51 Die Erklärungen der beiden ehemaligen Minister hatten in dieser frühen Phase des Projekts, in der noch in Teilen der Pensionäre und der aktiven Mitarbeiter Skepsis und Vorbehalte spürbar waren, eine besondere Bedeutung. Sie sandten ein unmissverständliches Signal an das Ministerium und dessen frühere und gegenwärtige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, versicherten der amtierenden Ministerin kollegiale Solidarität und stärkten auf diese Weise die Legitimation des Projekts.

VII. Public History – Der neue Weg Theodor W.  Adorno hat in seinem Vortrag »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?« deutlich gemacht, dass das Ziel der Aufarbeitung, ihr Gewinn für die Gegenwart, von entscheidender Bedeutung ist. Aufarbeitung solle dazu 50 Jan Thiessen, Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsrechtler im Schatten der NS-Vergangenheit, in: Görtemaker / Safferling, Die Rosenburg, S. 204–295. 51 Siehe die Videobotschaft im Wortlaut im Anschluss an diesen Beitrag.

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beitragen, die Gesellschaft zu befrieden, sie gegen ideologische Anfechtungen zu immunisieren und gegen einen Rückfall zu wappnen.52 Dieser Gedanke war für das Ministerium wie für die Kommission auch bei der Konzeption des Rosenburg-Projekts verbindlich. Beide Partner waren davon überzeugt, dass das gemeinsame Projekt sich nicht darin erschöpfen durfte, lediglich ein Kapitel der Adenauer-Ära zu beleuchten. Von Anfang an war vielmehr beabsichtigt, im Dialog mit der Öffentlichkeit einen Erkenntnisprozess in Gang zu setzen, der das Projekt im Kontext seiner gesellschaftlichen und politischen Bezüge erfassen und somit einen öffentlichen Diskurs entfalten sollte. In diesem Sinne war das Projekt auch in die Zukunft gerichtet. Auftraggeber und Auftragnehmer verband somit das gemeinsame Interesse, den Forschungsprozess transparent zu gestalten, die Öffentlichkeit einzubeziehen und als kritischen Begleiter mit auf den Weg zu nehmen. Für dieses Konzept einer partizipativen Öffentlichkeitsbeteiligung fand sich mangels einer treffenden sprachlichen Alternative im Deutschen die im anglo-amerikanischen Raum gängige Bezeichnung »Public History«. Wichtige Begegnungsstätten und Foren des Gedankenaustausches mit der Öffentlichkeit boten die Rosenburg-Symposien. Acht dieser Veranstaltungen wurden bislang bundesweit in verschiedenen Städten durchgeführt. Unter Mitwirkung hochrangiger Vertreter aus Justiz, Wissenschaft, Politik, Publizistik und anderen gesellschaftlichen Bereichen wurden fachübergreifende Fragen diskutiert und Themenfelder im Kontext des Rosenburg-Projekts aufgegriffen. Die Bandbreite reichte dabei von der justiziellen Aufarbeitung53 und der Entwicklung der deutschen Justiz nach 194554 bis hin zum Beitrag der Rosenburg zur Bonner Republik55 sowie zur Verantwortung der Juristen56 und ihrem Berufsethos57. In diese Symposien haben sich auch die früheren Bundesjustiz­minister Jürgen Schmude (1981–1982), Edzard Schmidt-Jortzig (1996–1998) und Herta Däubler-Gmelin (1998–2002) eingebracht. Der 2017 verstorbene Horst Ehmke, der zunächst als Staatssekretär (1967–1969) und dann als Minister (1969) auf der Rosenburg amtierte, war aus gesundheitlichen Gründen an einer Mitwirkung gehindert. Er stand der Kommission jedoch als Zeitzeuge zur Verfügung und gab wertvolle Hinweise für die Forschung, unter anderem zum Fall Dreher. In zahlreichen Begegnungen mit Besuchergruppen verschiedenster Herkunft wurde das Gespräch fortgesetzt. Dabei konnte man feststellen, dass nicht nur die NS-Zeit, sondern auch deren Nachwirkungen durchweg auf großes Interesse stießen. Dies galt erfreulicherweise auch für die internen Vorgänge auf einer 52 Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? (1959), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft II, Frankfurt a. M. 1977, S. 555–572. 53 Symposium vom 21.10.2014 in Karlsruhe. 54 Symposium vom 16.03.2017 in Leipzig. 55 Symposium vom 30.11.2016 in Bonn. 56 Symposium vom 05.02.2013 in Nürnberg. 57 Symposium vom 29.06.2016 in Hamburg.

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örtlich und zeitlich entlegenen »Burg« und in einem Ministerium, dessen Tätigkeit zumeist nicht gerade im Fokus der Allgemeinheit steht. Von den Besuchern wurde jedoch immer wieder die Frage gestellt, warum die Aufarbeitung erst so spät erfolge. Auffällig waren ebenfalls die große Aufmerksamkeit und das Engagement, das Schülergruppen und junge Auszubildende aus Wirtschaftsbetrieben dem Umgang mit dem Erbe der NS-Zeit entgegenbrachten. Ein intensiver und von gegenseitigem Vertrauen geprägter Kontakt entwickelte sich außerdem mit den Verbänden, zu deren Mitgliedern Verfolgte des NS-Regimes und ihre Nachfahren zählen und die den Umgang von Staat und Gesellschaft mit der eigenen Vergangenheit kritisch begleiten. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat das Rosenburg-Projekt tatkräftig unterstützt. Welche Bedeutung er dem Projekt beimisst, zeigte sich in einer eigenen dreitägigen RosenburgKonferenz im November 2018, aus deren Beiträgen dieses Buch entstanden ist. Das Rosenburg-Symposium im Oktober 2014 in Karlsruhe trug schließlich dazu bei, einen Konflikt zwischen dem Zentralrat der Sinti und Roma mit dem Bundesgerichtshof beizulegen. Der scharfe Angriff des Vorsitzenden des Zentralrats auf die diskriminierende Rechtsprechung eines Zivilsenats des Bundesgerichtshofes aus dem Jahre 1956 zur Entschädigung von »Zigeunern«58 führte dazu, dass die anwesende Präsidentin des Bundesgerichtshofs sich später bei einem Treffen mit dem Zentralrat in der ihr möglichen Form von dieser Rechtsprechung distanzierte.59 Im Februar 2016 fand dann ein gemeinsames Symposium des Bundesgerichtshofs und des Zentralrats der Sinti und Roma in Karlsruhe zur Aufarbeitung dieser Rechtsprechung statt.60 Womit niemand gerechnet hatte: Auch das Ausland wurde auf das Rosenburg-Projekt aufmerksam. In Israel wurde es sehr schnell bekannt, wie zahlreiche Anfragen, auch bei der deutschen Botschaft, belegten. Bei den offiziellen gegenseitigen Besuchen des deutschen Justizministers und der israelischen Justizministerin hatte das Projekt dann einen festen Platz auf jeder Tagesordnung. Die Anwesenheit zahlreicher hoher Repräsentanten aus Politik, Wissenschaft und Justiz bei der Präsentation des Forschungsberichts im Jahr 2017 an der Universität Tel Aviv unterstrich die Bedeutung, die die Bemühungen der Bundesrepublik um die Aufarbeitung der eigenen Geschichte auch für den Staat Israel haben. Die Vorstellungen des Projekts in Washington und New York 2014 und 2017 fanden ebenfalls eine große Resonanz. Gesuchte Gesprächspartner waren das Ministerium und die Unabhängige Wissenschaftliche Kommission ebenfalls für ausländische Delegationen, die 58 Romani Rose: Die Opfergruppe der Sinti und Roma in der Bundesrepublik, Vortrag gehalten am 21.10.2014 auf dem 4. Rosenburg-Symposium in Karlsruhe, in: ­Druckschrift des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (Stand: Mai 2017), S. ­63–71, hier 68 ff., abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/ DE/Rosenburg_Symposium_4.pdf?__blob=publicationFile&v=10 (zuletzt aufgerufen am 22.04.2020). 59 Pressemitteilung des BGH Nr. 32/2015, 12.03.2015. 60 Pressemitteilung des BGH Nr. 42/2016, 17.02.2016.

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sich mit Fragen der Gestaltung staatlicher und gesellschaftlicher Transformationsprozesse beschäftigten. Neben Abordnungen aus osteuropäischen Staaten ist hier der Besuch einer Gruppe von Präsidenten oberster Gerichte mehrerer südamerikanischer Staaten zu nennen. Im August 2015, wenige Wochen bevor ihm der Friedensnobelpreis verliehen wurde, fand im Ministerium auch ein Gespräch mit dem »Nationalen Dialogquartett« (Quartet du dialogue national) aus Tunesien statt, in dessen Mittelpunkt die Möglichkeit einer historischen Aufarbeitung im Wirkungsgefüge der übrigen Aufarbeitungsformen stand. Als ein Höhepunkt in der Reihe der Rosenburg-Veranstaltungen wird die Rede von Ralph Giordano in Erinnerung bleiben, mit der er am 13. Juni 2013 im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung den Auftaktband des Rosenburg-Projektes »Die Rosenburg« vorstellte. Der Autor der Schrift »Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein«61, die das Verdrängen und das Verleugnen der NS-Vergangenheit anprangerte und die geistigen Grundlagen der NS-Aufarbeitung legte, würdigte das Rosenburg-Projekt als »Stoß ins Zentrum deutscher Lebenslüge, Töne auf die ich lange gewartet habe«62. Das Projekt decke sich »mit der großen Aufgabe, die sich das Justizministerium von heute gestellt hatte und an der ich beteiligt sein durfte.«63 Seine Rede selbst verstand er als sein »politisches Testament«64 und wurde noch im gleichen Jahr veröffentlicht. Ralph Giordano starb ein Jahr später. Ministerium und Kommission haben das Rosenburg-Projekt aber stets nur als Teil eines Ganzen verstanden. Im Sinne eines fachlichen Austauschs und um übergreifend den Stand der Forschungen abzugleichen, gemeinsame Fragestellungen zu identifizieren und zu diskutieren, wurden die betroffenen Bundesressorts und Obersten Bundesbehörden sowie die in ihrem Auftrag tätigen Historikerkommissionen daher zu sogenannten Aufarbeiter-Konferenzen eingeladen, die im Mai 201365 und im April 201666 in Berlin stattfanden. Im Januar 2015 wurde die Bundesregierung in diesem Sinne im Rahmen einer Kleinen Anfrage67 um Auskunft gebeten, inwieweit sie den vom Justizministerium gewählten Weg der Public History als Vorbild für partizipative Öffentlichkeitsbeteiligung ansehe. In ihrer Antwort führte die Bundesregierung dazu aus:

61 Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Hamburg 1987. 62 Ralph Giordano, Der perfekte Mord. Die deutsche Justiz und die NS-Vergangenheit, Göttingen 2013, S. 37. 63 Ebd., S. 38. 64 Ebd. 65 3. Rosenburg-Symposium vom 08.05.2013 in Berlin. 66 5. Rosenburg-Symposium am 26.04.2016 im Haus der Wannsee-Konferenz, Vorträge in: Druckschrift des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (Stand: Dezember 2016), abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/ Rosenburg_Symposium_5.pdf?__blob=publicationFile&v=7 (zuletzt aufgerufen am 22.04.2020). 67 BT-Drucksache 18/3909 vom 28.01.2015, S. 3.

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»Mit dem von der Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz einvernehmlich eingeschlagenen Weg der Public History, d. h. der Herstellung der Geschichtsöffentlichkeit, wird ein neuer Weg eingeschlagen. Die Öffentlichkeit soll – der politischen Dimension der NS-Aufarbeitung Rechnung tragend – auf den Weg der Aufarbeitung ›mitgenommen‹ und zu einer kritischen Begleitung angeregt werden. […] Dass dieser Weg erfolgreich beschritten worden ist, zeigen zahlreiche zustimmende Schreiben und konkrete Unterstützungsleistungen.«68

VIII. Auf wessen Schultern? – Die Akte Rosenburg Mit dem Schlussbericht von Manfred Görtemaker und Christoph Safferling, der 2016 nach vierjähriger Forschungsarbeit unter dem Buchtitel »Die Akte Rosenburg« veröffentlicht wurde, liegt nunmehr eine umfassende, wissenschaftlich nüchterne und klare Analyse der Gründerjahre des Ministeriums vor.69 Die Anfangsjahre des Ministeriums waren demnach von einer »Doppelgesichtigkeit« geprägt. Es sei »eine Zeit des Neubeginns, aber auch der Kontinuität« gewesen. Die »vordergründige Erfolgsgeschichte« des Ministeriums, dessen glänzende Fassade, habe eine »dunkle Kehrseite« gehabt.70 Die Untersuchung ergab, dass in den Anfangsjahren ein erheblicher Teil des Führungspersonals in das NS-Regime verstrickt gewesen war. Die Zahl der ehemaligen NSDAPMitglieder lag zur Rosenburg-Zeit bei über 50 Prozent, Ende der1950er Jahre bei über 70 Prozent, in der Strafrechtsabteilung sogar bei 100 Prozent. Doppel­ mitgliedschaften in der SA waren keine Ausnahme. Auch waren einige SSMitgliedschaften zu verzeichnen. Einzelne Beamte hatten dem Regime sogar als Blockleiter (sogenannte Blockwarte) gedient. Viele der führenden Beamten waren zudem im Reichsjustizministerium an der Vorbereitung und Umsetzung von Gesetzen beteiligt gewesen, die der NS-Ideologie verpflichtet waren. Andere hatten als Richter oder Staatsanwälte an den politischen Sondergerichten oder an den Wehrmachtsgerichten Unrechtsgesetze des NS-Staates angewandt und durch Mitwirkung an Todesurteilen schwere persönliche Schuld auf sich geladen. Verantwortlich für die Personalpolitik der Anfangsjahre waren Bundesjustizminister Thomas Dehler und sein Staatssekretär Walter Strauß, beide Verfolgte des NS-Regimes. Bei ihrer Personalauswahl stand offenbar die zügige Herstellung der Arbeitsfähigkeit des Ministeriums im Vordergrund. Fachliche Kompetenz und ministerielle Erfahrung hatten Vorrang, politische Belastungen traten dahinter zurück. Diese »Nachsichtigkeit« der Personalpolitik ist aus heutiger Sicht irritierend und überschreitet bei mehreren Vorgängen die Grenzen des Nachvollziehbaren. 68 BT-Drucksache 18/4238 vom 05.03.2015, S. 17 f. 69 Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg. 70 Ebd., S. 451 ff.

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Der Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz Heiko Maas, der den Bericht am 10. Oktober 2016 vorstellte, bezeichnete ihn als »bedrückend« und traf damit die nicht nur im Ministerium vorherrschende Stimmung. Die Beamten des Hauses mussten nun zur Kenntnis nehmen, auf wessen Schultern sie standen, und lernen, mit dieser Erkenntnis umzugehen. Wie manch anderer Kollege meiner Altersklasse hatte ich persönlich noch in der einen oder anderen Weise Kontakt zu den in der »Akte Rosenburg« Genannten gehabt oder diese als Zeitgenossen wahrgenommen. Ganz anders fiel die Reaktion der Pensionäre aus. Sie hatten zu einem guten Teil noch auf der Rosenburg Dienst getan. Der subjektiv verspürte »Geist der Rosenburg« war Teil ihrer Identität gewesen, sie hatten die Gründergeneration unter anderen Zeitumständen und von einer anderen Seite kennengelernt und auf diese Weise ein ganz anderes Bild von ihr in Erinnerung behalten. Dieser Kontrast musste auf sie irritierend wirken. Auf einem Rosenburg-Symposium in Bonn im November 2016 wurde dies sehr deutlich.71 Die Ruhestandsbeamten waren dort in großer Zahl vertreten und dominierten die Stimmung im Auditorium. Ihre Äußerungen reichten von äußerster Zurückhaltung bis zur Infragestellung und offenen Ablehnung der Forschungsergebnisse. Eine konstruktive Diskussion, wie sie bei allen anderen Rosenburg-Veranstaltungen üblich war, kam in dieser angespannten Atmosphäre deshalb nicht zustande. Dennoch waren die Ergebnisse überzeugend und eigentlich nicht zu bestreiten. Ein nicht registriertes Aktenstück aus den frühen Jahren des Ministeriums (s. S. 55), das ich vor Jahren vor der Vernichtung bewahren konnte, veranschaulicht die von Görtemaker und Safferling beschriebenen Kontinuitäten von der NS-Zeit bis zur Rosenburg recht eindrucksvoll. Gegenstand des Aktenvorgangs war die Zuweisung der im Berliner Ministerial Collection Center vorhandenen Generalakten des ehemaligen Reichsjustizministeriums an die einzelnen Referate der wiedereingerichteten Abteilung für bürgerliches Recht (Abteilung I) im BMJ. In einer Verfügung vom 1. April 1952 bittet der Leiter der Abteilung I in dem Aktenstück seine Referatsleiter um die Auswahl der Akten, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen – ein Akt ministerieller Restauration also. Sucht man die Namen der Betreffenden in »Die Akte Rosenburg«, stellt man fest, dass das Aktenstück auch die Restauration des Personalkörpers widerspiegelt. So zählte der Leiter der Abteilung I, Georg Petersen, der die Verfügung zeichnete, während der gesamten NS-Zeit zu der kleinen, etwa 20-köpfigen Gruppe der vom Reichsjustizministerium zugelassenen Rechtsanwälte am Reichsgericht.72 Er nahm damit in der gleichgeschalteten NS-Justiz eine exponierte Vertrauensstellung des Regimes ein, der er auch gerecht wurde. In zahlreichen 71 7. Rosenburg-Symposium am 30.11.2016 in Bonn, Vorträge in: Druckschrift des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (Stand: Juli 2017), verfügbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Rosenburg_Symposium_7.pdf?__ blob=publicationFile&v=5 (zuletzt aufgerufen am 22.04.2020). 72 Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 302.

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Fällen berief er sich zugunsten seiner Mandanten auf Regelungen, die das Reichs­ justizministerium zum Ausschluss der Juden aus Handel und Gewerbe erlassen hatte. In die NSDAP war er nicht eingetreten, da es, wie die Wissenschaftler vermuten, aufgrund seiner Vertrauensstellung eines solchen Schrittes offenbar nicht bedurfte. Seit 1933/34 war er jedoch Mitglied verschiedener Unterorganisationen der NSDAP und förderndes Mitglied der SS. Reichsgerichtspräsident Erwin Bumke bescheinigte Petersen in seiner Beurteilung vom 16. September 1944 daher wohl zu Recht, »daß er sich rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat einsetzt«. Petersens Verfügung richtete sich an die Ministerialräte Arthur Bülow, Heinrich von Spreckelsen, Franz Massfeller, Erwin Saage, Oberregierungsrat Hermann Weitnauer, Oberlandesgerichtsrätin Maria Hagemeyer, Oberlandesgerichtsrat Gerhard Marquordt, Landgerichtsrat Max Merten und den Amtsgerichtsrat Walter Kraegeloh. Bei den aufgeführten männlichen Referatsleitern handelte es sich mit Ausnahme von Massfeller um ehemalige Mitglieder der NSDAP. Die meisten von ihnen gehörten ebenfalls Untergliederungen der Partei an. Weitnauer, Marquordt und Kraegeloh waren Mitglieder der SA gewesen, Saage hatte dem Regime als Blockleiter gedient. Bülow, von Spreckelsen, Massfeller, Weitnauer, Saage und Merten stammten aus dem Reichsjustizministerium und hatten ihren Dienst, teilweise an alter Stelle, wiederaufgenommen. Sie alle hatten ihre Verbundenheit mit dem Regime dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie an NS-Kommentaren mitgewirkt, Fachartikel im Sinne der NS-Ideologie verfasst oder sich in den Fachausschüssen der Akademie für Deutsches Recht betätigt hatten.73 Aus diesem Kreis ragen die Biografien von Max Merten und Franz Massfeller heraus. Merten hatte während des Zweiten Weltkrieges als Kriegsverwaltungsrat im besetzten Griechenland an der Deportation von etwa 50.000 griechischen Juden nach Auschwitz und Bergen-Belsen mitgewirkt. Von der griechischen Justiz wurde er deswegen nach dem Krieg als Kriegsverbrecher gesucht, 1957 bei einem Griechenland-Besuch festgenommen und 1959 nach zweijähriger Untersuchungshaft vom Sondergericht für Kriegsverbrecher in Athen zu einer Haftstrafe von 25 Jahren verurteilt. Auf Intervention des Bundesjustizministeriums wurde Merten nach acht Monaten aus der Haft entlassen.74 Massfeller hatte ebenso wie seine Kollegen Saage und Weitnauer für das Reichsjustizministerium an den Folgekonferenzen zur sogenannten Wannseekonferenz über die »Judenfrage« teilgenommen. Obwohl nicht Mitglied der NSDAP, bezeugte er seine nationalsozialistische Gesinnung als juristischer Kommentator auf dem Gebiet der Rassenideologie. 1936 gab er mit Arthur Gütt und Herbert Linden die Gesetzeserläuterungen zum »Blutschutz- und Ehegesundheitsgesetz« heraus. Dessen ungeachtet durfte er auf der Rosenburg seine alte Dienststellung als

73 Ebd., S. 302–316. 74 Ebd., S. 313–316.

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Leiter des wiedereingerichteten Referats für Familienrecht einnehmen.75 Saage hatte während des Krieges als Abteilungsleiter in der Hauptabteilung Justiz des Generalgouvernements eine wichtige Funktion mit erheblichen Macht- und Entscheidungsbefugnissen ausgeübt. Inwieweit er an den Kriegsverbrechen der deutschen Besatzungsmacht beteiligt war, konnte später nicht mehr geklärt werden. Fest steht, dass Massfeller und Merten im Reichsjustizministerium daran mitgewirkt hatten, das deutsche Besatzungsregime politisch und juristisch zu sichern.76 Maria Hagemeyer, die einzige Frau in der Riege der Referatsleiter, war auch als einzige politisch unbelastet. Sie war 1927 als erste Frau in Deutschland am Landgericht Bonn zur Richterin ernannt und nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, wie alle Richterinnen, entlassen worden. 1945 wurde sie sogleich wieder als Landgerichtsrätin eingesetzt und 1950 für vier Jahre an das Bundesjustizministerium abgeordnet, um den Gesetzentwurf für die Gleichberechtigung der Frau vorzubereiten. Diesem Entwurf war damals jedoch kein Erfolg beschieden. So verließ Maria Hagemeyer als einzige Frau und unbelastete Person in der Abteilung I das Ministerium nach Ablauf ihrer Abordnung.77 Die durchgängige NS-Belastung ihrer männlichen Kollegen erwies sich jedoch nicht als Karrierehindernis. Arthur Bülow wurde 1963 von Justizminister Ewald Bucher zum Staatssekretär berufen. Im gleichen Jahr wurde Erwin Saage die Leitung der Abteilung I übertragen, Heinrich von Spreckelsen die Leitung der Unterabteilung I A.  Gerhard Marquordt wurde 1970 unter Ernennung zum Ministerialdirigenten Leiter der Unterabteilung R A in der neu gegründeten Rechtspflegeabteilung. Ein Beispiel »erschreckenden Mangels an Unrechtsbewusstsein und poli­ tischem Instinkt«, wie sich die Wissenschaftler ausdrücken, stellt der Fall ­Johann-Georg Schätzler dar, dem in der »Akte Rosenburg« ein eigenes Kapitel gewidmet ist.78 Schätzler hatte in der Strafrechtsabteilung (Abteilung II) über viele Jahre hinweg unter anderem das Gnadenrecht betreut und dabei nicht nur die Begnadigungspraxis des Bundes mitgestaltet, sondern sich auch als Kommentator dieser Rechtsmaterie den Ruf eines ausgewiesenen Experten erworben. Der »Akte Rosenburg« ist zu entnehmen, dass Schätzler bis zu seiner Pensionierung Mitte der 1980er Jahre die Gnadenordnung vom 6. Februar 1935 in der Praxis angewandt hatte. Diese Verordnung beruhte auf dem Reichsstatthaltergesetz vom 30. Januar 1935, das unter den Bedingungen der gleichgeschalteten Justiz dem »Führer und Reichskanzler« das Gnadenrecht zuwies. Das Gnadenrecht des NS-Staates war also, wie die Wissenschaftler formulieren, nicht einem höheren Gedanken der Gerechtigkeit verpflichtet, sondern dem »Führerwillen«.79 75 76 77 78 79

Ebd., S. 306–311. Ebd., S. 306. Ebd., S. 277, 302. Ebd., S. 190–193. Ebd., S. 190 f.

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Diesem ideologisch durch und durch kontaminiertem NS-Akt maß Schätzler im demokratischen Rechtsstaat der Bundesrepublik den Rang einer Rechtsquelle bei. Noch in der 1992 erschienenen 2. Auflage seines »Handbuchs des Gnadenrechts« stellte Schätzler sie in eine Reihe mit dem Grundgesetz. Auf die Frage, warum er die mit dem NS-Staat untergegangene Gnadenordnung auf diese Weise gleichsam wiederbelebte, haben die Wissenschaftler keine Antwort gefunden. In meiner Praxis als einer seiner Amtsnachfolger hatte ich jedenfalls nie den Bedarf einer abstrakt generellen Regelung des Gnadenrechts auf Bundesebene gesehen. Ein in Juristenkreisen vielbeachtetes Kapitel des Schlussberichts ist der Fall Eduard Dreher. Aus meiner Studienzeit war Dreher mir als Doyen der Strafrechtler in Erinnerung. Obwohl Mitte der 1970er Jahre an der Universität Bonn noch immer der autoritätsfeindliche Geist der Studentenrevolution spürbar war, wurde Dreher auch in Studentenkreisen als Autorität anerkannt. Eine juristische Frage war schnell beantwortet, ein fachlicher Disput beigelegt, wenn man im »Dreher«, seinem Kommentar zum Strafgesetzbuch, eine Lösung fand. Ganz im Kontrast zum Bild des hohen Lehrmeisters des Rechts steht jedoch seine Vergangenheit, die die Forscher in den Archiven aufgedeckt haben. Als Staatsanwalt beim Sondergericht Innsbruck hatte Dreher daran mitgewirkt, die Terrorherrschaft des NS-Regimes zu festigen. Selbst in Bagatellfällen hatte er die Todesstrafe beantragt und durchgesetzt und sich dabei immer wieder auf typische NS-Vorschriften berufen, etwa die berüchtigte »Volksschädlingsverordnung«. Auch hatte er nicht davor zurückgeschreckt, zu Ungunsten des Angeklagten Strafbestimmungen analog anzuwenden. Ein eklatantes Beispiel seiner Praxis stellt der Fall Leimberger dar, in dem Dreher ein Todesurteil in einer Zeitspanne von weniger als zehn Stunden von der Tatzeit bis zum Urteilsspruch erwirkte.80 Hierfür musste er sich nach dem Krieg strafrechtlich nie verantworten, da die sogenannte kalte Amnestie für NS-Straftaten aus dem Jahr 1968, an der er offenbar nicht unbeteiligt war, dies schließlich verhinderte.81 Ob das von Dreher erwirkte Todesurteil als ein nichtiges Urteil oder ein Nicht-Urteil anzusehen ist und ob Dreher sich möglicherweise als Teilnehmer oder gar als Mittäter eines Tötungsdelikts des Gerichts strafbar gemacht hat, wurde daher gerichtlich nie entschieden. Möglicherweise hätte auch bei dieser Entscheidung sein Kommentar weitergeholfen. Eine weitere bemerkenswerte Personalie mit NS-Belastung haben die Wissenschaftler nicht in ihren Schlussbericht aufgenommen. Einige Zeit nach der Veröffentlichung der »Akte Rosenburg« erreichte das Justizministerium die Nachricht vom Tode eines Pensionärs, der in einem sehr hohen Alter verstorben war. Dieser war während der Amtszeit von Bundesjustizminister Gustav Heinemann aus dem Landesjustizdienst auf die Rosenburg gewechselt, um als Experte eines der wichtigsten Reformprojekte des Ministers zu betreuen. Als man anlässlich 80 Ebd., S. 334, 420. 81 Ebd., S. 399 ff.

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seines Todes seine Personalakten öffnete, stellte man fest, dass er nicht nur Mitglied der NSDAP, sondern auch der SA und anderer Untergliederungen gewesen war. Auch als Blockleiter hatte er sich ausgezeichnet. Die letzten der in der »Akte Rosenburg« aufgeführten Beamten mit einer NS-Vergangenheit sind in den 1980er Jahren in den Ruhestand getreten. Nach meiner persönlichen Erinnerung verhielten sie sich alle unauffällig, auch und gerade in politischer Hinsicht. Im Zuge der politisch konfliktreichen 1970er Jahre hatte sich auch die Beamtenschaft in den Bonner Ministerien politisiert. In allen Ministerien hatten sich politische Gesprächskreise gebildet, die Kontakte zu den Parteien und Bundestagsfraktionen unterhielten. Solche Gruppen bestanden auch im Justizministerium. Da das Personal des Hauses recht klein und überschaubar war und die meisten Angehörigen aus ihrer Parteizugehörigkeit oder politischen Sympathie keinen Hehl machten, war das politische Tableau recht transparent. Doch keiner der NS-Belasteten war, soweit ich es übersehe, einer politischen Gruppierung zuzuordnen. Keiner von ihnen hat sich jedenfalls politisch exponiert. In der »Akte Rosenburg« wird dies nicht mehr thematisiert. Aber es war auch nicht Sinn des Rosenburg-Projekts, eine (wohlfeile) moralische Bewertung des früheren Führungspersonals abzugeben. Sinn war es vielmehr, die Vergangenheit des Ministeriums aufzuklären, um daraus Erkenntnisse für Gegenwart und Zukunft zu gewinnen. Hans-Jochen Vogel hat deshalb im November 2016 in seiner schon genannten Videobotschaft an die Teilnehmer des Bonner Rosenburg-Symposiums die rhetorische Frage gestellt: »Wie hättest du in einer solchen Situation gehandelt? Bist du sicher, dass du Widerstand geleistet und dich selbst in Gefahr gebracht hättest?«

IX. Lehren für die Gegenwart Der frühere Spiegel-Korrespondent bei den Obersten Gerichtshöfen des Bundes in Karlsruhe und Mitbegründer der »Justizpressekonferenz Karlsruhe« Rolf Lamprecht hat »Die Akte Rosenburg« als »Standardwerk der Aufklärung« bezeichnet. Es habe zwar die Illusion von einem ehrlichen Neuanfang zerstört. Aber für die Generation von heute, die das Geschehen aus eigener Anschauung nicht kenne und mangels Informationen unwissend geblieben sei, erweise es sich als historische Dokumentation von bleibendem Wert.82 Tatsächlich beschränkt sich das, was in »Die Akte Rosenburg« auf 588 Buchseiten verdichtet ist, in seiner Aussagekraft nicht auf das innere Gefüge eines Ministeriums allein bzw. die Justiz oder die Juristen allgemein. Hier geht es um das Versagen einer ganzen, in den Totalitarismus abgeglittenen Generation. Die Fragen, die das 82 Rolf Lamprecht, Die Braunhemden auf der Rosenburg. Wie die Nachkriegsjustiz unbemerkt von alten Nazis dirigiert wurde, in: Neue Juristische Wochenschrift 69 (2016), S. 3082–3086, hier 3085 f.

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Buch aufwirft, betreffen die Verantwortung des Einzelnen unter den Bedingungen einer Gewaltherrschaft und die ethischen Postulate an diejenigen, die dem Staat in besonderer Weise verpflichtet sind. Denkanstöße werden vermittelt, warum ideologische Muster in einer Demokratie fortleben und sich ausbreiten können. Und schließlich bietet das Buch eine solide Diskussionsgrundlage für die Gestaltung von Transformationsprozessen und den damit einhergehenden Elitenwechsel. Um Sensibilität für diese Thematik zu wecken und einen breiten Diskurs zu fördern, hat das Ministerium im Anschluss an die Veröffentlichung verschiedene Maßnahmen ergriffen, die auf unterschiedlichen Ebenen in differenzierter Weise Wirkung erzielen sollen. Als seine nächstliegende Aufgabe sah das Ministerium es an, den eigenen Mitarbeitern, insbesondere den jungen und neu eingestellten, die Erkenntnisse aus dem Rosenburg-Projekt zu vermitteln. Dies geschieht in hausinternen Veranstaltungen, die regelmäßig angeboten werden. Für die junge Beamtengeneration liegen die NS-Zeit und die Anfangsjahre auf der Rosenburg in geschichtlich weiter Ferne. Sie hat die demokratischen Verhältnisse, unter denen sie aufgewachsen ist, als Selbstverständlichkeit erfahren. Mit der Vermittlung der Erkenntnisse aus der »Akte Rosenburg« sollen die jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nun angeregt werden, sich mit den Biografien und Verhaltensmustern ihrer Vorgänger auf der Rosenburg auseinanderzusetzen und daraus eigene Schlüsse zu ziehen. Auch die übrigen Angehörigen der Justiz aus Bund und Ländern hat das Ministerium dabei als Zielgruppe im Blick. Seit 2017 führt das Ministerium jährlich eine einwöchige Tagung zum Rosenburg-Projekt an der Deutschen Richterakademie durch. Diese Veranstaltungen stehen den Angehörigen aller Gerichtszweige und Instanzen offen und erfreuen sich eines ungebrochenen Interesses. Die breite Öffentlichkeit wird mit einer attraktiven Wander- und Dauer­ ausstellung angesprochen und an das Thema herangeführt. Sie wurde im Sommer 2017 unter dem Titel »Die Rosenburg – Das Bundesjustizministerium im Schatten der NS-Vergangenheit« eröffnet und hat seither etliche Standorte in der Bundesrepublik durchlaufen. Die Visibilität der recht abstrakten Vorgänge hinter den Burgmauern eines Ministeriums wird in diesem Ausstellungsformat durch moderne, anschauliche Module hergestellt, die jede Textlastigkeit vermeiden. Die Ausstellung greift neun Kernthemen der »Akte Rosenburg« auf, die jeweils in einer Stele mittels Zeitzeugenberichten, Opfer- und Täterbiografien sowie zeitgenössischen Presseberichten und Illustrationen aufbereitet werden. Die Stelen vermitteln dabei zum Teil die Doppelgesichtigkeit des Ministeriums. Die helle Vorderseite steht jeweils für das unbestrittene Expertentum der Beamten, die dunkle Rückseite für deren dunkle Vergangenheit und tiefe Verstrickung in das NS-Unrecht. Dieser Eindruck wird durch die gekippten und verzerrten Formen der Ausstellungswände noch verstärkt. Diese rufen ein Gefühl der Verstörung und Haltlosigkeit hervor. Überdimensionale Bürolampen bringen sprichwörtlich ans Licht, was lange Zeit im Schatten lag. Ziel dieser Darstellung ist es nicht, zu belehren, sondern zur Reflexion anzuregen. Aufgrund des Inter-

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esses am Rosenburg-Projekt auch im Ausland hat das Ministerium inzwischen eine englischsprachige Version der Ausstellung auf den Weg gebracht, die bereits an mehreren Standorten in den USA und Polen präsentiert wurde und demnächst in Israel zu sehen sein wird. Die »Akte Rosenburg« stellt aber auch die herkömmliche Juristenausbildung auf den Prüfstand. Hier ist das Bundesjustizministerium ebenfalls gefordert. Gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG in Verbindung mit Art. 125 b Abs. 1 GG, Art. 98 Abs. 1 GG steht dem Bund die Bundesrahmenkompetenz für das Statusrecht der Richter in den Ländern sowie die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für die Rechtsstellung der Bundesrichter zu. Innerhalb der Bundesregierung ist für diese Materie das Justizministerium zuständig. Dessen politische Verantwortung erstreckt sich daher auch und gerade auf den Kern des richterlichen Statusrechts, die Befähigung zum Richteramt. Diese ist im Deutschen Richtergesetz definiert (§§ 5–7) und wird auch für Staatsanwälte (§ 122 Abs. 1 DRiG), Rechtsanwälte (§ 4 Nr. 1 BRAO) und Notare (§ 5 S. 1 BNotO) vorausgesetzt. Die Befähigung zum Richteramt wird definiert durch besondere Anforderungen an das Studium (§ 5 a DRiG) und den Vorbereitungsdienst (§ 5 b DRiG), die der angehende Richter durchlaufen muss, sowie an die Prüfungen (§ 5 d DRiG), die er abzulegen hat. Die »Akte Rosenburg« hat in der herkömmlichen Juristenausbildung Schwachstellen zutage treten lassen, die behoben werden müssen. Als eine wesentliche Erkenntnis hat sie aufgezeigt, dass die Juristen der Rosenburg sich als unpolitische Handwerker des Rechts verstanden, die sich hinsichtlich ihrer Vergangenheit keiner Schuld bewusst waren. Die große Mehrheit der Ministerialbürokratie habe nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten »aus dieser verfehlten technischen Einstellung heraus einfach weiter mitgearbeitet«, beschönigte der spätere Staatssekretär Walter Strauß bereits im Parlamentarischen Rat diese Haltung.83 Doch auch in der jungen Demokratie unter der Herrschaft des Grundgesetzes gelangten die Beamten der Rosenburg offenbar zu keiner besseren Einsicht, wie sich Ende der 1950er Jahre herausstellte. Da das Grundgesetz keine Notstandsverfassung kannte und Pläne für eine Ergänzung der Verfassung politisch gescheitert waren, bereiteten damals das Bundeskanzleramt und das Bundesministerium des Innern ein als streng geheim klassifiziertes, sogenanntes V-Buch vor, das im Verteidigungsfall ohne die Möglichkeit einer parlamentarischen Beratung in Kraft gesetzt werden sollte. Zu diesem Zweck lieferte das Bundesjustizministerium aus seinem Zuständigkeitsbereich fünf Entwürfe von Notverordnungen zu, die sich in eklatanter Weise über Grundrechte und verfassungsrechtlich verbriefte Prozessgarantien hinwegsetzten. An diesen Entwürfen waren mehrere Abteilungen beteiligt, auch die Verfassungsrechtsabteilung. Dies alles zeigt: Der Generation der Rosenburg-Juristen waren in ihrer Ausbildung exzellente Fachkenntnisse und die Fähigkeit vermittelt worden, diese 83 Walter Strauß in der Hauptausschusssitzung des Parlamentarischen Rates vom 23.02.1949.

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praxisgerecht einzusetzen, sodass sie unter jedem Regime »funktionierte«. Ihr Bewusstsein für die unveräußerlichen und unverrückbaren Werte des Rechts war jedoch offenbar nicht geweckt oder geschärft worden. Auch wenn sich in der Praxis der heutigen Juristenausbildung vieles zum Besseren gewandt hat, deutet dieser Befund auf eine strukturelle Unzulänglichkeit der gesetzlichen Vorgaben hin. Gewiss, Geschichte wiederholt sich nicht. Aber auch heutzutage sind Juristen, an welcher Stelle in Staat und Gesellschaft sie auch tätig sind, in ihrer Praxis Konfliktlagen ausgesetzt, in denen ihre rechtsstaatliche Haltung und ihr Bewusstsein, Dienst am Recht zu leisten, gefordert sind. Staat und Gesellschaft dürfen daher von jedem Richter und Staatsanwalt und auch von den Angehörigen der übrigen Berufe, die eine Befähigung zum Richteramt voraussetzen, erwarten, dass diese sich bereits im Rahmen ihrer Ausbildung mit den ethischen Anforderungen an eine juristische Tätigkeit auseinandergesetzt haben. Sie müssen in der Lage sein, Konfliktsituationen an der Schnittstelle von Recht und Ethik zu erkennen und selbständig damit umzugehen. Der Rechtsethik würde damit nicht mehr und nicht weniger der Stellenwert eingeräumt, den die Medizinethik in der Ausbildung der Humanmediziner stets innehatte. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages hat sich in seiner 117. Sitzung am 9. November 2016 eingehend mit dieser Frage befasst.84 Fraktionsübergreifend wurde dabei die Auffassung vertreten, dass die »Akte Rosenburg« gesetzgeberischen Handlungsbedarf aufzeige. Man war sich einig, dass in der Juristenausbildung die Aufgabe verankert werden müsse, das rechtsethische Bewusstsein der Auszubildenden zu fördern. Unabdingbar für das Verständnis des Wertefundaments des Grundgesetzes und der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland und damit für das Ethos eines jeden Juristen ist jedoch auch historisches Wissen über das Unrechtsregime des Nationalsozialismus, in dem die Justiz eine tragende Säule darstellte. Das Bundesverfassungsgericht hat sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die NS-Herrschaft für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland »eine gegenbildlich identitätsstiftende Bedeutung« in dem Sinne hat, dass das Grundgesetz »geradezu als ein Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes gedeutet werden« könne.85 Um dieses Wissen ist es aber unter den Studierenden der Rechtswissenschaft offenbar schlecht bestellt. So stellten beispielsweise die Kölner Hochschullehrer Stephan Hobe und Barbara Dauner-Lieb ernüchtert fest, dass selbst bei den begabtesten Examenskandidaten das Interesse an geschichtlichen oder politischen Hinter-

84 Mitteilung des Deutschen Bundestages – Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz – vom 03.11.2016, Tagesordnung für die 117. Sitzung, TOP 20 »Bericht des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz über Konsequenzen aus dem Projekt und Bericht Rosenburg-Akte«, S. 11. 85 Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 04.11.2009  – 1 BvR 2150/08 –, Rn. 65 (= BVerfGE 124, 300 ff.) – Wunsiedel-Beschluss.

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gründen des Rechts wenig ausgeprägt sei. Da ein Prädikatsexamen auch ohne Kenntnis historischer Protagonisten aus der NS-Zeit erlangt werden könne, verhielten sich die Studenten hier »rational apathisch«. Die Juristenausbildung produziere damit auch heute »unpolitische Rechtstechniker« wie diejenigen, die in der »Akte Rosenburg« genannt seien.86 Die als Abhilfe erforderlichen gesetzlichen Ergänzungen hat das Justizministerium in der Amtszeit von Bundesminister Heiko Maas in einem Diskussionsentwurf umgesetzt, der 2017 an die Länder und Verbände versandt wurde.87 Danach soll der Kanon der in § 5  a DRiG vorgesehenen Fächer der Juristenausbildung um zwei Themen ergänzt werden: Zum einen sollen sich alle angehenden Juristen während ihrer Ausbildung mit den »ethischen Grundlagen des Rechts und deren Bedeutung für die berufliche Praxis« auseinandersetzen. Zum anderen sollen sie »Kenntnisse über das Justizunrecht in Deutschland im 20. Jahrhundert« vorweisen. Diese Vorgaben sollen durch eine Ergänzung des § 5  d Abs. 1 DRiG in staatlichen und universitären Prüfungen berücksichtigt werden. Der Koalitionsvertrag für die 19. Wahlperiode vom September 2017 hat diesem Projekt politischen Rückhalt verschafft.88 Auch die von Bundeskanzlerin Merkel eingesetzte »Gemeinsame Bund-Länder-Kommission zur Bekämpfung von Antisemitismus und zum Schutz jüdischen Lebens« hat sich im November 2019 einstimmig dafür ausgesprochen. Der Ausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus des Bundeskabinetts hat in seiner Sitzung vom 25. November 2020 eine entsprechende Ergänzung der Juristenausbildung in seinen Maßnahmenkatalog aufgenommen und diesem Vorhaben damit weiteren Auftrieb verschafft.

X. Kein Stein des Anstoßes Allen Versäumnissen zum Trotz, die man dem Justizministerium hinsichtlich seines Umgangs mit der eigenen Vergangenheit vorwerfen kann, erinnerte seit 1974 ein massiver Gedenkstein im Eingangsbereich zum Bonner Kreuzbau in Bad Godesberg – dem damaligen Sitz des BMJ – an eine Opfergruppe der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Robert M. W. Kempner, der als Beamter des preußischen Innenministeriums 1933 wegen »politischer Unzuverlässigkeit in

86 Stephan Hobe / Barbara Dauner-Lieb, Zukunftsfähig? Die Juristenausbildung in Deutschland, in: Forschung & Lehre 4 (2018), S. 314–316. 87 Anlage zum Schreiben der Leiterin der Abteilung Rechtspflege vom 10.07.2017. Siehe hierzu auch Lena Foljanty, Historische Reflexion als Ausgangspunkt für die heutige Berufspraxis. Justizunrecht des 20. Jahrhunderts als Gegenstand der juristischen Ausbildung, in: Anwaltsblatt 12 (2017), S. 1158–1164. Vgl. ebenfalls Ronen Steinke, Die Justiz ist nie unpolitisch. Jurastudenten sollen über NS-Unrecht lernen, in: Süddeutsche Zeitung, 18.09.2017, S. 14. 88 Koalitionsvertrag für die 19. Wahlperiode, Zeilen 5756–5759.

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Tateinheit mit fortgesetztem Judentum« aus dem Staatsdienst entlassen worden war, in die USA emigrierte und als stellvertretender Hauptankläger der Vereinigten Staaten beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des »Dritten Reiches« zurückkehrte, hatte gegenüber dem damaligen Bundesjustizminister Gerhard Jahn die Errichtung eines Gedenksteins angeregt. Dieser hatte die Anregung aufgegriffen, und sein Nachfolger im Amt, Hans-Jochen Vogel, hatte den Stein dann am 2. September 1974 feierlich enthüllt. Nach dem Berlin-Umzug hat der Stein im Innenhof des Dienstgebäudes in der Mohrenstraße einen neuen Standort gefunden.

Seine Aufschrift lautet:

GERECHTIGKEIT ERHÖHET EIN VOLK ZUM GEDENKEN AN ALLE DIE IM DIENST AM RECHT EIN OPFER DER GEWALTHERRSCHAFT WURDEN UNS ZUR MAHNUNG

In seiner Rede anlässlich der Feier zur Enthüllung des Steins 1974 ging HansJochen Vogel zunächst auf das Versagen der Justiz in der NS-Zeit ein, der er ihre aktive Teilnahme an Terror, Gewalt und Unterdrückung vorhielt. Er benannte aber auch die Gleichgültigen und Ängstlichen, die sich der Verantwortung entzogen und dadurch mitverantwortlich und mitschuldig gemacht hätten. Den

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Schwerpunkt seiner Rede aber bildete eine Ehrung der Angehörigen der Justiz, die dem Unrecht aktiv Widerstand geleistet hatten und dadurch selbst zu Opfern geworden waren.89 Drei Jahre später hob Minister Vogel in seiner Festansprache zur 100-Jahrfeier des Reichsjustizamtes erneut die Bedeutung des Gedenksteins hervor, dessen Botschaft in dem Appell bestehe, dem Unrecht zu widerstehen. Seinen Mitarbeitern empfahl er, sich die Inschrift des Steins Tag für Tag vor Augen zu führen.90 Auf den heutigen Betrachter wirkt die Schrift indes irritierend. Anders als vielleicht noch vor 50 Jahren gilt es heute als gesichert, dass es einen Widerstand aus dem Bereich der Justiz mit Beteiligten, die Opfer der Gewaltherrschaft wurden, praktisch nicht gegeben hat.91 Opfer der Gewaltherrschaft waren vielmehr die vielen Tausend, denen die NS-Justiz in jeglicher Form Unrecht zufügte. Bei Lichte betrachtet, hätte der Gedenkstein ihnen gewidmet werden müssen, wobei eine Stele als Muster hätte dienen können, die 1990 im Bundesgerichtshof eingeweiht wurde. Ihre Inschrift lautet: Gerechtigkeit erhöht ein Volk Im Gedenken an die Frauen und Männer denen im Namen des Deutschen Volkes Unrecht geschah 1933–1945

In seiner Festansprache zur Einweihung dieser Stele ging der damalige Bundesminister der Justiz Hans A. Engelhard auch auf diejenigen ein, die »im Namen des Deutschen Volkes« Unrecht gesprochen hatten: »Die Tatsache, dass kein einziger Richter eines Sondergerichts oder des Volksgerichtshofs wegen eines der zahlreichen Unrechtsurteile von bundesdeutschen Gerichten rechtskräftig verurteilt worden ist, löst Betroffenheit aus. In einer stillen Stunde mögen sich die Beteiligten einmal fragen, ob sie nicht den Korpsgeist mit ihren Kollegen über die Gerechtigkeit gestellt haben.«92 Der Gedenkstein ist mittlerweile selbst ein Dokument der Geschichte des Justizministeriums geworden. Er ist aus seiner Zeit zu verstehen und sollte kein Stein des Anstoßes sein. Irritationen heutiger Betrachter könnte durch eine Hinweistafel entgegengewirkt werden. Auch wenn die Aufschrift des Steins von 89 Elmar Hucko, Unser Gedenkstein für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, in: Mohrenstraße. Informationen zum Neubau des Bundesministeriums der Justiz in Berlin, Ausgabe 4, September 2000 (hausinterne Druckschrift des Ministeriums), S. 1 ff. 90 Vogel, Festansprache, S. 10. 91 Hucko, Unser Gedenkstein, S. 2. 92 Ebd., S. 4.

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einer unzutreffenden Annahme ausgeht, vermag sie heute doch immer noch eine sinnstiftende Botschaft zu vermitteln. In seiner Festrede zur 100-Jahrfeier des Reichsjustizamtes bemerkte Hans-Jochen Vogel dazu 1977, diese Mahnung sage auch, »daß der Rechtsstaat und die Freiheit nicht sterben können, jedenfalls nicht von innen her sterben können, wenn nicht nur einzelne dem Unrecht widerstehen, sondern jeder tagtäglich an seinem Platz seine Pflicht tut«.93

93 Vogel, Festansprache, S. 10.

Hans-Jochen Vogel

Der Beitrag der Rosenburg zur Bonner Republik*1 Als der älteste noch lebende ehemalige Bundesjustizminister, der von Mai 1974 bis zum Januar 1981 amtierte, hätte ich gerne persönlich an dem heutigen Symposium teilgenommen. Da mir das aber aus gesundheitlichen Gründen – ich bin jetzt immerhin schon im 91. Lebensjahr – nicht mehr möglich ist, grüße ich Sie auf diesem Wege und benutze die Gelegenheit, zunächst einmal Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger und Herrn Kollegen Maas sowie den Herren Manfred Görtemaker und Christoph Safferling meinen Respekt zu bekunden. Frau Leutheusser-Schnarrenberger danke ich dafür, dass sie im Januar 2012 eine unabhängige Kommission zur Aufarbeitung der NS -Vergangenheit des Bundesjustizministeriums eingesetzt hat. Herrn Maas dafür, dass er die Arbeit dieser Kommission kontinuierlich unterstützt und mit positiven Kommentaren begleitet hat. Und den Herren Görtemaker und Safferling dafür, dass sie den ihnen erteilten Auftrag sorgfältig bewältigt und kürzlich die dabei gewonnenen Erkenntnisse in Buchform unter dem Titel »Die Akte Rosenburg« veröffentlicht haben. Damit ist ein jahrzehntelanges Schweigen beendet und ein substanzieller Abschnitt der Geschichte des Bundesjustizministeriums in konzentrierter Form endgültig vor dem Vergessen bewahrt worden. Belegt ist nunmehr, dass von 1949 bis Ende der Sechzigerjahre im Bundesjustizministerium nicht nur ein hoher Prozentsatz von Beamten tätig war, die vor 1945 der NSDAP angehörten, sondern in leitenden Funktionen auch solche, die zwischen 1933 und 1945 im Reichsjustizministerium gearbeitet oder sonst – beispielsweise als Staatsanwälte bei Sondergerichten – dem NS-Gewaltregime gedient haben. Dargestellt werden in diesem Buch aber auch Vorgänge, die nach Ansicht der Kommission mit dieser spezifischen Personalausstattung im Zusammenhang stehen. So etwa die Zurückhaltung bei der strafrechtlichen Verfolgung von NSVerbrechen, die endgültig erst von Fritz Bauer mit dem von ihm eingeleiteten Auschwitz-Prozess durchbrochen wurde; die ungenügende Differenzierung der Zentralen Rechtsschutzstelle bei der Beurteilung der Betroffenen, um die sie sich zu kümmern hatte; die Herbeiführung oder das Geschehenlassen der Verjährung für Tausende von Schreibtischtätern und die zögerliche Handhabung von Maßnahmen zur Aufhebung rechtswidriger Urteile aus der NS-Zeit und zur Wiedergutmachung. * Videobotschaft anlässlich des 7. Rosenburg-Symposiums »Der Beitrag der Rosenburg zur Bonner Republik« am 30. November 2016 in Bonn.

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In dem Buch werden indes noch weitere für die Beurteilung der damaligen Situation wichtige Feststellungen getroffen, die erkennen lassen, dass die Kommission ihren Blick nicht verengt hat. Das gilt schon für die Feststellung, dass für bedenkliche personelle Entscheidungen in den Anfangsjahren zwei Männer verantwortlich waren, die – auch aus rassischen Gründen – zu den Verfolgten des NS-Regimes gehörten und ihm Widerstand leisteten: Thomas Dehler als Minister und Walter Strauß als Staatssekretär. Auch die Gründe, aus denen sie so handelten, werden mitgeteilt. Es sei ihnen um die juristische Qualität und die Berufserfahrung ihrer Mitarbeiter und deshalb nur um den Ausschluss der »wirklich Schuldigen« gegangen. Auch wären sie damit einem von Konrad Adenauer mit der Ernennung Hans Globkes gesetzten Zeichen für die möglichst weitgehende Integration dieses Personenkreises und dem seinerzeit rasch lauter werdenden Ruf nach einem Schlussstrich gefolgt. Noch wichtiger erscheint mir die durchaus zutreffende Feststellung, dass nach 1949 der Aufbau einer freiheitlich-demokratischen Ordnung und eines neuen Rechtsstaates durchaus gelungen ist und dass daran das Bundesjustizministerium – obwohl es mit der Hypothek der NS-Unrechtsjustiz belastet war – wesentlich mitgewirkt hat. Das sind Untersuchungsergebnisse, die bei der Berichterstattung über die »Akte Rosenburg« und ihrer Bewertung meines Erachtens etwas zu sehr am Rande bleiben. Für mich haben sie jedenfalls wesentliche Bedeutung. Es gibt noch zwei weitere Gesichtspunkte, zu denen ich mich äußern möchte. Zum einen richte ich an mich selbst die Frage, warum ich nicht schon während meiner Amtszeit eine Initiative ergriffen habe, wie das Frau LeutheusserSchnarrenberger 31 Jahre später getan hat. Gewiss, ich habe mich 1977 anlässlich des 100-jährigen Jubiläums einer obersten deutschen Justizbehörde – also der Entwicklung vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz – in meiner Festansprache kritisch mit der Rolle auseinandergesetzt, die das Reichsjustizministerium im »Dritten Reich« gespielt hat. Und als einen wesentlichen Grund dafür benannt, dass schon in der Weimarer Republik viele Richter und Beamte nicht bereit waren, jederzeit und nach allen Seiten für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne der Verfassung einzutreten. Auch gab es damals am Eingang des Dienstgebäudes schon einen Gedenkstein, dessen Inschrift lautete: »Gerechtigkeit erhöhet ein Volk. Zum Gedenken an alle, die im Dienst am Recht ein Opfer der Gewaltherrschaft wurden. Uns zur Mahnung.« Aber auf die Probleme, die uns gerade heute beschäftigen, also auf die Fehler, die das Bundesjustizministerium nach 1949 im Umgang mit seiner eigenen Vergangenheit begangen hat, bin ich nicht eingegangen. Dazu findet sich auch in der damals herausgegebenen Festschrift nichts. Warum ich mich so verhalten habe, kann ich heute im Detail nicht mehr erklären. Wahrscheinlich lag ich damit im damaligen Zeitgeist. Entsprechende Untersuchungen wurden ja auch in anderen Ministerien und Ämtern in größerer Zahl erst in den letzten 15 Jahren geführt. Und auch viele zivilgesellschaftliche Verbände und Medien haben sich erst jetzt mit ihrer Vergangenheit beschäftigt.

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Auch war die Zahl der Mitarbeiter, die von einer solchen kritischen Auseinandersetzung mittelbar betroffen worden wären, noch ziemlich groß. Mittelbar, weil sie nicht mehr vor 1945 tätig gewesen waren, aber weil sie eine Offenlegung als Vorwurf gegen Thomas Dehler und Walter Strauß und gegen Vorgesetzte empfunden hätten, mit denen sie selbst noch zusammengearbeitet hatten. Noch eine Frage hat mich damals bei der Erörterung dieses Themas beschäftigt und tut das auch heute noch: Wie hättest du in einer solchen Situation gehandelt? Bist du sicher, dass du Widerstand geleistet und dich selbst in Gefahr gebracht hättest? All’ das ändert nichts daran, dass ich mein seinerzeitiges Schweigen zu diesem Thema von heute her gesehen bedauere. Vielleicht konnte ich 1993 durch meine Mitwirkung an der Gründung der Vereinigung »Gegen Vergessen – Für Demokratie« einiges gutmachen. Bleibt noch die Frage, welche Konsequenzen wir aus dem seinerzeitigen Geschehen ziehen sollten. Gustav Radbruch hat das schon 1948 in seinem Aufsatz über »Des Reichsjustizministeriums Ruhm und Ende« so beantwortet: »Erstens glaube niemand, dass ihm gelingen werde, durch Teilnahme an Bösem Schlimmeres zu verhüten. Zweitens glaube niemand, die Stimme des Gewissens um höherer Ziele und Werte willen überhören zu dürfen. Drittens glaube niemand, mit Werten wie Sachlichkeit und Gesetzlichkeit die letzten Fragen des Rechts beantworten zu können. Sachlichkeit und Gesetzlichkeit genügen, so lange die Staatsführung in anständigen Händen liegt. Wird aber, um mit Augustinus zu sprechen, der Staat zu einer großen Räuberbande, dann kann nur der Glaube an höhere Werte helfen, dann muss die heiße Flamme der Gerechtigkeit durch alle Rücksichten und Ängste hindurchschlagen. Schlimm, wenn sie verkümmert ist über der Pflege sekundärer Werte wie der Gesetzlichkeit und der Sachlichkeit, durch jenen Positivismus, der den obersten aller Rechtssätze vergessen hat: Dass man Gott mehr gehorchen soll als den Menschen.«

Diese Antwort habe ich in meiner seinerzeitigen Festrede zitiert und hinzugefügt: »Wir müssen uns unbeirrt an der Wertordnung des Grundgesetzes orientieren. Wir müssen ändern und bewahren, um dieser Wertordnung immer aufs Neue zum Durchbruch zu verhelfen. Dies wird ein permanenter Prozess sein, nicht eine Entwicklung, die eines Tages in einen wie auch immer gearteten Endzustand einmündet.«

Diesen Satz bringe ich gerade heute in Erinnerung. Denn wir erleben ja seit einiger Zeit, dass die Demokratie und die Menschenrechte keine Selbstverständlichkeit sind. Dass sie von hasserfüllten Demokratieverächtern herausgefordert und verhöhnt werden. Dem darf nicht mit einem Achselzucken begegnet werden. Dem müssen wir alle entgegentreten. Denn jeder Einzelne ist für die Zukunft unserer Demokratie und unseres Rechtsstaats mitverantwortlich. »Nie wieder! Nicht noch einmal!«, so muss in dieser Hinsicht die Leitlinie unseres Handelns lauten. Die »Akte Rosenburg« macht das auf ihre Weise deutlich.

Manfred Görtemaker

Die Akte Rosenburg: Kontinuität und demokratischer Neuanfang Ein historischer Rückblick

Die Bundesrepublik Deutschland wird zumeist als eine Erfolgsgeschichte beschrieben: politisch stabil, wirtschaftlich prosperierend und mit einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung versehen, die ihresgleichen sucht. Und dies alles seit nunmehr über 70 Jahren – trotz der moralischen Zerrüttung nach den Verbrechen des NS -Regimes, vor allem dem Holocaust, der materiellen Zerstörungen als Folge des verheerenden Krieges, der Notwendigkeit, Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten zu integrieren und schließlich nach 1989/90 die Umbrüche der Wiedervereinigung zu meistern.1 Zweifellos ist der Neuaufbau nach dem Zivilisationsbruch, den das »Dritte Reich« bedeutete, alles in allem gelungen. Die demokratischen Institutionen haben funktioniert, während die Hinterlassenschaften des NS-Regimes immer mehr in den Hintergrund rückten. Aber diese vordergründige Erfolgsgeschichte hatte auch eine dunkle Kehrseite. Dies gilt für alle Bereiche der Gesellschaft: in der Wirtschaft ebenso wie in der Politik, in Wissenschaft und Kultur ebenso wie in der staatlichen Verwaltung und in den Medien – und natürlich auch in der Justiz. Überall war der Neubeginn nach 1945 mit einem hohen Maß an Kontinuität verbunden, vor allem in personeller Hinsicht. Denn die alliierte Politik der »Entnazifizierung« erwies sich als schwierige bürokratische Prozedur, die schon bald an ihren eigenen Ansprüchen scheiterte. Da sie nicht nur die Elite, sondern die gesamte Bevölkerung auf ihre nationalsozialistische Belastung hin zu durchleuchten suchte, war die Aufgabe schlicht gigantisch: Etwa 8,5 Millionen Deutsche, rund zehn Prozent der Bevölkerung, waren Mitglieder der NSDAP gewesen. Sehr viel mehr noch – insgesamt über 45 Millionen – hatten Organisationen angehört, die von der NSDAP kontrolliert wurden.2 Und selbst jene, die keine direkten Verbindungen zu NS-Organisationen aufwiesen, waren von ihrem »Mittun« und damit ihrer Mittäterschaft und Mitverantwortung für 1 Siehe z. B. Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006. 2 Zahlenangaben nach: Klaus-Dietmar Henke, Die amerikanische Besetzung Deutschlands (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 27), 2. Aufl., München 1996, S. 579.

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die nationalsozialistischen Verbrechen nicht freizusprechen. Widerstand hatte es nur im Ausnahmefall gegeben. Zudem zeigten die meisten Deutschen kaum Einsicht, geschweige denn Reue, wie der amerikanische Diplomat Robert Murphy seinem Außenminister Cordell Hull im Mai 1945 berichtete: Die Deutschen seien »äußerst reuelos und von unbegreiflicher Ignoranz gegenüber den Taten ihrer Führer«. Nur wenige gäben zu, von den Konzentrationslagern und den SS-Gräueltaten gewusst zu haben, und lehnten jede eigene Verantwortung dafür ab. Das einzige Verbrechen, das Deutschland in ihren Augen begangen habe, so Murphy, bestehe darin, den Krieg verloren zu haben.3 Vor diesem Hintergrund konnte die Entnazifizierung kaum gelingen. Bereits im Frühjahr 1946 sah die amerikanische Militärregierung deshalb keinen anderen Ausweg, als ihre Durchführung  – einschließlich der Verwaltung der Internierungslager – auf deutsche Stellen zu übertragen.4 Das war die Geburtsstunde der sogenannten Spruchkammern, in denen die Deutschen nun selbst über ihre Verstrickung in das NS-Regime befinden sollten. Aber konnte das gutgehen? Die Bilanz spricht für sich. Denn zonenübergreifend wurden nach Abschluss der Spruchkammerverfahren, die keine Strafurteile fällten, sondern nur der politischen Säuberung dienen sollten, lediglich 1,4 Prozent der Betroffenen als »Hauptschuldige« und »Belastete« eingestuft. Der Rest – 98,6 Prozent – galt als »entnazifiziert«. Die Hälfte davon waren angeblich nur »Mitläufer« gewesen, in 35 Prozent der Fälle wurden die Verfahren ganz eingestellt, und nur 0,6 Prozent wurden als NS-Gegner anerkannt. Spätestens im Frühjahr 1951 war das Kapitel »Entnazifizierung« in Westdeutschland endgültig abgeschlossen. An seine Stelle trat eine »Schlussstrich-Mentalität«, die sich wiederum auf alle Bereiche der Gesellschaft erstreckte.5

I.

Freispruch für die Nazi-Justiz?

Aber galt dies auch für die Justiz – insbesondere für das Bundesministerium der Justiz (BMJ), das als »Verfassungsministerium« zum Schutz der Verfassung gegründet worden war und damit doch eine ganz besondere Verantwortung trug? Dies war die Kernfrage, mit der sich das Rosenburg-Projekt befasste, in dem von 2012 bis 2016 die Entwicklung des BMJ mit Blick auf die NS-Zeit unter3 Robert Murphy an Secretary of State, 01.05.1945, in: Foreign Relations of the United States, Diplomatic Papers, 1945, Bd. 3: European Advisory Commission, Austria, Germany, ­Washington D. C. 1968, S. 937. 4 Siehe hierzu Gesetz Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 05.03.1946, in: Regierungsblatt für Württemberg-Baden 1946, S. 71 ff. Vgl. ebenfalls Fritz Ostler, Das Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 und sein Vollzug. Persönliche Erfahrungen und Erinnerungen, in: Neue Juristische Wochenschrift 49 (1996), S. 821–825. 5 Zahlenangaben nach: Hans-Jörg Ruhl (Hg.), Neubeginn und Restauration. Dokumente zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1949, München 1982, S. 279 f.

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sucht wurde.6 Im Mittelpunkt der Arbeit stand also nicht die Justiz im »Dritten Reich«, die bereits gut erforscht ist, da sowohl über die Ära von Reichsjustizminister Franz Gürtner als auch über die Zeit seines Nachfolgers Otto Georg Thierack umfangreiche Untersuchungen vorliegen.7 Vielmehr ging es bei der Rosenburg-Kommission darum, wie man im Bundesministerium der Justiz nach 1949 mit der NS-Vergangenheit umging: Welche personellen und institutionellen Kontinuitäten gab es? Wie tief war der Bruch 1945/49 wirklich? Und wie sah es mit den inhaltlichen Aspekten der Politik aus? Wurden auch diese, wenn man unterstellt, dass viele der handelnden Personen im BMJ schon vor 1945 aktiv gewesen waren, vom Gedankengut des Nationalsozialismus beeinflusst? Und wenn ja, auf welche Weise? Bei der Beantwortung dieser Fragen konnte die »Unabhängige Wissenschaftliche Kommission«, wie ihr offizieller Name lautet, an einige Untersuchungen anknüpfen, die bereits die allgemeine Entwicklung der Justiz im Übergang vom »Dritten Reich« zur Bundesrepublik beleuchtet hatten. Das BMJ selbst hatte sich an der Aufarbeitung des schwierigen Erbes der NS-Justiz schon 1989 mit der Ausstellung »Im Namen des Deutschen Volkes – Justiz und Nationalsozialismus« beteiligt. Die Ausstellung war seinerzeit in der Staatsbibliothek Berlin an der Potsdamer Straße eröffnet worden, war dann für zwei Jahrzehnte auf Wanderschaft durch alle Bundesländer gegangen und in 43 Städten zu sehen gewesen, meist in Gerichten und Justizgebäuden, bevor sie im Juni 2008 einen dauerhaften Platz im Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in der Berliner Hardenbergstraße 31 am Bahnhof Zoo fand. Sie umfasst drei Abschnitte: die Justiz im Nationalsozialismus, ihre Vorgeschichte in der Weimarer Republik und den Umgang mit dieser Vergangenheit durch die westdeutsche Justiz nach 1945/49. Rund 2.000 Dokumente und Bilder sowie Begleittexte zu den einzelnen Themenkreisen machen wichtige Aspekte der historischen und ideologischen Grundlagen der Justiz, der Einflussnahme der Partei auf die Justiz und der Zusammenarbeit zwischen Justiz, NSDAP und SS deutlich. Die Ausstellung zeigt, wie verhängnisvoll die Rolle der Justiz nicht nur im »Dritten Reich« gewesen war, sondern welche Verbindungen es auch zur Justiz der Nachkriegszeit gab.8 6 Vgl. Manfred Görtemaker / Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016. 7 Zur Ära Gürtner siehe vor allem Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, 3., verb. Aufl., München 2001. Vgl. auch Ekkehard Reitter, Franz Gürtner. Politische Biographie eines deutschen Juristen, 1881–1941, Berlin 1976. Zur Ära Thierack siehe bes. Sarah Schädler, »Justizkrise« und »Justizreform« im Nationalsozialismus. Das Reichsjustizministerium unter Reichsjustizminister Thierack (1942–1945) (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 61), Tübingen 2009. 8 Eine ähnliche Ausstellung folgte nach der Wiedervereinigung Deutschlands, wiederum im Auftrag des BMJ, zum Thema »Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED«. Sie ging auf eine Anregung von Richtern, Staatsanwälten und Bürgerrechtlern in den neuen Bundesländern zurück und zeigte mit über 200 reproduzierten Schriftstücken, Grafiken und Fotos auf 75 Tafeln den Missbrauch der Justiz ohne unabhängige Richter

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Ingo Müller hatte darauf bereits 1987 in seiner rechtshistorischen Dissertation »Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz« hingewiesen.9 Allerdings war sein Buch in juristischen Kreisen nur widerwillig zur Kenntnis genommen worden und hatte die akademische Karriere Müllers nachhaltig beschädigt, der deutlich machte, wie tief Juristen in die Verbrechen und den Massenmord des NS-Regimes verstrickt gewesen waren und welche personellen und sachlichen Kontinuitäten über die Zäsur von 1945/49 hinweg bestanden hatten. Inzwischen sind die Kernaussagen Müllers unstrittig und wurden durch zahlreiche Studien bestätigt. Hervorzuheben ist besonders der 1996 erstmals erschienene, vieldiskutierte Band »Vergangenheitspolitik« von Norbert Frei, der sich, ausgehend von grundlegenden Weichenstellungen in Parlament und Regierung, mit der mangelnden »Vergangenheitsbewältigung« in der Bundesrepublik in den frühen 1950er Jahren beschäftigt und dabei auch dem Justizbereich umfangreiche Passagen widmet.10 Marc von Miquel setzte diese Überlegungen 2004 für die 1960er Jahre fort und kam zu ähnlichen Ergebnissen.11 Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang ferner der Publizist Jörg Friedrich, der in seinen Büchern »Freispruch für die Nazi-Justiz« und »Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik« schon 20 Jahre zuvor trotz eines noch sehr begrenzten Materialzugangs auf skandalöses Verhalten von Richtern und Staatsanwälten, fragwürdige Urteile und eine kalkulierte Schlussstrich-Mentalität der Politik hingewiesen hatte. Bei aller materialbedingten Vorläufigkeit seiner Erkenntnisse ließen die publizistisch zugespitzten Ausführungen Friedrichs erahnen, welcher historische Klärungsbedarf hier noch bestand.12 Der Berliner Rechtssoziologe Hubert Rottleuthner schließlich, der 2010 anhand der Daten von über 34.000 Personen, die zwischen 1933 und 1964 im höheren Justizdienst tätig gewesen waren, die »Karrieren und Kontinuitäten deutscher Justiz­juristen vor und nach 1945« untersuchte, vermochte dann auch flächendeckend zu beweisen, was inzwischen kaum noch ein Geheimnis war: dass Brüche in den Karrieren deutscher Juristen nach dem Ende des Nationalsozialismus eine Aus

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in der SED-Diktatur. Die Ausstellung wurde 1994 in Berlin eröffnet und danach bis 1999 in zahlreichen Städten, vornehmlich in Ostdeutschland, aber auch in Braunschweig und Karlsruhe, gezeigt. Seither ist sie dauerhaft in der Gedenkstätte Moritzplatz in Magdeburg zu sehen. Siehe hierzu Bundesministerium der Justiz (Hg.), Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED, 2 Bde.: Dokumentenband und Katalog, Leipzig 1994. Ingo Müller, Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, München 1987. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996. Marc von Miquel, Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004. Jörg Friedrich, Freispruch für die Nazi-Justiz. Die Urteile gegen NS-Richter seit 1948. Eine Dokumentation, Reinbek 1983 (überarb. u. erg. Ausg. Berlin 1998); ders., Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 1984 (erw. Neuausg. Berlin 2007).

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nahme darstellten und dass die meisten Juristen, auch wenn sie politisch belastet waren, ihre Laufbahn nach Gründung der Bundesrepublik mehr oder weniger nahtlos fortsetzen konnten.13 Tatsächlich hat sich die deutsche Justiz in der Nachkriegszeit  – mit Ausnahme des Nürnberger Juristenprozesses, der unter amerikanischer Federführung stattfand  – der eigenen Strafverfolgung nahezu völlig entzogen.14 Dabei hatten Tausende von Richtern und Staatsanwälten an ordentlichen Gerichten, Sondergerichten, Standgerichten oder am berüchtigten Volksgerichtshof bei der Durchsetzung der nationalsozialistischen Ideologie geholfen und sich damit, direkt oder indirekt, an den Verbrechen des NS-Regimes beteiligt. Das methodische Handwerkszeug dafür war ihnen von zahlreichen Hochschullehrern und der am 26. Juni 1933 in München gegründeten »Akademie für Deutsches Recht« unter ihren Präsidenten Hans Frank (bis 1942) und Otto Thierack (bis 1944) geliefert worden. Die Akademie hatte als wissenschaftliche Zentralstelle für die Umgestaltung des deutschen Rechts im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung gewirkt und damit als Instrument der rechtswissenschaftlichen Gleichschaltung gedient.15 Das Reichsjustizministerium hatte dann die entsprechenden Gesetze und Verordnungen vorbereitet und akribisch über die Einhaltung der neuen Ideologie durch die Justiz gewacht. Eine ganze Generation von Juristen war nach Beendigung der Ausbildung und ihrem Eintritt in das Berufsleben in den 1930er Jahren in diesen Rahmen gezwängt worden und hatte sich teils aus Überzeugung, teils aus opportunistischem Karrierestreben der Partei und dem »Führer« verschrieben. Dennoch gab es kaum Richter und Staatsanwälte, die in der Bundesrepublik nach 1949 wegen Unrechtsurteilen im »Dritten Reich« zur Rechenschaft gezogen wurden. Während man in der SBZ / DDR immerhin versuchte, belastete Staatsanwälte auszutauschen und ehemalige Richter durch kurzfristig ausgebildete sogenannte Volksrichter zu ersetzen – allerdings um den hohen Preis mangelnder juristischer Expertise und des Verlustes der Unabhängigkeit –, kehrten in der Bundesrepublik zahllose Juristen, die das NS-Regime mitgetragen hatten, weitgehend unbehelligt an ihre Schreibtische und in die Gerichte zurück und reihten sich stillschweigend in die neue rechtsstaatliche Ordnung ein, getragen oftmals von dem Willen, einen Schleier des Schweigens über das Vergangene zu legen und das unbegreifliche Ausmaß der Verbrechen vergessen zu machen. Selbst wenn dadurch die Demokratie der Bundesrepublik nicht ernsthaft gefährdet wurde, übten NS-belastete Juristen auf diese Weise in wichtigen staatlichen und 13 Hubert Rottleuthner, Karrieren und Kontinuitäten deutscher Justizjuristen vor und nach 1945, Berlin 2010. 14 Zum Nürnberger Juristenprozess vgl. Lore Maria Peschel-Gutzeit (Hg.), Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947. Historischer Zusammenhang und aktuelle Bezüge, Baden-­ Baden 1996. 15 Vgl. hierzu Hans-Rainer Pichinot, Die Akademie für Deutsches Recht. Aufbau und Entwicklung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft des Dritten Reiches, Diss., Kiel 1981.

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gesellschaftlichen Positionen weiterhin Einfluss aus und schützten sich immer wieder gegenseitig vor dem Zugriff der rechtsstaatlichen Justiz.16

II. Die Ergebnisse der Rosenburg-Kommission Zu welchen Ergebnissen ist die Rosenburg-Kommission nun im Hinblick auf die Situation im Bundesministerium der Justiz gekommen? Dazu zunächst einige Zahlen: Mit 67 planmäßigen Beamtenstellen war das BMJ bei seiner Errichtung 1949 das kleinste Bundesministerium, wobei allerdings nur 35 Personen als Abteilungsleiter, Unterabteilungsleiter oder Referatsleiter zum unmittelbaren Leitungspersonal zählten. Am Ende des Untersuchungszeitraums 1973 gab es zwar schon 250 Stellen, aber damit war das BMJ immer noch ein sehr kleines Haus.17 Insgesamt konzentrierte sich die Kommission auf 258 Personalakten, die das Leitungspersonal betreffen, das heißt die Abteilungsleiter, Unterabteilungsleiter und Referatsleiter. Bei der detaillierten Auswertung lag der Schwerpunkt auf den vor 1927 geborenen Mitarbeitern, insgesamt rund 170, die bei Kriegsende 1945 mindestens 18 Jahre alt waren, ihre Schulzeit im NS-Staat absolviert hatten und in der Regel beim Arbeitsdienst und bei der Wehrmacht gewesen waren. Innerhalb dieser Gruppe galt das Hauptinteresse aber denjenigen Personen, die bereits im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geboren waren. Sie hatten ihre juristische Ausbildung vor dem Krieg abgeschlossen und waren schon im Nationalsozialismus als Juristen tätig gewesen, bevor sie nach 1945 in die Landesjustizverwaltungen oder die alliierten Zonenverwaltungen und schließlich in das Bundesministerium der Justiz gelangten.18 Bei der Betrachtung dieser Personen konnten sämtliche Personalakten eingesehen werden. Von Anfang an wurde den Kommissionsmitgliedern der ungehinderte Zugang zu diesen Akten zugesichert, die in der Tat sehr aussagekräftig sind, weil die Akten nicht nur die Entwicklung in der Bundesrepublik abbilden, sondern im Regelfall bereits in der Weimarer Republik oder spätestens im »Dritten Reich« angelegt wurden. Nach 1945 wurden diese Akten häufig von den Zonenverwaltungen übernommen und gelangten von dort in das Bundesministerium der Justiz, wenn die Mitarbeiter hier eingestellt wurden. Sie sind deshalb

16 Christian Lange, Die justizielle NS-Aufarbeitung – Täter, Opfer, Justiz, in: Die Rosenburg: 4. Symposium. Vorträge gehalten am 21. Oktober 2014 im Foyer der Bibliothek des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe, in: Druckschrift des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (Stand: Mai 2017), abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/ Publikationen/DE/Rosenburg_Symposium_4.pdf?__blob=publicationFile&v=10, S. 16– 31, hier 16 f. 17 Vgl. Jan Schröder, Das Bundesministerium der Justiz und die Justizgesetzgebung ­1949–1989, in: Bundesministerium der Justiz (Hg.), 40 Jahre Rechtspolitik im freiheitlichen Rechtsstaat, Bonn 1989, S. 12, 26 f., 40. 18 Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 260 ff.

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besonders aussagekräftig und wertvoll, weil es sich um authentische Dokumente handelt und alle notwendigen Angaben enthalten, die für eine Untersuchung zur NS-Belastung und zur Kontinuität von Karriereverläufen unverzichtbar sind. Auf das Ausmaß der NS-Belastung in der Frühzeit des BMJ lässt bereits ein Dokument schließen, das im Mai 1950 auf Anforderung des Bundeskanzleramtes erstellt wurde. Ausgangspunkt war ein Schreiben des Ministerialdirektors und späteren Staatssekretärs im Kanzleramt, Hans Globke, mit dem er alle Bundesminister bat, festzustellen, wie viele Angehörige der jeweiligen Ministerien früher Mitglied der NSDAP gewesen waren.19 Die Antwort des BMJ datiert vom 20. Mai 1950 und macht deutlich, wie hoch der an der Parteimitgliedschaft gemessene Belastungsgrad in der Phase des personellen Aufbaus im Bundesjustizministerium war.20 So befanden sich unter den 48 Angehörigen des höheren Dienstes 19 ehemalige Parteigenossen. Im gehobenen Dienst standen 17 ehemalige Parteigenossen 21 Nicht-Mitgliedern gegenüber. Der Anteil früherer NSDAP-Mitglieder betrug somit im höheren Dienst rund 40 Prozent, im gehobenen Dienst fast 45 Prozent.21 Im Vergleich mit den übrigen Bundesministerien waren dies durchschnittliche Werte. Legt man die Gesamtwerte für alle Bundesministerien einschließlich des Bundeskanzleramtes zugrunde, war der Anteil der früheren Parteimitglieder im höheren Dienst des BMJ sogar niedriger als im Durchschnitt (40:47 Prozent), im gehobenen Dienst dagegen nahezu gleich (45:44 Prozent).22 Es wäre daher verfehlt anzunehmen, das BMJ stünde hinsichtlich der Durchsetzung mit ehemaligen Parteigenossen an der Spitze der Ministerien. Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass knapp die Hälfte der Beamten und Angestellten des im Aufbau befindlichen Justizministeriums der NSDAP angehört hatte. Die Erklärung dafür ist einfach: Als Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP) und Staatssekretär Walter Strauß (CDU) das neue Bundesjustizministerium 1949 errichteten, taten sie dies in Anlehnung an Strukturen des früheren Reichsjustizministeriums. Zugleich übernahmen sie zahlreiche Mitarbeiter, die teilweise schon vor 1933 im Justizdienst tätig gewesen waren, vielfach aber erst im »Dritten Reich« Karriere gemacht hatten. Zahlenmäßig findet sich die höchste NS-Belastung in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. Während am Anfang noch versucht wurde, in der Führung der Abteilungen und Referate ein ungefähres Gleichgewicht zwischen

19 Der Staatssekretär des Innern im Bundeskanzleramt an sämtliche Bundesminister (gez. Dr. Globke), 08.05.1950, in: BArch B 136/5116. 20 Der BMdJ an den Staatssekretär des Innern im Bundeskanzleramt, 20.05.1950, mit einer Übersicht zum Rundschreiben des Staatssekretärs des Innern im Bundeskanzleramt vom 08.05.1950 – BK 1741/50 mit Stand vom 15.05.1950, in: BArch B 136/5116. 21 Ebd. Im mittleren Dienst waren hingegen kaum ehemalige Parteimitglieder zu finden, unter den Mitarbeitern im einfachen Dienst gab es kein einziges ehemaliges NSDAP-Mitglied. 22 Zusammenstellung [des Bundeskanzleramts] der Mitglieder der früheren NSDAP für alle Ministerien, in: BArch B 136/5116.

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Belasteten und Nicht-Belasteten zu halten, ging diese Balance aufgrund von Beförderungen und Neueinstellungen von Belasteten zunehmend verloren. Dabei ist schwer nachzuvollziehen, dass es 1949 nicht 35 unbelastete Juristen in Deutschland gegeben haben soll, um die leitenden Positionen in diesem besonders sensiblen Ministerium zu besetzen, in dem es um den Schutz von Recht und Verfassung ging. Offenbar hat man danach aber gar nicht gesucht – auch nicht unter den Emigranten. Bemerkenswert ist ferner, dass die Belastung in einigen Bereichen besonders hoch war. Dies gilt etwa für die Abteilung II (Strafrecht), aber auch für die Abteilung III (Wirtschafts- und Gesellschaftsrecht). So wiesen 1957 in der Abteilung II alle Referatsleiter eine mehr oder weniger braune Vergangenheit auf – auch der Abteilungsleiter Josef Schafheutle, der zwar kein Mitglied der NSDAP war, aber mehrfach seine Aufnahme beantragt hatte, unter anderem in einem persönlichen Schreiben an den damaligen Staatssekretär im Reichsjustizministerium, Roland Freisler. Seine Nicht-Mitgliedschaft ist daher zu relativieren: Schafheutle war kein Mitglied, aber nicht, weil er nicht wollte, sondern weil die Partei ihn nicht wollte – wegen seines katholischen Hintergrundes, den er selbst in seinen Gesuchen um Aufnahme in die Partei allerdings stets bestritt. Anders ausgedrückt: In der Abteilung II waren 1957 sämtliche Personen auf der Leitungsebene auf die eine oder andere Weise in das NS-Regime verstrickt gewesen – ausnahmslos.23 Für die anderen Abteilungen gilt Ähnliches, auch wenn nicht alle Abteilungen in gleichem Maße belastet waren. Erst seit den 1960er Jahren wurde die Belastung altersbedingt geringer. Wirklich frei von ehemaligen NSDAP-Angehörigen war das Ministerium aber erst mit der Pensionierung der Unterabteilungsleiter Gerhard Marquordt und Rudolf Franta 1978 und von Abteilungsleiter Günther Schmidt-Räntsch 1986.24

III. Individuelle Schuld und Verantwortung Für die Rosenburg-Kommission stellte dieser Befund allerdings nicht mehr als ein Zwischenergebnis dar. Denn die Mitgliedschaft in NSDAP oder SA war zwar ein Hinweis auf Regimenähe, aber keineswegs ein Beweis für Denken oder gar Handeln im Sinne der NS-Ideologie. Hierzu musste auch das aktive Verhalten der jeweiligen Personen im Einzelfall untersucht werden. Untersuchungsgegenstände der Rosenburg-Kommission waren deshalb ebenfalls die Kriterien und Maßstäbe, die unter Berücksichtigung des individuellen Handelns vor 1945 bei der Einstellung sowie bei Beförderungen nach 1949 galten. Ausgangspunkt hierbei war der im Nürnberger Juristenprozess 1947 entwickelte Maßstab für das Verhalten von Ministerialbeamten, Richtern und Staatsanwälten. Dies betraf nicht nur die Übernahme von Juristen in den Dienst des BMJ, die als belastet gelten mussten, sondern auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Un23 Ebd., S. 316 ff. Zur Problematik Schafheutle siehe vor allem S. 327 ff. 24 Vgl. hierzu ausführlich ebd., S. 262 ff.

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recht der NS-Justiz, die Bereinigung der Gesetze von nationalsozialistischer Ideologie und die Strafverfolgung von NS-Tätern durch die deutsche Justiz.25 Weitere Themen der Untersuchung waren die Amnestierung von NS-Tätern und ihre vorzeitige Haftentlassung, durch die bis 1958 nahezu alle Verurteilten freikamen, sowie die Rolle, die das BMJ bei der Erarbeitung des Einführungsgesetzes zum Ordnungswidrigkeitengesetz vom 24. Mai 1968 spielte. Denn dadurch wurde die Beihilfestrafbarkeit in bestimmten Fallkonstellationen herabgesetzt, was im Zusammenspiel mit der sogenannten Gehilfenrechtsprechung zur rückwirkenden Verjährung zahlloser nationalsozialistischer Gewaltverbrechen am 8. Mai 1960 führte. Ferner wurde der Frage nachgegangen, inwieweit das BMJ bei der verschleppten Rehabilitierung der Opfer der NS-Justiz mitwirkte  – etwa bei strafgerichtlichen Entscheidungen, bei Erbgesundheitsurteilen oder in der Militärjustiz −, sodass die Urteile des Volksgerichtshofs und der Standgerichte erst am 28. Mai 1998 bzw. 17. Mai 2002 durch Bundesgesetz pauschal aufgehoben wurden, Kriegsverratsfälle sogar erst im September 2009. Untersucht wurde auch die Haltung des BMJ zum Alliierten Kontrollrat, etwa zum Kontrollratsgesetz Nr. 1 vom 20. September 1945 über die Aufhebung von insgesamt 24 Gesetzen, Verordnungen und Erlassen aus der Zeit des »Dritten Reiches«, sowie zu den Nürnberger Prozessen und ihren Urteilen, die in der Bundesrepublik bekanntlich weithin umstritten waren. Und schließlich widmete sich die Kommission ebenfalls der Haltung des Ministeriums zur Zentralen Rechtsschutzstelle, die bis 1953 im Geschäftsbereich des BMJ angesiedelt war, ehe sie in den Verantwortungsbereich des Auswärtigen Amtes wechselte, wo sie bis zu ihrer Auflösung 1968 deutsche Kriegsverbrecher vor Strafverfolgung im Ausland warnte und die Arbeit der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen erschwerte.26 Im Ergebnis ist festzustellen, dass viele führende Mitarbeiter des BMJ in den Ministerien des NS-Staates direkt an der Umsetzung des Führerwillens beteiligt gewesen waren. Andere hatten durch ihre Tätigkeit an Gerichten, etwa an den Sondergerichten des »Dritten Reiches«, an den Gerichten in den besetzten Gebieten oder in der Militärgerichtsbarkeit, die verbrecherischen Gesetze, die im Reichsjustizministerium vorbereitet und auf den Weg gebracht worden waren, angewandt und damit ebenfalls schwere persönliche Schuld auf sich geladen. In keinem einzigen Fall gab es deswegen nach 1949 Disziplinarverfahren oder gar Entlassungen, obwohl schon seit Mitte der 1950er Jahre immer wieder Informationen über die NS-Belastung einzelner Mitarbeiter des Bundesjustizministeriums an die Öffentlichkeit gelangten. In allen Fällen, in denen es solche Hinweise gab, wurden von der Ministeriumsspitze  – dem Minister oder dem Staatssekretär Walter Strauß – Untersuchungen veranlasst. Sie endeten stets mit

25 BGBl I 2007, S. 2614, Art. 4 Gesetz zur Bereinigung des Besatzungsrechts § 1 (2). 26 Vgl. hierzu Oliver Schröm / A ndrea Röpke, Stille Hilfe für braune Kameraden. Das geheime Netzwerk der Alt- und Neonazis, 2. Aufl., Berlin 2002.

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einem Gutachten von Josef Schafheutle, in dem dieser erklärte, dass ein Fehlverhalten nicht vorliege und Konsequenzen daher nicht gezogen werden müssten. Was personelle Kontinuität bedeutet, wird jedoch erst am Einzelfall wirklich erkennbar. Nehmen wir etwa das Beispiel Franz Massfeller. Vor 1945 war er im Reichsjustizministerium für Familien- und Rasserecht zuständig. Er nahm an den Folgebesprechungen zur Wannsee-Konferenz teil und war ein bekannter Kommentator des Blutschutz- und Ehegesundheitsgesetzes von 1935. Dies führte jedoch nicht dazu, dass ihm die Einstellung im BMJ versagt blieb. Vielmehr stieg er hier zum Ministerialrat auf und leitete bis 1960 ausgerechnet das Referat für Familienrecht. Ein anderer Fall ist Eduard Dreher, vor 1945 Erster Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck, wo er zahlreiche Todesurteile wegen Nichtigkeiten erwirkte. Im BMJ wurde er nach 1949 ein hochrangiger Mitarbeiter in der für das Strafrecht zuständigen Abteilung II und leitete viele Jahre lang die Kommission zur Großen Strafrechtsreform. Der schon genannte Josef Schafheutle war vor 1945 im Reichsministerium der Justiz tätig, wo er an der Ausarbeitung des politischen Sonderstrafrechts beteiligt war, unter anderem bei der Verordnung über die Bildung von Sondergerichten und beim Gesetz über die Verhängung und den Vollzug der Todesstrafe sowie beim Gesetz zur Abwehr politischer Gewalttaten. Nach 1949 leitete er als Ministerialdirektor die Abteilung II Strafrecht im BMJ. Ein viertes Beispiel ist Walter Roemer. Vor 1945 war er Erster Staatsanwalt am Sondergericht München und dort unter anderem als Vollstreckungsstaatsanwalt an der Hinrichtung von belgischen und französischen Widerstandskämpfern und Mitgliedern der »Weißen Rose« beteiligt. Nach 1949 wurde er Ministerialdirektor und Abteilungsleiter für Öffentliches Recht und Verfassungsrecht im BMJ. Max Merten war von 1942 bis 1944 Kriegsverwaltungsrat beim Befehlshaber der Wehrmacht in Thessaloniki, wo er als Leiter der Abteilung »Verwaltung und Wirtschaft« einer der Organisatoren der Ausplünderung und Deportation von mehr als 50.000 griechischen Juden war – also einer der größten deutschen Kriegsverbrecher. 1952 wurde er im BMJ Leiter des Referats »Zwangsvollstreckung«. Hans Gawlik war vor 1945 Staatsanwalt am Sondergericht Breslau, nach 1945 zunächst Verteidiger des SD (Sicherheitsdienst des Reichsführers SS) und einiger Einsatzgruppenführer in den Nürnberger Prozessen und wurde 1949 Leiter der Zentralen Rechtsschutzstelle im BMJ. Ernst Kanter schließlich, der vor 1945 als »Generalrichter« im besetzten Dänemark eingesetzt war, wo er an 103 Todesurteilen mitwirkte, arbeitete seit 1951 als Ministerialrat und ab 1954 als Ministerialreferent und Strafrechtsreferent im Bundesjustizministerium, bevor er 1958 zum Bundesgerichtshof versetzt wurde, wo er als Senatspräsident dem 3. Strafsenat vorstand. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.

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IV. Thomas Dehler und Walter Strauß Die Frage, weshalb insbesondere die beiden Gründerväter des Ministeriums, Bundesjustizminister Thomas Dehler und sein Staatssekretär Walter Strauß, derart problematische Personen für das Ministerium auswählten und darauf verzichteten, gezielt Remigranten anzuwerben oder von vornherein nach unbelasteten Mitarbeitern zu suchen, ist nicht überzeugend zu beantworten. Sowohl Dehler als auch Strauß waren persönlich gänzlich unbelastet. Dehler war mit einer Jüdin verheiratet, Strauß entstammte einem jüdischen Elternhaus. Beide waren im »Dritten Reich« Diskriminierungen ausgesetzt gewesen. Strauß hatte die NSZeit nur mit Mühe in Berlin-Wannsee überlebt. Seine Eltern waren in das KZ Theresienstadt deportiert worden und dort an den Folgen der Haft gestorben. Dennoch scheuten sich Dehler und Strauß nicht, hochgradig NS-belastete Mitarbeiter einzustellen. Sie handelten dabei nicht in Unkenntnis der Vergangenheit, sondern in vollem Wissen. Im Fall Dehlers ist dies besonders auffällig, wie das Beispiel Willi Geiger zeigt, dem Dehler im »Dritten Reich« als Verteidiger am Sondergericht Bamberg gegenübergestanden hatte, wo Geiger als Staatsanwalt fungierte. Dennoch machte Dehler ihn nach 1945 zunächst zu seinem persönlichen Referenten und betraute ihn danach sogar mit der Aufgabe, das Bundesverfassungsgerichtsgesetz zu entwerfen. Anschließend sorgte Dehler auch noch dafür, dass Geiger Richter sowohl am Bundesgerichtshof als auch am Bundesverfassungsgericht wurde. Geiger war damit der Einzige, der in der Bundesrepublik beide Positionen gleichzeitig bekleidete. Bei Strauß verhält es sich ähnlich. Auch er stellte in vollem Wissen um die Vergangenheit belastete Personen ein, wenn diese seinen Maßstäben genügten. Die wichtigsten Kriterien für Dehler wie für Strauß waren fachliche Kompetenz und ministerielle Erfahrung. Hinzu kamen persönliche Bekanntschaften und in geringerem Maße politische Empfehlungen. Politische Belastungen wurden zwar, wie der Briefwechsel zwischen Dehler und Strauß zeigt, häufig intern erörtert. Soweit sich erkennen lässt, führten sie aber nur selten dazu, einem gewünschten Mitarbeiter die Einstellung zu versagen. Dehler wie Strauß ging es also in erster Linie um die Arbeitsfähigkeit des Ministeriums, die ihrer Meinung nach nur zu gewährleisten war, wenn seine Angehörigen über die nötige fachliche Eignung und über Erfahrung verfügten. In seiner Ansprache anlässlich der Amtsübergabe von Bundesjustizminister Hans-Joachim von Merkatz an seinen Nachfolger Fritz Schäffer im Oktober 1957 sprach Strauß sogar ausdrücklich von einem »Schatz an Erfahrungen«, den man »aus den vergangenen Jahrzehnten, ungeachtet des dutzendjährigen Reiches«, in die Arbeit des Bundesministeriums der Justiz mitgebracht habe.27 Wörtlich erklärte er: »Ein nicht unerheblicher Teil 27 Staatssekretär Dr. Strauß, Ansprache anlässlich der Amtsübergabe am 30. Oktober 1957, in: Ansprachen aus Anlaß von Amtsübergaben (Minister, Staatssekretäre) im Bundesministerium der Justiz Bonn 1953–1971, Bonn o. J., Maschinenschriftl. Manuskript, S. 3 f.

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von uns ist früher schon in der reichsministeriellen Arbeit tätig gewesen, und ich glaube, wenn wir nicht diese Kollegen und ihre Erfahrungen gehabt hätten, wären wir nicht in der Lage gewesen, die Arbeit der vergangenen acht Jahre zu erfüllen.«28 Bei anderen Gelegenheiten führte Strauß zudem häufig das Bild des unpolitischen Beamten an, den es doch gerade im »Dritten Reich« nicht gegeben hatte und den es auch danach nicht gab, weil Politiknähe und Politikberatung zum Wesen und zu den Kernaufgaben der Ministerialverwaltung gehören. Was Strauß meinte, war indessen etwas anderes: Er bezog sich auf die Tatsache, dass die handwerklichen Fähigkeiten der Juristen rasch an die jeweiligen politischen Gegebenheiten und Wünsche angepasst werden können und die juristische Tätigkeit damit im Grunde vom jeweiligen Regime unabhängig ist. Zwar gilt diese Feststellung für viele Berufe. Doch Juristen erfüllen im staatlichen Gefüge eine zentrale Funktion, indem sie an der Formulierung von Gesetzen mitwirken und als Staatsanwälte oder Richter an deren Durchsetzung maßgeblich beteiligt sind. Sie sind damit Techniker der Macht und tragen zur Herrschaftssicherung und Stabilisierung politischer Regime bei. Im »Dritten Reich« war diese Instrumentalisierung der Juristen nahezu vollständig gelungen – ob aus innerer Überzeugung, pragmatischem Karrierewillen oder unter Anpassungsdruck, wurde nach 1949 oft nicht mehr hinterfragt. Es überrascht demnach nicht, dass Dehler und Strauß und auch die ihnen nachfolgenden Minister und Staatssekretäre bei der Auswahl der Mitarbeiter nach ministerieller Vorerfahrung suchten. Denn die juristischen Fertigkeiten, die im Bundesjustizministerium von den Beamten verlangt wurden, unterschieden sich in der Form kaum von denjenigen, die im Reichsjustizministerium für vorrangig gehalten worden waren. Zynisch könnte man sagen, dass es für den juristischen »Handwerker« gleichgültig ist, ob er ein Gesetz zum Verbot von Mischehen formuliert oder ein Gesetz zur Gleichstellung des nichtehelichen Kindes mit den ehelichen Kindern im Erbrecht. Tatsächlich haben manche Mitarbeiter auf der Rosenburg genau dies getan: Sie formulierten im »Dritten Reich« das »Gewohnheitsverbrechergesetz« und bestimmten nun die Diskussion um die Strafrechtsreform. Sie wirkten an der Reform des Jugendstrafrechts 1943 mit und waren jetzt federführend bei der Reform des Jugendgerichtsgesetzes von 1953. Sie waren als Kriegsrichter in der Wehrmacht oder in der Kriegsgerichtsbarkeit des »Dritten Reiches« tätig und planten nun ein neues Wehrstrafrecht für die Bundeswehr. Ähnliches galt im Bereich des Familienrechts, des Zwangsvollstreckungsrechts oder des Gesellschaftsrechts der Unternehmen. Ministerielle Erfahrung war demnach ein Schlüsselkriterium bei der Re­ krutierung des Personals für das BMJ nach 1949 und lässt sich auch statistisch nachweisen. So waren schon 1949 27 Mitarbeiter des Bundesministeriums der Justiz ehemalige Mitarbeiter des Reichsjustizministeriums. Davon wurden etliche sofort in den Bundesdienst übernommen, andere kamen 1950 dazu, die 28 Ebd., S. 4.

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übrigen bis 1955. Alle hatten selbstverständlich dem nationalsozialistischen Rechtswahrerbund angehört und waren – mit Ausnahme von Josef Schafheutle, von dem bereits mehrfach die Rede war – auch Mitglieder der NSDAP gewesen.29 Wenn zudem vonseiten des Ministeriums stets behauptet wurde, die fachliche Qualifikation sei für die Aufnahme in den ministeriellen Dienst das ausschlaggebende Kriterium gewesen, so wird dies ebenfalls durch die Akten belegt. Von den 170 näher untersuchten Personen waren 155 Volljuristen, von denen 94 eine Examensnote von »vollbefriedigend« bis »sehr gut« im Staatsexamen nachweisen konnten. Wenn man bedenkt, dass in der Regel nur etwa 15 Prozent der Examenskandidaten diese Noten erreichen, bedeutete dies, allein auf die Examensnote bezogen, eine bemerkenswerte Ansammlung von Spitzenjuristen. Nimmt man die Promotion als Gradmesser für Expertise hinzu, wird dieses Bild weiter bestätigt. So fanden sich unter den 155 Volljuristen insgesamt 90 promovierte Mitarbeiter sowie zwei weitere, denen ein Doktortitel »honoris causa« verliehen wurde.30 Wenig überraschend ist auch die Tatsache, dass die meisten Ministerialbeamten im BMJ eine konservative Einstellung aufwiesen, die häufig auf Traditionen der alten Beamtenschaft vor 1933 Bezug nahm und die NS-Diktatur als Phase eines »irregeleiteten« Rechtsverständnisses begriff. So ließ sich in der Formulierung der neuen Gesetze »braunes« Gedankengut auch kaum ausmachen. Dies wurde im Übrigen schon allein dadurch verhindert, dass die politischen Rahmenbedingungen, unter denen die Bundesrepublik, zumal mit Beginn der europäischen Integration seit Anfang der 1950er Jahre und später in der NATO, Mitglied der westlichen Wertegemeinschaft geworden war, eine Neuorientierung erzwangen. Wenn sich einzelne Anknüpfungspunkte an frühere Vorstellungen – etwa im Jugendstrafrecht – fanden, beruhten sie nicht nur auf der persönlichen NS-Erfahrung derjenigen, die nun an der Formulierung der entsprechenden Gesetze in der Bundesrepublik mitwirkten, sondern entsprachen auch dem »Zeitgeist« der 1950er Jahre. Denn dieser hatte sich hinsichtlich der Werteordnung der deutschen Gesellschaft seit den 1930er Jahren kaum geändert und wich erst Mitte der 1960er Jahre neuen Gedanken, die sich dann auch in der Gesetzgebung bemerkbar machten. Dennoch sind in den 1950er Jahren Tendenzen erkennbar, etwa im Familienrecht oder im Jugendstrafrecht, die in die Zeit vor 1945 zurückweisen. Weit mehr noch lässt sich dies über die Verfolgung von NS-Tätern sagen, die von der deutschen Justiz geradezu verhindert wurde – begleitet und gefördert auch vom Bundesjustizministerium, das auf Drängen der Bundesregierung und unter dem Druck der Öffentlichkeit die Straffreiheitsgesetze von 1949 und 1954 vorbereitete, nach denen bis 1958 praktisch alle NS-Straftäter freikamen bzw. von weiterer Strafverfolgung verschont blieben. Der Ulmer EinsatzgruppenProzess 1958 und die Auschwitz-Prozesse in den 1960er Jahren sowie die jahrzehntelangen Verzögerungen bei der Aufhebung der NS-Unrechtsurteile sind 29 Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 264 f. 30 Ebd., S. 261 f.

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Beispiele für die Schwierigkeiten im strafrechtlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit. Zudem wurde die in mehreren Phasen diskutierte Frage der Verjährung durch die sogenannte kalte Verjährung konterkariert, die mit dem schon erwähnten Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz vom 10. Mai 1968 einherging, sodass auch Schwersttäter, gegen die bereits Strafverfahren eingeleitet waren oder gegen die Verfahren hätten eingeleitet werden müssen, straffrei ausgingen. Bei all diesen Entwicklungen war das Bundesjustizministerium – neben dem Bundesgerichtshof – maßgeblich beteiligt. Die Erklärung dafür liegt nicht nur in dem allgemeinen Bestreben der Bundesregierung, die alten Eliten wieder zu verwenden, um den Übergang vom »Dritten Reich« zur Bundesrepublik technisch so reibungslos wie möglich verlaufen zu lassen, sondern auch an der personellen Zusammensetzung des BMJ.

V. »Kommunikatives Beschweigen« der Vergangenheit Vor diesem Hintergrund erscheint es erstaunlich, dass der Rechtsstaat in der Bundesrepublik trotzdem gut funktioniert hat. Dass dies so war, lässt sich nicht bestreiten. Daher ist zu fragen, ob die Wiederverwendung ehemaliger Funktionseliten, so belastet sie im Einzelfall waren, nicht nur im BMJ, sondern in allen Bundesministerien und Behörden und darüber hinaus in weiten Teilen der Gesellschaft, nicht unter Umständen sogar sinnvoll war, weil von ihnen nicht nur das Funktionieren des neuen Staates abhing, sondern weil damit auch eine Integrationsleistung erbracht wurde, die anders als in der Weimarer Republik wesentlich zur inneren Stabilität der Bundesrepublik beitrug. Bereits im Parlamentarischen Rat war dafür mit Artikel 131, der die Wiedereinstellung der ehemaligen Angehörigen des Öffentlichen Dienstes vorsah, die Basis geschaffen worden. Das heißt: Die Wiederverwendung der alten Funktionseliten war ein Grundprinzip der politisch-administrativen Gestaltung der Bundesrepublik. Diejenigen, die nach 1949 in der Rosenburg am Neuaufbau der deutschen Justiz mitwirkten, konnten sich dadurch der Illusion hingeben, in einer Welt zu leben, die nicht durch die Erinnerung an eine dunkle Vergangenheit beschwert war.31 Tatsächlich wurde auf der Rosenburg über die Vergangenheit offenbar wenig oder gar nicht gesprochen, wie den schriftlichen Quellen zu entnehmen ist und wie auch Zeitzeugen bestätigen. Jeder wusste vom anderen, aber man behielt das Wissen für sich. Der Philosoph Hermann Lübbe hat deshalb von einem »kommunikativen Beschweigen« der Vergangenheit gesprochen.32 Diesen Vorgang gab es auch auf der Rosenburg. Dass dies so war, geschah nicht zufällig. Denn das »Beschweigen« der Vergangenheit war ein Grundanliegen der deutschen Bevölkerung, die sich 1949 nicht als Täter, son31 Zur Problematik des Artikels 131 siehe ebd., S. 154 ff. 32 Hermann Lübbe, Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten, Paderborn 2007, S. 32.

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dern als Opfer sah – als Opfer der alliierten Besatzungspolitik im Allgemeinen und der Politik der Entnazifizierung im Besonderen. Daher sollte so schnell wie möglich ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen und diese dem Vergessen anheimgegeben werden. Doch dieser Weg hatte seinen Preis. So kamen nahezu alle Parteigänger des NS-Regimes, sogar diejenigen, die schlimmste Verbrechen begangen hatten, ohne oder mit nur geringen Strafen davon. An diesem Skandal wirkte, wenn man etwa das Einführungsgesetz von 1968 betrachtet, das Bundesjustizministerium in Gestalt von Referatsleiter Eduard Dreher in der Abteilung II mit. Die von Hubert Rottleuthner 2001 gestellte Frage »Hat Dreher ›gedreht‹?« kann heute positiv beantwortet werden. Und auch in der Gesetzgebung zeigte sich vielfach altes Denken: im Staatsschutzrecht, bei der Reform des Jugendstrafrechts, bei der Frage der Aufhebung der Erbgesundheitsurteile oder bei den verbotenen Plänen alter Wehrmachtrichter zur Einführung einer neuen Wehrstrafgerichtsbarkeit und nicht zuletzt beim sogenannten V-Buch, mit dem unter Umgehung des Parlaments und unter Bruch der Verfassung eine Notstandsregelung angestrebt wurde. Dabei gab es bereits früh erste Hinweise auf die Problematik, die sich damit verband. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel und die sogenannten Braunbücher der DDR veröffentlichten die Namen vieler Täter und benannten präzise deren Taten.33 Gänzlich unbeachtet lassen, wie Staatssekretär Walter Strauß lange Zeit meinte, konnte man die Vergangenheit damit nicht mehr. Auf einer Konferenz der Justizminister des Bundes und der Länder im niedersächsischen Bad Harzburg wurde daher Anfang Oktober 1958 die »Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen« in Ludwigsburg gegründet, um vor allem im Ausland neuem Misstrauen in den demokratischen Aufbau der Bundesrepublik entgegenzuwirken. Strauß verfasste allerdings noch am 5. Dezember 1958 vorsorglich einen Vermerk über die Wiederverwendung von Richtern und Staatsanwälten der nationalsozialistischen Zeit, in dem er erklärte, die Bundesjustizverwaltung habe »die Vorwürfe gegen die in ihrem Geschäftsbereich wiederverwendeten früheren Richter und Staatsanwälte geprüft«. Es bestehe »kein Anlass zu irgendwelchen Maßnahmen«.34

33 Siehe hierzu ausführlich Annette Weinke, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949–1969 oder Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002, S. 76–100. Vgl. auch Miquel, Ahnden oder amnestieren?, S. 23–81, sowie Michael Lemke, Kampagnen gegen Bonn. Die Systemkrise der DDR und die West-Propaganda der SED 1960–1963, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41 (1993), H. 2, S. 153–174. 34 Walter Strauß, Vorsorglicher Vermerk zur Wiederverwendung von Richtern und Staatsanwälten der nationalsozialistischen Zeit, 05.12.1958, in: BArch Koblenz B 141/50451 Angriffe gegen Angehörige der Bundesjustiz wegen ihrer früheren Amtstätigkeit ­(1933–1945), Materialband 2 (Betr. Große Anfrage der Fraktion der SPD betr. Fragen der Justizpolitik), Bl. 29.

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Diese Grundhaltung galt auch für den Umgang mit den Enthüllungen in der westdeutschen Presse und aus der DDR und die Behandlung gezielter Strafanzeigen gegen Mitarbeiter des Ministeriums. Diese lösten zwar interne Ermittlungen seitens der Abteilung Z, insbesondere durch das Personalreferat, aus, doch die Vorwürfe wurden durchweg verworfen. Eine wirkliche Prüfung fand gar nicht statt. Die betroffene Person wurde lediglich um eine Stellungnahme gebeten, die von einem anderen Ministeriumsmitarbeiter zusammengefasst und ausgewertet wurde, der in der Regel selbst belastet war. Negative Konsequenzen ergaben sich aus diesen Vorwürfen kaum. Nur in einem Fall (Heinrich Ebersberg) wurde die betreffende Person nicht befördert. Eine weitere Person (Max Merten) wurde gebeten, das Ministerium zu verlassen. Im Falle Eduard Drehers mag die NSVergangenheit ein Hindernis bei seiner Nicht-Beförderung zum Abteilungsleiter gewesen sein; aktenkundig ist diese aber nicht.

VI. Die »zweite Schuld der Deutschen« Eine Veränderung trat erst allmählich ein. Dazu trugen unterschiedliche Entwicklungen bei, etwa die Uraufführung des Kinofilms »Rosen für den Staatsanwalt« von Wolfgang Staudte mit Martin Held und Walter Giller in den Hauptrollen, in dem 1959 die Problematik der personellen Kontinuität im Bereich der Justiz aufgezeigt wurde.35 Fast zeitgleich wurde die vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund organisierte Wanderausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« eröffnet.36 Und im juristischen Raum zeigten – ebenfalls fast zeitgleich – der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess und danach der Eichmann-Prozess in Jerusalem sowie die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main, wie groß das Problem tatsächlich war, dem man sich nun auch im Bundesjustizministerium nicht länger 35 Der Film wurde 1960 gegen den Willen des Bundesinnenministers mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet. Vgl. Miquel, Ahnden oder amnestieren?, S. 50 f. 36 Siehe hierzu den hektographierten Ausstellungskatalog von Wolfgang Koppel, Ungesühnte Nazijustiz. Hundert Urteile klagen ihre Richter an, Karlsruhe 1960. Vgl. ebenfalls Gottfried Oy / Christoph Schneider, Die Schärfe der Konkretion: Reinhard Strecker, 1968 und der Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Historiografie, 2., korr. Aufl., Münster 2014; Stephan A. Glienke, Die Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« (1959–1962). Zur Geschichte der Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen, Baden-Baden 2008; Weinke, Die Verfolgung von NS-Tätern, S. 101–108; sowie Michael Kohlstruck, Reinhard Strecker – »Darf man seinen Kindern wieder ein Leben in Deutschland zumuten?«, in: Ders. / Claudia Fröhlich (Hg.), Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S. 185–212. – Anlässlich seines 85. Geburtstags wurde Reinhard Strecker für seine Arbeit im Oktober 2015 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. »Besser spät als nie«, bemerkte dazu der Journalist Christoph David Pior­ kowski im Berliner Tagesspiegel. Siehe »NS-Justiz-Aufklärer Reinhard Strecker. Wider die Politik des Vergessens«, in: Tagespiegel online, 14.10.2015, abrufbar unter: https:// www.tagesspiegel.de/wissen/ns-justiz-aufklaerer-reinhard-strecker-wider-die-politikdes-vergessens/12445686.html (zuletzt aufgerufen am 21.04.2020).

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verschließen konnte. 1965 geschah dann endlich, was schon 1949 möglich gewesen wäre: die Einführung der Regelanfrage beim Berlin Document Center über die Mitgliedschaft in der NSDAP. Bis 1965 hatte es eine solche Regelanfrage nicht gegeben. Erst jetzt, am 15. Februar 1965, sah sich Staatssekretär Arthur Bülow genötigt, dieses Instrument auch für das BMJ zu nutzen – allerdings nur bei Neueinstellungen und Beförderungen, nicht zur Überprüfung des gesamten Personals. Mit dem Regierungswechsel zur Großen Koalition 1966 und der Ernennung Gustav Heinemanns zum Bundesjustizminister setzte sich dieser Wandel in der Beurteilung der NS-Belastung fort. Einen wichtigen Beitrag dazu leistete der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der 1960 mit eigenen Hinweisen die Ergreifung Adolf Eichmanns in Argentinien vorantrieb und mit den von ihm vorbereiteten drei Auschwitz-Prozessen von 1963 bis 1968 für große öffentliche Aufmerksamkeit weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus sorgte.37 Dass er seine Erkenntnisse über den Aufenthaltsort von Eichmann nicht den deutschen Behörden, sondern dem Leiter der Israel-Mission in Köln, Felix Elieser Shinnar, übermittelte, spricht für sich, da die Versäumnisse der bundesrepublikanischen Justiz im Umgang mit NS-Tätern allzu offenkundig waren. Der deutsch-jüdische Publizist Ralph Giordano hat deshalb 1987 von einer »zweiten Schuld der Deutschen« gesprochen.38 Diese Schuld wog umso schwerer, als sie vor allem die Berufsgruppe der Juristen selbst betraf, die ihrer besonderen Verantwortung, von der eingangs die Rede war, nicht gerecht geworden war. Dabei hatte der ehemalige Reichsjustizminister der Weimarer Republik und Rechtsphilosoph Gustav Radbruch, der nach der Machtübernahme der NSDAP am 30. Januar 1933 als erster deutscher Professor aus dem Staatsdienst entlassen worden war, bereits 1946 einen Weg gewiesen, der hätte beschritten werden können – wenn man nur gewollt hätte. Die »Radbruchsche Formel« besagte, dass im Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit eine Situation eintreten könne, in der »der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ›unrichtiges Recht‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat«.39 In Situationen aber, in denen »Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt« werde, wie es offenbar im Nationalsozialismus der Fall gewesen war, wenn also »die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet« werde, sei »das Gesetz nicht etwa nur ›unrichtiges Recht‹«. Denn dann, so Radbruch, entbehre es »überhaupt der Rechtsnatur«.40 Diese Überlegung, wonach legalistisches Unrecht nicht nur keine Anwendung finden darf, sondern – etwa als Ver37 Vgl. hierzu vor allem Ronen Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht. Mit einem Vorwort von Andreas Voßkuhle, München 2013, sowie Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie, München 2009. 38 Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Hamburg 1987. 39 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Süddeutsche Juristenzeitung 1 (1946), Nr. 5, S. 105–108, hier 107. 40 Ebd.

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brechen gegen die Menschlichkeit – sogar strafbewehrt sein kann, bildete nach 1945 die Grundlage der Nürnberger Prozesse. In der Bundesrepublik nach 1949 wurde dieser Gedanke aber rasch wieder verdrängt. Stattdessen zog man sich auf eine Gesetzesauslegung zurück, die es ermöglichte, dass Straftäter, selbst wenn sie schwerste Verbrechen begangen hatten, straffrei davonkamen, weil ihr Unrecht legalistisch gedeckt gewesen war. Der Blick in die Geschichte macht also deutlich, wie wichtig es ist, sich an diese Vorgänge zu erinnern und die jüngere deutsche Rechtsgeschichte mehr als bisher zu einem Thema der juristischen Ausbildung zu machen. Gerade weil die jüngeren Generationen keine persönliche Erinnerung an die Diktatur mehr haben – weder an die nationalsozialistische noch an die kommunistische –, muss man sie damit konfrontieren. Dieser Auffassung waren auch die Mitglieder im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages, der sich im November 2016 mit den Erkenntnissen der »Akte Rosenburg« befasste. Alle Fraktionen waren sich dort einig, dass angehende Juristen dazu angehalten werden müssten, nicht nur Rechtsanwendung zu lernen, sondern mehr als bisher auch über die rechtsethischen Grundlagen ihres zukünftigen Berufs nachzudenken. Über die Frage, ob es dazu einer Ergänzung des Deutschen Richtergesetzes bedarf, mag man streiten. Aber klar ist, dass Juristinnen und Juristen nicht nur Wissen benötigen, um ihren verantwortungsvollen Beruf auszuüben, sondern dass sie dabei auch ein Gewissen haben sollten. Sie sollten also nicht nur über handwerkliches Können verfügen, sondern auch eine ethische Grundhaltung besitzen, die für das Funktionieren eines Rechtsstaates – gerade in schwierigen Zeiten – unverzichtbar ist.

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Exkulpationsstrategien: Das Verhalten von Mitarbeitern des Bundesministeriums der Justiz Im Jahr 1947 wurden im Rahmen des Nürnberger Juristenprozesses anderthalb Dutzend Juristen nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 und den dort verbürgten Tatbeständen zur Verantwortung gezogen. Namentlich wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen; nicht etwa wegen eines Tatbestandes der Rechtsbeugung, sondern wegen der Auswirkungen ihres Handelns auf die Menschen bzw. die gesamte Menschheit.1 Das Bemerkenswerte an dem Gesamtkomplex der »Nürnberger Prozesse« ist, dass einerseits Verantwortlichkeit nicht nur für Juristen sowie andere Berufssparten wie Ärzte oder Industrielle und Bürokraten wie Abgeordnete und Mitarbeiter von Ministerien festgestellt worden ist, sondern dass andererseits zudem eine darüber hinausgehende Dynamik beobachtet werden konnte. Jedem Angeklagten wurde nach den Grundsätzen eines fairen Verfahrens ein Verteidiger zur Seite gestellt. Dabei wurde von den Siegermächten bewusst ein Maßstab angelegt, der dem von den Nazis in ihren eigenen Verfahren zugrunde gelegten entgegengesetzt war.

I.

Die Rolle der Verteidiger

Diese Verteidiger waren nahezu ausnahmslos deutsche Juristen.2 Zwar waren sie nicht unbedingt mit einer untadeligen NS-Vergangenheit behaftet,3 jedoch auch nicht zwingend erfahrene Strafjuristen und schon gar keine Juristen mit Erfah1 Christoph Safferling / Martin Luber, »Der Tempel der deutschen Justiz muss wieder eingeweiht werden« – Der Nürnberger Juristenprozess nach 70 Jahren, in: Juristische Arbeitsblätter (JA) 2017, S. 881–887; Joachim Perels, Der Nürnberger Prozess im Kontext des Nachkriegsgeschichte: Ausgrenzung und späte Rezeption eines amerikanischen Urteils, in: Kritische Justiz 31 (1998), H. 1, S. 84–98; Klaus Kastner, »Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen«: Der Nürnberger Juristenprozess 1947, in: JA 1997, S. 699–706. 2 Ausnahmen waren im Krupp-Prozess der US-amerikanische Anwalt Joseph S. Robinson, der Friedrich Bülow vertrat, und Warren A. Magee, der für Ernst von Weizäcker im Wilhelmstraßenprozess tätig war; vgl. Hubert Seliger, Politische Anwälte? Die Verteidiger der Nürnberger Prozesse, Baden-Baden 2016, S. 232 ff., 171. 3 Vgl. Seliger, Politische Anwälte?, S. 83; einzelne monografische Darstellungen auch: Martin Luber, Strafverteidigung im Nürnberger Juristenprozess am Beispiel des Angeklagten

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rung in Rechtsvergleichung und amerikanischem Strafverfahrensrecht. Daher schloss man sich in Gruppen zusammen, um Probleme zu analysieren, zu diskutieren und Verteidigungsstrategien zu entwickeln. Diese wurden dann später, in der frühen Bundesrepublik, letztlich auch weitergetragen. So sind Exkulpationsnarrative entwickelt worden, deren verkrustete Stärke heute noch spürbar ist.4 Im sogenannten Heidelberger Juristenkreis, unter Leitung des Heidelberger Professors Eduard Wahl, wurde sich getroffen und für Amnestierungen von Kriegsverbrechern sowie für frühzeitige Entlassungen von Verhafteten und Verurteilten eingesetzt.5 Dabei wurde zudem massiv Lobbyarbeit betrieben – mit Erfolg, wie wir heute wissen. Das Bundesjustizministerium (BMJ) beobachtete diesen Juristenkreis, indem unter dessen Anleitung ein Ministerialrat namens Alfons Wahl zu den Treffen geschickt wurde.6 Die be­treffenden Unterlagen befinden sich beim Max-Planck-Institut in Heidelberg, sind jedoch noch nicht systematisch aufgearbeitet worden.

II. Strafverfolgungsstruktur Grob geschätzt kam es seit 1945 bis heute zu etwa 7.000 Verurteilungen – eine auffallend geringe Zahl, verglichen mit den rund 100.000 eingeleiteten Ermittlungsverfahren in Deutschland.7 Auch wenn noch heute Verfahren stattfinden, so lässt sich feststellen, dass die Jahre zwischen 1945 und 1949 die Hochphase der justiziellen Aufarbeitung mit rund 5.000 Verfahren und Verurteilungen darstellt.8 Das heißt, dass seit der Gründung der Bundesrepublik bis heute insgesamt etwa 2.000 Verurteilungen zu verzeichnen sind.9 Daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen: Die Hauptlast der Strafverfolgung trugen die Alliierten.

Oswald Rothaug, Berlin 2018; Benedikt Salleck, Strafverteidigung in den Nürnberger Prozessen, Berlin 2016. 4 Vgl. Manfred Görtemaker / Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016, S. 51. 5 Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, 2. Aufl., München 2003, S. 163 ff.; Seliger, Politische Anwälte?, S. 393 ff.; Ulrich Herbert, BEST – Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 2001, S. 454 ff.; Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 145 ff. 6 Vgl. Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 147 f. 7 Detaillierte Zahlen finden sich bei Andreas Eichmüller, Keine Generalamnestie. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik, München 2012; Ders., Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch westdeutsche Justizbehörden seit 1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), H. 4, S. 621–640. 8 Eichmüller, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch westdeutsche Justizbehörden, S. 638. 9 Eine Analyse auch mit Bezug zur Aufarbeitung in der SBZ bzw. der DDR findet sich bei Hans-Christian Jasch / Wolf Kaiser, Der Holocaust vor deutschen Gerichten: Amnestieren, Verdrängen, Bestrafen, Ditzingen 2017.

Exkulpationsstrategien

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Soweit deutsche Gerichte und Staatsanwaltschaften involviert waren,10 stellten diese mehrheitlich ihre Verfolgungstätigkeit mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland ein.11 Grund dafür waren die frühen Amnestien von 1949 und 1954.12 Insbesondere Konrad Adenauer wollte mit dem Grundgesetz und der Gründung der Bundesrepublik einen Neubeginn schaffen und die Verbrechen der Vergangenheit ruhen lassen.13 Ein erneuter kleiner Anstieg ist erst 1958 mit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess14 zu verzeichnen, gefolgt von den unter großer medialer Aufmerksamkeit abgehaltenen Auschwitz-Prozessen in Frankfurt am Main15 sowie der Einrichtung der Zentralen Stelle in Ludwigsburg, die teilweise mit bedeutenden Ressourcen ausgestattet dafür sorgten, dass konzentriert und engagiert, aber auch gegen erhebliche Widerstände Vorermittlungen durchgeführt werden konnten, vor allem auch in Bezug auf Verbrechenskomplexe, die im durch den Eisernen Vorhang schwer zugänglichen16 Osteuropa stattgefunden hatten.17 Andererseits hatte man bereits 1960 den Totschlag ohne große Diskussion verjähren lassen.18 Im Jahr 1968 wurde durch die Verabschiedung des Einführungsgesetzes zum Ordnungswidrigkeitengesetz (EGOWiG) bzw. am 20. Mai 1969 durch das Urteil des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs die Verjährung der Beihilfe zum Mord festgestellt, was im Zuge der sogenannten kalte 10 Ausführlich zum Wiederaufbau der Justiz in Deutschland: Edith Raim, Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945–1949, München 2013. 11 Marc von Miquel, Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004, S. 146. 12 Zu diesen Gesetzen: Christoph Safferling, in: Manfred Görtemaker / Christoph Safferling (Hg.), Die Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit – eine Bestandsaufnahme, Göttingen 2013, S. 169, 176 ff.; zu deren Wirkung: Eichmüller, Keine Generalamnestie, S. 41. 13 Norbert Frei, Amnestiepolitik in den Bonner Anfangsjahren. Die Westdeutschen und die NS-Vergangenheit, in: Kritische Justiz (KJ) 29 (1996), H. 4., S. 484–494, hier 487; Safferling, in: Görtemaker / Ders., Die Rosenburg, S. 169 ff. 14 Einzelheiten auch bei Eichmüller, Keine Generalamnestie, S. 188 ff. 15 Gerhard Werle / Thomas Wandres, Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Strafjustiz. Mit einer Dokumentation des Auschwitz-Urteils, München 1995, S. 24 f.; zuletzt auch zu den weiteren Auschwitz-Prozessen: Werner Renz, Auschwitz vor Gericht. Fritz Bauers Vermächtnis und seine Missachtung, Hamburg 2018, sowie Ronen Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht, München 2013. 16 Zu diesen Problemen vgl. Werner Renz, Auschwitz als Augenscheinsobjekt. Anmerkungen zur Erforschung der Wahrheit im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess, in: Mittelweg 36, 10 (2001), H. 1, S. 63–72. 17 Dazu auch Anette Weinke, Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958–2008, Darmstadt 2008; Kerstin Hofmann, »Ein Versuch nur – immerhin ein Versuch«. Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg unter der Leitung von Erwin Schüle und Adalbert Rückerl (1958–1984), Berlin 2018. 18 Christoph Safferling, in: Frank Lüttig / Jens Lehmann (Hg.), Die letzten NS-Verfahren. Genugtuung für Opfer und Angehörige – Schwierigkeiten und Versäumnisse der Strafverfolgung, Baden-Baden 2017, S. 19, 30 m. w. N.

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Amnestie im Grunde zu einem vollständigen Erliegen der weiteren Verfolgung führte.19 In einem unheilvollen Zusammenwirkung zwischen Bundesjustiz­ ministerium und Bundesgerichtshof hatte man erreicht, was konservative Kreise bereits 1965 in der Verjährungsdebatte im Bundestag gefordert hatten, womit sie sich aber nicht durchsetzen konnten: Nur Exzesstaten wurden noch bestraft. Nur derjenige, dem nachgewiesen werden konnte, dass er eigenmächtig getötet oder etwa im Rahmen von Ghettoräumungen willkürlich Personen erschossen hatte, wurde als »Mörder« verurteilt.

III. Exkulpationsstrategien Bemerkenswert ist jedoch das Versagen der deutschen Justiz im Umgang mit Justizunrecht. Nur ein einziger Justizjurist wurde für die Teilnahme an einem nationalsozialistischen Unrechtsurteil von einem deutschen Gericht verurteilt.20 Wegen der Ermordung von Hans von Dohnanyi, Wilhelm Canaris, Hans Osten, Dietrich Bonhoeffer und anderen Widerstandskämpfern in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Flossenbürg wurde ein Staatsanwalt, SS-Standartenführer Walter Huppenkothen, zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt.21 Allerdings taugt die Person Huppenkothens noch nicht einmal als Feigenblatt für die Justiz, da er als Einsatzgruppenmitglied und Abteilungsleiter im Reichssicherheitshauptamt auf das Engste mit dem NS-Terror verbunden und an der Ermordung Tausender von Menschen in Polen persönlich beteiligt war. Grund für diese mangelhafte Aufarbeitung des Justizunrechts waren insbesondere die bereits im Nürnberger Juristenprozess entwickelten Exkulpationsstrategien. Fritz Bauer bezeichnete die dogmatischen Spitzfindigkeiten der bundesrepublikanischen Justiz als »ständischen Schutzwall«, der gegen die Ahndung von Justizmorden errichtet wurde.22 Eine Erklärung lautete beispielsweise: »Wenn ich zwischen 1933 und 1945 mein Amt aufgegeben hätte, dann 19 Ausführlich hierzu Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 399 ff. 20 Dazu: Thomas Vormbaum, Die »strafrechtliche Aufarbeitung« der nationalsozialistischen Justizverbrechen in der Nachkriegszeit, in: Görtemaker / Safferling, Die Rosenburg, S. 142–168, hier 151. 21 BGH, Urteil vom 19.06.1956, 1 StR 50/56, NStZ 1996, S. 485; dazu auch: Günter Hirsch, Die bundesdeutsche Justiz und die Aufarbeitung von NS-Justizunrecht, in: Bundesministerium der Justiz und UWK-BMJ (Hg.), Die Rosenburg. 2. Symposium: »Die Verantwortung von Juristen im Aufarbeitungsprozess«, Berlin 2013, S. 56–69, abrufbar unter: https:// www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Rosenburg_Symposium_2.pdf. Ausführlich zu diesem verworrenen Prozess und den Wandlungen der Rechtsprechung des BGH: Arnd Koch, Der »Huppenkothen-Prozess«. Die Ermordung der Widerstandskämpfer um Pastor Dietrich Bonhoeffer vor den Schranken der Augsburger Justiz, in: Arnd Koch / Herbert Veh (Hg.), Vor 70 Jahren  – Stunde Null für die Justiz? Die Augsburger Justiz und das NS-Unrecht, Baden-Baden 2017, S. 131–158. 22 Zit. nach Koch / Veh, ebd., S. 131 f.

Exkulpationsstrategien

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wäre ein richtiger Nazi an meine Stelle gerückt.« Die Behauptung »wenn ich nicht die Nazibefehle ausgeführt hätte, wäre ich ins KZ gekommen«, könnte als eine Art Nötigungsnotstand interpretiert werden. Für Juristen besonders naheliegend wurde vorgebracht: »Ich habe doch nur die Gesetze angewandt.« Ein anderes Verteidigungsvorbringen, das sehr wichtig für das Selbstverständnis war, das sich in der Nachkriegszeit bis weit in die 1960er Jahre hinein zeigte, lautete: »Ich habe nur der Aufrechterhaltung der Ordnung, vor allem der Ordnung im Krieg, gedient.« Dazu war ein hartes Durchgreifen erforderlich, sonst wäre die Gesellschaft zusammengebrochen, jedenfalls hätte der Krieg nicht weitergeführt werden können. Pauschal wurde dadurch »nur Schlimmeres verhindert«. Häufig zu hören und zu lesen ist schließlich auch die Behauptung, »im Amt einen AntiNazi-Geist gelebt« zu haben. Diese Schutzbehauptungen finden sich in entsprechenden Unterlagen immer wieder auf die eine oder andere Art verklausuliert. Die Instrumentalisierung und Wirkweise dieser Exkulpationsstrategien sollen im Folgenden anhand der Biografien von sechs Mitarbeitern im Bundesministerium der Justiz im Jahr 1957 exemplifiziert werden. 1.

Heinrich Ebersberg

Begonnen werden soll mit Heinrich Ebersberg. Ebersberg, Jahrgang 1911 und bereits seit 1933 in der SA aktiv, war seit 1936 im Reichsjustizministerium der persönliche Referent zunächst des Staatssekretärs Franz Schlegelberger, den er im April 1941 zur Tagung der OLG-Präsidenten und -Generalstaatsanwälte zur Unterdrückung der Verfolgung von Euthanasiemorden im Zusammenhang mit der sogenannten T4-Aktion begleitete,23 und später von Minister Franz Gürtner und Otto Thierack. Die Tagung im Haus der Flieger in Berlin mit den führenden Strafverfolgern des »Dritten Reiches« wies schon eine besonders intensive Verbundenheit mit dem Führer als personifiziertem Volkswillen und oberstem Gesetzgeber – und damit einer Grundprämisse der nationalsozialistischen Rechtsideologie  – auf.24 Als persönlicher Referent des Ministers war Ebersberg verantwortlich für ein Programm, das sich »Korrektur fehlerhafter Justizurteile« nannte.25 Was verbarg sich hinter diesem am 18. September 1942 zwischen Reichsjustizminister Otto Thierack, Staatssekretär Curt Rothenberger, Reichsführer SS Heinrich Himmler und Hitlers Sekretär Martin Bormann vereinbarten Programm? Wenn im Reichsjustizministerium der Verdacht aufkam, dass an einem beliebigen Gericht des großen Reiches ein Strafurteil zu gering 23 Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 342 m. w. N. Zu dieser Tagung und der T4-Aktion insgesamt: Anika Burkhardt, Das NS-Euthanasie-Unrecht vor den Schranken der Justiz: eine strafrechtliche Analyse, Tübingen 2015. 24 Vgl. dazu zuletzt Kai Ambos, Nationalsozialistisches Strafrecht. Kontinuität und Radikalisierung, Baden-Baden 2019, S. 36 ff. 25 Vgl. Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 48 f.

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Christoph Safferling

ausgefallen war, dann konnte es überprüft und entschieden werden, ob nicht vielleicht die Strafvollstreckung dieses Urteils der Gestapo überantwortet werden sollte, was bedeutete, dass die betreffende Person ins Konzentrationslager kam und dem Programm »Vernichtung durch Arbeit« anheimgegeben wurde.26 Die Aufgabe Ebersbergs war es also, dem Minister die jeweiligen Akten vorzutragen.27 Später gestand dieser zwar, dieses Amt innegehabt zu haben – was sich ohnehin nur schwer leugnen ließ –, behauptete aber, selbstverständlich nur Schlimmeres verhindert zu haben. Schließlich habe er stets nur referiert, indem er dem Minister schlicht die Akte vorgetragen hatte, er hätte nie votiert und somit keinen Entscheidungsvorschlag unterbreitet.28 In Anbetracht der Tatsache, dass sich diese Aussage mit der herrschenden Ministeriumskultur nur schwer vereinbaren ließ, erweist sie sich als schier hanebüchen.29 Im Nürnberger Juristenprozess wurde den Angeklagten nicht geglaubt, dass sie nicht gewusst hätten, was sich hinter diesem Programm verbarg: »One man can keep a secret, two men may, but thousands, never«.30 Die Einstellung Ebersbergs im BMJ war zwar nicht ohne Hindernisse, doch einmal eingestellt, waren alle Zweifel an seiner Eignung verstummt.31 Im Zuge der Braunbuch-Kampagne geriet Ebersberg in den Verdacht, schwere Schuld auf sich geladen zu haben, doch letztlich wurde ihm von den bundesdeutschen Behörden uneingeschränkt Glauben geschenkt. In diesem Zusammenhang wurde zwar ein Disziplinarverfahren gegen ihn initiiert, jedoch nur, weil aufgrund der massiven Anschuldigungen ein Strafverfahren gegen ihn eröffnet wurde.32 Immerhin hatten Hunderte von Akten seinen Schreibtisch passiert, wodurch unzählige Menschen zu Unrecht ins Konzentrationslager verbracht wurden und sich dort zu Tode arbeiten mussten. Interessanterweise findet sich im Rahmen der Entnazifizierungsprozesse in seiner Personalakte ein Schreiben des Strafverteidigers Kurt Behling aus Berlin, der für Ebersberg eine Art Zeugnis ausstellte, welches die Worte enthielt: »ja, wenn man denn überhaupt irgendetwas erreichen wollte im Ministerium in solchen Fällen, wo es darum ging, dass jemand vielleicht der Gestapo überantwortet werde, dann hat man bei Herrn Ebersberg angerufen. Bei dem konnte man dann vielleicht ein gutes Wort einlegen, und es 26 Vgl. Christoph Safferling, Lex Rosenburg: Überfällig oder überflüssig?, in: Zeitschrift für Didaktik der Rechtswissenschaft (ZDRW) 6 (2019), H. 1, S. 62–75, hier 70. 27 Vgl. Ebd. 28 Vgl. RGBl. 1936, S. 89. 29 Vgl. Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 341. 30 US Government Printing Office, Trials of War Criminals before the Nuremberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Vol. III, Washington 1951, S. 1081; zum Juristenprozess in Nürnberg auch: Safferling / Luber, »Der Tempel der deutschen Justiz muss wieder eingeweiht werden«, S. 881. 31 Vgl. zu der Einstellung Ebersbergs im BMJ auch Markus Apostolow, Der »immerwährende Staatssekretär«: Walter Strauß und die Personalpolitik im Bundesministerium der Justiz 1949–1963, Göttingen 2019, S. 239 ff. 32 Vgl. Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 342.

Exkulpationsstrategien

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gab vielleicht eine Entscheidung im eigentlichen Sinne«.33 Hier wird der Widerspruch zur Behauptung Ebersbergs deutlich, nur referiert, aber nie votiert zu haben.34 Demzufolge wäre ein derartiger Anruf obsolet gewesen, denn Ebersberg hätte gar nichts ausrichten können. Trotz derartiger Diskrepanzen haben sich die Entscheidungsträger in den späten 1940ern und 1950ern bis in die frühen 1970er Jahre hinein auf die Seite des Unrechts gestellt. Das Strafverfahren gegen Ebersberg wurde aus Gründen der Verjährung im Zusammenhang mit dem EGOWiG eingestellt. In der Folge wurde auch das Disziplinarverfahren auf Weisung von Staatssekretär Hermann Maassen eingestellt, obwohl dort die Verjährungsfrist keine Bedeutung hat. Immerhin wurde Ebersberg – anders als ursprünglich vorgesehen  – nicht zum Unterabteilungsleiter der Abteilung III befördert.35 Das Referat für das Wirtschaftsverwaltungsrecht und Energierecht leitete er aber bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1973. 2.

Heinrich Grützner

Ein zweiter Fall: Heinrich Grützner. Grützner war nicht im Reichsjustizministerium, sondern Staatsanwalt in Potsdam. Der 1905 geborene Pfarrersohn war bereits am 23. Februar 1933, also vor der sogenannten Machtergreifung, in die NSDAP eingetreten.36 In Potsdam war er in eine überaus interessante Begebenheit involviert: Am 30. Juni 1934 wurde Kurt von Schleicher im Zuge des Röhm-Putsches gemeinsam mit seiner Frau von Gestapo- und SS-Angehörigen in seiner Villa in Babelsberg ermordet.37 Wenig später kam die zuständige Polizei und damit auch Heinrich Grützner als zuständiger ermittelnder Staatsanwalt an den Tatort. Die vorgefundene Szenerie führte ihn zu dem Schluss, dass hier offensichtlich ein politisch motivierter Mord vorlag. Daher rief er im Reichsjustizministerium an und meldete diesen Verdacht, konnte verhängnisvollerweise allerdings nur eine Telefonnotiz hinterlassen, da der zuständige Unterabteilungsleiter bzw. Referatsleiter in diesem Moment nicht zugegen war. So kam es, dass auch die Hausleitung davon Kenntnis erhielt. Zeitgleich verbreitete bereits 33 Bei Rechtsanwalt Behling hatte man auf der Rosenburg auch vor der Einstellung Ebersbergs schon nachgefragt; Apostolow, Der »immerwährende Staatssekretär«, S. 240. 34 Vgl. Safferling, Lex Rosenburg, S. 71. 35 Zur Tätigkeit der Abteilung III und den Kontinuitäten im Wirtschaftsrecht vgl. Jan Thiessen, Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsrechtler im Schatten der NS-Vergangenheit, in: Görtemaker / Safferling, Die Rosenburg, S. 204–295. 36 Personalakte Grützner im BMJV, PA P 11-G 12. 37 Vgl. zum Folgenden auch: Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, München 2001, S. 442 ff., sowie die sehr frühe Darstellung von Theodor Eschenburg, Zur Ermordung des Generals Schleicher, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 71–95. Der Autor hatte außerdem die Möglichkeit, Grützner zu dem Vorfall zu befragen. Der Vorfall ergibt sich auch aus der Anlage zum Entnazifizierungsfragebogen vom 03.01.1949 in der Personalakte der StA beim OLG Celle als Teil der PA Grützner P 11-G 12.

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Christoph Safferling

der preußische Ministerpräsident Hermann Göring im Radio seine Theorie vom Staatsnotstand und ließ verlautbaren, dass der letzte Reichskanzler der Weimarer Republik Kurt von Schleicher verhaftet werden sollte, sich seiner Verhaftung aber widersetzte und bei dem Festnahmeversuch von den Polizeibeamten in Notwehr erschossen worden war. Der junge Staatsanwalt Grützner hatte bei der Besichtigung des Tatorts mit Hilfe des Rechtsmediziners und Zeugenbefragungen offenbar etwas anderes festgestellt und sowohl einen Selbstmord Schleichers als auch eine Tötung in Notwehr ausgeschlossen. Ihm wurde indes nachdrücklich untersagt, diese Version des Ablaufs öffentlich zu wiederholen. Seiner Personalakte zufolge suchte ihn noch in derselben Nacht um 23.30 Uhr (!) eine Delegation des Reichsjustizministeriums, angeführt vom damaligen Staatssekretär Roland Freisler, zu Hause auf und drohte ihm, er käme ins Konzentrationslager, wenn er noch einmal behauptete, dass Herr von Schleicher ermordet worden sei. Bei diesem nächtlichen Besuch war übrigens auch Hans von Dohnanyi, damals persönlicher Referent von Reichsjustizminister Franz Gürtner, dabei. Gürtner ist es wahrscheinlich zu verdanken, dass dieser ungeheuerliche Vorgang überhaupt aktenkundig geworden und geblieben ist.38 Heinrich Grützner ist also ein Beispiel dafür, dass man später sagen konnte, »hätte ich nicht der Nazi-Ideologie treu gefolgt, dann wäre ich ins Konzentrationslager gekommen«. Nachweislich ist dies freilich kein Fall, in dem es zur angedrohten Konsequenz kam. Dennoch wurde Grützner von den besagten Verteidigern instrumentalisiert, indem er in verschiedenen Prozessen mit einer entsprechenden Aussagegenehmigung des Bundesjustizministeriums als Zeuge auftrat.39 In persönlicher Hinsicht ebenfalls interessant ist die Tatsache, dass Grützners Promotion mit der durchschnittlichen Note »rite« bewertet wurde, er bei seiner Bewerbung im Bundesjustizministerium aber vorgab, »summa cum laude« promoviert zu sein und eine Habilitation nur daher unterblieb, weil der Krieg ausbrach.40 Schon aufgrund seiner nicht allzu guten Examina hatte er Schwierigkeiten, im Justizministerium aufgenommen zu werden. Darüber konnte aber die Partei hinweghelfen bzw. im Speziellen die FDP-Verbindungen zu Dehler, die dann über einen kleinen Umweg über die Landesjustizverwaltung Heinrich Grützner den Weg ins Ministerium ebneten.41 Er war dort zuständig für das internationale Strafrecht; freilich ein operatives Referat und keines der großen, begründenden dogmatischen Referate. Aber er ist sicherlich, auch durch seine späteren Veröffentlichungen und die Herausgeberschaft der Zeitschrift 38 Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940, S. 446. 39 Vgl. die Ladungen in der Personalakte Grützners: Ladung LG Düsseldorf vom 08.04.1965, PA Grützner P 11-G 12, Bl. 174; Ladung LG Köln vom 09.04.1965, PA Grützner P 11-G 12, Bl. 177; Ladung LG Essen vom 03.12.1965, PA Grützner P 11-G 12, Bl. 194; Ladung LG Düsseldorf vom 05.04.1966, PA Grützner P 11-G 12, Bl. 199. 40 Personalakte im BMJV, PA P 11-G 12; vgl. auch Brief Grützner an Dehler vom 04.10.1949, BMJV BEW 60, Bl. 1. 41 Personalakte der StA OLG Celle, Bl. 2 – Teil der Personalakte im BMJV, PA P 11-G 12.

Exkulpationsstrategien

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Goltdammer’s Archiv42, eine der bekanntesten Figuren. Über diese nebenamtlichen Tätigkeiten war man im Fall Grützners im BMJ im Übrigen nicht besonders begeistert.43 Bis heute trägt der renommierte Kommentar des internationalen Strafrechts seinen Namen.44 3.

Eduard Dreher

Auch jenseits des Kontextes der »kalten Amnestie« durch das EGOWiG, für die Eduard Dreher ein Großteil der Verantwortung übernehmen muss, trat dieser mit seiner stark positivistischen Einstellung in Erscheinung, getreu dem Motto: Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein. Eduard Dreher, Jahrgang 1907, war erster Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck.45 Dorthin wurde er keineswegs zwangsweise versetzt. Vielmehr bewarb er sich als Staatsanwalt in Dresden auf eigene Initiative beim Sondergericht in Tirol. Nach eigener Aussage tat er dies aus »Liebe zu den Bergen«, in Wirklichkeit aber aus Karrieregründen.46 Er war ein unglaublich arbeitsamer, sehr fleißiger Staatsanwalt und hat die Verfahren geradezu an sich gezogen und abgearbeitet. Gegen Ende des Krieges wurde er in das Büro des Generalstaatsanwalts in Innsbruck befördert und war dort als eine Art stellvertretender Behördenleiter tätig. Nach Ende des Krieges wurde Dreher erst am 3. Juli 1945 aus Österreich ausgewiesen. Wörtlich lautet das Schreiben des Generalstaatsanwalts Ernst Grünewald aus Innsbruck: »Ihre Verabschiedung erfolgt nur aus dem Grunde, weil die Voraussetzung für eine Weiterverwendung in einem öffentlichen Amte als Deutscher Staatsangehöriger nicht gegeben ist. Die Überprüfung ihrer Dienstlichen Tätigkeit bei der StA und GenStA hat keinen Anlass zu einer Beanstandung ergeben.«47

Auf dieses Schreiben hat er im späteren Verlauf der Entnazifizierung immer wieder hingewiesen, um zu belegen, dass er seine Tätigkeit nach Recht und Gesetz 42 Goltdammer’s Archiv ist die älteste deutschsprachige Strafrechtszeitschrift. Sie wurde 1853 durch den königlichen Obertribunalsrat Theodor Goltdammer als »Archiv für Preußisches Strafrecht« gegründet und trug ab 1880 den Titel »Archiv für Strafrecht«. In der NS-Zeit wurde auch das »Archiv« gleichgeschaltet und erschien zwischen 1935 und 1944 als Strafrechtswissenschaftliches Ergänzungsblatt der »Deutschen Justiz«, dem Organ der Akademie für Deutsches Recht, herausgegeben von Karl Klee, Roland Freisler und Otto Thierack. 1953 sollte die Zeitschrift zum 100. Geburtstag wieder zum Leben erweckt werden. Grützner war die Herausgeberschaft vom Verlag aus angetragen worden. 43 Vermerk Winners vom 09.05.1952, BMJ PA P 11-G 12, Bl. 90, 93. 44 Heinrich Grützner / Paul-Günter Pötz / Claus Kreß / Nikolaos Gazeas (Hg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen. Sammlung und Kommentar. Loseblattwerk, München, Stand 2019. 45 Vgl. Safferling, Lex Rosenburg, S. 66. 46 Vgl. Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 331. 47 PA Dreher P 11-D 14, Bl. 20.

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Christoph Safferling

und nicht im Sinne der menschenverachtenden NS-Ideologie ausgeführt hatte. Mit einigem Erfolg.48 Er wurde entnazifiziert und kam nach einer kurzen Phase als Rechtsanwalt in Stuttgart auf die Rosenburg in Bonn. Ab Mitte der 1950er Jahre wurden gehäuft Anschuldigungen laut, dass er als Staatsanwalt in Innsbruck für Bagatellstraftaten Todesurteile erwirkt habe.49 Drei Fälle, Anton Rathgeber, Josef Knoflach und Karoline Hauser, sind in diesem Kontext relevant geworden. Die Anschuldigungen wurden aus der DDR lanciert und in den 1960er Jahren in der Braunbuch-Kampagne dann noch einmal verstärkt. Das gesamte Ausmaß seiner Tätigkeiten ist aber bis zur Rosenburg-Studie nicht bekannt geworden. Dabei war Dreher in Innsbruck in sehr viel mehr Fällen tätig und hat nicht nur durch die Beantragung von Todesstrafen seiner Verbundenheit zum nationalsozialistischen Rechtsdenken Ausdruck verliehen: Neben Rundfunkverbrechen (insgesamt 44 Fälle, 34 mit Beteiligung Drehers) und Verfahren wegen der sogenannten Volksschädlingsverordnung (insgesamt 59 Fälle, 41 mit Beteiligung Drehers) standen Verfahren wegen Schwarzschlachtungen an der Tagesordnung, also Straftaten nach der Kriegswirtschaftsverordnung (135 Fälle, 87 mit Beteiligung Drehers). Im ländlichen Tiroler Raum überrascht das nicht. Der Umgang damit war vergleichsweise milde. Todesstrafen gab es keine,50 und im Rahmen der Strafvollstreckung wurde im Einzelfall großzügig Gnadenaufschub zur Aufrechterhaltung der Landwirtschaft beschlossen.51 Dafür wurde in anderen Bereichen, vor allem bei Plünderungen und bei Mehrfachtätern, hart durchgegriffen. Im Zeitraum von 1940 bis 1944 beantragte Dreher als Sitzungsvertreter vor dem Sondergericht insgesamt 17 Mal die Todesstrafe. Neun Mal folgte das Gericht dem Antrag. In den drei bereits in den 1950er und 1960er Jahren bekannt gewordenen Fällen hatte Eduard Dreher wegen einfacher Plünderungen die Todesstrafe beantragt, und das teilweise unter abenteuerlicher Auslegung der Volksschädlingsverordnung.52 Das ohnehin extensive Nazi-Gesetz wurde von Dreher dann noch einmal ausgedehnt ausgelegt oder sogar analog angewendet. Als er damit konfrontiert wurde, berief er sich auf Erinnerungslücken. Selbst als man auf 48 Vgl. z. B. Karl Lackner, »Insofern war ich kein Fortschrittsmensch«, in: Thomas Horstmann / Heike Litzinger (Hg.), An den Grenzen des Rechts. Gespräche mit Juristen über die Verfolgung von NS-Verbrechen, Frankfurt a. M. 2006, S. 149–173, hier 166. 49 Vgl. Safferling, Lex Rosenburg, S. 66. 50 Im Gegensatz dazu forderte etwa der Kollege aus Wien, Karl-Heinz Nüse (Zur Behandlung der »Schwarzschlachtung« im Kriege, in: Deutsche Justiz [1940], S. 958–960), zur Abschreckung bei dem gemeinen Verrat und der niedrigen Gesinnung der »Schwarzschlachter« die schwerste Bestrafung und notfalls völlige Ausmerzung. Nüse war später auch im BMJ im Bereich des Staatsschutzes tätig, vgl. Hilde Farthofer, Neuausrichtung des Staatsschutzes nach 1945? Die Beispiele Bundesrepublik Deutschland, Italien und Österreich, Göttingen 2019, S. 74 ff. 51 Vgl. etwa den Fall Maria Mayrhofer und Alois Gertl, Landesarchiv Innsbruck KLs 161/1942. 52 Vgl. Safferling, Lex Rosenburg, S. 67.

Exkulpationsstrategien

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der Bonner Rosenburg die Akten aus Wien anforderte und ihm vorlegte, konstatierte er, lediglich die Gesetze angewendet zu haben. Diese Behauptung gerät zumindest dann ins Wanken, wenn deutlich wird, dass Dreher die Verurteilung in analoger Rechtsanwendung nach § 2 Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) erreichte und tatbestandlich gar keine Plünderung vorgelegen hatte. Eine »schlichte Gesetzesanwendung« wie von Dreher behauptet, erscheint damit zumindest fraglich.53 Zwar war eine analoge Rechtsanwendung von den Nationalsozialisten in das Strafrecht eingeführt worden, allerdings wurde sie 1945 von den Alliierten im Rahmen einer oberflächlichen Entnazifizierung der Gesetze umgehend gestrichen.54 Dennoch ist überaus zweifelhaft, inwieweit diese Auslegung für Dreher in den jeweiligen Situationen tatsächlich zwingend war. Die Legitimation hierfür bot ihm später sein Abteilungsleiter im Bundesjustizministerium Josef Schafheutle, der in einem eigens hierfür angefertigten Gutachten zu dem Schluss kam, Dreher hätte nur die Todesstrafe beantragen können.55 Interessant ist allerdings auch eine Stellungnahme Drehers selbst bezüglich des Gutachtens seines Vorgesetzten, in der er 1957 interessante Ausführungen zu der Frage der Relevanz des Analogieverbots im Strafrecht machte. Er führte aus, es sei rechtsstaatlich nicht verpflichtend, und im Übrigen hätte er auch durch eine erweiternde Auslegung, wie das nach 1945 auch in der Bundesrepublik Deutschland lege ­artis gemacht wurde, zu diesem Ergebnis kommen können; ihm sei der gewählte Weg der Analogie jedoch »dogmatisch sauberer« erschienen.56 In Wirklichkeit zeigte der auf Karriere schielende Staatsanwalt in Innsbruck eine Hinwendung zum materiellen Unrechtsbegriff, zur Idee des »totalen Strafrechts«, und folgte der zunehmenden Entformalisierung des Strafrechts. Er stand insoweit voll auf dem Boden der nationalsozialistischen Strafrechtsideologie.57 Bemerkenswert ist, dass es sich bei Eduard Dreher um eine Person handelte, die das materielle Strafrecht in der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich geprägt hat. Das tat er nicht nur als Unterabteilungsleiter der Strafrechtsabteilung auf der Rosenburg, sondern vor allem auch als Verfasser des führenden Kommentars zum Straf­ gesetzbuch, dessen sich jeder Amtsrichter bediente.58 4.

Wolfang Fränkel

Eine weitere Person, die zwar nicht im engeren Kreis des Bundesjustizministeriums, wohl aber im Geschäftsbereich des BMJ beschäftigt war, ist W ­ olfgang Fränkel. Er war seit 1950 bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe und vom 53 54 55 56 57 58

Vgl. Vermerk Lüttger, 18.11.1960, in: PA Dreher P 11-D 14, Bl. 85 ff. Vgl. Safferling, in: Görtemaker / Ders., Die Rosenburg, S. 169, 172 ff. Vgl. Gutachten Schafheutle vom 22.09.1959, BEW 65/I Bl. 178. Vgl. Ergänzende Stellungnahme Dreher vom 06.11.1959, BEW 65/I Bl. 188. Hierzu Ambos, Nationalsozialistisches Strafrecht, S. 38 ff. Vgl. Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 330.

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3. März 1962 bis zum 24. Juni 1962 Generalbundesanwalt mit der bislang kürzesten Amtszeit in dieser Position. Grund dafür war die Präsentation der Broschüre mit dem Titel »Von der Reichsanwaltschaft zur Bundesanwaltschaft« am 23. Juni 1963 in Ostberlin durch Greta Kuckhoff, einem Mitglied der Widerstandgruppe Rote Kapelle, die selbst 1943 vom Reichskriegsgericht zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Auf 130 Seiten wurde akribisch genau mit Faksimile-Ablichtungen aus den entsprechenden Verfahrensakten dargelegt, dass der 1905 geborene Pastorensohn Wolfgang Immerwahr Fränkel als Hilfsarbeiter bei der Reichsanwaltschaft für sogenannte Nichtigkeitsbeschwerden zuständig war und dort massenhaft in Verfahren im Wege der Sonderrevision Urteile verschärft und etlichen Angeklagten so zu einem Todesurteil »verhalf«.59 Ziel dieser 1940 auf Drängen von Roland Freisler, damals Staatssekretär im Reichsjustizministerium, im gesamten Deutschen Reich eingeführten Maßnahme war es, unter Aufrechterhaltung eines formalen Scheins den nationalsozialistischen Machtanspruch »durch Abschreckung und ›Unschädlichmachung‹ zu sichern«.60 Fränkel musste daraufhin von Wolfgang Stammberger, dem damaligen Bundesjustizminister, in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden. Beachtenswert ist natürlich, dass Fränkel seit 1951 beim damaligen Oberbundesanwalt, so hieß die Behörde Generalbundesanwalt früher,61 bereits als Bundesanwalt gearbeitet hatte, bevor er als Behördenleiter gleichsam prominent wurde. Zunächst bot Fränkel aufgrund der Vorwürfe in einer ersten Aussprache dem Minister seinen sofortigen Rücktritt selbst an, stellte sich später aber als Opfer von Intrigen und feindlichen kommunistischen Angriffen dar. Eine überfraktionelle Dreierkommission, bestehend aus Thomas Dehler (FDP), Hans Wilhelmi (CDU) und Gerhard Jahn (SPD), war vom Bundesjustizministerium unmittelbar nach den laut werdenden Vorwürfen eingerichtet worden, um die Anschuldigungen zu prüfen und eine Empfehlung auszusprechen.62 Der Dreierausschuss kam zu dem Schluss, dass Fränkel wegen der Tätigkeit im Staatsunrecht des NS-Regimes sowohl aus allgemeinpolitischen als auch aus justizpolitischen Gründen die Eignung zum Generalbundesanwalt fehle, auch wenn ihm bei seiner Tätigkeit in der Reichsanwaltschaft keine Amts- oder Dienstverfehlungen vorzuwerfen seien. Bemerkenswert ist dabei, dass Fränkels vormalige Vorgesetzte bei der Reichsanwaltschaft, die ihn im Übrigen auch zur Bundesanwaltschaft empfohlen hatten, Carl Kirchner und Hans Richter, Bundesrichter am

59 Zusammenfassend mit Beispielen: Malte Wilke, Staatsanwälte als Anwälte des Staates. Die Strafverfolgungspraxis von Reichsanwaltschaft und Bundesanwaltschaft vom Kaiserreich bis in die frühe Bundesrepublik, Göttingen 2015, S. 149 ff. 60 Vgl. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 1088. 61 In diesem Kontext wird derzeit am Lehrstuhl von Prof. Dr. Christoph Safferling, LL. M. (LSE) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg in Kooperation mit dem Historiker Prof. Dr. Friedrich Kießling der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt die Behörde der Generalbundesanwaltschaft historisch aufgearbeitet. 62 Vgl. PA BMJ P 41 – F3, Disziplinarverfahren Sonderakte Kopie für das BMJ, Bl. 291.

Exkulpationsstrategien

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Bundesgerichtshof waren und selbst als verantwortliche Reichsanwälte nach 1945 nie belangt wurden. Im besagten Disziplinarverfahren verteidigte sich Fränkel mit dem Exkulpationsmythos: »Das war erforderlich, um die Ordnung aufrechtzuerhalten.« Das eigentliche Ausmaß seiner Radikalität wird jedoch in der von ihm ausgeführten Behauptung in einem Originalfall deutlich, nämlich dass ein Tscheche, der eine deutsche Frau vergewaltigt, während alle deutschen Männer an der Front sind, schon deshalb die Todesstrafe verdiene, weil die deutschen Frauen ungeschützt seien. Noch 1964 proklamierte er: »Ich würde das heute genauso machen.«63 Die staatliche Ordnung aufrechtzuerhalten, lautete das Credo, und daran glaubten Personen wie Wolfgang Fränkel ohne Wenn und Aber. Es war aber nicht nur der (vermeintliche) Staatsnotstand, von dem sie glaubten, dass er ihr Handeln rechtfertigte.64 In diesem Handeln wird darüber hinaus die Einstellung deutlich, dass Strafrecht eingesetzt werden müsse, um die »deutsche Volksgemeinschaft zu schützen« und »rasseschädliche Bestandteile« auszusondern. Diese typisch nationalsozialistische Strafrechtsauffassung65 ist an zahlreichen Stellen ersichtlich und kann mit den Aussagen Wolfgang Fränkels im Disziplinarverfahren belegt werden. 5.

Walter Roemer

Ministerialdirektor Walter Roemer hat nur »Schlimmeres verhindert«. Der 1902 geborene Katholik war von 1933 bis 1945 erster Staatsanwalt am Landgericht München und dort als Leiter der »Strafvollstreckungs- und Begnadigungsabteilung« mit der Vollstreckung aller Urteile »vom Todesurteil bis zur kleinen Geldstrafe« sowie mit Gnadengesuchen befasst.66 Er war im Übrigen kein NSDAP-Mitglied. Die Position eines Vollstreckungsstaatsanwalts war nicht sonderlich begehrt, sodass davon ausgegangen werden kann, dass seine zwölfjährige Amtszeit in dieser Position auch Ausdruck einer verhinderten Karriere ist. Zwar wurde in Beurteilungen betont: »Gegen die politische Zuverlässigkeit des Staatsanwalts Dr. Walter Roemer bestehen keine Bedenken«,67 andererseits fiel Roemer auch nicht durch politisches Engagement für das nationalsozialistische Regime auf. Verhängnisvoll hätte ihm sein Tun aber im Rahmen des sogenannten Nachtund-Nebel-Erlasses werden können. Im Nacht-und-Nebel-Erlass wurde vorgesehen, dass Dissidenten, vor allem aus den nördlichen und westlichen besetzten 63 64 65 66

Ebd., Bl. 286. PA BMJ P 41 – F3, Akte des Untersuchungsführers Marquordt, Bl. 70. Dazu Ambos, Nationalsozialistisches Strafrecht, S. 57 f. BMJ PA Roemer P11-R12, Bd. 1, Roemer an Staatskommissar Auerbach vom 15.10.1947 [sic!]. 67 BMJ PA Roemer P11-R12 – Akten des Staatsministeriums der Justiz; dies ist ein Beispiel für die Falschbezeichnung Roemers als »Dr.« durch Dritte.

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Christoph Safferling

Gebieten, bei »Nacht und Nebel« einkassiert und ins Reichsgebiet gebracht werden sollten. Die Angehörigen wurden über den Verbleib nicht informiert; aufgrund von Geheimverfahren wurden betreffende Personen in Konzentrationslager verbracht. Dieses »Verschwindenlassen« ist auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus lateinamerikanischen Militärdiktaturen in den 1970er Jahren bekannt. Walter Roemer war für die Vollstreckung des Nacht-und-­ Nebel-​Erlasses und die Inhaftierung der Personen zuständig, die aufgrund dieses Erlasses in München einsaßen. Im Nürnberger Juristenprozess, in dem er am 24. April 1947 als Zeuge für die Anklage vernommen wurde,68 konnte er ein Bündel Briefe vorlegen, die er von nach dem Nacht-und-Nebel-Erlass verurteilten Personen gesammelt hatte, obwohl dies strengstens verboten war. Es handelte sich um Briefe an Angehörige, die unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit gelangen durften. Nach Ende des Krieges entschloss er sich, diese an die Alliierten zu übergeben, um den Verwandten wenigstens etwas zukommen zulassen. Darüber hinaus behauptete Roemer, ab Dezember 1944 die Vollstreckung von Todesurteilen verzögert zu haben. Tatsächlich ist die Verlegung von 147 Personen von Stadelheim in München in die Justizvollzugsanstalt Nürnberg aktenkundig, die aufgrund dieser Verlegung einer Vollstreckung des verhängten Todesurteils entgingen und den Krieg überlebten.69 Auch wenn seine Tätigkeit zu diesem Zeitpunkt nicht in vollem Maß honorig erschien, hatte er nach eigener Aussage gleichwohl Schlimmeres verhindert und so vielleicht jemandem das Leben gerettet. So wurde Walter Roemer über das bayerische Justizministerium in den Justizdienst wiedereingestellt und kam von dort mit Dehler, seinerzeit Präsident am Oberlandesgericht Bamberg, auf die Rosenburg, wo er jahrelang die Abteilung IV für Öffentliches Recht und Verfassungsrecht leitete. Damit lag die Entwicklung von Demokratie und Grundrechten unter dem Grundgesetz in den Händen einer Person, die – wenn auch ohne Parteibuch – eine tragende Rolle in der bayerischen Justiz während des Nationalsozialismus innegehabt hatte. Die in regelmäßigen Abständen, prominent vor allem von Simon Wiesenthal vorgetragene Behauptung, Walter Roemer habe die Geschwister Scholl ermordet, war zwar falsch, verfolgte den Abteilungsleiter aber zeit seines Lebens, sodass am Ende Bundesjustizminister Hans A. Engelhardt nach dem Tod Roemers im Jahr 1985 auch deshalb auf die Veröffentlichung eines Nachrufs verzichtete. Man befürchtete, mit einer solchen Würdigung in der Öffentlichkeit noch einmal Staub in der Sache des umstrittenen früheren Abteilungsleiters aufzuwirbeln.

68 BMJ PA Roemer P11-R12, Bd. 1, Vernehmungsprotokoll Roemers vom 24.04.1947 im Rahmen des Nürnberger Juristenprozesses; dazu auch Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 57 ff. 69 Vgl. dazu Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 349 m. w. N.

Exkulpationsstrategien

6.

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Wilhelm Dallinger

Wilhelm Dallinger, Jahrgang 1908, war ein bayerischer Vorzeigejurist. Er wurde in der mündlichen Prüfung des zweiten Examens am 3. Juli 1935 vom Kammergerichtsrat Werner Hoche direkt für den Staatsdienst im Reichsjustiz­ ministerium (RJM) rekrutiert70 und begann zwei Monate später als Hilfsarbeiter im RJM. Er war dort im Bereich des Strafrechts, des Strafverfahrensrechts und insbesondere des Jugendstrafrechts eingesetzt.71 Prominent sind seine Schriften in diesem Themengebiet, in denen er sich für die faschistische Jugenderziehung nach dem Vorbild Italiens auch in Deutschland ausspricht. Auch arbeitete er an der Reform des Reichsjugendgerichtsgesetzes von 1943 mit. Als Prototyp eines Opportunisten trat er am 1. Juli 1937 der NSDAP bei, als der Aufnahmestopp aufgehoben wurde.72 Sodann nahm er das Amt eines Blockhelfers wahr. Bedenken, dass es im Entnazifizierungsverfahren deshalb Schwierigkeiten geben könnte, waren daher durchaus berechtigt. Auch wieder Zugang zum Justizdienst zu finden, konnte schwierig werden. Den Weg ebnete ihm Art. 131 Grundgesetz und ein Empfehlungsschreiben seines Gönners Franz Exner,73 zunächst in den bayerischen Justizdienst und dann in das Bundesjustizministerium.74 Exner betonte in seinem Schreiben aber lediglich die juristischen Fähigkeiten Dallingers und sprach dessen politische Einstellung nicht an. Das wäre vielleicht auch etwas unglaubwürdig gewesen, denn zehn Jahre vorher hatte er Dallinger noch bescheinigt, dass dieser ein »politisch durchaus zuverlässiger und nationalsozialistisch gesinnter junger Mann« sei, den nur seine angespannte Finanzsituation davon abhalte, sich in nationalsozialistischen Verbänden zu betätigen. In seinem Entnazifizierungsverfahren betonte Dallinger selbst immer wieder, 70 KGRat Dr. Hoche (Vorsitzender der Prüfungskommission für große Staatsprüfung) erklärt D, dass er sich für die Einberufung ins RJM einsetzen werde, da Dallinger das bis jetzt in Bayern beste Ergebnis erzielt hätte. Personalakte OLG München A 514, unfol., Vermerk vom 12.07.1935. 71 Einzelheiten bei Christoph Safferling, Wilhelm Dallinger: NS-Kontinuität in der frühen Bundesrepublik und die Auswirkungen auf die Reform des Jugendstrafrechts, in: Christoph Safferling / Gabriele Kett-Straub / Christian Jäger / Hans Kudlich (Hg.), Festschrift für Franz Streng zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2017, S. 603–616. 72 Joachim Rückert, Einige Bemerkungen über Mitläufer, Weiterläufer und andere Läufer im Bundesministerium der Justiz nach 1949, in: Görtemaker / Safferling, Die Rosenburg, S. 60–87. 73 Zu dem Kriminalbiologen Franz Exner und seiner umstrittenen Einstellung zum Nationalsozialismus vgl. Sebastian Scheerer / Doris Lorenz, Zum 125. Geburtstag von Franz Exner (1881–1947), in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 89 (2006), S. 436–454, und Walter Fuchs, Franz Exner (1881–1947) und das Gemeinschaftsfremdengesetz: Zum Barbarisierungspotenzial moderner Kriminalwissenschaft, Berlin 2008; dazu auch Ambos, Nationalsozialistisches Strafrecht, S. 29 f. 74 Beglaubigte Abschrift der Erklärung Exners vom 10.02.1946, Staatsarchiv München, SpkA K2530 Dallinger, Wilhelm, Bl. 30.

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Christoph Safferling

was für ein Anti-Nazi-Geist er doch gewesen sei. Unterstützung erfuhr er dabei von der Witwe seines damaligen Abteilungsleiters Ernst Schäfer, der bereits im Juli 1945 verstorben war. In einem Schreiben erzählt Toni Schäfer von Besuchen Dallingers und zahlreichen Tischgesprächen im Hause Schäfer, bei denen ein »ausgesprochener Antinazigeist herrschte«, dem auch Dallinger verhaftet war.75 Ernst Schäfer war schon zu Radbruchs Zeiten ins RJM gekommen und zum Abteilungsleiter Strafrecht aufgestiegen. Er verließ mit Franz Schlegelberger das Ministerium im Zuge der Amtsübernahme durch Otto Thierack. Diese beiden Schreiben jedenfalls haben Dallinger den Wiedereinstieg in die bayerische Justiz und seine Ministerialkarriere in Bonn ermöglicht.

IV. Konsequenzen Diese sechs kurz umrissenen Biografien zeichnen sich alle dadurch aus, dass die betreffenden Personen sehr wohl eine juristische Funktion im Nationalismus innehatten. All diese Juristen waren kleinere oder größere Rädchen im nationalsozialistischen Terrorregime und haben an dessen Funktionieren mitgewirkt. Im Reichsjustizministerium arbeiteten Josef Schafheutle und Wilhelm Dallinger als Hilfsreferenten an der Formulierung des Gewaltverbrechergesetzes von 1934, aber auch an anderen nationalsozialistischen Partikulargesetzen wie der Heimtückeverordnung oder der Volksschädlingsverordnung und sogar am Nacht-und-Nebel-Erlass mit. Dies ist auch durch ihre umfangreiche Kommentierung der betreffenden Gesetze belegt, mit der sie die Rechtsanwendung im nationalsozialistischen Sinne beeinflussten. Die konkrete Anwendung im Einzelfall tätigte dann etwa Eduard Dreher in Innsbruck oder auch Heinrich Grützner in Potsdam. Auf dieser gesetzlichen Grundlage erwirkten sie Todesurteile oder andere harte und diskriminierende Strafen, die dann wiederum von Walter Roemer in München umgesetzt wurden. Wenn das gewünschte Ziel auf diese Weise nicht erreicht werden konnte, also die Staatsanwälte bei der Aburteilung nicht erfolgreich waren, dann konnte man sich an das Reichsjustizministerium wenden, etwa an Heinrich Ebersberg im Rahmen des Projekts »Korrektur unzureichender Justizurteile« oder auch an Wolfgang Fränkel, der im Zuge der Nichtigkeitsbeschwerden entsprechend zu einer Verschärfung des Urteils beitragen konnte. Jedes dieser Individuen, deren Wege sich später auf der Rosenburg verschiedentlich kreuzten, hatte am nationalsozialistischen Justizunrecht mitgewirkt. Sie alle waren Teil dieses Systems und sorgten schließlich dafür, dass der NSTerror sich tatsächlich so lange halten konnte. Unrechtseinsicht zeigte sich bei keinem der Betreffenden. Stattdessen wurde geradezu gebetsmühlenartig auf die Exkulpationsnarrative hingewiesen: Man habe nur die Gesetze angewendet, man habe im Amt verharrt, um Schlimmeres zu verhindern, man sei ständig von 75 Siehe BMJ PA Dallinger P 11-D 1, Bl. 5.

Exkulpationsstrategien

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der Einweisung ins KZ bedroht gewesen und habe im Verborgenen einen AntiNazi-Geist gelebt. Ganz unbehelligt konnten sie in ihren hohen und höchsten Ämtern in der Bundesrepublik dennoch nicht leben. Immer wieder wurden sie von den Schatten der Vergangenheit eingeholt. Gegen einige von ihnen wurden spät und etwas widerwillig Straf- und Disziplinarverfahren angestrengt. Aller­ dings führte keines dieser Verfahren zu einer Verurteilung. Alle Genannten konnten mit ungekürzten Staatspensionen einen ruhigen Lebensabend verbringen. Wahrscheinlich haben sie selbst daran geglaubt, nichts falsch gemacht zu haben.76

76 Siehe auch Michael Stolleis, Schlussbemerkungen, in: Görtemaker / Safferling, Die Rosenburg, S. 327–331, hier 328.

Markus Apostolow

»Eine glückliche Mischung von Verfolgten und Mitläufern« Staatssekretär Walter Strauß und die Personalpolitik im Bundesministerium der Justiz*

Was die eigene NS -Vergangenheit anbelangt, hätte es nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland auf den Trümmern des »Dritten Reiches« wohl kaum einen idealeren Staatssekretär im Bonner Justizministerium geben können als Walter Strauß. Der promovierte Jurist aus jüdischem Elternhause hatte während der nationalsozialistischen Diktatur zunächst seine Stellung im Reichswirtschaftsministerium verloren, bevor er schließlich ganz aus dem Staatsdienst entfernt wurde. Nur mit Mühe und Not entging er – anders als seine Eltern – der Vernichtung durch das NS -Regime. Vor diesem Hintergrund erschien Strauß geeignet, den demokratischen Neuanfang zu verkörpern. Allerdings war ausgerechnet er es, der als Staatssekretär auf der Rosenburg, dem Amtssitz des Bundesjustizministeriums (BMJ), mit dafür sorgte, alten Anhängern der Nationalsozialisten wieder in Amt und Würden zu verhelfen. Im September 1952 bemerkte Strauß gegenüber einem Landgerichtspräsidenten: »Wir haben in unserem Hause eine glückliche Mischung von Pgs [Parteigenossen] und Nicht-Pgs [Nichtparteigenossen], von Verfolgten und Mitläufern. Als Abteilungs­ leiter haben wir bewußt und im Gegensatz zu anderen Häusern nur Persönlichkeiten ausgewählt, die nicht nur nicht der Partei angehörten, sondern während jener Zeit eine eindeutige Haltung bewiesen haben. Mit dieser Mischung haben wir in unserem Hause einen Gemeinschaftsgeist erzielt, wie er wohl in keinem anderen Ministerium herrscht.«1

* Die folgenden Ausführungen basieren auf dem gleichlautenden Vortrag des Autors auf der vom Zentralrat der Juden in Deutschland veranstalteten Konferenz »Die langen Schatten der Vergangenheit – Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit«, die vom 7. bis zum 9. November 2018 in Berlin stattfand. Sowohl dem Vortrag als auch diesem Aufsatz liegt die folgende Publikation zugrunde: Markus Apostolow, Der »immerwährende Staatssekretär«. Walter Strauß und die Personalpolitik im Bundesministerium der Justiz 1949–1963, Göttingen 2019. 1 Walter Strauß an Dr. Hans Anschütz, 19.09.1952, in: Archiv des Instituts für Zeitgeschichte (IfZArch), ED 94, Bestand Staatssekretär Dr. Walter Strauß, Bd. 378, Bl. 17.

Markus Apostolow

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Vor dem Hintergrund der biografischen Prägung des obersten Beamten im BMJ können diese Worte nur verwundern, zeigen sie doch, dass die personelle Mischung von Verfolgten und Mitläufern des NS-Regimes offenbar planmäßig herbeigeführt oder zumindest als glückliche Fügung angesehen wurde. Darüber hinaus verdeutlicht das Zitat, dass diese Mischung – aus Sicht von Strauß – den »Gemeinschaftsgeist« im Ministerium befördern und damit eine integrative Kraft entfalten sollte. Mit Blick auf die Abteilungsleiter verwies der Staatssekretär jedoch darauf, dass in dieser Funktion nur Nichtparteimitglieder verwendet wurden – im Gegensatz zu anderen Ministerien. Wie weit es damit her ist, wird noch zu klären sein. Zuvor soll jedoch schlaglichtartig der Werdegang von Walter Strauß dargestellt werden – nicht zuletzt deshalb, um Anhaltspunkte für die Gründe seiner späteren Ansichten zu gewinnen.

I.

Biografische und berufliche Prägungen

Strauß wurde 1900 in Berlin geboren, also zu einer Zeit, in der das Kaiserreich noch bestand. Dort verlebte er auch seine Kindheit und Jugend. Er entstammte einem jüdischen Elternhaus; sein Vater kam ursprünglich aus Württemberg, seine Mutter aus Berlin. Die Familie Hermann und Elsa Strauß gehörte zum Bildungsbürgertum, war gesellschaftlich angesehen und akzeptiert und verkehrte unter anderem mit der Familie Rathenau.2 Vater Strauß war ein bedeutender Arzt und Medizinforscher, der auch mehrere Jahre an der Charité in Berlin wirkte. Seine Frau engagierte sich im selben Bereich und gilt heute als Wegbereiterin der modernen Krankenhaussozialarbeit.3 Bedeutsam ist, dass Walter Strauß wie auch seine Schwester Edith von der Mutter im christlichen Sinne erzogen wurde. Schon Elsa Strauß war von ihrer eigenen Mutter in diesem Sinne erzogen worden und gab das nun an die nächste Generation weiter. Im Jahr 1939 entschloss sich Walter Strauß zur Taufe und trat damit zum protestantischen Glauben über. Verheiratet war er seit 1929 mit Tamara, geborene Schneider – einer Baltendeutschen, die im Zuge des Ersten Weltkrieges von den Russen nach Sibirien deportiert worden war und erst nach ihrem Freikauf ins Reichsgebiet kam. Walter Strauß studierte Rechtswissenschaften in Freiburg, Heidelberg, Berlin und München. Außerdem promovierte er zum Dr. jur., während seine Examina eher durchschnittlich waren. Nach dem zweiten Examen wirkte er für einige Monate als Richter an verschiedenen preußischen Gerichten. Bereits 1928 wurde Strauß zum Hilfsarbeiter  – heute spräche man vom Referenten  – im Reichswirtschaftsministerium bestellt. Dort war der junge Jurist im Kartellreferat 2 Friedemann Utz, Preuße, Protestant, Pragmatiker. Der Staatssekretär Walter Strauß und sein Staat, Tübingen 2003, S. 13 mit Anm. 12. 3 Zur Biografie der Eltern Strauß siehe: Harro Jenss, Hermann Strauß. Internist und Wissenschaftler in der Charité und im Jüdischen Krankenhaus Berlin. Mit einem Beitrag von Peter Reinicke über Elsa Strauß, Wegbereiterin der Krankenhaussozialarbeit, Berlin 2010.

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eingesetzt. Wenn Strauß später auf diese Zeit zurückblickte, geriet er stets ins Schwärmen, lobte sowohl die angenehme Atmosphäre als auch die sachliche Arbeit sowie das kameradschaftliche Miteinander unter den Kollegen. In seinem Abteilungsleiter Hans Schäffer, der später nach Schweden emigrierte, fand Strauß ein Vorbild. Nur wenige Monate nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 musste er das Ministerium verlassen. Das hatte – zumindest vorerst – keine Konsequenzen für seine Zugehörigkeit zum preußischen Justizdienst. Aber auch hier trat bald, nämlich im darauffolgenden Jahr, eine Änderung ein. Der im »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« von 1933 enthaltene § 3  – der berühmt-berüchtigte Arierparagraph  – besagte, dass nichtarische Beamte in den Ruhestand zu versetzen sind.4 Die Dritte Durchführungsverordnung zu dem genannten Gesetz bestimmte allerdings, dass sowohl Teilnehmer des Weltkrieges als auch Teilnehmer an der Niederschlagung von Erhebungen wie dem Spartakusaufstand von der Anwendung des Arierparagraphen befreit seien. Und da Strauß sich 1919 während des Spartakusaufstandes als Meldegänger beim Stab einer Division betätigt hatte, fiel er unter diese Ausnahmeregelung. Doch das glich einem Pyrrhussieg, denn das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« enthielt in § 6 die äußerst allgemein gehaltene Bestimmung, dass zur Vereinfachung der Verwaltung Beamte in den Ruhestand versetzt werden können, auch wenn sie noch nicht dienstunfähig sind. Dieses Paragrafen, der jeder Willkür Tür und Tor öffnete, bedienten sich die Nationalsozialisten auch im Fall von Strauß, um ihn gänzlich aus dem Staatsdienst zu entfernen. Das Entlassungsschreiben trägt die Unterschrift des damaligen Justizstaatssekretärs und späteren Präsidenten des Volksgerichtshofs Roland Freisler. Damit stand Strauß auf der Straße. Versorgungsbezüge oder dergleichen bekam er nicht. In der Folgezeit hielt er sich als Wirtschaftsberater und zeitweise auch als juristischer Hilfsarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei über Wasser. Doch das waren allesamt Tätigkeiten von nur geringer Dauer. Ab 1938 engagierte sich Strauß in der Auswandererhilfe und fand auf diesem Wege ein Auskommen. Fortan half er verfolgten Leidensgenossen. Dafür  – das ist be­ merkenswert – besaß er eine Sondergenehmigung, die vom Reichsministerium des Innern ausgestellt war. Die Zuständigkeit für solche Fragen lag dort unter anderem bei Hans Globke. Nach 1945 sollte sich Strauß sehr für den wegen seiner zwielichtigen NS-Vergangenheit unter Druck geratenen Globke einsetzen. Die in diesen beiden Personen liegende Ambivalenz  – Globke diente Konrad ­Adenauer als Staatssekretär im Bundeskanzleramt – kommentierte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel folgendermaßen: »Bonn hat einen Staatssekretär, der die Nürnberger Gesetze kommentierte, aber doch auch einen, der unter ihnen litt.«5 4 Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 (RGBl. I, S. 175). 5 Justiz / Reform: Der Lack ist ab, in: Der Spiegel, Nr. 4, 24.01.1962.

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In der Auswandererhilfe für Verfolgte arbeitete Strauß eng mit der katho­ lischen und der evangelischen Kirche zusammen. Er galt als Vertrauensmann beider Kirchen und hat dies später auch immer wieder zu Protokoll gegeben.6 Nachdem die Auswandererhilfe ihre Tätigkeit angesichts des Kriegsverlaufs nicht weiter fortsetzen konnte, musste sich der Jurist als Arbeiter in einer Werkstatt verdingen, die Rüstungsgüter instand setzte. Mit Frau und Kindern lebte Strauß während des Krieges in Berlin-­Wannsee. Die dortige Bevölkerung betrachtete ihn als zu ihr gehörig. Vor Durchsuchungen durch die Gestapo wurde Strauß gewarnt. Außerdem entledigte er sich seiner ihn als jüdisch charakterisierenden Ausweispapiere, indem er den betreffenden Beamten bestach. Im Übrigen stand Strauß während der gesamten Zeit nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst in Kontakt zu Vertretern der Berliner Ministerialbürokratie. Darunter waren teilweise auch NSDAP-Mitglieder. Der Umstand, dass solche Personen den privaten Kontakt zur Familie Strauß aufrechterhielten, bietet einen Erklärungsansatz dafür, dass Strauß nach 1945 durchaus unter den ehemaligen Anhängern des Nationalsozialismus differenzierte. Der ehemals selbst verfolgte Jurist war sich darüber im Klaren, dass das Erbe des »Dritten Reiches« eine große Hypothek darstellte und die Nachkriegsgesellschaft belastete. In einem kirchlichen Vortrag, den Strauß 1949 in Wiesbaden hielt, brachte er seine Sicht auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit zum Ausdruck. Dort sagte er: »Wir haben hier und heute ebenso wie in den kommenden Jahren zu erweisen, ob wir den Mut und die Selbstüberwindung, aber auch die Einsicht in eigene Schuld, ob wir die persönliche Opferbereitschaft und die christliche Liebesfähigkeit als Einzelne und als Gemeinschaft besitzen, um die Abgründe zu überbrücken, die der Nationalsozialismus uns innerhalb unseres Volkes bereitet und hinterlassen hat.«7

Es war also ein genuin christlicher Ansatz, den Strauß verfolgte. Das individuelle Vergeben und Überbrücken bezog er dabei auf die gesamte Gesellschaft – und später auf seine Personalpolitik im Bundesministerium der Justiz. Die an­gesprochene Kluft, die der Nationalsozialismus verursacht hatte, sah der gläubige Protestant unter anderem zwischen den Heimatvertriebenen und den Alteingesessenen, ehemaligen Nationalsozialisten und Nichtnationalsozialisten, politisch Verfolgten und anderen, Bombengeschädigten und vom Schicksal Verschonten. Nach dem Kriegsende trat Strauß in gewisser Weise in die Fußstapfen seines Vaters, denn er baute mit seiner Frau ein Lazarett in Wannsee auf und wurde 6 Walter Strauß an Egbert Munzer, 17.03.1947, in: IfZArch, ED 94, Bd. 364. Zit. nach: Utz, Preuße, Protestant, Pragmatiker, S. 38 mit Anm. 22. 7 Vortrag von Dr. Walter Strauß auf der Kundgebung »Frieden« des zweiten Evangelischen Männertags für Süd-Nassau in der Ringkirche Wiesbaden am 30.  Oktober 1949, in: IfZArch, ED 94, Bd. 369, Bl. 77–82, Zitat Bl. 79.

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nach der Umwandlung in ein Krankenhaus dessen Verwaltungsdirektor. In ­Berlin trat er auch der CDU bei, und zwar vor allen Dingen deshalb, weil er in einem parteipolitischen Engagement die Möglichkeit sah, einem neuen totalitären Streben  – seitens der Sowjetunion  – entgegenzuwirken. Allerdings entschloss sich Strauß 1946, die Hauptstadt zu verlassen und nach Hessen zu gehen, wo er in die von Karl Geiler geführte Landesregierung eintrat. Als Staatssekretär im Angestelltenverhältnis fungierte Strauß als hessischer Vertreter im Länderrat, der die Länder des amerikanischen Besatzungsgebiets umfasste. In der Zeit bis 1949 durchlief Strauß noch zwei weitere Stationen in Einrichtungen der Besatzungszonen. So wurde er zunächst zum Vizedirektor in der bizonalen Verwaltung für Wirtschaft – einer großen Behörde mit rund 1.300 Mitarbeitern – ernannt. Im März 1948 übernahm Strauß dann die Leitung des im Entstehen begriffenen Rechtsamts des Vereinigten Wirtschaftsgebiets, also der umorganisierten Bizone. In dem neu geschaffenen Amt arbeiteten am Ende des Jahres lediglich 16 planmäßige Beamte; im September 1949 waren es nur zwei mehr. Die meisten seiner Mitarbeiter nahm Strauß schließlich mit nach Bonn, darunter auch seinen Stellvertreter Günther Joël, der im Bundesjustizministerium auf einen der vier Abteilungsleiterposten rückte. Auch an der Schaffung der rechtlichen Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland war Walter Strauß an führender Stelle beteiligt: Als Mitglied des Parlamentarischen Rates erwies er sich sehr bald als Vorkämpfer des Berufsbeamtentums. Diese alte Institution wollte er für den neuen Staat retten. Allerdings sollten sich die Beamten aus Sicht von Strauß unbedingt mit der Demokratie identifizieren und nicht nur »vorzügliche Techniker ihres Sachgebietes« sein.8

II. Kriterien von Strauß in der Personalpolitik – die Auswahl der ersten Abteilungsleiter Im Herbst 1949 wurde der bisherige Chef des Rechtsamts zum beamteten Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz berufen.9 Der Christdemokrat diente fortan unter dem Freien Demokraten Thomas Dehler, der zum Minister ernannt worden war. Der erste Bundesminister der Justiz, der mit einer Jüdin verheiratet war, hatte sich während der NS-Zeit ebenso wie Strauß Diskriminierungen durch die Staatsmacht ausgesetzt gesehen.10 Wie sich später zeigte, sollte Strauß, der »immerwährende Staatssekretär«,11 auch Dehlers Nachfolger im Minister8 Zur Frage der Wählbarkeit von Beamten, in: IfZArch, ED 94, Bd. 369, Bl. 154–164, hier Bl. 159. 9 Zu den Hintergründen siehe Apostolow, Der »immerwährende Staatssekretär«, S. 18 f. 10 Zur Biografie Dehlers siehe vor allem Udo Wengst, Thomas Dehler 1897–1967. Eine politische Biographie, München 1997. 11 Der Spiegel, Nr. 4, 24.01.1962.

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amt Fritz Neumayer, Hans-Joachim von Merkatz, Fritz Schäffer und Wolfgang Stammberger überleben. Neben der Zentralabteilung, die Strauß als Staatssekretär bis 1954 in Personalunion führte, wurden mit Gründung des Bundesministeriums der Justiz vier Fachabteilungen eingerichtet: die zivilrechtliche Abteilung I, die strafrechtliche Abteilung II, die handels- und gesellschaftsrechtliche Abteilung III sowie die öffentlich-rechtliche Abteilung IV. Damit waren vier Spitzenposten zu vergeben, denn nach dem Staatssekretär stellten die Abteilungsleiter – entweder als Ministerialdirektoren oder als Ministerialdirigenten – die ranghöchsten Beamten im Hause dar. In der bisherigen Forschung hatte die von Udo Wengst vertretene Ansicht gegolten, der zufolge es Minister Dehler gelungen sei, die Besetzung der Abteilungsleiterposten – mit Ausnahme des bereits erwähnten Strauß-Vertrauten Joël – an sich zu ziehen.12 Ein genauer Blick auf die damalige Situation zeigt jedoch, dass diese Sichtweise der Realität nicht standhält. Wer waren nun die vier ersten Abteilungsleiter – und wie haben sie ihren Weg ins Ministerium gefunden? Vor allem aber: Welche Kriterien für die Personalauslese lassen sich daraus ableiten? 1.

Dr. Georg Petersen (Abt. I) – eine »besonders wertvolle Arbeitskraft«

Der gebürtige Hamburger Georg Petersen (Jahrgang 1889) war mit Abstand der Älteste unter den vier ersten Abteilungsleitern im Bundesministerium der Justiz. Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, im Jahr 1919, wurde Petersen Rechtsanwalt und wirkte in dieser Eigenschaft ab 1929 beim Reichsgericht in Leipzig. Während des Nationalsozialismus schloss er sich neben einigen untergeordneten NS-Organisationen als förderndes Mitglied auch der SS an (1934 bis 1939). Nach dem Krieg wurde Petersen trotz dieser Belastung Oberlandesgerichtsrat beim Hanseatischen Oberlandesgericht (OLG) in Hamburg. Durch die britische Besatzungsmacht bestätigt, wechselte er am 1. Oktober 1946 ins Zentraljustizamt der britischen Zone (ZJA), wo er zunächst als Sachbearbeiter, ab Oktober 1947 dann als Justizdirigent wirkte. Als solcher leitete er die zivilrechtliche Abteilung des Hauses. Nebenamtlich übernahm Petersen noch zwei herausgehobene Ämter im Prüfungswesen: Zum einen fungierte er als Präsident des Zentralprüfungsamts für die britische Zone beim ZJA in Hamburg, zum anderen als stellvertretender Vorsitzender des Justizprüfungsamts beim Hanseatischen Oberlandesgericht. Den Weg ins Bundesjustizministerium ebnete ihm letztlich Thomas Dehler. Zunächst hatten ihn der Minister und sein Staatssekretär im Anschluss an einen Besuch von Strauß beim Zentraljustizamt in Hamburg für die Position eines 12 Udo Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948–1953. Zur Geschichte der Verfas­ sungsorgane der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1984, S. 165 mit Anm. 182.

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Senatspräsidenten bei einem oberen Gerichtshof des Bundes vorgesehen. Bereits zu diesem Zeitpunkt, Anfang Oktober 1949, waren sich Dehler und Strauß über die »besonders wertvolle Arbeitskraft« Petersens einig.13 Später wurden auch seine »besondere Befähigung, seine umfassenden Rechtskenntnisse und seine vielseitigen Erfahrungen« gelobt.14 Anfang Januar 1950 wandte sich das BMJ an Petersen und bat um eine Besprechung, die zwei Tage später zustande kam. Dabei habe ihm Dehler, so Petersen in einer Aktennotiz, die Frage vorgelegt, ob er bereit sei, die Leitung der Zivilabteilung des Bundesjustizministeriums zu übernehmen.15 Im Einverständnis mit dem Chefpräsidenten des ZJA und dessen Stellvertreter erklärte sich Petersen schließlich dazu bereit. Am 23. Januar 1950 trat er seinen Dienst beim BMJ an. Als ein halbes Jahr später die Ernennung Petersens zum Ministerialdirektor anstand, bat das Bundesministerium des Innern (BMI) um die Übersendung etwa noch im Justizministerium vorhandener Personalakten des Beamten – insbesondere wegen der Frage, ob Petersen entnazifiziert sei.16 Das BMJ schickte die geforderten Akten sogleich an das Innenressort, das gemeinsam mit dem Bundesministerium der Finanzen grundsätzlich für die Mitprüfung von Er­ nennungsvorschlägen – ab der Stufe des Oberregierungsrats – sämtlicher Bonner Ministerien zuständig war. Dieses Prozedere ging auf einen Vorschlag des ersten Bundesinnenministers Gustav Heinemann (CDU) zurück. Dieser hatte es in einer Kabinettsvorlage vom 30. Mai 1950 als wünschenswert bezeichnet, im Interesse einer »gleichmäßigen Beurteilung der beamtenrechtlichen Erfordernisse und der personalpolitischen Gesichtspunkte« bei Beamten des höheren Dienstes eine einheitliche Prüfung der Ernennungsvorschläge vor der Beschlussfassung durch das Kabinett bzw. vor der Ernennung durch den Bundespräsidenten vorzunehmen.17 Doch zurück zu Petersen: In dem Anschreiben des BMJ wurde das BMI gesondert auf die in den Akten vorhandenen Genehmigungen der Militärregierung zur Anstellung und Beförderung Petersens im ZJA hingewiesen; formell wurde Petersen nämlich nicht entnazifiziert.18 Dass es deshalb weitere Nachfragen gab, ist den Akten nicht zu entnehmen. Die Ernennung zum Ministerial­direktor erfolgte Ende August 1950 mit Wirkung vom 1. Februar desselben Jahres. 13 Vermerk Dr. Koch (ZJA), 07.10.1949, in: BMJ-Personalakte Georg Petersen (P 11 – P 5), Beiakte ZJA, Bl. 34. 14 Der BMdJ an den BMdI, 16.02.1954 betr. Hinausschiebung des Eintritts in den Ruhestand für Ministerialdirektor Dr. Georg Petersen bis zum 31. März 1955, in: BMJ-Personalakte Georg Petersen (P 11 – P 5), Bl. 31 f. 15 Aktennotiz von Petersen, 19.01.1950, in: BMJ-Personalakte Georg Petersen (P 11 – P 5), Beiakte ZJA, Bl. 36. 16 BMJ-Vermerk, 28.07.1950, in: BMJ-Personalakte Georg Petersen (P 11 – P 5), Bl. 4. 17 Der BMdI an den Staatssekretär des Innern im Bundeskanzleramt, 30.05.1950 betr. Ernennung von Beamten des höheren Dienstes, in: Bundesarchiv (BArch) B 136/5130. 18 Der BMdJ an das BMI z. Hd. Ministerialrat Dr. Perbandt, 28.07.1950, in: BMJ-Personalakte Georg Petersen (P 11 – P 5), Bl. 4.

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114 2.

Dr. Hans Eberhard Rotberg (Abt. II) – Vorschlag der Landesregierung Rheinland-Pfalz

Ganze 14 Jahre jünger als sein Kollege Petersen war der erste Abteilungsleiter für Strafrecht Hans Eberhard Rotberg. Geboren 1903 in Unna, ging Rotberg als frisch ernannter Gerichtsassessor nach Berlin, wo er zum Hilfsarbeiter im Preußischen Justizministerium bestellt wurde. Im Anschluss an diese Tätigkeit, die er von 1928 bis 1932 ausgeübt hatte, wechselte Rotberg nach Koblenz und blieb dort bis zum Ende des Krieges, zuletzt als Landgerichtsdirektor. Zeitweise saß er einer Sonderstrafkammer vor, die für beinahe das ganze Reichsgebiet sämtliche Strafsachen abzuurteilen hatte, die gegen Geistliche und Ordensangehörige wegen Sittlichkeitsverbrechen anhängig waren. Der NSDAP trat Rotberg 1942 bei; der Beitritt wurde aber auf 1940 rückdatiert. Obwohl er arbeitsmäßig zeitweise sogar mit dem Sicherheitsdienst der SS zu tun hatte, bekam er Ärger mit der Gestapo, da er ein hochverräterisches Unternehmen nicht zur Anzeige gebracht hatte. Ende Juli 1946 erfolgte seine Wiederzulassung als Landgerichtsdirektor. Noch im selben Jahr wurde Rotberg zum Leiter der Abteilung Gesetzgebung und Rechtspflege im Justizministerium von Rheinland-Pfalz ernannt. Zwei Jahre später erhielt er die Stelle eines Senatspräsidenten beim OLG Koblenz, verblieb aber im Justizministerium. Die Landesregierung von Rheinland-Pfalz war es denn auch, die Rotberg für die leitende Stelle eines Ministerialdirektors im BMJ vorschlug. In einem Schreiben an den gerade ernannten Bundesminister der Justiz Dehler bekräftigte Ministerialdirigent Krüger vom Justizministerium in Koblenz, der Vorschlag erfolge im Einvernehmen mit den übrigen Ländern der französischen Zone, die eine »Kandidatur dieses Ranges aus ihrem Personalbestand nicht vorzubringen« hätten.19 Der Justizminister in Stuttgart, Josef Beyerle, unterstütze den Vorschlag ebenfalls nachhaltig. Krüger nannte gegenüber Dehler sodann die wichtigsten Daten zum beruflichen Werdegang Rotbergs, die sehr guten Examensergebnisse eingeschlossen. Ferner betonte er Rotbergs Tätigkeit als Hilfsarbeiter im Preußischen Justizministerium wie auch das allseits anerkannte Wirken als Leiter der Gesetzgebungsabteilung im rheinland-pfälzischen Justizministerium: Der Vorgeschlagene sei »durch die harte Schule des preussischen Justizministeriums gegangen« und habe seine dort erworbene ministerielle Erfahrung beim Aufbau des Koblenzer Justizministeriums zur Verfügung gestellt; im Wesentlichen sei es ihm zu verdanken, dass die Gesetzgebung des Landes RheinlandPfalz allgemein anerkannt und »zum Teil sogar richtungweisend« gewesen sei.20 Aber auch die politische Belastung Rotbergs verschwieg Krüger nicht und führte 19 Ministerialdirigent Dr. Krüger an den BMdJ Dr. Dehler, 20.09.1949, in: BMJ-Personalakte Hans Eberhard Rotberg (P 41 – R 10), Beiakte Justizministerium Rheinland-Pfalz, Bd. III, Bl. 231–233, Zitat Bl. 231. 20 Ebd., Bl. 232.

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dessen Mitgliedschaft in der NSDAP seit 1942 an. Einschränkend hieß es, seine politische Gegnerschaft zum Nationalsozialismus habe ihn, Rotberg, mit der Gestapo in Konflikt gebracht. Aktuell sei der Vorgeschlagene parteipolitisch nicht gebunden.21 Rotberg selbst, so betonte der Ministerialdirigent, sei bereit, sich auf Verlangen des BMJ in Bonn vorzustellen. Im Bundesministerium der Justiz wurde der Vorschlag aus Koblenz wohlwollend aufgenommen. In seiner Antwort bemerkte Dehler, er habe Staatssekretär Strauß damit beauftragt, sich mit Ministerialdirigent Krüger in Verbindung zu setzen, »um die Frage der Berufung von Herren Ihres Landes in den Dienst der Bundesjustiz zu besprechen.«22 Dehler betonte, er lege besonderen Wert darauf, geeignete Mitarbeiter aus der bisherigen französischen Zone zu gewinnen. Beamte aus den Ländern jener Zone waren im Bonner Justizministerium bislang völlig unterrepräsentiert. Ob die letztliche Initiative bei der Entscheidung des Bundesjustizministeriums für Rotberg als Abteilungsleiter für Strafrecht eher auf Dehler oder eher auf Strauß zurückzuführen ist, kann anhand der Aktenlage nicht geklärt werden. Angesichts der ministeriellen Vorerfahrungen Rotbergs und der sehr günstigen Beurteilung seiner fachlichen Qualitäten ist es unwahrscheinlich, dass diese Personalsache zur Uneinigkeit zwischen Minister und Staatssekretär führte. Am 1. Februar 1950, also nur wenige Tage nach dem Kollegen Petersen, trat Rotberg seinen Dienst im BMJ an. Als im Herbst desselben Jahres die Ernennung zum Ministerialdirigenten erfolgen sollte, hatte das Bundesinnenministerium einige Nachfragen, die in Rotbergs früherer NSDAP-Mitgliedschaft wurzelten. Erst kurz zuvor, in der Kabinettssitzung vom 31. August 1950, war nämlich die Richtlinie vereinbart worden, dass die leitenden Positionen in den Bundesministerien in der Regel nicht mit früheren Parteigenossen zu besetzen seien. Ausgehend von den ihm zur Mitprüfung vorgelegten Ernennungsvorschlägen hatte Innenminister Heinemann festgestellt, dass einige frühere Mitglieder der NSDAP als Ministerialdirigenten in der Stellung von Abteilungsleitern vorgesehen waren. Durch das Kabinett wollte er geklärt wissen, ob die Besetzung von Stellen der Abteilungsleiter, Personalreferenten und Ministerialbürodirektoren in den obersten Bundesbehörden mit früheren Angehörigen der NSDAP vertreten werden könne. Angesichts der »herausgehobenen und besonderen personalpolitischen Bedeutung« dieser Stellen sei das aus seiner Sicht nicht der Fall. Eine Ausnahme könne aber zugelassen werden, wenn es sich um Beamte handele, »die den Bestrebungen des Dritten Reiches nachweislich Widerstand entgegengesetzt haben«.23 Doch zu einem formellen Beschluss konnte sich das 21 Allerdings behauptete Udo Wengst später, überdies ohne Nennung von Quellen, Rotberg habe – genau wie der Leiter der Abteilung IV Walter Roemer – der CDU / CSU nahegestanden. Siehe dazu Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis, S. 166. 22 Der BMdJ an Ministerialdirigent Dr. Krüger, 05.10.1949, in: BMJ-Personalakte Hans Eberhard Rotberg (P 41 – R 10), Beiakte Justizministerium Rheinland-Pfalz, Bd. III, Bl. 230. 23 Der BMdI an den Bundeskanzler, 25.08.1950, in: BArch B 136/5130.

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Kabinett nicht durchringen. Bundeskanzler Adenauer etwa hielt es stattdessen für richtig, »unter Abstandnahme von der allgemeinen Beschlußfassung von Fall zu Fall zu entscheiden«.24 Letztlich kam die Ministerrunde überein, sich den vom Innenminister formulierten Beschluss zumindest als allgemeine Richtlinie zu eigen zu machen. Auf die Nachfragen des Innenressorts sandte der Bundesjustizminister einen langen Brief an seinen Ministerkollegen. Der Zweck war klar: Rotbergs »formale Zugehörigkeit zur NSDAP sollte aus den nachfolgend dargelegten Gründen m. E. seiner Betrauung mit einer Abteilungsleiterstelle nicht entgegenstehen«.25 Mit zahlreichen Beispielen aus den Personalakten Rotbergs unterlegt, versuchte Dehler, die eigentliche Gegnerschaft seines Beamten zum Nationalsozialismus glaubhaft zu machen. Dabei führte er den zunächst erhobenen Einspruch der NSDAP gegen die Beförderung Rotbergs zum Landgerichtsdirektor ebenso an wie seine Absetzung als Vorsitzender eines Schöffengerichts auf Weisung des Gauleiters. Auch auf den in den Personalakten dokumentierten Fall des Regierungsrats Otto Weiß, eines Schulfreundes Rotbergs, der wegen Hochverrats angeklagt und vom Volksgerichtshof später zum Tode verurteilt worden war, wies der Justizminister hin. Damals sei Rotberg nur mit Mühe einer Anklage wegen unterlassener Anzeige eines Hochverrats entkommen. Allerdings drohte ihm die Gestapo mit der Anwendung »schärfster staatspolitischer Maßnahmen«, falls er erneut in staatspolitischer Hinsicht in Erscheinung treten sollte.26 Ferner verwies Dehler auf die Nachteile, die Rotberg in jener Zeit trafen: von der Ablösung als Leiter einer Referendararbeitsgemeinschaft über das vorzeitige Ende seines Lehrauftrags an der Universität Bonn bis hin zur Aufhebung der ihn betreffenden Unabkömmlichkeitsstellung, wodurch Rotberg im Oktober 1944 zur Wehrmacht eingezogen wurde. In der Nachkriegszeit, so Dehler weiter, hätten die Amerikaner Rotberg, der an dritter Stelle einer Überwachungsliste der Gestapo gestanden hatte, beinahe zum Präsidenten des Landgerichts gemacht. Dieses Vorhaben scheiterte lediglich daran, dass der Betreffende damals noch im Lazarett war. Die französische Besatzungsmacht willigte sodann in die Berufung Rotbergs zum Landgerichtsdirektor ein. Des Weiteren berichtete der Bundesminister der Justiz, wie er auf Rotberg aufmerksam gemacht worden sei und wie er »durch genaues Studium der Personalakten und durch persönliche Erkundigungen, namentlich auch bei 24 93. Kabinettssitzung am Donnerstag, den 31. August 1950, TOP 15, abrufbar unter: https://www.bundesarchiv.de/cocoon/barch/0000/k/k1950k/kap1_2/kap2_89/para3_27. html (zuletzt aufgerufen am 21.04.2020). 25 Der BMdJ an den BMdI, 05.10.1950 betr. Ernennungsvorschlag des Senatspräsidenten Dr. Rotberg (vertraulich), in: BMJ-Personalakte Hans Eberhard Rotberg (P 41 – R 10), Bl. 22–26, Zitat Bl. 22. 26 Ebd., Bl. 24. In der Abschrift der protokollierten Warnung Rotbergs durch die Gestapo ist davon abweichend von »staatspolizeiliche[n] Maßnahmen« die Rede. Siehe dazu das Gestapo-Protokoll vom 29.06.1944, in: BMJ-Personalakte Hans Eberhard Rotberg (P 41 – R 10), Beiakte OLG Köln, Bl. 139.

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Herrn Dr. Süsterhenn, dem Justizminister des Landes Rheinland-Pfalz, [sich] vergewissert zu haben glaubte, daß der formalen Zugehörigkeit Dr. Rotbergs seit 1942 zur Partei seine aus den Personalakten selbst beweisbare dauernde negative Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus und seine Bemühungen entgegenstanden, ihm [dem Nationalsozialismus] in seiner rechtsprechenden Tätigkeit und seiner Beteiligung an Widerstandsversuchen entgegenzutreten«.27 Dehler schloss mit der Bemerkung, er trage unter den dargelegten Umständen keine Bedenken, dass sich die Ernennung Rotbergs zum Ministerialdirigenten und Abteilungsleiter im Rahmen der Erörterungen in der Kabinettssitzung vom 31. August 1950 halte. Dass Staatssekretär Strauß das Schreiben mittrug, beweist sein Kürzel am Ende des Briefentwurfs. Letztlich gab sich das Innenministerium mit den Erklärungen des BMJ zufrieden; Hinweise auf weitere Nachfragen finden sich jedenfalls nicht. Als Rotberg Mitte der 1960er Jahre in Zeitungsartikeln erneut seine NS-Vergangenheit vorgehalten wurde, wandte sich Walter Strauß an seinen ehemaligen Abteilungsleiter und sicherte diesem seine Unterstützung zu. Im Herbst 1949 habe er, so Strauß, vor der Einstellung Rotbergs dessen Personalakten »genau geprüft« – mit dem Ergebnis, dass der Kandidat »vollkommen einwandfrei« sei. Insbesondere habe er Rotbergs Verhalten in der Angelegenheit des Regierungsrats Weiß »verstanden und gebilligt«, da ihm aus seiner eigenen »oppositionellen Stellung« die Verhältnisse jener »unseligen Zeit« noch genauestens gegenwärtig gewesen seien.28 Lange blieb Rotberg jedoch nicht Abteilungsleiter im Bonner Justizministerium. Am 1. April 1952 stimmte das Bundeskabinett seiner Ernennung zum Bundesrichter zu. Als Staatssekretär Strauß im September desselben Jahres betonte, dass er und Dehler nur Persönlichkeiten als Abteilungsleiter ausgewählt hätten, die der NSDAP nicht angehört hatten, arbeitete Rotberg demnach schon nicht mehr auf der Rosenburg.29 Insofern erweist sich die Aussage von Strauß – zumindest in Bezug auf die Situation im Herbst 1952 – als zutreffend. 3.

Dr. Günther Joël (Abt. III) – enger Mitarbeiter mit berühmtem Vater

Den Abteilungsleiter für Handels- und Gesellschaftsrecht Günther Joël (Jahrgang 1899) brachte Staatssekretär Strauß aus dem Rechtsamt mit ins BMJ. Wie bereits erwähnt, war Joël dort Stellvertreter des Leiters Strauß gewesen. Zuvor hatte er unter dem stellvertretenden Direktor Strauß in der Verwaltung für 27 Der BMdJ an den BMdI, 05.10.1950 betr. Ernennungsvorschlag des Senatspräsidenten Dr. Rotberg (vertraulich), in: BMJ-Personalakte Hans Eberhard Rotberg (P 41 – R 10), Bl. 25 f. 28 Strauß an Rotberg, 26.11.1965, in: ebd., Bl. 49. 29 Die Leitung der Strafrechtsabteilung übernahm übergangsweise Strauß selbst, bis im Sommer 1953 in Josef Schafheutle, der der NSDAP ebenfalls nicht angehört hatte, ein Nachfolger gefunden war.

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Wirtschaft in Frankfurt am Main gearbeitet, nachdem er schon in deren Vor­ gängerinstitution, dem Zentralamt für Wirtschaft in Minden, als Abteilungsleiter tätig gewesen war. Als Joël ins Bundesjustizministerium kam, konnte er somit vielseitige Erfahrungen in Leitungspositionen vorweisen. Hinzu kam noch ein persönliches Moment: Der Vater von Günther Joël war der auch von Walter Strauß bewunderte ehemalige Reichsminister der Justiz in der Weimarer Republik Curt Joël. Während des Nationalsozialismus hatte Günther Joël als »Mischling I. Grades« mit Ausnahme der Deutschen Arbeitsfront keiner NS-Organisation angehört und war damit unbelastet. Wie Strauß war er im Übrigen zum Protestantismus konvertiert.30 Bereits vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten hatte er eine Tätigkeit als Syndikus bei der Dresdner Bank in der Reichshauptstadt aufgenommen, wo er bis 1946 wirkte; Berlin war denn auch der Lebensmittelpunkt des gebürtigen Hannoveraners. Zudem war er dort seit 1929 als Anwalt zugelassen. Aus dem Deutschen Anwaltsverein wurde Joël wegen der jüdischen Abstammung der Familie seines Vaters zwar entfernt, konnte seine Stellung als Syndikus der reichsnahen Bank jedoch aufrechterhalten. Ursächlich dafür war jene Durchführungsverordnung zum »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« von 1933, von der auch Walter Strauß profitiert hatte. Als Frontteilnehmer des Ersten Weltkrieges blieb er aber – anders als Strauß, der »zur Vereinfachung der Verwaltung« in den Ruhestand versetzt wurde – von der Entlassung verschont. Ein beruflicher Aufstieg war ihm allerdings ebenso verwehrt wie die Zulassung als Notar. Dem Versuch der Gestapo, ihn zum für sogenannte Mischlinge und jüdisch Versippte vorgesehenen Sonderdienst in der paramilitärischen Bauformation »Organisation Todt« heranzuziehen, habe er sich, so Joël nach Ende des Krieges, »nur durch besondere Umstände und Hilfeleistungen« entziehen können.31 Am 26. September 1949, gleichsam mit Gründung des BMJ, wurde Joël an das Bonner Justizministerium abgeordnet. Bereits im Vorfeld hatte der stellvertretende Leiter des Rechtsamts seinem Vorgesetzten Strauß – wohl in dessen Auftrag – Vorschläge für die Organisation des Ministeriums vorgelegt.32 Nachdem der erste reguläre Bundeshaushalt verabschiedet worden war, wurde Joël im September 1950 die Ernennungsurkunde zum Ministerialdirektor ausgehändigt. Wie in der Anfangszeit üblich, wurde die Ernennung rückwirkend – in diesem Fall mit Wirkung vom 1. Oktober 1949 – ausgesprochen. In welchen Traditionen stehend sich Joël sah, wurde viele Jahre später in dem Begleitschreiben zu seiner Ruhestandsurkunde deutlich. Dort bemerkte der amtierende Minister Ewald Bucher, Joël habe »in nimmermüder Hingabe« der Justiz vorbildlich gedient, »getreu der Tradition, die Ihnen Ihr Herr Vater, der langjährige Staats30 Manfred Görtemaker / Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016, S. 338. 31 Joël an Dr. Behnke, 30.06.1948, in: BMJ-Personalakte Günther Joël (P 11  – J 7), Bd. 1, Bl. 31–33, hier Bl. 33. 32 Apostolow, Der »immerwährende Staatssekretär«, S. 145 ff.

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sekretär des Reichsjustizministeriums und spätere Reichsjustizminister, vermittelt hat.«33 4.

Walter Roemer (Abt. IV) – von Bayern nach Bonn

Als einst der Stellvertreterposten im Rechtsamt zu besetzen war, fiel auch der Name von Walter Roemer. Bei dieser Gelegenheit hatte Strauß den Eindruck erweckt, er sehe Roemer durchaus als geeigneten Kandidaten für das Amt an.34 Insofern ist die Tatsache, dass die Leitung der für Öffentliches Recht und Völkerrecht zuständigen Abteilung IV im BMJ jenem Roemer übertragen wurde, nicht allzu verwunderlich. Zudem hatte er mächtige Fürsprecher in der bayerischen Landespolitik, und auch der Kronjurist der SPD, Adolf Arndt, setzte sich für ihn ein – Roemer war also kein Unbekannter, als er ins BMJ kam. Geboren 1902 in Speyer, hatte Roemer seine berufliche Laufbahn ausschließlich in Bayern verbracht. Nach einer zeitweiligen Beschäftigung im dortigen Staatsministerium der Justiz war er lange Jahre als Erster Staatsanwalt und Abteilungsleiter bei der Staatsanwaltschaft beim Landgericht München I tätig. Sein Zuständigkeitsbereich umfasste sowohl die Jugendstaatsanwaltschaft als auch das gesamte Gnaden- und Vollstreckungswesen. Der NSDAP, SS oder SA hatte Roemer im Gegensatz zu einigen untergeordneten NS-Organisationen nicht angehört. Dies erklärt auch, warum er nach 1945 als vom Befreiungsgesetz nicht betroffen eingestuft wurde. Seine Rolle als Vollstreckungsstaatsanwalt während des »Dritten Reiches« hat allerdings vielfach zu Angriffen gegen ihn geführt.35 Er selbst machte geltend, durch gewisse Verzögerungen Menschenleben gerettet zu haben. Außerdem bewahrte er erwiesenermaßen die Abschiedsbriefe von hingerichteten Gefangenen auf, deren Schicksal gegenüber den Angehörigen bewusst im Unklaren gelassen wurde.36 Nach dem Ende des Krieges übergab Roemer diese Dokumente der amerikanischen Besatzungsmacht. Am 24. April 1947 sagte er zudem im Nürnberger Juristenprozess aus.37 Bereits im Dezember 1945 war Roemer ins Bayerische Staatsministerium der Justiz zurückgekehrt. Ferner betätigte er sich als Mitglied des Deutschen Juristentages. Als letzter der vier ersten Abteilungsleiter fand er schließlich den Weg ins BMJ, wo er am 1. August 1950 seinen Dienst antrat. Ein erstes Angebot von Dehler, nach Bonn zu wechseln, hatte Roemer dagegen im Herbst 1949 noch abgelehnt.38 In Bayern ließ man Roemer ein knappes Jahr später nur schweren Herzens ziehen. So schrieb der Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium der 33 BMdJ Bucher an Joël, 23.10.1964, in: BMJ-Personalakte Günther Joël (P 11 – J 7), Bd. 2, Bl. 270a. 34 Apostolow, Der »immerwährende Staatssekretär«, S. 35. 35 Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 346. 36 Ebd., S. 57 f. 37 Ebd., S. 346. 38 Ebd., S. 347.

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Justiz Anton Konrad an Dehler, er werde Roemer »schwer vermissen«, sehe aber ein, dass der Dienst im Bundesjustizministerium vorgehe.39 Mit Urkunde vom 30. August 1950 wurde Roemer zum Ministerialdirektor ernannt und mit Wirkung vom 1. desselben Monats in die entsprechende Planstelle eingewiesen. Ebenso wie sein Kollege Joël – und insgesamt sogar länger als dieser – verblieb Roemer auch nach dem Ausscheiden von Staatssekretär Strauß 1963 als Ministerialdirektor im Bonner Justizministerium. Für diese leitende Tätigkeit brachte Roemer »besondere Erfahrungen« aus seiner Beschäftigung im Bayerischen Staatsministerium der Justiz mit, wie es im Antrag des Bundesjustizministeriums zur Hinausschiebung des Eintritts in den Ruhestand am 12. Juni 1967 hieß.40 Der Antrag des BMJ wurde bewilligt; Roemer schied erst Ende August 1968 aus. Zu seinem 80. Geburtstag würdigte das Ministerium den Ministerial­ direktor a. D. in fast überschwänglichen Tönen: So sei Roemer in führender Stelle an der gesamten Gesetzgebungstätigkeit von 1950 bis 1968 und damit »maßgebend an der Schaffung unseres Rechtsstaats« beteiligt gewesen. Durch seine Mitwirkung in den Beratungen der Ressorts, in den Ausschüssen der gesetzgebenden Körperschaften und in Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht habe er »den Ruf des Bundesjustizministeriums als Verfassungsressort begründet und persönlich bei allen diesen Gremien hohes Ansehen erlangt«.41 Welche Schlüsse können nun aus der Auswahl der ersten Abteilungsleiter für das BMJ gezogen werden? Drei elementare Kriterien der Personalauslese treten hervor: Erstens ist das die fachliche Qualität. Alle vier Abteilungsleiter waren Juristen mit Prädikatsexamina, konnten also überdurchschnittliche Prüfungsergebnisse vorweisen. Zweitens war den Spitzenbeamten gemeinsam, dass sie bereits im Vorfeld ihrer Verwendung im BMJ ministerielle Erfahrungen gesammelt hatten: entweder in der Landesjustiz oder in Einrichtungen der Besatzungszonen. Allenfalls ist es erstaunlich, dass Strauß und Dehler niemanden zum Abteilungsleiter beriefen, der vormals im Reichsjustizministerium tätig gewesen war, obwohl sie das RJM sonst stets als Vorbild hervorhoben. Als drittes Kriterium muss die persönliche Integrität genannt werden. Von der charakterlichen Lauterkeit der ausgewählten Abteilungsleiter waren sowohl der Minister als auch sein Staatssekretär überzeugt. Hätte jene Eigenschaft bei einem der vier Herren aus Sicht von Strauß und Dehler gefehlt, würde ihnen ihre Qualifikation und Erfahrung nur wenig genützt haben. Diesen Sachverhalt brachte letztlich auch der oberste Beamte in seinem eingangs erwähnten Zitat zum Ausdruck, wenn er davon sprach, dass als Abteilungsleiter »bewußt und im Gegensatz zu 39 Staatssekretär Konrad an den BMdJ Dehler, 05.06.1950, in: BMJ-Personalakte Walter Roemer (P 11 – R 12), Bl. 1. 40 Der BMdJ an die Geschäftsstelle des Bundespersonalausschusses im BMI, 12.06.1967, in: ebd., Bl. 109–112, hier Bl. 111. 41 Vorschlag für ein Glückwunschschreiben des BMJ zum 80. Geburtstag von Walter ­Roemer vom 17.08.1982, in: ebd., unpag. Bl.

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anderen Häusern nur Persönlichkeiten ausgewählt [wurden], die nicht nur nicht der Partei angehörten, sondern während jener Zeit eine eindeutige Haltung bewiesen haben«.42 Während die drei genannten Kriterien mehr oder weniger für alle Leitungspositionen im Bundesjustizministerium galten, lassen sich auf der Ebene der Abteilungsleiter zwei zusätzliche Aspekte der Personalauslese feststellen. Das betrifft zum einen die landsmannschaftliche Zugehörigkeit der Spitzenbeamten, bei der eine weitgehende Ausgewogenheit zu konstatieren ist. In gewisser Weise korrespondierte das mit der in Artikel 36 Absatz 1 des Grundgesetzes enthaltenen Bestimmung, in der es heißt, dass bei den obersten Bundesbehörden Beamte aus allen Ländern »in angemessenem Verhältnis« verwendet werden sollen. Die Abteilungsleiter repräsentierten zudem die drei westlichen Besatzungszonen: Während Petersen nach 1945 in der britischen Zone aktiv war, verkörperten Rotberg die französische und Joël wie Roemer die amerikanische Zone. Zum anderen ist eine ähnliche Ausgewogenheit auch bei der Konfessionszugehörigkeit zu beobachten. Da in der frühen Bundesrepublik, zumal in der Ära Adenauer, die Konfessionsfrage eine erhebliche Rolle spielte, ist es von Bedeutung, dass zwei der Abteilungsleiter (Petersen, Joël) evangelisch, die anderen beiden (Rotberg, Roemer) katholisch waren. Dass die konfessionelle Parität seitens des katho­lischen Ministers und seines protestantischen Staatssekretärs intendiert war und bewusst herbeigeführt wurde, geht aus den Akten nicht explizit hervor, ist aber dennoch wahrscheinlich. Der genauere Blick auf die Auswahl der Abteilungsleiter hat darüber hinaus gezeigt, dass die bisher vorherrschende Meinung von der Durchsetzungsfähigkeit Dehlers gegenüber Strauß in diesen Personalfragen korrigiert werden muss. Zumindest die Berufung von Roemer, sehr wahrscheinlich auch diejenige Petersens und Rotbergs, geschahen eher in beiderseitigem Einvernehmen denn in Zank und Streit. Einwände Dehlers gegen Joël, der mit Strauß vom Rechtsamt ins BMJ kam, sind ebenso wenig überliefert.

III. Was bleibt? Die Personalpolitik von Staatssekretär Strauß im Bundesjustizministerium war von Beginn an auf einen umfassenden Ausgleich angelegt. In vergangenheitspolitischer Hinsicht bedeutete dies, sowohl frühere Mitglieder der NSDAP als auch dahingehend unbelastete Personen für das BMJ zu rekrutieren. Strauß zufolge sollte diese Mischung eine integrative Wirkung entfalten. Damit leistete er gewissermaßen seinen persönlichen Beitrag zur Überwindung jener gesellschaftlichen Kluft, die er im Jahr seines Amtsantritts in Bonn unter anderem zwischen ehemaligen Nationalsozialisten und Nichtnationalsozialisten ausge42 Walter Strauß an Dr. Hans Anschütz, 19.09.1952, in: IfZArch, ED 94, Bd. 378, Bl. 17.

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macht hatte. Wer überhaupt als belastet anzusehen sei, konnte nach Auffassung des Staatssekretärs ohnehin nicht pauschal entschieden, sondern nur anhand des individuellen Falles beurteilt werden. In der Würdigung des privaten wie beruflichen Werdegangs ließ Strauß nicht nur seinen persönlichen Eindruck, sondern auch das eigene Erleben und bei Zeitgenossen eingeholte Erkundigungen mit einfließen. Die auf diese Weise bewertete charakterliche Integrität wurde so – neben der fachlichen Qualität und einschlägigen Berufserfahrungen – zum entscheidenden Kriterium der Personalauslese im Bundesministerium der Justiz unter Walter Strauß. Aus heutiger Sicht mag es befremdlich anmuten, wenn der Staatssekretär, der selbst zu den Verfolgten des NS-Regimes gehört hatte, die Mischung zwischen Verfolgten und Mitläufern in seinem Ministerium als eine »glückliche Mischung« bezeichnete. Aus der Perspektive von Strauß war es aber nur konsequent, durch personalpolitisches Handeln mit dazu beizutragen, die Spaltung der Gesellschaft abzumildern und einen neuen Geist der Gemeinschaft zu fördern.

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Die Rosenburg und der Kriegsverbrecher: Der Fall Max Merten*1

I. Einleitung Auf den ersten Blick scheint der Fall Max Merten kaum mehr als eine Rand­ notiz in der Geschichte des Bundesministeriums der Justiz (BMJ) zu sein. Denn Max Merten (1911–1971), ehemals Referent im Reichsjustizministerium (RJM), anschließend Kriegsverwaltungsrat im besetzten Nordgriechenland und seit Februar 1952 Vollstreckungsrechtsreferent im BMJ, war noch nicht einmal volle acht Monate auf der Bonner Rosenburg tätig. Dennoch ist Merten – zumindest nach bisherigem Kenntnisstand – die wohl schillerndste Personalie des BMJ in seinen Anfangsjahren. Darüber hinaus ist der Fall Merten für die Geschichte des BMJ gleich in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Zum einen ist er bezeichnend für die Personalpolitik auf der Rosenburg in den frühen 1950er Jahren, zum anderen steht er geradezu exemplarisch für den höchst problematischen Umgang des Ministeriums mit der Kriegsverbrecherfrage in der Ära Adenauer. Hinzu kommt die bemerkenswerte Unterstützung, die der Kriegsverbrecher Max Merten von einem profilierten SPD-Politiker erhielt, der 1966 Bundesjustizminister und drei Jahre später Präsident der Bundesrepublik Deutschland wurde, nämlich von Gustav Heinemann. Der nachfolgende Beitrag gibt zunächst einen skizzenhaften Überblick über die ungemein facettenreiche und bisweilen regelrecht filmreife Biografie Max Mertens, bevor in einem zweiten Abschnitt die Bedeutung des Falls Merten für die Geschichte des BMJ vertieft wird. Der dritte und letzte Abschnitt widmet sich Mertens bemerkenswert enger Beziehung zu Gustav Heinemann und seinem Kanzleipartner Diether Posser, dem späteren langjährigen Justiz- und Finanzminister von Nordrhein-Westfalen. Das abschließende Fazit unternimmt den Versuch einer zusammenfassenden Bewertung der zeit- und rechtshistorischen Bedeutung des Falls Merten. * Dieser Beitrag ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags, den der Verfasser erstmals am 6. März 2018 anlässlich der vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) veranstalteten Tagung »Das Rosenburg-Projekt« vor der Deutschen Richterakademie in Wustrau gehalten hat. Er basiert auf seinem mittlerweile abgeschlossenen Dissertationsprojekt, das vom BMJV gefördert und von Prof. Dr. Eva Schumann an der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen betreut worden ist. Die Veröffentlichung der Dissertation wird in Kürze erfolgen.

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II. Max Merten – Eine biografische Skizze Max Merten wurde am 8. September 1911 als Sohn eines Militärmusikers und späteren Reichsbankbeamten in Berlin-Lichterfelde geboren. Er genoss eine streng evangelische Erziehung »fernab jeglicher Verzärtelung«1 und erwies sich wohl nicht zuletzt deshalb schon zu Schulzeiten als strebsam und fleißig: Sein Abitur im Frühjahr 1930 absolvierte er als primus omnium, das heißt als bester Absolvent der Schule.2 Anschließend nahm er – letztlich nur aus Verlegenheit3 – ein rechtswissenschaftliches Studium an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität auf, das er ebenso rasch wie erfolgreich abschloss: Schon Ende Juni 1933 bestand Merten das erste Staatsexamen mit der Note »gut«.4 Damit gehörte er zu den besten sechs Prozent der Absolventen in ganz Preußen.5 Während seiner Referendarausbildung promovierte er obendrein zum Doctor iuris utriusque6 – übrigens ausgerechnet bei dem renommierten jüdischen Zivilrechtler Martin Wolff, was für Merten allerdings nicht unvereinbar zu sein schien mit dem Umstand, dass er bereits 1933 dem Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (BNSDJ) beigetreten war.7 Im Herbst 1936 absolvierte der aufstrebende junge Jurist schließlich auch die Große Staatsprüfung mit überdurchschnittlichem Ergebnis.8 Und so gehörte der frisch examinierte Assessor in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zur Elite des juristischen Nachwuchses. 1.

Karriere im Reichsjustizministerium

Dies war wohl auch der Grund dafür, dass Merten zunächst in den Justizdienst und zum 1. Juli 1938 sodann als Hilfsreferent ins RJM berufen wurde.9 Behilflich mag ihm dabei freilich auch der Umstand gewesen sein, dass er mittlerweile der NSDAP angehörte, in der er sich im Übrigen durchaus aktiv betätigte und später sogar zum Blockleiter aufstieg.10 Im RJM wurde der gerade einmal 26-Jährige nunmehr Mitarbeiter in der bürgerlich-rechtlichen Abteilung, namentlich 1 Lebenslauf Merten vom 03.01.1952, BMJV, P 15 – M 45, Bl. 6. 2 Abiturzeugnis Merten vom 11.03.1930, Bundesarchiv (BArch), R 3001/68158, unfol. 3 Siehe Reife-Prüfung Ostern 1930, Gutachten O I a, Anlage 26 zu Nr. 79/29 vom 28.12.1929, Nr. 12: Max Merten, Lilienthal-Gymnasium Berlin-Lichterfelde, ohne Signatur, unfol. 4 Bescheinigung vom 29.06.1933, BArch, R 3001/68162, unfol. 5 Vgl. Otto Palandt, Die Ergebnisse der ersten juristischen Prüfungen in Preußen im Jahre 1933, in: Deutsche Justiz, Ausgabe A 96 (1934), S. 254–256, hier 255. 6 Seine Dissertation erschien 1935 unter dem Titel »Gutgläubiger Eigentumserwerb und Zeitablauf in ihrer Bedeutung für das rechtliche Schicksal öffentlicher Sachen« in Berlin. 7 Vgl. Mertens RJM-Personalbogen, BArch, R 3001/68149, unfol. 8 Prüfungsbogen vom 25.09.1936, BArch, R 3001/68156, Bl. 6 f. 9 Reichsjustizminister Gürtner an Merten vom 15.06.1938, BArch, R 3001/68149, Bl. 1. 10 Parteistatistische Erhebung 1939, Max Merten (Mitglieds-Nr. 4363753), BArch, R 9361I/2269, unfol.

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im Referat für Zwangsvollstreckungs-, Anwalts- und Internationales Prozessrecht. Und Anfang September 1939, noch vor seinem 28. Geburtstag, übernahm Merten infolge des Kriegsausbruchs und der Einberufung seines Vorgesetzten faktisch selbst die Referatsleitung. Von diesem Zeitpunkt an war er somit auch an allen thematisch einschlägigen Projekten des RJM, insbesondere auf den Gebieten des Zwangsvollstreckungs- und Anwaltsrechts, maßgeblich beteiligt.11 Was Mertens inhaltliche Tätigkeit im RJM und insbesondere seine Mitwirkung an der »nationalsozialistischen Rechtserneuerung« betrifft, so müssen hier zwei Schlaglichter genügen. Eines der wichtigsten Gesetzgebungsprojekte, die Merten auf dem Gebiet des Zwangsvollstreckungsrechts betreute, war die Lohnpfändungsverordnung von 1940,12 an der er federführend mitwirkte. Und so verwundert nicht, dass er sich anschließend offenbar dazu berufen fühlte, der Rechtsprechung Vorgaben für die »richtige« Auslegung der Verordnung zu machen. Wenige Monate nach ihrem Inkrafttreten veröffentlichte er in der Zeitschrift Deutsches Recht, dem amtlichen Organ des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes (ehemals BNSDJ), eine Anmerkung zu einem Beschluss des Amtsgerichts Hamburg, in dem dieses sich mit der Frage auseinanderzusetzen gehabt hatte, ob einem jüdischen Schuldner mit Rücksicht auf seine Unterhaltspflichten gegenüber den eigenen Kindern, wohlgemerkt »Mischlingen 1. Grades«, Pfändungsschutz zu gewähren sei. Sowohl nach bisherigem Recht als auch nach dem Gesetzeswortlaut der neuen Lohnpfändungsverordnung wäre diese Frage eindeutig zu bejahen gewesen. Das Amtsgericht Hamburg hatte den Pfändungsschutz gleichwohl abgelehnt mit der Begründung, dem Gesetzgeber könne »nicht unterstellt werden, daß er deutschblütigen Gläubigern zumuten will, eine Beschränkung der Pfändung zugunsten von zwischen den Rassen stehenden Personen zu dulden«.13 Diese eindeutig contra legem und übrigens auch im Widerspruch zum »Mischlingsprivileg« der NS-Rassegesetze ergangene Entscheidung hieß Merten nun in seiner Anmerkung ausdrücklich gut und stellte mit Blick auf die weitere Anwendung der maßgeblichen Vorschrift klar, dass »selbst die erheblichsten gesetzlichen Unterhaltspflichten eines Juden niemals die Belange eines arischen Gläubigers überwiegen« könnten.14 Nicht minder politisch geprägt war Mertens Arbeit auf dem Gebiet des Anwaltsrechts (im NS-Jargon: »Recht der nichtbeamteten Rechtswahrer«). Hier wirkte er maßgeblich an der Entstehung des § 4 der auf den ersten Blick unscheinbaren Verordnung zur weiteren Ergänzung der Reichs-Rechtsanwaltsordnung von 1941 mit, der schließlich mit folgendem Wortlaut in Kraft trat: 11 Vgl. dazu die Abteilungsverfügung vom 05.08.1940, BArch, R 3001/20056, Bl. 245. 12 Verordnung zur einheitlichen Regelung des Pfändungsschutzes für Arbeitseinkommen (LohnpfändungsV 1940) vom 30.10.1940, in: Reichsgesetzblatt I, S. 1451. 13 Amtsgericht Hamburg, Beschluss vom 02.11.1940, in: Deutsches Recht, Ausgabe A  11 (1941), S. 450–452. 14 Max Merten, Anmerkung zu Amtsgericht Hamburg, Beschluss vom 02.11.1940, in: ebd., S. 452.

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»Gefährdet ein Rechtsanwalt durch Verletzung der ihm obliegenden Pflichten staatswichtige Belange, so kann ihm  – unbeschadet der Möglichkeit weitergehender Maßnahmen  – durch den Reichsminister der Justiz zeitweilig oder dauernd die Ausübung seines Berufs untersagt werden.«15 Hierbei handelte es sich somit um nichts anderes als eine politische Kampfklausel zur Entfernung missliebiger Advokaten aus der Anwaltschaft, wobei die Norm sowohl inhaltlich als auch gesetzestechnisch, nämlich wegen ihres generalklauselartigen Tatbestandes und des weiten Ermessensspielraums auf Rechtsfolgenseite, typisches NS-(Un-)Recht darstellte. Diese Schlaglichter mögen illustrieren, wie willfährig sich der Doppel-Prädikatsjurist Max Merten als Sachbearbeiter im RJM in den Dienst des NS-Regimes stellte und  – anscheinend völlig bedenkenlos  – an der juristischen Diskriminierung von Juden und politisch Andersdenkenden mitwirkte. Schon allein deshalb, so möchte man in der Retrospektive meinen, hätte der Unrechts-Jurist Merten nach 1945 unter den Vorzeichen des Grundgesetzes als disqualifiziert gelten müssen für eine Mitarbeit im BMJ, das Thomas Dehler, der erste Bundesjustizminister, immerhin als »Rechtsministerium« konzipiert hatte.16 Doch wie noch zu zeigen sein wird, war das Gegenteil der Fall. 2.

Militärverwaltungsrat im besetzten Griechenland

Was Mertens Biografie so bemerkenswert macht, ist allerdings weniger sein Wirken im RJM als vielmehr seine Tätigkeit in der deutschen Besatzungsverwaltung in Thessaloniki. Ende Januar 1942 wurde Merten – gegen seinen Willen und trotz mannigfaltiger Bemühungen, diesem Schicksal zu entgehen17 – zur Wehrmacht einberufen. Mehrere Versuche, auf eine Verwaltungsposition zu gelangen und so dem Fronteinsatz zu entgehen, schlugen zunächst fehl, bis Merten schließlich am 28. Juli 1942 mit der Stelle eines Kriegsverwaltungsrates im Range eines Hauptmanns beliehen wurde.18 Die Kriegs- bzw. Militärverwaltungsbeamten waren eine eigens für die Verwaltung der besetzten Gebiete geschaffene Kategorie von Wehrmachtsbeamten, die wie Merten regelmäßig aus zivilen (Reichs-)Behörden stammten, aber uniformiert und in die Wehrmacht

15 § 4 der Verordnung zur weiteren Ergänzung der Reichs-Rechtsanwaltsordnung vom 24.06.1941, in: Reichsgesetzblatt I, S. 333, auch als »Lex Gröpke« bezeichnet; zu den Hintergründen siehe bereits Stefan König, Vom Dienst am Recht. Rechtsanwälte als Strafverteidiger im Nationalsozialismus, Berlin 1987, S. 198–214, und ausführlich die in Kürze erscheinende Dissertation des Verf. 16 Näheres bei Manfred Görtemaker / Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg, Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016, S. 106 f. 17 Vgl. dazu Mertens RJM-Personalakte, BArch, R 3001/68149, Bl. 47–66. 18 Karteikarte Max Merten, BArch, RW 59/2146, unfol.; siehe auch Merten an RJM vom 01.08.1942, ebd., Bl. 74.

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eingegliedert wurden.19 Und als frisch ernannter Militärverwaltungsbeamter wurde Merten nun Anfang August 1942 zum Befehlshaber Saloniki-Ägäis mit Sitz in der nordgriechischen Hafenmetropole Thessaloniki beordert, wo er bald darauf zum Leiter der Abteilung »Verwaltung und Wirtschaft« und damit zum Chef der Besatzungsverwaltung avancierte.20 Griechenland, seit 1941 von den Achsenmächten besetzt, war zu diesem Zeitpunkt in eine italienische, eine bulgarische und mehrere deutsche Besatzungszonen aufgeteilt, wobei der Befehlsbereich Saloniki-Ägäis ganz Zentralmakedonien, das Demotika-Gebiet an der griechisch-türkischen Grenze und mehrere Ägäis-Inseln umfasste. Mertens Zuständigkeit erstreckte sich damit nicht nur auf die größte deutsche Besatzungszone in Griechenland, sondern auch auf ein strategisch ebenso wie wirtschaftlich überaus bedeutsames Territorium.21 Zwar war Merten in seiner Funktion als Leiter der Abteilung »Verwaltung und Wirtschaft« in die Hierarchien der Wehrmacht und der Militärverwaltung eingebunden.22 Gleichwohl verfügten er und seine Abteilung über eine sehr weitreichende faktische Selbstständigkeit und dementsprechende Handlungsspielräume, wie Mertens Stellvertreter später zu berichten wusste.23 Und nicht von ungefähr galt Merten in der griechischen Bevölkerung schon bald als der ungekrönte »König von Makedonien«.24 Hinsichtlich Mertens Wirken in Thessaloniki muss sich dieser Beitrag auf das zugleich bedeutsamste und düsterste Kapitel beschränken, nämlich auf seine Beteiligung an der Verfolgung der griechischen Juden. Thessaloniki mit seiner 19 Näheres dazu: Rudolf Absolon, Die Wehrmacht im Dritten Reich, Bd. 5: 1. September 1939 bis 18. Dezember 1941, Boppard 1988, S. 100–104, und Hans Umbreit, Zur Organisa­ tion der Besatzungsherrschaft, in: Gerhard Otto / Johannes Houwink ten Cate (Hg.), Das organisierte Chaos: »Ämterdarwinismus« und »Gesinnungsethik«. Determinanten nationalsozialistischer Besatzungsherrschaft, Berlin 1999, S. 35–54, hier 41–43. 20 Zu den Daten siehe insb. das Schreiben des Befehlshabers Saloniki-Ägäis an die Reichshauptkasse vom 21.08.1942, BArch, R  3001/68149, Bl. 77, und Merten an RJM vom 06.10.1942, ebd., Bl. 78. 21 Näheres zu den Besatzungszonen und zur Bedeutung des Befehlsbereiches: Vaios ­K alogrias, Okkupation, Widerstand und Kollaboration in Makedonien, 1941–1944, Mainz 2008, S. 35–38, und Anestis Nessou, Griechenland 1941–1944. Deutsche Besatzungspolitik und Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung – eine Beurteilung nach dem Völkerrecht, Göttingen 2009, S. 59–66, 96, 100. 22 In militärischer Hinsicht unterstand er dem Chef des Stabes beim Befehlshaber SalonikiÄgäis, zudem unterlag er der Fachaufsicht durch einen entsprechenden Verwaltungsstab beim übergeordneten Oberbefehlshaber Südost; vgl. dazu den undatierten Abschluss­ bericht über die Militärverwaltung in Griechenland, S. 6, BArch, RW 40/116b, unfol. 23 Zeugenaussage Hans Taxis vom 21.04.1960 vor dem Untersuchungsrichter beim Landgericht Berlin, Landesarchiv Berlin (LAB), B Rep. 058 Nr. 6113, Bl. 257–267, hier 258 f. 24 Merten an Spruchkammer Bad Aibling vom 08.08.1948, Staatsarchiv München (StAM), SpkA, K 1163, Merten, Max, Bl. 17 bzw. Bl. 21; vgl. auch das Schreiben des ehemaligen stellvertretenden Wehrmachtsintendanten Theodor Fischer an den Generalstaatsanwalt in Nürnberg vom 02.09.1959, Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), MJu 24076, unfol.

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jahrhundertealten jüdischen Tradition galt bis ins 20. Jahrhundert hinein als »Jerusalem des Balkans«. Noch 1940 lebten in der nordgriechischen Hafenstadt etwa 56.000 Juden, die mehr als ein Fünftel der Stadtbevölkerung und gleichzeitig zwischen 70 und 80 Prozent aller überhaupt in Griechenland lebenden Juden ausmachten.25 Und ausgerechnet Thessaloniki, das jüdische Zentrum Griechenlands, traf nun das »geografische Schicksal«, von Anfang an unter deutsche Besatzung zu geraten.26 Systematische Verfolgungsmaßnahmen blieben zunächst jedoch aus. Dies änderte sich erst, als der Befehlshaber Saloniki-Ägäis Anfang Juli 1942 die Registrierung aller männlichen Juden der Stadt im arbeitsfähigen Alter anordnete, um diese anschließend zur Zwangsarbeit heranzuziehen. Am 11. Juli 1942, der als »schwarzer Sabbat« in die Annalen der jüdischen Gemeinde Thessalonikis einging, wurden daraufhin etwa 9.000 jüdische Männer auf der Plateía Eleutherías im Stadtzentrum zur Registrierung versammelt. Dabei kam es zu menschenunwürdigen Schikanen und Misshandlungen seitens der deutschen Besatzungsmacht und sogar zu vereinzelten Todesfällen.27 Anschließend wurden mehrere tausend Juden zur Zwangsarbeit auf Baustellen der Wehrmacht und der Organisation Todt, der paramilitärischen Bautruppe des NS-Regimes, herangezogen, wo derart desolate Lebens- und Arbeitsbedingungen herrschten, dass die Sterbeziffer auf einzelnen Baustellen bald schon bis zu 12 Prozent erreichte.28 Max Merten war weder an der Anordnung des Zwangsarbeitereinsatzes noch an der Registrierungsaktion in irgendeiner Form beteiligt. Dies verdient deshalb besondere Betonung, weil Merten selbst von namhaften Autoren – freilich ohne Belege – bis in die jüngste Vergangenheit hinein als der maßgebliche Ver­ antwortliche für den »schwarzen Sabbat« dargestellt worden ist.29 Tatsächlich aber lässt sich anhand von Personalunterlagen nachweisen, dass Merten erst 25 Näheres dazu: Kateřina Králová, Das Vermächtnis der Besatzung. Deutsch-griechische Beziehungen seit 1940, Köln 2016, S. 59–63, und Rena Molho, Der Holocaust der griechischen Juden. Studien zur Geschichte und Erinnerung, übers. aus dem Griechischen von Lulu Bail, Bonn 2016, S. 50, 57–59. 26 Vgl. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, Frankfurt a. M. 102007, S. 737. 27 Hierzu statt vieler: Mark Mazower, Griechenland unter Hitler. Das Leben während der deutschen Besatzung 1941–1944, Frankfurt a. M. 2016, S. 284 f. 28 So jedenfalls der Zeitzeuge Michael Molho, Israelitische Gemeinde Thessalonikis In Memoriam gewidmet dem Andenken an die jüdischen Opfer der Naziherrschaft in Griechenland. Nach der zweiten (1973), rev. Aufl. des unvergeßlichen Joseph Nehama und der griechischen Übersetzung (1976) von Georgios K. Zographakis ins Deutsche übersetzt von Peter Katzung, Essen 1981, S. 77; im Übrigen siehe auch Králová, Das Vermächtnis, S. 68, und Mazower, Griechenland, S. 285. 29 Siehe etwa: Götz Aly, Hitlers Volksstaat: Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Bonn 2005, S. 285; David Cesarani, »Endlösung«. Das Schicksal der Juden 1933 bis 1948, Berlin 2016, S. 717, oder Rena Molho, La politique de l’Allemagne contre les juifs de Grèce. L’extermination de la communauté juive de Salonique (1941–1944), in: Revue d’histoire de la Shoa 2 (2006), H. 185, S. 355–378, hier 361.

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mehr als zwei Wochen nach dem »schwarzen Sabbat« bei der Annahme- und Entlassungsstelle für Militärverwaltungsbeamte in Marburg an der Lahn zum Kriegsverwaltungsrat ernannt wurde, bevor man ihn am 3. August 1942 von dort aus nach Thessaloniki in Marsch setzte, wo er schließlich erst weitere sieben Tage später eintraf.30 Für den »schwarzen Sabbat« und seine unmittelbaren Folgen konnte Merten somit keine Verantwortung tragen. Er war es jedoch, der nun – nach seinem Amtsantritt in Thessaloniki – als Vertreter der deutschen Besatzungsmacht mit der Jüdischen Kultusgemeinde über einen Freikauf der todgeweihten jüdischen Zwangsarbeiter verhandelte, und dies durchaus mit »Erfolg«:31 Tatsächlich gelang es ihm, der Jüdischen Kultusgemeinde das Einverständnis zu einem immensen Lösegeld in Höhe von zwei Milliarden Drachmen (umgerechnet etwa 2,5 Millionen Reichsmark)32 abzupressen. Obendrein nötigte er sie dazu, ihren im Stadtzentrum gelegenen Friedhof, damals eine der größten und bedeutendsten jüdischen Nekropolen Europas, der Stadtverwaltung Thessalonikis zur Einebnung zu überlassen – eine Maßnahme, mit der sich der Neuankömmling Merten offenbar bei den nicht­ jüdischen Eliten der Stadt beliebt zu machen versuchte, die das Gelände schon seit Langem für die Stadtentwicklung nutzen wollten.33 Angesichts dieses erpresserischen »Deals« mutet es geradezu zynisch an, wenn es in einer dienst­lichen Beurteilung über Merten aus dem März 1943 heißt, für einen Juristen habe Merten »überraschend gute kaufmännische Talente« bewiesen.34 Während der jüdische Friedhof eingeebnet und die dabei freigewordenen Baumaterialien, vor allem die wertvollen marmornen Grabplatten, unter deutscher Aufsicht an Stadtverwaltung, Kirchen und Privatleute zur Ausbesserung von Gehwegen, Friedhöfen und Gebäuden verteilt wurden  – bis heute finden sich Überreste jüdischer Grabplatten in Thessalonikis Stadtbild  –,35 gelang es der Jüdischen Kultusgemeinde und ihren Mitgliedern tatsächlich, einen Großteil des Lösegeldes aufzubringen: Mehr als 1,5 Milliarden Drachmen flossen bis

30 Siehe bereits Fn. 18 und 20, ferner Mertens dienstliche Beurteilung vom 10.03.1943, BArch, R 3001/68149, Bl. 84; im Übrigen sei auf die in Kürze erscheinende Dissertation des Verf. verwiesen. 31 Zum Folgenden siehe insb. die Zeitzeugenberichte von Molho, In Memoriam, S. 78–80, und Yomtov Yacoel, In the Anterroom to Hell: Memoir, in: Steven B. Bowman / Isaac Benmayor (Hg.), The Holocaust in Salonika. Eyewitness accounts, New York 2002, S. 25–121, hier 54–61. 32 Vgl. dazu: Jürgen Kilian, Krieg auf Kosten anderer. Das Reichsministerium der Finanzen und die wirtschaftliche Mobilisierung Europas für Hitlers Krieg, Berlin 2017, S. 453. 33 Vgl. dazu auch schon: Mark Mazower, Salonica. City of Ghosts: Christians, Muslims, and Jews, 1430–1950, New York 2006, S. 397 f., und Leon Saltiel, Dehumanizing the Dead. The Destruction of Thessaloniki’s Jewish Cemetry in Light of New Sources, in: Yad Vashem Studies 42 (2014), H. 1, S. 11–46, hier 12. 34 Dienstliche Beurteilung vom 10.03.1943, BArch, R 3001/68149, Bl. 84. 35 Näheres etwa bei Saltiel, Dehumanizing the Dead, S. 26–31.

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Januar 1943 an die Abteilung »Verwaltung und Wirtschaft«.36 Ihr Verbleib ist bis heute nicht endgültig geklärt.37 Seit den 1990er Jahren aber bemüht sich die Jüdische Gemeinde Thessaloniki um Restitution von der Bundesrepublik, bislang freilich ohne Erfolg.38 Für das in griechisches Staatseigentum übergegangene Friedhofsgelände, auf dem heute die Aristoteles-Universität steht, hat die Jüdische Gemeinde Thessaloniki 2011 dagegen eine Entschädigung von rund zehn Millionen Euro von der Athener Regierung erhalten.39 Die Vorgänge im Zusammenhang mit dem Zwangsarbeitereinsatz waren allerdings nur der erste Schlag gegen die jüdische Bevölkerung Thessalonikis. Der zweite begann Anfang Februar 1943, als das Reichssicherheitshauptamt (RSHA), namentlich das Referat IV  B  4 unter Leitung von SS-Obersturm­bannführer Adolf Eichmann, ein Sonderkommando nach Thessaloniki entsandte, das dort die Deportation der jüdischen Bevölkerung vorbereiten sollte. Angeführt wurde dieses Sonderkommando von den berüchtigten »Judenberatern« Dieter ­Wisliceny und Alois Brunner, die bis 1945 an der Deportation und Ermordung von insgesamt mehr als 600.000 Juden in ganz Europa mitwirkten.40 Wisliceny und Brunner begannen nun, sukzessive die systematische Verfolgung, Entrechtung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung Thessalonikis in die Tat umzusetzen – mit tatkräftiger Unterstützung Max Mertens. Denn das RSHA besaß zu diesem Zeitpunkt keine nennenswerte Hausmacht im besetzten Griechenland. Es verfügte lediglich über zwei kleine Dienststellen, je eine in Athen und Thessaloniki, die jeweils nur mit einigen wenigen Beamten besetzt waren und daher schon personell und logistisch gar nicht in der Lage gewesen wären, die Verfolgung und Deportation zehntausender Menschen in die Wege zu leiten.41 36 Vgl. einerseits Molho, In Memoriam, S. 81, und Yacoel, In the Anterroom to Hell, S. 64, sowie andererseits Euággelos Chekímoglou, Οι »χαμένες« επιταγές του Μέρτεν [Die »verlorenen« Schecks von Merten], in: Θεσσαλονικέων Πόλις  18 (2005), S. 40–59, hier 52–54, 57. 37 Vgl. etwa die (nicht belegbaren) Spekulationen von Aly, Hitlers Volksstaat, S. 284–287. 38 Näheres bei Nina Schulz / Elisabeth Mena Urbitsch, Spiel auf Zeit. NS-Verfolgte und ihre Kämpfe um Anerkennung und Entschädigung, Berlin 2016, S. 251 f.; Eberhard Rondholz, Alles vergessen, alles erledigt?, Die Shoa in Thessaloniki, und wie Griechen und Deutsche damit umgehen, in: εξάντας 2015, S. 30–35, hier 31 f.; Karl Heinz Roth, Die deutsche Reparationsschuld gegenüber Griechenland und Europa – Ein Überblick, in: Ders. / Hartmut Rübner, Reparationsschuld, Hypotheken der deutschen Besatzungsherrschaft in Griechenland und Europa, Berlin 2017, S. 9–198, hier 167. 39 Wassilis Aswestopoulos, Zehn Millionen für 500.000 Gräber. Die Juden von Thessaloniki erhalten eine Entschädigung für ihren 1942 zerstörten Friedhof, in: Jüdische Allgemeine, 12.04.2011, abrufbar unter: https://www.juedische-allgemeine.de/juedische-welt/zehnmillionen-fuer-500-000-graeber/ (zuletzt aufgerufen am 19.10.2020). 40 Näheres bei Claudia Steur, Eichmanns Emissäre. Die »Judenberater« in Hitlers Europa, in: Gerhard Paul / K laus-Michael Mallmann (Hg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. »Heimatfront« und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 403–436. 41 Vgl. Mazower, Griechenland, S. 264, und Vaios Kalogrias / Stratos N. Dordanas, Deutsche Polizeibehörden im besetzten Griechenland, 1941–1944, in: Wolfgang Schulte (Hg.), Die

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Hinzu kam, dass sämtliche exekutiven und legislativen Befugnisse im Südostraum in den Händen der jeweiligen Wehrmachtsbefehlshaber lagen,42 sodass Eichmanns Emissäre auch in rechtlicher Hinsicht auf die Kooperation der zuständigen Wehrmachtsstellen, insbesondere die der Militärverwaltung unter Max Merten, dringend angewiesen waren. Tatsächlich erwies Merten sich nicht nur als willfähriger Unterstützer, sondern entwickelte auch eine bemerkenswerte Eigeninitiative, etwa indem er versuchte, die Bemühungen des italienischen Generalkonsulats zu torpedieren, griechische Juden durch Einbürgerung dem deutschen Zugriff zu entziehen.43 Vor allem aber erließ Merten eine ganze Reihe von Befehlen, welche die im Deutschen Reich geltenden Rassegesetze Schritt für Schritt auf den Befehlsbereich Saloniki-Ägäis ausdehnten und die jüdische Bevölkerung sukzessive sämtlicher Rechte beraubten, beginnend mit der Anordnung der Ghettoisierung und der Einführung des »Judensterns« über massivste Beschränkungen der Freizügigkeit bis hin zur entschädigungslosen Enteignung.44 Und für den Fall der Flucht aus den Ghettos drohte Merten den Juden mit sofortiger Erschießung, wobei es nachweislich nicht nur bei der bloßen Androhung blieb.45 Bei alldem legte Merten durchaus Wert auf die Feststellung, dass es »[k]raft der dem Befehlshaber Saloniki-Ägäis verliehenen Rechtssetzungsbefugnis«46 und nicht etwa auf Anordnung des RSHA verfügt werde. Die Unterschriftsformel unter all seinen Befehlen lautete im Übrigen stets gleich: »Für den Befehlshaber Saloniki-Ägäis / Der Chef des Stabes / I. A. / Dr. Merten / Kriegsverwaltungsrat«. Hinter der Zeichnung »im Auftrag« verbarg sich dabei aber – anders als ein umstrittener deutscher Zeithistoriker behauptet47 – keineswegs der Versuch der Distanzierung, war die Zeichnung doch damals wie heute durch Dienstvor-

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Polizei im NS-Staat. Beiträge eines internationalen Symposiums an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster, Frankfurt a. M. 2009, S. 425–450, hier 438. Siehe z. B. Richtlinien für die Ausübung der vollziehenden Gewalt des Oberbefehlshabers Südost vom 15.02.1943, Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), 01-070083/1, unfol. Vgl. dazu etwa Rademacher (Auswärtiges Amt = AA) an das dt. Generalkonsulat in Thessaloniki vom 03.03.1943 und dessen Antwort vom 06.03.1943, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA), RZ 214, R 100870, Bl. 67 f. und Bl. 70; ferner Mertens Bericht an das dt. Generalkonsulat vom 26.04.1943, ebd., Bl. 147 f. Siehe insb. Mertens Befehle vom 06.02., 13.02. und 13.03.1943, Yad Vashem Archives (YVA), O.51/328, Bl. 1, 4, 9. Vgl. dazu Sondermilitärgericht für Kriegsverbrecher Athen, Urteil vom 05.03.1959, S. 32 (dt. Übersetzung), PA AA, B 83/430, unfol. So Mertens Befehl vom 06.02.1943, YVA, O.51/328, Bl. 1. Heinz A. Richter, Sühnung von Kriegsverbrechen, Reparationsforderungen und der Fall Merten, in: Thetis 20 (2013), S. 440–464, hier 452; zur berechtigten Kritik an Richters Arbeiten siehe Hagen Fleischer / Karl Heinz Roth / Christoph U. Schminck-Gustavus, Die Opfer und nicht die Täter sollen in der Bringschuld sein?, Zur Medienkampagne gegen die griechischen Reparationsansprüche aus dem Zweiten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 64 (2016), H. 4, S. 379–388, hier 384–388.

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schriften detailliert vorgegeben.48 Vielmehr besagte diese Art der Zeichnung nichts anderes, als dass Merten als letztverantwortlicher zeichnungsbefugter Beamter seiner Dienststelle die abschließende inhaltliche Verantwortung für das Angeordnete übernahm. Beginnend mit dem 15. März 1943 wurden sodann binnen weniger Monate mehr als 45.000 Menschen von Thessaloniki aus in Güterwaggons gen Osten deportiert, die allermeisten nach Auschwitz, wo die Mehrheit der lebendig An­ gekommenen sofort nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet wurde.49 Dabei gelang nirgendwo sonst in Griechenland, abgesehen von der Kleinstadt Ioannina, die »Endlösung« so reibungslos und umfassend wie in Thessaloniki. Dies ist nicht zuletzt der tatkräftigen Mitwirkung Max Mertens zuzuschreiben, der zwar als Chef der Militärverwaltung für die Deportation und Ermordung der Juden unmittelbar keine Verantwortung trug, sie aber durch wesentliche Beiträge im Vorfeld überhaupt erst möglich gemacht hatte.50 Dabei muss im Übrigen davon ausgegangen werden, dass Merten aufgrund seiner vorherigen Tätigkeit im RJM durchaus über das Schicksal Bescheid wusste, das die deportierten Juden erwartete.51 3.

Vom zwielichtigen Unternehmer zum Referenten im BMJ

Im März 1944 wurde Merten seines Postens als Chef der deutschen Besatzungsverwaltung in Thessaloniki enthoben, was wohl nicht nur an seiner allzu eigenwilligen Amtsführung lag, sondern auch am Vorwurf der persönlichen Bereicherung, der sogar ein Kriegsgerichtsverfahren nach sich zog.52 Zwar gelang es dem Spitzenjuristen, dieses Verfahren erfolgreich bis zum Kriegsende zu verschleppen und auch der Versetzung an die Ostfront zu entgehen, sein 48 Vgl. Ziff. 5 lit. a und Ziff. 7 der Dienstanweisung des Oberkommandos des Heeres für die Verwaltung in Griechenland vom 19.02.1941, BArch, RW 4/588, Bl. 74–76, hier 75, und dazu insb. § 53 der Gemeinsamen Geschäftsordnung für die höheren Reichsbehörden, ebd., R 43-I/1959, Bl. 35–61, hier 48 f. 49 Dazu statt vieler: Hagen Fleischer, Griechenland, in: Wolfgang Benz (Hg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991, S. 241 –274, hier 254, 268 f., und Hans Safrian, Die Eichmann-Männer, Wien 1993, S. 244, 257. Die Zahl der aus Thessaloniki Deportierten schwankt je nach Quelle und Autor zwischen 43.000 und 49.000. 50 Vgl. auch schon Mazower, Griechenland, S. 309. 51 Dies legt zumindest ein Vermerk nahe, den Merten noch als Referent im RJM am 29.10.1941 nach einem Telefonat mit der NSDAP-Partei-Kanzlei niederlegte, siehe BArch, R 3001/20688, Bl. 202. 52 Vgl. dazu insb. den Vermerk von Carl Schürmann, ehemals Sonderführer bei der Geheimen Feldpolizei in Thessaloniki, vom 16.05.1957, ACDP, 01–070–081/3, unfol., sowie die Zeugenaussage des ehemaligen Militärverwaltungsrates Sklode von Perbandt vor dem Untersuchungsrichter des Landgerichts Berlin vom 16.06.1967, LAB, B Rep. 058 Nr. 6124, Bl. 120–123, hier 122.

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»geliebtes Saloniki«53 musste Merten aber verlassen. Bis zum Kriegsende blieb er in unterschiedlichen Verwaltungsfunktionen auf dem Balkan tätig, bevor er am 8. Mai 1945 an der deutsch-österreichischen Grenze in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft und anschließend in Zivilinternierung geriet.54 Die Amerikaner boten der griechischen Regierung zweimal Mertens Auslieferung an. Beide Male aber lehnten Vertreter der griechischen Regierung ab, und zwar mit der erstaunlichen Begründung, über Mertens Wirken in Thessaloniki sei nur Positives bekannt.55 Dies geschah bemerkenswerterweise zu einem Zeitpunkt, als das Hellenische Nationale Büro für Kriegsverbrechen (HNBKV) beim griechischen Außenministerium längst darum ersucht hatte, Mertens Auslieferung zu beantragen.56 Offenbar zahlte sich nun aus, dass Merten während seiner Zeit in Thessaloniki gute Beziehungen zu den antikommunistisch eingestellten griechischen Eliten gesucht und diesen manche Gefälligkeit er­ wiesen hatte.57 Jedenfalls wurde er im November 1946 aus der Internierung entlassen und konnte ein neues Leben in Oberbayern in der Nähe von Bad Aibling beginnen. Die Spruchkammer Bad Aibling war es auch, die Merten im September 1948 entnazifizierte, indem sie den – in Wahrheit hochgradig belasteten – ehemaligen Militärverwaltungsrat schließlich für »entlastet« (Kategorie V) befand.58 Dies stellte eine geradezu zynische Verdrehung der Tatsachen dar, durfte als »Entlasteter« von Gesetzes wegen doch nur gelten, wer »nach dem Maß seiner Kräfte aktiv Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft geleistet« hatte.59 Merten hatte ihr dagegen schon im RJM, erst recht aber in Thessaloniki eindeutig Vorschub geleistet. Doch auch nun kamen ihm augenscheinlich wieder seine freundschaftlichen Kontakte zu ehemaligen griechischen Kollaborateuren zugute, verdankte er seinen günstigen Spruchkammerbescheid doch ganz wesentlich einem »Persilschein« des griechischen Diplomaten und späteren Botschafters in Bonn Thōmás Ypsīlántīs.60

53 Vgl. Merten an Vasíleios Simōnídīs vom 24.07.1944, LAB, B Rep. 058 Nr. 6135, unfol. 54 Vgl. Merten an Spruchkammer Bad Aibling vom 08.08.1948, StAM, SpkA, K 1163, Merten, Max, Bl. 17–26, hier 25 f., und Lebenslauf Merten vom 24.05.1950, LAB, B Rep. 068 Nr. 1903, Bl. 1–3, hier 2. 55 So Mertens Lebenslauf vom 24.05.1950, ebd., und seine Zeugenaussage vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten vom 29.–31.05.1961, BArch, ALL PROZ 6/10, Bl. 2–29, hier 5. 56 Vgl. Sondermilitärgericht für Kriegsverbrecher Athen, Urteil vom 05.03.1959, S. 20 (dt. Übersetzung), PA AA, B 83/430, unfol. 57 Vgl. auch Susanne-Sophia Spiliotis, Der Fall Merten, Athen 1959. Ein Kriegsverbrecherprozeß im Spannungsfeld von Wiedergutmachungs- und Wirtschaftspolitik, Magisterarbeit, München 1991, S. 159. 58 Spruchkammer Bad Aibling, Spruch vom 08.09.1948, StAM, SpkA, K 1163, Merten, Max, Bl. 27. 59 Art. 13 des Gesetzes Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 05.03.1946, Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1946, S. 145. 60 Vgl. Ypsīlántīs an Spruchkammer Bad Aibling vom 11.11.1947, BArch, B 305/1043, Bl. 7.

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Nachdem Merten auf diese Weise »reingewaschen« worden war, betätigte er sich zunächst als Unternehmer in Oberbayern. Als Prokurist eines lediglich formal auf den Namen seiner Ehefrau registrierten dubiosen Handelsgeschäftes bot er »chemisch-pharmazeutische« und »chemisch-technische« Erzeugnisse feil, darunter zweifelhafte Arzneien und Pestizide,61 außerdem versuchte er, in den Holzimport einzusteigen. Schon bald trat Merten allerdings wegen Betruges und gewerbsmäßiger Zollhehlerei strafrechtlich in Erscheinung.62 Überdies sah er sich wegen unlauterer Holzgeschäfte schließlich erheblichen Schadensersatzforderungen ausgesetzt, wobei er Vollstreckungsmaßnahmen unter Hinweis darauf zu entgehen versuchte, dass er selbst vermögenslos sei, während das Betriebsvermögen im Alleineigentum seiner Frau stehe.63 Unterdessen strebte der einstige »König von Makedonien« bereits eine berufliche Neuorientierung an: Zum einen bemühte er sich (letztlich mit Erfolg) um Zulassung zur Rechtsanwaltschaft in seiner Heimatstadt Berlin.64 Zum anderen bewarb er sich im September 1950 um Aufnahme in den gerade im Aufbau befindlichen diplomatischen Dienst der Bundesrepublik Deutschland. Freilich schwebte Merten dabei eine ganz bestimmte Verwendung vor, nämlich ausgerechnet die als deutscher Generalkonsul in Athen65 – ein Zeichen seiner bemerkenswerten Hybris und Realitätsblindheit. Dass er mit dieser Bewerbung erfolglos blieb, überrascht nicht. Erfolg hatte er dagegen geraume Zeit später an anderer Stelle: Zum 1. Februar 1952 wurde der ehemalige RJM-Referent als Sachbearbeiter für Zwangsvollstreckungsrecht ins BMJ berufen, wo er nun scheinbar nahtlos an seine frühere juristische Karriere anknüpfen konnte. Auf die Hintergründe seiner (Wieder-) Einstellung und die – auf den ersten Blick nebulösen – Umstände seines überraschend frühen Ausscheidens knapp acht Monate später wird noch vertieft einzugehen sein.

61 Vgl. dazu die Annonce seines Unternehmens »Antonie Hurler« in der Sonderbeilage des Oberbayerischen Volksblatts vom 16.10.1948, S. 4, abgedruckt bei Herbert Gornig, Bad Aibling, Geschichte einer Stadt, Bd. 2, Bad Aibling 2007, S. 207–210, hier 210. 62 Siehe etwa Fritz Puchstein an Anwaltskammer Traunstein vom 29.09.1950, Stadtarchiv München, DE-1992-KOE-RAK-0444, und die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft München I vom 27.07.1956, BayHStA, MJu 24076, beide unfol. 63 Vgl. dazu den Schriftsatz der Klägerseite vom 01.07.1952 und den Vermerk von Abteilungs­ leiter Georg Petersen (BMJ) vom 12.07.1952, BMJV, P 15 – M 45, Bl. 40 f. und Bl. 44–46. 64 Vgl. den Zulassungsbescheid vom 11.10.1950, LAB, B Rep. 068 Nr. 1903, Bl. 16. 65 Siehe Mertens Schreiben ans Bundeskanzleramt vom 10.09.1950, ACDP, 01-070-081/3, unfol.

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4.

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Vor dem Kriegsverbrechertribunal in Athen

Nachdem Merten die Bonner Rosenburg hinter sich gelassen hatte, war er vorwiegend als Rechtsanwalt tätig. Und in dieser Eigenschaft reiste er im April 1957 nach Athen – übrigens nicht, um angebliche Kriegsbeute aus der Besatzungszeit zu bergen, wie von Schatzsuchern, aber auch manchen Historikern verschiedentlich spekuliert worden ist,66 sondern vielmehr im Auftrag eines Münchner Reiseunternehmens, für das Merten Geschäfte mit einem griechischen Reeder abschließen sollte.67 Darüber hinaus beabsichtigte Merten, der die griechische Justiz selbst augenscheinlich nicht fürchtete, beim HNBKV ein gutes Wort für einen Militärverwaltungskameraden einzulegen, dem die griechischen Behörden wegen des Vorwurfs der Kriegsverbrechen seit Jahren die Freigabe seines in Griechenland belegenen Vorkriegsvermögens versagten. Tatsächlich nahm ein Untersuchungsrichter Mertens Aussage auf – allerdings mit ungeahnten Folgen für den einstigen Kriegsverwaltungsrat, der noch an Ort und Stelle seinerseits als Kriegsverbrecher verhaftet wurde.68 Die Vorwürfe gegen Merten beschränkten sich zunächst auf die Mitwirkung an unrechtmäßigen Inhaftierungen und Hinrichtungen griechischer Zivilisten sowie auf die illegale Beschlagnahme und Plünderung von Privat- und Geschäftsvermögen.69 Im Laufe der nun erstmals mit Nachdruck betriebenen Ermittlungen des HNBKV kamen jedoch rasch weitere Beschuldigungen hinzu, die schließlich auch Mertens gesamte Involvierung in den Komplex der Judenverfolgung bis hin zur Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Thessalonikis abdeckten.70 Bemerkenswert und aus heutiger Sicht geradezu befremdlich waren die intensiven und mannigfachen Bemühungen, welche die Zentralbehörden der vermeintlich geläuterten Bundesrepublik nun entfalteten, um den (mutmaßlichen) NS-Kriegsverbrecher Merten der griechischen Justiz zu entziehen. Federführend beteiligt waren daran ausgerechnet das BMJ sowie das Auswärtige Amt, dort insbesondere die Zentrale Rechtsschutzstelle (ZRS), zu deren offiziellen Aufgaben die amtliche Protektion (mutmaßlicher) deutscher Kriegsverbrecher im 66 Vgl. Rush Is On For Nazi Gold in Greek Sea, in: New York Times, 31.07.2000, S. 4, und Search for Nazi Loot Off Greece Is Unsuccessful, in: New York Times, 16.08.2000, S. 3, aber auch Evi Gkotzaridis, A Pacifist’s Life and Death. Grigorios Lambrakis and Greece in the Long Shadow of Civil War, Newcastle-upon-Tyne 2016, S. 161. 67 Siehe z. B. Mertens Apologie vor dem Sondermilitärgericht für Kriegsverbrecher vom 26.02.1959 (Tag 4), S. 21, LAB, B Rep. 058 Nr. 6648, unfol. 68 Vgl. dazu einerseits Mertens Aussage vor dem HNBKV vom 26.04.1957, BArch, B 305/1049, Bl. 194 f., sowie andererseits Mertens Apologie [Fn. 67], S. 22 f. 69 Presseerklärung des griech. Justizministeriums vom 13.05.1957, BArch, B  305/1041, Bl. 200. 70 Siehe dazu die Nachtragsanklagen vom 31.07. und 26.10.1957, LAB, B Rep. 058 Nr. 6135, Dokumente 132 und 133, beide unfol.

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In- und Ausland gehörte.71 Aber auch andere Bundesministerien, das Bundeskanzleramt und sogar Bundeskanzler Konrad Adenauer höchstselbst waren an den Bemühungen um Mertens Freilassung beteiligt. Dabei schien jedes Mittel recht, selbst das der – mal mehr, mal weniger subtilen – Erpressung. So drohte man der griechischen Regierung etwa damit, deutsche Touristen vor Reisen nach Griechenland offiziell zu warnen.72 Und Bundeskanzler Adenauer gab dem griechischen Ministerpräsidenten Kōnstantínos Karamanlī́s bei einem Staatsbesuch in Bonn zu verstehen, dass es bei der Ratifikation einer griechischerseits dringend benötigten Anleihe über 200 Millionen D-Mark Schwierigkeiten geben könne, wenn der Fall Merten nicht aus dem Weg geschafft werde.73 Welches Ausmaß die amtliche Unterstützung für Merten annahm, verdeutlichen auch die Kosten der »Rechtsschutzsache Merten«, die bis zu seiner Freilassung auf mehr als 260.000 D-Mark (nach heutigen Kaufkraftverhältnissen über 600.000 Euro) anwuchsen.74 Zum Vergleich: Als 1960 dem Organisator der »Endlösung« Adolf Eichmann in Israel der Prozess gemacht werden sollte, stellte die ZRS hierfür weniger als die Hälfte in Aussicht (dass sie letztlich ganz von einer Unterstützung Eichmanns absah, lag im Übrigen ausgerechnet an Merten, der inzwischen versuchte, den Eichmann-Prozess für seine Rehabilitierungskampagne zu instrumentalisieren).75 Der größte Teil der Kosten in der »Rechtsschutzsache Merten« entfiel auf Anwaltshonorare, aber auch für das materielle Wohl des Häftlings Merten wurden beträchtliche Summen aus Steuermitteln aufgewendet, etwa für eine tägliche warme Mahlzeit aus einem Athener Restaurant oder »Taschengelder« zur Bestechung der Gefängniswärter.76 Insgesamt ging der »Rechtsschutz« für den Kriegsverbrecher Merten sowohl in materieller als auch in ideeller Hinsicht weit über den üblichen konsularischen Schutz hinaus. Trotz aller deutschen Bemühungen ließ sich aber nicht verhindern, dass Merten fast zwei Jahre in Untersuchungshaft blieb, bevor er im Februar 1959 vor ein Sondermilitärgericht für Kriegsverbrecher in Athen gestellt wurde. Dieses erkannte ihn nach mehrwöchiger Beweisaufnahme in wesentlichen Punkten der Anklage für schuldig und verurteilte ihn zu 25 Jahren Zuchthaus77  – freilich nachdem auf Weisung des griechischen Ministerpräsidenten, der wiederum auf Bonner Druck gehandelt hatte, gezielt alle Anklagepunkte eliminiert worden 71 Zu den Aufgaben der ZRS siehe Bundestagsdrucksache 1/165 und das Bundestagsplenarprotokoll 1/19 vom 01.12.1949, S. 548. 72 Vgl. das dt. Memorandum vom 29.07.1957, BArch, B 305/1042, Bl. 24 f. 73 Siehe das Besprechungsprotokoll vom 12.11.1958, S. 2, PA AA, B 130/5854A, unfol. 74 Aufstellung der ZRS vom 18.12.1959, BArch, B 305/1125, Bl. 214. 75 Bericht des Bundesnachrichtendienstes (BND) vom 03.11.1960, BND, 121099_OT (43123_ OT), Bl. 1820 f.; zu Mertens Kampagne Näheres im folgenden Abschnitt. 76 Siehe Anlage 1 zum Bericht der Athener Botschaft vom 05.11.1959, BArch, B 305/1058, Bl. 169 f., und im Übrigen den Botschaftsbericht vom 31.05.1958, ebd., B 305/1047, Bl. 7 f. 77 Sondermilitärgericht für Kriegsverbrecher Athen, Urteil vom 05.03.1959 (dt. Übersetzung), PA AA, B 83/430, unfol.

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waren, die unweigerlich die Todesstrafe nach sich gezogen hätten.78 Ganz ohne Erfolg waren die Vorstöße der Bundesregierung also nicht geblieben. Auch nach Mertens Verurteilung setzte sie ihr Engagement für den nunmehr rechtskräftig verurteilten Kriegsverbrecher fort, bis die griechische Regierung ihn aufgrund einer auf abenteuerliche Weise zustande gekommenen Generalamnestie für deutsche Kriegsverbrecher79 im November 1959 an die Bundesrepublik oder vielmehr an die bundesdeutsche Justiz überstellte. Denn zwischenzeitlich hatte die Westberliner Justiz ein Ermittlungsverfahren gegen Merten eingeleitet, das dieselben Vorwürfe zum Gegenstand hatte, wegen derer er bereits in Athen verurteilt worden war. Allerdings handelte es sich bei den Berliner Ermittlungen – wie allen Beteiligten nur allzu bewusst war – um ein bloßes »Alibi-Verfahren«, das der griechischen Regierung lediglich einen Vorwand für Mertens Auslieferung geben sollte.80 Der leicht erregbaren griechischen Öffentlichkeit sollte auf diese Art und Weise suggeriert werden, dass sich die bundesdeutsche Justiz beherzt der Kriegsverbrecherfrage annehme. Und so wurde Merten, kaum dass er in Deutschland eingetroffen war, sogleich verhaftet und ins Untersuchungshaftgefängnis Moabit verbracht. Freilich währte sein Aufenthalt dort nur zehn Tage, bevor er auf richterliche Anordnung entlassen wurde – zwar gegen Auflagen, tatsächlich aber konnte sich Merten fortan weitgehend frei bewegen, sogar regelmäßig nach Westdeutschland reisen und auch seine Rechtsanwaltstätigkeit wieder aufnehmen. Das weitgehend lustlos betriebene Ermittlungsverfahren zog sich im Übrigen noch Jahre ergebnislos hin, bis Merten 1968 schließlich teils aus Gründen der Verjährung, teils aus Mangel an Beweisen außer Verfolgung gesetzt wurde.81 Allerdings blieb dabei selbst für die permissive Berliner Justiz ausdrücklich der Verdacht bestehen, dass Merten seine Stellung in Thessaloniki »zu zahlreichen ungesetzlichen Handlungen ausgenutzt«, eine »Willkürherrschaft« ausgeübt und sich in einer Weise verhalten habe, »die für einen Wehrmachtsbeamten und Volljuristen eine Unmöglichkeit« sei und »jede Achtung vor der Menschenwürde« vermissen lassen habe.82

78 Vgl. dazu z. B. den Botschaftsbericht vom 12.03.1959, BArch, B 305/1053, Bl. 159 f. 79 Vgl. dazu etwa die Botschaftsberichte vom 19. und 24.10.1959, PA AA, B 26/134, Bl. 287, und B 26/133, Bl. 441 f., sowie auch schon Hagen Fleischer, »Endlösung« der Kriegsverbrecherfrage. Die verhinderte Ahndung deutscher Kriegsverbrechen in Griechenland, in: Norbert Frei (Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 474–535, hier 511–513. 80 Vgl. dazu etwa den Vermerk des Abteilungsleiters IV der Staatsanwaltschaft Berlin vom 10.07.1959, LAB, B Rep. 058 Nr. 6129, Bl. 317. 81 Landgericht Berlin, Beschluss vom 04.06.1968, LAB, B Rep. 058 Nr. 6127, Bl. 29–49. 82 Ebd., Bl. 37 f.

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Mertens Rache- und Rehabilitierungsfeldzug

Unterdessen fühlte sich Merten als Opfer der griechischen Justiz und obendrein – in völliger Verkennung der Tatsachen – von der Bundesregierung verraten und im Stich gelassen. Nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik startete er daher eine mediale Rache- und Rehabilitierungskampagne, mit der er seinen eigenen Namen unter Hinweis auf die (vermeintliche) »braune« Vergangenheit anderer wieder reinzuwaschen hoffte und wohl auch materielle Rehabilitierung erzwingen wollte. Ziel seiner erbitterten Angriffe waren dabei in erster Linie hochrangige Vertreter der konservativen Regierungsapparate in Athen und Bonn, allen voran der griechische Ministerpräsident Kōnstantínos Karamanlī́s und der Chef des Bundeskanzleramtes Hans Globke. Im September 1960 veröffentlichten das Hamburger Echo, ein SPD-Parteiblatt, und Der Spiegel mehrere Artikel, in denen Merten mit schwerwiegenden Vorwürfen gegen Karamanlī́s, Globke und viele andere zitiert wurde. Den griechischen Ministerpräsidenten und einen seiner Minister beschuldigte Merten, während der Besatzung Griechenlands für den Sicherheitsdienst der SS (SD) gearbeitet zu haben und dafür mit dem Seidenlager eines deportierten Juden entlohnt worden zu sein.83 Auf diese Weise löste Merten mehrere ernsthafte Regierungskrisen in Athen aus und sorgte überdies für eine der schwersten Belastungen der deutsch-griechischen Beziehungen seit 1945.84 Noch schwerer wogen die Vorwürfe, die Merten an gleicher Stelle gegen Adenauers Staatssekretär Globke erhob. Der einstige Ministerialrat im Reichsinnenministerium (RIM) und Verfasser eines berüchtigten Kommentars zu den Nürnberger Rassegesetzen85 war zweifellos schwer NS-belastet und aus diesem Grund schon seit Jahren diversen, teils durchaus berechtigten Angriffen gerade vonseiten der DDR-Propaganda ausgesetzt.86 Hieran knüpfte Merten nun an, indem er unter anderem behauptete, Globke sei als angeblicher »Judenreferent« des RIM höchstpersönlich an der Deportation der Juden von Thessaloniki beteiligt gewesen. Er, Merten, habe im Frühjahr 1943 nämlich einen Plan entwickelt,

83 Claus Menzel, Wenn Eichmann auspackt (Teil 5), in: Hamburger Echo, 17.09.1960, S. 10, und Ihr Onkel Konstantin, in: Der Spiegel, 28.09.1960, S. 30–34, hier 34. 84 Dazu siehe etwa schon: Dimitrios K. Apostolopoulos, Die griechisch-deutschen Nachkriegsbeziehungen. Historische Hypothek und moralischer Kredit. Die bilateralen politischen und ökonomischen Beziehungen unter besonderer Berücksichtigung des Zeitraums 1958–1967, Frankfurt a. M. 2004, S. 162–181, und ausführlich die in Kürze erscheinende Dissertation des Verf. 85 Wilhelm Stuckart / Hans Globke, Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935: Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre; Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes, München 1936. 86 Dazu siehe etwa Erik Lommatzsch, Hans Globke (1898–1973): Beamter im Dritten Reich und Staatssekretär Adenauers, Frankfurt a. M. 2009, S. 310–322.

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20.000 Juden nach Palästina zu evakuieren und so vor der Deportation zu bewahren. Er habe dafür sogar die Zustimmung Adolf Eichmanns erhalten, dieser habe sich aber bei Globke rückversichern müssen. Und Globke wiederum habe sein Veto eingelegt.87 Mertens Vorwürfe – sowohl gegen Karamanlī́s als auch gegen Globke – lassen sich bis heute nicht be-, teils aber klar widerlegen. So war Globke etwa im fraglichen Zeitraum Referent für Staatsangehörigkeits-, nicht aber für Rassefragen.88 Überdies erscheint es angesichts der organisatorischen und kompetentiellen Rahmenbedingungen, insbesondere angesichts der weitgehenden Verselbstständigung des RSHA, völlig unplausibel, dass Eichmann, der Organisator der »Endlösung«, auf die Zustimmung eines Referenten im RIM angewiesen gewesen sein soll. Obendrein ist es nicht nur unbelegt, sondern auch in hohem Maße unwahrscheinlich, dass Merten, der nachweislich tatkräftig an der Judenverfolgung in Thessaloniki mitwirkte, Pläne für die Rettung tausender Juden gehabt und sich dabei auch noch mit Eichmann einig gewusst haben soll. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass Mertens Anschuldigungen jedenfalls in weiten Teilen schlicht unwahr, vielleicht sogar bewusst erlogen waren. Dahinter stand wohl primär Mertens Bemühen, sich auf Kosten anderer zu rehabilitieren. Was in der Retrospektive als gezielte Verleumdung erscheint, war im Jahr 1960 aber keineswegs so eindeutig zu durchschauen. Kein Geringerer als der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer leitete aufgrund von Mertens Behauptungen ein Ermittlungsverfahren gegen Globke ein, das er schließlich aber auf Druck aus dem Bundeskanzleramt an die Staatsanwaltschaft Bonn abgeben musste, wo es zwar sehr bald, in der Sache aber völlig zu Recht eingestellt wurde.89 Merten zog derweilen alle Register, um Globke zu schaden. So wandte er sich nach der aufsehenerregenden Entführung und Verhaftung Adolf Eichmanns durch den israelischen Mossad an Eichmanns Brüder und versuchte, sich in die Verteidigung des ehemaligen SS-Obersturmbannführers einzumischen.90 Anfangs hatte er damit durchaus Erfolg und ließ sich sogar Spesen von den Eichmann-Brüdern bezahlen, übrigens mit Geld, das der ägyptische Präsident ­Gamal Abdel Nasser für Eichmanns Verteidigung bereitgestellt hatte.91 Allerdings war Mertens Interesse an Eichmann weniger finanzieller als vielmehr ideeller Natur: Er wollte Eichmann für seine Kampagne gegen Globke instrumentalisieren in der Hoffnung, dieser würde Mertens Verleumdungen bestätigen, da sie ja auch

87 Menzel, Wenn Eichmann auspackt, S. 10; Ihr Onkel Konstantin, S. 32. 88 Vgl. die Geschäftsverteilungspläne des RIM vom 01.01.1943, BArch, B 141/21899, Bl. 539, und vom 01.07.1943, YVA, O.51/75, Bl. 1–28, hier 8 f. 89 Einstellungsverfügung vom 23.05.1961, BArch, B 141/21902, Bl. 195–270. 90 Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Merten und Robert Eichmann aus Mai und Juni 1960, Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), 1/GHAA200634, unfol. 91 Vgl. die BND-Berichte vom 21.07. und 21.11.1960, BND, 121099_OT (43123_OT), Bl. 1757 f. und Bl. 1846–1851, hier 1851, sowie Merten an Robert Eichmann vom 11.07. und 03.09.1960, ebd., Bl. 1960 und 1981.

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ihn, Eichmann, entlastet hätten.92 Allein dies war wohl auch der Grund, weshalb sich Merten Ende Mai 1961 bereitwillig als Zeuge im Eichmann-Prozess vernehmen ließ.93 Eichmann reagierte jedoch nicht wie erhofft, im Gegenteil: Im Juli 1961 wies er Mertens Behauptungen in seinem weltweit beachteten Prozess in Jerusalem ausdrücklich zurück, und auch in seinen Memoiren blieb er bei dieser Darstellung94 – ein weiteres untrügliches Zeichen dafür, dass Merten insoweit schlicht die Unwahrheit gesagt hatte. Spätestens damit stand Merten nun vollends desavouiert da. Immerhin war es ihm aber gelungen, Globke und die Bonner Regierung über Monate hinweg ernstlich unter Druck zu setzen, im Ergebnis freilich ohne damit seine eigene Rehabilitierung voranzubringen. Bis zu seinem Lebensende blieb Merten ein streitbarer Mann, wobei seine Streitlust, sein Geltungsdrang und sein bis zuletzt nicht aufgegebenes Rehabilitierungsstreben zusehends seine Gesundheit verzehrten, auch in psychischer Hinsicht.95 Darüber hinaus litt der ehemalige »König von Makedonien« trotz der Wiederaufnahme seiner Rechtsanwaltstätigkeit fortwährend unter Geld­sorgen. 1967 belegte ihn das Ehrengericht der Berliner Rechtsanwaltskammer überdies mit einem Berufsverbot, nachdem er sich zahlreicher standes- und strafrechtlicher Vergehen, darunter Betrug und Untreue zu Lasten von Mandanten, schuldig gemacht hatte.96 Am 25. Februar 1971 starb Merten schließlich nach langer Krankheit und völlig verarmt in Berlin-Lichterfelde.

IV. Die Rolle des Bundesministeriums der Justiz im Fall Merten Die Nachkriegsgeschichte des BMJ ist, wie bereits angedeutet, gleich in mehrfacher Hinsicht mit der Biografie Max Mertens verflochten. Nicht nur war er für kurze Zeit selbst auf der Bonner Rosenburg tätig. Vielmehr spielte das BMJ auch in der »Rechtsschutzsache Merten« eine wichtige Rolle. Und selbst Mertens Rache- und Rehabilitierungsfeldzug beschäftigte das Justizressort immer

92 Vgl. dazu z. B. Merten an Posser vom 23.05.1960 und an Heinemann vom 27.05.1960, AdsD, 1/GHAA200634, beide unfol. 93 Vgl. das Protokoll seiner Zeugenaussage vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten vom 29.–31.05.1961, BArch, ALL PROZ 6/10, Bl. 2–29. 94 Siehe das Verhandlungsprotokoll vom 07.07.1961 (Tag 88), S. D1 f., ACDP, 01-070-083/1, unfol., sowie Adolf Eichmann, Götzen: Die Autobiografie von Adolf Eichmann, hg. und kommentiert von Raphael Ben Nescher, Berlin 2016, S. 355–360. 95 Schon 1966 ordnete das Ehrengericht der Berliner Rechtsanwaltskammer an, dass Merten auf seinen Geisteszustand untersucht werden möge, siehe Beschluss vom 02.03.1966, LAB, B Rep. 068 Nr. 1907, Bl. 136; das Ergebnis ist nicht bekannt. 96 Siehe Urteil und Beschluss des Ehrengerichts der Berliner Rechtsanwaltskammer vom 16.04.1967, LAB, B Rep. 068 Nr. 1907, Bl. 157 und 164–172.

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wieder, nicht zuletzt, weil sich seine Kampagne auch gegen einzelne Angehörige des Ministeriums richtete. Vorliegend soll es jedoch im Wesentlichen um zwei Aspekte gehen, nämlich um die Hintergründe von Mertens Tätigkeit auf der Rosenburg im Jahr 1952 und das bemerkenswerte Engagement des BMJ für den Kriegsverbrecher Merten Ende der 1950er Jahre. 1.

Eine exemplarische Personalie?

Angesichts seines Wirkens in Thessaloniki kann Merten wohl – jedenfalls nach bisherigem Kenntnisstand – als der mit Abstand am schwersten NS-belastete Mitarbeiter des BMJ gelten. Umso mehr stellt sich die Frage, wie er 1952 auf die Rosenburg berufen werden konnte. Mertens Personalakte ist für diese Frage weitgehend unergiebig. Es findet sich hier lediglich ein Schreiben des Ministers an Merten aus dem Dezember 1951, in dem Dehler dem einstigen Militärverwaltungsrat ohne jede Vorrede mitteilte, er könne im Zwangsvollstreckungsreferat der bürgerlich-rechtlichen Abteilung des Ministeriums beschäftigt werden, wobei ein zeitnaher Dienstantritt erwünscht sei.97 Danach ließe sich vermuten, dass diesem Schreiben zumindest eine formlose Anfrage von Mertens Seite vorausgegangen sein dürfte. Seine Personalakte enthält jedoch weder eine Bewerbung noch sonstige Anhaltspunkte dafür, von wem die Initiative zu Dehlers Schreiben stammte. Hinweise hierauf finden sich aber in den Nachlässen von Thomas Dehler und dem langjährigen Justizstaatssekretär Walter Strauß: Der Korrespondenz des Letzteren ist zu entnehmen, dass Mertens Einstellung auf der Empfehlung eines anderen Mitarbeiters des BMJ beruhte.98 Um wen es sich dabei handelte, lässt sich wiederum aus Dehlers Nachlass erschließen. Dort findet sich ein Vermerk des Ministers, der bereits auf den 6. Dezember 1951 datiert ist und einem Referenten der zivilrechtlichen Abteilung seines Hauses, einem gewissen Hermann Weitnauer, aufgibt, Max Merten eine vieldiskutierte zwangsvollstreckungsrechtliche Problematik zur Stellungnahme vorzulegen.99 Auch Weitnauer, der dem BMJ zu diesem Zeitpunkt bereits über ein Jahr angehörte, war einst in nahezu gleicher Funktion im RJM tätig gewesen und hatte dort mit Merten eng zusammengearbeitet.100 Und offensichtlich war er es nun, der seinen früheren Kollegen für die vakante Position des Vollstreckungsreferenten empfahl – mit Erfolg: 97 Bundesjustizminister Dehler an Merten vom 15.12.1951, BMJV, P 15 – M 45, Bl. 4. 98 Walter Strauß an Günther Joël vom 13.10.1964, Institut für Zeitgeschichte, ED 94/218, Bl. 139; siehe dazu auch schon Markus Apostolow, Der »immerwährende Staatssekretär«: Walter Strauß und die Personalpolitik im Bundesministerium der Justiz 1949–1963, Göttingen 2019, S. 115. 99 Vermerk vom 06.12.1951, Archiv des Liberalismus (ADL), N1/1087, Bl. 58. 100 Vgl. den Geschäftsverteilungsplan des RJM vom April 1941, abgedruckt bei Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, 3., verb. Aufl., München 2001, S. 1170–1210, hier 1191.

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Denn ebenfalls am 6. Dezember 1951 erklärte Dehler sich bereits mit Mertens Berufung auf die Rosenburg einverstanden.101 Bemerkenswert ist, was nun folgte: Erst nachdem der Minister die Entscheidung, Merten einzustellen, längst gefällt hatte, ließ er diesem durch seinen Personalreferenten auftragen, einen Lebenslauf einzureichen, in dem er insbesondere seine Tätigkeit in Thessaloniki eingehend schildern möge.102 Ganz offensichtlich war dem Minister also bekannt, dass Merten eine problematische Vergangenheit haben könnte. Für die Frage seiner Einstellung war dies jedoch nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Dehlers Ansinnen erweckt vielmehr den Eindruck, als sei es lediglich darum gegangen, sich gegen etwaige spätere Kritik von außen abzusichern. Denn eine unabhängige Überprüfung von Mertens Vergangenheit veranlasste er gerade nicht. Stattdessen schien ihm Mertens eigene Stellungnahme ausreichend. Die bestand freilich aus einem massiv geschönten Lebenslauf, der zahlreiche Unwahrheiten enthielt. So gab Merten etwa bewusst wahrheitswidrig an, dass er niemals NSDAP-Mitglied geworden sei und der Partei und seinen Vorgesetzten im RJM als politisch unzuverlässig gegolten habe. Auch gab er sich als Wohltäter des griechischen Volkes und Retter tausender Juden aus, was in dem Hinweis gipfelte, er wolle »nicht versäumen zu erwähnen«, dass er »die Evakuierung der in Nordgriechenland lebenden Juden durch den SD. weitgehend […] durchkreuzen konnte«.103 Im BMJ nahm man dieses geradezu verdächtig unbescheidene Selbstzeugnis offensichtlich ohne jede Prüfung zu den Akten. Dabei hätte es durchaus Überprüfungsmöglichkeiten gegeben. So lagerten auf der Rosenburg sämtliche Personalakten der ehemaligen Reichsjustizverwaltung,104 sodass man Merten anhand seines RJM-Personalbogens rasch als ehemals aktives NSDAP-Mitglied hätte entlarven können. Auch hätte eine Nachfrage bei einem ehemaligen Militärverwaltungskollegen, der mittlerweile Personalreferent im Bundesinnenministerium war, wenig schmeichelhafte Details aus dem gegen Merten geführten Kriegsgerichtsverfahren zutage gefördert.105 Trotz der guten Vernetzung der Bonner Personalverantwortlichen106 ließ man solche Möglichkeiten jedoch ungenutzt. Ohnehin schien die Hausleitung des BMJ den ehemaligen deutschen 101 Vermerk vom 06.12.1951, ADL, N1/1087, Bl. 57. 102 Vgl. Merten an Dehler vom 03.01.1951, BMJV, P 15 – M 45, Bl. 5. 103 Lebenslauf Merten vom 03.01.1951, BMJV, P 15 – M 45, Bl. 6–8. 104 Walter Strauß, Die Personalpolitik in den Bundesministerien zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland, in: Dieter Blumenwitz et al. (Hg.), Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers, Bd. 1: Beiträge von Weg- und Zeitgenossen, Stuttgart 1976, S. 275–282, hier 279. 105 Vgl. dazu die Zeugenaussage von Sklode von Perbandt vor dem Untersuchungsrichter des Landgerichts Berlin vom 16.06.1967, LAB, B Rep. 058 Nr. 6124, Bl. 120–123, hier 122. 106 Vgl. dazu Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 120–122, sowie Irina Stange, Das Bundesministerium des Innern und seine leitenden Beamten, in: Frank Bösch / ​ ­A n­d reas Wirsching (Hg.), Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und OstBerlin nach dem Nationalsozialismus, Göttingen 2018, S. 55–121, hier 59 f., 69 f.

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Besatzungsverwaltungen und ihren Angehörigen eher gleichgültig gegenüberzustehen, war Merten doch nicht der einzige zumindest formal einschlägig vorbelastete Mitarbeiter auf der Rosenburg.107 Tatsächlich zählten für die dortige Rekrutierungspraxis im Interesse einer möglichst effizienten Sacharbeit andere Kriterien, nämlich hohe juristische Qualifikation und vor allem einschlägige Vorerfahrung aus der ehemaligen Reichsministerialverwaltung.108 Und Merten konnte beides vorweisen. Umso größere Rätsel gibt auf  – zumindest auf den ersten Blick  –, dass er bereits Ende September 1952, knapp acht Monate nach seiner Einstellung, von einem Tag auf den anderen seinen Dienst im BMJ quittierte. In seiner Personalakte findet sich hierzu ein Schreiben an seinen Abteilungsleiter, in dem Merten auf eine »eingehend[e] vertraulich[e] Besprechung« mit diesem am 26. September 1952 Bezug nahm und erklärte, die Folgerungen aus diesem Gespräch zwängen ihn, »im Interesse [s]einer und [s]einer Familie Existenz, auf eine weitere Tätigkeit im Bundesjustizministerium zu verzichten«.109 Eine nähere Begründung kündigte er zwar an, lieferte diese aber augenscheinlich nie nach. Und so hat sein abruptes Ausscheiden aus dem BMJ Anlass zu der Spekulation gegeben, dass hier möglicherweise ein Zusammenhang mit einem etwa zur gleichen Zeit beim BMJ eingegangenen griechischen Strafverfolgungsersuchen bestanden habe.110 Denn tatsächlich hatte das griechische Kriegsverbrecherbüro dem BMJ Mitte September 1952 eine Liste von mutmaßlichen deutschen Kriegsverbrechern übergeben, in der auch ein gewisser »Dr. Mertin« im Zusammenhang mit der Juden­verfolgung in Thessaloniki aufgeführt war.111 Auf den ersten Blick erscheint somit nicht unplausibel – und durchaus zur Ehrenrettung des BMJ geeignet –, dass die Hausleitung desselben eine Verbindung zwischen dem Kriegsverbrecher »Dr. Mertin« und dem Mitarbeiter Dr. Merten hergestellt und ihm daraufhin seinen Abschied nahegelegt haben soll. In Wahrheit aber wurden die griechischen Unterlagen bis zum Sommer 1953 im BMJ noch nicht einmal gesichtet.112

107 Zu nennen sind etwa Mertens Vorgänger Georg Grohmann, der Militärverwaltungsbeamter in Frankreich und Russland gewesen war, Karteikarte Grohmann, BArch, RW 59/2146, unfol., oder auch Hermann Weitnauer, der im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete gearbeitet hatte, siehe Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 310. 108 Vgl. z. B. Strauß, Personalpolitik, S. 279, und auch schon Gerrit Hamann, Josef Schafheutle: Verhängnisvolle Kontinuitäten vom Reichs- zum Bundesjustizministerium, in: Wolfgang Proske (Hg.), NS-Belastete aus dem Süden des heutigen Baden-Württemberg, Gerstetten 2018, S. 338–360, hier 349 f. m. w. N. 109 Merten an Georg Petersen (BMJ) vom 28.09.1952, BMJV, P 15 – M 45, Bl. 60. 110 So Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 313 f. 111 Ersuchen des HNBKV vom 17.09.1952, BArch, B 305/1041, Bl. 270–281, hier 279. 112 Vgl. das Schreiben des zuständigen Referenten Meyer (BMJ) ans AA vom 22.06.1953, BArch, B 141/9563, Bl. 74.

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Der wahre Hintergrund von Mertens Ausscheiden war dementsprechend ein ganz anderer und weit profanerer, wie sich aus seiner Personalakte auch ergibt: Zwar war Merten tatsächlich von seiner Vergangenheit eingeholt worden, aber nicht von seiner Tätigkeit während des Krieges, sondern vielmehr von seinen unseriösen Geschäften seit Ende der 1940er Jahre. Schon im Mai 1952 war beim BMJ ein Pfändungs- und Überweisungsbeschluss des Amtsgerichts Bad Aibling eingegangen, mit dem Mertens Gehalt gepfändet worden war113  – eine gleich doppelte Ironie der Geschichte, denn einerseits war ausgerechnet Merten im BMJ nunmehr der zuständige Referent für das Vollstreckungsrecht, andererseits beruhte der Beschluss auf der von Merten einst federführend mitgestalteten Lohnpfändungsverordnung von 1940. War es Merten, der sich ganz offensichtlich als betrügerischer Bankrotteur betätigt hatte, hier noch gelungen, dienstliche Konsequenzen mit abenteuerlichen Ausflüchten abzuwenden,114 so schien die Geduld seiner Vorgesetzten aber endgültig erschöpft, als sich Mitte August 1952 ein ehemaliger Geschäftspartner von Merten beim BMJ meldete und ihn des (Prozess-)Betruges und Meineides bezichtigte.115 Und just diese Vorwürfe waren, wie sich aus einer handschriftlichen Notiz von Mertens Abteilungsleiter ergibt,116 auch der Gegenstand der vertraulichen Unterredung am 26. September 1952, die Merten schließlich zum Anlass für sein Ausscheiden nahm. Ihr Wortlaut ist nicht überliefert, es kann aber davon ausgegangen werden, dass Mertens Vorgesetzter ihm nachdrücklich seinen »freiwilligen« Abschied nahelegte. Obgleich Merten damit durchaus nicht als exemplarische Personalie bezeichnet werden kann, sind die Umstände seiner Beschäftigung auf der Rosenburg doch ganz bezeichnend für die Personalpolitik des BMJ in seinen Anfangs­ jahren: Die NS-Vergangenheit der Mitarbeiter spielte keine ausschlaggebende Rolle und wurde vielmehr nach Möglichkeit ignoriert. Umso schneller sah sich die Hausleitung des Ministeriums dagegen zu ernsthaften Konsequenzen gezwungen, wenn es die persönliche Integrität seiner Mitarbeiter wegen vergleichsweise geringfügiger Anschuldigungen in Frage gestellt sah. Selbstverständlich kann die Reaktion auf Mertens betrügerische Geschäfte nur als legitim bezeichnet werden. Die Tatsache aber, dass man hier rasch durchgriff, während man Mertens NS-Belastung trotz gewisser Verdachtsmomente noch nicht einmal ernstlich überprüfte, zeigt, wie die Gewichte in der Personalpolitik des BMJ verteilt waren.

113 Vgl. Mertens Vermerk vom 13.05.1952, BMJV, P 15 – M 45, Bl. 35. 114 Siehe Vermerk und Aufzeichnung Petersen (BMJ) vom 12.07.1952, BMJV, P 15 – M 45, Bl. 43–46. 115 Siehe das Schreiben von Fritz Puchstein ans BMJ vom 18.08.1952, BMJV, P 15 – M 45, Bl. 55. 116 Vermerk Petersen (BMJ) vom 26.09.1952, BMJV, P 15 – M 45, Bl. 56.

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2.

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Unterstützung einer »Persona non grata«

Angesichts der Umstände, unter denen Merten die Rosenburg 1952 verlassen musste, erscheint es geradezu unbegreiflich, dass sich das BMJ nach seiner Verhaftung in Athen im April 1957 überhaupt für Merten engagierte. Tatsächlich aber war das BMJ in der »Rechtsschutzsache Merten« nicht nur durchgehend involviert, sondern auch nach Kräften bemüht, seine Freilassung zu erwirken. Und ausgerechnet die Vertreter des Justizministeriums waren es, die rechtsstaatliche Grundsätze dabei bisweilen ganz außer Acht ließen. So sprach sich Heinrich Grützner, der zuständige Referent des BMJ, etwa nachdrücklich dafür aus, der griechischen Regierung mit amtlichen Reisewarnungen zu drohen, und erklärte, wenn auch das keinen Erfolg habe, »dürfte es notwendig sein, gegenüber Griechenland Repressalien vorzunehmen«.117 Sein Minister Hans-Joachim von Merkatz konnte nur mit Mühe davon abgehalten werden, sich öffentlich über die griechische Justiz zu echauffieren.118 Und als Mertens Prozess vor dem Athener Sondermilitärgericht näher rückte, diskutierte Grützner mit Kollegen des Auswärtigen Amtes offen darüber, welche Möglichkeiten es gebe, Einfluss auf den Prozessverlauf zu nehmen und einen »faktischen Ausschluss« der unliebsamen griechischen Öffentlichkeit zu erreichen.119 Das BMJ war allerdings nicht nur hinter den Kulissen aktiv: Im Juli 1957 entsandte es mit dem Ministerialdirigenten und Unterabteilungsleiter Ernst Kanter einen hochrangigen Vertreter nach Athen, um dort einerseits Differenzen mit der deutschen Botschaft zu klären, die den rigiden Bonner Kurs gegenüber den Griechen wiederholt kritisiert hatte,120 und um andererseits mit Andréas Toúsīs, dem Leiter des griechischen Kriegsverbrecherbüros, über Mertens Freilassung zu verhandeln. Überdies suchte Kanter auch Merten selbst im Gefängnis auf, um ihm im Namen des Bundesjustizministers mitzuteilen, dass vonseiten des BMJ »alles getan werde, um seine baldige Freilassung zu erwirken«.121 Freilich blieben Kanters Gespräche mit Toúsīs ohne konkrete Erfolge. Immerhin hatte dieser aber die Möglichkeit aufgezeigt, dass Merten zur Durchführung eines Ermittlungsverfahrens in der Bundesrepublik an die deutsche Justiz überstellt werden könnte.122 Und so bemühte sich Kanter nach seiner Rückkehr aus Athen, die nötigen Voraussetzungen hierfür zu schaffen. Nachdem zwischenzeitlich das bereits erwähnte »Alibi-Verfahren« bei der Westberliner Staatsan117 Vermerk Grützner (BMJ) vom 20.05.1957, BArch, B 141/9566, Bl. 42–49, hier 44. 118 Vgl. Vermerk Schmidt-Dumont (AA) vom 08.07.1957, PA AA, B 26/63, Bl. 358. 119 Niederschrift über eine Besprechung am 14.11.1958, PA AA, B 130/5728A, unfol. 120 Vgl. dazu etwa die Botschaftsberichte vom 20. und 27.05.1957, BArch, B 305/1041, Bl. 157–159 und 179–182, sowie ausführlich die in Kürze erscheinende Dissertation des Verf. 121 Siehe Kanters Vermerk vom 26.07.1957, BMJV, VS 9250/202/57, Bl. 24. 122 Vgl. Vermerk Kanter (BMJ) vom 31.07.1957, BArch, B 141/9566, Bl. 149–156, hier 156.

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waltschaft eingeleitet worden war, bestellte Kanter den zuständigen Dezernenten auf die Rosenburg, um ihm dort detaillierte Instruktionen zu geben. Bei dieser Gelegenheit legte er auch die Motive des BMJ im Fall Merten offen: Das Ministerium sei »an der Persönlichkeit des R[echtsanwaltes] Merten nicht interessiert«, im Gegenteil, dieser werde »nicht als Persona grata angesehen« und scheine »eine durchaus zwielichtige Persönlichkeit zu sein«. Aber »an dem Fall selbst« sei man deshalb interessiert, »weil die Erledigung des Falles richtunggebend sei für die weiteren nach Deutschland abgegebenen Fälle gleichen Inhalts«.123 Bei all seinen Bemühungen ging es dem BMJ also nicht um Merten, der – wenig überraschend – auf der Rosenburg übel beleumundet war, sondern um etwas viel Grundsätzlicheres, nämlich um eine »generell[e] und möglichst geräuschlos[e] Bereinigung der sogenannten [!] Kriegsverbrecherfrage«.124 Tatsächlich arbeiteten das BMJ und das Auswärtige Amt ganz im Sinne der offiziellen Bonner »Schlussstrich-Politik«125 schon seit Anfang der 1950er Jahre daran, die griechische Justiz zur Einstellung ihrer Ermittlungen gegen deutsche NS-Kriegsverbrecher zu bewegen. Die Griechen hatten sich dabei (nicht zuletzt wegen wirtschaftlicher Interessen) durchaus entgegenkommend gezeigt und dem BMJ 1952 und 1956 insgesamt einige hundert Verfahren – darunter auch das gegen »Dr. Mertin« – mit der Maßgabe übergeben, diese zur weiteren Erledigung an die bundesdeutschen Justizbehörden weiterzuleiten. Im Gegenzug sollte die griechische Justiz ihre eigenen Strafverfolgungsbemühungen einstellen.126 Dass die deutsche Justiz die mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher ernstlich verfolgen sollte, hatte dabei wohl keiner der Beteiligten, nicht einmal die griechische Seite, beabsichtigt. Als aber das BMJ im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt die griechischen Verfahrensakten nicht einmal an die Landesjustizverwaltungen weiterleitete127 und der – durchaus nicht unberechtigte – griechische Wunsch nach Entschädigungen für deutsche Kriegsverbrechen schlicht ignoriert wurde, machte sich auf griechischer Seite schließlich doch Unmut breit. Und so drohte Andréas Toúsīs den deutschen Diplomaten in Athen schon seit November 1956 immer unverhohlener damit, dass das HNBKV die Verfahren selbst wieder auf123 Vermerk von Staatsanwalt Detlev Schmidt vom 28.09.1957, LAB, B Rep. 058 Nr. 6129, Bl. 53–55, hier 54. 124 So etwa Legationsrat von Trützschler (AA) an den Bundesminister für den Marshallplan vom 16.08.1951, PA  AA, B  10/2197, unfol.; eine ähnlich beschönigende Terminologie findet sich in nahezu allen einschlägigen Schriftstücken des AA und des BMJ aus den 1950er Jahren. 125 Vgl. z. B. Adenauers Regierungserklärung vom 20.09.1949, Bundestagsplenarprotokoll 1/5, S. 22. 126 Zu diesem umfangreichen Komplex, der hier nur ganz rudimentär skizziert werden kann, siehe bereits Fleischer, »Endlösung«, S. 480–503; Králová, Das Vermächtnis, S. 129–148, und die in Kürze erscheinende Dissertation des Verf. 127 Vgl. dazu die Vermerke von Grützner (BMJ) vom 11.08.1954 und 15.07.1955, BArch, B  141/9563, Bl. 128, und B  141/9564, Bl. 161–163, sowie die Kabinettsvorlage vom 02.07.1956, ebd., Bl. 11–19, hier 18 f.

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nehmen werde, wenn die deutsche Seite bei ihrer Verschleppungstaktik bleibe.128 Allerdings nahmen weder die deutschen Diplomaten noch der zuständige Sachbearbeiter im BMJ diese Drohungen ernst129 – bis Max Merten verhaftet wurde. Das Engagement des BMJ im Fall Merten stellte also nur die Fortsetzung der langjährigen und letztlich erfolgreichen Bemühungen um einen »endgültige[n] Schlußstrich«130 unter der Kriegsverbrecherfrage im deutsch-griechischen Verhältnis dar. Freilich waren diese Bemühungen keineswegs auf die griechischen Fälle beschränkt. So hatte etwa der erste Bundesjustizminister Dehler bereits nach wenigen Monaten im Amt die französische Kriegsverbrecherjustiz scharf angegriffen.131 Wenig später setzte er sich mit Erfolg für eine Amnestie zugunsten der auf deutschem Boden von alliierten Militärgerichten abgeurteilten und inhaftierten Kriegsverbrecher ein, und 1952 machte er sich mit Blick auf die Westverträge für eine abschließende Lösung der Kriegsverbrecherfrage insgesamt stark.132 Die ZRS, die bis 1953 beim BMJ angesiedelt war und schon 1950 über einen Jahresetat von zwei Millionen D-Mark verfügte, betreute Tausende von Einzelfällen in ganz Europa,133 wenn auch wohl keinen mit solcher Intensität wie den Fall Merten. Trotz seiner Besonderheiten steht dieser damit letztlich ganz exemplarisch für die Kriegsverbrecherpolitik des BMJ in den 1950er Jahren. Dass diese Politik selbst im Falle einer »Persona non grata« wie Merten uneingeschränkt zur Anwendung kam, zeigt im Übrigen nur, welch überragende Bedeutung ihr beigemessen wurde.

V. Das Engagement der Kanzlei Heinemann & Posser Als Merten im April 1957 in Athen verhaftet wurde, fand sich neben den amtlichen rasch auch eine Vielzahl nichtamtlicher Unterstützer, zu denen etwa alte Militärverwaltungskameraden oder der politisch einflussreiche Verband der Heimkehrer gehörten. Mertens prominenteste und zugleich treueste Unterstützer waren jedoch ausgerechnet zwei profilierte Politiker der Linken, die obendrein als »Kommunistenverteidiger« galten, nämlich die Rechtsanwälte Diether 128 Vgl. das griech. Aide-Mémoire vom 27.11.1956, BArch, B 141/9566, Bl. 16 f., und den Botschaftsbericht vom 27.12.1956, ebd., Bl. 8–11. 129 Vgl. einerseits den Botschaftsbericht vom 27.12.1956, BArch, B 141/9566, Bl. 8–11, hier 10 f., und andererseits den Vermerk von Grützner (BMJ) vom 26.02.1957, ebd., B 141/9564, Bl. 18. 130 Abschlussprotokoll der dt.-griech. Verhandlungen vom 07.06.1956, BArch, B 141/9564, Bl. 183 f. 131 Siehe z. B. Bundestagsplenarprotokoll 1/19 vom 01.12.1949, S. 529–622, hier 545 f., und auch schon Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 214 f. 132 Udo Wengst, Thomas Dehler 1897–1967. Eine politische Biographie, München 1997, S. 160–162. 133 Vgl. z. B. das Schreiben von Staatssekretär Strauß (BMJ) an das AA vom 31.03.1951 nebst Anlage, BArch, B 141/9574, Bl. 32–36.

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Posser und Gustav Heinemann, die eine gemeinsame Sozietät in Essen unterhielten. Sie kannten Merten bereits seit 1952, als er mit ihnen gemeinsam die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP), eine neutralistische Anti-Adenauer-Partei, gegründet hatte und in deren ersten Bundesvorstand gewählt worden war.134 Allerdings hatte sich Merten dort rasch in geradezu spalterischer Weise betätigt, bevor er seine Parteiarbeit nach wenigen Monaten abrupt aufgegeben hatte.135 Trotz dieser negativen Erfahrungen mit Merten bot Posser, als er aus den Medien von dessen Verhaftung erfuhr, von sich aus seine Unterstützung an, die Merten nur allzu willkommen war.136 Schon bei Gelegenheit seines Antwortschreibens prangerte er dabei das (vermeintliche) politische Versagen der Bundesregierung und ihrer Diplomaten in seinem Fall an, womit er offensichtlich Possers besonderes Interesse weckte, der schließlich auch seinen – anfangs durchaus skeptischen – Kanzleipartner für das Mandat gewinnen konnte.137 Es entwickelte sich eine regelmäßige Korrespondenz zwischen dem inhaftierten Kriegsverbrecher und den Essener Anwälten. Mit Rücksicht auf die amtlichen Verteidiger, die Merten von der ZRS gestellt wurden, beschränkten sich Posser und Heinemann – abgesehen von einigen überwiegend erfolglosen Bemühungen, die bundesdeutsche Presse für Mertens Fall zu interessieren138 – zunächst aber weitgehend auf eine Beobachterrolle. Freilich nahm insbesondere Posser großen Anteil an Mertens Schicksal und reiste im Februar 1959 sogar zu dessen Prozess nach Athen. Dabei gewann Posser – nicht zuletzt aufgrund von Mertens Manipulationsgeschick – den Eindruck, dass mit ihm »der Falsche vor Gericht« stehe.139 Umso größer war Possers Empörung über Mertens Verurteilung, hinter der Heinemanns Sozius im Vertrauen auf die Richtigkeit von Mertens Einflüsterungen eine Verschwörung der Regierungen in Bonn und Athen zum Schutze der »wirklich Verantwortlichen« glaubte.140 Und so versuchten Posser und Heinemann, eine regelrechte Kampagne für Mertens Befreiung zu initiieren, die primär zum Ziel hatte, die vermeintlich untätige Bundesregierung zu nachhaltigen Interventionen in Athen zu bewegen. Posser bemühte sich zu diesem Zweck, die bundesdeutsche Presse 134 Siehe z. B. das Gründungsprotokoll der GVP vom 29.11.1952, AdsD, 1/GHAA200648, unfol.; Näheres zur GVP etwa bei Thomas Flemming, Gustav W. Heinemann: Ein deutscher Citoyen. Biographie, Essen 2014, S. 250–334. 135 Vgl. die diesbezügliche Parteikorrespondenz aus dem Frühjahr 1953, AdsD, 1/DPA​ A000008, unfol. 136 Siehe einerseits Possers Schreiben an Mertens Ehefrau vom 18.05.1957 und andererseits Mertens Antwort vom 31.05.1957, AdsD, 1/DPAA000008, beide unfol. 137 Vgl. dazu Possers Schreiben an Heinemann vom 29.06.1957 und dessen undatierte Antwort, AdsD, 1/DPAA000008, beide unfol. 138 Vgl. dazu etwa Peter Miska, … sitzt für andere im Gefängnis, in: Frankfurter Rundschau, 09.11.1957, S. 3. 139 So Possers undatierte Aufzeichnung mit dem Titel »2. Zwischenbericht aus dem MertenProzeß«, S. 3, AdsD, 1/DPAA000006, unfol. 140 Siehe Posser an Heinemann vom 06.03.1959, AdsD, 1/DPAA000008, unfol.

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gegen Mertens angeblichen »Schauprozess« und das vermeintlich skandalöse »Fehlurteil« zu mobilisieren.141 Allerdings hatte er damit auch jetzt nur begrenzten Erfolg: Lediglich die Neue Illustrierte fand sich bereit, eine reißerische Artikelserie unter dem Titel »Sensations-Prozeß Merten  – Die Kleinen hängt man … in Athen!« zu veröffentlichen.142 Eine bedeutendere Resonanz blieb dieser jedoch versagt. Größeren Erfolg versprach unterdessen ein politischer Vorstoß Gustav Heinemanns, der mittlerweile für die SPD im Bundestag saß und nun Anstalten traf, die kurz vor der Ratifikation stehende 200-Millionen-DM-Anleihe für Griechenland zu stoppen.143 Tatsächlich sagten ihm die beiden Vorsitzenden des Haushaltsausschusses  – einer davon, der CDU-Abgeordnete Rudolf Vogel, war einst Sonderführer der Propagandaabteilung Südost in Thessaloniki gewesen und mit Merten bekannt – zu, dass Heinemann den Fall Merten bei der maßgeblichen Ausschusssitzung zur Sprache bringen dürfe.144 Doch der Bundesregierung gelang es, dies zu vereiteln, indem sie das besagte Anleihe-Abkommen vorzeitig und versteckt als Teil des Wirtschaftsplans für das European Recovery Program in den Haushaltsausschuss einbrachte, sodass es diesen ohne Schwierigkeiten passieren konnte.145 Heinemanns Plan, die griechische Regierung mit dem dringend benötigten Kredit unter Druck zu setzen  – ein Plan, den einige Monate zuvor die Bundesregierung noch selbst verfolgt, aus außenpolitischen Gründen aber mittlerweile fallen gelassen hatte –, war damit gleichfalls gescheitert. Auch wenn die Verantwortlichen in den Bonner Zentralbehörden Possers und Heinemanns Bemühungen zeitweise durchaus mit Sorge beobachteten, da man eine weitere Belastung der deutsch-griechischen Beziehungen vermeiden wollte, waren diese Bemühungen letztlich wohl nicht ausschlaggebend für Mertens Freilassung. Nachhaltig unter Druck gerieten die deutsche Bundesregierung und die griechische Regierung jedoch vom Herbst 1960 an durch Mertens mediale Rache- und Rehabilitierungskampagne, die maßgeblich von Posser und Heinemann unterstützt, teils gar gesteuert wurde und ohne ihr Zutun kaum dieselbe Resonanz entfaltet hätte. So nutzten die beiden SPD-Politiker gezielt ihre Kontakte zu Medien und Parteifreunden, veranstalteten gemeinsame Pressekonferenzen mit Merten und verstanden es virtuos, insbesondere die griechische Presse zu manipulieren, etwa indem man ihr – wider besseres Wissen –

141 Vgl. nur Possers Schreiben an den Spiegel-Redakteur Hermann Renner vom 17.03.1959, AdsD, 1/DPAA000008, unfol. 142 Siehe Michael Horbach / Heinz Altmeyer, Sensations-Prozeß Merten (Teil 1), in: Neue Illustrierte, 25.04.1959, S. 14; bis zum 20.06.1959 erschienen insgesamt neun Teile. 143 Siehe Heinemanns Schreiben an seine Abgeordnetenkollegen Erwin Schoettle (SPD) und Rudolf Vogel (CDU) vom 10.03.1959, AdsD, 1/DPAA000008, unfol. 144 Vgl. Possers Notiz vom 04.06.1959, AdsD, 1/DPAA000009, unfol. 145 Vgl. Possers Schreiben an Merten vom 10. und 12.06.1959, AdsD, 1/DPAA000007, beide unfol.

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das Vorhandensein vermeintlicher Beweise für Mertens Verleumdungen über Kōnstantínos Karamanlī́s suggerierte.146 Auch war es Diether Posser, der durch Vorsprache bei Fritz Bauer überhaupt erst dafür sorgte, dass Merten bei diesem mit seinen Anschuldigungen gegen Hans Globke Gehör fand.147 Tatsächlich gelang es mit diesen und anderen Vorstößen, die Regierungen in Athen und Bonn über Monate massiv unter Druck zu setzen. Die griechische Regierung unternahm sogar Versuche, Merten mit Geld zum Schweigen zu bringen, was augenscheinlich aber an dessen überzogenen Forderungen scheiterte.148 Und Hans Globke bat  – so zumindest erfuhr die US-amerikanische Central Intelligence Agency von einem Informanten  – Bundeskanzler Adenauer wiederholt um seine Demission.149 Dieser wiederum stellte seinem Staatssekretär schließlich sämtliche dienstlichen Einrichtungen des Bundeskanzleramtes einschließlich des Bundesnachrichtendienstes »unbeschränkt zur Verfügung […], um die gegen ihn geführten Angriffe abzuwehren«150 – auch dies ein Zeichen dafür, welch hochpolitische Dimension Mertens Kampagne durch Possers und Heinemanns tatkräftige Unterstützung mittlerweile erreicht hatte. Selbst als Mertens Kampagne gescheitert war, hielten Heinemann und Posser ihm aber weiterhin die Treue. Sie agierten nicht nur bis zur Einstellung des Berliner »Alibi-Verfahrens« als seine Verteidiger, übrigens ohne jemals ein Honorar für ihre mannigfachen Bemühungen zu verlangen.151 Vielmehr unterstützten sie ihn bis zuletzt auch anderweitig. Handschriftliche Notizen Heinemanns aus dem Juni 1967 belegen, dass er selbst nach seiner Ernennung zum Bundesjustizminister noch versuchte, den Hintergründen des Falls Merten nachzugehen.152 146 Vgl. dazu etwa Posser an Merten vom 17.10.1960 sowie Heinemanns Notizen vom 13.10.1960 und von einer Pressekonferenz in Düsseldorf am 14.10.1960, AdsD, 1/ DPAA000004, alle unfol. 147 Vgl. Posser an Bauer vom 28.05.1960, AdsD, 1/GHAA200634, unfol., und Bauers Aktenvermerk vom 01.06.1960, BArch, B 141/21902, Bl. 183. 148 Vgl. die Aufzeichnung von Gustav von Schmoller (AA) vom 18.10.1960, PA AA, B 26/64, Bl. 118–120, hier 119, sowie einen Bericht ungeklärter Provenienz vom 07.12.1960 in Mertens CIA-Akte mit dem Titel »Indications from Germany about  a first state of  a compromise …«, S. 3 f., National Archives and Records Administration (NARA), Rg 263, Second Release of Name Files Under the Nazi War Crimes and Japanese Imperial Government Disclosure Acts, MERTEN, MAX, unfol. 149 CIA-Bericht vom 02.02.1961, NARA, Rg 263, Second Release of Name Files Under the Nazi War Crimes and Japanese Imperial Government Disclosure Acts, GLOBKE, HANS, unfol. 150 Vermerk von Globkes Assistent Manfred Baden vom 23.01.1961, ACDP, 01–070–100/2, unfol. 151 Vgl. dazu auch Posser an Merten vom 10.10.1969, AdsD, 1/DPAA000012, unfol. Dabei waren allein bis zum Juni 1961 Honoraransprüche von etwa 50.000 D-Mark angelaufen, vgl. Mertens Schriftsatz an das Landgericht Berlin vom 03.02.1969, LAB, B  Rep.  058 Nr. 6127, Bl. 102. 152 Vgl. Heinemanns Notizen vom 12.06.1967, AdsD, 1/GHAA100269, unfol. Für den Hinweis auf dieses Archivale dankt der Verf. Markus Apostolow.

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Und Diether Posser übernahm 1969 sogar eine selbstschuldnerische Bürgschaft für den unter chronischer Geldnot leidenden Merten.153 Welche Motive die eigentlich jeglicher NS-Sympathie unverdächtigen SPDGrößen Heinemann und Posser mit ihrem Engagement für Merten verfolgten, ist nur zum Teil aktenkundig geworden. Bezeichnend ist dabei jedoch, was Posser seinem anfangs skeptischen Kanzleipartner im Juni 1957 schrieb, um für die Übernahme des Mandates zu werben: Der Fall, so Posser, werde »nicht nur das Renommée der Praxis erhöhen, sondern auch dem Odium entgegenwirken, wir bzw. ich verteidigte nur ›linke‹ Leute!«154 Offenbar sahen die als »Kommunistenverteidiger« verschrienen Anwälte im Fall Merten also zumindest auch eine willkommene Möglichkeit, sich dieses Odiums zu entledigen, das im politisch-gesellschaftlichen Klima der Adenauer-Republik durchaus hinderlich für eine Politikerkarriere war. Allerdings lässt sich das Ausmaß ihres bisweilen befremdlichen Einsatzes für Merten nicht allein mit diesem Motiv erklären. Hinzu kamen wohl auch – obwohl Posser und Heinemann dies stets bestritten155 – parteipolitische Ziele: Immerhin deckten sich Mertens (vermeintliche) Gegner, die rechtskonservativen Eliten in Athen und Bonn, mit denen des »Adenauer-Antipoden«156 und Sozialdemokraten Gustav Heinemann. Die von Posser und Heinemann immer wieder mit Inbrunst vorgetragene Überzeugung, dass Merten Opfer politischer Ränkespiele geworden sei, wird man allerdings vor allem Mertens Manipulationsgeschick zuzuschreiben haben. Wie empfänglich Posser und Heinemann für seine Verschwörungstheorien waren, ist gleichwohl bemerkenswert.

VI. Fazit Trotz aller Besonderheiten, die der Fall Merten aufweist, wäre es verfehlt, ihn als Sonderfall, gar als zeitgeschichtliches Kuriosum abzutun. Denn in vielerlei Hinsicht kommt diesem Fall durchaus exemplarischer Charakter zu. So war etwa Mertens Lebenslauf bis 1945 einschließlich seiner Verstrickung in die zunächst rein juristisch, später dann auch praktisch betriebene Entrechtung und Verfolgung der Juden keineswegs untypisch für die Karrieren von NS-Juristen in der Reichsministerialverwaltung. Auch dass Merten 1952 trotz seiner massiven Belastung ins BMJ zurückkehren konnte, war kein Einzelfallversagen, sondern angesichts der dortigen Rekrutierungspraxis beinahe folgerichtig. Und selbst das weit überobligatorische Engagement, welches das BMJ, das Auswärtige Amt, aber auch zahlreiche andere amtliche und nichtamtliche Akteure einschließlich 153 154 155 156

Vgl. Posser an Merten vom 11.07.1969, AdsD, 1/DPAA000012, unfol. Posser an Heinemann vom 29.06.1957, AdsD, 1/DPAA000008, unfol. Siehe etwa Heinemann an Merten vom 19.06.1961, AdsD, 1/DPAA000011, unfol. Jörg Treffke, Gustav Heinemann: Wanderer zwischen den Parteien. Eine politische Biographie, Paderborn 2009, S. 86.

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der profilierten »Linksverteidiger« Posser und Heinemann für Merten entfalteten, entsprach ganz der sowohl in den Bonner Ministerien als auch in weiten Teilen der bundesdeutschen Bevölkerung herrschenden »Schlussstrich-Mentalität«. Tatsächlich war der anvisierte »Schlussstrich«, in concreto die möglichst geräusch- und insbesondere sanktionslose »Lösung« der Kriegsverbrecherfrage, ein integraler und selbst bei einer »Persona non grata« wie Merten nicht in Frage gestellter Bestandteil der westdeutschen Staats- und Gesellschaftsräson.157 Letztlich steht der Fall Merten damit exemplarisch für die Versäumnisse der bundesdeutschen – gerade auch der juristischen – Funktionseliten sowohl vor als auch nach 1945. Mertens Vita kann vor diesem Hintergrund durchaus als eine zeithistorische Schlüsselbiografie bezeichnet werden. Dabei bündelt sie nicht nur verschiedene Facetten der aus heutiger Sicht bisweilen befremdlichen Bonner Vergangenheitspolitik, sondern weist auch zahlreiche Verflechtungen mit anderen bedeutsamen Kapiteln und Persönlichkeiten der deutschen und griechischen Zeitgeschichte auf. Erwähnt seien nur Mertens Beiträge zur Verfolgung der griechischen Juden, sein augenscheinlich gutes Verhältnis zu griechischen Kollaborateuren oder seine Verbindungen zu Adolf Eichmann, Hans Globke, Gustav Heinemann und Diether Posser. Damit reicht der Fall Merten weit über die Geschichte des BMJ hinaus. Auch für diese liefert er jedoch wesentliche Erkenntnisse, zeigt er doch einmal mehr und besonders drastisch auf, wie unsensibel und indifferent auf der Rosenburg mit dem NS-Erbe umgegangen wurde – nicht nur bei der Personalrekrutierung, sondern vor allem beim Umgang mit der Kriegsverbrecherfrage.

157 Vgl. auch schon Felix Bohr, Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter, Berlin 2018, S. 162.

II. Die institutionelle Verantwortung der Bundesgerichtsbarkeit

Stephan Harbarth

Das Bundesverfassungsgericht und die Schatten der Vergangenheit

Wenig veranschaulicht das historische Glück, das Deutschland nach den beispiellosen Verbrechen der Shoah zuteilgeworden ist, so eindrücklich wie der Umstand, dass unser Land heute wieder Heimstatt eines blühenden jüdischen Lebens sein darf. Das nunmehr bereits über 70 Jahre andauernde Wirken des Zentralrats der Juden als Stimme der jüdischen Gemeinschaft in unserem Land ist dabei nicht nur sichtbarer Ausdruck der Versöhnung, sondern auch eindringliche Mahnung zu Verantwortung und Erinnerung: Nur wer sich der Geschichte bewusst ist, kann aus ihr lernen und dem »Nie wieder!«, auf dem unser Gemeinwesen gründet, dauerhafte Wirkung verschaffen. Das Grundgesetz wurde am 23. Mai 1949 in dem Bestreben verkündet, auf den Trümmern der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft ein neues, ein besseres Deutschland zu gründen. Indem es unser gesamtes Gemeinwesen von Grund auf dem Primat der Menschenwürde verpflichtet, bildet das Grundgesetz  – in den Worten der Wunsiedel-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. November 2009 – geradezu den »Gegenentwurf zum Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes« und ist »von seinem Aufbau bis in viele Details hin darauf ausgerichtet, […] eine Wiederholung solchen Unrechts ein für alle Mal auszuschließen.«1 Dieses Ziel hat das Grundgesetz jedenfalls für die seither verstrichenen mehr als 70 Jahre erreicht. Die Bundesrepublik Deutschland ist der freiheitlichste, ja, der beste Staat, der je auf deutschem Boden existierte. Und doch lasteten und lasten auch auf diesem neuen deutschen Staat von Beginn an die Schatten der Vergangenheit. Denn mochte auch der Staat neu sein – seine Menschen waren dies nicht. Dieser neue Staat wurde gebildet von Menschen, die oft noch im Kaiserreich geboren worden waren und in deren Biografien sich die wechselvolle Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in all ihren Extremen widerspiegelte. Unter denen, die dem NS-Regime Vorschub leisteten und seine Unrechtsherrschaft stabilisierten, waren auch und gerade viele Juristen. Zu viele von ihnen, die doch eigentlich dem Dienst an der Gerechtigkeit verpflichtet hätten sein sollen, stellten sich bereitwillig in den Dienst der neuen Machthaber und wirkten dabei mit, das offensichtliche Unrecht in den Mantel einer vermeintlichen Legalität zu hüllen. Und nicht wenige derer, die solchermaßen dem national1 BVerfGE 124, 300 .

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Stephan Harbarth

sozialistischen Staat dienten, konnten nach dem Ende des Nationalsozialismus mehr oder minder nahtlos an ihre früheren Karrieren anknüpfen und im Staat des Grundgesetzes erneut in verantwortungsvolle Positionen gelangen. Dass in den Gerichtssälen der jungen Bundesrepublik mitunter frühere Täter über die Ansprüche früherer Opfer zu Gericht saßen, dass belastete Verwaltungsund Justizjuristen es viel zu oft vermochten, mit juristischen Winkelzügen die Ahndung früherer Untaten zu vereiteln, legt einen Schatten auf die frühen Jahre unseres Staates. Zugleich nimmt uns dieser Befund aber auch in die Pflicht, das Geschehene nicht einfach als bloße Vergangenheit abzutun und abzuschütteln. Vielmehr ist es an uns, die Tatsachen ans Licht zu bringen und zum Anlass für institutionelle wie auch für persönliche Reflexion zu nehmen. Dies gilt auch für das Bundesverfassungsgericht. Einerseits hebt sich das Bundesverfassungsgericht insoweit von vielen anderen öffentlichen Institutionen ab, als es nicht über einen unmittelbaren institutionellen Vorläufer verfügt. Nicht nur im Hinblick auf seine Stellung im Staatsgefüge, sondern auch im Hinblick auf seine personelle Zusammensetzung entstand im Bundesverfassungsgericht etwas weithin Neues. Zu Gerichtsmitgliedern der ersten Stunde wurden ganz bewusst auch solche Persönlichkeiten gewählt, die selbst Opfer nationalsozialistischer Verfolgung gewesen waren. Erna Scheffler etwa, die erste Frau auf der Richterbank des Bundesverfassungsgerichts, war nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten aufgrund ihrer jüdischen Herkunft aus dem Justizdienst entlassen worden. Gerade auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen biografischen Erfahrungen war es den Angehörigen dieser Gründergeneration ein tiefes Anliegen, die junge Demokratie zu festigen und den Staat des Grundgesetzes vor einem ähnlich tragischen Schicksal zu bewahren, wie es der Weimarer Republik widerfahren war. Ein bis heute eindrucksvolles Zeugnis dieser Haltung gibt etwa die Entscheidung aus dem Jahr 1953 über die Rechtsverhältnisse der mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes ausgeschiedenen Beamten,2 in welcher das Bundesverfassungsgericht entgegen der damals nahezu einhelligen Auffassung der Staatsrechtslehre klarstellte, dass das sogenannte Dritte Reich eben kein Staat wie jeder andere gewesen war und das Beamtenverhältnis zum nationalsozialistischen Unrechtsstaat nicht aus sich heraus dessen Untergang überdauert hatte. Angesichts der damals in der Gesellschaft weitverbreiteten Geisteshaltung war dieses Urteil geradezu eine Katharsis, und kaum etwas belegt die Bedeutung und Erforderlichkeit dieses Spruches eindrücklicher als die harsche Kritik, die ihm seitens oftmals selbst in personellen Kontinuitäten verfangener Vertreter von Rechtsprechung und Lehre entgegenschlug. Andererseits ist jedoch nicht erst seit dem Rosenburg-Projekt bekannt, dass auch die Richterschaft des Bundesverfassungsgerichts Persönlichkeiten umfasste, deren Vorleben in der Zeit des Nationalsozialismus Fragen aufwirft. Dies ist schmerzhaft, aber es ist Teil der historischen Wahrheit, der wir uns stellen müssen und der wir uns stellen wollen. Im Jahr 2017 fiel daher die Entscheidung, 2 BVerfGE 3, 58 ff.

Das Bundesverfassungsgericht und die Schatten der Vergangenheit 

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diesen Aspekt der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts von unabhängiger Seite wissenschaftlich untersuchen zu lassen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dabei sollen zum einen die relevanten biografischen Informationen aller Richterinnen und Richter, die im Zeitraum zwischen 1951 und 1970 am Bundesverfassungsgericht tätig waren, aufbereitet und analysiert werden, und zwar insbesondere im Hinblick auf ihre beruflichen und persönlichen Lebenswege in der Zeit des Nationalsozialismus sowie spätere biografische Kontinuitäten oder Brüche im Rechtsstaat des Grundgesetzes. Zum anderen soll die Frage beantwortet werden, ob und wie die biografischen Prägungen jener Richterinnen und Richter in der Gerichtskultur und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Niederschlag gefunden haben könnten. Auf diese Weise soll ein Beitrag zur Verortung des Bundesverfassungsgerichts in der Geschichte der jungen Bundesrepublik geleistet werden. Gerade die deutsche Geschichte zeigt uns, dass Recht nie allein Mittel zum Zweck, nie allein Werkzeug zur Umsetzung eines nicht weiter zu hinterfragenden politischen Willens sein darf, dass die Ausübung staatlicher Macht nicht allein den Gesetzen zu folgen, sondern vielmehr der Gerechtigkeit zu dienen hat. Uns dessen bewusst zu bleiben und dieses Bewusstsein vor allem auch an nachfolgende Generationen weiterzugeben, ist uns allen aufgegeben, und genau deshalb haben wir uns auch der Geschichte unseres Berufsstandes und unserer Institutionen in all ihren Licht- und Schattenseiten zu stellen. Vergessen nämlich, so der Talmud, verlängert das Exil – das Geheimnis der Erlösung aber heißt Erinnerung.

Bettina Limperg

Die langen Schatten der »ersten« und der »zweiten« Schuld Vom doppelten Justizunrecht und den (zu) späten Aufklärungsbemühungen des Bundesgerichtshofs*3

I. Einleitung Umso länger ist der Schatten eines Gegenstandes, je deutlicher dieser hervortritt und je tiefer das Licht steht. Die »Schatten der Vergangenheit« sind lang. Zu monströs sind die Dimensionen des NS-Justizunrechts und zu lange hat sich die deutsche Nachkriegsjustiz ihrer hinreichenden Ausleuchtung verweigert. So zeugt die Länge der Schatten sowohl von der Größe der Schuld als auch von der überwiegend ausgebliebenen oder zu spät erfolgten Sühne. Denn auch dort, wo es weiterer Erhellung nicht (mehr) bedurft hätte, fehlte es nicht selten an der Bereitschaft, wenigstens hinzuschauen. Sühne aber setzt nicht nur die Aufklärung begangenen Unrechts voraus, wo es ihrer noch bedarf, sondern auch, wo es ihrer nicht mehr bedarf, die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Auf welche Weise der Bundesgerichtshof (BGH) – wenn auch (viel) zu spät – den Versuch unternommen hat und weiter unternimmt, Licht ins Dunkel zu bringen und Verantwortung für – auch von ihm begangenes – Justizunrecht zu übernehmen, davon will ich im Folgenden berichten.

II. Justizunrecht im NS-Staat: Die erste Schuld Der NS-Staat war ein Unrechtsstaat. Ihm sind der Mord an sechs Millionen Juden, an mehr als 200.000 Sinti und Roma, an 250.000 Euthanasieopfern sowie an über 3,3 Millionen Zwangsarbeitern, Deportierten und politisch Verfolgten anzulasten. Diese Morde wurden nicht nur grausam ausgeführt. Sie wurden auch von Juristen begangen und unterstützt, und zwar im Namen und mit den Mitteln des formellen Rechts. * Aktualisierte Fassung des auf der vom Zentralrat der Juden in Deutschland vom 7. bis 9. November 2018 in Berlin veranstalteten Konferenz »Die langen Schatten der Vergangenheit – Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit« gehaltenen Vortrags (Stand: Juni 2020).

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Bettina Limperg

Hinzu kommen 16.000 Todesurteile, die die Strafjustiz auch für minder schwere Delikte verhängte, sowie fast 20.000 weitere Todesurteile, die von der Wehrmachtsgerichtsbarkeit und in den letzten Kriegsmonaten von Standgerichten verhängt wurden. Von »Verbrechern, die sich Richter nannten«, sprach mein Amtsvorvorgänger Günter Hirsch. Der Benennung dieser Verbrechen an der Menschlichkeit schließt sich die Frage nach dem Warum von selbst an. Was mich aus Sicht einer Justizjuristin hierbei stets aufs Neue besonders umtreibt, ist die Frage, wie es sein konnte, dass sich die Repräsentanten des Rechtsstaats der Weimarer Republik bereits von Beginn an dem neuen Unrechtsregime verschrieben haben. Zwar löste die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 unter den Richtern noch etwas Sorge (wohl vornehmlich in eigener Sache) aus, da man fürchtete, es könnten »Maßnahmen ergriffen werden, die die Unabsetzbarkeit der Richter und die Unabhängigkeit der Justiz in Frage stellten«.1 Tatsächlich begann die Aushöhlung der Verfassung dann auch bereits im Februar 1933. Die sogenannte Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 setzte mehrere Grundrechtsartikel der Reichsverfassung außer Kraft: Die Freiheit der Person, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Eigentum samt Schutz vor Enteignung – all diese Grundrechte waren schon im Februar 1933 passé. Zudem wurde der Anwendungsbereich der Todesstrafe erweitert. Mit der Praxis der sogenannten Schutzhaft wurde der Richtervorbehalt abgeschafft. Auch mit dem Grundsatz nulla poena sine lege wurde gebrochen, indem die rückwirkende Anwendung der Reichstagsbrandverordnung beschlossen und damit die Möglichkeit geschaffen wurde, bei früheren Brandstiftungstaten die Todesstrafe zu verhängen. Konkret ging es natürlich vor allem darum, den der Brandstiftung im Reichstag verdächtigten Marinus van der Lubbe zu Tode zu bringen. Die Richterschaft hätte sich mit ihrer Sorge erst recht bestätigt fühlen können, als am 11. März 1933 die SA das Amts- und Landgericht in Breslau stürmte, in Sitzungssäle eindrang und Richter, Rechts- und Staatsanwälte jüdischen Glaubens  – darunter auch den Landgerichtsdirektor Steinfeld  – buchstäblich aus dem Gebäude prügelte. Auf einer nachmittäglichen Versammlung nichtjüdischer Rechtsanwälte, an der auch einige Richter und Staatsanwälte teilnahmen, wurde unter Aufsicht der SA beschlossen, dass der Überfall zu einem dreitägigen Stillstand der Rechtspflege, einem sogenannten Justitium, führen solle. Dieser Beschluss wurde von Zeitgenossen als Akt des Widerstands, als »Richterstreik«, interpretiert, insbesondere auch von dem jüdischen Rechtsanwalt Ludwig Foerder, der selbst an jenem 11. März 1933 mit einem Fußtritt aus dem Gericht befördert worden war. Doch wie der Rechtshistoriker Benjamin Lahusen erst jüngst eingehend dargelegt hat, könnte dies eine zu nachsichtige Einschätzung gewesen sein. Das Justitium dürfte der Justiz auch die benötigte Atempause verschafft haben, um der Umsetzung der von SA und Polizei gewünschten Eindämmung 1 Erklärung des Deutschen Richterbundes, in: Deutsche Richterzeitung (DRiZ), 1933, S. 121.

Die langen Schatten der »ersten« und der »zweiten« Schuld 

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des »Einflusses jüdischer Rechtspflegeorgane« den Boden zu bereiten. Tatsache ist, dass ein etwaiger Breslauer Widerstand isoliert geblieben wäre. Kein anderes Gericht schloss sich an. Im Gegenteil: Nur acht Tage später verabschiedete das Präsidium des Deutschen Richterbundes eine Erklärung, in der es »den Willen der neuen Regierung begrüßte, der ungeheuren Not und Verelendung des deutschen Volkes ein Ende zu machen«, und »der neuen Regierung volles Vertrauen entgegen[brachte]«. Der deutsche Richter sei »von jeher national, [verantwortungsbewusst] und von sozialem Empfinden erfüllt« gewesen. Diese Linientreue sollte bereits vier Tage später mit der Zusicherung der Unabsetzbarkeit der Richter belohnt werden. Im Rahmen der Reichstagsdebatte zum Ermächtigungsgesetz führte Hitler am 23. März 1933 in der Kroll-Oper aus: »Unser Rechtswesen muss in erster Linie der Erhaltung [der] Volksgemeinschaft dienen. Der Unabsetzbarkeit der Richter auf der einen Seite muss die Elastizität der Urteilsfindung zum Zweck der Erhaltung der Gesellschaft entsprechen. Nicht das Individuum kann der Mittelpunkt der gesetzlichen Sorge sein, sondern das Volk!«2 Am 31. März 1933 wurden im ganzen Land Justizgebäude besetzt und jüdische Rechtsanwälte misshandelt und gedemütigt; in Köln wurden sie auf Müllabfuhrwagen fortgeschafft, was den Oberlandesgerichtspräsidenten zu der Klage veranlasste, mit dem Abtransport in Robe sei das »Amts- und Ehrengewand auch der deutschstämmigen Richter« entehrt worden. Als schließlich Anfang April 1933 flächendeckend jüdische Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte ihres Amtes enthoben wurden, regte sich unter der Richterschaft kein spürbarer Widerstand. Bezeichnend ist vielmehr, dass diese sogenannten Säuberungsaktionen aufgrund des vorauseilenden Gehorsams der Justizverwaltungen der Länder sogar besonders früh erfolgten. Noch bevor das Gesetz mit dem zynischen Namen »Zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« den Ausschluss aller jüdischen Beamten aus dem öffentlichen Dienst verlangte, hatte die Justiz Fakten geschaffen. Diese Gefügigkeit von Beginn an treibt mich um: Die vorgeschriebenen Entwicklungen haben sich nicht spät eingefunden, sie sind auch nicht abgepresst worden. Im Gegensatz zu dem oft zitierten, angeblichen Hass Hitlers auf Juristen wird nicht so häufig erwähnt, dass das neue System tatsächlich viele JuristenKarrieren beflügelte. Den Juristen ging es unter der NS-Führung gut: Es wurden neue Stellen geschaffen, die Berufszufriedenheit war hoch, Referendare wurden bezahlt, die individuelle Arbeitsbelastung nahm eher ab. Auch die vormals weit verbreitete Darstellung der NS-Justiz als ein im Grunde standhaftes, aber letztlich wehr- und machtloses »Opfer«, das allein das vom NS-Regime verschärfte Recht formal korrekt anwendete, ist einseitig und falsch. Das Unrecht im Nationalsozialismus ist in erster Linie nicht eine Frucht des Ge2 Reichstagsprotokoll der 2. Sitzung der 8. Wahlperiode 1933, S. 28 (C), abrufbar unter https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_w8_bsb00000141_00032.html (zuletzt aufgerufen am 20.10.2020).

Bettina Limperg

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setzespositivismus. Gerade die vielen – teils ganz bewusst geschaffenen – Generalklauseln hätten oftmals andere Entscheidungen zugelassen. Verwirklicht hat die NS-Justiz die neue nationalsozialistische, auf »Blut und Boden« gründende Rechtsidee und den zur obersten Rechtsquelle proklamierten »Führerwillen« vielmehr insbesondere durch Analogien zu Lasten des Angeklagten oder die extensive Auslegung von strafbarkeitsbegründenden Normen. Der Präsident des Volksgerichtshofs Roland Freisler brachte es unverhohlen auf den Punkt: Das Gericht »wird sich stets bemühen, so zu urteilen, wie [es] glaubt, dass der Führer den Fall selbst beurteilen würde«. Es ist diese Haltung, die den Boden für das begangene Justizunrecht bereitete.

III. Ausgebliebene Sühne in der BRD: Die zweite Schuld Diese durch das NS-(Justiz-)Unrecht begangene erste Schuld blieb in der Bundesrepublik allermeist ungesühnt. Ralph Giordano hat diese Verleugnung der ersten Schuld unter Hitler in seinem gleichnamigen Buch treffend als »die zweite Schuld« bezeichnet.3 Bei der strafrechtlichen Aufarbeitung des Völkermordes hat die Nachkriegsjustiz versagt. Auch die strafrechtliche Aufarbeitung der während der NS-Zeit begangenen Justizverbrechen ist größtenteils ausgeblieben. Dieses Scheitern sowie der Umstand, dass in Bezug auf die Justiz keine wahrhaftige Vergangenheitsbewältigung stattfand, gehören zu den zentralen Versäumnissen in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Von diesem Vorwurf einer insgesamt fehlgeschlagenen Auseinandersetzung mit der NS-Justiz kann der Bundesgerichtshof nicht ausgenommen werden. Vielmehr hat er maßgeblich zu ihr beigetragen: 1.

Der Fall Huppenkothen

Zu nennen wäre da zunächst das bekannte Huppenkothen-Urteil des Bundesgerichtshofs vom 19. Juni 1956,4 für das man als Angehörige des Bundesgerichtshofs nur tiefe Scham empfinden kann. Auf Anweisung Hitlers wurde gegen Hans von Dohnanyi und gegen weitere Widerstandskämpfer, unter ihnen Dietrich Bonhoeffer, am 6. und 8. April 1945 im KZ Sachsenhausen bzw. KZ Flossenbürg ein SS-Standgerichtsverfahren durchgeführt, obgleich alle Beschuldigten nicht der SS-Gerichtsbarkeit unterstanden. Ankläger war der SS-Standartenführer Walter Huppenkothen. Neben dem SS-Richter Otto Thorbeck fungierte der KZ-Kommandant von Flossenbürg als Beisitzer des Standgerichts. Ein Verteidiger wurde den Angeklagten nicht ge3 Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Hamburg 1987. 4 1 StR 50/56, neu abgedruckt in: Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ),1996, S. 485.

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währt, es gab auch keine Protokollführer. Sämtliche Angeklagten wurden zum Tode verurteilt und unmittelbar nach der Urteilsverkündung im KZ Flossenbürg entblößt erhängt. Der Ankläger Huppenkothen und der SS-Richter Thorbeck wurden deshalb in der Bundesrepublik wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Dreimal hat sich der BGH mit diesem Strafverfahren beschäftigt. Trauriger Endpunkt war das genannte Urteil aus dem Jahr 1956. Der 1. Strafsenat beurteilte das SS-Standgericht als »ordnungsgemäßes Gericht« und das offenkundige Scheinverfahren als »ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren«. Den Beteiligten des Widerstands vom 20. Juli 1944 wird im Urteil vorgehalten, dass sie »nach den damals geltenden und in ihrer rechtlichen Wirksamkeit an sich nicht bestreitbaren Gesetzen die Merkmale des Landesverrats […] verwirklicht« haben. Dass die damaligen Ankläger Angeklagten »nicht in eine Prüfung der Frage eingetreten [sind], ob das Verhalten der Widerstandskämpfer etwa unter dem Gesichtspunkt des übergesetzlichen Notstands gerechtfertigt sei, kann [ihnen] schon mit Rücksicht auf die Lage, in die [sie] damals […] in Flossenbürg plötzlich gestellt [waren], nicht zum strafrechtlichen Vorwurf gereichen.« Dass der Bundesgerichtshof die erstinstanzlichen Verurteilungen zum Teil gleichwohl – erkennbar widerwillig – aufrechterhalten hat, kann über diese geradezu perfide Verdrehung der Opfer- und Täterrollen in den Urteilsgründen nicht hinwegtäuschen. 2.

Der Fall Rehse

Zwölf Jahre später hatte der Bundesgerichtshof den Fall Rehse zu entscheiden. Hans-Joachim Rehse war beisitzender Richter am Volksgerichtshof und hatte zusammen mit Roland Freisler an Dutzenden von Todesurteilen gegen Widerstandskämpfer mitgewirkt. Am 30. April 19685 hob der 5. Strafsenat des BGH die Verurteilung Rehses wegen Beihilfe zum Mord auf. Ein Richter des Volksgerichtshofs sei nicht als Gehilfe, sondern als Täter eines Tötungsverbrechens zu bestrafen, wenn er gegen seine richterliche Überzeugung für ein Todesurteil stimme. Die Täterschaft ergebe sich allein aus dem Richteramt. Damit wurden jedoch Angeklagte entgegen dem ersten Anschein nicht etwa besonders streng behandelt, sondern privilegiert: Denn ein Täter, der selbst nicht das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe verwirklichte, konnte nicht wegen Mordes, sondern nur wegen Totschlags verfolgt werden. Eine Ahndung wegen Totschlags war wiederum aufgrund der bereits eingetretenen Verjährung ausgeschlossen. Hätte man Rehse hingegen als Gehilfen des Mörders Freisler eingestuft, wäre eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord, der keiner Verjährung unterliegt, noch möglich gewesen. Denn für die Strafbarkeit des Gehilfen ist es ausreichend, 5 5 StR 670/67, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 1968, S. 1339.

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dass dieser weiß, dass der Haupttäter – hier Freisler – aus niedrigen Beweggründen gehandelt hat. Diese beiden genannten Urteile bereiteten einer »kalten Amnestie« den Boden: Die Staatsanwaltschaften stellten sämtliche Ermittlungen gegen ehemalige Richter ein. Kein Richter wurde wegen der tausendfachen Justizverbrechen im »Dritten Reich« verurteilt. 3.

(Zu) späte Einsicht

Es brauchte bis zum Urteil des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 16. November 1995,6 dass die unrühmliche Rolle des Bundesgerichtshofs erstmals eingestanden wurde. Der 5. Strafsenat spricht von der »insgesamt fehlgeschlagenen« Auseinandersetzung mit der NS-Justiz und führt weiter aus: »Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft hatte eine ›Perversion der Rechtsordnung‹ bewirkt, wie sie schlimmer kaum vorstellbar war […], und die damalige Rechtsprechung ist angesichts exzessiver Verhängung von Todesstrafen nicht zu Unrecht oft als ›Blutjustiz‹ bezeichnet worden. Obwohl die Korrumpierung von Justizangehörigen durch die Machthaber des NS-Regimes offenkundig war, haben sich bei der strafrechtlichen Verfolgung des NS-Unrechts auf diesem Gebiet erhebliche Schwierigkeiten ergeben […]. Die vom Volksgerichtshof gefällten Todesurteile sind ungesühnt geblieben, keiner der am Volksgerichtshof tätigen Berufsrichter und Staatsanwälte wurde wegen Rechtsbeugung verurteilt; ebenso wenig Richter der Sondergerichte und der Kriegsgerichte. Einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte nicht zuletzt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.«7

Erst 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte der Bundesgerichtshof damit sein eigenes Versagen bei der Auseinandersetzung mit der NS-Justiz eingestanden.

IV. Die Aufarbeitungsprojekte des Bundesgerichtshofs An einer grundlegenden wissenschaftlichen Aufarbeitung der Nachkriegsgeschichte des Bundesgerichtshofs fehlt es allerdings nach wie vor. Um dies zu ändern, hat der Bundesgerichtshof zwei fachlich bestens ausgewiesene Wissenschaftler der Universität Mainz, den Zeithistoriker Professor Dr. Michael ­K ißener und den Rechtshistoriker Professor Dr. Andreas Roth, auf Grundlage einer Forschungsförderungsvereinbarung vom März 2018 zunächst mit der Erstellung zweier Vorstudien betraut. 6 5 StR 747/94, in: NJW, 1996, S. 857. 7 Ebd., S. 863.

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Hierbei handelt es sich zum einen um einen Recherchebericht über die Personen und das Schicksal von 34 Reichsgerichtsräten und Reichsanwälten, deren auf einer Tafel im Bundesgerichtshof gedacht wird, zum anderen um eine Vorstudie für ein Forschungsvorhaben zu den Nachwirkungen der NS-Zeit in der Personalrekrutierung und Rechtsprechung der Anfangszeit des Bundesgerichtshofs. Beide Vorstudien sind vereinbarungsgemäß Ende 2018 vorgelegt worden. Ihren Gegenstand will ich nachfolgend kurz umreißen. 1.

Die Gedenktafel

Im Hauptgebäude des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe ist eine etwa 140 × 110 cm große Platte mit folgender Inschrift in die Wand eingelassen: »Zum Gedächtnis der 34 Mitglieder des Reichsgerichts und der Reichsanwaltschaft, die in den Jahren 1945 und 1946 in den Lagern Mühlberg an der Elbe und Buchenwald umgekommen sind.« Die Tafel nimmt Bezug auf die unter im Einzelnen ungeklärten Umständen erfolgte Verhaftung von Reichsgerichtsräten und Reichsanwälten durch die sowjetische Geheimpolizei Ende August 1945 in Leipzig und die anschließende Überstellung der betreffenden Personen in Lagerhaft. Nach Schilderungen eines Zeitzeugen überlebten nur drei der 34 Inhaftierten die insgesamt viereinhalbjährige Lagerzeit. Die Gedenktafel wurde im Oktober 1957 durch den damaligen Präsidenten des Bundesgerichtshofs Hermann Weinkauff in einer Feierstunde in Anwesenheit unter anderem von Vertretern des damaligen Bundesministeriums der Justiz enthüllt. Der Präsident würdigte die 34 Personen bei der Enthüllung der Tafel als »unschuldige Opfer« und »Märtyrer des Unrechts« und erklärte, die Tafel solle »das Andenken an die Opfer eines mörderischen Regimes« – gemeint war die sowjetische Geheimpolizei  – wachhalten. Der seinerseits einschlägig vorbelastete Vertreter des Justizministeriums, Josef Schafheutle, erklärte, die Tafel mahne an das »Opfer […], das Männer des Reichsgerichts und der Reichsanwaltschaft im Dienste des Rechts gebracht« hätten. Nicht gedacht wurde der Opfer des NS-Regimes. Damals wie heute war bekannt, dass die Gedenktafel mehrheitlich auch solche Personen umfasst, die in der NS-Zeit an Unrechtsurteilen beteiligt waren oder sich auf andere Weise schuldig gemacht haben. Zugleich ist die Tafel Zeitzeugnis einer unkritischen Erinnerungskultur und als solche ihrerseits historisches Erbe. Es ist deswegen nicht damit getan, die Tafel – wie vereinzelt gefordert – »aus der Wand zu reißen«. Vielmehr soll die in Auftrag gegebene Recherche einer kritischen Würdigung den Boden bereiten und insbesondere auch helfen, die Frage zu beantworten, wie mit der Tafel künftig historisch verantwortbar umgegangen werden kann. Einstweilen weist eine unterhalb der Tafel angebrachte Plakette auf das Forschungsvorhaben hin. Die in Auftrag gegebene Recherche hat umfassende, quellengestützte Erkenntnisse zu den auf der Tafel aufgeführten Personen hervorgebracht, insbe-

Bettina Limperg

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sondere zu ihrem Wirken in der Zeit des Nationalsozialismus, ihrer Beteiligung an Entscheidungen mit Bezug zur NS-Ideologie und auch zu ihrer Lagerhaft. Die Ergebnisse hätten im Juni 2020 auf einem Symposium im Bundesgerichtshof präsentiert und erörtert werden sollen. Die Covid-19-Pandemie hat dies leider unmöglich gemacht. Das Symposium wird daher im Jahr 2021 nachgeholt. 2.

Die Geschichte des Bundesgerichtshofs von 1950 bis 1963/1965

Darüber hinaus werden derzeit personelle und inhaltliche Einflüsse der NS-Zeit auf die Anfangsjahre des Bundesgerichtshofs – erfasst ist die Zeit bis 1963/1965 – aufgearbeitet. Im Rahmen der Vorstudie wurden bereits der Kreis der zu untersuchenden Personen ermittelt, das zur Verfügung stehende Quellenmaterial gesichtet, solche Rechtsgebiete, die sachliche oder personelle Kontinuität vermuten lassen, identifiziert sowie die relevante Judikatur bestimmt. Auf dieser Grundlage wird nunmehr ein umfassendes Forschungsprojekt mit einem Forschungszeitraum von 2020 bis 2024 realisiert. Die entsprechenden Mittel sind vom Deutschen Bundestag im Haushalt 2020 bereitgestellt worden, die (weitere)  Forschungsförderungsvereinbarung wurde im Januar 2020 abgeschlossen.

V. Schluss Gerade in Zeiten, in denen Parlamentarier von einer »dämlichen Bewältigungspolitik« sprechen, eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad« fordern, das Holocaust-Mahnmal in Berlin als »Denkmal der Schande« bezeichnen und die Zeit des Nationalsozialismus als bloßen »Vogelschiss in 1000 Jahren deutscher Geschichte«, ist eine Rückbesinnung auf ein Wort von Bundespräsident Roman Herzog angezeigt. Als er 1996 den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus einführte, forderte er: »Zunächst darf das Erinnern nicht aufhören; denn ohne Erinnerung gibt es weder Überwindung des Bösen noch Lehren für die Zukunft.«8 Die Forschungsvorhaben des Bundesgerichtshofs sollen und dürfen die langen Schatten der Vergangenheit deswegen nicht verkürzen, sondern wollen ihre Konturen in der Gegenwart noch schärfer hervortreten lassen.

8 Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag am 19. Januar 1996, abrufbar unter: https://www. bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1996/01/19960119_ Rede.html (zuletzt aufgerufen am 06.10.2020).

Peter Frank

Die Bundesanwaltschaft und die NS-Zeit – Verstrickung oder Neuanfang?*9

»Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.« Unter Hinweis auf diese Worte des im Jahr 2017 verstorbenen früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl habe ich im Januar 2018 das Forschungsprojekt zur Vergangenheit der Bundesanwaltschaft in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland der Öffentlichkeit vorgestellt. Denn wir müssen – und dies gilt nicht nur für die von mir zu verantwortende Justizeinrichtung – unsere Vergangenheit, gerade auch in der heutigen Zeit, stets klar vor Augen haben. Ich will nicht, dass die Schatten der Vergangenheit wieder real werden. Dies gilt umso mehr angesichts der schweren rechtsterroristischen Anschläge in jüngster Vergangenheit, mit deren Aufklärung die Bundesanwaltschaft befasst ist, und des Anstiegs rechtsextremistischer Umtriebe in unserem Staat. Es ist mir daher sehr wichtig, die wissenschaftliche Untersuchung zur historischen Aufarbeitung der inhaltlichen und personellen Kontinuitäten zwischen der Reichsanwaltschaft und der Bundesanwaltschaft hier vorzustellen. Erste Überlegungen, eine Forschungsarbeit zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und deren Auswirkungen auf die Bundesanwaltschaft in Auftrag zu geben, gehen in das Jahr 2009 zurück. Die damalige Generalbundesanwältin Monika Harms hatte gemeinsam mit Wissenschaftlern der Universität HalleWittenberg ein entsprechendes Konzept erstellt. Dieses war allerdings wesentlich umfangreicher angelegt. Untersucht werden sollten die Anfangsjahre nicht nur der Bundesanwaltschaft selbst, sondern auch aller Gerichte des Bundes. Als Laufzeit waren fünf Jahre vorgesehen. Dieses Vorhaben konnte in der Folge nicht umgesetzt werden. Es scheiterte unter anderem an den verschiedenen Vorstellungen der zahlreichen Beteiligten zu den Details einer solchen Untersuchung. Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) gab dann im Jahr 2012 das dortige NS-Aufarbeitungsprojekt »Die Akte Rosenburg« in Auftrag. In der Publikation zur »Akte Rosenburg« wird in beeindruckender Weise dargestellt, wie das * Aktualisierte Fassung des für die vom Zentralrat der Juden in Deutschland vom 7. bis 9. November 2018 in Berlin veranstaltete Konferenz »Die langen Schatten der Vergangenheit – Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit« erstellten Manuskripts für den Vortrag »Verstrickung oder Neuanfang? Zum Stand der historischen Aufarbeitung der inhaltlichen und personellen Kontinuitäten zwischen Reichsanwaltschaft und Bundesanwaltschaft« (Stand: 15. April 2020).

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damalige BMJ nicht nur die organisatorischen Strukturen des Reichsjustiz­ ministeriums übernommen hatte. Auch personell gab es in erheblichem Umfang Kontinuitäten. Frühere Mitarbeiter, die während der NS-Zeit Karriere gemacht hatten und nachweislich in das NS-Regime verstrickt waren, wurden vorbehaltlos übernommen und konnten ihre berufliche Laufbahn mehr oder weniger unbehelligt fortsetzen. Die Studie zur »Akte Rosenburg« befasst sich auch mit dem Geschäftsbereich des BMJ. Dazu gehört die Bundesanwaltschaft. Allerdings beschränkt sich die Studie auf einen kurzen Abriss, der lediglich acht Seiten des insgesamt über 450 Seiten umfassenden Berichts ausmacht – mit dem umfangreichen Fundstellen- und Quellennachweis sind es sogar fast 600 Seiten. Vor dem Hintergrund des Rosenburg-Projekts war es mir ein großes Anliegen, eine Untersuchung der Anfangsjahre der Bundesanwaltschaft und deren Bezüge zur NS-Zeit ins Leben zu rufen. Diesen erneuten Anlauf gab es Anfang 2016. Die Möglichkeiten, ein solches Projekt auch tatsächlich umzusetzen, waren zu diesem Zeitpunkt wesentlich günstiger. Zum einen ist sein Umfang überschaubarer, denn nur die Bundesanwaltschaft sollte Gegenstand der Untersuchung sein. Dadurch konnte der konkrete Forschungsgegenstand klar abgegrenzt werden, zudem waren der organisatorische und auch der personelle Aufwand, um das Projekt zu koordinieren, geringer. Zum anderen waren im Jahr 2016 die Rahmenbedingungen für eine Realisierung des Projekts deutlich günstiger als noch im Jahr 2009. Wir konnten auf die seit 2012 gesammelten Erfahrungen des Rosenburg-Projekts des Bundesministeriums der Justiz zurückgreifen. Im BMJ standen zu zahlreichen Details, die mit einem derartigen Projekt verbunden sind, Ansprechpartner zur Verfügung, für organisatorische Fragen gab es Antworten und Lösungsvarianten. Außerdem kam uns zugute, dass mit Christoph Safferling ein Wissenschaftler zur Verfügung stand, der bereits seit mehreren Jahren im Rahmen des Rosenburg-Projektes intensiv zu der Materie geforscht hatte. Nicht verschweigen möchte ich auch, dass im Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode aus dem Jahr 2013 ausdrücklich die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit Erwähnung findet, was nicht nur für Bundesministerien galt. Auch die Aufarbeitung der NS-Verwicklungen von Behörden des Bundes sollte vorangetrieben werden. Als erster Schritt zur Umsetzung des Forschungsprojekts wurde Anfang 2016 innerhalb der Bundesanwaltschaft eine dreiköpfige Projektgruppe gebildet. Sie nahm Kontakt zu den Verantwortlichen des Rosenburg-Projekts im BMJ auf. Parallel wurden Haushaltsmittel beschafft. Außerdem musste der bei der Bundesanwaltschaft vorhandene Aktenbestand auf seine mögliche Relevanz gesichtet werden. Nach diesen Vorarbeiten konnte im Mai 2016 Christoph Safferling mit der Erstellung einer Vorstudie beauftragt werden. In dieser sollten Aussagen zur Machbarkeit, zum konkreten Gegenstand und zu dem zu untersuchenden historischen Zeitraum getroffen werden. Safferling legte diese Studie dann im Oktober 2016 vor. Auf ihrer Grundlage konnte im Dezember 2017 der endgültige Forschungsvertrag geschlossen wer-

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den. Dabei haben wir auf das bewährte Konzept des NS-Aufarbeitungsprojekts des BMJ zurückgegriffen: Die Untersuchung wurde – analog zum RosenburgProjekt  – interdisziplinär vorgenommen. Den juristischen Part hat Professor Dr. Safferling mit seinen Mitarbeitern übernommen. Daneben konnte Professor Dr. Friedrich Kießling von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt gewonnen werden. Er ist Neuhistoriker und untersuchte mit seinem Mitarbeiterstab die geschichtlichen Aspekte der Studie. Es ist beabsichtigt, ähnlich wie beim Rosenburg-Projekt, den Abschlussbericht zu veröffentlichen. Dieser soll die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung für die allgemeingeschichtlich und politisch interessierte Öffentlichkeit darstellen. Mit der Publikation ist voraussichtlich im Jahr 2021 zu rechnen. Wurde die Vorstudie vom Oktober 2016 noch unter dem Titel »Von der Reichsanwaltschaft zur Bundesanwaltschaft« durchgeführt, lautet der Titel des Forschungsprojekts gemäß Vertrag vom Dezember 2017 jetzt: »Die Bundesanwaltschaft und die NS-Zeit«. Diese Änderung hat ihren Grund darin, dass der Titel »Von der Reichsanwaltschaft zur Bundesanwaltschaft« bereits vergeben war. Er fand Verwendung für ein sogenanntes Braunbuch der ehemaligen DDR aus dem Jahr 1962 zur NS-Vergangenheit des damaligen Generalbundesanwalts Wolfgang Fränkel. Dieser hatte das Amt im März 1962 übernommen, nachdem er zuvor bereits seit September 1961 kommissarischer Leiter der Behörde gewesen war. Dieses »Braunbuch« stellt auf etwa 130 Seiten die Verstrickungen von Fränkel in das NS-Regime dar. Im Jahr 1905 geboren, war er bereits im Mai 1933 in die NSDAP eingetreten und ab 1936 sogenannter Hilfsarbeiter – nach heutigen Begrifflichkeiten wissenschaftlicher Mitarbeiter  – bei der Reichsanwaltschaft beim Reichsgericht in Leipzig gewesen. Dort bearbeitete er auch sogenannte Nichtigkeitsbeschwerden. Dabei handelte es sich um ein Willkürinstrument der NS-Justiz. Es diente dazu, gegen bereits rechtskräftige Strafurteile der unteren Instanzen vorgehen zu können, die nicht der Ideologie des NS-Unrechtsregimes entsprachen und als Verstoß gegen das sogenannte gesunde Volksempfinden galten. In dem »Braunbuch« ist zu lesen, dass Fränkel durch solche »Nichtigkeitsbeschwerden« in etwa 50 Fällen die Umwandlung von Freiheitsstrafen in Todesurteile erreicht haben soll. Unmittelbar nach dem Erscheinen der DDR-Schrift wurde Fränkel im Juli 1962 in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Gestorben ist er im Alter von 105 Jahren im Jahr 2010. Die kurze Darstellung der Causa Fränkel führt mich zum Inhalt und Gegenstand des Forschungsprojektes, den ich an dieser Stelle kurz skizzieren möchte. Am Anfang der wissenschaftlichen Untersuchung waren folgende Fragen zu beantworten: – Erstens: Besteht angesichts des aktuellen Stands der Wissenschaft überhaupt Bedarf für ein Forschungsprojekt zur NS-Aufarbeitung in Bezug zur Bundesanwaltschaft? – Zweitens: Welchen genauen Umfang und Gegenstand soll das Forschungsprojekt haben? – Und drittens: Wie ist die Archiv- und Quellenlage?

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Die Wissenschaftler kamen hinsichtlich des Forschungsbedarfs zu dem Ergebnis, dass trotz umfangreicher Publikationen zur Verstrickung von Juristen in die NS -Zeit zahlreiche Fragen in Bezug zur Bundesanwaltschaft wissenschaftlich noch nicht tiefergehend untersucht worden sind. Demnach waren weder die Bundesanwaltschaft noch die Reichsanwaltschaft beim Reichsgericht und beim Volksgerichtshof, noch die Reichskriegsanwaltschaft systematisch wissenschaftlich aufgearbeitet worden. Außerdem, so die wissenschaftliche Einschätzung, waren Personalakten und sonstige Quellen zu den Generalbundesanwälten der jüngeren Bundesrepublik bisher nicht oder nur kursorisch ausgewertet worden. Dies gilt auch für Archivmaterial zu den damaligen Angehörigen der Bundesanwaltschaft im höheren Dienst, also Bundesanwälten und Oberstaatsanwälten beim Bundesgerichtshof (BGH). Mögliche Einflüsse der NS-Ideologie auf inhaltliche Entscheidungen der Bundesanwaltschaft und deren Selbstverständnis als oberste Strafverfolgungsbehörde des Bundes waren, zu diesem Ergebnis gelangten die Wissenschaftler zu Beginn ihrer Untersuchung, bisher nicht systematisch erforscht. Die dazu vorhandenen Strafverfahrensakten, aber auch Aktenbestände zu einzelnen rechtlichen Themen, etwa Stellungnahmen zu Gesetzesvorhaben, waren unter diesem Aspekt bis zur Durchführung des Forschungsprojekts nicht ausgewertet worden. Vor diesem Hintergrund wurden folgende Empfehlungen für den Umfang und Gegenstand des Forschungsvorhabens abgegeben: Es soll Fragen zur institu­ tionellen Kontinuität nachgegangen werden. Dies betrifft die Vorläuferbehörde der Bundesanwaltschaft, die 1879 gegründete Reichsanwaltschaft beim Reichsgericht in Leipzig. Daneben soll die in der NS-Zeit im Jahr 1936 eingerichtete Reichsanwaltschaft beim Volksgerichtshof untersucht werden. Auch die ebenfalls während der NS-Herrschaft gegründete Reichskriegsanwaltschaft soll Gegenstand des Forschungsvorhabens sein. Soweit es in diesem Zusammenhang um die wissenschaftliche Befassung mit der Bundesanwaltschaft selbst geht, wurde zu Beginn des Forschungsprojekts empfohlen, die Untersuchung auf die Zeit von deren Gründung im Oktober 1950 bis zum Ende der Ära des Generalbundesanwalts Ludwig Martin zu fokussieren. Martin ist im April 1974 in den Ruhestand getreten. Sein Nachfolger war Generalbundesanwalt Siegfried Buback. Dessen Amtszeit, die mit seiner Ermordung am 7. April 1977 brutal beendet wurde, war geprägt durch die Strafverfolgung gegen Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF). Nach den Empfehlungen der beiden Wissenschaftler sollte dieser Komplex ausgeklammert werden. Denn die RAF-Zeit bietet für sich allein betrachtet genügend Material für ein eigenes Forschungsvorhaben. Im Rahmen der Forschung zur institutionellen Kontinuität werden die Wissenschaftler auch auf Fragen des Fortbestands der gesetzlichen Zuständigkeiten der Bundesanwaltschaft und deren Vorläuferinstitutionen eingehen. Dies betrifft die Regelungen im Gerichtsverfassungsgesetz. Die Bundesanwaltschaft ist, ebenso wie dies die Reichsanwaltschaft bis 1945 war, für zwei Schwerpunktbereiche des Strafrechts zuständig. Zum einen ist dies die Verfolgung von Straftaten

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im Bereich des Staatsschutzes. Dazu zählen unter anderem Straftaten des Terrorismus und Fälle des Hoch- und Landesverrats, zum Beispiel Spionage­delikte. Daneben gehörte damals und gehört auch heute zu den gesetzlichen Aufgaben die Bearbeitung von strafrechtlichen Revisionen, also Rechtsmitteln gegen erstinstanzliche Urteile zum Reichsgericht bzw. Bundesgerichtshof. In einem ersten Schritt stellten Safferling und Kießling Erkenntnisse dazu vor, wie die doppelte Zuständigkeit als oberste Strafverfolgungsbehörde das Selbstverständnis der Reichsanwaltschaft beim Reichsgericht geprägt haben dürfte: Die Reichsanwaltschaft des Kaiserreiches sah, so die Wissenschaftler, ihre Aufgabe in der Verteidigung von »Kaiser und Reich«. Im Vordergrund stand damals die Verfolgung von Sozialisten wegen Hoch- und Landesverrats. Die Reichsanwaltschaft verstand sich als Bewahrerin des preußischen Obrigkeitsstaates. Der Wahlspruch von der Verteidigung von »Kaiser und Reich« wurde dann, so die beiden Wissenschaftler, zu Zeiten der Weimarer Republik umgewandelt in den Wahlspruch »Dem Vaterland und der Rechtspflege«. Auch diese Zeit war, so das vorläufige Ergebnis des Forschungsprojekts, geprägt von nationalkonservativen und antidemokratischen Tendenzen. Diese Tendenzen wurden dann nahtlos in die NS-Zeit übertragen und in den Dienst der NS-Ideologie gestellt. Beispielhaft für die Verzahnung von Politik und Strafverfolgung durch die Reichsanwaltschaft erwähnen die Wissenschaftler den Reichstagsbrandprozess. Das Forschungsprojekt will sich vor diesem Hintergrund mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit dieses von der Kaiserzeit bis zum Untergang des NS-Regimes möglicherweise fortdauernde Selbstverständnis der Reichsanwaltschaft Auswirkungen auf das Selbstverständnis der neu gegründeten Bundesanwaltschaft gehabt haben könnte. In diesem Kontext soll neben der institutionellen Kontinuität auch untersucht werden, inwieweit eine sachliche Kontinuität von der Reichsanwaltschaft zur Bundesanwaltschaft vorlag. Unter dieser Überschrift beabsichtigen die Wissenschaftler die Frage zu beantworten, ob und inwieweit Arbeitsweisen, Traditionen und politische Einstellungen von der Reichsanwaltschaft auf die Bundesanwaltschaft übergegangen sind und Einfluss auf die konkrete Sacharbeit hatten. Dabei sollen folgende Bereiche untersucht werden: 1. Stellungnahmen der Bundesanwaltschaft Der Generalbundesanwalt wird regelmäßig zu Gesetzesvorhaben, in Ausschüssen des Deutschen Bundestages oder auch in Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht um Stellungnahmen gebeten. Diese lassen unter Umständen auch Rückschlüsse auf politische Einschätzungen und Ansichten zu. Exemplarisch werden in dem Forschungsprojekt etwa Vorhaben im Bereich des Staatsschutzstrafrechts oder zur Wehrgerichtsbarkeit genannt.

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2. Ermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft Ausgewertet werden sollen die Akten zu herausragenden Ermittlungsverfahren im Bereich des Staatsschutzes. Zu nennen sind Verfahren gegen DDR-Spione sowie die »Spiegel-Affäre«. Auch Verfahren im Rahmen der sogenannten Kommunistenverfolgung vor allem in den 1950er und 1960er Jahren sollen unter diesem Blickwinkel wissenschaftlich untersucht werden. 3. Revisionsverfahren Hier soll insbesondere die Sachbehandlung in Strafverfahren, welche die Verfolgung von NS-Taten betrafen, untersucht werden. An dieser Stelle spielt unter anderem der Auschwitz-Prozess eine große Rolle. Solche Strafverfahren fanden vor den Landgerichten statt. Für die Rechtsmittel der Revision gegen die Urteile der Landgerichte war der Bundesgerichtshof zuständig. Die Bundesanwaltschaft hat demgemäß entsprechend ihrer Zuständigkeit Anträge zu den Revisionen zum Bundesgerichtshof gestellt und diese entsprechend begründet. 4. Entwicklung des Staatsschutzstrafrechts Das Forschungsprojekt hat es sich auch zur Aufgabe gemacht, die Entwicklung und Bedeutung des Staatsschutzstrafrechts in der frühen Bundesrepublik zu untersuchen. Die entsprechenden Gesetze aus der NS-Zeit waren von den Alliierten aufgehoben worden. Erst 1951 wurde wieder ein Staatsschutzstrafrecht eingeführt. 1968 erfolgte eine Reform der entsprechenden Vorschriften. Auch hier soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit das Selbstverständnis der Reichsanwaltschaft von der Kaiserzeit bis zum Zusammenbruch des »Dritten Reiches« Eingang in entsprechende Stellungnahmen der Bundesanwaltschaft gefunden haben könnte. Als weiteren Schwerpunkt hat sich das Forschungsprojekt zur Aufgabe gemacht, auch mögliche personelle Kontinuitäten in den Blick zu nehmen. Den Fall des ehemaligen Generalbundesanwalts Fränkel habe ich bereits skizziert. Darüber hinaus soll der berufliche Werdegang der anderen Leiter der Behörde seit Gründung der Bundesanwaltschaft im Oktober 1950 bis zum Ende der Ära von Generalbundesanwalt Ludwig Martin im April 1974 wissenschaftlich untersucht werden. Einbezogen werden sollen außerdem die Biografien der damaligen Bundesanwälte und Oberstaatsanwälte beim Bundesgerichtshof sowie einzelner weiterer ehemaliger Mitarbeiter. In der »Akte Rosenburg« sowie in der Vorstudie von Christian Safferling finden sich zu den ehemaligen Generalbundesanwälten bereits erste biografische Erkenntnisse. Erster Leiter der Behörde war Carlo Wiechmann, damals noch mit der Amtsbezeichnung Oberbundesanwalt. Seine Amtszeit dauerte von Oktober 1950 bis März 1956. Vor der NS-Zeit war er zuletzt ab 1931 Generalstaatsanwalt in Berlin. 1933 hatte man ihn, anders als die meisten anderen preußischen Generalstaatsanwälte, nicht in den einstweiligen Ruhestand versetzt, sondern zum Senats­

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präsidenten beim dortigen Kammergericht im Bereich der Zivilgerichtsbarkeit berufen. Nach den bisherigen Forschungsergebnissen war er kein NSDAP-Mitglied. Auch konnte ihm, so der Stand der Forschung, kein Vorwurf gemacht werden, in das NS-Unrechtsregime verstrickt gewesen zu sein. Allerdings waren ihm wohl ein autoritärer Führungsstil und eine deutlich antikommunistische Einstellung zu Eigen. Nachfolger von Wiechmann war in der Zeit von April 1956 bis Oktober 1961 Max Güde. Er überdauerte die gesamte NS-Zeit von 1933 bis 1945 als Richter am Amtsgericht Wolfach, einem Ein-Personen-Gericht im Schwarzwald. 1940 trat er in die NSDAP ein, nachdem er bereits seit 1933 Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und seit 1934 des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes gewesen war. Allerdings wurde seinen Versetzungs- und Beförderungsgesuchen an ein größeres Gericht zu keinem Zeitpunkt stattgegeben. Nach derzeitigem Erkenntnisstand soll dies daran gelegen haben, dass Zweifel an seiner NS-Linientreue bestanden. Güde war strenger Katholik. Ihm wurde laut seiner Personalakte bescheinigt, dass er sich offenbar »nicht restlos von den Bindungen des politischen Katholizismus freimachen« konnte. In Wolfach konnte er wohl wenig Schaden anrichten und sich sogar einer Inspektion des Gerichts durch den Kreisleiter der NSDAP widersetzen. Im Mai 1946 erfolgte durch die französische Militärregierung Güdes vorbehaltlose Übernahme in den Justizdienst. NS-Verstrickungen waren ihm nicht nachzuweisen. Nach einer Station bei der Staatsanwaltschaft Konstanz wurde er zeitgleich mit der Gründung der Bundesanwaltschaft am 1. Oktober 1950 einer der drei ersten Bundesanwälte. Er stieg rasch auf, wurde innerhalb der Bundesanwaltschaft Abteilungsleiter und wechselte 1955 kurzfristig als Richter zum Bundesgerichtshof, wo er Vorsitzender des 4. Strafsenats wurde, bevor er ein Jahr später zum Oberbundesanwalt ernannt wurde. Güde pflegte ein offenes Wort und eckte häufig an. Seine Vorstellungen von einem liberalen Strafrecht fanden keineswegs überall Verständnis. Auseinandersetzungen gab es insbesondere mit den Vorsitzenden des für den strafrechtlichen Staatsschutz zuständigen 3. Strafsenats des BGH, selbst der damalige Bundesinnenminister sah in seinen Vorstellungen aus Furcht vor einer kommunikativen Unterordnung eine Bedrohung. Im September 1961 wurde Güde für die CDU als Abgeordneter in den Deutschen Bundestag gewählt und machte sich anschließend als Rechtspolitiker einen Namen. Nach der kurzen Ära Fränkel übernahm im Juli 1963 Ludwig Martin, der unter anderem auch Philosophie an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom studiert hatte, die Leitung der Bundesanwaltschaft. Seine Amtszeit währte bis April 1974. Martin, Jahrgang 1909, war ab 1939 zunächst als Staatsanwalt in Bayern, dann von April bis September desselben Jahres als Hilfsarbeiter bei der Reichsanwaltschaft tätig und wurde wenige Zeit später zur Wehrmacht eingezogen. Nach seiner Kriegsgefangenschaft setzte er seine Karriere zunächst als Amtsrichter in Sonthofen fort. Bevor er zum Generalbundesanwalt ernannt wurde, war er Richter am Bundesgerichtshof gewesen. Martin war nach bishe-

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rigen Erkenntnissen kein Mitglied der NSDAP. In einem Entnazifizierungsverfahren wurde er als »nicht betroffen« eingestuft. Die Ernennung Martins fiel in die fortdauernden Ermittlungen der Bundesanwaltschaft in der sogenannten Spiegel-Affäre. Seit Oktober 1962 – also in der Zeit der Vakanz zwischen Fränkel und Martin – war unter anderem mehreren Redakteuren des Nachrichtenmagazins Der Spiegel Landesverrat im Zusammen­ hang mit der Veröffentlichung von Erkenntnissen zur Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr vorgeworfen worden. Ludwig Martin hatte die Ermittlungen nach seinem Amtsantritt fortgeführt. Das Bundesjustizministerium, seit 1966 von der SPD geführt, wäre ihn gerne losgeworden. Horst Ehmke, damals Staatssekretär im BMJ, sagte später in einem Zeitzeugengespräch, dass jedoch jede Person, zu der ihm damals Akten vorgelegt worden seien, eine »braune Weste« gehabt habe. So blieb Martin bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand Generalbundesanwalt. Wie schon erwähnt, beschränkt sich unser Forschungsprojekt nicht auf die Biografien der Generalbundesanwälte. Vielmehr sind auch weitere ehemalige Angehörige der Bundesanwaltschaft Gegenstand der Untersuchung. Der Fokus richtet sich dabei auf Bundesanwälte und Oberstaatsanwälte beim Bundesgerichtshof der Geburtsjahrgänge vor 1928. Nach einem Bericht, den Safferling und Kießling Ende Januar 2020 vorgelegt haben, ergibt sich dabei folgendes Bild: Es wurden Daten zu 121 Mitarbeitern des höheren Dienstes erhoben, die im Untersuchungszeitraum 1950 bis 1974 beim Oberbundesanwalt bzw. dann beim Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof arbeiteten. Dazu kommen zwei einflussreiche Mitarbeiter im gehobenen Justizdienst. Bei Letzteren handelt es sich um zwei ehemalige Leiter von Geschäftsstellen, die offenbar über die Jahre hinweg eine besonders einflussreiche Stellung innehatten. Hinzu kommen außerdem elf Angehörige der ehemaligen Reichsanwaltschaft als Vorgängerbe­ hörde der Bundesanwaltschaft, deren Biografien nachgezeichnet werden konnten. Die Forscher haben – ebenso wie zu den ehemaligen Generalbundesanwälten  – umfangreiche Recherchen zum Personal durchgeführt. Unter anderem wurden Personalakten vor Ort in meiner Behörde gesichtet. Untersucht wurden auch Archivbestände des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Berlin, des BMJ, des Bundeskanzleramts, der Bundesarchive in Berlin, Koblenz und Lichterfelde sowie des Militärarchivs in Freiburg. Durchgesehen wurden außerdem Dokumente der NSDAP im Berlin Document Center. Unter dem Blickwinkel einer institutionellen und sachlichen Kontinuität von der Reichsanwaltschaft zur Bundesanwaltschaft wurden zahlreiche Akten und Archivbestände ausgewertet. Dies betrifft unter anderem mehrere hundert Ordner zur »Spiegel-Affäre«. Safferling und Kießling kommen zu möglichen personellen Kontinuitäten von relevanten Personen nach dem Forschungsstand von Januar 2020 zu folgendem Ergebnis: Bei 51 Personen haben sich konkrete Hinweise auf eine NSDAP-Mitgliedschaft ergeben. 23 ehemalige Angehörige der Bundesanwaltschaft waren nachweislich Mitglieder der SA. Ein Beamter

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des höheren Dienstes der Bundesanwaltschaft sowie ein Oberreichskriegsanwalt gehörten, wenn auch nur als sogenanntes förderndes Mitglied, der SS an. Ins­gesamt acht Beamte des höheren Dienstes der Bundesanwaltschaft aus den Jahren zwischen 1950 und 1974 waren ehemalige Militärjuristen des NS-Regimes. Im Gründungsjahr der Bundesanwaltschaft waren alle fünf Beamten des höheren Dienstes formalbelastet, also 100 Prozent; in den Jahren 1954 bis 1956 wiesen noch 95 Prozent dieser Beamten eine Vergangenheit in einer NS-Organisation auf. Von Beginn an ist ein explizites Ziel des Forschungsprojekts gewesen, entsprechende Ergebnisse nach außen zu tragen und zur Diskussion zu stellen. So fanden im November 2016 und im Februar 2019 Vorträge der beiden Wissenschaftler in meiner Behörde statt, um alle Mitarbeiter über das Projekt zu in­ formieren. Die wissenschaftliche Untersuchung wurde bisher drei Mal, im März 2018 und 2019 sowie im Januar 2020, bei der deutschen Richterakademie in Trier und Wustrau vorgestellt. Im Juli 2019 fand in den Räumen des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe unter Beteiligung zahlreicher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und mit über 100 Teilnehmern ein Symposium zum Staatsschutzstrafrecht der Bundesrepublik Deutschland und seiner Geschichte statt. Am 11. März 2020 stellte Professor Dr. Safferling die Ergebnisse in einem Vortrag vor der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe vor. Im Laufe des Jahres 2021 werden die in einer Publikation zusammengestellten Forschungs­ ergebnisse im Rahmen eines weiteren Symposiums vorgestellt.

III. Die Verantwortung des demokratischen Rechtsstaates

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Die verfassungsrechtliche Dimension der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit*

I. Einführung Fragen nach einer verfassungsrechtlichen Dimension der Aufarbeitung der NSVergangenheit durch staatliche Institutionen lassen sich nicht allein durch einen Blick in unser Grundgesetz beantworten. Sie unterscheiden sich von der Thematik der Vergangenheitsbewältigung, die mit den Nürnberger Kriegsverbrechertribunalen begann und mit Entnazifizierungen, Enteignungen, strafrechtlicher Verfolgung, Entschädigung, Wiedergutmachung und Lastenausgleich die Diskussionen beherrschte.1 Aufarbeitung der NS-Vergangenheit bedeutet vielmehr die historisch-wissenschaftliche Aufarbeitung, die auf Aufklärung und Bewusstseinsbildung gerichtet ist und vor allem das Ziel verfolgt, Mechanismen und Strukturen der nationalsozialistischen Terrorherrschaft aufzudecken. Solche Strukturen wirkten bis in die Wiederaufbauzeit der jungen Bundesrepublik hinein. Aufarbeitung ist notwendiger, unerlässlicher Schutz vor Wiederbelebung und Wiederentstehung solcher Strukturen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist immer noch Bedingung für die Integrität der Gegenwart.2 Diese Aufgabe ist von herausragender Bedeutung, denn Vergessen oder gar Leugnung historischer Tatsachen führt zur Anfälligkeit für neue Ansteckungsgefahren, so Richard von Weizsäcker in seiner Rede vom 8. Mai 1985.3 Staaten * Der vorliegende Beitrag erschien erstmals in der Druckschrift des BMJV zum 4. Rosenburg-Symposium »Die justizielle NS-Aufarbeitung – Täter, Opfer, Justiz«, das am 21. Oktober 2014 im Bundesgerichtshof in Karlsruhe abgehalten wurde, S. 52–62, abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Rosenburg_Symposium_4. pdf?__blob=publicationFile&v=10. 1 Vgl. Hans-Detlef Horn, Zum Umgang des Rechtsstaats mit vorangegangenem Unrecht, in: Ders. / Gilbert H. Gornig / Dietrich Murswiek, Eigentumsrecht und Enteignungsunrecht, Berlin 2012, S. 195–215, hier 198 ff. m. w. N. 2 Ebd., S. 198. 3 Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Ansprache des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, abrufbar unter: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/ Reden/1985/05/19850508_Rede.html; vgl. Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? (1959), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft II, Frankfurt a. M. 2003, S. 555–572.

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und Gesellschaften gehen unter transformatorischen Bedingungen sehr unterschiedlich mit vergangenem Unrecht um, sei es durch Wahrheitskommissionen oder durch rechtliche, insbesondere strafrechtliche, Aufarbeitung der Vergangenheit. Unabhängig davon gilt, was Hans-Detlef Horn für die Vergangenheitsbewältigung ausführte: »Das Vergangene muss in das Gegenwärtige mit- und hineingenommen werden und zwar mit umso größerer Notwendigkeit, je mehr dieses gerade das Alte überwinden und Neues schaffen will.«4

Für unseren Fragenkreis ergeben die geschriebenen und ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Vorgaben noch keinen Aufschluss über die verfassungsrechtliche Dimension, also darüber, ob eine Verfassungspflicht, ein Verfassungsauftrag, eine Verfassungsverantwortung oder nur eine moralisch-ethische Pflicht der staatlichen Institutionen besteht. Neben der Verfassung selbst ist es nämlich im Besonderen der historische Hintergrund und sind es die Erwägungen der Mütter und Väter des Grundgesetzes, die die verfassungsrechtliche Dimension der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit durch staatliche Institutionen bestimmen und prägen. In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich das Grundgesetz nicht nur auf die Idee eines Gegenentwurfs zur Wahrung einer auch materialen Rechtsstaatlichkeit beschränkt, sondern hat sich parallel dazu als anpassungsfähig erwiesen, um den Wandel in Politik, Gesellschaft und Technik unter dem Primat des Rechts leiten und lenken zu können. Deshalb gilt es bei unserem Fragenkreis, neben den historischen Wurzeln auch die Verfassungsentwicklung in den Blick zu nehmen. Sind aus dem Begriff der Gegenbildlichkeit der Verfassung zur NS-Diktatur und -Terrorherrschaft oder auch aus dem Gebot des materiellen Rechtsstaats normative Vorgaben abzuleiten, oder besteht doch zumindest eine Verfassungserwartung oder Verfassungsverantwortung zur Aufarbeitung? Im Zusammenhang mit der Vergangenheitsaufarbeitung begegnen Fragen, die nicht nur verfassungspolitisch sind, sondern die solche rechtsethischen Ansprüche formulieren, die auch den Voraussetzungen, Absichten und Zielen und allgemein der Konzeption des Grundgesetzes zugrunde gelegen haben können und deshalb normative Geltung beanspruchen könnten.

II. Das Grundgesetz als »Gegenentwurf« Das deutsche Grundgesetz war nach dem Zweiten Weltkrieg eine direkte historische Antwort auf die Diktatur und Terrorherrschaft der Nationalsozialisten und deren menschenverachtendes Regime, das über Europa und die Welt in unermesslichem Ausmaß Leid, Tod und Unterdrückung gebracht hatte. Wie der 4 Horn, Zum Umgang des Rechtsstaats, S. 198.

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»Wunsiedel-Beschluss« des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts ausführte, hat die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland deshalb eine gegenbildliche, identitätsprägende Bedeutung.5 Diese Entscheidung nimmt der Zweite Senat in seinem Urteil zu den Äußerungsbefugnissen des Bundespräsidenten vom 10. Juni 2014 auf, wenn er ausführt: »Die Zuspitzung [gemeint ist der Ausdruck ›Spinner‹ für Unterstützer der NPD] »sollte den Teilnehmern an der Veranstaltung die Unbelehrbarkeit der so Angesprochenen verdeutlichen. Indem der Bundespräsident, anknüpfend an die aus der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus zu ziehenden Lehren, zu bürgerschaftlichem Engagement gegenüber politischen Ansichten, von denen seiner Auffassung nach Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehen und die er von der Antragstellerin vertreten sieht, aufgerufen hat, hat er für die dem Grundgesetz entsprechende Form der Auseinandersetzung mit solchen Ansichten (vgl. insoweit BVerfGE 124, 300 ) geworben.«6

Nach dem Willen der Schöpfer des Grundgesetzes war es darauf ausgerichtet, aus den geschichtlichen Erfahrungen zu lernen und eine Wiederholung solchen Unrechts ein für alle Mal auszuschließen. Die Überwindung nationalsozialistischer Strukturen und Mechanismen, die Verhinderung eines totalitär nationalistischen Deutschlands für die Zukunft war schon bei Gründung der Bundesrepublik der maßgebliche Beweggrund.7 Strukturen und Mechanismen mit solchen Wirkungen bedeuten gleichsam einen Angriff auf die Identität des Gemeinwesens, sie bedrohen den Konsens der Gesellschaft und gefährden den Rechtsfrieden. Jahre vor dem Wunsiedel-Beschluss hat Josef Isensee ausgeführt, dass die Konzeption des Grundgesetzes von einem antitotalitären Konsens getragen sei.8 Das »Feindbild« trage zwei Gesichter, das des Nationalsozialismus, der in die deutsche Katastrophe geführt habe, und das des Sowjetsozialismus, der sich später in der DDR etablierte. Wir haben es bei dem Gegenentwurf zum Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes, also mit einem bewussten Absetzen von dieser Unrechtsherrschaft, zu tun und mit einem historisch zentralen Anliegen aller an Konstruktion und Ausgestaltung des Grundgesetzes Beteiligten. Das Grundgesetz ist dabei eine kämpferische Freiheitsordnung, die aus den Erfahrungen der Weimarer Zeit lernen und den Feinden der Demokratie energisch begegnen will. Dabei können – vereinfacht gefasst – drei Ebenen der auf Verteidigung der eigenen freiheitlichen Grundordnung angelegten Verfassung unterschieden werden:

5 BVerfGE 124, 300 . 6 2 BvE 4/13, S. 14. 7 BVerfGE 124, 300 . 8 Josef Isensee (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, Heidelberg 1997, § 202 Rn. 44 f.

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1. Verfassungsrechtliche Bestimmungen, die den Staat im Sinne einer streitbaren Demokratie in die Pflicht nehmen, entsprechende Bestrebungen zu verhindern und diesen entgegenzutreten, wie dies zum Beispiel in den Art. 9 Abs. 2, Art. 18, Art. 21 Abs. 2 und Art. 91 GG der Fall ist.9 2. Das verfassungsrechtliche Widerstandsrecht in Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes, das an die Bürger adressiert ist und damit gleichsam aufzeigt, dass die Wahrung der freiheitlichen Grundordnung nicht ausschließlich die Sache des Staates, sondern auch und vor allem des freien Bürgers ist.10 3. Die dritte Ebene bildet das innere Gerüst der grundgesetzlichen Ordnung selbst. Abgesichert durch die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG ist es insbesondere die Stellung und die Bedeutung der Menschenwürde, als norma ­normans der verfassten Ordnung Deutschlands, die zusammen mit der Bindung aller staatlichen Macht an Recht und Gesetz sowie dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip Gewähr dafür bietet, dass sich dieses schreckliche Kapitel der deutschen Geschichte nicht wiederholt. Dies in Rechnung gestellt, zeigt, dass die verfassungsrechtlich normativen Vorgaben einerseits und die normativen Erwartungen andererseits changieren, wenn es um Fragen der Vergangenheitsaufarbeitung staatlicher Institutionen und deren Pflicht hierzu geht. Die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der Wunsiedel-Beschluss des Ersten Senats und das Urteil des Zweiten Senats zu den Äußerungsbefugnissen des Bundespräsidenten11 zeigen, dass die wehrhafte Demokratie zwar nicht nationalsozialistisches Gedan­kengut an sich verbietet, diesem aber mit hoher Aufmerksamkeit und Kampfbereitschaft zur Sicherung der freiheitlich demokratischen Ordnung gegenübersteht.

III. Verfassungspflicht oder Verfassungsauftrag? Wendet man sich auf der Basis dieses historischen Befundes unmittelbar den geschriebenen Regeln des Grundgesetzes zu und fragt danach, ob es eine konkrete normative Pflicht zur Aufarbeitung statuiert, wird man nicht fündig. Weder in der Präambel, die bis zur Wiedervereinigung noch die Aufforderung an das deutsche Volk enthielt, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden, noch in den Artikeln des Grundgesetzes findet sich eine aussagekräftige verfassungsrechtliche Positionierung zur historischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Eine systematische Betrachtung deutet sogar darauf hin, dass die Väter und Mütter die Problematik der in der Sache unzweifelhaft zu leistenden Aufarbeitung vor Augen hatten. So wurden in den Übergangs- und Schlussbestimmungen, beispielsweise in Art. 116 Abs. 2 9 Vgl. Roman Herzog, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. 4, Heidelberg 2006, § 72 Rn. 31. 10 Vgl. ebd., Rn. 52. 11 BVerfG, Urteil vom 10.06.2014 – 2 BvE 4/13.

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oder Art. 132 GG, punktuelle, die Stellung und das Verhalten Einzelner berücksichtigende Regelungen getroffen. So führt beispielsweise Art. 139 GG aus, die zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus erlassenen Rechtsvorschriften blieben von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes unberührt. Art. 139 GG ist damit als explizite Absage an den Nationalsozialismus12 zu begreifen. Art. 139 GG betraf Regelungen, die das primäre Ziel verfolgten, Nationalsozialisten aus den Schaltstellen des öffentlichen Lebens zu entfernen. Es war den Vätern und Müttern des Grundgesetzes also selbstverständlich, dass damit auch Strukturen, die zur Machtergreifung geführt hatten, zukünftig verhindert werden sollten. Allerdings ist diese verfassungsrechtliche Aussage von der Formulierung einer allgemeinen, verfassungsrechtlichen Aufarbeitungspflicht oder auch eines verfassungsrechtlichen Aufarbeitungsauftrages deutlich entfernt. Damit ist aber die Suche nach einer Verfassungspflicht oder einem Verfassungsauftrag noch nicht am Ende. Sind es im Bereich der Staatsziele und den daraus ableitbaren gegenständlich jedoch beschränkteren Verfassungsauf­trägen und verfassungsrechtlichen Gewährpflichten13 doch vor allem implizite Bestimmungen,14 die das an den Staat adressierte Aufgabenprogramm definieren. Implizite Staatsziele werden etwa in Grundrechten, Instituts- und institutionellen Garantien, Kompetenzen und Staatsformbestimmungen vorausgesetzt. Explizite Staatsziele wie zum Beispiel die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung, Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG, oder der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Art. 20a GG, begegnen im Grundgesetz dagegen nur vereinzelt.15 Zu diesen impliziten Staatszielen gehört  – als mögliche Anknüpfung einer verfassungsrechtlichen Dimension der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit  – auch der Schutz der Verfassung, der den verschiedenen Instrumenten der wehrhaften Demokratie des Grundgesetzes zugrunde liegt.16 Besteht so weit Einigkeit, so ist allerdings zu konstatieren, dass ein auf die Verfassung rückführbares implizites Staatsziel selbst ja noch kein Programm der Zielerreichung vorgibt, sodass es in erster Linie – besser gesagt ausschließlich – dem Gesetzgeber obliegt, über den Weg zur Förderung eines solchen Staatsziels zu bestimmen. Zweifellos ist also Vergangenheitsaufarbeitung in staatlichen und durch staatliche Institutionen ein verfassungspolitisch und gesellschaftspolitisch hochran-

12 BVerfGK, NJW 2001, S. 2077; Gertrude Lübbe-Wolff, in: Horst Dreier (Hg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 3, Tübingen 2008, Art. 139, Rn. 6 f. 13 Vgl. zu den Begrifflichkeiten und zur Unterscheidung zwischen dem »gegenständlich beschränkten Verfassungsauftrag« und der »Gewährpflicht« als auf Dauer angelegter Verfassungsauftrag: Handbuch des Staatsrechts, Bd. 4, § 73 Rn. 17 f. 14 Vgl. ebd., Rn. 40 mit einzelnen Beispielen. 15 Vgl. ebd., Rn. 39. 16 Vgl. ebd., Rn. 40; Jürgen Becker, Die wehrhafte Demokratie des Grundgesetzes, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. 7, Heidelberg 1992, § 167 Rn. 14 ff.

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giges Ziel,17 doch wird man wohl kaum formulieren können, dass dem eine auf ungeschriebenes Verfassungsrecht gründbare Pflicht oder ein Auftrag entnommen werden kann.

IV. Verfassungsverantwortung als Korrelat einer Verfassungserwartung Weitergehend ist es durchaus eine Überlegung wert, ob sich die verfassungsrechtliche Dimension der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit mit dem Terminus »Verfassungserwartung« beschreiben lässt. Hier wird ja bekanntlich eine vorrechtliche Verantwortung – aber eben keine Pflicht im rechtlichen Sinne – begründet. Mit Verfassungserwartung bezeichnen wir die den Grundrechtsnormen korrespondierende, jedoch nicht rechtlich erzwingbare Annahme, dass die Grundrechtsträger ihre Befugnisse gemeinwohldienlich ausüben. Beschrieben wird also eine vorrechtliche Pflichtenstellung, nicht etwa eine Rechtspflicht, denn Erwartung und Rechtspflicht schließen sich logisch aus. Allerdings, darauf weist Isensee am Beispiel der Sozialbindung des Eigentums hin,18 bedeutet dies nicht von vornherein, dass die Erwartung außerhalb des Verfassungsrechts liegt, sondern durchaus als Direktive oder als Maxime öffentlichen Handelns zugrunde gelegt werden kann. Nun ist der Begriff der Verfassungserwartung in der Verfassungstheorie dadurch belegt, dass er den Bürger selbst – gerade nicht den Staat – als Adressaten dieser vorrechtlichen Verfassungserwartung sieht. Denn es geht letztlich darum, dass Grundrechtsträger ihre vorgefundene Freiheit im besten Falle – und verfassungspolitisch gewünscht und erstrebt – gemeinwohldienlich ausüben.19 Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille. Das Korrelat liegt in der Verantwortung, die den Staat trifft, den gemeinwohldienlichen Grundrechtsgebrauch – also mithin die Erfüllung der Verfassungserwartung durch den Bürger – zu fördern, zu begleiten und zu unterstützen.20 Aus diesem Gesamtzusammenhang heraus liegt eine Verfassungsverantwortung staatlicher Institutionen, mithin eine verfassungsrechtliche Dimension der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nicht fern. So, wie es in anderen Bereichen der Verantwortung des Staates obliegt oder ihm zumindest die Möglichkeit eröffnet ist, etwa durch den verfassungspädagogischen Auftrag der Schulen, geistigen Einfluss durch Information und Appell zu üben21 oder durch den freiheitlichen Selbststand der Kirchen, Religions­ 17 Vgl. in diesem Zusammenhang Bernd Rüthers (Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat, Tübingen 2014) zur problematischen Entlastungsfunktion der Radbruch-These, exemplifiziert an Weinkauff und Geiger, S. 60 ff., Fn. 125, 126. 18 Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 190 Rn. 206 f. 19 Ebd., Rn. 204 f.; vgl. auch BVerfGE 102, 370 . 20 Ebd., Rn. 317. 21 Ebd., Rn. 309.

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gemeinschaften und Weltanschauungsgemeinschaften die Entwicklung und Befestigung von Werten, die dem friedlichen Zusammenleben der Menschen dienen, zu schützen, so kann auch im Zusammenhang mit der wehrhaften Demokratie und dem Schutz der freiheitlich demokratischen Ordnung eine Verantwortung durch Information, wissenschaftliche Aufarbeitung und Öffentlichkeitsarbeit geboten erscheinen. Etwa eine wissenschaftlich-historische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, die geeignet ist, Mechanismen und Strukturen entgegenzuwirken, die eine Wiederholung des schrecklichen Geschehens möglich machen, oder auch um ein »Vergessen« zu vermeiden, das es verhindert, aus begangenen Fehlern zu lernen.

V. Verfassungsverantwortung, mehr als eine bloße Tugend Erinnern ist Garant für Frieden, ist Schutz vor Wiederholung und ist Tor zur Versöhnung, so Hans-Detlef Horn. Das Konzept des Übergehens, Wegsehens und Verdrängens ist keine Option.22 Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist die Erfolgsgeschichte der Demokratie und des Rechtsstaats auf deutschem Boden. Der Verfassung liegt die Erwartung zugrunde, dass aus der Geschichte im Sinne eines Wiederholungsverbotes gelernt wird. Atemberaubender Wandel in Gesellschaft und Wirtschaft haben bislang hieran nichts geändert. Das Grundgesetz hat immer wieder Material für eine zeitgerechte Antwort auf neue, aktualisierte Fragestellungen bereitgehalten. Bei allem Wechsel und Wandel in Politik und Gesellschaft ist aber diese Konstante geblieben: Es besteht die Verfassungserwartung, dass der freie Bürger, der Citoyen, diesen historischen Konsens lebt und in diesem Sinne agiert. Als Korrelat dazu erscheint die staatliche Verfassungsverantwortung, dieses Engagement durch Aufarbeitung und Bewusstseinsmachung zu fördern und zu begleiten. Es mag ein weiter politischer Einschätzungs- und Ermessensspielraum von Gesetzgeber und Exekutive bestehen, ob und in welcher Weise staatliche Institutionen dieser Förderungspflicht nachkommen. Dass sich staatliche Institutionen, Ministerien, Behörden und Parlamente dieser Verfassungsverantwortung entziehen und die Vergangenheitsaufarbeitung bloß als »Tugend« begreifen könnten, halte ich aber für nicht verantwortungsgerecht.

22 Vgl. Horn, Zum Umgang des Rechtsstaats, S. 201; vgl. zu den verschiedenen Wegen der Vergangenheitsaufarbeitung auch Peter Häberle, Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat (= Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Bd. 62), Berlin 2011, S. 137 ff.

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Die Untätigkeit des Gesetzgebers Keine Sondernormen für NS-Verbrechen

I.

Statt einer Einleitung: Eine theoretische Vorbemerkung

Der Begriff des »Framing« hat in den letzten Jahren aus der Kognitionspsychologie seinen Weg in andere Fachgebiete, etwa die Politikwissenschaften, und schließlich in die Alltagssprache gefunden. Die damit zum Ausdruck gebrachte Erkenntnis haben Richard Thaler und Cass Sunstein anschaulich wie folgt zusammengefasst: »The idea is that choices depend, in part, on the way in which problems are stated.«1 Die Art und Weise, in der ein Umstand beschrieben wird, hat Einfluss auf unseren Umgang mit ihm. Wie wir über Dinge sprechen, ist nicht einfach nur Ausdruck unserer eigenen Haltung; sie beeinflusst auch ihrerseits, was wir von ihnen denken und wie wir uns zu ihnen verhalten. Für die Rechtswissenschaft enthalten die empirischen Erkenntnisse zur Relevanz des Framings für unser Entscheidungsverhalten die Aufforderung, die Strukturen, Begriffe und Kategorien der Rechtsordnung daraufhin zu untersuchen, welche Frames sie setzen und welche Ergebnisse sie dadurch wahrscheinlicher, welche unwahrscheinlicher werden lassen. Diese allgemeinen Überlegungen leiten über zu einem zweiten Gedanken, den ich Jacques Derridas Schrift »Gesetzeskraft« entnehme. Derrida führt in dieser Schrift aus, warum das Recht das Versprechen der Gerechtigkeit nie vollständig einlösen kann. Ein Problem sieht er dabei darin, dass das Recht die singuläre Frage nach der Gerechtigkeit durch die Frage nach verallgemeinerbaren Prinzipien ersetze.2 Üblicherweise erscheint uns diese Orientierung an universalisierbaren Maximen als etwas Gutes und Richtiges, weil sie Unparteilichkeit und Gleichheit verbürgt.3 Derrida erinnert uns aber daran, dass die Umformulierung der Frage nach dem singulär Gerechten durch das Recht einen Preis hat, der allzu oft vernachlässigt wird. Dieser Gedanke soll an einem Beispiel verdeutlicht werden. Hermann Heinrich war als Kriminalassistent und Angehöriger des Sicherheitsdienstes im 1 Richard H. Thaler / Cass R. Sunstein, Nudge: Improving Decisions about Health, Wealth and Happiness, New Haven (Conn.) 2008, S. 40. 2 Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, aus dem Französischen übers. von Alexander García Düttmann, Frankfurt a. M. 1991, bes. S. 41. 3 Beispielhaft kann auf Kants Formulierungen des Kategorischen Imperativs oder John Rawls’ »Schleier des Nichtwissens« verwiesen werden.

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Judenreferat des Kommandeurs der Sicherheitspolizei (KdS) in Krakau an der Deportation und Ermordung von Tausenden von Juden beteiligt gewesen.4 Am 19. März 1968 hatte ihn deswegen ein Schwurgericht in Kiel wegen Beihilfe zum Mord in sechs Fällen zu einer Gesamtstrafe von sechs Jahren Zuchthaus verurteilt.5 Heinrich wollte sich damit nicht zufrieden geben und legte Revision zum Bundesgerichtshof (BGH) ein. Am 20. Mai 1969 gab der 5. Strafsenat des BGH der Revision statt und sprach Heinrich frei. Hätte man die Richter des 5. Strafsenats direkt gefragt: »Ist es gerecht, dass Hermann Heinrich für seine Taten strafrechtlich nicht belangt werden kann? Soll Hermann Heinrich straffrei sein?« – vermutlich hätten weder der Vorsitzende Richter Werner Sarstedt noch der Berichterstatter Rudolf Börker oder ihre (wenig überraschend: ausschließlich männlichen) Kollegen diese Fragen mit »Ja« beantwortet.6 Das Recht hatte diese Frage freilich verwandelt. Sarstedt, Börker und ihre Kollegen hatten andere Fragen zu beantworten: Sind »niedrige Beweggründe« im Sinne von § 211 des Strafgesetzbuchs (StGB) besondere persönliche Merkmale im Sinne von § 50 Abs. 2 StGB? Bestimmt sich die Verjährungsfrist für Beihilfe zum Mord aus niedrigen Beweggründen nach der Strafandrohung für die Haupttat, zu der Beihilfe geleistet wird, oder nach der Strafandrohung für den Gehilfen? Diese Fragen sind irgendwie technischer, komplexer, unüberschaubarer. Wir wissen: Die Antworten des 5. Strafsenats auf diese Fragen führten im Ergebnis dazu, dass Hermann Heinrich, der einstige Kriminalassistent im Judenreferat des KdS in Krakau, straflos blieb.7 Was heißt das nun für das Thema meines Beitrags? In den Jahren nach der Gründung der Bundesrepublik war die Hauptursache für die unbefriedigende strafrechtliche Ahndung der NS-Verbrechen durch die deutschen Gerichte der mangelnde Wille. Aber es gibt auch Strukturen und Rahmenbedingungen, die ein Ergebnis begünstigen und ein anderes unwahrscheinlicher werden lassen. Es gibt Framings, die es auch dann noch erschweren, zu bestimmten Ergebnissen zu gelangen, wenn die entscheidende Person nicht schon durch ihre Ansichten und Einstellungen in ihrem Entscheidungsverhalten prädisponiert ist. Gerade diese jenseits von biografischen Details und personellen Verbindungen liegenden, strukturellen Gesichtspunkte müssen im Blick behalten werden, damit sich die Betrachtung nicht im Singulär-Anekdotischen erschöpft. Die These dieses Beitrags ist, dass der bundesdeutsche Gesetzgeber, indem er (fast) keine Sondernormen schuf, sondern die Strafverfolgung von NS-Ver4 BGH, Urteil vom 20.05.1969 – 5 StR 658/68, abgedruckt in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1969, S. 1181–1183. 5 Vgl. LG Kiel, Urteil vom 19.03.1968 – 2 Ks 4/66 = Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XXVII, Lfd. Nr. 667a, S. 343–414, hier 410. 6 Immerhin findet sich im Urteil des 5. Strafsenats eine Passage, in der die Richter erkennen lassen, dass auch sie zumindest Zweifel an der Gerechtigkeit des Freispruchs hatten, vgl. BGH (Fn. 4), hier S. 1182. 7 Vgl. zu der Entscheidung z. B. Manfred Görtemaker / Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016, S. 412 ff.

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brechen weitestgehend im Rahmen der allgemeinen Regeln des deutschen Strafrechts ablaufen ließ, ein Framing gesetzt hat, das auf verschiedenen Ebenen zu den unbefriedigenden Ergebnissen dieser Strafverfolgung beigetragen hat. Dieses Framing erwies seine nachhaltige Wirksamkeit insbesondere seit den 1960er Jahren, also in den Jahrzehnten, für die ein biografischer Betrachtungsansatz sukzessive an Erklärungswert verliert, weil es immer weniger Personen in der Justiz gab, die aufgrund eigener Verstrickung den Bemühungen einer strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Zeit ablehnend gegenüberstanden.

II. Der Rahmen des bundesdeutschen Gesetzgebers: (Fast) keine Sondernormen zur strafrechtlichen Aufarbeitung des NS-Unrechts Nach Gründung der Bundesrepublik entschied der bundesdeutsche Gesetzgeber alsbald, der Justiz keine Sondernormen für die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen an die Hand zu geben. Diese grundsätzliche Entscheidung erstreckte sich auf alle denkbaren Ebenen rechtlicher Regelung: Im materiellen Strafrecht wurde auf den Erlass besonderer Verbrechenstatbestände für die Strafverfolgung der NS-Verbrechen verzichtet, und es wurden auch keine besonderen Regeln der Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit geschaffen, etwa über die strafrechtliche Verantwortlichkeit von militärischen oder zivilen Vorgesetzten für die Begehung von Straftaten Untergebener. Ebenso wurde auf strafprozessuale Sonderregeln oder besondere Regelungen der Strafverfolgungszuständigkeit verzichtet, etwa durch Schaffung besonderer Staatsanwaltschaften oder spezialisierter Gerichte. Es sind lediglich drei Bereiche zu nennen, in denen der Gesetzgeber Sonderregeln geschaffen hat, die sich explizit oder in der Sache auf die Strafverfolgung von NS-Verbrechen bezogen, ohne dass dies aber die Grundentscheidung im Kern in Frage gestellt hätte. 1. Amnestieregelungen Erstens hielt es der bundesdeutsche Gesetzgeber für notwendig, bestimmte Taten unabhängig von ihrer Strafbarkeit zur Tatzeit von der Strafverfolgung auszunehmen. Ein erstes Straffreiheitsgesetz erging bereits 1949, ein zweites Straffreiheitsgesetz folgte 1954.8 Der Anwendungsbereich dieser Gesetze war freilich 8 Vgl. dazu im Detail z. B. Andreas Eichmüller, Keine Generalamnestie. Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 93), München 2012, S. 36 ff., 106 ff.; Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 29 ff., 100 ff.

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beschränkt, ihre praktischen Auswirkungen sind umstritten.9 Vorschläge für eine weitergehende Amnestierung wurden zu jener Zeit und noch einmal Mitte der 1960er Jahre zwar diskutiert, letztlich aber verworfen.10 Jedenfalls dienten diese Sonderregelungen gerade nicht dazu, die spezifischen Schwierigkeiten für eine gelingende Strafverfolgung von NS-Verbrechen zu überwinden, sondern sie sollten im Gegenteil eine Strafverfolgung verhindern. 2. Verjährung Ein zweiter Bereich, für den der bundesdeutsche Gesetzgeber die Notwendigkeit einer besonderen Regelung in engen Grenzen anerkannt hat, ist die Verjährung. Eine Vielzahl landesrechtlicher Regelungen aus der Besatzungszeit hatte für Taten, die zuvor aus politischen Gründen nicht hätten verfolgt werden können, nachträglich ein Ruhen der Verjährung bis zum Kriegsende, zum Teil auch einige Zeit darüber hinaus, angeordnet.11 Die Bundesregierung war der Auffassung, dass sich dieses Ergebnis bereits aus § 69 Abs. 1 S. 1 StGB alter Fassung ergab.12 Weitergehenden Handlungsbedarf sah sie zunächst nicht, sodass bis 1960 – vorbehaltlich einer zuvor bewirkten Unterbrechung der Verjährungsfrist – 9 Vgl. die divergierenden Angaben bei Eichmüller, ebd., S. 39 ff.; Frei, ebd., S. 52. 10 Vgl. dazu Eichmüller, ebd., S. 113 ff.; Michael Greve, Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt a. M. 2001, S. 321 ff. 11 Vgl. Art. 2 Abs. 3 des Gesetzes zur Ahndung nationalsozialistischer Straftaten vom 29. Mai 1946, abgedruckt in: Gesetz- und Verordnungsblatt für das Groß-Hessen 1946, S. 136; Art. 2 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 28 zur Ahndung nationalsozialistischer Straftaten vom 31. Mai 1946, abgedruckt in: Regierungsblatt der Regierung Württemberg-Baden 1946, S. 171; Art. 2 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 22 zur Ahndung nationalsozialistischer Straftaten vom 31. Mai 1946, abgedruckt in: Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1946, S. 182; Verordnung vom 23. Dezember 1946, abgedruckt in: Amtsblatt der Landesverwaltung Baden 1946, S. 151; Art. I § 3 der Verordnung zur Beseitigung nationalsozialistischer Eingriffe in die Strafrechtspflege vom 23. Mai 1947, abgedruckt in: Verordnungsblatt für die Britische Zone 1947, S. 65; Rechtsverordnung vom 16. Mai 1947, abgedruckt in: Regierungsblatt für Württemberg-Hohenzollern 1947, S. 67; Art. 2 Abs. 3 des Gesetzes zur Ahndung nationalsozialistischer Straftaten vom 27. Juni 1947, abgedruckt in: Gesetzblatt der Freien Hansestadt Bremen 1947, S. 83; § 6 Rechtsverordnung zur Beseitigung nationalsozialistischer Eingriffe in die Strafrechtspflege vom 4. Juli 1947 (Ruhen der Verjährung bis zum 4. Juli 1947), abgedruckt in: Amtsblatt der Verwaltungskommission des Saarlandes 1947, S. 271–273, hier 272; § 6 des Gesetzes zur Beseitigung nationalsozialistischen Unrechts aus der Strafrechtspflege vom 23. März 1948, abgedruckt in: Gesetz- und Verordnungsblatt der Landesregierung für Rheinland-Pfalz 1948, S. 244. Siehe zudem Art. II Abs. 5 Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945, abgedruckt in: Amtsblatt des Kontrollrates in Deutschland 1945, S. 50. 12 § 69 Abs. 1 S. 1 StGB bestimmte: »Die Verjährung ruht während der Zeit, in welcher auf Grund gesetzlicher Vorschrift die Strafverfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann.« Vgl. Eichmüller, Keine Generalamnestie, S. 65. Ebenso die Rechtsprechung, vgl. z. B. BVerfG, Beschluss vom 18. September 1952 – 1 BvR 612/52, abgedruckt in: NJW

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die Verjährung all jener in der NS-Zeit begangenen Taten eintrat, die nicht als Mord zu bewerten und daher mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht waren.13 Erst als auch Mordtaten zu verjähren drohten, beschloss der Gesetzgeber nach emotional geführten Debatten 1965, die Verjährung dieses besonders schweren Unrechts noch einmal hinauszuzögern, indem er zunächst den Beginn der Verjährungsfrist auf den 31. Dezember 1949 verschob.14 1969 verlängerte der Gesetzgeber die Verjährungsfrist für Mord dann auf 30 Jahre;15 1979 entschied er sich schließlich dazu, die Verjährung für solche Taten gänzlich auszuschließen.16 Das politische Motiv dieser Gesetzesänderungen war dabei jeweils, dass die Verfolgung von besonders schwerwiegenden NS-Verbrechen weiterhin möglich sein sollte. Die grundsätzliche Abneigung des bundesdeutschen Gesetzgebers gegen Sondergesetze fand aber auch insofern noch ihren Ausdruck, als die zur Verjährung getroffenen Regelungen nicht auf Mordtaten beschränkt wurden, die im Zusammenhang mit der NS-Zeit (oder allgemeiner: im Zusammenhang mit Systemunrecht) standen, sondern sich auf alle Taten erstreckten, die strafrechtlich als Mord zu bewerten sind. 3. Zuständigkeitsregelungen Drittens hat der Gesetzgeber mit zeitlicher Verzögerung und in begrenztem Umfang anerkannt, dass die Strafverfolgung von NS-Verbrechen angesichts ihres Auslandsbezuges  – die meisten nationalsozialistischen Großverbrechen wurden nicht auf deutschem Staatsgebiet begangen – und ihrer Komplexität gewisse Modifikationen von Regelungen der Zuständigkeit und der Organisation der Strafverfolgung erforderte. So ist die Einführung von § 13a der Strafpro­ zessordnung durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 195317 als gesetzgeberische Antwort auf Probleme zu verstehen, die zuvor hinsichtlich der Bestimmung einer zur Strafverfolgung zuständigen Staatsanwaltschaft für im Ausland begangene Taten bestanden. Vor allem aber führte die zwischen den Landesjustizministern im Anschluss an den »Ulmer Einsatzgruppenprozess«

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1953, S. 177 f., hier 178; BGH, Urteil vom 28.05.1963 – 1 StR 540/62, abgedruckt in: NJW 1963, S. 1627. Vgl. zu den in diesem Zusammenhang bereits 1960 geführten Debatten um eine Verlängerung der Verjährungsfrist bzw. der Hemmung näher z. B. Greve, Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, S. 89 ff. Gesetz über die Berechnung der Verjährungsfrist vom 13. April 1965, abgedruckt in: Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1965 I, S. 315. Art. 1 Nr. 2 des 9. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 4. August 1969, abgedruckt in: BGBl. 1969 I, S. 1065. Art. 1, 2 des 16. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 16. Juli 1979, abgedruckt in: BGBl. 1979 I, S. 1046. BGBl. 1953 I, S. 743.

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getroffene Verwaltungsvereinbarung über die Errichtung einer »Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« vom 6. November 1958 dazu, die für eine effektive Strafverfolgung der NS-Verbrechen hinderliche Dezentralisierung der Strafverfolgung zumindest im Stadium der Vorermittlungen zu überwinden.18 Erst durch diesen organisationsrechtlichen Schritt wurde der Aufbau von einheitlichen Wissensbeständen über Tatorte, Täter und Strukturen aufseiten der Ermittlungsbehörden überhaupt möglich, wenngleich erhebliche Mängel blieben. 4. Fazit Insgesamt blieben die vom Gesetzgeber vorgesehenen Sonderregeln in ihrem Anwendungsbereich eng begrenzt. Durch ihren Ausnahmecharakter unterstrichen sie letztlich nur die gesetzgeberische Grundentscheidung, dass es für die strafrechtliche Verfolgung der NS-Verbrechen im Prinzip keiner Sonderregelungen bedürfe. Anwendung sollte vielmehr das allgemeine deutsche Strafrecht finden, also insbesondere die üblichen Straftatbestände Mord, Totschlag, Freiheitsberaubung, Körperverletzung usw. Liest man diese Grundentscheidung zusammen mit dem ausnahmslosen Verbot rückwirkender Strafgesetze, das sich bereits aus Art. 116 der Weimarer Reichsverfassung und § 2 StGB alter Fassung (seit 1. Januar 1975: § 1 StGB) sowie ab 1949 aus Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes ergab, so lautete das Grundmodell des deutschen Gesetzgebers für die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen: Es gilt das deutsche Strafrecht der Tatzeit.

III. Die Alternative: Durchbrechung des Rückwirkungsverbots durch Sondernormen Das soeben beschriebene Grundmodell des deutschen Gesetzgebers war in der Sache keineswegs selbstverständlich. Die NS-Verbrechen unterschieden sich offenkundig von den Taten, für welche die Regelungen des deutschen Strafrechts eigentlich zugeschnitten waren. Gedanklicher Ausgangspunkt der gesetzlichen Regelungen des deutschen Strafgesetzbuchs war die Kriminalität einzelner, nicht die staatlich angeleitete Begehung von Tausenden von Taten durch eine unbestimmte Vielzahl von Mitwirkenden in organisierten hierarchischen Zusammenhängen mit Tausenden, Hundertausenden, Millionen von Opfern.

18 Ausführlich zur Gründung der »Zentralen Stelle«: Annette Weinke, Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958–2008, Darmstadt 2008, S. 20 ff. Zu den ähnlichen Überlegungen Anfang der 1950er Jahre vgl. z. B. Eichmüller, Keine Generalamnestie, S. 102.

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International war daher auch eine andere Bewertung der Dinge herrschend. Hier war man sich mehrheitlich einig, dass es besonderer Regelungen für den angemessenen Umgang mit den NS-Verbrechen bedürfe. Überdies war man der Überzeugung, dass das Rückwirkungsverbot für die Strafverfolgung von NSVerbrechen gar nicht greife, weil dieser Grundsatz in einem klassisch liberalen Sinne den Bürger vor der rückwirkenden Änderung der rechtlichen Bewertung seines Verhaltens durch die Staatsgewalt schützen solle, nicht aber diejenigen, die sich gerade auf staatliche Anordnung hin an der Begehung von Taten beteiligt hätten, deren Unrechtmäßigkeit ungeachtet einer Legalisierung oder jedenfalls Duldung jedem hätte vor Augen stehen müssen. Der grundsätzliche Rahmen, in dem die Strafverfolgung demnach stattfand, lautete im Gegensatz zur Weichenstellung des bundesdeutschen Gesetzgebers also: Für die Frage der Strafbarkeit eines Verhaltens in der NS-Zeit sind die Gesetze des nationalsozialistischen Deutschlands grundsätzlich unbeachtlich. Dieser Grundgedanke lag vor allem dem Statut für den Internationalen Militärgerichtshof und damit dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zugrunde.19 Er fand sich darüber hinaus auch in den Rechtsgrundlagen, auf denen die weitere Strafverfolgung beruhte, welche die alliierten Siegermächte in jeweils eigener Regie in ihren Besatzungszonen oder auf ihrem Staatsgebiet durchführten. Auch in den Nürnberger Prinzipien der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen, die am 11. Dezember 1946 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurden, kam er zum Ausdruck.20 Die DDR übernahm ebenfalls das »Nürnberger Modell« in ihr Strafrecht.21 Schließlich erklärte Art. 7 Abs. 2 der Anfang November 1950 in Rom verabschiedeten Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), dass eine fehlende innerstaatliche Kriminalisierung zum Tatzeitpunkt der Bestrafung einer Tat dann nicht entgegensteht, wenn die Tat zum Begehungszeitpunkt nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der zivilisierten Völker strafbar war. Indem die Bundesrepublik keine solche Ausnahme vom Rückwirkungsverbot anerkannte und die EMRK 1952 daher auch nur unter Vorbehalt ratifizierte,22 begab sie sich im internationalen Vergleich also auf einen Sonderweg, den sie offiziell erst 2001 wieder verließ.23 19 Vgl. dazu zusammenfassend z. B. Annette Weinke, Die Nürnberger Prozesse, München 2006, S. 17 ff. 20 Resolution 95(I) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 11. Dezember 1946, UN Doc. A / R ES/1/95 (1946). 21 Vgl. dazu Klaus Marxen, Die Bestrafung von NS-Unrecht in Ostdeutschland, in: Ders. / ​ Koichi Miyazawa / Gerhard Werle (Hg.), Der Umgang mit Kriegs- und Besatzungsunrecht in Japan und Deutschland, Berlin 2001, S. 159–176, hier 169 f. 22 Vgl. BGBl. 1954 II, S. 14. Der Vorbehalt lautete: »Gemäß Artikel 64 der Konvention macht die Bundesrepublik Deutschland den Vorbehalt, daß sie die Bestimmung des Artikels 7 Abs. 2 der Konvention nur in den Grenzen des Artikels 103 Abs. 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland anwenden wird.« 23 Vgl. dazu ausführlich Gerhard Werle, Von der Ablehnung zur Mitgestaltung: Deutschland und das Völkerstrafrecht, in: Pierre-Marie Dupuy et al. (Hg.), Völkerrecht als Wertordnung. Festschrift für Christian Tomuschat, Kehl 2006, S. 655–669, hier 660, 664.

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Seinerzeit wurde die Diskussion um die skizzierten Alternativen zum Umgang mit NS-Verbrechen insbesondere als Auseinandersetzung über das Kon­ trollratsgesetz Nr. 10 (kurz KRG 10) geführt. Das KRG 10, das der Alliierte Kontrollrat am 20. Dezember 1945 als Rechtsgrundlage für die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch alliierte Militärgerichte in den Besatzungszonen erließ,24 entsprach dem »Nürnberger Modell«, sah also die Bestrafung des NS-Unrechts als Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen gegen den Frieden vor und betonte zugleich, dass eine fehlende Kriminalisierung nach dem deutschen Recht der Tatzeit grundsätzlich unbeachtlich sei. Die französische und die britische Militärregierung ermächtigten überdies auch die deutschen Gerichte, das KRG 10 als Rechtsgrundlage zur Anwendung zu bringen.25 In den Ländern, die unter amerikanischer Besatzungshoheit standen, wurde eine solche Ermächtigung zur Anwendung des KRG 10 zwar nicht erteilt, mit dem Erlass von Landesgesetzen »zur Ahndung nationalsozialistischer Straftaten« wurden hier aber eigene spezifische Rechtsgrundlagen geschaffen, welche die grundsätzlichen Weichenstellungen des KRG 10 bestätigten.26 Weite Teile des sich formierenden politischen Betriebs in Bonn, nicht zuletzt der erste Justizminister der Bundesrepublik, Thomas Dehler, sowie eine Mehrheit der deutschen Juristen lehnten das KRG 10 jedoch entschieden ab.27 Das Gesetz sei wegen seiner Rückwirkung und aufgrund der Unbestimmtheit seiner Tatbestände »ein Fremdkörper im deutschen Rechtssystem«28 und verstoße gegen Grundprinzipien eines rechtsstaatlichen Strafrechts. Der Aplomb, mit dem deutsche Politiker und Beamte meinten, die alliierten Siegermächte über unverzichtbare Standards rechtsstaatlicher Strafjustiz aufklären zu können, ist angesichts der Tatsache, dass nur wenige Jahre zuvor im deutschen Namen auch unter Mitwirkung der Justiz unzählige Verbrechen nie dagewesenen Ausmaßes begangen worden waren, im Rückblick durchaus bemerkenswert. Dass diese Einwände überdies in der Sache wenig überzeugend waren, ist schon damals von den Gegenstimmen aus der deutschen Justiz und Rechtswissenschaft mit deutlichen Worten erklärt worden. Sehr eindrücklich formulierte etwa der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone, der das KRG 10 in einer Vielzahl von Fällen zur Anwendung brachte: »Das Rückwirkungsverbot gehört aber zu den Rechtsgrundsätzen, die dem Staats­ absolutismus im Kampf für die Menschen- und Bürgerrechte abgerungen worden 24 Vgl. Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland 1945, S. 50. 25 Siehe dazu ausführlich: Edith Raim, Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945–1949, München 2013, S. 523 ff., 550 ff. 26 Gesetz zur Ahndung nationalsozialistischer Straftaten vom 29. Mai 1946; Gesetz Nr. 28 zur Ahndung nationalsozialistischer Straftaten vom 31. Mai 1946; Gesetz Nr. 22 zur Ahndung nationalsozialistischer Straftaten vom 31. Mai 1946. 27 Siehe dazu z. B. Clea Laage, Die Auseinandersetzung um den Begriff des gesetzlichen Unrechts, in: Kritische Justiz 22 (1989), H. 4, S. 409–432, hier 426 ff. 28 Vgl. zu dieser Formulierung Raim, Justiz zwischen Diktatur und Demokratie, S. 603.

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sind, um den Bürger gegen Staatswillkür zu schützen. Daher empfängt es seinen Sinn. Es hieße aber diesen Sinn ins Gegenteil zu verkehren, wenn das Rückwirkungsverbot dazu dienen sollte, die gerechte Sühne für solche Verbrechen zu vereiteln, die gerade in der Betätigung schrankenloser Staatswillkür bestanden. Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 verstößt deshalb, auch wenn es auf vor seinem Inkrafttreten begangene Handlungen angewendet werden will, nicht gegen den dem Rückwirkungsverbot zugrundeliegenden Rechtfertigungsgrund.«29

Auf alliierter Seite gewann man alsbald nicht zu Unrecht den Eindruck, es gehe den Deutschen bei den Einwänden gegen das KRG 10 nicht so sehr darum, eine der deutschen Justiz vertrautere und bestimmtere Rechtsgrundlage für die Strafverfolgung der NS-Verbrechen zu finden, sondern darum, die Strafverfolgung überhaupt zu obstruieren. Erkennbar genervt von den immer neuen publizistischen Stellungnahmen und Erklärungen gegen das KRG 10 hieß es etwa in dem Bericht eines Angehörigen der Rechtsabteilung der britischen Militärregierung: »In our opinion, the German Legal profession is devoting far too much time and ­energy to academic discussion of the difficulties in bringing to justice Germans who have committed crimes against humanity or who have informed against other Germans in connection with their Anti-Nazi activities. This whole question is pri­marily one for the Germans, and concrete proposals and action are now required from German lawyers rather than lengthy treatises on criminal law and jurisprudential concepts.«30

Angesichts des beharrlichen Widerstands nahmen die britische und die französische Militärregierung Ende August 1951 schließlich jeweils die Ermächtigung deutscher Gerichte zur Anwendung des KRG 10 zurück.31 1956 schrieb der Gesetzgeber offiziell fest, dass das KRG 10 nicht Bestandteil des anwendbaren Rechts der Bundesrepublik, sondern vielmehr als »Besatzungsunrecht« anzusehen sei.32

29 OGHSt 2, S. 375–383, hier 380. 30 Colonel J. F. W. Rathbone an Major Rombach, 31.05.1946, zit. nach: Martin Broszat, Siegerjustiz oder strafrechtliche »Selbstreinigung«. Aspekte der Vergangenheitsbewältigung der deutschen Justiz während der Besatzungszeit 1945–1949, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29 (1981), H. 4, S. 477–544, hier 523. 31 Ordinance No. 243 des Britischen Hohen Kommissars vom 31. August 1951 und Arrêté No. 171 des Französischen Hohen Kommissars vom 31. August 1951, abgedruckt in: Amtsblatt der Alliierten Hohen Kommission 1951, S. 1137 f. Siehe dazu z. B. Eichmüller, Keine Generalamnestie, S. 53 ff. 32 Vgl. § 2 des Ersten Gesetzes zur Aufhebung des Besatzungsunrechts vom 30. Mai 1956, abgedruckt in: BGBl. 1956 I, S. 437 ff.

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IV. Die bundesdeutsche Justiz und das Recht der Tatzeit Die Bundesrepublik hat das »Erbe von Nürnberg«, die Kernbotschaften der alliierten Rechtsgrundlagen für die Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher, mit Nachdruck ausgeschlagen. Statt mittels rückwirkender Sondernormen sollte die strafrechtliche Aufarbeitung der nationalsozialistischen Großverbrechen prinzipiell im Rahmen des zur Tatzeit geltenden deutschen Strafrechts gelingen. Die Grundregel, die der Gesetzgeber der Justiz für die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik damit an die Hand gab, lautete: Die Strafbarkeit eines Verhaltens während der NS-Zeit bestimmt sich nach den Gesetzen des nationalsozialistischen Deutschlands. Oder in Anlehnung an das berüchtigte Zitat des früheren Marinekriegsgerichtsrats und späteren Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Hans Filbinger: Wenn es damals kein strafbares Unrecht war, kann es auch heute nicht als strafbares Unrecht bestraft werden. Es liegt auf der Hand, dass eine strikte Anwendung dieses Grundsatzes zu haarsträubenden Ergebnissen hätte führen müssen. In der Rechtsprechung finden sich daher verschiedene Ansätze der partiellen Durchbrechung, Relativierung und Umgehung dieser Grundregel. Ein Beispiel hierfür sind die Bereiche, die sich als Verkörperung des Maßnahmenstaates im Sinne Ernst Fraenkels33 beschreiben lassen, also dort, wo die Verbrechensbegehung zwar dem Willen der nationalsozialistischen Führung entsprach, es aber an Rechtsgrundlagen in einem formal-rechtsstaatlichen Sinn fehlte, insbesondere also an ordnungsgemäß beschlossenen und verkündeten Gesetzen. Dies betraf etwa die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Vernichtungslagern und durch Einsatzgruppen oder die unter dem Stichwort der »Euthanasie« bekannte Ermordung psychisch kranker oder in ihren geistigen Fähigkeiten eingeschränkter Personen. Die bundesdeutsche Justiz hat hier stets den Standpunkt vertreten, diese Taten seien schon nach dem zur Tatzeit geltenden Recht als Mord oder Totschlag strafbar gewesen. Überzeugend ist diese Ansicht nur dann, wenn unter dem »zur Tatzeit geltenden Recht« nicht das verstanden wird, was nach der herrschenden Rechtsauffassung der NS-Zeit und der damaligen Praxis der Gerichte im Deutschen Reich für Recht angesehen wurde.34 Dass die befehlsgemäße Ermordung von Juden rechtmäßig sei, hat etwa das Oberste SS- und Polizeigericht in München im Verfahren gegen den wegen eigenmächtiger Tötungsaktionen angeklagten SS-Untersturmführer Max Täubner 1943 ausdrücklich festgestellt.35 Für den Massenmord in den Krankenanstalten ist bekannt, 33 Vgl. Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Hamburg 32012. 34 Zur Ableitung allen Rechts aus dem Willen des »Führers« nach nationalsozialistischem Rechtsverständnis siehe Gerhard Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, Berlin 1989, S. 577 ff., 685 f. 35 Vgl. zu diesem Fall: Yehoshua Robert Büchler, »Unworthy Behavior«: The Case of SS Officer Max Täubner, in: Holocaust and Genocide Studies 17 (2003), S. 409–429; Willi

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dass der damalige Justizminister Franz Gürtner unter Berufung auf einen Erlass Hitlers an Philipp Bouhler, den Chef der Kanzlei des Führers, die Auffassung vertrat, dass die Morde damit legalisiert worden seien36 – und die Präsidenten sämtlicher Oberlandesgerichte des Reiches und ihre Generalstaatsanwälte haben diese Auffassung ihrem amtlichen Handeln zugrunde gelegt und dementsprechend interne Dienstanweisungen gegeben, jedwede Anzeige in dieser Angelegenheit unbearbeitet zu lassen.37 Um begründen zu können, dass diese Taten dennoch bereits zum Tatzeitpunkt strafbar gewesen waren, argumentierten die bundesdeutschen Gerichte in diesen Fällen, dass nicht-veröffentlichte Befehle und Anweisungen keine gültige Rechtsgrundlage dargestellt und diese Befehle jedenfalls deswegen außer Betracht zu bleiben hätten, weil sie übergesetzlichen, naturrechtlichen Grundsätzen der Gerechtigkeit widersprächen, die für jeden Gesetzgeber unverfügbar seien.38 Bereits diese Beispiele zeigen: Die Grundregel, nach der sich die Strafbarkeit eines Verhaltens während der NS-Zeit nach dem zur Tatzeit geltenden Recht bestimmt, zwang die bundesdeutsche Justiz dazu, ein fiktives Tatzeitrecht zu konstruieren, um völlig inakzeptable Ergebnisse zu vermeiden.39 Deutlich wird dies auch in den Fällen, in denen die bundesdeutsche Justiz über die Strafbarkeit von Personen zu befinden hatte, die durch Erstattung einer Anzeige als Richter, Staatsanwalt oder Scharfrichter an Verurteilungen und Strafvollstreckungen mitgewirkt hatten, also in einem Bereich, in dem sich die Unrechtsbegehung in normenstaatlichen Formen vollzog. Waren die Todesurteile des Volksgerichtshofs, des Reichskriegsgerichtshofs, der Sondergerichte oder der Standgerichte nach dem Recht der Tatzeit rechtswidrig gewesen? Die bundesdeutsche Justiz hat dies in besonders krassen Fällen tatsächlich vertreten.40 Nahm man die bundes-

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Dreßen / Ernst Klee / Volker Rieß (Hg.), »Schöne Zeiten«, Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer, Frankfurt a. M. 1988, S. 184 ff. Vgl. Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, 3., verb. Aufl., München 2001, S. 512. Siehe dazu ausführlich Christoph Schneider, Diener des Rechts und der Vernichtung. Das Verfahren gegen die Teilnehmer der Konferenz von 1941 oder: Die Justiz gegen Fritz Bauer, Frankfurt a. M. 2017, S. 51 ff. Beispielhaft mit Bezug auf die Massenmorde in Auschwitz LG Frankfurt a. M., Urteil vom 19./20.08.1965  – 4 Ks 2/63 = Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XXI, Lfd. Nr. 595a, S. 361–837, hier 444; hinsichtlich der »Euthanasie«-Morde BGH, Urteil vom 06.12.1960 – 1 StR 404/60, abgedruckt in: NJW 1961, S. 276–278, hier 278. Zu der entsprechenden Rechtsprechung zum letzteren Komplex zusammenfassend Anika Burkhardt, Das NSEuthanasie-Unrecht vor den Schranken der Justiz: eine strafrechtliche Analyse, Tübingen 2015, S. 429 ff. m. w. N. In diesem Sinne auch: Friedrich Dencker, Strafverfolgung der Euthanasie-Täter nach 1945, in: Thomas Vormbaum (Hg.), Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, Bd. 7 (2005/2006), S. 113–124, hier 120. Vgl. z. B. BGH, Urteil vom 12.02.1952 – 1 StR 658/51 = BGHSt 2, S. 173; BGH, Urteil vom 08.07.1952 – 1 StR 123/51, abgedruckt in: NJW 1952, S. 1024–1026, hier 1025; BGH, Urteil vom 28.06.1956 – 3 StR 366/55, abgedruckt in: NJW 1956, S. 1485–1487, hier 1486 f. Die beteiligten Richter und Staatsanwälte blieben freilich trotzdem straflos, weil ihnen nicht

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deutschen Gerichte beim Wort, so hatten die höchsten Gerichte und die Kommentatoren der NS-Zeit in diesen Fällen die NS-Strafgesetze falsch ausgelegt und angewendet, Tatbestände unvertretbar weit ausgedehnt und unverhältnismäßig harte Strafen zugemessen. Letztlich nahmen die Gerichte der Bundesrepublik in besonders extremen Fällen also eine nachträgliche Korrektur des Rechts der Tatzeit durch seine Auslegung im Lichte rechtsstaatlicher  – und damit dem Rechtsdenken der Nationalsozialisten eigentlich fremder – Grundsätze wie Bestimmtheit oder Verhältnismäßigkeit vor. Hätte der bundesdeutsche Gesetzgeber der Justiz für die Strafverfolgung des NS-Unrechts das alternative Modell des KRG 10 an die Hand gegeben, wären diese merkwürdigen Verrenkungen überflüssig gewesen. Die Grundregel hätte gelautet: Wenn es um Taten geht, die sich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, als Kriegsverbrechen oder als Verbrechen gegen den Frieden erfassen lassen, so ist die Legalisierung dieses Verhaltens durch einzelstaatliche Gesetze zur Tatzeit für die Strafbarkeit unbeachtlich. Solche Taten sind nach einem univer­sellen und überzeitlichen Maßstab der Gerechtigkeit stets strafbar. Der Umstand, dass damit das Verhalten einer Person anhand eines Maßstabs bewertet wird, der von der innerstaatlichen Rechtslage zur Tatzeit abweicht, kann auf andere Weise angemessen berücksichtigt werden: Er mag die Vorwerfbarkeit des Verhaltens mindern oder die Zumutbarkeit des gebotenen Verhaltens beeinflussen und daher zu einer Strafmilderung oder sogar zu einem Ausschluss der Strafbarkeit im Einzelfall führen. Die Grundregel des »Nürnberger Modells« bleibt aber: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen den Frieden sind strafbar, unabhängig davon, was eine einzelstaatliche Rechtsordnung dazu sagt.

V. Die gesetzgeberische Grundentscheidung als exkulpierendes Framing Der Ansatz des bundesdeutschen Gesetzgebers wird heute vielfach kritisiert. Begründet wird diese Kritik regelmäßig mit zwei Argumenten. Zum einen heißt es, die Bestrafung der NS-Verbrechen mittels der »normalen« Straftatbestände des deutschen Strafrechts habe nicht die systematische Dimension der Unrechts­ begehung zum Ausdruck gebracht.41 Dieser Vorwurf trifft zu. Die gesetzgeberische Grundentscheidung, keine Sondernormen für die strafrechtliche Ahndung der NS-Verbrechen einzuführen, führte dazu, dass diese Taten – sofern sie überdas nach der bundesdeutschen Rechtsprechung erforderliche Wissen um die Rechtswidrigkeit des eigenen Handelns nachgewiesen werden konnte. 41 Vgl. z. B. Gerhard Werle, Deutschland und das Völkerstrafrecht: Zeitgeschichtliche Perspektiven, in: Florian Jeßberger / Julia Geneuss (Hg.), Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch. Bilanz und Perspektiven eines »deutschen Völkerstrafrechts«, Baden-Baden 2013, S. ­23–34, hier 27 f. Frühzeitig in diesem Sinne Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundes­ republik? Tatsachen, Gefahren, Chancen, München 1966, S. 58 ff.

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haupt als strafbar erachtet wurden – als Mord, als Totschlag, als Freiheitsberaubung, als Nötigung oder Ähnliches bestraft wurden. Dass es sich dabei nicht um isolierte Taten einzelner Personen handelte, sondern um einen organisierten »Verwaltungsmassenmord« (Hannah Arendt), wird durch die strafrechtliche Bezeichnung der Tat als Mord oder Totschlag verdeckt. Eine zweite Kritik hebt hervor, dass die gesetzgeberische Grundregel, nach der regelmäßig das zur Tatzeit geltende deutsche Strafrecht über die Strafbarkeit eines Verhaltens entschied, mittelbar zu einer verharmlosenden Deutung des Rechts im nationalsozialistischen Staat und damit der Tätigkeit in der damaligen Justiz und Verwaltung geführt hat.42 Auch diese Kritik trifft zu: Weil eine konsequente Anwendung der gesetzgeberischen Grundregel völlig in­a kzeptable Ergebnisse zur Folge gehabt hätte, sah sich die bundesdeutsche Rechtsprechung gezwungen, ein fiktives Recht der Tatzeit zu konstruieren. Damit erweckte sie den Eindruck, das nationalsozialistische Recht hätte lediglich »richtig« angewendet werden müssen. Die Prämisse dieses Ansatzes ist, dass es für das nationalsozialistische Deutschland überhaupt noch ein legitimes Strafrecht zum Schutz des Staates und seiner Institutionen, zum Schutz der Wehrmacht oder der deutschen Polizei usw. gab. Das ist aber nicht überzeugend. Unter der nationalsozialistischen Führung ist der deutsche Staat auf allen Ebenen und in allen seinen Verkörperungen umfassend zur Begehung von schwerstem Unrecht missbraucht worden. Jede Form der Verweigerung, diesen Staat auch nur mittelbar zu unterstützen, etwa durch Eingliederung in eine staatliche Hierarchiestruktur, ist daher legitim gewesen und hätte nicht bestraft werden dürfen.43 Zu kurz kommt bei der Kritik in den meisten Fällen, dass die gesetzgeberische Grundentscheidung als Framing auch die Ergebnisse der strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Verbrechen durch die Justiz prägte. Der bundesdeutsche Gesetzgeber hat mit seiner Entscheidung für eine strafrechtliche Verfolgung der NS-Verbrechen mittels des deutschen Strafrechts der Tatzeit einen Rahmen geschaffen, in dem es wahrscheinlicher war, zu einer Straflosigkeit oder doch zu einer partiellen Entlastung der Täter zu kommen als bei Anerkennung des »Nürnberger Modells« rückwirkender Strafvorschriften. Diese These läuft auf einen Vergleich der tatsächlich erfolgten (oder unterlassenen) Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik auf der Grundlage des normalen deutschen Strafrechts mit einer hypothetischen Strafverfolgung durch die bundesdeutsche Justiz auf der Grundlage von Sondernormen nach dem Nürnberger Vorbild hinaus. Es ist daher schwierig, sie im eigentlichen Sinne zu beweisen. Anhand von einigen Beispielen lässt sich die exkulpierende Tendenz des in der Bundesrepublik gewählten Ansatzes aber durchaus plausibilisieren. 42 Präzise Zusammenfassung dieser Kritik z. B. bei Gerhard Werle / T homas Wandres, Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Strafjustiz, München 1995, S. 33 f. 43 Vgl. die entsprechende Argumentation Fritz Bauers im Prozess gegen Ernst Remer, abgedruckt in: Fritz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften, hg. von Joachim Perels und Irmtraud Wojak, Frankfurt a. M. 1998, S. 169–179, hier 177.

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So fand die zuvor erläuterte Korrektur des Rechts der Tatzeit durch seine Auslegung im Lichte rechtsstaatlicher Grundsätze lediglich in engen Grenzen statt. Die bundesdeutsche Rechtsprechung bewertete nur besonders extreme Entscheidungen als schon zur Tatzeit rechtswidrig. Ging es um die üblichen Fälle einer Anwendung der zur Tatzeit geltenden Straftatbestände zum Hoch- und Landesverrat, der Volksschädlings- oder der Kriegssonderstrafrechtsverordnung, so lautete das Ergebnis entsprechend der gesetzgeberischen Grundregel, dass eine Verurteilung dem Recht der Tatzeit entsprochen hatte und daher kein strafbares Unrecht darstellte. Beispielhaft ist etwa die Bestätigung der Todesurteile gegen Deserteure oder auch gegen Widerstandskämpfer und Widerstandskämpferinnen, denen Verratshandlungen an ausländische Mächte vorgeworfen wurden, durch die bundesdeutsche Justiz.44 Das Argument war hier stets, dass alle Staaten der Welt Strafvorschriften zum Schutz vor Hochverrat oder der Desertion von Soldaten kennen und im Kriegsfall auch die Verhängung von Todesstrafen durchaus üblich sei.45 Außer Betracht blieb, dass es für die Legitimität solcher Tatbestände entscheidend ist, auf welche Art von Staat und Militär sich diese Strafvorschriften beziehen. Genau dieser Gedanke bildet hingegen den Ausgangspunkt des »Nürnberger Modells«. Die genannten Todesurteile erscheinen danach als Teil der Umfunktionierung des Staatsschutzstrafrechts zu einem Terrorinstrument gegen mutmaßliche »Volksfeinde«.46 Indem der bundesdeutsche Gesetzgeber den Gerichten aufgegeben hat, die Fragen, die sich im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen stellen, vor dem Hintergrund des allgemeinen deutschen Strafrechts zu beantworten, hat er einen anderen gedanklichen Referenzrahmen gesetzt als das »Nürnberger Modell«, das ausdrücklich betont, dass systematisch begangene Massenverbrechen den Hintergrund für die einschlägigen Rechtsfragen bildeten. Die entlastende Wirkung des Referenzrahmens »allgemeines Strafrecht« zeigt sich heute auch in einem Vergleich der Regelungen des allgemeinen Strafrechts mit den Regelungen des 2002 in Kraft getretenen Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB), mit dem die Bundesrepublik Deutschland letztlich doch noch die grundsätzliche Richtigkeit des »Nürnberger Modells« anerkannt hat.47 So sieht das deutsche Strafgesetzbuch für die Freiheitsberaubung mit Todesfolge 44 Beispielhaft BGH, Urteil vom 19.06.1956 – 1 StR 50/56, wiederabgedruckt in: Neue Zeitschrift für Strafrecht (1996), S. 485–489, hier 486. Siehe auch Heinrich Grosse, Ankläger von Widerstandskämpfern und Apologet des NS-Regimes – Kriegsgerichtsrat Manfred Roeder, in: Kritische Justiz 38 (2005), H. 1, S. 36–55, hier 48 f. 45 Vgl. etwa LG Berlin, Urteil vom 06.12.1968 – (500) 3 P (K) Ks 1/67 (27/68), abgedruckt in: Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XXXI, Lfd. Nr. 695a, S. 317–339, hier 330 ff. Weitere Beispiele etwa bei Joachim Perels, Die Umdeutung der NS-Diktatur in einen Rechtsstaat, in: Leviathan 35 (2007), S. 230–247, hier 238 ff. 46 Vgl. US Military Tribunal Nuremberg, Urteil vom 04.12.1947 (Altstoetter u. a.), in: Trials of War Criminals Before the Nuernberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Bd. III, S. 954–1201, hier 985. 47 Vgl. zusammenfassend zum Völkerstrafgesetzbuch Gerhard Werle / Florian Jeßberger, Völkerstrafrecht, 5., überarb. u. aktualisierte Aufl., Tübingen 2020, Rn. 470 ff.

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seit jeher eine Freiheitsstrafe von nicht unter drei Jahren vor;48 wird dieselbe Tat aber im Kontext eines systematischen oder ausgedehnten Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen, liegt die gesetzlich vorgesehene Mindestfreiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren (§ 7 Abs. 1 Nr. 9, Abs. 3 VStGB).49 Mit anderen Worten: Mit Einführung des Völkerstrafgesetzbuchs hat der deutsche Gesetzgeber – ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen – selbst zum Ausdruck gebracht, dass er für Fälle der Freiheitsberaubung mit Todesfolge, die im Kontext eines systematischen oder ausgedehnten Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen wurden, zuvor nicht die angemessene Strafandrohung vorgesehen hatte. Analoge Beispiele ließen sich für weitere Taten, etwa die vorsätzliche Tötung oder die schwere Körperverletzung eines anderen Menschen, bilden.50 Ähnlich verhält es sich mit der Regelung der Verjährung: Die Körper­ verletzung mit Todesfolge verjährt gemäß § 78 Abs. 1 Nr. 3 StGB grundsätzlich nach Ablauf von zehn Jahren nach Tatbegehung. Wird dieselbe Tat aber im Zusammenhang mit einem systematischen oder ausgedehnten Angriff gegen die Zivilbevölkerung begangen, ist sie unverjährbar (§ 5 VStGB). Auch hier können die Regelungen des Völkerstrafgesetzbuchs als unbewusstes Eingeständnis des Gesetzgebers gelesen werden, bis zu dessen Inkrafttreten im Jahr 2002 für Körperverletzungen mit Todesfolge, die im Kontext eines systematischen oder ausgedehnten Angriffs gegen die Zivilbevölkerung erfolgten, nicht die angemessene Regelung zur Verjährung getroffen zu haben. Ein letztes Beispiel zur Verdeutlichung der exkulpierenden Tendenz des gesetzgeberischen Framings bietet die Rechtsprechung zu der Frage, wer für Verbrechen strafrechtlich verantwortlich ist, die im Rahmen eines Konzentrations- oder Vernichtungslagers begangen wurden. Auch diese Frage hatten die bundesdeutschen Gerichte aufgrund der gesetzgeberischen Weichenstellung vor dem Horizont des normalen Strafrechts und der Alltagskriminalität zu beantworten. Ihre Frage lautete daher: Wer leistet (zumindest) Hilfe zur Begehung einer Tat durch einen anderen im Sinne von § 27 des deutschen Strafgesetzbuchs? Zur Anwendung kamen damit Begriffe, Strukturen und eine Heuristik der Entscheidungsfindung, die für und anhand der Straftatbegehung von Einzelpersonen entwickelt worden sind. Aus dieser Perspektive lag es nahe, für eine strafbare Hilfeleistung einen sogenannten konkreten Einzeltatnachweis vorauszusetzen.51 Über viele Jahrzehnte war daher nach der Rechtsprechung der Nach48 Vgl. § 239 Abs. 4 StGB (vor dem 01.04.1998: § 239 Abs. 3 S. 1 StGB). Vor dem 01.09.1969 war zudem nicht Freiheitsstrafe, sondern Zuchthausstrafe vorgesehen. 49 Zu ergänzen ist: Es ist nicht erforderlich, dass dem für die Freiheitsberaubung mit Todesfolge Verantwortlichen der über die Tat hinausgehende Kontext irgendwie als Ergebnis eigenen Verhaltens zugerechnet werden kann. 50 Vgl. heute einerseits § 212 Abs. 1 StGB (Mindestfreiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren) und andererseits § 7 Abs. 1 Nr. 1 VStGB (obligatorische lebenslange Freiheitsstrafe) bzw. einerseits § 226 Abs. 1 StGB (Mindestfreiheitsstrafe nicht unter einem Jahr) und andererseits § 7 Abs. 1 Nr. 8 VStGB (Mindestfreiheitsstrafe nicht unter drei Jahren). 51 Programmatisch und für die nachfolgende Rechtsprechung prägend BGH, Urteil vom 20.02.1969 – 2 StR 280/67 = Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XXI, Lfd. Nr. 595b, S. 838–887,

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weis erforderlich, dass der Beschuldigte an der konkreten Herbeiführung eines straftatbestandlichen Erfolges, also zum Beispiel der Tötung eines oder mehrerer anderer Menschen, mitgewirkt hat. Für die Angehörigen des Lagerpersonals in Auschwitz bedeutete diese Rechtsprechung, dass nur diejenigen strafbar waren, denen die Mitwirkung an einer konkreten Tötungsaktion nachgewiesen werden konnte, nicht hingegen diejenigen, denen lediglich nachzuweisen war, in einem bestimmten Zeitraum mit einem bestimmten Aufgabenbereich betraut gewesen zu sein.52 Die Praxis internationaler Strafgerichte erhärtet die Vermutung, dass auch insoweit die Anwendung regulären Strafrechts exkulpierende Tendenz hatte. Diese Gerichte hatten geradezu ausschließlich Fälle systematischer Unrechtsbegehung durch kollektive Strukturen zu entscheiden und taten dies auf der Grundlage von Verbrechenstatbeständen, die speziell die strafrechtliche Erfassung solcher Kriminalität bezwecken. Internationale Gerichte haben aber im Gegensatz zur bundesdeutschen Justiz für eine strafbare Beteiligung nicht den Nachweis der Mitwirkung an einer konkreten Einzeltat für erforderlich gehalten, sondern festgestellt, dass bereits die Mitwirkung an der Aufrechterhaltung eines arbeitsteilig organisierten, systematischen Handlungszusammenhangs wie etwa dem Betreiben eines Konzentrations- oder Vernichtungslagers für die Begründung individueller Strafbarkeit ausreicht.53 Die bundesdeutsche Justiz hat die Richtigkeit dieser Feststellung erst in den letzten Jahren mit der Verurteilung einiger hochbetagter ehemaliger Angehöriger des Personals von Sobibór und Auschwitz (wieder) anerkannt.54

hier 882. Vgl. auch Adalbert Rückerl, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945–1978. Eine Dokumentation, Heidelberg 1979, S. 86. Zu dieser Rechtsprechung z. B. Werner Renz, Auschwitz vor Gericht. Fritz Bauers Vermächtnis und seine Missachtung, Hamburg 2018, S. 156 ff. 52 Beispielhaft LG Frankfurt a. M., Urteil vom 19./20.08.1965 – 4 Ks 2/63 = Justiz und NSVerbrechen, Bd. XXI, Lfd. Nr. 595a, S. 361–837, hier 747 f. 53 Vgl. insb. JStGH (Trial Chamber), Urteil vom 02.11.2001  – IT-98–30/1 (Kvočka, Kos, Radić, Žigić, Prcać), Rn. 268 ff., sowie zusammenfassend Kai Ambos, Internationales Strafrecht, 5., völlig überarb. u. erw. Aufl., München 2018, § 7 Rn. 30 ff.; Boris Burghardt, Die Vorgesetztenverantwortlichkeit im völkerrechtlichen Straftatsystem (= Berliner Juristische Universitätsschriften Strafrecht, Bd. 12), Berlin 2008, S. 313 ff.; Werle / Jeßberger, Völkerstrafrecht, Rn. 603 m. w. N. 54 LG München II, Urteil vom 12.05.2011, Az.: 1 Ks 115 Js 12496/08, UA 190 f.; LG München II, Urteil vom 12.05.2011  – 1 Ks 115 Js 12496/08, UA 190; LG Lüneburg, Urteil vom 15.07.2015 – 27 Ks 9/14, 27 Ks 1191 Js 98402/13, Rn. 56; LG Detmold, Urteil vom 17.06.2016 – 4 Ks 45 Js 3/13–9/15, Rn. 234; BGH, Beschluss vom 20.09.2016 – 3 StR 49/16, Rn. 24. Ausführlich zur Richtigkeit dieses Ansatzes Boris Burghardt, Die Strafsache »Oskar Gröning« vor dem Bundesgerichtshof. Zugleich Überlegungen zum Begriff der teilnahmefähigen Haupttat i. S. v. § 27 Abs. 1 StGB bei arbeitsteilig organisierten, systemischen Handlungszusammenhängen, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 14 (2019), H. 1, S. 21–40.

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VI. Zusammenfassung Abgesehen von wenigen Ausnahmen mit eingeschränktem Anwendungsbereich hat der bundesdeutsche Gesetzgeber keine Sondernormen für die strafrechtliche Aufarbeitung von NS-Verbrechen geschaffen. Der Justiz wurde vielmehr aufgegeben, diese Aufgabe im Rahmen des allgemeinen deutschen Strafrechts zu erfüllen. Unter Berücksichtigung eines streng verstandenen Rückwirkungsverbots bedeutete dies: Für die Strafbarkeit eines Verhaltens in der NS-Zeit war die Strafbarkeit nach dem deutschen Recht der Tatzeit, das heißt vereinfacht: nach NS-Gesetzen, maßgeblich. Dieses Grundprinzip hat die deutsche Justiz zwar in unterschiedlicher Weise relativiert und durchbrochen. Dennoch hat die genannte Grundentscheidung der Rechtsprechung im Vergleich zu dem »Nürnberger Modell« eine exkulpierende Tendenz gegeben, die sich faktisch an verschiedenen Punkten und Einzelfragen auswirkte. Die gesetzgeberische Entscheidung gegen Sondernormen und für das deutsche Strafrecht der Tatzeit ließ die Strafverfolgungsbemühungen in einem rechtlichen Framing stattfinden, das dazu beigetragen hat, unbefriedigende und den Spezifika der abzuurteilenden Kriminalität unangemessene Ergebnisse zu finden. Dieses Framing dürfte insbesondere bei jenen Juristen und Juristinnen, die der strafrechtlichen Aufarbeitung gegenüber nicht schon an sich negativ eingestellt waren, eine zusätzliche Ursache dafür gewesen sein, dass die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen letztlich so unbefriedigend blieb.

Rüdiger Mahlo

Opfer zweiter Klasse? Der lange Weg zur gleichberechtigten Entschädigung jüdischer NS-Opfer in Ost und West

Die vielzitierte »Stunde null« hat es weder 1945 noch danach gegeben; das gilt für die Täterperspektive ebenso wie für die der Opfer. Täter und altgediente Nationalsozialisten nahmen in der jungen Bundesrepublik schon bald wieder einflussreiche Positionen in Ministerien, nachgeordneten Behörden und Gerichten ein und traten auch als Autoren juristischer Kommentare und Literatur bald wieder hervor. Das hat zuletzt in eindrucksvoller und vorbildlicher Weise die Studie »Die Akte Rosenburg – das Bundesministerium der Justiz und die NS -Zeit« belegt. Aber auch die Frage der Entschädigung von erlittenem NS-Unrecht ist bis heute, 75 Jahr nach dem Ende des Holocaust, nicht abschließend geregelt. Vielmehr handelt es sich um ein hochkomplexes Thema, das in äußerst sensibler Weise von der großpolitischen Wetterlage abhängig war und ist. Ein Thema, das mit großen Erwartungen, aber ebenso mit großen Enttäuschungen und Zurückweisungen verbunden ist. Man darf vorwegnehmen, dass der große Nutznießer die Bundesrepublik Deutschland ist, die über die Bereitschaft, NS-Unrecht auszugleichen, den Weg in die internationale Völkergemeinschaft zurückgefunden hat. Ihre Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit gilt als vorbildlich und wegweisend für den Umgang mit Unrechtsregimen. Das trifft zu großen Teilen tatsächlich zu, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der bundesdeutsche Entschädigungskomplex ein System mit Lücken war, das dem Prinzip der systematischen Lücke folgte. Viele Täter saßen alsbald wieder auf gut dotierten Stellen und trafen sogar in entschädigungsrelevanten Sachverhalten Entscheidungen, die oft zuungunsten der Antragsteller ausfielen. Selbst aktenkundig schuldhaft verstrickte NS-Täter im In- und Ausland und deren Angehörige erhielten ungeschmälerte Altersbezüge und sonstige Ver­ sorgungsleistungen – und erhalten sie bis heute. Die Opfer hingegen blieben allzu oft auf der Strecke. Wenn man weltweit und vor allem in die Länder hinter dem früheren Eisernen Vorhang schaut, sind die meisten Überlebenden nach dem Krieg verstorben, ohne jemals eine Entschädigung zu erhalten. Dieses Ungleichverhältnis in der Behandlung von Tätern und Opfern kann sicherlich auch als unterschwelliges Kontinuum des NS-Unrechts verstanden werden.

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Die Auswirkungen der ideologischen und personellen Kontinuitäten auf Theorie und Praxis des Entschädigungsrechts zu untersuchen, wäre ein wichtiges Desiderat der historischen Forschung und würde eine folgerichtige Fortsetzung der »Akte Rosenburg« darstellen. Seit 1951 vertritt die Claims Conference die Interessen der jüdischen Holocaust-Überlebenden in den Bemühungen um die Entschädigung des während des Holocaust erlittenen Leids. Aus der konfrontativen Erstarrung, die noch bei den Verhandlungen zum Luxemburger Abkommen vorherrschte, bis zur einvernehmlichen Kooperation mit den deutschen Regierungsstellen heute war es ein weiter Weg. Die erzielten Ergebnisse kamen häufig nur auf der Grundlage öffentlichen Drucks oder politischer Unterstützung von außen zustande. Oft war jedoch die makropolitische Lage ausschlaggebend für wegweisende Abkommen, durch die größere Verfolgtengruppe in die bundesdeutschen Entschädigungsregelungen einbezogen werden konnten. Im Folgenden möchte ich auf die Entstehungsgeschichte der Claims Conference eingehen und schildern, wie diese Organisation auf die Entschädigungspolitik in Deutschland eingewirkt hat. Um nicht in einem Komplex von gesetzlichen Regelungen und Vereinbarungen zu erstarren, werde ich zunächst drei reale Verfolgungsschicksale skizzieren und mit ihrer Hilfe aufzeigen, wie und wann sich die deutsche Entschädigungspolitik beispielhaft auf die drei Überlebenden und ihre Lebenssituationen auswirkte. Trude S. wurde 1921 in der Tschechoslowakei geboren und verbrachte als Einzelkind eine glückliche, behütete Kindheit. Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen nach dem Münchner Abkommen vom 30. September 1938 endete ihre Kindheit abrupt. Diskriminierung und Ausgrenzung traten an die Stelle unbekümmerten Kindseins. Trude engagierte sich in der zionistischen Jugend, wurde verhaftet und verbrachte endlose Monate in Einzelhaft. Aus dem Gefängnis wurde sie ins Ghetto Theresienstadt überstellt und später nach Auschwitz deportiert. Im KZ Merzdorf, einem Außenlager des Konzentrationslagers Groß-Rosen, wurde sie am 9. Mai 1945 von der Roten Armee befreit. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Schweiz zog Trude S. mit ihrem deutsch-jüdischen Ehemann nach Frankfurt am Main, wo sie bis heute lebt. Wassili M. wurde 1937 in Kiew als zweiter Sohn seiner Eltern geboren. Die Mutter starb bald nach seiner Geburt. Eine ukrainische Kinderfrau kümmerte sich fortan um die Kinder. Kurz nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurde der Vater zur Roten Armee eingezogen und geriet in Kriegsgefangenschaft. Ihm gelang die Flucht aus dem Kriegsgefangenenlager. Als er bei seinen Kindern nach dem Rechten schauen wollte, wurde er denunziert und am 29. September 1941 in Babi Jar (Babyn Jar) erschossen. Die Kinderfrau wurde von der Nachbarin aufgefordert, den kleinen Wassili ebenfalls nach Babi Jar zu bringen. Als sie beim Näherkommen Schüsse und Schreie hörte, wurde ihr klar, dass dies der Weg in den sicheren Tod bedeutete. Sie gab Wassili als

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ihren Sohn aus und konnte ihn so retten. Anschließend kam Wassili in einem Waisenhaus unter. Die Leiterin versteckte die jüdischen Kinder wann immer nötig in einem Gelass unter der Treppe. Mit Hilfe von Essensresten der Wehrmacht und Schlachtabfällen aus einem Fleischkombinat rettete sie die Kinder vor dem Hungertod. Nach seiner Befreiung lebte Wassili bei einer Adoptivfamilie in Kiew, wo er bis heute wohnt. Eugenia Y. wurde 1934 in Winnyzja in eine gläubige jüdische Familie geboren. Kurz vor dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion wurde ihr Vater zur Roten Armee eingezogen. Eugenia, ihre Schwester und ihre Mutter flohen vor den deutschen Truppen nach Schahrisabs in Usbekistan. Sie mussten all ihre Habe zurücklassen und unter den dürftigen Bedingungen des Exils harte Arbeit auf den Baumwollfeldern leisten. Nach der Befreiung Winnyzjas kehrten sie im März 1944 dorthin zurück. Bis heute lebt Eugenia Y. in der ukrainischen Stadt. Im Folgenden werde ich immer wieder auf die Lebensläufe verweisen und beispiel­haft für viele NS -Opfer aufzeigen, inwieweit die drei Überlebenden an den jeweiligen Entschädigungsregelungen partizipieren konnten oder eben auch nicht. Wie sah also die Entschädigungspolitik vor der Gründung Israels, der Bundesrepublik Deutschland und der Claims Conference aus? Das Territorium des Deutschen Reiches war nach Kriegsende in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Die Gebiete jenseits von Oder und Neiße wurden der Sowjetunion respektive Polen zugeschlagen. Die Militärregierungen verwalteten die Besatzungszonen nach unterschiedlichen Maßgaben mit direkten Auswirkungen auf die Entschä­ digungspolitik. Während in der sowjetischen Besatzungszone die Entschädigung von Shoah-Überlebenden kein Thema war, erließ die amerikanische Besatzungszone 1947 Militärgesetze zur Rückerstattung von entzogenem Vermögen und Eigentum. Die britische und die französische Besatzungszone zogen nach. Dabei ging es in erster Linie um Realrestitution von Vermögenswerten und Eigentum in Betracht, wie Grundstücke, Immobilien, Wohnungsausstattungen, Hausrat und Kunstwerken. Es zeigte sich jedoch, dass viele Eigentümer jüdischer Vermögenswerte während des Holocaust ermordet worden waren und Erben oder berechtigte Rechtsnachfolger nicht aufzufinden waren. Die internationalen jüdischen Organisationen forderten mit großem Nachdruck, dass Deutschland nicht von der Shoah profitieren dürfe, indem von den Nationalsozialisten entzogenes, erbenloses jüdisches Vermögen dem deutschen Staat zufiele. Sie drängten auf die Benennung von Sonderrechtsnachfolgern, sogenannten Nachfolgeorganisationen, die für erbenloses jüdisches Vermögen eintreten sollten. Die Jewish Restitution Successor Organization (kurz JRSO) und die Jewish Trust Cooperation waren die beiden bekanntesten Nachfolgeorganisationen, die in der amerikanischen bzw. englischen Besatzungszone als Sonderrechtsnachfolger für erbenloses jüdisches Vermögen eingesetzt waren.

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Die Regulierung von sonstigen Schäden wie Schaden an Leben, Gesundheit, Freiheit, Ausbildung oder beruflichem Fortkommen hingegen bedurfte einer funktionierenden gesamtstaatlichen gesetzlichen Regelung. Nur auf dieser Grundlage konnten völkerrechtlich verbindliche Verhandlungen geführt und Abkommen getroffen werden. Die Rahmenbedingungen für Entschädigungsverhandlungen über NS-Unrecht waren erst geschaffen, nachdem 1948 der Staat Israel und 1949 die Bundesrepublik Deutschland gegründet worden waren. Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte erkannt, dass eine Wiederaufnahme Deutschlands in die internationale Völkergemeinschaft nur möglich war, wenn die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin Nazi-Deutschlands Verantwortung für die NS-Verbrechen übernahm. In seiner historischen Rede im Deutschen Bundestag am 27. September 1951 formulierte er seine Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, wie folgt: »Die Bundesregierung und mit ihr die große Mehrheit des deutschen Volkes sind sich des unermesslichen Leides bewusst, das in der Zeit des Nationalsozialismus über die Juden in Deutschland und in den besetzten Gebieten gebracht wurde. […] Im Namen des deutschen Volkes sind aber unsagbare Verbrechen begangen worden, die zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung verpflichten, sowohl hinsichtlich der individuellen Schäden, die Juden erlitten haben, als auch des jüdischen Eigentums, für das heute individuell Berechtigte nicht mehr vorhanden sind.«1

Insbesondere der zweite Satz skizziert ganz wesentlich zwei Grundsätze der späteren »Wiedergutmachung«: erstens die Übernahme der moralischen Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen und zweitens die Verpflichtung zur Entschädigung für individuelle Personen- und Vermögensschäden sowie erbenloses Vermögen. Adenauer konnte sich in dieser Frage nicht auf die CDU / CSU-Fraktion verlassen. Nur mit Unterstützung der Opposition, vornehmlich der SPD-Abgeordneten, gingen die entsprechenden Parlamentsbeschlüsse durch. Erklärter Gegenspieler war insbesondere Finanzminister Fritz Schäffer, der die Endschädigungspolitik seiner Regierung immer wieder offen torpedierte und als zu teuer kritisierte. Auch die Mehrheit der deutschen Bevölkerung stand allen getroffenen Entschädigungsregelungen ausgesprochen ablehnend gegenüber, teilweise auch mit unverhohlen antisemitischen Kommentaren. Im jungen Staat Israel hingegen tobte ein heftiger Kampf darüber, ob man deutsches »Blutgeld« annehmen dürfe. Es kam zu tumultartigen Szenen und Demonstrationen in ganz Israel, an deren Spitze der spätere Ministerpräsident Menachem Begin stand, selbst ein Überlebender der Shoah, der vor den deutschen Besatzern aus Polen über die Sowjetunion nach Palästina geflohen war. 1 Regierungserklärung des Bundeskanzlers in der 165. Sitzung des Deutschen Bundestages zur Haltung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Juden, abrufbar unter: https:// www.konrad-adenauer.de/quellen/erklaerungen/1951-09-27-regierungserklaerung (zuletzt aufgerufen am 07.10.2020).

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Die internationalen jüdischen Verbände setzten sich nachdrücklich für Gespräche mit der Bundesrepublik über die Entschädigung von NS-Unrecht ein. Die dramatisch schlechten wirtschaftlichen Bedingungen in Israel und der dringend erforderliche Aufbau einer Infrastruktur gaben letztlich den Ausschlag. Im Oktober 1951 wurden Verhandlungen im holländischen Wassenaar aufgenommen. Bei strengster Geheimhaltung und unter Ausschluss jeder Öffentlichkeit hatte man sich in das festungsartige Schloss zurückgezogen, um möglichen Attentaten aus dem Wege zu gehen. Am Verhandlungstisch saßen Delegationen dreier Parteien: des Staates Israel, der Bundesrepublik Deutschland und der Claims Conference. »Im Raum allgegenwärtig war die spürbare Präsenz von sechs Millionen ermordeter Männer, Frauen und Kinder«, beschrieb Saul Kagan die schwer lastende Atmosphäre der Verhandlungen. Alle drei Parteien hatten zum Zeitpunkt der Verbrechen und Verluste, über deren Kompensierung man sprach, noch nicht existiert. Ein völkerrechtliches Novum war auch die Einbeziehung einer Nichtregierungsorganisation, die die Interessen der jüdischen Überlebenden in der Diaspora vertrat: die Conference on Jewish Material Claims Against Germany. Die Claims Conference war im September 1951 anlässlich einer Versammlung von 23 internationalen jüdischen Organisationen gegründet worden, darunter der World Jewish Congress, die Jewish Agency, das American Joint Distribution Committee und der Zentralrat der Juden in Deutschland. Die Repräsentanten waren der Einladung Nahum Goldmanns, des Präsidenten des World Jewish Congress, nach New York gefolgt. Nahum Goldmann, der seine Jugend- und Studienjahre in Deutschland verbracht hatte, war selbst nur durch einen glücklichen Zufall der Deportation entkommen. In New York wollte man beraten, wie dem Angebot Konrad Adenauers, Entschädigung für NS-Unrecht zu zahlen, am besten entsprochen werden könnte. Die Repräsentanten der anwesenden Organisationen verständigten sich auf die Gründung eines Dachverbandes, der mit der Bundesregierung über materielle Entschädigung für jüdische NS-Opfer verhandeln sollte. Dies war die Geburtsstunde der Claims Conference, deren erster Präsident Nahum Goldmann wurde. Von der Bundesrepublik Deutschland materielle Entschädigung für die Überlebenden der Shoah zu erwirken, war der einzige Gründungsauftrag der Claims Conference. Ihr Auftrag bestand und besteht bis heute darin, die Interessen der Holocaust-Überlebenden gegenüber Deutschland zu vertreten. Dieser exklusive Auftrag manifestiert sich im Namen, den sich die Organisation 1951 gab: »Conference on Jewish Material Claims Against Germany«. Man unterstrich damals den Aspekt des Materiellen. Über ethisch-moralische Belange wollten und konnten jüdische Vertreter mit Deutschen so kurz nach dem Holocaust nicht sprechen. Was zunächst als kurzfristig angelegtes Gremium gedacht war – die Bezeichnung »Conference« deutet dies an –, erwies sich als durchaus langfristige Einrichtung. Inzwischen gibt es die Claims Conference seit bald 70 Jahren. Von An-

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fang an basierte ihre Arbeit auf zwei Säulen, die auch heute noch Bestand haben: humanitäre Hilfe und Unterstützung für Holocaust-Überlebende zu leisten und individuelle Entschädigungszahlungen für erlittenes NS-Unrecht zu erwirken. Die Verhandlungen im holländischen Wassenaar führten zu den 1952 vereinbarten Luxemburger Abkommen. Diese beinhalten zwei Protokolle, die die Claims Conference betreffen. Im ersten Protokoll ist geregelt, dass der Claims Conference 450 Millionen D-Mark für die Unterstützung und Wiederansiedlung von jüdischen Holocaust-Überlebenden außerhalb Israels zur Verfügung gestellt werden. Im zweiten Protokoll verpflichtet sich die Bundesrepublik Deutschland zu einer gesetzlichen Regelung zur individuellen Entschädigung für erlittenes NS-Unrecht. Anfang der 1950er Jahre lebten noch Zehntausende von heimatlosen und entwurzelten Holocaust-Überlebenden als Displaced Persons in DP-Camps in Deutschland und Österreich; zumeist junge Leute, die den Holocaust oft ohne oder nur mit unterbrochener Schul- und Berufsausbildung überlebt hatten. In dem starken Bedürfnis nach Zuwendung und Geborgenheit gründeten sie sehr jung und sehr rasch Familien. Ihnen Unterstützung für den Start in ein neues Leben zu bieten, war eine der dringlichsten Aufgaben. Ausbildungs- und materielle Hilfsmaßnahmen standen dabei im Vordergrund. Darüber hinaus galt es, die zerstörten jüdischen Gemeinden im kriegsverwüsteten Europa neu aufzubauen und Kultus und Gemeindeleben wieder zu etablieren. 1956 trat schließlich das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) als gesetzliche Grundlage für die Entschädigung von NS-Unrecht in Kraft. Gedacht war das BEG zunächst ausschließlich für deutsche Verfolgte und deren Nachkommen. Immerhin hatte mehr als die Hälfte der deutschen Juden bis Kriegsbeginn aus dem Deutschen Reich fliehen können. Sie alle hatten neben Jahren der Verfolgung, Diskriminierung und Ausgrenzung Verluste an Vermögen und Schäden an Gesundheit, Freiheit, Leben, Ausbildung und Beruf erfahren und Familienangehörige, Freunde und Bekannte in den mörderischen Händen der Nationalsozialisten zurücklassen müssen. Sie waren die originäre Zielgruppe des BEG. Jene Überlebenden, die nach der erlittenen Verfolgung nicht mehr in ihre Geburtsländer zurückgekehrt waren, hätten damit nach dem BEG keine Entschädigungsansprüche gehabt. Über den Nachweis der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis waren jedoch viele von ihnen in den Geltungsbereich des Gesetzes einbezogen. Ausdrücklich waren auch die in Deutschland lebenden Displaced Persons nach dem BEG zur Entschädigung von Verfolgungsschäden anspruchsberechtigt. Die Staatsangehörigen der von Nazi-Deutschland besetzten westeuropäischen Nachbarländer waren von Leistungen des BEG ausgeschlossen. Sie sollten mittels bilateraler Globalabkommen zwischen Deutschland und dem jeweiligen Staat pauschal abschließend entschädigt werden. Zuständig waren Regierungsstellen in den jeweiligen Staaten, die die Kriterien der Verteilung festlegen und über die von Deutschland erhaltenen Entschädigungssummen für ihre verfolgten Staatsangehörigen und deren Erben frei verfügen konnten. Nicht immer

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erhielten die NS-Opfer die ihnen zugedachten Leistungen, manche nur in sehr geringem Umfang. Bei der Beantragung von Entschädigungszahlungen nach dem BEG waren die Überlebenden oft mit Beamten und Ärzten konfrontiert, die zuvor für das NS-Regime gearbeitet und ihre Karrieren nahtlos hatten fortsetzen können. Die Unterstellung betrügerischer Absichten der Verfolgten war an der Tagesordnung und die Antragsteller wurden mit Misstrauen und Herablassung behandelt. Es muss für die Überlebenden der Shoah ein unvorstellbares Unbehagen und eine Erniedrigung gewesen sein, sich bei Gesundheitsuntersuchungen vor Deutschen zu entblößen, die zuvor an anderer Stelle auf ihre Vernichtung hingewirkt hatten. Neben einer Fülle von Detailproblemen besaß das BEG eine zentrale Gerechtigkeitslücke, die die Grundlage der Ungleichbehandlung der NS-Opfer in Ost und West, also diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs, in den kommenden Jahrzehnten zementieren sollte. Unter dem Vorzeichen des »Kalten Krieges« sollten nach dem BEG keine bundesdeutschen Entschädigungsgelder in Länder gezahlt werden, mit denen Deutschland keine diplomatischen Beziehungen unterhielt, also Länder, die dem Warschauer Pakt angehörten. Die kommunistischen Systeme sollten nicht durch Devisenzahlungen aus dem Westen unterstützt werden. Die Konsequenzen hatten die Überlebenden zu tragen, die wie ihre im Westen lebenden Schicksalsgenossen von den Nazis verfolgt worden waren. Jüdische NS-Verfolgte, die in späteren Jahren in den Westen gelangten, konnten wegen der zum 31. Dezember 1969 endgültig abgelaufenen Antragsfrist des BEG keinen Anspruch auf Rückerstattung und / oder Entschädigung für NS-Unrecht mehr geltend machen. Die Claims Conference wies in steten Gesprächen mit der Bundesregierung immer wieder auf diese und andere Mängel hin. Hinweise und Kritik seitens der Claims Conference führten zu einer Vielzahl von Novellierungen und Durchführungsverordnungen, die eine Erweiterung des Berechtigtenkreises erwirkten. Die Frage der Gleichbehandlung der Opfer in Ost und West jedoch wurde im Rahmen des BEG nicht gelöst und zieht sich als roter Faden durch die Geschichte der bundesdeutschen Entschädigung von NS-Unrecht. Wichtige Zäsuren und Änderungen wurden in der Regel durch makropolitische Entwicklungen wie die Ost-West-Entspannung und den Mauerfall bewirkt. Es gilt an dieser Stelle die drei eingangs beschriebenen Verfolgungsschicksale in Erinnerung zu rufen. Nur eine von ihnen, die Auschwitz-Überlebende Trude S., konnte nach jahrelangem Ringen, zahllosen ärztlichen Attesten und der Anerkennung auch psychischer Schäden im Rahmen des BEG schließlich eine laufende Rente erhalten. Wassili M. und Eugenia Y. erhalten aufgrund ihrer Wohnsitzvoraussetzungen  – sie leben in Kiew respektive Winnyzja  – keinerlei Entschädigung. Der deutsche Einigungsvertrag oder Zwei-Plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 wurde nach internationalem Verständnis einem Friedensvertrag

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gleichgestellt und schaffte damit auch die Grundlage für Verhandlungen zur Entschädigung von zivilen Zwangsarbeitern unter der NS -Herrschaft, die bis dahin keine Entschädigung für die geleistete Zwangsarbeit erhalten hatten. Die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter, jüdischer wie nichtjüdischer, wurde zu einem immer drängenderen Thema, das auch von der internationalen Öffentlichkeit angemahnt wurde. Dem immer stärker werdenden öffentlichen Druck durch Sammelklagen gegen deutsche Unternehmen in den USA und Klagen in Deutschland konnte sich Deutschland nicht länger entziehen. Mit der Gründung der »Stiftungsinitiative der Deutschen Wirtschaft« im Februar 1999 signalisierten deutsche Unternehmen Gesprächsbereitschaft. Schon bald wurde klar, dass der NS-Staat und die deutsche Industrie bei der Beschäftigung von Zwangsarbeitern Hand in Hand gearbeitet hatten und die Übergänge zwischen staatlicher und privatwirtschaftlicher Zwangsarbeit oft fließend waren. Folgerichtig erklärte sich die SPD-geführte Regierung 1999 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder bereit, 50 Prozent des Kapitals zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter*innen zur Verfügung zu stellen. Die übrigen 50 Prozent sollten von der deutschen Wirtschaft aufgebracht werden. Die beiden Verhandlungsführer Stuart Eizenstat und Otto Graf Lambsdorff führten im Dezember 1999 eine Einigung herbei. Diese bestand in der Errichtung einer Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ), die je zu gleichen Teilen von Industrie und Regierung mit einem Kapital von zehn Milliarden D-Mark ausgestattet wurde. Bis zum Jahr 2006 hat die Bundesstiftung EVZ über ihre sieben Partnerorganisationen Entschädigungen an rund 1,6 Millionen ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ausgezahlt: vornehmlich nichtjüdische Zwangsarbeiter aus Osteuropa, nur zehn Prozent der Leistungsberechtigten waren jüdisch. Und unsere drei Überlebenden? Auf der Grundlage ihrer Anerkennung als ­Auschwitz-Überlebende erhielt Trude S. eine Einmalzahlung für geleistete Zwangsarbeit. Wassili M., der im Versteck überlebt hat, und Eugenia Y. als sogenannter Fluchtfall, waren nicht für eine Entschädigung berechtigt. Die große Gerechtigkeitslücke im deutschen Entschädigungsrecht, nämlich die Weigerung, Entschädigungen nach Osteuropa zu zahlen, wurde durch die NS -Opfer, die im Zuge der Ost-West-Entspannung nach 1969 insbesondere aus der Sowjetunion in den Westen immigrierten, besonders deutlich. Angesichts dieser Situation drängte die Claims Conference Deutschland wieder verstärkt an den Verhandlungstisch. Die deutsche Regierung weigerte sich hartnäckig, das BEG neu zu öffnen, und verschloss sich allen weiteren Leistungen. Was zunächst aussichtslos erschien, fand nach zähen Verhandlungen 1980 in der Vereinbarung über den sogenannten Hardship Fund einen vorläufigen Abschluss. Der Hard­ ship Fund, der bis heute aktiv ist, gewährt eine außergesetzliche, humanitäre

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Einmalbeihilfe in Höhe von 5.000 D-Mark bzw. 2.556 Euro an jüdische NS Verfolgte, die aus Osteuropa in die westliche Hemisphäre ausgewandert sind. Die deutsche Regierung, die zu diesem Zeitpunkt den Personalabbau in den Entschädigungsbehörden längst offensiv betrieben hatte, wollte die Verwaltung des Hardship Fund nicht selbst übernehmen. Sie forderte die Claims Conference auf, den Fonds zu verwalten. Das war eine ebenso ungewöhnliche wie für die Claims Conference nicht unproblematische Situation. Eine jüdische Organisation war angehalten, die Anträge jüdischer NS-Verfolgter nach Kriterien, die mit dem Bundesfinanzministerium vereinbart worden waren, entgegenzunehmen, zu bearbeiten und zu entscheiden. Entscheiden bedeutet neben der Anerkennung von Leistungsberechtigungen auch deren Ablehnung. Jede(r) NS-Verfolgte, der / die gelitten hat, jedoch aufgrund der Berechtigungskriterien nicht leistungsberechtigt ist, fühlt sich ungerecht behandelt. Wenn die Ablehnung zudem von einer jüdischen Organisation ausgesprochen wird, wiegt sie aus Sicht des Antragstellenden umso schwerer. Und wie sieht es für unsere drei Beispielfälle aus? Da der Bezug anderer Ent­ schädigungsleistungen aus deutscher Quelle eine Antragstellung im Hardship Fund ausschließt, kann Trude S. diese Einmalzahlung nicht erhalten. Wassili M. und Eugenia Y. sind trotz Erfüllung der Verfolgungskriterien aufgrund ihres Wohnsitzes in Osteuropa ebenfalls nicht für eine Beihilfe aus dem Hardship Fund berechtigt. Der Fall des Eisernen Vorhangs hatte als globales makropolitisches Ereignis weitreichende Folgen für die Frage der Entschädigung von NS -Unrecht. In das internationale Ringen um die deutsche Wiedervereinigung brachte die Claims Conference die Frage der unterbliebenen Entschädigung und Restitution seitens der DDR und die Regelung offener Reparationsfragen ein. Sie forderte laufende Entschädigungsleistungen für jüdische Schwerstverfolgte, die aufgrund ihrer nicht erfüllten Wohnsitzvoraussetzungen von Leistungen nach dem BEG ausgeschlossen waren. Einer Öffnung des BEG, wie sie die Claims Conference erneut gefordert hatte, wurde wiederum eine Absage erteilt. Basierend auf Artikel 2 des Einigungsvertrages konzedierte die Bundesregierung jedoch die Einrichtung eines neuen, außergesetzlichen, humanitären Fonds. Im Rahmen dieses sogenannten Artikel2-Fonds können finanziell bedürftige jüdische Antragsteller, die Inhaftierung im KZ oder im Ghetto, Leben im Versteck, in der Illegalität oder unter falscher Identität nachweisen können, eine monatliche Beihilfe von derzeit 513 Euro erhalten. Doch auch jetzt waren die Verfolgten mit Wohnsitz in Osteuropa von jeglichen Leistungen aus diesem Fonds ausgeschlossen. Auch die beiden uns schon bekannten NS -Verfolgten Wassili M. aus Kiew und Eugenia Y. aus Winnyzja können keine Zahlungen aus diesem Fonds erhalten und bleiben weiterhin unentschädigt. Der Grundsatz, dass nur einmal aus deutscher

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Quelle Entschädigung gezahlt wird, schließt Trude S. von einer A2-Leistung aus, da sie eine BEG -Entschädigung erhält. Das änderte sich erst 1998, als die Claims Conference erfolgreich den Mittel- und Osteuropa-Fonds (CEEF) verhandeln konnte, der nun endlich auch Zahlungen an jüdische Schwerstverfolgte mit Wohnsitz in Osteuropa ermöglichte. Die Zulassungskriterien waren die gleichen wie beim Artikel-2-Fonds, die Höhe der Zahlung betrug jedoch nur 50 Prozent. Führte die deutsche Seite vor allem die höhere Kaufkraft im Osten als Argument an, so empfanden die osteuropäischen Überlebenden den reduzierten Zahlungsbetrag als Fortsetzung der etablierten Ungleichbehandlung. 1999, 54 Jahre nach Kriegende, kann Wassili M. nun endlich eine Entschädigung aus dem Mittel- und Osteuropa-Fonds erhalten. Sein Überleben als verstecktes jüdisches Kind im Waisenhaus berechtigt ihn zu einer laufenden Beihilfe. Der Wermutstropfen dabei: Antragsteller mit Wohnsitz in Osteuropa erhalten nur die Hälfte der Rente, die in der westlichen Welt gezahlt wird. Eugenia Y. geht weiterhin leer aus, weil sie als Fluchtfall die Verfolgungskriterien nicht erfüllt. Erst 2012 erfolgte die Angleichung der laufenden Renten des Mittel- und Osteuropa-Fonds an den Beihilfebetrag des Artikel-2-Fonds. 2013 stimmte die Bundesregierung der von der Claims Conference seit 1980 geforderten Erweiterung des Hardship Fund für Osteuropa zu. Mehr als 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war damit die Ungleichbehandlung der Opfer in Ost und West beendet, die durch das BEG in den 1950er Jahren festgeschrieben worden war. 2015 – wir befinden uns im Jahr 70 nach dem Ende des Holocaust – bekommt Eugenia Y. endlich eine Einmalzahlung aus dem Hardship Fund für Osteuropa. Da die Bedarfslage der Shoah-Überlebenden sich mit steigendem Alter in den 70 Jahren seit Kriegsende grundlegend geändert hat, hat auch die Claims Conference reagiert, indem sie Fürsorgeprogramme für betagte Überlebende ins Leben gerufen hat. Wie eingangs erläutert, galten die Sorgen der zumeist jungen Überlebenden in den ersten Jahrzehnten nach dem Holocaust dem Aufbau einer eigenen Familie und einer beruflichen Existenz. Das haben die einzelnen NS-Opfer mit sehr unterschiedlichem Erfolg und also auch mit unterschiedlichsten Folgen für die Lebenssituation im Alter erreicht. Manchem ist der familiäre und berufliche Neuanfang in beeindruckender Weise gelungen. Das gilt aber bei weitem nicht für alle Überlebenden, die in den westlichen Ländern relativ gute Rahmenbedingungen auch für einen beruflichen Neuanfang vorfanden. Unter lebenslangen Traumata leidend, haben aber viele auch bei vergleichsweise günstigen Ausgangsbedingungen den Weg in eine gesicherte Existenz nicht finden können. Das hat gravierende Folgen für die materielle Absicherung des Lebensabends.

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Insbesondere in den Staaten des ehemaligen Ostblocks, aber auch in Israel, den USA und anderen Ländern, verbringen viele Holocaust-Überlebende ihren Lebensabend unter dramatisch schlechten Existenzbedingungen. Weltweit leben zehntausende Holocaust-Überlebende unterhalb der Armutsgrenze; allein in Israel, das die Integration von hunderttausenden Immigranten aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion zu bewältigen hat, leben mehr als 70.000 betagte Überlebende in Armut. Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa kollabierten auch die bestehenden Sozialsysteme. Im Fall von Pflegebedürftigkeit potenziert sich die Armut deshalb in den osteuropäischen Ländern um ein Vielfaches, da die staatlichen Versorgungssysteme  – sofern sie überhaupt existieren – ausgesprochen defizitär sind. Arzt- und Krankenhauskosten, Medikamente sowie therapeutische und pflegerische Maßnahmen müssen meist in vollem Umfang von den Betroffenen selbst getragen werden. Die staat­ lichen Kleinst- und Mindestrenten reichen kaum für die Grundversorgung, geschweige denn für den erhöhten Bedarf an medizinischer und pflegerischer Betreuung im Alter. Unter diesen Umständen wirken sich das häufig fehlende familiäre Umfeld und die soziale Isolation bei Holocaust-Überlebenden besonders gravierend aus. Die Anforderungen an die Altersbetreuung von Holocaust-Überlebenden sind aufgrund der Spätfolgen der NS-Verfolgung unter psychologischen, soziologischen und demografischen Aspekten besonderer Art. Gründe dafür sind: – Ein familiäres Umfeld ist in Folge der Ermordung ganzer weit verzweigter Familienverbände gar nicht oder nur rudimentär vorhanden. – Lang anhaltende hochgradige Mangelernährung, körperliche Auszehrung und Kälte während der Verfolgung rufen physische Erkrankungen hervor, die erst in fortgeschrittenem Alter zutage treten (Osteoporose, Krebserkrankungen usw.). – Die Trennung und Ermordung von Angehörigen und psychische Extrembelastungen wie dauerhafte Angstzustände während der Verfolgung bereiten den Boden für psychische Folgeleiden (z. B. posttraumatisches Stresssyndrom, erhöhte Suizidraten). – In vielen Fällen ist es nach der gewaltsamen Unterbrechung der schulischen oder beruflichen Ausbildung bzw. der eingeschlagenen Laufbahn nicht mehr gelungen, sich beruflich neu zu etablieren und für eine hinreichende Alterssicherung zu sorgen, sodass horrende Versorgungslücken klaffen. Soziologisch ist seit langem erwiesen, dass der Verbleib im vertrauten Wohnumfeld den Ansprüchen betagter pflegebedürftiger Personen entgegenkommt. Das gilt in besonderer Weise für Holocaust-Überlebende. Deshalb spricht vieles dafür, die Betagten so lange wie möglich in ihrer häuslichen Umgebung zu versorgen. Die Claims Conference fördert deshalb mit dreistelligen Millionenbeträgen pro Jahr Institutionen, die soziale Dienstleistungen für bedürftige Holocaust-Überlebende anbieten. Die Leistungen im Bereich der Sozialfürsorge

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umfassen Maßnahmen der häuslichen Pflege, medizinische Versorgung sowie Essen auf Rädern, Suppenküchen, Lebensmittelpakete, Tagesbetreuung oder behindertengerechte Umbauten, um einige Beispiele zu nennen. Die Mittel stammen bisher zum Teil aus dem Verkauf von nicht beanspruchtem jüdischem Vermögen oder Entschädigungszahlungen für nicht restituierbare Vermögenswerte in den östlichen Bundesländern. Die Claims Conference hat es immer als moralischen Imperativ verstanden, die Erlöse der Nachfolgeorganisation – also der Organisation, die nach dem Vermögensgesetz die unbeanspruchten jüdischen Vermögenswerte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR erhalten sollte – für bedürftige Holocaust-Überlebende einzusetzen, um ihnen einen Lebensabend in Würde zu ermöglichen. Angesichts rückläufiger Einnahmen der Nachfolgeorganisation steuert heute die Bundesregierung den wesentlichen Anteil für häusliche Betreuung bei. Sie anerkennt so ihre Verantwortung für die Lebenssituation betagter und bedürftiger jüdischer NS-Opfer. Jeder Holocaust-Überlebende wird mit großem Nachdruck bestätigen, dass Leid und Verluste durch Entschädigungszahlungen – sprich Geld – nie wieder gutgemacht werden können. Wenn ein Schadensverursacher eine Entschädigungsleistung entrichtet, so bedeutet dies jedoch, dass er anerkennt, Unrecht begangen und Schaden zugefügt zu haben. In vielen Gesellschaften ist das ein tradierter Moralkodex und entspricht gängiger Praxis. Der moralische Impetus, der für die Bereitschaft zur Entschädigung notwendig ist, materialisiert sich gewissermaßen durch die Leistung. Die Erfahrungen der Claims Conference bei der Bearbeitung von Entschädigungsanträgen zeigen, dass nur derjenige sich als Verfolgter anerkannt fühlt, der auch eine Entschädigungsleistung erhält. Ein NS-Opfer, das geschädigt wurde und gelitten hat, das aber aufgrund von Zulassungsvoraussetzungen – zum Beispiel wegen zu geringer Haftzeiten – von Zahlungen ausgeschlossen wird, fühlt sich weder gerecht behandelt, noch als Verfolgter anerkannt; denn er oder sie wurde verfolgt und hat gelitten. Es zählt also der moralische Impetus, der mit einer Entschädigungsleistung verbunden ist; der materielle Aspekt ist wichtig, aber letztlich sekundär. Dennoch tragen Entschädigungszahlungen in vielen Fällen zu einer spürbaren Verbesserung misslicher ökonomischer Bedingungen bei. Es macht für die Überlebenden in Osteuropa einen großen Unterschied, ob sie eine laufende Beihilfe erhalten oder ob sie sich mit den staatlichen Kleinstrenten, die kaum zum Leben reichen, über Wasser halten müssen. Auch Einmalzahlungen können unter Umständen eine Wende dramatisch schlechter Lebensbedingungen durch ein bisschen mehr Komfort bedeuten. Langfristig betrachtet, sind es jedoch die Renten und laufenden Beihilfen, die spürbar dazu beitragen, dass betagte HolocaustÜberlebende einen Lebensabend unter würdigen Bedingungen verbringen können. Solange es Überlebende gibt, die schlecht versorgt sind und in Armut leben, ist die Kernaufgabe der Claims Conference nicht abgeschlossen.

Werner Renz

NS-Prozesse in Geschichte und Gegenwart Das in den späten 1950er Jahren von vielen Deutschen alsbald erhoffte Ende der so überaus zögerlich einsetzenden systematischen Verfolgung und Ahndung der NS -Verbrechen trat nicht ein. Die 1958 gegründete »Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen«1 konnte entgegen der Erwartung so mancher Politiker und Juristen ihre Arbeit nicht Mitte der 1960er Jahre einstellen. Zunächst verschob der Bonner Gesetzgeber im Jahr 1965 den Beginn der Verjährungsfrist für Mord (20 Jahre) vom Kriegsende auf das Gründungsjahr der Bundesrepublik. Dadurch konnte vier weitere Jahre ermittelt werden. 1969 verlängerte der Bundestag die Frist um zehn Jahre, 1979 hob er sie gänzlich auf. Mord und Mordbeihilfe ließen sich nunmehr ohne zeitliche Begrenzung verfolgen und ahnden. Obgleich die Volksvertreter mit knapper Mehrheit mit Blick auf die NS -Verbrechen den Stimmen folgten, die eine zeitlich unlimitierte Fortsetzung der justiziellen Aufarbeitung der Vergangenheit forderten, ist die Ahndung der nationalsozialistischen Verbrechen durch die bundesdeutsche Justiz keine Erfolgsgeschichte.2 Von den circa 6.500 wegen NS-Verbrechen verurteilten Angeklagten wurden nur 169 als Täter bzw. Mittäter qualifiziert und wegen Mordes zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt.3 Angesichts von etwa 200.000 bis 250.000 Holo1 Siehe die Publikationen von Adalbert Rückerl (Hg.), NS-Prozesse. Nach 25 Jahren Strafverfolgung: Möglichkeiten – Grenzen – Ergebnisse, Karlsruhe 1971; Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945–1978. Eine Dokumentation, Heidelberg 1979; NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, Heidelberg 1982, sowie die grundlegende Studie von Kerstin Hofmann, »Ein Versuch nur  – immerhin ein Versuch«. Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg unter der Leitung von Erwin Schüle und Adalbert Rückerl (1958–1984), Berlin 2018. 2 Siehe zu den ersten zwei Dezennien der Bundesrepublik die grundlegenden Studien von Edith Raim, Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945–1949, München 2013, und Andreas Eichmüller, Keine Generalamnestie. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik, München 2012. 3 Siehe die »Verurteilungsstatistik« des Bundesjustizministeriums zum 01.01.2012, veröffentlicht im »Informationsblatt« der Zentralen Stelle, Stand: 01.01.2016, S. 11. Siehe ebenso die Broschüre »Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. 60 Jahre Zentrale Stelle in Ludwigsburg seit 1. Dezember 1958« (hg. von der Zentralen Stelle, Ludwigsburg, Stand: 1. Juli 2018, S. 11), abrufbar unter: http:// www.zentrale-stelle.de/pb/site/jum2/get/documents/jum1/JuM/Zentrale%20Stelle%20 Ludwigsburg/Brosch%C3%BCre%20ZSt%2001.07.2018-DE.pdf (zuletzt aufgerufen am 16.05.2020).

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caust-Tätern, die »die Verfolgung und Tötung« von sechs Millionen Juden und Zehntausenden von Sinti und Roma »vorbereiteten, organisierten, ausführten oder unterstützten«,4 ist eine überaus miserable Bilanz zu ziehen.5 Wie sehen die Zahlen im Fall von Auschwitz aus, des Konzentrations- und Vernichtungslagers, das im Geschichtsbewusstsein symbolisch für die Shoah steht? In Auschwitz und seinen rund 40 Nebenlagern waren im Verlauf von nahezu fünf Jahren (von Mai 1940 bis Januar 1945) circa 8.000 SS-Männer und ungefähr 200 SS-Aufseherinnen und Nachrichtenhelferinnen tätig gewesen.6 Nach Schätzungen haben mindestens 6.000 vormalige Angehörige des Auschwitz-Personals den Zweiten Weltkrieg überlebt. Doch nur etwa 800 SS-Leute wurden strafrechtlich belangt. In Polen standen rund 670 Angeklagte vor Gericht, nahezu alle wurden zu meist kurzen Freiheitsstrafen verurteilt.7 Vor alliierten Militärtribunalen waren es ein paar Dutzend.8 Vor bundesdeutschen Richtern hatten sich nur 61 Auschwitz-Täter zu verantworten, davon 45 SS-Männer und 16 Funktionshäftlinge.9 Neun einstige SS-Leute und fünf ehemalige Häftlinge wurden als Mörder zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Die Übrigen kamen als »Gehilfen« mit zeitigen Freiheitsstrafen davon oder wurden freigesprochen.10

Erstes Fazit Die justizielle Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ist trotz der 1979 erfolgten Aufhebung der Verjährung eine Geschichte des fehlenden politischen Willens und trotz aller vereinzelt durchaus vorhandenen Anstrengungen geschichts4 Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933–1945, Darmstadt 2003, S. 154. 5 Siehe auch die Darstellung von Hans-Christian Jasch / Wolf Kaiser, Der Holocaust vor deutschen Gerichten. Amnestieren, Verdrängen, Bestrafen, Ditzingen 2017. 6 Siehe Aleksander Lasik, Die SS-Besatzung des KL Auschwitz, in: Wacław Długoborski / ​ Franciszek Piper (Hg.), Auschwitz 1940–1945. Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, 5 Bde., übers. aus dem Polnischen von Jochen August, Bd. 1: Aufbau und Struktur des Lagers, Oświęcim 1999, S. 321–384. 7 Aleksander Lasik, Verfolgung, Verurteilung und Bestrafung der Mitglieder der SSTruppe des KL Auschwitz. Verfahren. Fragen zu Schuld und Verantwortung, in: Hefte von Auschwitz 21 (2000), S. 221–298. Lasik führt für Polen 30 vollstreckte Todesurteile an (26 Männer und vier Frauen). 8 Zum Personal von Auschwitz grundlegend: Ernst Klee, Auschwitz. Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde. Ein Personenlexikon, Frankfurt a. M. 2013. 9 Häftlinge, die von der Lager-SS gezwungen waren, bestimmte Funktionen im Lager zu übernehmen, mithin der SS als Handlager zu dienen, werden »Funktionshäftlinge« genannt. Diese Häftlinge fungierten z. B. als Kapos, als Block- und Lagerälteste, als Schreiber, als Pfleger (im Häftlingskrankenbau) usw. 10 Siehe Anhang: Prozesse in der Bundesrepublik gegen SS-Personal und Funktionshäftlinge von Auschwitz, in: Werner Renz, Auschwitz vor Gericht. Fritz Bauers Vermächtnis und seine Missachtung, Hamburg 2018, S. 275–283.

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bewusster und nicht vergangenheitsvergessener Strafjuristen eine Geschichte des Scheiterns: nicht nur von Politik und Justiz, sondern auch von Strafrechts­ wissenschaft, Zeitgeschichtsforschung und deutscher Gesellschaft. Im vorliegenden Beitrag ist nur von Politik und Justiz die Rede.

I.

Zur Geschichte bundesdeutscher NS-Prozesse

Nahezu 15 Jahre gingen ins Land der Täter, der Mitläufer und der Zuschauer, bis bundesdeutsche Staatsanwaltschaften erstmals systematische Ermittlungen gegen Holocaust-Täter einleiteten. Obschon die Strafverfolgungsbehörden von Amts wegen (Legalitätsprinzip) verpflichtet waren, die von Deutschen begangenen Verbrechen aufzuklären, blieben die meist im besetzten Polen und in der Sowjetunion verübten Massenmorde weitgehend außer Verfolgung. Erst mit Gründung der Zentralen Stelle trat eine Wende ein. Bis dahin hatten die Staatsanwaltschaften nur punktuell ermittelt. Zumeist kamen vor 1958 Verfahren nur zustande, wenn Überlebende, mehr oder weniger zufällig mit Tätern konfrontiert, Anzeige erstattet hatten. Nicht umsonst war vom »Staatsanwalt Zufall« die Rede. Regten sich in den ersten Jahren nach dem Mai 1945 die wenigen in Deutschland verbliebenen Opfer nicht, blieb die Justiz untätig. Ein Grund für die fehlenden Ahndungsbemühungen war freilich auch, dass sich die deutsche Gerichtsbarkeit zunächst nur auf Verbrechen von Deutschen an Deutschen und an Staatenlosen beschränkte. Seit Anfang der 1960er Jahre wurden endlich, durch die Vorermittlungen der Zentralen Stelle in Gang gebracht, Prozesse gegen Personal der Vernichtungslager durchgeführt. Der Bonner Chełmno-Prozess (26.11.1962 bis 30.03.1963) gegen zwölf Angeklagte, der am Landgericht Düsseldorf durchgeführte Treblinka-Prozess (12.10.1964 bis 03.09.1965) gegen zehn Angeklagte, der überaus unbefriedigende Bełżec-Prozess vor dem Landgericht München  I (18.01. bis 21.01.1965) gegen Josef Oberhauser und der Sobibór-Prozess in Hagen (06.09.1965 bis 20.12.1966) gegen zwölf vormalige SS-Angehörige des Vernichtungslagers sind zu nennen.11 Mit Blick auf die späten Prozesse gegen Oskar Gröning (Landgericht Lüneburg, 21.04. bis 15.07.2015) und Reinhold Hanning (Landgericht Detmold, 11.02. bis 17.06.2016) ist folgender Hinweis wichtig: Die Gerichte betrachteten in den genannten vier Prozessen das Verbrechensgeschehen in den Todeslagern als eine Tat, an der beteiligt war, was immer ein Angehöriger des Lagerpersonals für 11 Siehe hierzu: Adalbert Rückerl (Hg.), Nationalsozialistische Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse. Belzec, Sobibor, Treblinka, Chelmno. Mit einem Vorwort von Martin Broszat, München 1977. Im Unterschied zum Frankfurter Auschwitz-Prozess gibt es über diese bedeutenden Prozesse bis heute keine Monografien. Siehe aber: Sara Berger, Experten der Vernichtung. Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka, Hamburg 2013, S. 363–380, und Stephan Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust. Bełżec, Sobibór, Treblinka und die Aktion Reinhardt, München 2017, S. 156–167.

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Tätigkeiten ausgeübt hatte. So hat das Landgericht Bonn in seinem Urteil vom März 1963 festgestellt, dass »die einzelnen […] Tötungen in jeder der beiden« Zeitperioden des Gaswagenlagers Chełmno »rechtlich eine Handlung im Sinne einer gleichartigen Tateinheit«12 darstellen. Auch im Treblinka-Prozess war das Gericht im September 1965 der Ansicht, dass die Massentötungen »auf einem einzigen Befehl der Haupttäter«13 Hitler, Himmler usw. beruhten, sodass »die einzelnen auf diese Willensbetätigung zurückgehenden […] Massentötungen […] rechtlich eine Handlung im Sinne einer gleichartigen Tateinheit«14 darstellen. Seine Rechtsansicht stützte das Düsseldorfer Landgericht mit ausdrücklichem Hinweis auf das Bonner Urteil und seine Bestätigung durch den Bundesgerichtshof und führte aus: »Massentötungen in einem Vernichtungs­lager, die während eines bestimmten, nicht unterbrochenen Zeitraumes aufgrund eines alle Einzelheiten umfassenden einzigen Befehls durchgeführt worden sind«, stellen »rechtlich eine einzige Handlung«15 dar. Auch in den Verfahren gegen Personal der Vernichtungslager Bełżec und Sobibór haben das Landgericht München I und das Landgericht Hagen diese Rechtsansicht zum Ausdruck gebracht.16 Der Bundesgerichtshof führte 1964 in seiner Entscheidung zum Bonner Chełmno-Urteil mit Blick auf das Revisionsvorbringen einiger Angeklagten, ihre vorgebliche »neutrale« Tätigkeit als Wachposten sei nicht als Mordbeihilfe zu qualifizieren, Folgendes aus: »Nach den Feststellungen […] haben die Angeklagten allein durch ihre Zugehörigkeit zu dem Sonderkommando, das eigens für die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung Polens […] gebildet worden war, bei der Tötung der Opfer Hilfe geleistet.« Und: »Die Art der Aufgaben,

12 LG Bonn (8 Ks 3/62), Urteil vom 30.03.1963, in: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–2011 (JuNSV), hg. von C. F. Rüter et al., Amsterdam 1968 ff., Bd. XXI, S. 332. 13 LG Düsseldorf (8 I Ks 2/64), Urteil vom 03.09.1965, in: JuNSV, Bd. XXII, S. 176. 14 Ebd., S. 177. 15 Ebd. – An anderer Stelle des Urteils vom 03.09.1965 heißt es: »Die befehlsmäßige Beteiligung der Angeklagten […] an der Massenvernichtung im Lager Treblinka beruhte auf einem Tatentschluss, da alle diese Angeklagten von Anfang an entschlossen waren, bis zu einer Versetzung ununterbrochen in Treblinka tätig zu sein.« (JuNSV, Bd. XXII, S. 187) Die »Beihilfe liegt also in einem Gesamtverhalten, das durch den Aufenthalt in Treblinka zu einem einheitlichen Lebensvorgang zusammengefasst wird und das daher bei natürlicher Betrachtungsweise alle Einzelakte zu einer einheitlichen Handlung im Sinne des § 73 StGB zusammenfügt. Das Gesamtverhalten dieser Angeklagten ist deshalb rechtlich als eine Handlung anzusehen.« (ebd.) 16 LG München I (110 Ks 3/64), Urteil vom 21.01.1965, in: JuNSV, Bd. XX, S. 641, und LG Hagen (11 Ks 1/64), Urteil vom 20.12.1966. Im Hagener Urteil heißt es: »Die Massentötungen im Rahmen der ›Aktion Reinhard[t]‹ beruhen, soweit sie sich auf das Vernichtungslager Sobibor beziehen, auf einer umfassenden Befehlsplanung der Haupttäter […]«. Die »einzelnen […] vom Frühjahr 1942 bis zum Herbst 1943 durchgeführten Massentötungen« in Sobibór stellen »rechtlich eine Handlung im Sinne einer gleichartigen Tateinheit gemäss § 73 StGB dar« (ebd., Bd. XXV, S. 216).

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die ihnen bei der Durchführung der einzelnen Aktionen oblagen, ist […] ohne Bedeutung.«17 Im Bełżec-Prozess gegen Josef Oberhauser, der im Rahmen der »Aktion Reinhardt«, der Vernichtung der polnischen Juden in den drei Todeslagern Treblinka, Sobibór und Bełżec, eine überaus wichtige organisatorische Rolle gespielt hatte, wertete das Gericht seine Beschaffung von Baumaterial für die Errichtung von Vergasungsanlagen als Mordbeihilfe.18 Im Sobibór-Prozess heißt es zu den Angeklagten, die objektiv Mordbeihilfe geleistet hatten: »Da, wo sie in der Lagerorganisation eingesetzt waren, haben sie […] alle das Massenmorden an den Juden durch ihre funktionelle Mitwirkung ursächlich in unmittelbarer Tatnähe fördernd mit ermöglicht […]«.19 So betrachtete das Gericht zum Beispiel das Inganghalten der Lageradministration und die Beschaffung von Verpflegung für das Lagerpersonal als »vernichtungsfördernde[n] Dienst«20, also als Mordbeihilfe. Die in den Verfahren zugrunde gelegte Rechtsansicht hatte zur Folge, dass das Erfordernis des Einzeltatnachweises obsolet war. Wohl erforschten die Gerichte das individuelle Verhalten der Angeklagten, auch ging es immer darum, das Maß ihrer individuellen Schuld zu bestimmen. Doch anders als im Frankfurter Auschwitz-Prozess gab es keine Freisprüche, weil ein Einzeltatnachweis zweifelsfrei nicht zu erbringen war. Dennoch gab es auch in diesen Verfahren gegen Personal der Todeslager freisprechende Urteile. Die Gerichte erkannten bei einigen Angeklagten auf Putativnotstand. Sie werteten die Einlassungen der Angeklagten, nur die Befolgung der Befehle habe sie vor einer ihnen drohenden Gefahr für Leib und Leben bewahrt, als nicht widerlegbar. Ob die Überzeugung der Angeklagten zur Tatzeit irrtümlich war und sie sich gar nicht in einer unausweichlichen, ihr Leben gefährdenden Zwangslage befunden hatten, es sich mithin nur um eine vermeintliche Notsituation handelte, spielte bei der Feststellung des Putativnotstand keine Rolle. 1. Zwischenbemerkung Die Strafjustiz der Bundesrepublik Deutschland ahndete die Shoah nach dem Strafgesetzbuch von 1871. Das Strafrecht war auf »normale« Kriminalität zugeschnitten, also auf Straftaten einzelner Rechtsbrecher im Rahmen der geltenden Rechtsordnung. Als im 19. Jahrhundert das Strafrecht geschaffen wurde, hatte der Gesetzgeber selbstverständlich nicht vor Augen, dass eines Tages auch staatlich befohlene, von einem Verbrecherstaat angeordnete Untaten strafrechtlich zu bewerten sein würden. 17 18 19 20

BGH-Urteil vom 25.11.1964 (2 StR 71/64), in: ebd., Bd. XXI, S. 352. LG München I, Urteil vom 21.01.1965 (110 Ks 3/64), in: ebd., Bd. XX, S. 642. LG Hagen, Urteil vom 20.12.1966 (11 Ks 1/64), in: ebd., Bd. XXV, S. 217. Ebd., S. 218.

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Obgleich das deutsche Menschheitsverbrechen an den europäischen Juden präzedenzlos war, waren Politik und Justiz in der Bundesrepublik der Auffassung, der Holocaust lasse sich mit dem zur Tatzeit geltenden Recht, mithin mit dem auf Individualstraftaten zugeschnittenen Strafgesetzbuch judizieren. Bonn orientierte sich nicht an Nürnberg, nicht an den Anstrengungen der Alliierten, die deutschen Verbrechen durch neu geschaffenes Recht zu ahnden. Die Nürnberger Rechtsgrundlagen wurden abgelehnt, das im Grundgesetz verankerte Rückwirkungsverbot ins Feld geführt, Auschwitz, das Menschheitsverbrechen, unter § 211 Strafgesetzbuch21 subsumiert, gerade so, als hätte es sich um einen Mord an einem Kassenboten oder einem Taxifahrer gehandelt. Vereinzelt vorhandene geschichtsbewusste Stimmen, die für die Aburteilung der NS-Verbrechen die Schaffung eines Sonderstrafrechts forderten, stießen in Bonn auf taube Ohren. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer meinte in einem Beitrag zur Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch voller Bitterkeit über die ausgebliebene, angemessene Ahndung der NS-Verbrechen: »Das Kontrollratsgesetz [Nr. 10] gab der deutschen Rechtspflege eine Chance, einer Zeit revolutionären Unrechts, die Radbruch22 dämonisch und apokalyptisch nannte, durch revolutionäres Recht Herr zu werden. Das Kontrollratsgesetz und Radbruchs Stellungnahme zu ihm stießen auf Kritik und Ablehnung besonders durch den Bundesgerichtshof. Er weigerte sich, es anzuwenden. Man wünschte keine Revolution, nicht einmal in Gesetzesform und mit den Mitteln der Rechtspflege.«23

Der 1949 entstandene Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland hätte, wie Karl Jaspers noch Mitte der 1960er Jahre entschieden forderte, durch eine Erweiterung des Strafgesetzbuches das gesetzliche Instrumentarium für die Ahndung der neuen Art von Verbrechen, die der Verbrecherstaat unter Hitlers Führung verübt hatte, bereitstellen müssen. Für den »neuen Tatbestand des neuen Ver21 Der Mordparagraf 211 Strafgesetzbuch wurde im September 1941 vom NS-Gesetzgeber novelliert. Bis dahin galt: »Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.« (§ 211 alte Fassung) Nunmehr lautete der Paragraf 211, Abs. 2: »Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.« 22 Siehe Radbruchs Vorwort zu: Staat und Moral. Zum Werden eines neuen Völkerrechts. Die drei Anklagereden von R. H. Jackson, übers. von Herbert Küsel und Kurt Wagenseil. Mit einem Vorwort von G.  Radbruch und mit einem Dokumentenanhang, München 1946, und Gustav Radbruch, Zur Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, in: Süddeutsche Juristen-Zeitung, März 1947, Sondernummer, S. 131–136. 23 Fritz Bauer, Das »gesetzliche Unrecht« des Nationalsozialismus und die deutsche Strafrechtspflege, in: Arthur Kaufmann (Hg.), Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, 21.11.1878–23.11.1949. Mit einem Geleitwort von Gustav Heinemann, Göttingen 1968, S. 302–307; ebenso in: Fritz Bauer, Kleine Schriften (1962–1969), hg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Lena Foljanty und David Johst, 2 Bde., Frankfurt a. M. 2018, hier Bd. 2, S. 1666.

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brechens des staatlichen Massenmordes«24, für den »geschichtlichen Ausnahmezustand«25 namens Verbrecherstaat, hätten qualifizierte Sondernormen vom Souverän, der sich der eigenen, in Völkermord, Elend und Verderben endenden Vergangenheit in einem radikalen Selbsterkennungs- und Selbstreinigungsakt stellt, erlassen werden müssen. Erst durch einen solchen politisch, moralisch und rechtlich motivierten Akt des Gesetzgebers wäre, so Jaspers, das »radikale Abstandnehmen« der Bundesrepublik Deutschland »vom Dritten Reich«26 erfolgt, die gebotene Umkehr, die willentliche Zäsur. Nur durch diesen gleichsam revolutionären Neubeginn hätte sich Westdeutschland das sittlich-politische Fundament geschaffen, auf dem seine ethisch legitimierte Existenz in der Weltgemeinschaft hätte etabliert werden können.27 Der radikale Schritt wurde von Bonn verweigert und von den Alliierten nicht gefordert. Der Kalte Krieg machte Westdeutschland zum notwendigen Partner, dem man seine Uneinsichtigkeit und seine Missachtung der Opfer und ihres Gerechtigkeitsverlangens geflissentlich nachsah. 2.

Der Frankfurter Auschwitz-Prozess

Das zu Recht viel gerühmte Verfahren vor dem Landgericht Frankfurt am Main (20.12.1963–20.8.1965)28 gegen 22, im Verlauf des Prozesses sodann gegen 20 Angeklagte29 war »der ›historische Prozess‹ par excellence«.30 360 Zeugen wurden vernommen, darunter 211 Überlebende von Auschwitz aus aller Welt. Durch die gründlichen Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft und die umfassende Beweisaufnahme des Schwurgerichts wurde der Verbrechenskom-

24 Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen, München 1966, S. 64. 25 Ebd., S. 62. 26 Ebd., S. 67. 27 Siehe hierzu auch: Gerhard Werle / Thomas Wandres, Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Justiz. Mit einer Dokumentation des Auschwitz-Urteils, München 1995, S. 27–40. 28 Zum Auschwitz-Prozess allgemein siehe die Dissertationen: Rebecca Wittmann, ­Beyond Justice: The Auschwitz Trial, Cambridge (Mass.) 2005, und Devin O. Pendas, The Frankfurt Auschwitz Trial, 1963–1965. Genocide, History, and the Limits of the Law, New York 2006 (dt. Der Auschwitz-Prozess. Völkermord vor Gericht, übers. aus dem amerik. Englisch von Klaus Binder, München 2013). 29 Ursprünglich waren 24 Auschwitz-Täter angeklagt. Der letzte Kommandant von Auschwitz, Richard Baer, verstarb wenige Wochen nach Einreichung der Anklageschrift Mitte 1963 in der Untersuchungshaft in Frankfurt am Main. Ein weiterer Angeklagter, der Sanitätsdienstgrad Hans Nierzwicki, schied vor Beginn der Hauptverhandlung wegen Krankheit aus dem Verfahren aus. 30 So in Rückerl, Nationalsozialistische Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse, S. 18.

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plex Auschwitz im Einzelnen dargelegt, das von Deutschen in Auschwitz verübte Menschheitsverbrechen als unbestreitbare geschichtliche Tatsache festgestellt. Der Auschwitz-Prozess hatte aber auch Auswirkungen, die erst durch die späten Verfahren gegen NS-Verbrecher so recht ins Bewusstsein getreten sind. Denn er brachte eine Änderung der Rechtspraxis in Strafprozessen gegen Personal der Vernichtungslager mit sich, die für die justizielle Aufarbeitung der NS-Vergangenheit weitreichende, von vielen wohl insgeheim gutgeheißene Folgen hatte.31 Die Frankfurter Richter in ihrem Urteil vom August 1965 und der Bundesgerichtshof in seiner Revisionsentscheidung vom Februar 196932 betrachteten das Vernichtungsgeschehen in Auschwitz nicht als eine Tat, an der funktionell mitwirkte, wer in Auschwitz im Vernichtungsapparat eine fördernde und unterstützende Tätigkeit ausgeübt hatte. Das Schwurgericht und Karlsruhe verlangten den Nachweis einer konkreten Einzeltat, zum Beispiel die nachweisliche Beteiligung an einer Selektion, die Weitergabe von Einsatzbefehlen nach der Ankündigung eines Transports, die Bestellung von Zyklon B, die Erteilung von Fahrgenehmigung zur Abholung des Giftgases von der Produktionsstätte in Dessau und so weiter.33 Das Frankfurter Gericht »stückelte« das Vernichtungsgeschehen in Einzelereignisse, beispielsweise in die Ankunft eines von Zeugen bekundeten Transports, und bewerteten nicht das Gesamtgeschehen, sondern die »Abwicklung« eines Todeszugs als eine natürliche Handlungseinheit, als eine Tat. Wem von den Angeklagten jedoch nicht bewiesen werden konnte, dass er sich nach der Ankunft eines bestimmten Transports nachweislich, das heißt: bekundet durch glaubwürdige und zuverlässige Zeugen, aktiv an einer Selektion auf der Rampe beteiligt hatte, der wurde nach dem im Strafrecht geltenden Grundsatz »in dubio pro reo« nicht belangt. SS-Ärzte, die eingestandenermaßen ihren »Dienst« auf der Rampe nach dem von ihrem Vorgesetzten aufgestellten »Dienstplan« geleistet, die Opfer entweder in die Gaskammern oder ins Lager geschickt hatten, kamen vor dem Frankfurter Schwurgericht recht unterschiedlich davon. So wurde durch die Aussage eines einzigen Zeugen der SS-Zahnarzt Willy Frank überführt. Der Überlebende hatte Frank gut gekannt und ihn deshalb auch aus größerer Entfernung im Sommer 1944 auf der Rampe von Birkenau als tätigen »Selekteur« ausmachen können. Glaubhaft hatte Alex Rosenstock bekundet, dass er den Angeklagten

31 Siehe Renz, Auschwitz vor Gericht, S. 99–117. 32 Siehe das Urteil und die BGH-Entscheidung in: Raphael Gross / Werner Renz (Hg.), Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965). Kommentierte Quellenedition. Mit Abhandlungen von Sybille Steinbacher und Devin O. Pendas. Mit historischen Anmerkungen von Werner Renz und juristischen Erläuterungen von Johannes Schmidt, 2 Bde., Frankfurt a. M. 2013, hier Bd. 2, S. 575–1208, 1237–1309. 33 Cornelius Nestler, Ein Mythos – das Erfordernis der »konkreten Einzeltat« bei der Verfolgung von NS-Verbrechen, in: Frank Neubacher / Michael Kubink (Hg.), Kriminologie – Jugendkriminalität – Strafvollzug. Gedächtnisschrift für Michael Walter, Berlin 2014, S. 759–772.

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bei typischen Handbewegungen beim Selektieren beobachtet hatte.34 Franks Kollege Willi Schatz kam hingegen ungeschoren davon, weil kein Zeuge zu finden war, der ihn die spezifischen Aktionen hatte machen sehen. Schatz ließ sich vor Gericht dahingehend ein, er habe auf der Rampe nur herumgestanden und nur medizinisches Material aus dem Gepäck der Deportierten an sich genommen. Die Frankfurter Richter nahmen dem unbedarft auftretenden Angeklagten seine wenig glaubhafte Darstellung ab, obschon beim Gericht das sichere Wissen vorhanden war, dass im Sommer 1944, als innerhalb von acht Wochen 438.000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz deportiert wurden (meist drei Züge mit jeweils 3.000 Opfern pro Tag), der »Einsatz« des gesamten und nicht allzu großen »medizinischen Personals« erforderlich gewesen war.35 Zweifelsfrei war, dass SS-Standortarzt Eduard Wirths im Frühjahr 1944 eine Dienstbesprechung anberaumt und verfügt hatte, dass sowohl Truppen- und Lagerärzte als auch Zahnärzte und Apotheker Rampendienst zu leisten hatten. Ebenso stand fest, von SS-Zeugen glaubhaft bekundet, dass es Dienstpläne gegeben hatte, in die alle SS-Führer der Abt. SS-Standortarzt, mithin alle Ärzte, Zahnärzte und Apotheker, eingetragen gewesen waren. Das Vernichtungsgeschehen in Auschwitz-Birkenau war kein Verbrechen, das sich in Einzelhandlungen, in einzelnen Tätern zurechenbare Taten zerlegen ließ. Fritz Bauer, der Anfang 1959 das Frankfurter Auschwitz-Verfahren in Gang gebracht hatte, kritisierte nach der Urteilsverkündung die in NS-Verfahren größtenteils zum Ausdruck gekommene Rechtsauffassung scharf. Ihm zufolge machten die bundesdeutschen Gerichte den untauglichen »Versuch, das totale Geschehen, z. B. den Massenmord an Millionen in den Vernichtungslagern, in Episoden aufzulösen, etwa in die Ermordung von A durch X, von B durch Y oder von C durch Z«. Die Gerichte wünschten »dem einzelnen Angeklagten […] sein individuelles Tun im Detail nachzuweisen.« Bauer zufolge »vergewaltigt[e]« eine derartige Rechtspraxis aber »das Geschehen, das nicht eine Summe von Einzelereignissen war«. Nach Bauer »wich […] diese juristische Behandlung […] auch völlig von dem ab, was sonst in unseren Strafprozessen üblich, ja selbstverständlich ist«. Mit Blick auf das unbefriedigende Frankfurter Verfahren meinte er: 34 Siehe die Vernehmung Rosenstocks in: Fritz Bauer Institut / Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau (Hg.), Der Auschwitz-Prozeß. Tonbandmitschnitte, Protokolle, Dokumente. DVD-ROM (= Digitale Bibliothek, Bd. 101), Berlin 2004, S. 20175–20232, und die Website www.auschwitz-prozess.de (96. Verhandlungstag, 02.10.1964, Audiofile und Transkription). 35 Fotografien der Täter überführen sie der eigenen Tat. Siehe das Höcker- und das Auschwitz-Album. Im Höcker-Album (Christophe Busch / Stefan Hördler / Robert Jan van Pelt [Hg.], Das Höcker-Album. Auschwitz durch die Linse der SS, übers. von Verena Kiefer, Birgit Lamerz-Beckschäfer und Peter Oliver Loew, Darmstadt 2016) ist nachweislich Willi Schatz abgebildet. Ihn findet man auch auf mehreren Fotos des Auschwitz-Albums wieder, die im Sommer 1944 auf der Rampe von Birkenau von SS-Fotografen gemacht worden sind (Tal Bruttmann / Stefan Hördler / Christoph Kreutzmüller, Die fotografische Inszenierung des Verbrechens. Ein Album aus Auschwitz, Darmstadt 2019, S. 165).

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»Der Auschwitzprozess war gewiss der bisher längste aller deutschen Schwurgerichtsprozesse, in Wirklichkeit hätte er einer der kürzesten sein können, womit freilich nicht gesagt sein soll, dass dies aus sozialpädagogischen Gründen auch wünschenswert gewesen wäre.«36

Die Beweisaufnahme zog sich im Auschwitz-Prozess über Monate hin, weil nach Bauers Auffassung das Gericht eine falsche Rechtsansicht zugrunde gelegt hatte: »Eine Aufteilung z. B. der ›Endlösung der Judenfrage‹ oder eine Aufteilung der Beiträge der ganz überwiegenden Mehrzahl der Beteiligten  – seien es Mittäter oder Gehilfen – in Episoden, die Auflösung des Geschehens und der Tätigkeit der Mitwirkenden in – im Zeitlupenstil aufzuklärende – Details ist ein historisch und rechtlich untauglicher Versuch, ja ein unmögliches Unterfangen.«37

Die Prüfung des Einzelfalles, die Feststellung des konkreten Tatbeitrags des einzelnen Angeklagten sollte nach Bauer nicht zu einer »punktuellen Aufklärung«, einer »Atomisierung des Gesamtgeschehens«38 führen. Das »kollektive Geschehen« konnte nicht aus tatsächlichen Gründen, das heißt: aus Gründen angemessener historischer Darstellung, »durch Atomisierung und Parzellierung der furchtbaren Dinge sozusagen«39 privatisiert und entschärft werden. 3. Auschwitz Wie stellte sich das Verbrechensgeschehen in Auschwitz tatsächlich dar? Wie wurde es vom Frankfurter Gericht rechtlich gewertet? Todeszüge rollten seit Anfang 1942 nach Auschwitz. Das Judenreferat IV B 4 im SS-Reichssicherheitshauptamt (RSHA) zu Berlin ordnete die Transporte an. In Zusammenarbeit mit der Reichsbahn40 organisierte der Leiter des Referats, 36 Alle Zitate nach Fritz Bauer, In unserem Namen. Justiz und Strafvollzug, in: Helmut Hammerschmidt (Hg.), Zwanzig Jahre danach. Eine deutsche Bilanz 1945–1965, München 1965, S. 301–314, hier 307; auch in: Bauer, Kleine Schriften, Bd. 2, S. 1418–1427, hier 1423. Zu Bauers Prozesskonzept und seinen Widersprüchen siehe: Werner Renz, Fritz Bauer zum Zweck der NS-Prozesse, in: Ders., Fritz Bauer und das Versagen der Justiz. Nazi-Prozesse und ihre »Tragödie«, Hamburg 2015, S. 19–36, sowie Ders., Der Frankfurter Auschwitz-Prozess: »Rechtsstaatliches Verfahren« oder »Strafrechtstheater«? Kann mithilfe der Strafjustiz politische Aufklärung geleistet werden?, in: Wolfgang Form / Theo Schiller / Lothar Seitz (Hg.), NS-Justiz in Hessen: Verfolgung, Kontinuitäten, Erbe, Marburg 2015, S. 431–445. 37 Fritz Bauer, Ideal- und Realkonkurrenz bei nationalsozialistischen Verbrechen?, in: Juristenzeitung 22 (1967), H. 20, S. 625–628, hier 627, ebenso in: Bauer, Kleine Schriften, Bd. 2, S. 1568–1577, hier 1574. 38 Ebd. 39 Bauer, In unserem Namen, S. 308; ebenso: Bauer, Kleine Schriften, Bd. 2, S. 1423. 40 Siehe Raul Hilberg, Sonderzüge nach Auschwitz. Vorwort von Adalbert Rückerl, übers. aus dem Amerikanischen von Gisela Schleicher, Mainz 1981.

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SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, die »Sonderzüge« mit den zu »evakuierenden« Juden »nach dem Osten«. In Auschwitz-Birkenau, das ab Anfang 1942 zu einem Tötungszentrum, zu einer Todesfabrik mit vier Krematorien mit integrierten Gaskammern ausgebaut wurde, kamen 1942 nachweislich 166 RSHA-Transporte mit circa 180.000 deportierten Juden an, 1943 waren es 174 Todeszüge mit circa 220.000 Juden, im Jahr 1944 beförderte die Reichsbahn mit circa 300 Zügen rund 650.000 Opfer der »Endlösung« nach Auschwitz.41 Ein eingespielter, von einer Vielzahl von SS-Leuten bedienter Vernichtungsapparat führte die »Abwicklung« der Transporte durch. Fernschreiben und Funksprüche des RSHA kündigten der Kommandantur des Lagers die Ankunft eines Transports an. Durch die oberste Dienststelle, vom Lagerkommandanten und seinem Adjutanten geführt, erfolgten Anweisungen an die an der Vernichtung unmittelbar beteiligten Abteilungen und Stellen: Schutzhaftlagerführung, die Politische Abteilung (Referat Aufnahme), die Dienststelle SS-Standortarzt, die Fahrbereitschaft (Lkw-Staffel), den Wachsturmbann und den Arbeitseinsatz. In jeder mit der »Abwicklung« eines Transports befassten Abteilung der Lageradministration gab es einen Dienstplan für den »Einsatz« bei »Sonderaktionen« auf der Rampe. Die zum Rampendienst eingeteilten SS-Führer, -Unterführer und -Männer hatten festgelegte, von ihnen befehlsgemäß und geflissentlich erfüllte Aufgaben: Sie beaufsichtigten das Gesamtgeschehen, öffneten die Türen der Güterwaggons, forderten die eingepferchten Menschen zum Aussteigen auf, verlangten von ihnen, ihr Hab und Gut in den Wagen zu lassen, teilten die erschrockenen, ahnungs- und orientierungslosen Ankömmlinge in Männer, Frauen und »Arbeitsunfähige« (Alte, Kranke, Kinder) ein, formierten die Deportierten in Kolonnen zu jeweils fünf Menschen (Fünferreihen) und zählten sie ab. Sie nahmen vom Transportführer die Transportpapiere entgegen, bestätigten ihm die Übernahme des Todeszuges unter Angabe der festgestellten »Transportstärke«. Sie selektierten die Deportierten, befehligten das Häftlingsaufräumkommando auf die Rampe (die »Alte Rampe« oder »Judenrampe«, seit Mai 1944 die »Neue Rampe« zwischen den Lagerteilen BI und BII in Birkenau) zum Ausladen der Habseligkeiten der angekommenen Juden, sie sperrten die Rampe ab und standen Posten, sie transportierten die zum Tode Verurteilten mit Lastwagen zu den Gaskammern oder führten die Opfer in Kolonnen dorthin. Sie gaben den Opfern Anweisungen, sich zum »Duschen« zu entkleiden, täuschten sie mit lügnerischen Reden, schoben die Nackten in die Vergasungsräume, verriegelten die Türen, 41 Vgl. Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945, Reinbek 1989, und Franciszek Piper, Auschwitz: Wie viele Juden, Polen, Zigeuner wurden umgebracht, übers. aus dem Polnischen von Jochen August, Kraków 1992, sowie Ders., Die Zahl der Opfer von Auschwitz. Aufgrund der Quellen und der Erträge der Forschung 1945 bis 1990, Oświęcim 1993. Nach einer vom Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau erarbeiteten Aufstellung kamen insgesamt rund 3.300 Einzel-, Sammel- und Massentransporte in Auschwitz an.

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brachten mit einem Sanitätsdienstwagen (»Sanka«) Zyklon B zu den Todesfabriken, öffneten, geschützt durch eine Gasmaske, die Dosen und warfen das Gas in die Kammern, beobachteten den Vergasungsvorgang und den Todeskampf der Opfer durch ein Guckloch, befahlen das Öffnen der Gaskammern, stellten den Tod der Menschen fest, ordneten die Leerung der Vergasungsräume durch das Sonderkommando und die Verbringung der Leichen zu den Krematorien an. Sie kontrollierten das Ausreißen von Goldzähnen, das Abscheren von Frauenhaar, überwachten den Raub von Wertgegenständen, befehligten das Verbrennen der Leichen in den Krematoriumsöfen und in den unweit der Todesfabriken ausgehobenen Verbrennungsgruben, organisierten die Entsorgung der Menschenasche. Sie vermeldeten nach getaner Tat per Fernschreiben an die im RSHA sitzenden Buchhalter des Massenmordes die Gesamtzahl der Deportierten, aufgeteilt nach Männern und Frauen, führten die Anzahl der ins Lager eingewiesenen Häftlinge sowie die Zahl der mit Gas Ermordeten an. Sie eskortierten nach der Selektion die »arbeitsfähigen« Männer und Frauen ins Lager, befahlen ihnen, sich zu entkleiden und sich zu duschen. Sie ließen sie scheren und einkleiden, karteimäßig erfassen und tätowieren, verbrachten sie in Quarantäneblocks und teilten sie zuletzt Arbeitskommandos zu. In etwa 30 Monaten bzw. 900 Tagen kamen über 600 RSHA-Transporte mit etwa einer Million Juden in Auschwitz an. Tag für Tag, Tag und Nacht, rund um die Uhr, waren die zu »Sonderaktionen« und zum »Rampendienst« eingeteilten SS-Leute an der Massenvernichtung beteiligt. Den Frankfurter Richtern stellte sich der Vernichtungsprozess, beginnend bei den Herkunftsorten der Transporte, ganz anders dar: »Die Auslösung der einzelnen Aktionen in den verschiedenen Ländern Europas bedurfte einer Vielzahl von Willensentschlüssen der verschiedensten Personen in den oberen, mittleren und unteren zuständigen Dienststellen und jeweils eines besonderen Einsatzbefehles. Mit der Durchführung der Aktionen war eine Vielzahl von Personen befasst, die sich ebenfalls jeweils auf Grund besonderer Willens­entschlüsse zur Mitwirkung bereitfanden.«42 Zum Geschehen in Auschwitz heißt es: »Die Tötungsaktionen selbst erfolgten nicht einheitlich und erforderten unzählige Willensbetätigungen einer großen Anzahl von Personen.«43 Hinsichtlich der Tötungszentren und der Tätigkeit des SS-Personals gelangte das Gericht zu der Feststellung: »In den verschiedenen Vernichtungslagern wurden die Juden auf verschiedene Weise umgebracht, teils durch Erschießen, teils in Gaswagen, teils in festen Gaskammern wie im Konzentrationslager Auschwitz. Das Einwerfen des Zyklon B erforderte jeweils einen besonderen Entschluss und besondere Willens­betätigungen der damit beauftragten Personen. Die Orte der Vernichtung lagen weit auseinander. Die Aktionen selbst erstreckten sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Ein enger räumlicher und zeitlicher Zusammenhang fehlt daher. Auch

42 Gross / Renz, Der Frankfurter Auschwitz-Prozess, Bd. 2, S. 678. 43 Ebd.

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kann nicht von einem Ineinandergreifen der verschiedenen einzelnen Aktionen gesprochen werden.«44 Zu Recht meint Christoph Safferling: »Das [Frankfurter] Gericht konnte sich nicht dazu durchringen, für die Vollstrecker des Holocaust eine spezielle Form der strafrechtlichen Zurechnung anzunehmen und die Massentötung als eine einheitliche Tat zu bewerten.«45

II. Zur Gegenwart bundesdeutscher NS-Prozesse 1.

»Meilenstein-Verfahren« gegen John Demjanjuk46

Im Prozess gegen John Demjanjuk (2009–2011) vor dem Landgericht München II kam zum Teil die Auffassung wieder zum Tragen, die bereits in den 1960er Jahren in den genannten Prozessen gegen Personal der Vernichtungslager Chełmno, Treblinka, Bełżec und Sobibór angewandt worden war. Mit gutem Grund ist der Prozess ein »Meilenstein-Verfahren«47 genannt worden. Wer funktionell an der Haupttat, dem Massenmord, mitgewirkt hatte, wer im Vernichtungslager tätig gewesen war, hatte Beihilfe geleistet.48 Das Münchner Gericht bewertete jedoch die »Abwicklung« von 16 Transporten während Demjanjuks Dienstzeit in Sobibór nicht als eine Tat, sondern als 16 selbstständige Handlungen. Es rechnete aber dem einstigen Hilfswilligen (nach ihrem Ausbildungslager Trawniki-Männer genannt) den Massenmord an den Insassen aller Transporte zu, gleichviel, was der Angeklagte zur Zeit der Transportankünfte konkret gemacht hatte. Seine funktionelle Mitwirkung am Gesamtgeschehen 44 Ebd. 45 Christoph Safferling, Verfolgung der Täter durch Täter? Vom Versagen der Politik und der Justiz bei der Strafverfolgung von NS-Tätern im Nachkriegsdeutschland, in: Frank Lüttig / Jens Lehmann (Hg.), Die letzten NS-Verfahren. Genugtuung für Opfer und Angehörige – Schwierigkeiten und Versäumnisse der Strafverfolgung, Baden-Baden 2017, S. 19–40, hier 31. 46 Siehe Angelika Benz, Der Henkersknecht. Der Prozess gegen John (Iwan) Demjanjuk in München. Mit einem Essay von Lukas Hammerstein, Berlin 2011; Heinrich Wefing, Der Fall Demjanjuk. Der letzte große NS-Prozess, München 2011; Rainer Volk, Das letzte Urteil. Die Medien und der Demjanjuk-Prozess, München 2012; Gerhard Werle / Boris Burghardt, Zur Gehilfenstrafbarkeit bei Massentötungen in nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Der Fall Demjanjuk im Kontext der bundesdeutschen Rechtsprechung, in: Christian Fahl / Eckhart Müller / Helmut Satzger / Sabine Swoboda (Hg.), Ein menschengerechtes Strafrecht als Lebensaufgabe. Festschrift für Werner Beulke zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2015, S. 339–353; Lawrence Douglas, Späte Korrektur. Die Prozesse gegen John Demjanjuk, übers. aus dem Amerikanischen von Felix Kurz, Göttingen 2020. 47 Christoph Safferling, Anmerkung, in: Juristenzeitung 72 (2017), H. 3, S. 258–262. 48 Siehe hierzu grundlegend: Thilo Kurz, Paradigmenwechsel bei der Strafverfolgung des Personals in den deutschen Vernichtungslagern, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 3 (2013), S. 122–129.

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sah das Gericht durch seine allgemeine Tätigkeit als Wachmann als gegeben an. So heißt es im Urteil: Indem der Angeklagte »als Wachmann an allen wesentlichen Stationen des Vernichtungsprozesses Dienst getan hat«, leistete er »einen wesentlichen Tatbeitrag«49 zum im Lager verübten Mord. Die geringe Zahl von SS- und Trawniki-Männern im Vernichtungslager Sobibór ließ den sicheren Schluss zu, dass »eine aktive Beteiligung jedes Wachmannes beim Eintreffen eines Deportationszuges erforderlich« war, um einen Transport reibungslos »abzuwickeln«. Hinsichtlich der Qualifizierung der Beihilfeleistung Demjanjuks ist die Feststellung im Urteil wichtig, dass »jede Tätigkeit des Angeklagten wie die Tätigkeit aller übrigen Wachleute im Lager eine Förderung des Hauptzwecks des Vernichtungslagers«50 dargestellt habe. 2. Gröning-Prozess51 Auch im Lüneburger Verfahren gegen Oskar Gröning im Jahr 2015 kam die dargelegte Rechtsauffassung zur Geltung. Der Tatvorwurf gegen den »Buch­ halter« von Auschwitz war seine Beteiligung an der Vernichtung der im Sommer 1944 aus Ungarn deportierten Juden. Das Gericht bewertete Grönings durchaus untergeordnete Tätigkeit »nach ständiger Rechtsprechung« als »Hilfeleistung« bei der Begehung der Haupttat. Denn, und hier zeigt sich die Differenz zu der Rechtsprechung im Fall des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, »jede Handlung […], die die Herbeiführung des Taterfolges durch den Haupttäter«, sprich: die Tötung der angekommenen Juden, »objektiv«52 fördere oder erleichtere, sei als Beihilfe zu qualifizieren. Indem Gröning »das insgesamt auf Tötung von Menschen ausgerichtete System des Konzentrationslagers Birkenau […] fortlaufend unterstützte«, leistete er die als strafbare Beihilfe zu wertende Förderung und Unterstützung der Haupttat. Unter Bezugnahme auf die BGH-Entscheidung im Fall Motassadeq53 hob das Gericht hervor, nicht erforderlich sei, dass die geleistete Beihilfe »für den 49 LG München II (1 Ks 115 Js 12496/08), Urteil vom 12.05.2011, in: JuNSV, Bd. XLIX, S. 221–383. 50 Ebd., S. 362. 51 Zum Gröning-Prozess siehe: Lüttig / Lehmann, Die letzten NS-Verfahren; Die letzten Zeugen. Der Auschwitz-Prozess von Lüneburg 2015. Eine Dokumentation, hg. von Peter Huth unter Mitarbeit von Philipp Heinemann sowie Kai Feldhaus, Laura Gehrmann, Torsten Hasse, Anne Losensky, Axel Sturm und Anja Wieberneit. Mit einem Nachwort von HansChristian Jasch, Stuttgart 2015; Boris Burghardt, Die Strafsache »Oskar ­Gröning« vor dem Bundesgerichtshof, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 14 (2019), H. 1, S. 21–40. 52 LG Lüneburg (27 Ks 1191 Js 98402/13 (9/14)), Urteil vom 15.07.2015, Urteilsausfertigung, S. 36. 53 Siehe die BGH-Entscheidung vom 16.11.2006 (3  StR  139/06). Mounir al-Motassadeq wurde der »Beihilfe zum 246-fachen Mord in Tateinheit mit Mitgliedschaft in einer

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Eintritt« des »Taterfolges durch den Haupttäter objektiv […] in seinem konkreten Gepräge in irgendeiner Weise kausal wird«.54 Hinsichtlich der strittigen Frage, ob das Vernichtungsgeschehen in Auschwitz als eine Tat zu betrachten sei, führte das Gericht aus, dass »für den Angeklagten« sich die »Ungarn-Aktion« im Sommer 1944 als »eine einheitliche Tat im rechtlichen Sinne«55 darstellte. Grönings »gesamte Tätigkeit […] in Auschwitz war dadurch geprägt, dass sie eine Vielzahl von Morden förderte, ohne dabei auf die Förderung bestimmter einzelner Taten gerichtet zu sein«.56 In dem Urteil kam mithin die Rechtsauffassung zur Geltung, die Fritz Bauer in seinen Publikationen nach dem Auschwitz-Urteil von 1965 dargelegt hatte. Der Bundesgerichtshof hat das Gröning-Urteil bestätigt.57 3. Hanning-Prozess Mit Reinhold Hanning, von Januar 1942 bis Mitte 1944 Angehöriger des SSToten­kopfsturmbanns von Auschwitz, stand 2016 erstmals ein »ganz normaler« Auschwitz-Wachmann vor Gericht. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte die bundesdeutsche Strafjustiz einen gewöhnlichen Wachmann, der sich keiner Exzesstaten schuldig gemacht hatte, nicht vor Gericht gestellt. In völligem Gegensatz zur exkulpierenden Rechtspraxis der 1960er Jahre bewertete das Landgericht Detmold den Dienst des »einfachen« SS-Mannes in seiner Einheit nunmehr folgendermaßen: »Mit seiner Wachtätigkeit war der SS-Totenkopfsturmbann die funktionierende Stütze des Vernichtungsgeschehens auch im Konzentrationslager Auschwitz. Er sicherte das terro­ristischen Vereinigung« für schuldig befunden. Er hatte die Abwesenheit der späteren Attentäter des 11. September 2001 im Wissen um deren Planungen (Absturz von gekaperten Flugzeugen) durch Regelung ihrer finanziellen und sonstigen Angelegenheiten am Wohnort Hamburg verschleiert. 54 Ebd. Wörtliche Übernahme der BGH-Formulierung in der Motassadeq-Entscheidung vom 16.11.2006 (3 StR 139/06), Rn. 45. 55 LG Lüneburg (27 Ks 1191 Js 98402/13 (9/14)), Urteil vom 15.07.2015, Urteilsausfertigung, S. 38. 56 Ebd. 57 Beschluss des 3. Strafsenats des BGH vom 20.09.2016 (3 StR 49/16), in: Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (BGHSt), Bd. 61, 2017, S. 253–263. Der BGH-Beschluss wurde vielfach kommentiert, zum Beispiel: Christian Fahl, Beihilfe zum staatlich organisierten Massenmord, in: HRRS. Onlinezeitschrift Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht 4 (2017), S. 167–169; Claus Roxin, Beihilfe zum Mord durch Dienst im Konzentrationslager, in: Juristische Rundschau 2 (2017), S. 83–92; Jens Rommel, Beteiligung am Holocaust im Konzentrationslager Auschwitz, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht 17 (2017), H. 3, S. 158–162; Anette Grünewald, NS-Verbrechen – Beihilfe zu staatlich organisiertem Massenmord, in: Neue Juristische Wochenschrift 70 (2017), H. 7, S. 498–501; Christoph Safferling, Anmerkung; Lorenz Bode, Beihilfe zum organisierten Massenmord. Zugleich eine Besprechung des BGH-Beschlusses vom 20. September 2016 – 2 StR 49/16, in: Neue Justiz 71 (2017), H. 6, S. 227–231.

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Lagergeschehen in allen Bereichen, vom Umstellen der ankommenden Deportationszüge, über die Begleitung der Selektierten auf ihrem Weg in die Gaskammern und der Arbeitsfähigen zu den Lagern bis hin zur Bewachung der Gefangenen im Rahmen der Postenketten oder bei den Außenkommandos.«

Hanning hatte demnach »während seiner Anwesenheit im Konzentrationslager Auschwitz durch seine fortlaufende Tätigkeit im Wachsturmbann zu sämtlichen in diesem Zeitraum begangenen Haupttaten Beihilfe geleistet. Seine gesamte Wachtätigkeit war bei wertender Gesamtschau und gerade auch aus Sicht des Angeklagten selbst dadurch gekennzeichnet, dass er das Vernichtungsgeschehen insgesamt und damit eine Vielzahl von Tötungen dauerhaft förderte. Das ist rechtlich als eine Beihilfehandlung zum Mord zu werten.«58

Zweites Fazit Erst als kaum mehr Täter am Leben waren, änderte sich die Rechtspraxis der Strafgerichte gegen NS-Verbrecher. Wäre in den 1960er Jahren im Fall Auschwitz so geurteilt worden wie im Gröning- und Hanning-Prozess, hätten Hunderte von SS-Angehörigen des Konzentrations- und Vernichtungslagers zur Verantwortung gezogen werden müssen. Dies geschah aus justizökonomischen Gründen nicht. Die Strafjustiz war für eine derart große Zahl von Prozessen personell und sachlich nicht ausgerüstet. Ein Ausweg bot das Erfordernis der konkreten Einzeltat auch im arbeitsteilig funktionierenden Todeslager. Nach dem Auschwitz-Urteil von 1965 und seiner Bestätigung durch den Bundesgerichtshof 1969 wurden nur noch wenige Einzeltäter, die meist eigenmächtig gemordet hatten, vor Gericht gestellt. Im Namen des Volkes wurde noch Recht gesprochen. Die Gerechtigkeit blieb aber angesichts der Nichtverfolgung zahlloser Täter auf der Strecke.59

58 LG Detmold, Urteil vom 17.06.2016, 4 Ks 45 Js 3/13–9/15, Rn. 248. 59 Zur Spätverfolgung von NS-Verbrechen siehe: Boris Burghardt, Im Ringen mit sich selbst. Die Spätverfolgung von NS-Verbrechen durch die deutsche Strafjustiz, in: Einsicht 20 (2019), Bulletin des Fritz Bauer Instituts, S. 78–86.

Kerstin Hofmann

Gründung und Tätigkeit der Zentralen Stelle in Ludwigsburg*

Seit über 60 Jahren ermittelt die »Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« von Ludwigsburg aus systematisch gegen NS -Verbrecher. Die Gründung der 13 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs eingerichteten Ermittlungsbehörde ist untrennbar mit dem sogenannten Ulmer Einsatzgruppenprozess verbunden. Im Frühjahr 1958 begann vor dem Schwurgericht Ulm der Prozess gegen die Mitglieder des im deutsch-litauischen Grenzgebiet eingesetzten Einsatzkommandos Tilsit. Auslöser des Verfahrens, das als »Zufallsprodukt einer Zufallsjustiz«1 bezeichnet wird, war die Klage des gekündigten Leiters des Flüchtlingslagers Ulm-Wilhelmsburg, Bernhard Fischer-Schweder (1904–1960), auf Wiedereinstellung in den Staatsdienst. Ihm war gekündigt worden, nachdem das Regierungspräsidium Nordwürttemberg seine politische Vergangenheit überprüft und auf Fischer-Schweders NS-Belastung gestoßen war.2 »SS-Oberführer wieder ›aufgetaucht‹« titelten die Ulmer Nachrichten Ende Mai 1955 und deckten unter anderem dessen Beteiligung an der »Partisanenbekämpfung« in Litauen auf.3 Der ehemalige Polizeidirektor von Memel wehrte sich gegen die öffentliche Bloßstellung. In einem Leserbrief gerierte er sich wortreich als ehrenhafter und gesetzestreuer Staatsdiener, der zu Unrecht an den Pranger gestellt werde: »Meine Dienstvorgesetzten bescheinigen mir: […] eine unversöhnliche Gegnerschaft zur SS. […] Eidesstattliche Erklärungen beweisen, daß ich 1941 mit der Ernennung zum Polizeidirektor gegen meinen Willen als Oberführer zur SS übernommen wurde. Weitere Erklärungen beweisen, daß ich viele Menschen, Christen, Juden, Deutsche, Oesterreicher und Polen, vor Nachteilen und Lebensgefahr bewahrt habe.«4

* Der Aufsatz basiert auf: Kerstin Hofmann: »Ein Versuch nur – immerhin ein Versuch«. Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg unter der Leitung von Erwin Schüle und Adalbert Rückerl (1958–1984), Berlin 2018. 1 Ernst Müller-Meiningen jr., Gespenstische Vergangenheit vor Gericht zitiert, in: Süddeutsche Zeitung, 30./31.08.1958. 2 Vgl. Patrick Tobin, Crossroads at Ulm. Postwar West Germany and the 1958 Ulm Einsatzkommando Trial, Diss., Chapel Hill 2013, S. 103–109. 3 SS-Oberführer wieder »aufgetaucht«, in: Ulmer Nachrichten, 25.05.1955. 4 Nichts zu verschleiern …, in: Ulmer Nachrichten, 26.05.1955.

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Kerstin Hofmann

Das selbstbewusste Auftreten führt eindrucksvoll vor Augen, wie sicher sich NS-Täter Mitte der 1950er Jahre in der Bundesrepublik fühlten. Fischer-Schweder zog nicht in Betracht, dass jemand seine Behauptungen widerlegen könnte. Durch Zufall gelangten die Zeitungsartikel jedoch in die Hände ehemaliger Mitarbeiter der Polizeidirektion Memel. Diese zeichneten ein vollkommen anderes Bild ihres einstigen Vorgesetzen: Dieser sei keinesfalls ein »Freund der Juden und Polen«, sondern vielmehr »ein Feind dieser Leute gewesen«, der »Polen mit der Pistole niedergeschossen« habe. Weiter habe Fischer-Schweder als Leiter eines Einsatzkommandos Erschießungen von Juden befehligt.5 Die Israelitische Kultusvereinigung Württemberg und Hohenzollern erfuhr von den Vorwürfen gegen den Träger des Goldenen Parteiabzeichens und erstattete im September 1955 Anzeige, woraufhin die Staatsanwaltschaft Ulm / Donau ein Ermittlungsverfahren einleitete.6 Den entscheidenden Impuls erhielten die zögerlichen Ermittlungen erst, als der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Erich Nellmann (1895–1968) »angesichts der besonderen Bedeutung des Falls« 1956 seinen persönlichen Sachbearbeiter, den Ersten Staatsanwalt Erwin Schüle (1913–1993), zur Unterstützung der Ulmer Staatsanwälte abstellte.7 Als eine seiner ersten Maßnahmen verfügte dieser, dass alle am Verfahren beteiligten Staatsanwälte und Kriminalbeamten die kurz zuvor erstmals auf Deutsch erschienene Studie »Die Endlösung« von Gerald Reitlinger lesen sollten, um die Bedeutung und die Dimension der Einsatzgruppenverbrechen zu begreifen.8 Schüles Ermittlungsarbeit zeichnete sich durch für die damalige Zeit unkonventionelle Mittel und Wege aus. Da zu Beginn des Ermittlungsverfahrens kaum Augenzeugen für die Verbrechen des Einsatzkommandos Tilsit gefunden werden konnten, konzentrierte sich der Ermittler auf die Auswertung der verfügbaren historischen Dokumente. Mit Unterstützung Nellmanns beschaffte sich Schüle Kopien der Urteile und Beweismittel aus den Nürnberger Prozessen und nahm Kontakt zu der in Westberlin ansässigen Wehrmachtsauskunftsstelle (WASt) auf. Es gelang ihm als erster deutscher Staatsanwalt, Einsicht in die Aktenbestände des Berlin Document Center zu erhalten.9

5 Kersten an Böhnke, 03.07.1955, in: Staatsarchiv Ludwigsburg (StAL), EL 322 II Bü 29, S. 118. 6 Israelitische Kultusvereinigung Württemberg und Hohenzollern an Staatsanwaltschaft Ulm / Donau, 12.09.1955, in: StAL, EL 322 II Bü 29, 117. 7 Nellmann an JuM BW, 09.06.1956, in: Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS), EA 4/412 Bü 1, S. 4; Vermerk Schüle, 23.06.1956, in: StAL, EL 302 Bü 305. 8 Schüle an StA Ulm, 12.06.1956, in: StAL, EL 322 Bü 102; Gerald Reitlinger, Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939–1945, ins Deutsche übertragen von J. W. Brügel, Berlin 1956 (OF The final solution. The attempt to exterminate the Jews of Europe, 1939–1945, London 1953). Reitlingers Buch war die erste historiografische Darstellung der Ermordung der europäischen Juden. 9 Vgl. Gespräch Norbert Frei mit Erwin Schüle, 06.06.1989, in: Bundesarchiv (BArch), B 162/43601.

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Der vor dem Schurgericht Ulm verlesene Eröffnungsbeschluss legte Ende April 1958 das ganze Ausmaß der den Angeklagten zur Last gelegten Verbrechen offen: »Nach den ›Ereignismeldungen UdSSR‹ des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD sowie nach dem Bericht des SS-Brigadeführers Dr. Stahlecker als Führer der Einsatzgruppe A vom 31. Oktober 1941 wurden von der Stapo Tilsit und vom SD Tilsit (Einsatzkommando Tilsit) in der Zeit vom 24. Juni 1941 bis zum 15. Oktober 1941 insgesamt 5186 Menschen an vielen, teils ermittelten, teils nicht ermittelten Orten des litauischen Grenzgebietes getötet. […] Die Ausrottungsmaßnahmen beruhten auf dem[,] von den nationalsozialistischen Machthabern in langjähriger Propaganda herangezüchteten Rassenhaß, der von den Angeschuldigten geteilt wurde[,] und der in ihrer Beteiligung an den Tötungen seinen Ausdruck fand.«10

Trotz des umfangreichen Beweismaterials zeigten sich die zehn Angeklagten vor Gericht ohne Reue: Alle gaben während ihrer ausführlichen Vernehmungen an, entweder keinerlei Kenntnis von etwaigen Verbrechen gehabt oder lediglich einem Befehl Folge geleistet zu haben. Hans-Joachim Böhme (1909–1960), ehemaliger Leiter der Staatspolizei Tilsit und somit Organisator zahlreicher Massenerschießungen, erklärte auf Nachfrage, dass er 1941 nicht anders habe handeln können. Es sei schließlich ein Befehl gegeben worden, dem er sich nicht habe entziehen können. Überhaupt habe es sich nur um die »allgemeine polizeiliche Ausführung einer Dienstanweisung« gehandelt.11 Ein ehemaliger Kriminalassistent berichtete dem Gericht »in zackiger Haltung«, dass alle Beamten des Kommissariats Memel zwar in einer langen Wagenkolonne zu Erschießungen nach Garsden (heute Gargždai, Litauen) gefahren, dort aber nicht tätig geworden seien. Auf die Frage, was der Zeuge dort denn dann die ganze Zeit gemacht habe, antwortete dieser, dass er dort lediglich auf- und abgegangen sei.12 Dass die Schilderungen der Zeugen und die dabei zutage tretenden grauenhaften Einzelheiten über die Judenverfolgung in Litauen nicht gänzlich an den Angeklagten vorbeigingen, bewies der ehemalige Oberleutnant der Schutzpolizei Memel, Werner Schmidt-Hammer (1907–1979). Als ein Zeuge berichtete, die Opfer des Einsatzkommandos Tilsit seien einzig deswegen erschossen worden, weil sie Juden waren, erlitt Schmidt-Hammer einen schweren Herzanfall und musste mit der Bahre aus dem Gerichtssaal getragen werden.13 Das Anfang August 1958 von Schüle verlesene Plädoyer der Anklage war für die damalige Zeit ungewöhnlich. Der kurz zuvor zum Oberstaatsanwalt beförderte Anklagevertreter betonte darin ausdrücklich, dass die zehn Angeklagten 10 Vorsätzlich und mit Überlegung getötet, in: Schwäbische Donau-Zeitung, 01./02.05.1958. 11 Diese Repressalie ist einmalig in der Welt, in: Schwäbische Donau-Zeitung, 23.05.1958; Böhme zit. nach: Für Juden gab es keine »Gnadenakte«, in: Schwäbische Donau-Zeitung, 09.05.1958. 12 … aus rassischen Gründen erschossen, in: Schwäbische Donau-Zeitung, 07.06.1958. 13 Die Kinder wurden erschlagen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.06.1958; Erster Zwischenfall im Einsatzkommando-Prozeß, in: Schwäbische Donau-Zeitung, 04.06.1958.

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nicht wegen ihrer früheren NSDAP-, SA- oder SS-Mitgliedschaft vor Gericht stünden, sondern einzig deswegen, weil ihnen die Mitwirkung an einer Reihe von Verbrechen zur Last gelegt werde. Die Bedeutung des Ulmer Prozesses liege darin, dass »auch dem letzten Deutschen die Augen darüber geöffnet werden [sollten], wer jene Menschen waren, die als Führer damals des Reiches Geschicke leiteten. Meine hohen Richter, dieser Prozess hat die Tötung von Hunderten und Tausenden von Menschen zum Gegenstand. Vergessen Sie ob der Größe der Zahlen nicht, dass hinter jeder Zahl das Schicksal eines einzelnen Menschen steht!«14 Die Gründe für die gesellschaftlichen Vorbehalte gegen den Prozess lagen Schüle zufolge im kollektiven schlechten Gewissen der Deutschen, wenn diese auf »jene Jahre des Ungeistes« zurückblickten. So unangenehm es aber auch sei, ehrlich mit sich selbst zu sein, so notwendig sei es wiederum, einmütig zu bekennen: »Wir waren damals alle zu feige!« Schüle verwies explizit auf die diffamierenden Maßnahmen gegen »unsere jüdischen Mitbürger« und auf die durch den Rundfunk »unter Fanfarengeschmetter« verbreitete nationalsozialistische Propaganda. Auch wenn die Mehrheit der Deutschen die Ereignisse des 9. November 1938 abgelehnt hätte, so hätten sie einst dennoch »vor dem Terror der Gestapo« geschwiegen. Unbeirrt legte der Oberstaatsanwalt den Finger in die »Wunde« der (eigenen) Vergangenheit: »Als wir nach 1945 die erschütternden Berichte aus den KZs vernahmen, als wir durch die Nürnberger Prozesse von unvorstellbaren Verbrechen erfuhren, begangen und befohlen von Deutschen, die über ein Jahrzehnt die Führung des Deutschen Reiches innegehabt hatten, da konnten und wollten wir es einfach nicht glauben – wir wollten es nicht wahrhaben, wir verschanzten uns dahinter, dass wir die Besiegten seien, denen man alles aufbürden könnte. Das war unsere Reaktion, weil wir uns sagten: Zur Begehung solcher Verbrechen können Deutsche nicht fähig sein. Der Bürger versuchte, die ihm auf diese Weise bekannt gewordenen Verbrechen aus seinem Bewusstsein zu verdrängen, was ihm umso leichter fiel, als er ja selbst die Schrecken des Krieges entweder an der Front oder in der Heimat noch in frischer Erinnerung hatte und durch das eigene Leid fremdem Leid gegenüber unempfindlich geworden war, zumal ihm das unmittelbare Erlebnis jener Vernichtungsmaßnahmen fehlte. Hinzu kam der Kampf um die eigene Existenz und die Erhaltung der Familie. Das mögen die Gründe dafür sein, dass jene Prozesse von Nürnberg von der breiten Masse vergessen wurden. Und heute? Was ist heute der Grund, warum ein großer Teil der Bevölkerung von diesem Prozess nichts mehr hören will? Es ist die Scham, die wir alle empfinden, dass Söhne unseres Volkes zu solchen Taten fähig waren.«15

Als das Urteil Ende August 1958 mit Schuldsprüchen wegen »Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord« erging, berichteten die Medien ausführlich über Um-

14 Audiomitschnitt »Plädoyer des Staatsanwalts [Schüle] im 1. Tilsiter Einsatztruppen-Prozeß (01.08.1958)«, aus: SWR-Archiv. 15 Ebd., eigene Hervorhebungen.

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fang und Grausamkeit der verübten Verbrechen.16 Obwohl das Strafmaß als zu mild bewertet wurde, würdigten die Kommentatoren das Urteil als wichtigen Schritt der juristischen Selbstreinigung. Dennoch oder gerade deswegen wurde die Forderung laut, die Ahndung von NS-Verbrechen auf eine systematische Grundlage zu stellen. So forderte der Journalist Ernst Müller-Meiningen jr. (1908–2006) in der Süddeutschen Zeitung ein Umdenken: »Was zu tun bliebe, wäre die endliche Beschaffung und Sichtung des alliierten Materials über Untaten, die Aufstellung einer zentralen Kartei unter Bemühung des Instituts für Zeitgeschichte, endlich eine zwischen Justiz- und Innenministerium von Bund und Ländern zu schaffende Absprache, um in den nächsten Jahren im Rahmen des überhaupt noch Möglichen reinen Tisch zu machen, bevor jener so beliebte ›Schlußstrich‹ wirklich guten Gewissens gezogen werden kann.«17

Jenen »Schlussstrich« wollten der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Nellmann und der baden-württembergische Justizminister Wolfgang Haußmann (FDP) (1903–1989) verhindern. Innerhalb weniger Wochen erarbeiteten Nellmann und Schüle ein Konzept zur Errichtung einer Zentralen Ermittlungsstelle. Die justizielle Ahndung von NS-Verbrechen sollte in Zukunft nicht mehr dem »Staatsanwalt Zufall« überlassen, sondern auf eine systematische Grundlage gestellt werden. Unterstützung erhielten sie dabei vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903–1968).18 Bereits Anfang Oktober 1958 verhandelten die Justizminister der Länder auf ihrer jährlichen Konferenz in Bad Harzburg über die Gründung einer entsprechenden Behörde. Unter dem Eindruck der »Blutrichter«-Kampagne der DDR gegen höhere bundesdeutsche Justizbeamte und um das publik gewordene Problem der NS-Richter möglichst »sanft« zu bereinigen,19 einigten sich die Anwesenden auf eine Kompromisslösung: die temporäre Einrichtung einer zentralen Vorermittlungsbehörde mit Sitz im baden-württembergischen Ludwigsburg. Am 1. Dezember 1958, nur wenige Monate nach dem Ulmer Urteil, nahm die »Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« ihre Tätigkeit auf. Oberstaatsanwalt Erwin Schüle wurde zu ihrem ersten Leiter berufen. Aufgabe der Ermittlungsbehörde war und ist es bis heute, das gesamte verfügbare Material über NS-Verbrechen im In- und Ausland zu sammeln, zu sichten und auszuwerten. Das Hauptziel der Ermittler ist dabei, nach Ort, Zeit und 16 LG Ulm, 29.08.1958, Ks 2/57, in: Irene Sagel-Grande / H. H. Fuchs / Christiaan F.  Rüter (Bearb.): Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, Bd. 15, Amsterdam 1976, S. 465 a-1 f. 17 Müller-Meiningen jr., Gespenstische Vergangenheit. 18 Vgl. Fritz Bauer, Mörder unter uns!, in: Stimme der Gemeinde zum kirchlichen Leben, zur Politik, Wirtschaft und Kultur 10 (1958), H. 22, S. 789–792. 19 Klaus Bästlein, »Nazi-Blutrichter als Stützen des Adenauer-Regimes«. Die DDR-Kampagnen gegen NS-Richter und -Staatsanwälte, die Reaktionen der bundesdeutschen Justiz und ihre gescheiterte »Selbstreinigung« 1957–1968, in: Ders. / A nnette Rosskopf / Falco Werkentin, Beiträge zur juristischen Zeitgeschichte der DDR, Berlin 2005, S. 53–93.

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Täterkreis begrenzte Tatkomplexe herauszuarbeiten und festzustellen, welche an den Tatkomplexen beteiligten Personen noch verfolgt werden können. Nach Abschluss der Vorermittlungen leitet die Zentrale Stelle den Vorgang an die zuständige Staatsanwaltschaft weiter. Sie koordiniert zudem die bei den bundesdeutschen Staatsanwaltschaften anhängigen Verfahren gegen NS-Verbrecher. In der entsprechenden Verwaltungsvereinbarung der Landesjustizverwaltungen vom 6. November 1958 wurde die Kompetenz der Behörde allerdings deutlich eingeschränkt: Die Zentrale Stelle sollte zunächst nur für solche NS-Verbrechen zuständig sein, deren Tatort außerhalb des Bundesgebietes lag und die im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen, jedoch außerhalb der eigentlichen Kriegshandlungen, gegenüber der Zivilbevölkerung verübt worden waren. Erst Mitte der 1960er Jahre wurde die Zuständigkeit auf die im Bundesgebiet begangenen NS-Verbrechen, auf Vorermittlungen gegen Angehörige der obersten Reichsbehörden, der obersten Parteidienststellen sowie der Lagermannschaften der im Bundesgebiet gelegenen Konzentrationslager erweitert. Verbrechen gegenüber Kriegsgefangenen gehören seither ebenfalls in den Aufgabenbereich der Zentralen Stelle.20 Es ist zu beachten, dass die Zentrale Stelle selbst zu keinem Zeitpunkt autonome staatsanwaltschaftliche Ermittlungsbefugnisse und damit einhergehend keinerlei Weisungsbefugnis besaß. In der Praxis bedeutete dies, dass die Ludwigsburger Ermittler zwar in in- und ausländischen Archiven Beweisdokumente sammeln, nicht aber selbstständig Verhöre, Zeugenvernehmungen oder gar Festnahmen vornehmen durften. Bei ihrer Arbeit gingen die in Ludwigsburg tätigen Staatsanwälte und Kriminalbeamte nach geografischen und im Einzelfall nach sachlichen Gesichtspunkten vor. Jeweils ein Sachbearbeiter war für ein entsprechend den Gebietsgrenzen während des Krieges strukturiertes Referat zuständig, für das er sich umfangreiche Spezialkenntnisse über die in diesem Bereich eingesetzten Kräfte der Verwaltung, der Polizei und über deren Befehlswege verschaffen musste. Um den Überblick über alle Verfahren und die ausgewerteten Beweisdokumente zu behalten, entwickelten die Ermittler ihr bis heute wichtigstes Ermittlungs­ instrument: die Zentralkartei. Es handelt sich hierbei um eine Namenskartei, die durch dreifache Ablage als alphabetische Kartei, Ortskartei und Einheiten- bzw. Dienststellenkartei geführt wird. Auf den Karteikarten werden alle bekannten Informationen vermerkt. Neben den Personalien – sowohl von Verdächtigen als auch von Zeugen – sind dies unter anderem der Dienstgrad, die jeweilige Einheit und der Einsatzort. Ebenso verfahren wird mit Aktenzeichen, Hinweisen auf Fundstellen in Dokumenten, Angaben zu Vernehmungen und zum Ausgang der Verfahren, um die Koordination der laufenden Verfahren zu erleichtern. Es kam vor, dass mehrere Karten pro Person angelegt wurden, wenn etwa unterschiedliche Schreibweisen, nur phonetischen Angaben oder gar nur Tarnnamen vor20 Vgl. Verwaltungsvereinbarung über die Errichtung einer Zentralen Stelle der Landes­ justizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen vom 06.11.1958, in: Zentrale Stelle (ZSt), GA 41–87, Bd. 1.

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lagen. Parallel zur Zentralkartei wurde eine eigene Verfahrenskartei aufgebaut. Sie diente als Grundlage für regelmäßig erstellte Verfahrensübersichten, die bundesweit versandt wurden. Anklageschriften und Urteile wurden ebenfalls gesammelt, um den Sachbearbeitern einen raschen Vergleich zu ermöglichen, ohne jeweils die einschlägigen Akten durchsehen zu müssen. In den Anfangsjahren der Zentralen Stelle war die Abordnung nach Ludwigsburg unter Staatsanwälten unbeliebt. Gleichwohl galt sie aber auch als hervorragende Möglichkeit, sich Vorteile für die weitere Laufbahn in der Justizverwaltung zu verschaffen.21 Hinzu kam, dass sich die Ermittlungsbehörde mit dem Teil der deutschen Geschichte befasste, unter den ein Großteil der deutschen Bevölkerung einen Schlussstrich ziehen wollte. Unwissenheit und eine brodelnde Gerüchteküche schufen mitunter bizarre Ansichten in der Bevölkerung. So zum Beispiel die Meinung einer gut situierten älteren Dame, mit der einer der Ermittler in einem Ludwigsburger Café zufällig ins Gespräch kam: »Ja, wissen Sie denn nicht, daß wir in Deutschland schon wieder von dem internationalen Judentum beherrscht werden? Zum Beispiel in Ludwigsburg haben wir, wie Sie sicher wissen, diese Stelle, wo die Nationalsozialisten verfolgt werden. Und diese Stelle, die bekommt jetzt ein neues Hochhaus gebaut. Und wissen Sie auch, wer das finanziert? Wiederum das internationale Finanzjudentum.«22

In steter Regelmäßigkeit erreichten die Zentrale Stelle gerade in den ersten Jahren Briefe, die »An die Jüdische Justizstelle für NS-Verbrechen« oder »An die jüdische Bundeszentrale Ludwigsburg« adressiert waren. Das Vorurteil, die dortigen Ermittler seien von Israel finanziert und inspiriert, hielt sich hartnäckig. Dies ging so weit, dass in Justizkreisen verschiedentlich spöttisch von der »Staatsanwaltschaft Jerusalem, Zweigstelle Ludwigsburg« gesprochen wurde.23 Die Beschimpfungen und Drohungen kamen mehrheitlich anonym per Post. Selbst wenn die Absender eine falsche Anschrift angaben, fanden die Briefe in der Regel ihren Weg zur Ermittlungsbehörde. So auch ein Schreiben, das die Anschrift »An die 175er, Ludwigsburg« trug.24 Nach Öffnen und Lesen des ent21 Rückerl zufolge musste die Zentrale Stelle in ihrer Anfangszeit mit den Landesjustizverwaltungen ringen, längerfristig geeignete Staatsanwälte zugeteilt zu bekommen, da seitens der Politik damit gerechnet wurde, die Ermittlungsbehörde nach ein bis zwei Jahren wieder schließen zu können. Adalbert Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, Heidelberg 1982, S. 161. 22 Skript »Panorama«-Sendung vom 16.05.1966, in: ZSt, GA IV-181, abrufbar unter: http://daserste.ndr.de/panorama/archiv/1966/panorama2241.html (zuletzt aufgerufen am 26.10.2020). 23 Alfred Streim, Der Umgang mit der Vergangenheit am Beispiel der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, in: Thomas Schnabel (Hg.), Formen des Widerstandes im Südwesten 1933– 1945. Scheitern und Nachwirken, Ulm 1994, S. 320–333, hier 325; vgl. ZSt, GA IV-15. 24 Bezugnahme auf § 175 StGB, der männliche Homosexualität unter Strafe stellte. Bis zu seiner Streichung 1994 wurden in Ost- und Westdeutschland fast 70.000 Menschen wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilt. Erst am 22.07.2017 trat

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haltenen Anschreibens stellten die Staatsanwälte erstaunt fest, dass die Deutsche Bundespost den richtigen Empfänger ermittelt hatte und der Brief wirklich für die Zentrale Stelle bestimmt war.25 Neben Beschimpfungen und Drohungen enthielten die Zuschriften auch Fragen nach der generellen Tätigkeit der Ermittlungsbehörde. Da das Stuttgarter Justizministerium Anfang der 1960er Jahre die Presseveröffentlichungen über die Zentrale Stelle streng kontrollierte, kursierte in der bundesdeutschen Bevölkerung ein aus Unwissenheit entstandenes Halbwissen, das bis hin zu genereller Ablehnung reichte. Dennoch machten sich die in Ludwigsburg tätigen Staatsanwälte die Mühe, die an sie gerichteten Fragen zu beantworten, was jedoch nur bedingt zum Erfolg führte, wie sie häufig der weiteren Korrespondenz entnehmen mussten. Eine Vielzahl der Skeptiker verschloss sich gegen die sachlichen Argumente der Staatsanwälte und beharrte weiterhin auf ihren eigenen, durch die Kriegs- und Nachkriegszeit entstandenen Erfahrungen und Weltanschauungen. Dass die in Ludwigsburg vorermittelten NS-Verbrechen nur bedingt im Zusammenhang mit dem eigentlichen Kriegsgeschehen standen, wie der spätere Behördenleiter Alfred Streim (1932–1996) nicht müßig wurde zu erklären, erschloss sich nur einem Teil der Briefschreiber.26 Ende der 1960er Jahre hatte sich das Bild hingegen vollkommen gewandelt. Nun mussten sich die in der Zentralen Stelle tätigen Staatsanwälte bisweilen fragen, ob die Tätigkeit in Ludwigsburg nicht dem beruflichen Weiterkommen schadete. Es überrascht daher nicht, dass Adalbert Rückerl seinen Mitarbeitern riet, sich in ihren Heimatbehörden um Beförderungsstellen zu bewerben, um »zuhause« nicht den Anschluss zu verlieren.27 Hinzu kam, dass sich die in Ludwigsburg geleistete Ermittlungs- und Auswertungsarbeit deutlich von der »normalen« staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit unterschied. Je länger die Ermittler in der Zentralen Stelle tätig waren, desto fremder wurde ihnen ihre ursprüngliche Materie und umso länger dauerte es, bis sie sich nach ihrer Rückkehr in die Technik der »normalen« Sachbearbeitung wieder eingearbeitet hatten.28 Während mancher der abgeordneten Ermittler nach Ludwigsburg kam, um dort zu »überwintern«, meldeten sich andere Staatsanwälte, die noch am Beginn ihrer Berufslaufbahn standen, freiwillig. Sie verband, teils aus persönlichen oder familiären Gründen, ein generelles Interesse an der Thematik der NS-Verbrechen. Trotz ihrer grundlegenden Bereitschaft, sich für eine befristete Zeit fern der Heimat mit den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen auseinanderzusetzen, hatten sie kaum eine Vorstellung davon, was sie in Ludwigsburg erwartete: das »Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 08.05.1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen« (StrRehaHomG) in Kraft. 25 Streim, Umgang mit der Vergangenheit, S. 324. 26 Ebd. 27 Vgl. Ulrich Broszat (Zeitzeugenbefragung), in: BArch, B 162/61, S. 33 f. 28 Vgl. Volker Eckhardt (Zeitzeugenbefragung), in: BArch, B 162/61, S. 145.

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»Das war am Anfang, muss ich sagen, doch sehr, sehr beeindruckend und vor allen Dingen hatte ich damit, mit derartigen Scheußlichkeiten, nicht gerechnet. Und hatte Mühe das zu verarbeiten. So dass ich nach ein paar Tagen mir überlegte, ob das etwas für mich ist. Ob das nicht einfach meine psychischen Kräfte übersteigt. […] ich hatte Schwierigkeiten, das aufzunehmen und zu verarbeiten, und ich habe wirklich ernstlich überlegt, ob ich nicht sagen soll: Nein, ich will nicht. Ich will wieder zurück.«29

Es gab aber auch Staatsanwälte, die bei der Zentralen Stelle ihre Lebensaufgabe fanden. Einer von ihnen war Adalbert Rückerl (1925–1986), der Erwin Schüle im September 1966 als Behördenleiter nachfolgte.30 Sein Lebenslauf war für seine Generation typisch: Er wurde von nationalsozialistischen Jugendorganisationen geprägt und im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront eingesetzt. Zur »Stunde null« 1945 war er ein junger Erwachsener von 20 Jahren, der sich seinen Lebensunterhalt und sein Studium selbst finanzieren musste. Als bei der Staatsanwaltschaft Bielefeld Anfang der 1960er Jahre Staatsanwälte für die Abordnung an die Zentrale Stelle gesucht wurden, meldete er sich freiwillig, da ihn »die Materie interessierte«.31 Das Amt des Ludwigsburger Behördenleiters bedeutete für Rückerl weit mehr als nur die Verwaltung und Repräsentation der ihm unterstellten Dienststelle. Für ihn gehörte dazu neben der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsarbeit auch die Arbeit als Historiker: das Aufdecken und vor allem die umfassende Dokumentation der nationalsozialistischen Verbrechen. Dieses Selbstverständnis war für seine Arbeit von zentraler Bedeutung und unterschied ihn von seinem Vorgänger Schüle. Rückerl stellte die Opfer des Nationalsozialismus in den Mittelpunkt seiner Arbeit: »Wesentlich ist, daß man den Menschen die Chance gibt, ihre Erlebnisse zu schildern, daß man diese Erlebnisse festhält – für welchen Zweck auch immer –, um jedenfalls der Nachwelt die Möglichkeit zu geben, zu sehen, was sich ereignet hat.«32

Die jahrelange Tätigkeit in Ludwigsburg lehrte ihn, wie wichtig Öffentlichkeitsarbeit war – gerade für Organe der Justiz. Bereits früh mussten die Ermittler der Zentralen Stelle lernen, dass einer ihrer größten »Gegner« das in der bundesdeutschen Gesellschaft vorhandene Unwissen über die im Namen des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen war. Das »Nicht-Kennen-Wollen« der Ereignisse und die daraus hervorgehenden Vorurteile über die strafrechtliche 29 Gespräch der Verfasserin mit Eberhardt Frick, einem ehemaligen Mitarbeiter der Zen­ tralen Stelle, am 12.02.2013. 30 Ausführlich zur »Affäre Schüle« und zur NS-Belastung des ersten Behördenleiters Schüle: Hofmann, »Ein Versuch nur«, S. 223–295. 31 Mit dieser Statistik müssen wir leben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.02.1984. 32 Adalbert Rückerl, Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen, in: Evangelische Akadamie Bad Boll (Hg.), Die Justiz und der Nationalsozialismus (II). Die Bundesrepublik Deutschland und die NS-Verbrechen, Bad Boll 1981, S. 35–50, hier 50.

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Ahndung von NS-Verbrechen erschwerten die Arbeit der Ludwigsburger Ermittler. Durch medienwirksame NS-Prozesse und die öffentlichen Debatten um die Verjährung von Mord wuchs das Interesse der bundesdeutschen Gesellschaft an der Arbeit der Zentralen Stelle während Rückerls Amtszeit merklich.33 Zugleich setzte auch in den Ludwigsburg vorgesetzten Ministerien ein Umdenken ein: Nachdem jahrelang versucht worden war, die Darstellung der Ermittlungsbehörde in der Berichterstattung zu kontrollieren und auf ein Minimum zu beschränken, förderten Stuttgart und Bonn ab Ende der 1960er Jahre Rückerls offensiven Umgang mit der Presse und interessierten Bürgern. Wiederholt verwies der Ermittler darauf, dass das Ansehen der Bundesrepublik nicht durch die NS-Prozesse »in den Dreck gezogen« werde; dies seien einzig und allein die Folgen der im »Dritten Reich« begangenen Verbrechen. Im Gegenteil, die Prozesse gegen NS-Täter trügen ihrerseits dazu bei, die verloren gegangene Achtung wiederzuerlangen. Der Oberstaatsanwalt vertrat den Standpunkt, dass die bundesdeutsche Justiz zwingend ihren Beitrag zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit leisten müsste – aber eben nur einen Beitrag, da die eigentliche Arbeit in den Köpfen der Menschen stattfinden musste. Nur die bundesdeutsche Gesellschaft selbst könne verhindern, dass die Vergangenheit wieder auferstehe und zu neuer Gegenwart werde: »Wer die NS-Prozesse aus Patriotismus ablehnt, zeigt nur, wie unterentwickelt sein Patriotismus im Grunde ist.«34 Die Publizistik bot dem Ermittler die Möglichkeit, in diesem Sinne tätig zu werden. Durch sie erreichte er eine Leserschaft weit über die juristische Fachwelt hinaus. Rückerl legte mit seinen Werken über die strafrechtliche Aufarbeitung von NS-Verbrechen und die nationalsozialistischen Vernichtungslager grundlegende historische Arbeiten vor, die noch heute zur Standardliteratur zählen.35 Als Leiter der Zentralen Stelle trat Adalbert Rückerl für Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit ein, ohne dabei mahnend den moralischen Zeigefinger zu erheben. Er wollte nicht als Rächer der Opfer des Nationalsozialismus auftreten, sondern durch seine Arbeit die Erinnerung an das erlittene Leid vieler Millionen Menschen wachhalten. Sein Einsatz für die strafrechtliche Aufarbeitung der NSVerbrechen war seine persönliche Art der Wiedergutmachung. Der Kontakt zu jungen Menschen lag ihm dabei besonders am Herzen, zumal ihn seine Arbeit ganz im Sinne der Generalprävention lehrte, dass der Schlüssel für die demokratische Zukunft der Bundesrepublik in der Weitergabe und Vermittlung des Wissens über die Vergangenheit lag. Den populären Begriff der »Vergangenheitsbewältigung« lehnte der Ermittler ab. Seiner Meinung nach verleite er dazu, einen 33 Rückerl stand der Zentralen Stelle bis Mai 1984 als Leitender Oberstaatsanwalt vor. 34 Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, S. 20. 35 Exemparisch: Adalbert Rückerl (Hg.), NS-Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse. Belzec, Sobibor, Treblinka, Chelmno, München 1979; Ders., Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945–1978. Eine Dokumentation, Heidelberg 1979; Ders. / Eugen Kogon / Hermann Langbein (Hg.), Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. 1983.

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Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, anstatt sich – so unangenehm es auch sei – mit dem eigenen Handeln und der persönlichen Mitverantwortung auseinanderzusetzen: »Man kann nun einmal aus der Geschichte nicht lernen, wenn man die Geschichte nicht kennt.«36 Abschließend ist festzuhalten, dass die Ermittler der Zentralen Stelle über die Jahre und im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen wichtigen Teil dazu beitrugen, dass NS-Verbrechen zu einer nicht mehr zu verschweigenden oder gar zu leugnenden Wahrheit wurden. Die Ludwigsburger Behörde wurde regelrecht zur Projektionsfläche der bundesdeutschen Erinnerungsdebatte. Umso bedeutsamer ist die 2015 getroffene Entscheidung der Justizministerinnen und Justizminister der Länder, die Ermittlungstätigkeit der Zentralen Stelle in Ludwigsburg auf unbestimmte Zeit fortzuführen.37

36 Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, S. 14. 37 Beschluss der 86. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister der Länder vom 17./18.06.2015.

IV. Die Verantwortung der Juristen

Edzard Schmidt-Jortzig

Die »Akte Rosenburg«: Eindrücke und Rückschlüsse zur Aufarbeitung von NS-Unrecht

Das überaus verdienstvolle Forschungsprojekt »Rosenburg«1 hat viele Hinter­ gründe des Wieder-Fuß-Fassens von Recht und Justiz in Deutschland nach dem Krieg aufgehellt, Faktenzusammenhänge freigelegt und neue Einsichten vermittelt. Es hat aber auch, wie ich finde, manch weniger befriedigende Wahrnehmung hervorgerufen. Und diesen Gedanken soll hier – natürlich recht subjektiv – nachgegangen werden. Die Diskussion über den angemessenen Umgang mit der nationalsozialisti­ schen Vergangenheit unseres Gemeinwesens und die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind, ist jedenfalls noch längst nicht zu Ende.

I. Da ist zunächst die Frage, wem es denn im Grunde zuzurechnen sei, dass das Herausarbeiten aus dem NS-Unrecht bloß schleppend – nicht wenige meinen sogar: nur halbherzig – erfolgte und die Täter im Endeffekt nie vollständig zur Rechenschaft gezogen wurden. Erneuten Anlass zu dieser Problematisierung gibt im Rosenburg-Bericht das Exempel mit der 1968 gesetzlich herbeigeführten2 Verjährungssperre für eine weitere Verfolgung bestimmter Tatbeteiligter. Die noch einmal herausgestellten Vorgänge werden dort nämlich in dem Resümee zusammengefasst, dass die verdeckte Amnestie, welche durch den betreffenden Regelungsschritt für zahlreiche in das NS-Unrecht verstrickte Personen zustande kam, tatsächlich »vom Gesetzgeber nicht gewollt« gewesen sei.3 Auch 1 Manfred Görtemaker / Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016. 2 Ausgelöst durch Art. 1 Nr. 6 Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten – EGOWiG – vom 24.05.1968 (BGBl. I, S. 503), mit dem ein neuer § 50 Abs. 2 in das Strafgesetzbuch (StGB) eingefügt wurde, der seinerseits nun im Zusammenspiel mit einer bestimmten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs den beschriebenen Effekt hervorrief. 3 In dem Hauptwerk von Görtemaker / Safferling (siehe Fn. 1) wird das Problem noch lediglich in Frageform thematisiert, und zwar als Zwischenüberschrift zu Abschnitt II, II. 4 (S. 399): »Die ›kalte Amnestie‹: Parlamentarische Panne oder perfider Plan?«  – die naheliegende Schlussfolgerung wird allerdings schon recht deutlich. In der Erläuterungsbroschüre vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Hg.), Die Ro-

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von anderen wurde das Geschehen zuvor wiederholt als »Verjährungspanne« bezeichnet. Die maßgebliche Vorschrift fand seinerzeit in der Tat quasi »versteckt« Eingang ins Parlament, und die Verabschiedung des Gesetzes ging ohne große Debatte über die Bühne. Das augenscheinlich rein bereichsspezifische »Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten« enthielt eben – an ganz unscheinbarer Stelle – auch eine eigentlich systemfremde Norm, die dann über eine gewisse Verweisungs- und Konklusionskette dazu führte, dass Strafverfahren gegen bestimmte Helfer bei nationalsozialistischen Untaten nach dem 8. Mai 1960 nicht mehr eröffnet werden konnten.4 Der Rosenburg-Bericht greift damit die in der Tat erstaunlichen Vorgänge um den seinerzeitigen Legislativakt wieder auf und kommt zu dem Schluss, dass die in der Gesetzgebung entscheidenden Leute damals mehr oder weniger zwangsläufig in Unkenntnis geblieben seien, was genau sie dann beschlossen. Aber die daraus gezogene Folgerung will mir denn doch nicht so recht einleuchten. Es dürfte zwar unbestritten sein, dass der Ministerialdirigent Eduard Dreher  – vor 1945 Nationalsozialist, Staatsanwalt am Sondergericht bzw. Mitwirkender an verschiedenen Todesurteilen und dann 1966 bis 1969 Unterabteilungsleiter Strafrecht im Bundesjustizministerium (BMJ)  – bei der Entwurfserarbeitung eine maßgebliche Rolle gespielt hat.5 Und unverkennbar ist auch, dass in der Entwurfsbegründung für das Parlament keinerlei ausdrücklicher Hinweis auf die Tragweite der Vorschrift, auf die es ankam, gegeben wurde. Aber dem Parlament bzw. den dort für das Gesetz ausschlaggebenden Politikern durchgehen zu lassen (und darauf deutet ja eine Bewertung als »Panne« oder »ungewollt« hin), dass ihnen, weil unwissend, das, was dann verabschiedet wurde, nicht zuzurechnen sei, kann m. E. nicht überzeugen. Schon rein staatsrechtlich ist einfach unverrückbar, dass Gesetze vom Parlament, das heißt von den Abgeordneten und niemandem sonst, beschlossen werden (Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG). Und dieser anspruchsvollen Aufgabe hat sich senburg. Informationen zur Arbeit der Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im BMJ (2016), S. 4, taucht die entsprechende Einordnung dann aber expressis verbis als Quintessenz der Untersuchung auf (abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Rosenburg_Broschuere. pdf?__blob=publicationFile&v=11). 4 Zum Ganzen eingehend und minutiös Görtemaker / Safferling, Die Akte Rosenburg, S. 399 ff. Ansonsten auch etwa Monika Frommel, Taktische Jurisprudenz – Die verdeckte Amnestie von NS-Schreibtischtätern 1969 und die Nachwirkungen der damaligen Rechtsprechung bis heute, in: Matthias Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit. Festschrift für Hubert Rottleuthner, Baden-Baden 2011, S. 458–473. 5 Als Prämisse für wirklich kollusives Handeln müsste man im Übrigen noch davon ausgehen, dass Dreher sogar die nachfolgende BGH-Rechtsprechung, die ja direkt den fatalen Effekt erst auslöste, schon vorhergesehen hätte (oder sollte die Intrige sogar bis in den Bundesgerichtshof gereicht haben? – was denn aber wohl doch eine zu abenteuerliche Spekulation wäre).

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jeder Abgeordnete nach bestem Wissen und Gewissen zu stellen, das heißt ohne Verweisungsmöglichkeit auf irgendwelche von anderswo kommenden Einflüsse (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG). Selbst wenn er dabei einmal nachlässig gewesen sein sollte, darf seine volle Verantwortung hierfür niemals in Frage stehen. Außerdem scheint mir die starke Fixierung auf eine Reizfigur wie Eduard Dreher auch ein wenig davon abzulenken, welche Stimmung damals tatsächlich in der Bevölkerung herrschte und was vielleicht politisch erwogen wurde, wie man bei den angespannten Verhältnissen damit umgehen sollte. 1967/68 war die Zeit der ersten Eruption von Protesten gegen überkommene Einstellungen und Autoritäten (außenpolitische Akzeptanz von Unterdrückungsregimen in Persien / Iran, Nicaragua oder Vietnam, vermeintliche Kapitalismusrenaissance, »Muff unter Universitätstalaren«, Notstandsverfassung). Da sollte nun nicht noch Erregung wegen weiterer strafrechtlicher Aufdeckung vergangener NSGehilfenschaft hinzukommen. Es mochte also nahe liegen, das Thema jetzt ohne großes Aufheben zu einem gewissen Ende zu bringen – erst recht, wenn man es nicht aktiv bzw. offen betreiben, sondern nur geschehen lassen musste. Auch stand noch die große und grundsätzliche Debatte über Mordverjährung bevor, und da mochte diese Teilbereinigung nicht unwillkommen sein. Es lässt sich mithin gut vorstellen, dass man sich der verkappten »Helfer-Amnestie« zwar nicht von vornherein bewusst war, geschweige denn sie mitangezettelt hatte, aber dann eben doch die Zusammenhänge durchschaute und das entstandene Glacis sehr wohl zu nutzen wusste.6 Gewisse Bestätigung ziehe ich auch aus der Bemerkung eines Zeitzeugen. Am Rande einer Tagung in Bonn kam ich 2014 mit dem von mir fachkollegial sehr geschätzten, schon recht betagten Horst Ehmke zusammen. Er war 1967 bis 1969 Staatssekretär im Bundesjustizministerium unter Minister Gustav Heinemann gewesen. Irgendeines Zusammenspiels mit möglichen Urhebern des problematischen Gesetzgebungsschrittes ist er gewiss ganz unverdächtig. Ich halte und hielt ihn aber schon per se auch für viel zu scharfsinnig und gewieft, als dass er Gesetzentwürfe aus seinem Hause, die er »absegnete«, nicht voll erfasst oder jedenfalls anschließend (zumal wenn sie sich als doch heikler entpuppten) in ihren Auswirkungen durchschaut hätte. Als ich ihn im Laufe unserer Unterhaltung auch auf die Geschichten ansprach, die sich um das ominöse OWiG-Einführungsgesetz rankten, antwortete er mir jedenfalls mit einem verschmitzten Lächeln und vielsagend: »Davon haben manche gewusst.« Es entsprach damals außerdem einer breiten Meinung, man solle doch mit dem Wühlen in der Vergangenheit endlich aufhören und die nicht unverzeihlich belasteten, sich von alten Überzeugungen lossagenden sowie jetzt für den Wiederaufbau einsetzenden Menschen mitmachen lassen; man brauche sie

6 Dass mindestens die Ministeriumsspitze die Situation erkannt hatte, lässt sich m. E. auch aus einer Antwort des Ministers auf eine Abgeordnetenfrage am 16.01.1969 herauslesen: Bundestag StenB. 5/11261 f.

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dafür schließlich, und für einen Neuanfang sei allemal Versöhnung besser als Vergeltung. Unverkennbar reichte diese Einstellung auch bis in die Politik. Dass der Wunsch nach einer (wie auch immer zu bewerkstelligenden) Begrenzung der Vergangenheitsaufarbeitung seinerzeit eben durchaus virulent war, muss heute jedenfalls bei der Bewertung damaliger Vorgänge stets mitbedacht werden. Man sollte deshalb nicht vorschnell der plakativen Erzählung vom zielgerichteten heimlichen Gesetzgebungs-Coup alter Nazis im BMJ folgen und damit die Gesellschaft sowie die Politik – zeitgebunden, wie sie eben waren – von ihrer Verantwortung für das Geschehene freisprechen.

II. So wichtig die Aufdeckung aller geschichtlichen Zusammenhänge und personellen Kontinuitäten für jeden staatssystematischen Neustart auch sein dürfte, so wenig darf eine wirkliche Aufarbeitung dabei stehen bleiben. Vor allem aber sollte die sicher verständliche und berechtigte Genugtuung über das entsprechend Geleistete nicht zum Darin-sich-Einrichten verleiten. Es mag ja der menschlichen Neigung zur Selbstgerechtigkeit entsprechen, die bewiesene Tüchtigkeit auch gebührend herauszustellen. Aber das darf nicht zur Überdeckung des eigentlich Notwendigen führen (welches ja das Ganze auch im Grunde erst legitimiert), nämlich sich um eine dauerhafte Bestärkung der nun hoffentlich geweckten Sensibilität für die Anfänge und Auswirkungen einer so verhängnisvollen Entwicklung wie der erforschten zu bemühen. Das ausgiebige Feiern und Betonen der Verdienste des Rosenburg-Berichts sollte deshalb keinesfalls den Eindruck aufkommen lassen, dass sich die Betreiber des schönen Projekts damit vor allem selber präsentieren möchten und in ihrer eigenen vorbildlichen Abwehrhaltung gegen neonationalistische Anwandlungen bestätigt und anerkannt sehen wollen. In einer Mediendemokratie kann zwar gewiss die Devise gelten: »Tu Gutes und sprich darüber«. Aber der Werbe- und Präsentationseffekt darf nicht zu laut werden. Und vor allem darf man dabei nicht stehen bleiben. »Si monumentum requiris circumspice«, mahnt eine Widmung in der Londoner St. Paul’s Cathedral:7 Wenn du das Monument erblickst, halte ein und schaue noch umher. Das Weiterblicken also ist notwendig, um den Dingen voll gerecht zu werden. Mit dem angestrengten Bemühen um die Sache fortzufahren, bleibt das entscheidende Moment, wenn man Wirkung erzielen will. Und das gilt auch (und erst recht) für die Aufarbeitung des NS-Unrechts. Sie setzt weiterhin beharrliche, nachhaltige Kärrnerarbeit voraus, nicht nur, um den eigentlichen Sinn des bisher Geschafften zu verdeutlichen, sondern zum bleibenden Nutzen für Gesellschaft und Staat.

7 Auf dem Epitaph des Erbauers der berühmten Bischofskirche, Sir Christopher Wren (1632–1722).

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III. Damit ist auch bereits die Frage aufgeworfen, was denn letztlich unser Anliegen, unser Ziel bei der beständigen, angestrengten Beschäftigung mit der unseligen jüngeren deutschen Vergangenheit ist. Zunächst muss es sicher der Wunsch sein, die im deutschen Namen angerichteten immensen Wunden und Schäden so weit es geht auszugleichen. Wirklich wiedergutmachen können wir das Geschehene ja nicht. Gewisse Linderung aber etwa durch Entschädigung, gezielte Entwicklungshilfe oder Freundschaftsprogramme ist möglich und wird eben auch entschlossen unternommen. Vor allem indessen gilt es, überhaupt erst einmal den Opfern angemessenen Respekt zu zollen und sie – jedenfalls im Nachhinein – wieder ins Recht zu setzen. Aber der Auftrag reicht weiter, und das hat mir mit großer Eindringlichkeit ein einziger Satz einer Hinterbliebenen klargemacht. Aus irgendeinem Zeitungsbeitrag zum 50. Jahrestag der Hinrichtung Dietrich Bonhoeffers hatte ich entnommen, dass die schändlichen Urteile der nationalsozialistischen Volks-, Stand- und Sondergerichte gegen Widerstandskämpfer, Deserteure und Dissidenten juristisch noch immer Bestand hätten und die Opfer also de jure weiterhin als vorbestraft gelten würden.8 Ich nahm mir deshalb vor, dieses Desaster unbedingt auszuräumen und die Aufhebung jener Urteile herbeizuführen. In der einsetzenden Diskussion hatte das Ziel dieser Initiative  – nicht nur im Bundesministerium der Justiz – rasch die Kennzeichnung »Rehabilitation« der ­NS-Opfer erhalten. Und als ich im Zuge der Bemühungen die mir noch aus meiner Göttinger Universitätszeit bekannte und verehrte greise Zwillingsschwester Bonhoeffers, Sabine Leibholz, anrief, entgegnete sie mir, das freue sie natürlich, aber: »Nicht Dietrich muss rehabilitiert werden, ihn erheben schon sein Opfer und sein Weg über alles, sondern Deutschland ist es, das rehabilitiert werden muss.« Dieser Satz hat mich tief bewegt und beeindruckt. – Als dann 1998 nach einiger Mühe9 das »Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte« zustande gebracht war,10 teilte ich das Frau Leibholz mit. Und ihr Dank – sie starb 93-jährig ein Jahr später – ist mir eine der eindringlichsten Erinnerungen an meine Zeit als Minister. 8 Das im KZ Flossenbürg gegen Bonhoeffer und andere ergangene Urteil eines Standgerichts vom 08.05.1945 hätte tatsächlich, weil Flossenbürg in Bayern liegt, bereits nach einem bayerischen Gesetz vom 28.05.1946 aufgehoben werden können, freilich nur auf Antrag. Das aber war offenbar nicht geschehen oder wurde jedenfalls außerhalb Bayerns nicht zur Kenntnis genommen. Denn der BGH ging noch in einer Entscheidung vom 19.06.1956 (1 StR 50/56: Freispruch für den seinerzeitigen Vorsitzenden des Ad-hoc-Tribunals) ohne weiteres von der formellen Rechtsgültigkeit des Flossenbürger Urteils aus. 9 Nur mit Hilfe einer sozialdemokratischen Landesjustizsenatorin und des Bundesrats, wo die SPD seinerzeit über die Mehrheit verfügte – aber das ist eine andere Geschichte. 10 Gesetz vom 25.08.1998 (BGBl. I, S. 2501).

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Es geht mithin bei allen Wiedergutmachungsschritten, um die wir uns bemühen, neben Ausgleichseffekten für die Opfer und ihre Hinterbliebenen letztlich darum, den Makel wieder loszuwerden, der Deutschland seit dem in seinem Namen herbeigeführten Grauen anhaftet. Wir müssen uns die Wiederaufnahme im Kreis der gesitteten, geachteten Staaten erst erarbeiten, und zwar ernsthaft und glaubwürdig. Und das geht nicht durch ein, zwei spektakuläre Aktionen, sondern nur durch beharrliches, substanzielles Bemühen.

IV. Mit dem Versuch dieser unserer, nein: Deutschlands Rehabilitation aber ist es nicht getan. Wirkliche Läuterung kann nur gelingen, wenn wir es schaffen, Einsicht in Handeln umzusetzen. Wichtig ist deshalb, Strategien zu entwickeln, um jedem neuerlichen Hineingeraten in derart menschenverachtende Ideologien, Zustände und Konstrukte wie in der Vergangenheit vorzubauen. Auch eine noch so verdienstvolle Aufdeckung früherer Untaten, Fehlentwicklungen und Zusammenhänge durch Forschungsprojekte oder Dokumentationen darf niemals die hier und heute gestellte Aufgabe verdecken, die richtigen Lehren zu ziehen. Aufgegeben ist uns also die Stabilisierungsvorsorge für unsere mühsam wiederhergestellte rechtsstaatliche und der Menschenwürde verpflichtete Gemeinschaftsordnung. Es geht um möglichst wirksame Immunisierung gegen ähnliche Anfechtungen wie damals, und die darf sich nicht in abstrakten, theoretischen Erwägungen oder Mahnungen erschöpfen, sondern muss ganz konkret und praktisch erfolgen. Das Forschungsprojekt »Rosenburg« legt nicht nur das Wieder-Fuß-Fassen alter NS-Handlanger im neuen Vollzugsapparat der Bundesrepublik Deutschland offen, sondern rückt über deren persönliche Involvierung auch generelle Erkenntnisse ins Bewusstsein. Dass Juristen im damaligen Unrechtssystem mittaten, war ja kein Ausnahmefall. Es stellt sich also die Frage, weshalb sie so anfällig und verführbar für jene Abwege waren und wie man dagegen nun Abhilfe schaffen könne. Folgerichtig wurde deshalb nach Vorlage des Berichts die Idee geboren (und seither vielfach unterstützt), die heutige Juristenausbildung um Elemente zur Stärkung von Gewissenhaftigkeit, moralischer Verantwortung und eigenständig-kritischer Reflexion des beruflichen Tuns zu ergänzen.11 Es sollten mithin bereits im Studium Lehrveranstaltungen sowie später im Referendariat Arbeitsgemeinschaften zum Thema »Ethik« angeboten und unter Umständen auch zur Pflicht gemacht werden. 11 Wiederholt beim 6. Rosenburg-Symposium (in Hamburg am 29. Juni 2016) »Die Rosenburg – Folgerungen für das Ethos der Juristen«, oder Staatssekretärin Christiane Wirtz am 16. März 2017 in Leipzig zur Eröffnung der begleitenden Ausstellung; beides abrufbar unter: http://www.bmjv.de/DE/Ministerium/GeschichteBMJV/Rosenburg/Rosenburg_ node.html (zuletzt aufgerufen am 21.04.2020).

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Nun liegt der Ruf nach (wieder) stärkerer Berücksichtigung von metadisziplinären Gesichtspunkten im juristischen Alltag und die diesbezügliche Sensibi­ lisierung wie Bestärkung der jungen Juristen sicher nahe. Und die intuitiven wie sozial erwünschten Maßstäbe, die bei solcher Selbstprüfung der Juristenarbeit eine Rolle spielen sollten, lassen sich augenscheinlich in dem Kennwort »Ethik« zusammenfassen. Dass man diese Ausrichtung nun ausdrücklich einfordert, entspringt zudem der Erkenntnis, dass einschlägige Skrupel bei den Juristen im NS-Staat eben zu kurz kamen und derzeit womöglich wieder ins Abseits zu geraten drohen. Auffallend ist im Übrigen auch, dass heute nicht nur hier, sondern allenthalben der Ruf nach mehr Beachtung von Nachhaltigkeit, Gemeinverträglichkeit und Menschengerechtheit bei öffentlichen Entscheidungen erhoben wird und man deshalb Ethikräte, Ethikkommissionen, Ethikbeauftragte usw. einschaltet, um die Berücksichtigung der betreffenden Aspekte sicherzustellen.12 Nach einschlägigen Erfahrungen auf diesem Feld hege ich jedoch eine gewisse Skepsis gegenüber solchen von außen kommenden Ethiklektionen. Das Verordnen ethischer Erwägungen, die Einschaltung besonderer ethischer Prüfstationen oder eine aufgegebene Entscheidungsbegründung mit »ethischen Gesichtspunkten«, sie sind nach meiner Beobachtung eher ein Alarmsignal als eine Hilfe und gehen letztlich am Kern des Bedarfs vorbei. Das liegt schon daran, dass »Ethik« – bei Lichte besehen – ja nichts anderes ist als das, was sich methodisch aus den meist intuitiven, immer subjektiven moralischen Reaktionen der Menschen auf die Zustände und Vorgänge in ihrer sozialen Umwelt herausfiltern, kritisch analysieren und womöglich verallgemeinern lässt. Die Ergebnisse hierzu variieren demgemäß je nach philosophischem Ansatz, der dafür genommen wird; das Spektrum reicht von Gesinnungsethik über Verantwortungsethik bis Prinzipienethik, von Deontologie über Egalitarismus bis Utilitarismus. Im Englischen wird der Begriff deshalb nur im Plural gebraucht: »ethics«, also Ethiken statt die Ethik. Werden mithin bestimmte ethische Verhaltensweisen an die Hand gegeben, angeraten oder verordnet, verbirgt sich dahinter immer die spezielle Sicht der konkreten jeweiligen Festlegungsinstanz und deren Erkenntnismaßstab – weshalb die betreffende Einrichtung in der Regel auch pluralistisch besetzt wird, damit man auf diese Weise aus den vielen unterschiedlichen Beurteilungen zu möglichst repräsentativen, nämlich mehrheitlich gefundenen Vorgaben kommen kann. Der Einzelne jedenfalls soll sich bei seinem persönlichen Entscheidungsauftrag dann letztlich nach dritten, für ihn fremden Leitvorstellungen richten.13 12 Hierzu Edzard Schmidt-Jortzig, Ethik, in: Gerhard Igl / Felix Welti et al., Gesundheitsrecht, 3., neu bearb. Aufl., München 2018, § 56 Rn. 2 ff. 13 Was im Übrigen auch verfassungsrechtliche Probleme aufwerfen kann, weil die über ihr Handeln entscheidende Person in ihren Grundrechten eingeschränkt wird (Persönlichkeitsrecht, Forschungsfreiheit, allgemeine Handlungsfreiheit), die entsprechende Vorschreibung mit dem schlichten Hinweis auf »Ethik« womöglich gegen das Bestimmtheitsgebot verstößt und / oder die begrenzte Nachprüfbarkeit jener dritten Ethikentscheidung auch wohl mit der Rechtsschutzgarantie kollidiert. Vgl. etwa Jochen Taupitz, Recht und

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Hinzu kommt aber noch, dass eine entsprechende Institutionalisierung bei den Menschen allzu leicht Freizeichnungstendenzen weckt und damit das eigentlich Notwendige eher verdeckt als gefördert wird. Wenn sich nämlich die unter Umständen doch mühevolle eigene Gewissensprüfung ersparen lässt, weil man auf Andere – nicht nur vorgeschaltete dritte Ethikgremien, sondern auch einst erbrachte und damit guten Gewissens »abgeheftete« Lerndeputate – verweisen kann, liegt die Neigung nahe, das auch zu tun und sich auf diese Weise zu entlasten. Als 2011 zum Beispiel beim Deutschen Bundestag die anspruchsvolle, schwierige Entscheidung über eine mögliche Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) anstand, entschied man sich bekanntlich, zuvor noch den Deutschen Ethikrat um ein Votum zu bitten. Und als dieses dann verständlicherweise nicht in eine klare Empfehlung mündete, sondern nur in einer ausführlichen Aufarbeitung und Bewertung der verschiedenen Sichtweisen bzw. Argumente bestehen konnte,14 gab es – weil man sich nun doch noch selber um eine Position bemühen musste – hörbaren Protest aus dem Abgeordnetenkreis, und der gesundheitspolitische Sprecher einer großen Fraktion wollte deshalb sogar die Daseinsberechtigung des Ethikrats in Frage stellen. Ausdrückliche Ethik-Lernblöcke für angehende Juristen lenken deshalb m. E. nur davon ab, dass es immer jeweils die eigene Verantwortung (und nur sie) ist, in der man mit seiner Arbeit steht, und man sich also selber um die moralische, sittliche Gediegenheit seiner Entscheidungen zu bemühen hat. Ich habe meinen Studenten bei Übungsfällen immer geraten: »Wenn Sie nach intensiver dogmatisch und methodisch schulmäßiger Herleitung schließlich ein Ergebnis gefunden haben, fragen Sie sich stets, ob Sie es auch ganz allgemein so für angemessen halten, und wenn nicht, steigen Sie noch einmal in die Prüfung ein, ob nicht an irgendeiner Stelle der Herleitung doch auch ein anderer Weg möglich gewesen wäre.« Es ist nur das eigene, höchstpersönliche moralische Urteil, das einen Menschen vor willfährigem Mittun bei Unrechtsentwicklungen schützen kann.

V. Für den Juristen freilich kommt m. E. noch etwas Spezifisches hinzu, was schon über den Rosenburg-Bericht hinausweist, dessen Gefährdung aber auch gerade wieder sehr deutlich wird. Es geht um eine gewissermaßen besondere Form Ethik: Komplementär und dennoch defizitär?, in: Utz Schliesky et al. (Hg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa. Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig, Heidelberg 2011, S. 825–840, hier 828, 837 f.; oder Schmidt-Jortzig, Ethik, in: Igl / Welti, Gesundheitsrecht, § 58 Rn. 11 f. 14 Deutscher Ethikrat, Präimplantationsdiagnostik. Stellungnahme, 08.03.2011, Berlin 2011, abrufbar unter: https://www.ethikrat.org/mitteilungen/2011/deutscher-ethikrat-legtstellungnahme-zur-praeimplantationsdiagnostik-vor/ (zuletzt aufgerufen am 21.04.2020). Und anschließend dann Parlamentsbeschluss des »Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik« – PräimpG – vom 21.11.2011 (BGBl. I, S. 2228).

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der Ethik, nämlich um eine »Ethik des Rechtsbewusstseins«, den konkreten Willen zum Recht. Und »Recht« ist dabei – was man heute wohl wieder betonen muss – nicht etwa das just als gerecht Empfundene, sondern das festgelegte, für alle geltende Reglement zur Ordnung des Gemeinschaftslebens. Mit »Wille zum Recht« ist also der eindeutige Vorsatz gemeint, eben das, was einem dieses verbindliche Regelwerk vorschreibt, und das, wozu man sich nach dessen Vorgaben, mithin rechtlich verpflichtet hat, auch wirklich einzuhalten – selbst wenn die ökonomischen oder politischen Kosten hoch sind und die Verlockung, einmal »geschmeidig« abzuweichen, groß sein mag. In der Realität beobachtet man heute zunehmend, dass Vorschriften, die auch nicht nur aus offensichtlich bürokratischem Regelungseifer ergangen sind, sondern durchaus vernünftig erscheinen, häufig einfach ignoriert werden, und zwar nicht aus Unwissenheit, sondern aus Gewohnheit, aus Bequemlichkeit oder auch nur, weil ihre Einhaltung nicht ernstlich kontrolliert wird; im täglichen Leben begegnet einem das an vielerlei Stellen. Und auf der internationalen, globalen Ebene scheint es nachgerade üblich zu werden, Völkerrechtsnormen unbeachtet zu lassen (bzw. den Vorwurf der Völkerrechtswidrigkeit als unerheblich beiseite zu schieben) oder rechtliche Zusicherungen, die zuvor bei einschlägigen Konferenzen abgegeben wurden, hinterher einfach zu übergehen, jedenfalls ihnen nicht nachzukommen.15 Dass dies einem Juristen schon berufsethisch contre cœur gehen muss, liegt auf der Hand. Juristerei ist eben nicht nur ein Handwerk, eine bestimmte Gedankenschulung oder einfach Auslegungstechnik oder Methodenbeherrschung. Sie ist – oder sollte es jedenfalls sein – auch eine Einstellungssache, eine Frage bewusster Haltung zum Recht. Und die gilt es bereits in der Juristenausbildung mit zu vermitteln und dann im professionellen Rechtsalltag zu verfestigen.

VI. Als »Rosenburg-Lehre« muss danach gelten: Für jeden »Arbeiter im Weinberg des Rechts« kommt es stets auf die ganz eigene Rechtschaffenheit, auf das strikte Bestehen-Können vor dem eigenen Gewissen an. Es geht um das unverzichtbare Bewusstsein, dass man für alles (auch eben fachliche) persönliche Tun oder konkrete Nichttun unausweichlich selber einzustehen hat und es kein Ziel angeb15 Bei Ersterem tun sich leider besonders die beiden (überkommenen) Großmächte hervor; längst muss man sich ja ohnehin schon Sorgen um die Universalität des Völkerrechts machen. Und das Letztere betrifft eben nicht nur etwa Finanzierungszusagen, die man bei Förderkonferenzen öffentlichkeitswirksam gab. Erfasst werden vielmehr auch direkt Frieden sichernde oder Bevölkerung schützende Vereinbarungen. Hinterher scheinen dann finanzielle oder machtpolitische Interessen oft einfach wichtiger, und das Unverfrorenste ist anschließend, dass bzw. wenn bei späteren Konferenzen scheinheilig versprochen wird, jetzt aber die Verpflichtungen auch wirklich einzuhalten – was nachfolgend dann leicht erneut »vergessen« wird.

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licher Juristenkunst sein darf, diese Verantwortlichkeit in einem komplizierten Zuständigkeitssystem irgendwie zu verstecken oder auf andere zu verlagern. Hierfür das Bewusstsein zu schärfen, beim jungen Juristen ebenso wie bei einem juristischen Routinier, das ist unser aller Aufgabe – durch jederzeitiges Darauf-Hinweisen, durch tätiges Anraten, aber vor allem durch das persönliche Vorbild. Und das gilt insbesondere, wenn auf der politischen Bühne häufig doch auf Showeffekte oder auf gegenseitiges persönliches Angiften und Abqualifizieren gesetzt wird, statt sich rational und sachorientiert um die beste Lösung der tatsächlichen gemeinschaftlichen Probleme zu bemühen.

Lena Foljanty

Das Justizunrecht des 20. Jahrhunderts als Gegenstand der juristischen Ausbildung*1

Im Herbst 2016 haben Manfred Görtemaker und Christoph Safferling mit dem Buch »Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die ­NS -Zeit« den Abschlussbericht des »Rosenburg-Projekts« vorgelegt. Auch wenn die Erkenntnisse über personelle Kontinuitäten im Bundesjustizministerium und über das Wirken alter NS -Seilschaften in der Rechts- und Personalpolitik der frühen Bundesrepublik nicht überraschen, ist dies doch Anlass, erneut über Rolle, Selbstverständnis und Handlungsbedingungen der juristischen Profession nachzudenken. Die Aufarbeitung von Geschichte ist kein Selbstzweck, sie adressiert vielmehr die Gegenwart: Sind Jurist*innen heute gegen die Versuchungen der Ideologie gefeit? Was benötigen sie, um dem Druck eines möglichen Unrechtsregimes zu widerstehen? Konkret: Wie muss eine juristische Ausbildung aussehen, die sie in die Lage versetzt, sich kritisch zu positionieren, wenn Rechtsstaat und Grundrechte durch ein Unrechtsregime gefährdet sind? Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) hat diese Fragen aufgegriffen und bereitet derzeit eine Änderung von § 5 Deutsches Richtergesetz (DRiG) vor. Ziel sei es, Jurist*innen auszubilden, die in der Lage sind, in schwierigen Entscheidungssituationen mit »Mut, Gegenrede und Widerständigkeit« zu reagieren, heißt es in der Begründung zu einem ersten Entwurf. Hierfür setzt das BMJV auf eine stärkere Implementierung der Beschäftigung mit dem Justizunrecht des 20. Jahrhunderts sowie mit Fragen der Berufsethik in die juristische Ausbildung. Im Folgenden soll dieser Vorschlag nicht abstrakt diskutiert werden, sondern konkret durch die Linse von Lehrprojekten, also aus der Perspektive der Ausbildungspraxis betrachtet werden. Es wird sich zeigen, dass es vielfältige Möglichkeiten gibt, eine kritische Reflexion der zukünftigen Berufspraxis in die juristische Ausbildung einzubauen, die sich nur bereichernd auswirken kann.

* Der Beitrag ist ein Nachdruck des im Anwaltsblatt (Heft 12/2017, S. 1158–1164) erschienenen Aufsatzes mit leichten Überarbeitungen. Die Verfasserin dankt dem Deutschen Anwaltsverein für die freundliche Erteilung der Nachdruckgenehmigung.

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I.

Lena Foljanty

Diskussionen über die juristische Ausbildung nach 1945

Zunächst soll jedoch mit einigen knappen Stichworten die aktuelle Diskussion um die Reform der juristischen Ausbildung historisch eingeordnet werden. Denn tatsächlich mag es verwundern, dass wir heute, über 70 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, aufgefordert sind zu diskutieren, wie eine Ausbildung aussehen kann, die Juristen nicht »wehrlos« im Angesicht von Unrechtsregimen sein lässt. Genauer besehen handelt es sich aber um eine Frage, die die Reformdiskussionen seit 1945 bewegt hat. Tatsächlich bestand bereits unmittelbar nach 1945 ein dringendes Bedürfnis, sich über die Grundlagen dessen, was Recht ist, zu verständigen und sich der eigenen professionellen Identität zu vergewissern. In zahlreichen Schriften aus den Jahren 1945 bis 1949 war wortgewaltig von der »Krise des Rechts« und von der »Rechtskatastrophe des Nationalsozialismus« die Rede.1 Ein »Trümmerfeld des Rechts« habe der Nationalsozialismus hinterlassen, so Gustav Radbruch 1947.2 Man wusste, dass man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen konnte. Die Reichweite der Auseinandersetzung mit dem, was zwischen 1933 und 1945 geschehen war, war allerdings begrenzt. Man wollte weder konkret den Beitrag von Juristen zum Unrechtsstaat benennen, noch die kritische Frage diskutieren, wie Sicherungen für die Zukunft geschaffen werden könnten. Stattdessen wurde vielfach ein Appell an die Berufsethik formuliert, der aber eben auch nicht mehr war als das: ein Appell.3 Betrachtet man die Diskussion der ersten zwei Nachkriegsjahrzehnte, so lassen sich nur wenige Debatten um die juristische Ausbildung verzeichnen, und die, die geführt wurden, blieben fruchtlos.4 Es finden sich ganz wenige hilfreiche Stimmen. Sie stammen vor allem von Emigranten, die nach Deutschland zurückgekehrt waren. Gut bekannt ist der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer,5 der nicht müde wurde zu betonen, dass die Demokratie Widerspruch und Widerstand brauche. Eine demokratische Grundeinstellung gerade der juristischen Profession hielt er für unverzichtbar6 und forderte eine juristische Ausbildung, die Mut, Kreativität und individuelle Verantwortungsübernahme 1 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1952, S. 326. 2 Gustav Radbruch, Die Erneuerung des Rechts (1947), in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 3: Rechtsphilosophie, Heidelberg 1990, S. 107–115, hier 107. 3 Hierzu ausführlich: Lena Foljanty, Recht oder Gesetz. Juristische Identität und Autorität in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit, Tübingen 2013. 4 Nicolas Lührig, Die Diskussion über die Reform der Juristenausbildung von 1945 bis 1995, Frankfurt a. M. 1997, S. 90–104. 5 Zu Bauer siehe Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie, München 2009; Ronen Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht. Mit einem Vorwort von Andreas Voßkuhle, München 2013. 6 Fritz Bauer, Justiz als Symptom, in: Hans Werner Richter (Hg.), Bestandsaufnahme. Eine deutsche Bilanz 1962, München 1962, S. 221–232.

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fördere.7 Eine weitere Stimme war der Freiburger Rechtshistoriker Fritz Pringsheim.8 Anders als die große Mehrheit der Rechtslehrer, die sich nie gegenüber dem Nationalsozialismus distanziert hatten und die nach 1945 mit schnellen Antworten aufwarteten, forderte er ein Innehalten, um sich ernsthaft mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen. In einer Rede vor Freiburger Studierenden mahnte er 1950: »Wer Kogon’s SS-Staat nicht gelesen hat, darf in Deutschland nicht mitreden, so schmerzhaft dieses Lesen sein mag.«9 Er forderte eine vollständige Umgestaltung der juristischen Ausbildung. Erst aus einer von Grund auf neu konzipierten juristischen Ausbildung könnten »neue Formen und neue Inhalte des Rechts« herauswachsen.10 Zu einer breiten Diskussion, wie dies aussehen könnte, kam es erst in den großen Reformdebatten der 1960er und 1970er Jahre. Ralf Dahrendorf fragte 1965 in einer von ihm moderierten Sendung des NDR, ob der autoritäre Charakter, der so viele Richter im Nationalsozialismus ausgezeichnet habe, institutionell bedingt oder im Recht selbst angelegt sei.11 In den Diskussionen um die »Neue Juristenausbildung« im Loccumer Arbeitskreis,12 die im Experiment der einphasigen Ausbildung mündeten, ging es freilich um weitergehende Fragen. Es ging darum, die Ausbildung so umzugestalten, dass eine sozialwissenschaftlich informierte Richterschaft geschaffen werde, die in der Lage sei, rechtliche Lösungen zu finden, die der Komplexität gesellschaftlicher Konflikte gerecht würden. Die Frage des Nationalsozialismus spielte selbstverständlich eine Rolle. Die Gesellschaft brauche eine Juristenschaft, die »dann, wenn es Not tut, auch zum Widerspruch bereit ist«, so Rudolf Wassermann,13 einer der Protagonisten der damaligen Reformdebatten. Verantwortungsübernahme im demokratischen Rechtsstaat sollte Teil juristischen Selbstverständnisses werden.14 Durch eine entsprechende Sozialisierung von angehenden Jurist*innen im Rahmen der

7 Fritz Bauer, in: Studiodiskussion zur NDR-Sendung »Das Bild des deutschen Richters«, gesendet am 05.10.1965. 8 Zu Fritz Pringsheim siehe Elmar Bund, Fritz Pringsheim (1882–1967). Ein Großer der Romanistik, in: Helmut Heinrichs et al. (Hg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 733–744. 9 Fritz Pringsheim, Student und Politik (1950), in: Ders., Rechtserziehung und politisches Denken. Worte an deutsche Studenten, Freiburg i. Br. 1960, S. 65–80, hier 67. 10 Fritz Pringsheim, Über Rechtserziehung (1947), in: ebd., S. 9–21, hier 19. 11 Studiodiskussion zur NDR-Sendung »Das Bild des deutschen Richters«, gesendet am 05.10.1965. 12 Loccumer Arbeitskreis (Hg.), Neue Juristenausbildung. Materialien des Loccumer Arbeitskreises zur Reform der Juristenausbildung, Neuwied 1970. 13 Rudolf Wassermann, Erziehung zum Establishment? Das Dilemma der Juristenausbildung, in: Ders. (Hg.), Erziehung zum Establishment, Karlsruhe 1969, S. 33–49, hier 40. 14 Rückblickend Wolfgang Hoffmann-Riem und Alfred Rinken im Interview in: Janwillem van de Loo, Die Ausbildung von Juristinnen und Juristen im Widerstreit. Die einstufige Juristenausbildung in Bremen und Hamburg, in: Kritische Justiz (Hg.), Streitbare Ju­ ristInnen. Eine andere Tradition, Baden-Baden 2016, S. 589–616.

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Ausbildung sollte auf den Berufsstand selbst eingewirkt werden.15 »Ausbildungs­ reform als Reform der Berufspraxis« lautete das Credo, das zu einem der Leitsätze der einphasigen Ausbildung wurde.16 Das Experiment der einphasigen Ausbildung ist instruktiv, viele Überlegungen, die uns heute beschäftigen, wurden hier bereits angestellt und stellen für Reformdiskussionen weiterhin einen wichtigen Bezugspunkt dar, auch wenn wir manches heute anders formulieren würden.17 Hieran sei erinnert, zugleich darf dies nicht davon entbinden, sich den Fragen in einer jeden Zeit, einer jeden Generation neu zu stellen und eigenständig zu beantworten.

II. Ansatzpunkt: Was befördert Mitläufertum? Was hat Juristen wehrlos gemacht? Gustav Radbruch hat diese Frage prominent in seinem Aufsatz »Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht« aus dem Jahr 1946 aufgeworfen.18 Die damalige Antwort, es sei der Positivismus ge­wesen, ist in dieser Form unhaltbar,19 die eine als gesichert geltende Antwort gibt es trotz intensiver Forschungen zum Nationalsozialismus aber bis heute nicht. Festgehalten werden kann, dass es selbstverständlich zunächst einmal diejenigen gab, die weltanschaulich überzeugt waren. Viele Faktoren haben zusammen­gewirkt, um in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, in dem Rassismus und Antisemitismus eine unheilige Allianz mit Nationalismus und autoritärem Denken eingingen, die den Ruf nach einem Führer hoffähig machten. Zu nennen seien nur der verlorene Erste Weltkrieg und die sich um Versailles rankenden Diskurse, die national-konservative Erziehung, wirtschaftliche Unsicherheiten sowie die Dynamiken in rechtsgerichteten studentischen Kreisen.20 Die Politisierung insbesondere der jungen Generation erfolgte nicht erst im Hörsaal. Ob im Rahmen der juristischen Ausbildung auf sie hätte eingewirkt werden können, darf bezweifelt werden. Interessanter ist es daher, über diejenigen nachzudenken, die zwar nicht durch besonders überzeugtes Eintreten für den Nationalsozialismus aufgefallen sind, sich aber auch in keiner Weise distanziert haben. Diese »Mitläufer« waren 15 Joachim Rückert, Profile der Jurisprudenz in Hannover seit 1974, in: Wulf A. Kaal et al. (Hg.), Festschrift zu Ehren von Christian Kirchner, Tübingen 2014, S. 217–228, hier 226. 16 Zum Ganzen: Lührig, Die Diskussion um die Reform der Juristenausbildung, S. 116–170. 17 Treffend Stephan Rixen, Juristische Bildung, nicht leicht gemacht, in: Juristenzeitung 68 (2013), H. 14, S. 708–712, hier 708. 18 In: Radbruch, Die Erneuerung des Rechts, S. 107. 19 Siehe statt aller Manfred Walther, Hat der juristische Positivismus die deutschen Juristen im »Dritten Reich« wehrlos gemacht?, in: Ralf Dreier / Wolfgang Sellert (Hg.), Recht und Justiz im »Dritten Reich«, Frankfurt a. M. 1989, S. 323–354. 20 Siehe nur Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten. 1914–1949, München 2008, S. 675 ff.

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der Normalfall, zugleich ist bei ihnen zumindest denkbar, dass sie im Rahmen der juristischen Ausbildung adressierbar gewesen wären. Ihre unkritische Beteiligung am Unrecht lässt sich ebenfalls nur verstehen, wenn eine Vielzahl von Faktoren in ihrem komplexen Zusammenspiel betrachtet werden. Welche Faktoren lassen sich benennen? Die Durchsicht von ausgewählten juristischen Individual- und Kollektivbiografien ergibt folgendes Bild: – Zunächst einmal lassen sich private Faktoren benennen. Hierzu gehört der persönliche Wunsch nach Integration in das System, gepaart mit der Sorge um den Verlust der eigenen beruflichen Stellung,21 sei es aus Sorge um die zu ernährende eigene Familie, sei es aus dem Wunsch heraus, den erlernten Beruf auszuüben und hierbei vielleicht sogar eine mehrgenerationelle Familientradition zu wahren.22 Daneben kann auf Grundlage der Forschungen von Hubert Rottleuthner positiv davon ausgegangen werden, dass unter denen, die nach 1933 in den juristischen Berufen verblieben, eine hohe Berufszufriedenheit herrschte, gespeist aus gegenüber der Weimarer Republik verbesserten Berufseinstiegs- und Beförderungsbedingungen, höheren Bezügen sowie verminderter Arbeitslast.23 Das Resultat war in vielen Fällen eine mehr privat denn politisch motivierte hohe Anpassungsbereitschaft,24 wobei anzumerken ist, dass eine solche Priorisierung des Privaten durch eine Wertorientierung begünstigt wurde, die dem Unrecht nicht eine so hohe Relevanz beimaß, als dass eine Bereitschaft entstehen konnte, persönliche Risiken einzugehen. – Zum Zweiten sind Faktoren zu nennen, die in engem Zusammenhang mit dem Rechtsverständnis sowie dem professionellen Selbstverständnis stehen: die Verantwortungsabgabe an das Ministerium oder an höhere Instanzen, der Rückzug auf Weisungsgebundenheit,25 ein Pflichtbewusstsein, das nicht rechtsstaatlichen Werten galt, sondern Apparat und Strukturen.26 Charakteristisch ist, dass dieses Mitmachen durch Sekundärtugenden gerechtfertigt wurde, etwa der, man sei zwar den Anweisungen gefolgt, sei hierbei aber »anständig geblieben«.27 Unterstützt wurde dies durch ein Vertrauen in 21 So die den Bedingungen des Mitmachens sehr genau nachgehende Studie zum Staatsanwalt Hans Dombois von Lorenz Völker, War mein Großvater ein Nazi? Ein Enkel auf Spurensuche nach der Geschichte eines Staatsanwalts im Dritten Reich, Hildesheim 2015, S. 47. 22 Hans-Konrad Stein-Stegemann, In der »Rechtsabteilung« des »Unrechts-Staates«: Richter und Staatsanwälte in Hamburg 1933–1945, in: Justizbehörde Hamburg (Hg.), Für Führer, Volk und Vaterland …, Hamburg 1992, S. 146–215, hier 202. 23 Hubert Rottleuthner, Karrieren und Kontinuitäten deutscher Justizjuristen vor und nach 1945, Berlin 2010; empirisch detailliert zu Hamburg: Stein-Stegemann, In der »Rechtsabteilung« des »Unrechts-Staates«, S. 191 ff. 24 Völker, War mein Großvater ein Nazi?, S. 117. 25 Ebd., S. 74. 26 Zum komplexen Gefüge von Verantwortungsabgabe und -übergabe Joachim Rückert, Perversion der Verwaltung – Verwaltung der Perversion in der NS-Zeit, in: Juridica International 21 (2014), S. 29–45, hier 34 f. 27 Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt a. M. 2010.

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bürokratische Abläufe28 und ein unpolitisch-dienendes Berufsverständnis, demzufolge man dafür verantwortlich war, das Funktionieren der Rechtsordnung und damit die für Staat und Gesellschaft notwendige Stabilität zu gewährleisten.29 – Zum Dritten stellt sich die Frage, inwieweit die Dimensionen des Unrechts von den Juristen, die im Amt verblieben, wahrgenommen wurden. Dies ist gerade für die Frühphase der Verfolgung von Interesse, also die ersten Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft. Haben Juristen hier wachen Auges zur Kenntnis genommen, was geschah? Es fällt in vielen Memoiren auf, dass etwa die Entlassung jüdischer und sozialdemokratischer Kollegen aus dem Justizdienst nicht als einschneidendes Ereignis erinnert wird. Denkbar ist hier sowohl, dass dies einer mangelnden inneren Distanz gegenüber den Verfolgungsmaßnahmen geschuldet war, als auch, dass die Dimension tatsächlich nicht wahrgenommen wurde, bedingt dadurch, dass die »eigene Welt« intakt blieb und die Empathie für das Schicksal anderer begrenzt war.30 Gehen wir davon aus, dass die erste Gruppe von Faktoren – private Sicherheitsbedürfnisse und Aufstiegswünsche – im Rahmen der juristischen Ausbildung nur schwer adressiert werden können, so zeigen sich jedoch bei der zweiten und dritten Gruppe von Faktoren Einwirkungsmöglichkeiten. Es muss also gefragt werden, wie die juristische Ausbildung so umgestaltet werden kann, dass sie (1.) wirkungsvoll auf ein professionelles Selbstverständnis hinwirkt, das Rechtsstaat und Demokratie verpflichtet ist und (2.) Jurist*innen befähigt, eine so sensible Wahrnehmung für Unrecht zu entwickeln, dass sie nicht wegsehen können, wenn diskriminiert und verfolgt wird.

III. Probleme der derzeitigen juristischen Ausbildung Ehe positive Vorschläge formuliert werden, wie auf angehende Juristinnen und Juristen im genannten Sinne eingewirkt werden kann, sollten zunächst einige der Hauptprobleme der juristischen Ausbildung benannt werden. Die Probleme, die im Folgenden herausgegriffen werden, sind dabei durchweg auf die hier zu diskutierende Frage bezogen und sind angeregt durch Gespräche mit den studentischen Teilnehmer*innen eines Seminars zur Rolle des Rechts im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, das im Rahmen einer von den Begabtenförderungswerken im Sommer 2017 in Wittenberg veranstalteten Sommerschule stattfand. 28 Völker, War mein Großvater ein Nazi?, S. 47. 29 Gustav Radbruch brachte dies schon vor 1933 auf die Formel, es gebe Juristen aus »Freiheitssinn« und aus »Ordnungssinn«, in: Ders., Einführung in die Rechtswissenschaft, 7. und 8. durchgearb. Aufl., Leipzig 1929, S. 211. 30 Ähnlich Völker, War mein Großvater ein Nazi?, S. 118.

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Im juristischen Studium kommen Arbeitsformen, die eigenständiges Nachdenken befördern und honorieren, vergleichsweise kurz. Der Ort hierfür ist im juristischen Studium das Seminar, an vielen Fakultäten müssen Studierende aber nur an einem Seminar im Laufe des gesamten Studiums teilnehmen. Deutlich prägender als das Seminar ist für Studierende die Klausursituation. Die Klausuren sind oft so konzipiert, dass sie nur unter starkem Zeitdruck vollumfänglich bearbeitet werden können. Zeitdruck verlangt, sich darauf zu konzentrieren, Gelerntes zu reproduzieren. Für eigenständige Lösungen wäre Zeit zum Nachdenken nötig, die oft nicht gegeben ist. Das private Repetitorium, das trotz aller Bemühungen der Fakultäten um gute universitäre Angebote zur Examensvorbereitung weiterhin von mehr als 80 Prozent der Studierenden aufgesucht wird,31 spielt möglicherweise die unrühmlichste Rolle im »Aberziehen« kritischen Denkens. Die führenden privaten Repetitorien fordern Studierende explizit auf, die vorgegebenen Lösungswege nicht kritisch zu hinterfragen und nicht nach eigenständigen Lösungen zu suchen, sondern für das Ziel eines guten Bestehens des Examens die Lösung zu wählen, die klausurtaktisch angezeigt ist – in der Regel ist dies die herrschende Rechtsprechung, gegebenenfalls auch die herrschende Lehre. Eine Beschäftigung mit Berufsbildern findet weder im Studium noch im Referendariat systematisch statt. Dies überrascht insbesondere für das Referendariat, das als praktische Ausbildung konzipiert ist und damit darauf zielt, selbst die angestrebten Berufe zu erproben und durch Beobachtung derer, die bereits im jeweiligen Beruf tätig sind, zu lernen. Soll dieses Lernen nicht ein bloßes Übernehmen und Imitieren sein, sondern ein Verstehen und ein aktives Entwickeln eigener Vorstellungen, wie der zukünftige Beruf ausgeübt werden soll, ist Reflexion nötig. Teilweise mag diese Reflexion im Gespräch mit Einzelausbilder*innen und in den Arbeitsgemeinschaften stattfinden, oft erschöpft sich der Kontakt zu den Ausbilder*innen aber in fachlichen Fragen. Ein institutioneller Rahmen, der Raum für eine Reflexion des sich im Entstehen befindlichen professionellen Selbstverständnisses geben würde, fehlt. Auch die Reflexion des Handwerkszeugs, also der juristischen Methoden, kommt oft zu kurz. Zwar wird an den Fakultäten Methodenlehre unterrichtet und werden im Referendariat Methoden der Sachverhaltsaufbereitung und der Entscheidungsfindung vermittelt. In aller Regel fehlt es jedoch an einer kritischen Diskussion der rechtsstaatlich-demokratietheoretischen Implikationen dieser Methoden. Die Frage, in welchem Verhältnis die Auslegungsregeln zur Verfassung stehen, wird nur selten in dieser Zuspitzung gestellt – das einzige Lehrbuch zur Rechtstheorie, das dies dezidiert tut, ist das Werk »Rechtstheorie. Mit Juristischer Methodenlehre« von Bernd Rüthers (inzwischen fortgeführt von Christian Fischer und Axel Birk). Auch fehlt es oft an einer Verbindung

31 Jüngst mit aktuellen Daten Matthias Kilian, Juristische Repetitorien, in: Juristenzeitung 71 (2016), H. 18, S. 880–887, hier 882 ff.

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von Methodenwissen und konkreter fallbezogener Argumentation. Methodenwissen bleibt abstrakt und wird nicht produktiv in einem umfassenden Rechtsverständnis verankert. Eine Sensibilisierung dafür, dass die Lebensrealitäten und Perspektiven von Mandant*innen, Parteien oder Angeklagten völlig andere sein können als die eigenen, findet in der juristischen Ausbildung nicht statt. Die Fähigkeit zu einem solchen Perspektivwechsel ist jedoch Voraussetzung dafür, Diskriminierung bereits in einem frühen Stadium zu erkennen. Wahrzunehmen, dass gerade auch subtile Zuschreibungen, die ohne exkludierende Absicht erfolgen, diskriminierend wirken können, setzt die Fähigkeit voraus, sich in die von der Zuschreibung Betroffenen hineinzuversetzen. Jurist*innen müssen in der Lage sein, sich klarzumachen, dass Zuschreibungen in aller Regel mit Platzzuweisungen in der Gesellschaft verbunden sind und für die Betroffenen eine manifeste Unrechtserfahrung bedeuten, da sie ihnen signalisieren, dass ihnen nicht als Person begegnet wird, sondern als Teil einer Gruppe. Eine geschärfte Wahrnehmung in diesem Bereich ist unerlässlich, bedenkt man, dass die Justiz wie auch die Verwaltung notgedrungen mit bestimmten Tatsachenannahmen arbeiten.32 Zu einer kritischen Reflexion darüber, inwiefern diese auf diskriminierendem Alltagswissen und Zuschreibungen basieren, sollten alle Jurist*innen in der Lage sein.

IV. Lösungsansätze und Perspektiven An Bekenntnissen zum kritischen Denken als Leitbild der juristischen Ausbildung fehlt es nicht.33 In einigen Bundesländern formulieren die Justizausbildungsgesetze dezidiert das Ziel, zu einer Berufspraxis zu befähigen, die demokratischen und rechtsstaatlichen Werten verpflichtet ist.34 Herausstechend in seiner Deutlichkeit ist hier das hessische Justizausbildungsgesetz, welches bereits in der Präambel statuiert: »Ziel der juristischen Ausbildungsreform ist der kritische, aufgeklärt rational handelnde Jurist, der sich seiner Verpflichtung als Wahrer des freiheitlich demokratischen und sozialen Rechtsstaats bewusst ist und der in der Lage ist, die Aufgaben der Rechtsfortbildung zu erkennen.« Wenn nun Konsequenzen aus dem Rosenburg-Projekt für die juristische Ausbildung diskutiert werden, so wird an ein solches Leitbild angeknüpft und danach gefragt, wie es in der Lehre umgesetzt werden kann. Der Vorschlag des BMJV geht dahin, die Beschäftigung mit dem Justizunrecht des 20. Jahrhun32 Hubert Rottleuthner, Einführung in die Rechtssoziologie, Darmstadt 1987, S. 110 f. 33 Miloš Vec weist freilich zu Recht darauf hin, dass das Verständnis von »Kritik« so breit ist, dass kaum von einem einheitlichen Bekenntnis die Rede sein kann, siehe: Rechtskritik als Verpflichtung – Juristische Zeitgeschichte in aufklärerisch-bürgerlicher Absicht, in: Hagen Hof / Götz von Olenhusen (Hg.), Rechtsgestaltung – Rechtskritik – Konkurrenz von Rechtsordnungen …, Baden-Baden 2012, S. 300–314, hier 301. 34 § 1 Abs. 2 JAPG Bremen, Präambel des JAG Hessen, § 1 JAG Mecklenburg-Vorpommern.

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derts und Fragen der Berufsethik verlässlich in das Kurrikulum zu integrieren. Im Folgenden soll dieser Vorschlag aufgegriffen und aufgezeigt werden, durch welche Lehrkonzepte dies in der universitären Praxis umgesetzt werden kann. 1.

Moral und Bildung

Die Frage, wie eine Ausbildung aussehen kann, die dazu führt, dass die vermittelten Werte nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch tatsächlich als handlungsleitend angenommen werden, wird in der allgemeinen Erziehungs­ wissenschaft und in der Didaktik breit diskutiert. Vertiefte Ausführungen hierzu verlangen einen erziehungswissenschaftlichen Sachverstand, auf den hier nicht zurückgegriffen werden kann. Ein kursorischer Blick in die erziehungswissenschaftliche Literatur zeigt jedoch, dass als Ziel einer solchen Ausbildung einhellig nicht die Vermittlung eines bestimmten Wertkanons benannt wird, sondern die Erlangung von Reflexionsfähigkeit in komplexen Situationen. Für das juristische Feld von Interesse ist die Formulierung, die der Philosoph Otfried Höffe hierfür gefunden hat: Ziel wertvermittelnder Bildung sei die »Reflexion um der Sittlichkeit der Praxis willen«.35 Dazu sei es in einem ersten Schritt nötig, die Wahrnehmung ethisch relevanter Situationen zu schulen.36 Ein Sensorium für kritische Situationen sei nicht per se gegeben, sondern müsse entwickelt werden. Hierfür sei die Kenntnis etwa um die Folgen bestimmten Handelns ebenso nötig wie ein kognitives Verständnis der einschlägigen ethischen Normen.37 In einem zweiten Schritt ist das Ziel dann der Erwerb moralischer Handlungskompetenz.38 Hier stellt sich die Frage, wie aus Denken Handeln wird. Augusto Blasi weist in seinen Forschungen zur Entwicklung moralischen Handlungs­ vermögens darauf hin, dass dies nur gelingen könne, wenn das moralische Urteil in ein Urteil persönlicher Verantwortlichkeit überführt werde.39 Eine solche Verantwortlichkeit entstehe, wenn moralische Normen in die eigene Identität bzw. in das eigene Selbstverständnis integriert würden. Erst dann entstünde eine eigenständige und intrinsische Motivation, für bestimmte moralische Normen einzustehen.40 Für die juristische Ausbildung sind schon diese wenigen erziehungswissen­ schaftlichen Ausführungen weiterführend. Sie machen deutlich, dass die in der Ausbildung vermittelten Werte nur dann handlungsleitende Kraft entfalten, wenn die Einzelnen sie in ihr eigenes professionelles Selbstverständnis inte­ 35 Otfried Höffe, Ethik und Politik, Frankfurt a. M. 1979, S. 464. 36 Ebd. 37 Gertrud Nunner-Winkler, Die Entwicklung moralischer Motivation, in: Dies. / Wolfgang Edelstein / Gil Noam (Hg.), Moral und Person, Frankfurt a. M. 1993, S. 278–305, hier 298 f. 38 Ebd. 39 Augusto Blasi, Die Entwicklung der Identität und ihre Folgen für moralisches Handeln, in: ebd., S. 119–147, hier 119. 40 Ebd.

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grieren. Für die Lehre bedeutet dies zweierlei: Wissensvermittlung ist wichtig, genauso wichtig ist aber, dass Studierende das Vermittelte auf sich selbst beziehen und sich bewusst darüber werden, was das Erfahrene mit ihnen zu tun hat. Die juristische Ausbildung muss, wenn sie nicht nur kritisches Denken, sondern auch kritisches Handeln befördern will, auf erfahrungsgestütztes Lernen am Konfliktfall und auf produktive Irritation des sich entwickelnden professionellen Selbstverständnisses setzen. 2.

Auseinandersetzung mit dem Justizunrecht des 20. Jahrhunderts

Bernd Rüthers, der sich wie wenig andere um die Aufarbeitung der Rolle des Rechts im Nationalsozialismus verdient gemacht hat, setzt genau hier an, wenn er davon spricht, dass die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus reiches Erfahrungs- und Lernmaterial für Jurist*innen biete.41 Tatsächlich erlaubt es die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus, zentrale Fragen des Rechts an der Grenzsituation zugespitzt zu diskutieren. Das Wissen um nationalsozialistisches Recht stellt somit Fragen an die heutige Gegenwart, an unser heutiges Rechtsdenken und unsere heutige Rechtspraxis. Anhand der Frage, ob nationalsozialistisches Recht als Recht zu qualifizieren ist, lässt sich zunächst einmal das Spannungsverhältnis zwischen Gerechtigkeitsbezug des Rechts und Formenstrenge diskutieren. Die Frage, ob eine Geltungsgrenze formuliert werden sollte oder nicht, wird in der Regel rechtstheoretisch mit Bezug auf die grundlegenden Texte von Gustav Radbruch und Hans Kelsen diskutiert. Sie kann aber auch in einer Weise diskutiert werden, die zugleich eine Reflexion der Handlungsbedingungen der juristischen Zunft umfasst. Die Frage lautet dann: Warum brauchen Jurist*innen eigentlich die Idee einer Geltungsgrenze, wenn sie gesetzlichem Unrecht den Gehorsam verweigern sollen? Sollten sie nicht über eine so weitreichende innere Unabhängigkeit verfügen, dass sie in der Lage sind, sich im Fall tiefgreifenden moralischen Unrechts auch ohne eine solche Fiktion gegen formal geltendes Recht zu stellen? Das schwierige Verhältnis von Recht und Politik lässt sich ebenfalls bestens am Nationalsozialismus diskutieren. Was bedeutet es, nur dem Gesetz verpflichtet zu sein, wenn das Gesetz selbst moralisch unrecht ist? Was bedeutet es, ein Gesetz anzuwenden, wenn sich die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen gewandelt haben? Wo sind die Spielräume von Jurist*innen, politische Vorstellungen in die Rechtsanwendung einfließen zu lassen? Wie weit dürfen sie diese nutzen, wo überschreiten sie eine Grenze? Damit sind wir bei der Frage der juristischen Methoden. Lernt man diese als bloße Techniken, als bloßes Handwerkszeug, so erscheinen sie neutral und unproblematisch. Dass sie Einfallstore für Ideologien darstellen können, wird erst 41 Bernd Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1988, S. 178.

Das Justizunrecht als Gegenstand der juristischen Ausbildung

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bewusst, wenn man Texte zur Hand nimmt, in denen sie eben auf diese Weise genutzt werden. Das Arsenal der Missbrauchsmöglichkeiten zu studieren, ermöglicht ein Methodenverständnis zu entwickeln und ein Bewusstsein dafür, was eine verantwortungsvolle und der eigenen Position im Verfassungsgefüge gemäße Anwendung dieser Methoden bedeutet. All diese Fragen sind Bewertungsfragen, die sich stellen, wenn man den Nationalsozialismus als Folie nutzt, auf deren Hintergrund grundlegende, auch heute relevante Fragen reflektiert werden können. Damit dies gelingen kann, ist strukturelles und analytisches Wissen über die Funktionsweise nationalsozialistischen Rechts nötig. Am Exzess lässt sich wenig Grundlegendes lernen, lassen sich keine Fragen an die heutige Berufspraxis entwickeln. Aber es muss verstanden werden, dass das Recht in seiner Nähe zur Politik bei gleichzeitiger Technizität, die politische Neutralität suggeriert, strukturell anfällig ist für Ideologisierung und daher eine besondere Verantwortung in der Anwendung verlangt. Nicht bei bloßer Wissensvermittlung stehen zu bleiben, bedeutet, dass Irritationen und Aha-Effekte produziert werden müssen. Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus muss etwas mit dem eigenen Erfahren zu tun haben, andernfalls wird es als Schulbuchwissen abgetan. Wie kann dies gelingen? Hierzu einige Ansätze, die produktiv erscheinen: – Zum einen scheint mir die exemplarische Beschäftigung mit Originaltexten wichtig. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Studierende schockiert reagieren, wenn sie zum ersten Mal ein Urteil aus der Zeit des Nationalsozialismus in die Hand nehmen, aber nicht so sehr wegen seines nationalsozialistischen Inhalts, sondern weil es sich in Form und Struktur kaum von dem unterscheidet, was sie selbst aktuell lernen. Auch ist es für viele Studierende ein Schlüsselmoment, der zu echten Fragen animiert, wenn sie Spuren des Nationalsozialismus im heutigen Recht erkennen, etwa in dem Umstand, dass der Schönfelder mit dem BGB bei Nr. 20 beginnt, weil Nr. 1 einst das Parteiprogramm der NSDAP war und das Grundgesetz, das an seine Stelle gerückt ist, nun wieder aussortiert wurde. Oder wenn sie erfahren, welche Geschichte der Palandt hat, den sie für ihre ersten Hausarbeiten ohne böse Ahnung verwendet haben. Wie produktiv diese Irritationsmomente sind, zeigt sich daran, dass sich nun in Hamburg eine studentische Initiative gegründet hat, die die Umbenennung des Palandt fordert und die sich in diesem Zuge kritisch mit der Tradition der eigenen Profession befasst.42 – In der Methodenlehre kann durch einen historischen Durchgang durch verschiedene Verfassungsmodelle, bei dem aufgezeigt wird, welche Methodenpräferenzen mit diesen jeweils einhergingen, ein Verständnis dafür entwickelt werden, dass Methodenfragen auf das Engste mit Verfassungsfragen zusammenhängen. Die authentische Interpretation in der Folge der Französischen Revolution, die Autorität der Rechtswissenschaft im Kaiserreich, der 42 Janwillem van de Loo, Den Palandt umbenennen, in: Juristenzeitung 72 (2017), H. 17, S. 827–830.

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Methodenstreit in Weimar – ein Überblick, wie Juristen in diesen Epochen mit dem Gesetz umgegangen sind, welche Autorität Gesetzgeber, Gerichten und Rechtswissenschaft jeweils zukam, bietet Material, um ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass Methodenlehre nicht neutral ist, und folglich danach gefragt werden muss, wie eine Methodenlehre in einem demokratischen Rechtsstaat auszusehen hat.43 – Auch die Frage, welche Handlungsspielräume und Handlungsmöglichkeiten Jurist*innen im Falle staatlichen Unrechts haben, lässt sich am Nationalsozialismus strukturell durchdenken. Ein analytisches Verständnis zu entwickeln, wo die Einfallstore für Ideologie im Recht sind, um sich in die Lage zu versetzen, an eben diesen Stellen bewusst verantwortungsvoll zu entscheiden, bedeutet zugleich, sich des Handlungsspielraums auch im Angesicht ideologischen Drucks bewusst zu werden. Handlungsmöglichkeiten wiederum, die auch den Schritt raus aus dem Rechtssystem umfassen können, lassen sich anhand der Biografien der Juristen reflektieren, die sich entschieden haben, das Regime nicht zu unterstützen. Studierende eigenständig zu diesen Juristen recherchieren zu lassen, wäre ein Lehrprojekt, das eine persönlich-ethische Auseinandersetzung anregen kann. Möglichkeiten, Bedingungen und Erscheinungsweisen von Justizunrecht im 20. Jahrhundert produktiv in die Lehre einzubeziehen, gibt es noch viele mehr. Individuelle Zugänge der Lehrenden wie auch Formate der entsprechenden Lehrveranstaltungen spielen hier eine Rolle. Wünschenswert wäre eine Ein­ beziehung nicht nur im Rahmen der Grundlagenfächer, sondern auch in den dogmatischen Fächern, wo es geeignet erscheint. Andernfalls bleibt das historische Wissen unverbunden mit dem Studium geltenden Rechts.44 Eine Vorstellung, wie eine Regelung zu anderer Zeit aussah, schärft den Blick auf die heutige Regelung ebenso wie ein rechtsvergleichender Hinweis. Die Verzahnung von Theorie und Dogmatik, die der Wissenschaftsrat 2012 angemahnt hat,45 kann auch hier dazu führen, ein integriertes Verständnis zu entwickeln.

43 Quelle für diesen Ansatz sind die Grundlagenvorlesungen zu Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie und Methodenlehre von Joachim Rückert, Frankfurt am Main, publizistisch etwa Joachim Rückert, Zwölf Methodenregeln für den Ernstfall, sowie: Schlachtrufe im Methodenkampf – Ein historischer Überblick, in: Ders. / Ralf Seinecke (Hg.), Methodik des Zivilrechts  – von Savigny bis Teubner, 3., erw. Aufl., Baden-Baden 2017, S. 39–52, 541–608. 44 So auch Michael Stolleis, Stärkung der Grundlagenfächer, in: Juristenzeitung 68 (2013), H. 14, S. 712–714. 45 Wissenschaftsrat (Hg.), Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland: Situation, Analysen, Empfehlungen, Köln 2012, S. 56 ff.

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3. Berufsethik So, wie die Beschäftigung mit dem Justizunrecht des 20. Jahrhunderts nur dann zum Ausgangspunkt kritischen Denkens werden kann, wenn nicht bloßes Schulbuchwissen vermittelt wird, so ist eine Beschäftigung mit berufsethischen Fragen vor allem dann fruchtbar, wenn zu einer eigenständigen Auseinandersetzung angeregt wird. Die Berufsverbände, die sich in den vergangenen Jahren intensiv mit Fragen der Berufsethik befasst haben, betonen daher zu Recht, dass es mit einer Verschriftlichung berufsethischer Regeln nicht getan ist.46 Es bedürfe vielmehr einer beständigen und lebhaften Auseinandersetzung mit diesen Regeln, idealerweise würden sie in dieser Auseinandersetzung von den Berufsangehörigen selbst formuliert – in jedem Einstellungsdurchgang, in jeder Generation aufs Neue. Berufsethik ziehe ihre Kraft aus der Selbstgesetzgebung, daraus also, dass die Angehörigen einer Profession von diesen Regeln überzeugt sind und als ihre eigenen wahrnehmen. Für die juristische Ausbildung bedeutet dies, dass eine rein abstrakte Befassung mit Regeln der Berufsethik wenig Nachhall haben wird. Berufsethische Normen müssen von den Studierenden selbst formuliert und in gemeinsamer  Diskussion entwickelt werden, am besten im Hinblick auf konkrete Konfliktsituationen und Erfahrungen. Denn wenn sich Werte mit konkreten Erfahrungen verbinden, kommt es zu einer Verankerung, findet ein echter Lernprozess statt. Die juristische Ausbildung hält hinreichend Möglichkeiten einer solchen Auseinandersetzung mit Berufsethik, die konkrete Erfahrungen reflektiert, bereit. Im Studium sind es die Praktika, die leider in keiner Weise reflexiv begleitet werden, anders als dies in anderen Fächern der Fall ist, wo Praktikumsberichte und zum Teil auch begleitende Seminare die Regel sind. Im Referendariat, das auf ein Lernen in Auseinandersetzung mit der Praxis zielt, findet eine reflexive Begleitung ebenfalls nicht statt. In der Einzelausbildung hängt es von der konkreten ausbildenden Person ab, welche Fragen diskutiert werden, die Arbeitsgemeinschaften haben die Funktion der Stoffvermittlung, nicht der Reflexion des in der Praxis Erlebten. Allenfalls im Rahmen der freiwilligen Fortbildungsangebote ist explizit Raum für berufsethische Fragen gegeben. Hier wird enormes Potenzial einer ethischen Auseinandersetzung mit dem angestrebten Beruf verschenkt. Wie können Reflexionsangebote konkret aussehen? Die traditionell zum Fächerkanon gehörenden Grundlagenfächer einschließlich Methodenlehre stehen 46 So die Ethik-Arbeitsgruppe des Deutschen Richterbundes, Richterethik in Deutschland. Thesen zur Diskussion richterlicher und staatsanwaltlicher Berufsethik im Deutschen Richterbund, 21.01.2012, S. 2; siehe dazu auch die seit 2012 monatlich im Anwaltsblatt erscheinende Rubrik »Anwälte fragen nach Ethik« des Ausschusses Anwaltsethik und Anwaltskultur des Deutschen Anwaltvereins.

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zunächst einmal ohnehin in engem Zusammenhang zu berufsethischen Fragen. Sollen sie eine diesbezügliche Reflexionsfunktion erfüllen oder auch ein zu berufsethischen Reflexionen befähigendes Verständnis des Rechts befördern, so reicht eine Einführungsvorlesung in den ersten beiden Semestern nicht aus. Die Erfahrung zeigt, dass Studierende zu diesem Zeitpunkt noch kein hinreichend präzises Verständnis des juristischen Handwerks haben, sie Theorie und Praxis noch nicht sinnvoll verknüpfen können, geschweige denn zu realistischen Vorstellungen kommen, was Berufsethik in der Rechtsanwendung heißen kann. Nach einem Überblick über Methoden und Grundlagen in den ersten beiden Semestern bedarf es einer Vertiefung am Ende des Studiums, wie dies in Bayreuth47 oder auch in Hamburg48 seit einiger Zeit erprobt wird. Ein an der Humboldt-Universität zu Berlin seit vielen Jahren von Studierenden selbst organisiertes Praktikumsmodell scheint mir geeignet, die Reflexion von Praxiserfahrungen bereits im Studium zu befördern. Es handelt sich um ein vom Arbeitskreis kritischer Jurist*innen organisiertes Gruppenpraktikum. Alle teilnehmenden Studierenden absolvieren ein einmonatiges Praktikum in einer Anwaltskanzlei, kommen jedoch wöchentlich in der Universität zusammen, um mit den Rechtsanwält*innen, die an dem Gruppenpraktikum beteiligt sind, zu diskutieren. Der zusätzliche Aufwand für die Rechtsanwält*innen ist begrenzt – er beläuft sich darauf, einmal im Laufe des Praktikums der Gruppe der teilnehmenden Studierenden Rede und Antwort zu stehen. Die Studierenden hingegen lernen viele verschiedene Perspektiven auf den anwaltlichen Beruf und die damit verbundenen ethischen Vorstellungen kennen und können diese mit ihrer eigenen Erfahrung in der Kanzlei abgleichen. Ähnliche Möglichkeiten der Verzahnung von Praxiserfahrung und Reflexion finden sich in den sich zunehmend durchsetzenden Law Clinics.49 Hier gibt es viele wertvolle Erfahrungen, auf die aufgebaut und über deren Institutionalisierung nachgedacht werden kann. Um eine Auseinandersetzung mit Werten mit konkreten Konfliktsituationen zu verbinden und auf diese Weise das Suchen eigener, möglicherweise auch unkonventioneller, einsamer oder mutiger Entscheidungen einzuüben, wird an angloamerikanischen Law Schools oft mit sogenannten hard cases gearbeitet – Fälle, die das Verlassen ausgetretener Pfade verlangen, in denen es kurz gesagt zum Schwur kommt. Konfliktsituationen lassen sich auch anhand erdachter,

47 Stephan Rixen, Juristische Bildung, nicht leicht gemacht, in: Juristenzeitung 68 (2013), H. 14, S. 708–712, hier 711 f. 48 Hamburger Initiative zur Reform der Juristenausbildung, Stärkung der Grundlagen und Methoden in der Juristenausbildung, in: Zeitschrift für Rechtspolitik (2016), S. 205–208. 49 Zuletzt Eva Bettina Trittmann, Rechtsberatung im Jurastudium  – was soll das?, in: Kritische Vierteljahrsschrift 2 (2017), S. 141–159; Matthias Kilian, Klinische Juristenausbildung als Element einer modernen Juristenausbildung, in: Anwaltsblatt 10 (2017), S. 950–955; Matthias Kilian / Lisa Wenzel, Law Clinics in Deutschland: Zahlen, Typologien und Strukturen, in: Anwaltsblatt 10 (2017), S. 963–965, sowie weitere Beiträge im Oktoberheft 2017 des Anwaltsblatts.

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aber nicht unrealistischer Entscheidungssituationen erproben50 oder aber auch durch Blick in die Literatur, die oft die ethisch besonders schwierigen Fälle zum Gegenstand macht. Man denke nur an Kleist oder Brecht. Das juristische Studium bietet viele Möglichkeiten, Konfliktsituationen zu reflektieren und damit die Wahrnehmung für Situationen zu schärfen, in denen moralische Fragen eine sensible Entscheidung erfordern. Reaktions- und Handlungsmöglichkeiten können in diesem Rahmen gemeinsam diskutiert werden. Dass der Einzelne in einer entsprechenden Situation tatsächlich Verantwortung übernimmt und handelt, ist damit selbstverständlich nicht garantiert. Wiederholt Situationen diskutiert zu haben, die eine unbequeme Entscheidung erfordern, wird die Chancen hierzu aber sicherlich erhöhen. Drängender als eine Reform des Studiums ist für eine nachhaltige Implementierung einer Auseinandersetzung mit berufsethischen Fragen aber eine Reform des Referendariats. Eine reflektierende Begleitung der Praxiserfahrung ist der optimale Ort, um ein fundiertes Verständnis dafür zu entwickeln, was es heißt, als Juristin oder Jurist in der Gesellschaft zu wirken und sich auf ethische Konflikte, die dies mit sich bringt, wirkungsvoll vorzubereiten. In den sozialen Berufen ist eine die praktischen Ausbildungszeiten begleitende professionelle Supervision längst etabliert. Die Kosten für die Implementierung einer solchen Supervision in die juristische Ausbildung sollten nicht gescheut werden. 4.

Funktions- und Wirkungsweise von Diskriminierung reflektieren

Die bisher vorgestellten Ansätze adressieren alle in verschiedenen Formen professionelle Verantwortung, Handlungsmöglichkeiten und Selbstverständnis. Folgen wir der erziehungswissenschaftlichen Diskussion und auch der Analyse der Faktoren, die eine unkritische Beteiligung am staatlichen Unrecht befördert haben, so stellt sich allerdings die Frage, ob dies ausreicht. Die Auseinandersetzung mit dem Justizunrecht des 20. Jahrhunderts gibt Aufschluss, wohin die Missachtung von Gleichheit und Menschenwürde führt. Berufsethik kann formulieren, dass Diskriminierung in keiner Gestalt, auch nicht in niedrigschwelliger Ausprägung erwünscht ist. Wie solche niedrigschwelligen Ausprägungen erkannt werden können, erfordert aber Kenntnisse über die Funktions- und Wirkungsweise von Diskriminierung. Diese müssen vermittelt werden; es kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Alltagswissen, das Jurist*innen mitbringen, dies verlässlich abdeckt. Ergänzend zu den Vorschlägen des BMJV halte ich es daher für notwendig, dass im Rahmen der juristischen Ausbildung eine Sensibilisierung erfolgt. Je größer die Sensibilität gegenüber auch niedrig-

50 Siehe den Entwurf der Ethik-Arbeitsgruppe im Deutschen Richterbund: Richterethik in der Praxis. Arbeitsmaterialien zur Diskussion richterlicher und staatsanwaltlicher Berufsethik im Deutschen Richterbund vom 21.01.2012.

272

Lena Foljanty

schwelligen Formen von Diskriminierung ist, desto wahrscheinlicher ist ein Aufbegehren im Namen des Rechtsstaats, wenn Diskriminierung und Unrecht vom Staat ausgehen. Diskriminierung geschieht nicht immer bewusst, auch in bester Absicht können Zuschreibungen vorgenommen werden, die eine exkludierende Wirkung haben. Unter dem Stichwort »anti-bias« sind in den USA Trainingsprogramme entwickelt worden, die ein Bewusstsein hierfür vermitteln wollen. Elementarer Bestandteil dieser Programme ist, es zu lernen, die eigene Perspektive zu relativieren und den eigenen Wahrnehmungshorizont zu erweitern. Es gilt, ein sozialwissenschaftlich fundiertes Verständnis zu entwickeln, wie Zuschreibungen auf Betroffene wirken, um in der eigenen Praxis Diskriminierung nicht unreflektiert zu perpetuieren. Zu Recht hat die Ethik-Arbeitsgruppe des Deutschen Richterbunds in ihren Thesen zur Berufsethik formuliert, dass Sachverhalte nicht von der eigenen Lebenserfahrung her beurteilt werden dürften, sondern einer sorgfältigen, verschiedene Perspektiven einbeziehenden Prüfung zu unterziehen seien.51 In diskriminierungssensiblen Konstellationen ist dies von besonderer Bedeutung: Es gilt, sich bewusst zu machen, dass aus einer nie von Diskriminierung betroffenen Perspektive vieles gar nicht auf den ersten Blick als Diskriminierung erkennbar ist. Im juristischen Studium ist der Ort für eine sozialwissenschaftlich informierte Relativierung der eigenen Perspektive die Rechtssoziologie. Sie bietet das methodische Werkzeug, um Tatsachenbehauptungen, die in der Rechtspraxis angestellt werden, kritisch zu hinterfragen.52 Leider ist sie nur an wenigen Fakultäten institutionell verankert. Sie wieder flächendeckend anzubieten, wäre ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Jenseits der allgemeinen Grundlagenvorlesung Rechtssoziologie wäre es wünschenswert, verstärkt Antidiskriminierungs- bzw. Diversity-Trainings im Rahmen der Ausbildung anzubieten.53 An einigen Fakultäten gibt es hier bereits Angebote im Rahmen der Schlüsselqualifikationsausbildung, auch in einigen Fortbildungskatalogen des Referendariats finden sich erste Ansätze.54 Dies gilt es weiter auszubauen. Daneben ist auch hier eine begleitende Reflexion der praktischen Ausbildung sinnvoll. Im Umgang mit Angeklagten und Parteien stehen Referendar*innen vor der Herausforderung, sich in andere Lebenswirklichkeiten und Perspektiven hineinzuversetzen. Besonders im Rahmen von Straf- und Verwaltungsstationen 51 Vgl. Fn. 46, S. 10 (These IX). 52 Rottleuthner, Einführung in die Rechtssoziologie, S. 110 f.; instruktiv am konkreten Beispiel Susanne Baer, Rechtssoziologie. Eine Einführung in die interdisziplinäre Rechtsforschung, Baden-Baden 22015, § 3 Rn. 11 ff. 53 So auch Lucy Chebout / Selma Gather / Dana-Sophia Valentiner, Sexismus in der juristischen Ausbildung, in: Zeitschrift des Deutschen Juristinnenbundes  – djbZ 4 (2016), S. 190–193, hier 192 f. 54 Siehe etwa das Zusatzangebot zum juristischen Vorbereitungsdienst in Berlin.

Das Justizunrecht als Gegenstand der juristischen Ausbildung

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ist eine entsprechende Fähigkeit für ein angemessenes Verständnis des Sachverhalts oft unerlässlich. Eine kompetent begleitete Reflexion über die hierbei gemachten Erfahrungen wäre für die Entwicklung eines Sensoriums hilfreich.

V. Fazit Der Vorstoß des BMJV, im Nachgang der Aufarbeitung der eigenen Nachkriegsgeschichte den Blick auf die Gegenwart zu richten, ist zu begrüßen. Eine stärkere Verankerung der Beschäftigung sowohl mit dem Justizunrecht des 20. Jahrhunderts als auch mit Fragen der Berufsethik in der juristischen Ausbildung bietet das Potenzial, grundlegende Fragen juristischer Arbeitsweisen und juristischen Selbstverständnisses zu adressieren. Viele gute Praktiken existieren bereits; sie verlässlich zu institutionalisieren und weiter auszubauen, sollte nicht gescheut werden. Damit die Initiative nicht zu einem Feigenblatt verkommt, erscheint es allerdings wichtig, bewusst und aktiv Raum hierfür in der Ausbildung zu schaffen. Berufsethische Fragen erfordern Reibung, wenn belastbare Antworten gefunden werden sollen. Hierfür müssen Lehrformen erprobt werden, die nicht nur in den großen Vorlesungen, sondern auch jenseits davon Irritationsmomente schaffen, den Wunsch nach Diskussion und Positionsfindung bezüglich der eigenen zukünftigen Berufspraxis wecken und die Auseinandersetzung hierum professionell begleiten.

Markus Heintzen

Das Berufsethos von Juristen als Thema der Juristenausbildung 

Welche Schlüsse und Konsequenzen können oder sollten aus dem RosenburgProjekt für die Juristenausbildung an den Universitäten gezogen werden? Als Hochschullehrer an der Freien Universität Berlin, dort Inhaber eines Lehrstuhls für Staats-, Verwaltungs- und Steuerrecht, und seit mehr als 25 Jahren Prüfer an juristischen Prüfungsämtern, ist der Verfasser dem Rosenburg-Projekt unter anderem als Leiter einer Diskussionsveranstaltung mit der zuständigen Bundesjustizministerin am 17. Mai 2018 an der Freien Universität Berlin verbunden. Vor dem Hintergrund ihrer programmatischen Rede in dieser Diskussionsveranstaltung (dazu I .) werden dargestellt: der Status quo in der universitären Juristenausbildung (II .), die Rechtsetzungszuständigkeiten von Bund, Ländern und Universitäten für Änderungen dieses Status quo (III .) und in der Sache das rechtspolitische Pro und Contra der von der Ministerin vorgeschlagenen Änderungen (IV.).

I.

Die Rede der Bundesjustizministerin an der Freien Universität Berlin am 17. Mai 2018

»Die Rosenburg  – Das Projekt und seine Folgerungen für die Juristenausbildung« lautete der Titel einer Rede, die die amtierende Bundesjustizministerin Katarina Barley am 17. Mai 2018 in einer Diskussionsveranstaltung am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin gehalten hat.1 Ausgangspunkt der Rede waren historische Tatsachen: das Justizunrecht als Teil des NS-Unrechts und die Fortsetzung der Karrieren von Tätern und Belasteten in der bundesdeutschen Justiz, namentlich in der »Rosenburg«, dem ersten Bonner Sitz des Justizministeriums. Namentlich genannt wurden Max Merten und Franz Massfeller; bedenklich stimmte der Hinweis, dass von den 1962 am Bundesgerichtshof tätigen Richtern 80 Prozent bereits in der NS-Justiz aktiv waren. Zielpunkt der Rede war eine Reform der Juristenausbildung. Studie1 Dazu der Artikel »NS-Geschichte als Pflichtstoff«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.05.2018, S. 4. Vgl. weiter die Kontroverse zwischen Freimut Duve und Joachim Lege: »Der Blick aufs Ganze« und »Wenn der Teufel wiederkommt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.06.2018, S. 10.

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Markus Heintzen

rende verhielten sich, so Barley, rational apathisch2 und lernten angesichts des überbordenden Prüfungsstoffs nur, was auch tatsächlich geprüft werde. Um als Studieninhalt ernst genommen zu werden, müsse eine Auseinandersetzung mit dem deutschen Justizunrecht des 20. Jahrhunderts und den ethischen Grundlagen einer juristischen Berufstätigkeit Eingang in die juristischen Staatsprüfungen finden. Der Verfasser dieses Beitrags versteht dies so: Nur Prüfungsdruck gewährleistet Kenntnisnahme; es soll um mehr gehen als eine Verpflichtung, in den ersten Semestern des Jurastudiums einen Grundlagenschein »abzuhaken«, der dann bei der Meldung zur 1. juristischen Prüfung nur noch vorgelegt werden muss. Die Rede der Ministerin markierte einen Höhepunkt bei den Bemühungen ihres Hauses, die Öffentlichkeit im Allgemeinen, die schon im Beruf stehenden Juristen und, vor allem, die Studierenden an den juristischen Fakultäten und die Referendarinnen und Referendare im Vorbereitungsdienst an den Ergebnissen der historischen Forschung teilhaben zu lassen. Mit Höhepunkt ist einmal der äußere Rahmen der Veranstaltung am 17. Mai 2018 gemeint: ein für circa 450 Personen ausgelegter Hörsaal, der bis zu den Fensterbänken prall gefüllt war, und eine im Zusammenwirken von Bundesjustizministerium und Universität gut vorbereitete Veranstaltung, dies auch im Vergleich zu ähnlichen Events in Bochum, Bonn und Hamburg. Vor allem ist mit Höhepunkt der Gehalt dieser Veranstaltung gemeint, zu der neben der Bundesministerin Professor Dr. Manfred Görtemaker als Mitglied der Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission zur »Rosenburg«3 und Hubert Rottleuthner, emeritierter Rechtssoziologe und Rechtsphilosoph der Freien Universität Berlin und ausgewiesener NS-Experte,4 beitrugen. Rottleuthner signalisierte Skepsis gegenüber dem didaktischen Wert von »Schreckgespenstern« wie Roland Freisler und wies darauf hin, dass Unrecht schleichend komme. Didaktisch sinnvoller sei die Beschäftigung mit aktuellen Eingriffen in die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei, in Polen, Rumänien und Ungarn. Justiz verhalte sich, so Rottleuthner, fast immer systemkonform.

2 Diese Formulierung stammt aus einem Beitrag von Stephan Hobe / Barbara Dauner-Lieb, Zukunftsfähig? Die Juristenausbildung in Deutschland, in: Forschung & Lehre 4 (2018), S. 314–316. 3 Vgl. Manfred Görtemaker / Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016. 4 Hubert Rottleuthner, Karrieren und Kontinuitäten deutscher Justizjuristen vor und nach 1945, Berlin 2010. Sein Curriculum weist ihn als langjährigen Referenten an der Richterakademie Wustrau zu NS-Justiz, DDR-Justiz und dem Umgang mit NS-Unrecht in Ost und West aus.

Das Berufsethos von Juristen als Thema der Juristenausbildung   

277

II. Der Status quo der universitären Juristenausbildung 1.

Das geltende Recht

Zwischen einer akademischen Festveranstaltung und dem Alltag der Juristenausbildung besteht ein großer Unterschied. Im Weiteren soll zunächst der Status quo beschrieben werden, dies sowohl mit Blick auf das Justizunrecht von NSund SED-Regime als auch auf das Berufsethos5 von Juristen in der freiheitlichen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland. Dabei kann es nicht Sinn und Zweck dieses Beitrags sein, Ausbildungsrecht und Ausbildungspraxis deutschlandweit und vollständig zu sichten. Das Folgende ist aus der Perspektive der Situation an der Freien Universität Berlin geschrieben, die ihrerseits aber als für Deutschland typisch angesehen werden kann. Im Ausbildungsrecht finden die beiden genannten Punkte  – Justizunrecht und Berufsethos – derzeit keinen ausdrücklichen Niederschlag. Das gilt für alle seine Normebenen,6 nämlich für das Deutsche Richtergesetz (DRiG) als rahmengebendes7 Bundesgesetz, für die Juristenausbildungsgesetze (JAG) und Juristenausbildungsordnungen (JAO) der Länder, hier des Landes Berlin8, und 5 Zu diesem Begriff ausführlich die Habilitationsschrift von Jochen Taupitz, Die Standesordnungen der freien Berufe. Geschichtliche Entwicklung, Funktionen, Stellung im Rechtssystem, Berlin 1991, S. 475–487, dort auch mit Beispielen für einen Missbrauch dieses Begriffs in der NS-Zeit (aus der Reichsnotarordnung vom 13.02.1937 [RGBl. I, S. 191] § 14 [Treueid auf Adolf Hitler] und § 15 Abs. 1 [Verpflichtung auf das Wohl der »Volksgemeinschaft«]). Vgl. weiter Ernst-Wolfgang Böckenförde, Vom Ethos der Juristen, 2., durchges. Aufl., Berlin 2011, wo das Thema historisch und nach Rechtskreisen behandelt wird, und eine Zusammenstellung einschlägiger Rechtsvorschriften für Richter und Staatsanwälte in Bund und Ländern, zusammengestellt vom BMJV im März 2016: http://www.bmjv. de/SharedDocs/Downloads/DE/Fachinformationen/Kompendium_von_Regelungen_in_ Bund_und_Laendern_%C3%BCber%20_das_berufsethische_Verhalten_von_Richtern_ und_Staatsanwaelten_Web.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 22.04.2020). Weiter Josef Isensee: Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Ders. / Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 9: Allgemeine Grundrechtslehren, 3., völlig neubearb. und erw. Aufl., Heidelberg 2011, § 190 Rn. 159 f.; Ders., Vom Ethos des Interpreten. Das subjektive Element der Normauslegung und seine Einbindung in den Verfassungsstaat, in: Herbert Haller (Hg.), Staat und Recht. Festschrift für Günther Winkler, Wien 1997, S. 367–396. Mit Bezug auf die Anwaltschaft: Matthias Kilian, »Berufsethische Regeln« – ein Modell für die deutsche Anwaltschaft?, in: Anwaltsblatt 10 (2013), S. 688–692. 6 Zu deren Vielschichtigkeit: Matthias Kilian, Juristenausbildung, Bonn 2015, S. 59–73. 7 Zum Terminus »Rahmen«: BT-Drucksache 14/7176, S. 6 (Begründung zum Gesetz zur Reform der Juristenausbildung vom 11.07.2002) und BVerfG (Kammer), Beschluss vom 26.06.2015, 1 BvR 2218/13, Rn. 21. 8 Berl. JAG vom 23.06.2003 (GVBl., S. 232), zuletzt geändert am 22.03.2016 (GVBl., S. 116), und Berl. JAO vom 04.08.2003 (GVBl., S. 298), zuletzt geändert am 19.12.2017 (GVBl., S. 695).

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Markus Heintzen

für die Studien- und Prüfungsordnung des Fachbereichs Rechtswissenschaft für den modularisierten Studiengang Rechtswissenschaft mit dem Abschlussziel der 1. juristischen Prüfung vom 29. Mai 2015.9 § 5a Abs. 2 Satz 1 DRiG10 legt die Pflichtfächer des universitären Studiums und damit mittelbar den Prüfungsstoff in der staatlichen Pflichtfachprüfung fest. Dies sind die Kernbereiche des Bürgerlichen Rechts, des Strafrechts, des Öffentlichen Rechts und des Verfahrensrechts einschließlich unter anderem der philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen. Das deutsche Justizunrecht lässt sich unter das Merkmal »geschichtliche Grundlagen« subsumieren. Eine normative Konkretisierung dieses Merkmals erfolgt aber nicht, auch nicht in JAG und JAO, die insoweit an das DRiG anknüpfen und nicht darüber hinausgehen, siehe § 3 Abs. 2 Satz 1, 1. Halbsatz Berl. JAG, § 3 Abs. 4 Berl. JAO. Zum Berufsethos findet man in keinem der drei Gesetze Einschlägiges. Ausführlicher ist die Studien- und Prüfungsordnung. Ihr sind als Anhang sogenannte Modulbeschreibungen beigefügt, in denen die Qualifikationsziele und die Inhalte einzelner Lehrveranstaltungen auf jeweils circa einer Seite umschrieben werden. Bei keinem der folgenden Module wird man an der Freien Universität Berlin aber fündig: Einführung in das Öffentliche Recht, Grundund Menschenrechte, Europäische Rechtsgeschichte, Rechtstheorie (wozu auch die Methodenlehre gerechnet wird).11 Auch wenn man in die Vorschriften zur berufsfeldbezogenen Berufsvorbereitung, zu Praktika und zu Schlüsselqualifikationen blickt, ändert sich nichts – Fehlanzeige, was Justizunrecht angeht.12 Zum Punkt »Berufsethos« ist das geltende Recht ebenfalls zurückhaltend formuliert. Nach § 1 Abs. 2 Berl. JAG geht es im Universitätsstudium um den Erwerb der fachlichen Eignung für den Vorbereitungsdienst und der Fähigkeit zu vertieftem wissenschaftlichem Arbeiten. § 1 Abs. 3 Berl. JAG stellt als Ziel des Vorbereitungsdienstes den Erwerb fachlicher und allgemeiner Kenntnisse und praktischer Fähigkeiten, das geltende Recht anzuwenden, in den Vordergrund. Dass geltendes Recht im Extremfall Unrecht sein kann, wird bei dieser Formulierung nicht bedacht. Gefragt ist vor allem solides juristisches Handwerk. Weiterhin ist in der zuletzt genannten Vorschrift von einem nicht näher spezifizierten »Gesamteindruck« die Rede, den Prüflinge bei der zweiten juristischen Staatsprüfung hinterlassen. Berufs- und Standesrecht gehören nicht zu den typischen Inhalten eines Jurastudiums. Insoweit wirkt sich die Unterscheidung zwischen dem theoretischen und dem praktischen Teil der Ausbildung aus. Am ehesten könnte man auf die sich hier stellenden Fragen an der Universität in einer Lehrveranstaltung zum Beamtenrecht eingehen: dort, wo die Grundpflichten von Beamten darzustellen 9 Amtsblatt der Freien Universität Berlin 15 (2015), S. 638. 10 Vom 08.09.1961 (BGBl. I, S. 1665), in der Fassung der Bekanntmachung vom 19.04.1972 (BGBl. I, S. 713), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.11.2019 (BGBl. I, S. 1755). 11 Vgl. Amtsblatt der Freien Universität Berlin 15 (2015), S. 649, 651, 653, 655. 12 § 8 der Studien- und Prüfungsordnung.

Das Berufsethos von Juristen als Thema der Juristenausbildung   

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sind. Doch auch das Beamtenrecht hat es angesichts der sich in andere Richtungen (Europarecht, Fremdsprachen) entwickelnden Stofffülle schwer, sich an den Universitäten zu behaupten. Einen Eindruck von seinem Niedergang verschafft etwa die Tatsache, dass in einem der führenden Lehrbücher zum Besonderen Verwaltungsrecht das Kapitel über den öffentlichen Dienst von der vorletzten Auflage zur aktuellen kommentarlos weggefallen ist.13 2.

Die Ausbildungspraxis

Die Formel »philosophische, geschichtliche und gesellschaftliche Grundlagen« (§ 5a Abs. 2 Satz 1 DRiG) bewirkt, das Justizunrecht und dessen Bedeutung für das Berufsethos künftiger Juristen zwar nicht Thema der universitären14 Ausbildung sein müssen. Sie können es aber sein und sind auch zulässiger Prüfungsstoff. Die beständige Angst von Prüfern, sich vor in ihrer Kontrolltätigkeit auftrumpfenden Verwaltungsgerichten angreifbar zu machen, wäre insoweit unbegründet. Auf der anderen Seite: In Einladungen zu mündlichen Staatsprüfungen, die der Verfasser erhält, steht formularmäßig: »Das Prüfungsgespräch wird in drei Abschnitten anhand von Aufgabenstellungen aus den Pflichtfächern Bürgerliches Recht, Strafrecht und Öffentliches Recht einschließlich des jeweiligen Verfahrensrechts sowie der europarechtlichen Bezüge geführt.« Abweichend vom Gesetzeswortlaut werden die rechtswissenschaftlichen Methoden und die philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen, die dort auf die europarechtlichen Bezüge folgen, nicht erwähnt. Der Verfasser versteht dies so, dass »Methoden« und »Grundlagen« aus Sicht des staatlichen Prüfungsamts nicht so wichtig sind, sondern als symbolische Gesetzgebung unter den Tisch fallen dürfen. Die Option zur Vermittlung von Grundlagenwissen eröffnet sich zu Studienbeginn vor allem den deshalb so genannten Grundlagenfächern, insbesondere neuere Rechts- und Verfassungsgeschichte und Methodenlehre.15 So werden an der Freien Universität in regelmäßigen Abständen Seminare angeboten, die sich mit dem NS- und mit dem SED-Unrecht auseinandersetzen. Doch auch in den dogmatischen Pflichtfachvorlesungen bieten sich vielfältige Anknüpfungspunkte. Eine Staatsrechtsvorlesung mag zwar ohne die Artikel 33, 97 13 Vgl. einerseits Philip Kunig, Das Recht des öffentlichen Dienstes, in: Friedrich Schoch (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, München 152013, S. 661–738, und andererseits Friedrich Schoch (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, München 2018 (ohne Vorwort). 14 An kommerzielle Repetitorien ist hier weniger zu denken, nicht zuletzt wegen ihres Fokus auf Examensvorbereitung; dazu Kilian, Juristenausbildung, S. 151–167. 15 Zu den Grundlagenfächern: David Sörgel, Die Implementation der Grundlagenfächer in der Juristenausbildung nach 1945, Tübingen 2014. Zur Methodenlehre: Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, Tübingen 1968 (8., unveränd. und um ein neues Nachwort erw. Aufl. 2017).

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Markus Heintzen

und 98 Grundgesetz (GG) auskommen und dessen Art. 20 Abs. 4 als Übertreibung des verfassungsändernden Gesetzgebers von 1968 übergehen.16 An der Verfassungsentscheidung für die freiheitliche demokratische Grundordnung und für eine wehrhafte Demokratie führt aber kein Weg vorbei. Ähnlich im Strafrecht etwa: Strafzwecke, Gesinnungsstrafrecht, Mordtatbestand. Zwischen dem Pflichtfach- und dem Schwerpunktbereichsstudium gibt es insoweit keinen Unterschied.17 Allerdings: Die Vorlesung Allgemeine Staatslehre, in der sich die Themen Unrechtsregime oder Widerstandsrecht gut behandeln ließen,18 ist aus der Mode gekommen. Die Verantwortung für die konkreten Lehrinhalte und ihre Ausgestaltung liegt bei den Hochschullehrern und Hochschullehrerinnen. Sie entscheiden über die Alternative: erwähnen oder weglassen. Damit eröffnet sich eine neue Dimension des hier zu behandelnden Themas: Art. 5 Abs. 3 GG. Die Wissenschafts­ freiheit gewährleistet den an Universitäten Lehrenden19 die grundsätzliche Freiheit der Auswahl von Lehrinhalten. Diese Freiheit versteht sich nach Maßgabe praktischer Konkordanz im Rahmen der Dienstpflichten der Lehrenden und der Vorgaben universitärer und staatlicher Studien- und Prüfungsordnungen.20 Eine Volldetermination durch staatliches Prüfungsrecht wäre zwar unzulässig,21 aber auch ein theoretischer Fall. Die Vorgabe, das deutsche Justizunrecht des 20. Jahrhunderts im Jurastudium und in der dieses abschließenden Prüfung angemessen und mit Blick auf das Berufsethos künftiger Juristen zu berücksichtigen, ist unproblematisch. Etwas anders formuliert: Der Staat darf auch Trägern des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 GG verbieten, in ihrer Lehre den sogenannten Schlussstrich persönlich zu ziehen. Fraglich ist, ob staatlichen Ausbildungsvorgaben aus Sicht der Studierenden Grenzen gezogen sind. Anders als Schulen haben Universitäten keinen Erziehungsauftrag. Landesverfassungsrechtliche Erziehungsziele wie »Die Jugend ist […] zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung zu erziehen.« (Art. 12 Abs. 1 der 16 Zu Letzterem Josef Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, Bad Homburg v.d.H. 1969. 17 Zur alleinigen Verantwortung der Universitäten für die »Schwerpunktbereiche« BVerfG (Kammer), Beschluss vom 26.06.2015, 1 BvR 2218/13, Rn. 2. 18 Zu dieser Vorlesung: Fritz Baur, Die Ausbildung der deutschen Juristen, in: Juristenzeitung 1 (1961), S. 1–3, also in vorbundesverfassungsgerichtspositivistischer Zeit. Aktuell Burkhard Schöbener / Matthias Knauff, Allgemeine Staatslehre, München 42019 (in der Reihe »Grundrisse des Rechts«), zu Gustav Radbruch und der Naturrechtsrenaissance nach 1945 dort § 5 Rn. 122–127. 19 Zu hier nicht weiter interessierenden Fragen des persönlichen Schutzbereichs: Michael Fehling, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. 3 (Wissenschaftsfreiheit) Rn. 88 f. (Stand: März 2004); Klaus F. Gärditz, in: Theodor Maunz / Günter Dürig, Grundgesetz: Kommentar, Art. 5 Abs. 3 Rn. 127 ff. (Stand: August 2019); Christian Starck / A ndreas Paulus, in: Hermann von Mangoldt et al., Grundgesetz: Kommentar, Bd. 1, München 72018, Art. 5 Rn. 483 ff. – Zur Abgrenzung von Universitäten und Fachhochschulen BVerfGE 126, 1 (19–27). 20 Zu Letzterem BVerfGE 126, 1 (21). 21 So ausdrücklich Gärditz (siehe Fn. 19), Rn. 120.

Das Berufsethos von Juristen als Thema der Juristenausbildung   

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Verfassung des Landes Baden-Württemberg) oder »Die Schüler sind im Geiste der Demokratie […] zu erziehen.« (Art. 131 Abs. 3 der Verfassung des Freistaates Bayern) gibt es nicht. Weiterhin hat das Bundesverfassungsgericht vor 50 Jahren festgestellt, der Staat habe nicht die Aufgabe, seine Bürger zu »bessern«.22 Andererseits kann auch in einer pluralistischen Gesellschaft ein Jurastudium nicht wertfrei sein und hat unabhängig von seiner politischen Überzeugung niemand Anspruch, nicht mit deutschem Justizunrecht konfrontiert zu werden, soweit diese Konfrontation auf historisch gesicherter Grundlage und im Rahmen der Werteordnung des Grundgesetzes geschieht.23 Für Lehrende wird dies in Art. 5 Abs. 3 Satz 2 GG ausdrücklich festgehalten. Die Studienphase hier ist in einer Zwischenposition zwischen schulischer Erziehung und berufsbezogener Weiterbildung. Als Zwischenergebnis ergibt sich somit Folgendes: Das geltende Ausbildungsund Prüfungsrecht für Juristen enthält keine ausdrücklichen Aussagen zum deutschen Justizunrecht im 20. Jahrhundert und zum Berufsethos von angehenden Juristen als Lerninhalt. In der Ausbildungspraxis ist beides sehr wohl präsent. Was die Inhalte der 1. juristischen Prüfung betrifft, dürften valide Aussagen indes kaum möglich sein. Der Verfasser dieses Beitrags kann sich, auf 25 Jahre Prüferpraxis zurückblickend, an kein Prüfungsgespräch in einer mündlichen Prüfung erinnern, in welchem diese beiden Punkte größeren Raum eingenommen hätten, dies ohne Unterschied zwischen Prüfern, die von der Universität, aus Justiz, Verwaltung oder Anwaltschaft stammen.

III. Die Kompetenz zu Änderungen des Lehr- und Prüfungsstoffes Vor diesem Hintergrund ist ein im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) 2017 entstandener und über die Befassung des Deutschen Juristen-Fakultätentages publik gewordener Diskussionsentwurf für eine Änderung des Deutschen Richtergesetzes zu sehen. In § 5a Abs. 2 Satz 3 sollen nach dem Wort »Grundlagen« die Wörter »unter Einbeziehung des deutschen Justizunrechts des 20. Jahrhunderts«24 und in § 5a Abs. 3 folgender Satz 1 ein22 BVerfGE 22, 180 (219), Anführungszeichen auch dort; zu prüfen waren entsprechend motivierte Eingriffe in das hohe Rechtsgut der Freiheit der Person. 23 Krasses Gegenbeispiel aus der 1968er-Zeit: OVG Berlin, Urteil vom 01.06.1972, OVG V B 28.71, JZ 1973, S. 209 f. mit Anmerkung von Jochen A. Frowein. 24 Diese Formulierung erfasst, im Unterschied zu anderen, NS- und SED-Unrecht. Die Frage des Verhältnisses von beidem aus heutiger Sicht und die weitere Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, sind nicht Thema dieses Beitrages. Ein Unterschied besteht unbestreitbar darin, dass SED-Justizkarrieren in der Bundesrepublik Deutschland nicht fortgesetzt werden konnten; zu Letzterem: Josef Isensee, »Stunde Null«? Von der Unvermeidlichkeit der Anknüpfung beim Wechsel politischer Systeme, in: Manuel Becker / Christoph Studt (Hg.), Die Ämter und ihre Vergangenheit im »Dritten Reich«, Augsburg 2013, S. 15–46

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gefügt werden: »Die Inhalte des Studiums berücksichtigen die Bedeutung der ethischen Grundlagen des Rechts für die berufliche Praxis.« Eine Ergänzung von § 5d Abs. 1 Halbsatz 1 zieht aus der Einfügung eines neuen Satzes 1 in § 5a Abs. 3 die Konsequenz für den Prüfungsstoff in staatlichen und universitären Prüfungen. An der Diskussion beteiligen sich der Bund,25 die Bundesländer mit der Justizministerkonferenz (JuMiKo) als Diskussionsplattform, die Verbände der juristischen Berufe und die Universitäten, mit dem Deutschen JuristenFakultätentag (DJFT) als Sprachrohr. Dies führt zu der Frage nach den Zuständigkeiten der Beteiligten. Abzugrenzen, durch kompetentielle Qualifikation der eben vorgestellten Ergänzungen, sind die Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern. Abzuwägen ist mit der von Art. 5 Abs. 3 GG grundrechtlich geschützten Hochschulautonomie, die auch die Kompetenz zur Festlegung und Konkretisierung der Lehrinhalte einschließt.26 Die Universitäten können dem Bundesgesetzgeber, jedenfalls was die Schwerpunktbereichsausbildung anlangt, eine abwägungsfähige Rechtsposition entgegenhalten, die Bundesländer können dies nicht. Hochschulrecht ist grundsätzlich Sache der Bundesländer (ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit);27 die Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes, die überdies auf allgemeine Grundsätze des Hochschulwesens beschränkt war, ist 2006 gestrichen worden. Trotzdem ist unbestritten, dass die universitäre Juristenausbildung und die 1. juristische Prüfung jedenfalls auch Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung von Bund und Ländern sind. Umstritten ist, ob sich dies aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG (»Gerichtsverfassung«)28 oder aus einer Kombination von Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 und Art. 98 Abs. 1 ergibt.29 Unklar

25 26 27 28 29

(hier 44, auf den Unterschied zwischen Rechtspflege und Schulwesen hinweisend), weiter Hans-Heinrich Trute, Organisation und Personal der DDR, in: Isensee / K irchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, Heidelberg 21997, § 215 Rn. 64–66. Zu diesem Unterschied positiv der Beschluss der Bund-Länder-Kommission zur Bekämpfung von Antisemitismus und zum Schutz jüdischen Lebens vom 18.11.2019. Vgl. den Koalitionsvertrag von CDU / CSU und SPD vom 12.03.2018, Punkt X. 1., 2. Absatz unter »Justiz«, wo nur vom nationalsozialistischen Justizunrecht die Rede ist. Dazu, dass Gesetzgebungskompetenzen und ihre Abgrenzung kein tauglicher Gegenstand von Abwägungen sind, Markus Heintzen, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 70 Rn. 70 (Stand: Oktober 2018). Heintzen, ebd., Rn. 137. Dieses Merkmal ist eine Innovation des Grundgesetzes, zuvor war von »gerichtlichem Verfahren« die Rede; vgl. Art. 4 Nr. 13 der Reichsverfassung von 1871 und Art. 7 Nr. 1 der Weimarer Reichsverfassung. Überblick über den Meinungsstand bei Walter Fürst, in: Gesamtkommentar Öffentliches Dienstrecht, Bd. I, Teil 4, § 5 DRiG Rn. 2 (Stand: August 2003); Jürgen Schmidt-Räntsch, Deutsches Richtergesetz, München 62009, vor § 5 Rn. 2 ff. (die 7. Aufl. erscheint voraussichtl. im Juli 2021); Johann-Friedrich Staats, Deutsches Richtergesetz, Baden-Baden 2012, vor §§ 5–7 Rn. 4. Vertiefte Untersuchungen von Ulrich Fastenrath, Grenzen der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für die Juristenausbildung, in: Bayerische Verwaltungsblätter (BayVBl.) 1985, S. 423–429; Jürgen Schmidt-Räntsch, Bundeskompetenzen im Juristenausbildungs- und Prüfungsrecht, in: Der Öffentliche Dienst (DÖD) 1987,

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ist, ob die Gesetzgebung der Bundesländer zur Juristenausbildung (in der Regel JAG und JAO) dem Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung von Bund und Ländern zuzuordnen ist und darauf beruht, dass der Bund seine Befugnisse in diesem Bereich nur teilweise ausgeübt hat, oder ob sie als ausschließliche Landesgesetzgebung zu qualifizieren ist. Eindeutige Positionierungen von Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) zu diesen Fragen liegen nicht vor.30 1.

Gerichtsverfassung oder Richterstatusrecht

Die grundsätzliche Alternative lautet also: Gerichtsverfassung oder Richterstatusrecht. Danach – jedenfalls in einem Staatsprüfungssystem – stellt sich die Frage nach verbleibenden Gesetzgebungskompetenzen der Länder. Eine Auf­ dröselung des Kompetenzknäuels muss vor Augen haben, dass die Rahmen­ gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Rechtsverhältnisse der im öffent­ lichen Dienst Beschäftigten gemäß Art. 75 Abs. 1 Nr. 1 GG alte Fassung31 (Beamte und Richter) 2006 entfallen ist32 und dass die Statusgesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 sich nur auf Personal der Länder, nicht aber auf die Berufszugangsvoraussetzungen von Personal des Bundes bezieht. Und auch wer sich auf Art 74 Abs. 1 Nr. 1 GG beruft, hat mit Fragen des intertemporalen Rechts zu tun, weil dieser Kompetenztitel bis 1994 unter dem Vorbehalt der Bedürfnisklausel und von 1994 bis 2006 unter dem Vorbehalt der Erforderlichkeitsklausel und erst seit 2006 unter keinem Vorbehalt steht.

S. 280–286. Rainer Wahl, Gesetzgeber und Juristenausbildung, DVBl. 1985, S. 822–831, hat weniger das Verhältnis von Bund und Ländern, vielmehr das Verhältnis von parlamentarischem Gesetz und Rechtsverordnung vor Augen; zu den früheren Rahmengesetzgebungskompetenzen für das Hochschulwesen und das Beamten- und Richterrecht dort S. 830 f. 30 In einem Kammerbeschluss vom 26.06.2015, 1 BvR 2218/13, spricht sich das BVerfG ohne Begründung und ohne Nennung der Gegenauffassung für die richterstatusrechtliche Lösung aus (Rn. 21). In einem älteren Beschluss spricht sich das BVerwG in Auseinandersetzung mit der Gegenansicht für die gerichtsverfassungsrechtliche Lösung aus (BVerwG, Beschluss vom 16.08.1985, 7 B 51 u. a./85, NJW 1986, S. 951). Das OVG Münster, DVBl. 1991, S. 774 f., ließ die Frage als nicht entscheidungserheblich offen. Vgl. weiter Stefan Oeter, in: von Mangoldt et al., Grundgesetz: Kommentar, Bd. 2, München 72018, Art. 74 Rn. 24; Christian Seiler, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 74 Rn. 9.1 (Stand: Februar 2018). 31 Dazu Christian Pestalozza, in: Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 8, 3., vollst. neubearb. Aufl., München 1996, Art. 75 Abs. 1 S. 1 vor Nr. 1 Rn. 125–132 und Art. 75 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, ebd., S. 1327–1348. 32 52. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.08.2006 (BGBl. 2006 I, S. 2034). Dazu, dass diese Kompetenz auch Vollregelungen decken konnte, Schmidt-Räntsch, Deutsches Richtergesetz, vor § 5 Rn. 5.

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Ob Art. 98 Abs. 1 GG überhaupt föderalen Kompetenzgehalt hat und nicht lediglich einen auf die Besonderheiten von Richtern im Unterschied zu Beamten zielenden Regelungsauftrag erteilt,33 ist eine weitere Streitfrage. Jedenfalls können die im Ersten Teil des Deutschen Richtergesetzes stehenden gemeinsamen Vorschriften für das Richteramt in Bund und Ländern (§§ 1–45a), und dazu gehören die §§ 5 ff., nicht allein darauf gestützt werden, denn Art. 98 Abs. 1 spricht nur von Bundesrichtern.34 Umgekehrt kann Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG nicht die alleinige Kompetenzgrundlage sein, denn dort geht es nur um Personal der Länder. Insgesamt ergibt sich damit ein Zusammenspiel von Art. 74 Abs. 1 Nr. 27, mosaikartig35 ergänzt um Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 oder Art. 98 Abs. 1 (wegen der Personalkomponente des Bundes). Für Richterstatusrecht spricht, dass die grundlegenden Vorschriften zur Juristenausbildung vom Gesetzgeber im Deutschen Richtergesetz platziert worden sind und sich am Leitbild des Richters ausrichten. Ersteres ist aber erst seit dem Inkrafttreten des Deutschen Richtergesetzes im September 1961 so und hat mit dem Inkrafttreten der föderalen Kompetenzordnung des Grundgesetzes im Mai 1949 und der Auslegung von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 (dort »Gerichtsverfassung«) darum nichts zu tun.36 Die Überzeugungskraft von Letzterem sinkt mit der zunehmenden Anwaltsorientierung der Juristenausbildung. Dagegen wiederum lässt sich bei Letzterem vorbringen, bei föderalen Kompetenzen gebühre im Interesse einer langfristig stabilen und berechenbaren Kompetenzverteilung der historischen Auslegungsmethode ein Vorrang37 und könne es nicht auf aktuelle Trends in der Berufswelt ankommen. Gerade das Kontinuitätsargument lässt sich aber auch gegen die Richter­ statusrechtsthese wenden, indem man die Ursprünge und die Wachstumsprozesse von zunächst § 538, jetzt §§ 5 bis 5d DRiG39 betrachtet. Diese Vorschrift

33 Zu diesem Meinungsstreit Christian Hillgruber, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 98 Rn. 23 (Stand: Januar 2010). 34 Hillgruber, ebd., Rn. 24, der weiter auf Art. 125b Abs. 1 Satz 1 hinweist. 35 Zu sogenannten Mosaikkompetenzen Heintzen, in: Bonner Kommentar zum Grund­ gesetz, Rn. 204. 36 Zur geschichtlichen Entwicklung Corinna Dylla-Krebs, Die Befähigung zum Richteramt als Leitbild der deutschen Juristenausbildung, in: Bonner Rechtsjournal, Sonderausgabe 01 (2016), S. 1–7; Hans Hattenhauer, Juristenausbildung – Geschichte und Probleme, in: Juristische Schulung (1989), S. 513–520. 37 Dazu statt vieler Heintzen, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Rn. 194. 38 Die erste Fassung von § 5 DRiG äußerte sich nicht zu Inhalten eines Jurastudiums, nur zur Studiendauer; vgl. BT-Drucksache III/516, S. 28. Die Wachstumsprozesse der §§ 5 ff. DRiG dürften hier eher Themenfremdem geschuldet sein, nämlich dem grundrechtlichrechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalt. 39 Zu diesen Wachstumsprozessen: Fastenrath, Grenzen der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes, S. 424: Eine Expansion der Bundesgesetzgebung habe mit dem Auslaufen der einstufigen Juristenausbildung eingesetzt; das Bemühen, die Studienzeiten zu verkürzen, sei von Bundeskompetenzen nicht gedeckt; kompetentiell problematisch sei auch die

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war Nachfolgerin von § 2 des damaligen Gerichtsverfassungsgesetzes,40 und es überrascht nicht, dass in der Gesetzesbegründung zum Deutschen Richtergesetz die Rechtsstellung der Richter als wesentliches Element der Gerichtsverfassung gesehen wird.41 Gegen einen Schluss vom Regelungsort auf die Gesetzgebungskompetenz spricht weiter, dass das Deutsche Richtergesetz seinem Inhalt nach kein reines Richterstatus- oder Richterdienstgesetz ist.42 Dort geht es um Justiz, nicht um die Inhalte universitärer Juristenausbildung. Für Richterstatusrecht könnte angeführt werden, dass durch diese Zuordnung die Bundesländer mehr Einfluss auf die Juristenausbildungsgesetzgebung des Bundes erhalten. Diese Sicht der Dinge ist rechtspolitisch schlüssig.43 Zwar ist die Statuskompetenz des Bundes gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG keine Rahmen-, sondern eine Vollkompetenz; ihre Ausübung bedarf aber der Zustimmung des Bundesrates. Die Alternative zwischen »Gerichtsverfassungsrecht« und »Richterstatusrecht« macht zwar nicht im Hinblick auf die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2,44 wohl aber im Hinblick auf das Zustimmungsrecht des Bundesrates gemäß Art. 74 Abs. 2 einen Unterschied. Es ist behauptet worden, dass im Rahmen einer konkurrierenden Zuständigkeit, wenn nur eine Bedürfnisklausel (Art. 72 Abs. 2 alte Fassung) greift oder wenn, was praktisch dasselbe bedeutet, der heutige Art. 72 Abs. 2 nicht greift, der Bundesgesetzgeber den Ländern »überhaupt keinen Spielraum« lassen muss.45 Die §§ 5a Abs. 4, 5c Abs. 6 und 5d Abs. 7 DRiG wären dann ein freiwilliges Entgegenkommen des Bundes an die Länder  – was angesichts von deren Hochschulkompetenz bei einem klassischen Studienfach wie Jura erstaunt. Für Richterstatusrecht spräche dann der Zustimmungsvorbehalt des Bundesrates gemäß Art. 74 Abs. 2, der den Ländern einen Schutz ihrer Hochschulkompetenz jedenfalls ermöglicht. Andererseits ist kaum zu bestreiten, dass Art. 74 Abs. 2 nicht dem Schutz der Gesetzgebungskompetenz der Bundesländer für das Hochschulwesen und schon gar nicht dem Schutz von Hochschulautonomie dient. Die Kompetenzsituation

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Verordnung, in der bundesseitig die Noten bei juristischen Prüfungen, etwa »voll befriedigend«, vorgegeben werden. Nachweise bei Schmidt-Räntsch, in: DÖD 1987, S. 284 (r. Sp.). BT-Drucksache III/516, S. 29. Überzeugend Schmidt-Räntsch, in: DÖD 1987, S. 283 f. Vgl. Heino Schöbel, Neue Noten – mangelhaft?, in: BayVBl. 1983, S. 321–328, hier 321 f., und Fastenrath, Grenzen der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes. Dazu und zur Rechtslage vor 2006: Schmidt-Räntsch, Deutsches Richtergesetz, vor § 5 Rn. 6 u. 12. Ein Erforderlichkeitstest ist bei keiner der Varianten geboten, und auch die neue Abweichungskompetenz des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 findet nur auf Hochschulabschlüsse, nicht auf Staatsexamina Anwendung. Dass in dem Kompetenzausübungsregulativ der »Rechtseinheit« (Art. 72 Abs. 2) die Reichsjustizgesetze von 1878, die Bundeseinheitlichkeit der Juristenausbildung und das Leitbild des Einheits- und Volljuristen mitschwingen, spielt heute keine Rolle mehr, ist aber ein Argument dafür, dass auch in der Zeit von 1994 bis 2006 die Regelungen der §§ 5 ff. DRiG den Erforderlichkeitstest bestanden hätten. Zu einem Erforderlichkeitskriterium siehe weiter unter III.2. Schmidt-Räntsch, in: DÖD 1987, S. 285 (r. Sp.).

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bleibt verzwickt. Sich den Inhalt der Juristenausbildungsgesetze der Länder eins zu eins als Teil des Deutschen Richtergesetzes vorzustellen, ist befremdend. Eine richterstatusrechtliche Kompetenzsicht droht zu einer Blickverengung auf die Situation von Richtern zu werden, mithin einer Personengruppe, die trotz nach Köpfen gerechnet46 geringem Anteil an den Juristenberufen dann die Juristenausbildung um sich drehen lässt. Die gerichtsverfassungsrechtliche Kompetenzsicht ist realitätsnäher, weil sie jedenfalls auch die Rechtsanwaltschaft und andere reglementierte Juristenberufe einbezieht. Ihr Grundgedanke lautet, dass das Grundgesetz den Bundesgesetzgeber in Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 habe ermächtigen wollen, für den ganzen Justizbetrieb einheitliche Berufszugangsvoraussetzungen zu formulieren. Die »Befähigung zum Richteramt« soll Gütesiegel und verbindendes Band für alle reglementierten juristischen Berufe sein. Dies überschreitet den Anwendungsbereich der Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 sowie 98 Abs. 1 und 3 GG und wird nur von dem Kompetenztitel »Gerichtsverfassung« gedeckt. Die Annahme, dieser beschränke sich auf Fragen der Justizorganisation und blende Personalfragen aus, findet in der Staatspraxis keine Bestätigung.47 Im Ergebnis spricht die Kontinuität von föderalen Kompetenzzuweisungen für »Gerichtsverfassungsrecht«. Das Kompetenzthema Juristenausbildung war von 1949 bis 1961 hier eingeordnet. Warum dann ein Wechsel der Kompetenz­ grundlage, ohne inhaltliche Änderung der möglicherweise einschlägigen Kompetenztitel? Bis zur Verfassungsänderung von 2004 hätte die Zuordnung zum Richterdienstrecht den Bund auf Rahmengesetzgebung beschränkt, was man als rechtspolitischen Vorteil dieser Lösung ansehen kann, aber nicht muss. Doch das ist erstens Vergangenheit, und zweitens hat es erhebliche »Wachstums­ prozesse«, von § 5 zu §§ 5 bis 5d DRiG, nicht verhindert. 2.

Die Rolle der Bundesländer und der Universitäten

Die §§ 5–5d DRiG werden nach wie vor als Rahmen für die Juristenausbildungsgesetzgebung in den 16 Ländern und für die Studien- und Prüfungsordnungen der 45 juristischen Fakultäten bezeichnet. Damit ist die Frage nach deren Standort im Gesamtsystem und nach dem Verhältnis von dessen drei Komponenten Bundesrecht, Landesrecht, Satzungsrecht gestellt. Könnte man zum Beispiel gegen die oben vorgestellten Pläne zu einer Ergänzung des DRiG einwenden, sie griffen einen Detailpunkt auf und überschritten damit eine Rahmenkompetenz? Dagegen spricht vordergründig, dass der Kompetenztyp der Rahmengesetzgebung bei der Föderalismusreform I im Jahr 2006 abgeschafft worden ist,48 46 Dazu, dass 1885 7.078 Richtern lediglich 4.563 Rechtsanwälte gegenüberstanden, was einer Relation von 1 zu 0,6 entspricht: Dylla-Krebs, Die Befähigung zum Richteramt, S. 3. 47 Schmidt-Räntsch, in: DÖD 1987, S. 284 f. 48 Fragen der Art. 125a Abs. 1 und 125b Abs. 1 GG stellen sich im vorliegenden Kontext nicht.

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um Bund und Länder zu entflechten und Verantwortlichkeiten klarer zuzuweisen.49 Da der Kompetenztyp der ausschließlichen Bundesgesetzgebung hier offensichtlich nicht in Rede steht, kann es nur um ein Nebeneinander von konkurrierenden Zuständigkeiten von Bund und Ländern und ausschließ­lichen Landeszuständigkeiten gehen, bei dem das Bundesrecht möglicherweise faktisch die Qualität von Rahmenrecht hat. Egal, ob der Weg über Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 oder über die Artikel 74 Abs. 1 Nr. 27, 73 Nr. 8 und 98 Abs. 1 GG gegangen wird, stellt sich jedenfalls in Bezug auf das rechtswissenschaftliche Studium und dessen Abschluss mit der 1. juristischen Prüfung, also die universitätsnähere und damit gesetzgebungskompetentiell den Ländern nähere Materie, die Frage, ob der Bund eine Vollkompetenz beanspruchen kann, ob also das, was für die Landesgesetzgeber übrig bleibt, sich nur als freiwilliges Entgegenkommen des insoweit auf die Ausübung einer konkurrierenden Zuständigkeit verzichtenden Bundes begreifen lässt. Am Thema der Juristenausbildung wird exemplarisch deutlich, dass Gesetzgebungskompetenzen der Bundesländer keine gegenständlich nicht umschreibbaren Residualkompetenzen sind, sondern einen positiven Gehalt haben.50 Im vorliegenden Fall geht es um Hochschul- und Prüfungsrecht. Man könnte denken, wegen des Sachzusammenhangs mit Gerichtsverfassung und Richterstatus dürfe auch der Bund gesetzgeberisch tätig werden, das aber nur, wenn und soweit dies zwingend erforderlich ist. Es gäbe also doch ein Erforderlichkeitsregulativ, wenn auch nicht nach Art. 72 Abs. 2 GG, sondern als ungeschriebenes Definitionsmerkmal einer ungeschriebenen Kompetenz kraft Sachzusammenhangs.51 Diese Argumentation leidet an zwei Fehlern. Eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder für Studienabschlüsse gibt es nicht. Für Hochschulabschlüsse folgt dies aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 33 GG, für Staatsexamen gilt es erst recht, es sei denn, das einschlägige Berufsrecht wäre ausdrücklich den Ländern zugewiesen. Da es keine Landeskompetenz gibt, kann der Bund in sie auch nicht kraft Sachzusammenhangs mit seinen Kompetenzen hinübergreifen und muss der Bund bei seinen Regelungen, weil diese keine Übergriffe sind, nicht auf zwingend Erforderliches begrenzt werden. Staatliches Berufs- und Ausbildungsrecht hat Vorrang vor Hochschulrecht. Für die Landesgesetzgeber und die Universitäten bedeutet dies: Sie sitzen gesetzgebungskompetentiell an einem kurzen Hebel. Die Länder haben, je nach Beurteilung der grundgesetzlichen Kompetenzlage, bestenfalls die Möglichkeit, einem Bundesgesetz die Zustimmung im Bundesrat zu verweigern oder, was 49 Statt vieler dazu Michael Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, München 2011, § 21 Rn. 133 ff. 50 Zu dieser Grundsatzfrage des föderalen Kompetenzrechts Heintzen, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 70 Rn. 84–88. 51 Dazu allgemein: Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 6: Bundesstaat, 3., völlig neubearb. und erw. Aufl., Heidelberg 2008, § 135 Rn. 73–77, und bezogen auf die Juristenausbildung: Fastenrath, Grenzen der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes, S. 424 f.

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man nicht unterschätzen sollte, Einspruch einzulegen. Die Universitäten sind an Vorgaben des staatlichen Rechts gebunden, trotz Art. 5 Abs. 3 GG, es sei denn, ein staatlicher Gesetzgeber selbst gewährt ihnen Autonomie, wie derzeit bei den sogenannten Schwerpunktbereichen, oder das staatliche Recht macht Vorgaben, die wissenschaftliche Standards verfehlen. Nichts von dem »es sei denn« im zuvorigen Satz trifft hier zu. Was der Bundesrat in einer »Rosenburg«-Gesetzgebungssituation sagen würde, ist nicht absehbar. Dementsprechend ist es aus Bundessicht mit Blick auf Länder und Universitäten keinesfalls kompetenzrechtlich bedenklich, wenn es in dem Allgemeinen Teil der Begründung des schon erwähnten, unveröffentlichten Diskussions­entwurfs aus dem BMJV heißt: »Diese Angebote [die vorhandenen Lehrangebote] sollen weder vereinheitlicht noch reglementiert werden. Vielmehr gilt es, diesen Bestand zu sichern, ihn auf eine rechtlich verbindliche Grundlage zu stellen und damit zu gewährleisten, dass derartige Veranstaltungen flächendeckend im Studium und im Vorbereitungsdienst angeboten werden. Der Gesetzentwurf lässt die Kompetenz der Bundesländer für die Durchführung der juristischen Ausbildung sowie die Autonomie der Hochschulen unberührt. Er beschränkt sich auf eine thematische Vorgabe.«

IV. Die Zweckmäßigkeit von Änderungen des Lehr- und Prüfungsstoffes Von einer Gesetzgebungskompetenz des Bundes ausgehend, stellt sich in der nüchternen Sprache von Juristen die Anschlussfrage, was zweckmäßig ist. Dabei sind organisatorische und inhaltliche Fragen, Lehr- und Prüfungsinhalte zu unterscheiden. 1. Organisatorisches Vorlesung und Klausur, die beiden Hauptformate des juristischen Lehr- und Prüfungsbetriebs, sind für die Themen »Deutsches Justizunrecht im 20. Jahrhundert« und »Berufsethos von Juristen« wenig geeignet. Auch eine eigenständige Lehrveranstaltung zur »Rosenburg«, die in einen modularisierten Studienverlauf eingebaut ist und mit einer obligatorischen Abschlussprüfung endet, ist schwer vorstellbar und würde zu einer Dauerbelastung für die wenigen fachlich zuständigen Fakultätsmitglieder führen. Anders verhält es sich bei Seminar oder Workshop, bei Hausarbeit52 oder mündlicher Prüfung. Gegenstand einer münd52 Die als Examensleistung – bis auf die Studienabschlussarbeit der universitären Schwerpunktbereichsausbildung – aber abgeschafft worden und damit den Unterschleifmöglichkeiten, die das Internet seit einigen Jahren bietet, zum Opfer gefallen ist, obwohl es sich um ein, davon abgesehen, sinnvolles Prüfungsformat handelt.

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lichen Prüfung müssen freilich die Pflichtfächer, die Kernbereiche des Bürgerlichen Rechts, des Strafrechts, des Öffentlichen Rechts und des Verfahrens­rechts sein (so etwa §§ 7 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 3 Abs. 2 Berl. JAG); Kernbereich heißt insoweit, dass Justizunrecht und Berufsethos nur Nebenaspekte sein dürfen. Die Erwartung eines »flächendeckenden Angebots« ist erfüllbar. Insoweit sei auf die Ausführungen oben zum Status quo verwiesen. Zu Recht konstatiert das BMJV, dass die Kenntnisse der Studierendenschaft über deutsches Justizunrecht, möglicherweise auch wegen des zunehmenden zeitlichen Abstands, erhebliche Defizite aufweisen. Die Notwendigkeit eines Angebots lässt sich also nicht bestreiten. Allerdings muss vor Enttäuschungen gewarnt werden, was die Annahme eines solchen Angebots anlangt. Dies sei mit Zahlen aus dem Berufsalltag des Verfassers veranschaulicht. Zu seiner Staatsrechtsvorlesung im Wintersemester 2019/20, in der auf Justizunrecht eingegangen worden ist, haben sich im Campus-Management-System der Universität 576 Studierende elektronisch angemeldet; die Anmeldungszahl für die Semesterabschlussklausur im Februar 2020 lag bei 445, wobei viel von der Differenz (445 zu 576) auf die Unsinnigkeiten des Kapazitätsrechts zurückzuführen sind, mit denen Politiker und Bürokraten Universitäten peinigen; davon haben 349 Studierende tatsächlich eine Klausurbearbeitung abgegeben (die 96 fehlenden Studierenden und die bei der Klausur Durchfallenden haben zwei Wiederholungsversuche; sollte die Klausur auch im dritten Anlauf nicht bestanden werden, erfolgt die Exmatrikulation). Die Präsenz im Hörsaal lag deutlich unter diesen Zahlen; eine Teilnahmepflicht bestand nicht, auch weil niemand ihre Einhaltung halbwegs seriös hätte prüfen und feststellen können. 2. Inhaltliches Die Argumente für und gegen eine Ergänzung des DRiG, wie oben unter III. ausgeführt, findet man in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. Juni 2018 auf Seite 10 aufgelistet.53 Das ist hier nicht zu wiederholen. Der Verfasser betrachtet die vorgeschlagene DRiG-Ergänzung mit Skepsis, dies aus der grundsätzlichen, unabhängig vom jeweiligen Thema entstandenen Erfahrung, seit Jahren ständigen und zum Teil tagespolitisch aktivistischen und kleinteiligen Änderungen des Ausbildungs- und Prüfungsrechts ausgesetzt zu sein, die im Ergebnis (Ausbildungsniveau der Studierenden) nichts spürbar verändern, und einem Unbehagen, in Lehre und Prüfung wertgebundene Grundhaltungen anderer Menschen zu festigen, ihr ethisches Bewusstsein zu fördern und ihnen nötiges geistiges Rüstzeug zu vermitteln. Dieses Unbehagen gründet auf zweierlei: der gedanklichen Vorwegnahme der Vergeblichkeit des eigenen Tuns und der Einschätzung, überfordert zu sein. Nur wenige juristische Fakultäten 53 Siehe Fn. 1.

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dürften in ihren Reihen jemanden haben, der eine die Zuhörerschaft trotz offensichtlicher berufspraktischer Irrelevanz des Themas fesselnde Vorlesung über das deutsche Justizunrecht des 20. Jahrhunderts halten kann. Gewiss, sachliche Information, gegen das Vergessen, ist jedem Hochschullehrer leicht möglich. Es hat aber Gründe, dass der Tübinger Zivilrechtler Fritz Baur 1961, an einer Zeitenwende, als das Thema Juristenausbildung vom Gerichtsverfassungsgesetz54 in das Deutsche Richtergesetz überführt worden ist, angemahnt hat, dass eine aufwendige und umfangreiche Denkschrift eines Arbeitskreises für Fragen der Juristenausbildung und zur Reform der Juristenausbildung »nahezu völlig in technischen Vorschlägen stecken«55 geblieben ist. Der Hauptgrund ist wohl, dass die sich hier stellenden Fragen keine spezifischen Fragen eines Berufsethos, sondern allgemeine moralische Fragen sind und dass ein öffentlicher Diskurs über Moral schwierig ist.56 Der Verfasser dieses Beitrags erinnert sich sehr gut an die spontane und belustigte, fast höhnische Frage eines Studenten in einer Grundrechtsvorlesung, in der es zu Anfang um einen allgemeinen Überblick gegangen und Art. 2 Abs. 1 GG vorgestellt worden ist. Die auf den Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 GG Bezug nehmende Frage lautete: »›Sittengesetz‹, was ist das denn?« Es hat den Dozenten einige Mühe gekostet, seinem Auditorium nahezubringen, dass die Berufung auf das Sittengesetz 1949 in einer Verfassung angemessen war.

54 Zu § 2 GVG etwa Theodor Kleinknecht / Hermann Müller, Kommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, 4., neubearb. und erw. Aufl., Darmstadt 1958, S. 1252 f. 55 Baur, Die Ausbildung der deutschen Juristen, S. 3. 56 Zu weiteren sich hier stellenden und über den Rahmen dieses Beitrags hinausgehenden grundsätzlichen Fragen: Isensee, »Stunde Null«?, etwa der Unmöglichkeit einer Stunde null (S. 15 ff.), der Pflicht zu vergessen in Art. 11 der französischen Charte constitutionnelle vom 4. Juni 1814 (S. 19), dem Unterschied zwischen Vergessen und Erinnern (ebd.), einem Ernst-von-Weizsäcker-Syndrom (S. 29), der Wirkungslosigkeit von Art. 132 GG (S. 37) oder der »Gnadenlosigkeit der späten Geburt« (S. 38 f.).

V. Die internationale Rezeption des Rosenburg-Projektes

Sir Thomas Stuart Legg

Das Rosenburg-Projekt aus britischer Sicht*1 Zwar war ich lange Jahre Bediensteter des britischen Justizministeriums, bringe hier allerdings ausschließlich meine persönlichen Ansichten zum Ausdruck. Zu protokollieren habe ich zwei persönliche Interessen: Erstens bewundere ich die deutsche Kultur, Philosophie und Regierung, zweitens bin ich ein energischer Verfechter der europäischen Zusammenarbeit in der Justiz und allen anderen Bereichen. Einige meiner produktivsten Jahre habe ich in enger und einträchtiger Zusammenarbeit mit europäischen und insbesondere auch deutschen Kollegen verbracht. Daher möchte ich meine aufrichtige Enttäuschung und Beklemmung über das Votum meines Landes zum Ausdruck bringen, die Europäische Union zu verlassen. Als Ministerialbeamter habe ich vor 44 Jahren an den Gesetzestexten mitgewirkt, die uns in die Europäische Union integriert haben. Es grämt mich, dass diese Arbeit nun rückgängig gemacht werden muss. Einige Aspekte, die ich hier ansprechen werde, haben gerade nach der Volksabstimmung noch an Bedeutung gewonnen.

I.

Das Rosenburg-Projekt

Beginnen möchte ich mit einer Würdigung des Rosenburg-Projekts. Ich erachte es als äußerst beeindruckendes Beispiel Deutschlands, sich den dunklen Seiten seiner Vergangenheit zu stellen und wertvolle Lehren für die Zukunft zu formulieren. Hierin zeigt sich ein moralischer und politischer Mut, den wir alle begrüßen dürften. Als mich mein Freund Gerd Nettersheim vom Bundesministerium der Justiz im vergangenen Jahr erstmals auf das Rosenburg-Projekt aufmerksam machte, erkannte ich, dass dieses Vorhaben auch für andere Justizministerien – auch für das britische – ein wichtiges Signal darstellen könnte. Nach meiner Rückkehr nach England kontaktierte ich eine Reihe hochrangiger Richter, Anwälte und Akademiker  – sie alle reagierten mit regem, anerkennendem Interesse. Mit Freuden habe ich vernommen, dass inzwischen * Leicht gekürzte Rede anlässlich der Konferenz »Die langen Schatten der Vergangenheit – Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit« des Zentralrats der Juden in Deutschland, die vom 7. bis 9. November 2018 in Berlin stattfand. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Andreas G. Förster. Kursiv gesetzte deutsche Begriffe sind im Original deutsch.

Sir Thomas Stuart Legg

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Bedienstete unseres British Ministry of Justice wegen des Rosenburg-Projektes mit deutschen Kollegen in Kontakt getreten sind. 1.

Die erste Lektion: Vorsicht vor Selbstgefälligkeit!

Womöglich haben sich meine britischen Kollegen zunächst gefragt: Was hat uns »die Rosenburg« zu sagen? Im und nach dem Zweiten Weltkrieg hatten wir doch ganz andere Probleme als Deutschland. Ich denke allerdings, dass die »Akte Rosenburg« sehr wohl eine Lektion für uns bereithält, nämlich: Vorsicht vor Selbstgefälligkeit! Die Verhältnisse der Anfangsjahre der Bundesrepublik können uns eine wichtige Lehre sein. Zumal auch wir Briten damals durch unsere Beihilfe für Kriegsverbrecher, sich der Justiz zu entziehen, kein Ruhmesblatt geschrieben haben. Die Rosenburg mahnt, dass niemand eine blütenweiße Weste hat, und dass wir als europäische Nationen jede Selbstgefälligkeit mit Blick auf unsere Verfassungswerte vermeiden müssen. Dies gilt umso mehr, als die Welt sich verändert und uns neue Chancen bietet, aber auch vor neue Herausforderungen stellt. Diese Ermahnung richtet sich an Großbritannien wohl noch dringlicher als an andere Länder. Meiner Überzeugung nach können wir stolz sein, über Jahrhunderte hinweg für die Freiheit und die Rechtsstaatlichkeit eingetreten zu sein. Damit geht aber auch eine besondere Verantwortung einher – und ein entsprechendes Risiko der Selbstgefälligkeit. 2.

Die weiterführende Lektion: Verfassungswerte

Für mich wirft die »Akte Rosenburg« noch eine größere Frage auf: Wie können die europäischen Staaten und insbesondere unsere Justizministerien sicherstellen, dass sie über einen angemessenen Schutz für wesentliche verfassungsrechtliche und ethische Werte verfügen? In England bezweifelt mancher, dass es so etwas wie »britische Werte« überhaupt gibt. Man argumentiert dann, dass beinahe keiner unserer Werte unumstritten ist, und dass diese unsere Werte nicht originär britisch, sondern ein Gemeingut auch anderer westlicher Staaten sind – als würden sie dadurch herabgesetzt. Hier stoßen wir auf ein weiteres, spezifisches Problem. Wir Briten treiben den Pragmatismus so weit, dass uns der Umgang mit allgemeinen Prinzipien nicht geheuer ist. Als geborener Brite bin ich allerdings der Überzeugung, dass wir übertreiben. Ich glaube, eine gesunde Portion deutscher und insbesondere kantischer Idealismus wäre hier recht nützlich. Doch auch ohne den Gewährsmann Kant ist völlig klar, dass es bestimmte grundlegende britische Verfassungswerte gibt: Sie sind der reiche Ertrag jahrhundertelanger Reflexionen und Ausein­

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andersetzungen. Dazu zählen die Meinungs- und Redefreiheit (auch beleidigender Rede), die Verknüpfung von Freiheit und Ordnung, die Rechtsgebundenheit durch die Rule of Law, die demokratischen Wahlen, eine unabhängige Gerichtsbarkeit, die Menschenrechte und die Gleichheit aller Bürger, von Männern und Frauen usw. Neben Bürgerrechten bringen diese Werte auch gewisse grundlegende Pflichten der Bürger mit sich, obwohl dieser Aspekt selten betont wird. Selbstverständlich teilen wir diese Werte mit anderen europäischen Staaten wie etwa Deutschland. Was aber ist daran so schlimm? Mir erscheint das als Vorteil, als Gewähr dafür, dass wir nicht allein dastehen und allesamt Teil einer gemeinsamen europäischen Kultur sind.

II. Zum britischen Hintergrund Natürlich hat jedes europäische Land einen eigenen nationalen Hintergrund. Das gilt auch für Großbritannien, wo die legitime Autorität des Staates in der Kombination zweier besonderer Eigenschaften wurzelt. Die eine ist die gesetzgeberische Souveränität des Parlaments, das jegliches Gesetz verabschieden oder aufheben kann. (Das zumindest ist die englische Auffassung, die etwa in Schottland niemals allgemein akzeptiert worden ist, wobei sich nur wenige Engländer dieser Tatsache bewusst sind.) Die andere ist die Bedingung für jede amtierende Regierung, dass sie über eine Mehrheit im Parlament verfügen oder aber als Regierung abtreten muss. Im Zusammenspiel mit dem starken Zentralismus und dem polarisierten Wesen unseres politischen Systems verleihen diese beiden Eigenschaften der Exekutive eine gewaltige Machtfülle – solange sie die erforderliche Parteidisziplin im Unterhaus aufrechtzuerhalten vermag. Das britische Volk scheint, das muss man wissen, dieses Arrangement im Großen und Ganzen zu schätzen; es hat aber auch einen starken Sinn für die persönliche Freiheit. Nahezu als einzige in der westlichen Welt haben wir keine schriftlich fixierte Verfassung, in der diese Freiheit verankert wäre und die genannten Werte garantiert würden. Wir haben eine Verfassung; die aber materialisiert sich in einer – nach Jahrhunderten unübersichtlichen  – Fülle von Gesetzen, Konventionen, Präzedenzfällen sowie Gerichtsurteilen und in lediglich einer einfachen Grundnorm, die ich bereits erwähnte: der Parlamentssouveränität. Ohne schriftlich fixierte Verfassung entbehren wir bestimmter Schutzklauseln für Minderheitenrechte, die unabhängig sind von der politischen und öffentlichen Meinung. Die öffentliche Meinung in unserem Land bildet ein starkes Bollwerk, sie kann allerdings keine solche Sicherheit bieten, wie sie die Verfassungen von Ländern wie Deutschland oder den Vereinigten Staaten verkörpern.

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Aktuelle Herausforderungen

Außerdem stehen wir vor einigen ernsten Herausforderungen. Mein Land durchlebt einen verfassungsrechtlichen Sturm und Drang. Als ich in den 1960er Jahren meine Beamtenlaufbahn begann, schien die Verfassung in Stein gemeißelt. Heutzutage ähnelt sie dem Palace of Westminster: Die Notwendigkeit ihrer Renovierung und Reparatur ist kaum mehr zu übersehen. Zunehmende Spannungen ergeben sich nicht nur in unserer Beziehung zu Europa, sondern auch in der Struktur des Vereinigten Königreiches selbst, sowohl auf nationaler als auch auf kommunaler Ebene. Ich denke an das Wahlrecht, die Zusammensetzung und Befugnisse des Oberhauses, die Gewichtung der Menschenrechte, die »Offenheit« der Regierung sowie das Gleichgewicht zwischen Sicherheit und persönlicher Freiheit nebst Privatsphäre. Im Allgemeinen hat sich der informelle Charakter unseres politischen Systems in Verbindung mit jener Unmenge verfassungsrechtlicher Quellen bisher durchaus bewährt – unter anderem deshalb, weil das System auf einer gemeinsamen ethischen Kultur fußte. In einer zunehmend diversen und pluralen Gesellschaft ist es heute indes weniger selbstverständlich, eine allgemeine Akzeptanz dieser Kultur und Werteordnung vorauszusetzen. Eine beinahe unmerkliche, aber scheinbar unauf­ haltsame Verschiebung der Legitimität liegt den genannten Phänomenen zugrunde: weg von der repräsentativen Demokratie, hin zu einer direkteren Form der Demokratie. Noch vor einer Generation wäre und ist ein Referendum über unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Union, ja ein Referendum überhaupt, als inakzeptabler Übergriff auf die parlamentarische Demokratie angesehen worden. Heute gelten Volksabstimmungen nicht nur als akzeptabel, sondern bisweilen sogar als notwendig. Dieser Wandel deutet auf ein nachlassendes Vertrauen in die repräsentative Demokratie vor dem Hintergrund eines massiv angeschwollenen Informationsflusses und des stetig erstarkenden Individualismus. Mit diesen Erscheinungen einher geht auch eine Angst vor der zunehmenden Entfremdung und Unbeliebtheit der politischen Klasse, vor der Machtstellung nichtstaatlicher Akteure (insbesondere der Konzerne und Medien) und vor der als ungenügend empfundenen Rechenschaftspflicht der Behörden. Der Zeitgeist ist, wie in anderen europäischen Staaten auch, gezeichnet durch größere Bedrohungen und Herausforderungen. Im Innern schüren Masseneinwanderung und Globalisierung Ängste, die zum Erstarken des Populismus und zur Ablehnung nicht nur einer bestimmten Politik, sondern im Extremfall der gesamten bestehenden Ordnung und Werteordnung führen. Natürlich gibt es immer auch äußere Herausforderungen. Der Westen ist noch sehr stark. Dennoch bedroht etwa der islamistische Extremismus das Leben unserer Bürger und verwirft unser Erbe der Aufklärung mit allem, was dazugehört. Außerdem existieren immer auch potenzielle militärische Bedrohungen, während wir zugleich in einem ideologischen Wettbewerb mit dem wachsenden

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Wohlstand und Einfluss anerkannter Staaten wie insbesondere China stehen, deren Werte sich von unseren unterscheiden, eine friedliche Koexistenz aber nicht ausschließen. In diesem größeren Kontext stellt sich nun die Frage, wie wehrhaft wir gegenüber einer staatlichen oder nichtstaatlichen Bedrohung jener Grundwerte sind, auf denen unsere gesamte Ordnung fußt. Ehrlich gesagt, wir sind wohl nicht so wehrhaft, wie wir vielleicht glauben. Klarheit hierüber erlangen wir allerdings nur, wenn wir uns sowohl die tragenden Säulen als auch deren Geist vergegenwärtigen. 2.

Die tragenden Säulen: Eine schriftlich fixierte Verfassung für Großbritannien?

Eine alte Frage bezüglich der tragenden Säulen in Großbritannien lautet, ob wir unsere Verfassung schriftlich fixieren sollen. Die Diskussion darüber wird bereits seit Generationen geführt, zumeist in akademischen und weniger in politischen Kreisen. Geschehen ist nichts, außer dass wir in all diesen Jahren international mehr Verfassungstexte auf den Weg gebracht haben als jedes andere Land. Doch im Zuge unserer aktuellen Gemengelage in Verfassungsfragen wurden auch in England Stimmen zugunsten eines Verfassungskonvents laut, also für eine landesweite öffentliche Debatte, wie sie vor einigen Jahren in Schottland geführt wurde. Realpolitiker halten, ob sie nun grundsätzlich dafür oder dagegen sind, die Ausarbeitung einer kodifizierten Verfassung in Großbritannien für unmöglich. Das mag richtig sein; eine landesweite Debatte würde aber wohl zumindest deren Vorzüge erkennen lassen. Hierbei handelt es sich für uns um keine rein theoretische Frage. Dicht unter der Oberfläche schwelt ein potenzieller Konflikt um schiere Macht. Meiner Meinung nach hüten sich die politische Klasse und insbesondere die Mehrheit der Mitglieder des Unterhauses wohlweislich, das Thema überhaupt zu diskutieren. Tendenziell lehnen sie eine fixierte Verfassung als unrealistisch ab, weil sie – sicherlich zu Recht – befürchten, dass schon der Prozess einer öffentlichen Debatte die Parlamentssouveränität in Frage stellen und den Geltungsansprüchen anderer staatlicher Gewalten, etwa der Judikative, Auftrieb verleihen könnte. Unsere Rechtsprechung ist selbstbewusst und vollkommen unabhängig, aber keine gleichberechtigte Staatsgewalt wie in Deutschland oder Amerika. In letzter Zeit ist die Rolle der Judikative in unserem politischen System deutlich gewachsen. Ein wichtiger Schritt war die Stärkung der Normenkontrolle, was es dem Bürger nun ermöglicht, die Rechtmäßigkeit staatlicher Verwaltungsakte überprüfen zu lassen. Neben dem Human Rights Act von 1998 und dem Einfluss des EU-Rechts hat dieses Prüfungsrecht die Richterschaft stärker in die politische Debatte involviert – eine wohl zwangsläufige Entwicklung, die auch (in gewissem Rahmen) nicht zu teuer bezahlt ist; allerdings steigt dadurch die Wahrscheinlichkeit einer Konfrontation mit anderen Staatsgewalten.

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Tatsächlich kommt es auch ohne Verfassungstext immer wieder zu Diskussionen – die hauptsächlich unter hochrangigen Richtern geführt werden, mitunter aber auch an die Öffentlichkeit dringen  –, ob ein Gericht im Extremfall ver­ suchen könne oder gar solle, der Parlamentssouveränität Schranken zu setzen. Dies käme in Frage, wenn das Gericht ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz für unwirksam erachtet, etwa weil es nach Auffassung des Gerichts ernstlich gegen unsere Verfassungswerte verstößt. Ein solcher Urteilsspruch käme einer Revolution gleich. So weit ist es noch nicht gekommen und wird es vielleicht nie kommen; vor allem wohl deshalb, weil die Richter sich sehr wohl bewusst sind, dass sie qua Ernennung und nicht qua Wahl ins Amt gelangen. Tatsächlich bezeichnen die Medien, wenn sie unsere Richter kritisieren wollen, dieselben für gewöhnlich als »nichtgewählte Richter«. Das ist wahrscheinlich einer der heiklen Punkte in unserer Verfassung. Trotz dieses Reformdrucks und anderer Herausforderungen steht die ererbte Struktur unserer Verfassung auf festem Grund. Das heißt, dass der in ihr verankerte Geist noch von entscheidender Bedeutung ist. In einem System wie dem unsrigen hat die politische Kultur ein ebenso großes Gewicht wie das Gesetz. Daher ist es ganz entscheidend, dass unsere Werte diese Kultur durchdringen und tragen. 3.

Die Ausbildung von Richtern, Anwälten und Beamten

Natürlich gibt es in unserer Gesellschaft Gruppen, die sich der Verfassungswerte ganz besonders und vollumfänglich bewusst sein müssen. Eine dieser Gruppen ist die gesamte politische und administrative Klasse. Eine weitere Gruppe bilden jene Menschen, die für die Justiz verantwortlich sind. So komme ich zum eigentlichen Gegenstand meiner Ausführungen, nämlich zur Bildung, Ausbildung und Kultur von Richtern, Anwälten und Beamten. Die Ausbildung unserer Richter liegt in der Verantwortung des Judicial College, einer selbstverwalteten Institution der Richterschaft unter der Dienstaufsicht des Lord Chief Justice, des obersten Berufsrichters in England und Wales. Bekanntermaßen verfügen wir in England, ja in der gesamten englischsprachigen Welt, nicht über eine Berufsrichterschaft im kontinentalen Sinne. Unsere vorsitzenden Richter werden fast ausnahmslos aus den Reihen bewährter Juristen ernannt. Dieser Umstand hat bedeutende Auswirkungen auf unsere Rechtskultur, die von der exekutiven Sphäre weit entfernt ist. Die am Judicial College angebotenen Kurse widmen sich intensiv den Gleichstellungsgesetzen, die selbstverständlich vieles abdecken. Allerdings vertiefen die Seminare andere Verfassungsaspekte und -werte kaum. Darin liegt aktuell sicher eine gewisse Ironie, da sich unsere vorsitzenden Richter vermehrt mit verfassungsrelevanten Fällen auseinanderzusetzen haben. Doch der Ironie noch nicht genug: Das Judicial College bildet auch Richter anderer, weniger entwickelter Länder aus und lehrt dabei ausdrücklich auch Verfassungswerte. Selbstsicher unterstellt ist hier

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also, dass ausländische Richter eine solche Ausbildung benötigen würden – im Gegensatz zu unseren britischen Richtern. Betrachten wir die Anwaltschaft, so lernen alle Jurastudenten in England, ob nun explizit oder implizit, etwas über unsere Verfassungswerte im Kurs »Öffentliches Recht«, den sie für gewöhnlich im ersten Jahr belegen. Dann aber folgt der freie Fall. Die Vermittlung der Verfassungswerte ist in der Berufsausbildung unserer Juristen nicht vorgeschrieben, gleichwohl sie akzidentiell erfolgen und fakultativ auch Menschenrechtsthemen umfassen kann. Schließlich die Beamten: Im Rahmengesetz für den Öffentlichen Dienst, das 2010 vom Parlament verabschiedet wurde, findet sich eine merkwürdige Vorschrift. Sie verpflichtet den Dienstherrn, in unserem Falle den Premierminister, »geeignete Maßnahmen in Betracht zu ziehen, um das Bewusstsein der hochrangigen Ministerialbeamten in beratender Funktion zu schärfen für die verfassungsrechtliche Bedeutung des Parlaments und für die Konventionen im Verhältnis zwischen dem Parlament und der Regierung Ihrer Majestät«. Das ist sicherlich eine nützliche Vorschrift – vor dem aktuellen Hintergrund aber geht sie wohl nicht weit genug. Eine dezidierte verfassungsethische Ausbildung erhalten die Beamten unseres Justizministeriums nicht. Mit einem Wort: Die Ausbildung unserer Richter, Anwälte und Beamten im aktuellen Format mag bei Schönwetter genügen; sie erscheint mir aber unzureichend, die ethische Richtschnur unseres Rechts- und Regierungssystems zu wahren, sobald wir auf eine Unwetterfront zusteuern. Hier Abhilfe zu schaffen, wird in unserer angelsächsischen Kultur eine sehr schwierige Aufgabe werden. Wir denken durch und durch positivistisch und betrachten unsere Werte, wie ich fürchte, als unumstößlich. Schon eine einzige im Verdacht des Politischen stehende Silbe würde für eine handfeste Kontroverse sorgen. Es wird also nicht einfach werden; ich glaube allerdings, dass eine solche Reform in Erwägung gezogen werden sollte – und das Rosenburg-Projekt bietet hilfreiche Anregungen dafür. 4.

Zuwanderer: Ein Bekenntnis zur Verfassung?

Zu erwähnen wäre eine weitere Gruppe, die unsere Verfassungswerte besonders gut kennen und verinnerlichen muss. Ich meine die Zuwanderer aus anderen Ländern und Kulturkreisen. Seit langem sind mein deutscher Partner als Philosoph und ich als Jurist der Überzeugung, dass nicht nur unsere beiden Länder sich ein Beispiel an unseren niederländischen Freunden nehmen sollten. Nach erfolgreichen Testprojekten wurde in den Niederlanden unlängst beschlossen, von Zuwanderern aus anderen Kulturkreisen – nach entsprechender Wissensvermittlung – ein Bekenntnis zu den niederländischen Werten der Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Teilhabe zu verlangen. Ein Verstoß zieht eine empfindliche Geldbuße nach sich. Selbstverständlich wird ein solches Bekenntnis allein nicht zu einer Veränderung in Kultur und Habitus führen. Aller­dings

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kann es wohl dazu beitragen, der Verbundenheit des Zuwanderers zu diesen Werten einen feierlichen Charakter zu verleihen. Und im schlimmsten Fall könnte ein unverhohlenes Verstoßen gegen das Bekenntnis für die Strafverfolgung bestimmter Vergehen relevant werden. 5.

Die Wahrung der Rule of Law im Kabinett

Zurück nach England, dort gibt es nämlich ein unmittelbareres praktisches Problem. Es geht um die einleuchtende Forderung nach einem Bevollmächtigten in der amtierenden Regierung mit der klaren Verantwortung und Befugnis zur Sicherung der Rechtsgebundenheit durch die Rule of Law. Informell hatte der Lord Chancellor, unser traditioneller Justizminister, zusammen mit dem Generalstaatsanwalt immer als ebendieser Bevollmächtigte gegolten. Seinerzeit war der Lordkanzler stets bewährter Jurist oder Richter, der ex officio der Judikative vorstand und zugleich hochrangiges Regierungsmitglied sowie Sprecher des Oberhauses war. Mit den Reformen von 2003 bis 2005 hat sich das geändert. Der Judikative steht nun der Lord Chief Justice vor, der oberste Richter in England und Wales. Wir haben zwar noch einen Lord Chancellor und Justizminister in Personalunion, der ist aber nun ein »gewöhnlicher« Unterhauspolitiker und nicht einmal unbedingt Jurist. Gleichwohl bleibt er hochrangiger Minister – tatsächlich ist sein Ministerium wesentlich größer als früher – und haben einige der Reformen positive Ergebnisse gezeitigt. Allerdings hat der Verfassungsausschuss des Oberhauses unlängst darauf hingewiesen, dass wir seit den Reformen ohne Minister oder sonstigen Bevollmächtigten dastehen, der für die Wahrung der Verfassung verantwortlich wäre. Der Ausschuss empfahl, dem »neuen« Lord Chancellor diese Funktion formell zu übertragen. Die Erwiderung seitens der Regierung lässt wenig Hoffnung auf eine Umsetzung dieser Empfehlung. Dessen ungeachtet hoffe ich noch, dass man sie befolgt und dass die Funktion ernst genommen wird. Denn wenn wir nicht den Justizminister als den Hüter der Verfassungswerte in der Exekutive ansehen können, wen dann?

III. Fazit Nach diesen Ausführungen könnte man meinen, ich hätte mich vom RosenburgProjekt weit entfernt, aber das Gegenteil ist der Fall. Die Rosenburg ist wie ein Brennglas und ermahnt uns, dass wir bestrebt sein müssen, die Werte unserer Ordnungen zu vermitteln und zu wahren – zunächst in unseren Justizministerien, dann auch in der Gänze unserer Gemeinwesen. Sie ermahnt uns, dass sich dieses Problem in Großbritannien nicht in minderem Maße stellt als in unseren europäischen Nachbarländern; dass sich daher niemand auf seinen Lorbeeren ausruhen kann, und dass uns allen und unseren Nachfolgern eine große Auf-

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gabe bevorsteht. Das wird beileibe nicht einfach werden und nicht immer auf die Zustimmung der Öffentlichkeit stoßen. Indes, wie lehrte doch der große Hans Blumenberg, ehedem Professor für Philosophie in Hamburg: »Mehr Vertrauen auf das ewige Recht einer Idee zu haben, als seine wirkliche Lage zu rechtfertigen scheint, das macht zum besten Teil die Würde des Menschen aus.«1

1 Hans Blumenberg, Der kopernikanische Umsturz und die Weltstellung des Menschen (1955), in: Ders., Schriften zur Technik, hg. v. Alexander Schmitz und Bernd Stiegler, Berlin 2015, S. 60–85, hier 85.

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Die »Akte Rosenburg« und ihre Rezeption in den USA

Im November 2014 besuchte der damalige Bundesjustizminister Heiko Maas mit einer Delegation Washington und New York, um über die politische Dimension und erste Zwischenergebnisse eines Forschungsvorhabens zu berichten, das zweieinhalb Jahre zuvor von seinem Ministerium in Auftrag gegeben worden war: die Aufarbeitung des Erbes der NS -Vergangenheit in den Anfangsjahren des BMJ von 1949 bis 1973. Minister Maas hielt dazu am 17. November im Deutschen Historischen Institut in Washington einen Vortrag vor geladenen Gästen, unter denen die Washingtoner Administration stark vertreten war. Am 19. November sprach er im Auditorium des Center for Jewish History in New York über die hohe Zahl ehemaliger NSDAP-Mitglieder und ihre Haltung in der Rosenburg in Bonn, wo das Ministerium in den ersten zwei Jahrzehnten nach Gründung der Bundesrepublik seinen Sitz hatte. Anschließend stellte das Leo Baeck Institute in Zusammenarbeit mit dem American Jewish Committee das Rosenburg-Projekt unter dem Titel »The Rosenburg Files: The German Federal Ministry of Justice and its Nazi Past« in einer Diskussionsveranstaltung vor. Auf dem Podium saßen die beiden Leiter der mit der Untersuchung beauftragten Wissenschaftlichen Kommission, die Professoren Dr. Manfred Görtemaker und Dr. Christoph Safferling, sowie Dr. Rebecca Wittmann von der University of Toronto und David Marwell, Direktor des New Yorker Museum of Jewish Heritage, der die Diskussion moderierte. Bei der Planung der Amerikareise des Ministers war das Bundesjustizministerium zu Recht davon ausgegangen, dass die Aufarbeitung seiner Anfangsjahre in den Vereinigten Staaten erhebliche Aufmerksamkeit finden würde. Denn nicht nur für Historiker ist dieses Projekt von Interesse. Da die USA und ihre Alliierten Geburtshelfer der jungen Bundesrepublik waren und ihr den Weg in die westliche Staatengemeinschaft ebneten, gibt das Rosenburg-Projekt Aufschluss darüber, wie eines der wichtigsten Ressorts der Adenauer-Regierung mit dem Vertrauensvorschuss und dem politischen Kredit, den die westlichen Verbündeten ihr gaben, umging. Und da viele ehemalige deutsche Bürger, unter ihnen eine große Zahl von Juden, die aus dem »Dritten Reich« geflohen waren, in den USA Aufnahme gefunden hatten, durfte nicht zuletzt die jüdische Gemeinschaft eine Antwort auf die Frage erwarten, ob bzw. inwieweit die Bonner Republik tatsächlich mit der NS-Vergangenheit gebrochen und einen glaubhaften demokratischen Neubeginn vollzogen hatte. Auch die Deutsche Botschaft in

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Washington hatte dem Justizministerium deshalb signalisiert, dass das Interesse an dem Thema in den Vereinigten Staaten groß sei. Auf vielfachen Wunsch des amerikanischen Publikums und der Gesprächspartner des Ministers kam es 2017, nachdem der Forschungsbericht der Wissenschaftlichen Kommission im Herbst 2016 in Buchform erschienen war, zu einem weiteren Besuch einer Delegation des BMJ in den Vereinigten Staaten. In einer Abendveranstaltung am 5. April 2017 im Goethe-Institut in Washington, zu der das Holocaust-Museum, das American Jewish Committee und das Deutsche Historische Institut geladen hatten, präsentierten das Ministerium und die Wissenschaftler nunmehr die Ergebnisse ihrer Forschung. Am folgenden Tag trafen die Vertreter des Ministeriums im Center for Jewish History in New York erneut mit Führungspersonen der jüdischen Verbände zu einem offenen Gedankenaustausch über das Forschungsprojekt und die daraus folgenden Gegenwartsfragen zusammen. Der Besuch der deutschen Delegation wurde durch eine öffentliche Veranstaltung in der Hoerle Lecture Hall abgerundet, an die sich eine überaus angeregte Diskussion anschloss. Das Justizministerium durfte seine beiden Informationsreisen daher mit Recht als Erfolg verbuchen. Die Amtsnachfolgerin von Minister Maas, Katarina Barley, eröffnete deshalb die englischsprachige Variante einer Ausstellung zum Rosenburg-Projekt 2019 ebenfalls mit einer Präsentation in den USA.1 Inhaltlich kommen die Ergebnisse des verdienstvollen Rosenburg-Projekts indes nicht wirklich überraschend. So untersuchte Rebecca Wittmann bereits 2005 in ihrem Buch »Beyond Justice« die Auschwitz-Prozesse der 1960er Jahre vor dem Landgericht in Frankfurt am Main und beschrieb die ungewöhnlichen Umstände dieser Prozesse und das jahrzehntelange Schweigen danach.2 Sie legte dar, dass bei den Verhandlungen die Bestimmungen des deutschen Strafrechts und nicht die Prinzipien des Menschen- und Völkerrechts angewandt wurden, die aus den Nürnberger Prozessen und den Debatten über den Völkermord des NS-Regimes entstanden waren. Auf diese Weise verhalfen die AuschwitzProzesse zwar dazu, Auschwitz in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit zu rücken, andererseits waren sie aber im Ergebnis begrenzt und machten das Scheitern der alliierten Anstrengungen deutlich, die deutsche Rechtskultur aus ihren alten Bahnen herauszuführen. Die Anwendung des deutschen Strafrechts mit Mord, Totschlag, fahrlässiger Tötung, Beihilfe usw., gepaart mit den Kriterien der subjektiven Absicht, wie Grausamkeit, Vorsätzlichkeit usw., verhinderte es, die größeren Dimensionen anzugehen, in denen der strukturelle, systemati1 Zur wissenschaftlichen Rezeption vgl. etwa Paul Behrens / Olaf Jensen / Nicholas Terry (Hg.), Holocaust and Genocide Denial: A Contextual Perspective, London 2017; sowie Jens Meierhenrich, The Remnants of the Rechtsstaat. An Ethnography of Nazi Law, Oxford 2018. 2 Rebecca Wittmann, Beyond Justice: The Auschwitz Trial, Cambridge (Mass.) 2005. Insgesamt fanden vor dem Landgericht in Frankfurt am Main von 1963 bis 1968 drei Strafprozesse über die Verbrechen von Auschwitz statt. In den 1970er Jahren folgten dann noch drei Nachfolgeprozesse.

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sche Antisemitismus offenkundig geworden wäre, der im Einzelfall nur schwer nachzuweisen war. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der durch seine Weisungsbefugnis gegenüber nachgeordneten Staatsanwaltschaften maßgeblich dazu beitrug, die Auschwitz-Prozesse überhaupt erst auf den Weg zu bringen, hatte deshalb versucht, andere Kriterien aufzustellen und Personen, die in Auschwitz gearbeitet hatten, grundsätzlich unter Mordanklage zu stellen. Doch vom Landgericht wurden nur übermäßige Gewalt und Grausamkeit als Kriterien anerkannt – und dies zum Teil von Richtern, die ehemalige SS-Richter gewesen waren und nun in den Auschwitz-Prozessen wiederum als Richter agierten. Wittmann fragte, warum das so war, warum die Rechtsprechung auf so subjektiver Ebene stattfand, anstatt die objektive Teilnahme als Hauptkriterium zugrunde zu legen, und machte geltend, dass die Beteiligung ehemaliger NS-Juristen dabei sicherlich eine Rolle spielte. Erst im Demjanjuk-Prozess 2009 bis 2011 änderte die deutsche Justiz ihre Rechtsprechung. Der Ukrainer John Demjanjuk war während des Zweiten Weltkrieges als Soldat der Roten Armee in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten und dann als KZ-Wachmann ausgebildet worden. 1988 wurde er deshalb in Israel zum Tode verurteilt. Da die Anklage ihn jedoch fälschlicherweise als Treblinka-Wachmann identifiziert hatte, hob das israelische Berufungsgericht das Urteil 1993 wieder auf. Demjanjuk kam frei und kehrte 1993 nach Ohio zurück, wo er seit 1952 gelebt hatte. 2001 wurde er, diesmal in den USA, erneut angeklagt und 2009 nach Deutschland überstellt. Als Sobibór- und Maidanek-Wachmann, der im Dienst der SS gestanden hatte, wurde er nun vom Landgericht München II wegen Mithilfe und Beihilfe in 28.000 Mordfällen während seiner Zeit im Lager angeklagt und verurteilt – wie Fritz Bauer es seinerzeit bereits im Hinblick auf die Angeklagten in den Auschwitz-Prozessen gewollt hatte.3 Rebecca Wittmann wies also auf einen zentralen Punkt in der deutschen Rechtsprechung nach dem Ende des NS-Regimes hin: die Anwendung deutscher Rechtsgrundsätze anstelle menschen- und völkerrechtlicher Kriterien. Doch lässt sich damit auch die Frage beantworten, ob die Anstrengungen der westlichen Alliierten, in Deutschland nach dem Ende der Nazi-Diktatur nicht nur eine solide politische Ordnung, sondern auch einen funktionierenden Rechtsstaat zu errichten, erfolgreich waren oder scheiterten? Tatsächlich bestand in den ersten Nachkriegsjahrzehnten der Verdacht, dass es weiterhin Nazis und Neonazis in Deutschland gab und dass diese auch aktiv waren. Andererseits war nicht zu bestreiten, dass keine der wiedererstandenen demokratischen Nachkriegsgesellschaften sich als so stabil und gesetzestreu erwiesen hatte wie die Bundesrepublik Deutschland – selbst im Vergleich mit den anglo-amerikanischen Demokratien. Dies war jedenfalls die Einschätzung von John H. Herz, einem emeritierten Politikwissenschaftler der City University 3 Der Videomitschnitt ist auf der Webseite des Leo Baeck Institute zu finden: https://www. lbi.org/events/rosenburg-german-justice-ministry/ (zuletzt aufgerufen am 21.04.2020).

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of New York und ehemaligen Mitarbeiter des US-Außenministeriums und des Office of Strategic Services (OSS), dem Nachrichtendienst der USA im Zweiten Weltkrieg.4 1908 in Düsseldorf geboren, zählte Herz zu den Absolventen des Genfer Graduate Institute of International and Development Studies, das Flüchtlingen vor dem NS-Regime eine wichtige Qualifikationsmöglichkeit bot, die für spätere Tätigkeiten im amerikanischen Kontext sehr nützlich war. Zudem war er ein Schüler von Hugo Sinzheimer, Professor für Arbeitsrecht und Rechtssoziologie an der Universität Frankfurt am Main, der auch Mitglied der verfassunggebenden Weimarer Nationalversammlung gewesen war. Neben Herz, der 1938 in die USA emigrierte, arbeiteten mehrere Schüler Sinzheimers während des Krieges für die amerikanische Administration, unter ihnen so prominente Persönlichkeiten wie Hans Morgenthau, Franz Neumann und Ernst Fraenkel. Auch mehrere Mitglieder des Frankfurter Instituts für Sozialforschung fanden nach ihrer Emigration eine Anstellung in den USA. Zusammen mit Fachleuten aus führenden Universitäten und Anwaltskanzleien bildeten sie Forscherteams, die zu zahlreichen Fragen der Kriegsplanung Gutachten erstellten und ab 1943, als das Ende des Krieges schon absehbar war, für die amerikanische Militärregierung in Deutschland ebenfalls an Plänen für die Nachkriegsordnung mitwirkten. Wie wichtig die intimen Kenntnisse der Emigranten waren, zeigte sich bei der Arbeit einer ganzen Reihe von Behörden der US-Administration, die mit der Kriegs- und Nachkriegsplanung befasst waren: dem schon genannten Office of Strategic Services, dem Board of Economic Warfare (BEW), dem Office of War Information (OWI), der War Crimes Commission oder der Foreign Economic Administration (FEA), um nur diese zu nennen. Besonders das Office of Strategic Services machte sich in seiner Abteilung »Research and Analysis« unter der Leitung des deutschstämmigen Historikers Hajo Holborn die Kenntnisse von Fachleuten unter den Emigranten zunutze. Dazu zählten unter anderem die sozialdemokratische Politikerin und Journalistin Toni Sender, der Historiker Felix Gilbert, der Mathematiker Emil Julius Gumbel, die Sozialwissenschaftlerin Louise Holborn, der Kunsthistoriker Richard Krautheimer, der Philosoph Herbert Marcuse und der Jurist Otto Kirchheimer sowie der ehemalige Polizeipräsident von Magdeburg, Horst Bärensprung, der Berliner Anwalt Wilhelm Dickmann und der Justiziar der Berliner Polizei, Robert M. W. Kempner.5 Die Untersuchungen, die in ihrem Umfeld entstanden, waren vielfältig. Es ging um Arbeitskraft- und Bevölkerungspotenziale, die Militärverwaltung in 4 John H. Herz (Hg.), From Dictatorship to Democracy. Coping with the Legacies of Authoritarianism and Totalitarianism, Westport (Conn.) 1982, S. 17. Dieser Sammelband brachte eine Reihe von Wissenschaftlern zusammen, die über die verschiedenen Nachkriegsstaaten und deren Übergang zu demokratischen Rechtsstaaten geforscht hatten, also neben der Bundesrepublik Deutschland auch Italien, Österreich, Frankreich, Japan, Spanien, Portugal und Griechenland. 5 Ausführlicher in Ernst C. Stiefel / Frank Mecklenburg, Deutsche Juristen im amerikanischen Exil (1933–1945), Tübingen 1991, S. 154 ff.

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den von Nazi-Deutschland besetzten Gebieten und die zu erwartenden Probleme nach der Befreiung und Besetzung Mitteleuropas.6 Die Abteilung »Research and Analysis« des OSS und die Foreign Economic Administration entwickelten zudem einen Thesenkatalog über die Haltung der deutschen Bevölkerung und die Verflechtungen zwischen NSDAP, Wehrmacht, hoher Ministerialbürokratie und Industrieführung sowie über Wege zur Entnazifizierung und zur Wiederzulassung der alten politischen Parteien.7 Ernst Fraenkel legte eine Studie über die Erfahrungen der Militärregierung im Rheinland von 1918 bis 1923 vor.8 Eine wichtige Rolle spielten die Emigranten aber auch bei der Erstellung des »Civil Affairs Guide« und des »Civil Affairs Handbook«, die Richtlinien für die nach der Befreiung Deutschlands zu errichtende amerikanische Besatzungsverwaltung enthielten.9 Und das Personal, das man für die Arbeit im besetzten Deutschland benötigte, wurde an verschiedenen Universitäten in einem eigenen »Civil Affairs Training Program« ausgebildet, für das wiederum Emigranten als Lehrer eingestellt wurden, die als sogenannte »enemy aliens« besondere Reise­ genehmigungen benötigten, um überhaupt an die entsprechenden Universitätsorte reisen zu können. Geprägt wurde der amerikanische Blick auf Deutschland indessen vor allem durch Juristen, die aus Nazi-Deutschland emigriert waren. Besonders jüdische Juristen und Regimegegner waren schon früh aus ihren Positionen in Deutschland vertrieben worden. Viele von ihnen gingen in die USA und besaßen zu Kriegsbeginn bereits die amerikanische Staatsbürgerschaft. Insgesamt stellten Juristen etwa die Hälfte der Emigranten unter den Mitarbeitern der amerikanischen Behörden für die Kriegs- und Nachkriegsplanung. Da ihre Ausbildung vor dem Ersten Weltkrieg und auch noch in der Weimarer Republik sowohl Rechts- als auch Staatswissenschaften umfasst hatte, waren sie für grundlegende Analysen besser geeignet, als sie es mit einer reinen Juristenausbildung gewesen wären. Tatsächlich hätte es ohne sie nach 1945 den Versuch, ausgehend von der amerikanischen Besatzungszone, ein neues Deutschland zu schaffen, wohl kaum gegeben. Es verwundert deshalb nicht, dass auch in der Rechtsabteilung der amerikanischen Militärregierung in Deutschland zahlreiche Emigranten tätig waren, die sich mit den Verhältnissen vor Ort auskannten und ohne lange Einarbeitungszeit eingesetzt werden konnten. Als die Wehrmacht am 8./9. Mai 1945 bedingungslos kapitulierte und die Alliierten mit der »Berliner Deklaration« vom 5. Juni 1945 die oberste Regierungsgewalt in Deutschland übernahmen, standen die Siegermächte vor einer Gesellschaft ohne funktionierenden Staat. Der Zusammenbruch war beispiel6 Ebd., S. 162; siehe ausführlich Wittmann, Beyond Justice. 7 History of the Research and Analysis Branch of the Office of Strategic Services, IV. The Europe-Africa Division, S. 93 ff., zit. in: Stiefel / Mecklenburg, Deutsche Juristen, S. 164. 8 Ernst Fraenkel, Military Occupation and the Rule of Law. Occupation Government in the Rhineland, 1918–1923, London 1944. 9 Vgl. Stiefel / Mecklenburg, Deutsche Juristen, S. 147 ff.

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los; manche sprachen sogar von einer »Stunde null«. Doch anders als nach dem Ersten Weltkrieg, als der Übergang vom Kaiserreich zur Republik aus vorhandenen Strukturen heraus erfolgen musste und die Rechtssphäre in hohem Maße mit antirepublikanischen Kräften belastet gewesen war, schien es dadurch nun möglich, einen wirklichen Neubeginn zu unternehmen. Dennoch wurden immer wieder Vergleiche mit der Situation nach 1918 angestellt, da das verheerende Erbe des »Dritten Reiches« größte Anstrengungen erforderte, um ein erneutes Scheitern der Republik zu verhindern.10 Wie groß die Belastung für die Mitarbeiter der alliierten Behörden war, geht aus den Unterlagen und Tagebüchern des ehemaligen Münchner Anwalts und späteren Professors am Amherst College, Karl Loewenstein, hervor, der damals für die amerikanische Militärregierung in Deutschland tätig war. Neben der Arbeit an Gesetzen, Verordnungen und Bestimmungen fanden ständig Kommissionsberatungen zu unvorhergesehenen politischen Ereignissen statt  – ob etwa Carl Schmitt als Kriegsverbrecher eingestuft und angeklagt werden sollte oder ob seine Freilassung ein Schlag gegen die neu entstehende Demokratie darstellte. Außerdem befanden sich die emigrierten deutschen Juristen gegenüber ihren amerikanischen Vorgesetzten häufig in einer Zwickmühle, wenn sie nach deutschen Maßstäben urteilten. Rechtsvergleiche waren damals in den USA noch wenig bekannt und wurden erst durch den Beitrag der Emigranten zu einem Gegenstand der amerikanischen Rechtslehre. Außerdem urteilten die deutschen emigrierten Juristen häufig milder als die Emigranten aus der Schriftsteller- und Intellektuellenszene, deren Kritik an den Deutschen sehr viel harscher und pauschaler ausfiel.11 Die deutsche Bevölkerung wurde mit der neuen Rechtsprechung nach dem Ende der NS-Herrschaft zuerst vor den Gerichten der amerikanischen Militärverwaltung konfrontiert.12 Im Sommer 1948 erfolgte dann der Übergang zu einem System ziviler amerikanischer Rechtsprechung, sowohl in Straf- als auch in Zivilrechtsachen, um nicht nur Rechtssicherheit herzustellen, sondern auch die Grundlagen für eine demokratische Erneuerung zu schaffen, indem man der deutschen Bevölkerung vorführte, wie das amerikanischen Rechtssystem funktionierte.13 Die ursprünglich zum Schutz des Besatzungspersonals und des Militärs eingesetzten Gerichte wurden so zu einem Mittel demokratischer Umerziehung mit dem Versuch, die deutsche Nachkriegsgesellschaft vom totalitären Griff der NS-Rechtsprechung zu befreien. Karl Loewenstein legte dazu 1948 in einem vielbeachteten Artikel in der Harvard Law Review dar, dass die neu eingeführten demokratischen Prinzipien nicht nur für die deutsche Bevölkerung 10 Ebd., sowie Eli E. Nobleman, American Military Government Courts in Germany, in: Annals of the American Academy of Political and Social Sciences 267 (1950), S. 87–97. 11 James Tent, Mission on the Rhine: Reeducation and Denazification in American-Occupied Germany, Chicago 1982, S. 23. 12 Nobleman, American Military Government Courts in Germany, S. 89 f. 13 OMGUS General Order Nr. 33 vom 18.08.1948, zit. in: Ebd., S. 92 f.

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galten, sondern auch und insbesondere für Richter. Juristen in Deutschland waren deshalb denselben Maßnahmen zur demokratischen Neuorientierung zu unterziehen wie der Rest der Bevölkerung.14 Um die gewaltige Aufgabe der Umgestaltung des deutschen Rechtssystems bewältigen zu können, wurden in der Rechtsabteilung der amerikanischen Militärregierung im Oktober 1946 neben einer Abteilung für Kriegsverbrecher vier Hauptabteilungen eingerichtet: zur Rechtsberatung, zu den Strafanstalten, zu den Gerichten und zu den Justizministerien. In der Justizministerien-Abteilung, die sich mit den Planungen für ein neu einzurichtendes, zentrales Justizministerium und für die Landesjustizministerien befasste, zählte Joachim von Elbe zu den wichtigsten Mitarbeitern. Wie eine Reihe anderer Emigranten, zu denen zahlreiche Juristen gehörten, war Elbe, ein Urenkel Paul Mendelssohn Bartholdys, im Military Intelligence Training Center in Camp Ritchie (Maryland) ausgebildet worden. 1946 kam er aus den USA nach Deutschland und sollte hier bis zur endgültigen Ablösung der Militärregierung im Sommer 1955 eine bedeutende Rolle einnehmen. Danach trat er in den diplomatischen Dienst ein, in dem er bis 1969 tätig war. Mitarbeiter der amerikanischen Militärregierung in Deutschland waren auch Hans Simon, Dekan der New Yorker New School for Social Research, und Arnold Brecht, der 1933 als einer der Ersten vor dem NS-Regime geflohen war und noch im selben Jahr eine Professur an der Graduate Faculty der New Yorker New School for Social Research erhalten hatte. Beide fungierten als Kontaktpersonen zwischen der amerikanischen Militärregierung und dem Parlamentarischen Rat und wirkten auf diese Weise am Entwurf des Grundgesetzes mit. Unter dem Titel »Re-establishing German Government« entwickelte Brecht darüber hinaus schon damals ein Konzept zur schrittweisen Wiederherstellung der deutschen Einheit, das eine Vereinigung in drei Schritten vorsah: zunächst die Vereinigung der Westzonen auf einer föderativen Ebene, dann eine Erweiterung um die sowjetische Besatzungszone (der späteren DDR) und schließlich die Vereinigung zu einer Europäischen Union.15 Nachdem die Alliierten durch eigene Gerichte die Rechtspflege, vor allem die Strafgerichtsbarkeit, zunächst notdürftig aufrechterhalten hatten, wurden schließlich auch die deutschen Gerichte sukzessive wiedereröffnet und mit handverlesenem Personal besetzt. In den späteren Bundesländern der amerika­ nischen Besatzungszone, also in Bayern, Bremen, Hessen und Baden-Württemberg, wurden zudem inhaltsgleiche Gesetze zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Strafrechtspflege erlassen. Bis zum Inkrafttreten des Bundesgesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998 waren es allein diese Gesetze, die 14 Karl Loewenstein, Reconstruction of the Administration of Justice in American-Occupied Germany, in: Harvard Law Review 61 (1948), S. 419–467, zit. in: Ebd., S. 96. 15 Annals of the American Academy of Political and Social Sciences 267 (1950), S. 28–42, hier 42.

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den Betroffenen bzw. ihren Hinterbliebenen die Möglichkeit einer justiziellen Rehabilitierung eröffneten. Die amerikanische Besatzungsmacht war es auch, die im August 1945 eine wichtige personelle Weichenstellung für die Rosenburg vornahm, als sie bei der Neuerrichtung des Oberlandesgerichts Bamberg nur sieben von 302 aus ihren Ämtern entfernten Richtern und Staatsanwälten wieder mit einem Amt betraute, da alle anderen der NSDAP angehört hatten. Zum Präsidenten des Gerichts wurde der Bamberger Rechtsanwalt Thomas Dehler berufen, der mit einer Jüdin verheiratet war. Er war ein scharfer Gegner des NS-Regimes gewesen und hatte mit seiner Familie nur aufgrund glücklicher Umstände die Verfolgung durch das NS-Regime überstanden. Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde Dehler dann von Bundeskanzler Konrad Adenauer 1949 als erster Justizminister in sein Kabinett berufen. Es schien eine folgerichtige Personalentscheidung zu sein. Doch das, was die Rosenburg-Forschung über Dehlers Amtsführung enthüllt hat, verstört. Die neuen Erkenntnisse müssen auch das amerikanische Publikum, insbesondere deren jüdische Bürger, irritieren. Denn Dehler hatte zu verantworten, dass sich auf der Rosenburg alte NS-Kreise wieder einfanden, Beamte in den Dienst des Ministeriums gelangten, die bereits im Reichsjustizministerium das gleiche Aufgabengebiet wahrgenommen hatten, und der Aufbau des Rechtsstaates Männern anvertraut wurde, die ihre Hände als Richter oder Staatsanwälte in der NS-Justiz mit Blut befleckt hatten. Jede dieser Personalentscheidungen wurde von Dehler in Kenntnis der beruflichen Biografien persönlich abgezeichnet. Dabei hatten diese Beamten ihre politische Verbundenheit mit dem NS-Regime vielfach auch durch ihre Mitgliedschaft in der NSDAP und deren Untergliederungen zum Ausdruck gebracht. Doppelmitgliedschaften in NSDAP und SA waren keine Seltenheit. SSMitgliedschaften finden wir ebenso wie eine erkleckliche Zahl von Blockwarten. Während alle Welt damals die NS-Gewaltverbrecher verfolgte, sah sich einer dieser Beamten dienstlich sogar dazu berufen, die NS-Täter vor Strafverfolgung zu warnen. Und für die zahlreichen jüdischen Emigranten, die in den Vereinigten Staaten Zuflucht fanden, muss es geradezu niederschmetternd wirken, dass ein Mann, der für die Enteignung und den Tod Tausender griechischer Juden in den Gaskammern mitverantwortlich war, in der Amtszeit von Thomas Dehler für das Referat »Zwangsvollstreckung« zuständig war. Ebenso lässt sich jüdischen Bürgern kaum erklären, dass ein Kollege im BMJ, der im Reichsjustiz­ ministerium die Wannsee-Konferenz vor- und nachbereitet und einen Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen verfasst hatte, auf der Rosenburg damit befasst war, das Familienrecht von NS-Gedankengut zu bereinigen. Rückblickend erscheinen die Sorgen auf amerikanischer Seite um den Wiederaufbau Nachkriegsdeutschlands daher durchaus berechtigt. Somit bleibt festzuhalten: Mit Hilfe der USA und der deutschen Emigranten konnte die Errichtung einer stabilen Demokratie in der Bundesrepublik und deren Integration in die westliche Staatengemeinschaft in erstaunlich kurzer Zeit gelingen. Die Entnazifizierung und insbesondere die Neugestaltung der

Die »Akte Rosenburg« und ihre Rezeption in den USA  

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Rechtssphäre waren dagegen nur bedingt erfolgreich. Die Skeptiker auf alliierter Seite, die das NS-Erbe als Belastung für die Neuordnung der deutschen Nachkriegsgesellschaft ansahen, hatten deshalb recht. Zu diesem Ergebnis kommt auch das Rosenburg-Projekt. Bei allen Leistungen, die das Bundesjustizministerium beim Wiederaufbau des demokratischen Rechtsstaates erbrachte, ist nicht zu übersehen, dass hinter den Mauern der Rosenburg in der Abgeschiedenheit des Rhein-Panoramas doch wieder ehemalige Nazis Regie führten. Angesichts der Tatsache, dass es die Alliierten waren, die den Weg zu rechtsstaatlichen Verhältnissen bereitet hatten und damit die Erwartung verbanden, dass die junge Bundesrepublik diesen Weg nach ihrer Neugründung konsequent und bruchlos fortsetzen würde, ist dieser Befund der amerikanischen Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln. Den Forschungsbericht zum Personal und zur Arbeitsweise des Bundesministeriums der Justiz nach 1949 – »Die Akte Rosenburg« – kann man deshalb nicht einfach zur Seite legen. In Deutschland hat das Projekt bereits den Anstoß zu weiteren Forschungen gegeben, die inzwischen teilweise auch schon publiziert wurden. Es wäre wünschenswert, dass das Rosenburg-Projekt in den Vereinigten Staaten und im weiteren anglo-amerikanischen Raum ebenfalls wissenschaftlich aufgegriffen und vertieft wird. Richtig ist aber auch, dass von der Riege der NS-belasteten Beamten im Bundesjustizministerium  – wie auch in den anderen Ministerien und Behörden der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren – zu keiner Zeit eine Gefahr für die junge Republik ausging. Garanten hierfür waren nicht zuletzt die alliierten Partner. Und als das Justizministerium 1973 die Abgeschiedenheit der Burg verließ und in einen modernen Zweckbau in Godesberg umzog, war längst eine neue Zeit angebrochen. Die Studentenrevolte hatte das politische Klima in Deutschland verändert, die junge Generation verlangte Aufklärung über die NS-Vergangenheit, und im Justizministerium löste eine neue Beamtengeneration die belasteten Vorgänger ab. Die Bundesrepublik blieb damit ein hoch geachtetes Mitglied der Staatengemeinschaft und ein Stabilitätsanker der westlichen Welt. Und was das BMJ selbst anbelangt, ist festzuhalten, dass das Ministerium die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit schließlich doch nicht gescheut hat und sich ihr – spät, aber nicht zu spät – auch gegenüber dem Ausland stellt. Das Ministerium hat dadurch sehr zum Ansehen der Bundesrepublik beigetragen. Dies zeigt ebenfalls die Resonanz seiner Veranstaltungen in den USA.

Dan Assan

Die »Akte Rosenburg«: Eine israelische Perspektive

I.

Die »Akte Rosenburg«

Für einen nicht eingeweihten Zeitgenossen aus Israel hört sich »Akte Rosenburg« nach einer Spionagegeschichte an. Ist es aber nicht. Es ist auch keine polizeiliche Ermittlungsakte. Und doch, wenn man die »Akte Rosenburg« aufmacht, kommt für den Israeli Überraschendes zutage. Die »Rosenburg« ist eine größere Villa auf einem romantischen Hügel in Bonn, wo von 1950 bis 1973 das Bundesjustizministerium Deutschlands seinen Sitz hatte. In diesem Haus arbeiteten in jener Zeit 170 fleißige Juristen in Leitungspositionen, die das Recht der jungen Bundesrepublik gestalteten und zur Anwendung brachten. Der damalige Justizminister Thomas Dehler war zur Nazizeit mit einer Jüdin verheiratet. Sein Staatssekretär, Walter Strauß, entstammte einer jüdischen Familie und hatte den Holocaust nur mit Mühe überlebt. Wer aber waren die anderen 168 fleißigen Juristen? Was hatten sie im Krieg gemacht? Das war der Gegenstand der Forschung einer historischen Kommission, die ab dem Jahr 2011 den Umgang des Justizministeriums nach 1949 mit der NSVergangenheit im eigenen Haus erforscht hat. Die Historikerkommission wurde von Professor Christoph Safferling von der Universität Erlangen-Nürnberg und Professor Manfred Görtemaker von der Universität Potsdam geleitet. Ernannt wurde die Kommission von der damaligen Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Maßgeblich fortgeführt wurde die Forschung unter ihrem Nachfolger, Heiko Maas, heute Bundesminister des Auswärtigen. 1.

Die »Bottom Line« der Rosenburg-Akte

Die »Bottom Line« der historischen Forschung ist, dass von den 170 genannten Juristen 90 der NSDAP und 34 der SA angehört haben. Mehr als 15 Prozent waren sogar im Nazi-Justizministerium tätig gewesen. Wie war es möglich, dass die Gründungsväter, Dehler und Strauß, mit ihrem Hintergrund als Verfolgte eine derartige Personalsituation zugelassen – wenn nicht gar gefördert – haben? War es möglich, dass diese profilierten Nazis mit Freude und Engagement dem neuen demokratischen System gedient haben?

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Die Historikerkommission kam zu dem Schluss, dass es dem Minister und seinem Staatssekretär in erster Linie um die fachliche Kompetenz und Erfahrung ihrer Mitarbeiter ging. Ohne die berufliche Erfahrung, die sie im bürokratischen Apparat der Nazis gesammelt hatten, hätten sie die Arbeit der Anfangsjahre der Bundesrepublik nicht bewältigen können. Und wie sahen es die Nazi-nunmehr-demokratischen-Juristen selbst? Gerd Nettersheim, Sonderberater des Justizministeriums und Koordinator der Aufarbeitung der »Akte Rosenburg«, meint: »[d]ie Juristen der Rosenburg [haben] sich als unpolitische Handwerker des Rechts verstanden, die sich hinsichtlich ihrer Vergangenheit keiner Schuld bewusst waren«.1 Techniker des Rechts? Kann man ein solches Argument akzeptieren? Ist eine solche Einstellung nur menschlich? 2.

Die Lebensgeschichten der »Rechtstechniker«

Man ist versucht, diese Einstellung als menschliche Schwäche, als menschliche Bequemlichkeit zu verstehen und Nachsicht zu üben. Aber der Versuchung wird schnell ein Ende gesetzt, wenn man sich die Biografien der Juristen näher ansieht. Einige dieser Rechtstechniker waren zur Nazizeit »schreckliche Juristen«, und sie, gerade sie, erreichten die höchsten Beamtenpositionen im Justizapparat der neuen Demokratie. Max Merten war drei Jahre Kriegsverwaltungsrat der Wehrmacht im besetzten Thessaloniki. Er war einer der Organisatoren der Deportation von mehr als 50.000 Juden. Im neuen Ministerium war er Leiter des Referats »Zwangsvollstreckung«. Franz Massfeller verfasste im alten Justizministerium Kommentare zu Gesetzen mit dem Zweck der »Reinhaltung des deutschen Blutes«. Im Reichssicherheitshauptamt war er an Besprechungen zur Endlösung der Judenfrage beteiligt. Er beschäftigte sich mit der Thematik der »Verschärfung des Judenbegriffs«. Unter Adolf Eichmann arbeitete er in Folgekonferenzen der Wannsee-Konferenz. Im neuen demokratischen Ministerium war er Ministerialrat, eine hohe Berufsbeamtenposition. In der Nazizeit war Walter Roemer erster Staatsanwalt und Leiter der Vollstreckungsabteilung des Münchner Landgerichts. Er war zuständig für die Durchführung von Todesstrafen, die vom berüchtigten Volksgerichtshof verhängt wurden. Im neuen Justizministerium arbeitete er ganze 18 Jahre, zuletzt als Ministerialdirektor, Leiter der Abteilung für öffentliches Recht.

1 Gerd J.  Nettersheim, Die Aufarbeitung der NS-Belastung des Bundesministeriums der Justiz – Vom Rosenburg-Projekt zur Lex Rosenburg, in: Beate Czerwenka / Matthias Korte / ​ Bruno M. Kübler (Hg.), Festschrift zu Ehren von Marie Luise Graf-Schlicker, Köln 2018, S. 629–642, hier 640.

Die »Akte Rosenburg«: Eine israelische Perspektive 

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Eduard Dreher war vor 1945 Staatsanwalt beim Nazi-Sondergericht in Innsbruck. Er war Spezialist für das »Heimtückegesetz« und wirkte an zahlreichen Todesurteilen wegen Nichtigkeiten mit. Im neuen Deutschland arbeitete er 18 Jahre im Bundesjustizministerium, zuletzt als Ministerialdirigent. Der Name Dreher ist Generationen von Jurastudenten bekannt, weil er von 1961 bis 1977 ein Hauptmitverfasser des Strafrechtskommentars – das Standardwerk im C. H. Beck Verlag von Schwarz / Dreher – war. 3.

Das Strafvereitelungskartell

Eine weitere wichtige Erkenntnis der Historikerkommission war, dass die Nazidann-demokratischen-Juristen ihr Bestes getan haben, um strafrechtliche Ermittlungen und Verfahren gegen Nazis zu verhindern. Professor Ingo Müller nannte sie »das Strafvereitelungskartell«.2 Eine andere zutreffende Bezeichnung ist »Krähenjustiz«. Damit wird wohl auf die schwarzen Roben dieses Berufsstandes angespielt und auf die ornithologische Besonderheit, dass sich Krähen gegenseitig kein Auge aushacken. Insbesondere die Richter und Staatsanwälte des NS-Regimes wurden von dem »neuen« Justizapparat verschont. Die Deckung, welche die Naziverbrecher erhalten haben, war auch der maßgebliche Grund, warum der jüdische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer die Information über den Aufenthalt von Adolf Eichmann in Buenos Aires nicht an die deutsche Staatsanwaltschaft weitergab, sondern an den israelischen Geheimdienst Mossad. Fritz Bauer hatte vorher versucht, seine Vorgesetzten für die Strafverfolgung von Adolf Eichmann zu interessieren – vergebens. Die Auffassung dieser Juristen von sich selbst als »Rechtstechniker«, die schon per se kein großes Kompliment ist, war eine Lüge. Es waren keine bloßen Techniker des Rechts, es waren und blieben alte Nazi-Kameraden.

II. Rezeption in Israel 1.

Prolog: Der Umgang Israels mit der NS-Vergangenheit seiner Bürger

Bevor wir uns der Rezeption des Rosenburg-Projekts in Israel zuwenden, ist ein kurzer Blick auf den Umgang Israels mit der NS-Vergangenheit seiner eigenen Bürger angebracht. Im Jahr 1950 wurde das »Gesetz zur Bestrafung der Nazis und ihrer Gehilfen (5710–1950)« verabschiedet. Es stellt unter anderem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen das jüdische Volk unter Strafe. Dieses Gesetz war von einem universellen und zeit2 Ingo Müller, Das Strafvereitelungskartell. NS-Verbrechen vor deutschen Gerichten, in: Freispruch, Heft 11, September 2017, S. 60–70.

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losen Gedanken getragen. Es verfolgte Straftaten, die nicht im Staat Israel und sogar noch vor dessen Gründung begangen worden waren. In der Anfangszeit ging es weniger um die Nazis. Es war ja kaum denkbar, dass sich Nazis nach dem Holocaust gerade in Israel niederlassen würden. Es ging vielmehr um deren Gehilfen. Es ging um die Strafverfolgung von jüdischen Kollaborateuren der Nazis, zum Beispiel die sogenannten »Kapos«. Diese waren von den Nazis auserwählte jüdische Opfer, die als Hilfspolizei für die Verfolgung anderer Juden eingesetzt wurden. Auch diese Menschen sind nach dem Krieg nach Israel ausgewandert. Bei der israelischen Polizei häuften sich Anzeigen gegen die Kollaborateure, mit denen sie mangels eines entsprechenden Gesetzes nichts anfangen konnte. Die Polizei wandte sich schließlich an das israelische Justizministerium, und so kam das Gesetz zustande.3 Adolf Eichmann, der 1960 durch den Mossad aus Argentinien entführt und in Jerusalem vor Gericht gestellt wurde, wurde auf der Grundlage dieses Gesetzes angeklagt. Desgleichen John Demjanjuk im Jahr 1987. Das sind zwei der drei Fälle, in denen Nichtjuden in Israel aufgrund dieses Gesetzes vor Gericht gestellt wurden. Wie ist das israelische Justizsystem mit den Verbrechern aus den eigenen Reihen des jüdischen Volkes umgegangen? Professorin Hannah Jablonka schätzte 1996 in einem Aufsatz,4 dass in den 1950er und 1960er Jahren mehr als 200 Anzeigen bei der Polizei eingingen. In den 1950er Jahren fanden 33 Prozesse statt. Davon waren Jablonka 21 Fälle bekannt: 13 endeten mit Verurteilungen und Freiheitsstrafen und acht mit einem Freispruch. In den 1960er Jahren fanden noch fünf Prozesse statt, drei endeten mit Freispruch und zwei mit Verurteilungen und Freiheitsstrafen. In seinem Buch »Kapo in Allenby« beschreibt Itamar Levine 23 dieser Prozesse.5 Eine Analyse der Strafen ergab, dass die Freiheitsstrafen im Durchschnitt nicht länger als 1,5 Jahre betrugen. Eine Ausnahme war der Fall von Yechezkel Ingster. Als Haupt-Kapo in zwei Konzentrationslagern trug er eine Lederjacke und Stiefel und war mit einem Schlagstock aus Drähten ausgerüstet, mit dem er die Lagerinsassen willkürlich schlug. Das Landgericht in Jerusalem verurteilte ihn zum Tode, aber alle drei Richter rieten ihm, beim Staatspräsidenten einen Antrag auf Begnadigung zu stellen. Am Ende gewann Ingster seine Berufung beim Obersten Gericht und sein Strafmaß wurde wegen seines schlechten Gesundheitszustands auf zwei Jahre Freiheitsstrafe gesenkt.6

3 Yuval Lavi, Das Gesetz zur Bestrafung der Nazis und ihrer Gehilfen von 1950: Ein Blick auf die Gehilfen [Hebr.], in: Justizministerium Israel, Meizam Shorashim BaMishpat, 03.04.2019. 4 Hannah Jablonka, Das Gesetz zur Bestrafung der Nazis und ihrer Gehilfen: Ein weiterer Aspekt im Umgang der Israelis mit den Überlebenden und der Shoah [Hebr.], in: Kathedra 82 (1996/97), S. 135–152. 5 Itamar Levine, Kapo in Allenby. Juden stehen in Israel wegen Beihilfe für die Nazis vor Gericht [Hebr.], Jerusalem 2015. 6 Ebd.

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Jablonka zufolge war das allgemeine Echo dieser Prozesse in der israelischen Öffentlichkeit gering. Ungefähr zwei Drittel der Verurteilten sind nach dem Verbüßen ihrer Freiheitsstrafe in Israel geblieben und in der Anonymität versunken. Natürlich kann man den zögerlichen Umgang mit diesen Straftaten in Israel mit der großangelegten Verdeckung in Deutschland nicht vergleichen. In Israel galten letzten Endes auch die Kollaborateure als Opfer des NS-Regimes. Sie hatten es sich nicht ausgesucht, in den Konzentrationslagern zu landen. Ihre Tätigkeit als Kapo diente meist eher dem eigenen Überleben. Die Nazis in Deutschland hingegen hatten ihr mörderisches Werk freiwillig – zum Teil aus antisemitischer Ideologie und zum Teil aus Karriere-Opportunismus – verrichtet. 2.

Das Interesse Israels an den deutschen Debatten im Allgemeinen

Das Ausmaß des Interesses der israelischen Öffentlichkeit an der »Akte Rosenburg« ist also recht niedrig anzusetzen. Professorin Yfaat Weiss schrieb schon im Jahr 2001 einen Artikel über »das schwache Echo der deutschen Debatten in Israel«,7 in dem sie die israelische Rezeption diverser Auseinandersetzungen mit der Nazivergangenheit in Deutschland analysierte: die Bücher von Bernhard Schlink und Daniel Jonah Goldhagen, die Tagebücher von Victor Klemperer, die Wanderausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung ab 1995 über die Verbrechen der Wehrmacht. Weiss kommt zu dem Ergebnis, dass das Interesse an diesen Themen in Israel viel geringer war als in Deutschland und im Ausland. Ein wichtiger Grund war die allgemeine »Ablehnung der Diaspora« durch die Israelis und den Staat Israel. Ein anderer, dass die Israelis in erster Linie mit den Realitäten im eigenen Land beschäftigt waren. Vielleicht aber, so Weiss, war es die Macht der Zeit, die – ungeachtet aller Rhetorik – den Horror des Holocaust fern scheinen ließ und den Schrecken dämpfte, und letztlich Deutschland und seine Debatten, trotz aller Bekundungen, in einen weiteren Ort verwandelte, den man in nur dreieinhalb Stunden vom Flughafen Ben Gurion aus erreichen konnte. 3.

Das Interesse der israelischen Öffentlichkeit, insbesondere der Juristen

Gemessen an dem grundsätzlich geringen Interesse der israelischen Öffentlichkeit an den deutschen Auseinandersetzungen mit der eigenen Nazivergan­ genheit kam das Rosenburg-Projekt in Israel relativ häufig zur Sprache. Wenn man genauer hinsieht, stellt man aber fest, dass dieses Interesse nicht von

7 Yfaat Weiss, The faint echoes of German discourse in Israel, in: Partisan Review, Vol. 68, No. 3, Summer 2001, S. 396–404.

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allein entstand. Es war vielmehr das Ergebnis der Öffentlichkeitsarbeit des Bundesjustizministeriums. Am Anfang wurde das Projekt durch die jüdische Öffentlichkeit in Deutschland vermittelt. Schon im Juli 2014 bekam der damalige Justizminister Heiko Maas von der Union progressiver Juden in Deutschland einen Preis verliehen, der seine Verdienste um die Etablierung des Rosenburg-Projekts würdigte, und niemand Geringeres als der damalige israelische Botschafter in Deutschland und in der EU, Avi Primor, hielt die Laudatio. Am 7. Februar 2017 fand an der juristischen Fakultät der Universität Tel Aviv eine Veranstaltung statt, die ausschließlich dem Rosenburg-Projekt gewidmet war. Sie wurde vom deutschen Justizministerium und der Universität Tel Aviv gemeinsam organisiert. Die israelische Justizministerin Ajelet Schaked nahm an der Seite von Heiko Maas an der Veranstaltung teil, ebenso zahlreiche Vertreter aus Politik, Justiz, Wissenschaft und anderen Bereichen der israelischen Öffentlichkeit, einschließlich drei Vertretern des israelischen Obersten Gerichts. Die Beteiligung des Publikums war sehr rege, die Aussprache lebhaft. Das Rosenburg-Projekt war auch Thema eines Blocks der Tagung der Deutsch-Israelischen Juristenvereinigung (DIJV) im September 2015 in Berlin, in welchem die Professoren Ingo Müller und Manfred Görtemaker referierten. Es ist nur natürlich, dass ein solches Projekt gerade bei israelischen Juristen besonderes Interesse findet. Diese Tagung zog etwa 300 Teilnehmer aus Deutschland und Israel an. Auch eine weitere Tagung der DIJV im Jahr 2019 in Nürnberg behandelte unter anderem die Frage, wie man in Deutschland nach dem Krieg mit den Nazi-Juristen umgegangen ist. Sie fand im Saal 600 des Justizpalastes in Nürnberg statt – dem Saal, in dem vor 75 Jahren die bekannten Kriegsverbrecherprozesse stattgefunden haben. Es nahmen Brigitte Zypries, ehemalige Justiz- und Wirtschaftsministerin und Präsidentin der DIJV, der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle und die Präsidentin des israelischen Obersten Gerichts, Esther Chajut, teil. In ihrer Eröffnungsrede kam Esther Chajut auf den sogenannten Juristenprozess zu sprechen, der ebenfalls im Nürnberger Justizpalast abgehalten wurde und in dem sich vornehmlich Beamte des Nazi-Justizministeriums und Richter vor einem amerikanischen Militärgericht verantworten mussten. In dem Urteil wurde die Behauptung der Angeklagten, sie hätten »richterliche Immunität«, vollständig zurückgewiesen. Es hieß, »der Dolch des Mörders war unter der Robe der Juristen verborgen«. Chajut zitierte aus dem Urteil, dass die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in der Nazizeit vollständig zerstört wurden. Am Ende ihrer Rede stellte sie fest, dass eine der universellen Lehren, die man daraus ziehen könne, diejenige sei, dass die Wahrung der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Richter Grundstein einer jeden Demokratie ist. Für das Jahr 2020 war eine Ausstellung zum Rosenburg-Projekt in der Biblio­ thek der juristischen Fakultät der Universität Tel Aviv geplant, musste aber wegen der Corona-Pandemie abgesagt bzw. verschoben werden.

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4.

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Das Interesse in den israelischen Medien

Das Rosenburg-Projekt wurde in den israelischen sozialen Medien bereits im Juni 2013 erwähnt. Berichtet wurde, dass es im Bundesjustizministerium nach dem Krieg mehr Nazis gegeben habe als während der Nazizeit. In den 1950er Jahren hätten mehr als 70 Prozent der Richter im NS-Regime Kontakte zur NSDAP gehabt, und in einem Kommentar wurde angemerkt, dass dies wohl der Grund war, warum Fritz Bauer die sensible Information über den Verbleib von Eichmann in Buenos Aires an den Mossad und nicht an den deutschen Justizapparat weiterleitete. »Ynet«, die populärste Internetnachrichtenplattform Israels, berichtete im Oktober 2015, dass das Bundesjustizministerium sogar noch 70 Jahre nach Kriegsende breit angelegt erforschen würde, welchen Einfluss die Nazis auf das Justizsystem nach dem Krieg hatten, insbesondere mit Blick auf die Unterlassung der Strafverfolgung von Naziverbrechern und deren Einflüssen bis in die Gegenwart. Parallel versuche das Ministerium, erneut Naziverbrecher vor Gericht zu stellen. Ein Interview mit Heiko Maas wurde erwähnt, in dem er über das Netz ehemaliger Nazis erzählte, die als Rechtsanwälte, Richter und Staatsanwälte die Anklage gegen Verbrecher des NS-Regimes nach dem Krieg verhinderten. »Viele der Schuldigen deckten sich gegenseitig«, wurde der Minister zitiert. »Alle Achtung« hieß es in einem Kommentar. Die Zeitschrift Mizkar, die vom Zentralverein der Holocaust-Überlebenden in Israel herausgegeben wird, druckte im April 2017 die vollständige Rede von Heiko Maas an der Universität Tel Aviv in hebräischer Übersetzung ab und bezeichnete das Rosenburg-Projekt als einen mutigen und außergewöhnlichen Schritt. 5.

Das Interesse und die Reaktionen israelischer Besucher in Berlin

Über die Jahre wurde das Rosenburg-Projekt verschiedenen israelischen Besuchergruppen in Berlin und im Bundesjustizministerium vorgestellt; Letzteres wurde vielfach gebeten, die Gruppen zu einem Gespräch über die RosenburgProblematik zu empfangen. Auch bei dem offiziellen Besuch der damaligen israelischen Justizministerin Ajelet Schaked im Jahr 2015 in Berlin war das Rosenburg-Projekt während des ganzen Tages und in den Reden beim abschließenden Festempfang Gesprächsgegenstand. In der Regel wurden die Besuchergruppen von dem Juristen Gerd Nettersheim und den Professoren Görtemaker und Safferling empfangen. Nettersheim führte sie aus der Perspektive des Ministeriums in das Projekt ein und die beiden Professoren berichteten anschließend über den Stand ihrer Forschungsarbeit, später über deren Ergebnisse. Daran schloss sich stets eine Diskussion an, bei der die Besucher viele Fragen stellten – schwierige Fragen bezogen auf die Nazi-

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Beamten: Wie kann es sein, dass ausgerechnet das Justizministerium einen gesuchten Kriegsverbrecher (Max Merten) wieder in seinen Dienst aufgenommen hat? Ist es nicht geradezu zynisch, dass in der Person von Franz Massfeller ein Mann seine dienstliche Funktion aus dem Reichsjustizministerium fortsetzen konnte, der die Wannsee-Konferenz vor- und nachbereitet hat und einen Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen verfasste? Hat Walter Roemer, der für die »Grund- und Menschenrechte« als Abteilungsleiter zuständig war, de facto nicht als »Henker« dem NS-Regime gedient? 6.

Das israelische Interesse wurde von Deutschland geweckt

Es ist klar zu erkennen, dass das israelische Interesse am Rosenburg-Projekt kaum von sich aus entstanden wäre. Wie vorstehend beschrieben, bestand auch in Israel in den 1950er und 1960er Jahren kaum Interesse an der Strafverfolgung der jüdischen Kollaborateure des NS-Regimes. Im Gegensatz zu jüdischen Institutionen und Organisationen außerhalb Israels bestand und besteht in Israel auch kaum Interesse an der Verfolgung von Naziverbrechern, die nicht zur ersten Garde gehören. Es ist leider so, dass in der Öffentlichkeit des »neuen« Staates Israel der Holocaust oft als ein »Diaspora«-Thema betrachtet wird. Insofern überrascht es auch nicht, dass die »interne« Auseinandersetzung eines Ministeriums in Deutschland mit seiner eigenen Nazivergangenheit nicht zu den Top-Prioritäten der israelischen Institutionen oder der breiten Öffentlichkeit gehört. Wenn und soweit aber das israelische Interesse von Deutschland geweckt wurde, dann wurde das Thema nicht zurückgewiesen und fand durchaus ein Echo, zumindest in den akademischen und juristischen Kreisen. 7.

Das Interesse in Israel und Deutschland ist eher an konkrete Verfahren geknüpft

Ganz anders verhält es sich bei Strafgerichtsverfahren, wo es um die Schuld und die Strafe einer individuellen Person geht. Hier denkt man natürlich an den Eichmann-Prozess in den 1960er Jahren oder auch an den Demjanjuk-Prozess in den 1980er Jahren. Die israelische Öffentlichkeit hat das Verfahren von John Demjanjuk mit großem Interesse verfolgt. Der ukrainische Wachmann im Konzentrationslager Treblinka, der wegen seiner besonderen Brutalität als »Iwan der Schreckliche« bekannt war, wurde von den USA an Israel ausgeliefert. Im Verfahren vor dem Landgericht in Jerusalem wurde er von überlebenden Opfern identifiziert. Die Staatsanwaltschaft nahm das Verfahren zum Anlass, alle Schrecken des Holocaust in den betreffenden Konzentrationslagern zu schildern. Der Antrag der Verteidigung, das Verfahren auf die Frage der umstrittenen Identität des Ange­

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klagten zu beschränken, wurde vom Gericht zurückgewiesen. Dies, obwohl die Verteidigung alle Punkte der Anklage, außer der Identität des Angeklagten als »Iwan der Schreckliche«, eingeräumt hatte. Die Entscheidung stieß auf Kritik mit Verweis darauf, dass zu zwischen Staatsanwaltschaft und der Verteidigung unstreitigen Tatsachen im adversatorischen Verfahren, wie es im israelischen Strafprozessrecht vorherrscht, eigentlich kein Beweis mehr erhoben werden muss. Vor dem Landgericht wurde Demjanjuk für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Doch in der Berufung kam die Personalakte des Angeklagten aus den nunmehr zugänglichen sowjetischen Archiven zutage, die Zweifel an dessen Identität als »Iwan der Schreckliche« aufkommen ließ. Das Oberste Gericht erachtete es letztlich als erwiesen an, dass der Angeklagte als Wachmann in einem anderen Konzentrationslager, Sobibor, gedient hatte, sah aber von einer Verurteilung wegen dieses anderen Tatbestands ab und sprach Demjanjuk frei. John Demjanjuk wurde daraufhin in die USA zurückgeschickt. Von dort wurde er einige Jahre später nach Deutschland ausgeliefert, wo er im Jahr 2011 vom Landgericht München als Wachmann im Lager Sobibor zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Er starb eines natürlichen Todes, bevor über seine Berufung entschieden wurde. All dies zeigt, dass die juristische Aufarbeitung der Naziverbrechen und der Verbrechen ihrer Gehilfen dann in der Öffentlichkeit am intensivsten wahrgenommen wird, wenn sie im Kontext von konkreten Verfahren gegen Personen geschieht, denen man ein Gesicht und einen Namen zuordnen kann. Das Rosenburg-Projekt ist dahingehend, auch wenn in seinem Rahmen die Nazi­ vergangenheit bestimmter Beamter aufgedeckt wird, weniger spektakulär – dafür aber umso wichtiger und notwendiger. Dennoch bleibt die Frage, wie weit es im historischen Bewusstsein Spuren hinterlassen wird. Eine weitere Frage ist, ob eine Behörde wie ein Ministerium überhaupt eine kollektive Erinnerung hat, aus welcher sie in Zukunft Lehren ziehen kann. Wenn aber das Rosenburg-Projekt auch von Verfahren gegen belastete ehemalige Beamte begleitet werden würde, dann hätte es einen breiten Effekt. Wie aber können gerichtliche Verfahren gegen Max Merten, Franz Massfeller, Walter Roemer und Eduard Dreher geführt werden? Sie sind schon seit Jahren tot. Und welche Strafe kann gegen Tote verhängt werden? In diesem Zusammenhang kommt unweigerlich der Name Otto Palandt auf. Jeder Jurist kennt diesen Namen. Es ist der Name, den der Standard-BGB-Kommentar schon seit 79 Auflagen trägt. Nur wenige Leute wissen, dass Otto Palandt einer der einflussreichsten Juristen des »Dritten Reichs« war. Er war einer der frühen Nazi-Ideologen, welche die Gedanken von Blut und Boden, von Rasse und Volkstum als Hauptprinzip des deutschen Rechts begründeten. Da er aber 1943 das Pensionsalter erreichte und 1951 starb, konnte er nicht in den Dienst des Justizministeriums der Bundesrepublik eintreten. Seit einigen Jahren ist eine Initiative »Palandt umbenennen« aktiv, die sich für die Umbenennung des Kommentars einsetzt, beim C. H. Beck Verlag jedoch

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bislang auf taube Ohren gestoßen ist. Wie kann man rechtlich dagegen vorgehen, dass einem solchen Menschen wahrhaft ein Denkmal errichtet wurde, indem man den wichtigsten deutschen Rechtskommentar nach ihm benennt? Wie kann man effektiv und öffentlich die Abscheu gegen Menschen wie Merten, Massfeller, Roemer und Dreher (ebenfalls Namensgeber eines Kommentars) zum Ausdruck bringen?

III. Damnatio-memoriae-Verfahren Es ist zu erwägen, in solchen schwerwiegenden Fällen ein Damnatio-memoriaeVerfahren anzuwenden. Dieses Verfahren der Ächtung, der Verdammung des Andenkens kennen wir aus dem Römischen Reich. Seine Ansätze sind aber auch in der einen oder anderen Form in der jüngeren Geschichte zu finden. Charles Hedrick schreibt über die Damnatio-memoriae-Verfahren in Rom: »Die antike Damnatio memoriae war eine Reihe von mehr oder weniger formalen und herkömmlichen Strategien, um gegen die Erinnerung an einen toten Staatsfeind anzukämpfen«.8 Entgegen anderslautender Behauptungen, so H ­ edrick, waren Damnatio-memoriae-Verfahren in Rom nicht dafür gedacht, die Erinnerung an eine Person zu tilgen, was auch in der Tat nicht geschehen ist. Es ging nicht darum, die historischen Spuren zu auszulöschen, sondern darum, anhand bestimmter Gesten den Lebenslauf der betreffenden Person zu ächten (»to dishonor«).9 Die Sanktionen im alten Rom waren die Vernichtung von bildlichen Repräsentationen der Person, insbesondere Büsten und Statuen, die Streichung ihres Namens und ein Verbot, der Person bei deren Beerdigung und bei Trauerzeremonien zu gedenken. Die Damnatio memoriae ist aber auch noch heute aktuell. Sehr aktuell. Es versteht sich von selbst, dass die Menschen in Simbabwe nicht in einem Land leben wollten, das »Rhodesien« heißt, benannt nach dem Kolonialisten und Rassisten Cecil Rhodes. Es ist auch eine Selbstverständlichkeit, dass keine der ehemals zahlreichen Adolf-Hitler-Straßen in Deutschland noch so heißt. Im Irak wurden nach Saddam Husseins Niederlage als allererstes die Statuen des Machthabers vom Sockel gestürzt. Stalingrad heißt schon viele Jahre nicht mehr so und viele Statuen sowjetischer Kommunisten wurden vom Hauptplatz der Ortschaften auf entfernte Schrotthaufen verbracht. Auch in zahlreichen USBundesstaaten gibt es Diskussionen um die Verlegung von Statuen von rassistischen Südstaaten-Generälen. Ist es aber fair, ein Verfahren gegen einen Toten zu führen, der sich nicht verteidigen kann? Welche Bedeutung hat das strafrechtliche Prinzip, demzufolge mit dem Tod eines Menschen jedes Verfahren einzustellen ist? Auf der 8 Charles W.  Hedrick, History and Silence: Purge and Rehabilitation of Memory in Late Antiquity, Austin 2000, S. XII. 9 Ebd., S. 93.

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anderen Seite: Wie ist es moralisch zu rechtfertigen, dass einem Naziverbrecher ein Denkmal errichtet wird, indem der wichtigste Rechtskommentar nach ihm benannt wird? Wie kann es sein, dass Naziverbrecher wie Merten, Massfeller, Roemer und Dreher als Ministerialräte und -dirigenten des Bundesjustizministeriums in Erinnerung bleiben, während die Abscheu gegen ihre Taten unsichtbar in der umfangreichen »Akte Rosenburg« vergraben bleibt? Das Rosenburg-Projekt allein reicht nicht. Diese Namen müssen geächtet werden. Das wäre kein Strafverfahren im engeren Sinne, sondern ein Rechtsver­ fahren, das mit einem historischen Urteil endet. Für die betreffende Person sollte auf Staatskosten oder auf Kosten der jeweiligen Institution ein Verteidiger bestellt werden. Auch die Angehörigen der betreffenden Person sollten die Möglichkeit haben, einen Verteidiger zu bestellen und selbst angehört zu werden. Die Sanktion in dem Damnatio-memoriae-Verfahren sollte nicht, wie im alten Rom, ein Verbot der Beerdigung und der persönlichen Trauer der Famile um diese Person sein. Sie sollte auch nicht die Tilgung des Namens aus den Geschichtsbüchern sein. Das war auch in Rom nicht so. Aber ganz sicherlich sollte die Ehrung der Person unterbleiben. In Rom wurde die Statue, der bildliche Ausdruck der Person, entfernt. In heutiger Zeit ehrt man eine Person auch durch eine Festschrift oder durch die Benennung eines wichtigen Nachschlagewerkes nach ihr, wie im Fallbeispiel Otto Palandt. Nach einem erfolgreichen Damnatio-memoriae-Verfahren wäre so etwas nicht mehr möglich. Ich denke hier nicht an die Tilgung dieser Namen aus den Geschichtsbüchern und der Erinnerung. Ganz im Gegenteil: An diese Namen muss man sich erinnern, aber immer im Zusammenhang. Die Namen sollten immer zusammen mit den Verbrechen der Person genannt werden. Es geht hier nicht um die »Abolitio memoriae«, sondern um die »Damnatio memoriae«. Wenn eine Person zur modernen Damnatio memoriae verurteilt wird, dann sollte ihr Name in der Öffentlichkeit immer nur mit einem Zusatz genannt werden, der ihre Verbrechen beschreibt, etwa »ein Naziverbrecher«. Demnach dürfte der BGB-Kommentar fortan nur so heißen: »Palandt (ein Naziverbrecher), Bürgerliches Gesetzbuch: BGB«. Die Einführung von Damnatio-memoriae-Verfahren würde nicht nur die Erinnerung an die Verbrechen wachhalten, sondern auch zur persönlichen Abschreckung beitragen. Wer vor der Wahl steht, einem System zu dienen, das Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen in seinem Programm hat, sollte nicht nur zu Lebzeiten eine Strafe fürchten, wenn das System besiegt wird. Er sollte auch die Ächtung seines Namens bis auf unabsehbare Zeit fürchten. Ohne personelle Konsequenzen geht das Rosenburg-Projekt nur den halben Weg.

Rafael Seligmann

Eine Frage der Gerechtigkeit Israelis würdigen die Bedeutung der Rosenburg-Untersuchung

Nächstenliebe, Verantwortung und Gerechtigkeit. Diese Werte begleiten mich seit meiner frühen Jugend in Israel. Mein Vater Ludwig stammte aus der schwäbischen Kleinstadt Ichenhausen in Bayern. Meine Mutter Hannah wuchs in Berlin auf. Ludwig war ein gläubiger Jude, der stark seiner deutschen Heimat verbunden war. Für sein Judentum war neben Nächstenliebe auch Verantwortung entscheidend. Der Talmud gebietet Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft: »Einer stehe für den Anderen ein«. Aus der Verantwortung ergibt sich Mitgefühl gegenüber dem Nächsten und der Kreatur. 1934 flohen Hannah und Ludwig, ohne voneinander zu wissen, vor dem Terror der Nazis in die biblische Heimat der Juden, die damals britisches Protektorat war. Sie lernten einander kennen, heirateten, 1947 wurde ich in Tel Aviv geboren. In der israelischen Grundschule faszinierte mich der Bibelunterricht. Mühelos lernte ich die Tora, die ersten fünf Bücher der Bibel, auswendig. Besonders hingezogen fühlte ich mich zu Josef und Moses. Josef war der Lieblingssohn des Patriarchen Jakob. Dies weckte die Eifersucht seiner zehn älteren Brüder. Die Geschwister wollen Josef ermorden, werfen ihn schließlich in eine Zisterne. Ihrem Vater erzählen sie, Josef sei von wilden Tieren zerfleischt worden. Tatsächlich wird Josef von durchreisenden Sklavenhändlern gefunden. Sie verkaufen den jungen Mann in Ägypten. Doch statt als Sklave zu enden, erlangt Josef am Nil als Traumdeuter des Pharao höchstes Ansehen und wird zu einem wichtigen Berater des Herrschers. Als Jahre später in ihrer Heimat Kanaan eine Hungersnot ausbricht, ziehen Jakobs Söhne nach Ägypten, um Lebensmittel zu erwerben. Josef erkennt seine Brüder. Statt Rache an ihnen zu üben, hilft er ihnen und ihrem Clan weiter. Er gibt sich den Brüdern zu erkennen und versöhnt sich mit ihnen. Als Schüler verstand ich, dass die Bereitschaft zur Versöhnung und zur Übernahme von Verantwortung dem Gefühl der Nächstenliebe entspringt. Ein Nachfolger des Josef zugewandten Pharaos kannte dessen Verdienste nicht oder kümmerte sich nicht darum. Er ließ die Juden versklaven. Der Mann, der sich als ägyptischer Aristokrat gegen die Misshandlung der Juden auflehnte und diese schließlich auf Gottes Geheiß aus der Sklaverei befreite, war Moses. In der Wüste Sinai übergab Moses als Prophet auf Gottes Anweisung den Juden

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die Zehn Gebote. Diese enthielten neben dem Monotheismus, der Feststellung der Einmaligkeit Gottes, die Grundlagen der Sitten- und Sozialgesetzgebung des Judentums. Beispielsweise das Verbot des Diebstahls, des falschen Eides, des Ehebruchs und vor allem das unbedingte Verbot des Mordens. Diese Werte und Gesetze wurden auch von den Tochterreligionen des Judentums, dem Christentum und dem Islam, übernommen. Der Humanismus der Bibel wirkt in der Philosophie der Aufklärung nach, die eine Basis der modernen Demokratie ist. Das Judentum ist bis heute eine Gesetzesreligion geblieben. Der Talmud ist eine Sammlung von Gesetzen und ihrer Auslegung. Religiöses Judentum ist Leben gemäß dem Gesetz. Gott ist der unfehlbare, allmächtige Gesetzgeber, Moses ist sein Prophet. Im Sommer 1957 kehrten meine Eltern trotz der nie verwundenen Trauer meiner Mutter um ihre ermordeten Geschwister und deren Familien in ihre deutsche Heimat zurück. Ich folgte ihnen nolens volens. Mein Vater hatte mir versichert, Deutschland werde mir gefallen. Die Nazis, von deren Verbrechen ich seit früher Kindheit aus Erzählungen meiner Eltern und Verwandten erfahren hatte und deren Realität ich durch die blauen tätowierten KZ-Nummern der Nachbarn bestätigt sah, seien besiegt und würden es nicht wagen, wieder ihr Haupt zu erheben. Die Wirklichkeit in der Schule erlebte ich anders. Mein erster Lehrer Walk machte sich über Juden lustig und betonte deren Unehrlichkeit. Der nächste Lehrer, Benedikt Hirschbold, dagegen verbat sich Hetze gegen Juden. Das gängige Schimpfwort »Saujud!« tolerierte er nicht. Seine Nachfolgerin wiegelte die Schüler nicht gegen Hebräer auf, unternahm aber nichts gegen antijüdische Pöbeleien und Klischees. Als ich 1960 auf die Realschule wechselte, erhoffte ich mir weniger Vorurteile und größere Offenheit. Das war Wunschdenken. Doch da nach der Tora in Israel in Deutschland Geschichte mein Lieblingsfach wurde und ich mich lediglich hierfür interessierte und darin auszeichnete, galten mein Geschichtsbild und meine Auffassung zum Zeitgeschehen etwas bei meinen Klassenkameraden. Ich war stolz, als israelische Agenten den Organisator des systematischen Judenmordes Adolf Eichmann aus Argentinien nach Zion entführten. Was ich freilich nicht wusste, war, dass der israelische Nachrichtendienst Mossad den entscheidenden Hinweis zur Ergreifung des Kriegsverbrechers aus Deutschland erhalten hatte. Nicht »ganz« offiziell. Der hessische Generalstaatsanwalt, Fritz Bauer, war Eichmann auf die Spur gekommen. Der jüdische Jurist hatte miterleben müssen, dass gesuchte Kriegsverbrecher sich fast stets der Verfolgung der deutschen Behörden entziehen konnten. Was Bauer nicht ahnen mochte, war, dass in der Leitungsebene der »Zentralen Rechtsstelle« im Bundesjustizministerium in der Bonner Rosenburg Hans Gawlik, der offiziell mit der Beihilfe für ehemalige deutsche Soldaten und Kriminelle befasst war, seinen Auftrag mit Duldung seiner Vorgesetzten so auffasste und durchsetzte, dass er gesuchte Kriegsverbrecher, unter ihnen Eichmanns Mitarbeiter Alois Brunner, vor ihrer bevorstehenden Verhaftung warnte. Ohne die Quelle zu kennen, verstand Generalstaatsanwalt Bauer, dass eine reguläre Verfolgung Adolf

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Eichmanns durch deutsche Behörden lediglich zu dessen Alarmierung geführt hätte. Daher umging der gewissenhafte deutsche Beamte Fritz Bauer den Dienstweg und informierte die Israelis. Die israelische Justiz stellte Eichmann 1961 in Jerusalem vor Gericht. Israel wollte die Verantwortung der Täter und damit des deutschen Staates für den systematischen Massenmord am jüdischen Volk vor der Weltöffentlichkeit demonstrieren. Der Prozess erfuhr in Deutschland hohe Aufmerksamkeit. Das deutsche Fernsehen berichtete zwei Mal wöchentlich über das Verfahren. Die Philosophin Hannah Arendt nutzte den Prozess zur Selbstprofilierung. Arendt, die vor den Nazis ins Exil hatte fliehen müssen, berichtete aus Jerusalem. Nach der Beobachtung des stellvertretenden Anklagevertreters Gabriel Bach kümmerte sich Arendt jedoch wenig um den Verlauf des Verfahrens. Sie machte sich nicht die Mühe, die täglich in englischer Sprache herausgegebene Übersetzung des Geschehens im Gericht zu lesen. Stattdessen bezeichnete sie Eichmann als »Kasper« und kreierte den Begriff der »Banalität des Bösen«. Später publizierte sie ihre Sicht in dem Buch »Eichmann in Jerusalem.« Die Feststellung, dass das Böse banal ist, ändert nichts an dessen Wirkung. Und ob Hannah Arendt Eichmann 1961 als »Kasper« begriff, war für seine tödliche Arbeit während des Völkermords 1941–45 unerheblich. Der SS-Offizier wurde für seine organisatorische Täterschaft beim Völkermord zum Tode verurteilt und 1962 hingerichtet. 1964, in meinem letzten Realschuljahr, wurden wir von einer neuen Geschichtslehrerin unterrichtet. Frau B. bezeichnete US-Präsident Roosevelt, den britischen Premierminister Churchill und den sowjetischen Diktator Josef Stalin als die wahren Schuldigen am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Den Völkermord an den Juden erwähnte sie nicht. Die Stimmung der Klasse schlug um. Antijüdische Vorurteile und Pöbeleien mir gegenüber kamen hoch. Ich begriff, dass Schüler nicht als Antisemiten geboren werden. Man macht sie dazu. Die Haltung der Autoritäten ist entscheidend. Die Offenlegung des mörderischen Systems der Shoah und ihrer Opfer während des Eichmann-Prozesses in Israel zeitigte wesentlichen Einfluss in Deutschland. Fritz Bauer und seinen Mitarbeitern gelang es 1963, Anklage gegen eine Reihe von Verantwortlichen der SS-Wachmannschaften des Konzentrationsund Vernichtungslagers Auschwitz zu erheben. Die Beschuldigten kamen im sogenannten Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main vor Gericht. Weitere Prozesse folgten. Die Prozesszeugen, meist ältere traumatisierte Menschen, wurden von den Verteidigern inquisitorisch nach Details wie Wochentag, Uhrzeit usw. befragt und vorgeführt. Am Ende wurden nur sechs Angeklagte zu lebenslänglichen Freiheitsstrafen verurteilt. Durch das sogenannte Beihilfegesetz von 1968, das im Bundesjustizministerium konzipiert wurde, welches Beihilfe zum Mord verjähren ließ, konnten fortan lediglich Mörder – auch während der N ­ S-Zeit – belangt werden, die an konkreten Tötungshandlungen beteiligt gewesen waren. Die Auschwitz-Prozesse und das dabei enthüllte Mordsystem markierten jedoch einen Einschnitt im Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit NSKriminellen. Bis dahin konnten Nazi-Verbrecher in der Folge der Nürnber-

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ger Kriegsverbrecherprozesse relativ sicher sein, dass ihnen keine juristische Ahndung ihrer Untaten drohte. Mein Vater erfuhr dies in den späten Fünfzigerjahren unmittelbar. Sein Geburtsort Ichenhausen liegt im Landkreis Günzburg. Die Stadt wurde wirtschaftlich und damit auch sozial von der Familie Mengele beherrscht. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Sommer 1957 nahm mein Vater Ludwig seine Tätigkeit als Hausierer erneut auf. In den folgenden Jahren hörte er immer wieder, Josef Mengele halte sich bei seiner Familie in Günzburg auf. Viele wussten Bescheid. Doch niemand wagte, den Verbrecher anzuzeigen, und die gewiss informierte Polizei hütete sich davor, nach dem ­K Z-Arzt zu fahnden oder ihn gar festzunehmen. Ebenso wie bei Mengele verhielt es sich in anderen Fällen. Die Verbrecher mussten keine Verfolgung durch deutsche Behörden befürchten. Die 1950 im Bundesministerium der Justiz in der Bonner Rosenburg eingerichtete Zentrale Rechtsschutzstelle, die seit 1953 im Auswärtigen Amt angesiedelt war, hielt schützend ihre Hand über die Täter und warnte sie, falls ihnen Verfolgung drohte. Diese detaillierten Verflechtungen waren der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt. Doch Interessierte, Intellektuelle und Künstler ahnten die Konspiration. 1959 kam der Film »Rosen für den Staatsanwalt« von Wolfgang Staudte in die Kinos. Er zeigt das Zusammenwirken der alten Nazi-Seilschaften im Justizwesen der Bundesrepublik. Die Zusammenhänge hätte man durchaus beweisen und öffentlich machen können – etwa durch eine wissenschaftliche Untersuchung im Bundesjustizministerium. Aber die Verantwortlichen wollten nicht. Die deutschen Entscheidungsträger und wohl auch die breite Mehrheit der Gesellschaft wollten ebenfalls jahrzehntelang nicht daran erinnert werden. Das vom Parlamentarischen Rat erarbeitete und vom Bundestag beschlossene Grundgesetz sah im Artikel 131 die Rückkehr nicht nur von Flüchtlingen, sondern auch von Beamten, die dem NS-Regime gedient hatten, in Staatsfunktionen vor. Dies war das legale Einfallstor für die Wiederverwendung von Nazis im Staatsdienst. Der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer war Nazi-Gegner, doch der Leiter des Kanzleramts Hans Globke war Konstrukteur und Kommentator der Nürnberger Diskriminierungsgesetze. Er hielt seine schützenden Hände über die neue Ministerialbürokratie. Unter anderem das Bundesjustizministerium. Dort gehörten im Jahr 1949 von 170 Beamten 90 einst der NSDAP an. Im Folgejahr waren von 35 Abteilungs- und Referatsleitern 51 Prozent ehemalige Nazis. Der Anteil der früheren Parteigenossen nahm in den kommenden Jahren stetig zu. 1957 stieg ihr Gewicht gar auf 76 Prozent an. Erst durch Pensionierung nahm der Anteil der Nazis allmählich ab. Er betrug 1969 aber immerhin noch 37 Prozent. Die Ex-Nazis beließen es nicht bei einer stillen Vergangenheitsbewältigung. Die NS-Ideologie hatte sich in ihrem Denken und Handeln festgesetzt und war auch in ihrer Tätigkeit im Dienst der Bonner Demokratie wirksam. Das erklärt die Straffreiheitsgesetze von 1949 und 1954 und das erwähnte Beihilfegesetz von 1968. Ebenso wie die Zentrale Rechtsschutzstelle unter Hans Gawlik. Die Erkenntnisse dieses Verhaltensmusters der deutschen Nachkriegsbürokratie und folglich der Justiz der Bundesrepublik verdanken wir der vorbild-

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lichen Untersuchung des Historikers Manfred Görtemaker und des Juristen Christoph Safferling: »Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit«. Diese vorbehaltlose Analyse erst machte das volle Ausmaß des Einflusses von Personen, Weltanschauung und sittenwidrigem Handeln ehemaliger Nazis im Justizressort deutlich. Bis es zu dieser Erforschung kam, vergingen knapp 70 Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft. 2013 setzte Bundesjustizministerin Sabine LeutheusserSchnarrenberger die Untersuchung schließlich durch. 2014 hob der Jurist Daniel Botmann vom Zentralrat der Juden in Deutschland in einer Rede im Bundesjustizministerium die Bedeutung des Rosenburg-Projekts nicht nur für das Ministerium selbst, sondern auch und insbesondere für die Öffentlichkeit hervor und warb dafür, aus dessen Erkenntnissen die gebotenen Konsequenzen zu ziehen. 2017 stellte der Nachfolger von Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesjustizminister Heiko Maas, im Beisein seiner israelischen Kabinettskollegin Ajelet Schaked den Untersuchungsbericht an der Universität Tel Aviv vor. Anwesend waren neben den deutschen Autoren auch Vertreter der israelischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Justiz, darunter drei Richter des Obersten Gerichts. Das unterstreicht, für wie wichtig die Israelis es ansehen, dass die deutsche Politik und Wissenschaft knapp ein dreiviertel Jahrhundert nach dem Ende des verbrecherischen Regimes von Adolf Hitler und Roland Freisler und ein halbes Jahrhundert nach dem Eichmann-Prozess in Jerusalem endlich freiwillig eine objektive Untersuchung der Bürokratie und der Justiz nicht nur der Hitlerjahre, sondern ihres Nachwirkens in der deutschen Demokratie unternahmen. Meine Eltern haben dies nicht mehr erlebt. Mein Vater Ludwig starb bereits 1975, meine Mutter Hannah 1990. Doch die Werte Gerechtigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Nächstenliebe haben sie mir vererbt. Ich versuche sie zu leben. In meinen Büchern, Artikeln und Beiträgen trete ich dafür ein. 2019 stellte ich meinen Vater-Roman »Lauf, Ludwig, lauf! Eine Jugend zwischen Sy­ nagoge und Fußball« in der ehemaligen Synagoge Ichenhausen vor. Dabei erfuhr ich, dass Adolf Hitler nach wie vor Ehrenbürger der Stadt war. Ich intervenierte beim Bürgermeister. Nichtjüdische Journalisten schlossen sich an. Darauf rang sich der Stadtrat zu einem einstimmigen Entschluss durch, der die Ehrenbürgerschaft zutiefst bedauerte. 74 Jahre nach dem Ende des NS-Staates. Der Fortschritt ist eine Schildkröte. Doch wir Demokraten, Bürger, Künstler und Juristen dürfen nicht nachlassen, für Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Freiheit einzutreten. In Israel gleich wie in Deutschland. Nicht nur bei offiziellen Gedenkfeiern, sondern fortwährend.

VI. Die Erinnerungskultur

Hartmut Bomhoff

»Worauf es ankam – unterblieb«: Erinnern und Vergessen in der jungen Bundesrepublik »Nur ein paar Fragen: Wo blieb und bleibt die so dringend erforderliche historische Untersuchung und Darstellung der gegenüber dem Judentum zwischen 1933 und 1945 verübten Nazi-Verbrechen? Wo blieb und bleibt das, wenn wir es so nennen wollen, Weißbuch über die uns zugefügten Verluste an Menschen, Siedlungen und Vermögenswerten? Wo bleibt die politische und soziale Kritik gegenüber den seit 1945 in Deutschland sowohl positiven wie auch negativen Erscheinungen, die heute und morgen das Leben und die Existenz jedes einzelnen jüdischen Individuums in diesem Lande beeinflussen werden? Wo bleibt die Beobachtung antisemitischer Vorkommnisse ebenso wie der Ermutigung der sich andererseits allmählich regenden humanis­ tischen Gesinnung nicht unbedeutender deutscher Institutionen?«1

Dass es in der jungen Bundesrepublik personelle und institutionellen Kontinuitäten aus den Jahren des Nationalsozialismus gab, sei es nun im Bundesministerium der Justiz oder im Justizwesen und im öffentlichen Dienst an sich, stand schon damals außer Frage; dies galt ebenso für Hochschulen und Kirchen. Die »Akte Rosenburg« regt dazu an, auch die Haltung anderer gesellschaftlicher Eliten zu hinterfragen und jüdische Stimmen aus der Nachkriegszeit zum Sprechen zu bringen – Stimmen, die zu ihrer Zeit zumeist ungehört blieben. Dazu gehören auch Selbstzeugnisse wie diese Bilanz des jüdischen Journalisten Ernest Landau (1916‒2000). Gut achteinhalb Jahre später konstatierte Landau, dass seine Analyse von 1950 »noch heute Gültigkeit besitzt«, und erklärte: »Es kann nicht mehr geleugnet werden: die äußerste Rechte hat sich wieder formiert. Mit einer Dreistigkeit und Arroganz, wie man sie nach dem deutschen Zusammenbrauch für undenkbar gehalten hätte, sind die alten Größen – Zugvögeln gleich – recht bald nach ihrem zeitweiligen Verschwinden wieder aufgetaucht, haben sich zu sammeln begonnen und sind allmählich wieder in ihre früheren (und häufig höheren) Positionen eingerückt. Sie sind fast alle wieder da: obenan die Nutznießer des Dritten Reiches, die Durchhaltegeneräle, die Rassenhetzer, die Denunzianten. […] Die Exnazis – wirklich ex? – sind in der Polizei und in der Bundeswehr, in den Verwaltungsbehörden und in der Justiz. […] Denn auch in der Justiz haben sie Einzug gehalten, und nicht nur die kleinen Nazis, sondern auch solche, die während des Dritten Reichs 1 Ernst Landau, Worauf es ankam – unterblieb, in: Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 30.06.1950.

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bei Sondergerichten wirkten und manches Todesurteil gegen Juden und Widerstandskämpfer auf dem Gewissen haben. Heute sind sie wieder Staatsanwälte und Richter.«2

I.

»Verstärkte Unruhe durch Entnazifizierung«

Die Debatten um das sogenannte Befreiungsgesetz, das Gesetz Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946, setzten das Konzept der Entnazifizierung als Überprüfung individueller Verantwortung quasi außer Kraft. Das Gesetz übertrug die Entnazifizierung in der USZone deutschen Spruchkammern und als zweiter Instanz Berufungskammern; in manchen Behörden der US-Zone arbeiteten um diese Zeit mehr ehemalige Parteigenossen als zur NS-Zeit.3 »Friede und Gerechtigkeit durch das Befreiungsgesetz?«, fragte etwa die Christlich-Demokratische Union in Württemberg im August 1946 mit dem vierten Heft ihrer Schriftenreihe »Neue Politik«.4 Das 24-seitige Heft erschien in einer Auflage von 20.000 Exemplaren und war von der Militärregierung genehmigt worden. Die Verfasserin Maria Fritzle (1912‒1999) war Amtsgerichtsrätin in Stuttgart und später auch als Stadträtin tätig. »Nachdem dieses Gesetz nun ein Jahr alt geworden ist und praktische Erfahrungen damit gemacht sind, die bis jetzt weder befriedigt noch das deutsche Volk befriedet haben, ist wohl eine Besinnung über seine politischen und rechtlichen Grundlagen am Platz«, heißt es zu Beginn der Broschüre. In dieser Schrift verbindet die Verfasserin allgemeine Erläuterungen zu Verfahrensgrundsätzen und Überlegungen zu materiellen Grundsätzen für rechtliche Verantwortung mit subjektiven Betrachtungen über politische Maßnahmen und politische Schuld. Sie kommt dabei zu dem Schluss: »Man sollte unter allen Umständen verhindern, dass wieder eine diktaturhungrige Gruppe auf dem Wege des Gesetzes oder der Verfassung die Macht des Staates in die Hand bekommt. Letzteres ist, wie die jüngsten Ereignisse in Württemberg-Baden zeigen, nicht ganz ausgeschlossen; das Befreiungsgesetz scheint sogar eine gewisse Handhabe dafür zu bieten.«5 Fritzle plädiert dafür, die Befreiung von dem Nationalsozialismus nicht etwa durch die rechtliche Beurteilung der Vergangenheit zu bewirken, sondern vielmehr durch die Herstellung einer Ordnung und durch die Sicherung des Rechtsstaates für die Zukunft: »Nach diesem Ziel muss sich bestimmen, was zweckmäßig und notwendig ist«.6 Fritzle geht dabei mittelbar von einem 2 Ernest Landau, Wir Juden und unsere Umwelt, in: Heinz Ganther (Hg.), Die Juden in Deutschland. Ein Almanach, Neuaufl., Hamburg 1959, S. 241–288, hier 246 f. 3 Hans Georg Lehmann, Deutschland-Chronik 1945‒1995, Bonn 1995, S. 28. 4 Maria Fritzle, Friede und Gerechtigkeit durch das Befreiungsgesetz? (= Schriftenreihe Neue Politik, Heft 4, hg. von der Christlich-Demokratischen Union in Württemberg), Stuttgart 1947. 5 Ebd., S. 13. 6 Ebd., S. 23.

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Kollektivschuldvorwurf aus, wenn sie das »echte Rechtsbewusstsein unserer Landsleute« durch die Entnazifizierung in ähnlicher Weise verletzt sieht wie durch den Kriegsschuldartikel des Versailler Vertrages, in dessen Folge »Hitler in den Jahren nach 1930 nur deshalb so starken Zulauf auch von anständigen Deutschen erhalten hat«.7 Von 1946 bis 1949 war Maria Friedemann, geborene Fritzle, Mitglied des Landtags, 1948 wurde sie Vorsitzende der Frauenvereinigung der CDU NordWürttemberg, 1952 Gründungsmitglied im Bund katholischer deutscher Akademikerinnen. Das Unbehagen am Befreiungsgesetz war parteiübergreifend. Der LDP-Kurier, das Mitteilungsblatt der Liberal-Demokratischen Partei Hessens, titelte am 19. Januar 1948: »Verstärkte Unruhe durch Entnazifizierung«. Der Artikel schließt mit dem Appell: »Möge die Militärregierung aus ähnlichen Gedanken zu der Überzeugung kommen, daß ihr und der Demokratie in Deutschland nicht besser gedient sein kann, als durch eine schnelle, reibungslose Beendigung der Entnazifizierung, die alle unnötigen Härten und Schikanen vermeidet.«8 Gezeichnet ist der Beitrag von August M. Euler, der 1951 zum Bundesvorsitzenden der FDP gewählt wurde.

II. Bedenken der Kirchen Nicht nur die bürgerlichen Parteien, sondern auch »die evangelische und die katholische Kirche in Deutschland, die in den Jahren des Nationalsozialismus vieles getan und manches unterlassen [hatten]«,9 taten sich schwer mit einer kritischen Reflexion über die nationalsozialistische Vergangenheit und die eigenen Verstrickungen darin. So schrieb der Mainzer Bischof Albert Stohr (1890‒1961) im Juni 1945 an Papst Pius XII., dass die »radikale Beseitigung aller Nazis eine Sinnlosigkeit« darstelle, an der die ganze Verwaltung zusammenbrechen müsse und nur der Kommunismus Freude haben könne.10 Am 26. April 1946 unterschrieb Bischof Theophil Wurm (1868–1953), der erste Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), eine Eingabe, in der erklärt wurde, dass das Gesetz neue Schuld und neues Unrecht bewirke: »Unsere Bedenken richten sich gegen die Grundauffassung des ganzen Gesetzes. Das Gesetz steht nicht in allen Stücken im Einklang mit dem natürlichen Rechtsempfinden. Es beachtet nicht alle elementaren Rechtsgrundsätze, die die Rechtsordnung von Kulturstaaten kennzeichnen und die ihre letzte Bin7 Ebd., S. 24. 8 August M. Euler, Verstärkte Unruhe durch Entnazifizierung, in: LDP-Kurier, 19.01.1948, S. 1. 9 Adolf Arndt, Die Evangelische Kirche in Deutschland und das Befreiungsgesetz, in: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik (hg. von Eugen Kogon unter Mitwirkung von Walter Dirks) 1 (1946), H. 5, S. 35–46, hier 35. 10 Zit. nach Clemens Vollnhals, Evangelische Kirche und Entnazifizierung 1945–1949, München 1989, S. 62.

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dung an Gottes Gebot nicht verleugnen«.11 Wurm lehnte eine Entnazifizierung der Kirche durch die Obrigkeit mit Verweis auf die Unabhängigkeit der Kirche bei der Entscheidung über die Befähigung zur Ausübung des geistlichen Amtes ab. Diese Haltung stieß wiederum auf entschiedene Kritik von kirchenfernen Intellektuellen. Die Schriftleitung der Frankfurter Hefte, die damals unter Aufsicht der Military Government Information Control standen, resümierte im August 1946: »Nun stehen wir vor einer neuen Krise: bei der Übertragung des deutschen Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus aus dem amerikanischen Besatzungsgebiet Deutschlands in die übrigen Zonen droht eine Flut abermaliger Missverständnisse – in ihrem Gefolge von Erschwernissen auf vielen Gebieten – über die Gemüter, die endlich der Ruhe und des Gleichmaßes bedürfen, hereinzustürzen, wenn Einwände bestehen bleiben, wie sie der Vorläufige Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland am 26. April 1946 gegen das Gesetz erhoben und der Amerikanischen Militärregierung in Berlin eingereicht hat. Das Schreiben zirkuliert in weiten Kreisen des deutschen Volkes. Im Interesse aller: der Kirchen, der Alliierten, der Bevölkerung der vier Zonen, im Interesse einer gesunden deutschen Entwicklung halten wir uns für verpflichtet, gegen Form und Inhalt dieser Eingabe einem Mitarbeiter an jenem Gesetz das Wort zu geben. Es hat den Anschein, als ob der eigentliche Sinn und die wahre Absicht des Befreiungsgesetzes, mag es stellenweise auch Mängel aufweisen, von vielen noch immer nicht begriffen würden. Die nachstehenden Darlegungen tragen hoffentlich zur Aufklärung und zur Befriedung im Lande bei.«12

Allein, dass die EKD im April 1946 Beschwerde gegen eine »Richtlinie Nr. 24 zu dem Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus« einlegte, zeugt von Verständnisproblemen bei der Unterscheidung zwischen den Richtlinien des Kontrollrates, die am 12. Januar 1946 erlassen worden waren, und dem deutschen Gesetz, das am 5. März 1946 verkündet wurde. Die Kirche machte zudem geltend, dass das Gesetz das Rechtsempfinden erschüttere, weil es Handlungen und Gesinnungen verurteile, die vom damaligen Gesetzgeber als rechtmäßig und gut eingeführt worden seien. Dazu Adolf Arndt in seinem Beitrag in den Frankfurter Heften: »Die Eingabe verwechselt hier Recht und Gesetz. […] Unmöglich konnte der Grundgedanke des Befreiungsgesetzes klarer ausgedrückt werden, als es in seinem ersten Artikel geschehen ist: dass alle, die sich durch eine aktive Unterstützung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verantwortlich gemacht haben, von der Einfluss­ nahme auf das öffentliche, wirtschaftliche und kulturelle Leben ausgeschlossen und zur Wiedergutmachung verpflichtet werden sollen. Nicht also um Strafe handelt es sich, sondern um politische Folgen einer politischen Verantwortung.«13

11 Ebd., S. 73. 12 Arndt, Die Evangelische Kirche, S. 37. 13 Ebd.

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Bezeichnend für die Haltung der EKD ist auch eine Abkündigung von Martin Niemöller (1892‒1984), des Präsidenten der Evangelischen Landeskirche in Hessen und Nassau, vom 1. Februar 1948. Niemöller, ein Wortführer des Pfarrernotbundes und der Bekennenden Kirche, verbot in diesem »Wort an die Gemeinden«, das er gleichzeitig in über tausend hessischen und nassauischen Kirchen verlesen ließ, den Pfarrern tatsächlich, bei der Entnazifizierung der Gesellschaft mitzuwirken: Sie sei nicht der Weg zur Versöhnung, sondern Mittel der Vergeltung und ein »politisches Machwerk«, um die deutsche Intelligenz zu beseitigen.14 Dies entspricht allerdings grundsätzlich der Einschätzung von Major Marshall Knappen aus dem Jahr 1944: »Nicht alle antinazistischen Elemente innerhalb der deutschen Kirchen können als wirklich demokratisch bezeichnet werden und vernünftigerweise sollte nicht von allen die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit einem künftigen demokratischen Programm erwartet werden.«15 Martin Niemöller wurde von der westdeutschen Friedensbewegung zu einer Ikone des christlichen Widerstands gegen den Nationalsozialismus stilisiert; seine deutsch-nationale Vergangenheit und seine Opposition zur Weimarer Republik sind aber erst kürzlich beleuchtet worden.16 Mit seinem Biografen Benjamin Ziemann kann man folgern, dass Martin Niemöller im »Dritten Reich« kein Widerstandskämpfer war, wenn man unter Widerstand die Solidarität mit den Anderen versteht. Der Spiegel berichtete in seiner Ausgabe vom 7. Februar 1948 unter der Überschrift »Ein schweres Ärgernis« umgehend von dieser Kehrtwende Niemöllers und zitierte ausführlich aus seinem »Wort an die Gemeinden«: »Die Kirchenleitung […] hat seit dem Antritt ihres Amtes sehen müssen, daß unser Volk nicht den Weg zur Versöhnung geht, daß vielmehr Lieblosigkeit und Haß um sich griffen. Und damit kommt es immer wieder an den Tag, daß ein großer Teil der herrschenden und wachsenden Verbitterung auf die Handhabung der sogenannten Entnazifizierung zurückzuführen ist. […] Die evangelische Kirche hat sich von Anfang an für eine rechte Befreiung unseres Volkes von dem Ungeist des Nationalsozialismus eingesetzt. Aber sie hat auch schon beim Erlaß des Befreiungsgesetzes darauf hingewiesen, daß es leicht zur Unbußfertigkeit führen und zu einem Instrument der Vergeltung gemacht werden könne. […] Diese Befürchtungen sind weit übertroffen worden. Der Versuch, den Nationalsozialismus so auszurotten, ist auf der ganzen Linie gescheitert. Dagegen hat die Art der Entnazifizierung zu Zuständen geführt, die auf Schritt und Tritt an die hinter uns liegenden Schreckensjahre erinnern.«17

14 Zit. nach Clemens Vollnhals, Die Evangelische Kirche zwischen Traditionswahrung und Neuorientierung, in: Martin Broszat / K laus-Dietmar Henke / Hans Woller (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1990, S. 113–168, hier 117. 15 Ebd., S. 118. 16 Benjamin Ziemann, Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition, München 2019. 17 Art. Ein schweres Ärgernis, in: Der Spiegel, 07.02.1948, S. 4 f.

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Niemöller verwechselte die Entnazifizierungsmaßnahmen mit Kirchenfeindlichkeit. Der hessische Befreiungsminister Gottlob Binder (SPD) erklärte daraufhin laut Spiegel, dass er »erwarte, dass die evangelische Kirche die in ihrem Boykottbeschluß aufgestellten Behauptungen wenigstens nachträglich überprüft und sich dabei weniger von dem Ressentiment ihrer eigenen Nazis als von der Stimme ihrer Opfer während der Nazizeit leiten läßt.«18 Theodor Heuss (1884–1963) sprach in seiner Antrittsrede, die er am 12. September 1949 vor dem ersten Deutschen Bundestag unmittelbar nach seiner Vereidigung als erster Bundespräsident hielt, einerseits von der versöhnenden Kraft des Vergessens, andererseits von seiner Sorge, dass die Ereignisse und Erlebnisse aus der Zeit des »Dritten Reichs« im kollektiven Gedächtnis der Westdeutschen gut vier Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus zu wenig präsent seien: »Aber wir dürfen es uns nicht so leicht machen, nun das vergessen zu haben, was die Hitlerzeit uns gebracht hat.« Zu dem, »was die Hitlerzeit uns gebracht hat«, gehörten zweifelsohne auch die Degradierung jüdischer Bürger zu Menschen minderen Rechts und der anschließende Mord an den europäischen Juden, doch darüber schwieg der Bundespräsident sich aus; dies war quasi die Erfahrung der »anderen«. Den Deutschen empfahl Heuss die Werke von Goethe und Beethoven – »Sie mögen uns in der Zerschlagenheit der Zeit Festigung und Trost bedeuten« – und beendete seine Rede mit einem Wort des Psalmisten: »Gerechtigkeit erhöhet ein Volk.«19 Der Gedanke an Selbstgerechtigkeit liegt nahe. Manfred Görtemaker und Christoph Safferling zitieren Bundeskanzler Konrad Adenauer in Zusammenhang mit der Nominierung eines liberalen Bundespräsidenten mit den Worten, er sei überzeugt, »daß Herr Heuss, ich drücke mich so zart aus wie möglich, uns keine großen Schwierigkeiten machen wird.«20 Tatsächlich hatte die FDP (die frühere LDP) im Bundeswahlkampf 1949 auf einem Wahlplakat einen Schlussstrich gefordert: »Schluss mit Entnazifizierung, Entrechtung, Entmündigung. Schluss mit dem Staatsbürger 2. Klasse. Wer staatsbürgerliche Gleichberechtigung will, wählt FDP.«21 Mit Blick auf diese Schlussstrich-Mentalität beklagte Heinrich von Brentano (CDU) bereits in seiner Grundsatzrede im Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949, dem Tag der Verabschiedung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, dass es »zu den schwerwiegendsten Unterlassungen gehört, dass es aus mancherlei Gründen nicht möglich war, die geistige Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit zu führen«. Der Jurist mahnte immer wieder die »beispiellosen Verbrechen« des Nationalsozialismus an, betonte die prinzipielle Unmöglichkeit, »dort anzuknüpfen, wo wir 1945 geendet haben«, und warnte 18 Ebd. 19 Theodor Heuss: Rede anlässlich seiner Wahl zum Bundespräsidenten am 12. September 1949: https://www.kas.de/de/statische-inhalte-detail/-/content/theodor-heuss-redeanlaesslich-seiner-wahl-zum-bundespraesidenten-1949 (zuletzt aufgerufen am 29.04.2020). 20 Manfred Görtemaker / Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016, S. 105. 21 Exponat im Haus der Deutschen Geschichte in Bonn.

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davor, »dass diese Erinnerung so schwach zu sein scheint, dass viele heute schon vergessen haben, was sie doch bis an das Ende ihrer Tage nicht vergessen sollten«.22 Mit dieser Haltung wurde der spätere Bundesminister des Auswärtigen zu einer Ausnahmegestalt.

III. Kollektivscham Als Bundespräsident Heuss während seines Antrittsbesuches in Hessen am 7. Dezember1949 auch der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Wiesbaden einen Besuch abstattete, führte er in seiner Ansprache anstelle der Rede von einer Kollektivschuld den euphemistischen Begriff der »Kollektivscham« ein: »Es hat keinen Sinn, um die Dinge herumzureden. Das scheußliche Unrecht, das sich am jüdischen Volke vollzogen hat, muss zur Sprache gebracht werden in dem Sinne: Sind wir, bin ich, bist du schuld, weil wir in Deutschland lebten, sind wir mitschuldig an diesem teuflischen Verbrechen? […] Man hat von einer ›Kollektivschuld‹ des deutschen Volkes gesprochen. Das Wort Kollektivschuld und was dahinter steht, ist aber eine simple Vereinfachung, es ist eine Umdrehung, nämlich der Art, wie die Nazis es gewohnt waren, die Juden anzusehen: dass die Tatsache, Jude zu sein, bereits das Schuldphänomen in sich eingeschlossen habe. Aber etwas wie eine Kollektivscham ist aus dieser Zeit gewachsen und geblieben. Das Schlimmste, was Hitler uns angetan hat – und er hat uns viel angetan ‒, ist doch dies gewesen, dass er uns in die Scham gezwungen hat, mit ihm und seinen Gesellen gemeinsam den Namen Deutsche zu tragen.«23

Die Rede, die den Titel »Mut zur Liebe« trug, stieß auf vielfältige Resonanz; Flüchtlinge machten vor allem auf das ihnen widerfahrene Unrecht und auf die beträchtlichen deutschen Opfer aufmerksam. Für Heuss bot der Begriff der Kollektivscham aber die Möglichkeit, zwischen den zwei Polen zu vermitteln, nämlich zwischen dem von der breiten Bevölkerung pauschal abgelehnten Begriff der »Kollektivschuld« einerseits und dem Ruf nach einem »Schlussstrich« andererseits. Rabbiner Leo Baeck (1873‒1956), der Theodor Heuss erstmals 1937 persönlich begegnet sein dürfte,24 hieß den Begriff grundsätzlich gut:

22 Zit. nach Frank-Lothar Kroll, Heinrich von Brentano. Ein biographisches Porträt, in: Roland Koch (Hg.): Heinrich von Brentano. Ein Wegbereiter der europäischen Integration, München 2004, S. 25–65, hier 28. 23 Zit. nach Ralf Dahrendorf / Martin Vogt (Hg.), Theodor Heuss, Politiker und Publizist, Tübingen 1984, S. 381 f. 24 »Ich habe, ich glaube es war 1937, Dr. H. und seine Frau kennen gelernt.« Brief Leo Baecks an Robert Raphael Geis vom 10. März 1950, in: Michael A. Meyer (Hg.), Leo Baeck Werke, Bd. 6: Briefe, Reden Aufsätze, Gütersloh 2003, S. 658.

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»Alle Individualität, diese wahrste Grenze, wurzelt in der Ewigkeit; die Politik mit ihren fabrizierten Grenzen wohnt in Tagen und Jahren. Echt ist nur, was irgendwie aus der Ewigkeit herkommt, auch die wahre Scham kommt von dort. In der Collectivscham [sic] – dieses Ihr Wort wird ein geschichtliches bleiben – wird darum im Volke wie zu einer Gemeinde, die vor den ewigen Gott hintritt, und die Grenze, die er gesetzt hat, nun erfährt.«25

Gegenüber Rabbiner Robert Raphael Geis (1906‒1972) gab Baeck aber auch seinen Vorbehalten Ausdruck: »Der Eindruck, den ich von der Rede empfing, ist ein zwiespältiger. Einerseits spricht aus ihr der Wunsch anständig zu sein – in den Jahren der Bösartigkeit ringsum hatten manche Deutsche diesen Wunsch, und sie flüchteten gern in dieses Wunschland, und manche meinten damit dem Gewissen Genüge getan zu haben. […] Aber es ist eine anständige Rede, davon darf nichts abgezogen werden, und das Wort von der Kollektivscham ist ein rechtschaffenes. Aber auf der anderen Seite war ich betrübt, als ich die Rede las. Von dem, warum wir Juden in Deutschland uns deutsche Juden nannten, was dort wuchs mit tiefen Wurzeln und die [sic] starke Stämme hatte, dort, wo jetzt der schwarze Abgrund gähnt, davon weiß oder sagt diese Rede nichts. Mit all dem Guten, was diese Rede will, wird sie doch zum Zeugnis dessen, wie einsam wir Juden unter allen den Menschen im deutschen Lande waren, und wir selber ahnten es kaum. Nur einige wenige hatten wir ringsum.«26

Karl-Josef Kuschel, der in seinem Buch »Theodor Heuss, die Schoah, das Judentum, Israel. Ein Versuch« das Eintreten des ersten deutschen Bundespräsidenten für »eine wahrhaftige Erinnerungskultur« würdigt, verweist darin zwar auf erstgenannten Brief Baecks, lässt aber dessen Worte gegenüber Geis außer Acht.27 Weniger wohlmeinend war der jüdische Religionsphilosoph, Historiker und Publizist Ernst Ludwig Ehrlich (1921‒2007), einer der letzten Schüler Leo Baecks an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin.28 Er hatte sich 1943 in die Schweiz retten können, wurde zu einem der Wortführer im jüdisch-christlichen Dialog in der Bundesrepublik und stellte dem »Mut zur Liebe« von Theodor Heuss indes folgende Bedenken gegenüber: »Als im Jahre 1949 der Deutsche Koordinierungsrat [der Gesellschaften für christlichjüdische Zusammenarbeit] gegründet wurde, war die psychische und moralische Wüste, in der Deutschland sich befand, noch weitgehend vorhanden, jedenfalls im Bewußtsein der meisten Deutschen sowie der anderen Völker, besonders derer, die unter der NS-Barbarei zu leiden hatten. Andererseits gab es damals noch viel Selbstgerechtigkeit, die sich in dem Schlagwort artikulierte: ›Wir haben davon nichts gewußt.‹ 25 Brief an Theodor Heuss vom 26. September 1951, in: ebd., S. 685. 26 Brief an Susanne und Robert Raphael Geis vom 10. März 1950, in: ebd., S. 658 f. 27 Vgl. Karl-Josef Kuschel, Theodor Heuss, die Schoah, das Judentum, Israel. Ein Versuch, Tübingen 2013, S. 291–308. 28 Vgl. Hartmut Bomhoff, Ernst Ludwig Ehrlich – Prägende Jahre. Eine Biographie, Berlin u. a. 2015.

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Ein Jude, der 1949 in diesem Land lebte oder es oft besuchte, vermochte schwer in eine Kommunikation mit der nichtjüdischen Umwelt treten, weniger weil diese ihm noch feindlich gesinnt war, als die Erinnerungen, Erlebnisse, Erfahrungen, Assoziationen zu verschieden waren. Eine Brücke zueinander erschien kaum vorstellbar. Es war keine gute Zeit für menschliche Begegnungen, wenn es sich um Juden handelte.«29

Heuss selbst suchte vor allem »gangbare Wege« für die Zukunft. So schrieb er am 18. Juni 1951 an den jüdischen Historiker und Religionswissenschaftler HansJoachim Schoeps (1909–1980) in Erlangen: »In zahlreichen Unterhaltungen mit Deutschen jüdischen Glaubens, mit solchen, die aus der Emigration zu Besuch hier weilten, mit solchen, die in Deutschland leben, aber auch mit Juden anderer Nation ist von mir der ganze Problemkreis oft durchgegangen worden, und ich blieb auch immer bemüht, auf diesem von Bosheit und Schuld so verwüsteten Gelände an dem Bau gangbarer Wege mitzuarbeiten.«30

Gangbare Wege? Wenn nötig, etwa in Fragen der moralischen und materiellen Wiedergutmachung, appellierte Leo Baeck an das öffentliche Gewissen – nicht des Geldes wegen, sondern wegen des Rechts: »Wenn ich auf das Recht verzichte, verzichte ich auf mich selbst«, zitiert ihn Ernst Gottfried Lowenthal.31 Und als die Entschließung des Bundestages vom 27. September 1951 bekannt wurde, meinte er in seiner konzilianten, versöhnlichen Art: »Was in Bonn verheißen wurde, ist eine Antwort des Vertrauens, der Bereitschaft und des Willens zur Menschheit.«32 In seiner Regierungserklärung zur »Haltung der Bundesrepublik gegenüber den Juden« behauptete Bundeskanzler Konrad Adenauer allerdings: »Das deutsche Volk hat in seiner überwiegenden Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und hat sich an ihnen nicht beteiligt«; der Vertreter der Zentrumspartei, Bernhard Reisman, sprach in seiner Erwiderung von der »Verbrecherbande, die den deutschen Namen ein Jahrzehnt lang geschändet hat«.33 Eine Reihe von Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft zog aus dieser Selbstbeschwichtigung der bundesdeutschen Politik ihre Konsequenzen. Der 29 Ernst Ludwig Ehrlich, Die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der christlich-jüdische Dialog, in: Andreas Nachama / Julius H. Schoeps (Hg.), Aufbau nach dem Untergang. Deutsch-jüdische Geschichte nach 1945. In memoriam Heinz ­Galinski, Berlin 1992, S. 323–330, hier 323. 30 Theodor Heuss, Brief an Hans-Joachim Schoeps vom 18. Juni 1951, in: Ernst Wolfgang Becker / Martin Vogt / Wolfram Werner (Hg.), Theodor Heuss: Der Bundespräsident. Briefe 1949–1954, Berlin 2012, S. 243. 31 Zit. nach Ernst Gottfried Lowenthal, Im Dienst an der Menschheit: Leo Baeck – Leben, Wirken und Bedeutung, 07.11.2017, abrufbar unter: https://www.zentralratderjuden.de/ aktuelle-meldung/artikel/news/im-dienst-an-der-menschheit-leo-baeck-leben-wirkenund-bedeutung/ (zuletzt aufgerufen am 29.04.2020). 32 Ebd. 33 Deutscher Bundestag  – 165. Sitzung, 27.09.1951, S. 6699, abrufbar unter: http://dipbt. bundestag.de/doc/btp/01/01165.pdf (zuletzt aufgerufen am 29.04.2020).

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zweite Nachkriegsvorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, der Rechts­ anwalt und frühere Landgerichtsrat Hans-Erich Fabian, war bereits im Mai 1949 mit seiner Familie nach New York emigriert;34 Wilhelm Weinberg (1901–1976), von 1948 bis 1951 Gemeinderabbiner in Frankfurt am Main, wanderte ebenfalls in die USA aus. In seiner Abschiedspredigt im November 1951 erklärte er: »Auch die politisch Blinden merken es allmählich, dass durch die deutschen Lande wieder jene Gestalten geistern, die für die reibungslose Durchsetzung der braunen Ordnung und des nazistischen Welteroberungszuges gearbeitet haben.«35 Die Entnazifizierung war nach einigen Jahren vergessen. Mit dem Vorsatz, aus dem kulturellen Erbe der Zeit vor 1933 eine hoffnungsvolle Zukunft zu schöpfen, blieb die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus außen vor. Individuelle Erfahrungen und Erinnerungen wurden zugunsten universeller Werte ausgeblendet; die deutsche Literatur flüchtete sich in den 1950er Jahren oftmals in eine falsche Idylle. Autoren wie Hans Carossa oder Werner Bergengruen wurden dafür von Theodor W.  Adorno gegeißelt. So schrieb er über Bergengruens Gedichtband »Heile Welt«, der 1950 in Zürich erschien: »Der Band ist nur ein paar Jahre jünger als die Zeit, da man Juden, die man nicht gründlich genug vergast hatte, lebend ins Feuer warf, wo sie das Bewußtsein wiederfanden und schrien.«36 An Stelle der Selbstreflexion trat beispielsweise das Gedenken an die Widerstandsgruppe vom 20. Juli 1944, und dies oft ohne Verweis auf den Systembezug der Deutschen zum Nationalsozialismus. So sprach der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, bei der Grundsteinlegung des Denkmals für die Opfer des 20. Juli am 20. Juli 1952 im Ehrenhof des Bendlerblocks nicht etwa von individueller Verantwortung, sondern von der »Macht der Finsternis, die über unser Land gekommen war, die Nacht der Finsternis, die unser Land zu verschlingen drohte«.37 Lutz Niethammer stellte dazu 1982 fest, dass die Gruppe der Mitläufer seit Anfang der 1950er Jahre im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik ohne soziale Diskriminierung wiedereingegliedert war.38

34 Atina Grossmann, Juden, Deutsche, Alliierte: Begegnungen im besetzten Deutschland 1945–49, übers. aus dem Englischen von Ulrike Bischoff, Göttingen 2012, S. 395. 35 Zit. nach Otto R. Romberg / Susanne Urban-Fahr (Hg.), Juden in Deutschland nach 1945. Bürger oder »Mit«-Bürger?, Frankfurt a. M. 1999, S. 138. 36 Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt a. M. 1964, S. 23. 37 Vgl. https://www.stiftung-20-juli-1944.de/reden/ihr-werk-ist-nicht-vergeblich-gewesen (zuletzt aufgerufen am 29.04.2020). 38 Lutz Niethammer, Die Mitläuferfabrik: Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Bonn 1982, S. 665.

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IV. Der Bankrott der Universitäten »Der Sinn für Demokratie fehlt den Deutschen restlos«, lautete das Verdikt von Ernst Ludwig Ehrlich nach seiner Rückkehr nach Berlin, so formuliert in einem Brief an Franz Schürholz am 28. Mai 1952.39 Im Kontext von Erinnern und Vergessen gibt aber vor allem der Briefwechsel von Ehrlich mit seinem Lehrer und Mentor Leo Baeck Auskunft über die damaligen Befindlichkeiten. Leider sind nur 65 Briefe und Karten Baecks an Ehrlich zugänglich.40 In ihrer Korrespondenz ging es zunächst um zwei Themen: die Schuld der deutschen Intellektuellen und die aktuelle Entwicklung der Zionistischen Bewegung, schließlich auch um die geistige Stärkung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Baeck kritisierte am Beispiel des Historikers Friedrich Meinecke (1862–1954), dessen Buch »Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen« 1946 erschienen war, den »Bankrott der Universitäten«. In seinem Brief vom 10. November 1946 an Ehrlich heißt es: »Was Sie über das Buch von Meineke [sic] sagen, stimmt mit dem überein, was ich von hieraus auch an Prof. Sigmund Schulze, der mir das Buch geschickt hatte, schrieb: Das Buch ist im Grunde eine Verteidigungsschrift für Professor Meineke [sic], etwa auf der Linie der Schacht’schen Apologie: ich bin ja immer schon dagegen gewesen.41 Und das Interessante ist auch bei ihm, worüber er schweigt. Er schweigt von dem Bankrott, der ihn doch zuerst angehen sollte, von dem Bankrott der Universitäten. Er schweigt auch, obwohl er von Treitschke immer wieder redet, von der Vorarbeit, die dieser sowohl dem gewissenlosen Militarismus wie dem Nazitum geleistet hat. Er schweigt auch von Houston Stuart Chamberlain, dem die Kreise, die M. nicht fernstehen, so gern huldigten. Und er schweigt schließlich, von der großen Schuld der schweigenden und dabeistehenden Kirchen; das Goethe-Kränzchen am Schluss wirkt dann, soll man sagen: noch lächerlicher, oder noch dümmer.«42

In einem weiteren Brief vom 17. Dezember 1946 an Ehrlich erklärt Baeck: »Sie haben durchaus recht in Bezug auf Meineke [sic]: Männer wie er sind geschichtlich die Schuldigsten; er und seinesgleichen haben gelehrt, sich vor jeder Macht, die massiv wurde, d. h. Macht auch, bedenkenlos, ausübte, gehorsam und schließlich bewundernd zu werden. […] Es gibt einen ›Historismus‹, der der Schlupfwinkel, der

39 Ernst Ludwig Ehrlich, Briefe an Franz Schürholz, 1944‒1965. Dossier Franz Schürholz, Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin, unpag. 40 Leo Baeck, Briefe an Ernst Ludwig Ehrlich, 1946‒1956. Nachlass Ernst Ludwig Ehrlich, in: AfZ Zürich, NL Ernst Ludwig Ehrlich/67. 41 Der frühere Präsident der Reichsbank und Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht (1877–1970) veröffentlichte seine faktenferne Apologie 1948 unter dem Titel »Abrechnung mit Hitler«. 42 Brief Leo Baecks vom 10. November 1946 an Ernst Ludwig Ehrlich, in: Meyer, Leo Baeck Werke, Bd. 6, S. 637.

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so bequeme und schöne, für die Feigheit [ist]. Man ist, so bequem und so schön, der Stellungnahme enthoben, wenn man die historischen Gründe und Hintergründe nur aufzeigt, moralische Tapferkeit wäre ja so unhistorisch. Und nebenbei ist man in seiner gehorsamen Feigheit dann auch noch historisch gerechtfertigt; denn die Niedertracht erscheint nun als historischer Process.«43

Schon der Titel von Meineckes Buch, »Die deutsche Katastrophe«, war in seiner Ambivalenz selbst einer persönlichen Bekannten und Kollegin wie der Historikerin Annelise Thimme nicht verständlich, sodass sie fragte, ob er »die Katastrophe von 1933 oder die von 1945 oder sogar die noch von früher« meine.44 Mei­necke scheute in seiner Darstellung des Antisemitismus im Kaiserreich auch nicht vor antijüdischen Klischees zurück: »Die Juden, die dazu neigen, eine ihnen einmal lächelnde Gunst der Konjunktur unbedacht zu genießen, hatten mancherlei Anstoß erregt seit ihrer vollen Emanzipation. Sie haben viel beigetragen zu jener allmählichen Entwertung und Diskreditierung der liberalen Gedankenwelt, die seit dem Ausgange des 19. Jahrhunderts eingetreten ist.«45 Mit Blick auf die Zukunft forderte Meinecke, »im Zeichen der Humanität an der Reinigung und Verinnerlichung unseres seelischen Daseins zu arbeiten«.46 Er schlug dazu regelmäßige Zusammenkünfte von Sitzungen von »Goethegemeinden« vor; eine Vorstellung, der Baeck wie oben bereits erwähnt nichts abzugewinnen wusste. In einem seiner Briefe an Theodor Heuss heißt es dazu: »Goethe wurde der Mann für die stillen Stunden unter der mit dem Schirm bedeckten Lampe, leider, leider, und daher so oft die Zuflucht für die moralischen Drückeberger, leider, leider; es ist bezeichnend, dass ein jämmerliches Buch eines bedeutenden Mannes mit dem Aufruf zum ›Goethekränzchen‹ schließt.«47 Baeck verurteilte Meineckes Haltung immer wieder aufs Schärfste. So schrieb er am 15. April 1947 mit Bezug auf eine vernichtende Kritik im Literary Supplement der Times an Ehrlich: »Der Tod einiger Freunde von Prof. Meineke [sic] hat offenbar sein Mitempfinden so ganz beansprucht, dass für die Millionen der Hingeopferten in ihm nichts mehr an Mitempfinden übrigblieb. Haben Sie feststellen können, wie die Schweizer und die deutsche Presse das Buch aufgenommen haben?« In den Briefauszügen, die Michael A. Meyer in Baecks Werkausgabe veröffentlichte, wurde dieser Brief ausgespart.48

43 Brief Leo Baecks vom 17. Dezember 1946 an Ernst Ludwig Ehrlich, in: ebd., S. 638 f. 44 Zit. nach Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, S. 64. 45 Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946, S. 29. 46 Ebd., S. 164. 47 Brief Leo Baecks vom 26. September 1951 an Theodor Heuss, in: Meyer, Leo Baeck Werke, Bd. 6, S. 684. 48 Vgl. ebd., S. 637–642.

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Baeck stellte Meinecke Karl Jaspers (1883–1969) gegenüber, Ehrlichs späteren Lehrer in Basel, der 1946 seine Schrift »Die Schuldfrage. Ein Beitrag zur deutschen Frage« veröffentlicht und darin das moralische Versagen Deutschlands eingestanden hatte.49 Der Philosoph und Heidelberger Ordinarius Jaspers war wegen seiner jüdischen Ehefrau 1937 zwangspensioniert worden und trug nach Kriegsende wesentlich zum Wiederaufbau der Heidelberger Universität bei. Im Wintersemester 1945/46 hielt er eine Vorlesung über die geistige Situation in Deutschland; seine Ausführungen zur Schuldfrage wurden im Frühjahr 1946 veröffentlicht. Jaspers unterschied zwischen krimineller, politischer, moralischer und metaphysischer Schuld. Kriminelle Schuld hat demnach jemand auf sich geladen, der »objektiv nachweisbare Handlungen, die gegen eindeutige Gesetze verstoßen«, begeht.50 Politische Schuld ergibt sich aus der Mitverantwortung für die Taten wie Untaten des Regimes, das man gewollt oder geduldet hat; infolgedessen ist man verpflichtet, »an den in Rechtsform zu bringenden Wiedergutmachungen« mitzuwirken.51 Aus der moralischen Schuld derer, die an einem verbrecherischen Regime teilhatten oder es unterstützten, »erwächst Einsicht, damit Buße und Erneuerung. Es ist ein innerer Prozess, der dann auch reale Folgen in der Welt hat.«52 Metaphysische Schuld hingegen, so Jaspers, »[…] ist der Mangel an der absoluten Solidarität mit dem Menschen als Menschen. Sie bleibt noch ein unauslöschlicher Anspruch, wo die moralisch sinnvolle Forderung schon aufgehört hat. Diese Solidarität ist verletzt, wenn ich dabei bin, wo Unrecht und Verbrechen geschehen. Es genügt nicht, wenn ich mein Leben mit Vorsicht wage, um es zu verhindern. Wenn es geschieht und wenn ich dabei war und wenn ich überlebe, wo der andere getötet wird, so ist in mir eine Stimme, durch die ich weiß: dass ich noch lebe, ist meine Schuld.«53

Karl Jaspers führte als Beispiel für diese unterschiedlichen Dimensionen von Schuld die Haltung der deutschen Bevölkerung im November 1938 und danach an: »Als im November 1938 die Synagogen brannten und zum ersten Mal Juden deportiert wurden, war angesichts dieser Verbrechen zwar vor allem moralische und politische Schuld. Beide Weisen der Schuld lagen bei denen, die noch Macht hatten. Die Generale [sic] standen dabei. In jeder Stadt konnte der Kommandant eingreifen, wenn Verbrechen geschahen. Denn der Soldat ist zum Schutz aller da, wenn Verbrechen in einem Umfang geschehen, dass die Polizei sie nicht verhindern kann oder versagt. Sie taten nichts. Sie gaben die früher ruhmvolle sittliche Überlieferung der deutschen Armee

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Karl Jaspers, Die Schuldfrage. Ein Beitrag zur deutschen Frage, Heidelberg 1946. Ebd., S. 19. Ebd., S. 55. Ebd., S. 23. Ebd., S. 54.

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in diesem Augenblick preis. Es ging sie nichts an. Sie hatten sich von der Seele des deutschen Volks gelöst zugunsten einer absolut eigengesetzlichen Militärmaschinerie, die Befehlen gehorcht. Unter unserer Bevölkerung waren wohl viele empört, viele tief ergriffen von einem Entsetzen, in dem die Ahnung kommenden Unheils lag. Aber noch mehr setzten ohne Störung ihre Tätigkeit fort, ihre Geselligkeit und ihre Vergnügungen, als ob nichts geschehen sei. Das ist moralische Schuld. Diejenigen aber, die in völliger Ohnmacht verzweifelt es nicht verhindern konnten, taten wiederum einen Schritt in ihrer Verwandlung durch das Bewusstsein der metaphysischen Schuld.«54

»Das ist ein Buch«, so Leo Baeck an Ernst Ludwig Ehrlich, »voller Rechtschaffenheit des Denkens und Klarheit der Erkenntnis. Sie haben es gewiss gelesen […].« Tatsächlich findet sich unter den Büchern in Ehrlichs Nachlass auch eine Ausgabe von Jaspers »Die Schuldfrage« von 1946 mit einer Widmung des Autors an Ernst Ludwig Ehrlich.55 Jaspers erklärte an anderer Stelle: »Wir Überlebenden haben nicht den Tod gesucht. Wir sind nicht, als unsere jüdischen Freunde abgeführt wurden, auf die Straße gegangen, haben nicht geschrien, bis man uns vernichtete. Wir haben es vorgezogen am Leben zu bleiben mit dem schwachen, wenn auch richtigen Grund, unser Tod hätte nichts helfen können. Daß wir leben, ist unsere Schuld. Wir wissen vor Gott, was uns tief demütigt.«56

Den Mangel an absoluter Solidarität mit dem Menschen hatten Baeck und Ehrlich selbst erfahren müssen; die Rede von der »Schuld des Überlebens« dürfte für sie indes andere Assoziationen geweckt haben als von Jaspers intendiert. Die Haltung deutscher Hochschullehrer aber sollte für Ernst Ludwig Ehrlich immer wieder ein Thema sein. So schrieb er am 20. Dezember 1951 an Franz Schürholz in Bezug auf die 1948 gegründete Freie Universität Berlin, dass diese zum »Hort aller Nazis« geworden sei.57 Die gesellschaftliche Wirkkraft der ersten wenigen Versuche der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus blieb gering; so wurde Eugen Kogons 1947 im Verlag Frankfurter Hefte erschienene Dokumentation »Der SS-Staat«, die die Verschränkung von Gewalt und Macht im Nationalsozialismus darstellte, erst in den 1960er Jahren von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen. Wie stark das Beschweigen der Vergangenheit war, musste auch Ernst Ludwig Ehrlich feststellen, als er 1952 an einem Gymnasium in West-Berlin ein Experiment unternahm. Aus seiner Korrespondenz mit Karl Thieme (1902–1963) geht hervor, dass Ehrlich die 19-jährigen Gymnasiasten mit einem Hörspiel über den Warschauer Ghettoaufstand konfrontierte; er wollte die Schüler, die bei Kriegs54 Ebd., S. 54 f. 55 Der Band mit der Signatur CI 3204 S386 befindet sich derzeit als Teil der nachgelassenen Privatbibliothek von Ernst Ludwig Ehrlich in der Bereichsbibliothek Erziehungswissenschaft, Psychologie und Fachdidaktik der Freien Universität Dahlem. 56 Karl Jaspers, Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik. 1945–1965, München 1965, S. 32. 57 Ehrlich, Briefe an Franz Schürholz [wie Fn. 39], unpag.

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ende zwölf Jahre alt gewesen waren, damit zu einer Diskussion über den Rassismus der Nationalsozialisten anstacheln, und stieß dabei auf einen unverblümt rassistischen Jargon und völlige Unkenntnis darüber, dass auch die Berliner Juden ihres Jahrgangs ermordet worden waren und nicht etwa alle nur auf eine andere Schule gingen.58 Nicht weniger ernüchternd war beispielsweise die Rehabilitierung des Hitler-Propagandisten Veit Harlan. Sein Film »Die unsterbliche Geliebte« wurde 1951 ein enormer Kassenerfolg und leitete das Comeback Harlans ein, der 1950 von einem Hamburger Schwurgericht in zweiter Instanz von der Anklage freigesprochen worden war, im »Dritten Reich« Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Der Versuch, den vor allem durch den antisemitischen Spielfilm »Jud Süß« (1940) berüchtigten Harlan in der Öffentlichkeit zu boykottieren, scheiterte; am 25. Januar 1952 erlebte beispielsweise Göttingen die Uraufführung seines Films »Hanna Amon«, die in einer Massenschlägerei endete: Sympathisanten des Regisseurs stifteten während der Filmvorführung Unruhe, bezichtigten kritische Studenten, die Aufführung gestört zu haben, und sorgten dafür, dass sie des Saals verwiesen und draußen von einem Rollkommando in Empfang genommen und schwer misshandelt wurden. In einem Bericht des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Göttingen, Max Lilienthal, wurde der aufsehenerregende Vorfall folgendermaßen kommentiert: »Die Renazifizierung in Göttingen ist soweit fortgeschritten, daß es denselben dunklen Hintermännern möglich ist, Rollkommandos zu stellen, wie im Jahre 1932.«59 Zu dieser Zeit kamen auch mehr und mehr Erinnerungen von Nationalsozialisten auf den Markt; so erschien 1953 das Buch des früheren Generalgouverneurs des besetzten Polen, Hans Frank (1900–1946), »Im Angesicht des Galgens. Deutung Hitlers und seiner Zeit auf Grund eigener Erlebnisse und Erkenntnisse«. Mit der Gründung des Zentralrats der Juden war es im Juli 1950 endlich zu der notwendigen politischen Repräsentanz der heterogenen jüdischen Gemeinschaft in der Bundesrepublik gekommen, damals noch mit aktiver Teilnahme jüdischer Vertreter aus der sowjetischen Besatzungszone. Für den 1. Juli 1952 erfasste das Statistische Amt der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland für die drei westlichen Besatzungszonen und Berlin eine jüdische Bevölkerung von 20.886 Personen. Der jüdische Religionslehrer und Studienrat Hugo Nothmann (1889–1979) beschrieb dieses deutsche Nachkriegsjudentum Anfang der 1950er Jahre als eine Gemeinschaft, in der die religiösen Bindungen hinter den sozialen zurücktraten: »Im Mittelpunkt der Arbeit des Zentralrates der Juden oder der Publizistik stehen Fragen der Wiedergutmachung, der Bekämpfung des Antisemitismus, der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Staates

58 Korrespondenz zwischen Ernst Ludwig Ehrlich und Karl Thieme im Münchner Institut für Zeitgeschichte, FD 163/17. 59 Vgl. »Bericht der Jüdischen Gemeinde über den 5-tägigen Prozeß anläßlich der Erstaufführung des Films ›Hanna Amon‹«, 23.11.1952, in: Stadtarchiv Göttingen, Sa 16, Nr. 24.

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Israel. Das Judentum als Religionsgemeinschaft spielt nur eine untergeordnete Rolle.«60 Angesichts der in der jungen Bundesrepublik in Kauf genommenen personellen Kontinuitäten in allen Bereichen des öffentlichen Lebens kam Ernest Landau 1959 zu einem Schluss, der bis heute seine Gültigkeit hat: »Das Problem, vor dem jeder einzelne Jude sich befindet, der Bürger Deutschlands ist oder in diesem Land lebt, kann auf einen ganz einfachen Nenner gebracht werden: Inwieweit kann ich, darf ich, soll ich Vertrauen haben?«61

60 Hugo Nothmann, Die religiöse Situation im Nachkriegsdeutschland, in: Ganther, Die Juden in Deutschland, S. 231–233, hier 231. 61 Landau, Wir Juden und unsere Umwelt, S. 241.

Hans-Christian Jasch

Sehen und Wegschauen: Filmische Annäherungen an den Holocaust in den ersten Nachkriegsjahren* »Im halben Licht des Projektionsapparates sah ich, wie die meisten nach Beginn des Films das Gesicht abwandten und so bis zum Ende der Vorstellung verharrten. Heute scheint mir, das abgewandte Gesicht sei die Haltung von Millionen geworden und geblieben. Das unglückliche Volk, dem ich angehöre war sentimental und verhärtet zugleich, sich erschüttern zu lassen, das Erkenne-dich-selbst, war nicht sein Teil.« Stephan Hermlin1 »Nearly no man agreed, either before or after the film, to the charge that German people were responsible for the atrocities […] Little effect was observed on the acceptance of personal responsibility by the prisoners […] But almost no one […] would admit that the majority of German were NOT responsible.« Billy Wilder 2

I. Einleitung Als eines der ersten Konzentrations- und Vernichtungslager wurde am 23. Juli 1944 das Lager Majdanek bei Lublin von der Roten Armee befreit. Neben der sowjetischen berichtete vereinzelt auch die internationale westliche Presse,3 ins* Für ihre wertvolle Hinweise bin ich Kathrin Janzen und Ulrike Koppermann zu herzlichem Dank verpflichtet. 1 Bericht Stephan Hermlin über eine Filmvorführung in Frankfurt am Main, bei der Bilder aus Buchenwald und Dachau gezeigt wurden, in: Ders., Bestimmungsorte. Fünf Erzählungen, Berlin (West) 1985, S. 46. 2 Beobachtungen Billy Wilders bei der Vorführung von »Atrocity«-Filmmaterial vor deutschen Kriegsgefangenen, in: Brigitte J. Hahn, Umerziehung durch Dokumentarfilm? Ein Instrument amerikanischer Kulturpolitik im Nachkriegsdeutschland (1945–1953), Münster / Hamburg 1997, S.  101 f. 3 Zunächst wurde nur in der Zeitung der US-amerikanischen Kommunistischen Partei der bebilderte Bericht des sowjetischen Reporters Roman Karmen verbreitet: Lublin Extermination Camp Called »Worst Yet«, in: The Daily Worker, 14.08.1944, S. 8. Die britische BBC weigerte sich, den Majdanek-Report des britisch-russischen Journalisten Alexander Werth zu senden, den man zunächst für sowjetische Propaganda hielt. Der Moskau-Korres­

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besondere das US-amerikanische Magazin Life. In einem ganzseitigen Bericht vom 28. August 1944 zeigten mehrere Bilder aus sowjetischen Quellen die nicht vollständig zerstörten Krematoriumsöfen mit nur zum Teil verbrannten Leichen und die Massengräber.4 Diese Bilder machten Spuren des Holocaust5, über den erste Meldungen und Presseberichte bereits seit Herbst 1941 kursierten,6 nunmehr auch für Menschen außerhalb von Mittel- und Osteuropa »sichtbar«. Aufgrund seiner sowjetischen Provenienz stieß dieses Material im Westen allerdings zunächst auf Skepsis. Es wurde zum Teil als »Greuelpropaganda« abgetan, zumal es in einem engen zeitlichen und geografischen Kontext zur deutschen und dann sowjetischen Propaganda aus den Jahren 1943/44 zu den Massengräbern der von der NKWD erschossenen polnischen Offiziere in Katyn bei Smolensk stand. Erst nachdem auch britische und US-amerikanische Truppen Konzentrationslager auf deutschem und österreichischem Boden befreit und die Zustände, die sie dort vorfanden, filmisch dokumentiert hatten, wich zunehmend auch beim westlichen Publikum der Unglaube dem Entsetzen und der Wut.7 Insbesondere für die westlichen Alliierten wurde die Aufklärung der deutschen Bevölkerung über die von ihnen entdeckten, unter der NS-Herrschaft im deutschen Namen begangenen Massenverbrechen ein zentrales Anliegen. Es wurde überlegt, wie man die deutsche Bevölkerung umerziehen könnte, um eine Wiederholung derartiger Grausamkeiten für alle Zukunft zu verhindern,

pondent der New York Times (NYT) Ralph Parker berichtete am 11. August 1944 in einer kurzen Notiz über die sowjetische Berichterstattung: »Soviet Writer Tells Horror of Lublin Camp«, ohne das sowjetische Bildmaterial zu verwenden. Auch ein Augenzeugenbericht von William H. Lawrence, »Nazi Mass Killing Laid Bear in Camp«, erschien am 30. August 1944 auf Seite 1 der NYT noch ohne Bilder. Vgl. hierzu: David Shneer, Is Seeing Believing? Photographs, Eyewitness Testimony, and Evidence of the Holocaust, in: Victoria Khiterer with Ryan Barric / David Misal (Hg.), The Holocaust: Memories and History, Newcastle upon Tyne 2014, S. 64–84; Dan Stone, The Liberation of the Camps: The End of the Holocaust and Its Aftermath, New Haven 2015, S. 68. 4 Der Bericht bezieht sich auf eine Gedenkfeier für die Opfer am 6. August 1944 und trägt den Titel »Lublin Funeral. Russians honor Jews whom Nazis gassed and cremated in mass«, in: Life, Bd. 17, Nr. 9, 28.08.1944, S. 34. 5 Der Begriff »Holocaust« für den Judenmord hat in Deutschland erst im Zuge der 1979 ausgestrahlten gleichnamigen Serie Verbreitung gefunden. Er begegnet noch heute Vorbehalten, die sich unter anderem sprachgeschichtlich rechtfertigen lassen. Er wird hier dessen ungeachtet als Sammelbezeichnung für die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung unter der Herrschaft des NS-Staates verwendet. 6 Vgl. hierzu: Hans-Christian Jasch, »The crime without a name« – Erste Berichte über den Judenmord in der westlichen Welt/»The crime without a name« – Initial Reports on the Genocide of the Jews in the Western World, in: Ders. / Stephan Lehnstaedt (Hg.), Verfolgen und Aufklären: Die erste Generation der Holocaustforschung – Crimes Uncovered: The First Generation of Holocaust Researchers, Berlin 2019, S. 42–70. 7 Vgl. Fn. 3; Deborah E. Lipstadt, Beyond Belief: The American Press and the Coming of the Holocaust, 1933–1945, New York 1986.

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das Land politisch neu zu orientieren und zu demokratisieren.8 Wie schwierig diese Aufgabe war, dokumentieren die Eingangszitate zweier Emigranten, die die Reaktionen eines deutschen Publikums auf sogenannte Atrocity-Filme beobachteten. Teile dieser Atrocity-Filme wurden als Beweismittel bei den Kriegsverbrechertribunalen und für Aufklärungsfilme verwendet, die sich an die deutsche Bevölkerung richteten. Auch in späteren Spielfilmen wie Orson Welles’ Oscarnominiertem Film noir »The Stranger« (dt. »Die Spur des Fremden«) von 1946,9 Wanda Jakubowskas hier vorgestelltem Film »Die letzte Etappe« von 1947/48, Alain Resnais’ »Nacht und Nebel« von 1955 oder Stanley Kramers »Judgement at Nuremberg« von 1961 wurde dieses Filmmaterial verwendet und zitiert, um die Holocaust-Verbrechen zu »illustrieren«. Film spielte damit auch immer eine wichtige Rolle beim Umgang mit dem Holocaust in der hier thematisierten Zeit der Entstehung der Bundesrepublik und der Rosenburg. Das bei der Befreiung von Konzentrationslagern in Deutschland und Österreich entstandene Filmmaterial dokumentierte dabei – strenggenommen – keine Orte und Ereignisse, die für den Holocaust an Jüdinnen und Juden zentral oder charakteristisch waren. Der systematische Massenmord an jüdischen Menschen hatte sich seit dem Herbst 1939 überwiegend im deutsch besetzten Ost- und Südosteuropa zugetragen, das 1943/44 von der Roten Armee (zurück-)erobert und besetzt worden war. Zahlreiche Spuren der Verbrechen waren von der SS, unter anderem durch das sogenannte Enterdungskommando oder Sonderkommando 1005, systematisch verwischt oder beseitigt worden. So wurden beispielsweise die Vernichtungslager in Chelmno / Kulmhoff oder in Belzec, Sobibór und Treblinka systematisch zerstört, die Flächen neu bepflanzt oder bebaut. Erst mit den Todesmärschen und »Evakuierungen« der Häftlinge 1944/45 und deren Verteilung auf die deutschen Konzentrations- und Zwangsarbeitslager im Gefolge des Rückzugs der deutschen Wehrmacht waren vermehrt jüdische Häftlinge auch ins Reichsgebiet gekommen, wo sie – wenn sie die letzten Kriegsmonate überlebten – von den Westalliierten befreit werden konnten. Dennoch sind es vor allem die Filmsequenzen, die bei der Befreiung dieser Lager entstanden – insbesondere die Bulldozer, mit denen nach der Befreiung von Bergen-Belsen die sterblichen 8 Zur »Reeducation« vgl. Manfred Heinemann (Hg.), Umerziehung und Wiederaufbau. Die Bildungspolitik der Besatzungsmächte in Deutschland und Österreich, Stuttgart 1981; James F. Tent: Mission on the Rhine: Reeducation and Denazification in American-Occupied Germany, Chicago 1982; David Culbert, American Film Policy in the Re-education of Germany and her Allies after World War II, in: Nicholas Pronay / Keith Wilson (Hg.), The Political Re-education of Germany & her Allies after World War II, London 1985, S. 173–195; Christoph Marx, Reeducation und Machtpolitik: Die Neuordnung der Berliner Presselandschaft 1945–1947, Stuttgart 2001; Ellen Latzin, »Reeducation« – »Reorientation«: Theorie und Praxis zentraler Leitbegriffe der amerikanischen Besatzungspolitik nach 1945, in: Elisabeth Kraus (Hg.), Die Universität München im Dritten Reich. Aufsätze, Teil 1, München 2006, S. 609–636. 9 Eine deutsche Synchronfassung entstand erst 1980 im Auftrag der ARD.

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Überreste von Hunderten von Menschen in Gräber geschoben wurden, oder die »gestapelten« Leichen in Buchenwald –, die noch heute mit unserer bildlichen Vorstellung vom Holocaust eng verbunden sind bzw. als geradezu »ikonisch« betrachtet werden. Mit Ausnahme von Auschwitz und Majdanek – über die die Rote Armee nach der Befreiung Filmmaterial mit zum Teil (nach-)gestellten Aufnahmen herstellen ließ  – entstand von den meisten zentralen Orten des Holocaust, insbesondere den Ghettos, den Stätten von Massenerschießungen oder den »Aktion Reinhardt«-Lagern hingegen kaum bildliches oder gar filmisches Material. Zeitgenössisches Bildmaterial wie das heute viel gezeigte, von einer Überlebenden im Lager Dora aufgefundene »Auschwitz-Album«10 oder Bilder von Massenerschießungen und Vernichtungsstätten – wie die im Frühjahr 2020 publizierten Aufnahmen von Angehörigen des Wachpersonals in Sobibór11 – waren 1945/46 noch gar nicht bekannt und / oder haben keine breite öffentliche Verwendung gefunden. Dieses heute vielzitierte Bildmaterial konnte daher damals noch kein »Bild« des Judenmords im »Osten« vermitteln – nicht zuletzt auch, weil man den Aufnahmen sowjetischer Provenienz etwa von den entdeckten Massengräbern12 vor dem Hintergrund der Indizien auf sowjetische Massenverbrechen nicht immer Glauben schenken konnte und wollte. Dieser Beitrag beschränkt sich daher nicht nur auf die dokumentarische Verwendung des Bildmaterials der Alliierten durch die Alliierten, sondern nimmt exemplarisch auch einige Spielfilme in den Blick, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit in den verschiedenen Besatzungszonen Deutschlands entstanden und erkennen lassen, wie sich der Umgang mit der jüngsten Vergangenheit und der NS-Verbrechensgeschichte im Land unter alliierter Ägide entwickelte. Welches Bild / welche Bilder und Informationen wurden dem deutschen Publikum hier über die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung vermittelt und wie wurden hierbei Fragen von Tatbeteiligung, Schuld und Verantwortung adressiert? Sind die Jahre bis 1948/49 tatsächlich auch so etwas wie ein Neuanfang, bis im Westen die restaurative Adenauerzeit begann und sich über Ostdeutschland und Osteuropa der Eiserne Vorhang senkte? Antworten auf diese Fragen werden anhand zweier früher DEFA-Filme aus der sowjetischen Besatzungszone und vier Filmen aus der britischen und der US-amerikanischen Besatzungszone sowie einem Film aus Polen skizziert, der ebenfalls dem deutschen Publikum 10 Vgl. jetzt: Tal Bruttmann / Stefan Hördler / Christoph Kreutzmüller: Die fotografische Inszenierung des Verbrechens  – Ein Album aus Auschwitz, Darmstadt 2019 (auch als durchgesehene Neuausgabe 2020 bei der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn). 11 Vgl. Martin Cüppers et al., Fotos aus Sobibor – Die Niemann-Sammlung zu Holocaust und Nationalsozialismus, Berlin 2020. 12 Im KZ Klooga in Estland entdeckte die Rote Armee Ende September 1944 beispielsweise Scheiterhaufen mit ermordeten Insassen, die nicht vollständig verbrannt waren. Hierüber berichtete am 30. Oktober 1944 das Life-Magazin mit dem Artikel von John Kersey: Prisoner 339, Klooga, Band 17, Nr. 18. Auch sowjetische Medien berichteten wiederholt über die begangenen Verbrechen und verschwiegen dabei, dass es sich bei den Insassen zum überwiegenden Teil um Juden handelte.

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gezeigt wurde. Ferner wird an zwei Beispielen skizziert, wie in den westlichen Besatzungszonen mit Antisemitismusvorwürfen umgegangen wurde und welche Rolle hierbei personelle Kontinuitäten zum NS-Film spielten. Aufgrund des begrenzten Platzes können diese Beschreibungen nur skizzenhaft bleiben. Sie vermitteln aber einige interessante Aspekte zu dem Bild, welches man sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit vom Holocaust machte und davon, wie man in Deutschland mit diesem Menschheitsverbrechen umgegangen ist, noch bevor auch in der Rosenburg vieles unternommen wurde, um die Verbrechensgeschichte des »Dritten Reiches« zu verschleiern und eine kritische Aufarbeitung über viele Jahre hinweg zu behindern.

II. Frühe Aufklärungsfilme der alliierten Besatzungsmächte Insbesondere für die britischen und die US-amerikanischen Verantwortlichen war die Aufklärung und Information über die im deutschen Namen verübten »atrocities«  – vor allem das Morden in den Lagern  – von großer Bedeutung. Bereits im Herbst 1944 überlegte das German Committee des Office of War Information (OWI), wie hierbei Beweise über Verbrechen, die vom Army Signal Corps der US-Streitkräfte bei der Befreiung der Lager gesammelt wurden, präsentiert und zur Umerziehung des deutschen Volkes verwendet werden konnten.13 Auch Filmmaterial sollte hierbei eine wichtige Rolle spielen. Aufnahmen aus befreiten Konzentrationslager sichtete das German Committee des OWI erstmals am 21. April 1945.14 Daraufhin entstand zunächst ein zweispuliger Kurzfilm mit dem Arbeitstitel »KZ«, der anlässlich der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen in San Francisco Ende Juni 1945 und vermutlich auch deutschen Kriegsgefangenen in den USA und Großbritannien gezeigt wurde.15 13 Vgl. Brewster S. Chamberlin, Todesmühlen. Ein früher Versuch zur Massen-»Umerziehung« im besetzten Deutschland, 1945–1946, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3 (1981), S. 420–436 mit Verweis auf NA, RG 208, Office of War Information, Entry 404, Box 803, F 2. 14 Ulrike Weckel, Beschämende Bilder: Deutsche Reaktionen auf alliierte Dokumentarfilme über befreite Konzentrationslager, Stuttgart 2012, S. 330 f. 15 Weckel (ebd., S. 86 f., Fn. 151) bezweifelt, dass es sich hierbei um denselben Film handelte. Die hierbei verfolgte Umerziehungsabsicht und die Wirkung dieser Fotos und Filme auf ein deutsches Publikum wird untersucht von: Brigitte J. Hahn, Umerziehung durch Dokumentarfilm? Ein Instrument amerikanischer Kulturpolitik im Nachkriegsdeutschland (1945–1953), Münster 1997; Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998, S. 23–99; Dies., Bilder vom Feind. Das Scheitern der »visuellen Entnazifizierung«, in: Sven Kramer (Hg.), Die Shoah im Bild, München 2003, S. 51–69; Susan L. Carruthers, Compulsory Viewing: Concentration Camp Film and German Re-education, in: Millenium. Journal of International Studies 30 (2001), S. 733–759; Cora Sol Goldstein, Capturing the German Eye. American Visual Propaganda in Occupied Germany, Chicago 2009; Ulrike Weckel, Disappointed Hopes for Spontaneous Mass Conversions: German

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Mit der britisch-amerikanischen Wochenschau »Welt im Film«, Nr. 5, Sonderausgabe »KZ«, die im Juli 1945 öffentlich gemacht wurde, wurde nach der Wiedereröffnung der Kinos dann auch die breitere deutsche Bevölkerung kinematografisch mit den Konzentrationslagern und der damit verbundenen Geschichte der Massenmorde konfrontiert.16 Dieser Wochenschaubeitrag begann mit dem Besuch von General Dwight David Eisenhower im Lager Ohrdruf / Thüringen am 12. April 1945 und zeigte drastische Aufnahmen von der Befreiung unterschiedlicher Lager.17 Auch in der französischen Besatzungszone entstand ein ähnlicher Aufklärungsfilm mit dem Titel »Les Comtes de la Mort«. In der Sowjetunion und in Polen entstanden derweil zwei Filme zu den Vernichtungslagern mit den Namen »Auschwitz« und »Majdanek«. Die Dreharbeiten zum Film »Auschwitz« wurden unmittelbar nach der Befreiung des Lagers Anfang Februar 1945 in Angriff genommen, aber erst im Sommer 1945 fertiggestellt. Die Kameraleute wurden bezeichnenderweise angehalten, vor Ort keine Nahaufnahmen von Davidsternen zu machen und Opfer auszuwählen, deren Gesichter »russische Züge« aufwiesen.18 Responses to Allied Atrocity Film Screenings, 1945–46, in: Bulletin of the German Historical Institute 51 (2012), S. 39–53; Dies., Zeichen der Scham. Reaktionen auf alliierte atrocity-Filme im Nachkriegsdeutschland, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 23 (2014), S. 3–29. 16 Chamberlin (Todesmühlen, Fn. 13) weist darauf hin, dass die Amerikaner beispielsweise auch eine kostenpflichtige Fotobroschüre unter dem Titel »KZ« produzierten, die zu den Umerziehungsbemühungen beitragen sollte. Von dieser Broschüre wurden circa 200.000 Exemplare ausgeliefert und verkauft. In Heidelberg, Kaiserslautern und Frankfurt seien innerhalb einer Stunde nach Verkaufsbeginn bereits 2.000 Exemplare abgesetzt worden. Obwohl die Mehrheit der Leserinnen und Leser der Ansicht war, die Broschüre berichte die Wahrheit über die Gräuel und über Deutschlands Verantwortung für den Krieg, vermerkten die Besatzungsfunktionäre, dies würde trotzdem nicht die weit verbreitete Überzeugung beeinflussen, dass das deutsche Volk für die Handlungen der NS-Regierung nicht verantwortlich sei, in: National Archives (NA), Record Group (RG) 260, Office of Military Government for Germany (U. S.) (OMGUS), 5/266–1, Folder (F) 1, passim, 5/269–2, F 14 (Waples an McClure, 05.07.1945: »German Reception of KZ Pamphlet«), und ebd., 5/261–2, F 14 (»Atrocities: A Study of German Reactions«, 21.06.1945). Der letztgenannte Bericht wurde später in veränderter Form veröffentlicht. Vgl. Morris Janowitz, German Reactions to Nazi-Atrocities, in: The American Journal of Sociology LII, Nr. 2 (September 1946), S. 141–146. 17 Eisenhower äußerte nach dem Besuch in einem Brief an General George C. Marschall vom 15.04.1945: »The things I saw beggar description. […] I made the visit deliberately, in order to be in a position to give first hand evidence of these things if ever, in the future, there develops a tendency to charge these allegations merely as propaganda«, abgedruckt in: Alfred D. Chandler / Stephen E. Ambrose (Hg.), The papers of Dwight David Eisenhower, The war years in five volumes, Washington D. C. 1970, S. 2616. Diese Äußerung Eisenhowers wird auch am Eingang des United States Holocaust Memorial Museum in Washington D. C. zitiert. 18 Vgl. hierzu: Jeremy Hicks, First Films of the Holocaust. Soviet Cinema and the Genocide of the Jews, 1938–1946, Pittsburgh 2012, S. 176–179. Die Spiegel-Redaktion (Hausmitteilung, in: Der Spiegel, Nr. 4, 23.01.1995, S. 3) berichtete zur Entstehung des Films über

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Am 29. November 1945 wurde dann während des Nürnberger Hauptkriegs­ verbrecherprozesses vor dem International Military Tribunal (IMT) der Schwarzweißfilm »Nazi Concentration Camps« (Beweismittel PS-2430) gezeigt.19 Der US-Chefankläger Robert Jackson hatte den Film bereits in seinem Opening Statement als Beweis für die NS-Verbrechen angekündigt: »We will show you these concentration camps in motion pictures, just as the Allied armies found them when they arrived and the measures General Dwight Eisenhower had to take to clean them up. Our proof will be disgusting and you will say I have robbed you of your sleep. But these are the things which have turned the stomach of the world and set every civilized hand against Nazi Germany. […] I am one who received during this war most atrocity tales with suspicion and scepticism. But the proof here will be so overwhelming that I venture to predict not one word I have ­spoken will be denied.«20

Der Film war unter anderem von Lieutenant Colonel George C. Stevens, einem Hollywoodregisseur, gemacht worden, der später in den 1950er Jahren nicht zuletzt durch seinen Anne-Frank-Film Berühmtheit erlangte. »Nazi Concentration Camps« ist ein etwa einstündiger, lakonisch kommentierter Zusammenschnitt von Bildern, die US-amerikanische und britische Soldaten bei der Befreiung von etwa einem Dutzend Lager, darunter Mauthausen, Buchenwald, Dachau und Bergen-Belsen, aufgenommen hatten. Der Film beginnt mit Thekla, einem Lager in Leipzig, in dem an die 200 Insassen bei lebendigem Leibe in einer Baracke verbrannt wurden. Die Kamera fängt erst die Umrisse der Baracke im schmutzigen Schnee ein, um dann aus der Nähe verbrannte Leichen zu zeigen. Andere Sequenzen zeigen abgemagerte Häftlinge und Stacheldraht, darunter den Bericht eines US-amerikanischen Häftlings, der in Mauthausen befreit wurde und die Befreiung von Auschwitz wie folgt: »als die Rote Armee vor 50 Jahren in dieses Lager kam, war es geräumt; einige tausend transportunfähige Häftlinge, Kranke und Sterbende hatte die SS zurückgelassen. Ein sowjetisches Kamerateam produzierte dennoch einen Film über die ›dramatische Befreiung von Auschwitz‹ – mit jubelnden Häftlingen und anderen Passagen, die erst Monate später nachgedreht wurden. Die Statisten stammten womöglich aus der polnischen Umgebung, und schließlich wurden auch Aufnahmen aus dem Lager Majdanek dazu gemischt. Heute ist nicht mehr zu klären, welche Bilder aus den letzten Tagen von Auschwitz authentisch sind – und ob es die überhaupt gibt.« 19 Vgl. hierzu: Lawrence Douglas, Film as Witness: Screening Nazi Concentration Camps before the Nuremberg Tribunal, in: The Yale Law Journal 105 (November 1995), H. 2, S. 449–481; Helen Lennon, A Witness to Atrocity: Film as Evidence in International War Crimes Tribunals, in: Toby Haggith / Joanna Newman (Hg.), Holocaust and the Moving Image; Representations in Film and Television since 1933, London 2005, S. 65–75. 20 Zit. nach Christian Delage, The Judicial Construction of the Genocide of the Jews at Nuremberg: Witnesses on Stand and Screen, in: David Bankier / Dan Michman (Hg.), Holocaust and Justice: Representation and Historiography of the Holocaust in Post-War Trials [Englisch], Jerusalem 2010, S. 101–116, hier 104 mit Verweis auf: Trial of the Major War Criminals before the International Military Tribunal Nuremberg, 14 November 1945 – 1 October 1946, Bd. 2, Nürnberg 1947, S. 129.

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selbst aus Hollywood in Kalifornien stammte. Zudem zeigte der Film, wie die Generäle Eisenhower, Omar Nelson Bradley und George Smith Patton sowie amerikanische Kongressabgeordnete die Lager in Augenschein nehmen. Aber auch Deutsche, die dazu gezwungen wurden, die Lager zu besichtigen, werden gezeigt. In einer kurzen Bildsequenz ist der ehemalige Lagerkommandant Josef Kramer nach der Befreiung von Bergen-Belsen zu sehen. Die Zuweisung der Verantwortlichkeit für die dokumentierten Verbrechen bleibt jedoch eher nebulös und schließt in gewisser Weise das gesamte Filmpublikum mit ein.21 »Nazi Concentration Camps« hinterließ offenbar bei allen im Gerichtssaal Anwesenden einen nachhaltigen Eindruck. In der Presse wurde über die Filmvorführung berichtet. Die New York Times meldete beispielsweise am 30. November 1945 unter dem Titel »War-Crimes Court Sees Horror Films«: »The coolest and most collected spectators were the prisoners, whose rapt expressions were illuminated by the dimmed lights along the front of the dock. All but Schacht followed every scene of the film, leaning forward to get a better view. […] The only other prisoner affected […] was von Ribbentrop, who watched the first third of the film and then turned away and closed his eyes for most of the remainder, taking only an occasional glance at the screen as if urged to it by some horrible fascination.«22

Ein anderer zeitgenössischer Beobachter, Shabse Klugman, der für die jiddischsprachige Zeitschrift Undzer Weg über den Prozess berichtete, blieb jedoch skeptisch, dass ein solcher Film einen »wirklichen« Einblick in die jüdische Katastrophe vermitteln konnte, zumal das Wort »Jude« in der Kommentierung des Films bezeichnenderweise nur einmal Verwendung findet:23 »Was werden die Zuschauer jemals über den ›Weg ohne Rückweg‹ in Treblinka wissen, wohin Millionen verschleppt und von Hunden in den Tod getrieben worden sind? Was werden sie wissen von so einem Bild, an einem Tag in der Super-Hölle von Auschwitz, als der Rauch und die Hitze der Krematoriumsöfen bis in den Himmel gereicht haben? Was werden sie jemals wirklich über den Rauch und die Hitze der Krematoriumsöfen wissen? Sie werden es niemals wissen. Und schlimmer noch: Sie wollen es gar nicht wissen. Es wiederholt sich ein altes Spiel: Die Welt ist müde und will vergessen.«24

Am 11. Dezember 1945 wurde von der Anklage ein weiterer Film, der vom U. S. Counsel for the Prosecution of Axis Criminality produziert worden war, im Gerichtssaal in Nürnberg gezeigt (Beweismittel 3054–PS, Exhibit US 167). Die21 Vgl. Douglas, Film as Witness, der hierauf aufmerksam macht (S. 471–473). 22 Raymond Daniell, War-Crimes Court Sees Horror Film, in: New York Times, 30.11.1945, S. 6. 23 Vgl. Douglas, Film as Witness, S. 473 f. 24 Zit. nach Laura Jockusch, Das Urteil der Zeugen: Die Nürnberger Prozesse aus der Sicht jüdischer Holocaustüberlebender im besetzten Deutschland, in: Kim C. Priemel / A lexa Stiller (Hg.), NMT: Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung, Hamburg 2013, S. 653–683, hier S. 669 mit Verweis auf »Makom ha-resha – sham ha-mishpat«, Nr. 5, Undzer Veg vom 14.12.1945.

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ser Film mit dem Titel »The Nazi Plan« ist ein 194-minütiger Zusammenschnitt aus deutschen Wochenschau-Berichten und einem 40-minütigen Ausschnitt aus Leni Riefenstahls Film »Triumph des Willens« über den NSDAP-Reichsparteitag 1934. Er sollte in erster Linie den Aufstieg der NSDAP, die Konsolidierung ihrer Macht und die Vorbereitung und Durchführung des Angriffskrieges durch das NS-Regime sowie dessen verbrecherische Politik dokumentieren. Nur zwei Tage später wurde ein 8-Millimeter-Film (Beweismittel PS-3052) über Massenverbrechen gegen Juden gezeigt, den das US-Militär bei Augsburg erbeutet hatte. Die Aufnahmen stammten aus Lemberg und zeigen Bilder eines Pogroms vom Juli 1941. Am 19. Februar 1946 zeigte dann die sowjetische Anklagebehörde im Gerichtssaal »The Atrocities Committed by the German Fascist Invaders in the U. S. S. R.« (Beweismittel URSS-81), der auch Bildmaterial aus Majdanek und Auschwitz – zwei zentralen Orten des Holocaust – enthält.25 Insbesondere die westlichen Siegermächte beschränkten sich jedoch nicht auf den Gerichtssaal in Nürnberg. Auch die deutsche Öffentlichkeit sollte mit den Massenverbrechen filmisch konfrontiert werden. Die Wochenschau-Abteilung der US-Information Control Division (ICD) produzierte unter der Regie des Exiltschechen Hanuš Burger und Billy Wilders26 den 22-minütigen Dokumentarfilm »Die Todesmühlen« (»Death Mills«).27 Einen Teil des Materials hatte ein 25 Der Vorwurf, dass die Besonderheit der Holocaust-Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung Europas in den Nürnberger Prozessen noch keine zentrale Rolle spielte (vgl. z. B. Donald Bloxham, Genocide on Trial. War Crimes Trials and the Formation of Holocaust History and Memory, Oxford 2001) ist somit nicht ganz von der Hand zu weisen, bedarf aber einer differenzierten Betrachtung. Zum einen war der Kenntnisstand zu diesen Verbrechen noch gering und man maß ihnen – angesichts der allgemeinen Zerstörung und des Leids mit etwa 13 Millionen zivilen Opfern in Europa (einschließlich der etwa sechs Millionen Jüdinnen und Juden), die der NS-Staat jenseits der Kriegshandlungen zu verantworten hatte – noch nicht die Bedeutung zu, die sie heute in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs einnehmen. Zum anderen hatten insbesondere die Sowjetunion und Großbritannien – aus unterschiedlichen Gründen, unter anderem mit Blick auf die Palästinafrage – wenig Interesse daran, die Verfolgung der jüdischen Bevölkerungsgruppen besonders herauszustellen. Vgl. hierzu: Hans-Christian Jasch, Der »Jewish Case« in Nürnberg: Ein Versuch der Ahndung des Judenmordes / The »Jewish Case« in Nuremberg: Attempting to Prosecute the Holocaust in: Ders. / L ehnstaedt (Hg.), Verfolgen und Aufklären, S. 262–300; Hans-Christian Jasch, Holocaustverbrechen vor alliierten und deutschen Gerichten. Zu den Auswirkungen der Nürnberger Prozesse auf die spätere Rechtsprechung bundesdeutscher Gerichte in Verfahren gegen Holocausttäter, in: Roy Knocke / Olaf Glöckner (Hg.), Das Zeitalter der Genozide. Ursprünge, Formen und Folgen politischer Gewalt im 20. Jahrhundert, Berlin 2017, S. 169–195, und Ders. / Wolf Kaiser, Der Holocaust vor deutschen Gerichten. Amnestieren. Verdrängen. Bestrafen, Ditzingen 2017. 26 Vgl. David Bathrick, Billy Wilder’s Cold War Berlin, in: New German Critique 110 (2010), S. 31–47, hier 31–34. 27 Vgl. hierzu: Ulrike Weckel, 22 March 1946: Screenings of Die Todesmühlen Spark Controversy over German Readiness to Confront Nazi Crimes, in: Jennifer M. Kapczynski /  Michael D. Richardson (Hg.), A New History of German Cinema (= Screen Cultures: German Film and the Visual, Bd. 6), Rochester 2012, S. 321–327, und Dies., Alliierte Schock-

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unvollendet gebliebenes Projekt des Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force (SHAEF) mit Sidney Bernstein als Regisseur und Alfred Hitchcock als Berater (»Night Will Fall«) geliefert.28 Der im Juli 1945 fertiggestellte Dokumentarfilm »Todesmühlen« wurde im Oktober 1945 uraufgeführt und ab Januar 1946 in den Kinos in Bayern, ab März 1946 auch in Hessen, Hamburg und im Westteil Berlins gezeigt. Die Psycho­ logical Warfare Division setzte ihn im Rahmen der Umerziehungs- und Entnazifizierungsbemühungen ein.29 Wie »Nazi Concentration Camps« ist auch »Todesmühlen« ein Zusammenschnitt von Dokumentationsmaterial aus verschiedenen, kurz zuvor befreiten deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern, darunter Dachau, Auschwitz, Majdanek, Bergen-Belsen und Buchenwald. Der Film ist in der deutschen Fassung mit getragener klassischer Musik unterlegt und zeigt, was die Alliierten bei der Befreiung der Lager vorgefunden haben: die Überlebenden, die entsetzlichen Lebensbedingungen in den Lagern und damit auch Beweise für den Massenmord. Zu sehen sind auch die Befragungen des gefangenen Lagerpersonals, die angeordnete Besichtigung der Lager durch die Bevölkerung aus der Umgebung sowie – zur Beglaubigung der Authentizität des Filmmaterials – Besuche bekannter Persönlichkeiten wie General Eisenhower, General Bradley oder des Erzbischofs von Canterbury in den befreiten Lagern. Kontrastiert werden diese Bilder mit Ausschnitten aus Leni Riefenstahls Film »Triumph des Willens« mit jubelnden Deutschen, die den Hitlergruß zeigen, und dann überblendet von Marschkolonnen deutscher Bürgerinnen und Bürger auf dem Weg zu den Konzentrationslagern. In der Anfangs- und Schlussszene sieht man Männer mit geschulterten Kreuzen und Schaufeln auf dem Weg zur Feldscheune bei Gardelegen, in der an die tausend verbrannte Leichen von Häftlingen eines Todesmarsches lagen, die dort am 13. April 1945 bei lebendigem Leib verbrannt worden waren. Der Film »Todesmühlen« wurde damals unter anderem in 51 Kinos in Berlin im amerikanischen Sektor gezeigt und von 157.120 Personen, das heißt etwa einem Viertel der Bevölkerung dieses Sektors, gesehen. Dennoch war die Reaktion des deutschen Publikums aus Sicht der US-Besatzungsverwaltung eher ernüchternd.30 Das wird aus einem Artikel ersichtlich, der in der – unter Auf-

pädagogik 1945/46: Die Todesmühlen – Death Mills – Di Toit Milen, in: Publikationen zu wissenschaftlichen Filmen, Sektion Geschichte / Publizistik: Begleitpublikation zur DVD C 12436, hg. vom IWF Wissen und Medien, Göttingen 2006, S. 1–6. 28 Der Film beginnt mit der Befreiung des KZs Bergen-Belsen und der Festnahme des Kommandanten des Lagers Josef Kramer durch britische Truppen. Sowjetische Aufnahmen aus den Konzentrationslagern Majdanek und Auschwitz-Birkenau (z. B. Aufnahmen der Berge von Haaren und Brillen der Ermordeten) fanden Verwendung. Vgl. Ted Johnson, PopPolitics: Why Hitchcock Holocaust Project was shelved for Decades (Listen), in: ­Variety, 24.01.2015. 29 Chamberlin, Todesmühlen. 30 Vgl. hierzu: Weckel, Beschämende Bilder.

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sicht der Besatzungsbehörden erscheinenden – Berliner Zeitung Tagesspiegel am 9. April 1946 unter der Überschrift »Angst vor der Wahrheit« publiziert wurde: »Fünfundsiebzig Prozent wollten sich aber nicht schämen. Sie stehen geistig noch immer Spalier am Wilhelmplatz, an der Ost-West-Achse, im Stadion und jubeln Herrn Hitler und anderen Helden von gestern zu. Sie wollen nicht die Wahrheit wissen, der Kadavergehorsam war ihnen bequemer und einträglicher als nun die Last der Folgen zu tragen. Und wie ermutigend wäre gerade jetzt mehr Interesse gewesen, ein Interesse, aus dem die bange Frage klingt: Sind wir wirklich so schlimm, wie uns die anderen sehen? Dieser Film hätte bei der Geburt eines Bekenntnisses helfen können, des Bekenntnisses zur Menschlichkeit. Fünfundsiebzig Prozent hatten Angst vor der Wahrheit, und fünfundzwanzig Prozent schämen sich darüber.«

Bereits 1947 wurde der Dokumentarfilm von der US-Besatzungsmacht zurückgezogen und nicht mehr aufgeführt. Auch in der britischen Zone gab es Befürchtungen, dass die Deutschen gegen weitere Aufführungen revoltieren würden, weshalb »Die Todesmühlen« dort bis 1947 nur einige wenige Male unter Begleitung und Beobachtung aufgeführt wurde. Der Film gilt als »re-edukationspolitischer Fehlschlag«.31 Zudem veränderte sich das politische Klima im besetzten Deutschland. Die Deutschen in den Zonen bzw. in den neugegründeten Ländern wurden zunehmend als künftige politische Partner wahrgenommen, die nicht mehr »umerzogen«, sondern zur Zusammenarbeit gewonnen werden sollten.

III. Frühe Annäherung in Spielfilmen Das »Bild vom Holocaust« in der deutschen Öffentlichkeit wurde jedoch nicht nur durch alliierte dokumentarische Atrocity-Filme geprägt, auch wenn diese Aufnahmen bis heute große Wirkung haben. Nach Einschätzung des Filmwissenschaftlers Peter Pleyer befassten sich zwar vier Fünftel von insgesamt knapp 50 zwischen Sommer 1945 und Dezember 1948 entstandenen Filmen mit eher persönlichen, privaten Themen, aber immerhin ein Fünftel mit der erst kurz zurückliegenden NS-Zeit und der Judenverfolgung.32 Oftmals entstanden diese Filme auf Initiative jüdischer Überlebender und Emigranten. So wird in der

31 Hahn, Umerziehung durch Dokumentarfilm?, S.112. 32 Vgl. hierzu: Martina Thiele, Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film, Berlin / Münster 22007, S. 92–94, unter Bezugnahme auf: Peter Pleyer, Deutscher Nachkriegsfilm 1946–1948, Münster 1965, S. 149, der in seiner Inhaltsanalyse zu dem Ergebnis kommt, »daß die Mehrzahl der dargestellten Probleme und Geschehensmotive mit politischer Relevanz in direkter oder indirekter Beziehung« zur NS-Herrschaft in Deutschland standen. Zwei Drittel aller im Film gezeigten Probleme hätten aber den privaten Bereich der Menschen betroffen, der angesichts aller Schwierigkeiten, zum Beispiel der Heimkehrer-Problematik, als Zufluchtsort erschienen sei.

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US-Besatzungszone der Exil-Rückkehrer Erich Pommer als Verantwortlicher für den Wiederaufbau der deutschen Filmproduktion eingesetzt.33 Die Bedingungen der Filmschaffenden waren ausgesprochen schwierig. Material und Mittel zur Produktion von Filmen waren kaum vorhanden. Unmittelbar nach der Kapitulation im Mai 1945 unterstanden Produktionsstätten, Filmarchive, Verleihfirmen und die Kinotheater im besetzten Deutschland den alliierten Besatzungsmächten. Film und Kino (»das Lichtspielwesen«) galten als wichtige Medien für Propaganda und Information und waren für das deutsche Publikum in den Kriegs- und Nachkriegsjahren oftmals die einzigen Orte, die Zerstreuung und Ablenkung von der allgegenwärtigen Zerstörung und dem sie umgebenden Elend boten. Die Alliierten wussten um die Bedeutung des Kinos,34 das ja auch der Reeducation dienen sollte, und übten daher eine strenge Kontrolle und Zensur aus. Produzenten, Regisseure oder Darsteller, die NSDAPParteimitglieder oder Unterstützer der NSDAP waren, erhielten zunächst Berufsverbot; ihre Filme aus der NS-Zeit durften nicht mehr aufgeführt werden. Neuproduktionen waren nur mit Lizenz der Alliierten zulässig. Die deutschen Kinos sollten zudem Absatzmarkt für Produktionen aus den Siegerstaaten werden, andererseits sehnte sich das deutsche Publikum nach den Hollywoodstreifen, die es im NS-Kino nicht mehr zu sehen bekommen hatte. Die Anzahl der neu produzierten deutschen Filme ist daher zunächst gering und stieg erst in den 1950er Jahren wieder signifikant an. 1.

Die DEFA-Filme »Die Mörder sind unter uns« und »Ehe im Schatten« in der SBZ

In der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) begann die Zusammenarbeit mit als zuverlässig erachteten Deutschen etwas früher als in den westlichen Zonen.35 So wurden bereits am 28. Mai 1945 – nur drei Wochen nach der Kapitulation – mit Erlaubnis des sowjetischen Stadtkommandanten Generaloberst Nikolai Bersarin die Kinos in Berlin wiedereröffnet und überwiegend vom sowjetischen Filmverleih Sojusintorgkino betrieben. Wolfgang Staudte wurde von der Besatzungsmacht beauftragt, die Regie der deutschen Fassung von Sergei Eisensteins »Iwan der Schreckliche« zu übernehmen, der neben einem Film über die Schlacht von Berlin als einer der ersten sowjetischen Filme dem deutschen Publikum gezeigt werden sollte. Zudem wurde unter sowjetischer Ägide bereits im Sommer 1945 33 Vgl. Wolfgang Jacobsen, Erich Pommer. Filmproduzent zwischen Kunst, Industrie und Unterhaltung, Berlin 2017. 34 Für das Jahr 1946 werden in Deutschland 300 Millionen Kinobesuche angenommen (durchschnittlich 6,6 pro Einwohner; 1945 waren von früher (1944) 6.484 Lichtspieltheatern schon wieder 1.150 in Betrieb. Vgl. Jürgen Wilke, Ein früher Beginn der »Vergangenheitsbewältigung«. Der Nürnberger Prozeß und wie darüber berichtet wurde, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.1995, S. 14. 35 Vgl. Thiele, Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film, S. 88.

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eine »Zentralverwaltung für Volksbildung« geschaffen, die als »beratende Körperschaft« der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) fungierte und eine eigene Abteilung Literatur – Kunst (und Film) hatte. Diese diente als Anlauf- und Sammelstelle für Filmleute. Hier bildete sich das Kollektiv »Filmaktiv«, aus dem im Frühjahr 1946 die Deutsche Film-AG (DEFA) gegründet wurde, der sukzessive die auf dem Gebiet der SBZ liegenden Vermögenswerte der großen Filmproduktionsgesellschaften wie Tobis und Ufa, die am 30. Oktober 1945 mit SMAD-Befehl Nr. 124 enteignet und in Treuhandverwaltung übernommen worden waren, übertragen wurden. Bis 1950 wurde die DEFA als sowjetisch-deutsche Aktiengesellschaft mit einem sowjetischen Mehrheitsanteil geführt, der dem Ministerium für Filmwirtschaft der UdSSR unterstand.36 1946 entstand bei der DEFA im Auftrag der SMAD der in Regie von Richardt Brandt produzierte Film »Todeslager Sachsenhausen«, der – nach dem Vorbild des Nürnberger Prozesses – für den Sachsenhausen-Prozess im Rathaus Pankow gegen das frühere Lagerpersonal im Jahr 1947 gedacht war und noch bis 1991 in der KZ-Gedenkstätte als Erklärfilm gezeigt wurde.37 Die DEFA produzierte im selben Jahr mit »Die Mörder sind unter uns« auch den ersten deutschen Spielfilm, der sich mit der Frage von Schuld und Sühne für die NS-Verbrechen befasste.38 Der Titel des Films charakterisierte die Situation im Lande und war gleichzeitig eine Anklage. Sein Regisseur, der bereits erwähnte Wolfgang Staudte, war im »Dritten Reich« zeitweilig mit Berufsverbot und einer seiner Filme mit Aufführungsverbot belegt worden. Allerdings hatte Staudte auch selbst in einer Nebenrolle in Veit Harlans NS-Propagandafilm »Jud Süß«39 mitgewirkt. Er gehörte zum Gründungspersonal der DEFA. Seine Verfilmung von Heinrich Manns Roman »Der Untertan« von 1951 wurde in der Bundesrepublik zunächst mit Aufführungsverbot belegt.40 Erst 1959 hatte 36 Vgl. hierzu die Webseite der DEFA-Stiftung: https://www.defa-stiftung.de/defa/geschichte/ defa-chronik/ (zuletzt aufgerufen am 20.10.2020). 37 Vgl. hierzu die Webseite der Deutschen Fotothek: http://www.deutschefotothek.de/ documents/obj/71383813 (zuletzt aufgerufen am 20.10.2020). 38 Vgl. hierzu die Webseite der DEFA-Stiftung: https://www.defa-stiftung.de/filme/filmsuche/ die-moerder-sind-unter-uns/ ( zuletzt aufgerufen am 20.10.2020). 39 Joseph Wulf, Kultur im Dritten Reich, Bd. 4: Theater und Film: Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. / Berlin 1989, S. 443. Zum Film »Jud Süß« siehe: Susan Tegel, Veit Harlan’s Jud Süss, in: Toby Haggith / Joanna Newman (Hg.), Holocaust and the Moving Image. Representations in Film and Television since 1933, London 2005, S. 76–84; Ernst Seidl (Hg.), »Jud Süss« – Propagandafilm im NS-Staat. Katalog zur Ausstellung im Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Stuttgart, vom 14.12.2007 bis 03.08.2008, Stuttgart 2007. 40 Der Interministerielle Ausschuss für Ost-West-Filmfragen, die für die Filmeinfuhr hauptverantwortliche Stelle, untersagte damals die Veröffentlichung aufgrund § 93 Strafgesetzbuch (StGB), der die Herstellung von verfassungsfeindlichen Publikationen verbot. 1956 kam es dennoch zu einer einmaligen Aufführung in Westberlin. Nach einer erneuten Prüfung wurde der Film in einer um zwölf Minuten gekürzten Version und mit einem die Grundaussage des Films umkehrenden Vorspruch im November 1956 freigegeben. Im

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Staudte mit dem Film »Rosen für den Staatsanwalt«, der den gesellschaftlichen Umgang mit belasteten Justizjuristen in der Bundesrepublik thematisiert – der Gegenstand dieses Bandes –, auch im Westen großen Erfolg. Der ursprüngliche Arbeitstitel des ersten DEFA-Films lautete »Der Mann, den ich töten werde«. Allerdings musste Staudte den Film umbenennen und das Drehbuch umschreiben, da die sowjetischen Zensoren befürchteten, das Publikum könnte in dem Film einen Aufruf zur Selbstjustiz sehen. »Die Mörder sind unter uns« spielt 1945 im zerbombten Berlin. Die junge Hildegard Knef spielt eine KZ-Überlebende, Susanne, die in ihre alte Wohnung in Berlin zurückkehrt, wo sie den ehemaligen Militär-Chirurgen Dr. Hans Mertens (Ernst Wilhelm Borchert) antrifft. Beide werden gezwungenermaßen zu Mitbewohnern. Mertens leidet unter schrecklichen Kriegserinnerungen und ist Alkoholiker. Als er seinen ehemaligen vorgesetzten Offizier Ferdinand Brückner trifft, der nach dem Krieg »auf die Füße gefallen« ist und bereits einen neuen erfolgreichen Betrieb aufgebaut hat, der aus Stahlhelmen Kochtöpfe fertigt, schmiedet er Mordpläne. Er will Brückner für die Erschießung von 121 Zivilisten – Frauen, Männern und Kindern – »im Osten« zur Rechenschaft ziehen. Hieran hindert ihn im letzten Moment Susanne / Hildegard Knef, die sich in ihn verliebt hat. Sie beschwört ihn, dass er nicht das Recht habe, zu richten, worauf er erwidert: »Aber wir haben die Pflicht, Anklage zu erheben, Sühne zu fordern im Auftrag von Millionen unschuldig hingemordeter Menschen.« Der Film enthält eine Reihe von eindrucksvollen Dialogen in der Berliner Trümmerlandschaft, in der Mertens zwischen den Ruinen wie ein Mahner wirkt. Von ihm fallen Sätze wie »bei den Spießern ist immer alles in Ordnung«. Brückner erklärt ihm dagegen sinngemäß, es komme nicht darauf an, ob man Stahlhelme aus Kochtöpfen oder Kochtöpfe aus Stahlhelmen mache, sondern es sei nur wichtig, dass man zurechtkommt. Seine Butterbrote hat er in einer Zeitung eingewickelt, in der über »Auschwitz – zwei Millionen wurden vergast« – berichtet wird. Am Ende ziehen die Ermordeten als Gespenster vorbei, als Mertens von Brückner Rechenschaft für dessen Verbrechen fordert. »Die Mörder sind unter uns« war der erste Vertreter der Gattung »Trümmerfilme« und bediente sich einer ähnlich neorealistischen Bildsprache wie

Januar 1957 wurde der Film dann erneut durch die FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) verboten, vgl. hierzu: http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=l exikon&tag=det&id=5201 (zuletzt aufgerufen am 17.04.2020). Im Spiegel vom 12.12.1951 giftete ein Kommentator gegen den Film: »Ein Paradebeispiel ostzonaler Filmpolitik: Man läßt einen politischen Kindskopf wie den verwirrten Pazifisten Staudte einen scheinbar unpolitischen Film drehen, der aber geeignet ist, in der westlichen Welt Stimmung gegen Deutschland und damit gegen die Aufrüstung der Bundesrepublik zu machen. Der Film läßt vollständig außer acht, daß es in der ganzen preußischen Geschichte keinen Untertan gegeben hat, der so unfrei gewesen wäre wie die volkseigenen Menschen unter Stalins Gesinnungspolizei es samt und sonders sind.« Zit. nach https://de.wikipedia.org/ wiki/Der_Untertan_(Film)#cite_note-3 (zuletzt aufgerufen am 17.04.2020).

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Roberto Rossellini in »Germania anno zero«41, der 1947 im zerbombten Berlin gedreht wurde. Anders als in den in der späteren Bundesrepublik produzierten Nachkriegsfilmen versuchte Staudte 1946 nicht, die deutsche Bevölkerung von Schuld freizusprechen, sie als »bloße Verführte« darzustellen oder in einer Mischung aus Vergessen und Reue die Schuld auf ein paar hohe Würdenträger oder SS-Funktionäre abzuschieben. Vielmehr endet der Film mit der politischen Aufforderung, den Kriegsverbrechern den Prozess zu machen. Die Geschichte einer persönlichen Rache, die sich in letzter Minute in den Wunsch verwandelt, einen Täter juristisch zur Rechenschaft zu ziehen – diese Botschaft des Films kam offenbar den Vorstellungen der SMAD in Deutschland entgegen. Merkwürdig wirkt daneben jedoch, dass die anfangs erwähnte KZ-Haft der von Hildegard Knef verkörperten Susanne im weiteren Verlauf des Films überhaupt keine Rolle spielt. Auch ihr Geliebter, der auf Rache sinnende Hans Mertens, scheint sich für ihr KZ-Schicksal nicht weiter zu interessieren. Sie wird damit zu einer Art vergebendem Engel stilisiert, der in starkem Kontrast zu Mertens’ Rachedurst steht und als eine Art Projektionsfläche für die Sehnsüchte des schuldverstrickten deutschen Publikums wahrgenommen werden kann. »Die Mörder sind unter uns« bescherte dem deutschen Nachkriegsfilm mit Hildegard Knef, die bis 1945 mit dem Tobis-Produktionschef Ewald von Demandowsky liiert war, den ersten Star. Allerdings blieb er trotz seines sensationellen Erfolgs einer der wenigen deutschen »Trümmerfilme«, die sich ernsthaft mit Kriegsverbrechen, Schuld und Gewissen auseinandersetzten. Der Film wurde am 15. Oktober 1946 im sowjetischen Sektor Berlins im Admiralspalast uraufgeführt, der zu diesem Zeitpunkt die Deutsche Staatsoper beherbergte. In den westlichen Besatzungszonen, war er erstmals am 10. April 1947 in Baden-Baden zu sehen. Eine weitere DEFA-Produktion, die sich mit der Verfolgung jüdischer Menschen im »Dritten Reich« befasste, war der 1948 in allen Sektoren Berlins gezeigte Film »Ehe im Schatten« von Kurt Maetzig.42 Mit einem Millionenpublikum wurde er in kürzester Zeit zu einem der erfolgreichsten deutschen Filme der frühen Nachkriegsjahre und lief 1948 auch bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig. Er thematisierte den Selbstmord eines Ehepaars angesichts der drohenden Deportation der jüdischen Ehefrau und basierte auf dem Schicksal des Schauspielers Joachim Gottschalk. Als Vorlage für das Drehbuch diente die Novelle »Es wird schon nicht so schlimm« von Hans Schweikart. Die Mutter des Regisseurs Kurt Maetzig hatte sich als Jüdin am 9. Februar 1944 das Leben genommen. 41 Vgl. hierzu: Dominik Schrey, »Filmen, was vorher und was nachher kommt…«. Erinnerung in Roberto Rossellinis »Germania anno zero«, in: Andreas Böhn / Christine Mielke (Hg.), Die zerstörte Stadt. Mediale Repräsentationen urbaner Räume von Troja bis SimCity, Bielefeld 2007, S. 289–310. 42 Vgl. hierzu die Webseite der DEFA-Stiftung: https://www.defa-stiftung.de/filme/filmsuche/ ehe-im-schatten/ (zuletzt aufgerufen am 20.10.2020).

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Mit ihren sensationellen Erfolgen stechen diese beiden Filme aus der SBZ, die sich ernsthaft mit Kriegsverbrechen, Schuld und Gewissen auseinandersetzten, deutlich heraus. 2.

In den westlichen Besatzungszonen: »In jenen Tagen«, »Morituri«, »Zwischen gestern und morgen«, »Lang ist der Weg«

In Hamburg, in der britischen Zone, entstand Ende 1946 unter der Regie von Helmut Käutner und Helmut Beck der Film »In jenen Tagen«, dessen »Hauptfigur« ein PKW ist, der zwischen 1933 und 1945 mehrfach den Besitzer wechselt und Verfolgung, Widerstand, Zerstörung und Mord während des Krieges »erlebt«. In diesem Film ist die unmittelbare Vergangenheit anhand von sieben individuellen Schicksalen gegenwärtig. Unter diesen Schicksalen sind auch Geschichten von Flucht und Vertreibung und der gemeinsame Selbstmord eines Ehepaars, das sich 1938 nach dem Novemberpogrom das Leben nimmt, da die Ehefrau Jüdin war. Fragen von Schuld und Verantwortung bleiben in dem Film jedoch erstaunlich diffus. NS-Diktatur, Krieg und Holocaust erscheinen eher als eine Art Gesamtkatastrophe, in der sich – dem Zeitgeist entsprechend – fast alle als Opfer von Krieg, Zerstörung und Vertreibung wahrnehmen können. Die Unterschiede zwischen Tatbeteiligten und Opfern verschwimmen. Der Spiegel kommentierte dies positiv: »Der Film hebt nicht den politischen Zeigefinger. Er will nichts weiter als aus einer unmenschlichen Zeit die Gesichter einer Handvoll Menschen hervorheben. Am Ende sagt die Stimme des Autos: ›Ich habe ein paar Menschen gesehen, deren Menschlichkeit stärker war als die Zeit‹.«43 Der Regisseur Helmut Käutner hatte seine Karriere bereits in der NS-Zeit begonnen.44 Er gehörte nicht zum Widerstand. Sein Film »Kitty und die Weltkonferenz« wurde jedoch von der NS-Zensur verboten. Auch die Filme »Große Freiheit Nr. 7« und »Unter den Brücken« bekam das deutsche Publikum erst nach dem Ende des Nationalsozialismus zu sehen. Diese Umstände ermöglichten es Käutner, 1946 von der britischen Besatzungsmacht eine Lizenz zur Produktion des Filmes zu bekommen. Dieser wurde mit einfachsten technischen Mitteln und mit Schauspielern gedreht, die wie Hermann Speelmans an NS-Propagandafilmen mitgewirkt oder wie der ehemalige KZ-Häftling Erwin Geschonneck zu den NS-Verfolgten gehört hatten. Während »In jenen Tagen« das Schicksal jüdischer Verfolgter nur streift, beschäftigte sich der Film »Morituri« (die zum Tode Geweihten) dezidiert mit dem Lager, dem Überleben und Fragen von Verantwortung und Schuld.45 Produzent Arthur Brauner, dessen Familie vor den deutschen Besatzern aus Polen in die Sowjetunion geflohen war und der sich nach dem Krieg in Berlin niederließ, 43 Ein Auto fährt durch zwölf Jahre, in: Der Spiegel, Nr. 24, 1947, S. 12. 44 Zu Käutner: Peter Cornelsen, Helmut Käutner. Seine Filme, sein Leben, München 1980. 45 Vgl. hierzu: Thiele, Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film, Kap. II. 1.

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produzierte diesen Film mit einer Lizenz der französischen Besatzungsbehörden im Winter 1947/1948 in Berlin-Tempelhof mit Eugen York als Regisseur. Brauner finanzierte das Projekt mit seiner ersten Filmproduktion, der operettenhaften Komödie »Herzkönig«. Obwohl er explizit eine Zusammenarbeit mit Wolfgang Staudte und Hildegard Knef ablehnte, denen er ihre Nähe zum NS-System vorwarf, zählten zu den Mitwirkenden – neben jüdischen Überlebenden und Remigranten – mehrere Personen, die sich in der NS-Filmindustrie exponiert hatten, allen voran der Regisseur York, der 1938 mit dem dokumentarischen Kurzpropagandafilm »Wort und Tat« sein Regiedebüt gehabt und Propagandabeiträgen für die Deutsche Wochenschau erstellt hatte. Auch der Komponist der Film­ musik Wolfgang Zeller hatte 1940 an Veit Harlans »Jud Süß« mitgewirkt.46 Diese Kontinuitäten hatten jedoch keinen Einfluss auf den dezidiert antifaschistischen Charakter des Films. Dieser beginnt mit einer Selektion in einem Lager, bei der ein polnischer Häftlingsarzt einer Gruppe von ausgemergelten und zerlumpten Häftlingen  – darunter Klaus Kinski als holländischem Häftling  – zur Flucht verhilft. Die Häftlinge verstecken sich in einem Waldstück, um auf die herannahende Rote Armee zu warten. Dort fällt ihnen ein Wehrmachtssoldat in die Hände. Sie wissen nicht, was sie mit ihm anfangen sollen. Während einige den Soldaten sogleich töten wollen, eröffnet ein ehemaliger jüdischer Strafverteidiger (verkörpert durch den aus dem britischen Exil heimgekehrten jüdisch-deutschen Schauspieler Josef Almas) ein Tribunal und plädiert dafür, den Deutschen leben zu lassen, da man über seine Schuld nichts wisse. Schließlich lässt ihn einer der ehemaligen KZ-Häftlinge laufen. Der Film ist damit einer der ersten deutschen Spielfilme, die das Elend der Lagerhäftlinge, aber auch Fragen von Schuld und Verantwortung der »einfachen Soldaten« thematisieren. Dies stieß beim deutschen Publikum – die deutsche Erstaufführung fand am 24. September 1948 in Hamburg statt, am 16. November 1948 wurde »Morituri« erstmals in Berlin gezeigt – auf vehemente Ablehnung. Der Film wurde ausgepfiffen und ausgebuht und war ein Kassenflop. Dazu bemerkte der deutsch-jüdische Publizist Curt Riess, der im Exil überlebt hatte: »Morituri wird im sowjetischen Sektor Berlins und in der Ostzone niemals aufgeführt. Auch im Westen ist es nicht leicht, den Film unterzubringen. In Berlin findet sich kein einziges Uraufführungstheater für ihn. Die Kinodirektoren sind überzeugt davon, dass ›so etwas‹ kein Geschäft werden kann. […] Nein, er wird kein Geschäft! Die Leute wollen ›so etwas‹ wirklich nicht mehr sehen oder vielleicht noch nicht. […] Sie sind der Ansicht, der Film sei antideutsch. […] In manchen Kinos wird der Film schon nach der ersten Vorstellung abgesetzt, weil die betreffenden Theater renoviert werden müssen. Das empörte Publikum hat nämlich die Sitze zusammengeschlagen. Und Artur Brauner verliert an diesem Film die letzte Mark, die er noch besitzt. Trotzdem bereut er keinen Augenblick, ihn gedreht zu haben, wird es auch später nie bereuen.«47 46 Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2007, S. 679. 47 Curt Riess, Das gibt’s nur einmal. Das Buch des deutschen Films nach 1945, Hamburg 1958, Kap. zu »Morituri« S. 166–172, hier 172.

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Beim Publikum beliebter war der in München gedrehte »erste deutsche Film der US-Zone«48 »Zwischen gestern und morgen«49 des Regisseurs Harald Braun, der im »Dritten Reich« noch Revuefilme mit Marika Rökk gedreht hatte. Dieser »Trümmer- und Rückkehrerfilm« aus dem Jahr 1947 – wieder mit Hildegard Knef in einer Hauptrolle – war in erster Linie ein Kriminalfilm. Er thematisierte die Judenverfolgung nur an einem Einzelbeispiel, den Beziehungen der unterschiedlichen Protagonistinnen und Protagonisten zur Jüdin Nelly Dreyfuß, die sich ihrer Verhaftung durch Selbstmord entzog. Fragen der gesellschaftlichen Beteiligung, Schuld und Verantwortung sowie die systematische Verfolgung und Ermordung der Juden werden hierbei jedoch ausgeblendet. Ein weiterer Film, der seinerzeit in München auf Veranlassung der US Army Information Control Division entstand und wohl von vornherein nur für ein begrenztes Publikum gedacht war, ist der aus Dokumentar- und Spielfilmelementen bestehende jiddischsprachige Film »Lang ist der Weg« aus dem Jahr 1947/48.50 Er war der erste deutsche Spielfilm der Nachkriegszeit, der sich explizit mit dem Leben von jüdischen Holocaust-Opfern bzw. -Überlebenden befasste und der einzige Film, der damals in Deutschland in jiddischer Sprache entstand. Der Regisseur Herbert B. Fredersdorf, der 1940 noch einen Gebirgsjägerpropagandafilm für die Ufa gedreht hatte, arbeitete mit dem Holocaust-Überlebenden Marek Goldstein zusammen. Der Film sollte dafür werben, dass jüdische Displaced Persons, Überlebende des Holocaust, die sich in der US-Besatzungszone befanden, in das britische Mandatsgebiet Palästina (ab 1948 Israel) ausreisen durften. In Rückblenden erzählt der Film die Geschichte einer jüdischen Familie aus Warschau, die zunächst ins Ghetto verbracht und von dort nach Auschwitz deportiert wurde. Nur der Sohn, David, kann aus dem Deportationszug fliehen, schließt sich den Partisanen an und lernt eine junge Frau, Dora Berkowitz, kennen, die ebenfalls ihre Familie verloren hat. Gemeinsam reisen sie in die US-Besat­ zungszone und gelangen in das DP-Camp in Landsberg am Lech. Hier nähren sie die Hoffnung, Deutschland bald verlassen und in einen jüdischen Staat – der zur Zeit der Produktion des Films noch nicht existierte – ausreisen zu können. Bei der Präsentation des Films war der Staat Israel bereits gegründet worden; er erlebte nur eine »limited release« und wurde nicht zu einem Publikumsfilm. Diese vier Beispiele verdeutlichen, dass die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und der Verantwortlichkeit der deutschen Tatbeteiligten in den deutschen Nachkriegsfilmen der 1940er Jahre auch unter den Augen der Besatzungsmächte nur einen begrenzten Raum einnahmen und – wie im Fall von »Morituri« – nicht immer auf ein geneigtes Publikum hoffen durften. Zudem waren die Ressourcen für die Produktion von Filmen begrenzt und die Möglichkeiten 48 Vgl. Kat hilft Michael, in: Der Spiegel, 20.12.1947, S. 48. 49 Vgl. Riess, Das gibt’s nur einmal, S. 142–144. 50 Vgl. hierzu: Cilly Kugelmann, Lang ist der Weg. Eine jüdisch-deutsche Film-Kooperation, in: Fritz Bauer Institut (Hg.), Auschwitz: Geschichte, Rezeption und Wirkung (= Jahrbuch 1996 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust), Frankfurt a. M. / New York 1996, S. 353–370.

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eingeschränkt. Erfahrenes Filmpersonal war oftmals selbst in die NS-Zeit verstrickt, andere waren selbst, wie Maetzig, Brauner und Goldstein, Menschen mit Verfolgungserfahrungen. 3.

Der polnische Film »Die letzte Etappe«

Ein Impuls für den Umgang mit den NS-Verbrechen, insbesondere dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, kam Ende der 1940er Jahre aus Polen. Am 8. September 1948 berichtete das Wochenmagazin Der Spiegel unter dem Titel »Film der Häftlinge. Preisgekrönt« über ein außergewöhnliches Kinoereignis im Kino Babylon im »Ostsektor« Berlins. Gezeigt wurde der polnische Film »Die letzte Etappe« von Wanda Jakubowska und Gerda Schneider:51 »Im ›Babylon‹-Kino des Berliner Ostsektors läuft der polnische Film ›Die letzte Etappe‹. Vor einem Jahr wurde der Streifen vom Vernichtungslager Auschwitz auf den Filmfestspielen von Marienbad preisgekrönt. […] Gequält, geprügelt, immer vom Transport zum Gasofen bedroht, finden die Frauen doch den Raum, auf dem sie als Menschen leben. Gegenseitige Freundschaft und ein gemeinsamer Kampf halten sie aufrecht. […] Nur Berufsschauspielerinnen, unter ihnen Barbara Drapinska, spielen Polinnen, Russinnen mit stolzen, meist slawischen und oft schönen Gesichtern und eine Französin, Huguette Saget. Alle sprechen im Film ihre Muttersprache. Die Scheußlichkeiten des deutschen Personals sind oft nicht mehr zu fassen. Die leidgedämpften Blicke und Gesten der Häftlinge machen den Film einprägsam und erfolgreich. Die Berliner Premierengäste klatschten, als Französinnen auf dem Wege zum Verbrennungsofen die Marseillaise singen, und als Häftlinge die Nachrichten aus Stalingrad bejubelten. Bei späteren Vorstellungen blieben die Zuschauer ruhig. Viele weinten.«52

Es ist erstaunlich, dass dieser Film vom Spiegel so positiv aufgenommen wurde, handelte es sich doch um einen polnischen Film einer dezidiert kommunistischen Regisseurin, der in der Ostzone gezeigt und preisgekrönt worden war und in dem Stalin als Befreier der Gemarterten gefeiert wurde. Immerhin enthält diese Filmbesprechung eine von insgesamt nur vier Erwähnungen, die das Wort »Auschwitz« im Wochenmagazin Der Spiegel im Jahr 1949 findet – vier Jahre nach der Befreiung des Lagers und nur neun Jahre nach seiner Errichtung; bis 1960 wurde das Wort nur 55 Mal in dem Wochenmagazin erwähnt.53 51 Vgl. hierzu: Marek Haltof, Return to Auschwitz: Wanda Jakubowska’s »The last stage« (1948), in: The Polish Review, Vol. 55, No. 1 (2010), S. 7–34; Ders., Polish Film and the Holocaust: Politics and Memory, New York / Oxford 2012. 52 Der Spiegel, Nr. 37, 08.09.1949, S. 32. 53 Eigene Suche im Spiegel-Archiv: https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-1949.html; https://www.spiegel.de/dienste/besser-surfen-auf-spiegel-online-suchen-im-archiv-a-​ 676489.html. Dies mag als ein Indikator für die geringe öffentliche Bedeutung gelten, die

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»Die letzte Etappe« wurde 1947 am Originalschauplatz in Auschwitz-Birkenau gedreht und verwendet bzw. zitiert die oben angeführten dokumentarischen Originalaufnahmen, die von Filmoffizieren der Roten Armee nach der Befreiung von Auschwitz im Februar 1945 gedreht worden waren. Thematisiert werden nicht nur der Heroismus der weiblichen Häftlinge und der polnischen Widerstandskämpfer, der Film erwähnt auch jüdische Frauen explizit als Häftlinge, wobei deren Schicksal nicht von dem anderer unterschieden wird, die ebenso zur Gaskammer gebracht werden. Auch die Täter und Täterinnen und ihre Motive werden – zum Teil in einer persiflierenden Form – thematisiert. Ein besonderes Merkmal des Films ist die Tatsache, dass – obwohl fast alle Schauspieler und Schauspielerinnen polnisch sind – diejenigen, die deutsches Wachpersonal darstellen, auch Deutsch sprechen. Für die weibliche »SS-Kommandantin«, die im Film eine zentrale Rolle spielt, diente offenbar Maria Mandl als Vorbild. Die Österreicherin war als Oberaufseherin im Frauenlager von Auschwitz-Birkenau und des Konzentrationslagers Ravensbrück tätig und wurde am 24. Januar 1948 nach dem Krakauer Auschwitz-Prozess als Kriegsverbrecherin gehängt.54 Zur selben Zeit entstand in Polen der Film »Ulica Graniczna« (Die Grenzstraße)  über das Warschauer Ghetto und den Ghettoaufstand 1943. Dieser Film des polnisch-jüdischen Filmregisseurs Aleksander Ford, der 1945 mit den sowjetischen Truppen zu den Befreiern Majdaneks gehört hatte und den Film »Majdanek – cmentarzysko Europy« (Majdanek – der Friedhof Europas) drehte,55 gewann 1948 bei den 9. Internationalen Filmfestspielen von Venedig den Grand Prix und kam im Sommer 1949 in die polnischen Kinos. Anders als Wanda Jakubowskas Film wurde »Grenzstraße« erst am 16. April 1962 im DDRFernsehen auch einem deutschen Publikum präsentiert.

diesem Ort noch in der frühen Bundesrepublik zugemessen wurde. Die folgenden Zahlen geben einen Hinweis darauf, wie sich dies in der Folgezeit veränderte: Die Suche nach dem Wort »Auschwitz« ergab für den Zeitraum 1961 bis 1970 insgesamt 314 Treffer, für 1971 bis 1980 550, für 1981 bis 1990 987 und für 1991 bis zum 31.12.2004 sogar 2.399 Treffer. 54 Monika Müller, Die Oberaufseherin Maria Mandl. Werdegang, Dienstpraxis und Selbstdarstellung nach Kriegsende, in: Simone Erpel (Hg.), Im Gefolge der SS: Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück, Begleitband zur Ausstellung, Berlin 2007, S. 48–58. 55 Vgl. hierzu: Edyta Gawron, Contemporary History of Jews in Poland (1945–2005) – as Depicted in Film, abrufbar unter: http://icj.huji.ac.il/conference/papers/Edyta%20Gawron. pdf (zuletzt aufgerufen am 20.03.2016); Haltof, Polish Film and the Holocaust.

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IV. Kontroversen um Antisemitismus und Film 1.

Der britische Film »Oliver Twist« von Oliver Lean und sein Debüt in Berlin

Eine weitere von den insgesamt nur vier Erwähnungen, die das Wort »Auschwitz« im Jahr 1949 im Spiegel fand, galt dem »ersten großen Nachkriegs-Filmskandal«, wie das Wochenmagazin reißerisch unter der markigen Überschrift »Erschießt uns doch. Twist-Zwist« am 26. Februar 1949 aufmachte.56 Sogar »Goebbels’ ›weiße Mäuse‹  … gegen den Remarque-Film ›Im Westen nichts Neues‹« – ein Bild, das den Spiegel-Leserinnen und -Lesern offenbar noch präsent war – hätten da nicht mithalten können. Es ging um den britischen Film »Oliver Twist« nach dem gleichnamigen Roman von Charles Dickens, den Oliver Lean ein Jahr zuvor realisiert hatte und der nun in der – mittlerweile in einen Biomarkt umgewandelten – »Kurbel« in Berlin-Charlottenburg gezeigt werden sollte. Die Jüdische Gemeinde hatte protestiert, dass der Film aufgrund der Darstellung des von Alec Guinness gespielten jüdischen Diebeskönigs Fagin – einem »bösartigen Kerl, der Kinder, auch Oliver Twist, zu Taschendieben abrichtet« und den Dickens einen »garstig aussehenden, abstoßenden alten Juden« genannt hatte – antisemitischen Tendenzen Vorschub leiste und auf einer Stufe mit Veit Harlans »Jud Süß« stehe. Überlebende jüdische Displaced Persons demonstrierten daraufhin vor der »Kurbel« und wurden von den Berliner Schupos unter Einsatz von Schlagstöcken gewaltsam auseinandergetrieben. Dabei gab es mindestens 35 Verletzte und drei Festnahmen. Der Spiegel berichtete: »Schläge prasselten. Anschließend Steine, von den Demonstranten geworfen. Die Polizei wich zurück und griff zum kalten Wasserstrahl. Der konnte die erhitzten Gemüter nicht beruhigen, zumal er schnell versiegte. Ein DP hatte den Schlauch zerschnitten. ›Erschießt uns doch‹, riefen die Demonstranten und öffneten die Jacketts. Die deutschen Polizisten zeigten keine Neigung. Es waren viele ältere Männer unter ihnen, die trotz Sturmriemen am Kinn wenig aggressiv aussahen. […] Die deutschen Polizisten kannten den Film nicht, für den sie sich schlugen. ›Olivar heißt er, oder so ähnlich‹, sagte einer. Die Demonstranten hatten Englands verpöntes Spitzenprodukt auch nicht gesehen. ›Es geht hier um Prinzipien‹, beharrten sie. Der Film sei überall verboten. Es sei unverständlich, daß er ausgerechnet in Deutschland gezeigt werden solle. ›Zeigt lieber Auschwitz.‹ […] Erich Borchardt, Repräsentant der jüdischen Gemeinde, gab in jiddischer Sprache bekannt, der Film sei abgesetzt und werde nicht mehr gespielt. Die Demonstranten nahmen Borchardt auf die siegreichen Schultern und zogen, die jüdische Nationalhymne auf den Lippen, in ihr Kurfürstendamm-Hauptquartier zurück, die Bar ›Barbarina‹. Die Zuschauer verliefen sich. […] 56 Der Spiegel, Nr. 9, 26.02.1949, S. 25 f.; vgl. auch »Antisemitismus und DP’s«, in: Die Zeit, 03.03.1949, abrufbar unter: https://www.zeit.de/1949/09/antisemitismus-und-dps (zuletzt aufgerufen am 17.04.2020).

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Antisemitische Kundgebungen gab es nicht. Nur einzelne Zivilisten nahmen gegen die DPs Stellung. ›Die haben wir uns gemerkt‹, murrten die.«57

Die internationale Presse war geschockt und zeigte Bilder von deutschen Schupos, die Juden verhafteten. Das amerikanische Life Magazine vom 7. März 1949 berichtete unter der Überschrift »Fagin in Berlin provokes Riot« und machte mit der Zeile auf: »The pictures from Berlin last week were like pictures of an old nightmare. Here again, as there had been a decade ago, were club-swinging police and mauled and battered Jews.«58 Der damalige Oberbürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, bekniete nach den Protesten die britischen Militärbehörden, den Film zurückzuziehen. Diese verweigerten ein Eingreifen, allerdings setzten die Kinobetreiber nach nur drei Tagen alle weiteren Vorführungen ab. Auch in den USA wurde der Film aufgrund der Antisemitismusvorwürfe zunächst nicht aufgeführt. Seine Premiere erlebte »Oliver Twist« dort erst 1951, nachdem mehrere Szenen mit Fagin geschnitten wurden. Auch in Deutschland kam diese geschnittene Version des Films erst im September 1951 wieder in die Kinos. 2.

Kontroverse um Veit Harlans »Unsterbliche Geliebte«

Die Auseinandersetzung mit antisemitischen Filmen spielte in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch im Falle des bereits im oben zitierten Protestbrief der Jüdischen Gemeinde zu Berlin erwähnten Veit Harlan eine wichtige Rolle: Harlan war nach dem Krieg wegen seines antisemitischen Films »Jud Süß«59 von der »Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen« und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) angezeigt und nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 wegen Beihilfe zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt worden. Den Film »Jud Süß« hatten während des Krieges 19 Millionen Menschen gesehen. Nach Filmvorführungen war es mancherorts zu pogromartigen Ausschreitungen gekommen. Außerdem hatte der Reichsführer SS Heinrich Himmler am 30. September 1940 angeordnet: »Ich ersuche Vorsorge zu treffen, dass die gesamte SS und Polizei im Laufe des Winters den Film ›Jud Süß‹ zu sehen bekommt.«60 Um den Hass gegen Juden anzustacheln, war der Film daher SS- und Polizeieinheiten vor »Judenaktionen« in den besetzten Ostgebieten ebenso gezeigt worden wie Angehörigen der Lagermannschaft von Auschwitz.61 57 Ebd. 58 Life Magazine, 07.03.1949, S. 38 f. 59 Zu »Jud Süß«, siehe Fn. 39. 60 Der Erlass erging am 15. November 1940. Er ist abgedruckt bei Erwin Leiser, Deutschland, erwache! Propaganda im Film des Dritten Reiches, Reinbek 1978, S. 80. 61 Vgl. die Aussage von Stefan Baretzki im Auschwitz-Prozess, siehe Hermann Langbein, Der Auschwitz-Prozess – Eine Dokumentation, Bd. 1, Wien 1965, S. 208.

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Das Schwurgericht in Hamburg sprach Harlan am 23. April 1949 jedoch vom Vorwurf der Verbrechen gegen die Menschlichkeit frei, weil ihm eine persönlich zurechenbare Schuld nicht nachzuweisen und eine strafrechtlich relevante Kausalität zwischen Film und Völkermord nicht beweisbar sei. Der Oberste Gerichtshof für die britische Zone in Köln hob das Urteil auf: Schon die Herstellung des Films »Jud Süß« habe sich von vornherein gegen die Juden gerichtet. Der Film habe die Juden in der Öffentlichkeit herabgewürdigt und dadurch ihre Menschenrechte verletzt und andere zu Angriffen gegen die Juden angestachelt. Als Teil der NS-Propaganda habe der Film daher den Boden für die Judenverfolgung bereitet: »Erst die unablässige, planvolle von Staat und Partei mit allen Mitteln moderner Massenbeeinflussung jahrelang folgerichtig durchgeführte völlig einseitige judenfeindliche Propaganda, der Andersgesinnte und auch die Juden selbst infolge der staatlichen Unterdrückung nichts entgegenzusetzen vermochten, hat bei zahlreichen Deutschen einen Meinungsumschwung zu Ungunsten der Juden bewirkt, zumindest aber die weitere abwehrende Anteilnahme an deren Schicksal erschwert und teilweise überdeckt. Die Nationalsozialisten haben es also vermocht, das Rechtsgewissen des deutschen Volkes abzulenken und abzustumpfen. Nur auf dem so vorbereiteten Boden aber war die Judenverfolgung mit ›gesetzlichen‹ und offen ungesetzlichen Mitteln bis hin zur sogenannten ›Endlösung‹ überhaupt erst möglich. Kleinere Kreise mögen diese Maßnahmen von vornherein aus den verschiedensten Gründen gebilligt haben. Das Volk aber in seiner Gesamtheit mußte erst dazu veranlaßt werden, sie hinzunehmen und an ihrer Durchführung teilweise mitzuwirken. Hätten sich weite Kreise immer wieder offen oder versteckt gegen die Judenverfolgung gewandt, wie im Falle der Tötung von Geisteskranken dies besonders durch die Kirchen beider christlichen Bekenntnisse geschah – so wäre diese Steigerung des Terrors auf die Dauer undurchführbar gewesen, mindestens aber sehr erschwert und gehemmt worden. Auch die Nationalsozialisten bedurften […] des Widerhalls ihrer Maßnahmen im Volke.«62

Mit seiner »bildhaft-eindringlichen« Darstellung eines bösen und gemeinen Juden habe der Film dem NS-Antisemitismus mehr volkstümliche Breitenwirkung verschafft und die letzte »außerordentliche Verschärfung der Judenverfolgung« vorbereitet: »Während man die Juden im Osten und in den Konzentrationslagern massenweise tötete oder unausbleiblichen Seuchen hilflos aussetzte, verhetzte und ›beruhigte‹ man das deutsche Volk in dieser Beziehung durch eine wohlberechnete Massenpropaganda, deren Kern die Behauptung war, daß man sich der ›Jüdischen Schädlinge‹ nur auf diese Weise wirksam entledigen könne und sie dieses Schicksal im Interesse der Erhaltung des deutschen Volkes auch verdienten. Ein nicht unwesentliches Werkzeug dieser zur Vernichtung der Juden gehörenden Hetze war der Film ›Jud Süß‹.«63 62 Urteil des OGH (Z 21/776, fol. 199–213), zit. nach: Martin Broszat, Siegerjustiz oder strafrechtliche »Selbstreinigung«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 29 (1981), H. 4, S. 477–544, hier 537–539. 63 Ebd., S. 539.

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Dieser beeindruckenden Argumentation des Obersten Gerichtshofes wollte das Hamburger Schwurgericht letztlich jedoch nicht mehr folgen und blieb bei seiner Entscheidung: Harlan wurde freigesprochen.64 Damit war der Fall Harlan jedoch noch nicht zu Ende.65 Der Hamburger Senatsdirektor und Leiter des Presseamtes, Erich Lüth, rief 1950 in einer Rede zur Eröffnung der »Woche des deutschen Films« und über die Presse dazu auf, den im selben Jahr unter der Regie von Veit Harlan entstandenen Film »Unsterbliche Geliebte« mit Harlans zweiter Ehefrau Christina Söderbaum in der weiblichen Hauptrolle zu boykottieren. Der Regisseur von »Jud Süß« sei am wenigsten geeignet, den im Nationalsozialismus verwirkten moralischen Ruf des deutschen Films wiederherzustellen.66 Die Produktions- und Verleihfirma für den Film erwirkte daraufhin beim Landgericht Hamburg eine einstweilige Verfügung gegen Lüth. Dieser wehrte sich gegen den Maulkorb mit einer Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Er machte geltend, in seinem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz verletzt worden zu sein, und erhielt am 15. Januar 1958 Recht. Die sogenannte Lüth-Entscheidung gilt heute allgemein als Meilenstein. Sie stellte wichtige Weichen für den demokratischen »Gebrauch« der Grundrechte und trug so wesentlich zur Demokratisierung der noch jungen Bundesrepublik bei.67

V. Fazit Die Verbrechensgeschichte des Nationalsozialismus  – und damit, wenn auch nicht explizit, der Holocaust – wurde schon unmittelbar nach dem Krieg in einer Reihe von Dokumentar- und Spielfilmen thematisiert. Das deutsche Publikum 64 In einem weiteren Prozess vor dem Landgericht Hamburg berief sich Harlan dann darauf, zur Regie von »Jud Süß« gezwungen worden zu sein, eine Weigerung hätte ihn in eine bedrohliche Lage gebracht. Das Gericht folgte dieser Argumentation und sprach Harlan am 29. April 1950 frei. Hierzu: Thomas Henne / A rne Riedlinger (Hg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 2005, S. 419–434, bes. S. 434; Michael Reissenberger, Der Fall Lüth. Ein Bürger schreibt Verfassungsgeschichte, Sendung des Deutschlandfunks, 11.05.1999 (Reihe Verfassungsgeschichten). Siehe auch: Dieter Grimm, Die Karriere eines Boykottaufrufs, in: Die Zeit, Nr. 40, 27.09.2001; Christine Franzius, Das »Lüth«-Urteil in (rechts-)historischer Sicht  – Perspektiven der Forschung zur Grundrechtsjudikatur der 1950er Jahre, Frankfurt a. M., 20.–21.02.2003, Tagungsbericht in: H-Soz-Kult, 27.03.2003, abrufbar unter: http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/ tagungsberichte-198 (zuletzt aufgerufen am 21.04.2020). 65 Hierzu: Harlan: sein »Fall« und sein Film, in: Die Zeit, Nr. 5, 01.02.1951. 66 Norbert Frei, Transformationsprozesse. Das Bundesverfassungsgericht als vergangenheitspolitischer Akteur in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, in: Michael Stolleis (Hg.), Herzkammern der Republik. Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht, München 2011, S. 64–81, hier 79. 67 Friedrich Kübler, Lüth  – eine sanfte Revolution, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 83 (2000), S. 313–322.

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wurde mit dieser Geschichte im Gerichtssaal, in den Kriegsgefangenenlagern und auch in den Kinos konfrontiert. Die Dokumentarfilme der Alliierten brachten Bilder hervor, die bis heute der Visualisierung des Holocaust dienen, obgleich die Spezifika des Judenmordes im »Osten« damals noch nicht erkannt wurden oder in der Sowjetunion ausdrücklich nicht thematisiert werden durften, als die sowjetische Armee die Tatorte des Holocaust im Osten entdeckte und befreite. Das im Rahmen alliierter Reeducation-Bemühungen gesetzte Ziel, durch Filme über die deutschen Massenverbrechen die deutsche Bevölkerung aufzuklären und eine Abkehr vom Nationalsozialismus zu erreichen, brachte aus alliierter Perspektive – im Hinblick auf die hochgesteckten Erwartungen – offenbar nicht den erwünschten Erfolg.68 Die Angesprochenen reagierten individuell sehr unterschiedlich: mit Scham, Trauer, Unglauben oder eben trotziger Schuldabwehr. Inwieweit derartige Gefühle überhaupt messbar sind und / oder gar als Gradmesser für eine Veränderung der Grundhaltung, für Scham, Schuld und Einsicht dienen können, ist heute kaum mehr feststellbar. Immerhin scheinen die Filme nach Augenzeugenberichten nicht nur auf die Angeklagten in Nürnberg und das Publikum eine verstörende Wirkung gehabt zu haben. Die Konfrontation mit den Themen Tatbeteiligung, Verantwortung, Schuld und Scham erfolgte in geringerem Maße auch im Rahmen von Spielfilmen. Unter der Aufsicht der Siegermächte entstanden sowohl in der SBZ als auch in den westlichen Besatzungszonen Filme, die auch die Verfolgung und die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung und hiermit verbunden Fragen von Schuld und Verantwortung thematisierten. Dies geschah bei den hier präsentierten Beispielfilmen jedoch nur selten so explizit wie in Brauners Film »Morituri«, der beim Publikum auf Ablehnung stieß. Der Publikumserfolg, den die beiden DEFA-Filme »Die Mörder sind unter uns« und »Ehe im Schatten« mit ihren »rückwärtsgewandten« Themen auch im Westen hatten, blieb unmittelbar nach dem Krieg eher eine Ausnahme. Im Westen setzte man mit Filmen wie »Es geschah in jenen Tagen« oder »Zwischen gestern und morgen« stärker auf Zerstreuung und Unterhaltung. Bezüge zur Verfolgungsgeschichte waren weniger explizit oder wurden in die Rahmenhandlung eines Kriminal- oder Abenteuerfilms eingebettet; eine klare Zuweisung von Schuld und Verantwortung wie bei »Die Mörder sind unter uns« unterblieb. Das Verfolgungsschicksal jüdischer Menschen wurde nur als Teil einer »Gesamtkatastrophe« dargestellt, für die »die Nazis« die Verantwortung trugen, nicht jedoch die oder der einzelne Deutsche. Der unter US-Aufsicht produzierte jiddischsprachige DP-Film »Lang ist der Weg« bildet da eine Ausnahme, aber er richtete sich nicht an das deutsche Kinopublikum und wurde auch kaum gezeigt. Die letzten beiden präsentierten Beispiele »Oliver Twist« und der Streit um Harlans »Unsterbliche Geliebte« zeigen jedoch auch, dass Antisemitismus in Filmen und unter Filmschaffenden bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit 68 Vgl. hierzu die Verweise in Fn. 15.

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von einem kritischen Publikum thematisiert wurde – wenn auch nicht von der breiten Mehrheit. Diese Diskussion setzte wichtige Impulse für die Auseinandersetzung mit dem Holocaust, wie nicht zuletzt das OGH-Urteil zu Harlan deutlich macht. Bemerkenswert ist allerdings auch, dass in der Presseberichterstattung weiterhin antijüdische Ressentiments mitschwangen. Das Klima des Kalten Krieges und die sich seit 1947 abzeichnende Spaltung zwischen West und Ost begünstigten eine ehrliche und kritische Auseinandersetzung mit der Verantwortung für die eigene jüngste Verbrechensgeschichte nicht, sondern beförderten eher die Polarisierung dieser wichtigen gesellschaftlichen Fragen. In der Bundesrepublik nahm in der Folgezeit die Zahl der Filme mit Bezug auf das »Dritte Reich« kontinuierlich ab. Die überwiegende Mehrheit des Publikums, die sich in Folge von Zerstörung, Kriegsverlusten, Flucht und Vertreibung selbst als Opfer sah, wollte nicht mit dem Leid der jüdischen Bevölkerung und der eigenen Beteiligung und Verantwortung konfrontiert werden. Der marktwirtschaftlich orientierte westdeutsche Film passte sich den Publikumswünschen nach Heimatfilmen und seichter Kost an. Damit vollzog sich im Film eine Entwicklung, die dem gesamtgesellschaftlichen  – hier anhand der Rosenburg dargestellten – Klima des Vergessenwollens, Verdrängens und Beschweigens (»Omertà«) entsprach. Nur einzelne Filme wie Staudtes »Rosen für den Staatsanwalt« setzten hier ironische Kontrapunkte und zeichneten damit die Veränderungen voraus, die Ende der 1950er / Anfang der 1960er Jahre einsetzten – gemeinsam mit den großen Holocaust-Prozessen in Ulm, Frankfurt und vielen anderen Städten, aber auch einer »antisemitischen Welle«, die die junge Republik seit dem Ende der 1950er Jahre erschütterte und in der Schändung der Kölner Synagoge an Weihnachten 1959 gipfelte. Erst jetzt begann eine kritische Auseinandersetzung. Adenauer reiste 1960 nach Bergen-Belsen. Der Volksverhetzungsparagraf wurde geschaffen und der Bundestag befasste sich mit der Verjährung der NS-Gewalttaten. Die Gesellschaft veränderte sich. NS-Kontinuitäten wurden öffentlich thematisiert. Impulse hierzu kamen oft aus der DDR, die als Antwort auf das KPD-Verbot 1956 durch das Bundesverfassungsgericht die »Blutrichterkampagne« initiierte und Braunbücher zur Vergangenheit hoher Amtsträger in der Bundesrepublik herausgab. In der DDR, die sich als das andere und bessere Deutschland verstanden wissen wollte, entstanden damals weiterhin dezidiert »antifaschistische« Filme, allerdings blendeten sie – im Zuge der Moskauer Ärzteprozesse und des Slánsky-Prozesses  – den Holocaust und die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung weitestgehend aus oder ordneten sie der Verfolgung des kommunistischen Widerstands unter, wie dies auch bei den offiziellen Mahn- und Gedenkveranstaltungen und in den Gedenkstätten geschah.

Raphael Gross

Wo stehen wir heute im Umgang mit dem Nationalsozialismus?

Die sogenannte Aufarbeitung der NS -Vergangenheit und insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den europäischen Juden war von Anfang an ein langer und schwieriger Prozess. Und wo stehen wir mit diesem Prozess heute? Für das Verständnis der gegenwärtigen Situation erscheint mir ein Aspekt besonders interessant und irritierend zu sein. Man könnte ihn den Vorgang der »Etablierung« der Holocaust-Erinnerung, des HolocaustGedenkens, nennen. Ich glaube, es ist wichtig, zu sehen, dass sich mit diesem Vorgang vieles verändert hat, dass dieser Prozess aber gleichzeitig gerade nicht bedeutet, dass die Auseinandersetzung mit dem Holocaust abgeschlossen ist, als ob die NS -Verbrechen nun, wie man so sagt, vollständig »Geschichte« geworden seien. Von Anfang an gab es in der Bundesrepublik eine offiziell geförderte Forschung der »Geschichte der nationalsozialistischen Zeit«, wie etwa an der Gründung des Instituts für Zeitgeschichte im Jahr 1949 deutlich wird. Dennoch kann man sagen, dass die Erforschung und Dokumentation des Holocaust in Deutschland, aber nicht nur dort, wesentlich von jüdischen Überlebenden voran­ getrieben wurde. Welchen Schwierigkeiten diese Überlebenden wie H. G. Adler, Joseph Wulf und andere gegenüberstanden, ist inzwischen erforscht worden. Daher wissen wir, wie wenig jüdische Historiker wie Joseph Wulf von der deutschen Zeitgeschichtsschreibung als »ernsthafte« Forscher, als wissenschaftlich wichtige Stimmen geachtet wurden. Wulf, der die Jahre von 1941 bis 1945 im Ghetto und Konzentrationslager verbracht hatte und seit den 1950er Jahren in Berlin unermüdlich an der zeitgeschichtlichen Erforschung, Aufklärung und Dokumentation des Völkermords an den europäischen Juden arbeitete, blieb zeit seines Lebens marginalisiert. Deutsche Historiker charakterisierten seine Äußerungen als subjektiv, emotional verzerrt, während sie sich selbst als objektiv, wissenschaftlich und gleichsam an der Spitze der historischen Aufklärung stehend ansahen – und das in der Kommunikation auch zum Ausdruck brachten. Wulfs Entscheidung, bei seiner Darstellung etwa auch der Juristen auf »Diskretion« zu verzichten und Namen zu nennen, führte damals noch dazu, dass man in Bezug auf seine Bücher von einem »denunziatorischen Ton« sprach. Noch in den 1960er Jahren, als Wulf sich mit anderen dafür einsetzte, dass die »Wannsee-Villa«, damals noch von der Berliner SPD gepachtet, in ein Dokumentationszentrum und Institut zur Erforschung des Nationalsozialismus

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umgewandelt werden sollte, konnte sich diese Idee nicht durchsetzen. Wulf blieb bis zu seinem Tod – er nahm sich im Jahr 1974 in Berlin-Charlottenburg das Leben – ein Außenseiter der deutschen Gesellschaft. Etwa 30 Jahre nach dem Tod Wulfs hatte sich die Situation deutlich verändert. Spätestens mit der 1988 erfolgten Eröffnung des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main durch Helmut Kohl wurde das Thema mehr und mehr – sowohl was die deutsch-jüdische Geschichte als auch was die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und der deutschen Gesellschaft anbelangt – etabliert. Es war die Zeit, in der zunehmend von der deutschen Erinnerungskultur gesprochen wurde. In diese Zeit fällt die Eröffnung des Jüdischen Museums in Berlin, der Topographie des Terrors und der von Joseph Wulf noch 30 Jahre zuvor vergeblich gewünschten Erinnerungsstätte in der Wannsee-Villa, die Errichtung des Holocaust-Mahnmals in Berlin Mitte und schließlich auch die schrittweise Erforschung der Geschichte der Ministerien im Nationalsozialismus und – was neu hinzukommt – in der Bundesrepublik der 1950er, 1960er und 1970er Jahre. Vielleicht war es gar kein Zufall, dass es Joschka Fischer war, der die erste Untersuchung der Geschichte eines Ministeriums im Nationalsozialismus einschließlich seiner Nachgeschichte in der Bundesrepublik initiierte  – ein ehemaliger Straßenkämpfer und Taxifahrer, der sich noch in Turnschuhen zum Minister hatte vereidigen lassen, um seine Haltung gegen das damalige Establishment zum Ausdruck zu bringen. Anlass war ein Nachruf für einen verstorbenen ehemaligen leitenden Beamten des Außenministeriums, Franz Roman Nüßlein (1909–2003), der in der Amtszeitung des Ministeriums veröffentlicht worden war. Der Beamte hatte im Nationalsozialismus im Protektorat Böhmen und Mähren eine höhere Funktion ausgeübt; als Fischer auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht wurde, wurde ihm klar, dass sich unter denen, die mit Nachrufen in der Zeitschrift bedacht wurden, nicht wenige ehemalige Mitglieder der NSDAP oder anderer nationalsozialistischer Organisationen befanden. Als Fischer dann durch einen Erlass untersagte, Nachrufe für solche Amtsträger, die in der NSDAP gewesen waren, weiter erscheinen zu lassen, löste er damit eine Kontroverse aus. Sie führte zur Einsetzung einer unabhängigen Historikerkommission, deren Auftrag sich ausdrücklich darauf bezog, nicht nur die Geschichte des Außenministeriums im Nationalsozialismus, sondern auch das Nachwirken des Nationalsozialismus in der frühen Bundesgeschichte zu erforschen und darzustellen. Zum Zeitpunkt dieser Kontroverse, so scheint es von heute aus betrachtet, waren die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und die Erinnerung an den Holocaust gleichsam an der Spitze der deutschen Gesellschaft angekommen. In Deutschland hatten – weitaus mehr als in den anderen Ländern Europas – alle Bestrebungen, den Holocaust ins Zentrum der »Erinnerungskultur« zu stellen, immer diese besondere politische Komponente gehabt, dass sie immer auch gegen jene durchaus nicht kleine Gruppe der Täter, Verbündeten und Mitläufer, die Teil der etablierten Gesellschaft waren, gerichtet war. Es war die Zeit, in der

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die direkten Täter starben und diejenigen, die ihnen noch mit Loyalitätsgefühlen verbunden gewesen waren, in Pension gingen und so ihren Einfluss verloren. Es schien daher für eine kurze Zeit, als seien die einflussreichsten Gegner einer aufrichtigen Auseinandersetzung mit dem Holocaust von der Bildfläche verschwunden. Gegen sie und ihren Widerstand, so schien es, hatten sich Angehörige einer Generation durchgesetzt, die sich in vielerlei Hinsicht uneins war, für die aber die Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus so etwas wie einen über die Parteien und Gruppierungen hinweg reichenden politischen Konsens darstellte. In diesem Kontext steht die Studie über die Geschichte der Rosenburg. Diese Studie hat mit ihrer genauen Untersuchung und Analyse der Geschichte des Justizministeriums eine weitere Perspektive auf die Gesellschaft der Bundes­ republik in der Nachkriegszeit eröffnet. Sie geht ja nicht nur den personellen Kontinuitäten nach und zeigt, wie Netzwerke von ehemaligen Nationalsozialisten in diesem Ministerium dazu beitrugen, die Aufklärung von NS-Verbrechen zu verschleppen, zu behindern oder ganz zu verhindern. Sie stellt auch dar, wie Elemente der NS-Ideologie wie selbstverständlich in Gesetzesvorlagen einflossen. Da stehen wir nun heute. Fast. Denn zwischen der Etablierung der NS-Forschung, der Aufdeckung der Kontinuitäten des NS-Regimes in der Nachkriegszeit etwa in den Ministerien und unserer jetzigen Situation hat sich schon wieder etwas bewegt. Offensichtlich, so sehen wir heute, war diese Zeit der Etablierung der Erinnerungskultur nur eine Phase in der Nach- und Wirkungsgeschichte des Holocaust. Heute gibt es starke und laute Kräfte in der Gesellschaft, die diese Erinnerungskultur als eine »Moral von oben«, als eine den Deutschen aufgezwungene und schädliche Moral denunzieren. Dieser Vorwurf hat historische Wurzeln im Nationalsozialismus selbst. Der Nationalsozialismus war ja nicht nur eine schreckliche Praxis, sondern auch eine schreckliche Mentalität und vertrat eine wie auch immer verquere »Moral«. Dieses Fortwirken muss uns immer bewusst sein, gerade wenn wir manchmal denken sollten, eine gelungene Aufarbeitung des Nationalsozialismus, eine eindrucksvolle Erinnerungskultur würden jemals das Geschehene ungeschehen machen. Unsere Beiträge, wie in der »Rosenburg«-Publikation oder im vorliegenden Band, sind aber wichtige Ressourcen, um Vergangenheit und Gegenwart besser zu verstehen. Und damit haben wir auch eine Chance, die Wirkung zu beeinflussen, die diese Vergangenheit auf die Gegenwart hat. Ich selber habe versucht, mich mit dem Fortwirken – insbesondere von Moral und Mentalität – des Nationalsozialismus in die Gegenwart hinein zu beschäftigen. Wir sehen heute, dass diese Mentalität sich nicht einfach auf bestimmte Generationen beschränkt hat und schließlich mit ihnen ausgestorben ist, sondern dass sie tradiert, modifiziert, erweitert werden kann. In der Auseinandersetzung mit dieser Mentalität sind wir heute wieder verstärkt gefordert – stehen dabei aber nicht am Anfang. Theoretiker wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, wie Erich Fromm, Leo Löwenthal, aber auch Aurel Kolnai haben

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herausragende Arbeit zum Verständnis sowohl des Entstehens wie der Funktionsweise des Nationalsozialismus als einer spezifischen Mentalität geleistet, und es ist ein Glück und ein großes historisches Geschenk, dass wir in der heutigen Situation auf solche Arbeiten zurückgreifen können.

Literaturhinweise

1.

Publikationen zum Rosenburg-Projekt

Begleitbroschüre zur Wanderausstellung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz »Die Rosenburg – Das Bundesjustizministerium im Schatten der NS-Vergangenheit«, die seit Sommer 2017 gezeigt wird, abrufbar unter: https:// www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Rosenburg_Ausstellungskatalog. pdf?__blob=publicationFile&v=12. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Hg.): Die Rosenburg. Informationen zur Arbeit der UWK zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im BMJ, Informationsbroschüre, 2016. Görtemaker, Manfred / Safferling, Christoph: Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016. Görtemaker, Manfred / Safferling, Christoph (Hg.): Die Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit  – eine Bestandsaufnahme, Göttingen 2013. Die Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und sein Umgang mit der NS-Vergangenheit. Reden von Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Professor Dr. Manfred Görtemaker und Professor Dr. Christoph Safferling, in: Druckschrift des Bundesministeriums der Justiz (Stand: Juni 2012), abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Rosenburg_Symposium_1. pdf?__blob=publicationFile&v=9. Die Rosenburg. Informationen zur Arbeit der Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Stand: August 2016), abrufbar unter: https:// www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Rosenburg_Broschuere.pdf?__ blob=publicationFile&v=11.

2. Rosenburg-Symposien 1. Symposium »Die Rosenburg«: Eröffnungssymposium zum Arbeitsbeginn der »Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission beim Bundesministerium der Justiz zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit«, Kammergericht Berlin, 26. April 2012 (Bestandsaufnahme der Forschungen zur deutschen Justiz, deren Ergebnisse im 2013 erschienenen Band »Die Rosenburg« veröffentlicht werden). 2. Symposium »Die Verantwortung von Juristen im Aufarbeitungsprozess«, Vorträge gehalten am 5. Februar 2013 im Schwurgerichtssaal des Landgerichts NürnbergFürth, in: Druckschrift des Bundesministeriums der Justiz (Stand: Juni 2013), verfügbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Rosenburg_ Symposium_2.pdf.

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Literaturhinweise

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Personenregister

Adenauer, Konrad  68, 91, 109, 116, 136, 150, 208, 209, 310, 328, 338, 341 Adler, H. G.  375 Adorno, Theodor W.  48, 342, 377 Almas, Josef  365 Arendt, Hannah  199, 327 Arndt, Adolf  119, 336 Bach, Gabriel  327 Baeck, Leo  339–341, 343–346 Bajohr, Frank  46 Bärensprung, Horst  306 Barley, Katarina  275 f., 304 Bauer, Fritz  10, 11, 15, 67, 87, 92, 139, 150, 222, 225 f., 231, 237, 258, 305, 315, 319, 326 f. Baur, Fritz  290 Beck, Helmut  364 Beethoven, Ludwig van  338 Begin, Menachem  208 Behling, Kurt  94 Bergengruen, Werner  342 Bernstein, Sidney  358 Bersarin, Nikolai  360 Best, Werner  42 Beyerle, Josef  114 Binder, Gottlob  338 Birk, Axel  263 Blasi, Augusto  265 Blumenberg, Hans  301 Böhme, Hans-Joachim  235 Bonhoeffer, Dietrich  92, 162, 251 Borchert, Ernst Wilhelm  362 Börker, Rudolf  188 Bormann, Martin  93 Botmann, Daniel  329 Bouhler, Philipp  197 Bradley, Omar Nelson  356, 358 Brandt, Richardt  361 Braun, Harald  366 Brauner, Arthur  364 f., 367, 373

Brecht, Arnold  309 Brecht, Bertolt  271 Brentano, Heinrich von  338 Brunner, Alois  130, 326 Buback, Siegfried  170 Bubis, Ignatz  28 Bucher, Ewald  27, 37, 56, 118 Bülow, Arthur  54, 56, 87 Bumke, Erwin  54 Burger, Hanuš  357 Canaris, Wilhelm  92 Carossa, Hans  342 Chajut, Esther  318 Churchill, Winston  327 Dahrendorf, Ralf  259 Dallinger, Wilhelm  103 f. Däubler-Gmelin, Herta  49 Dauner-Lieb, Barbara  61 Dehler, Thomas  26, 34, 36 f., 42, 52, 68, 69, 77, 81–84, 96, 100, 102, 111, 112 f., 114–117, 119–121, 126, 141 f., 147, 194, 310, 313 Demandowsky, Ewald von  363 Demjanjuk, John  28, 229 f., 305, 316, 320 f. Derrida, Jacques  187 Dickens, Charles  369 Dickmann, Wilhelm  306 Dohnanyi, Hans von  92, 96, 162 Dreher, Eduard  28, 40, 41, 49, 57, 80, 85, 86, 97–99, 104, 248 f., 315, 321 f., 323 Ebersberg, Heinrich  40, 86, 93–95, 104 Ehmke, Horst  49, 174, 249 Ehrlich, Ernst Ludwig  340, 343–346 Eichmann, Adolf  25, 87, 130, 136, 139 f., 152, 227, 314, 315, 316, 319, 320, 326 f.

388 Eisenhower, Dwight David  354, 356, 358 Eisenstein, Sergei  360 Eizenstat, Stuart  212 Elbe, Joachim von  309 Engelhard, Hans A.  40, 64, 102 Erkel, Günther  40 Euler, August M.  335 Exner, Franz  103 Fabian, Hans-Erich  342 Filbinger, Hans  196 Fischer, Christian  263 Fischer, Joschka  22, 376 Fischer-Schweder, Bernhard  233 f. Foerder, Ludwig  160 Ford, Aleksander  368 Fraenkel, Ernst  196, 306, 307 Frank, Hans  75, 347 Frank, Willy  224 Fränkel, Wolfgang  99–101, 104, 169, 172, 173 f. Franta, Rudolf  78 Fredersdorf, Herbert B.  366 Frei, Norbert  42, 43, 46, 74 Freisler, Roland  38, 78, 96, 100, 109, 162, 163 f., 276, 329 Friedemann, Maria, geb. Fritzle  334 f. Friedrich, Jörg  74 Fromm, Erich  377 Gawlik, Hans  27, 80, 326, 328 Geiger, Willi  81 Geiler, Karl  111 Geis, Robert Raphael  340 Geschonneck, Erwin  364 Geßler, Ernst  25 f. Gilbert, Felix  306 Giller, Walter  86 Giordano, Ralph  30, 51, 87, 162 Globke, Hans  77, 109, 138–140, 150, 152, 328 Goethe, Johann Wolfgang von  338, 344 Goldhagen, Daniel Jonah  317 Goldmann, Nahum  209 Goldstein, Marek  367

Personenregister

Göring, Hermann  96 Görtemaker, Manfred  9, 13, 23, 26, 44, 45, 52, 53, 67, 257, 276, 303, 313, 318, 319, 329, 338 Gottschalk, Joachim  363 Graumann, Dieter  24 Gröning, Oskar  28, 219, 230 f. Grünewald, Ernst  97 Grützner, Heinrich  95–97, 104, 145 Güde, Max  173 Guinness, Alec  369 Gumbel, Emil Julius  306 Gürtner, Franz  73, 93, 96, 197 Gütt, Arthur  54 Hagemeyer, Maria  54, 56 Hanning, Reinhold  28, 219, 231 f. Harlan, Veit  347, 361, 365, 369, ­370–372, 373  f. Harms, Monika  167 Hattenhauer, Hans  39 Hauser, Karoline  98 Haußmann, Wolfgang  237 Hedrick, Charles W.  322 Heinemann, Gustav  34, 57, 87, 113, 115, 123, 147–151, 152, 249 Heinrich, Hermann  187 f. Heitmann, Steffen  28 Held, Martin  86 Herz, John H.  305 f. Herzog, Roman  29, 166 Heuss, Theodor  338, 339 f., 344 Himmler, Heinrich  93, 220, 370 Hirsch, Günter  160 Hirschbold, Benedikt  326 Hitchcock, Alfred  358 Hitler, Adolf  38, 39, 93, 160, 161, 162, 197, 220, 222, 329, 335, 339, 347, 359 Hobe, Stephan  61 Hoche, Werner  103 Höffe, Otfried  265 Holborn, Hajo  306 Holborn, Louise  306 Horkheimer, Max  377 Horn, Hans-Detlef  180, 185 Hull, Cordell  72

Personenregister

Huppenkothen, Walter  92, 162 f. Hürter, Johannes  46 Hussein, Saddam  322 Ingster, Yechezkel  316 Isensee, Josef  181 Jablonka, Hannah  316 f. Jackson, Robert  355 Jaeger, Richard  36 Jahn, Gerhard  37, 63, 100 Jakubowska, Wanda  351, 367 f. Jaspers, Karl  222 f., 345 f. Joël, Curt  118 Joël, Günther  111, 112, 117–119, 120, 121 Kagan, Saul  209 Kant, Immanuel  294 Kanter, Ernst  40, 80, 145 f. Karamanlī ś , Kōnstantínos  136, 138, 139, 150 Käutner, Helmut  364 Kelsen, Hans  266 Kempner, Robert M. W.  62 f., 306 Kießling, Friedrich  169, 171, 174 Kinkel, Klaus  48 Kinski, Klaus  365 Kirchheimer, Otto  306 Kirchner, Carl  100 f. Kißener, Michael  164 Kleist, Heinrich von  271 Klemperer, Victor  317 Klugman, Shabse  356 Knappen, Marshall  337 Knef, Hildegard  362, 363, 365, 366 Knoflach, Josef  98 Kogon, Eugen  346 Kohl, Helmut  167, 376 Kolnai, Aurel  377 Konrad, Anton  120 Kraegeloh, Walter  54 Kramer, Josef  356 Kramer, Stanley  351 Krautheimer, Richard  306 Krechel, Ursula  26 Krüger, ? [Ministerialdirigent im Justizministerium Koblenz]  114 f.

389 Kuckhoff, Greta  100 Kuschel, Karl-Josef  340 Lahusen, Benjamin  160 Lambrecht, Christine  29 Lambsdorff, Otto Graf  212 Lamprecht, Rolf  58 Landau, Ernest  333, 348 Lean, Oliver  369 Leibholz, Sabine  251 Leutheusser-Schnarrenberger, Sabine  13, 24, 45, 67, 68, 313, 329 Levine, Itamar  316 Lilienthal, Max  347 Linden, Herbert  54 Loewenstein, Karl  308 Lowenthal, Ernst Gottfried  341 Löwenthal, Leo  377 Lubbe, Marinus van der  160 Lübbe, Hermann  84 Lüth, Erich  372 Maas, Heiko  24, 53, 62, 67, 303 f., 313, 318, 319, 329 Maassen, Hermann  95 Maetzig, Kurt  363, 367 Mandl, Maria  368 Mann, Heinrich  361 Marcuse, Herbert  306 Marquordt, Gerhard  54, 56, 78 Martin, Ludwig  170, 172, 173 f. Marwell, David  303 Massfeller, Franz  25, 40 f., 54, 56, 80, 275, 314, 320, 321 f., 323 Meinecke, Friedrich  343–345 Mendelssohn Bartholdy, Paul  309 Mengele, Josef  328 Merkatz, Hans-Joachim von  37, 81, 112, 145 Merkel, Angela  62 Merten, Max  25, 54, 56, 80, 86, ­123–152, 275, 314, 320, 321 f., 323 Meyer, Michael A.  344 Miquel, Marc von  74 Mommsen, Hans  45 Morgenthau, Hans  306 Müller, Ingo  40, 41, 42, 43, 74, 315, 318

390 Müller-Meiningen, Ernst jr.  237 Murphy, Robert  72 Nasser, Gamal Abdel  139 Nellmann, Erich  234, 237 Nettersheim, Gerd J.  13, 293, 314, 319 Neumann, Franz  306 Neumayer, Fritz  36 f., 112 Niemöller, Martin  337 f. Niethammer, Lutz  342 Nietzsche, Friedrich  33 Nothmann, Hugo  347 Nüßlein, Franz Roman  376 Oberhauser, Josef  219, 221 Osten, Hans  92 Palandt, Otto  321, 323 Papier, Hans-Jürgen  48 Patton, George Smith  356 Peschel-Gutzeit, Lore Maria  48 Petersen, Georg  25, 53 f., 112 f., 114 f., 121 Pius XII., Papst  335 Pleyer, Peter  359 Posser, Diether  123, 147–151, 152 Primor, Avi  318 Pringsheim, Fritz  259 Radbruch, Gustav  38, 69, 87, 104, 222, 258, 260, 266 Rathgeber, Anton  98 Rehse, Hans-Joachim  163 f. Reisman, Bernhard  341 Reitlinger, Gerald  234 Resnais, Alain  351 Reuter, Ernst  342, 370 Rhodes, Cecil  322 Richter, Hans  100 f. Riefenstahl, Leni  357, 358 Riess, Curt  365 Roemer, Walter  80, 101 f., 104, 119–121, 314, 320, 321 f., 323 Rökk, Marika  366 Roosevelt, Franklin D.  327 Rosenstock, Alex  224 Rossellini, Roberto  363

Personenregister

Rotberg, Hans Eberhard  114–117, 121 Roth, Andreas  164 Rothenberger, Curt  93 Rottleuthner, Hubert  43, 74, 85, 261, 276 Rückerl, Adalbert  240, 241–243 Rüthers, Bernd  263, 266 Saage, Erwin  54, 56 Safferling, Christoph  9, 13, 23, 26, 44, 45, 52, 53, 67, 168 f., 171, 172, 174, 175, 229, 257, 303, 313, 319, 329, 338 Sarstedt, Werner  188 Schäfer, Ernst  104 Schäfer, Toni  104 Schäffer, Fritz  27, 37, 81, 112, 208 Schäffer, Hans  109 Schafheutle, Josef  40, 78, 80, 83, 99, 104, 165 Schaked, Ajelet  318, 319, 329 Schatz, Willi  225 Schätzler, Johann-Georg  56 f. Scheffler, Erna  156 Schlegelberger, Franz  93, 104 Schleicher, Kurt von  95 f. Schlink, Bernhard  317 Schmidt-Hammer, Werner  235 Schmidt-Jortzig, Edzard  49 Schmidt-Räntsch, Günther  78 Schmitt, Carl  308 Schmude, Jürgen  49 Schneider, Gerda  367 Schoeps, Hans-Joachim  341 Scholl, Hans  102 Scholl, Sophie  102 Schröder, Gerhard  212 Schüle, Erwin  234, 235 f., 237, 241 Schürholz, Franz  343, 346 Schuster, Josef  15 Schweikart, Hans  363 Sender, Toni  306 Shinnar, Felix Elieser  87 Simon, Hans  309 Sinzheimer, Hugo  306 Söderbaum, Christina  372 Speelmans, Hermann  364 Spreckelsen, Heinrich von  54, 56

Personenregister

Stalin, Josef  327 Stammberger, Wolfgang   37, 100, 112 Staudte, Wolfgang  86, 328, 360, 361– 363, 365 Steinfeld, ? [Landgerichtsdirektor in Breslau] 160 Stevens, George C.  355 Stohr, Albert  335 Stolleis, Michael  44 Strauß, Elsa  108 Strauß, Hermann  108 Strauß, Tamara, geb. Schneider  108 Strauß, Walter  26, 35 f., 41, 52, 60, 68, 69, 77, 79, 81 f., 85, 107–122, 141, 313 Streicher, Julius  26 Streim, Alfred  240 Sunstein, Cass  187 Süsterhenn, Adolf  117 Täubner, Max  196 Thaler, Richard  187 Thieme, Karl  346 Thierack, Otto Georg  73, 75, 93, 104 Thiessen, Jan  47 Thimme, Annelise  344 Thorbeck, Otto  162 f. Toúsīs, Andréas  145 f. Vogel, Hans-Jochen  34, 35, 38, 48, 58, 63 f., 65 Vogel, Rudolf  149 Voßkuhle, Andreas  318

391 Wahl, Alfons  90 Wahl, Eduard  90 Walser, Martin  28 Wassermann, Rudolf  259 Weinberg, Wilhelm  342 Weinkauff, Hermann  165 Weiss, Yfaat  317 Weiß, Otto  116, 117 Weitnauer, Hermann  54, 141 Weizsäcker, Richard von  179 Welles, Orson  351 Welzer, Harald  9 Wengst, Udo  112 Wewer, Göttrik  21 f. Wiechmann, Carlo  172 f. Wiesenthal, Simon  102 Wilder, Billy  357 Wilhelmi, Hans  100 Wirths, Eduard  225 Wisliceny, Dieter  25, 130 Wissing, Volker  21 Wittmann, Rebecca  303, 304, 305 Wolff, Martin  124 Wulf, Joseph  375 f. Wurm, Theophil  335 f. York, Eugen  23, 365 Ypsīlántīs, Thōmás  133 Zeller, Wolfgang  365 Ziemann, Benjamin  337 Zypries, Brigitte  318

Die Autorinnen und Autoren

Dr. phil. Markus Apostolow ist seit 2018 als Parlamentsredakteur in der Verwaltung des Abgeordnetenhauses von Berlin tätig. Nach einem Bachelorstudium in Geschichte, Politik und Verwaltung schloss er ein Masterstudium im Fach Zeitgeschichte an der Universität Potsdam an. Danach arbeitete er für die »Unabhängige Wissenschaftliche Kommission beim Bundesministerium der Justiz zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit«. In seiner Dissertation befasste er sich mit der Personalpolitik im Bonner Justizministerium während der Amtszeit des Gründungsstaatssekretärs Walter Strauß (Der »immerwährende Staatssekretär«, 2019). Dan Assan ist Anwalt und Notar in Tel Aviv. Seine Kanzlei ist auf den israelisch-deutschen Rechtsverkehr spezialisiert. Er ist Vorsitzender der IsraelischDeutschen Juristenvereinigung in Israel. Früher war er als Berufsoffizier Strafverteidiger von Soldaten bei den Militärgerichten und hat auch Angeklagte in Staatssicherheitsverfahren vertreten. Lange Jahre war er als Anwalt für Menschenrechte in Israel tätig. Er ist in Bukarest geboren und hat auch in Rumänien, Frankreich und Deutschland gelebt. M. A. Hartmut Bomhoff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Abraham Geiger Kollegs an der Universität Potsdam. Er studierte Neuere Geschichte, Kunst- und Literaturwissenschaft sowie Holocaust Communication in Göttingen und Berlin. Von 2012 bis 2019 war er Chefredakteur der vierteljährlich erscheinenden Zeitung Jewish Voice from Germany. Zahlreiche Veröffentlichungen zur jüdischen Religion, Geschichte und Kultur, darunter »Basiswissen Judentum« (zusammen mit Walter Homolka und Andreas Nachama, 2015); Mitherausgeber von »Gender and Religious Leadership. Women Rabbis, Pastors, and Ministers« (2019). Daniel Botmann ist seit 2014 Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, daneben seit 2013 Lehrbeauftragter an der Universität des Saarlandes für Verfassungs- und Staatsorganisationsrecht. Der gebürtige Tel Aviver studierte an der Universität Trier Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehre und war nach seiner Zulassung als Rechtsanwalt im Bereich Bank- und Kapitalmarktrecht tätig. Von 2005 bis 2011 hatte er das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von RheinlandPfalz inne. Er ist Mitglied im Beirat Innere Führung der Bundeswehr und im Beirat des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks sowie Prüfer bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien und bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK).

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. iur. habil. Boris Burghardt vertritt derzeit als Gastprofessor den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat Rechtswissenschaften in Wien, Berlin und Salamanca studiert und an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert und habilitiert. Nach Lehrstuhlvertretungen an der Universität Hamburg und der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder hatte er im Sommersemester 2019 die Michael Hauck Gastprofessur für Interdisziplinäre Holocaustforschung am Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main inne. Seine Arbeitsschwerpunkte sind der Allgemeine Teil des Strafrechts, die Zwischenbezüge von Strafrecht und Moralphilosophie sowie die strafrechtliche Aufarbeitung von Systemunrecht, insbesondere den NS -Verbrechen, in juristischer und zeitgeschichtlicher Perspektive. Dr. Lena Foljanty leitet derzeit eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main. Sie studierte Rechtswissenschaften an der Universität Greifswald und an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2005 bis 2007 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Verfassungsgeschichte an der Universität Greifswald, von 2007 bis 2009 Kollegiatin am Internationalen Max-Planck-Forschungskolleg für vergleichende Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main. Sie promovierte mit einer Arbeit zur Naturrechtsbesinnung in der Rechtsphilosophie der unmittelbaren Nachkriegszeit und ist Mitherausgeberin der »Kleinen Schriften« Fritz Bauers. Dr. Peter Frank ist seit Oktober 2015 Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg und an der Ludwig-Maximilians-Universität in München sowie dem Referendariat trat er 1995 in die bayerische Justiz ein. Dort war er in verschiedenen Funktionen im Bayerischen Staatsministerium der Justiz, bei der Staatsanwaltschaft München I und als Richter am Landgericht München I und am Oberlandesgericht München tätig. 2015 wurde er zum Generalstaatsanwalt in München ernannt. Prof. Dr. Manfred Görtemaker, Dr. phil., ist Professor em. für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam, zudem Gastprofessor am Dipartimento delle Arte der Università di Bologna und Vorsitzender des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw). Von 2012 bis 2016 war er Leitendes Mitglied der »Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission beim Bundesministerium der Justiz zur Aufarbeitung der NS -Vergangenheit«. Seit 2018 ist er Leiter des Projekts »Das DDR-Justizministerium und die Rechtsbeugung gegen Ausreisewillige« im Rahmen des Verbundprojekts »Grenz­ regime« der Freien Universität Berlin, der Universität Greifswald und der Universität Potsdam. Buchveröffentlichungen u. a.: »Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart« (1999), »Geschichte

Die Autorinnen und Autoren

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Europas 1850–1918« (2002), »Thomas Mann und die Politik« (2005), »Die Berliner Republik. Wiedervereinigung und Neuorientierung« (2009), »Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS -Zeit« (mit Christoph Safferling, 2016). Prof. Dr. Raphael Gross ist seit April 2017 Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum und unterrichtet an der Universität Leipzig. Zuvor war er Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig und Inhaber des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig (2015–2017). Zudem war er Direktor des Jüdischen Museums Frankfurt (2006–2015), des Leo Baeck Institute London (2001–2015) und des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt am Main (2007–2015). Er studierte Allgemeine Geschichte, Philosophie und Literatur in Zürich, Berlin, Bielefeld und Cambridge (Trinity Hall). Derzeit arbeitet er an einem Forschungsprojekt über den Jahrhundertjuristen Hans Kelsen und an der Kritischen Edition der Tagebücher von Anne Frank. Er ist Mitglied der Beratenden Kommission für die Rückgabe NS -verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere aus jüdischem Besitz. Gerrit Hamann ist Doktorand am Göttinger Lehrstuhl für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht (Prof. Dr. Eva Schumann) sowie Rechtsreferendar am Oberlandesgericht Braunschweig. Von 2011 bis 2016 studierte er als Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes Rechtswissenschaften an der Universität Göttingen, wo er 2012 bis 2016 auch als studentische bzw. wissenschaftliche Hilfskraft tätig war. Nach dem ersten juristischen Staatsexamen nahm er ein rechtshistorisches Dissertationsprojekt zum Fall Max Merten auf, das vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz als Folgeforschung seines »Rosenburg-Projektes« gefördert wurde und nunmehr kurz vor der Veröffentlichung steht. Prof. Dr. Stephan Harbarth, LL . M., ist seit Juni 2020 Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft promovierte er 1998 zum Dr. jur. an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. 1997 bis 1999 absolvierte er sein Referendariat in Berlin. 2000 erlangte er einen Master of Laws an der Yale Law School, New Haven, Connecticut, USA . 2000 bis 2018 war er als Rechtsanwalt tätig; seit 2006 als Partner wirtschaftsrechtlich ausgerichteter Rechtsanwaltssozietäten. 2009 bis 2018 war er Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit 2018 ist er Honorarprofessor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Im November 2018 erfolgte seine Wahl zum Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts und Vorsitzenden des Ersten Senats. Prof. Dr. Markus Heintzen ist seit 1997 Universitätsprofessor am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin. Er ist hier Inhaber eines Lehrstuhls für Staatsrecht und Steuerrecht und war von 2007 bis 2009 Dekan. Kraft

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Die Autorinnen und Autoren

Amtes ist er als Prüfer am Gemeinsamen Juristischen Prüfungsamt der Länder Berlin und Brandenburg tätig und beteiligt sich dort und im Rahmen der universitären Schwerpunktbereichsprüfung an der ersten juristischen Prüfung. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Bundesstaats- und Finanzverfassungsrecht, allgemeines Steuer- und Verwaltungsrecht. Wichtige aktuelle Veröffentlichungen sind seine Erläuterungen der Artikel 70, 71, 73 und 104a bis 115 in drei führenden Grundgesetz-Kommentaren. Dr. Kerstin Hofmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Forschung und Bilder bei den Arolsen Archives  – International Center on Nazi ­Persecution in Bad Arolsen. Sie studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Mannheim und promovierte dort 2017 über die »Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« in Ludwigsburg. Ihre 2018 veröffentlichte Dissertation »,Ein Versuch nur  – immerhin ein Versuch‹. Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg unter der Leitung von Erwin Schüle und Adalbert Rückerl (1958–1954)« untersucht die strafrechtliche Aufarbeitung von NS -Verbrechen in der Bundesrepublik und den gesellschaftspolitischen Wandel in der bundesdeutschen Erinnerungskultur. Dr. Hans-Christian Jasch arbeitet im Bundesministerium des Innern. Der Jurist und Rechtshistoriker leitete von Mai 2014 bis Juli 2020 die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin und hat dort eine neue inklusive und barrierefreie Dauerausstellung entwickelt. Er ist Autor einer Reihe von Veröffentlichungen zur Verwaltungsgeschichte im »Dritten Reich« und hat eine biografische Untersuchung zum Staatssekretär im Reichsministerium des Innern, Wilhelm Stuckart, verfasst. Er entwickelt unter anderem berufsgeschichtliche Fortbildungsangebote für Angehörige der Bundesministerien und der Justiz. 2017 erschienen sein gemeinsam mit Wolf Kaiser verfasstes Buch »Der Holocaust vor deutschen Gerichten« sowie ein Sammelband zu den »Nürnberger Gesetzen«. 2019 konzipierte er zusammen mit Stephan Lehnstaedt die Wanderausstellung »Verfolgen und Aufklären: Die erste Generation der Holocaustforschung«, die mittlerweile in Berlin, London, Genf, Paris, Leipzig, New York, München, Wien und bei den Vereinten Nationen gezeigt wurde, und gab den gleichnamigen Begleitband heraus. Prof. Dr. Doron Kiesel ist seit 2016 wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er ist in Ramat Gan (Israel) und Frankfurt am Main aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte er Soziologie und Erziehungswissenschaften in Jerusalem, Frankfurt am Main und Heidelberg. 1998 wurde er zum Professor für Interkulturelle und internationale Pädagogik in Erfurt berufen. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Migration und Integration ethnisch-kultureller Minderheiten in Deutschland. Forschungsschwerpunkte: migrationstheoretische Aspekte der russischsprachigen jüdischen Zuwanderer in Deutschland, diversitätstheoretische Ansätze in der Migrationsforschung.

Die Autorinnen und Autoren

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Christine Lambrecht ist seit Juni 2019 Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz. Zuvor war sie Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister der Finanzen. Ihr rechtswissenschaftliches Studium absolvierte Lambrecht an den Universitäten Mannheim und Mainz. Sie ist zugelassene Rechtsanwältin und seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestags (SPD -Fraktion). Prof. Herbert Landau war 2005 bis 2016 Richter am Bundesverfassungsgericht. 2016 wurde ihm durch Bundespräsident Joachim Gauck das große Verdienstkreuz mit Schulterband und Stern verliehen. Seit 2006 ist er außerdem Honorarprofessor an der Philipps-Universität Marburg. Er hat Sozialarbeit an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum sowie Rechtswissenschaften an der Justus-Liebig-Universität in Gießen studiert. Im Laufe seiner Karriere war er unter anderem als Richter im hessischen Justizdienst, als Leitender Oberstaatsanwalt, als Richter am Bundesgerichtshof und als Staatssekretär der Justiz tätig. Sir Thomas Stuart Legg war Permanent Secretary of the Lord Chancellor’s Department and Clerk of the Crown in Chancery. Der gebürtige Londoner besuchte die Schule in New York und England und studierte nach seinem Wehrdienst Geschichte und Jura an der Cambridge University. Er machte 1960 seinen Abschluss als Prozessanwalt und arbeitete bald in dem kleinen Lord Chancellor’s Department, dem heutigen Justizministerium. Im Laufe der Jahre widmete er sich vielfältigen rechtlichen und gerichtlichen Themen. 1990 wurde er zum Kronanwalt berufen und 1993 zum Ritter geschlagen. Seit seiner Pensionierung 1998 ging er 16 Jahre lang einer Fülle von Betätigungen nach, die fast alle einen Bezug zum öffentlichen Dienst hatten, und war Mitglied mehrerer Untersuchungskommissionen, zuletzt zu den Ausgaben der Parlamentsabgeordneten. Bettina Limperg ist seit Juli 2014 Präsidentin des Bundesgerichtshofs und Vorsitzende des Senats für Anwaltssachen. Nach Studium und Rechtsreferendariat wurde sie 1989 Staatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Von 1990 bis 1994 war sie beim Amts- und Landgericht Stuttgart tätig. Nach einer Abordnung an das Bundesverfassungsgericht in den Jahren 1994 bis 1996 war sie Richterin in einer Strafkammer am Landgericht Stuttgart. 2001 wechselte sie an das Oberlandesgericht Stuttgart. Von 2004 bis 2009 war sie Direktorin des Amtsgerichts Waiblingen, anschließend wurde sie Vorsitzende Richterin und Vizepräsidentin des Landgerichts Stuttgart; ab 2011 war sie Ministerialdirektorin des Justiz­ ministeriums Baden-Württemberg. Rüdiger Mahlo ist seit Juli 2014 Repräsentant der »Conference on Jewish Material Claims Against Germany« (Claims Conference)  in Deutschland und versieht das Amt im Frankfurter Büro der Organisation und in Berlin. Er ist Inhaber verschiedener Universitätsdiplome, so des juristischen Staatsexamens der Freien Universität Berlin und eines Master of Business Administration des College of

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Die Autorinnen und Autoren

William and Mary in Williamsburg (Virginia, USA). Vor seiner Tätigkeit bei der Claims Conference war er als Manager in leitender Position in mehreren internationalen Unternehmen beschäftigt, außerdem ehrenamtlich beim Bund Jüdischer Studenten und in der Jüdischen Gemeinde Berlin engagiert. Dr. phil. Frank Mecklenburg ist seit 1984 am Leo Baeck Institut in New York und Berlin tätig, seit 1996 Forschungsdirektor und Leiter des Archivs. Er studierte Geschichte an der Technischen Universität Berlin und promovierte 1981 mit einer Arbeit über »Die Ordnung der Gefängnisse: Grundlinien d. Gefängnis­ reform u. Gefängniswiss. in d. ersten Hälfte d. 19. Jh. in Deutschland«. Verschiedene Arbeiten zu Themen der Emigration und jüdischer Identität in Deutschland. 1991 erschien in Zusammenarbeit mit dem New Yorker Rechtsanwalt Ernst C. Stiefel das Buch »Deutsche Juristen im amerikanischen Exil (1933–1950)«, außerdem verschiedene Aufsätze: »Über die Kriegsarbeit deutscher emigrierter Juristen in den USA während des Zweiten Weltkrieges« (1993); »Das Recht auf Frieden: John Frieds Arbeiten in der Nachfolge der Nürnberger Prozesse« (1995); »The Occupation of Women Emigres: Women Lawyers in the United States« (1995). Gerd J. Nettersheim, Ministerialdirigent a. D., ist Initiator des Rosenburg-Projektes. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Bonn mit anschließendem Referendariat im Bereich des Oberlandesgerichts Köln und zweiten juristischen Staatsexamen Eintritt in das Bundesministerium der Justiz: 1986 bis 1992 Persönlicher Referent der Parlamentarischen Staatssekretäre, 1996 bis 1999 Leiter der mit Forschungsaufgaben befassten Unterabteilung, 2000 bis 2016 Unterabteilungsleiter in der Rechtspflegeabteilung. 2010 initiierte er das Rosenburg-Projekt, war ab 2011 verantwortlich für dessen Betreuung und administrative Begleitung und setzte diese Tätigkeit nach Eintritt in den Ruhestand von 2016 bis 2019 als Sonderberater des Ministeriums fort. 1997 bis 2015 war er überdies Vertreter des Bundes in Spitzengremien der Deutschen Forschungsgemeinschaft. M. A. Werner Renz war von 1995 bis 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main und Leiter des Archivs und der Bibliothek. Er studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Verschiedene Publikationen zur Geschichte der justiziellen Aufarbeitung der NS -Verbrechen in der Bundesrepublik, insbesondere zu den Frankfurter Auschwitz-Prozessen (1963–1981) sowie zu Leben und Wirken von Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt von Hessen in den Jahren 1956 bis 1968. Zuletzt von ihm erschienen: »Auschwitz vor Gericht. Fritz Bauers Vermächtnis und seine Missachtung« (2018). Prof. Dr. Christoph Safferling, LL . M., LSE , ist seit 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht an

Die Autorinnen und Autoren

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der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er studierte Rechtswissenschaften in München und London; 1999 wurde er an der Ludwig-Maxi­ milians-Universität München promoviert, wo er 2000 das zweite juristische Staatsexamen ablegte, und habilitierte 2006 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Im Anschluss war er Professor an der PhilippsUniversität Marburg und Direktor des dortigen Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse. Von 2012 bis 2017 war er Mitglied der »Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission beim Bundesministerium der Justiz zur Aufarbeitung der NS -Vergangenheit«. Der Abschlussbericht erschien 2016 unter dem Titel »Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS -Zeit«. Seit 2017 untersucht er den Umgang mit der NS -Vergangenheit beim Generalbundesanwalt. Seit 2015 ist er zudem einer der Vizepräsidenten der »Internationalen Akademie Nürnberger Prinzipien« in Nürnberg. Er hat verschiedene Bücher zum Völkerstrafrecht und Strafprozessrecht verfasst, darunter »International Criminal Procedure« (2012) und »Internationales Strafrecht« (2011). Er ist Bandredakteur des Münchener Kommentars StGB Band 8 zum Internationalen Strafrecht und Völkerstrafrecht. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig ist emeritierter Hochschullehrer für Öffentliches Recht und Politiker (FDP). Nach den juristischen Staatsexamina und Promotion 1970 Berufseinstieg in der Kommunalverwaltung. 1977 Habilitation an der Universität Göttingen, anschließend bis 1982 Universitätsprofessor in Münster, danach in Kiel (Ablehnung zweier Rufe), 2007 pensioniert. Im Zweiten Hauptamt seinerzeit Richter an verschiedenen höheren Gerichten. 1994 bis 2002 war er Mitglied des Deutschen Bundestages, 1995 bis 1998 Bundesminister der Justiz. Mitglied respektive Vorsitz in diversen Fachkommissionen des staatsrechtspolitischen, parlamentarischen oder gesellschaftlichen Sektors, unter anderem Synode der EKD (1997–2007), Deutsche Stiftung Eigentum (2002–2014), Föderalismuskommission (2003–2006), Deutscher Ethikrat (2008–2016), BT-Kommission zu Fragen des Abgeordnetenrechts (2013–2014). Dr. Josef Schuster ist seit 2014 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Zugleich ist er Vizepräsident des World Jewish Congress und des European Jewish Congress. Seit 1998 steht er der Israelitischen Kultusgemeinde Würzburg und Unterfranken vor und ist zudem seit 2002 Präsident des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern. Er wurde in Haifa (Israel) geboren und kehrte 1956 mit seinen Eltern in die väterliche Heimat Unterfranken zurück. Nach dem Medizinstudium ließ er sich 1988 als Internist mit eigener Praxis in Würzburg nieder. Dr. Rafael Seligmann ist politischer Analyst, Journalist und Buchautor. Er wurde 1947 in Tel Aviv geboren und lebt seit 1957 in Deutschland. Studium der Neueren Geschichte und der Politischen Wissenschaften; Promotion über »Israels Sicherheitspolitik«. Von ihm sind unter anderem erschienen: »Der Musterjude« (1997)

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Die Autorinnen und Autoren

und »Hitler. Die Deutschen und ihr Führer« (2004) sowie zuletzt die Familien­ trilogie »Lauf Ludwig, lauf! Eine Jugend zwischen Synagoge und Fußball« (2019) und »Hannah und Ludwig. Heimatlos in Tel Aviv« (2020). Dr. Hans-Jochen Vogel (1926–2020) war ein deutscher Politiker (SPD). Von 1960 bis 1972 war er Oberbürgermeister von München, von 1972 bis 1974 Bundes­ minister für Bauordnung, Bauwesen und Städtebau, danach bis 1981 Bundesminister der Justiz und im Jahr 1981 Regierender Bürgermeister von Berlin. Nach dem Ende der Kanzlerschaft Helmut Schmidts war er Kanzlerkandidat der SPD bei der Bundestagswahl 1983, scheiterte jedoch gegen die neu formierte Koalition aus CDU/CSU und FDP. Von 1983 bis 1991 war er in der Nachfolge Herbert Wehners Vorsitzender der SPD -Bundestagsfraktion und von 1987 bis 1991 als Nachfolger Willy Brandts Parteivorsitzender der SPD.