Das Blut der Märtyrer: Genese, Bedeutung und Funktion mittelalterlicher Schätze 9783412332815, 9783412201043

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Das Blut der Märtyrer: Genese, Bedeutung und Funktion mittelalterlicher Schätze
 9783412332815, 9783412201043

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NORM UND STRUKTUR S T U D I E N ZUM S O Z I A L E N W A N D E L I N MITTELALTER U N D F R Ü H E R N E U Z E I T IN VERBINDUNG MIT GERD ALTHOFF, HEINZ DUCHHARDT, PETER LANDAU KLAUS SCHREINER, WINFRIED SCHULZE HERAUSGEGEBEN VON GERT MELVILLE Band 31

DAS BLUT DER MÄRTYRER Genese, Bedeutung und Funktion mittelalterlicher Schätze von

LUCAS BURKART

® 2009

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung sowie der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft, Basel, der Christine Bonjour Stiftung, Basel und der Dr. Josef Schmid-Stiftung, Luzern

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2009 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Tönisvorst Druck und Bindung: MVR-Druck GmbH, Brühl Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20104-3

INHALTSVERZEICHNIS

GENESE, D I S K U R S , P R A X I S UND BEGRIFF VON SCHATZ IN GESELLSCHAFTEN DES M I T T E L A L T E R S I.

II.

EINLEITUNG

11

1. Mediävistische Schatzforschung

13

M I T T E L A L T E R UND SCHATZ

21

1. 2. 3. 4.

27 30 41

Schatz, Reichtum und Armut in der mittelalterlichen Kirche Die Schätze der .Alten' Der Gestus der Akkumulation Von einer Schatzhermeneutik zu einer Akkumulationsanthropologie

III. SCHÄTZE DES M I T T E L A L T E R S

1. Die Lehre vom Kirchenschatz Exkurs I: Vom Blutschatz zum Kirchenschatz. Eine Bildfolge aus der Kunst des 9. Jahrhunderts 2. Der Heilige Gral IV.

48 55

55 59 61

SCHATZPRAKTIKEN

64

1. Tauschökonomie und Schatzökonomie 2. Der Begriff vom Schatz

64 74

MITTELALTERLICHE SCHÄTZE IN HISTORISCH-SYSTEMATISCHER PERSPEKTIVE V.

SCHATZ UND MEDIEN. D E R SCHATZ DES MITTELALTERLICHEN PAPSTTUMS

82

1. Der Reliquienschatz der Sancta Sanctorum 2. Christus und sein Vikar - Der Gebrauch des Schatzes nach den päpstlichen Zeremonienbüchern des 12. und 13. Jahrhunderts 3. Das doppelte Erbe - Die Schenkung Konstantins und die Schlüssel des heiligen Petrus 4. Das geronnene Blut der Märtyrer - Nikolaus III. und die Erneuerung der Kapelle Sancta Sanctorum Exkurs II: Die Sichtbarkeit des Blutes

82 91 101 110 120

6

Inhalt

5. Thesaurierung und der Ruhm der Kirche - Das Inventar des Papstschatzes von 1295 6. Der ausgegossene Schatz - Bonifaz VIII. und das Jubeljahr 1300 Exkurs III: Schatz und Simonie 7. Der Blick auf die Stadt als Schatz - Nikolaus Muffel und die Akkumulation der Sündenvergabe VI.

124 132 142 147

S C H A T Z UND POLITIK. D E R S C H A T Z DES FRANZÖSISCHEN KÖNIGTUMS

156

1. 2. 3. 4.

157 164 166 173 180 182 196

5. 6. 7. 8.

Kloster - Abt - König - Bischof Suger von Saint-Denis und das kapetingische Königtum Bilder der Erinnerung Der Schatz von Saint-Denis als Spiegel der Politik Exkurs IV: Schatz und Gedächtnis Momente der Schatzinszenierung Nochmals zu den tituli von Saint-Denis Der Glanz des Goldes als Schatten der Politik - Suger von Saint-Denis und Bernhard von Clairvaux Ein neuer Schatz - Ludwig IX. und die Sainte-Chapelle

199 204

V I I . S C H A T Z UND IMAGINATION. D E R S C H A T Z IM MITTELALTERLICHEN REICH

222

1. Der Schatz Karls des Grossen 2. Multiple Herrschaftszeichen, politisches Tauschgeschäft und das Reich um das Jahr 1000 Exkurs V: Schatz und Kopie 3. Karlsmemoria, Geschichtsimagination, renovatio imperii und Heiliges Reich 4. Haupt und Glieder des Reichs und die Sakralisierung der Zeichen 5. Von der Reichsimagination zum Heilsversprechen - Die Reichskleinodien in Nürnberg Exkurs VI: Schatz und Kritik Ausblick I: Reichsimagination und die Kleinodien im Nationalsozialismus

224 229 251 259 270 276 285 291

V I I L S C H A T Z UND KUNST. D E R UNSICHTBARE S C H A T Z DER MITTELALTERLICHEN STADT

302

1. Von der kaiserlichen Stiftung zum städtischen Schatz a. Kaiserliche Gaben

303 304

Inhalt

7

b. Bischof, Adel und heilige Reliquien c. Das heilige Kaiserpaar - Die Erfindung einer Tradition d. Ein städtischer Schatz 2. Der Basler Münsterschatz im Bildersturm 3. Der Rechtsstreit mit Bischof und Kapitel bis zu den Badener Verträgen (1585) 4. Das Erbe der Vormoderne - Städtisches Sammeln und die (un-)sichtbaren Schätze der Stadt Ausblick II: Eine (vorläufig) letzte Transzendierung - Eine .Anleitung zum Genuss' mittelalterlicher Kunstwerke

305 310 318 323

IX.

SCHLUSS

386

X.

BIBLIOGRAPHIE

393

1. Quellen 2. Literatur

393 400

BILD NACHWEIS

432

XI.

334 346 363

Register

434

Dank

444

I. EINLEITUNG

Das Mittelalter war reich an Schätzen. Herrschaftsinsignien, Altarausstattungen, Grabbeigaben weltlicher und geistlicher Fürsten, Schmuck, Tafelgeschirr, Prachtrüstungen, Münzhorte, aufwendig gestaltete Bücher und wertvolle Stoffe gehörten zur mittelalterlichen Kultur, und aus ihnen bildeten sich Schätze. Dieses breite Spektrum an Objekten, Wertgegenständen und Gütern hat als Schätze, selbst wenn sie sich materiell nicht erhalten haben, in schriftlichen und bildlichen Zeugnissen der Zeit zahlreiche Spuren hinterlassen. Verzeichnisse und Inventare geben den Bestand von Kloster-, Kirchen- und Herrscherschätzen wider, in Hof- und Krönungsordnungen wird die Verwendung herrschaftlicher Insignien normativ festgehalten, und Steuerrodel geben Aufschluss über die Einkünfte eines Herrschers aus Rechten, Steuern und Zöllen. Schätze sind für das Mittelalter aber nicht nur materiell, in Gold, Silber und Edelsteinen, als Münzgeld oder als kunstvoll gefertigte Objekte zu denken. Denn nicht weniger präsent und einflussreich waren Schätze als Vorstellungen, Figurationen und Metaphern in biblischen, mythologischen, historischen oder epischen Erzählungen, in theologischen Dogmen und politischen Theoremen. Von der Suche nach dem Gral über den im Rhein versunkenen Hort der Nibelungen und die Reichtümer des himmlischen Jerusalems bis hin zu den Geschenken, mit denen Kaiser Konstantin der Legende nach die Kirchen bedacht hat, markieren Schatzmotive immer wieder zentrale Aspekte und Momente mittelalterlichen Erzählens und Erinnerns. Schätze entwickelten in der mittelalterlichen Kultur zugleich materielle und ideelle Bedeutung, wobei sich diese unterschiedlichen Bedeutungsebenen häufig nicht voneinander trennen lassen. Damit eröffnen sich in materiellen und immateriellen Schätzen gleichermaßen Assoziationsräume und Diskursfelder, die vermeintlich Widersprüchliches miteinander in Beziehung setzen und dabei dennoch eine relative Offenheit bewahren. Schätze erscheinen als Folien, auf denen gesellschaftliche und kulturelle Vorstellungen einer Epoche und deren Wandel zugleich in ihrer gültigen Gestalt sichtbar werden. Diese Scharnierfunktion scheint ein zentrales Signum von Schätzen zu sein. Selten treten Schätze nur in einer Bedeutung auf; stets eröffnen sich ihnen und in ihnen Möglichkeiten zur Verwandlung, Sublimierung und Transzendierung.

12

Schatz in Gesellschaften des Mittelalters

Doch waren Schätze keine Erfindung des Mittelalters - es gab sie schon lange zuvor. In mittelalterlichen Schatzvorstellungen ebenso wie in materiellen Schätzen des Mittelalters lassen sich Verbindungen zur Antike und zum Judentum nachweisen. Das Mittelalter ist somit auch als Erbin vorangehender Schatzkulturen zu verstehen. Doch im Umgang mit diesen Schatzvorstellungen und -traditionen leistete das Mittelalter einen eigenen Beitrag zur Schatzkultur, dessen Gültigkeit bis heute deutlich ist: die Verbindung von Schatz und Christentum. Hierfür ist das von Christus und allen Märtyrern vergossene Blut eine Figur, die als Garant von Transformation, Umwertung und Transzendierung wirkt. In dieser Figur stecken paradigmatisch die Funktionsweisen und Bedeutungszuschreibungen christlicher Schatzbildung, die sich als kulturelle Praktiken in mittelalterlichen Gesellschaften beobachten lassen.1 Das Oszillieren zwischen Materialität und Imagination charakterisierte nicht nur die Wahrnehmungs- und Deutungsweisen mittelalterlicher Schätze; vielmehr war es weit über das Mittelalter hinaus wirksam. Exemplarisch - ein Grossteil dürfte verloren, zerstört und umgenutzt worden sein - sind mittelalterliche Schätze in Museen und Sammlungen eingegangen, wo sie bis heute verwahrt werden. In jüngster Zeit haben sie eine Renaissance erlebt und wurden einer breiten Öffentlichkeit in Ausstellungen und Publikationen wieder vermehrt zugänglich gemacht. Als historische Imaginationen verfügen mittelalterliche Schätze somit auch über ein Nachleben, so dass sie stets zu den Bildern dazugehörten, die sich die Moderne vom Mittelalter immer wieder gemacht hat. Als Erbe und damit als Teil der eigenen Geschichte, zugleich aber als Relikte einer längst vergangenen Welt, geht von mittelalterlichen Schätzen auch heute noch eine geheimnisvolle Faszination aus; nah und fern, vertraut und fremd zugleich, sind Schätze Spiegel eines kulturellen Selbstverständnisses, das seine eigene Vergangenheit als eine Geschichte zwischen Identität und Alterität konstruiert. 2 Dabei erscheint das Mittelalter einerseits als ferner Ursprung, zugleich aber als eine vormoderne Gegenwelt, die längst überwunden ist; seine Schätze sind der materielle Beweis dieses widersprüchlichen Vorgangs und zugleich Anlass zu dessen ideeller Überhöhung. Aus dieser Spannung beziehen Schätze ihre anhaltende Faszination, gerade wenn sie einer längst vergangenen Zeit entstammen. Den vielfältigen Bedeutungen, die Schätzen im Mittelalter zugeschrieben wurden, gilt das Interesse dieses Buches: ihren Funktionszusammenhängen, den 1 2

Hess, Tremi, Figur des Märtyrers, 2007, S. 31. Groebriei, Mittelalter, 2008.

Einleitung

13

Modi ihrer Wahrnehmung sowie ihrem Gebrauch; im Vordergrund steht dabei die Frage nach einem möglichen Konzept von Schatz für die Kulturen des Mittelalters. Dies geschieht nicht, um zu Recht bestehende Differenzen zu negieren, sondern um die Vielfalt dessen, was im Mittelalter als Schatz bezeichnet und gedeutet wurde, überhaupt erst in den Blick zu kriegen. Es gilt mit anderen Worten die Heterogenität mittelalterlicher Schatzbestände - von Gold und Geld über Reliquien bis hin zu exotica und naturalia - und die Vielfalt immaterieller Schatzvorstellungen nicht nur zu konstatieren, sondern als strukturelles Merkmal mittelalterlicher Schätze ins Zentrum der Untersuchung zu rücken.

1. Mediävistische Schatzforschung Mittelalterliche Schätze sind seit langer Zeit Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Vornehmlich die Kunstgeschichte, die Geschichtswissenschaft und die Mittelalterarchäologie haben Schätze untersucht. Von unterschiedlicher Warte beleuchtet, wurden die Akzente freilich meist anders gesetzt, als es in der vorliegenden Untersuchung geschieht. Im Wortsinn legte die Mittelalterarchäologie Schätze frei, wenn sie bei Grabungen auf gehortetes Geld oder Gold stieß, das entweder als Beigaben in Gräber gelegt oder in der Erde verborgen wurde und dort aus welchen Gründen auch immer in Vergessenheit geriet. 3 Auf die Materialität ihrer Funde konzentriert, widmete sich die Archäologie weder denjenigen Schätzen, die nicht verborgen, sondern stets bekannt und sichtbar waren, noch den Vorstellungen und Imaginationen von Schatz im Mittelalter; dementsprechend analysierte die Disziplin Schätze nie in dem umfassenden Sinn, wie er hier vorgeschlagen wird. Eine umfassende und systematische Untersuchung mittelalterlicher Schatzbestände verdankt sich in erster Linie der Kunstgeschichte. Seit ihren Anfängen als akademische Disziplin im 19. Jahrhundert wurde Schatzobjekten Aufmerksamkeit zuteil. 4 Dabei richtete sich das Interesse des Fachs primär auf Einzelobjekte, deren Analyse meist im Rahmen disziplinärer Gattungssystematik erfolgte:

3

4

Diaz Tabernero, Golddukaten, 2005. Hardt, Gold und Herrschaft, 2004. Kent, Wealth of the Roman World, 1977. Werner, Schiffsgrab von Sutton Hoo, 1982, S. 193-209. Carver, Sutton Hoo, 2005. Franz Kugler etwa schloss Schatzkunst, bzw. Objekte der Schatzkunst ganz selbstverständlich in seine Untersuchung und Analyse mit ein. Zur Bedeutung Kuglers für eine methodische Systematisierung des damals noch jungen Fachs vgl. unten Ausblick II·. „Eine (vorläufig) letzte Transzendierung".

14

Schatz in Gesellschaften des Mittelalters

Elfenbeinschnitzerei, Gold- und Silberschmiedekunst, Buchmalerei, Edelsteinkunst.5 Die übergreifende Funktion und Bedeutung von Schätzen geriet kaum in den Fokus dieser Forschung. Bis in die jüngste Zeit verstellten die Objekte und ihre Systematisierung nach Gattungen gewissermassen den Blick auf mittelalterliche Schätze als Ensemble. Schätze waren in dieser Perspektive meist nichts anderes als die (zufällige) Summe ihrer Einzelteile; ihre Bedeutung erhielten sie aus deren formalen und stilistischen Klassifizierung. Allenfalls in der Aufnahme historischer Schatzbestände im Sinne einer Kunsttopographie gelang die Uberschreitung dieser methodischen und systematischen Vorgaben am besten und Schätze blieben als Ensemble bis hin zur Beschreibung von Paramenten und Textilen Gegenstand der Untersuchung. 6 In anderer Weise, die im Fach jedoch keine entscheidende Rezeption erfahren hat, bemühte sich Hanns Swarzenski um mittelalterliche Schätze. In seiner Studie zur romanischen Kunst hat er bewusst die kunstwissenschaftlichen Gattungsgrenzen von Schatzkunst überschritten und Elfenbein-, Goldschmiede-, Bronze-, Emailkunst und Buchmalerei als einen geschlossenen Untersuchungsgegenstand in den Blick des Kunstkenners genommen. 7 Dabei erfolgte diese Überschreitung in einem grösseren Kontext und richtete sich nicht zufällig auf die Kunst der Romanik. Mit Sicherheit, so Swarzenski, waren diese Objekte keine .kleinen Kopien großer, monumentaler Werke der Romanik, die sich nicht erhalten haben. Vielmehr sah Swarzenski in den kunstvollen Arbeiten in Elfenbein und Bronze die großen Arbeiten des 12. und 13. Jahrhunderts in Architektur, Malerei und Skulptur bereits angedeutet und gewissermassen en miniature vorweggenommen. Aus diesem Grund wies er romanischen Schatzobjekten die Bedeutung von Ahnen zu und bezeichnete sie als ancestors der monumentalen Kunst des Hochmittelalters. Die Überschreitung der Gattungsgrenzen von Schatzkunst war mit anderen Worten auch für Swarzenski entscheidend, jedoch in einer positiven Wendung.

5

6 7

Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen aus der Zeit der karolingiscben und sächsischen Kaiser, 1914-1918. Ders., Elfenbeinskulpturen aus der romanischen Zeit, 1923-1926. Grimme, Goldschmiedekunst im Mittelalter, 1972. Bänsch, Kölner Goldschmiedekunst, 1984. Pächt, Mittelalterliche Buchmalerei, 1984. Hahnloser, Corpus der Hartsteinschliffe, 1985. Zwierlein-Diehl, Gemmen und Kameen, 1998. Appuhn, Schatzkammern, 1984. Swarzenski, Monuments of Romanesque Art, 1953. Ein Aspekt mittelalterlicher Schatzkunst, den auch Swarzenski nicht behandelt, ist der Bereich der Paramente und Textilien, was er aber als Defizit erkennt und eingesteht (vgl. ebda. S. 35). Zu Biographie, beruflichem Werdegang und Schriften vgl. Betthausen, Hanns Swarzenski, 1999. Wendland, Hanns Swarzenski, 1999.

Einleitung

15

Zudem maß Swarzenski der Schatzkunst eine wesentliche Bedeutung im Übergang von der Antike zum Hochmittelalter zu. Sie war ihm das entscheidende Medium, das in der karolingischen Renaissance und der Blüte ottonischen Kunstschaffens die Antikenrezeption produktiv umsetzte. In dieser Perspektive wurde ihm die Schatzkunst zu einem bedeutenden Meilenstein der europäischen Kunstgeschichte.8 Schließlich hat Swarzenski auch auf das Problem der Terminologie und deren Dysfunktionalität aufmerksam gemacht, welche die Forschung zur Schatzkunst bis heute prägen. Minor Arts, Arts and

Crafis, Applied Arts, Decorative Arts, Industrial Arts verweisen innerhalb der fachwissenschaftlichen Forschung auf die Schatzkunst als einer niedereren Stufe (mittelalterlichen) Kunstschaffens. Das gilt nicht nur für die englischsprachige Forschung, sondern gleichermaßen für die deutsche, französische oder italienische Fachterminologie.9 Der geringe Einfluss, der Swarzenskis These und Zugang beschieden war, zeigt sich nicht nur an einer ausgebliebenen Rezeption, sondern zugleich an der anhaltenden Gültigkeit oder ausgebliebenen Revision gerade dieser Fachterminologie im internationalen Horizont. Der mittelalterlichen Schatzkunst ist in der kunstwissenschaftlichen Historiographie stets eine geringere Wertschätzung beigemessen worden und daran hat sich bis heute nur wenig geändert. Während die Kunstgeschichtsschreibung mittelalterliche Schätze also meist nach Gattungskriterien in ihre Einzelteile zerlegt hat, war es die Forschung zur Frühen Neuzeit, die eine neue Blickweise entwickelte. In Studien zu humanistischen Sammlungen sowie zu Kunst- und Wunderkammern des 16. Jahrhunderts wurden neue Perspektiven entworfen, und Fragen nach den Orten materieller Objektsammlung, nach Sammlungsbemühungen, nach deren Akteuren und Wahrnehmung gestellt.10 Hier wurden der Verwahrung und der Sammlung als Ort und Konzept sowie den damit verbundenen Sozialgesten eigenständige

8 Swarzenski, Monuments of Romanesque Art, 1953, S. 18. Daraus dass dieser Rezeptionsvorgang im mediterranen Raum eher nachahmend als produktiv gestaltend verlief, erklärt sich auch Swarzenskis Konzentration auf die nordalpine Schatzkunst. Im Untertitel seines Buches ist deswegen explizit von „North-Western Europe" die Rede. 9 Arte industriale, Arti minori, Arti e mestieri, Arti decorative, Kunsthandwerk, Kunstgewerbe, Arts et métiers, Arts décoratifs, Arts industriels, Arts appliqués. Diese Begriffe stellen jeweils Komplementärbegriffe dar zu den Fine Arts, Beaux Arts, Schönen oder Hohen Künsten und den Belle Arti, die stets in den Bezeichnungen der Kunstakademien erscheinen. 10 von Schlosser, Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance, 1908. Pomian, Collezione, 1978. Ders., Ursprung des Museums, 1988. Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben, 1993. Murray, Museums, 1996. Findlen, Possessing Nature, 1994. Falguières, Chambres des merveilles, 2003.

16

Schatz in Gesellschaften des Mittelalters

Bedeutung zugewiesen, die jenseits der einzelnen Objekte lag. Die Entstehung dieser Sozialgesten verortete die Forschung jedoch meist erst im Humanismus sowie in dessen Idealisierung der Antike und an den spätmittelalterlichen Fürstenhöfen.11 Hiervon ausgehend zeichnete eine kunstwissenschaftliche Historiographie einen recht direkten Weg in die bedeutenden Museumsgründungen und nationalen Sammlungen des 19. Jahrhunderts. 12 Eher implizit und wissenschaftsgeschichtlich nicht reflektiert gelten dieser Historiographie insbesondere die mittelalterlichen Kirchenschätze als Vorläufer abendländischer Sammlungs- und Museumsgeschichte. So wurden die Schätze des Mittelalters als .Vorgeschichte' in die großen historiographischen Narrative der Moderne wie Säkularisierung, Nationalstaatenbildung, Demokratieentwicklung oder Formation eines Bürgertums eingeschrieben, so dass ihre eigenständige Bedeutung erneut unerkannt blieb. Während also in der mediävistischen Kunstgeschichte Schätze kaum als Orte oder Konzepte beschrieben wurden, denen jenseits der darin versammelten Objekte Bedeutung zukam, erschienen sie der Forschung zum frühneuzeitlichen und modernen Sammlungswesen als stumme Vorgeschichte der Moderne. Die materielle Überlieferung, nämlich die Tatsache, dass mittelalterliche Schätze in die Sammlungen und Museen eingegangen waren, stärkte diese Perspektive, ohne dass sie jedoch wirklich in den Blick genommen geschweige denn analytisch durchdrungen worden wäre.13 Die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung mittelalterlicher Schätze beschränkte sich somit darauf, Garant der materiellen Uberlieferung einzelner Objekte zu sein; eine eigenständige Bedeutung sowohl des Ensembles, des Ortes,Schatz' als auch des (museenlosen) Mittelalters wurde damit den Schätzen jedoch nicht zugedacht. Mag sich dies historiographiegeschichtlich auch erklären, braucht es nun eine Forschung, die nach der zeitgenössischen Bedeutung mittelalterlicher Schätze im oben skizzierten Sinn fragt und dieser zu ihrem eigenen Recht jenseits des Status einer .Vorgeschichte' der Moderne verhilft.

11 Selbst in ethnologischer Perspektive erweist sich das Gewicht dieser historiographischen Tradition als wirkungsvoll. Vgl. Kohl, Macht der Dinge, 2003, S. 2 2 5 - 2 5 6 . 12 Dies trifft besonders deutlich auf das (nach-)revolutionäre Frankreich zu. Poulot, Musée, nation, patrimoine, 1997. Pommier, L'art de la liberté, 1 9 9 1 . Les musées en Europe, 1995. Choay, Allégorie du patrimoine, 1996. 13 So zuletzt Daston, Park, Wonders and the Order of Nature, 1998. Das Mittelalter spielt aber auch in dieser für die Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit bahnbrechenden Arbeit wenig mehr als die Rolle einer Vorgeschichte.

Einleitung

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Nicht nur die akademische Kunstwissenschaft, sondern auch die Präsentation und Vermittlung in Museen und Sonderausstellungen hat sich mittelalterlichen Schätzen angenommen. Den damals aktuellen Stand der Ausstellungspraxis von Schätzen fasste Franz Ronig, Diözesankonservator und Leiter des Amtes für Kirchliche Denkmalpflege in Trier, in einem Beitrag zur großen Ausstellung über „Kunst an Rhein und Maas" des Jahres 1972 treffend zusammen. „Viele Ausstellungen waren schon der Schatzkunst gewidmet. Die Objekte wurden in den kunsthistorischen Zusammenhang eingereiht oder als kostbare Einzelstücke gezeigt. Die Frage nach ihrem ,Sitz im Leben spielte dabei jedoch kaum eine Rolle, die Frage nach der ursprünglichen Aufbewahrung und dem Aufbewahrungsort wurde nicht gestellt. So ist es verständlich, dass auch in einschlägigen Handbüchern und Lexika der entsprechende Artikel fehlt. Die Erforschung des mittelalterlichen Schatz- und Heiltumskammerwesens ist also ein Desiderat!' 14 Ronigs eigener Beitrag wurde seiner Kritik in gewisser Weise gerecht und wies über das hier Gesagte hinaus, denn er versuchte, Reliquiare in ihrem ursprünglichen Kontext von Liturgie und Verwahrung zu betrachten. Dahinter verbarg sich erneut ein kunstwissenschaftliches Interesse, das sich für die funktionalen Bedingungen und Begründungen der Entwicklung in der Architektur von Sakristeien und anderen Verwahrungsorten von Schätzen interessierte; und so geriet der Schatz als eigenständiges kulturelles Phänomen auch von dieser Warte aus letztlich wieder nicht in den Blick. Dennoch, mit der Ausstellung „Kunst an Rhein und Maas" im Jahre 1972 erfolgte gewissermassen der Auftakt einer Reihe umfassender Schatzausstellungen, die bis heute anhält; es folgten Ausstellungen in Venedig, Köln, Paris, Braunschweig, Aachen, Basel und jüngst erneut zwei Mal in Paris.15 Auch in den 14 Ronig, Schatz- und Heiltumskammern, 1972, S. 134. Hierauf verwies übrigens Swarzenski bereits in den 1950er Jahren. Swarzenski, Monuments of Romanesque Art, 1953. 15 Den Zyklus grosser Schatzausstellungen mit „Rhein und Maas. Kunst und Kultur 8 0 0 - 1 4 0 0 " im Jahre 1972 beginnen zu lassen, ist sowohl vom Unfang der damaligen Schau als auch vom Umfang der wissenschaftlichen Begleitpublikation in Form eines Katalogs bzw. der darin sich zeigenden wissenschaftlichen Bearbeitung der Ausstellungsobjekte begründet. In diesem Sinne (und Umfang) wurde die Reihe 1984 mit der Schau des Schatzes von San Marco im Palazzo Grassi in Venedig fortgesetzt. Ein Jahr später fand in Köln die Ausstellung Ornamenta Ecclesiae statt (1985), der 1991 in Paris eine Präsentation des französischen Königsschatzes und 2 0 0 0 in der Aachener Krönungsausstellung ein Blick auf den Schatz des mittelalterlichen Reichs folgten. Ebenfalls in Ausstellungen gewürdigt wurden der Weifenschatz (1995), der Schatz der Saint-Chapelle (2001 ), der Basler Münsterschatz (2001 ) sowie der Schatz von

Conques (2001). Rhein und Maas, 1972. II tesoro di San Marco, 1984. Le trésor de Saint-

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Schatz in Gesellschaften des Mittelalters

Ausstellungen der letzten Jahre sind Nähe und Interdependenz von Forschung und Präsentationsspraxis unübersehbar. Meist werden Schätze in Ausstellungen als Schauen spektakulärer Einzelobjekte präsentiert, die hinter dickem Panzerglas geschützt und auf kardinalsroten Kissen gebettet im Glanz moderner Beleuchtungsästhetik geheimnisvoll schimmern; nur rudimentär erläutert, sollen die Exponate scheinbar für sich selbst sprechen. Mit Fragen nach den sozialen, ökonomischen oder politischen Kontexten, in denen diese Schätze angelegt, inszeniert und verwahrt wurden, werden die Ausstellungsbesucher möglichst nicht belästigt und belastet. Die historische Distanz ihrer Herkunft, der einem modernen Publikum vermeintlich unmittelbar verständliche, materielle Wert in Verbindung mit einer Präsentationsweise, die Augenlust und ästhetische Finesse favorisieren, lassen von mittelalterlichen Schätzen bis heute eine magische Aura, eine Spur von Geheimnis ausgehen. Hier ist entscheidend, dass es auch der mit der mediävistischen Schatzforschung eng verbundenen Ausstellungspraxis bisher nicht gelang, eine umfassende Betrachtung mittelalterlicher Schätze zu entwickeln, welche einerseits den Schatz als Ort und Konzept mittelalterlicher Kultur wirklich erfassen sowie andererseits dem Mittelalter für dieses Thema den Status eigenständiger Bedeutung zuweisen würde. Auch die Geschichtswissenschaft hat sich mit Schätzen des Mittelalters auseinander gesetzt. Bis heute wegweisend bleiben die Arbeiten von Percy Ernst Schramm.16 In seinem Standardwerk zu „Herrschaftszeichen und Staatssymbolik" hat er gemeinsam mit international anerkannten Autoren Herrscherschätze über einen Zeitraum von mehr als tausend Jahren, in europäischer Perspektive sowie von interdisziplinärerWarte untersucht.17 In der Tradition deutscher Reichsmediävistik wandte sich Schramm den Insignien mittelalterlicher Herrschaft zu. In diesen erkannte er nicht nur Ideen und Vorstellungen von Herrschaft in ihrer symbolischen Form, sondern in der Verwendung der Insignien in Ritual und Ze-

Denis, 1991. Heinrich der Löwe, 1995. Der Weifenschatz, 1998. Krönungen. Könige in Aachen, 2000. Le trésor de la Sainte- Chapelle, 2001. Basler Münsterschatz, 2001. Le trésor de Conques,

2001. 16 Schramm, Herrschaftszeichen und Staatssymbolik, 1954-56. Schramm, Denkmale, 1962-1978. 17 Der moderne organisatorische Zuschnitt dieses Unternehmens darf nicht darüber hinweg täuschen, dass das Gesamtbild, das Schramm entwirft, die Anliegen deutscher Verfassungsgeschichte des 19. Jh. fortschrieb und sich somit einer zutiefst traditionell-konservativen Geschichtsauffassung verpflichtet fühlte, wie sie in der deutschen Reichsmediävistik weit verbreitet war. Zu Schramms Beitrag und Methode vgl. Burkart, Verworfene Inspiration, 2009.

Einleitung

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remoniell der Herrschersetzung, wie sie in den Krönungsordines normativ fixiert waren, wies er ihnen zugleich verfassungsrechdiche Bedeutung zu. So innovativ der Fokus auf die symbolische Dimension mittelalterlicher Herrschaft im Blick auf deren Insignien auch war, richtete sich Schramms Interesse letztlich erneut auf einzelne Objekte und deren Bedeutungsgehalt für die verfassungsrechtliche Fundierung von Herrschaft; jenseits dessen hatten Schätze für ihn keine eigenständige Bedeutung. Sakralschätze berücksichtigte er zudem nur, wenn sie herrschaftsrelevant waren, das heißt wenn sie Insignien enthielten; wo nicht unmittelbar auf die Sakralität weltlicher Herrschaft verwiesen wurde, waren Schätze ausschließlich profan oder politisch. In den Herrschaftszeichen des Mittelalters sah Schramm letztlich den Beweis geführt, dass bereits für das Frühmittelalter, für das in den schriftlichen Quellen eine entsprechende Begrifflichkeit nicht nachweisbar ist, zu Recht von Vorstellungen .staatlicher Gebilde' auszugehen ist; die Insignien und Schatzobjekte ließen den .mittelalterlichen Staat', wie ihn die Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts ersonnen hatte, tangibel werden.18 Damit war aber auch Schramms Interesse letztlich auf einzelne Objekte gerichtet und zudem einer eindeutigen historiographischen Finalität verpflichtet, weshalb Schätze als Ensemble und als Konzept mittelalterlicher Kultur auch bei ihm nicht in den Blick gerieten. Mit einem neueren, letztlich aus der Mentalitätsgeschichte der AnnalesTradition erwachsenen Interesse an religiösen und devotionalen Praktiken einzelner gesellschaftlicher Schichten sowie Individuen wurde die Geschichtswissenschaft in nochmals anderer Perspektive auf mittelalterliche Schätze aufmerksam.19 Mit den sozialen und symbolischen Ordnungen religiöser Praktiken und Vorstellungen gelangten jüngst auch der Aspekt des Schatzensembles sowie die Strategien ihrer Bildung in den Blick. 20 Da es sich hierbei häufig um die Untersuchung mittelalterlicher Reliquienverehrung handelt, fallen andere Aspekte erneut unter den Tisch. Mögen somit Teilaspekte mittelalterlicher Schatzkultur immer wieder angesprochen worden sein, bildete diese auch in der historischen Mediävistik bis anhin nie den Fluchtpunkt, in dem die zahlreichen Bedeutungsfacetten zusammenliefen.

18 Hierzu ausfuhrlich unten Abschnitt VII. 2. „Multiple Herrschaftszeichen, politisches Tauschgeschäft und das Reich um das Jahr 1000".

19 Signori, Unsichtbare Schätze, 2001, S. 337-348. Meiliges Westfalen , 2003. Kühne, Ostensio reliquiarum, 2000. 20 Boesch Gajano, Tesaurizzazione delle reliquie, 2005. Cordez, Gestion et médiation des collections de relique, 2006.

20

Schatz in Gesellschaften des Mittelalters

Entsprechend liegen bisher kaum Untersuchungen vor, die die meist nur parallel verlaufenden disziplinären Diskurse aufeinander bezogen hätten. 21 Abschließend lässt sich festhalten, dass mittelalterliche Schätze in verschiedenen Disziplinen wahrgenommen und immer wieder zum Gegenstand von Untersuchung und Analyse gemacht wurden. Dies gilt für die Kunstwissenschaft, aber auch für Geschichte. In zahlreichen Einzeluntersuchungen, Katalogen und Ausstellungsprojekten wurde die materielle Überlieferung in der Zwischenzeit beinahe vollständig erschlossen, womit für die vorliegende Untersuchung eine unverzichtbare Basis geschaffen worden ist. Diese Arbeiten können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass bisher noch nie der Versuch unternommen wurde, Schatz tatsächlich als ein kulturelles Konzept zu verstehen und dies anhand mittelalterlicher Gesellschaften darzustellen. Schätze waren entweder Geld- und Goldschätze, waren Herrscherschätze oder Kirchenschätze, waren Herrschaftszeichen oder Gnadenschatz. Bisher unversucht geblieben ist es, in Schätzen einen Ort zu beschreiben, der über diese Teilaspekte hinaus etwas Verbindendes aufweist, ja hierin gerade das für die kulturelle Bedeutung entscheidende Merkmal von Schätzen und Schatzbildung im Mittelalter erkennt.

21 Wo sich die Vielfalt disziplinarer Zugänge bisher begegnete, blieben diese in seltsamer Weise ohne gegenseitigen Einfluss. Vgl. Vavra, Umgang mit Schätzen, 2007. Es scheint somit tatsächlich an einem umfassenden Verständnis von Schätzen als einem kulturellen Phänomen zu fehlen, das die Vielfalt zum eigentlichen Signum erhebt sowie eine Methode entwickelt, wie dieses Signum in mittelalterlichen Gesellschaften zu deuten sei. Vgl. Burkart u.3..,Le Trésor au Moyen Age, 2005. Burkart u.a., Le Trésor au Moyen Age, 2009.

II. M I T T E L A L T E R U N D SCHATZ

In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts verfasste Richard von Ely (ca. 1130— 1198), Schatzmeister am Hofe des englischen Königs Heinrichs II. (11331189), ein Lehrbuch der königlichen Schatzverwaltung mit dem Titel Dialogus de scaccarioIn Dialogform zwischen Schüler und Meister gibt der Autor Praxis und Theorie königlicher Finanzverwaltung am englischen Königshof wider. In diesem Dialog werden wiederholt Bedeutung und Funktion von Schatz verhandelt. Der Meister spricht zu seinem Schüler: „Du weißt, dass man unter () manchmal gemünztes Geld, goldene und silberne Gefäße aller Art und Festgewänder versteht. Auf diese Bedeutung bezieht sich das Wort: Als Schatz wird aber auch der Ort der Aufbewahrung bezeichnet, weshalb auch als , das heisst Goldlager verstanden werden kann!'2 Es klingen hier bereits verschiedene Bedeutungen von Schatz an. Zunächst Geld, das von der königlichen Steuerverwaltung eingetrieben und verwahrt wird, dann Ausstattungselemente der königlichen Hofhaltung und damit ihre Repräsentationsfunktion sowie schließlich die institutionalisierte und örtlich definierte Kontinuität königlicher Politik im Schatzamt. Liest man weiter, wird die Aufgabe, die Schatz, Schatzamt und Schatzmeister zugedacht war, deutlich erkennbar: sie sollen dem König treu dienen. „Doch gibt es viele Dinge in den Truhen des Schatzhauses, die vom Schatzmeister und den Kämmerern transportiert, eingeschlossen und bewacht werden, wie ich oben ausführlicher dargestellt habe. Dazu gehören das Siegel des Königs, nach dem du fragst, das < Gerichtsbuch >, der sogenannte Forderungsrodel, den manche das Pachtenverzeichnis nennen, weiter die großen Jahresabrechnungsrodel, zahlreiche Privilegien, Belege und Rodel für die

1 2

Ricardus de Ely, Dialogus, 1963. Ricardus de Ely, Dialogus, 1963, S. 135.

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Schatz in Gesellschaften des Mittelalters

Eingänge, Zahlungsanweisungen und vieles andere, dessen man während der Sitzung des Rechnungshofes jeden Tag b e d a r f 3 Bedeutung und Funktion des Schatzamtes und seiner Angehörigen liegen in der Sicherung und praktischen Abwicklung königlicher Herrschaft. Doch jenseits dieser fiskalischen, institutionellen, iudikativen, politisch-repräsentativen sowie ökonomischen Bedeutung von Schatz, die in den Dienst der königlichen Herrschaft und deren Kontinuität gestellt werden, deutet sich im Verständnis Richard von Elys bereits der Hintergrund an, vor dem alle Schätze und alle Schatzbildung in mittelalterlichen Gesellschaften immer auch zu deuten sind : ein Bibelwort. „ Ubi est thesaurus tuus, ibi est et cor tuurnA. Auf den Dialog über das Schatzamt bezogen, spiegelt sich hierin zunächst die Wertschätzung und Bedeutung des Amtes selbst. So bemerkt der am Dialog beteiligte Schüler bereits ganz zu Beginn. „Wahrlich ist der groß, dem die Sorge für das ganze Reich, ja sogar das Herz des Königs anvertraut ist. Denn es steht geschrieben: " 5 Wird damit zunächst die Wichtigkeit des Schatzamtes unterstrichen, so greift der Verweis auf das Bibelwort dennoch weit darüber hinaus; denn es wird darin der gesamte Themenkomplex von Schatzbildung im Christentum rezipiert, der mit dem Zitat angesprochen ist: die Frage nach dem Verhältnis irdischer und himmlischer Güter und ihrer Akkumulation im Schatz. „Sammelt keine Schätze hier auf der Erde! Denn ihr müsst damit rechnen, dass Motten und Rost sie auffressen oder Einbrecher sie stehlen. Sammelt lieber Schätze im Himmel. Dort werden sie nicht von Motten und Rost zerfressen und können auch nicht von Einbrechern gestohlen werden!"6 Diese Stelle, die dem von Richard entliehenen Bibelwort unmittelbar vorangeht, bildet den kulturellen Hintergrund, vor dem der Bischof von Ely seinen Traktat verfasst. Die letztlich höchste Bedeutung des Schatzamtes, des Schatzmeisters sowie jeder materiellen Akkumulation ergibt sich aus diesem Bezug. Die Deutungshoheit der Heiligen Schrift für alles menschliche Tun zeigt sich hier völlig ungebrochen.

3 4 5 6

Ricardus de Ely, Dialogus, Mt 6,21; Lk 12,34. Ricardus de Ely, Dialogus, Mt 6,19-20; Lk 12,33.

1963, S. 135. 1963, S. 34.

Mittelalter und Schatz

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„Wir wissen zwar, dass vor allem durch Klugheit, Stärke, Maß, Gerechtigkeit u n d die übrigen Fürstentugenden Reiche regiert werden u n d R e c h t bewahrt bleibt; deshalb sollen auch die Fürsten dieser Welt alle Kräfte auf diese Tugenden verwenden. D o c h geschieht es bisweilen, dass das a u f G r u n d klarer Ü b e r l e g u n g oder in einem überragenden Geist E n t w o r f e n e sich schneller verwirklicht mit H i l f e des G e l d e s und, was schwierig erschien, mit G e l d mühelos z u m Ziel g e f ü h r t wird, fast wie es bei Handelsgeschäften B r a u c h ist. N i c h t nur im Kriege, auch in Friedenszeiten erweist sich G e l d als unentbehrlich: Im K r i e g wird es zur B e w a h r u n g des Reiches aufgewendet: für die Verstärkung der Festungen, f ü r die E n t l o h n u n g der Söldner u n d für eine ganze A n z a h l weitere Zwecke, je nach R a n g u n d S t a n d der Person; im Frieden ruhen zwar die Waffen; d o c h werden v o n den f r o m m e n Fürsten Kirchen erbaut, wird Christus gespeist u n d gekleidet in den A r m e n , wird in steter Verrichtung weiterer Werke der Barmherzigkeit der M a m m o n verteilt. Im K r i e g wie im Frieden aber liegt der R u h m der Fürsten in kraftvollen Taten; d o c h steigt er d o r t a m höchsten, w o aus vergänglicher Leistung durch einen glücklichen Tausch ewiger G e w i n n erwächst." 7 D e r Schatz war in diesem L e h r b u c h der Finanzverwaltung mit anderen Worten nicht nur ein O r t königlicher Herrschaftsorganisation u n d -Sicherung, sondern zugleich ein O r t der Transzendierung materieller A k k u m u l a t i o n ; hier wurden materielle G ü t e r im G e s t u s der caritas in jenseitigen, ewigen G e w i n n verwandelt. D a m i t war aber ein W e g gefunden, über das Bibelwort hinauszugehen; zwischen irdischen u n d himmlischen Schätzen bestand kein W i d e r s p r u c h u n d gegenseitiger Ausschluss mehr, wie es n o c h im Evangelium heißt 8 , sondern wurden vielmehr Möglichkeiten des Transfers eröffnet. E t w a zeitgleich zur Entstehung des D i a l o g s über das Schatzamt entstand in der Benediktinerabtei von Zwiefalten in W ü r t t e m b e r g eine Beschreibung des Klosterschatzes durch den K u s t o s u n d späteren A b t Berthold. 9 „ Q u o n i a m e o tempore, q u o haec exorsus s u m scribere, custos eram ecclesiae, libet o m n i generationi, quae ventura est ad hunc l o c u m pandere qualis quantusve sub m e a cura fuerit thesaurus ecclesiae sanctae D e i genetricis Mariae. 7 8 9

Ricardus de Ely, Dialogus, 1963, S. 4. Hierzu von Müller, Kirchenschatz als politisches Zeichensystem, 2001, S. 221 f. Neben der bereits zitierten Stelle ist hier natürlich an die berühmte Metapher vom Kamel und dem Nadelöhr zu erinnern. Mt 19, 24; Mk 10, 25; Lk 18, 25. Berthold, Liber de construction, in : MGH SS 10, S. 119-120.

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Schatz in Gesellschaften des Mittelalters

Crux aurea sanctorum reliquiis plena pretiosis lapidibus magnifice insignata. Alia etiam crux aurea a Salome de Bolonia missa. Item alia crux dominica plaeclara, speciosa, salutifera, de Hierosolimis per Bertholdum aliata, ex auro puro et lapidibus ad Oudalrico paene in modum libri fabricara; tertia argentea deaurata ingemmata de Bolonia missa; quarta ex auro, argento, aere et lapidibus fabricata a Marcwardo presbitero data;... item octo vel decern cruciculae, quae inter philacteria computantur; nam ita parvulae sunt, ut in diebus rogationum a fratribus collo suspensae portentur; ex his duae deauratae sanctorum pignoribus plenae ad infirmos benedicendos deportantur. Duo scrinia eburnea. Tres píxides eburneae; quarta parvula argentea deaurata ductilis pulcherrimi operis; quinta aerea deaurata, electro et lapidibus decorata similitudinem civitatis fabricata. Duo plenaria ... duodecim calices... quatuor turibula... duo candelabra deaurata... sex urceoli... quatuor dorsalia... octo tunicae ... sexaginta cappae ..."10 An dieser Stelle bricht der Text nicht etwa ab, sondern fáhrt im gleichen Stil noch ein gutes Stück fort; zahlreiche weitere Objekte werden aufgelistet, es wird an Stifter erinnert, und so wächst das Verzeichnis auf eine beachtliche Länge an. Obwohl also auch hier von einem mittelalterlichen Schatz die Rede ist, wirft diese Quelle ganz andere Schlaglichter und verweist auf Bedeutungen, die bei Richard von Ely nicht angesprochen werden. Möglicherweise fasst das Inventar sogar genauer, was aus heutiger Perspektive unter einem mittelalterlichen Schatz verstanden wird: eine Menge goldener und silberner Gegenstände, kunstvoll gefertigte Artefakte sowie die sterblichen Überreste von Heiligen, Reliquien. Doch Inventare geben nicht nur Bestände wider, sondern verweisen auch auf funktionale Zusammenhänge, Herkunft, Verwahrung und Nutzung von Schätzen.11 Mit den Reliquien sind Heiligenmemoria und deren Organisation nach dem liturgischen Kalender verbunden, während das verzeichnete Altargerät belegt, dass der Schatz in der klösterlichen Liturgie Verwendung fand; doch der Schatz wurde auch ausserhalb der Messe etwa für Segnungen {ad infirmos benedicendos) oder in Prozessionen (a fratribus collo suspensae portentur) eingesetzt. Dann verweist die Nennung von Stiftern im Inventar namentlich auf Wohltäter des Klosters sowie auf das klösterliche Totengedenken. Schließlich bildet sich in diesem Inventar auch die Tatsache ab, dass ein Schatz sich in der Administration

10 Bischoff, Mittelalterliche Schatzverzeichnisse, 11 Burkart, Das Verzeichnis als Schatz, 2006.

1967, N. 116.

Mittelalter und Schatz

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eines Klosters niederschlug. Ein eigens hierfür zuständiger Kustos nahm sich seines an und war dafür verantwortlich {sub mea cura). Das Schatzinventar einer Benediktinerabtei und das Lehrbuch königlicher Finanzverwaltung verwenden, um ihren Gegenstand begrifflich zu fassen, übereinstimmend thesaurus. Das alleine wäre jedoch noch kein hinreichender Grund, die beiden Quellen aufeinander zu beziehen. Entscheidend ist vielmehr, dass in einer vergleichenden Lektüre zeitgenössische Vorstellungen, Praktiken und Dispositionen hervortreten, durch die den Schätzen erst eigentlich Bedeutung beigemessen wurde. Vorstellungen, Praktiken und Dispositionen sind zudem nicht nur als mögliche Alternativen getrennt voneinander zu denken, sondern in ihren Interaktionen zu deuten. Es geht mit anderen Worten nicht darum, Schätze als endgültig definierte Fest- und Zuschreibung kultureller Werte zu schildern, sondern sie in ihren multiplen gesellschaftlichen Kontexten als Orte von Bedeutungsüberlagerung zu interpretieren; dabei werden Kontinuitäten und Brüche mittelalterlicher Schatzbedeutung gleichermaßen sichtbar. In diesem Sinn ist in der vorliegenden Arbeit bewusst nicht von dem einen Mittelalter die Rede, sondern von Gesellschaften des Mittelalters. Dieses Buch gliedert sich in zwei Teile. Im ersten wird nach Möglichkeiten und Bedingungen mittelalterlicher Schätze und Schatzbildung gefragt. Genese, Diskurse, Praxis und Begriffvon Schätzen stehen im Zentrum des Interesses. Zugleich geht es an dieser Stelle auch darum, ein begriffliches und methodisches Instrumentarium zu entwickeln, mit dem ein mittelalterliches Schatzkonzept analysiert werden kann. In der Forschung zu Schätzen besteht ein breites Angebot, über das jedoch kaum Einigkeit besteht. In unterschiedlichen Forschungstraditionen und Wissenschaftsdisziplinen entwickelt, prägen Begriffe und Vorstellungen wie diejenigen von Schatzbildung, Horten, Thesaurieren und Akkumulation die Untersuchungen zu Schätzen; diese Begriffe und das Verhältnis, in dem sie zueinander stehen, bedürfen jedoch einer terminologischen und methodischen Klärung. Der zweite Teil wendet sich der Analyse ausgewählter Beispiele zu. Dabei wird in diachroner Perspektive eine Auswahl mittelalterlicher Schätze untersucht und diese auf ihre Bedeutungen, Funktions- und Wahrnehmungsweisen hin befragt. Zugleich verbindet sich das historische Interesse mit systematischen Analysekategorien, auf die in den vier thematischen Kapiteln (IV.-VII.) besonderes Gewicht gelegt wird. Doch das Interesse an einer Systematik der Funktions- und Wahrnehmungsweisen mittelalterlicher Schätze hat auch seine Kosten. Es führt zwangs-

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Schatz in Gesellschaften des Mittelalters

läufig dazu, dass die materielle Basis der Untersuchung, das heißt die Schätze selbst sowie die Texte zu Schätzen, nicht gleichermaßen systematisch erarbeitet und untersucht werden konnten. Es ging also nicht darum, die ausgewählten Schatzbeispiele ihrem Bestand und dessen Entwicklung nach für das gesamte Mittelalter monographisch zu erfassen; dies ist für viele der hier herangezogenen Beispiele bereits geleistet worden, und es wurde in dieser Untersuchung vielfach auf diese Ergebnisse zurückgegriffen. Angesichts der reichen Überlieferung mittelalterlicher Schätze in Texten, Bildern und Objekten war es zudem notwendig, eine Auswahl der Beispiele zu treffen. Diese verweist jedoch nicht nur auf unterschiedliche Schatzensembles und -bestände, sondern auch auf unterschiedliche soziale, ökonomische und politische Konstellationen, in denen Schätze standen und unter deren Bedingungen Schatzbildung, Schatzdiskurse und Schatzpraktiken folglich zu analysieren sind. Die getroffene Auswahl - Papstschatz, Königsschatz und Schatz im mittelalterlichen Reich sowie schließlich der Kathedralschatz einer Reichsstadt - öffnet einen weiten Horizont, vor dem mittelalterliche Schätze als kulturelle Phänomene gedeutet werden sollen. Einen weiteren Punkt gilt es voranzuschicken. Insbesondere in den beiden letzten Kapiteln wird der Blick weit über das Mittelalter hinaus gerichtet. Denn die Bedeutung von Schatz und Schatzbildung brach mit dem Ende des Mittelalters, wo immer man dieses Ende auch ansetzen mag, nicht ab. Alleine schon die Kontinuität der materiellen Überlieferung machte Schätze zu Objekten eines vormodernen Erbes, mit dem auch die Moderne umzugehen hatte. Dabei wird jedoch rasch deutlich, dass in und an mittelalterlichen Schätzen nicht nur der Glanz von Gold, Silber und Edelsteinen tradiert wurde, sondern auch die Bedeutungszuschreibungen. Diese wurden denn auch bis in die Geschichte des 20. Jahrhunderts rezipiert und im jeweiligen sozialen, politischen und kulturellen Kontext neu gedeutet und inszeniert. Deshalb sollen sie hier als zwei exemplarische Ausblicke ins 19. und 20. Jahrhundert mit aufgenommen werden. Schatzgeschichten sind Geschichten, die durch die Jahrhunderte hindurch bis in die Gegenwart reichen und auf diesem Weg immer wieder neue Bedeutungen zugeschrieben erhalten.

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1. Schatz, Reichtum und A r m u t in der mittelalterlichen Kirche Der mittelalterliche Schatzdiskurs ist theologisch geprägt; das Denken von Klerikern dominierte Verständnis, Bedeutung und Wertvorstellungen von Schätzen. Damit wurden jedoch weniger Definitionen festgeschrieben, als vielmehr ein Interpretationsangebot bereitgestellt, das einen Rahmen für Vorstellungen von und Umgang mit Schätzen und Schatzbildung darstellte. Für Klerus und Theologie warfen Schatz und Reichtum komplexe Fragen auf, die immer wieder kontrovers debattiert wurden. Das Beispiel des Erlösers, wie es im neuen Testament überliefert war, stellte ein wirkmächtiges Vorbild dar, auf welches das gesamte Mittelalter hindurch verwiesen wurde und das Christus als vollkommen besitzlos zeigte. Selbst die Kleider, die Jesus am Leibe trug, sollen nicht ihm gehört haben. Bereits die Kirchenväter verwiesen hierauf und begründeten damit die freiwillige Armut als ausgezeichnete christliche Lebensform. Bildung und Besitz eines Schatzes scheinen dazu in einem nicht auflösbaren Widerspruch zu stehen. Doch die Kontroverse um Besitz und Reichtum war kein rein theoretisches Problem; sie wurde also nicht nur als theologischer Disput geführt, sondern entzündete sich zugleich an der Praxis religiöser Institutionen, Reichtum zu akkumulieren und Schätze zu bilden. Diese Praxis stand mitunter in vor-christlichen Traditionen12, gebärdete sich Besitz und Reichtum gegenüber weit weniger kritisch, als die Theorie es vorgab und führte somit immer wieder zu Konflikten.13 Bereits zur Zeit der Erklärung der Glaubensfreiheit im römischen Reich durch das Edikt von Mailand im Jahr 313 fehlte es nicht an Stimmen, die am wachsenden Reichtum der Kirchen Anstoß nahmen. Auf den Widerspruch zwischen einem Ideal individueller Lebensführung nach dem Vorbild Christi einerseits und dem gleichzeitigen kollektiven Reichtum der Kirchen andererseits mussten die Theologen eine Antwort geben und sie taten dies im Verlauf der über 1000-jährigen Geschichte des Mittelalters in unterschiedlicher Weise. Denn trotz dauerhaft gültiger Referenzpunkte in der Heiligen Schrift sowie in der exegetischen Tradition und damit auch trotz einer gewissen Kontinuität im Diskurs über Armut und Reichtum veränderten sich die Bedeutungen dieses Diskurses im Kontext seiner kulturellen Einbettung. Jede Gesellschaft fand über

12 Janes, God and Gold, 1998. 13 Hengel, Eigentum und Reichtum, 1973. De Ste. Croix, Early Christian attitudes, 1975, S. 1-38. Countryman, Rich Christian, 1980. Sheils, Wood, Church and Wealth, 1987. Winslow, Poverty and riches, 1989, S. 317-327.

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das tradierte Arsenal diskursiver Formeln und Referenzstellen hinaus ihren eigenen Umgang mit dem stets problematischen Verhältnis von Armutsideal und kirchlichem Reichtum. Obwohl also für die Frage nach der Vereinbarkeit von christlichem Glauben und Reichtum keine abschließende Antwort gefunden werden konnte, und obwohl sich am realen Reichtum der Kirche immer wieder heftige Kritik entzündete, weist diese Debatte unter sich verändernden historischen Bedingungen unterschiedliche Facetten auf. Bereits die Patristik hatte sich dem Widerspruch zwischen individueller Lebensführung in Armut und kollektivem Kirchenbesitz zu stellen. Dabei wurden Positionen und Meinungen geäußert, die für das gesamte Mittelalter und darüber hinaus Gültigkeit beanspruchten und als Autoritäten immer wieder zitiert werden sollten. Ambrosius und Augustinus waren mit anderen der Ansicht, dass nicht der Reichtum an sich schädlich sei, sondern der falsche Umgang damit; „nicht der Reichtum begeht ein Verbrechen, sondern der Wille [der Menschen] " schrieb Ambrosius, und Augustin konstatierte, dass das Böse keine Substanz sei, sondern Resultat des Missbrauchs oder der verdorbene Zustand des von Natur aus Guten.14 Als Teil der Schöpfung konnten Gold, Silber und Edelsteine, die Manifestationen des Reichtums, nicht von sich aus schlecht sein. Das wirkungsvollste Argument zur Legitimation von Reichtum im Besitz der Kirche fand die Theologie jedoch nicht in feinsinnigen Differenzierungen zwischen der Essenz und den Akzidenzien kostbarer Materialien, sondern vielmehr in deren Einbindung in ein Programm christlicher Tugenden, allen voran der caritas. Als erste Aufgabe jedes frommen Christen rechtfertigte die christliche Liebe nicht nur Besitz, sondern bedurfte seiner geradezu - sowohl individuell als auch kollektiv. Augustin scheute deshalb selbst ein Sinnbild nicht, das Christus als Hüter der großen himmlischen Bank vorstellte, als dessen Stellvertreterin die ecclesia Reichtümer auf Erden besaß, die sie Bedürftigen zukommen ließ.15 Die barmherzige Vergabe im Gestus der caritas beanspruchte das gesamte Mittelalter hindurch Gültigkeit. Wie die Kritik an Besitz und Reichtum gründete auch die Approbation materiellen Besitzes auf der Heiligen Schrift, so dass selbst kritische Stimmen diesen Nexus in der Regel nicht 14 Ambrosius, Expositiones Evangelii, 5. Gonzalez, Faith and Wealth, 1990, S. 214. 15 Es geht hier um die Exegese von Mt 6, 20 („Legt Euch einen Schatz im Himmel an") und damit auch um den Umgang mit weltlichem Reichtum. Christus, so Augustins Argumentation, garantiert, dass seine Schöpfung - wenn auch gewandelt - erhalten bleibt {„noli timere ne perdas; dator ego eram, custos ego ero"). Die Einlage in diese Bank und deren Erhalt ist jedoch nur im Gestus der caritas denkbar (J'one in manibuspauperum, da egentibus"). Augustinus, Ennarationes in psalmos 38,12. Janes, God and Gold, 1998, S. 154.

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anzufechten wagten - im Gegenteil; sie bemängelten allenfalls die zu zurückhaltende Praxis der Vergabe, welcher eine nur allzu willige Bereitschaft der Annahme von Besitz gegenüberstand. Somit ließ sich in der caritas das christliche Lebensideal nach dem Vorbild Christi mit persönlichem und kollektivem Besitz in Übereinstimmung bringen. Schon Ambrosius formulierte diesen Zusammenhang in seiner ethischen Schrift de ojfficiis ministrorum

deutlich.

tyAu-

rum Ecclesia habet; non ut servet, sed ut eroget, et subveniat in necessitatibus!'16 Nicht der eigene Gebrauch, sondern die christliche Nächstenliebe ist die Bestimmung des Kirchenbesitzes. Doch längst nicht aller Reichtum, den die Kirche besaß, wurde in diesem Sinne genutzt. Längst nicht alles, was sich in ihrem Besitz ansammelte, wurde auch als karitative Gabe unter Witwen und Waisen, Armen und Kranken wieder verteilt. In der Praxis befolgten die Kirchen das Diktum des Bischofs von Mailand keineswegs derart konsequent. Denn Kirchen waren zunächst selbst Empfängerinnen von Gaben, die sich in ihrem Schoss zu Schätzen anhäuften. 17 Wie schwer sich die mittelalterliche Kirche mit dieser Frage tat, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Übertragung von weltlichem Besitz in die Verfügungsgewalt der Kirche, also der eigentliche Ursprung aller Kirchenbesitzungen, erst in einem Konzilsbeschluss des 9. Jahrhunderts von ihren ambivalenten Assoziationen befreit werden konnte, ohne damit die Frage abschließend zu klären; damit wurde allenfalls eine Praxis legitimiert. Das Konzil von Aachen (836) hielt fest, dass pretiosa, welche der Kirche einmal als Zuwendung übertragen worden waren, unwiderruflich Teil des ius sacerdotum waren; dabei spielte die äußere Form dieser pretiosa keine Rolle. 18 Doch Augustins Metapher von der Gottesbank lässt sich nicht nur fur den Besitz von Gütern und die Vergabe im Gestus der caritas verwenden, sondern auch weiterdenken. Im Namen der himmlischen Bank und als deren irdische Vertreterin schüttete die Kirche Dividenden aus. Doch sowohl die Bank Christi wie auch deren irdische Filialen waren eben wirkliche Banken, in denen Güter verwahrt wurden; diese Banken verfügten mit anderen Worten nicht nur über eine Schalterhalle, in der Ein- und Auszahlungen getätigt wurden, sondern

16 PL 16, cap. 28. 17 Zur Differenzierung zwischen Gütern, die mit dem Ziel, im Gestus der caritas wieder veräussert zu werden, gewissermassen als Teil einer Tauschökonomie zu gelten haben, und Gütern, die als Schätze thesauriert, also nicht wieder getauscht werden und somit einer unterschiedlichen ökonomischen Logik folgen, s. Abschnitt IV. 1. „Tauschökonomie und Schatzökonomie". 18 M G H , LL III, Concilia 2, 2,741, cap. 32.

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auch über einen Tresorraum, in dem Güter als Schätze verwahrt wurden. Dabei stammte ein Gutteil dieser Schätze aus dem Erbe früherer Zeiten und nichtchristlicher Traditionen.

2. Die Schätze der , Alten' Um den Schatzdiskurs mittelalterlicher Theologen zu verstehen, reicht die patristische Exegese der Heiligen Schrift nicht aus. Die Frage nach Bedeutung und Funktion von Schätzen und Schatzbildung lässt sich nicht als ein ausschließlich aus der christlichen Tradition gewachsenes Phänomen begreifen. Zwei weitere Traditionsstränge sind für die Schatzbildung in mittelalterlichen Gesellschaften bedeutsam. Zum einen stand die Bildung von Schätzen in der Tradition der heidnischen Antike, Herrschaft durch materiellen Reichtum zu markieren und zu repräsentieren. Sowohl für die griechische wie auch die römische Antike ist dieser Zusammenhang nachweisbar. Zum anderen führte auch eine Verbindung von der jüdischen Kultur zur christlichen Schatzbildung. Das jüdische Bildverbot, das auf dem zweiten mosaischen Gesetz beruht und demzufolge Jahwe nicht figürlich dargestellt werden darf, stiftete eine tiefe Verbindung zwischen der Darstellbarkeit Gottes und materiellem Reichtum. Sowohl in der griechischen als auch in der römischen Kultur war weltliche Herrschaft stets begleitet von Reichtum als Zeichen sozialer und politischer Distinktion. Diese Zeichen gesellschaftlicher Stellung und Wertschätzung waren ihrerseits wiederum auf entsprechende Kommunikationszusammenhänge angewiesen. Materieller Besitz wurde mit anderen Worten nicht im Dunkeln gehütet, dem gesellschaftlichen Blick entzogen, sondern war integraler Bestandteil sozialer Kommunikation. In der Verehrung antiker Herrscher fand dieser Zusammenhang seinen prägnantesten Ausdruck. Die großzügigen Gesten symbolischer Verausgabung römischer Kaiser beim Herrschaftsantritt, bei Triumphzügen oder anlässlich öffentlicher Feste sind etwa in Suetons Viten ausführlich beschrieben.19 Geldgeschenke gehörten gleichermaßen ins Repertoire wie aufwendige Bauten und ausschweifende Festgelage. Doch luxuriöse Ausstattungen, reich dekorierte Paläste und Repräsentationen des eigenen materiellen Reichtums waren kein exklusives Privileg der kaiserlichen Familie und deren Entourage, sondern standen grundsätzlich jedem offen, der sie sich leisten konnte. Die

19 Sueton, Caesarenleben,

1951.

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Distinktion zwischen Kaiser und Adel wurde hier graduell, nicht strukturell gesetzt; die Gesten unterschieden sich denn auch eher ihren Dimensionen nach. Nur einige wenige Zeichen, nicht aber die grundsätzliche Zurschaustellung von Reichtum, blieben alleine dem Herrscher vorbehalten. So war es in Rom etwa das Privileg des Kaisers, ein Juwelendiadem zu tragen. In diesem Sinn hat Dominic Janes die Bedeutung materieller Güter für die soziale Kommunikation als zentrales Moment römischer Kultur der Spätantike ausgemacht und die Gesellschaft als „treasure societ^''bezeichnet.20 Doch die Ausstattung mit Gold, Silber und Edelsteinen markierte nicht nur soziale Beziehungen und Status, sondern auch das Verhältnis der Menschen zu ihren Göttern. Stiftungen wertvoller Gegenstände und von Geld in heilige Tempel waren üblich, ohne dass sich daraus ein religiöser oder moralischer Konflikt ergeben hätte. Individueller sowie kollektiver Reichtum waren in diesen Kulturen mit anderen Worten religiös und moralisch unverdächtig - sowohl im profanen wie auch im sakralen Bereich. Die beiden scheinbar getrennten Bereiche wurden sogar bewusst miteinander verwoben, wobei Gold, Silber und Juwelen Vermittlungsfunktionen übernahmen. Gerade an der Überhöhung des spätantiken Herrschers als einer quasi-sakralen Figur und ihrer gleichzeitigen Ausstattung mit Gold, Silber und Juwelen wird dieser Zusammenhang besonders deutlich sichtbar. Damit verbanden sich im materiellen Reichtum Vorstellungen von irdischer Macht in Gesellschaft und Politik mit Göttlichkeit und deren Verehrung. In der römischen Spätantike stellte sich das Verhältnis von Schatz, materiellem Reichtum, Religion und Moral somit ganz anders dar als im Armutsideal des Neuen Testaments. Neben der Integration kultureller Gesten der römischen Antike bezog das Christentum eine zweite Tradition mit ein, die seinen Umgang mit materiellem Reichtum prägte: das Alte Testament. Im Gegensatz zu den Evangelien bestanden in der jüdischen Glaubenstradition keine Vorbehalte gegenüber materiellem Reichtum. Kostbare Kleider sowie die Verwendung von Gold, Silber und Edelsteinen waren charakteristische Merkmale der in der Schrift tradierten jüdischen Kultur. Das Heiligtum, das Gott über seinen Propheten Moses den Israeliten zu errichten befahl, damit er „unter ihnen wohnen" konnte, hatte sein Fundament geradezu im Reichtum; selbst die Lade, also der Ort, an dem die Bundesgesetze 20 „... treasure society, that is one for which communication by means ofthe display and transfer of elite goods was of great importance in defining the selfandforming relationships."Janes, God and Gold, 1998, S. 38.

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verwahrt wurden und an dem Gott zu seinem Volk sprach, sollte innen und außen mit reinem Gold überzogen sein.21 Doch im materiellen Reichtum stellte sich nicht nur die Auserwähltheit der Israeliten dar, sondern auch Gott selbst war darin repräsentiert, auch wenn dies nicht mimetisch, sondern nur symbolisch geschah. Das zweite Gebot untersagte es, die Herrlichkeit Gottes figürlich darzustellen, weshalb in der antiken jüdischen Tradition besonders Edelsteine zur Darstellung des nicht darstellbaren Gottes dienten. Das war nicht nur eine Notlösung, sondern zugleich auch eine Vorsichtsmassnahme. Denn in einer umfassenden Verwendung materieller Reichtümer zur Darstellung Gottes verringerte sich zugleich die Gefahr, gegen das Gebot der figürlichen Darstellung zu verstoßen. Anstelle einer anthropomorphen Gottesvorstellung und entsprechender Darstellungen trat somit die Repräsentation Jahwes durch materielle Güter.22 Die Genese von Schätzen in den Gesellschaften der christlichen Spätantike und des Frühmittelalters war von diesen drei Traditionen geprägt - patristische Exegese, römisch-antiker Herrschaftskult und jüdisches Bildverständnis. Auch der erste materielle Schatz des christlichen Mittelalters erwuchs der Kirche aus diesem Spannungsfeld. Er entstand zu Beginn des 4. Jahrhunderts und sein erster Hüter war Papst Silvester I.23 Als Sohn eines gewissen Rufinus in Rom geboren, bestieg Silvester am 31. Januar 314 den Stuhl Petri. In den Quellen seiner Zeit hat Silvester kaum Spuren hinterlassen. Eusebius von Caesarea erwähnt ihn in seiner Historia ecclesiastica nicht einmal namentlich. Den entscheidenden dogmatischen Konflikt innerhalb der Westkirche seiner Zeit, die Auseinandersetzung mit der schismatischen

21 Ex 25, 10-22. Die Episode um die Verehrung des Goldenen Kalbes widerspricht dem nicht. Der Frevel bestand ja nicht darin, Gold zur Darstellung einer (falschen) Gottheit verwendet zu haben, sondern in einem doppelten Verstoss. Zunächst darin, den Glauben an das Wort Gottes verloren zu haben, nämlich dass der Prophet vom Berg wieder zurückkommen wird. Zum zweiten darin, in den Glanz eines von Menschen geschaffenen Bildes wirkliche Hoffnung zu setzen, während doch .wahrer Glanz' alleine nur von Gott und der Begegnung mit ihm ausgehen kann. Das Gesicht Moses' strahlte, als er vom Berge zurückkehrte, weil er mit Gott geredet hatte (Ex. 34, 29-30). Hoeps, Schatten des Goldenen Kalbes, 1999, S. 9. Fricke, Eccefides, 2007, S. 206-235. 22 Janes, God and Gold, 1998, S. 95. 23 Mit dieser Datierung soll nicht die Debatte um die Epochengrenze zwischen Spätantike und Frühmittelalter neu aufgerollt werden. Lediglich zwei Dinge sind damit gemeint. Die Datierung eines unverkennbar christlichen Schatzes sowie die ungeheure Bedeutung dieses Schatzes für die Genese weiterer mittelalterlicher Schätze, bzw. die Rezeption dieser Schatzstiftung in der Geschichte des Mittelalters.

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Bewegung der Donatisten, beeinflusste er nicht, und als der Konflikt am Konzil von Arles (314) verhandelt wurde, war er persönlich nicht anwesend. Die mittelalterliche Rezeption der Figur und Leistung Silvesters I. steht der Einschätzung der zeitgenössischen Autoren wie Eusebius diametral entgegen. Da sein Pontifikat mehr oder weniger mit der Regierungszeit Konstantins zusammenfiel, wurde er in der Wahrnehmung des Mittelalters in die größtmögliche Nähe zum ersten christlichen Kaiser gerückt. In der Silvesterlegende bildete sich eine Erzählung heraus, die dieser Rezeption eine nachhaltig wirksame Tradition zugrunde legte. Ihr zufolge hatte Silvester zahlreiche Wunder gewirkt, aber vor allem hatte er Kaiser Konstantin zum christlichen Glauben bekehrt und eigenhändig getauft. 24 Aber nicht nur mittelalterliche Legenden haben Papst Silvester in größtmögliche Nähe zu Konstantin gerückt. Auch die päpstliche Historiographie hat versucht, die Beziehung zu Konstantin zu betonen. Die wichtigste Quelle zum frühen Papsttum, der Liberpontificalis, verdeutlicht dies. Die Vita Silvestri sticht hier unter den frühen Papstviten an Umfang und Bedeutung merklich hervor. Bis ins ausgehende achte Jahrhundert nimmt keine Lebensbeschreibung des römischen Liber pontificalis annähernd soviel Raum ein wie diejenige Silvesters. Während ein erster Abschnitt dem formalen Muster aller Viten im Liber pontificalis folgt und Amtsdauer, Herkunft, Verdienste, Gesetzeserlasse, persönliche Stiftungen sowie die Anzahl der Priesterordinationen erwähnt, weicht ein zweiter, weit umfangreicherer Abschnitt vom gängigen Muster ab. Dabei wird der erste materielle Schatz des Christentums zum eigentlichen Verbindungsglied zwischen Kaiser und Papst. Der Text fährt an dieser

Stelle folgendermaßen fort: „Huius temporibus fecit Constantinus aug. basilicas istas quas et ornavifP Die nun folgende Aufzählung nennt die Kirchengründungen und Stiftungen Kaiser Konstantins inner- sowie ausserhalb Roms. Dabei bedachte der Kaiser die stadtrömischen Kirchen besonders reich. Dem Titel

rßasilicam Constantinianam,

ubi posuit ista dona:" folgt eine Liste unermess-

licher Gold- und Silberschätze, deren Objekte mit genauen Gewichtsangaben versehen sind. Alleine für den Lateran (Palast, Basilika sowie Baptisterium) kamen gemäss Silvestervita 5'625 Pfund Gold, 10'415 Pfund Silber sowie jährliche Einkünfte aus Grundbesitz in einer Höhe von 14'524 solidi zusammen. Dabei stellten diese bereits eindrucksvollen Schätze nur einen Bruchteil dar, gemessen

24 Von Döllinger, Papstfabeln des Mittelalters, 1890, S. 61-125. Zur Rezeption der Silvesterlegende und der Konstantinischen Schenkung im Hochmittelalter vgl. unten Abschnitt V. 3. „Das doppelte Erbe".

25 Uber pontificalis,

Bd. 1, S. 172.

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an allen im Namen Konstantins getätigten Stiftungen, die in der Vita Silvesters als eindrückliches Dokument kaiserlichen Reichtums aufgelistet werden.26 Die Angaben im Liber pontificalis sind mit Vorsicht zu genießen. Bereits für die erste überlieferte Redaktion dieser Chronik des römischen Papsttums, die ja nicht früher als ins beginnende 6. Jahrhundert zu datieren ist, griffen die Kompilatoren auf apokryph-legendäre Traditionen zurück. 27 Anzeichen dafür, dass den Autoren für die geschilderten Ereignisse Informationen aus erster Hand zur Verfügung standen, lassen sich nicht früher nachweisen als für die Viten des ausgehenden 5. Jahrhunderts (Anastasius II.).28 Es geht hier weniger darum, ob Konstantin diese Stiftung tatsächlich in dieser Weise getätigt hatte oder nicht, ob also der Liber pontificalis für diese frühe Zeit eine verlässliche Quelle darstellt. Vielmehr ist entscheidend, dass die Vita Silvesters in der mittelalterlichen Rezeption der Ereignisse derart intensiv mit Gesten der Schatzbildung markiert wurde. Unter den Päpsten des 4. Jahrhunderts sticht Silvester damit deutlich hervor; aus dieser frühen Zeit überliefert der Liber pontificalis sonst nur von den Päpsten Marcus (336) und Damasus (366-384) Stiftungen. Erst für die Viten seit dem ausgehenden 5. Jahrhundert wurde die Stiftungstätigkeit der Päpste regelmäßig erwähnt. Das Signum des Schatzbilders war Merkmal der Silvestervita, wie es die Bekehrung und die Taufe Konstantins waren. Die Angaben zur reichen Ausstattung der römischen Kirchen, zur Bildung eigentlicher Schätze in der Hand von Kirchen, werden für diese Zeit aber auch von anderen Quellen gestützt. In seiner Lebensbeschreibung Konstantins bestätigt Eusebius von Caesarea die Stiftungstätigkeit des Kaisers. 26 Die konstantinischen Vergabungen in Italien bestanden gemäss Liber pontificalis aus den folgenden Kirchengründungen sowie deren Ausstattung sowohl mit Schätzen als auch mit Einkünften: Lateran, St. Peter, San Paolo fuori le Mura, Sant' Agnese, San Lorenzo, San Pietro e Marcellino, die Basiliken von Ostia, Capua und Neapel sowie die Ausstattung des von Silvester gegründeten titulus Equitius. Liber pontificalis, Bd. 1, S. 172f. 27 Von Döllinger, Papstfabeln des Mittelalters, 1890, S. 61-125. 28 Zur Quellenkritik des Liber pontificalis vgl. die Einführung zur Edition von Duchesne. Liber pontificalis, Bd. 1, S. vi-xxv, xxiii-xlviii sowie die Einführung zur englischen Ausgabe des Liber pontificalis bis ins 8. Jh. Book of p o n t i f f s , 2000, S. i-xxxviii. Zuletzt Fried, „Donation of Constantine", 2007. Ders., Herkunft und Entstehungszeit, 2007. Wie gross die „Verführungskraft" der Quelle ist, lässt sich in zahlreichen Untersuchungen zur frühmittelalterlichen Geschichte Roms nachweisen; oftmals die einzige Quelle überhaupt, die von den Handlungen der frühen Päpste berichtet, wird der Liber pontificalis gerne als wörtliche Schilderung der Ereignisse herangezogen. Selbst bei Richard Krautheimers Studie zu Rom zwischen Spätantike und Hochmittelalter findet sich keine quellenkritische Reflexion zur Datierung, Verlässlichkeit sowie zur Verwendung von Formeln im Liber pontificalis. Vgl. Krautheimer, Rome, 1980.

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„Den Kirchen Gottes ließ er aber in ganz besonderem Masse zahlreiche Gaben zukommen; hier schenkte er Ländereien, dort Getreide zur Unterstützung der Armen, der Waisen und bemitleidenswerten Frauen; besonders verschaffte er mit angelegentlichster Sorge auch den nackten Armen sehr viele Kleidungsstücke. Vorzüglich würdigte er aber jene Männer einer größeren Auszeichnung, die ihr Leben der göttlichen Weisheit geweiht hatten."29 Der panegyrische Charakter der Vita Constantini ist unübersehbar; er äußert sich nicht zuletzt im Verweis auf Konstantins caritas. Die christliche Tugend zeigt sich hier aber noch ganz im Gestus der Antike als ein persönlicher Gestus des Herrschers. Eusebius zufolge tätigte der Kaiser seine Zuwendungen an die Bedürftigen gleich selbst. Konstantin benötigte keine Vermittlungsinstanz, schon gar nicht die Kirche. Keine Schenkungen an die Kirche, die dann ihrerseits Arme speist und Nackte kleidet. Der Aufforderung zur Umverteilung von Gütern im Christentum trat somit ein ganz anders konnotierter kultureller Gestus zur Seite: die Großzügigkeit des Herrschers. In der zeitgenössischen Chronistik und in der Historiographie des frühen Papsttums gleichermaßen verbanden sich erstmals christliche Tugend mit Gesten weltlicher Herrschaft; Signum dieser Verbindung waren die Schätze, die der erste christliche Kaiser den Kirchen übertrug, als deren erster Vertreter der Bischof von Rom erschien. In dieser doppelten kulturellen Tradition standen die bei Eusebius geschilderten Vergabungen Konstantins zugunsten der Kirchen und des Klerus' Roms.30 Die reichen materiellen Zuwendungen des Kaisers bedeuteten eine Wende. Denn damit traten die Kirchen das Erbe der paganen Antike an, indem sie ökonomisch in die Funktionen des thesaurierenden Kultes eingetreten waren.31 Noch bis in den Pontifikat Silvesters hinein wurden Christen von weltlichen Machthabern verfolgt; ein offenes Bekenntnis zum Christentum bedeutete die Gefährdung von Leib und Leben. Eine mit materiellem Reichtum versehene öffentliche Propagierung des christlichen Kultes war bis dahin fur die Anhänger des

29 Eusebius v. Caesarea, De Vita Constantini Imperatoris, IV, 28. 30 Bis in einzelne Objekte hinein lässt sich die Verbindung zweier kultureller Traditionen verfolgen. Das fastigium, das zu den Schenkungen an die Lateransbasilika zählte, gehörte seiner Ikonographie nach mit einem thronenden Christus, umgeben von Aposteln (Vorderseite) bzw. von Engelsscharen (Rückseite) bereits zur christlichen Kultur, während es seiner Grösse, seiner Art als Repräsentation von Gottheit und seiner materiellen Ausstattung nach noch vollständig der antiken Tradition kaiserlicher und göttlicher Verehrung entsprang. Teasdale Smith, Lateran Fastigium, 1970, S. 149-175. 31 Bredekamp, Kunst als Medium, 1975, S. 170.

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neuen Glaubens undenkbar. Die Stiftung des konstantinischen Schatzes in den Schoss der Kirche markierte den Wendepunkt, von welchem an die Kirche ihren Kult in Gold und Silber darzustellen begann. Es war das Vermächtnis Konstantins, wie es Eusebius sowie der Liberpontificalis von unterschiedlicher Warte aus schildern, welches das christliche Armutsideal in einen strahlenden Kontext von Gold und Silber überführte und als hierfür neuen Repräsentationsmodus etablierte.32 Das Christentum des beginnenden 4. Jahrhunderts verwob somit die Reichtumsgesten antiker Kultur mit den auf die Heilige Schrift gestützten Idealvorstellungen individueller Lebensführung nach dem Vorbild Christi. Diese Verbindung wurde jedoch nur dadurch möglich, dass zwischen individueller Armut der Gläubigen und kollektivem Reichtum der Kirche unterschieden wurde.33 Dadurch entstanden Strukturen, die einerseits garantierten, dass möglichst viele Gläubige ihre Lebensführung an christlichen Idealen und Tugenden ausrichteten, andererseits die Verehrung und Glorifizierung Gottes mit aufwendigen Repräsentationsgesten erlaubten, ja geradezu einforderten. Als Vertreterin Gottes auf Erden war die Kirche gleichermaßen für beide Bereiche zuständig, humilitas und caritas fielen mit der Last des weltlichen Reichtums zusammen, die zu tragen die Kirche sich anerbot - im sicheren Wissen darum, dass sie im Umgang damit per Definition eigentlich keine Irrtümer begehen konnte. Die doppelte Anbindung an die heidnisch-antike sowie jüdische Tradition materieller Repräsentationsmodi entstand nicht erst im 4. Jahrhundert mit den Schenkungen Konstantins, sondern prägte das Christentum bereits davor.34 Dennoch bedeutete das Ende der Christenverfolgungen um 300 sowie das 32 Janes, God and Gold, 1998, S. 53. 33 Diese Unterscheidung ergab sich nicht zwangsläufig aus der Heiligen Schrift, sondern vielmehr aus der Konzentration auf die Lebensgeschichte Christi. Darin finden sich zahlreiche Stellen, an denen sich Christus zu individuellen Verhaltensregeln im Umgang mit Reichtum äusserte; die bekannteste, diejenige vom Kamel und dem Nadelöhr, ist bei drei Evangelisten nachweisbar (Mt. 19, 24; Lk. 18, 25; Mk. 10, 25). Die Lektüre der Apostelgeschichte etwa hätte durchaus über die Perspektive einer individuellen Heilserwartung hinaus auch Schlüsse für einen anderen Umgang mit kollektivem Reichtum zugelassen, als ihn die frühe Kirche gewählt hatte. Besonders die scheinbar zwingende Logik, mit der die Kirche als Ort und Entscheidungsträgerin der Umverteilung von Reichtum erscheint, ergibt sich aus der Apostelgeschichte keineswegs. Apg. 2,44; 4, 32-35. 34 Wie lange im Gegenzug die kulturellen Traditionen des heidnisch-antiken Roms noch andauerten, wird an der Darstellung des neuen christlichen Herrschers erkennbar. In einem Mosaik in Ravenna, das etwa um 500 entstand, ist Christus letztlich nur durch eine Aureola sowie durch das Evangelium, das er in Händen hält, von einem antiken Soldatenherrscher zu unterscheiden. Das Bildrepertoire und die Bildsprache waren mit anderen Worten noch sehr lange vollständig antik. Vgl. Janes, God and Gold, 1998, S. 131.

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Edikt von Mailand eine Zäsur, weil die christlichen Gemeinden erst von da an einen juristischen Status erlangten, der ihnen die Darstellung ihres Glaubens auch nach außen hin und mit den Zeichen des Materiellen erlaubte. D a m i t einher ging notwendigerweise eine Unterscheidung zwischen kollektiver und individueller Haltung des Christentums zu Reichtum und Besitz: idealisierte Lebensführung in Armut und Bescheidenheit nach dem Vorbild Christi hier, Reichtum als Tauschgüter einsetzende und zugleich auch thesaurierende Kirche dort. Die Schenkungen Konstantins stellten ein fur die Genese und Geschichte mittelalterlicher Schätze zentrales Ereignis dar. Die Langzeitwirkung dieser Schenkung im Bewusstsein des Mittelalters zeigt sich auch daran, dass einzelne Objekte, die in der päpstlichen Kammer als Schätze aufbewahrt wurden, noch bis ins 14. Jahrhundert als Teile des konstantinischen

.Gründungsschatzes'

galten. In einem Inventar aus der Zeit Gregors X I . von 1371 wird ein ganzer Abschnitt als Thesaurus sauri Constantini

Constantini

- 282 marchas,

bezeichnet: „Pondaverunt

4 uncios, 12

omnia

ista

the-

Der Verweis auf Konstantin

hatte im Spätmittelalter natürlich eine ganz andere Bedeutung als im 4. bis 6. Jahrhundert; für beide Epochen wird jedoch die Funktion des Schatzes als eines Garanten für die Translationsidee und somit als materielle und politische Codierung sichtbar. D o c h Konstantins Zuwendungen an die Kirchen beschränkten sich nicht auf seine eigene Stiftungstätigkeit; darüber hinaus trug der Kaiser auch strukturell zum Reichtum der Kirche bei. Von Eusebius wissen wir von den Gesetzen, die Konstantin nach seinem Sieg über Maxentius sowie nach seinem feierlichen Einzug in R o m erließ. „Uber ihr [Blutzeugen Gottes] Vermögen traf sodann das Gesetz umfassende Anordnungen; denn die Güter der heiligen Blutzeugen Gottes, die bei ihrem Bekenntnisse das Leben verloren hatten, sollten ihre rechtmäßigen Anverwandten zurückerhalten, falls aber keiner mehr davon am Leben sei, sollten die Kirchen das Erbe bekommen" 3 6 In späteren Abschnitten berichtet Eusebius, wie diese Verfügung ergänzt und dahingehend präzisiert wurde, dass „dies ja auch den Verstorbenen durchaus nicht missfallen wird, wenn sie die Kirche zur Erbin erhalten, wegen der sie

35 Ehrle, 'Constantinische Schatz', 1888, S. 191-200. 36 Eusebius v. Caesarea, De vita Constantini Imperatoris, II, 21; II, 40.

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ja alle ihre Drangsale erduldet haben!*37 Auch und gerade der römische Fiskus wurde von dieser Regelung nicht ausgenommen, sondern im juristischen Sinn Privatpersonen gleichgestellt. Die Vermögenswerte, die den Christen entwendet worden waren, mussten auch aus der Staatskasse restituiert werden. Wenn keine Verwandten mehr zu eruieren waren, trat die römische Kirche als Erbin die Rechtsnachfolge dieses Anspruchs an - und gerade nicht der Staat. Was Eusebius hier schildert, war zunächst nicht mehr als ein juristischer Akt. Mit seinem Gesetzeserlass weitete der Kaiser den Gültigkeitsbereich römischen (Erb-)Rechts auch auf Christen aus. Zudem sollten diese ihren Besitz nicht nur in Zukunft nach römischem Recht vererben können, sondern das Gesetz trat rückwirkend in Kraft. Soweit lässt sich das Edikt als Schritt hin zu einer formalen Gleichstellung aller Religionen deuten, womit es sich in eine ganze Reihe von Anordnungen einreiht, die das Christentum als neue Staatsreligion beförderten. Darunter fielen die Übertragung von Zivilstreitigkeiten an das Gericht der Bischöfe, die Intervention des Kaisers um die Eintracht der Kirche am Konzil von Nikaea (325), die Bevorzugung von Christen bei der Wahl von Beamten sowie die Einführung des christlichen Sonntages als eines staatlichen Ruhe- und Feiertages im Jahr 321. Dieses Maßnahmenbündel hat die Forschung seit langem als Neigung des Kaisers hin zum Christentum gedeutet, wenn auch nicht als persönliche Konversion Konstantins. Bestätigung hat die These einer grundsätzlichen Trendwende auch in Plünderungen und Schließungen heidnischer Tempel sowie im Verschwinden heidnischer Münzembleme gefunden, auch wenn es nie zu einem generellen Verbot heidnischer Kulte kam, dieser Vorgang mit anderen Worten nicht als scharfe Zäsur, sondern eher als allmählicher Wandel zu deuten ist.38

37 Eusebius v. Caesarea, De vita Constantini Imperatoris, II, 36. Im zehnten Buch seiner Kirchengeschichte fügt Eusebius Abschriften kaiserlicher Gesetze ein, welche die Christen betreffen; darunter befinden sich auch die Erlasse zur Restitution privaten sowie kollektiven Besitzes der Christen sowie die Ausweitung römischen Erbrechtes auf diese. Vgl. Eusebius v. Caesarea, Kirchengeschichte, 1997, S. 430f. Die Diskussion um Echtheit, unterschiedliche Fassungen sowie Überarbeitungen und damit den Quellenwert der Schriften des Eusebius hat die Forschung lange beschäftigt. Der panegyrische Charakter der Vita Constantini ist unbestritten, gleichermassen die Fokussierung ausgewählter Fragen zuungunsten einer allgemeinen Kirchengeschichte in der Historia ecclesiastica, in deren späteren Fassungen zudem die Stellung Konstantins wiederum herausragend ist. Für unseren Kontext sind jedoch die Angaben zu den Gesetzen und repräsentativen Gesten des Kaisers als Markierung des Herrscherwillens bei der Anerkennung des Christentums als Staatsreligion durchaus verlässlich. Vgl. Einführung von Heinrich Kraft, in: Eusebius v. Caesarea, Kirchengeschichte, 1997. 38 Barnes, New Empire, 1982. Gruenewald, Constantinus Maximus Augustus, 1990. Gerade anhand der Münzen, für die sich bis 322 die Solprägung nachweisen lässt, verdeutlicht sich

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Die kaiserlichen Gesetze sind hier jedoch weniger als Signum eines generellen Wandels der Position der christlichen Religion im römischen Reich von Bedeutung, denn als Hinweis auf das Verhältnis der Kirche zu materiellem Besitz, beziehungsweise der Einbettung der frühen Kirche in das Arsenal symbolischer und repräsentativer Gesten spätantiker Kultur. Konstantins Vergabungen und Gesetzeserlasse zugunsten der Kirchen folgten kulturellen Mustern, die nicht der christlichen Religion entsprangen, sondern ein römisch-kaiserliches Herrschaftsverständnis bezeugen. Umso erstaunlicher mag es erscheinen, dass sich die Silvestervita des Liber pontificales in derart augenfälliger Nähe zu den Schilderungen des Eusebius bewegt. Doch die hier beobachtete Nähe meint nicht eine tatsächliche Übereinstimmung der Ereignisse39, sondern eine Ubereinstimmung oder Kontinuität diskursiver Strategien.40 In der ihnen jeweils eigenen Diktion, in ihrem Kontext als Quellen aus dem Umfeld Konstantins oder aus dem Umfeld der römischen Kirche des beginnenden 6. beziehungsweise 8. Jahrhunderts stimmen die Texte dahingehend überein, dass sie sich des symbolischen und rechtlichen Vorgangs der Schatzbildung zu einer Gründungsgeschichte kirchlicher (Vor-)Rechte und deren Repräsentationsmöglichkeiten bewusst waren; beide Texte markieren somit die Konstituierung des Christentums als der tatsächlich gültigen Religion mit demselben symbolischen Gestus: der Übertragung des konstantinischen Schatzes in die Hände der römischen Kirche, d.h. der Bildung eines .ersten christlichen Schatzes'. Gerade im Liber pontificalis ist dabei das Interesse an Schatz und Schatzbildung besonders groß. Die Kirchengründungen werden zwar stets genannt, was sowohl für die symbolisch-devotionale (Märtyrergrablegen) wie auch rechtliche Verortung der Stiftung notwendig war, doch die ausführliche Schilderung gilt den Schätzen. Die Emphase, mit der der Liber pontificalis auf das konstituierende Moment der Thesaurierung verweist, unterstreicht das Legitimationspo-

die Gleichzeitigkeit, ja sogar Überlagerung heidnischer und christlicher Traditionen. Alföldi, Constantinische Goldprägung, 1963. 39 Eine solche Ubereinstimmung wäre, wie oben angesprochen, aus quellenkritischer Sicht ohnehin mehr als zweifelhaft, und ihr Wert zur Sicherung der .Ereignisse' höchst gering. 40 Im Sinne diskursanalytischer Verfahren und somit als Grenzen und Kategorien überschreitender methodischer Ansatz erhält gerade die auf quellenkritischen Überlegungen basierende Unvergleichbarkeit der beiden Texte eine besondere Bedeutung. Die Studien Todeschinis haben gezeigt, dass sich das Christentum, um das Mysterium der eigenen Religion den Menschen verständlich zu machen, eines Vokabulars und Repertoires bediente, das die eigene Innovation in diskursiv bekannte Muster römischer Verwaltungs- und Rechtsbegrifflichkeiten kleidete. Todeschini, Prezzo della salvezza, 1994. Ders., Vocabolario dell'analisi, 1998. Ders., Linguaggi teologici, 1999.

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tential derselben für den neuen Glauben. Die Schatzkultur der Antike war kein Gestus, den die Kirche vor dem Hintergrund des christlichen Armutsideals verwarf, sondern einer, den sie in ihr eigenes Repertoire aufnahm. Dabei kam der Thesaurierung eine entscheidende Scharnierfunktion zu, denn sie gewährleistete die symbolische Kommunikation zwischen heidnischer und christlicher Kultur. Eusebius führt diese Vermittlungsfunktion der Thesaurierung in einer Rede, die er Paulinus, dem Bischof von Tyrus, anlässlich einer Kirchweihe widmet, nochmals deutlich vor Augen. „Wer hat ein Volk, von dem man nie zuvor etwas gehört hatte, nicht in einem verborgenen Winkel der Erde, sondern über den ganzen Erdkreis, soweit die Sonne scheint, geschaffen? Wer rüstete Soldaten so sehr mit Waffen der Frömmigkeit aus, dass ihre Seelen in den Kämpfen gegen die Feinde härter als Diamant erschienen? Welcher König ist so stark und befehligt nach dem Tode noch ein Heer und errichtete Siegeszeichen wider die Feinde und füllt bei Griechen und Barbaren jeden Ort, Dorf wie Stadt, mit den Weihegaben seiner königlichen Paläste und göttlichen Tempel an, wie wir es in den kostbaren Schätzen und Gaben dieses Heiligtums [neu errichtete Basilika von Tyrus] sehen? Erhebend wahrhaftig und groß sind diese Dinge, würdig des Staunens und der Bewunderung, augenfällige Zeugen für die Herrschermacht unseres Erlösers."41 Thesaurierung war von einem kaiserlichen Habitus zur Signatur des neuen christlichen Glaubens geworden. Sowohl dem spätantiken Kaisertum wie auch dem frühmittelalterlichen Papsttum war Thesaurierung eine ebenso gängige wie bedeutsame kulturelle Praxis. Damit ist jedoch nicht nur eine Kontinuität benannt, sondern zugleich eine Brücke geschlagen von heidnisch-antiken zu christlichen Praktiken der Schatzbildung, deren Zentrum die Kirche bildete. Trotz dieser Gemeinsamkeiten und Verbindungen zwischen der Schatzbildung als antik-kaiserlichem Herrschaftsgestus sowie als Praxis spätantiker und frühmittelalterlicher Kirche unterschied sich die christliche Schatzbildung von derjenigen der Antike in einem wesentlichen Punkt. In der „treasure society" des antiken Roms dienten Schätze der sozialen Kommunikation, der Repräsentation von Herrschaft, der Überhöhung und Sakralisierung der Kaiserherrschaft sowie der Kommunikation mit den Göttern. Damit blieb die Bedeutung von Schätzen nicht auf die irdische Sphäre beschränkt. Hingegen blieben diese Schätze 41 Eusebius v. Caesarea, Kirckengeschickte, 1981, S. 417.

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stets materielle Schätze. Die ursprüngliche Vorstellung des wirklichen Schatzes im Christentum hingegen war immateriell. Sie grenzte sich ursprünglich gerade von materiellen Schätzen ab, waren doch die Schätze, die man gemäß Heiliger Schrift sammeln sollte, die Schätze im Himmel, also immaterielle Schätze. Die Konstantinische Schenkung markierte deswegen einen Wendepunkt, weil durch sie nicht einfach die materielle Schatzkultur der Antike fortgeschrieben wurde, sondern mit der Vorstellung immaterieller Schätze, wie sie dem Christentum eigen war, in ein positives Verhältnis setzte. Seit der Schenkung Konstantins konnten auch christliche Schätze materiell sein; zugleich ließen sie sich aber auch als materielle Repräsentationen immaterieller Schätze deuten. Damit war eine neue Form von Schatz formuliert, die jedoch ständig über das ihr eigene Verständnis dieses Verhältnisses von materiell und immateriell Auskunft zu geben hatte.

3. D e r G e s t u s der A k k u m u l a t i o n Die Schenkungen Konstantins bildeten den ersten materiellen Schatz des Christentums. Hier verbanden sich erstmals antike Vorstellungen materieller Schatzbildung mit der Vorstellung des immateriellen Himmelsschatzes. Der Ort, an dem dieser reale Schatz verwahrt wurde, war die Kirche, und seit Augustin konnte es nur mehr die Kirche sein. Die Bildung dieses ersten christlichen Schatzes und seine Verwahrung im Schoss der Kirche verwies aber zugleich auf eine Aporie, nämlich auf die Frage, ob die Kirche arm oder reich sein sollte. Für diese Frage schien es keine Lösung zu geben, und doch wurde sie gefunden - nicht nur in der Praxis, sondern gleichermaßen in der theologischen Reflexion über die Bedeutung von Schätzen. Das Glossarium von Du Cange nennt fiir das Lemma

thesaurarium/thesaurus

als erste mittelalterliche Quelle einen der wichtigsten mittelalterlichen Autoren: Augustinus. Die Verwendung von thesaurare/thesaurizare

weist das Glossar

für die Bibel, Salvianus von Marseille, den Autor des 5. Jahrhunderts und Verfasser der Schrift Degubernatione

Dei, sowie „alios scriptores ecclesiasticos"nach.42

Ebenso wie die Schatzpraxis im Namen der caritas scheint auch die Reflexion und Normenbildung, also eine mittelalterliche Schatztheorie, primär im Ambiente der scriptores ecclesiastici beheimatet gewesen zu sein. Damit war die Kir-

4 2 Bei der Sichtung aller etymologisch verwandten Wörter fallt auf, dass der Grossteil der frühen Nachweise aus dem kirchlich-monastischen Bereich stammt. D u Cange, Glossarium, Bd. 8, 1887, S. 5 7 9 - 5 8 0 .

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che nicht nur Verwahrungsort realer Schätze, sondern derjenige Ort, an dem in Spätantike und frühem Mittelalter über Genese, Bedeutung und Funktion von Schätzen reflektiert, mit anderen Worten, eine Vorstellung christlicher Schatzkultur formuliert wurde. Die Entwicklung solcher Theorien erfolgte vor dem Hintergrund antiker Schatzpraktiken sowie eines Textkorpus' - primär der Heiligen Schrift, aber auch antiker Texte - , in dessen Auslegung Schatzbildung, Akkumulationsprozesse und der Gebrauch materieller Güter nach den Vorgaben christlicher Moral (um-)gedeutet wurden, ohne sie restlos von den moralischen Ambivalenzen zu befreien. Mit der Figur der Allegorie in der christlichen Exegese bot sich ein Interpretament an, diese Integration unterschiedlicher kultureller Traditionen von Armut und Reichtum zu leisten. In einer allegorischen Lesweise ließen sich auch Schatz und materieller Reichtum als Ausdruck der Vorsehung und somit als Teil des Heilsplans deuten. Dadurch stand das reiche Bilderangebot des Alten Testaments, das Gold, Silber und Edelsteine ja ohne moralisches Dilemma verwendet, der christlichen Interpretation zur Verfügung. Die mit Gold ausgestattete Bundeslade, Tempel und Palast des Salomon, der gesamte Aufwand, den dieser alttestamentliche König entfaltete, aber auch die Verwendung materiellen Reichtums etwa im Hohenlied 43 - all diese Motive waren dadurch nicht Ausdruck eines vor-christlichen Irrglaubens oder gar der Idolatrie, sondern bereits Präfiguration der einen göttlichen Pracht. Altes und Neues Testament ließen sich in der Erweiterung des Wortsinnes in der Allegorie zu einem kohärenten Textkorpus zusammenführen. Diese aus komplex arrangierten rhetorischen Verfahrensweisen bestehende exegetische Tradition, die als christliche Hermeneutik gilt, etablierte sich bereits in der Patristik. Diese Hermeneutik erlaubte es, die Darstellung des Geschehens auf höhere Ebenen zu heben, auf der nicht das Geschehen selbst zur Sprache kam, sondern die Bedeutung des Geschehens. Galt das hermeneutische Verfahren der Allegorese ursprünglich der Deutung der Heiligen Schrift, beanspruchte es später für alle Texte, ja auch Dinge und letzdich die gesamte Schöpfung Gültigkeit. 44 Friedrich Ohly hat wiederholt dargelegt, wie die Form der christlichen Allegorese das Wort Gottes mit der Welt versöhnte, indem es letztere als zweite Sprache der Schöpfung deutete; beide, Wort und Welt, bedurften einer allegorischen Deutung.45

43 Ex 2 5 , 1 0 - 2 2 . 1 Kön 6 - 7 .

44 Brinkmann, Mittelalterliche

Hermeneutik,

45 Ohly, Tau und Perle, 1973, S. 4 0 6 - 4 2 3 .

1980.

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Die dauerhafte Gültigkeit und Überzeugungskraft der Allegorese wird nicht zuletzt an dem anhaltenden Interesse des Mittelalters am Bildangebot der Heiligen Schrift ersichtlich, ja an dem über 1000 Jahre anhaltenden Versuch, die Widersprüchlichkeit der in der Schrifttradition überlieferten Bilder allegorisch aufzulösen und diese als in vielfältiger Weise auf den göttlichen Heilsplan hindeutendes Referenzsystem zu verstehen. Das weitaus reichste Bildangebot des Neuen Testaments bot die Johannesoffenbarung. Gerade an diesem Beispiel zeigt sich aber auch die Möglichkeit des offenen Widerspruchs und damit die Notwendigkeit einer anhaltenden Auslegung dieser Bilder. Die Schilderung der Hure Babylon etwa, geschmückt mit Gold, Silber und Edelsteinen, steht in augenfälliger Nähe zum Gold der Architektur, zu den Edelsteinen der Stadtmauer und den Perlen der Stadttore des neuen, himmlischen Jerusalems. Schätze dienten gleichermaßen der Darstellung einer dem Untergang geweihten Welt, wie sie zur Schilderung eines zu erwartenden Himmelsreichs verwendet wurden ; die Differenz liegt mit anderen Worten weniger in der materiellen Ausstattung als vielmehr in deren Auslegung. Deswegen erstaunt es nicht, dass zahlreiche mittelalterliche Exegeten seit der Patristik ihre Kommentare aufdie Bildangebote des Hohenlieds sowie der Johannesoffenbarung richteten; Ambrosius, Gregor der Grosse und Beda Venerabiiis verfassten Auslegungen zum Hohenlied und zur Johannesoffenbarung. 46 Ihnen allen kam es darauf an, über den Wortsinn der Schilderung hinauszugehen, ihn allegorisch zu überhöhen und als Bedeutungssinn verständlich zu machen. Dies galt auch für Gold, Silber und Edelsteine sowie für die gesamte Reichtums- und Schatzthematik, die sich in der Heiligen Schrift fand. 47 Genau an dieser Stelle unterscheidet sich die mittelalterliche Schatzbildung von derjenigen der Antike; die Möglichkeit, materielle und immaterielle Güter gemeinsam in einem großen Schatz zu vereinen, ist ein Merkmal christlicher Schatzbildung und eröffnete sich erst mit der Konstantinischen Schenkung. Die wesentliche Differenz zwischen einem Schatz als thesaurierte Güter, wie ihn die Antike längst kannte, und einem Schatz als Akkumulation bestand darin, dass hier materielle Güter als Allegorien immaterieller Güter präsentiert und zugleich aber als Schätze thesauriert werden konnten.

46 Ohly, Hohenlied-Studien, 1958. Matter, Song of Songs, 1990. Ders., Apocalypse in Early eval Exegesis, 1992, S. 3 8 - 5 0 . Janes, God and Gold, 1998, S. 63f.

Medi-

47 In der Tradition der Ohly-Schule hat Christel Meier in einer exemplarischen Studie eine mittelalterliche Hermeneutik der Edelsteine vorgelegt. Meier,,Gemma spiritalis', 1977.

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Doch mit dem methodischen Verfahren der Allegorese, das die Integration materieller Schätze in den christlichen Heilsplan theoretisch erklärte, lässt sich die Bedeutungsvielfalt von Schätzen in mittelalterlichen Gesellschaften noch nicht vollständig erfassen. Der Interpretation der Schätze als Allegorien muss eine zweite Blickweise zur Seite gestellt werden, die nicht nur die Integration vorund außerchristlicher Schatzbildung in die christliche Theologie erklärt und somit kulturelle Traditionen in einer christlichen Hermeneutik verständlich zu machen versucht, sondern nach den strukturellen Merkmalen der Akkumulation im Christentum selbst fragt. „Da sagte Jesus zu seinen Jüngern: Wahrhaftig, ein Reicher hat es schwer, in die neue Welt Gottes zu kommen. Ich sage es euch noch einmal: Eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr, als ein Reicher in Gottes neue Welt."48 Als Jesuswort ist dieses Zitat eine der zentralen Textautoritäten des christlichen Armutsideals. Doch der hier angesprochene Reichtum ist der materielle Reichtum dieser Welt; dieser ist aber keineswegs gleichzusetzen mit Schatzbildung, denn diese beschränkt sich ihrerseits im christlichen Verständnis weder auf materielle Güter noch auf das Diesseits. Der Gedanke immaterieller und jenseitiger Schatzbildung findet sich in einem weiteren Jesuswort, wo er jedoch positiv bewertet wird. „Verkauft Euren Besitz und schenkt das Geld den Armen! Verschafft Euch Geldbeutel, die kein Loch bekommen, und legt einen Schatz im Himmelsreich an, der euch nicht zwischen den Fingern zerrinnen und nicht von Dieben gestohlen und von Motten zerfressen werden kann. Denn euer Herz wird immer dort sein, wo ihr euren Schatz habt."49 Schatzbildung war also nicht einfach eine dem Christentum fremde kulturelle Geste, die es zu integrieren galt, sondern Schatzbildung war selbst Bestandteil des christlichen Glaubens. Selbst wenn das Bild des Himmelsschatzes und der Schatzbildung im Jenseits in den Evangelien als reine Metaphorik gedeutet wird, bleibt der Gestus der Akkumulation erhalten. Der Gebrauch dieser Metaphorik seit der Spätantike, der exegetische Umgang mit diesem Bild also, geht jedoch weit über den in der Allegorese gestifteten Bedeutungssinn hinaus. Bereits Augustin hat diesen Gedanken in seinem Kommentarwerk zu den Psalmen aufgenommen und in die Form gebracht, in der er sich als Lehrmeinung für das Mittelalter 48 Mt 19,24; Lk 18,25; Mk 10,25. 49 Lk 12,33-34; Mt 6 , 1 9 - 2 1 .

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durchsetzen sollte. Wie in der Bibel unterliegt auch bei Augustin das Weltliche der Vergänglichkeit. Dennoch stellte seine Auffassung eine entscheidende Neuerung dar, da ihm zufolge nun alles Vergängliche in den Himmelsschatz fließen konnte. „Quod periturum erat in terra, servatum est in coelo."'0 Der weltliche Reichtum wandelt sich in einen Schatz der Verdienste, der im Himmel verwahrt wird; damit entstehen Himmelsschätze analog zu dem im Himmel angehäuften Schatz, der aus den überschüssigen Verdiensten Christi und der Heiligen besteht. In diesem Gedanken knüpfte Augustin die Vorstellung der Akkumulation eng an die Verdienst- und Gnadenlehre und damit auch an die Vergabe aus diesem Schatz immaterieller Güter.51 Denn aus der Akkumulation überschüssiger Verdienste fließt die göttliche Gnade; dass dabei der Überschuss an Verdiensten jedes erdenkliche Maß übersteigt, mit anderen Worten dieser Schatz niemals konsumiert sein würde, versteht sich von selbst, denn bereits die Verdienste Christi reichen ja aus, um die gesamte Menschheit von ihren Sünden zu erlösen. Bei Augustin vervollständigt sich das Bild der Akkumulation himmlischer Güter zu einem Bild eines eschatologischen Gütertausches im Schatz, der sich jedoch erst beim Jüngsten Gericht vollziehen wird. „Quod periturum erat in terra, servatum est in coelo. Ergo quod servatum est, hoc accepturi sumus. Servatum est meritum: factus est thesaurus tuus meritum tuum,"52 Akkumulation und Schatzbildung waren mit anderen Worten nicht nur christliche Gesten, nämlich als Akkumulation immaterieller, himmlischer Güter, als Himmelsschätze, wie sie im Neuen Testament überliefert sind, sondern diese Gesten wurden bereits in der patristischen Exegese auf eine in ökonomischen Begriffen denkende Heilsmetaphorik hin weiterentwickelt. Die oben geschilderte Integration vor- und nicht-christlicher Schatzbildung stellte demnach keine Integration von Neuem oder gar Fremdem dar, sondern war vielmehr eine mit Hilfe hermeneutischer Verfahren vollzogene Adaption materieller Thesaurierung an immaterielle Akkumulation, die dem Christentum vertraut und eigen war.

50 PL 3 6 , 3 8 7 . 51 Der Kontext der Formulierung der Gnadenlehre bei Augustin ist der pelagianische Streit. Pelagius verwarf bekanntlich die Lehre von der Erbsünde und erklärte die natürlichen Kräfte des Menschen für ausreichend zur Erlangung der Seligkeit. Augustin äusserte seine Gegenposition in der Gnadenlehre, die sich durchsetzen sollte. Am Konzil von Ephesos im Jahre 431

wurde Pelagius verdammt. Vgl. Augustin und die Dogmatisierung 13,480f. 52 PL 3 6 , 3 8 7 .

der Gnadenlehre, in: TRE,

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In der Akkumulation als einem christlichen Gestus erfolgte die Grundlegitimation der materiellen Schatzbildung im Schoss der Kirche. Das als Grundlage christlicher Hermeneutik zu bezeichnende Verfahren der Allegorese unterstützte dabei die Annäherung materieller sowie immaterieller Schatzbildung, denn es löste den stets vorhandenen Widerspruch materieller Akkumulation im Besitz der Kirche auf, indem es diesen zu jedem Zeitpunkt in den christlichen Gestus der immateriellen Akkumulation überführen konnte. Schatzbildung war nur im Wortsinn, als Thesaurierung materieller Güter problematisch, als Akkumulation immaterieller Güter und der Allegorisierung materieller Güter keineswegs. Die gegenseitige Durchdringung immaterieller und materieller Akkumulation, im weiteren Sinn also theologischer Konzeptionen und ökonomischer Praktiken, lässt sich nicht nur für das Beispiel der Schatzbildung beobachten. Giacomo Todeschini hat diesen Vorgang in mehreren Beiträgen als eigentliches Signum patristisch-exegetischer Literatur bezeichnet, dessen pointiertesten Ausdruck eine Erlösungsmetaphorik darstellt, die sich ausgeprägt ökonomischer Vorstellungen und Begriffe bedient.53 Die monastischen Regeln des 6. Jahrhunderts belegen dies. In der Regula Magistri und in der damit eng verbundenen Regula Benedicti verwenden die Texte einerseits die gewohnte patristische Terminologie, um die Dialektik der Erlösung allegorisch darzustellen; andererseits findet sich darin gleichermassen die terminologische Präzision einer Sprache administrativer und ökonomischer Praktiken zur Regelung der Besitzverhältnisse des Klosters. Theologie und Ökonomie erscheinen dadurch nicht nur vergleichbar, sondern vielmehr als ein eng verflochtenes Sinnsystem, das nach einer gemeinsamen Ordnung aufgebaut ist. Diese Ordnung hat Todeschini als ethisch-ökonomisches Vokabular (lessico etico-economico) und den Vorgang seiner Formation als linguistische Revolution bezeichnet.54 Dabei versteht er seine Beobachtung nicht dahingehend, dass bestehende ökonomische Theorien einfach auf die Theologie übertragen wurden, sondern dass sie eine gemeinsame sprachliche Voraussetzung boten für die Darstellung privater und kollektiver, kirchlicher und laikaler sowie schließlich ökonomischer und religiöser Verhaltensmuster. Um die hier beschriebene Integration eines bestehenden Vokabulars in die Sprache der Patristik erfolgreich zu vollziehen, bedurfte es jedoch zusätzlich 53 Todeschini, Prezzo della salvezza, 1994. Ders., Vocabolario dell'analisi, 1998. Oers., teologici, 1999. Ders., Ecclesia e Mercato, 2000. Ders., I mercanti e il tempio, 2002. 54 Todeschini, Prezzo della salvezza, 1994, S. 125.

Linguaggi

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einer fundamentalen Umdeutung der verwendeten Begriffe und Wörter. Dieser Konnotationswandel stellte eine grundlegende Veränderung zwischen der Sprache christlicher Autoren und derjenigen antiker Redner und Juristen dar. Erst die Überschreibung des begrifflichen Zeichenwertes (ri-semantizzazione) ermöglichte die Verwendung juristischer, ökonomischer und administrativer Terminologien der heidnisch-antiken Tradition in christlichen Texten.55 Damit konnten christliche Autoren nicht nur ökonomische Realitäten in ihren Schriften behandeln, sondern diese und die hierfür verwendete Terminologie zugleich allegorisch überhöhen und deren Sinn erweitern. Es handelt sich also um einen doppelten Vorgang. Zunächst einen der begrifflichen Umwertung, dann der zeichenhaften Erweiterung. Dieser Vorgang, den Todeschini für ein eigentliches Strukturmoment patristischer Exegese hält, lässt sich für den Schatz paradigmatisch beobachten. Thesaurierung als ökonomische Praxis und Erlösung als Versprechen sind in der patristischen Exegese diskursiv aufs Engste miteinander verwoben. Vor dem Hintergrund hermeneutischer Exegeseverfahren einerseits und diskursiver Bedeutungsüberlagerung andererseits erscheint die Bildung des ersten materiellen Schatzes im Schoss der Kirche in einem anderen Licht. Die Kirche begab sich damit nicht in einen unauflöslichen Widerspruch, sondern nahm in einer christusgleichen Geste die Sündhaftigkeit auf sich, die materiellem Reichtum anhaftete. Dieses Opfer bedeutete einen Entzug von Versuchung, die Reichtum für die Gläubigen stets darstellte. Der individuelle Reichtum der Gläubigen verwandelte sich, war er erst einmal an die Kirche delegiert, einerseits in einen immateriellen Schatz, andererseits in kollektive caritas. Diese Metamorphose von Schatz war aber untrennbar an die Institution der Kirche gebunden, nur hier konnte sie erfolgen. Die Aporie von Armut und Reichtum war damit nicht nur aufgelöst, sondern in den Auftrag der Kirche verwandelt, materielle Schätze aufzuhäufen, um sie in einer scheinbar magischen Metamorphose in zwei Dinge zu verwandeln: Heilsversprechen und caritas.

55 Diese Schlussfolgerung ist nicht zuletzt eine Konsequenz der von Todeschini angewendeten Methode der Diskursanalyse, die gleichsam als Tribut ihrer kategorialen Unabhängigkeit möglicherweise zu starkes Gewicht auf Kontinuitäten legt. So lässt sich die Frage, w o ein Diskurs endet, ja meist nicht beantworten, weil ein Ausserhalb des Diskurses per Definition fehlt.

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4. Von einer Schatzhermeneutik zu einer Akkumulationsanthropologie Das hermeneutische System patristischer Exegese bot Deutungsmuster, mit welchen sowohl die Heilige Schrift als auch die gesamte Schöpfung als die zweite Sprache Gottes geordnet und auf das Heilsgeschehen hin gedeutet werden konnten. Auch die materielle Schatzbildung im Schoss der Kirche und das Versprechen immaterieller Himmelsschätze wurden in der Allegorese als Teil des göttlichen Heilsplans verständlich. Mit dem Verfahren der Allegorese, deren Unterscheidung in einen sensus lateralis und einen sensus spiritualis, der sich seinerseits wiederum in zwei oder öfter drei Sinne unterschied, verfügten christliche Autoren über ein gemeinsames System für die Auslegung von Schrift und Welt. Der bekannte Merkvers des Augustinus de Dacia (um 1260) fasst die vier Sinne und ihre Bedeutung folgendermaßen zusammen: „Littera gesta docet; quae credas allegoria; Moralis quid agas; quid speres anagogia."56 Auch wenn die großen und umfassenden Systematisierungsentwürfe christlicher Exegese erst seit dem 12. Jahrhundert entstanden, bestand dieses System in seinen Grundzügen seit der Patristik. 57 Obwohl gewisse Autoren von der hier vorgeschlagenen inhaltlichen Zuschreibung der Sinne abwichen, und somit eine allgemeine Verbindlichkeit nicht gegeben war, gilt: Nach dem Literalsinn richtet sich der allegorische Sinn auf das Heilsgeschehen, der tropologische Sinn auf Handlungsweisen, die das Heil des einzelnen Menschen betreffen und der anagogische Sinn richtet sich auf die letzten Dinge, das Jüngste Gericht und das ewige Leben. 58 Die geistigen Sinne bestanden jedoch nicht nur nebeneinander, sondern bezogen sich aufeinander, ja sie standen in der mittelalterlichen Auffassung in einer hierarchischen Ordnung. Orígenes und in dessen Folge Hieronymus verwendeten zur Darstellung dieser Ordnung eine Architekturmetapher. Der Wortsinn legt das Fundament des gesamten Gebäudes, in der Allegorie erheben sich die Mauern, deren Schmuck die Tropologie beisteuert, und das Dach schließlich stellt die Anagoge. 59 Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn stellte ein

56 Lubac, Exégèse médiévale, Paris 1959,1, l,S.23f. 57 Christel Meier hat in ihrer monumentalen Untersuchung zur Edelsteinallegorese nachgewiesen, dass eine vollständige Ausformulierung der Auslegeregeln für die Tradierung einer Exegesepraxis keineswegs Voraussetzung war. Meier, 'Gemma spiritalis', 1977, S. 55. 58 Meier, 'Gemma spiritalis1977, S. 50. 59 Lubac, Exégèse médiévale, Paris 1959, II, 2, S. 41f.

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Verfahren bereit, mit dessen Hilfe Schrift und Welt geordnet und auf das Heilsversprechen hin gedeutet werden konnten und wurden. Nach diesem Verfahren ließen sich natürlich auch Schätze in ihre Einzelteile zerlegen, deren Proprietäten bestimmen und in der Folge gewisser Autoren historisch-systematisch auf das Heil hin deuten. Welt und Menschen lebten und wirkten auf die Erlösung hin, und im göttlichen Heilsplan wurde auch Schatzobjekten und Schatzmaterialien ihr Platz zugewiesen. Damit scheint jedoch das Wesen von Schätzen nicht befriedigend erfasst. Aus dem umfassenden Deutungsanspruch mittelalterlicher Theologie gab es kein Entkommen. Das ist hier auch gar nicht das Ziel, denn die Finalität des eschatologischen Versprechens soll auch für Schätze nicht in Frage gestellt werden - im Gegenteil. Mittelalterliche Schätze haben intensiv mit diesem Versprechen zu tun, doch als exklusives Interpretament stößt eine christliche Hermeneutik zur Deutung mittelalterlicher Schatzkultur an Grenzen. Das Verfahren der Allegorese, die Auslegung von Texten und Dingen nach dem vierfachen Schriftsinn, bildete einen einflussreichen Gesamtrahmen. Doch trotz aller Deutungsmacht, trotz der bedeutenden Traditionen, in denen sie standen, und trotz der Autoritäten, auf die sie sich beriefen, vermochten die theologischen Diskurse die Praktiken mittelalterlicher Schatzkultur nicht immer und nicht vollständig zu determinieren. Der Blick in die Quellen verdeutlicht die Notwendigkeit alternativer Deutungsangebote für die Geschichte mittelalterlicher Schätze. 60 In seinen Geschichtsbüchern berichtet etwa Gregor von Tours von ganz anderen Möglichkeiten im Umgang mit den Schätzen der Kirche. So setzte sich etwa der in seinem Palast in Poitiers belagerte Bischof Marovech Teile des Kirchenschatzes zu politischen Zwecken ein. „Als aber das Heer nahe vor die Stadt rückte und schon den größten Teil der Umgebung verwüstet hatte, schickten sie endlich Gesandte ab und gelobten, König Gunthramn gehorsam zu sein. Da wurden jene [Gefolgsleute Gunthramns] in die Mauern der Stadt eingelassen und stürmten sogleich auf den

60 Horst Bredekamp hat in seiner wegweisenden Untersuchung zum Bildersturm Schätze als Dinge beschrieben, die sich metaphysisch aufbereiten lassen. Dies hat er - geleitet von seinem Interesse am Status des Bildes - vor allem als Transzendierung ökonomischer Werte in Kunst gedeutet; darin erreichten Schätze, so Bredekamp, ihre optimale Wirkungsweise. Dieser wichtigen Beobachtung wird hier keineswegs widersprochen - im Gegenteil. Es sollen der Transzendierung von Ökonomie in Kunst (und wieder zurück) nur zwei weitere Bereiche hinzugefügt werden, zwischen denen die Bedeutung mittelalterlicher Schätze zu verorten ist: Theologie und Politik. Bredekamp, Kunst als Medium, 1975, S. 171.

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Bischof los, den sie der Treulosigkeit beschuldigten. Da er sich in solcher Bedrängnis sah, nahm er einen goldenen Kelch von den heiligen Gerätschaften, ließ daraus Münzen schlagen und löste damit sich und sein Volk aus."61 Kirchenschätze standen demnach nicht nur für ein eschatologisches Versprechen im Sinne der allegorischen Überhöhung, sondern auch für weltliche Interessen. Selbst der im Zentrum der westlichen Christenheit gehütete Schatz, der Schatz von St. Peter, war von solchen Umnutzungen nicht gefeit. Liutprand von Cremona berichtet aus dem Jahr 962 von der Niedertracht Papst Johannes' XII. Nachdem der ostfränkische König Otto dem Papst gegen Berengar von Ivrea und dessen Sohn Adalbert zu Hilfe geeilt und für die geleistete militärische Unterstützung vom Papst zum Kaiser gekrönt worden war, versuchte Johannes XII. das römische Volk gegen Otto aufzuhetzen und zum Kaisermord anzustiften. Mit dem Versprechen, den Römern hierfür den Schatz von Sankt Peter zu übertragen, versüßte der Papst sein Angebot.62 Selbstverständlich handelt es sich bei Liutprands Bericht um Propaganda aus der Feder eines der wichtigsten Diplomaten im Dienst Ottos I. Doch wovon lebt diese Propaganda? Von der Uberlagerung verschiedener Bedeutungen, die den im Zentrum des Christentums verwahrten Kirchenschatz, der sich seinerseits um eine Apostelreliquie gruppierte, nicht nur als Allegorisierung des thesaurus ecclesiae verstand. Der Schatz von Sankt Peter erscheint auch in politischen Kontexten bedeutsam. Er sollte ausgerechnet gedungenen Mördern ausgehändigt werden, deren Auftrag es war, Hand an den legitim gekrönten und im ottonischen Verständnis gottgewollten Herrscher zu legen. Doch löst in Liutprands Bericht die politische Bedeutung von Schatz nicht einfach die eschatologische Bedeutung ab. Der Text wird als politische Propaganda nur dann verständlich, wenn man von der Uberlagerung und somit bleibenden Gültigkeit beider Bedeutungsfacetten ausgeht. So lässt Liutprand den Skandal denn auch auf politischer und theologischer Ebene gleichermaßen spielen. Denn Johannes XII. hatte auf diesen Schatz dem Kaiser seinen Treueeid geleistet; ihn den Römern für die Ermordung Ottos zu versprechen, kam einem Verrat am Kaiser gleich. Zugleich machte das Angebot des Papstes den Schatz von Sankt Peter zu Blutgeld, verwandelte ihn in den Judaslohn und stellte somit den Papst nicht nur als Verräter am Kaiser, sondern auch an Christus vor. Wer solch mächtige Metaphern verwandte, war eindeutig Partei. Für uns ist jedoch die Tatsache wichtiger, dass sich in einem Text wie

61 Gregor von Tours, Historiarum libri decern 7, 24. 62 Liutprand von Cremona, Liber de Ottone rege, 4,17.

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Liutprands Kaiservita der Schatz als ein mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladenes und aufladbares Phänomen erweist. Der Zugriff auf Schätze konnte aber auch anders aussehen. In einem Verzeichnis des 12. Jahrhunderts werden zahlreiche Objekte aufgelistet, die im Schatz des Bamberger Doms fehlten, ohne dass über deren Verbleib etwas gesagt wird. Hundert Jahre später wurde eine Liste von Objekten angefertigt, die aus demselben Schatz verpfändet wurden. 63 In der Benediktinerabtei von St. Emmeran in Regensburg wurde zu Beginn des 11. Jahrhunderts ein Verzeichnis derjenigen Schatzobjekte verfasst, die Bischof Gebhard I. aus dem Kloster entwendet hatte.64 Und schließlich benennt ein Bericht aus dem Benediktinerkloster Berge bei Magdeburg diejenigen Teile des Schatzes, die während der ungetreuen Amtsführung des Abtes Bernhard II. zwischen 1076 und 1097 verschwunden sind.65 Schätze gingen also teilweise einfach verloren, oder aber Angehörige des Klerus bereicherten sich persönlich daran. Wie verbreitet der Zugriff auf die materiellen Schätze der Kirchen bereits im frühen Mittelalter war, verdeutlichen auch die Bemühungen kirchlicher sowie weltlicher Fürsten, solchen Praktiken durch Erlasse und Gesetze entgegenzuwirken. Karl der Grosse erteilte im Jahr 806 Bischöfen, Äbten und Äbtissinnen den Auftrag, ihre Schätze sorgsam zu verwahren, damit nicht aus Unachtsamkeit oder bösem Willen Teile davon verloren gingen. 66 Auch in Synodalbeschlüssen des 9. Jahrhunderts finden sich vergleichbare Ansätze, den Zugriff auf Kirchenschätze, der nicht selten aus der Kirche selbst erfolgte, mit Beschlüssen, Erlassen und Gesetzen zu unterbinden. Hincmar hielt folgenden Beschluss der Synode von Reims im Jahr 852 fest. „Ut nullus presbyter praesumat calicem, vel patenam, aut pallam altaris, vel vestimentum sacerdotale, aut librum ecclesiasticum, tabernario vel negotiatori, aut cuilibet laico, vel feminae, in vadimonium dare: quia tanta est sanetitas sacri ministerii, ut salva altioris mysterii intelligentia, etiam per prophe-

63 Bischoff, Mittelalterliche Schatzverzeichnisse, 1967, Ν. 7 - 8 . Zur Funktion von Schatzverzeichnissen und zur Verschriftlichung abwesender Dinge vgl. Burkart, Das Verzeichnis als Schatz, 2006. 64 Bischoff, Mittelalterliche Schatzverzeichnisse, 1967, N. 125. 65 Bischoff, Mittelalterliche Schatzverzeichnisse, 1967, N. 134. 66 „ Ut singuli episcopi, abbates, abbatissae diligenter considèrent thesauros ecclesiasticos, ne propter perfidiar,η aut neglegentiam custodum aliquid de gemmis aut de vasis, reliquo quoque thesauro perditum sit,..." MGH, LL, II, S. 131.

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tarn Dominus prohibuerit, ne cum sanctis vestimentis sacerdos procedat ad populum, sed intra sancta illa dimittat ad eum a colloquio divino rediens."67 Verstöße gegen solche Bestimmungen lassen sich in den Quellen für das gesamte Mittelalter nachweisen. Dieser Befund verdeutlicht zweierlei. Erstens waren Schätze nicht nur Objekte hermeneutischer Verfahren, sondern stets auch Gegenstand von Praktiken, hinter denen soziale, politische und ökonomische Interessen standen; diese Interessen lassen sich mit dem Interpretament der theologischen Allegorese nicht immer fassen. Zweitens gilt es auch bei der Interpretation der in den Quellen dokumentierten Schatzpraktiken zwischen mehreren Ebenen zu unterscheiden. Es klafft nicht nur eine Lücke zwischen der Theorie einer Schatzhermeneutik und den Praktiken des Schatzgebrauchs, sondern es eröffnen sich auch Räume zwischen einer normativen Vorstellung von Schatzpraktiken und einem damit oft in Widerspruch stehenden Umgang mit Schätzen. Die zentrale Problematik bei der Analyse von Schätzen und Schatzbildung in mittelalterlichen Gesellschaften liegt somit nicht darin, für konkrete Beispiele jeweils eine dieser verschiedenen Bedeutungsebenen als die gültige zu benennen. Das Anliegen besteht vielmehr darin, Schätze als Orte zu beschreiben, an denen Bedeutung dadurch gestiftet wird, dass zwischen den verschiedenen Bedeutungsebenen changiert werden konnte. Diese Dynamik ist ein zentrales Wesensmerkmal von Schätzen, dem mit starren Kategorien unabhängig vom Grad ihrer Differenzierung nicht beizukommen ist. Die Differenzierung unterschiedlicher Bereiche und Zugehörigkeiten eignet sich dazu, Material und Quellen zu ordnen; doch es eignet sich nicht dazu, den Gegenstand selbst abschließend zu fassen, weil Differenzierung nicht nur Unterscheidung meint, sondern stets auch Trennung beinhaltet. Denn gerade das verbindende Element, welches den Transfer zwischen den unterschiedlichen Bereichen benennen würde, rückt damit vollends aus dem Blick. Zudem steckt in einer Schatzhermeneutik eine Hierarchie, in welcher die Bedeutungsebenen von Schätzen aufeinander bezogen werden. Eine Umkehrung dieser Hierarchie ist dabei nicht denkbar. Nach diesem Verständnis bedeutete der Schatz in letzter Instanz stets das himmlische Jerusalem; doch es stellt sich die Frage, ob die letzte Instanz zu jedem Zeitpunkt und für jeden Umgang mit Schätzen tatsächlich die ausschlaggebende war, ob mit anderen Worten die Methode einer Schatzhermeneutik überhaupt die richtigen Fragen für jeden Schatzgebrauch zulässt.

6 7 P L 125, cap. 11 „De sacris ministeriis ad wadium non dandisΓ

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Schatzdiskurse, wie sie sich in mittelalterlichen Gesellschaften in der Form theologischer Traktate, exegetischer Werke oder normativer Vorgaben überliefert haben, folgten einem Vorbild der Akkumulation, auf welches sie sich in letzter Instanz immer bezogen. In jedem Schatz war diese Bestimmung in nuce angelegt. Sein Fundament hat dieser Verweis in den bedeutendsten Textautoritäten christlicher Gesellschaften des Mittelalters: der Heiligen Schrift und ihrer Auslegung seit der Patristik. Im Johannesevangelium wird geschildert, wie einer der Soldaten des Pilatus dem gekreuzigten Jesus einen Speer in die Seite stieß: „Aber einer der Soldaten stach ihm mit seinem Speer in die Seite. Da kam Blut und Wasser heraus."68 Dieses Blut wurde in der Kultur christlicher Gesellschaften des Mittelalters zu einem der wichtigsten Symbole überhaupt. Die vielfältigen Verwendungen, Interpretationen und exegetischen Varianten, die dieses Motiv erfahren hat, und seine Macht, theologische Dogmen durchzusetzen, gründeten im anhaltenden Konsens über das Versprechen, welches das vergossene Blut Christi repräsentierte, das Versprechen, das Christus selbst seiner Passion zumaß: „Dann nahm er den Becher, sprach darüber das Dankgebet, gab ihnen auch diesen, und alle tranken daraus. Dabei sagte er zu ihnen. Das ist mein Blut, das für alle Menschen vergossen wird. Mit ihm wird der Bund besiegelt, den Gott mit den Menschen schliesst!"69 Das Blut Christi wurde nicht umsonst, sondern mit dem Zweck der Erlösung der Menschen von ihren Sünden vergossen. Es wurde zudem auch nicht einfach vergossen; es wurde gesammelt. An dieser so zentralen Stelle, an der Passionsschilderung des Erlösers, erscheint der Gedanke der Akkumulation als genuin christlicher Gestus. Dieser Blutschatz ist der eigentliche Schatz christlicher Gesellschaften des Mittelalters. Doch das Blut Christi führte nicht nur den Gestus der Akkumulation vor, sondern beinhaltete bereits das zentrale Merkmal christlicher Schatzbildung, materielle Akkumulation in immaterielle Akkumulation überführen zu können, mit anderen Worten die Fähigkeit zur Transzendierung der Schätze und des in der Akkumulation gebildeten Bedeutungsüberschusses. Denn der Blutschatz Christi war zugleich immateriell wie auch materiell, ja er präsentierte diese Gleichzeitigkeit von Materialität und Immaterialität paradigmatisch, indem er das Glaubenswunder in sich beschloss: das christologische Mysterium 68 Joh. 19,34. 69 Mk. 14,23.

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der Menschwerdung Gottes. Das vergossene Blut Christi bedeutete nicht nur das Heilsversprechen Gottes, sondern war zugleich auch der Beweis seiner Menschwerdung. 70 In dieser Möglichkeit, zugleich materieller als auch immaterieller Schatz zu sein, und dem Deutungspotential, das sich daraus ergab, war jeder denkbare Schatz bereits vorweggenommen. Das vergossene Blut Christi war demnach nicht nur der kostbarste Schatz des Mittelalters, sondern repräsentierte paradigmatisch das Konzept von Schatzbildung als einer Möglichkeit der Sublimierung und Transzendierung. Eine christliche Schatzhermeneutik stellt ein Verfahren dar, mit dem sich Schätze und Schatzbildung sinnhaft als Teil der göttlichen Schöpfung deuten und auf das zu erwartende Heil hin interpretieren lassen. Eine Akkumulationsanthropologie hingegen versucht, die Schätze mittelalterlicher Gesellschaften als kulturelle Praktiken zu beschreiben, deren Fundament zwar in der Passion Christi begründet lag, die jedoch ihre Bedeutung nicht ausschließlich aus dem Heilsversprechen gewannen, sondern dieses auf unterschiedliche Kontexte mittelalterlicher Kultur projizierte. Die Dispositionen von Schätzen, die Texte über Schätze, den Umgang mit Schätzen in dieser Weise auf das zentrale Moment des christlichen Glaubens hin zu beziehen, materielle und spirituelle Schätze auf die Fundierung der christlichen Heilserwartung hin zu verstehen, schafft einen Punkt, an welchem die Bedeutungsüberlagerungen von Schätzen festgemacht werden können. Somit verharrt die Analyse nicht bei der Beschreibung einzelner Bedeutungsfacetten, sondern nimmt gerade das Moment der Bedeutungsüberlagerung in den Blick. Das Blut Christi als der materielle Beweis der Menschwerdung Gottes und das Blut Christi als das immaterielle Versprechen des jenseitigen Heils sowie der Transfer zwischen diesen beiden Bedeutungen bilden den Hintergrund, vor dem Genese, Bedeutung und Funktion von Schätzen und Schatzbildung in mittelalterlichen Gesellschaften zu deuten sind.

70 Blut als Beweis ist ein im Mittelalter in den verschiedensten Zusammenhängen immer wieder verwendeter Topos. Für die Transubstantiationslehre vgl. Rubin, Corpus Christi, 1991, S. 303-310. Für den ,Negativbeweis' der Hostienschändung vgl. Rubin, Gentile Tales, 1999, S. 7 - 4 0 . Für die Beleidigung der Heiligen und Christi vgl. Sansterre, Limage blessée, 1999, S. 113-130. Zur Überführung von Kapitalverbrechern vgl. Piateile, La voix du sang, 1979, S. 161-179.

I I I . D I E S C H Ä T Z E DES M I T T E L A L T E R S

Die Vorstellung, dass sich in Schätzen Akkumulationsprozesse vollziehen, war aber keine trockene Theorie. Es entwickelten sich im Mittelalter konkrete Beispiele, Ideen und Erzählungen von Schätzen und Schatzbildung, die sich in Text und Bild gleichermaßen tradierten. Es entstanden machtvolle Geschichten und Narrative, in denen der Zusammenhang von materieller Schatzbildung und immaterieller Schatzimagination verarbeitet wurde, und die zugleich verdeutlichten, dass in Schätzen als Orten der Akkumulation Mehrwert generiert werden konnte. Auch diese Vorstellungen und Geschichten formulierten und verbreiteten vornehmlich Theologen, denn sie haben ihren Ursprung in theologischen Fragen und Debatten, die bis tief ins Mysterium des christlichen Glaubens reichen. Zwei solche Geschichten sollen im Folgenden untersucht werden, deren Wirkmacht sich entweder darin zeigt, dass sie im Verlauf des Mittelalters zu einem kirchlichen Dogma erhoben wurden, oder als Erzähltradition religiösen Ursprungs weite Bereiche mittelalterlicher Kultur inspirierten, ja bis in unsere Gegenwart nichts von ihrer Faszination verloren zu haben scheinen. In der Lehre vom Kirchenschatz (thesaurus ecclesiae) sowie in der Erzählung vom Heiligen Gral haben sich im Mittelalter zwei Schatznarrative entwickelt, die in ganz unterschiedlicher Weise Wirkung entfaltet haben.

1. Die Lehre vom Kirchenschatz Die Kirche entwickelte eine Lehre vom Schatz, eine Theologie des Schatzes, die definierte, was der Schatz der Kirche eigentlich war. Der Kern dieser Schatztheologie ist in christlichen Texten seit der Spätantike nachweisbar, und die darin formulierte Vorstellung beanspruchte das gesamte Mittelalter hindurch Gültigkeit und sie tut es bis heute. Ihr zufolge ist der thesaurus ecclesiae das von Christus und den Märtyrern vergossene Blut, das im Schoss der Kirche bewahrt wird. „Filius Dei non solum guttam, sedtotum sanguinem fud.itpropeccatoribus, et preterea martyres profide et Ecclesia sanguinem fuderunt... et hec sanguinis effusio est Thesaurus in scrinio Ecclesie repositus ... secundum dominum Hugonem cardinalemDiese Formulierung stammt, wie die Quelle selbst verrät, von Hugo

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von St. Cher, der sie um 1230 als Dozent der Pariser Universität in seinem nicht erhaltenen Sentenzkommentar verbreitet hat. 1 Obwohl der genaue Wortlaut dieser Schatztheologie ins 13. Jahrhundert gehört und im Zusammenhang mit der scholastischen Systematisierung der Ablasslehre steht 2 , existierte die Vorstellung des Schatzes als des gesammelten Blutes Christi und der ihm nachfolgenden Bekenner und Märtyrer im Grunde bereits seit Augustin. 3 Bei Augustin sucht man den genauen Wortlaut einer Definition zwar vergebens, doch ist die Vorstellung eindeutig nachzuweisen. In seinem Kommentarwerk Enarrationes in psalmos etwa ist der Gedanke des Schatzes als des gesammelten Märtyrerblutes geäußert; dabei hat dieses Bild für Augustin besonders deutlich den Aspekt der Akkumulation, ja der Vergrößerung des Schatzes durch jedes einzelne, zusätzlich erlittene Martyrium. Zur allegorischen Auslegung des himmlischen Jerusalems gehört untrennbar das vergossene Blut der Märtyrer als zusätzliche Bereicherung des Himmelsschatzes. 4 Wie im Neuen Testament auch dient das Schatzbild bei Augustin zur Gegenüberstellung der Akkumulation himmlischer und irdischer Güter sowie 1

Heinrich von Susa, Summa aurea, lib. V, tit. de rem., c. 6. Hugos Sentenzkommentar hat sich zwar nicht erhalten, doch wird seine Theologie vom Schatz bereits Mitte des 13. Jahrunderts von anderen Autoren rezipiert; so weist auch die hier zitierte Stelle aus der Summe des Heinrich von Susa Hugo zweifelsfrei als Urheber der Lehre aus. Hierzu zuletzt Burkart, Transfer und Transzendierung, 2009.

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Den Kirchenschatz ausschliesslich auf seine Bedeutung für den Ablass zu beschränken, stellt eine einseitige, auf das Spätmittelalter konzentrierte Lesart dar, die die Imagination und Sensibilität des mittelalterlichen Glaubens und seiner Lehre ausblendet. Vgl. SchafFern, Images, 1996, S. 237-247. Zu Schatz und Ablass s. unten Ende dieses Abschnitts sowie den Abschnitt V. 6. „Der ausgegossene Schatz".

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Die erste Erwähnung dieser Schatztheologie seitens eines Papstes erfolgte sogar noch später, nämlich erst 1343 in der Bulle Unigenitus Deifilius von Clemens VI. Vgl. Collectionis Bullarum sacrosanctae Basilicae Vaticanae, Rom 1747, Bd. 1, S. 322. Die Frage nach der Stellung der Bulle Unigenitus Deifilius als lehramtliche Erörterung oder gar Kathedralentscheidung der Kurie hat Nikolaus Paulus in seinem Standardwerk zum Ablass im Mittelalter überzeugend geklärt. Er hat die Verwendung des Kirchenschatzes schlicht als Rezeption der damals bei den Theologen vorherrschenden Lehre gedeutet, ohne damit dieser Lehre eine grössere Gewissheit zu verleihen. Vgl. Paulus, Ablass, 2000, Bd. 2, S. 156. PL, 36, 1013. ,Jiffuderunt sanguinem eorum sicut aquam, id est, abundanter et viliter: in circuitu Jerusalem. Si Jerusalem terrenam urbem hie aeeipimus, eorum sanguinem intelligimus effusum in circuitu ejus, quos hostes extra muros reperire potuerunt. Si autem Jerusalem illam intelligimus, de qua dictum est, Multifilii desertae, magis quam ejus quae habet virum, cireuitus ejus est per universam terram: in ea quippe lectione prophetica, ubi scriptum est, Multi filii desertae, magis quam ejus quae habet virum, paulo post ei dicitur, Et qui eruit te, Deus Israel universae terrae vocabitur (Isai. LIV, 1 - 5 ) . Cireuitus ergo hujusJerusalem in hocpsalmo intelligendus est quousque tunc fuerat eadem Ecclesia dilatata, fructificans et crescens in universo mundo, quando in omni parte ejus persecutio saeviebat, et martyrum stragem, quorum sanguis sicut aqua effundebatur, cum magnis lucris thesaurorum coelestium faciebat."

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der Vergänglichkeit letzterer.5 Der gegenseitige Ausschluss von irdischem Reichtum und zu erwartendem Heil ist in den Evangelien mit den Worten Jesu verbürgt, und auch die Apostel verweisen wiederholt darauf, weltliche Güter ebensowenig zu besitzen wie zu benötigen. 6 Während der Gedanke der Bildung eines himmlischen Schatzes also bereits im Evangelium überliefert ist7, beinhaltet die Vorstellung der Heiligen Schrift nicht das Bild des gesammelten Blutes Christi und der Märtyrer. Doch die Vorstellung Augustins reicht nicht nur in dieser Hinsicht über die Evangelien hinaus; sie zeigt sich um drei wesentliche Aspekte erweitert. Erstens setzt die Vorstellung des Kirchenschatzes als einer effusio sanguinis nicht nur des Blutes Christi, sondern auch des von den Märtyrern vergossenen Blutes die Martyrien voraus; vor dem 2. Jahrhundert kann sie sich demnach gar nicht entwickelt haben. Zweitens bedarf es für die Form, in der die Theologie des Schatzes für das Mittelalter Gültigkeit beanspruchte, eines weiteren Schrittes, der bei Augustin anklingt und sich in der frühmittelalterlichen Augustinrezeption sehr bald als Lehrmeinung durchsetzen sollte: die Verbindung der Verdienst- und Gnadenlehre mit der Vorstellung des Kirchenschatzes. 8 Der Blutschatz Christi und der Märtyrer, der ja das materiell-immaterielle Zeugnis ihrer Verdienste darstellt, wächst durch die Verdienste der Gläubigen weiter an; gemeinsam bilden sie den thesaurus meritorum. Ebenso wie in jedem einzelnen Martyrium wird auch in dieser Vorstellung deutlich, dass sich im Kirchenschatz Akkumulationsprozesse vollziehen. Als Akkumulation der überschüssigen Verdienste wird der Kirchenschatz aber nicht nur im Himmel verwahrt, sondern er wird als Gnade Gottes den Gläubigen wieder zuteil. Augustin weist unmissverständlich auf diesen Rückfluss hin, der im Neuen Testament nicht angelegt ist, während er für die mittelalterliche Theologie des Kirchenschatzes konstituierend wird. 9

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Mt 6 , 1 9 - 2 1 . Lk 12,33-34. Apg. 3,6. „Argentum et aurum non est mihiΓ

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Das griechische Original verwendet an dieser Stelle 5fσαυρός und $εαανρίζειν. Zur allgemeinen Bedeutung von §ε