Das Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung: Reformgeschichte und Reformproblematik: Eine rechtsdogmatische und rechtspolitische Analyse [1 ed.] 9783428497966, 9783428097968

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, in die außerordentlich kontrovers geführte Diskussion um das Beweisantragsrecht in

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Das Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung: Reformgeschichte und Reformproblematik: Eine rechtsdogmatische und rechtspolitische Analyse [1 ed.]
 9783428497966, 9783428097968

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HOLGER SCHATZ

Das Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung: Reformgeschichte und Reformproblematik

Schriften zum Prozessrecht Band 150

Das Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung: Reformgeschichte und Reformproblematik Eine rechtsdogmatische und rechtspolitische Analyse

Von Holger Schatz

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Schatz, Holger:

Das Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung: Reformgeschichte und Reformproblematik : eine rechtsdogmatische und rechtspolitische Analyse I von Holger Schatz. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriften zum Prozessrecht ; Bd. 150) Zug!.: Göttingen, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09796-3

Alle Rechte vorbehalten

© 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-09796-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

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Vorwort Die Abhandlung hat der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität zu Göttingen im Sommersemester 1998 als Dissertation vorgelegen. Das Manuskript wurde Ende 1997 abgeschlossen. Für die Drucklegung habe ich Rechtsprechung und Literatur weitgehend bis Mitte 1998 berücksichtigt. Meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Manfred Maiwald, gilt mein besonderer Dank. Er hat die Arbeit mit persönlichem Interesse und Engagement betreut und stand mir stets mit Rat und Hilfe zur Seite. Danken möchte ich auch Herrn Professor Dr. Fritz Loos, der in kurzer Zeit das Zweitgutachten gefertigt und mir weitere konstruktive Anregungen gegeben hat. Für die kritische Durchsicht des Manuskripts und ihren freundschaftlichen Rat bin ich Herrn Richter Harald Römrner, Leipzig, und Dr. Carsten Momsen, Göttingen, verpflichtet. Für - nicht nur - technische Unterstützung danke ich zudem Frau Dipl.-Oec. Janette Nickelsen, Bielefeld. Den größten Dank schulde ich aber meinen Eltern Gerhard und Ingrid Schatz für die umfassende Förderung und das Verständnis, mit dem sie den Fortgang der Arbeit verfolgt haben. Ohne sie wäre das vorliegende Buch nicht entstanden. Der Druck wurde gefördert mit Hilfe von Forschungsmitteln des Landes Niedersachsen.

Göttingen, im Januar 1999 Holger Schatz

Inhaltsverzeichnis

Einleitung.................................................................................................................... 17

Erster Teil

Historische Entwicklung und Reformgeschichte des Beweisantragsrechts A. Die historische Entwicklung bis zur RStPO 1877 ................ .............. ................ ..... I. Die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 und der gemeine Inquisitionsprozeß .............................................................................................................. 1. Die Constitutio Criminalis Carolina (1532) ................................................. 2. Der gemeine Inquisitionsprozeß im Zeitalter des Absolutismus ................. 3. Der späte gemeinrechtliche Inquisitionsprozeß ........................................... 11. Der reformierte Strafprozeß ............................................................................. 1. Verfahrensgeschichtlicher Hintergrund .............................. .......................... 2. Anklageprinzip und Beweisantragsrecht ...................................................... 3. Freie Beweiswürdigung und Beweisverfahren ............................................. 4. Partikularstaatliche Regelungen über den Einfluß des Angeklagten auf die Beweisaufnahme. ..... ........ ........ ....... ................. ..... ....... ............. .......... .... a) Die Regelung in Preußen.. ...... ...... ................ .................................. ......... b) Die Regelung im Königreich Sachsen ..................................................... c) Die Regelung in Bayern ........................................................................... d) Zusammenfassung und Vergleich zu anderen partikularrechtlichen Regelungen................................... .............. ......... ..................................... B. Die Reichsstrafprozeßordnung vom 1. Februar 1877 .. .............. .................... .......... I. Äußerer Rahmen .............................................................................................. 11. Die einzelnen Regelungsbereiche zur Beweisaufnahme ........ ...................... .... 1. Vorbereitung der Hauptverhandlung ............................................................ 2. Verfügung über das präsente Beweismaterial in der Hauptverhandlung ...... a) Das Konzept des Bundesrates.... .................... ............ ................ .............. b) Kritik und Abänderung des Entwurfs in der Reichsjustizkommission ..... c) Zwischenergebnis: Die Kompromißlösung § 244 StPO (1877) ...............

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Inhaltsverzeichnis 3. Anspruch auf Herbeischaffung nicht-präsenter Beweismittel? ..................... 69 III. Zusammenfassung und Würdigung .................................................................. 71

C. Die Entwicklung des Beweiserhebungsanspruchs bis zur "Emminger-Verordnung" vom 4. Januar 1924 ....................................................................................... I. Reforminitiativen des Gesetzgebers ................................................................. 1. Die Entwürfe 1894 und 1895 ....................................................................... 2. Der Entwurf 1905 ......................................................................................... 3. Die Entwürfe 1908 und 1909 ....................................................................... 4. Der Entwurf 1919/1920 ("Goldschmidt-Entwurf') ...................................... 5. Ergebnis der Reformbestrebungen ............................................................... 11. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts .......................................................... I. Das Beweisantizipationsverbot als Ausgangspunkt des Beweisantragsrechts ............................................................................................................ 2. Entwicklung der Ablehnungsgründe ................................................. .. ......... 3. Resultat der reichsgerichtlichen Rechtsprechung ......................................... 4. Die Haltung des Schrifttums zur Judikatur des Reichsgerichts .................... D. Die Emminger-Verordnung vom 4. Januar 1924 ..................................................... I. Historischer Hintergrund ................................................................................. 11. Die gerichtliche Zuständigkeitsverlagerung und ihre Auswirkung auf den Beweiserhebungsanspruch des Angeklagten .................................................... III. Reaktionen im Schrifttum ................................................................................

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E. Die Periode der Stabilisierung der Weimarer Republik (1925-1930) ...................... 97 I. Gesetzliche Wiederherstellung des Beweiserhebungsanspruchs ...................... 97 11. Der Entwurf 1930 ............ .......................................................... ...................... 98

F. Der Untergang der Weimarer Republik: Die Notverordnungspraxis ...................... I. Die Notverordnung vom 8. Dezember 1931 ................................................... 11. Die Notverordnung vom 14. Juni 1932 ........................................................... III. Der Übergang zum Nationalsozialismus .........................................................

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G. Die Zeit des Nationalsozialismus ........................................................................... I. Ausgangslage - Die neuen ideologischen Einflüsse auf das Verfahrensrecht. .............................................................................................................. 11. Die Eliminierung individueller Prozeßrechte .................................................. III. Die Auflösung des Beweisantragsrechts ......................................................... I. Das Beweisantragsrecht als Relikt des liberal-individualistischen Formalismus ............................................................................................... 2. Das Beweisantragsrecht als "Kampfmittel jüdischer Verteidigungskunst ............................................................................................................ 3. Das Strafverfahrensänderungsgesetz 1935 .................................................. 4. Der Entwurf 1939 ........................................................................................ 5. Die" Vereinfachungs-Verordnung" 1939 .......... ..........................................

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Inhaltsverzeichnis IV. Die Reaktion des Reichsgerichts .................................................. ,.................. I. Die Rückkehr von Beweisantizipationen ........................................... .. ....... 2. Amtsautklärungspflicht und Ausbau der Autklärungsrüge ......................... V. Die Haltung des Schrifttums ...........................................................................

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H. Die Rechtsentwicklung in der Bundesrepublik 1950 - 1975 .................................. 122 I. Das RechtsvereinheitIichungsgesetz vom 12. September 1950 ...................... 122 II. Von der "Kleinen Strafprozeßreform" (1964) bis zur Strafprozeßreform 1974/75 ........................................................................................................... 124 I. Die Rechtsentwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) .......... 126

1. Die Zeit seit 1975: Reforminitiativen und gesetzliche Änderungen ....... .. .... .. ......... 131 I. Kriminalpolitische Ausgangslage ................................................................... 131 I. Maßnahmen reaktiver Krisenbewältigung und Terrorismusbekämpfung ................................................................................................ 131 2. Gewandelte Prozeßkultur und Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege .......................................................................................................... 132 II. Das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 (StV ÄG 1979) ............................. 135 1. Wegfall des autonomen Präsentationsrechts und Beschränkung des Verwendungszwanges ................................................................................. 135 2. Kritik an der Neuregelung ........................................................................... 137 3. Resümee und weitere Entwicklung ..................................................... ........ 139 III. Die Vorschläge für die 53. Justizministerkonferenz (1982) ............................ 141 1. Beseitigung des Beweisantragsrechts in amtsgerichtlichenVerfahren ......... 142 2. Einführung einer Präklusionsfrist für Beweisanträge .................................. 142 3. Lockerung der Anforderungen an die Beweisantragsablehnung wegen Verschleppungsabsicht ................................................................................ 143 4. Erweiterung des Ablehnungsgrundes der Unerreichbarkeit ................ ........ 144 5. Die Reaktionen auf die Vorschläge ............................................................. 144 6. Das weitere Schicksal der Initiative ...................................................... ...... 145 IV. Das Rechtspflege-Entlastungsgesetz vom 11. Januar 1993 ...... .. .................... 147 I. Entstehungsgeschichte ............................................................... .. ............... 147 2. Die Vorschläge des Bundesrates ............................................. .................... 148 a) Die Auslandszeugenregelung .................................................................. 149 b) Erweiterung der Ablehnung wegen Verschleppungsabsicht ................... 149 c) Zeitliche Begrenzung des strengen Beweisantragsrechts ........................ 150 3. Die Behandlung der Vorschläge im Gesetzgebungsverfahren ..................... 151 4. Die Reaktionen in der juristischen Öffentlichkeit ....................................... 152 a) Kritik an der kriminal politischen Zielrichtung der Novelle .................... 152 b) Kritik an den Vorschlägen zur Einschränkung des Beweisantragsrechts ....................................................................................................... 153 5. Resümee ...................................................................................................... 155 V. Das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. Oktober 1994 ......................... 156

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Inhaltsverzeichnis I. Entstehung ................................................................................................... 2. Die Neuregelung des beschleunigten Verfahrens ........................................ 3. Die vereinfachte Beweisaufnahme nach § 420 StPO n. F ........................... 4. Konsequenz für das Beweisantragsrecht des Angeklagten .......................... 5. Reaktionen im Schrifttum ........................................................................... 6. Zur Kritik an Zielsetzung und Begründung der Neuregelung ..................... VI. Forderungen nach einem 2. Rechtspflege-Entlastungsgesetz ......................... I. Die Initiative der Bundesländer Hamburg und Bayern ............................... 2. Der Vorentwurf für ein 2. Rechtspflege-Entlastungsgesetz ......................... a) Die Vorschläge zum Beweisantragsrecht ............................................... aal Beseitigung des Beweisantragsrechts im strafrichterlichen Rege/verfahren .......................................................................................... bb) Zeitliche Begrenzung des Beweisantragsrechts ............................... cc) Beurteilungsspielraum bei der Antragsablehnung wegen Verschleppungsabsicht .................................................................... b) Reaktionen in der juristischen Öffentlichkeit.. ....................................... 3. Der Länderentwurf (Oktober 1995) und die Bundesratsinitiative (März 1996) für ein 2. Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege ............................ VII. Das Beweisantragsrecht in weiteren Reformkonzepten .................................. I. AE 1980 (AE-NÖV), AE 1985 (AE-StPO-HV) und AE 1996 (AE-ZVR). 2. Gewaltkommission der Bundesregierung (1990) ........................................ 3. Niedersächsische Reformkommission (1992) ............................................. 4. Hessische Kommission "Kriminalpolitik" (1992) ....................................... 5. Die Vorschläge des Deutschen Richterbundes ............................................ 6. Das Gutachten von Karl Heinz Gössel zum 60. Deutschen Juristentag (1994) .......................................................................................................... a) Die Thesen zum Beweisantragsrecht ...................................................... b) Die Aufnahme der Thesen auf dem Juristentag und in der juristischen Öffentlichkeit ................................................................................ c) Resümee ..................................................................................................

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K. Ergebnis: Historische Entwicklung und Reformgeschichte ................... ................. 182

Zweiter Teil

Die gegenwärtige Reformproblematik - Dogmatischer Hintergrund, Reformbedarf und Reformmöglichkeiten

186

Erstes Kapitel Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

188

A. Aufgaben und Ziele des Strafverfahrensrechts ....................................................... 188

I.

Verwirklichung des materiellen Strafrechts .................................................... 190

Inhaltsverzeichnis

I1

11. Wahrheitsermittlung ....................................................................................... 191 III. Materielle Gerechtigkeit... .................................... ........................................... 192 IV. ProzeduraIe Gerechtigkeit ............................................................................... 192 I. Einführung in den Diskussionsstand ........................................................... 193 2. Belege für das Erfordernis einer Einbeziehung prozeduraler Gerechtigkeit in das System der Verfahrensziele ........................................................ 196 3. Strukturelemente prozeduraler Gerechtigkeit.. ............................................ 201 4. Resümee ..................................................................................................... 203 V. Generalziel: Rechtsfrieden .............................................................................. 204 B. Die Bedeutung des Beweisantragsrechts im System der Verfahrensziele ............... 205 I. Die verfahrensrechtlichen Funktionen des Beweisantragsrechts ..................... 205 I. Mitgestaltungsmöglichkeit im Beweisverfahren ......................................... 206 a) Der Beitrag des Beweisantragsrechts zur Wahrheitsfindung ................... 209 aal Das Verhältnis von Beweisantragsrecht und Amtsaufklärungspflicht ............................................................................................... 211 (I) Die "Inkongruenzlehre" .............................................................. 211 (2) Die "Identitätslehre" ................................................................... 215 (3) Relevanz des Streits .................................................................... 217 bb) Stellungnahme .................................................................................. 220 (I) Die historische Entwicklung des Beweisantragsrechts ................ 220 (2) Teleologische Erwägungen ......................................................... 224 (a) Zur These von der schrankenlosen Geltung des Beweisantizipationsverbots ..................................................................... 225 (b)Die unterschiedliche Reichweite des Beweisantizipationsverbots .................................................................................... 227 (c) Verstärktes Beweisantizipationsverbot als Zuweisung autonomer Prognosekompetenz .................................................... 232 (3) Normative Legitimation für die Zuweisung einer Prognosekompetenz ................................................................................... 236 (4) Zusammenfassung ....................................................................... 242 b) Die Legitimations- und Integrationsfunktion: Das Beweisantragsrecht als Ausdruck prozeduraler Gerechtigkeit.. ...................................... 244 c) Die funktionale Ambivalenz der Mitgestaltungsbefugnis ....................... 248 2. Die "Annex"- Funktionen des Beweisantragsrechts .................................... 252 a) Der Informationsgehalt einer ablehnenden Entscheidung ....................... 253 b) Die Kontrollfunktion .............................................................................. 254 11. Die verfassungsrechtliche Verankerung des Beweisantragsrechts .................. 258 I. Das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs.1 GG) ................................................. 260 2. Internationale Gewährleistungen (EMRK, IPBPR, Mindestgrundsätze-VN) .................................................................................................... 265 3. Die prozessualen Aufgaben des Beweisantragsrechts aus verfassungsrechtlicher Sicht .......................................................................................... 269

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Inhaltsverzeichnis a) Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Wahrheitsermittlung im Strafprozeß .............................................................................................. 269 b) Integrationsfunktion und SubjektsteIlung des Angeklagten .................... 275 4. Ergebnis ...................................................................................................... 278 Zweites Kapitel Zur Reformbedürftigkeit der geltenden Beweisantragsregelung

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A. Überblick über den Meinungsstand ........................................................................ 279 I. Forderungen nach einer Einschränkung des Beweisantragsrechts .................. 279 II. Die Verfechter des status quo: Stimmen für die Beibehaltung der geltenden Regelung .................................................................................................. 286 III. Stimmen für einen Ausbau der Rechtsstellung des Angeklagten .................... 288 IV. Zusammenfassung ........................................................................................... 289 B. Stellungnahme ........................................................................................................ 291 I. Mißbrauchsabwehr ......................... ................................................................. 291 I. Normative Bewertung ................................................................................. 293 2. Empirische Berechtigung ............................................................................ 295 3. Möglichkeiten der Mißbrauchsabwehr de lege lata.. ................................... 297 a) Der Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht (§ 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO) .................................................................................... 297 b) Die Suche der Praxis nach Behelfslösungen ........................................... 300 aal Ungeschriebenes Mißbrauchsverbot ................................................. 300 bb) Unzulässigkeit der Beweiserhebung (§ 244 Abs. 3 S. IStPO) ........ 305 cc) Formelle Disqualifizierung mißbräuchlicher Beweisanträge ............ 310 (1) Die "Vermutungs"-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ..... 310 (2) Abwertung wegen mangelnder Ernstlichkeit .............................. 315 c) Zwischenergebnis .................................................................................... 316 4. Resümee zur Mißbrauchsabwehr ................................................................ 316 H. Entlastung der Strafrechtspflege: Verfahrensbeschleunigung und Kostensenkung ........................................................................................................... 318 IH. Ergebnis .......................................................................................................... 329 Drittes Kapitel Reformmöglichkeiten A. Die bislang diskutierten Änderungsvorschläge zum Beweisantragsrecht .............. I. Zeitliche Limitierung des Beweisantragsrechts ............................................... 1. Darstellung .................................................................................................. a) Präklusionszeitpunkt .................... ...........................................................

331 332 332 335 335

Inhaltsverzeichnis

13

b) Einrichtung von Ausnahmetatbeständen .................... .... ....... .................. 338 2. Vorteile ....................................................................................................... 339 3. Bedenken ..................................................................................................... 339 a) Gefahren für die Wahrheitsfindung ........................................................ 340 b) Vereinbarkeit der Präklusionsregelungen mit Art. 103 Abs. I GG ......... 343 c) Schwächung der Verteidigung ................................................................ 345 d) Zweifelhafte Effektivität und Gefahr kontraproduktiver Nebenwirkungen ............................................................................................... 350 4. Ergebnis ...................................................................................................... 352 11. Statuierung einer allgemeinen Begrundungspflicht für Beweisanträge ........... 353 1. Vorteile ....................................................................................................... 355 2. Bedenken .................................................................................................... 356 3. Ergebnis ...................................................................................................... 358 III. Einführung einer allgemeinen Mißbrauchsklausel .......................................... 359 1. Vorteile ....................................................................................................... 359 2. Bedenken .................................................................................................... 360 3. Ergebnis ...................................................................................................... 362 IV. Neufassung des Ablehnungsgrundes der Verschleppungsabsicht.. ................. 362 I. Vorteile ....................................................................................................... 363 2. Bedenken ..................... .. ............................................................................. 363 3. Ergebnis ...................................................................................................... 367 V. Abschaffung des Beweisantragsrechts für das amtsgerichtliche Verfahren ...... 368 I. Vorteile ....................................................................................................... 369 2. Bedenken .................................................................................................... 371 3. Ergebnis ...................................................................................................... 376 VI. Resümee .......................................................................................................... 377 B. Eine Perspektive de lege ferenda: Einführung einer Verwirkungsklausel .............. 379

Schlußwort ........................................................... .. ................................. .. .... .... ... ...... 392 Anhang: Abdruck der historischen Fassungen des Beweisantragsrechts und der verschiedenen Reformentwürfe ......................................................... 394 SchrifUumsverzeichnis ................................................................... ................... ........ 418

Quellenverzeichnis .......................................................................... ........................... 470 Personen- und Sachverzeichnis ................................................................................. 473

Abkürzungsverzeichnis AKJGG

AKJStPO BerlVerfGH BK BRAK BR-DrS BT-DrS CCC DAV DRB E EMRK FAZ FS Gbl. GS HbStR

IPBPR KG KKJStPO KMR LK LR MIKV Mindestgrundsätze-VN o.V. Ref.-Entwurf RetE-StV ÄG 1983

Alternativkommentar zum Grundgesetz Alternativkommentar zur Strafprozeßordnung Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin Bonner Kommentar Bundesrechtsanwaltskammer Drucksache des Bundesrates Drucksache des Bundestages Code d' Instruction Criminelle Deutscher Anwaltverein Deutscher Richterbund Entwurf Europäische Menschenrechtskonvention (MRK) Frankfurter Allgemeine Zeitung Festschrift Gesetzblatt (DDR) Gedächtnisschrift Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Kammergericht Karlsruher Kommentar zur Strafprozeßordnung KMR - Kommentar zur Strafprozeßordnung Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz Löwe, Ewald / Rosenberg, Werner: Strafprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (Deutsche Landesgruppe) Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen rur das Strafverfahren ohne Vornahmen Referentenentwurf Entwurf eines Gesetzes zur Änderung strafverfahrensrechtlicher Vorschriften (30.9. 1982)

Abkürzungsverzeichnis Reg.-Entwurf RGRspr. RpflEntlG RT-Verh. SKJStPO StPO (1877) StrVO Var. VBG

VereintVO

VerhDJT 1974 VerhDJT 1994 VO Vorbem.

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Regierungsentwurf Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. 1. 1993 Verhandlungen des Reichstages Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz Strafprozeßordnung rur das Deutsche Reich vom 1. Februar 1877 Strafverfahrensordnung Variante Gesetz zur Änderung des StGB, der StPO und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz) vom 28. 10. 1994 Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege vom 1. September 1939 Verhandlungen des Fünfzigsten Deutschen Juristentages Hamburg 1974 Verhandlungen des Sechzigsten Deutschen Juristentages Münster 1994 Verordnung Vorbemerkung

Die weiteren in der Arbeit verwendeten Abkürzungen entsprechen den von Hildebert Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Auflage, Berlin, New York 1993, vorgeschlagenen, soweit sie nicht ohnehin allgemein üblich und verständlich sind.

Einleitung Max Alsberg, der wohl bekannteste Strafverteidiger der Weimarer Republik, hat 1930 in seiner grundlegenden Monographie "Der Beweisantrag im Strafprozeß" erklärt, auf keinem Rechtsgebiet rage ein einzelnes Problem so hervor, wie im Straq,rozeß das Beweisproblem: Es sei hier "schlechthin das Zentralproblem"( . Diese Worte des literarischen Pioniers des Beweisantragsrechts sind durchaus doppeldeutig zu verstehen: Zunächst handelt es sich deshalb um das "Zentralproblem", weil im Prozeß nur selten um Rechtsfragen, dafiir umso mehr über Tatsachen gestritten wird2 , die Beweisfrage also häufig die Schaltstelle des Verfahrens darstellt, von der Verurteilung oder Freispruch abhängen 3 • Von einem "Zentralproblern des Strafprozesses" läßt sich aber auch noch in anderer Hinsicht sprechen. Um weIchen Punkt es sich hier handelt, hat Alsberg selber gesagt: Nämlich um "die Frage des Einflusses der Parteien auf die Erstreckung der Beweisaufuahme,,4 . Damit ist, anders als bei der ersten Bedeutungsebene, kein innerprozessuales Problem angesprochen, sondern die grundlegende Frage nach der Verteilung der Rechtsrnacht im Strafprozeß im allgemeinen und der Rechtsstellung des Angeklagten im besonderen. Sie fUhrt geradewegs in das - den Strafprozeß kennzeichnende - "Spannungsfeld zwischen Macht und Recht, zwischen Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit" (Eb. Schmidti . Das heißt: Bei der Frage, ob und inwieweit dem Angeklagten Einfluß auf den Beweisaufuahmeumfang gewährt werden soll, handelt es sich auch deshalb um das Zentralproblem des Strafprozesses, weil hier ein herausragender Indikator rur das jeweils gültige Verhältnis von Staat und Individuum bezeichnet wird.

( A/sberg, Beweisantrag, Vorwort, S. III; ebenso: Herdegen, StV 1997, S.335: "Zentrale Materie". 2 Sarstedt, DAR 1964, S. 307; Kreke/er, Beweiserhebungsanspruch, S. 6; Bergmann, Beweisanregung, S. I; vgl. auch Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 72: "Im praktischen Prozeß kommt ein Lot Rechtsfragen auf einen Zentner Tatsachen." 3 Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 47:" ... Felde, auf dem die Würfel fallen". 4 A/sberg, Beweisantrag, Vorwort, S. 111. 5 Eb. Schmidt, Einfiihrung, S. 19. 2 Schatz

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Einleitung

Die Frage nach dem Beweisantragsrecht ist damit aus zweifachem Grund von besonderer Bedeutsamkeit und Brisanz. Kaum überraschend ist daher, daß das Beweisantragsrecht eines der umstrittensten Rechtsinstitute unserer Strafprozeßordnung darstellt. Dem einen gilt es als das "wertvollste Recht,,6, geradezu als das "Grundrecht" des Angeklagten?, anderen zumindest als "Sorgenkind"s , wenn nicht sogar als "Grundübel des deutschen Strafprozesses,,9 und als "das Kaudinische Joch der Parteiwillkür, ja - Tyrannis,,10 . Seit seiner grundsätzlichen Anerkennung durch das Reichsgericht im Jahre 1880 hat das Beweisantragsrecht eine äußerst wechselvolle, den jeweiligen "Wellenbewegungen des Zeitgeistes"ll meist parallele Geschichte erlebt. Bereits 1940 konnte H.-J. Bruns feststellen, daß keine andere Bestimmung der StPO im Laufe der Zeiten so viele Wandlungen durchgemacht habe 12 • In den letzten Jahren hat die Auseinandersetzung um das Beweisantragsrecht an Intensität und Schärfe wieder zugenommen. Der Gesetzgeber hat den derzeit dominierenden Forderungen nach einer Einschränkung dieses Rechtsinstituts zum Teil schon nachgegeben. Weitere legislatorische Eingriffe sind geplant und werden in Schrifttum wie Praxis äußerst kontrovers diskutiert. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, in diese Diskussion einzugreifen, die häufig allzu einseitig geftlhrt wird und die entweder die rechtspolitischen Determinanten mißachtet und deshalb mit Sachargumenten aussichtslos gegen Windmühlen ankämpft, oder umgekehrt das Beweisantragsrecht zur rein politisch bedingten und damit disponiblen Manövriermasse degradiert und seinen prozeßdogmatischen und rechtsstaatlichen Hintergrund ausblendet 13 . 6 Oetker, GS 90 (1924), S. 349; vom "wichtigsten aller Parteirechte" sprechen Glaser, Handbuch I, S. 410, Alsberg, Beweisantrag, S. 12, Schneidewin, Reichsgericht-FS, S. 328, und Simader, Ablehnung, S. 27; ähnlich Dahs, NJW 1995, S. 556: "Essentielles Verteidigungsmittel" . 7 Heinemann, ZStW 1926 (1906), S. 530; Gerland, Strafprocess, S. 360. 8 v. Glasenapp, NJW 1982, S. 2057. 9 v. Bassewitz, DRiZ 1982, S. 461. 10 K. Klee, GA 77 (1933), S. 94. II Ulsenheimer, AnwBI 1983, S. 374 Fn. 5. 12 H-J Bruns, DR 1940, S. 2042. 13 Bereits Bendix, JW 1920, S. 268, erklärte eine einseitige Sicht dafilr verantwortlich, daß die Reform des Strafverfahrens nicht gelingen will: "Einer der tieferen Gründe liegt m. E. in der nach Vogel-Strauß-Art, also zu Unrecht geleugneten hochpolitischen Bedeutung dieser Reformfragen. Wenn es auch richtig ist, daß sie es ausschließlich mit der Bekämpfung des Verbrechens zu tun haben, so ist es nicht weniger richtig, daß die Entscheidung über Art, Mittel und Ziel der Bekämpfung nicht bloß eine Frage der fachmännisch zu entscheidenden Zweckmäßigkeit ist, sondern in gleichem, wenn nicht höherem Maße von der Weltanschauung und politischen Einstellung, aber auch von noch zu erörternden methodischen Grundansichten abhängig ist, Vorfragen, über deren ausschlaggebende Bedeutung die das Wort filhrenden juristischen Techniker sich bisher,

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Eine sinnvolle Stellungnahme zum Beweisantragsrecht und seiner Reform ist aber nur möglich, wenn man beide Fragenkreise im Blick behält und letztlich als Ganzes betrachtet. Die Arbeit will daher im Zusammenhang mit der Reformfrage einerseits die prozessuale und verfassungsrechtliche Bedeutung des Beweisantragsrecht weiter herausarbeiten. Andererseits versucht sie, die politische Bedingtheit des Streits zu verdeutlichen. Sie argumentiert daher sowohl rechtsdogmatisch als auch rechtspolitisch. Diesem Ansatz entsprechend wird im 1. Teil der Untersuchung die Genese des Beweisantragsrechts und seine seitherige Reformgeschichte aufbereitet. Die Betrachtung der wechselvollen Entwicklungs- und Reformgeschichte dient zunächst dazu, historisch zu belegen, daß das Beweisantragsrecht nicht nur ein Instrument prozeßdogmatischer Klugheit und verfassungsrechtlicher Notwendigkeit ist, sondern ebenso Ausdruck einer rechtspolitischen Grundentscheidung, in der die Einstellung des Staates zum Individuum zum Ausdruck kommt. Daß das Beweisantragsrecht ein Stück politische Wirklichkeit darstellt, wird sich besonders klar an seinem Niedergang im Nationalsozialismus und an der ebenfalls mitberUcksichtigten Rechtsentwicklung in der DDR zeigen. Die Einbeziehung der historischen Perspektive rechtfertigt sich sodann noch aus einem anderen Grund: Da das heutige Beweisantragsrecht ein Produkt jahrzehntelangen Ringens, evolutionären Voranschreitens und degenerativer Rückschläge ist, ist ein Verständnis der gegenwärtigen Beweisantragsregelung und der um sie geftihrten Kontroverse kaum möglich ohne Kenntnis der bisherigen Rechtsentwicklung. Damit trägt der entwicklungs- und reformgeschichtliche Abschnitt dazu bei, den nachfolgenden 2. Teil der Arbeit vorzubereiten. Dieser analysiert die gegenwärtige Reformproblematik und nimmt zu ihr dogmatisch wie rechtspolitisch kritisch Stellung. In methodischer Hinsicht muß sich die Analyse zunächst mit der Reformbedürftigkeit der geltenden Beweisantragsregelung befassen. Nur wenn sie nicht von vornherein zu verneinen ist, stellt sich die logisch nachfolgende Frage, mit welchen gesetzgeberischen Mitteln im einzelnen eine Novellierung in Angriff genommen werden kann. Beide Fragen setzen allerdings voraus, daß über Sinn und Funktion des Beweisantragsrechts Klarheit besteht. Um die grundsätzliche Berechtigung und die einzelnen rechtstechnischen Möglichkeiten einer Novellierung beurteilen zu können, ist es vorab erforderlich, die wesentlichen prozeßsoweit ich sehe, noch nicht auseinandergesetzt haben, weil sie sich anscheinend auch noch nicht klar darüber geworden sind, wenn sie nicht absichtlich aus taktischen Gründen diese die Einigung erschwerenden oder verhindernden grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten als nicht bestehend hinstellten." (Sperrung im Original). 2"

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dogmatischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen des Beweisantragsrechts herauszuarbeiten. Damit ist der Aufbau des 2. Teils vorbestimmt: Einer Untersuchung der dogmatischen Bedeutung des Beweisantragsrechts und seiner verfassungsrechtlichen Bezüge (Erstes Kapitel) folgt erst die Prüfung der Reformfilhigkeit und -bedürftigkeit des geltenden Rechts (Zweites Kapitel) und dann eine Untersuchung einzelner Reformmodelle, die mit einem eigenen Beitrag abschließt (Drittes Kapitel). Verzichtet werden mußte - angesichts der Breite und Komplexität der berührten strafprozessualen, verfassungsrechtlichen und rechtstatsächlichen Fragen allerdings auf eine umfassende Darstellung des Beweisantragsrechts in allen seinen Facetten. Getreu dem leitenden Motiv der Arbeit, vor dem Hintergrund der besonderen rechtsdogmatischen und rechtspolitischen Bedeutung dieses Rechtsinstituts einen Beitrag zur Reformdiskussion zu leisten, stehen die insoweit relevanten Fragestellungen im Mittelpunkt. Das heißt: Die Untersuchung beschränkt sich zunächst auf das den Strengbeweis 14 betreffende Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung (§§ 244 Abs. 3 - 6, 245 Abs. 2 StPO). Zwar sieht die Strafprozeßordnung - in unterschiedlichem Ausmaß - rur alle Abschnitte des ordentlichen Erkenntnisverfahrens das Recht des Beschuldigten vor, Beweiserhebungen zu beantragen l5 • Gleichwohl kreist die Diskussion fast ausschließlich um die Frage, ob das besonders weitreichende Beweisantragsrecht der Hauptverhandlung modifiziert werden soll. Das liegt sicherlich nicht daran, daß die nur äußerst schwach ausgebildete und kaum vergleichbare Rechtsstellung im Ermittlungs- und Zwischenverfahren (§§ 163 a Abs. 2,201 Abs. 1 StPO) keinen Anlaß zu Kritik gäbe l6 . Der Grund dürfte vielmehr sein, daß angesichts des in diesen Verfahrensabschnitten nur schwach ausgestalteten Beweiserhebungsanspruchs die Forderung an den Gesetzgeber nur lauten kann: Verstärkung des Beweisantragsrechts. Und fiir For14 Auf Beweisanträge im Freibeweisverfahren findet nur § 244 Abs. 2 StPO Anwendung (dazu und zum Unterschied von Frei- und Strengbeweis siehe Kleinknecht/MeyerGoßner, § 244 Rn. 6 ff.; zu abweichenden Auffassungen Voigtel, Freibeweis, S. 248 ff. m.w.N.). IS §§ 163 a Abs. 2, 166, 201, 219, 225 a Abs. 2, 270 Abs.4, 244 Abs. 3 - 6, 245 Abs.2. 16 Dazu: Beulke, Reform, S.46; Rieß, FS-Schäfer, S.209 f.; Weigend, ZStW 104 (1992), S.503, 505 ff.; ders., Referat, M 27/28; Hassemer, KritV 1990, S.273/274; Quedenfeld, FG-Peters, S.231 ff.; E. Müller, Referat, M 79, 83; Asbrock, NJ 1995, S. 344; Pieth, Beweisantrag, S. 353; Boetticher, FS-Boujong, S. 703 ff., 707, 728 f.; weitere Nachweise bei Krekeler, Beweiserhebungsanspruch, S. 214 ff.; H.-L. Schreiber, FS-Baumann, S. 390 ff.; Perron, Beweisantragsrecht, S. 475 Fn. 4.

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derungen, die darauf abzielen, bestehende Verfahrensrechte auszubauen oder gar neue zu schaffen, ist die rechtspolitische Großwetterlage auf unabsehbare Zeit ungünstig: "In einer Zeit, in der Verfahrensbeschleunigung und Verfahrensstraffung der vorrangige Leitgedanke verfahrensrechtlicher Gesetzgebung geworden sind"l7, bestimmen Vorschläge zum Rechtsabbau den rechtspolitischen Diskurs. Wenn deshalb im Zusammenhang mit dem Beweisantragsrecht das Wort "Reform" flUIt, ist praktisch synonym die Einschränkung oder sogar Abschaffung dieses Instituts gemeint. Dieser Sprachgebrauch ist zwar verwunderlich l8 und sachlich zweifelhaft l9 . Da die inhaltlich einseitige Besetzung des Terminus "Reform" aber im Hinblick auf das Beweisantragsrecht gebräuchlich geworden ist, folgt ihr auch die vorliegende Arbeit. Die Orientierung an der gegenwärtigen Reformdiskussion hat nicht nur dazu gefiihrt, daß sich die Arbeit auf die Hauptverhandlung beschränkt, sondern auch, daß das Beweisantragsrecht des Angeklagten und seines Verteidigers im Vordergrund steht. Zwar haben auch Staatsanwalt und Nebenkläger (im Rahmen der Anschlußberechtigung) ein eigenes, gleichberechtigtes Beweisantragsrecht20 • Für die "Ankläger" hat diese Befugnis jedoch bei weitem nicht die Bedeutung, die sie aus verschiedenen Gründen fiir die Verteidigung hae l . Dementsprechend ist es ganz überwiegend die Angeklagtenseite 22 , die vom Beweisantragsrecht Gebrauch macht und damit - zu Recht oder Unrecht - Anlaß fiir die Einschränkungsforderungen gibt. Im Zentrum der Arbeit steht weiterhin die Beweisantragsregelung über die nicht-präsenten Beweismittel (§ 244 Abs. 3 ff. StPO). Die Vorschrift des § 245 Abs. 2 StPO, die die Strafprozeßordnung fiir präsente Beweismittel vorsieht,

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Quedenfeld, FG-Peters, S. 232; ähnlich Hassemer, StV 1995, S. 483. Perron, Beweisantragsrecht, S. 490. Hassemer, KritV 1990, S. 274, meint etwa, der Gesetzgeber dürfe rur effizienzori-

entierte Änderungen das "Gütesiegel 'Refonn' nicht in Anspruch nehmen". 20 Ebenfalls beweisantragsberechtigt ist der Antragsteller im Adhäsionsverfahren (§§ 403 tf. StPO), soweit seine vennögensrechtlichen Ansprüche betroffen sind; weiterhin die Einziehungsbeteiligten (vgl. § 431 Abs. 1 S. 1 StPO) und die ihnen nach § 442 StPO gleichstehenden Verfahrensbeteiligten (mit Einschränkung: § 436 Abs.2 StPO), der nach § 69 Abs. 1 JGG bestellte Beistand, der Erziehungsberechtigte und der gesetzliche Vertreter eines Jugendlichen (§ 67 Abs. 1 JGG). Zur Antragsberechtigung siehe auch AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 373 ff. 21 Ausfiihrlieh unten 2. Teil: I. Kapitel, B. I. I. 22 Angeklagter und Verteidiger sind voneinander unabhängig zur AntragsteIlung berechtigt. Sie können von ihren Prozeßrollen her aber grundsätzlich als Einheit betrachtet werden (Perron, Beweisantragsrecht, S. 69). Im weiteren wird daher öfters - soweit es die vorhandenen Unterschiede nicht verbieten - vereinfachend von der "Angeklagtenseite" gesprochen.

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spielt im Rahmen der heutigen Reformdebatte nur eine untergeordnete Rolle. Seit diese Regelung durch das StV ÄG 1979 neugefaßt und dabei das frühere autonome Präsentationsrecht beseitigt wurde, scheint hier der Restriktionsbedarf weitgehend befriedigt. Sie wird daher nur am Rande - in ihrer entwicklungs- und reformgeschichtlichen Bedeutung - mitbehandele3 • Ausgespart wurde auch eine eigene rechtsvergleichende Untersuchung. Der Verzicht erschien vertretbar angesichts des umfangreichen, vom Bundesjustizministerium initiierten Gutachtens, das 1995 vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht zum Thema: "Die Beweisaufnahme im Strafverfahrensrecht des Auslands" veröffentlicht wurde 24 • Für die deutsche Reformdiskussion hat sich der Erkenntniswert der rechtsvergleichenden Perspektive - vor allem aufgrund der abweichenden Verfahrensstrukturen im Ausland - ohnehin als sehr begrenzt erwiesen25 • Soweit aber für die vorliegende Arbeit relevante Feststellungen getroffen werden konnten, wird auf das Gutachten Bezug genommen. Abschließend noch einige Definitionen und einleitende Bemerkungen zur Begrifflichkeit: Die Strafprozeßordnung enthält keine Defmition des Begriffs "Beweisantrag". Nach ganz überwiegender Ansicht wird aber hierunter das ernsthafte Verlangen eines Prozeßbeteiligten verstanden, mit einem bestimmten Beweismittel über eine bestimmte - die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage betreffende - Tatsachenbehauptung Beweis zu erheben26 • Der Beweisantrag ist damit durch drei Merkmale gekennzeichnet, die ihn von anderen Beweisbegehren abgrenzen. Durch das ernstgemeinte Verlangen unterscheidet sich der Beweisantrag zunächst vom Beweiserbieten: Diesem fehlt der Antragscharakter; die Beweisaufnahme wird lediglich in das Ermessen des Gerichts gestelle? . Durch das dop-

23 Die im dogmatischen (2.) Teil zum Beweisantragsrecht getroffenen Aussagen geiten jedoch - soweit nicht besonders kenntlich gemacht - entsprechend auch fiir die Regelung des § 245 Abs. 2. 24 Perron (Hrsg.), Die Beweisaufnahme im Strafverfahrensrecht des Auslands, 1995. 25 Gesamtergebnis des Gutachtens (Perron [Hrsg.], Beweisaufnahme, S. 608): "Konkrete Reformvorbilder, die unmittelbar in das deutsche Strafverfahrensrecht übernommen werden könnten, bieten sich in den untersuchten ausländischen Strafverfahrensordnungen nicht an." 26 RGSt 49, S.360 (360/361); 64, S.432 (432); BGHSt I, S.29 (31); 6, S. 128 (129); BGH StV 1982, S.55 (56); BVerfGE 63, S.45 (68); Miltner, Recht 1902, S. 568; Eb. Schmidt, LK 11, Vorbem. §§ 244-256, Rn. 24; Schwenn, StV 1981, S.631 Fn. 3; Welp, JR 1988, S. 387; KKlStPO-Herdegen, § 244 Rn. 43; KMR-Paulus, § 244 Rn. 371; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 94; Wesseis, JuS 1969, S. 3; Bergmann, Beweisanregung, S. 3; Nierwetberg, Jura 1984, S. 631; Werle, JZ 1991, S. 792. 27 AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 66; KleinknechtIMeyer-Goßner, § 244 Rn. 24; KKlStPO-Herdegen, § 244 Rn. 56 (hier als "Beweisanregung" bezeichnet; ebenso

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pelte Bestimmtheitserfordemis unterscheidet sich der Beweisantrag sodann vom sog. Beweisermittlungsantrag: Diesem fehlt es entweder an der bestimmten Bezeichnung der Beweisbehauptung oder an der Angabe eines bestimmten Beweismittels28 . Als Oberbegriff wird teilweise der Ausdruck Beweisanregung verwendet: Er soll alle Hinweise und Anträge zur Beweisaufnahme bezeichnen, die keine echten Beweisanträge sind, weil der Antragsteller einen Beweisantrag nicht stellen will oder aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht stellen kann29 • Gemeinsames Charakteristikum der genannten Begehren und Anerbieten außerhalb des Beweisantragsrechts ist, daß sich die Entscheidung darüber, ob und inwieweit ihnen stattzugeben ist, allein nach der Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) richteeO . Nach der gegebenen Begriffsbestimmung zum Beweisantrag kann als "Beweisantragsrecht" das Recht bezeichnet werden, unter Angabe bestimmter Tatsachen und Beweismittel eine Beweiserhebung zu verlangen. Diese - formale - Defmition läßt allerdings einen entscheidenden Punkt unberücksichtigt: Und zwar, nach welchen Maßstäben das Gericht die Beweisanträge behandeln muß, also die Frage, welche rechtliche Durchsetzungskraft ihnen zukommt. Das sorgt fiir begriffliche Verwirrung in der Reformdiskussion, da unter dem Titel "Beweisantragsrecht" unterschiedlich dichte Rechtspositionen fIrmieren können. Allgemeines Einverständnis herrscht in der Prozeßdogmatik zwar darüber, daß begriffliche Voraussetzung jedes Antrags im technischen Sinne ein bestimmtes Recht ist, das dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner zustehe'. Doch welcher Anspruch wird qua Beweisantrag geltend gemacht? Überwiegend meint man den besonderen Beweiserhebungsanspruch, den die StPO in §§ 244 Abs. 3 ff., 245 Abs. 2, 246 StPO regelt, wonach Beweisanträge nur aus bestimmten im Gesetz genannten Gründen und nur in bestimmter Form abgelehnt werden dürfen. Zum Teil wird als "Beweisantragsrecht" aber auch die Befugnis bezeichnet, den Anspruch auf Erfiillung der Aufklärungspflicht aus KMR-Paulus, § 244 Rn. 382); SKJStPO-Schlüchter, § 244 Rn. 70; Bergmann, Beweisanregung, S. 5. 28 Zum Beweisermitllungsantrag siehe auch 2. Teil: 2. Kapitel, B. I. 3. b) cc). 29 AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S.65; Bergmann, Beweisanregung, S. 5 ff.; KleinknechtIMeyer-Goßner, § 244 Rn. 23 ff.; Wessels, JuS 1969, S. 3; gegen diese Begriffsverwendung: KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 56; AKJStPO-Loos, § 420 Rn. 22: "terminologisch irrefilhrend"; z. T. wird auch noch die sog. "Beweisanregung i.e.S. " behandelt: Ein Antrag, der nicht den Umfang, sondern nur die Art und Weise der Beweiserhebung betriffi. Weil diese nicht durch Beweisanträge beeinflußt werden kann, tallt er aus Rechtsgründen aus dem Beweisantragsbegriff heraus (KleinknechtIMeyerGoßner, § 244 Rn. 26; SKJStPO-Schlüchter, § 244 Rn. 71). 30 KleinknechtIMeyer-Goßner, § 244 Rn. 23; KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 55 f.; KMR-Paulus, § 244 Rn. 414; Wessels, JuS 1969, S. 3. 31 Simader, Ablehnung, S. 18; Stützel, Beweisantrag, S. 7; vgl. auch KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 53.

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§ 244 Abs. 2 StPO durch Antrag geltend zu machen. Beide Sachverhalte ununterschieden als "Beweisantragsrecht" zu apostrophieren, wäre nur bei identischem Umfang der Beweisaufnahmepflichten unschädlich. Da aber der Pflichtenumfang - wie sich noch erweisen wirdJ2 - divergiert, ist eine begriffliche Differenzierung erforderlich. In den neueren Reformentwürfen zum Beweisantragsrecht findet sich diesbezüglich folgender Sprachgebrauch: Wenn sie das Beweisantragsrecht der Amtsaufklärungspflicht unterstellen wollen, heißt es, ihr Ziel sei die Einschränkung oder Abschaffung des "formellen" oder "förmlichen" Beweisantragsrechts 33 • Diese Redeweise suggeriert, daß es bloß um den Abbau eines äußerlichen Formalismus geht. Die Arbeit wird jedoch zeigen, daß dem nicht so ist. Wird die Regelung der §§ 244 Abs.3 ff., 245 Abs.2, 246 Abs. 1 StPO beseitigt und das Beweisantragsrecht nur nach Maßgabe der Aufklärungspflicht gewährt, ist sein eigentlicher Gehalt beseitigt. Das heißt: Das Beweisantragsrecht wäre sachlich, inhaltlich oder eben auch: materiell abgeschafft34 • Der Sprachgebrauch vom "formellen" oder "förmlichen" Beweisantragsrecht verschleiert diese Konsequenz und verdeckt so euphemistisch die wirkliche Tragweite der beabsichtigten Eingriffe. Die vorliegende Arbeit folgt dieser Politik mit Worten nicht. Das an der Amtsaufklärungspflicht orientierte Antragsrecht wird deshalb als unselbständiges Beweisantragsrecht gekennzeichnet, während die besondere Regelung, die die StPO de lege lata rur in der Hauptverhandlung gestellte Beweisanträge vorsieht, entweder einfach nur als Beweisantragsrecht oder - zur Verdeutlichung als echtes, striktes, strenges, verbindliches oder selbständiges Beweisantragsrecht bezeichnet wird.

Siehe 2. Teil: 1. Kapitel, B. I. 1. a). Arbeitsunterlage 53. Konferenz der Iustizminister und -senatoren (1982), Dokumentation in StV 1982, S. 327, 331; Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege (1991), BR-DrS 314/91, S. 99, 103 ff., BT-DrS 12/1217, S. 35 ff.; Gesetzesantrag Bayern vom 20. 4. 1994 (BR-DrS 331194, S. 4/5, 7); Gesetzesantrag Hamburg (BR-DrS 290/94, S. 3 f.); Gesetzesantrag Baden-Württemberg, Bayern und Thüringen vom 6. 10. 1995 (BR-DrS 633/95, S. 2, 64); Unveröffentlichter Bericht des Strafrechtsausschusses fiir die 65. Konferenz der Iustizministerinnen und Iustizminister am 22./23. November 1994 zur Vorbereitung eines weiteren Rechtspflegeentlastungsgesetzes, Begründung zu Nr. 33, 34; ebenso Kintzi, DRiZ 1994, S. 328; Gössel, IR 1995, S. 364 f.; ders., IR 1996, S. 100 f.; ders., Gutachten, C 66; Foth, IR 1996, S. 99. 34 Widmaier, NStZ 1994, S. 417; ausfiihrIich 2. Teil: I. Kapitel, B., 3. Kapitel. 32 33

Erster Teil

Historische Entwicklung und Reformgeschichte des Beweisantragsrechts A. Die historische Entwicklung bis zur RStPO 1877 Von grundlegender Bedeutung für das Verständnis unseres heutigen Beweisantragsrechts ist das Inquisitionsverfahren. Mit diesem Verfahrenstypus, der sich im Spätmittelalter allmählich durchsetzte, entstanden in einem Paradigmenwechsel zwei der Leitprinzipien, die für die Entwicklung und nähere Ausgestaltung des Strafverfahrensrechts im allgemeinen wie des Beweisantragsrechts im besonderen bis heute maßgebend blieben.

I. Die Constitutio Crirninalis Carolina von 1532 und der gemeine Inquisitionsprozeß

Mit dem Zerfall der alten sippenschaftIichen Bindungen, der Entstehung eines Berufsverbrecherturns, der Konsolidierung der Territorialstaaten und insbesondere der Gottes- und Landfriedensgesetzgebung setzte sich - gegen die überkommene, germanischem Rechtsdenken entsprechende privatrechtliche Sichtweise - eine öffentlich-rechtliche Auffassung vom Strafrecht durch l . Der neuen Erkenntnis, daß es Sache des Staates sei, für die Rechtsdurchsetzung zu sorgen, entsprach in prozessualer Hinsicht das Inquisitionsverfahren. Gekennzeichnet war es zunächst durch die ex officio betriebene Verbrechensverfolgung (Ojfizialmaxime). Der alte Grundsatz "Wo kein Kläger, da kein Richter" galt nicht mehr2 . Darüber hinaus oblag es jetzt dem Richter, von Amts wegen nach der materiellen Wahrheit zu forschen. Diese als Instruktionsmaxime bezeichnete Verpflichtung bedeutete zunächst eine Abkehr von den alten formellen Beweisakten, bei denen das Gelingen des Beweises allein an die Erfüllung der äußeren Form geknüpft war, hin zu rationalen Beweismitteln, die lEb. Schmidt, Einführung, S. 57 ff., 111 f., 114; lerouschek, ZStW 104 (1992), S. 336 ff.; Lieberwirth, "CaroJina", in HRG, Bd. 1, Sp. 593 f.; Schlosser, "Inquisitionsprozeß", in: HRG, Bd. 2, Sp. 379; Weigend, DeJiktsopfer, S. 63 ff. 2 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 34.

I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

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auf die Erforschung (inquisitio) des wahren Sachverhaltes abzieltenJ . Zugleich wurde der Verhandlungs grundsatz aufgegeben. Der frühere Parteibetrieb, der germanischer Rechtsanschauung entsprach und die gerichtliche Tätigkeit darauf beschränkte, lediglich dem Vollzug formalisierter Handlungen zu assistieren, ohne Raum fiir eine echte gerichtliche Eigentätigkeit zu lassen, wurde ersetzt durch die Allzuständigkeit des Richters4 • In seiner Hand lag nunmehr das gesamte Verfahren, vom Aufkommen des Verdachts bis zum Urteil. Gemäß seiner Bestimmung, den öffentlichen Strafanspruch durchzusetzen, war das neue Verfahren zunächst allein an Effektivitätsgesichtspunkten ausgerichtet. Prozessuale Sicherungen und schützende Formen waren ihm fremd 5 . Der Inquisitionsprozeß war so der "handgreiflichste Ausdruck verfassungsrechtlicher Ungesichertheit des Individuums,,6 .

I. Die Constitutio Criminalis Carolina (J 532) Dieses einseitige Zweckverfahren filhrte zu zahlreichen Klagen an das Reichskammergericht, das 1495 auf dem Wormser Reichstag eingerichtet worden war. Das Reichskammergericht veranlaßte daraufhin den Freiburger Reichstag (1498) zu einer Reform der Strafrechtspflege. Im Zuge der daraufhin einsetzenden Tätigkeit des Reiches kam es 1532 auf reichsrechtlicher Grundlage mit der Constitutio Criminalis Carolina zu einer rechtlichen Kodifikation der neuen inquisitorischen Verfahrensgrundsätze7 . Die Carolina, die unter dem maßgebenden Einfluß von Johann Freiherr von Schwarzenberg und Hohenlandsberg (1465-1528) entstand8 , verstand sich als Reformwerk. Ihr erklärtes Ziel war es, den gravierenden Mißständen in der Strafrechtspflege abzuhelfen9 • Herrschender Willkür wurden prozessuale Formen entgegengesetzt. Getreu seinem von der stoizistischen Ethik beeinflußten Gerechtigkeitssinn unternahm Schwarzenberg den Versuch, einen Ausgleich zwischen den Anforderungen einer effektiven Strafverfolgung und dem Schutz Hauser, Zeugenbeweis, S. 5; Weigend, Deliktsopfer, S. 84, 88. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 34; Buchda, "Gerichtsverfahren", in: HRG, Bd. I, Sp. 1559; Schlosser, "Inquisitionsprozeß", in: HRG, Bd. 2, Sp. 379. 5 Zachariae, Handbuch I, S. 145 f., ders., Gebrechen, S.93; Eb. Schmidt, Einfiihrung, S. 106 f., 122; S. Bruns, Geschichte, S. 14 f., 18; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 107, 121; v. Hippel, Strafprozess, S. 29; Schoetensack, Strafprozess der Carolina, S. 4: " ... nicht weit von völliger Anarchie entfernt". 6 Sax, Grundsätze, S. 968. 7 v. Hippel, Strafrecht, S. 164 ff.; Schoetensack, Carolina, S. 2 ff.; Lieberwirth, "Carolina", in: HRG, Bd. 1, Sp. 591 ff. 8 Vgl. Eb. Schmidt, Einfiihrung, S. 109; Radbruch, Einfiihrung, S. 10. 9 Vgl. "Vorrede des peinlichen halsgerichts", Textausgabe "Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532", hrsg. von RadbruchlKaufmann, 6. Aufl., 1984. 3 4

A. Historische Entwicklung bis zur RStPO 1877

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des Unschuldigen herzustellen 10. In diesem Sinne formulierte die Carolina das Ziel der Reform in der Verbindung zweier Leitmotive: "Auß lieb der gerechtigkeyt, und umb gemeynes nutz willen,,11 . Die von Schwarzenberg angestrebte Harmonisierung der Interessen öffentlicher Strafverfolgung mit dem Schutz individueller Freiheit gelang allerdings filr das Beweisverfahren nur unzureichend. Ein Fortschritt bestand zwar darin, daß die alten, auf Glauben und Aberglauben beruhenden formalen Beweisakte durch rationale Erkenntnismittel ersetzt wurden 12: Grundlage einer Verurteilung konnte jetzt nur das Geständnis des Beschuldigten (Artt. 22, 48 ff., 56, 58, 60 CCC) oder die Aussage mindestens zweier echter Wissenszeugen (Artt. 66 ff. CCC) sein\3 . Schädlich war jedoch, daß das Streben nach einem Geständnis des Beschuldigten dazu filhrte, die "peinliche Frage", also die Folter, als Wahrheitserforschungsinstrument zuzulassen. Die Folter wirkte um so unheilvoller, als die Carolina alle Funktionen der öffentlichen Verbrechensverfolgung dem Inquirenten übertrug. Entgegen seiner neutralen schiedsrichterlichen Stellung im altgermanischen Verfahren war der Inquirent Richter und Ankläger in einer Person. Hinzu kam, daß er auch noch materiell Verteidiger des Beschuldigten war l4 , sich also gleichermaßen um entlastende Umstände zu sorgen hatte. Der Inquirent war damit, wie P. J. A. Feuerbach es ausdrUckte, insgesamt eine "dreyfache Persön"15 Die hoffnungslose psychologische Überforderung des Inquirenten, die in seiner Aufgabenhäufung als trinitas personae lag, erkannte man freilich nicht l6 . Diese "prozeßpsychologische Naivität" wurde bis in das 19. Jahrhundert hinein nicht überwunden 17. Der Göttinger Strafprozessualist Heinrich Albert Zacha10 Eb. Schmidt, Einführung, S. 112 ff., vgl. auch S. 108, 125; Sellert, in: Sellertl Rüping, Studien- u. Quellenbuch, Bd. 1, S. 204; Sarstedt, Beweisregeln, S. 171 f.; Sax, Grundsätze, S. 967; Hübner, Verfahrensgrundsätze, S.32; Westhoff, Grundlagen, S. 83. II Art. 104 CCC; vgl. hierzu Radbruch, Einführung, S. 23. 12 Vgl. Kühne, Beweisverbote, S. 18; zum Beweisrecht und Beweisverfahren im altdeutschen Recht vgl. B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 84 ff. I3 Da selten zwei Wissenszeugen vorhanden waren, die Tat und Täter dokumentieren konnten, stand das Recht des Zeugenbeweises praktisch nur auf dem Papier und das Geständnis ganz im Vordergrund (Glaser, Lehre, S. 204). 14 Roßhirt, Neues Archiv d. Criminalrechts,8. Bd. (1826), S. 618; Mittermaier, Gesetzgebung, S. 273; Feuerbach, Lehrbuch, S. 843; Zachariae, Handbuch, Bd. 1, S. 42; ders .. Gebrechen, S. 140; Schoetensack, Carolina, S. 38; vgl. auch Beulke, Verteidiger, S.28. 15 Feuerbach, Lehrbuch, § 646, S. 502. 16 Zur Problematik vgl. Hettinger, Fragerecht, S. 88 m.w.N.; S. Bruns, Geschichte, S. 79 ff.; zum wahrnehmungspsychologischen Hintergrund der Übertragung heterogener Rollen vgl. Herrmann, Reform, S. 361 ff. 17 Vgl. Maiwald, Kriminalist Martin, S. 213 f., über den Strafrechtslehrer Christoph Reinhard Dietrich Martin (1772-1857).

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

riae l8 , Streiter rur den reformierten Strafprozeß, meinte zu dieser Rollenkumulation anschaulich, es sei eine Absurdität, dem Inquirenten zuzumuten, "bald auf die eine, bald auf die andere Seite zu springen und mit beiden Waffen resp. gegen sich selbst zu fechten, zugleich aber auch als Kampfrichter den Streit zu leiten,d9. Auch die Prozeßrolie des Beschuldigten wurde im Inquisitionsverfahren neu definiert. Er galt nicht mehr, wie im germanischen Rechtsgang, als freier Mann in einem kontradiktorischen Verfahren, sondern als Objekt der öffentlichen Strafverfolgung20 . Roßhirt formulierte 1826 zu dieser Rollenverschiebung: "Nicht mehr leben in der Carolina die alten Ideen der bürgerlichen Freiheit, namentlich daß der Verbrecher von seines Gleichen gerichtet werde,,21 . Mit der Neuverteilung der Prozeßrolien ist zugleich die Nichtexistenz verbindlicher Beweisrechte erklärt. Eigene Verfahrensrechte des Beschuldigten, mit deren Hilfe er den Richter zu einem bestimmten Verhalten hätte zwingen können, waren undenkbar in einem Verfahren, das alle der Wahrheitserforschung dienlichen Aufgaben dem inquirierenden Richter übertrug und dem Beschuldigten nur eine objekthafte Prozeßsteliung beließ22 . Da man zudem in der Gestalt des auf Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichteten Richters eine ausreichende Gewähr rur die Richtigkeit des Urteils sah, mußten besondere Verteidigungsrechte auch geradezu überflüssig erscheinen. Allerdings erlegte die Carolina dem Richter getreu seiner Aufgabe, sich auch um die materielle Verteidigung des Beschuldigten zu kümmern, eine gewisse Fürsorgepflicht auf 3 . Diese bestand darin, den Angeklagten zur Sache zu befragen (Artt.6, 8, 41, 46,48 ff., 53 CCC) und ihn aufzufordern, Beweise fiir seine Einreden anzugeben (Artt. 141 ff., 151 CCC). Vor allem kam diese Fürsorgepflicht aber in Art. 47 CCC zum Ausdruck, der den Richter verpflichtete, den Beschuldigten auf mögliche Entlastungsbeweise und deren Ausruhrung hinzuweisen 24 . 18 Zum strafprozessualen Wirken Zachariaes (1806-1875) Eb. Schmidt, Einfiihrung, S. 291 ff.; Zachariae war auch Staatsrechtslehrer (vgl. Starck, in: Rechtswissenschaft in Göttingen, S. 209 ff.). Insbesondere beschäftigte er sich mit der konstitutionellen Frage. In seinem Wirken zeigt sich der Zusammenhang von Verfassungs- und Strafverfahrensrecht personal vereint. \9 Zachariae, Gebrechen, S. 143 f. 20 Radbruch, Einfiihrung, S. 17; Eb. Schmidt, Kolleg, Rn. 19. 2\ Neues Archiv d. Criminalrechts, 8.Bd. (1826), S. 627. 22 Roßhirt, Neues Archiv d. Criminalrechts, 8. Bd. (1826), S. 626; Dahs, Rechtl. Gehör, Vorwort; Eb. Schmidt, Kolleg, Rn. 19. 23 Vgl. Rüping, Grundsatz, S. 52; Kumlehn, Fürsorgepflicht, S.6 ff.; Hübner, Verfahrensgrundsätze, S. 33, sieht hierin noch keinen Ausfluß des Fürsorgegedankens, sondern ausschließlich erste Ansatzpunkte fiir die Pflicht zur Gewährung des rechtlichen Gehörs oder überhaupt nur eine Ausprägung des Amtsermittlungsgrundsatzes. 24 Eine "Sorgfalt", die nach Glaser, Handbuch, S. 88, verdient, "rühmend hervorgehoben zu werden".

A. Historische Entwicklung bis zur RStPO 1877

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Art. 47 CCC begründete diese Aufgabe folgendennaßen: "Unnd solcher erinnerung ist darumb not, daß mancher auß eynfalt oder schrecken, nit filrzuschlagen weist, ob er gleich unschuldig ist, wie er sich des entschuldigen und außfilren soll".

Bei Beachtung der richterlichen Flirsorgepflicht konnte der Beschuldigte also durchaus zur "Außfiirung der unschuldt,,25 seine Sicht der Dinge darstellen und Beweise anregen. Außerdem konnte sich der Inquisit der Unterstützung eines "Verteidigers" ("Beistand,,26 , "Fürsprecher,,27) bedienen 28 . Eine Bindung an derartige Beweisanregungen bestand jedoch nicht 29 . Die dem Richter auferlegten Pflichten wirkten sich zugunsten des Beschuldigten nur als Rechtsreflexe aus, ohne jedoch einen Rechtsanspruch auf die Aufnahme bestimmter Beweise zu begründen 30 • Nach der Intention der Carolina sollte sich der Richter bei der Beweisaufnahme - gemäß der Instruktionsmaxime - allein von der Wahrheitserforschungspflicht leiten lassen, allenfalls ergänzt durch die Fürsorgepflicht, die letztlich ebenfalls der Ennittlung der materiellen Wahrheit diente 3l . Art. 56 CCC32 wies demgemäß den Inquirenten an, "auff den grundt der warheyt" zu kommen 33 . Das Geständnis war daher ebenso auf seinen Wahrheitsgehalt zu überprüfen (Artt. 48 ff. CCQ34, wie nur Aussagen von "glaubhafftigen guten Zeugen", die "von jrem eygen waren wissen, mit anzeygung jres wissen gründtIicher ursach" berichteten, eine Verurteilung rechtfertigen konnten (Artt. 65, 67 CCC)35. Hinsichtlich des Umfanges der erforderlichen Untersuchungsmaßnahmen galt aber das (Beschleunigungs-) Gebot, daß 25 Überschrift Art. 47 CCc. 26 Art. 73 CCC ("des gefangen beistender"). 27 Art. 88 CCC ("Item [Ferner] klegern und antwurtern, soll jedem theyl auff sein

begern eyn fürsprech auß dem gericht erlaubt werden, die selben sollen bei jren eyden die gerechtigkeyt und wahrheyt auch die ordnung diser satzung fürdern". 28 Zwengel, Strafverfahren, S. 38 f; Henschel, Strafverteidigung, S. 14 ff; Be ulke, Verteidiger, S. 28, Fn. 48; B. Schneider, Verteidigung, S. 7; Malsack, Stellung, S. 138. Zur Entwicklung der Verteidigung im gemeinen Prozeß: Beulke, a.a.O., S. 27 ff 29 H. -J. Klee, Bestimmung, S. 51; Kreuzer, Bestimmung, S. 10; P. Hoffmann, Zeuge, S. 30 f; Schoetensack, Carolina, S. 101, führt dementsprechend zum Beweisverfahren aus, daß "der aller Parteirechte ermangelnde Inquisit nur so viel Einfluss hat, als das Gutdünken des Inquirenten ihm einräumt". 30 Rüping, Grundsatz, S. 52; S. Bruns, Geschichte, S. 25. 31 Vgl. Schoetensack, Carolina, S. 38. 32 Vgl. auch Art. 6 und Art. 8 CCC. 33 B. SchmUt, Beweiswürdigung, S. 131: "Eine schöne Umschreibung des heute noch in § 244 Abs. 2 StPO geltenden Wahrheitsermittlungsgrundsatzes". 34 Vgl. Art. 71 CCC: So soll der Richter "mit fleiß verhören und sunderlich eygentlich auffmercken, ob der zeug inn seiner sage würd wanckelmütig und unbestendig"; vgl. auch Westhoff, Grundlagen, S. 85 ff. 35 Vgl. Westhoff, Grundlagen, S. 86.

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

"inn allen peinlichen sachen dem rechten schleuniglieh nachgegangen, verholffen und geuerlich nit verzogen" werden sollte36 •

Festzuhalten ist somit, daß anders als im altgermanischen Rechtsgang, Beweissammlung und Beweisfilhrung ganz in den Händen des Inquirenten lagen. Bei der Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme wurde dem Inquirenten ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt. Mit seiner Verpflichtung zur allseitigen Erforschung der Wahrheit appellierte die Carolina allein an seine persönliche Integrität. Für den Beschuldigten, der sich nur als Bittsteller und Zuträger ergänzender Informationen beteiligen durfte, hatte dieser Pflichtenappell lediglich eine begünstigende Reflexwirkung. Ein verbindlicher Beweiserhebungsanspruch stand ihm nicht zu. 2. Der gemeine Inquisitionsprozeß im Zeitalter des Absolutismus

Der Inquisitionsprozeß entwickelte sich in mehreren Stufen über drei Jahrhunderte bis in. die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts 37 • Maßgebenden Einfluß hatte dabei bis Mitte des 18. Jahrhunderts der sächsische Jurist Benedict Carpzov (1595-1666), der als Begründer der deutschen Strafrechtswissenschaft gilt und dessen Hauptwerk "Practica nova imperialis Saxonica rerum criminalium" (1635) über ein Jahrhundert lang gesetzesähnliches Ansehen genoß 38 • Die der Carolina nachfolgende Zeit war dadurch gekennzeichnet, daß po lizeistaatliche Zweckmäßigkeitserwägungen das Strafverfahren dominierten. Das entsprach dem Staatsabsolutismus mit seiner übersteigerten Orientierung an der Staatsräson. Rechtliche Schranken und Hemmnisse, insbesondere die von der Carolina als schützend gedachten prozessualen Formen, aber auch die in der frühen gemeinrechtlichen Zeit von Carpzov aus dem canonischen Recht rezipierten Sicherungen39 , die der staatlichen Strafgewalt hätten entgegenstehen können, wurden nach und nach im Laufe einer Entformalisierung abgeschliffen 40 • Zu nennen ist hier der zunehmend exzessivere Einsatz der Folter, insbesondere in den Hexenprozessen des 16. und 17. Jahrhunderts. Der ungehemmte Art. 77 CCC; vgl. Zwengel, Strafverfahren, S. 39; P. Hof/mann, Zeuge, S. 31. S. Bruns, Geschichte, S. 26. 38 Eb. Schmidt, Einführung, S. 153 ff.; v. Hippel, Strafrecht, S. 228; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 44. 39 Etwa die Zweiteilung des Untersuchungsverfahrens in eine General- und Spezialinquisition (Geppert, Unmittelbarkeit, S.20; Henschel, Strafverteidigung, S. 24 f.; S. Bruns, Geschichte, S. 27 ff.). 40 Zachariae, Handbuch, Bd. I, S. 145 ff.; Glaser, in: Holtzendorff, Handbuch, S. 6 f.; Mittermaier, Dt. Strafverfahren, S. 197 f.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S.45; Eb. Schmidt, Einführung, S. 203 ff., 207 f.; ders., ZStW 65, S. 173; v. Hippel, Strafprozess, S. 35, 37; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 135. 36

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A. Historische Entwicklung bis zur RStPO 1877

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Gebrauch der Tortur wurde möglich durch eine Aufweichung der von Schwarzenberg geschaffenen und von CarpZOV41 weiterentwickelten Indizienlehre 42 . Bei der Verfolgung der Hexerei und Ketzerei galten die Schranken des Regelverfahrens nicht oder nur sehr bedingt43 . Entsprechend war es bei den crimina exepta gestattet, von den zahlreichen Kautelen der Indizienlehre fi1r die Anwendung der Folter abzusehen. Zachariae, der im 19. Jahrhundert nachdrücklich den Wert schützender F ormen herausstrich, kommentierte kritisch die zunehmende Preisgabe der Prozeßformalien: "Der schützenden Formen ... wurden immer weniger und man adoptirte mehr und mehr bei der Urtheilsfällung den Grundsatz, daß es auf Formalien gar nicht ankommen könne, wenn nur gewiß sey, daß in der Sache selbst kein Unrecht geschehe.,,44

Daran mußte man aber zweifeln. Friedrich Walther meinte 1859 voller Abscheu zurückschauend auf den gerade überwundenen Inquisitionsprozeß, daß auch das vermehrte Wirken gelehrter Juristen, der Doctores juris, hieran nichts änderte, denn "ihre ganze strafproceßjuristische Weisheit culminirte im Grunde genommen in der Anwendung der Folter, und die Faust des Henkers mußte ihrem Scharfsinne zu Hülfe kommen, um aus den verrenkten Gliedern der Verbrecher die nöthigen Beweise herauszupressen,,45 . Das durch die Omnipotenz des inquirierenden Richters charakterisierte Beweisaufnahmeverfahren blieb ansonsten unverändert. Allerdings setzte man sich zunehmend über die von der Carolina auferlegte Pflicht hinweg, das erfolterte Geständnis auf seine Richtigkeit zu überprüfen46 . Die hiermit verbundene Beschränkung auf eine bloß formelle Wahrheit47 versprach eine sofortige Aburtei-

41 Zu Carpzovs Indizienlehre: Heitsch, Inquisitionsprozeß, S. 35 ff.; Döring, Anklage- u. Inquisitionsprozeß, S. 63 ff.; Bol/mann, Stellung, S. 106 ff. 42 Vgl. Eb. Schmidt, Einfilhrung, S. 210; Kühne, Beweisverbote, S. 18 f.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 48; v. Kries, Lehrbuch, S. 43; Glaser, Handbuch, S. 98 ff.; H-J Klee, Umgestaltung, S. 52. 43 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 69 Rn. 11; Rüping, Grundriß, Rn. 178 f. 44 Zachariae, Handbuch, Bd. 1, S. 146. 4S Walther, Lehrbuch, S. 24. 46 Kambium, "Beweis", in: HRG, Bd. 1, Sp.406 f.; Westhoff, Grundlagen, S.89; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 49 f. Carpzov verlangte zwar noch, daß das Geständnis hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit überprüft wird (Practica nova, Pars I1I, quaestio 126, n.12, abgedruckt bei SellertlRüping, Studien- u. Quellenbuch, Bd. 1, S.336); Döring, Anklage- u. Inquisitionsprozeß, S. 77, und v. Kries, Lehrbuch, S.39, sind jedoch der Ansicht, daß bereits Carpzov der Erforschung der Wahrheit weniger Bedeutung beimaß als Schwarzenberg. 47 Binding, Abhandlungen, Bd. II., S. 189 f., Anm. 45, definiert "formelle Wahrheit" als "die Gebundenheit des urteilenden Richters an den Inhalt einer Parteibehauptung

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

lung, ohne weitere lästige und zeitraubende Ennittlungen. Das Verfahren hatte wieder eine ganz ähnliche Fonnlosigkeit erlangt, wie sie charakteristisch rur das Inquisitionsverfahren der Vor-Rezeptionszeit war48 . Die nach heutigen Maßstäben ohnehin geringen Sicherungen der Carolina zum Schutze des Beschuldigten waren zugunsten der absolutistischen Staatsräson geopfert. Erwähnenswert ist allerdings das von Carpzov in den gemeinen Prozeß eingeruhrte Institut der Dejension49 . Der Prozeßabschnitt der Defension begann grundsätzlich nach Abschluß der eigentlichen gerichtlichen Untersuchung, bevor die Akten inrotuliert und an das Spruchdikasteriumso versendet wurden, das heißt nach dem artikulierten Verhör des Inquisiten (Befragung nach vorbereiteten Inquisitionsartikeln), eventuell auch der artikulierten Vernehmung der ZeugenSI. Der "favor defensionis" gab dem Beschuldigten die Möglichkeit, sich selbst oder mit Hilfe eines Verteidigers, der in bestimmten Fällen sogar auf Gerichtskosten bestellt werden sollte, gegen den Schuldvorwurf zu wehren S2 . Zur Abwehr des Schuldvorwurfs konnte der Inquisit oder sein Verteidiger eine Verteidigungsschrift (Defensionsschrift) voriegen S3 . Hierrur war eine angemessene Vorbereitungszeit und Akteneinsicht zu gewähren S4 . Die Verteidigung konnte darin bestehen, das Gericht auf Entlastungszeugen und entkräftende Indizien hinzuweisen oder Strafmilderungs- oder Entschuldigungsgründe vorzutragen. Zur Verteidigung konnte auch eine Frageliste eingereicht werden, sogenannte Defensionalartikel, mit dem Antrag, bereits gerichtlich vernommene

ohne jede Rücksicht auf das Verhältnis dieses Inhaltes zum geschichtlichen Verlauf der Ereignisse und zur richterlichen Überzeugung". 48 Eh. Schmidt, Einfiihrung, S. 208. 49 Vgl. etwa Practica nova, Pars III, quaestio 115, n.21 (Verteidigung des Beschuldigten), abgedruckt bei SellertlRüping, Studien- u. Quellenbuch, Bd. 1, S. 336. 50 Zeitgenössische Bezeichnung fiir einen in der Rechtssache selbst nicht entscheidenden Spruchkörper, der Rechtsbelehrungen in Urteilsform erteilte. Neben Urteilsvorschlägen erstellten diese "Rechtsauskunftsstellen" sonstige gutachtliche Rechtsauskünfte (Maiwald, Kriminalist Martin, S. 198). 51 Sog. "Schlußverteidigung"; vorher war der Inquisit nur mit einer "vorläufigen" oder "Prozeßverteidigung" zuzulassen, die sich gegen die Zulässigkeit des Verfahrens richtete. Dazu: Roth, "Strafverteidigung", in: HRG, Bd. 5, Sp. 8; Malsack, Stellung, S. 147 ff., 152; Boehm, ZStW 61 (1942), S. 341; Eh. Schmidt, Einfiihrung, S. 197; Rüping, Grundsatz, S. 60. 52 Boehm, ZStW 61 (1942), S. 341 ff.; Bollmann, Stellung, S. 173 ff., 180 ff., 187; Döring, Anklage- und Inquisitionsprozeß, S. 80 ff.; Sellert, in: SellertlRüping, Studienu. Quellenbuch, Bd. 1, S.270; zu Einzelfragen der Defension: Malsack, Stellung, S.138ff. 53 Bollmann, Stellung, S. 182; Boehm, ZStW 61 (1942), S. 342; Malsack, Stellung, S. 148 ff.; Döring, Anklage- und Inquisitionsprozeß, S. 81. 54 Rüping, Grundsatz, S. 59; Boehm, ZStW 61 (1942), S. 342; Ma/sack, Stellung, S. 143 f.

A. Historische Entwicklung bis zur RStPO 1877

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Zeugen über diese Artikel zu vernehmen 55. Die Vorschriften über die Defension appellierten allerdings mehr an das Gewissen des Richters, nichts unversucht zu lassen, um die materielle Wahrheit zu erforschen, als daß sie subjektive Rechte des Beschuldigten begründet hätten56 . Dementsprechend brauchte den Beweisangeboten der Verteidigung auch nur im Rahmen des weiten richterlichen Ermessens nachgegangen zu werden57 • 3. Der späte gemeinrechtliche Inquisitionsprozeß

Die Epoche des gemeinen Inquisitionsprozesses fand kurz nach 1800 ihren Abschluß in den umfassenden Gesetzeswerken der großen Territorialstaaten Preußen58 , Österreich59 und Bayern60 . Obwohl mit der Französischen Revolution filr den Strafprozeß eine "Zeit des Zwiespalts und des Umbruchs" eingeläutet worden war61 , stellen sich diese Gesetze noch weitgehend als vom Denken der absterbenden Epoche geprägte, voraufklärerische Prozeßordnungen dar62 . Sie blieben der patriarchalischen Geisteswelt des Absolutismus verhaftet, die den Schutz des einzelnen zuvörderst als Aufgabe obrigkeitlicher Fürsorge sah und nicht, wie der bürgerliche Liberalismus des 19. Jahrhunderts, als eigenverantwortlich wahrzunehmende Obliegenheit freier Individuen63 . Die Gedanken der Aufklärungsphilosophie, die ab dem 18. Jahrhundert in das allgemeine Bewußtsein eindrangen und als deren geistige Väter für das

55 Bollmann, Stellung, S. 181 ff.; Cloeren, Strafbarkeit, S. 45/46, meint, die Befugnis einen Fragenkatalog einzureichen, könne als Vorläufer unseres Beweisantragsrechts bezeichnet werden. 56 Rüping, Grundsatz, S. 56. 58 Fn. 216; Boehm, ZStW 61 (1942), S. 331, 401; Bollmann, Stellung, S. 176, sieht zwar in der Defension ein "ius naturale", behauptet jedoch ebenfalls nicht, daß der Richter verpflichtet gewesen wäre, dem Vorbringen verbindlich zu entsprechen. 57 Boehm, ZStW 61 (1942), S. 343, der als Beleg eine Stelle aus Carpzovs "Peinlicher sächsischer Inquisitions- und Achtprozeß" (1638) anfiihrt; vgl. auch Binding, Abhandlungen, Bd. II, S. 192; Eh. Schmidt, Kolleg, Rn. 72. 58 "Criminalordnung fiir die Preussischen Staaten" (Gesetzessanktion vom 11. Dezember 1805). Als erster Teil des "Allgemeinen Criminalrechts fiir die Preussischen Staaten" am 18. März 1806 veröffentlicht. Zur Entstehungsgeschichte Fels, Strafprozeß, S.3 ff.; außerdem Eh. Schmidt, Einfiihrung, S. 271 ff. 59 Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizei-Übertretungen (Constitutio Criminalis Franciscana), 1803. 60 Strafgesetzbuch rur das Königreich Bayern, Teil 2, 1813. Zur Entstehungsgeschichte Walther, Lehrbuch, S. 36 ff. 61 Maiwald, Kriminalist Martin, S. 211. 62 Vgl. v. Kries, Lehrbuch, S. 45,49; v. Hippel, Strafprozess, S. 40; Mittermaier, Dt. Strafverfahren, S. 113; Walther, Lehrbuch, S. 42. 63 Vgl. S. Bruns, Geschichte, S. 68.

3 Schatz

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I. Teil: Historische Entwicklung und Refonngeschichte

Gebiet der Strafjustiz Friedrich v. Spee, Christian Thomasius, Cesare Beccaria, K. F. Hommel, Joseph v. Sonnenfels und P. J. A. v. Feuerbach zu nennen sind 64 , vermochten zunächst nur den Hexenwahn zu überwinden und die Folter weitgehend abzuschaffen 65 . Ein wirklicher Durchbruch gelang der Aufklärung auf strafprozessualem Gebiet noch nicht. Auch das Beweisaufnahmeverfahren blieb von den überkommenen Prinzipien geprägt.

§ 365 der Preußischen Criminalordnung bestimmte zwar: Den Beweis zur Vertheidigung muß der Beschuldigte oder dessen Vertheidiger, entweder selbst führen, oder doch dem Richter die Mittel an die Hand geben, daß er diesen Beweis von Amtswegen aufnehmen kann. In dieser Vorschrift wird zum Teil die erste Andeutung eines Beweisantragsrechts erkannt66 . Bestimmt war damit jedoch nur, daß der Beschuldigte entlastende Beweismittel selbst beibringen und der Richter diese nicht ohne weitere, von der Pflicht zur Wahrheitserforschung gebotene Prüfung übergehen durfte 67 . Nach wie vor im richterlichen Ermessen blieb aber die Entscheidung über die Erheblichkeit und Geeignetheit beantragter, nicht vom Beschuldigten beigebrachter Beweise68 . Insoweit galt wie im Verfahren der Carolina allein die Pflicht des ermittelnden Richters, sich nicht nur um belastende, sondern auch um entlastende Umstände zu sorgen 69 . Der Beschuldigte konnte nur Hinweise zur sachgerechten Erfüllung der dem Inquirenten obliegenden Aufklärungspflicht geben. Eine unmittelbare Verpflichtung, dem Anliegen zu entsprechen, bestand nicht70 . Nur vermittelt über das Wahrheitserforschungsgebot konnte

M Seiler!, in: SellertJRüping, Studien- u. Quellenbuch, Bd. I, S. 347 ff., 377 f.; Eb. Schmidl, Einführung, S. 212 ff., 218 ff., 232 ff. 65 Zwengel, Strafverfahren, S.49; v. Kries, Lehrbuch, S. 45 f.; v. Hippel, Strafprozess, S. 39 Fn. 3; Buchda, "Gerichtsverfahren", in: HRG, Bd. I, Sp. 1560. Das Geständnis galt aber nach wie vor als "regina probationum". Anstelle der Folter wurden deshalb Lügen- und Ungehorsamsstrafen praktiziert. Vgl. §§ 292-297 Preuß.CO, die bei "halsstarrigen" Verbrechern eine Züchtigung vorsahen (Prügel mit Stock oder Peitsche, dürftige Kost und "einsames" Gefängnis", vgl. § 296). Glaser, Lehre, S. 8, sah hierin "Mittel einer geistigen Tortur". Zur Herbeiführung der Geständnisbereitschaft vgl. S. Bruns, Geschichte, S. 126 ff.; weiterhin: Fels, Strafprozeß, S. 54 ff.; v. Kries, Lehrbuch, S.53; Weslhoff, Grundlagen, S. 91. 66 Kurlze, Ablehnung, S. 8, der jedoch selbst einräumt, daß diese Anträge keinen echten verpflichtenden Charakter hatten; vgl. auch Thole, Scheinbeweisantrag, S. 36. 67 Vgl. S. Bruns, Geschichte, S. 162. 68 Fels, Strafprozeß, S. 57: Inquirent ist "allein berechtigtes und selbständig tätiges Prozessubjekt". 69 Feuerbach, Lehrbuch, § 624, S. 488, § 634, S. 494; Tiumann, Handbuch, Bd. 3, S. 146,429; Marlin, Lehrbuch, S. 28 f., 114 f., 255; Slübel, Criminalverfahren, Bd. 2, § 591, S. 3, Bd. 4, § 2253, S. 280, § 2390, S. 335. 70 Zachariae, Gebrechen, S. 43 ff., 47; Eb. Schmidl, Einführung, S. 272 f.; ders., ZStW 65, S. 173; H.-i. Klee, Bestimmung, S. 53,73; S. Bruns, Geschichte, S. 159.

A. Historische Entwicklung bis zur RStPO 1877

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damit der inquirierende Richter "gezwungen" sein, die beantragten Beweise zu erheben7! . Für den Beschuldigten wirkte sich diese Pflichtenbindung lediglich mittelbar als Rechtsreflex aus. Ein selbständiger, von der Einschätzung des Gerichts unabhängiger Beweiserhebungsanspruch, stand ihm nicht zu.

11. Der reformierte Strafprozeß

I. Verfahrensgeschichtlicher Hintergrund

So wie der geheime schriftliche Inquisitionsprozeß "die dem absolutistischpatriarchalischen Staate congeniale Prozeßform,,72 war, konnten die gesellschaftlich-politischen Veränderungen und geistesgeschichtlichen Umwälzungen im Übergang von der Frühen Neuzeit zur Modeme nicht ohne Einfluß auf die Ausgestaltung des Strafverfahrens bleiben. Das überkommene Inquisitionsverfahren war mit den Gedanken der Aufklärung, der Ideenwelt der Französischen Revolution und dem politischen Liberalismus des aufstrebenden Bürgertums nicht mehr zu vereinbaren, und seine Mängel, die schon im 18. Jahrhundert Gegenstand der Kritik waren, schienen unter dem veränderten geistesgeschichtlichen Blickwinkel unerträglich 73 • Das wahre Ausmaß der Kluft zwischen den neuen Idealen und dem alten Verfahren zeigte sich besonders in den Demagogenverfolgungen seit 1819, die sich in erster Linie gegen Vertreter des bürgerlichen Liberalismus als Hauptträger der Reformforderungen richteten 74 . Gefördert wurden die Forderungen nach einer durchgreifenden Reform des Strafverfahrens durch den praktischen Anschauungsunterricht, den das neue, den liberalen Reformwünschen entsprechende französische Recht des Code d' Instruction Criminelle von 1808 gab. Das französische Recht, das mit der Invasion Napoleons zeitweilig in einigen Gebieten Deutschlands galt und in den 71 "Machen die Inculpaten zu ihrer Vertheidigung selbst Anträge, so hat der Richter denselben blos unter der Bedingung zu deferiren, wenn er sie zweckmäßig findet", merkte Stübel, Criminalverfahren (1811), Bd. 2, § 592, S. 4, an. Ähnlich, allerdings die Begrenzung des richterlichen Ermessens durch die Wahrheitserforschungspflicht deutlicher prononcierend, meinte Tittmann (1824), Handbuch, Bd. 3, S. 430, daß die "Anträge des Vertheidigers auf Abhörung gewisser Zeugen, auf Besichtigungen, Würderungen gewisser Sachen und andere ähnliche Erörterungen ... stets berücksichtigt und nur in den Fällen abgelehnt [werden dürfen], wenn sie nur zum Verschleif der Sache gereichen können". 72 Glaser, in: Holtzendorff, Handbuch, S. 15; ähnlich Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 45; Mittermaier, Lehre, S. 30; Jescheck, Rechtsvergleichung, S. 7. 73 Eb. Schmidt, Einfilhrung, S. 324; v. Hippel, Strafprozess, S. 43; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 52 ff.; Sellert, "Strafprozeß II", in: HRG, Bd. 4, Sp. 2037 f.; Geppert, Unmittelbarkeit, S. 67. 74 Vgl. v. Kries, Lehrbuch, S. 60; Gerland, Strafprocess, S. 23; Eb. Schmidt, Einfilhrung, S. 324, 332, 341; Maiwald, Kriminalist Martin, S. 213.

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1. Teil: Historische Entwicklung und Refonngeschichte

linksrheinischen Provinzen, d.h. in den preußischen Rheinlanden, in der Rheinpfalz (Rheinbayern) und in Rheinhessen, auch nach den Befreiungskriegen Geltung behielt75 , schien die fiir die "bürgerliche Freiheit erprobten Musterinstitutionen" zu enthalten76 • Die Refonnziele lauteten demgemäß 77 : Ersetzung des schriftlichen und geheimen Verfahrens durch eine unmittelbare, öffentliche und mündliche Urteilsfmdung, Beseitigung der Kabinettsjustiz, Einfiihrung des Anklageverfahrens und die entsprechende Institutionalisierung einer Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde 7s , und schließlich Laienbeteiligung durch Einrichtung der Schwurgerichtsbarkeie9 . Ungeachtet der "zum Teil stünnischen Auseinandersetzungen"SO, vennochte es das rückwärtsgewandte Metternichsche System zunächst, die strafprozessuale Refonnbewegung auf "einen überwiegend literarischen Charakter" zu begrenzenSl . In den deutschen Ländern blieb es daher bei der überkommenen inquisitorischen Prozeßstruktur. Die linksrheinischen Gebiete, die das auf den neuen Grundsätzen basierende französische Recht nach 1814 beibehalten hatten, mußten sogar eine Wiederherstellung des alten Inquisitionsverfahrens auf ihrem Gebiet befiirchtenS2 . Gegenüber der Rechtsentwicklung in Frankreich kam es in den deutschen Territorien erst mit einer "Phasenverschiebung" von annähernd einem halben Jahrhundert zur Übernahme der neuen ProzeßfonnS3 . Als Katalysator der Refonnbewegung wirkten die revolutionären Ereignisse der Wende75 Der Code d' Instruction Criminelle war in den linksrheinischen Gebieten als "Rheinisches Gesetzbuch über das gerichtliche Verfahren in Strafsachen" in Geltung; vgl. v. Kries, Lehrbuch, S. 55; Glaser, in: Holtzendorff, Handbuch, S. 15; Eh. Schmidt, Einfiihrung, S. 324 f., 327; Hettinger, Fragerecht, S. 90; Herrmann, Refonn, S. 49, 52; Rüping, Grundsatz, S. 66; Malsack, Stellung, S. 55, 76. 76 Eh. Schmidt, Einfiihrung, S. 335. 77 Eh. Schmidt, Einfiihrung, S. 327; ders., Kolleg, Rn. 22-28; Maiwald, Kriminalist Martin, S.214; Glaser, Handbuch, S. 163 f.; v. Kries, Lehrbuch, S.54 f.; Hettinger, Fragerecht, S. 92; Rüping, Grundsatz, S. 66 f.; Sel/ert, "Strafprozeß II", in: HRG, Bd. 4, Sp. 2038; Weigend, Deliktsopfer, S. 96. 78 Einen Gesamtüberblick über die Einfiihrung und Entwicklung der Staatsanwaltschaft bieten Frommei, "Staatsanwaltschaft", in: HRG, Bd.4, Sp. 1809 ff., und Eh. Schmidt, Einfiihrung, S. 330 f.; zu der wissenschaftlich-literarischen Auseinandersetzung um die Einfiihrung dieses Instituts am Bsp. des Kgrs. Hannover vgl. die monographisch vertiefte Untersuchung von Knol/mann, Einfiihrung der Staatsanwaltschaft, S. 66 ff. 79 Zur Entwicklung der Schwurgerichte und dem Streit um ihre Einfiihrung Sellert, "Schwurgericht, Geschworenengericht", in: HRG, Bd.4, Sp. 1581, und Eh. Schmidt, Einfiihrung, S. 332 ff. 80 Eh. Schmidt, Einfiihrung, S. 325. 8\ Glaser, Handbuch, S. 162. 82 Zur Entwicklung in den preußischen Rheinlanden (Bezirk des Appellationsgerichtshofs Köln) Hettinger, Fragerecht, S. 90; vgl. auch Malsack, Stellung, S. 55, 76; S. Bruns, Geschichte, S. 54. 83 Maiwald, Kriminalist Martin, S. 212.

A. Historische Entwicklung bis zur RStPO 1877

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jahre 1848/49, in deren Verlauf sich die Gesetzgebung der Forderungen annahm und ihnen legislatorischen Ausdruck verlieh84 • Mit Ausnahme von Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Lippe-Detmold und Schaumburg-Lippe, wo das Inquisitionsverfahren bis zum Inkrafttreten der Reichsstrafprozeßordnung beibehalten wurde 85 , kam es nun in den deutschen Ländern sukzessive zu Refonngesetzen 86 , die sich mehr oder weniger stark an das französische Recht anlehnten87 •

2. Anklageprinzip und Beweisantragsrecht Eine der Hauptforderungen der Refonnbewegung war die Einfuhrung des Anklageverfahrens. Daß auch insoweit das französische Recht als Vorbild diente, war fur das Beweisrecht von entscheidender Bedeutung. Hätten sich die deutschen Refonner stattdessen fur einen echten materiellen Akkusationsprozeß nach anglo-amerikanischen Vorbild entschieden, wäre die weitere Entwicklung zu einem Beweisantragsrecht an dieser Bruchstelle zum refonnierten Strafprozeß beendet gewesen. Während der Inquirent im Inquisitionsprozeß die Wahrheit durch eigenständigen Zugriff auf alle erkenntnisdienlichen Hilfsmittel zu ennitteln suchte, liegt nach anglo-amerikanischer Auffassung die Beweiserhebung in den Händen der Parteien88 • Der Amtsennittlungsgrundsatz gilt nicht89 • Der Strafprozeß ist ähn84 Glaser, Handbuch, S. 162 ff., 176 ff.; v. Hippel, Strafprocess, S. 44; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 56. 85 v. Kries, Lehrbuch, S. 62; v. Hippel, Strafprozess, S. 44, Fn. 5; Geppert, Unmittelbarkeit, S. 84; S. Bruns, Geschichte, S. 56 f., insbes. Fn. 309. 86 Übersicht der Gesetzgebung der einzelnen deutschen Territorien bei Zacharille, Handbuch, Bd. I, S. 18 ff.; Planck, Darstellung, Vorrede VIII ff.; Binding, Grundriss, S. 15 ff.; H.-J Klee, Bestimmung, S.84 ff.; Mittermaier, Gesetzgebung, S.38 ff.; Glaser, in: Holtzendorff, S.65 ff. m.w.N. auf das zeitgenössische Schrifttum. Eine Klassifizierung der Strafprozeßordnungen der einzelnen Länder nach dem Grad der Übernahme der neuen Prinzipien in den Jahren nach 1848 findet sich bei Zachariae, Handbuch, Bd. 1, S. 18; Planck, Darstellung, Vorrede XVII f. Die einzelnen Partikulargesetze sind abgedruckt bei Haeberlin, Sammlung der deutschen Strafprocessordnungen, Stand 1852, und bei Sundelin, Sammlung der neueren dt. Gesetze über Gerichtsverfassung und Strafverfahren, Stand 1861. 87 Glaser, Handbuch, S. 165 ff.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 57; Herrmann, Reform, S. 52; Geppert, Unmittelbarkeit, S. 85; Kreuzer, Bestimmung, S. 11; Hettinger, Fragerecht, S. 91 f.; H.-J Klee, Bestimmung, S. 83; Bericht der Reichstagskommission zum Entwurf der Reichsstrafprozeßordnung, bei Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1510. Demgegenüber lehnte sich die braunschweigische Prozeßordnung an das englische Vorbild an (Westhoff, Grundlagen, S. 116, Anm. 2). 88 Zum anglo-amerikanischen Beweisrecht bzw. Beweisverfahren: Herrmann, Reform, S. 152-355, ders., Beweisaufnahme, ZStW 80 (1968), S. 775 ff.; Huber, Landesbericht, S. 18 f., 33 f., 36 ff., 48 ff., und Newman, Beweisrecht, S. 31 ff.; Allen, ZStW 72 (1960), 154 ff.; E,;er, FS-Miyazawa, S. 562 ff.; Wimmer, Einführung, S. 23 f., 42;

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1. Teil: Historische Entwicklung und Refonngeschichte

lich dem Zivilprozeß ein kontradiktorisches Parteiverfahren, das dem Richter lediglich die Rolle eines Schiedsrichters zuweist, ohne daß dieser verpflichtet ist, sich aktiv in die Erforschung der materiellen Wahrheit einzuschalten. Basierend auf dem Grundsatz "Truth is best discovered by powerful statements on both sides of the question,,90 geht es im Common Law-Verfahren - salopp formuliert - um einen "sportlichen Wettkampt'm , d.h. um die Auseinandersetzung zweier konfligierender Sachverhaltshypothesen der streitenden Parteien, die in einem dialektischen Für und Wider selbständig und eigenverantwortlich fiir Präsentation und Vorfiihrung der Beweismittel in der Verhandlung sorgen92 . Da es bei einer derartigen parteilichen Ausgestaltung des Strafverfahrens den Parteien obliegt, die ihrer Anschauung nach relevanten Beweisakte vorzunehmen, um "ihren Fall" zu beweisen, wäre jedes weitere Bestreben unnütz gewesen, dem Angeklagten ein Antragsrecht zu verschaffen, damit dieser an der Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme mitwirken kann93 . Im angloamerikanischen Verfahren sind die Parteien grundsätzlich die "Herren" des Beweisverfahrens, sie haben eine weitgehende Dispositionsmacht über den Umfang der Beweisaufnahme und bestimmen prinzipiell allein, welche Beweise sie selbst vorlegen wollen und für deren Präsenz sie dann persönlich zu sorgen haben94 . Auf ein bloßes Mitwirkungsrecht sind sie deshalb nicht angewiesen. Der Schmidt-Leichner, NJW 1951, S. 8, 10; v. Weber, Gang der Beweisaufnahme, ZStW 67 (1955), S. 506 ff.; Zachariae, Handbuch, Bd. 1, S. 328, Bd. 2, S. 203; Sundelin, Forderung, S. 174 ff.; F. Walther, Lehrbuch, S. 290 f., 307; Glaser, Handbuch, S. 383 f., 433; Mittermaier, Gesetzgebung, S.470 ff.; Reynold, DRiZ 1962, S.78 f.; Creifelds, JR 1950, S. 100 f. 89 Der Richter ist allerdings berechtigt, auch unabhängig von den Parteien, Beweismittel in den Prozeß einzufilhren. Praktische Relevanz hat diese Einmischung in die Parteiautonomie aber offenbar nicht (vgl. Huber, Landesbericht, S. 37). 90 Lord Eldon (Lord-Chancellor 1806-1827), in: Ex parte Lloyd (1822) Mont. Cases in Bankruptcy, 70, 72 n, zit. nach Allen, ZStW 72, S. 653. 91 Herrmann, Reform, S. 118, 152 ff. (allerdings mit dem Hinweis, daß diese Charakterisierung des Verfahrens nur begrenzten Aussagewert hat, da eine nur bedingte Vergleichbarkeit mit einem "contest" besteht); ders., ZStW 80 (1968), S.778 ff.; Newman, Beweisrecht, S. 31; Radbruch, Geist, S. 15: "ein gerichtlicher Zweikampf, der nur nicht mehr mit den altertümlich rituellen Äxten aus Holz und Horn ausgefochten wird, sondern mit Worten". 92 Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 15; Herrmann, Reform, S. 167 f.: Die Beweisaufnahme präsentiere sich gleichsam als ein zweispuriges Verfahren, das von dem Gedanken einer "Wahrheitsfindung durch Auseinandersetzung" beherrscht werde (S. 168). In dem Wettstreit der parteilichen Sachverhaltsdeutungen sei demgemäß die "Methode rur die Aufsuchung der Wahrheit eine synthetische" (Mittermaier, Lehre, S. 32). 93 Vgl. Perron, Beweisantragsrecht, S. 105, 127. 94 Der Richter wacht allerdings über die Einhaltung der prozessualen Regeln bei der Beweisaufnahme und ist befugt, in diesem Rahmen einzelne Beweise auszuschließen. Neben formellen gibt es auch materielle, den präsumtiven Beweiswert berücksichtige Beweisausschlußgründe, die eine Beschränkung des Beweismaterials gestatten. Zum

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Londoner Barrister-at-Law Claud Allen sieht den Vorteil dieser Beweisherrschaft der Parteien denn auch in der Unabhängigkeit vom Gericht: "Kein Angeklagter braucht angstvoll zu warten, ob seinem Beweisantrag stattgegeben wird,,9s. Ein solcher Parteiprozeß entsprach zwar vorzüglich den allgemeinen Vorstellungen des bürgerlichen Liberalismus, der im freien Spiel der Kräfte ein ideales Modell der Konfliktbereinigung erblickte96 . Jedoch war man trotz eingehender literarischer Beschäftigung97 mit dem englischen Strafverfahren - ebenso wie das französische Vorbild - noch zu sehr dem überkommenen Inquisitionsverfahren verhaftet, als daß das beschriebene Anklageprinzip des Common Law Grundlage der deutschen Reformentwicklung hätte werden können98 . Statt dessen kam es zu einer Verschmelzung von Anklageprinzip und Inquisitionsmaxime. Entgegen weitergehenden Vorschlägen wurde das Anklageprinzip nicht als "echtes", materielles Anklageverfahren realisiert, sondern auf das "Anklageformprinzip" reduziert99 • Dieses beschränkte sich auf das Erfordernis staatsanwaltschaftlicher Akkusation, ließ im übrigen aber die inquirierende Tätigkeit des erkennenden Richter weiterhin zu bzw. verpflichtete diesen sogar zu eigener Untersuchungstätigkeit 100 • Das Inquisitionsprinzip lebte damit ungeachtet allen "akkusatorischen Aufputzes"lOl als zentrale richterliche Aufgabe weiter. Dieser revidierte Verfahrenstypus kann deshalb auch als "reformierter Inquisitionsprozeß"lo2, als "Inquisitionsverfahren in Anklageform"lo3 oder als "Untersuchungsproceß mit accusatorischen Zuthaten"l04 bezeichnet werden. Strafprozeß in England und Wales vgl. Huber, Landesbericht, S. 18,42 ff., 53 ff.; zum amerikanischen Verfahren siehe Perron, Beweisantrag, S. 451 ff., 471, und Eser, FSMiyazawa, S. 564 f. 95 Allen, ZStW 72 (1960), S. 655. 96 Rentzel-Rothe, Entwurf, S. 124. 97 Insbesondere sind die rechtsvergleichenden Arbeiten C. J. A. Mittermaiers zu nennen (dazu Herrmann, Reform, S. 50, 52 ff.; Eb. Schmidt, Einfilhrung, S. 290 f.; vgl. auch F. Walther, Lehrbuch, S. 59; Glaser, in: Holtzendorff, Handbuch, S. 19; SchmidtLeichner, NJW 1951, S.7; Westhoff, Grundlagen, S. 117 f.; Sachs, Behandlung, S. 19; Jescheck, Rechtsvergleichung, S. 13 f.). 98 Ausfilhrlich zum "Prinzipienstreit" inquisitorisches versus akkusatorisches Prinzip: Westhoff, Grundlagen, S.7 ff. m.w.N.; Zachariae, Handbuch, Bd. 1, S.3, 42 f., Bd. 2, S. 328. 99 Hierzu ausfilhrlich Küper, Richteridee, S. 191 ff. m.w.N.; Malsack, Stellung, S. 118 ff.; Hübner, Verfahrensgrundsätze, S. 64 ff. Hagens, Strafverfahren, S. 59 f.; Sundelin, Forderung, S. 162; Rüping, in: SellertlRüping, Studien- u. Quellenbuch, Bd. 2, S. 26. 100 Zur Kritik an dieser Verbindung von Anklage -"Form" und Untersuchungsprinzip Zachariae, Handbuch, Bd. 1, S. 44, Fn. 4, und Mittermaier, Gesetzgebung, S. 279. 101 Goldschmidt, Reform, S. 1. \02 Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 15; Hettinger, Fragerecht, S.37; Malsack, Steilung, S. 31.

1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

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Für das Beweisverfahren folgte aus der beschränkten Übernahme des Anklagegrundsatzes, daß Sachverhaltsermittlung und Beweisaufnahme richterliche Aufgaben blieben und nicht in die Hände der "Parteien" gelegt wurden. Anders als bei einem echten kontradiktorischen Parteiverfahren, bei dem die Parteien selbst fiir die Beibringung der Beweise zu sorgen haben, war damit die Verfahrensstruktur des reformierten Strafprozesses fiir ein bloßes Mitwirkungsrecht, wie das an den inquirierenden Richter adressierte Beweisantragsrecht, offen.

3. Freie Beweiswürdigung und Beweisverfahren Einen weiteren wesentlichen Einfluß auf die Entwicklung des Beweisrechts hatte die Anerkennung der freien richterlichen BeweisWÜTdigung, die mit den Geschworenengerichten eng verknüpft war 105 • Dieses vorher heftig umstrittene Institut wurde jetzt im Zuge der Reform unter endgültiger Abkehr von der gemeinrechtlichen gesetzlichen Beweistheorie 106 aus dem französischen Recht (Art. 342 Code d' Instruction Criminelle)107 übernommen 108 . Der Grundsatz Küper, Richteridee, S. 197. Zachariae, Handbuch, Bd. 1, S. 44, Fn.4, zum Vorbild des Code d' Instruction Criminelle. 105 Den Geschworenen wurde mangels theoretischer Rechtskenntnisse die Handhabung einer gesetzlichen Beweistheorie nicht zugetraut. Diese sollten vielmehr vom Standpunkt ihres natürlichen Rechtsgeflihls judizieren. Vgl. Glaser, Lehre, S. 17 ff, 23 ff.; ders., in: Holtzendorff, Handbuch, S. 57; Küper, Richteridee, S. 214 ff.; Sel/ert, "Schwurgericht, Geschworenengericht", HRG, Bd.4, Sp. 1584; Henkel, Strafverfahrensrecht, S.53 f; Westhoff, Grundlagen, S. 115; Sarstedt, Beweisregeln, S. 172 f; Jerouschek, GA 1992, S. 495 ff.; Maiwald, Kausalität, S. 96 ff.; E. Koch, Zeugenbeweis, S. 254 ff.; Stichweh, Subjektivierung, S.276 ff., Heescher, Untersuchungen, S. 39 ff. 106 Die gesetzliche Beweistheorie war in den letzten Jahrzehnten ihrer Geltung bereits einem Wandel von einer ehemals positiven zu einer nunmehr negativen Beweistheorie unterworfen. Zu diesem komplexen und umstrittenen Vorgang vgl. Glaser, Beiträge, S. 10 ff m.w.N.; ders., Handbuch, S. 128; v. Hippel, Stratprozess, S. 43, Fn.4; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 150 ff.; Gerland, Strafprocess, S. 25; Bol/mann, Steilung, S.203 f; v. Kries, Lehrbuch, S.60 f.; Zachariae, Handbuch, Bd. 2, S. 406; Mittermaier, Gesetzgebung, S. 476 ff; Küper, Richteridee, S. 139 ff.; Geyer, in: Holtzendorff, Handbuch, S. 195; Krause, FS-Peters, S. 323 f 107 Frage an die Geschworenen: "Avez vous une intime conviction ?" (vgl. Sarstedt, Beweisregeln, S. 171; Hauser, Zeugenbeweis, S. 9 f; Maiwald, Kausalität, S. 97; Dedes, Beweisverfahren, S. 15 f; Jerouschek, GA 1992, S. 495). lOS Gerland, Strafprocess, S.25; v. Hippel, Strafrecht, S. 312 f.; Zachariae, Handbuch, Bd. 2, S. 407 tf.; Rüping, in: SellertlRüping, Studien- u. Quellenbuch, Bd. 2, S. 33; Kuckuck, Zu lässigkeit, S. 25; Glaser, Beiträge, S. 23 ff.; Meurer, FS-Oehler, S. 364 ff, stellt den Vorgang differenzierter dar: Im reformierten Prozeß seien nicht sämtliche Beweisregeln abgeschaffi worden; die Beweismaßregeln habe man durch den Grundsatz der freien Beweiswürdigung ersetzt, während an den Beweiserhebungregeln festgehalten worden sei. 103

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der freien BeweisWÜTdigung verlangte nach einer abschließenden verbindlichen Entscheidung des Tatrichters bzw. der Geschworenen, ob der inkriminierte Sachverhalt bewiesen sei. Dabei durften die Tatsachen nur dann als erwiesen angesehen werden, wenn das Gericht nach einem eigenständigen subjektiven richterlichen Erkenntnisakt von ihrem Vorliegen völlig überzeugt war. Ein solcher autonomer Akt gerichtlicher Entscheidungsfindung war jedenfalls bei der bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts vorherrschenden positiven Beweistheorie ausgeschlossen 109. Die legale Beweistheorie in ihrer positiven Ausformung fesselte den Richter an ein strikt verbindliches und vollständiges System von Beweisregeln über bestimmte verurteilungs- wie freisprechungsrelevante Umstände llo . Bei Vorliegen der gesetzlich vorgegebenen äußeren Merkmale mußte die Verurteilung erfolgen, ungeachtet einer möglicherweise abweichenden inneren Überzeugung des Richters. Das richterliche Urteil war somit hinsichtlich des Nachweises der Tatfrage die zwingende Folge abstrakt festgesetzter Denkoperationen, gleichsam die Konklusion aus einer einzelfallunabhängigen Beweisarithmetik. Diese Bindung des Richters an das Vorliegen bestimmter, allein urteilsrelevanter Beweisumstände begrenzte zugleich den Kreis berücksichtigungstahiger Beweise und damit die Möglichkeiten des Beschuldigten, weitere - entlastende, aber außerhalb des Beweismittelkataloges liegende - Tatsachen in den Prozeß einzufiihren. Demgegenüber verlangte der Grundsatz der freien Beweiswürdigung danach, zur Rekonstruktion der Tat grundsätzlich sämtliche Informationen und damit alle Beweise zu berücksichtigen, die einen Schluß auf entscheidungserhebliche Tatsachen zulassen. Hatte der Beschuldigte bislang wegen der festen Vorgaben der gesetzlichen Beweistheorie nur eine beschränkte Möglichkeit, zu seinen Gunsten sprechende Beweisumstände vorzutragen, so waren nun alle entlastenden Indizien und Gegenbeweise bedeutsam, die auf die richterliche Überzeugungsbildung einwirken konnten. Das heißt: Eigene Beweisbeiträge waren nicht mehr durch ein starres Beweisregelkorsett limitiert, sondern grundsätzlich nur noch durch den Verfahrensgegenstand begrenzt. Der Grundsatz der freien Be109 Die negative Beweistheorie legte dagegen nur das tUr einen Schuldspruch unerläßliche Beweisminimum fest, ohne daß im übrigen der Richter gezwungen wurde, auch gegen seine Überzeugung zu judizieren. Die sich schon im Übergang zum Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung befindende negative Beweistheorie stellte sich somit als eine um einen Mindestbestand an festen Beweisregeln eingeschränkte freie Beweiswürdigung dar (dazu Stichweh, Subjektivierung, S. 272 t1; Heescher, Untersuchungen, S. 39). 110 Vgl. Glaser, Beiträge, S. 10 ff. m.w.N.; ders., Handbuch, S. 128; v. Hippel, Strafprozess, S. 43, Fn. 4; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 150 ff; Heescher, Untersuchungen, S. 31 ff.; Gerland, Strafprocess, S. 25; Bol/mann, Stellung, S. 203 f; v. Kries, Lehrbuch, S. 60 f; Zachariae, Handbuch, Bd.2, S.406; Mittermaier, Gesetzgebung, S.476 ff.; Küper, Richteridee, S. 139 ff.; Geyer, in: Holtzendorff, Handbuch, S. 195; Krause, FS-Peters, S. 323 f; Westhoff, Grundlagen, S. 115 f

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weiswürdigung bewirkte damit eine erhebliche Steigerung der Mitwirkungsmöglichkeiten des Angeklagten bei der Rekonstruktion des Falles.

4. Partikularstaatliche Regelungen über den Einfluß des Angeklagten auf die Beweisaufnahme Der reformierte Strafprozeß war durch das bunte Bild einer Vielzahl von Partikulargesetzen geprägt. So wie die Rezeption der neuen Prinzipien in unterschiedlicher Reichweite erfolgte, wurde auch das Beweisrecht in den deutschen Ländern unterschiedlich ausgestaltet lll . Im folgenden werden drei Partikulargesetze exemplarisch dargestellt, und zwar jene Verfahrensrechte, die später prägenden Einfluß auf die Diskussion bei Schaffung der Reichsstratprozeßordnung hatten. a) Die Regelung in Preußen Der reformierte Stratprozeß galt in Preußen bereits seit dem Jahre 1846, zunächst jedoch nur beschränkt auf Verfahren vor dem Berliner Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin ll2 . Diese zunächst nur auf die Gerichtsbarkeit der Haupt- und Residenzstadt begrenzten Regelungen wurden im Zuge der Revolution - ohne Zustimmung der verfassungsmäßig vorgesehenen Kammern durch Verordnung vom 3. Januar 1849 113 mit Abänderungen im einzelnen und zusätzlicher Einfilhrung der Schwurgerichtsbarkeit auf sämtliche Landesteile östlich des Rheins übertragen 1l4 • Durch Gesetz vom 3. Mai 1852 115 wurde \\\ Eine detailliertere Darstellung der partikularrechtlichen Quellen findet sich bei

H.-J Klee, Bestimmung, S. 82 ff., und bei Samuel, Ablehnbarkeit, S. 11 ff.; zusammenfassend zum Beweisverfahren in den reformierten Partikulargesetzen Planck, Darstellung, S. 352 ff.; Samuel, a.a.O., S. 11 ff.; H.-J Klee, a.a.O., S. 82 ff.; v. Schwarze, GerS 6 (1854), Bd. 1, S. 317 ff., 329 ff.; Kreuzer, Bestimmung, S. 12 f. \\2 "Gesetz, betreffend das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu filhrenden Untersuchungen. Vom 17.Juli 1846." In der preußischen Rheinprovinz (Bezirk des Appellationsgerichtshofes Köln) fand die Rheinische Strafprocessordnung auf der Grundlage des Code d' Instruction Criminelle Anwendung. Für die Voruntersuchung galt bedingt noch die inquisitorische Criminalordnung von 1805; vgl. Oppenhoff, Gesetze, Vorrede S. V; Zachariae, Handbuch, Bd. 1, S. 19; Binding, Grundriss, S. 17; v. Stemann, GerS 7 (1855), S. 382; Meurer, FS-Oehler, S. 367 ff. 1\3 "Verordnung vom 3.Januar 1849 über die Einfilhrung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Geschworenen in Untersuchungssachen". Abdruck bei Haeberlin, Sammlung, S. 94 ff. \\4 Planck, Darstellung, Vorrede XI.; Abegg, Entwurf, S.4; Oppenhoff, Gesetze, Vorrede S. V. Das Gesetz vom 17. Juli 1846 trat hierdurch außer Kraft (§ 183). Für die Voruntersuchung galt bedingt noch die inquisitorische Criminalordnung von 1805; vgl. Oppenhoff, a.a.O., Vorrede S. V; Zachariae, Handbuch, Bd. 1, S. 19; Binding, Grundriss, S. 17; v. Stemann, GerS 7 (1855), S. 382.

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schließlich die Verordnung vom 3. Januar 1849 nachträglich mit ergänzenden und abändernden Bestimmungen genehrnigtll6 . Die Verordnung von 1849 117 räumte dem Angeklagten zunächst das Recht ein, entlastende Beweismittel selbsttätig zu beschaffen und diese in der Sitzung vorzulegen, insbesondere auch Zeugen und Sachverständige zur Hauptverhandlung zu stellen ll8 . Ihr Erscheinen war freiwillig. Ein eigenes Vorladungsrecht (mit entsprechender Erscheinungspflicht der Beweispersonen) stand dem Angeklagten nicht zu. Die bei der Gestellung anfallenden Kosten hatte er selbst zu tragen ll9 . Über das Gestellungsrecht hinaus hatte der Angeklagte keine Möglichkeit, die Präsenz bestimmter Beweismittel in der Hauptverhandlung zu erzwingen. Der Angeklagte bzw. sein Verteidiger konnten sich zwar vor der Hauptverhandlung mit Anträgen auf Herbeischaffung von Beweismaterial an den Vorsitzenden wenden. Es bestand aber keine Verpflichtung des Vorsitzenden bzw. des Gerichts 120 , ihnen stattzugeben. Während Vorladungsanträgen der Staatsanwaltschaft zwingend entsprochen werden mußte l21 , wurden Anträge der Angeklagtenseite auf ihre Erheblichkeit hin überprüft. Nur bei positivem Ausgang dieser Vorwegbeurteilung war der Zeugen- oder Sachverständigenvorladung bzw. der Beischaffung von sachlichen Beweismitteln zu entsprechen l22 .

115 "Gesetz betreffend die Zusätze zu der Verordnung vom 3. Januar 1849, über die Einfiihrung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Geschworenen in Untersuchungssachen. Vom 3. Mai 1852". 116 Vgl. Mittermaier, Gesetzgebung, S. 41 ff.; Planck, Darstellung, Vorrede XII; zum Beweisaufnahmeverfahren vgl. v. Stemann, GerS 7 (1855), S. 393 f., 435 f. 117 Entsprechend der schon im Gesetz vom 17 . Juli 1846 getroffenen Bestimmung. V gl. § 29 Gesetz, betreffend das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu fiihrenden Untersuchungen, vom 17. Juli 1846. 118 § 32 (Verfahren bei Vergehen vor dem Einzelrichter), § 51 (Verfahren bei Verbrechen vor dem Kollegialgericht), § 79 (Verfahren vor dem Geschworenengericht bei schweren Verbrechen); v. Stemann, GerS 7 (1855), S. 394; Oppenhofj, Gesetze, S. 264 Anm. 2; H.-J Klee, Bestimmung, S. 90; Samuel, Ablehnbarkeit, S. 12. 119 Vgl. Art. 26 Gesetz v. 3. Mai 1852. Zur Kostentragungslast auch v. Stemann, GerS 7 (1855), S. 394, und Glaser, Handbuch, S. 383, 393. 120 Zunächst oblag es dem Vorsitzenden im Rahmen seiner Sachleitungsbefugnis über Beweisanträge zu befinden, im Ablehnungsfall war aber eine Entscheidung des Gerichts herbeizufiihren. Dazu Oppenhofj, Gesetze, S.267 Anm. 15, S.276 Anm.2, S. 358 Anm. 4 f., S. 359 Anm. 12, S. 360 Anm. 13 f., S. 368 Anm. 29 ff.; v. Stemann, GerS 7 (1855), S.399; Liman, Strafprozeß, S. 108 Anm. 1, 138 Anm.2, 9; Planck, Darstellung, S. 353 f.; v. Schwarze, GerS 6 (1854), Bd. 1, S. 338 f. 121 Vgl. Oppenhofj, Gesetze, S. 150 Anm. 5, S. 265 Anm. 4, S. 359 Anm. 12; Löwe, Strafproceß, S. 239; Liman, Strafprozeß, S. 104 Anm. 3; gegenüber polizeianwaltlichen Beweisanträgen im einzelrichterlichern Verfahren bestand jedoch keine Bindung des Richters (vgl. Oppenhofj, a.a.O., S. 221 Anm. 3). 122 Oppenhofj, Gesetze, S. 150 Anm. 1, S.265 Anm.4, 6, S.269 Anm. 23, S.271 Anm. 48, 52; ders., Rechtsprechung, Bd. 3, S. 464 ff.; John, Kritiken, S. 207,209; Löwe, Strafproceß, S. 240; Liman, Strafprozeß, S. 105 Anm. 6; Hagens, Strafverfahren,

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

Demgemäß formulierte § 52 der Verordnung vom 3. Januar 1849, daß diejenigen Zeugen vorgeladen werden, "deren Abhörung ... der Angeklagte verlangt, insofern das Gericht die Umstände, über welche die Abhörung der Zeugen beantragt ist, wesentlich fmdet". Analog dieser beweisthemenbezogenen Vorwegwürdigung war das Gericht auch befugt, Anträge wegen mangelnder Beweistauglichkeit oder Beweiseignung des Beweismittels abzulehnen l23 . Außerdem oblag es dem gerichtlichen Ermessen, bei mehreren vorgeschlagenen Zeugen deren Zahl zu beschränken, auch wenn es zuvor jede Zeugenaussage fiir sich als erheblich eingeschätzt hatte 124 . Die Befugnis des Gerichts, Beweisbegehren des Angeklagten einer antizipierenden Vorkontrolle zu unterziehen, galt fiir alle Verfahrensarten 125 und über die in § 52 geregelten Anträge auf Zeugenvorladung hinaus fiir alle Beweismittel 126 • Für erst in der Sitzung gestellte Beweisanträge galt das Gleiche l27 . Zwar war der Richter aufgrund der im reformierten Strafprozeß fortgeltenden Inquisitionsmaxime zu einer umfassenden Sachverhaltserforschung verpflichtet und deshalb befugt, nach eigenem Ermessen bisher noch nicht benannte Zeugen bzw. Sachverständige vorzuladen oder sonstiges Beweismaterial herbeizuschaffen 128 • Den Vorsitzenden (das Gericht) traf jedoch keine Pflicht, Beweisanträgen nachzukommen, die er filr unerheblich ansah 129 .

S. 106; Glaser, Handbuch, S. 388 f; Samuel, Ablehnbarkeit, S. 11 f; H.-J Klee, Bestimmung, S. 89 f; der Abg. Reichensperger sah bei den Beratungen zur RStPO im fehlenden unmittelbaren Ladungsrecht einen "Hauptfehler" des preußischen Strafprozesses (Protokolle der Kommission, bei Hahn, Materialien, S. 852). 123 Vgl. John, Kritiken, S. 202 ff.; OppenhojJ, Rechtsprechung, Bd. 3, S. 491. 124 Art. 26 Gesetz v. 3. Mai 1852; dazu OppenhojJ, Gesetze, S. 150 Anm. 1; Glaser, Handbuch, S. 389. 125 Für das Verfahren vor den Kollegialgerichten vgl. §§ 49, 52 der Verordnung vom 3. Januar 1849 i.V.m Art. 64 des Gesetzes vom 3. Mai 1852. Für Schwurgerichtssachen vgl. § 79 der Verordnung vom 3. Januar 1849. Für das einzelrichterliche Verfahren vgl. §§ 31,32 Verordnung vom 3. Januar 1849. Dazu v. Stemann, GerS 7 (1855), S.394; OppenhojJ, Gesetze, S. 221 Anm.2 f, S. 264 Anm. 1 f. Gleiches galt auch für das Verfahren bei Polizei-Vergehen aufgrund der Verweisung in § 164 der i.V.m. Art. 128 des Gesetzes vom 3. Mai 1852, sofern es nicht zum Erlaß einer Strafverfügung kam (vgl. v. Stemann, GerS 7 [1855], S. 438). 126 OppenhojJ, Gesetze, S. 264 f. Anm. 1 f.; Löwe, Strafproceß, S. 240. 127 OppenhojJ, Gesetze, S. 222 Anm. 5, S. 268 Anm. 21; Liman, Strafprozeß, S. 107 Anm. 16, S. 142 Anm. 3; Löwe, Strafproceß, S. 241 f.; H.-J Klee, Bestimmung, S. 93. 128 Vgl. § 20 der Verordnung vom 3. Januar 1849, Art. 29 des Gesetzes vom 3. Mai 1852; Liman, Strafprozeß, S. 105 Anm. V.; OppenhojJ, Strafprozeß, S.274 Anm.68; Planck, Darstellung, S. 355; Zachariae, Handbuch, Bd. 1, S. 329, 331 f., Bd. 2, 363 f 129 § 57 des Gesetzes vom 17. Juli 1846 bestimmte in diesem Sinne, daß der Vorsitzende "auf die Anträge des Staatsanwalts, des Angeklagten und dessen Vertheidigers [lediglich] Rücksicht zu nehmen hat".

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Darüber hinaus lag es im Ermessen des Gerichts darüber zu entscheiden, ob die gestellten oder geladenen Zeugen oder Sachverständigen in der Sitzung tatsächlich vernommen bzw. die vorliegenden sachlichen Beweise erhoben wurden l30 . Eine Beweisaufuahme erfolgte nur, "so weit es erforderlich ist,,131 . Die Präsenz der Beweismittel verpflichtete das Gericht also keineswegs dazu, das vorhandene Beweismaterial auch wirklich auszuschöpfen. Das eingangs erwähnte Gestellungsrecht des Angeklagten wurde hierdurch weitgehend entwertet. Die beherrschende Stellung des Gerichts wurde unterstrichen durch die weitgehende UnüberprUfbarkeit von Ablehnungsentscheidungen in der Rechtsmittelinstanz: Zu einer Kontrolle und gegebenenfalls Nichtigerklärung der vorinstanzlichen Entscheidung kam es nur, wenn entweder eine rechtlich falsche Bewertung der Beweiserheblichkeit Anlaß filr die Ablehnung des Antrags war oder wenn der Tatrichter das ihm eingeräumte tatsächliche Ermessen verkannt hatte. Um eine Überprüfung beider Fehlerquellen durch das Preußische Obertribunal zu gewährleisten, war der Instanzrichter verpflichtet, die Gründe filr die Ablehnung des Beweisantrages in dem Ablehnungsbeschluß offenzulegen und diese zu Protokoll zu geben 132 • Dazu mußten die Ablehnungsgründe erkennen lassen, ob die Ablehnung des Antrages aus tatsächlichen oder aus rechtlichen Gründen erfolgte. Bei einer Ablehnung aus rechtlichen Motiven fand eine inhaltliche Richtigkeitskontrolle statt. Bei einer Ablehnung aus tatsächlichen Gründen war die Kontrolle wegen des freien tatrichterlichen Ermessens darauf beschränkt, festzustellen, ob überhaupt eine Ermessensausübung stattgefunden hat. Ob die tatsächlichen Erwägungen des Tatgerichts in der Sache zutreffend waren, wurde vom Obertribunal nicht überprüft. Damit blieb das Tatgericht

130 Oppenhoff, Strafprozeß, S. 265 Anm. 2, S. 272 Anm. 54, S. 274 Anm. 66; Glaser, Handbuch, S.389; H-J Klee, Bestimmung, S. 91 f.; vgl. Mittermaier, GerS 2 (1850), Bd.2, S. 481 f.; Planck, Darstellung, S.356; Zachariae, Handbuch, Bd.2, S. 202; v. Schwarze, GerS 6 (1854), Bd. I, S. 330, 336 f. (kritisch zu dieser Regelung im schwurgerichtlichen Verfahren S. 340 f.). 131 § 34 der Verordnung vom 3. Januar 1849. Eine ausdrückliche Regelung, die dem im Zusammenhang mit dem einzelrichterlichen Verfahren stehenden § 34 entspricht, fehlt fUr das Verfahren vor den Kollegial- und Schwurgerichten. Doch ergab sich aus der weitgehenden Sachleitungsbefugnis des Vorsitzenden auch hier nichts anderes (vgl. H-J Klee, Bestimmung, S. 9\). 132 Hierzu und zum folgenden: Oppenhoff, Strafprozeß, S. 269 Anm. 25 ff., S. 368 Anm. 29 ff.; ders., Rechtsprechung, Bd. 3, S. 464 ff.; Liman, Strafprozeß S. \05 Anm. VI., S. \07 Anm. 16, S. 138 Anm. 7 f.; Löwe, Strafproceß, S. 242. Streitig war, ob in der Sitzung gestellte Beweisanträge sofort durch einen besonders verkündeten Beschluß erledigt werden mußten, oder ob es genügte, erst im Enderkenntnis die Irrelevanz des Beweisvorschlages (nach subjektiver Würdigung des Gerichts) auszusprechen; vgl. Oppenhoff, a.a.O., S.268 Anm. 21. S. 368 Anm.30; ders., Rechtsprechung, Bd.3, S. 29 f.; Liman, Strafprozeß, S. \07 Anm. 16.

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1. Teil: Historische Entwicklung und Refonngeschichte

hinsichtlich der Erforderlichkeitsbeurteilung, also in der für die Beweisaufnahme entscheidenden Frage, ungebunden 133 • Die Strafprozeßordnung vom 25. Juni 1867, die in den annektierten Gebieten 134 die dort jeweils geltenden reformierten Strafverfahrensgesetze und in Schleswig-Holstein den bislang noch unreformierten, gemeinen Inquisitionsprozeß ersetzte, enthielt besonders ausdrückliche Bestimmungen über den Einfluß der Verfahrensbeteiligten auf Inhalt und Umfang der Beweisaufnahme. Entsprechend der Regelung in den alten Landesteilen stand dem Angeklagten die Befugnis zu, Zeugen oder Sachverständige auf eigene Kosten zu stellen 135 • Vorladungsanträge des Angeklagten waren hingegen nicht unmittelbar an das Gericht, sondern an die Staatsanwaltschaft zu richten 136. Die Staatsanwaltschaft hatte daraufhin zu prüfen, ob "die angefilhrten Umstände Einfluß auf die Beurtheilung der Sache" haben (§ 222 Abs. 2 StPO 1867). Fiel die Prüfung negativ aus, war unverzüglich eine Entscheidung des Gerichts herbeizufiihren 137 . Für das Gericht galt dann § 239 StPO 1867 138 : "Bei Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme ist das Gericht an die Anträge der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten nicht gebunden.,,139

Schließlich war das Gericht auch nach der StPO von 1867 nicht an die präsenten Beweismittel gebunden, konnte also in der Sitzung von der Beweiserhebung absehen, wenn es von deren Entbehrlichkeit überzeugt war l40 • Im Ergeb133 P. Ho.fJmann, Zeuge, S. 42, meint, das preußische Recht habe ein Beweisantragsrecht geschaffen, daß wegen der Überprüfungsmöglichkeit "einen wirklichen Fortschritt für den Angeklagten" brachte. Zwar ist richtig, daß das Preuß. Obertribunal Ablehnungsentscheidungen einer Prüfung unterzog. Dadurch, daß die Ennessenserwägungen in tatsächlicher Hinsicht aber weitgehend der Überprüfungskompetenz des Obertribunals entzogen waren, verblieb die Bestimmungsmacht über den Umfang der Beweisaufnahme beim Gericht. Eine verbindliche Partizipationsmöglichkeit wurde dem Angeklagten jedenfalls nicht gewährt. 134 Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt. 135 § 222 Abs. 3 StPO 1867. 136 §§ 220, 222, 223 StPO 1867. \37 § 222 Abs. 2 StPO 1867. 138 Diese Bestimmung wurde durch § 169 StPO 1867 bzgl. der Auswahl und der Anzahl der Sachverständigen konkretisiert: "Die Auswahl der Sachverständigen und die Zahl derselben ... hängt ... lediglich von der Bestimmung des Gerichts ab; dasselbe ist an die in dieser Hinsicht gestellten Anträge nicht gebunden." 139 Entsprechendes galt hinsichtlich erst in der Hauptverhandlung gestellter Beweisanträge (vgl. §§ 236, 239, 240, 241 StPO 1867). 140 § 240 StPO 1867: "Die Aufnahme von Beweisen, welche auf die Beurtheilung der Sache ohne Einfluß sind, kann selbst dann abgelehnt werden, wenn das Beweismittel zur Stelle ist." Vgl. auch § 250 StPO 1867: "Ueber den Umfang des aufzunehmenden Beweises entscheidet zunächst das Ennessen des Vorsitzenden".

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nis traf die Strafprozeßordnung von 1867 also nur im Detail abweichende Regelungen. Es blieb bei der weitreichenden gerichtlichen Einschätzungsprärogative. Eine verbindliches Recht auf Mitbestimmung des Beweisaufnahmeumfangs hatte die Angeklagtenseite in Preußen damit - nach wie vor - nicht. b) Die Regelung im Königreich Sachsen Der reformierte Strafprozeß fand im Königreich Sachsen durch die Strafprocess-Ordnung vom 13. August 1855 Eingang l41 . Im Jahre 1868 wurde die Strafprozeßordnung von 1855 teilweise revidiert l42 . Im königlich-sächsischen Strafprozeß 143 hatte die Staatsanwaltschaft zur Vorbereitung der Hauptverhandlung ein Verzeichnis der Beweismittel zu erstellen 144. Hielt der Vorsitzende weitere Beweismittel filr relevant, konnte er die Liste vervollständigen 145 . Der Angeklagte hatte dagegen auf die Zusammenstellung dieses Verzeichnisses keinen unmittelbaren Einfluß. Ihm blieb nur die Möglichkeit, sich mit seinen Beweisbegehren binnen drei Tagen nach Zustellung der Beweisliste an den Vorsitzenden des Gerichts zu wenden l46 . Berücksichtigt wurden die Anträge nur, wenn dem Vorsitzenden 147 die Beweiserhebung zur besseren Aufklärung der 141 Strafprocess-Ordnung mit Einführungsgesetz vom 13. August 1855. Zur Vorgeschichte Mittermaier, Gesetzgebung, S. 53 ff.; außerdem Planck, Darstellung, Vorrede, S. XVI f.; v. Schwarze, Strafprozeßgesetze, S. VII-XIV. 142 Revidirte Strafprocess-Ordnung für das Königreich Sachsen mit Publicationsverordnung in XIV §§ vom 1. October 1868. 143 Die für das bezirksgerichtIiche Verfahren dargestellten Regelungen galten aufgrund der Verweisung in Art. 365, 366 auch für das einzelrichterliehe Verfahren (Art. 358 ff.); vgl. v. Schwarze, Grundsätze, S. 120. Die für den Vorsitzenden im bezirksgerichtlichen Verfahren geltenden Vorschriften galten zudem entsprechend für den Präsidenten des Schwurgerichtshofs (§ 40 Gesetz, das Verfahren in den vor die Geschwomengerichte gewiesenen Untersuchungssachen betr.; vom 1. October 1868, Gesetz- u. Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1868, S. 1208-1236). 144 Art. 260, 263; vgl. Gareis, Allg. Gerichtszeitung Kgr. Sachsen, 3. Jg. (1859), S. 113 f.; Schletter, Strafproceßrecht, S. 230 f. 145 Art. 260; vgl. auch Art. 269. Vgl. v. Schwarze, Grundsätze, S. 103; ders., Strafprozeßgesetze, S. 215, 222; Kritz, Strafproceßrecht, S. 157. Das Gericht war nicht befugt, von der Vorladung einzelner, von der Staatsanwaltsschaft benannter Zeugen oder Sachverständiger, abzusehen (v. Schwarze, Commentar Bd. 1, S.48 f.; ders., Strafprozeßgesetze, S. 214). Damit bestand ebenso wie in Preußen keine "Waffengleichheit" zwischen Staatsanwaltschaft und Angeklagten. 146 Art. 261, 262, 263; vgl. Gareis, Allg. Gerichtszeitung Kgr. Sachsen, 3. Jg. (1859), S. 116; Schletter, Strafproceßrecht, S.231; v. Schwarze, Grundsätze, S.103; ders., Commentar Bd.2, S.50; ders., Protokolle der Reichstagskommission, zit. bei Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 823. 147 Die Entscheidung über Beweisanträge oblag dem Vorsitzenden. Gegen eine ablehnende Entscheidung des Vorsitzenden konnte aber die Entscheidung des erkennenden Gerichts herbeigeführt werden (Art. 274, 278); vgl. v. Schwarze, Commentar, Bd. 2, S. 50; ders., Strafprozeßgesetze, S. 215, 225; ders., Grundsätze, S. 103; ders., Protokol-

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

Sache "förderlich,,148 erschien bzw. der infragestehende Beweis nach seiner Einschätzung "nicht offenbar unerheblich" war 149 . Daneben konnte der Angeklagte noch eine Vorladung verlangen, wenn er ihre Kosten und die Entschädigung der Zeugen und Sachverständigen übernahrn l50 . Der Vorsitzende brauchte dem Verlangen aber nur nachzugeben, wenn die Vorladung seiner Einschätzung nach nicht zu "einer ungerechtfertigten Verzögerung der Hauptverhandlung" führte. Dabei läßt das normative Merkmal der ungerechtfertigten Verzögerung erkennen, daß das antizipierende Erheblichkeitsermessen des Vorsitzenden auch im Falle der Kostenübernahme durch den Angeklagten maßgebend blieb, da eine Verfahrensverzögerung jedenfalls dann ungerechtfertigt sein mußte, wenn der zu erhebende Beweis "offenbar unerheblich" war l5l . Wurde die Beweisliste nicht erweitert, konnten Beweisanträge zwar auch noch in der Hauptverhandlung gestellt werden. Ihre Stattgabe lag jedoch ebenfalls im Ermessen des Vorsitzenden, dem allein die Befugnis zustand, in der Hauptverhandlung das Beweismaterial zu erweitern 152 . Die endgültige Entscheidung über die Herbeischaffung des relevanten Beweismaterials stand damit in Sachsen im pflichtgemäßen, nur dem Amtsaufklärungsgrundsatz unterworfenen Ermessen des Gerichts. Der Angeklagte hatte wie im preußischen Recht - keinen von der Beurteilung des Gerichts unabhängigen Anspruch auf Erweiterung der Beweisaufnahme l53 . Der preußischen Rechtslage entsprach auch die Begründungspflicht l54 . Die Ablehnung eines

le der Reichstagskommission, zit. bei Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 823; Kritz, Strafproceßrecht, S. 162. 148 Art. 261, 263 Strafproceß-Ordnung vom 11. August 1855. 149 Art. 261, 263 Rev. Strafprocess-Ordnung 1868. 150 Art. 41, 261; vgl. v. Schwarze, Strafprozeßgesetze, S. 216; Kritz, Strafproceßrecht, S. 157 f. 151 Diese Auslegung wird unterstützt von den Motiven (S. 252, zit. nach Schletter, Strafproceßrecht, S. 232 Fn. 7). Dort wird als ein Fall "ungerechtfertigter Verzögerung" angeführt, wenn mit der Vorladung von Zeugen "eine unbestimmte Hinausschiebung oder ungebührliche Verlängerung der Hauptverhandlung verbunden sein würde, ohne daß von der Abhörung dieser Zeugen ein besondrer Nutzen erwartet werden kann". 152 Art. 264, 277 (hierzu: v. Schwarze, Grundsätze, S. 105; ders., Commentar Bd. 2, S. 52; ders., Strafprozeßgesetze, S. 229; Kritz, Strafproceßrecht, S. 158; Schletter, Strafproceßrecht, S. 241). 153 Gleichwohl meinte v. Schwarze, Strafprozeßgesetze, S. 216, daß der Angeklagte trotz richterlicher Erheblichkeitsbeurteilung "ein Recht auf die Vorladung der Zeugen" habe. Doch bestand eben dieses "Recht" nur im Rahmen des richterlichen Ermessens, war also nur dann "Recht", wenn es vom Gericht gewährt wurde. 154 Vgl. Art. 12; v. Schwarze, Strafprozeßgesetze, S. 20 f.; ders., Commentar, Bd. 2,

S.50.

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Beweisantrages mußte erkennen lassen, ob die Ablehnung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen erfolgte und deren nähere Spezifizierung beinhalten. Ansonsten galt auch im sächsischen Strafprozeß, daß der Angeklagte die Ablehnung seiner Beweisanträge grundsätzlich nicht durch eine höhere Instanz überprüfen lassen konnteiSS . In einem Punkt wurde jedoch in Sachsen das Beweiserhebungsinteresse des Angeklagten weitergehend berücksichtigt. Zwar hatte er, wie gezeigt, kein verbindliches Recht, den Umfang der Beweisaufnahme mitzubestimmen. Anders als in Preußen galt jedoch die Regelung, daß die Vernehmung der tatsächlich geladenen Zeugen und Sachverständigen und der sonstigen im Beweisverzeichnis aufgefiihrten Beweismittel unbedingt erfolgen mußte. Waren die vom Angeklagten vor der Hauptverhandlung vorgeschlagenen Beweismittel also vom Vorsitzenden bzw. vom Gericht einmal fiir erheblich befunden, stand es nicht mehr im richterlichen Ermessen, sie in der Sitzung fallen zu lassen i56 . Auf die Beweisaufnahme konnte dann nur verzichtet werden, wenn sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte zustimmte. Insgesamt blieb die sächsische Regelung aber eine Halbheit. Da sich der Beweisvorschlag des Angeklagten nur dann zu einem "Anspruch" auf Beweiserhebung verdichtete, wenn ihm im vorbereitenden Verfahren nach erfolgter richterlicher Vorprüfung stattgegeben wurde, also stets eine gerichtliche Erheblichkeitsprüfung vorgeschaltet war, läßt sich von einem autonom auszuübenden Anspruch des Angeklagten auf Beweiserhebung nicht sprechen. Für lediglich vom Angeklagten zur Sitzung gestellte Beweismittel galt die Verpflichtung des Gerichts zur Beweisaufnahme ohnehin nicht 157 . c) Die Regelung in Bayern In Bayern galt wie in Preußen als Folge der früheren französischen Besetzung linksrheinischer Gebiete kein einheitliches Verfahrensrecht. In der bayerischen Pfalz, die im Zuge der territorialen Neuordnung durch den Wiener Kongreß aus den ehemals pflilzischen Gebieten und verschiedenen weltlichen 155 Die Abweisung eines Beweisantrages wegen Unerheblichkeit begründete keine Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Endurteil an das Oberappellationsgericht; vgl. v. Schwarze, Strafprozeßgesetze, S. 276; ders., Commentar Bd. 2, S. 50. Das Oberappellationsgericht entschied als Cassationshof nur bei Form- und Rechtsfragen (vgl. v. Schwarze, Grundsätze, S. 114 ff.). 156 Vgl. Art. 291; v. Schwarze, Commentar, Bd. 2, S. 90 f.; ders., Strafprozeßgesetze, S. 242 f.; ders., Grundsätze, S. 106; Planck, Darstellung, S. 356; Kritz, Strafproceßrecht, S. 170; Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 20; H-J. Klee, Bestimmung, S. 92; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 63 Fn. 174. 157 Art. 264, 277. Vgl. v. Schwarze, Grundsätze, S. 105; ders., Commentar, Bd.2, S. 52; Planck, Darstellung, S. 355.

4 Schatz

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

und geistlichen Reichsständen gebildet wurde, fand der Code d' Instruction Criminelle weiterhin Anwendung l58 . In den rechtsrheinischen Landesteilen hielt der refonnierte Strafprozeß im Revolutionsjahr 1848 fiir Verbrechens- und Vergehensfiille Einzug l59 . Für die in die Kompetenz des Einzelrichters fallenden Übertretungssachen wurde schließlich das alte inquisitorische Verfahren erst 1861 abgelöse 60 • Das Beweisverfahren ähnelte zunächst der sächsischen Regelung dahingehend, daß die Staatsanwaltschaft zur Vorbereitung der Hauptverhandlung ein Verzeichnis derjenigen Beweismittel zu erstellen hatte, deren Erhebung sie in der Sitzung fiir notwendig erachtete l61 • Das Beweisverzeichnis war dann dem Präsidenten des Schwurgerichts mitzuteilen, der dem Angeklagten hiervon abschriftlich Kenntnis zu geben hatte. Wünschte der Angeklagte nun die Herbeischaffung weiteren Beweismaterials, konnte er dies beim Präsidenten beantragen 162 , der den Anträgen grundsätzlich nur stattgeben brauchte, wenn ihm die Beweisaufnahme zur "besseren Aufklärung der Sache förderlich" erschien 163 • Insoweit entschied auch in Bayern das - obergerichtlich nicht überprilfbare 158 Binding, Grundriss, S. 16; Zachariae, Handbuch, Bd. I, S. 19 f.; Glaser, in: Holtzendorff, Handbuch, S. 68; Risch, in: Dollmann, Gesetzgebung, Teil 3, Bd. 3, S. 6 f. 159 Durch das umfassende "Gesetz vom 10. November 1848, die Abänderungen des zweiten Theiles des Strafgesetzbuches vom Jahre 1813 betreffend"; zur Geschichte F. Walther, Lehrbuch, S.45 ff.; Dollmann, Gesetzgebung des Kgrs. Bayern, Teil 3, Bd.2, Heft I, S. 13 ff. Außerdem Gesetz vom 4. Juni 1848 über die Grundlagen der Gerichtsorganisation und Gesetz vom 3. August 1848 über die Einführung der Schwurgerichte. Daneben behielt das Strafgesetzbuch von 1813 in modifizierter Form Geltung (Dollmann, a.a.O., S. 19 ff.). 160 "Gesetz, die Einführung des Strafgesetzbuches und des Polizeistrafgesetzbuches für das Königreich Bayern betreffend, vom 10. November 1861". Zur Geschichte des Einführungsgesetzes Risch, in: Dollmann, Gesetzgebung des Kgrs. Bayern, Teil 3, Bd. 3, S. 9 ff. 161 Vgl. Art. 128 Abs. 2 Gesetz vom 10. November 1848. Die im weiteren angeführten, für das schwurgerichtliche Verfahren, Art. 116 ff. (Verfahren, bei den mit Todes-, Ketten- oder Zuchthausstrafe bedrohten Verbrechen) und Art. 219 Gesetz vom 10. November 1848 (Verfahren bei geringeren zur Zuständigkeit der Schwurgerichte gehörenden Verbrechen oder Vergehen) geltenden Bestimmungen, fanden kraft Verweisung auch in Verfahren bei Aburteilung der zur Zuständigkeit der Kreis- und Stadtgerichte gehörenden Verbrechen und Vergehen (Art. 303 Gesetz vom 10. November 1848) und im einzelrichterlichen Verfahren bei Übertretungssachen Anwendung (Art. 66 Gesetz vom 10. November 1861). Entsprechend ist in diesen Verfahren statt des Präsidenten des Schwurgerichtshofes der Vorstand des kreis-oder stadtgerichtlichen Senates bzw. der Einzelrichter angesprochen. 162 Art. 129 Abs. I Gesetz vom 10. November 1848. Vgl. F. Walther, Lehrbuch, S.277. 163 Art. 129 Abs.2 Alt. 2 Gesetz vom 10. November 1848; vgl. auch F. Walther, Lehrbuch, S. 278; Erkenntnis des ständigen Kriminalsenates des obersten Gerichtshofes (Kassationshof), in: Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege des Kgr. Bayern, Bd. 2, 1856, S. 196 f. (197); Samuel, Ablehnbarkeit, S. 13.

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richterliche Ermessen über die Herbeischaffung der beantragten Beweismittel 164 . Daneben, und insoweit über die anderen Partikularrechte hinausgehend, konnte der Angeklagte jedoch die Vorladung erzwingen, sofern er im voraus die gesetzliche Zeugenentschädigung hinterlegte l65 . In diesem Fall mußte der Präsident die benannten Zeugen dem Beweisverzeichnis der Staatsanwaltschaft hinzufilgen. Damit bestand die Möglichkeit, durch Kostenübernahme die sonst übliche richterliche Beweisantizipation zu überbrücken und Vorladungsgesuche zu Vorladungsansprüchen zu verstärken. Der zeitgenössischen Charakterisierung der bayerischen Vorladungsregelung als Ausdruck "großer Liberalität" durch Hänle l66 , Verteidiger in Würzburg, kann dennoch nur bedingt beigepflichtet werden, da nicht übersehen werden darf, daß der Vorladungsanspruch aufgrund der Verpflichtung zur Entschädigung der Zeugen, Mittellosen faktisch nicht zugute kam. Trotz dieser de facto Einschränkung konstatierte Hänle einen häufigen "Mißbrauch dieser Liberalität des Staates" seitens der Angeklagten l67 . Im Ergebnis überwogen aber filr ihn doch die Vorteile der vergleichsweise angeklagtenfreundlichen bayerischen Regelung. Denn es sei sehr schwer, "im Voraus schon bestimmen zu wollen, ob der oder jener Umstand wirklich ohne Erheblichkeit ist" und niemand im voraus sagen könne, "worin die Richter, worin die Geschwornen ihre Überzeugung begründen, und es möchte daher gut sein, Alles das zuzulassen, was der Angeklagte filr erheblich und nützlich hält,,168. Zurückstehen müsse dagegen "die Rücksicht, daß dadurch die Verhandlung etwas verlängert würde,,169 . Zu einem echten Beweiserhebungsanspruch vervollständigt wurde das Ladungsrecht durch die Verpflichtung des Gerichts, die Beweisaufnahme auf alle vorgeladenen Zeugen und Sachverständigen zu erstrecken l70 . Das heißt: Ein

164 Erkenntnisse des ständigen Kriminalsenates, in: Sitzungsberichte der bayerischen Strafgerichte, Bd. 1, 1850, S. 196 und S. 281; F. Walther, Lehrbuch, S. 416 tT.; Mittermaier, GerS 2 (1850), Bd.2, S.481 f., der die "Mangelhaftigkeit" des bayerischen Rechts darin erblickte, daß "dem Präsidenten zu große Macht gegeben ist, ein Gesuch des Angeklagten um Vorladung eines Zeugen abzuschlagen" (a.a.O., S. 482, Anm. ***). 165 Art. 129 Abs. 2 Alt. 1 Gesetz vom 10. November 1848. 166 Hänle, GerS 6 (1854), Bd. 2, S. 47. 167 Hänle, GerS 6 (1854), Bd. 2, S. 48. 168 Hänle, GerS 6 (1854), Bd. 2, S. 47 f. 169 Hänle, GerS 6 (1854), Bd. 2, S. 48. 170 Vgl. Art. 156 Gesetz vom 10. November 1848; siehe auch F. Walther, Lehrbuch, S. 308 f.; H.-J Klee, Bestimmung, S.92 f.; Köhler, Inquisitionsprinzip, S.20. Zum französischen Recht in der bayerischen Pfalz, das als Muster fiir das bayerische Reformwerk fungierte vgl. Merckel, GerS 1 (1849), Bd. 2, S. 251. Zur Vorbildfunktion der bayerischen Regelung in den Kommissionsberatungen zur Reichsstrafprozeßordnung vgl. Abg. Völk, Protokolle der Reichstagskommission, bei Hahn, Materialien, S.853, 4'

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

Verzicht auf die Vernehmung eines geladenen Zeugen oder Sachverständigen war nur im Einverständnis mit dem Angeklagten und der Staatsanwaltschaft möglich l71 • Etwas anderes galt nur für die nicht im Beweisverzeichnis aufgefiihrten, in der Sitzung gestellten Beweismittel 172 • Hier lag es im Ermessen des Vorsitzenden, die Beweiserhebung anzuordnen. Hinsichtlich der Frage schließlich, ob das Gericht verpflichtet war, erst in der Hauptverhandlung angebrachten Anträgen auf Herbeischaffung weiteren Beweismaterials nachzukommen, galt in Bayern allerdings das gleiche wie in Preußen und Sachsen l73 : Die Anordnung weiterer Beweiserhebungen lag allein im Ermessen des Gerichts, ohne daß dieses an die Anträge gebunden gewesen wäre. d) Zusammenfassung und Vergleich zu anderen partikularrechtlichen Regelungen Die exemplarische Gegenüberstellung des preußischen, sächsischen und bayerischen Rechts zeigt bezüglich des Einflusses, der dem Angeklagten auf die Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme eingeräumt war, ein von Norden nach Süden verlaufendes Gefalle in der Herausbildung liberaler Positionen l74 . Das preußische Recht zeigte sich gegenüber dem Beweiserhebungs-

1335 f.; Abg. Herz, Protokolle der Reichstagskommission, bei Hahn, Materialien, S. 1335; K. Klee, Umfang, GA 77 (1933), S. 87. 171 Vgl. F. Walther, Lehrbuch, S. 277 f.; H-J Klee, Bestimmung, S. 92; Erkenntnisse des ständigen Kriminalsenates des obersten Gerichtshofes, in: Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege des Kgr. Bayern, Bd.2, 1856, S.332 ff., Bd.5, 1859, S. 343 f.; vgl. auch v. Schwarze, GerS 6 [1854], S. 340 f.). 172 Zum Gestellungsrecht vgl. Art. 130 Abs. 2 i.V.m. Art. 141 Abs. 3 Gesetz vom 10. November 1848; F. Walther, Lehrbuch, S. 278; H-J Klee, Bestimmung, S. 90. Im einzelrichterlichen Verfahren waren die unmittelbar gestellten Zeugen und Sachverständigen den geladenen jedoch gleichgestellt (Art. 69 Ziff. 1 Gesetz vom 10. November 1861). Vgl. Risch, in: Dollmann, Gesetzgebung, Teil 3, Bd. 3, S. 326; dies übersieht HJ Klee, Bestimmung, S. 92. 173 Vgl. Art. 130 Abs.2, 141 Abs.3 Gesetz vom 10. November 1848; einen Anspruch auf Erhebung in der Sitzung beantragter neuer Beweismittel oder Beweistatsachen hatte der Angeklagte nach keinem deutschen Partikularrecht (vgl. H-J Klee, Bestimmung, S. 93). 174 Die relative Progressivität der süddeutschen Länder offenbarte sich auch daran, daß in den süddeutschen Territorien nach 1848 ausnahmslos der reformierte Strafprozeß Einzug hielt, während sich dem die norddeutschen Länder Mecklenburg-Strelitz, Mecklenburg-Schwerin, Schaumburg-Lippe und Lippe-Detrnold bis zur RStPO von 1877 widersetzten.

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interesse des Angeklagten autoritär: Einen vom Ermessen des Gerichts unabhängigen Beweiserhebungsanspruch gab es nicht 175 • 175 Zu einem völlig konträren Ergebnis kommt P. HojJmann, Zeuge, S. 37 ff., mit seiner Einschätzung, das preußische Recht habe die relativangeklagtenfreundlichsten Bestimmungen enthalten und sei richtungsweisend und impulsgebend rur die weitere Herausbildung des Beweisantragsrechtes gewesen. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die These, daß mit Ausnahme Preußens und Braunschweigs in allen anderen Ländern, und damit auch in Sachsen, Bayern und Kurhessen, dem Präsidenten die sog. diskretionäre Gewalt zustand, die einer verbindlichen Mitwirkungsmöglichkeit des Angeklagten von vornherein entgegengestanden habe. Dazu ist anzumerken: Zur diskretionären Gewalt zählte zunächst unstreitig die Befugnis, alle Maßnahmen vorzunehmen, die zur Erforschung der Wahrheit erforderlich sind, wozu insbesondere auch das Recht gehörte, nachträglich solche Beweispersonen in den Prozeß einzuruhren, die - insoweit regelwidrig - nicht auf der Beweisliste standen (Art. 268 eIe, Art. 277 Rev. Sächs. StPO; Art. 141 Abs. 2, 3 Bay. Gesetz v. 10. 11. 1848; § 72 Kurhess. Gesetz v. 31. 10. 1848). Von dieser Inhaltsbestimmung geht nun auch HojJmann aus, wie seine Zitate S. 42 f. belegen, doch betrifft diese Befugnis zur Vermehrung der Beweismittel nicht die hier zu klärende Frage, ob der Präsident entgegen gesetzlicher Gewährleistungen befugt war, die Beweisaufnahme nach seinem Ermessen zu beschränken. Zwar enthielt sowohl das französische Recht (Art. 270 eIC) als auch die von ihm abgeleiteten partikularrechtlichen Regelungen die Bestimmung, daß es dem Präsidenten gestattet sei, auf der Suche nach der Wahrheit alles zu unterbinden, was die Verhandlung ohne sachdienliche Förderung nur in die Länge ziehen könnte. Diese Bestimmung wurde aber überwiegend nicht als Bestandteil der diskretionären Gewalt angesehen (Hettinger, Fragerecht, S.46 ff. m.w.N.; Merckel, GerS I [1849], Bd. 2, S. 251; Kreuzer, Bestimmung, S. 110 m.w.N.; H.-J. Klee, Bestimmung, S. 92 f.; a.A. Zachariae, Handbuch, Bd.2, S. 202; Ruppenthal, GerS 4 [1852], Bd. I, S. 542). Eine Einschränkung eindeutiger Mitwirkungsrechte des Angeklagten im Beweisaufnahmeverfahren kann somit nicht mit der diskretionären Gewalt des Präsidenten begründet werden. Deshalb ist HojJmanns Ansicht, der Präsident könne kraft seiner diskretionären Gewalt in allen Ländern außer Preußen und Braunschweig "das Beweisantragsrecht des Angeklagten ad absurdum ruhren" unzutreffend. Zudem beruft sich HojJmann bei seiner Begründung rur die vermeintliche Fortschrittlichkeit des preußischen Rechts auf § 52 VO v. 3. 1. 1849. Diese Bestimmung enthielt jedoch allein eine Vorladungsregelung, ohne eine Aussage über die Befugnisse des Vorsitzenden in der Hauptverhandlung zu treffen. Da die von HojJmann apostrophierte und als Ursache rur weitgehende Beschränkungen der Angeklagtenrechte ausgemachte diskretionäre Gewalt eine Befugnis des Präsidenten darstellte, die ausschließlich rur die Hauptverhandlung Wirkung hatte (vgl. Schletter, Strafproceßrecht, S. 240; v. Schwarze, Strafprozeßgesetze, S. 215; Hettinger, Fragerecht, S. 46 f.), kann das Argument nicht überzeugen. Eine Betrachtung der dem Vorsitzenden bzw. dem Gerichtskollegium in der Hauptverhandlung nach preußischen Recht eingeräumten Befugnisse hätte vielmehr deutlich gezeigt, daß gerade in Preußen weitestgehendstes richterliches Ermessen herrschte und die preußische Regelung weit von den Mitwirkungsrechten entfernt war, die andere Partikularrechte dem Angeklagten einräumten. Wenn HojJmann schließlich seine These von der Fortschrittlichkeit des preußischen Rechts damit rechtfertigen will, daß er die Überprüfungsmöglichkeit von Ablehnungsentscheidungen durch das Preußische Obertribunal hervorhebt, so ist dem zweierlei zu entgegnen: Zunächst beschränkte sich das Obertribunal auf eine Kontrolle rechtlicher Fehler bei der Verbescheidung von Beweisanträgen, während richterliche Beweisantizipationen in tatsächlicher Hinsicht - sofern die oben angeruhrten rein formellen Begrün-

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Eingeschränkte Liberalität herrschte im Königreich Sachsen: Zwar hatte der Angeklagte - in Kongruenz mit dem erstellten Beweisverzeichnis - einen Anspruch auf Abhörung aller vorgeladenen Zeugen und Sachverständigen und auf Gebrauch der sonstigen gerichtlich herbeigeschafften Beweismittel. Er hatte jedoch keine verbindliche Einwirkungsmöglichkeit auf die logisch vorlagerte und letztlich entscheidende Frage, welches Beweismaterial überhaupt förmlich fiir die Hauptverhandlung bereitgestellt wird l76 • Bayern, das bereits vor 1848 an der Spitze der liberal-rechtsstaatIichen Verfassungsbewegung stand und dessen Verfassung von 1818 "Modellfunktion" 177 rur die konstitutionelle Bewegung in Süddeutschland hatte, gewährte dagegen dem Angeklagten eine weitgehende Möglichkeit, den Umfang der Beweisaufnahme mitzubestimmen l78 • Der Angeklagte hatte zwar auch hier, wie in allen deutschen Ländern 179 , kein heutigem Verständnis entsprechendes verbindliches Beweisantragsrecht. Doch konnte er im Ergebnis mittels seines autonomen Ladungsrechtes die Erhebung von ihm gewünschter Beweise erzwingen, sofern er nur wirtschaftlich in der Lage war, die Kosten rur die Herbeischaffung des Beweismaterials in die Sitzung zu tragen. Regelungstechnisch ist noch interessant, daß die Bestimmungen derjenigen Partikularrechte, die überhaupt Regelungen über das Verfahren der Beweisaufdungsanforderungen beachtet wurden - unangreifbar waren. War hiermit tatsächlich eine, wenn auch nur sehr beschränkte Kontrollmöglichkeit eröffnet, so handelte es sich hierbei doch um kein spezifisch preußisches Novum. Vielmehr stand dem Angeklagten auch in Sachsen und Bayern die Nichtigkeitsbeschwerde bei Rechtsfehlern offen (v. Schwarze, Grundsätze, S. 114, 117 ff.; F. Walther, Lehrbuch, S. 416 ff.). Ausgehend von seiner These, Preußen sei "Vorreiter" bei der Verbesserung der RechtsteIlung des Beschuldigten gewesen, meint Ho.fJmann, S. 44, schließlich, daß sich dieser fortschrittliche Geist auf die Beratungen und Beschlußfassung der Strafprozeßordnung ausgewirkt habe. Vorbild der liberal-demokratischen Vertreter im Reichstag war aber das bayerische und sächsische Recht, während die reaktionär-monarchischen Kräfte im Bundesrat rur eine Regelung wie in Preußen votierten (B. 11. 2., 111.). 176 Eine ähnliche Regelung bestand auch in Württemberg nach dem Gesetz über das Verfahren in Strafsachen, welche vor die Schwurgerichtshöfe gehören, vom 14. August 1849": Keine Verpflichtung den Vorladungsanträgen stattzugeben (Art. 103 Gesetz über das Verfahren in Strafsachen), jedoch Anspruch auf Abhörung aller in der Beweisliste verzeichneten Zeugen (Art. 130, 138) in der mündlichen Verhandlung. 177 Nipperdey, Dt. Geschichte, 273 ff. 178 Eine ähnlich angeklagtenfreundliche Regelung wie in Bayern enthielt auch die neue "Strafproceß-Ordnung" (von 1868) im - ebenfalls vergleichweise liberalen Württemberg: Danach sollten die vom Angeklagten verlangten Zeugen und Sachverständigen vorgeladen werden, sofern das Gericht die Vorladung nicht für mutwillig oder durch "verkehrte Auffassung" veraniaßt hielt. Die Abhör der vorgeladenen - und sogar der bloß gestellten - Beweispersonen sollte dann nur mit Zustimmung des Staatsanwaltes und des Beschuldigten unterbleiben. Vgl. H.-J. Klee, Bestimmung, S. 91 f.; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 63 Fn. 174. 179 Vgl. H.-J. Klee, Bestimmung, S. 82 ff., 93.

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nahme enthielten, sich fast ausschließlich als bloß ermessens/eitende Richtlinien darstellen, indem der Richter angewiesen wird, Anträgen stattzugeben, sofern er sie fiir "erheblich", "förderiich,,180 oder sonst fiir sachdienlich hält. Nur bei positivem Ausgang dieser Ermessensentscheidung bestand rechtlich die "Pflicht", den Anträgen nachzukommen. Ein bedeutsamer Wandel der Regelungstechnik zeigte sich dagegen in Sachsen (Art. 261 Abs. 1 - 2, 263): War den - nicht durch Kostenübernahme verstärkten - Anträgen auf Herbeischaffung bestimmter Beweismittel nach der StPO von 1855 zunächst nur zu entsprechen, wenn sie dem Vorsitzenden zur besseren Aufklärung der Sache "förderlich" erschienen, so postulierte die StPO von 1868 die grundsätzliche Pflicht, entsprechenden Anträgen zu entsprechen, es sei denn, der Vorsitzende halte sie fiir "offenbar unerheblich". Die "offenbare Unerheblichkeit" stellt damit einen die Regel einschränkenden normierten Ablehnungsgrund dar. Hier zeigt sich schon eine Annäherung an das heutige System des § 244 Abs. 3 StPO mit seinen enumerativen Ablehnungsgrunden 181 .

B. Die Reichsstrafprozeßordnung vom 1. Februar 1877 Um die zeitliche Ein- und rechtspolitische Zuordnung der einzelnen Entwürfe und Positionen zu erleichtern, vorab ein kurzer Überblick über den äußeren Gang des Gesetzgebungsverfahrens. I. Äußerer Rahmen

Die Entstehungsgeschichte 182 der StPO reicht in die Zeit des Norddeutschen Bundes zurück 183 . Bismarck hatte 1869, veraniaßt durch einen entsprechenden Beschluß des Norddeutschen Reichstages und des Bundesrates, den preußischen lustizminister ersucht, eine Strafprozeßordnung fiir den Norddeutschen Bund zu

Vgl. Bayern, Art. 129 Abs. 2 Gesetz vom 10. November 1848. Ähnlich die kurhessische Strafprozeßordnung (zur Entstehung und Entwicklung nach 1848 Amrhein, Entwicklung, S. 104 ff.): Auch sie machte das Entstehen einer Beweiserhebungspflicht nicht von dem positiven Ausgang einer vorgängigen richterlichen Ermessensentscheidung abhängig, sondern drehte das Regel-Ausnahme-Verhältnis praktisch um. Nach § 73 sollte die Beweiserhebung in der Hauptverhandlung die Regel sein, es sei denn, daß Präsident erachtete die Beweisaufnahme filr unzulässig oder unerheblich. 182 Ausfilhrlich Dochow, in: Holtzendorff, Handbuch, S. 105 ff.; Glaser, in: Holtzendorff, a.a.O., S. 188 ff.; John, Strafproceßordnung, Bd. I, S. I ff.; v. Schwarze, StPO, Einleitung, S. IX ff. 183 Zur Vorgeschichte: Landau, Reichsjustizgesetze, S. 161 ff., 172 ff.; Schubert, in: SchubertJRegge, Entstehung und Quellen, S. 4 ff.; Glaser, Handbuch, S. 188 ff. 180 181

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verfassen l84 . Ein erster Referentenentwurfwurde daraufhin im November 1870 präsentiert (sog. "Friedbergscher Entwurf") 185 • Aus diesem Vorentwurf entwickelte das preußische Justizministerium nach weiterer Überarbeitung und Überprüfung schließlich den "Ersten Entwurf" ("E 1"), der im Januar 1873 dem Bundesrat des nunmehr vereinigten Deutschen Reiches vorgelegt und mit Motiven veröffentlicht wurde l86 . Die hierauf vom Bundesrat eingesetzte Sachverständigenkommission veröffentlichte im Oktober 1873 den zweiten Entwurf einer StPO ("E 2,,)187. Im Anschluß an die Publikation des zweiten Entwurfs der Bundesratskommission beriet im Frühjahr 1874 der Justizausschuß des Bundesrates den Text und legte ihn modifiziert dem Plenum des Bundesrates im Mai 1874 vor. Der Bundesrat verabschiedete den abgeänderten Entwurf ("E 3") schließlich am 16. Juni 1874 188 . Am 29. Oktober dem Reichstag vorgelegt, wurde er dort im November einer Kommission von 28 Mitgliedern des Reichstages, der Reichsjustizkommission überwiesen l89 . Die Reichsjustizkommission beriet den StPO-Entwurf in einer" 1. Lesung" VOn Juni 1875 bis Februar 1876 und revidierte den"E 3" zum Teil erheblich l90 . Der Bundesrat nahm zu den Änderungsbeschlüssen der Reichsjustizkommission am 27. April 1876 Stellung l91 . Die Reichsjustizkommission erörterte daraufhin den Entwurf samt der Einwände des Bundesrates in einer ,,2. Lesung" (Mai Juli 1876)192. Über die Ergebnisse beriet der Bundesrat erneut. Seine Beschlüsse, die wiederum zahlreiche Beanstandungen enthielten, wurden dann dem 184 Abdruck des Schreibens bei SchubertlRegge, Entstehung und Quellen, S. 47; vgl. auch John, Strafproceßordnung, Bd. I, S. 3 f 185 Abdruck bei SchubertiRegge, Entstehung und Quellen, S. 48-110; vgl. auch Glaser, Handbuch, S. 190; Landau, Reichsjustizgesetze, S. 161 (172); v. Kries, Lehrbuch, S.63. 186 Abdruck bei SchubertlRegge, Entstehung und Quellen, S. 113-147, und in GA 21 (1873), S. 5-39; zur Entstehungsgeschichte Schubert, in: SchubertlRegge, Entstehung und Quellen, S. 4 ff.; Dochow, in: Holtzendorff, Handbuch, S. 105 ff. 187 Abdruck bei SchubertlRegge, Entstehung und Quellen, S. 293-362; zur Entstehung Dochow, in: Holtzendorff, Handbuch, S. 110 ff. 188 Zur Entstehung: Landau, Reichsjustizgesetze, S. 176 ff.; Schubert, in: SchubertlRegge, Entstehung und Quellen, S. 16 ff.; Glaser, Handbuch, S. 192 f; Dochow, in: Holtzendorff, Handbuch, S. 112 ff. 189 Vgl. Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 497 ff; LR-Schäfer, Einl. Kap. 2 Rn. I; v. Kries, Lehrbuch, S. 64; Glaser, Handbuch, S. 193; zur Zusammensetzung der Reichsjustizkommission mit Kurzbiographien Schubert, in: SchubertlRegge, Entstehung und Quellen, S. 20 ff. 190 Abdruck der Protokolle der Kommissionsberatungen bei Hahn, Materialien, Erste Abth., 551-1180. 191 Glaser, Handbuch, S. 194; Schubert, in: SchubertiRegge, Entstehung und Quellen, S. 26. 192 Abdruck der Protokolle der Kommissionsberatungen bei Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1181-1508; Bericht der Kommission, a.a.O., S. 1509-1595.

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Reichstag Anfang November 1876 mitgeteilt 193 . Hierauf trat die Reichsjustizkommission abschließend zu einer Reihe von Sitzungen (6. - 14. 11. 1876) zusammen: Man hielt jedoch trotz der Beanstandungen des Bundesrates weitgehend an den gefaßten Entschließungen fese 94 • Nach der zweiten Lesung im Reichstag (27. 11 - 2. 12. 1876) kam es zu informellen Gesprächen, in denen die verbleibenden Differenzen zwischen der Reichstagsmehrheit und den Vertretern des Bundesrates ausgeglichen wurden 195 . Damit war in der dritten Lesung am 21. Dezember 1876 der Weg frei rur die Annahme der Gesetzesvorlage 196 . Der Bundesrat erteilte schließlich zwei Tage später die erforderliche Zustimmung, so daß die StPO am 1. Februar 1877 verkündet werden konnte 197 • Am 1. Oktober 1879 trat sie in Kraft.

11. Die einzelnen Regelungsbereiche zur Beweisaufnahme

1. Vorbereitung der Hauptverhandlung

Die Regelung über die Mitwirkungsrechte der Angeklagtenseite bei der Herbeischaffung des Beweismaterials blieb vom Friedbergschen Entwurf über den "E 1" und "E 2" bis zum "E 3" weitgehend 198 unverändert. Deshalb wird im folgenden der Bundesratsentwurf ("E 3") zugrundegelegt, wie er Gegenstand der Beratungen in der Reichsjustizkommission des Reichstages war. Entsprechend seiner Herkunft aus der preußischen Ministerialbürokratie orientierte sich der "E 3" an der bisherigen Gesetzeslage in Preußen und den dort gemachten Erfahrungen 199 : In einigen Punkten war aber auch eine Stärkung der

Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1596-1600. Glaser, Handbuch, S. 196; Dochow, in: Holtzendorff, Handbuch, S. 124 f; LRSchäfer, Einl. Kap. 2 Rn. 2. 195 Landau, Reichsjustizgesetze, S. 204 ff.; LR-Schäfer, Einl. Kap. 2 Rn. 2; Schubert, in: SchubertlRegge, Entstehung und Quellen, S. 26. 196 Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 2080 ff. 197 RGBl (1877) Nr. 8, S. 253 ff. 198 Während der"E 2" vom"E 1" nur unwesentlich abwich (Landau, Reichsjustizgesetze, S. 176; Glaser, Handbuch, S. 191; LR-Schäfer, Einl. Kap. 2 Rn. 1), wurde im "E 3" das in den vorhergehenden Entwürfen zugunsten einer reinen Schöffengerichtsverfassung gestrichene schwurgerichtliche Verfahren wieder aufgenommen (Landau, a.a.O., S. 176 ff., v. Kries, Lehrbuch, S. 63 f; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 38 f). 199 Vgl. Glaser, Handbuch, S. 388. Besonders eng ist die Verwandtschaft mit der StPO für die neupreußischen Provinzen von 1867. Die Auseinandersetzung mit dem preußischen Recht und der dort erlebten Rechtswirklichkeit wird deutlich durch die Schilderung der "Übelstände" in den Motiven (vgl. Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 178). 193

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Angeklagtenrechte vorgesehen, in anderen eine Schwächung. Gegenüber dem preußischen Recht deutlich verbessert wurde die AngeklagtensteIlung durch § 183 E 3. Diese Vorschrift gewährte ein eigenes Ladungsrecht, das ohne Vermittlung durch das Gericht ausgeübt werden konnte 200 . Die Motive erklärten hierzu, daß die Beschaffung der Beweismittel wesentlich der Staatsanwaltschaft und dem Angeklagten obliege201 . Hierin kommt eine Anlehnung an die Gedankenwelt des Partei verfahrens zum Ausdruck 202 . Die Vorbereitung der Hauptverhandlung sollte praktisch nach parteiprozessualem Muster erfolgen: Staatsanwaltschaft und Angeklagter bestimmen mit ihren vorbereitenden Beweisaktivitäten den Beweisaufnahmeumfang. Dem Gericht sollte lediglich die Aufgabe zukommen, bei zu schmaler Beweisgrundlage die ergänzende Ladung von weiteren Beweispersonen und die Herbeischaffung von zusätzlichen sachlichen Beweismitteln zu veranlassen203 . Der Angeklagte hatte jedoch selbst fiir die Entschädigung der vorzuladenden Personen zu sorgen 204 . Damit entsprach § 183 E 3 der bayerischen Vorladungsregelung (Art. 129 Abs. 2 Gesetz v. 10. November 1848) und war aufgrund der Kostentragungslast "ein Privileg Wohlhabender,,20s. Die Kostentragungspflicht wurde als Schranke gegen unbegründete und leichtfertig gestellte Beweisanträge angesehen. Die Motive fUhren hierzu aus: "Eben weil das Anbringen unbegründeter und leichtfertiger Beweisanträge für die Angeklagten mit gar keiner Gefahr und keinem Nachtheil verknüpft ist, kennen die Angeklagten bei diesen Anträgen vielfach weder Maß noch Ziel, sie überschütten vielmehr die Gerichte mit einer übergroßen Zahl solcher Anträge,,206 .

Neben der dem Angeklagten gewährten Möglichkeit, Zeugen und Sachverständige bei Erstattung der gesetzlichen Kosten selbst zu laden, konnte sich die-

200 Gemeint war eine förmliche Vorladung durch den Gerichtsvollzieher (Wißgott, Beweisantragsrecht, S.61 Fn. 168 m.w.N.). Sachliche Beweismittel konnte der Angeklagte dagegen nicht in einem förmlichen Verfahren herbeischaffen. Insoweit war er beschränkt auf die ihm als Privatperson zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, das Beweismittel zu sistieren. Zudem löste die eigentätige Gestellung dieser Beweismittel nicht die Beweiserhebungspflicht des Gerichts nach § 244 Abs. I StPO (1877) aus. 201 Motive zum E 3 (Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 179). 202 Schulz, Stellung, S. 94; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 59. 203 § 184 E 3; später § 220 StPO (1877). 204 Eine Entschädigung auf Staatskosten sah der E 3 selbst im Falle eines Freispruches nicht vor. Zur Kritik an der sozialen Ungerechtigkeit: Abg. Herz, Fortschrittspartei (Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1330), und Glaser, Handbuch, S. 393. 205 Goldschmidt, Reform, S. 17. 206 Motive zum E 3 (Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 178).

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ser mit seinen Vorladungsgesuchen an den Vorsitzenden wenden (§ 182 E 3)207. Gegenüber dem preußischen Recht und den anderen Partikularrechten wurde allerdings die Angeklagtenposition dadurch verschlechtert, daß dem "E 3" eine Bestimmung fehlte, nach welchen rechtlichen Grundsätzen die Vorladungsanträge des Angeklagten geprüft werden sollten 208 • Die Partikularrechte hatten immerhin formalisierte Richtlinien ("Erheblichkeit", "Tauglichkeit") fiir die richterliche Ermessensausübung aufgestellf 09 • Konsequenterweise sollte die Begrilndungspflicht entfallen210 . Neben dem Selbstladungsrecht und der Möglichkeit, sich mit Anträgen an den Vorsitzenden zu wenden, bestand tUr den Angeklagten die Möglichkeit, Beweispersonen auch ohne förmliche Ladung - ebenso wie sonstige sachliche Beweismittel- unmittelbar mit in die Sitzung zu bringen211 . Die Bestimmungen des "E 3" sind schließlich im weiteren Gesetzgebungsverfahren unverändert als §§ 218, 219 StPO (1877) Gesetz geworden. Allerdings wurde das Selbstladungsrecht ergänzt um die Möglichkeit nachträglicher Kostenübemahme durch die Staatskasse (§ 219 Abs. 3 StPO 1877)212. Von li-

207 V gl. Motive zum E 3 (Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 179). Der "Friedbergsche Entwurf' (§ 193) und der "E 1" (§ 175) sahen demgegenüber noch übereinstimmend mit der preußischen StPO von 1867 vor, daß Vorladungsanträge an die Staatsanwaltschaft zu richten sind. Auf Initiative v. Schwarzes (vgl Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 823) wurde diese Bestimmung zugunsten des Vorsitzenden im Zuge der Verhandlungen der vom Bundesrat eingesetzten Sachverständigenkommission abgeändert (vgl. 16. Sitzung v. 12. Mai 1873; Protokoll abgedruckt bei SchubertlRegge, Entstehung und Quellen, S. 203). Demgemäß entsprach dann § 179 E 2 wortgetreu dem besprochenen späteren § 182 E 3. 208 Der Vertreter des Bundesrates Hanauer meinte dazu in der ersten Lesung der Reichsjustizkommission (Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 823), daß eine ausdrückliche Bestimmung überflüssig sei, da es sich aus der Natur der Sache ergebe, daß die Entscheidung nach freiem Ermessen getroffen werde. V gl. die Kritik des Abg. Herz in der Reichsjustizkommission (Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 823 f., Zweite Abth., S. 1330). 209 Vgl. Preußen: § 52 Verordnung v. 3. Januar 1849; Bayern: Art. 129 Abs. 2 Gesetz v. 10. November 1848; Sachsen: Art. 261 Abs. 2 Rev. StPO 1868. 210 Vgl. Stellungnahme und Änderungsantrag des Abg. Herz (Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 823 f.). 211 Vgl. § 185 E 3. Diese Befugnis wird von Hanauer, dem Vertreter des Bundesrates, in der ersten Lesung der Reichsjustizkommission bestätigt (Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 825). Darüber hinaus bestand die nicht ausdrücklich geregelte Möglichkeit, sich an die Staatsanwaltschaft zu wenden, um die gewünschte Ladung durch diese ausruhren zu lassen (Glaser, Handbuch, S. 390). 212 Vgl. § 220 Abs. 3 StPO der heutigen Fassung. Die Ergänzung basierte auf der Initiative des national-liberalen Abg. WoljJson in der ersten Lesung des Entwurfs in der Reichsjustizkommission (vgl. Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 825 ff.; Wißgott, Be-

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beraler Seite vorgebrachte Änderungsanträge 213 , die auf eine Beschränkung des richterlichen Ennessens bei der Prüfung von Vorladungsanträgen abzielten, blieben erfolglos. 2. Verfügung über das präsente Beweismaterial in der Hauptverhandlung Dem Angeklagten standen damit verschiedene Möglichkeiten zur Verfilgung, auf den Umfang des in der Hauptverhandlung bereitstehenden Beweismaterials Einfluß zu nehmen. Die insoweit maßgeblichen Bestimmungen der §§ 182/183 E 3 besagten aber noch nichts über die weitere Frage, ob das herbeigeschaffte Beweismaterial in der Sitzung auch tatsächlich aufgenommen werden mußte. a) Das Konzept des Bundesrates Der "E 3" orientierte sich bei der Regelung des Beweisaufuahmeumfangs am preußischen Reche l4 • Das heißt: Die Entscheidung, ob und in welchem Umfang die präsenten Beweise in der Hauptverhandlung aufgenommen werden, sollte ganz dem filrsorglichen Ennessen des Gerichts überlassen bleiben215 • § 207 E 3 lautete dementsprechend: "Den Umfang der Beweisaufnahme bestimmt das Gericht, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein".

Das freie Ennessen des Gerichts bei der Bestimmung des Umfanges der Beweisaufuahme wurde allein durch § 208 E 3 eingeschränkt, der bestimmte, daß ein Beweisantrag nicht wegen Verspätung abgelehnt werden dürfe216 • § 206 E 3, der zur Ablehnung eines Beweisantrages einen Gerichtsbeschluß verlang-

weisantragsrecht, S. 73 Fn. 209). Die soziale Ungerechtigkeit wurde mit dem Zusatz allerdings nicht ganz beseitigt; zur Kritik vgl. E.Müller/Fleck, ZRP 1969, S. 174 f. 213 Zu nennen ist insbesondere der Abänderungsantrag der liberalen Abg. Klotz, Eyfoldt und Herz (alle Fortschrittspartei): Er sollte das Gericht verpflichten, den gestellten Vorladungsanträgen nachzukommen, sofern "nicht die Thatsachen, über welche der Beweis erhoben werden soll, zur besseren Aufklärung der Sache ungeeignet erscheinen" (Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 823, Zweite Abth., S. 1330). Herz führte dazu aus, daß diese Regelung Anspruch erheben könne, "adoptirt" zu werden, da sie sich in Bayern "stets bewährt" habe. 214 § 207 E 3 entsprach weitgehend § 239 der preußischen StPO von 1867 (vgl. dort auch § 240, 250). Siehe Glaser, Handbuch, S. 395 f., 410; Köhler, Inquisitionsprinzip, S.20; Kreuzer, Bestimmung, S. 14; Samuel, Ablehnung, S.42; P. Hoffmann, Zeuge, S.46. 215 Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 60. 216 Vgl. Motive zum E 3 (Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 193).

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te 217 , regelte dagegen allein die fonnelle Seite der Entscheidungszuständigkeit218 , traf aber keine Aussage über die gerichtlichen Befugnisse bei der Bestimmung des Beweisaufnahmeumfangs. Somit oblag es der Einschätzung des Gerichts, Beweispersonen unvemommen zu entlassen, wenn eine weitere Aufklärung der Sache - aus seiner Sicht nicht zu erwarten war. Die Ennessensregelung des § 207 E 3 sollte auch für vom Angeklagten selbständig vorgeladene Beweispersonen gelten, ungeachtet seines Ladungsrechts. Zu diesem Widerspruch bemerkte der Abg. Reichensperger (Zentrum) kritisch, "durch § 207 werde jenes dem Angeklagten eingeräumte Recht annullirt und derselbe nur in Kosten gestürzt,,219 . Zur Rechtfertigung des § 207 E 3 verwiesen die Motive 220 auf die als Ausdruck der Wahrheitserforschungspflicht verstandene Aufgabe der Gerichte, innerhalb der durch die Klage gezogenen Grenzen selbständig tätig zu werden (§ 135 E 3)221 und die Tat unabhängig vom Eröffnungsbeschluß zu beurteilen (§ 223 E 3)222. Das heißt: Der Bundesratsentwurf verknüpfte die gerichtliche Wahrheitserforschungspflicht mit der freien richterlichen Bestimmung des Umfanges der Beweisaufnahme und sah diese als notwendige Konsequenz jener an. Wenn das Ziel der Untersuchung erreicht sei, so argumentierte der Kommissarius des Bundesrates Hanauer, lasse sich kein Grund anführen, dieselbe weiter auszudehnen223 . Da es zudem als Quintessenz der Auseinandersetzung des refonnierten Strafprozesses mit dem alten Inquisitionsverfahren galt, daß es unmöglich sei, ein abschließendes System künstlicher Beweisregeln zu konstruieren, und deshalb als Grundlage und Träger der materiellen Wahrheitserforschung allein das Insti-

211 So schon die Bestimmung des § 251 der preußischen StPO von 1867. 218 Vgl. Motive zum E 3 (Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 192); H-J. Klee, Bestimmung, S. 105; Glaser, Handbuch, 409 f.; Alsberg, Beweisantrag, S. 1. 219 Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 852. Ähnlich KUmmer, Beweisanträge, S. 11. 220 Motive zum E 3 (Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 192). Diese Begründung findet sich schon in den Motiven zu § 199 E I (Vgl. Harreß, Ablehnbarkeit, S. 4). 221 Entspricht dem heutigen § 155 Abs. 2 StPO. Die heute in § 244 Abs. 2 StPO verankerte Verpflichtung, von Amts wegen die materielle Wahrheit zu erforschen, war bis 1935 nicht explizit geregelt, wurde aber allgemein aus § 155 Abs. 2 (§ 153 Abs. 2 StPO 1877) abgeleitet (vgl. Löwe, StPO, § 153 Anm. 4a f.) und galt unausgesprochen als das letzte Ziel des Strafverfahrens, als sein "oberstes Axiom" (Kurtze, Ablehnung, S. 14; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 45 f., 127; anders offenbar I. Müller, Leviathan 1977, S.525). 222 Entspricht dem heutigen § 264 Abs. 2 StPO; zu § 223 E 3 (263 StPO 1877) vgl. Löwe, StPO, § 263 Anm. 1. 223 Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 854.

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tut der freien richterlichen Beweiswürdigung in Betracht komme224 , wurden freie Beweiswürdigung und freie Bestimmung des Umfanges der Beweisaufnahme als Komplementärerscheinung angesehen. Beweisantizipationen galten demgemäß als zulässigerweise vorweggenommene Bestandteile des nachfolgenden Endurteiles 225 . Diese "Überzeugungstheorie,,226 entsprach der schon zu Zeiten des partikularen Strafprozesses vertretenen Ansicht, daß die Freiheit der Beweiswürdigung notwendig die Freiheit der Beweiserhebung voraussetze. 224 Vgl. K. Klee, GA 77 (1933), S. 84; Hagemann, Entstehung, S. 5, Fn. 11; Paulus, FS-Spendel, S. 698 ff. Zwischen Wahrheitsermittlung und freier Beweiswürdigung besteht freilich noch ein tieferer Zusammenhang: Aus der menschlichen Unzulänglichkeit zur objektiven Erkenntnis folgt, daß im Strafverfahren nur eine annäherungsweise relative ("materielle") Wahrheit ausgelotet werden kann. Da es sich bei dieser in objektiver Hinsicht logisch nur um eine bestimmte (hinreichend fundierte) Wahrscheinlichkeit handelt, ist ein subjektives, personales Element erforderlich, das autoritativ festlegt, ob die ermittelte objektive Wahrscheinlichkeit definitiv, d.h. prozessual ausreichend für eine Aburteilung, als Wahrheit gelten kann. Die hiermit angesprochene personale SchaltsteIle zwischen objektiver Wahrscheinlichkeit und verurteilungsrelevanter strafprozessualer Gewißheit ist die persönliche Überzeugung des Richters im Sinne Sinne von § 261 StPO. Die persönliche richterliche Überzeugung ist somit konstitutiv für das Erkenntnisurteil, ein bestimmter rekonstruierter Sachverhalt sei wahr. P.-A. Albrecht, NStZ 1983, S. 486, bezeichnet daher die freie Beweiswürdigung bzw. ihr Ziel, das persönliche Fürwahrerachten, als Instrument for die Evaluation von Wahrheit. Zum vielschichtigen Wahrheitsbegriff im Strafprozeß vgl. auch Herdegen, Beweisantragsrecht, S.64, 66; Eb. Schmidt, LK I, Rn. 373; KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 18; ders., FSBoujong, S. 780 f.; Krauß, FS-Schaffstein, S. 411 ff.; Hassemer, KritV 1990, S. 269 f.; Wenner, Aufklärungspflicht, S. 23 ff.; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 176 ff., 392 f, 405 ff.; E. Schneider, Beweis, S. 36 f, 43; Volk, Wahrheit, S. 7 ff., 15 ff.; Paulus, FSSpendeI, S. 688 ff. 225 Vgl. die Motive zum E 3 (Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 192); Hanauer, Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1878. Auf diesen Standpunkt hat sich später auch zunächst das Reichsgericht gestellt (vgl. RGSt 1, 138 [140)). Und Reichsanwalt Schneidewin fragte sich noch 1929, warum für das Gericht noch Anlaß bestehen solle, den Sachverhalt weiter aufzuklären, wenn es bereits die volle Überzeugung von der Schuld des Angeklagten erlangt habe (Reichsgerichts-FS, S. 331). 226 Die "Überzeugungstheorie" (zur Bezeichnung Meurer, FS-Oehler, S. 370) geht auf die conviction intime des französischen Code d' Instruction Criminelle (Art. 342) zurück. Diese wurde zunächst so verstanden, daß die von Beweisregeln losgelöste richterliche Freiheit sämtliche Abschnitte des Beweisverfahrens - also auch die Beweiserhebung - erfassen sollte, nicht nur die letzte, abschließende Phase der Würdigung der Beweise. Integraler Bestandteil der richterlichen Beweiswürdigungsfreiheit war nach diesem Verständnis also auch die Freiheit, den Umfang der Beweisaufnahme zu gestalten (hierzu: Dedes, GS-Hilde Kaufinann, S. 929 ff.; ders., Beweisverfahren, S. 12 ff. und passim; Kunert, GA 1979, S. 405 f; Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 22 f., 50, 52; ders., NJW 1996, S.27; ders., FS-Boujong, S.778); Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 22 ff., 144 ff.; Anhänger dieser Theorie: zunächst das Reichsgericht (siehe unten C. II. 1.); Schneidewin, Reichsgerichts-FS, S.331; v. Spindler, Hauptverhandlung, S. 461 ff., 467; Ditzen, Dreierlei Beweis, S. 25 ff., insbes. S. 28, Fn. 1; K. Klee, GA 77 (1933), S. 88; H.-J Klee, DJ 1937, S. 1386; heute noch: Küng-Hofer, Beschleunigung, S. 226 f.: "Da das Gericht die Beweise frei würdigt, kommt ihm auch die Befugnis zu, grundsätzlich frei über den Umfang der Beweisaufnahme zu entscheiden."

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b) Kritik und Abänderung des Entwurfs in der Reichsjustizkommission In der Reichsjustizkommission stieß die weitreichende Verftlgungsgewalt des Gerichts über den Umfang der Beweisaufuahme auf massive Kritik227 . Um das Beweiserhebungsinteresse des Angeklagten gegenüber der restriktiven Bestimmung des § 207 E 3 effektiver zu sichern, wurden in der Reichsjustizkommission verschiedene Änderungsanträge gestellt: Struckmann (national-liberal) und Reichensperger (Zentrum) wandten sich mit ihren Anträgen gegen das weite Ermessen und forderten, dem § 207 E 3 den Zusatz zu geben, daß das Gericht einen Beweisantrag unter Angabe der Gründe nur dann ablehnen dürfe, wenn es die Aufuahme des Beweises ftlr völlig unerheblich erachte228 • Reichensperger rechtfertigte den Vorschlag damit, daß sich § 207 E 3, der die Bestimmung des Umfanges der Beweisaufuahme "in ungebührlicher Weise ausschließlich dem Gericht" überlasse, nach der in Preußen gemachten Erfahrung sich lediglich zum Nachteil des Angeklagten auswirken werde 229 • Die preußischen Gerichte hätten erfahrungsmäßig die Tendenz gezeigt, die Beweisaufuahmen möglichst zu beschränken, so daß drei Viertel aller Nichtigkeitsbeschwerden wegen unzulässiger Beschränkung der Verteidigung erhoben worden seien 230 • Der Änderungsantrag des Abgeordneten v. Schwarze (Deutsche Reichspartei) verlangte sogar, die Instanzgerichte unter Ausschluß jedweden Ermessens dazu zu verpflichten, die Beweisaufuahme auf alle präsenten Beweismittel zu erstrecken231 • Im Gegensatz zum konkurrierenden Antrag der Abgeordneten 221 Siehe Protokolle der Reichsjustizkommission (Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 852 ff.); Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 61 ff. 228 Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 852. 229 Reichensperger, Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 852; Hanauer, a.a.O., S. 854; Bähr, a.a.O., S. 855. 230 Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 852. In diesem Sinne bereits die bei Liman, Preuß. Strafprozeß, S. 107, Anm. 16, zitierte "Allgemeine (Ministerial-) Verfügung" vom 27. Juni 1855, JMB!. 1855, S. 198, wo es heißt, daß "nach den bei dem Königlichen Ober-Tribunal gemachten Erfahrungen ... am häufigsten" Nichtigkeitsbeschwerde wegen unzulässiger Beschränkung der Verteidigung erhoben wurde, weil der "vom Angekl. beantr. Defensionalbeweis nicht aufgenommen worden sei". 231 Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 852. Damit versuchte der gemäßigt konservative v. Schwarze, der in Sachsen Generalstaatsanwalt war und als Vater der sächsischen Strafprozeßgesetze von 1855 und 1868 gilt (vgl. die Kurzbiographie bei Schubert, in: SchubertlRegge, Entstehung und Quellen, S.24; Landau, Reichsjustizgesetze, S. 174 Fn. 65 m.w.N.) das sächsische System der gebundenen Beweisaufnahme, welches auch in Bayern galt, auf Reichsebene zu etablieren. Eine entsprechende Initiative hatte er schon in der Sachverständigenkommission des Bundesrates, deren Mitglied er war, unternommen. Sein damaliger Antrag (zu § 199 EI) wurde jedoch nicht angenommen; vgl. Protokoll der 18. Sitzung der Bundesratskommission (14. Mai 1873) bei Schubertl Regge, Entstehung und Quellen, S. 210.

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StruckmaruvReichensperger wollte v. Schwarze das richterliche Ennessens bei der Vorprüfung von Beweisbegehren also nicht bloß eingeschränkt, sondern ganz beseitigt sehen. Andererseits bezog sich sein Vorschlag nur auf die präsenten Beweismittel, während die von StruckmaruvReichensperger verlangte Ennessensreduktion für alle Beweisanträge gelten sollte. Die Mitglieder der Reichsjustizkommission entschieden sich bei ihrer Abstimmung tur den Antrag v. Schwarzes232 : Schaffung eines verbindlichen Beweiserhebungsanspruchs hinsichtlich aller ordnungsgemäß präsent gestellten Beweismittel. Geleitet wurden sie dabei von folgenden Überlegungen233 : Zunächst wollte man mit der Gewährung eines selbständigen Mitwirkungsrechts die Rolle des Angeklagten als Prozeßsubjekt unterstreichen: Ebenso wie man den Angeklagten ausreden lasse, müsse ihm gestattet sein, alles das zu produzieren, worauf er sich zu stützen beabsichtige234 • Ein weites gerichtliches Ermessen beeinträchtige dagegen die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten235 , zumal die in verschiedenen deutschen Ländern gemachte Erfahrung lehre, daß die Gerichte dazu neigen, auf Grund einer derartigen Bestimmung die Beweisaufuahrne möglichst zu beschränken236 • Dagegen habe man mit einer gebundenen Beweisaufuahrne, insbesondere in Bayern, gute Erfahrungen gemacht237 • Darüber hinaus sollte der Beweiserhebungsanspruch - im Interesse einer optimalen Wahrheitserforschung - verhindern, daß relevante Beweise verfrüht abgeschnitten werden. Schließlich widerspreche der Entwurf dem System des neuen Verfahrens, da er mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung unvereinbar sei. Eine bestimmte Überzeugung lasse sich nicht gewinnen, bevor alle in Betracht kommenden Beweismittel erschöpft seien. Ob eine Tatsache erheblich sei, lasse sich im voraus nur selten mit voller Gewißheit behaupten 238 : Eine freie Beweiswürdigung sei deshalb wegen der Gefahren für die Wahrheitserforschung kaum denkbar, wenn man dem Gericht zugleich die Entscheidung an-

Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 855. Vgl. auch Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 71 ff. 234 Abg. Marquardsen (national-liberale Fraktion), Hahn, Materialien, Erste Abth., S.854. 235 Bericht der Reichsjustizkommission (Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1560); Abg. v. Schwarze (Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1880). 236 Bericht der Reichsjustizkommission (Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1560); Abg. v. Schwarze (Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1879). 237 Abg. Völk (Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 853, Zweite Abth., S. 1335); Abg. Herz (Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1335); Abg. v. Schwarze (Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1879). 238 Abg. Völk (Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 853, Zweite Abth., S. 1336); Bericht der Reichsjustizkommission (Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1560). 232 233

B. Reichsstrafprozeßordnung vom 1. Februar 1877

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heimsteIle, welche Beweise es erheben wolle 239 . Mit dieser Argumentation, in der schon das später vom Reichsgericht entwickelte Verbot der Beweisantizipation anklingt240, wandten sich die Gegner des Bundesratsentwurfes ersichtlich gegen die von diesem vertretene "Überzeugungstheorie", d.h. die Ansicht, daß als Konsequenz der freien Beweiswürdigung der Richter auch den Umfang der Beweisaufuahme frei bestimmen soll. Bedenken hinsichtlich möglichen Mißbrauchs durch Weitläufigkeit und Verschleppung wurde erwidert, daß durch die Verpflichtung des Angeklagten, die Kosten fi1r die Selbstladung zu übernehmen, ein ausreichendes Regulativ geschaffen see41 . Zudem schade der Angeklagte seiner eigenen Sache, wenn er Zeugen präsentiere, die in den Augen der Richter und Geschworenen die Sache nicht förderten, weil sie nichts Erhebliches wüßten. Schließlich habe sich auch in den Ländern, wo das Gericht schon bislang nicht frei über den Umfang der Beweisaufuahme bestimmen konnte, kein Mißbrauch gezeigf42 . Der Bundesrat mochte dem Kommissionsbeschluß nur zum Teil folgen. Er erklärte sich mit der Modifikation zu § 207 E 3 nur insoweit einverstanden, als die von der Reichsjustizkommission beschlossene Regelung unter Ausschluß der schöffengerichtlichen Sachen (1. und 2. Instanz) auf Verfahren vor dem Landgericht in 1. Instanz, dem Schwurgericht und dem Reichsgericht beschränkt werde 243 . Ohne sich weiterhin auf den behaupteten Zusammenhang zwischen dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung und der freien Bestimmung des Beweisaufuahmeumfangs zu berufen, verknüpfte der Bundesrat nun die Frage nach einer freien oder gebundenen Beweisaufuahme mit dem Rechtsmittel der Berufung244 . Der Bundesrat, der das ursprünglich im "E 3" 239 Abg. v. Schwarze (Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1880); KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 64, hält diesen Satz rur eine bemerkenswerte Aussage zu dem "Wechselspiel der Beweisprinzipien"; hierzu C. 11. 1., 3; 2. Teil: 1. Kapitel, B. I. 1. a) bb)(2)(b). 240 V gl. unten C. 11. 1. 241 Der Abg. Völk meinte zudem, daß es besser sei, im Zweifel eine zu ausgedehnte Beweisaufnahme zu riskieren, als möglicherweise erhebliche Beweise abzuschneiden (Hahn, Materialien, Erste Abth., S.853). Ebenso Abg. Marquardsen: "Stehe ihm die Wahl offen, so ziehe er das Zuviel dem Zuwenig vor." (Hahn, a.a.O., S. 854). 242 Bericht der Reichsjustizkommission (Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1559); Abg. Herz und Völk (Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1335 f.). 243 Beschlüsse des Bundesrates vom 27. 4. 1876 (SchubertlRegge, Entstehung und Quellen, S. 581 ff., 590; vgl. Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1185 f.). Vgl. auch die vorgängigen Anträge Preußens, Sachsens und Badens im Justizausschuß des Bundesrates (SchubertlRegge, Entstehung und Quellen, S. 488, 490, 519). Sachsen und Baden plädierten sogar rur die vollständige Wiederherstellung der Bundesratsvorlage. 244 Vgl. Bericht über die Sitzung des Justizausschusses des Bundesrates (6. - 7. 4. 1876) bei SchubertlRegge, Entstehung und Quellen, S. 574 ff., 579 f.; Rieß, Reichsjustizamt-FS, S. 425; Hagemann, Entstehung, S. 7; Schubert, in: SchubertlRegge, Entstehung und Quellen, S. 27 f. Auch in der Reichsjustizkommission wurde hier ein Zusam5 Schatz

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

noch nicht vorgesehene, erst durch die Reichsjustizkommission24s eingerugte Rechtsmittel der Berufung gegen Urteile der Schöffengerichte billigte, glaubte, in schöffengerichtlichen Sachen mit der Berufung als zweiter Tatsacheninstanz einen genügenden Ausgleich gegen Fehler im erstinstanzlichen Verfahren geschaffen zu haben, so daß eine darüber hinausreichende Garantie, im Sinne einer weitgehenden Einflußnahme des Angeklagten auf die Beweiserhebung, entbehrlich sein würde. In der zweiten Lesung der Reichsjustizkommission wurde vom Abgeordneten v. Puttkammer zu § 207 E 3 ein Änderungsantrag gestellt, der dem geäußerten Vorbehalt des Bundesrates dadurch Rechnung trug, daß er rur schöffengerichtliche Sachen die Wiederherstellung des freien richterlichen Ermessens vorsah246 • Bei den Mitgliedern der Kommission überwog jedoch noch die Auffassung, daß sich nichts Verkehrteres denken ließe, als die Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme dem bloßen Ermessen des Richters preiszugeben, so daß der Antrag v. Puttkammers der Ablehnung verfiel 247 • Die auf einem uneingeschränkten Beweiserhebungszwang fiir präsente Beweismittel beharrende Ansicht der Reichsjustizkommission fiihrte im Oktober 1876 zu einer erneuten Beratung im Justizausschuß des Bundesrates. Württemberg verwies dabei abermals darauf, daß in Sachen, in denen dem Angeklagten die Berufung konzediert werde, eine die gerichtliche Prozeßleitung beschränkende Bestimmung, wie sie die Reichsjustizkommission verlange, nicht gerechtfertigt sei 248 • Auf den entsprechenden Antrag Württembergs verlangte der Bundesrat deshalb erneut, rur schöffengerichtliche Sachen die Vorlage (d.h. § 207 E 3) wiederherzustellen249 • Der Reichstag, dem dieser Einwand durch Schreiben des Reichskanzlers vom 3. November 1876 übermittelt wurde, überwies den umstrittenen Komplex noch einmal an die Reichsjustizkommission2so • Sie mochte dem Vorbehalt des Bunmenhang hergestellt (vgl. z.B. Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1335, 1634, 1879; Hamm, DJZ 191 I, Sp. 3 I 0; aber auch H. -J. Klee, Bestimmung, S. 107). 245 Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 991 ff., Zweite Abth., S. 1385 ff. 246 Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1334 f. 247 Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1337. Vgl. auch den abschließenden Bericht der Reichsjustizkommission nach der zweiten Lesung (Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1559 f.). 248 Antrag Württembergs, zweite Lesung des Entwurfs nach den Beschlüssen der Reichsjustizkommission durch den Justizausschuß des Bundesrates (SchubertlRegge, Entstehung und Quellen, S. 630 ff., 632). 249 Beschlüsse des Bundesrates vom 3 I. Oktober 1876, SchubertlRegge, Entstehung und Quellen, S. 639 ff., 642; Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1597 ff., 1598. 250 Landau, Reichsjustizgesetze, S. 200.

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desrates nur bedingt folgen 251 . In Anbetracht ihrer "Unbedeutenheit,,252 und der zugelassenen Berufung entschied man sich nun dafilr, in schöffengerichtlichen Sachen erster Instanz auf den Beweiserhebungszwang zu verzichten. Ungebunden sollte das Gericht auch in Berufungsverhandlungen bei Übertretungs- und Privatklagesachen sein. Ansonsten folgte die Kommission nicht der Forderung des Bundesrates, bei allen landgerichtlichen Sachen zweiter Instanz auf eine Beweiserhebungspflicht des Gerichts zu verzichten253 . Die Mehrheit im Reichstag schloß sich in ihrer zweiten Plenarlesung dem Votum der Reichsjustizkommission an und stimmte fiir den Entwurf in seiner neuen Kompromißfassung254 . Der Bundesrat betrachtete seinen vorangegangenen Beschluß nach der erfolgten Korrektur als erledigt und erhob keine weiteren Einwände 255 . Damit war der Streit um diese Bestimmung beigelegt. In der Fassung, die sie durch die Reichsjustizkommission erhalten hatte, konnte sie als § 244 StPO (1877) in Kraft treten256 . c) Zwischenergebnis: Die Kompromißlösung § 244 StPO (1877) Der im Vergleich zu verschiedenen fortschrittlichen partikularstaatlichen Regelungen reaktionäre Entwurf des Bundesrates setzte sich somit als § 244 Abs. 2 StPO (1877) filr schöffengerichtliche Verhandlungen durch. Das gleiche galt filr die landgerichtlichen Verfahren in der Berufungsinstanz, sofern

Protokoll der Beratung bei Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1633 f. Abg. Struckmann (Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1633). 253 Damit ist die Reichsjustizkomission im Ergebnis den Forderungen des Bundesrates nur zum Teil gefolgt. Die Reichsjustizkommission konzedierte zwar für schöffengerichtliche Verhandlungen die Befugnis des Gerichts, den Umfang der Beweisaufnahme frei zu bestimmen. Die Forderung des Bundesrates nach einer freien Beweisaufnahme in allen schäjJengerichtlichen Sachen (vgl. Beschluß vom 31. 10. 1876, s.o.) bezog sich jedoch nicht nur auf schäjJengericht/iche Verhandlungen, sondern auch auf Berufungssachen gegen schäjJengerichtliche Urteile (das wird deutlich aus dem ersten Beschluß des Bundesrates vom 27.4. 1876, s.o.). Der Vertreter des Bundesrates Hanauer spricht daher auch von "Schöffensachen erster und zweiter Instanz" (Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1879). Dieser Forderung des Bundesrates, bei allen Berufungsverhandlungen gegen schöffengerichtliche Urteile den Beweiserhebungszwang entfallen zu lassen, verweigerte sich die Kommission jedoch. 254 Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1878 ff., 1880. 255 Vgl. Antrag des Justizausschusses (zu Nr.21) und Protokoll der Bundesratssitzung vom 12. 12. 1876 bei SchubertlRegge, Entstehung und Quellen, S.662; vgl. auch Hahn, Materialien, Zweite Abth., S. 1191 ff. 256 § 206 E 3, der zur Ablehnung eines Beweisantrags einen Gerichtsbeschluß verlangte, und § 208 E 3, der bestimmte, daß die Beweiserhebung nicht wegen verspäteter Präsentation abgelehnt werden darf, wurden weitgehend unverändert als §§ 243 Abs. 2 und 245 Abs. 1 StPO (1877) Gesetz. 251

252

S"

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

es bei letzteren um Übertretungs- oder Privatklagesachen ging2S7 . Den Verzicht auf eine strenge Beweiserhebungspflicht glaubte man deshalb hinnehmen zu können, weil in Schöffengerichtsverfahren mit dem Rechtsmittel der Berufung eine zweite Tatsacheninstanz bestand, wodurch der Angeklagte ausreichend gesichert sei. Für in der Berufungsinstanz zu verhandelnde Übertretungs- und Privatklagesachen argumentierte man mit dem Bagatellprinzip. Eine Bindung des Gerichts sei entbehrlich, weil diese Sachen geringeren Gewichts seien 2s8 . Ansonsten galt mit § 244 Abs. 1 StPO (1877) fiir alle anderen Verfahren das entgegengesetzte Prinzip, d.h. der auf der Initiative des einflußreichen sächsischen Abgeordneten v. Schwarze beruhende und von der Reichsjustizkommission vertretene strikte Beweiserhebungsanspruch: Der Angeklagte hatte einen Anspruch darauf, daß die von ihm kraft seines Ladungsrechts geladenen und auch erschienenen Beweispersonen vernommen werden2s9 . Das gleiche galt in bezug auf die von ihm in der Sitzung präsentierten Urkunden und Augenscheinsgegenstände260 . Selbstladungsrecht und Verwendungszwang bei präsent gestellten Beweismitteln begründeten ein Recht des Angeklagten zu "autonomer Beweisvorfilhrung,,261 . Die StPO gewährte ihm damit einen vom gerichtlichen Ermessen abgelösten Beweiserhebungsanspruch, wie er in dieser Verbindlichkeit bislang nur in Bay-

257 Die forensische Relevanz der gerichtlichen Freiheit nach § 244 Abs. 2 StPO (1877) hält Hagemann, Entstehung, S. 8 f., wegen des geringen Umfanges der damaligen schöffengerichtlichen Zuständigkeiten (vgl. § 27 GVG StPO 1877) filr nicht sehr bedeutend. Kurtze, Ablehnung, S. 3 f., schätzt anhand der Kriminalstatistik des Deutschen Reiches das Verhältnis der Verfahren mit Beweiserhebungspflicht gegenüber solchen mit freier richterlicher Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme wie 7:5 ein. Vormbaum, Lex Emminger, S. 101, meint dagegen, schon bei Inkraftreten der Reichsjustizgesetze sei § 244 Abs. 2 StPO 1877 filr die Mehrheit der verhandelten Sachen anwendbar gewesen. Unstreitig ist hingegen, daß der schöffengerichtliche Zuständigkeitsbereich in den folgenden Jahrzehnten durch mehrere Novellen erweitert wurde. So dehnte insbesondere die "Lex Hagemann", Gesetz, betreffend Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 5. Juni 1905, RGBI. S. 533 (vgl. v. Hippel, Strafprozess, S. 50, 155), die Zuständigkeit der Schöffengerichte aus (1913 war die Vorschrift auf über neunzig Prozent aller Strafsachen anwendbar; vgl. Vormbaum, a.a.O., S. 101; v. Hippel, a.a.O., S. 156 f.) bis schließlich der schöffengerichtliche Zuständigkeitsbereich durch die Emminger-Verordnung 1924 geradezu anschwoll. 258 Vgl. Löwe, StPO, § 244 Anm. 10; Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 21; Julius, Unerreichbarkeit, S. 10, Fn. 20; Vormbaum, Lex Emminger, S. 100. 259 Selbst auf die Vernehmung der vom Gericht (§ 220 StPO 1877) oder von der Staatsanwaltschaft (§ 213 StPO 1877) geladenen Beweispersonen hatte der Angeklagte einen Anspruch. Dem lag der Gedanke der Gemeinschaftlichkeit der vorhandenen Beweismittel zugrunde (Löwe, StPO, § 244 Anm. 6a.). 260 Dazu RGSt I, S. 241 (243). 261 Vgl. Köhler, NJW 1979, S. 348; Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 23.

B. Reichsstrafprozeßordnung vom 1. Februar 1877

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ern bestanden hatte 262 • Eingeschränkt war der Anspruch auf Erhebung der präsenten Beweise allerdings dadurch, daß Zeugen und Sachverständige formell ordnungsgemäß vorgeladen sein mußten. Anders als für sistierte sachliche Beweismittel bestand für lediglich gestellte Auskunftspersonen keine Beweiserhebungspflicht des Gerichts 263 • 3. Anspruch auf Herbeischaffung nicht-präsenter Beweismittel?

Die Frage, wer die Verfügungsmacht über die präsenten Beweismittel in der Hauptverhandlung hat, war also geklärt. Offen blieb, wie mit in der Hauptverhandlung gestellten Beweisanträgen verfahren werden sollte, die auf Herbeischaffung nicht-präsenter Beweismittel oder auf Vernehmung von gestellten, das heißt nicht ordnungsgemäß geladenen Beweispersonen gerichtet waren. § 244 StPO (1877) enthielt jedenfalls aufgrund seines auf präsente Beweismittel beschränkten Anwendungsbereichs keine Aussage darüber, nach welchen Grundsätzen derartige Beweisanträge beschieden werden sollten. Auch § 206 E 3 / 243 Abs. 2 StPO (1877), der zur Ablehnung eines Beweisantrages einen Gerichtsbeschluß verlangte, war insoweit unergiebig, da diese Bestimmung allein eine formelle Abgrenzung der zur Entscheidung über Beweisanträge berufenen Stelle, Vorsitzender oder Gerichtskollegium, vornahm, ohne eine inhaltliche Aussage über die dieser Entscheidung zugrundezulegenden Maßstäbe zu treffen264 . § 208 E 3 / § 245 Abs. 1 StPO (1877), der die Anordnung enthielt, daß eine bloße Verspätung für sich kein ausreichender Ablehnungsgrund sei, enthielt sich diesbezüglich ebenso einer Aussage. Diese Bestimmung besagte lediglich, welches Kriterium bei der Prüfung eines Beweisantrages nicht maßgebend sein dürfe, ohne eine positive Aussage darüber zu enthalten, welche Maßstäbe ansonsten gelten sollen 265 .

262 Allerdings war das Gericht in Bayern nicht gezwungen, präsentierte Urkunden und Augenscheinsgegenstände zu benutzen. Der Beweiserhebungsanspruch galt nur bei Personalbeweis; oben A. H. 4. c). 263 Vgl. RGSt I, 175 (176 f.); I, 198 (198 f.); I, 297 (298); I, 383 (384 f.); Rosenfeid, Strafprozeß, S. 227; Löwe, StPO, § 244, Anm. 2; H.-i. Klee, Bestimmung, S. 112; VI/mann, Lehrbuch, S.470; Samuel, Ablehnung, S. 43; P. Hoffmann, Zeuge, S. 50 f., Fn. 133. Anders Glaser, Handbuch, S. 401, der "gestellte" Zeugen unter den Wortlaut des § 244 Abs. I ("herbeigeschaffte Beweismittel") subsumiert. Kritisch auch Ditzen, Dreierlei Beweis, S. 20, Fn. 1; ausführlich zum Streit: Voitus, Kontroversen, S. 15 ff. 264 Oben 2. a); weiterhin: Glaser, Handbuch, S. 409 f.; H.-i. Klee, Bestimmung, S. 110; Kreuzer, Bestimmung, S. 15 f. 265 Glaser, Handbuch, S. 409 f.; K. Klee, Umfang, GA 77 (1933), S. 87 f.; H.-i. Klee, Bestimmung, S. 111; Kreuzer, Bestimmung, S. 16; Simader, Ablehnung, S. 93.

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l. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

Die Gründe fiir dieses - erstaunliche - Schweigen des Gesetzes sind ungeklärt266 : Ob das Schweigen des Gesetzes beabsichtigt war, oder die Folge eines Versehens, weil eine Regelung über die Behandlung von Beweisanträgen, die auf Herbeischaffung nichtpräsenter Beweismittel abzielen, schlicht "übersehen" wurde 267 , oder ob die stillschweigende Beschränkung der gebundenen Beweisaufnahme auf die präsenten Beweismittel dem französischen Recht entlehnt wurde268 , nach dem nachträgliche Zeugenladungen ohnehin unzulässig waren269 , ist zweifelhaft. Plausibler scheint die Erklärung, daß die Beschränkung auf präsente Beweismittel bewußt liberaler Auffassung entsprang, nach der es Sache des Angeklagten sei, selbständig und eigenverantwortlich fiir die Beibringung der Beweise zu sorgen. Naheliegend ist auch, daß der schließlich gefundene Kompromiß nach unausgesprochener Einschätzung der Reichsjustizkommission das Maximum dessen darstellte, was dem Bundesrat zugunsten der Stellung des Angeklagten abzutrotzen sein würde. Sicher ist nur, daß das Schweigen des Gesetzes zu allerlei Unklarheiten darüber fiihrte, welche Befugnisse dem Gericht bei der Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme in den nicht von § 244 StPO (1877) erfaßten Fällen zustehen sollten. Das Schweigen des Gesetzes wurde zunächst in der Rechtsprechung und im Schrifttum ganz überwiegend dahingehend gedeutet, daß § 244 Abs. 1 StPO (1877) die einzige Einschränkung des richterlichen Ermessens enthalte, so daß es bei den hier infragestehenden Fällen, auf welche die Bestimmung nicht ausdrücklich anwendbar war, bei dem System des Entwurfs bliebe270 • Demzufolge sollte fiir erst in der Hauptverhandlung gestellte Beweisanträge die Aussage des

266 Die Materialien zur Entstehung der StPO sind diesbezüglich wenig aufschlußreich. Obwohl die Argumente, die für einen Beweiserhebungszwang bei präsenten Beweismitteln sprechen, ebenso gegen das freie richterliche Ermessen bei der Bescheidung von auf Herbeischaffung nichtparater Beweismittel gerichteten Beweisanträgen sprechen, mangelt es an einer deutlichen Stellungsnahme zu dieser Frage. Vgl. Glaser/Oetker, Handbuch, S. 697, Anm. 23; Simader, Ablehnung, S. 19; Ditzen, Dreierlei Beweis, S. 29; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S.2 Fn. 7; K. Klee, Umfang, GA 77 (1933), S. 87; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 77 ff. 267 So P. Hoffmann, Zeuge, S. 50, 52. 268 K. Klee, GA 77 (1933), S. 85; vgl. auch Hanauer zu § 207 E 3 in der Reichsjustizkommission (Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 849). 269 Nachträglich geladene Personen konnten nur uneidlich und informatorisch als bloße Auskunftspersonen vernommen werden (K. Klee, GA 77 [1933], S. 85; siehe aber auch Kreuzer, Bestimmung, S. 114, insbes. Fn. 2 m.w.N.). 270 RGSt 1, S. 61 (62); 1, 138 (140); 1, 196 (196 f.); 1, 198 (198 f.); 1,297 (298),1, 315 (316); 1, 383 (384/385); Glaser, Handbuch, S.41O; v. Kries, Lehrbuch, S.556; Ullmann, Lehrbuch, S. 466 ff.; Ditzen, Dreierlei Beweis, S. 29 ff.; Löwe, StPO, § 243 Anm.9; Birkmeyer, Strafprozeßrecht, S.632; vgl. H.-J. Klee, Bestimmung, S. 112 f.; Kreuzer, Bestimmung, S. 16; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 3.

B. Reichsstrafprozeßordnung vom 1. Februar 1877

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§ 207 E 3 sinngemäß fortgelten 271 : Das Gericht bestimmt den Umfang der Beweisaufnahme, ohne hierbei durch Anträge der anderen Verfahrens beteiligten gebunden zu sein.

111. Zusammenfassung und Würdigung

Bei Verfahren vor den Schöffengerichten und bei Berufungsverfahren vor dem Landgericht, sofern es sich um Privatklage- oder Übertretungssachen handelte, lag es im Ermessen des Gerichts, ob und inwieweit es dem Verlangen des Angeklagten auf Erhebung bestimmter Beweise nachkam. Dies galt sowohl fiir präsente Beweismittel wie fiir absente Beweismittel, deren Herbeischaffung erst in der Sitzung begehrt wurde. In diesen Verfahren hatte der Angeklagte lediglich das Recht, selbsttätig Zeugen und Sachverständige vorzuladen oder sachliche Beweismittel mit in die Sitzung zu bringen, ohne daß er jedoch Einfluß auf deren tatsächliche Vernehmung oder Benutzung hatte. In allen anderen Verfahren war zwischen präsenten und nichtpräsenten Beweismitteln zu differenzieren. Bei präsenten Beweismitteln hatte der Angeklagte einen Anspruch auf Beweiserhebung. Die Voraussetzung dieses Anspruchs konnte er bei persönlichen Beweismitteln mittels seines selbständigen Ladungsrechts selbst herbeiftlhren. Damit hatte .er insgesamt eine dem Ermessen des Gerichts entzogene Mitwirkungsbefugnis an der Rekonstruktion des inkriminierten Sachverhaltes. Eine gerichtliche Beweisantizipation war insoweit ausgeschlossen. Hinsichtlich absenter Beweismittel war das Gericht dagegen in der Verfiigung über den Umfang der Beweisaufnahme ungebunden. Beweisanträge des Angeklagten mußten diesbezüglich die richterliche Beweisantizipation durchlaufen. Ein der heutigen Regelung vergleichbares Beweisantragsrecht mit Verbindlichkeitsanspruch, das durch strikte und enumerative Ablehnungsgründe charakterisiert ist, sah die StPO von 1877 nicht vor. Prägendes Strukturmerkmal des deutschen Strafprozesses war damit die Inquisitionsmaxime geblieben. Herr der Beweisaufnahme war das Gericht, das zur selbständigen Erforschung des Sachverhaltes verpflichtet blieb. Abhängig von der Art des Beweismittels, von seiner Präsenz und von dem Verfahren, in dem es Relevanz erlangte, wurde dem Angeklagten aber das Recht zugestanden, den Beweisaufnahmeumfang zum Teil mitzubestimmen. Das Instrument hierfiir war 271 Ein freies richterliches Ermessen wurde teilweise auch mit dem Hinweis auf § 243 Abs. 3 gerechtfertigt, der dem Gericht die Befugnis, nicht aber die Verpflichtung ("kann") zuwies, auf Antrag oder von Amts wegen weitere Beweismittel herbeizuschaffen (vgl. Samuel, Ablehnbarkeit, S. 43; GraJzu Dohna, DJZ 1911, Sp. 305).

72

l. Teil: Historische Entwicklung und Refonngeschichte

sein Selbstladungs- und Präsentationsrecht. Inquisitorische und parteiprozessuale Komponenten standen so im Ergebnis nebeneinander. Die verschachtelte Beweiserhebungsregelung der Strafprozeßordnung von 1877 zeigt sich damit wie das Gesamtwerk der StPO als ein additiver Kompromiß zwischen den liberalen Kräften im Reichstag und dem reaktionär gesinnten Bundesrat, als eine Art Friedensvertrag zwischen Parlament und Krone, liberal-demokratischer und konservativer Idee, Pluralismus und Autorität272 •

C. Die Entwicklung des Beweiserhebungsanspruchs bis zur

"Emminger - Verordnung" vom 4. Januar 1924 I. Reforminitiativen des Gesetzgebers

1. Die Entwürfe 1894 und 1895 Der Reichstag hatte sich erstmalig im Jahre 1894 mit einer Revision des § 244 StPO (1877) zu beschäftigen273 • Der von der Reichsregierung vorgelegte Änderungsentwurf, der E 1894274 , unterschied sich von der geltenden Regelung dadurch, daß die Beweiserhebungspflicht bei präsenten Beweismitteln auf Verfahren vor dem Reichsgericht und dem Schwurgericht beschränkt werden sollte (§ 244 E 1894). Die in schöffengerichtlichen Verfahren geltende Freiheit des Gerichts sollte also auf die landgerichtlichen Stratkammerverfahren erstreckt werden. Die Einschränkung wurde damit begründet, daß die Gerichte durch mißbräuchliche Ausnutzung der gewährten Befugnisse unnötig in Anspruch ge272 Vgl. Stock, Strafprozeßemeuerung, S. 200; Buchka, DJZ 1896, S. 27; Simader, Ablehnung, 18; Julius, Unerreichbarkeit, S. 9; Samuel, Ablehnbarkeit, S. 39; Klimmer, Beweisanträge, S. 10 f; Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 21; Vormbaum, Lex Emminger, S. 45; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 44 f, 72 f 273 Der Entwurf des Bundesrates (E 1885), dem Reichstag am 9. Mai 1885 zugeleitet, enthielt ausweislich der Anlagen zu den Verhandlungen des Reichstages keine Änderung des § 244 StPO (1877); mißverständlich Hagemann, Entstehung, S. ll f., die Reichstagsvorlage (E 1885) und die vorangegangene, inhaltlich abweichende Bundesratsvorlage vennengt. Der ursprüngliche Entwurf (die Bundesratsvorlage), den Bismarck am 8. März 1884 dem Bundesrat vorgelegt hatte, sah nur für Verfahren vor dem Reichsgericht oder dem Schwurgericht eine Verpflichtung des Gerichts zum Gebrauch sämtlicher präsenter Beweismittel vor. Zur Bundesratsvorlage Geyer, GS 37 (1885), S. 372 ff., 391 ff. 274 Der E 1894 war eine Schöpfung des preußischen lustizministeriums. Er folgte weitgehend der Strafprozeßordnung von 1867 (zur gemeinsamen Urheberschaft des Staatssekretärs v. Schelling vgl. Binding, Entwurf, S. I f).

C. Entwicklung bis zur "Emminger-Verordnung" vom 4. Januar 1924

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nommen würden und es durch verwickelte Beweisaufnahmen zu Verschleppungen komme 275 • Darüber hinaus wurde das Beweisvorführungsrecht des Angeklagten wieder in Beziehung zum Rechtsmittel der Berufung gebracht. Da der E 1894 die Einführung einer Berufungsmöglichkeit gegen Strafkammerurteile vorsah, glaubte man im Gegenzug auf die Präsentationsbefugnis des Angeklagten - als eine ebenfalls der Wahrheitserforschung dienende Verfahrensgarantie verzichten zu können276 • Scharf kritisiert wurde der E 1894 durch Binding, der sich vor allem gegen die reaktionäre Grundströmung des Entwurfs und die angestrebte Verfahrensbeschleunigung richtete 277 • So meinte er, daß sich die Tendenz des Entwurfs nur im Tempo von dem alten Inquisitionsprozeß unterscheide. Während sich diese endlos hinzuziehen pflegten, huldige der Entwurf "einer überstürzten Abmacherei und Abschlachterei der Strafsachen". Binding stellte auch die Prämissen, die dem Reformentwurf zugrundelagen, in Frage. Ob die Klagen des Entwurfs über häufige Prozeßverschleppungen in Preußen zuträfen, wisse er zwar nicht, doch aus Sachsen und den süd- und mitteldeutschen Ländern seien ihm jedenfalls überlange Verfahren unbekannf78 • Der Entwurf wurde zunächst in mehreren Reichstagssitzungen beraten und hierauf einer Kommission überwiesen. Dort erledigte er sich dann aber durch den Ablauf der Sitzungsperiode279 • Bereits am 13. Dezember 1895 erneuerte jedoch die Reichsregierung ihre Reforminitiative durch erneute Vorlage (E 1895)280 . In der hierauf vom Reichstag eingesetzten Kommission kam es zu einer kontroversen Debatte, ob die bisherige Regelung beizubehalten oder abzuändern sei 281 . Der Regierungsvorlage des E 1895 vermochte sich die Reichstagskommission jedenfalls nicht anzuschließen. Den auf eine freiere Stellung des Gerichts abzielenden Forderungen kam die Reichstagskommission jedoch insoweit entgegen, als in die bisherige Fassung des § 244 StPO (1877) ein Ab-

275 Begründung zum E 1894 (RT-Verh., 9. Legislaturperiode, III. Session 1894/95, Bd. I, Nr. 15, S. 66). 276 Vgl. Begründung zum E 1894, a.a.O., S. 62 ff., 66. 277 Binding, Entwurf, S. 1 ff., 11 ff., 17; zur Kritik auch Buchka, DJZ 1896, S. 29. 278 Binding, Entwurf, S. 4. 279 Vgl. Löwe/Rosenberg, StPO, 19. Aufl., Einführung S. 13; Buchka, DJZ 1896, S. 27, 29. 280 Vgl. Löwe/Rosenberg, StPO, 19. Aufl., Einführung S. 13; H. -J. Klee, Bestimmung, S. 120; Hagemann, Entstehung, S. 13; Rieß, Reichsjustizamt-FS, S. 425 f.; P. Hoffmann, Zeuge, S. 54 f., der allerdings Regierungsvorlage (EI895) und die späteren Beschlüsse der Reichstagskommission miteinander verwechselt. Der E 1895 war Gegenstand der Kommissionsberatungen, nicht deren Produkt. 281 Bericht der Reichstagskommission zum E 1895, RT-Verh., 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, Bd. 3, Nr. 94, S. 1586 ff.

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

lehnungsgrund aufgenommen werden sollte282 : Vorgesehen war, daß in erstinstanzlichen Strafkammerverfahren das Gericht die Befugnis haben sollte, die Erhebung eines Beweises abzulehnen, wenn es die zu beweisende Tatsache einstimmig filr unerheblich erachtete. In seiner zweiten Plenarlesung beschloß der Reichstag sogar über den Ablehnungsgrund der Unerheblichkeit hinaus einen weiteren einzufilgen283 : Das Gericht sollte ebenfalls befugt sein, die Beweiserhebung abzulehnen, wenn es die zu beweisende Tatsache zugunsten des Angeklagten filr erwiesen ansah284 • Der gesamte Entwurf scheiterte jedoch schließlich daran, daß sich der Reichstag und die verbündeten Regierungen über Fragen der Gerichtsorganisation 285 nicht einigen konnten286 . Damit blieb es bei der Regelung von 1877. 2. Der Entwurf 1905

Am 19. April 1902 beschloß der Reichstag, die Länder aufzufordern, einen neuen Reformentwurf zum Gerichtsverfassungsverfassungsgesetz und zur Strafprozeßordnung vorzulegen287 • Agens dieser vom Reichstag ausgehenden Initiative zur Reformierung des geltenden Rechts war das Bestreben, gegen erstinstanzliehe Entscheidungen der Strafkammern endlich eine Berufungsmöglich-

282 Die Mehrheit für eine Änderung des geltenden Rechts war in der Reichstagskommission gering. Bei der Endabstimmung votierten 9 gegen 12 Stimmen dafür, es uneingeschränkt bei der bestehenden Gesetzesfassung zu belassen (vgl. Bericht der Kommission, a.a.O., S. 1588). 283 Vgl. Zusammenstellung der Reichstags-Beschlüsse, RT-Verh., 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, Bd. 5, Nr. 587, S. 2636 ff. 284 Mit der ausdrücklichen Formulierung von Ablehnungsgrunden im E 1895 zeichnete sich, wie schon zuvor in Sachsen und Kurhessen (oben A. 11. 4. d), eine Veränderung der gesetzestechnischen Herangehensweise ab: Der Übergang von ermessensleitenden Richtlinien zu einem Regel-Ausnahme-System, (Rieß, Reichsjustizarnt-FS, S. 426; vgl. auch unten 2. Teil: I. Kapitel, B. I. 1.). 285 Man gelangte zu keiner Einigung über die Besetzung der Strafkammern, so daß der Bevollmächtigte des Bundesrates schließlich auf eine weitere Verfolgung der Novelle verzichtete. Vgl. Erklärung des Geheimrats Nieberding, RT-Verh., IX. Legislaturperiode, IV. Session 1895/97, Bd. 5, S. 3935. Außerdem Gm/zu Dohna, Strafprozeßrecht, S. 9; H. -J. Klee, Bestimmung, S. 121; v. Hippel, Strafprozess, S. 65 Fn. 3. 286 In der Session 1897/98 nahm der Abg. Rintelen die erfolglos gebliebenen Reformversuche wieder auf (Löwe/Rosenberg, StPO, Einleitung, S. 14). Er brachte am 30. November 1897 erneut einen das GVG und die StPO betreffenden Änderungsvorschlag ein (RT-Verh., 9. Legislaturperiode, V. Session 1897/98, Anlage I, Nr. 33, S. 331 ff.). Hinsichtlich der Beweisaufnahmeregelung entsprach sein Antrag den Beschlüssen des Reichstags zum E 1895 in zweiter Lesung. Der Antrag wurde wiederum einer Kommission überwiesen, die ihm einstimmig beitrat und am 2 I. März 1901 hierüber Bericht erstattete (RT-Verh., 10. Legislaturperiode, 11. Session 1900/1902, Anlagebd. 2, Nr. 220, S. 1368 ff.). Auch dieser Reformversuch blieb aber erfolglos. 287 Löwe/Rosenberg, StPO, 19. Aufl., S. 14.

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keit zu eröffnen288 • Die darauf eingesetzte Sachverständigenkommission veröffentlichte 1905 - nach über zweijähriger Beratung - ihre Vorschläge 289 • Obwohl ein Teil der Kommission vorschlug, die gerichtliche Verwendungspflicht gegenüber präsenten Beweismitteln einzuschränken 290 , beharrte die Kommissionsmehrheit zunächst darauf, daß § 244 Abs. I StPO (1877) eine derart wichtige Garantie fiir die Erforschung der Wahrheit darstelle, daß auf diese Bestimmung auch bei Einfiihrung der Berufung nicht verzichtet werden könne291 • In erster Lesung wurde es deshalb abgelehnt, die Verwendungspflicht zu beschränken. Diskutiert wurden in der Kommission auch Klagen über in Verschleppungsabsicht gestellte Beweisanträge292 • Bemängelt wurde, daß es fiir deren Ablehnung an einer sicheren Grundlage fehle. Um diesbezüglich zu einer eindeutigen gesetzlichen Regelung zu gelangen, wurde beantragt, eine Bestimmung aufzunehmen, die es dem Gericht erlauben sollte, Beweisanträge abzulehnen, falls es zu der Ansicht komme, der Antrag sei nur zur Verschleppung der Sache gestellt293 • Auch dieser Antrag wurde jedoch in der ersten Kommissionslesung ablehnend beschieden. Die Mehrheit der Kommission war der Auffassung, der Antrag sei wegen der Rechtsprechung des Reichsgerichtes, die zu gleichen Resultaten komme, überflüssig294 • In der zweiten Lesung der Kommission zeichnete sich dann ein Meinungsumschwung ab. Während ein Teil der Kommission die bisherige Bestimmung über die präsenten Beweismittel, § 244 StPO (1877), aufrechterhalten wollte 295 und sogar ein Antrag auf Einbeziehung auch der gestellten Beweispersonen eingebracht wurde 296 , kam die Mehrheit der Kommissionsmitglieder überein, in § 244 StPO (1877) die Bestimmung einzurugen, daß das Gericht in den beiden Tatsacheninstanzen fiir die mittlere und große Kriminalität297 die Erhebung einzelner Beweise ablehnen können sollte, wenn es die zu beweisenden Tatsachen zu Gunsten des Angeklagten fiir erwiesen oder aber einstimmig fiir unerheblich

Löwe/Rosenberg, StPO, 19. Aufl., S. 14. LR-Schäfer, Einl. Kap. 4 Rn. 3. 290 Protokolle der Kommission zum E 1905, Bd. 1, S. 238 ff., 241. 291 Protokolle der Kommission zum E 1905, Bd. 1, S. 240 f. 292 Protokolle der Kommission zum E 1905, Bd. 1, S. 243. 293 Protokolle der Kommission zum E 1905, Bd. I, S. 243. 294 Protokolle der Kommission zum E 1905, Bd. 1, S. 243. 295 Protokolle der Kommission zum E 1905, Bd. 2, S. 120 f. 296 Protokolle der Kommission zum E 1905, Bd. 2, S. 122. 297 Nach den Beschlüssen der Kommission sollten die bestehenden Strafkammern und Schwurgerichte in mittlere und große Schöffengerichte umgewandelt werden (vgl. Protokolle der Kommission zum E 1905, Bd. 2, S. 119). 288 289

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erachtete298 • Für den Bereich kleinerer Kriminalität sollte es bei der ungebundenen Stellung des Gerichts nach § 244 Abs. 2 StPO (1877) bleiben299 . Deutlich unterschieden wurde jetzt auch zwischen dem Umgang mit präsenten Beweismitteln und der Behandlung erst in der Hauptverhandlung gestellter Beweisanträge. Für die Verbescheidung von Beweisanträgen wurde angeregt, § 245 StPO (1877) - das Präklusionsverbot - zu modifizieren3°O. § 245 StPO (1877) sollte durch die Bestimmung ersetzt werden, daß die Beweiserhebung abgelehnt werden kann, wenn das Beweismittel oder die zu beweisende Tatsache erst nach Zustellung der Ladung zur ersten Hauptverhandlung in der Instanz vorgebracht wird. Das sollte ausnahmsweise nicht gelten, wenn der Antragsteller glaubhaft machen kann, daß er den zu beweisenden Umstand vorher nicht gekannt oder der Anlaß zu der Beweiserhebung sich erst in der Hauptverhandlung ergeben habe. Diese Kombination von Beweisantragspräklusionen und erhöhten Substantiierungslasten, die heute wieder diskutiert wird301 , konnte sich jedoch 1905 noch nicht durchsetzen. Der Antrag wurde nach Kritik aus der Kommission zurückgezogen302 . In der Literatur wurde der E 1905 überwiegend getadele03 . Nicht weit genug ging der Entwurf v. Spindler, der sich gegen jede Bindung des Gerichts bei der Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme aussprach304 . Den wesentlichen Mißständen, die in fast allen größeren Strafprozessen der neueren Zeit hervorträten, sei nur durch eine freie Ablehnungsbefugnis der Gerichte abzuhelfen. Diese sei umso dringlicher, als nicht nur häufig "böse Absicht" der Angeklagten die Wahrheitserforschung behindere und Verschleppungen herbeiftlhre. Man dürfe die Augen auch nicht vor der Entwicklung verschließen, daß in jüngerer Zeit "in den Rechtsanwaltsstand Elemente gelangen, welche dorthin nicht gehören" und es demgemäß "bergab mit der Integrität des Anwaltstandes" gehe 30S . Völlig konträr war demgegenüber die Bewertung durch Heinemann, der sich gegen eine Beschränkung des Angeklagteneintlusses auf die Beweisaufuahme 298 Protokolle der Kommission zum E 1905, Bd. 2, S. 118 f.; Kommissionsbeschluß Nr. 185, in: Protokolle der Kommission zum E 1905, Bd. 1, S. 29. 299 Vgl. Kommissionsbeschlüsse Nr. 184, 185, in: Protokolle der Kommission zum E 1905, Bd. 1, S. 28 f. 300 Protokolle der Kommission zum E 1905, Bd. 2, S. 124 f. 301 Vgl. etwa die Vorschläge von Gössel in seinem Gutachten zum 60. DJT (1994), C 61 ff.; unten J. VII. 6. 302 Protokolle der Kommission zum E 1905, Bd. 2, S. 125. 303 Löwe/Rosenberg, StPO, 19. Aufl., Einleitung, S. 14; H-J Klee, Bestimmung, S. 127 m.w.N. 304 v. Spindler, Hauptverhandlung, S. 461 ff. 305 v. Spindler, Hauptverhandlung, S. 472 f.

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wendete. Er sah das einzige wirkliche Recht des Angeklagten, daß die geladenen Zeugen und Sachverständigen vernommen werden müssen, durch den Entwurf materiell annulliert306 • Dem von v. Spindler und anderen vertretenen Standpunkt, daß es eines erzwingbaren Anspruchs auf Beweiserhebung nicht bedürfe, da das Gericht ohnehin zur Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtet sei und man zu dem Gericht das Vertrauen haben könne, es werde die Verteidigungsinteressen gebührend wahren 307 , hielt Heinemann entgegen, daß sich von dieser Auffassung aus die ganze Strafprozeßordnung über Bord werfen und durch einen einzigen Paragraphen ersetzen ließe: "Der Richter, zu dem wir das erforderliche Vertrauen haben, bestimmt das Verfahren, auf Grund dessen er das materielle Strafrecht anwendet, nach freiem Ermessen.,,308.

Vom Gesetzgeber wurde der E 1905 zunächst nicht unmittelbar weiterverfolgt. Auf die Beschlüsse der Reformkommission zum E 1905 hin wurde jedoch im September 1908 ein weiterer Entwurf vorgestellt. 3. Die Entwürfe 1908 und 1909

Dieser Entwurf (E 1908) war auf Betreiben des Reichsjustizarntes ausgearbeitet worden 309 • Nachdem sich mit ihm der Bundesrat auseinandergesetzt hatte, wurde er, sprachlich neu formuliert, sachlich jedoch unverändert, im März 1909 dem Reichstag vorgelegt (E 1909i 10 • Da er dort nicht mehr zur Beratung kam, wurde er im November ohne ModifIkation erneut eingebracheIl . Inhaltlich stellen E 19081E 1909 insoweit ein Novum dar, als sie das System von Ablehnungsgründen rezipierten, das vom Reichsgericht in den drei Jahrzehnten

306 Heinemann, ZStW 26 (1906), S. 507 ff., 530 ff. 307 Vgl. v. Spindler, Hauptverhandlung, S.464, 468; außerdem: v. Campe, DJZ 1916, Sp. 1012 ff.; K. Klee, GA 77 (1933), S. 84 f., 96. 308 Heinemann, ZStW 26 (1906), S.533. Mit diesem ironischen Einwurf unterstreicht Heinemann die zeitlose strafprozessuale Einsicht von der Notwendigkeit und dem Wert prozessualer Formen. Dazu schon Zachariae (Handbuch I, S. 145 f.; ders., Gebrechen, S. 93), der von "schützenden Formen" sprach; vgl. weiter Eb. Schmidt, FSKohlrausch, S. 295 ff.; ders., ZStW 61 (1942), S. 460 f.; ders., JZ 1958, S. 601; ders., NJW 1969, S. 1139 ff.; ders., LK I Rn. 22 f.; ders., Kolleg, Rn. 6; v. Stackelberg, AnwBI 1959, S. 192 f.; allg. zum Formalismus im Verfahrensrecht Baur, Richtermacht, S. 97 ff.; aus verfassungsrechtlicher Sicht Bäckenfärde, Recht-Staat-Freiheit, S. 166. 309 Entwurf einer Strafprozeßordnung und Novelle zum Gerichtsverfassungsgesetze nebst Begründung, Berlin 1908; v. Hippel, Strafprozess, S. 66; Läwe/Rosenberg, StPO, 19. Aufl., Einleitung, S. 14. 310 RT-Verh., XII. Legislaturperiode, I. Session, 1907/09, Bd.254 (Anlagen), Nr. 1310. 311 RT-Verh., XII. Legislaturperiode, 2. Session, Bd. 270 (Anlagen), Nr. 7.

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

nach Inkraftreten der Strafprozeßordnung erarbeitet worden war3l2 . So wurde neben der Bestimmung über präsente Beweismittel ein entsprechender Katalog von enumerativ gedachten Ablehnungsgründen aufgenommen (§ 232 Abs. 2 E 19081E 1909)313. Dieser sollte die bestehende gesetzliche Lücke ausfüllen, die daraus resultierte, daß die § § 243 - 245 StPO (1877) die Frage offen gelassen hatten, wie Anträge zu behandeln sind, die auf Herbeischaffung nichtpräsenter Beweismittel abzielen 314 . Der Entwurf erkannte ausdrücklich an, daß dem Angeklagten ein angemessener Einfluß auf die Gestaltung der Beweisaufnahme einzuräumen sei3!5 . Diese Einsicht war nicht neu 316 . Die Novität lag vielmehr in der Umformung des gesetzes technischen Instrumentariums, das diesen Einfluß gewährleisten sollte317 . Von einer bloßen Verwendungspflicht bei präsenten Beweismitteln kam man zu einem Beweisantragsrecht nach modernem Verständnis 318 . Die heutige Regelung des § 244 Abs. 3 StPO zeigte damit bereits 1908/09 Konturen. Der neue Ablehnungskatalog des § 232 Abs. 2 E 190811909 muß im Zusammenspiel mit der Regelung über die präsenten Beweismittel in § 232 Abs. 3 E 190811909 gesehen werden 319 . Diese Bestimmung sollte zum Teil den Ab-

312 In der Reichstagskommission, die über den Entwurf zu beraten hatte, war anerkannt, daß der Entwurf eine Legalisierung der Judikatur des Reichsgerichts anstrebte (vgl. Harreß, Ablehnbarkeit, S. 5). 313 Beantragte Beweiserhebungen sollten ablehnbar sein, wenn sich die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit erübrigt hat, die zu beweisende Tatsache bedeutungslos oder schon erwiesen, oder wenn das Beweismittel unerreichbar oder ungeeignet ist. Die ausdrückliche Aufnahme einer Ablehnungsmöglichkeit wegen Verschleppungsabsicht wurde als entbehrlich angesehen, da man der Auffassung war, in solchen Fällen liege bereits tatbestandlich kein Beweisantrag vor (vgl. Miltner, Recht 1902, S. 569), so daß der enumerative Ablehnungskatalog ohnehin keine Anwendung finde; siehe Begründung zum E 1909 (RT-Verh., XII. Legislaturperiode, II. Session 1909/1911, Bd.270 [Anlagen], S. 158); Kommissionsbericht zum E 1909, RT-Verh., a.a.O., Bd. 277 (Anlagen), Nr. 638, S. 3313. Eine Ablehnungsbefugnis bei Wahrunterstellung der behaupteten Tatsache wurde abgelehnt, weil eine solche Ermächtigung im Widerspruch zur Aufgabe des Gerichts stehe, die Wahrheit zu ermitteln (Begründung zum E 1909 [a.a.O., Bd. 270, S. 159]; dazu Conrad, DJZ 1911, Sp. 1323). 314 Begründung zum E 1909 (RT-Verh., XII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 270 [Anlagen], S. 157). 315 Begründung zum E 1909 (RT-Verh., XII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 270 [Anlagen], S. 157). 316 Vgl. etwa Begründung zum E 3 (Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 178 f.). 317 Rieß, Reichsjustizamt-FS, S. 426. 318 Bei der Kritik am E 1909 stand die Einschränkung des Präsentationsrechtes im Mittelpunkt, die Normierung verbindlicher Ablehnungsgründe fand dagegen wenig Beachtung (Rieß, Reichsjustizamt-FS, S.427, Fn. 219; vgl. auch v. Lilienthal, ZStW 29 [1909], S. 554 ff.). 319 Rieß, Reichsjustizamt-FS, S. 427, weist ebenfalls auf den Zusammenhang bei der Bestimmungen hin.

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lehnungskatalog ergänzen, zum Teil aber auch einschränken: Mit Ausnahme der Verfahren vor dem Reichsgericht und den Schwurgerichten sollte das Recht zur Beweisvorfiihrung mit dem Beweisantragsrecht verzahnt werden 320 • So war vorgesehen, das Präsentationsrecht des Angeklagten bei präsenten Beweismitteln dergestalt in das Beweisantragsrecht zu integrieren, daß deren Verwendung im Unterschied zum bislang geltenden Reche 21 von der Stellung eines Beweisantrags abhängig sein sollte 322 . Die angeregte Erstreckung des Ablehnungskataloges auf den Bereich der präsenten Beweismittel hätte zur Folge gehabt, daß beantragte Beweiserhebungen künftig einheitlich und unabhängig von der Präsenz des Beweismittels anhand der in § 232 Abs. 2 E 190811909 genannten Modalitäten zu beurteilen gewesen wären 323 . Damit war zwar zu Ungunsten des Angeklagten die Beseitigung des unbedingten Beweiserhebungsanspruchs in Strafkammersachen vorgesehen 324 • Jedoch sollte das Ablehnungssystem des Abs. 2 über das bisherige Recht hinausgehend auch filr schöffengerichtliche Verhandlungen gelten, wo bislang noch das freie, ungebundene Ermessen des Gerichts waltete 325 . In der Reichstagskommission, der der Entwurf am 15. Januar 1910 überwiesen wurde, kam es zu einer vehementen Auseinandersetzung über § 232 E 19081 1909326 • Bezüglich § 232 Abs. 2 wurden einerseits einzelne Ablehnungsgründe

320 Für die Verfahren vor dem Reichsgericht und den Schwurgerichten sollte es dagegen bei der strikten Verwendungspflicht gegenüber präsenten Beweismitteln bleiben, eine Verzahnung mit dem Ablehnungskatalog nach § 232 Abs. 2 E 190811909 also nicht erfolgen; vgl. Begründung zum E 1909, RT-Verh., XII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 270 (Anlagen), S. 160. J2l V gl. Miltner, Recht 1902, S. 568. 322 Begründung zum E 1909 (RT-Verh., XII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 270 (Anlagen), S. 161). Dazu Hagemann, Entstehung, S. 15, und Rieß, Reichsjustizamt-FS, S. 427, der darauf hinweist, daß diese Regelung in formeller Hinsicht eine Einschränkung bedeutet hätte, da als Konsequenz der Kopplung des Verwendungszwanges an einen formgerechten Beweisantrag, dem Angeklagten die Angabe eines bestimmten Beweisthemas auferlegt worden wäre. 323 Hagemann, Entstehung, S. 15 f. 324 Die Aufgabe des unbedingten Präsentationsrechtes in den landgerichtlichen Strafkammersachen sollte unbedenklich sein, weil in der vorgesehenen Einruhrung der Berufung eine ausreichende Verfahrensgarantie gesehen und als besondere Kautel rur diese Verfahren ein einstimmiger Beschluß des Gerichts verlangt wurde. Vgl. Begründung zum E 1909 (RT-Verh., XII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 270 [Anlagen], S. 160); Hamm, DJZ 1911, Sp. 310. 325 § 244 Abs. 2 StPO (1877); vgl. Kommissionsbericht zum E 1909, RT-Verh., XII. Legislaturperiode, II. Session 1909/1911, Bd. 277 (Anlagen), Nr. 638, S. 3313; ebenso Begründung zum E 1919, S. 56. 326 Vgl. Kommissionsbericht zum E 1909, RT-Verh., XII. Legislaturperiode, II. Session 1909/1911, Bd. 277 (Anlagen), Nr. 638, S. 3309 ff.

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kritisiert und sogar die Streichung des gesamten Absatzes verlangt327, andererseits aber auch dessen Erweiterung durch Hinzufiigung weiterer Gründe gefordert328 . Gegen eine Einschränkung des Beweisvorfiihrungsrechts nach § 232 Abs. 3 E 1908/1909 wurde eingewandt, daß diese Vorschrift "altes deutsches Recht" sei und seit 1848 in Bayern praktiziert329 . Dabei wird noch einmal auf die Bemühungen und Argumente verwiesen, unter denen die Vorschrift auf Betreiben v. Schwarzes und Völks in das Gesetz 1877 aufgenommen wurde. Da erst das freie Beweisrecht zu der heutigen Höhe des Strafverfahrens gefiihrt habe, so wurde argumentiert, empfehle sich eher eine Ausdehnung auch auf schöffengerichtliche Verfahren, als eine Einschränkung. Das Kompensationsargument, der Beweiserhebungsanspruch könne als ausgleichende Verfahrensgarantie bei Einfiihrung der Berufung entfallen330 , wurde verworfen. Da die Berufungsinstanz es wieder in der Hand habe, den Umfang der Beweisaufuahme zu bestimmen, lasse sich die Einschränkung des Präsentationsrechtes nicht mit der Gewährung einer zweiten Tatsacheninstanz rechtfertigen 331 . Schließlich einigte sich die Kommission in zweiter Lesung darauf, § 232 Abs. 2 E 190811909 zu biIIigen332 . Der Zwang zur Verwendung präsenter Beweismittel sollte fiir Verhandlungen vor dem Landgericht beibehalten und sogar auf Verfahren vor den Amtsgerichten ausgedehnt werden333 . An dem Antragserfordernis wollte man hingegen festhalten 334 . Dementsprechend sprach der Beschluß der Reichstagskommission nicht davon, daß die Beweisaufuahme auf die präsentierten Beweismittel zu erstrecken sei (vgl. § 244 Abs. 1 StPO [1877]), sondern daß bei ihrer Präsenz der Antrag nicht abgelehnt werden dürfe. Ausge327 Vgl. die diversen Anträge im Kommissionsbericht E 1909, RT-Verh., XII. Legislaturperiode, 11. Session 1909/1911, Bd. 277 (Anlagen), Nr. 638, S. 3309 f1, 3313 f1 328 "Wahrunterstellung" (Verbesserungsantrag d.) bzw. (Abs. 1) "Verschleppung" (Verbesserungsantrag c.). Kommissionsbericht zum E 1909, RT-Verh., XII. Legislaturperiode, 11. Session 1909/1911, Bd. 277 (Anlagen), Nr. 638, S. 3310. 329 Kommissionsbericht zum E 1909, RT-Verh., XII. Legislaturperiode, 11. Session 1909/1911, Bd. 277 (Anlagen), Nr. 638, S. 3311 f.; abweichend: Graf zu Dohna, DJZ 1911, Sp. 308 f. (gegen eine Sonderbehandlung der präsenten Beweismittel, statt dessen ausnahmslose Anwendung des Ablehnungskatalogs des § 232 Abs. 2 auch auf das absente Beweismaterial). 330 Vgl. Hamm, DJZ 1911, Sp. 310. 331 Kommissionsbericht zum E 1909, RT-Verh., XII. Legislaturperiode, 11. Session 1909/1911, Bd. 277 (Anlagen), Nr. 638, S. 3312. 332 Angenomen wurde der Hauptantrag Nr. 14 (Kommissionsbericht zum E 1909, RT-Verh., XII. Legislaturperiode, 11. Session 1909/1911, Bd.277 [Anlagen], Nr. 638, S. 3314); Zusammenstellung der Beschlüsse und synoptische Darstellung mit dem Entwurf im Kommissionsbericht, a.a.O., S. 3592 f. 333 Hagemann, Entstehung, S. 18; Harreß, Ablehnbarkeit, S. 6. 334 Hagemann, Entstehung, S. 18; Rieß, Reichsjustizamt-FS, S. 427.

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nommen von der strikten Beweiserhebungspflicht bei präsentem Beweis wurden Privatklage- und Übertretungssachen335 • Darüber hinaus sollte das Gericht gegenüber Sachverständigen- und Augenscheinsbeweisen eine freie Stellung haben336 • Den Entwurf ereilte jedoch das Schicksal seiner Vorgänger. Anfang des Jahres 1911 wurde zwar im Reichstag mit der Verhandlung des Entwurfs in zweiter Lesung begonnen, dort aber im Rahmen der Beratung über das Gerichtsverfassungsgesetz wegen mangelnder Einigung über die Besetzung der Berufungsgerichte abgebrochen 337 • Mit dem Ablauf der Legislaturperiode im Herbst 1911 scheiterte das Reformwerk endgültig338 • Weitere Reformbestrebungen wurden bis auf weiteres durch den Weltkrieg verhindert339 .

4. Der Entwurf 1919/1920 ("Goldschmidt-Entwurf') Unmittelbar nach dem politischen Umbruch 1918 und noch vor dem Inkrafttreten der Weimarer Verfassung (14. August 1919) setzten in der jungen Republik die Reformbestrebungen wieder ein. Bereits im April 1919 wurde der Nationalversammlung eine umfassende Novelle in Aussicht gestene 40 • Anfang Januar 1920 veröffentlichte Reichsjustizminister Schiffer den Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen (E 1919/1920), den er bereits Ende

335 § 232 Abs. 4 nach dem Kornrnissionsbeschluß in zweiter Lesung. Vgl. Kornrnissionsbericht zum E 1909, RT-Verh., XII. Legislaturperiode, 11. Session 1909/1911, Bd. 277 (Anlagen), Nr. 638, S. 3316 und Zusammenstellung S. 3593. 336 Die Exemtion des Sachverständigen- und Augenscheinsbeweises vom strengen Beweisrecht sollte sowohl für den Ablehnungskatalog des § 232 Abs. 2 als auch für die Verwendungspflicht bei präsentierten Beweismitteln i.S.v. § 232 Abs.3 gelten; vgl. Kommissionsbericht zum E 1909, RT-Verh., XII. Legislaturperiode, 11. Session 1909/ 1911, Bd. 277 (Anlagen), Nr. 638, S. 3315; Rosen/eId, Strafprozeß, S.229 f., Fn.20; Hagemann, Entstehung, S. 18; Rieß, Reichsjustizamt-FS, S. 427. 337 Der Reichstag verlangte die die Mitwirkung von Laien auch in der Berufungsinstanz, während der Bundesrat die Zulassung von Laien strikt auf erstinstanzliche Verfahren beschränkt sehen wollte. Vgl. Löwe/Rosenberg, StPO, 19. Aufl., Einleitung, S. 15; Goldschmidt, Reform, S. 8. m v. Hippel, Strafprozess, S. 66; Gra/zu Dohna, Strafprozeßrecht, S. 9. 339 Für die zeitgenössische Literatur waren die kriegsbedingten Zustände allerdings Anlaß, Beschränkungen für das Beweisrecht des Angeklagten zu fordern. Gegenstand der Kritik war besonders die Verpflichtung der Gerichte zur Verwendung der präsenten Beweismittel (§ 244 Abs. 1 StPO [1877]), die verantwortlich gemacht wurde für unnötige Verfahrensverzögerungen (Graßhoff, DJZ 1917, Sp.479; Petri, DJZ 1917, Sp. 164; Plaschke, DJZ 1917, Sp. 26; v. Campe, DJZ 1916, Sp. 10 12 f.). In der langen Dauer von Strafverfahren wurde "ein Hohn auf den Drang der Zeit, eine unnütze, dem Ernste der Zeit nicht entsprechende, Vergeudung wichtiger volkswirtschaftlicher Kräfte" gesehen (Graßhoff, a.a.O., Sp. 477). 340 Goldschmidt, Reform, S. VII.

6 Schalz

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

des vorangegangenen Jahres dem Reichsrat zur Einbringung in die Nationalversammlung vorgelegt hatte34I . Der maßgeblich von dem liberalen Prozeßtheoretiker James Goldschmide 42

(H Prozeßrecht kann nur auf dem Boden des Liberalismus oder ... gar nicht gedeihen ,,)343 verfaßte Entwurf übernahm weitgehend die Beschlüsse der Reichstagskommission zu § 232 E 190811909 als § 237 E 191911920 344 • Insoweit kann auf die obige Darstellung verwiesen werden. Über die Kommissionsbeschlüsse hinaus wurde jedoch als weiterer Ablehnungsgrund die "völlige Untauglichkeit" des Beweismittels eingefUgt, der in den Kommissionsberatungen noch verworfen worden war. Außerdem wurde vorgeschlagen, das strenge Beweisrecht auch auf den Sachverständigen- und Augenscheinsbeweis zu erstrekken 34s . Für eine Prozeßreform, wie sie Goldschmidt mit dem E 191911920 vorschwebte, standen die Zeichen nach dem politischen Rechtsruck als Folge des Kapp-Putsches (März 1920) jedoch schleche 46 . Die Regierungsvorlage scheiterte bereits an der Kritik aus dem Reichsrat, ohne überhaupt der Nationalversammlung oder später dem Reichstag vorgelegt worden zu sein347 . Preußen vertrat diesbezüglich die Auffassung, die Entwürfe eigneten sich nicht zur Weiterberatung, da sie "zu kompliziert und ... unter den durch den Kriegsausgang geschaffenen Verhältnissen viel zu teuer" seien348 . Außerdem sah man in dem Entwurf, insbesondere in der Praxis, eine allzu weit reichende Liberalität, die die Beschuldigtenrechte einseitig vor die Belange einer funktionstüchtigen Stratrechtspflege stelle349 . Der E 191911920 wurde deshalb auch als "Verbrecherschutzgesetz" bezeichnee so .

Rentzel-Rothe, Entwurf, S. 200 f. Zur Person und zur maßgeblichen Beteiligung Goldschmidts am E 1919/1920 siehe Rentzel-Rothe, Entwurf, S. 56 ff.; vg!. auch Jescheck, Rechtsvergleichung, S. 15; AKJStPO-Schreiber, Ein!. I Rn. 6. 343 Goldschmidt, Prozess als Rechtslage, S. V. 344 Vg!. Hauptantrag 14 (2.Lesung) zum E 1908/1909 (oben unter 3.); vg!. auch Alsberg, JW 1920, S. 258. 345 Begründung zum E 1919, S. 56. 346 Rentzel-Rothe, Entwurf, S. 188 ff., 210 f. 347 Harreß, Ablehnbarkeit, S.6; Vormbaum, Lex Emminger, S. 48; Koch, Reform, S. 17; das Schicksal des Entwurfs wird detailliert geschildert bei Rentzel-Rothe, Entwurf, S. 185 ff. 348 In einer gutachtlichen Stellungsnahme der preußischen Regierung gegenüber dem Reichsjustizministerium, zitiert nach Vormbaum, Lex Emminger, S. 48. 349 Zur zeitgenössischen Kritik: Rentzel-Rothe S.203 ff., 213 ff., 219 ff., 234 f., 236 ff. m.w.N. 350 Vg!. Dürr, DJZ 1928, Sp. 1434 (1435); rückblickend auch Stock, Strafprozeßerneuerung, S. 200. 341

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c. Entwicklung bis zur "Ernrninger-Verordnung" vom 4. Januar 1924

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An der Beweisaufnahmeregelung stieß besonders der gegenüber der geltenden Regelung stark ausgeweitete Verwendungszwang gegenüber präsenten Beweismitteln (§§ 237 Abs. 3 und Abs. 4 E 1919/1920) auf Kritik351 . Da er nur in Privatklage- und Übertretungssachen aufgehoben sein sollte, werde das Gericht dazu gezwungen, die "zwecklosesten und törichsten Beweise" zu erheben352 . Dagegen fand die vom "Goldschmidt-Entwurf" vorgesehene Enumeration der Ablehnungsgründe durchaus Zustimmung353 .

5. Ergebnis der Reformbestrebungen

Ungeachtet jahrzehntelanger Reformversuche blieb die seit 1877 als lückenhaft und allgemein als unbefriedigend empfundene Beweisaufnahmeregelung der StPO bis in das Jahr 1924 unangetastet. Ausdrücklich gesetzlich normiert war somit fast filnf Jahrzehnte allein die gerichtliche Verwendungspflicht in bezug auf präsente Beweismittel, während die sachliche Behandlung gestellter Beweisanträge gesetzlich ungeregelt blieb. Gleichwohl erfuhr die Stellung des Angeklagten zwischenzeitlich eine tiefgreifende Umgestaltung, die seinen Einfluß auf den Beweisaufnahmeumfang erheblich verbesserte. Dieser Rechtszuwachs war, da das äußere Gerüst der Bestimmungen erhalten blieb, Folge einer systemimmanenten Rechtsfortbildung durch das Reichsgericht. Die Frucht dieser Judikatur war das unserer heutigen Strafprozeßordnung zugrunde liegende Beweisantragsrecht.

11. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts

Da es dem Reichsgericht als Revisionsinstanz anheimfiel, über die Frage zu judizieren, wann in der Ablehnung eines Beweisantrages eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung liegt (§ 377 Nr. 8 StPO [1877]; § 338 Nr. 8 StPO)3S4, mußte es sich - in Ermangelung einer ausdrücklichen Stellungnahme des Gesetzes zu rechtlichen Zulässigkeitskriterien - die Rechtsregeln fiir die Behandlung von Beweisanträgen selbst erarbeiten. Hierdurch wurde es gleichsam zum Ersatzgesetzgeber3Ss .

Rentzel-Rathe, Entwurf, S. 226 m.w.N. Sontag, GA 68 (1920), S. 331; Finger, GS 87 (1920), S. 443. 353 Santag, GA 68 (1920), S. 331. 354 Zu § 337 Nr. 8 StPO (1877): Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 244 ff. 355 Graf zu Dohna, DJZ 1911, Sp. 305; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S.5; Schneidewin, Reichsgericht-FS, S. 270, sprach von rechts schöpferischer Lückenausfiillung. 351

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6'

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

Zunächst hatten sich die Senate des Reichsgerichts auf den Standpunkt gestellt, daß das freie Instruktionsermessen des Gerichts allein durch die als Ausnahmebestirnmungen verstandenen Vorschriften über den Verwendungszwang bei präsenten Beweismitteln (§ 244 Abs. I StPO [1877]) und durch das Präklusionsverbot (§ 245 Abs. 1 StPO [1877]) eingeschränkt wird. In den nicht ausdrücklich gesetzlich geregelten Fällen sollte das Prinzip des § 207 E 3, d.h. die ungebundene Stellung des Gerichts, fortgelten 356 . Daß über den Umfang der Beweisaufnahme das Gericht zu entscheiden habe, wurde so sehr "im Wesen einer gesunden Strafrechtspflege begründet" begriffen, daß es keiner expliziten Erwähnung dieses Grundsatzes im Gesetz bedurfte351 . 1. Das Beweisantizipationsverbot als Ausgangspunkt des Beweisantragsrechts

Diese ursprünglich vertretene Auslegung des Reichsgerichts basierte auf der "Überzeugungstheorie", d.h. der Ansicht, daß die mit der Abschaffung der gesetzlichen Beweistheorie einhergehende richterliche Freiheit nicht allein rur die Beweiswürdigung, sondern auch rur das Gebiet der Beweisaufnahme gelte 358 . Die Befugnis, über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach freiem Ermessen entscheiden zu dürfen (§ 260 StPO [1877]; § 261 StPO), sollte die Freiheit implizieren, bereits Art und Umfang der Beweisaufnahme festzulegen 359 . Denn wenn der Tatrichter Beweise frei würdigen dürfe, so lautete verkürzt die These, sei er ebenso befugt, sie nach seinem Ermessen abzulehnen. Deshalb könne es dem Tatgericht nicht verwehrt sein, das Ergebnis der Beweisaufnahme vorwegzunehmen und eine beantragte Beweisaufnahme sowohl mit der Begründung zurückzuweisen, es sei bereits ein derart sicherer Beweis geliefert, daß die Überzeugung des Gerichts durch die ersuchte Beweiserhebung nicht mehr erschüttert werden könne, als auch damit, daß dem beantragten Beweismittel aufgrund eines prognostizierten Eignungsmangels der Wert abzusprechen see 60 . Entsprechende Erwägungen der Tatinstanz wurden als irrevisible Tatsachenfragen eingestu~61 . Einer revisionsgerichtlichen Nachprüfung unterlagen allein 356 So 1. und 3. Strafsenat: RGSt 1, S. 61 (62), S. 138 (139 f.), S. 297 (298), S. 383 (384); zur abweichenden, z.T. noch schwankenden Rechtsprechung des 2. Senats vgl. H.-J Klee, Bestimmung, S. 113 ff.; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 88 ff. 357 RGSt 1, S. 61 (62). 358 Siehe oben B. 11. 2. a), b). 359 Vgl. RGSt 1, S. 138 (140); RGSt 14, S. 276 (278); K. Klee, GA 77 (1933), S. 84, 91; Schneidewin, Reichsgericht-FS, S. 331 f.; Beling, ZStW 38 (1917), S. 623 (zur Judikatur des Reichsmilitärgerichts). 360 Vgl. RGSt 1, S. 61 (62), S. 138 (140), S. 297 (298), S. 315 (316). Dem folgt z.T. auch Glaser, Handbuch, Bd. 1, S. 413. 361 Das Reichsgericht erkannte zwar an, daß in der Ablehnung eines Beweisantrages wegen tatsächlicher Unerheblichkeit eine Beschränkung der Verteidigung liegt, doch

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rechtsirrtümliche Bewertungen der Beweiserheblichkeie 62 . Damit entsprach die Kontrolldichte der Praxis der Obergerichte in den Ländern des reformierten Partikularprozesses363 . Diesen Ausgangspunkt haben die einzelnen Strafsenate des Reichsgerichts jedoch schon bald nach und nach fiir die Beweisantragssituation aufgegeben 364 . Wurde zuvor die richterliche Bestimmungsmacht über den Umfang der Beweisaufnahme und damit die Befugnis zur Beweisantizipation als Konsequenz der freien richterlichen BeweisWÜfdigung angesehen, so wendete man sich nun unter Rückgriff auf allgemeine Grundsätze des Strafprozeßrechts und unter Berücksichtigung insbesondere der Natur des Zeugenbeweises - gegen die "Überzeugungstheorie": Beweisantizipationen seien prinzipiell nicht Ausdruck richterlicher BeweisWÜfdigungsfreiheit und damit - jedenfalls beim Zeugen- und Urkundenbeweis 365 - grundsätzlich unzulässig366 . Diese höchstrichterliche Anerkennung des Beweisantizipationsverbotes hielt Max Alsberg fiir die "Geburtsstunde des Beweiserhebungsanspruchs,,367 . Der Kurswechsel des Reichsgerichts beruhte auf der Einsicht, daß die auf Urteilsfmdung abzielende richterliche Tätigkeit ein mehrstufiges Verfahren darhandele es sich aufgrund des freien richterlichen Ermessens bei der Vorwegwürdigung der Beweiserheblichkeit nicht um eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung i. S. v. § 337 Nr. 8 StPO (1877); vgl. RGSt 1, S. 61 (62), S. 138 (139 f), S. 297 (298); S. 315 (316); RG Rspr. 1, S. 310 (310); Ullmann, Lehrbuch, S. 466; Glaser, Handbuch, Bd. 1, S. 413. . 362 Vgl. RGSt 1, S. 49 und S. 79; RG Rspr. 8, S. 306 (306 f); Ullmann, Lehrbuch, S.466. 363 Zur Spruchpraxis des Preußischen Obertribunals oben A. 11. 4. a). 364 Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 90 f, 92 ff., 97 ff. 365 Bezüglich des Sachverständigenbeweises blieb das Reichsgericht vorerst bei einer weitgehend ungebundenen Stellung des Gerichts (vgl. RGSt 47, S. 105 [108]). Erst die Entscheidung RGSt 61, 273 (273 f.) im Jahre 1927 brachte den Umschwung in der Rechtsprechung (vgl. Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 5, 690 f; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 100 ff., 154 f., 179 f.). Auch hinsichtlich des Augenscheinsbeweises wurde den Tatgerichten lange freies Ermessen zugestanden (etwa RGSt 14, S. 276 [277 f.]; RGSt 21, S.225 [226 f.]; RGSt 47, S. 100 [105 ff.]); vgl. Alsberg, Beweisantrag, S. 66 m.w.N.; Miltner, Recht 1902, S. 571; Gerland, GS 69 (1906), S. 286 ff.; Engels, Aufklärungspflicht, S. 24; Wißgott, a.a.O., S. 102 ff., 180 ff.; Hetzer, Wahrheitsfindung, S. 111 ff. 366 RGSt 1, S. 189 (190); RG Rspr. 2, S. 126 (126 f); RG Rspr. 3, S. 498 (498 f.), S. 768 (769); RG Rspr. 6, S. 453 (454); RG Rspr. 8, S. 306 (306 f.); S. 693 (694); RG Rspr. 10, S. 29 (30/31); RGSt 39, S. 258 (259 f.), S. 363 (364); RGSt 47, S. 100 (105); RGSt 61, S. 273 (273 f.); RG JW 1914, S. 433 (433); RG JW 1925, S. 2782 (2783); RG JW 1927, S. 3056 (3056 f), Nr. 19; RG JW 1930, S. 933 (934), Nr. 45; RG DJ 1937, S. 1743 (1743 f.). Zustimmend: Alsberg, JW 1922, S. 258 ff.; Ditzen, ZStW 10 (1890), S. 122 f; Bennecke/Beling, Lehrbuch, S.529; Beling, JW 1925, S.2783; Gerland, Strafprozeß, S. 365. Ablehnend: K. Klee, GA 77 (1933), S. 93. 367 Alsberg, Beweisantrag, S. 59.

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

stellt, in deren erster Phase der Sachverhalt rekonstruiert wird, um ihn in einem zweiten Schritt umfassend zu würdigen 368 . Dementsprechend ging das Reichsgericht nun davon aus, daß beide Ebenen auseinanderzuhalten, Beweisaufnahme und BeweisWÜTdigung also prinzipiell zeitlich zu trennen sind369 . Daraus wurde gefolgert, daß in die Würdigung der erhobenen Beweise erst dann eingetreten werden dürfe, wenn der Sachverhaltsaufklärung genüge getan sei370 • Angesichts der vom Reichsgericht fiIr die Beweisantragssituation diagnostizierten Erfahrungsregel, daß sich bis zur tatsächlichen Erhebung des Beweises weder abschätzen lasse, zu welchem Ergebnis die beantragte Beweisaufnahme fuhren werde noch welchen Wert ein Beweismittel wirklich habe, dürfe auf der ersten Ebene der Sachverhaltserforschung die Ablehnung von Beweisanträgen nicht damit motiviert werden, das Gericht sei bereits vom Gegenteil der zu beweisenden Tatsache überzeugt oder die beantragte Beweiserhebung werde ohnehin nichts Verwertbares ergeben3?). Derartige vorweggenommene BeweisWÜTdigungen wurden als unzulässiger Vorgriff der BeweisWÜTdigung auf das Reservat der vorangehenden Stufe aufgefaßt. Das Reichsgericht folgerte damit aus dem Beweisantizipationsverbot, daß es dem Tatrichter verwehrt sei, unter Berufung auf das Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme weitere beantragte Beweiserhebungen abzuschneiden, weil die Beweisgrundlage seiner subjektiven Überzeugung nach bereits hinreiche, oder die Ablehnung mit dem prognostizierten Mißerfolg der Beweiserhebung zu begründen. Antizipation des Beweises bedeutete demgemäß, daß die erste Phase der Sachverhaltserforschung verfrüht zu einem Zeitpunkt abgebrochen wird, wo

368 Dazu: B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 180; Schlüchter, FS-Spendel, S. 740; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 22 f.; AK/StPO-Schöch, § 244 Rn. 27; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 45; Eb. Schmidt, LK 11, § 261 Rn. 18; Dedes, Beweisverfahren, S. 18 und passim. 369 Heute ist allerdings anerkannt, daß es hierbei nur um eine theoretische Aufspaltung gehen kann, da Beweiserhebung und Beweiswürdigung praktisch keine statischen Prozeßphasen, sondern einen unentflechtbaren dynamischen Vorgang darstellen, der nicht reinlich auseinanderdividierbar ist (Pieth, Beweisantrag, S. 10 ff.; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 393 f.; Dencker, ZStW 102 [1990], S. 70; Hamm, FG-Peters, S. 170; Dedes, Beweisverfahren, S. 29). 370 RG Rspr. 6, S. 453 (454); RG Rspr. 7, S. 296 (297); abweichend: v. Kries, Lehrbuch, S. 556, der der Auffassung ist, daß die Bezugnahme des Reichsgerichts auf das Prinzip der freien Beweiswürdigung verfehlt sei. Um eine solche handele es sich nicht, da die Würdigung unerhobener Beweise unmöglich sei. Dagegen wiederum Meves, GS 40 (1892), S. 429 Fn. 33. 371 RGSt I, S. 51 (52), S. 189 (190); RGSt 5, S. 312 (312); RG Rspr. 2, S. 126 (126 f.); RG Rspr. 3, S. 498 (498 f.), S. 768 (769); RG Rspr. 6, S. 453 (454); RG Rspr. 7, S. 296 (297), S. 761 (762); RG Rspr.8, S. 693 (694); RG Rspr. 10, S. 29 (31); RGSt 14, S. 276 (278); RGSt 29, S. 368 (368); RGSt 39, S. 258 (259 f.), S. 363 (364); RGSt 44, S. 294 (298); RGSt 47, S. 100 (104 f.). Zustimmend Miltner, Recht 1902, S. 569.

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ihr eben noch nicht genüge getan ist372 . Goldschmidt faßte das Verhältnis zwischen der Freiheit der Beweiswürdigung und dem Verbot der Beweisantizipation in die Formel: "Die Freiheit des Ermessens deckt nicht die Freiheit des Sichvermessens, nicht zu irren,,373 .

Das Beweisantizipationsverbot erstreckte sich auf behauptete Beweistatsachen und auf vorgeschlagene Beweismittel. Den Tatgerichten war es damit verwehrt, die Beweisbarkeit der Tatsachenbehauptung oder den Wert des Beweismittels im voraus zu verneinen. Ebenso war untersagt, den erhobenen mit dem angebotenen Beweis gegeneinander abzuwägen und sich unter Berufung auf eine bereits gebildete Überzeugung gegen eine weitere Ausdehnung der Beweisaufnahme zu wenden. Damit hatte das Reichsgericht das bereits in den Beratungen der Reichsjustizkommission zur Sprache gebrachte Beweisantizipationsverbot fiir die Rechtspraxis durchgesetzt374 : Zwar blieb es bei seiner Spruchpraxis, daß Tatsachenfragen einer Nachprüfung entzogen sind, doch wurde nunmehr in der Vorwegnahme der Beweiswürdigung ein gesetzwidriges Vorgehen erkanne 75 . Denn über das Resultat der beantragten Beweisaufnahme dürfe nicht schon im voraus ein Urteil gefallt werden, welches nach dem Prinzip der freien Beweiswürdigung (§ 260 StPO [1877]; § 261 StPO) und den prozessualen Fundamentalsätzen der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit (§ 249 StPO [1877]; § 250 StPO) erst aus dem Inbegriff der stattgehabten Beweisaufnahme zu schöpfen sei 376 . In der Regel war damit der absolute Revisionsgrund des § 377 Nr. 8 StPO (1877) gegeben: In dem Ablehnungsbeschluß, der unter Mißachtung des Trennungsgebotes einen noch nicht erhobenen Beweis im voraus würdigt und da-

372 KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 65: "Der Antizipierende hält die 'Tatfrage' nicht offen." 373 Goldschmidt, Prozess als Rechtslage, S. 446. 374 Wenn auch in unterschiedlicher Dichte. Bei dem Ablehnungsgrund der Ungeeignetheit des Beweismittels, hielt es das Reichsgericht fiir zulässig, unter Berufung auf die Unglaubwürdigkeit (etwa wegens des Verwandtschaftsverhältnisses oder wegen früherer Mittäterschaft) des Zeugen, den Beweisantrag abzulehnen (vgl. RGSt 5, S. 312 [313]; RGSt 47, S. 100 [105]; Meves, GA 40 [1892], S. 430; Miltner, Recht 1902, S. 570 f.; Grafzu Dohna, Kohlrausch-FS, S. 327 ff.; Julius, Unerreichbarkeit, S. 14). 375 Vgl. RG Rspr. 2, S. 126 (127); RG Rspr.3, S.498 (498); RG Rspr.7, S.296 (296 f.); RG DJZ 1914, Sp. 507 (508). 376 RG Rspr. 2, S. 126 (126 f.); RG Rspr. 3, S. 498 (498); RG Rspr. 6, S. 453 (454); RG Rspr. 7, S.296 (297); RG Rspr. 8, S.306 (307); RGSt 7, S.76 (78); RGSt 47, S. 100 (104); RG DJZ 1914, Sp. 507 (508); RG JW 1914, S.433 (433); Alsberg, JW 1922, S. 258; Meves, GA 40 (1892), S. 426 ff.; v.Lilienthal, ZStW 29 (1909), S. 563 f.; a.A. v. Kries, Lehrbuch, S. 556 f., der dem Reichsgericht Kompetenzüberschreitung vorwirft, da es allein um Tatfragen gehe. Gegen v. Kries wiederum Meves, a.a.O., S. 426 Fn.30, S. 429 Fn. 33. Zur Rspr. des RG siehe auch Hetzer, Wahrheitsfindung, S. 110; Wißgott, Beweisantragsrecht, 233 ff.

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1. Teil: Historische Entwicklung und Refonngeschichte

durch den beantragten Entlastungsbeweis der Angeklagtenseite abschneidet, sah das Reichsgericht "die Vertheidigung in einem fiir die Entscheidung wesentlichen Punkte" unzulässig beschränkt (vgl. § 338 Nr. 8 StPO)377. So war die vormals als Tatsachenfrage verstandene - und somit irrevisible tatrichterliche Relevanzeinschätzung eines noch nicht erhobenen Beweises zu der Rechtsfrage geworden, ob dem schrittweisen Vorgehen im Sinne des durch §§ 249, 260 StPO StPO 1877 (§§ 250, 261 StPO) gebotenen Phasenmodells Genüge getan worden ist. Die Einsicht des Reichsgerichts, daß der Erkenntnisvorgang - im Gegensatz zur subjektivistischen "Überzeugungstheorie" - in eine primäre Beweissammlungs- und eine sekundäre Beweiswürdigungsphase zergliedert werden muß, kommt etwa in dem Urteil des IV. Strafsenates vom 20. Juni 1884 378 klar zum Ausdruck: "Die Bestimmung des § 260 der StrPrO. [= § 261 StPO n.F.], wonach das Gericht über das Ergebniß der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriffe der Verhandlung geschöpften Ueberzeugung entscheiden soll, beruht auf der Voraussetzung, daß der Verpflichtung, die materielle Wahrheit zu erforschen ... im vollen Umfange genügt, insbesondere auch der von dem Angeklagten über wesentliche Punkte in zulässiger Weise angetretene Beweis erhoben worden ist." Alsberg meinte hierzu zustimmend, daß es der "Hauptleitsatz der richterlichen Urteilstätigkeit" (§ 261 StPO) verlange, daß nur der "Inbegriff der Verhandlung", also "die Gesamtheit der erhobenen, nicht auch der erst zu erhebenden Beweise die Grundlage der richterlichen Überzeugung bilden". Dem Grundsatz widerspreche es deshalb, wenn "der Richter ein beantragtes Beweismittel ohne Hinzunahme des dem Gesetz sonst so wichtig erscheinenden persönlichen Eindrucks mitwürdigt,,379 . Ungeachtet der allgemein klingenden Forderung des Reichsgerichts nach einer Strukturierung des Beweisverfahrens, wurde das Beweisantizipationsverbot zunächst nur tUr die Beweisantragssituation anerkannt. Bei der Bestimmung des Beweisaufnahmeumfangs von Amts wegen räumte das Reichsgericht dagegen den Tatgerichten weiterhin einen großen, revisionsgerichtlich nicht kontrollierten Spielraum ein 380 . Sobald das Gericht seine Überzeugung von der Schuld des

J77 RG Rspr. 2, S. 126 (126 ff.); RG Rspr. 6, S. 453 (454); RG Rspr. 8, S. 306 (307); RGSt 7, S. 76 (79). 378 RG Rspr. 6, S. 453 (454); ebenso RG Rspr. 7, S. 296 (297). 379 Alsberg, JW 1922, S. 258. 380 Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 24 f.; vgl. etwa RGSt I, S. 297 (298); RGSt 6, S. 135 (136); RG JW 1916, S. 1026 Nr. 1.

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Angeklagten gewonnen hatte, durfte es weitere Beweisaktivitäten einstellen381 • Zu einer darüber hinausgehenden Beweiserhebung war das Gericht außerhalb des ausdrücklich normierten Präsentationsrechts allein auf Beweisantrag hin verpflichtee 82 • Bei Beweiserhebung von Amts wegen galt also die "Überzeugungstheorie" fort: Der freien BeweisWÜTdigung korrelierte nach wie vor die freie Bestimmung des Beweisaufuahmeumfangs. Aufklärungsdefizite waren auch bei naheliegenden Aufklärungsmöglichkeiten nicht revisibee 83 . Dementsprechend war die Aufklärungsrüge in ihrer heutigen Form in den ersten Jahrzehnten der reichsgerichtlichen Rechtsprechung unbekanne 84 • Die Tatsache, daß das Verbot der Beweisantizipation vorerst nur bei beantragten Beweiserhebungen Anerkennung fand, belegt, daß die reichsgerichtliche Herausarbeitung des Beweisantragsrechts nicht am Maßstab der Amtsaufklärungspflicht erfolgte38S • Im Gegenteil: Das Reichsgericht hat zu Beginn seiner Entwicklung des Beweisantragsrechts gerade die von Amts wegen bestehende Aufklärungspflicht von der Verpflichtung, Beweisanträgen zu entsprechen, getrennt. Während es vorher keine klare Scheidung beider Beweiserhebungspflichten durchfiihrte, die Ablehnung von Beweisanträgen also dem weiten, Beweisantizipationen umfassenden, gerichtlichen Instruktionsermessen anheimstellte, hob es nun durch die einseitige Anerkennung des Beweisantizipationsverbots die Pflichtenkongruenz auf. Mit der Stellung eines Beweisantrages konnte der Tatrichter nun dazu gezwungen werden, über den von ihm - nach dem Maßstab seiner Aufklärungspflicht - fiir ausreichend angesehenen Beweisumfang hinauszugehen und Beweise zu erheben, die er nach seiner Prognose fiir aussichtslos oder überflüssig hielt. 381 Schulz, GA 1981, S. 313 f.; ders., StV 1991, S. 359; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 45; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 129 ff., 133 ff., 141 ff., 144 ff.; 241 ff.; B. Schmit!, Beweiswürdigung, S. 180. 382 Schulz, GA 1981, S. 313; ders., Stellung, S. 99. 3B3 Vgl. Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 25 m.w.N. 384 Eine Ausnahme bildeten Aufklärungsrügen der Staatsanwaltschaft zu Lasten des Angeklagten in Fällen eines "in dubio pro reo" - Freispruchs, sofern weitere Möglichkeiten der Abklärung offen standen. Insoweit fehlte es eben noch an der vom Reichsgericht unantastbar erachteten richterlichen Überzeugung. Daraus erklärt sich der seltsame Umstand, daß lange Zeit nur Aufklärungsrügen zu Lasten, nicht aber zu Gunsten des Angeklagten erfolgreich sein konnten. Aussichtsreich waren lediglich Aufklärungsrügen der Staatsanwaltschaft, wenn das Tatgericht "in dubio pro reo" freigesprochen hatte, obwohl weitere Möglichkeiten offen standen, den Schuldbeweis zu fuhren. Insoweit fehlte es eben an einer tatrichterlichen Überzeugung, die einer revisionsgerichtlichen Nachprüfung hätte im Wege stehen können. Vgl. Alsberg, Anmerkung, JW 1928, S. 1506; ders., Anmerkung, JW 1929, S. 859; Schneidewin, Reichsgericht-FS, S. 331 f.; Schulz, StV 1991, S. 359; ders., Richter, S. 99; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 128 ff., 141 f.; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 23 f. 385 Siehe weiterhin unten 2. Teil: 1. Kapitel, B. I. 1. a) bb) (1).

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

2. Entwicklung der Ablehnungsgründe

Die anfangs angesprochene Lücke des Gesetzes über die Behandlung von Beweisanträgen ist dank der Judikatur des Reichsgerichts zumindest zum Teil höchstrichterlich ausgefüllt worden. Allgemeinen Verfahrens prinzipien und § 260 StPO 1877 (§ 261 StPO) wurde entnommen, daß bei der Verbescheidung von Beweisanträgen jedenfalls Erwägungen unzulässig sind, die auf einer vorweggenommenen Beweiswürdigung beruhen. Dafür erwies sich das Gesetz nun in anderer Hinsicht als lückenhaft. Geklärt war ja zunächst nur, welche Ablehnungsgründe unstatthaft, nicht jedoch welche umgekehrt zugelassen sind. Da es nicht angängig erschien, das Gericht zur Erhebung sämtlicher beantragter Beweise zu verpflichten, bedurfte es eines Systems von forensisch praktikablen Ablehnungsgründen, mit dem einerseits nutzlose Beweishebungen vermieden werden können und das andererseits mit dem Beweisantizipationsverbot weitgehend konform läuft. Dies ist der Katalog von Ablehnungsgründen, der sich im Laufe einer langjährigen Entwicklung in der Rechtsprechung des Reichsgerichtes herauskristallisierte. Da als Leitlinie bei der Genese der Ablehnungsgründe der Grundsatz des Beweisantizipationsverbotes fungierte, stellt sich der Ablehnungskatalog des Reichsgerichtes als Destillat der Gründe dar, die bestmöglich mit dem Beweisantizipationsverbot harmonieren 386 . Das Gericht war damit an die Beweisanträge der Prozeßbeteiligten gebunden, sofern nicht einer der vom Reichsgericht entwickelten Ablehnungsgründe vorlag. In einer Vielzahl von Entscheidungen387 hat das Reichsgericht die Ablehnung für statthaft erklärt, wenn a) die begehrte Beweiserhebung unzulässig ist, b) das Gericht den Antrag für völlig unerheblich ansieht, c) der Beweissatz oder sein Gegenteil offenkundig ist (sog. Notorietät der zu beweisenden Tatsache), d) die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, 386 Ob der Katalog von Ablehnungsgründen dennoch in gewissem Umfang Beweisantizipationen gestattet, war (vgl. Graf zu Dohna, Kohlrausch-FS, S. 324 ff.) und ist umstritten (vgl. AKlStPO-Schöch, § 244 Rn. 76 m.w.N.). Dazu siehe unten 2. Teil: I. Kapitel, B. I. I. a) bb) (2) (a). 387 Die Entwicklung der einzelnen Ablehnungsgründe aus den zahlreichen Entscheidungen des Reichsgerichts aufzuzeigen, liegt nicht im Rahmen dieser Arbeit. Insoweit kann jedoch auf Alsberg, Beweisantrag, 1. Aufl. (1930) und die systematisierenden Darstellungen von Völcker, Ablehnung, S. 9 ff.; Kurtze, Ablehnung, S. 17 f.; Simader, Ablehnung, S. 92 ff.; Stützet, Beweisantrag, S. 57 ff.; Bürgy, Einfluß, S. 37 ff.; Klimmer, Beweisanträge, S. 36 ff., und Harreß, Ablehnbarkeit, S. 29 ff., verwiesen werden, die einen Teil der Kärrnerarbeit abgenommen haben.

C. Entwicklung bis zur "Emminger-Verordnung" vom 4. Januar 1924

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e) der Beweissatz als bereits erwiesen angesehen wird, f) das Beweismittel untauglich oder

g) unerreichbar ist, oder h) der Antrag zum Zwecke der Prozeßverschleppung gestellt wurde.

3. Resultat der reichsgerichtlichen Rechtsprechung Neben das Präsentationsrecht war die Befugnis getreten, das Gericht durch Beweisanträge zu einer bestimmten Beweistätigkeit zu verpflichten. Dogmatische Grundlage für diese Rechtsfortbildung388 war das Beweisantizipationsverbot. Die Herausarbeitung dieses grundlegenden Prinzips beruhte wiederum auf der Einsicht in das "Wechselspiel der Beweisprinzipien" mit seiner Trennung von Sachaufklärung und Überzeugungs bildung. Überholt war damit für die Beweisantragssituation die früher herrschende, subjektivistische "Überzeugungstheorie", die Beweiswürdigungsfreiheit und Freiheit bei der Bestimmung des Beweisaufnahmeumfangs als untrennbare Komplemente angesehen hatte 389 . Der Angeklagte hatte nun auch außerhalb des Kreises präsenter Beweismittel einen verbindlichen, vom Ermessen des Gerichts weitgehend unabhängigen Beweiserhebungsanspruch. Mit der Ausformulierung von strengen, enumerativ gedachten Ablehnungsgründen, die dem Beweisantizipationsverbot Rechnung tragen sollten, wurde der verbindliche Charakter des Beweisantragsrechts unterstrichen. In der forensischen Bedeutung übertraf das Beweisantragsrecht sogar schon bald das Präsentationsreche90 . Der Einfluß des Angeklagten auf den Umfang der Beweisaufnahme war durch dert jetzt zweifach fundierten Beweiserhebungsanspruch erheblich gesteigert.

388 Unter methodischen Gesichtspunkten bezeichnet AKiStPO-Loos, Einleitung III Rn. 28, das Beweisantizipationsverbots als prozessualen ZwischenbegriJf bzw. Verfahrensprinzip mittlerer Reichweite, das vom Reichsgericht im Wege gesetzesübersteigender Rechtsfortbildung geschaffen wurde. 389 In der Literatur wurde diese Ansicht gleichwohl noch lange Zeit vertreten (vgl. Schneidewin, Reichsgericht-FS, S. 331; v. Spindler, Hauptverhandlung, S. 461 ff., 467; Ditzen, Dreierlei Beweis, S. 25 ff., insbes. S. 28 Fn. I; K. Klee, GA 77 [1933], S. 88; H.-I. Klee, DJ 1937, S. 1386). 390 Rieß, Reichsjustizamt-FS, S.430; Perron, Beweisantragsrecht, S. 138; zu den möglichen Ursachen dieser Entwicklung vgl. Schutz, Stellung, S. 96 f.

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

4. Die Haltung des Schrifttums zur Judikatur des Reichsgerichts Das Schrifttum beschränkte sich zunächst auf eine Wiedergabe der Rechtsprechung des Reichsgerichtes, ohne sich auf eine eigene vertiefte Auseinandersetzung mit der Rechtsentwicklung einzulassen391 . Dabei fand die Rechtsprechung des Reichsgerichts überwiegend Zustimmung392 . Doch gab es auch Stimmen, die sich dagegen wandten, dem Angeklagten durch Formulierung eines enumerativen Ablehnungskataloges ein verbindliches Beweisantragsrecht zu gewähren 393 . Ein eingehendere dogmatische Beschäftigung mit dem Beweisantragsrecht erfolgte erst im Anschluß an die grundlegende Monographie zum Beweisantragsrecht von Max Alsberg aus dem Jahre 1930, die neben der Systematisierung der reichsgerichtlichen Rechtsprechung vor allem eine dogmatische Verarbeitung der Rechtsentwicklung leistete394 . Dennoch stellt das System des noch heute geltenden Beweisantragsrechts unübersehbar eine Schöpfung des Reichsgerichts dar. Der Gesetzgeber und die Wissenschaft haben überwiegend nur versucht, reaktiv der Entwicklung zu folgen. Während der Gesetzgeber mit den Entwürfen 190811909 und 1919 lediglich versuchte, die Rechtsprechung des Reichsgerichts "gesetzlich einzufangen,,395, mußte sich die Strafprozeßwissenschaft nicht ohne Grund von Alsberg Versagen bei der rechtsschöpferischen Lückenausrullung vorwerfen lassen 396 .

391 Ab 1909 erschien zwar eine Vielzahl von Schriften zum Beweisantragsrecht (vgl. das Literaturverzeichnis bei Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S.917 ff.), in erster Linie Dissertationen, die jedoch über eine mehr oder weniger eklektizistische Reproduktion des jeweiligen Standes der reichsgerichtlichen Rechtsprechung nicht hinausfiihrten. 392 Pestalozza, JW 1932, S. 2677: "Ruhmesblatt der Judikatur des RG"; Miltner, Recht 1902, S. 569; GraJzu Dohna, DJZ 1911, Sp.305 ff. (mit Kritik im einzelnen); Alsberg, JW 1922, S. 258 ff. (insbes. zum Beweisantizipationsverbot); Stützei, Beweisantrag, S. 57; Meves, GA 40 (1892), S. 426 ff.; Bürgy, Einfluß, S. 30 ff., 35 f.; Glaser, Handbuch, Bd. I, S. 414, teilweise anders S. 413; Ditzen, ZStW 10 (1890), S. 122 f.; Simader, Ablehnung, S. 1 f.; Schneidewin, Reichsgericht-FS, S. 328, meinte, daß keine andere Tätigkeit des Reichsgerichts "so allgemein und freudig" gebilligt worden sei, wie die Spruchpraxis zum Beweisantragsrecht; K. Klee, GA 77 (1933), S.93, sah im Schrifttum eine geradezu einhellige Gefolgschaft. 393 v. Kries, Lehrbuch, S.555 ff.; Schreiber, JR 1932, S. 188; Maatz, DRiZ 1932, S. 135 f.; Siegert, JW 1936, S. 3008; K. Klee, GA 77 (1933), S. 88 ff. 394 Alsberg, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 1. Auflage 1930 (dazu Beling, DJZ 1931, S. 843; Sarstedt, DAR 1964, S. 311; ders. AnwBI 1978, S. 8 f.). Mit vertieften Untersuchungen sind im Anschluß an Alsberg etwa Stützei, Der Beweisantrag im Strafverfahren, Leipzig 1932, und Simader, Die Ablehnung von Beweisanträgen in der Hauptverhandlung, Leipzig 1933, hervorgetreten. 395 Rieß, Reichsjustizamt-FS, S. 427. 396 Alsberg, Beweisantrag, S. 2; vgl. auch S. IV: "Kaum eine der zahllosen Einzelfragen fand ich irgendwo wissenschaftlich bearbeitet, keine 'Theorie' war aufgestellt".

D. Emminger-Verordnung vom 4. Januar 1924

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D. Die Emminger-Verordnung vom 4. Januar 1924 1924 kam es mit der Emminger-Verordnung ("Lex Emminger,,)397 zu einer einschneidenden Refonn des Strafverfahrensrechts, die auch den Beweiserhebungsanspruch des Angeklagten berührte. Allerdings war es nicht - was nach den entsprechenden Entwürfen der Jahre 190811909 und 1919 nahegelegen hätte - die ausgearbeitete angeklagtenfreundliche Judikatur des Reichsgerichts, der legislatorische Weihen zuteil wurden, sondern das gegenläufige, autoritäre Prozeßverständnis der Ministerialbilrokratie398 . I. Historischer Hintergrund

Grundlage fiir die Emminger-Verordnung war das Ennächtigungsgesetz vom 8. Dezember 1923 399 , das der Reichsregierung gestattete, im Hinblick auf "die Not von Volk und Reich" die fiir erforderlich und dringlich erachteten Maßnahmen zu treffen40o . Und an Not herrschte in der jungen Republik in dem "annus terribilis,,40I 1923 kein Mangel. Zugelassen war damit fiir begrenzte Zeit ein vereinfachtes Gesetzgebungsverfahren neben dem regulären Verfahren der Reichsgesetzgebung durch den Reichstag (Art. 68 ff. WRV). 11. Die gerichtliche Zuständigkeitsverlagerung und ihre Auswirkung auf den Beweiserhebungsanspruch des Angeklagten

Zur Behebung dieser "Not von Volk und Reich" wurde das Schwurgericht in seiner alten Fonn in ein großes Schöffengericht (drei Berufsrichter, sechs sog. Geschworene) umgewandelt, die Zahl der Richter in den Senaten herabgesetzt, die revisionsinstanzlichen Zuständigkeiten des Reichsgerichts vennindert und

397 Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924, RGBJ. I, S. 15 ff.; siehe Vormbaum, Lex Emminger; I. Müller, Rechtsstaat, S.69 ff., 143; Eb. Schmidt, Einführung, S. 418 f.; Peters, Strafprozeß, S. 71; Klingebiel, Gerichtsverfassung, S. 61 ff.; P.- A. Albrecht, NJ 1994, S. 198. 398 Eingeleitet wurde diese Offensive gegen die Beweisrechte des Angeklagten bereits wenige Jahre zuvor durch die Verordnung über Wuchergerichte, die den Umfang der Beweisaufnahme in das freie Ermessen dieser Sondergerichte gestellt hatte; vgJ. § 10 Verordnung über Sondergerichte gegen Schleichhandel und Preistreiberei (Wuchergerichte) vom 27. November 1919, RGBJ. I, S. 1909 ff.; ähnlich § 6 Abs. 7 Verordnung über die beschleunigte Aburteilung von Straftaten vom 17. Dezember 1923 (RGBJ. 1923, Teil I, S. 1231 f.; außer Kraft bereits am 13. Januar 1924, vgJ. RGBJ. 1924, Teil I, Nr. 4, S. 29). 399 RGBJ. I, S. 1179. 400 § 1 S. 1 des Ermächtigungsgesetzes vom 8. Dezember 1923. 401 Vormbaum, Lex Emminger, S. 21 ff.

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

das Legalitätsprinzip bei geringfiigigen Straftaten gelockert402 . Weiterhin bestimmte die Emminger-Verordnung eine Verschiebung der erstinstanzlichen Zuständigkeiten "nach unten": Zunächst wurde die erstinstanzliche Zuständigkeit der Strafkammern an den Landgerichten vollständig beseitigt403 . Die nunmehr vakanten Strafkammersachen wurden dem Amtsgericht zugeschlagen, wo man in Anbetracht des erheblich vermehrten Geschäftsanfalls neben dem bisherigen Schöffengericht als zweiten Spruchkörper den Einzelrichter etablierte404 . Darüber hinaus wurden auch bisherige schwurgerichtliche Zuständigkeiten an das Amtsgericht delegiert405 . Damit war - skizzenhaft - der Einzelrichter zuständig fiir die Verfahren, die vormals zu dem Kompetenzbereich des Schöffengerichts gehört hatten, während dieses sich der Vergehen und Verbrechen annehmen sollte, die bislang in den Zuständigkeitsbereich der Strafkammer und zum Teil des Schwurgerichts gefallen waren. Diese Zuständigkeitsverlagerung hatte gravierende Auswirkungen fiir die Beweisfiihrungsrechte des Angeklagten. Die Bestimmung des § 244 StPO (1877) blieb zwar weitgehend unverändert. Es wurde der Vorschrift im Rahmen der Neufassung der StPO vom 22. März 1924 lediglich eine neue "Hausnummer" gegeben Getzt § 245 StPO [1924]) und durch Einbeziehung der amtsrichterlichen Verhandlungen in den Abs. 2 dem Umstand Rechnung getragen, daß auf der amtsgerichtlichen Ebene neben dem Schöffengericht nunmehr ein zweiter Spruchkörper existierte. Doch gerade diese Nichtänderung der Bestimmung bei gleichzeitiger Verschiebung der Zuständigkeiten fiihrte dazu, daß die richterliche Freiheit bei der Bestimmung des Umfangs der Beweisaufhahme radikal ausgeweitet wurde und nun auch in Verfahren galt, die vormals in den Bereich des garantierten Beweiserhebungsanspruches LS.v. § 244 Abs. 1 StPO (1877) = § 245 Abs. 1 StPO (1924) fielen. Für die überwiegende Zahl von Strafsachen galt jetzt das richterliche Ermessen nach Abs. 2, während die von Abs. 1 gewährleistete Beweisfiihrungsautonomie auf schwurgerichtliche Verfahren und erstinstanzliche Verfahren vor dem Reichsgericht verkürzt war.

402 Zusammenfassung der Änderungen bei v. Hippel, StrafProzess, S. 54 f.; Klingebiel, Gerichtsverfassungsgesetz, S. 62 ff.; Vormbaum, Lex Emrninger, S. 38 ff. 403 Die Strafkammern fungierten nach § 11 der Verordnung allein als Berufungsgerichte gegen Urteile des Amtsrichters und des Schöffengerichts. 404 Der Einzelrichter spielte in der früheren Gerichtsverfassung keine nennenswerte Rolle (vgl. v. Hippel, Strafprozess, S. 155; Vormbaum, Lex Emrninger, S. 85). Nur in Ausnahmefällen (in Übertretungssachen, wenn der geständige Beschuldigte vorgefiihrt wurde und die Staatsanwaltschaft zustimmte; vgl. § 211 StPO [1877]) trat der Einzelrichter an die Stelle des Schöffengerichts. 405 Bspw. § 177 StGB (Notzucht). In die sachliche Zuständigkeit des Amtsgerichts fiel neben der Aburteilung von Übertretungen und Vergehen neben einem enumerativen Katalog einzelner Verbrechen auch allgemein deren Aburteilung, soweit diese mit Zuchthaus von höchstens zehn Jahren bedroht waren (§ 24 Emrninger-Verordnung).

D. Emminger-Verordnung vom 4. Januar 1924

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Der garantierte Beweiserhebungsanspruch gemäß § 244 Abs. 1 StPO (1877) (= § 245 Abs. 1 StPO [1924]) galt damit nur noch fiir ca. 1% aller erstinstanzlichen Verfahren und war so praktisch entwertet406 . Immerhin fand diese Bestimmung in den landgerichtlichen Berufungsverhandlungen weiterhin Anwendung, so daß - mit Ausnahme der Übertretungssachen und Privatklagedelikte - zumindest in der Berufungsinstanz ein Beweiserhebungsanspruch bestand. III. Reaktionen im Schrifttum

Die Kritik an der Emminger-Verordnung fiel im Schrifttum überwiegend vernichtend aus. Sowohl bezüglich der Art und Weise des Zustandekommens als auch hinsichtlich inhaltlicher Fragen der Verordnung wurden erhebliche Bedenken erhoben407 . So sprach Goldschmidt von einer Verletzung des Rechtsstaatsprinzips408, Drucker von der "Beiseiteschiebung fundamentaler Gesetze durch Kabinettsbefehl" und einer "Revolution von oben,,409 und v. Scanzoni vom "Absolutismus des Ministeriums,,410. Lobe befiirchtete ein "Abwirtschaften in der Rechtspflege,,411 , und v. Hippel erkannte einen "völligen Umsturz unserer Gerichtsverfassung mit erheblichen Eingriffen auch in das Verfahren,,412 . Oetker schließlich sah die Strafrechtspflege "über Nacht ... weit hinter das Werk von 1877" zurückgeworfen413 und das "wertvollste Recht des Angeklagten", den Anspruch auf Beweiserhebung, verkümmert414 . Daneben gab es auch verhalten zustimmende Kommentare415 . Allerdings mußte selbst Hartung, der die Emminger-Verordnung ansonsten grundsätzlich begrüßte, eingestehen, daß er die Ausdehnung des freien richterlichen Ermessens auf fast sämtliche erstin-

406 Prozentuale Schätzung nach Vormbaum, Lex Emminger, S. 103; Kurtze, Ablehnung, S. 4, sieht einen Zwang zur Beweiserhebung sogar in nur noch 0,2 % aller Fälle. 407 Klingebiel, Gerichtsverfassung, S.72; Koch, Reform, S. 19 f.; Vormbaum, Lex Emminger, S. 74. 408 Goldschmidt, JW 1924, S.247. Teilweise wurde sogar die Rechtsgültigkeit der Verordnung in Zweifel gezogen (vgl. Vormbaum, Lex Emminger, S. 76 ff.), von RGSt 58, 120 (120 ff.) aber bejaht. 409 Drucker, JW 1924, S. 241; ders., a.a.O., S. 244: "Die als Ausnahme schon schwer erträgliche Vorschrift in § 244 Abs. 2 StPO. beherrscht nunmehr den Prozeß." Ebenso v. Scanzoni, JW 1924, S. 1646. 410 v. Scanzoni, JW 1924, S. 1642. 411 Lobe, DJZ 1924, Sp. 83. 412 v. Hippel, Strafprozess, S. 53; ders., DJZ 1932, S. 1183, sah rückblickend mit der Emrninger-VO den "Verfall des deutschen Strafprozeßrechts" einsetzen. 413 Oetker, GS 90 (1924), S. 342. 414 Oetker, GS 90 (1924), S. 349. 415 Hartung, JW 1925, S. 884 ff.; ders., JW 1926, S. 1100 ff.

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

stanzlichen Verfahren für einen "politischen Fehler, eine Ueberspannung des Prinzips" hielt416 . Angezweifelt wurde auch, ob der Angriff auf den Beweiserhebungsanspruch des Angeklagten tatsächlich durch Ersparnisgründe angesichts der Not der Republik motiviert war4l7 . So bemängelte man, daß seine weitgehende Aufhebung in der ersten Instanz unter ökonomischen Gesichtspunkten kontraproduktiv sei, weil sie geradezu Berufungsverhandlungen und damit erst den zu vermeidenden, unnötigen Geschäftsanfall provoziere418 . Oetker sprach denn auch von einem Vorwand, unter dem die Verordnung ins Leben getreten sei 419 . Tatsächlich lag die Vermutung nicht fern, daß die Emrninger-Verordnung in der nachkriegsbedingten "Not von Volk und Reich" weder ihren Grund noch ihre Grenze fand. Das Ermächtigungsgesetz vom 8. Dezember 1923 deckte an sich nur Maßnahmen, die durch die Not von Volk und Reich erforderlich und dringend geboten waren. Bezeichnenderweise spricht jedoch nur ein einziger Abschnitt der Verordnung, der letzte, von Notmaßnahmen, die für lediglich zweieinhalb Monate die Rechtspflege beschleunigen sollten (Verzicht auf Schöffen und Geschworene, Ruhen der Privatklagen und Beschränkung der Berufung). Zwar galt auch für die anderen Abschnitte der Emrninger-Verordnung, daß die Strafjustiz "bis an die Grenzen des im Interesse der Rechtspflege noch Erträglichen" vereinfacht und verbilligt werden sollte420 • Nicht zu verkennen ist aber, daß qua Ermächtigungsgesetz Eingriffe in die Rechtsstellung des Angeklagten durchgesetzt wurden, die im Reichstag nicht konsensfähig waren und im regulären Gesetzgebungsverfahren keine Realisierungschance gehabt hätten421 . Der Verdacht, daß unter dem Vorwand der Not versucht werden sollte, das Rad der liberalen Prozeßrechtsentwicklung zurückzudrehen, liegt damit auf der Hand 422 .

Hartung, DJZ 1926, S. 130. Vgl. Drucker, JW 1924, S. 242,244. 418 Oetker, GS 90 (1924), S. 350; LöwelRosenberg, 17. Auf!. (1927), § 245 Anm. 7; Drucker, JW 1924, S.244; Lang, MIKV 22/4 (1924), S. 140; einschränkend Schimmack, MIKV 22/4 (1924), S. 191; dazu auch Werte, ZRP 1983, S. 201. 419 Oetker, GS 90 (1924, S. 342 f.; ähnlich Drucker, JW 1924, S. 242 f. 245. 420 Bumke, damals Ministerialdirektor im Reichsjustizministerium (zit. n. v. Hippet, 416 417

Strafprozess, S. 53 f.). 421 Drucker, JW 1924, S. 241, sprach daher von einer "diktatorischen Entstehung" der Verordnung. 422 I. Müller, KJ 1992, S. 229, meint, daß die Justizbürokratie versucht habe, die "Schlappe von 1877 wieder wettzumachen" (gemeint ist, den 1877 erzielten Komprorniß zwischen liberaler Reichstagsmehrheit und der reaktionären Majorität im Bundesrat zu revidieren); vgl. auch P. -A. Atbrecht, NJ 1994, S. 198: "Finanzkrise ... entpuppt sich eher als eine argumentative Kunstfigur im Rahmen reaktionär geprägter kriminalpolitischer Reform".

E. Stabilisierung der Weimarer Republik (1925-1930)

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Sicher ist jedenfalls, daß die Ennächtigungsgesetzgebung unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten außerordentlich bedenklich warm. Wie schädlich die hier bereits erkennbaren Tendenzen zur (Selbst-) Entmachtung des Reichstags wirkten, hat sich bekanntennaßen gegen Ende der Weimarer Republik gezeigt424.

E. Die Periode der Stabilisierung der

Weimarer Republik (1925-1930)

Die Jahre nach der Emminger-Verordnung brachten eine Phase relativer Stabilität in der politischen Fortentwicklung425 . Bereits 1925 konnte so die Einschränkung des Beweiserhebungsanspruchs revidiert werden. I. Gesetzliche Wiederherstellung des Beweiserhebungsanspruchs

Durch Gesetz vom 22. Dezember 1925 426 wurde das Ennessen des Gerichts, den Beweisaufnahrneumfang frei zu bestimmen, auf Übertretungen und Privatklagesachen eingegrenzt. Damit war in den anderen amts gerichtlichen Verfahren vor dem Einzelrichter und dem Schöffengericht die Verwendungspflicht hinsichtlich der präsenten Beweismittel wie die Bindung an die gestellten Beweis anträge - entsprechend der Judikatur des Reichsgerichts - wiederhergestellt427 . Bereits wenige Monate später war die Bestimmung des § 245 StPO (1925) erneut Gegenstand einer Strafprozeßnovelle. Durch Gesetz vom 27. Dezember 1926428 wurde erstmalig ein Ablehnungsgrund in das Gesetz aufgenommen. Den Gerichten wurde die Befugnis zugesprochen, von der Verwendung der präsentierten Beweismittel abzusehen, sofern die Beweiserhebung dem Zwecke der

Go/dschmidt, JW 1924, S. 245 ff., 247. Hier ist nach den auf Art. 48 Abs. 2 WRV gestützten Notverordnungen der Präsidialkabinette und der "Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat" ("Reichstagsbrand-Verordnung") vom 28. 2. 1933 vor allem das Ermächtigungsgesetz vom 23. 3. 1933 ("Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich") zu erwähnen. 425 Schwabe, Weg der Republik, S. 119; Bracher, Auflösung, S. 51. 426 Gesetz zur Abänderung der Strafprozeßordnung vom 22. Dezember 1925. RGBI. 1925, Teil I, Nr. 56, S. 475. 427 V gl. Hartung, DJZ 1926, Sp. 129 ff. 428 Gesetz zur Abänderung der Strafprozeßordnung vom 27 .12. 1926, RGBI. 1926, Teil I, S. 529. 423

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7 Schatz

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

Prozeßverschleppung dienen sollte 429 • Als "Ausgleich" fUr diese Restriktion wurde der Verwendungszwang bezüglich der präsenten Beweismittel auf die erst während der Hauptverhandlung geladenen Beweispersonen und sonstigen herbeigeschafften Beweismittel erweitert430 . In dieser Fassung blieb § 245 StPO bis zur Notverordnung vom 14. Juni 1932 unverändert.

11. Der Entwurf 1930

Im Zusammenhang mit dem Entwurf eines Strafgesetzbuches vom 14. Mai 1927 sah der Entwurf zum zugehörigen Einfilhrungsgesetz (E 1930)431 zahlreiche ModifIkationen des Strafprozesses vor432 • Unter anderem wollte der E 1930 die Rechtsfortbildung des Reichsgerichts zum Beweiserhebungsanspruch des Angeklagten in eine gesetzliche Form - § 244 Abs. 3 E 1930 - gießen433 . Neben dem Versuch, ein Beweisantragsrecht mit bestimmten Ablehnungsgründen zu kodifIzieren, sah der Entwurf fUr den Bereich präsenter Beweismittel noch eine Besserstellung des Angeklagten dadurch vor, daß eine Verpflichtung des Gerichts zur Anhörung von Zeugen und Sachverständigen nicht nur bei förmlicher Vorladung, sondern auch bei deren bloßer Gestellung in der Hauptverhandlung bestehen sollte (§ 245 E 1930). Zu einer Realisierung des Entwurfs kam es indes nicht. Im Zuge der Auseinandersetzungen um die Reform des Strafgesetzbuchs blieb auch die Novelle zur

429 Verschleppungsabsicht als Ablehnungsgrund gegenüber erst in der Hauptverhandlung gestellten Beweisanträgen war dagegen bereits durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts anerkannt (vgl. Alsberg, Beweisantrag, S. 26 f. m.w.N.; Stützei, Beweisantrag, S. 98 ff.). Nach der Gesetzesänderung von 1926 wurde die Ablehnbarkeit von Beweisanträgen wegen Verschleppungsabsicht zum Teil auch mit der Anwendbarkeit des in § 245 Abs. 1 StPO normierten, jedoch systematisch nur auf präsente Beweismittel bezogenen Ablehnungsgrundes bejaht (Beling, Lehrbuch, S. 381 Anm. 4: "Argumentum a fortiori", vgl. dazu Stütze I, Beweisantrag, S. 100 f., Fn. 2 a). Teilweise wurde zum Zwecke der Verfahrensverschleppung gestellten Anträgen bereits die Beweisantragsqualität abgesprochen (Miltner, Recht 1902, S.569; Begründung E 1909, RT-Verh., XII. Legislaturperiode, 11. Session 1909/1911, Bd. 270 [Anlagen], S. 158); Kommissionsbericht zum E 1909, RT-Verh., XII. Legislaturperiode, 11. Session 1909/1911, Bd. 277 [Anlagen], Nr. 638, S. 3313). 430 Zum Hintergrund und den Reaktionen im Schrifttum vgl. Hagemann, Entstehung, S. 43 f. m.w.N. 431 Entwurf eines Einruhrungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz 1930, Nachdruck in Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 7, Bonn 1954. 432 Zur Geschichte und zum Inhalt des E 1930: LR-Schäfer, Einl. Kap. 4 Rn. 8 ff. 433 Artikel 70, Ziffer 136, Abdruck in Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 7, Bonn 1954, S. 32.

F. Untergang der Weimarer Republik: Die Notverordnungspraxis

99

Strafprozeßordnung ohne Erfolg und wurde erst gar nicht im Reichstag beraten434 •

F. Der Untergang der Weimarer Republik: Die Notverordnungspraxis Die bereits in der Emminger-Verordnung zum Ausdruck kommende unheilvolle Neigung43S , ohne parlamentarische Unterstützung durch Exekutivverordnungen kurzerhand die Angeklagtenrechte zu beschneiden, setzte sich in den Wirren gegen Ende der Weimarer Republik fort. Mit dem Bruch der Großen Koalition im März 1930 und dem Beginn der Präsidialkabinette wurde die parlamentarische Demokratie durch einen "Semiparlamentarismus" abgelöst436 • Zunehmend chaotischeren Zuständen versuchte man durch autoritäre Maßnahmen zu begegnen. Für den Bereich des Strafverfahrens wurden auf der Grundlage von Art. 48 Abs. 2 WRV, der Diktaturgewalt, Notverordnungen erlassen, die erhebliche Teile liberalen und rechtsstaatlichen Charakters aus der Strafprozeßordnung eliminierten437 • I. Die Notverordnung vom 8. Dezember 1931

Zu einer ersten Einschränkung des seit 1925 bestehenden weitgehenden Beweiserhebungsanspruchs kam es im Dezember 1931 anläßlich eines aufsehenerregenden Ehrenschutzprozesses. In diesem Verfahren hatte der Angeklagte Heidrich 52 Zeugen herbeigeschafft, um so den Wahrheitsbeweis dafilr anzutreten, daß seine Titulierung des Berliner Polizeipräsidenten Zörgiebel als "Arbeitermörder" gerechtfertigt gewesen sei438 • Da das Berufungsgericht die Vernehmung der Zeugen nach den vom Reichsgericht entwickelten Maßstäben zu Unrecht abgelehnt hatte, hob das Reichsgericht das Berufungsurteil auf. Der daraufhin anschwellenden Empörung439 , daß eine derartige Judikatur "das Ende jeden staatlichen Ehrenschutzes" bedeute, beugte sich schließlich der Reichspräsident. Durch Notverordnung vom 8. Dezember 1931 wurde die ein-

v. Hippel, Strafprozess, S. 67. Dazu C. Schmitt, Lage der europäischen Rechtswissenschaft, S. 18 f. 436 Bracher, Auflösung, S. 257 ff., 335. 437 Vgl. Hirschberg, Justiz VIII (1932/33); Sellert, NS-Ideologie, S.72; Naucke, Aufhebung, S. 100 ff.; Koch, Refonn, S. 14; I. Müller, Leviathan 1977, S. 526. 438 Der Fall liegt der Entscheidung RGSt 65, 304 ff., zugrunde. Schilderung des Sachverhaltes bei K. Klee, GA 77 (1933), S. 81 f., u. H.-J Klee, Bestimmung, S. 133 f. 439 Vgl. K. Klee, GA 77 (1933), S. 82; H.-J Klee, Bestimmung, S. 134; dazu auch Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 6 Fn. 29. 434 435

7"

100

1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

schränkende Regelung des § 245 Abs. 2 StPO (1925) auf alle Strafverfahren wegen Beleidigungssachen erstreckt440 •

11. Die Notverordnung vom 14. Juni 1932

Erheblich größere Bedeutung fiir den Beweiserhebungsanspruch des Angeklagten hatte die Notverordnung vom 14. Juni 1932, angeordnet unter der Präsidialregierung v. Papen441 • Ohne Rücksicht auf den Gegenstand des Verfahrens wurde fiir alle Verhandlungen vor dem Amtsrichter, dem Schöffengericht und dem Landgericht in der Berufungsinstanz die Bestimmung des Umfanges der Beweisaufuahme in das freie Ermessen des Gerichts gestellt442 • Für die wenigen schwurgerichtlichen und reichsgerichtlichen Verfahren erster Instanz blieb es bei der gebundenen Stellung des Gerichts gegenüber dem Beweisverlangen des Angeklagten443 • Das gleiche galt auch fiir Verfahren vor der Großen Strafkammer des Landgerichts, welche durch die Notverordnung wieder allgemein als erstinstanzlicher Spruchkörper eingesetzt wurde 444 . Allerdings fiel ein Großteil auch der gewichtigeren Strafsachen in die schöffengerichtliche und nicht in die erstinstanzliche Zuständigkeit des Landgerichts 44S , so daß die Zahl der Verfahren, in denen das freie Ermessen des Gerichts bei der Bestimmung des Umfangs der Beweisaufuahme gelten sollte, erheblich erweitert wurde. Die Rechtslage war damit die, daß in allen Verfahren, in denen eine zweite Tatsacheninstanz zur Verrugung stand, das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme frei bestimmen konnte, während dort, wo nur eine Tatsacheninstanz gegeben war, eine Bindung des Gerichts bestand. Die Notverordnung erweiterte jedoch nicht nur den Kreis der Strafsachen, in denen das Gericht von Bindungen frei sein sollte. Sie gewährte den Gerichten zugleich ausdrücklich ein

440 § 4 (Achter Teil, Kapitel III) der Vierten Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutz des inneren Friedens vom 8.12.1931, RGBl. 1931, Teil I, S. 743. 441 Verordnung des Reichspräsidenten über Maßnahmen auf dem Gebiete der Rechtspflege und Verwaltung vom 14. 6. 1932, RGBl. 1932, Teil I, S. 285-296. Darstellung der Änderungen: Töwe, DRiZ 1932, S. 199 tT. 442 Erster Teil, Kapitel I, Artikel 3, § 1 der Verordnung vom 14. 6. 1932. 443 Wagner, Umgestaltung, S. 265. 444 Vgl. Erster Teil, Kapitel I, Artikel 1, § I der Verordnung vom 14.6.1932 (LRSchäfer, Einl. Kap. 3 Rn. 20). Beschränkt auf sog. "Monstreprozesse" (nach damaligen Verständnis waren das solche mit voraussichtlich mehr als sechs Sitzungstagen) war die erstinstanzliche Zuständigkeit der Strafkammer bereits durch die Verordnung zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 6. 10. 1931 (RGBl. I, S. 537-570) wiederbegründet worden (Sechster Teil, Kapitel I, § 1; vgl. LR-Schäfer, Einl. Kap. 3 Rn. 18). 445 Brünn, Justiz VII (1931/32), S. 499.

F. Untergang der Weimarer Republik: Die Notverordnungspraxis

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"freies" Ennessen bei der Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme446 • Dieser explizite Hinweis sollte die Zweifel beseitigen, die bislang an der Auslegung des § 245 Abs. 2 StPO (1924) = § 244 Abs. 2 StPO (1877) bestanden447 . Die Freistellung des Gerichts in den von § 245 Abs.2 StPO (1932) erfaßten Verfahren unterer und mittlerer Kriminalität sollte sich also nicht nur auf die vorangestellte Vorschrift des § 245 Abs. I StPO (1932) beziehen und von der Verwendungspflicht gegenüber präsenten Beweismitteln suspendieren, wie es teilweise zu den Vorgängervorschriften vertreten worden war448 • Der Ministerialrat im Reichsjustizministerium Koftka meinte dementsprechend, daß durch den Wortlaut der neuen Bestimmung unzweideutig zum Ausdruck gebracht werde, daß das Gericht bei seiner Entschließung in vollem Umfange frei darüber befmden könne, welche Beweise es zur Aufklärung fiIr erforderlich halte449 . Betroffen waren damit auch und vor allem die vom Reichsgericht entwickelten strengen Grundsätze fiIr die Ablehnung von Beweisanträgen450 • Das Dogma vom Verbot der Beweisantizipation, vom Reichsgericht in jahrzehntelanger Judikatur gefestigt und ausgebaut, geriet durch diese Änderung fiIr den gesamten Bereich der unteren und mittleren Kriminalität ins Wanken451 • 446 So bereits die Verordnung über Sondergerichte gegen Schleichhandel und Preistreiberei (Wuchergerichte) vom 27. 11. 1919 und die Verordnung über die beschleunigte Aburteilung von Straftaten vom 17. 12. 1923 (siehe oben vor L). 447 KoffkalSchäfer, Vorschriften, S. 49. 448 Während man bis Mitte der zwanziger Jahre in § 244 Abs. 2 StPO (1877) nur eine Befreiung des Gerichts von der Pflicht zur Verwendung präsenter Beweismittel in Verfahren minderer Bedeutung gesehen hatte, wurde später der Bezug zu den präsenten Beweismitteln aufgegeben und § 245 Abs. 2 n.F. so interpretiert, daß diese Ausnahmeklausel allgemeine Bedeutung fiir die von ihr erfaßten Verfahren habe. Folge dieser neuen Lesart des Abs. 2 war, daß die Freistellung des Gerichts auch fiir die Behandlung erst in der Hauptverhandlung gestellter Beweisanträge galt. 449 Koffka, JW 1932, S. 1932. 450 So die Kommentierung der Verordnung bei KoffkalSchäfer, Vorschriften, S. 49. Anfang der dreißiger Jahre entsprach es wohl der überwiegenden Auffassung, daß in amtsrichterlichen, schöffengerichtlichen und zweitinstanzlichen landgerichtlichen Verfahren das Gericht durch § 245 Abs. 2 eine freiere Stellung habe, als in den schweren Strafsachen, insbesondere keine Bindung an die vom Reichsgericht entwickelten Ablehnungsgründe bestehe. Vgl. LöwelRosenberg, 19.Aufl. (1934), § 245 Anm.9, 10; H.-J Klee, Bestimmung, S. 136 ff.; ders., DJ 1937, S. 1386 f.; H.-J Bruns, DR 1940, S.2042, 2044; RG JW 1933, S. 953, Nr.7; RGSt 67, S.97 (98) = JW 1933, S.954, Nr. 8; BayOLG DRiZ 1932, Sp. 696, Nr. 852. Die Zulässigkeit von Beweisantizipationen blieb jedoch umstritten (a.A. LR-Niethammer, 2. Nachtrag zur 19. Aufl., S. 6 f., 227; Kohlrausch, StPO, Vorbem. zu §§ 244-256 Anm. 12, § 245 Anm. 3, 9 f.). 451 Vgl. RGSt 67, S. 97 (98) = JW 1933, S. 954, Nr. 8; RG JW 1933, S. 953, Nr. 7; BayOLG DRiZ 1932, Sp. 696, Nr. 852. Die Entscheidungen gehen davon aus, daß die Verordnung vom 14. Juni 1932 innerhalb ihres Geltungsbereichs das Gericht von der bisherigen Bindung an §§ 244, 245 StPO freistellt, insbesondere auch von der Beobachtung des Beweisantizipationsverbots befreit. Allerdings wird auf die Fortgeltung der amtswegigen Wahrheitserforschungspflicht hingewiesen.

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

Die Verordnung vom 14. Juni 1932 stellt diesbezüglich einen entscheidenden Wendepunkt dar4S2 • Die weitere Entwicklung ist gekennzeichnet durch den sukzessiven Übergang vom weitgehend gesetzlich gebundenen Beweis zum freieren Ermessen bis hin zum freien Ermessen des Gerichts durch vollständige Liquidierung des Beweiserhebungsanspruchs im Jahre 1939453 . Die Notverordnung verschlechterte die Rechtsstellung des Angeklagten zusätzlich dadurch, daß sie fUr die amtsgerichtlichen Verfahren die Rechtsmittel beschränkte. Wahlweise konnte der Berechtigte entweder nur Berufung an das Landgericht oder nur Revision an das Oberlandesgericht einlegen454 . Damit standen zwar fakultativ nach wie vor zwei Tatsacheninstanzen zur Verfiigung, in beiden Instanzen waren Beweisanträge jedoch nur als schlichte Beweisanregungen im Rahmen der richterlichen Aufklärungspflicht zu beachten. Das war fiir den Angeklagten gerade deshalb besonders mißlich, weil wegen des Verbrauchs der Rechtsmittel nach der Inanspruchnahme beider Tatsacheninstanzen eine Verletzung der richterlichen Aufklärungspflicht455 mittels einer Aufklärungsrüge456 nicht mehr geltend gemacht werden konnte 457 . Der Staatssekretär im Reichsjustizministerium Schlegelberger rechtfertigte die Notverordnung mit der "Diktatur der Armut,,458. Das zeitgenössische Schrifttum übte dagegen überwiegend heftige Kritik459 . So wurde die zuneh452 H.-J. Bruns, DR 1935, S. 2043. Vgl. auch LR-Niethammer, 2. Nachtrag zur 19. Aufl., Einl., S. 6 f. 453 Unten G. III. 5; vgl. auch Henkel, Strafverfahren, S. 394. 454 Erster Teil, Kapitel I, Artikel 2, § 1 der Verordnung vom 14. 6. 1932. 455 Die gerichtliche Aufklärungspflicht sollte durch die Notverordnung nicht berührt werden. Sie galt als Grenze des freien richterlichen Ermessens (Schreiber, JR 1932, S. 187 [188]; Löwe/Rosenberg, 19. Aufl. [1934], § 245 Anm.9; Töwe, DRiZ 1932, S. 201; Mannheim, JW 1932, S. 3356 f.). 456 Zur Entwicklung der Aufklärungsrüge siehe unten G. IV. 2. 457 V gl. Rieß, Reichsjustizamt-FS, S. 428. 458 Schlegelberger, JW 1932, S. 1929; grundsätzliche Kritik von Kohlrausch, JW 1932, S. 2672, der Kant bemüht: "Wenn die Gerechtigkeit untergeht, hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben"- und ergänzt - "auch keinen wirtschaftlichen Wert mehr !". 459 Kohlrausch, JW 1932, S. 2672; Hellwig, JW 1932, S. 2672 ff.; v. Pestalozza, JW 1932, S.2675 ff.; Graf zu Dohna, JW 1932, S.2669 ff.; Hirschberg, Justiz VIII (1932/33), S. 125 ff.; Gerland, DJZ 1932, Sp. 1182 ff.; Brünn, Justiz VII (1931/32), S. 496 ff.; Oetker, GS 104 (1934), S. 48 f.; LR-Niethammer, 2. Nachtrag zur 19. Aufl., Einleitung, S. 6 f. Überwiegend negative Anmerkungen zeigt auch der Pressespiegel in DRiZ 1932, S. 217 ff. Zustimmend hingegen: Schreiber, JR 1932, S. 188; H.-J. Klee, Bestimmung, S. 138; Töwe, DRiZ 1932, S. 201; Siegert, DRiZ 1932, S. 205; KofJka, JW 1932, S. 1932; Maatz, DRiZ 1932, S. 134 f.; K. Klee, GA 77 (1933), S. 97; weitergehende gerichtliche Freiheit hatte auch 1932 der Preußische Richterverein gefordert (JW 1932, S.917). Dazu die ablehnende Replik des Deutschen Anwaltvereins, JW 1932, S. 919 f.

F. Untergang der Weimarer Republik: Die Notverordnungspraxis

103

mende Fonnlosigkeit des Verfahrens beklagt. Vom Rechtsstaat kehre man zum alten Polizeistaat zurück und verwandele auf diesem Weg den Strafprozeß von einem Rechtsverfahren in ein immer mehr der richterlichen Willkür ausgeliefertes Verwaltungs verfahren. Hellwig merkte an, daß es beinahe so scheine, als ob man die Strafrechtsptlege nicht mehr unter dem beherrschenden Grundsatz betrachte, wie man am besten dafilr sorgen könne, daß sie ihrer Aufgabe der Wahrheitsennittlung gerecht werden könne, sondern daß man vor allem danach trachte, die notwendigen Kosten der Strafrechtsptlege zu vennindern460 . Hirschberg, der angesehene und durch den Fall Felix Fechenbach berühmte Münchener Strafverteidiger, sah in der Verordnung die weitaus einschneidendste reaktionäre Verschlechterung der Strafrechtsptlege, die die Republik seit ihrem Bestehen erlebt habe: Mit der "Guillotinierung der Beweisrechte des Angeklagten" sei das letzte und wichtigste Bollwerk gegen richterliche Willkür beseitigt461 . Und wieder wurde im Schrifttum bezweifelt, ob die Beschränkung der Angeklagtenrechte trotz des offiziellen Rekurses auf die "Not der Zeit,,462 wirklich durch Ersparnisgründe motiviert war, oder ob die eigentliche Triebfeder der Notverordnung nicht vielmehr in dem Bestreben wurzelte, das prozessuale Kräfteverhältnis entsprechend dem zunehmend staatsautoritären Zeitgeist zuungunsten des Angeklagten zu verschieben463 . So war Hirschberg der Auffassung, daß es in Wirklichkeit nicht, wie die Überschrift zu den die Strafrechtsptlege betreffenden Bestimmungen suggerierte, um "Vereinfachung und Ersparnisse" ging, sondern tim reaktionäre Wunscherfiillungen der Ministerialbürokratie464 . Nach dem zur Emminger-Verordnung Gesagten liegt der Verdacht tatsächlich nahe, daß es der Notverordnung bei der Verkürzung des Beweiserhebungsanspruchs mehr um prinzipielle, programmatische Fragen ging46S .

460 Hellwig, JW 1932, S.2674; ähnlich Kohlrausch, JW 1932, S.2672; Gerland, DJZ 1932, Sp. 1182 ff. 461 Hirschberg, Justiz VIII (1932/33), S. 125, 127, 129. 462 Ministerialrat im Reichsjustizministerium KojJka, JW 1932, S. 1930. Siehe auch die Überschrift zum I. Teil der Verordnung, weicher die Strafrechtspflege behandelt: "Vereinfachung und Ersparnisse". 463 v. Pestalozza, JW 1932, S. 2677; Hirschberg, Justiz VIII (1932/33), S. 122 ff.; Hellwig, JW 1932, S. 2674; Brünn, Justiz VII (1931/32), S. 496,500; Kohlrausch, JW 1932, S. 2672; H-J. Bruns, DR 1940, S. 2043; Berliner Zeitung am Mittag v. 15. Juni 1932 (zit. im Zeitspiegel der DRiZ 1932, S. 218); weiter 1. Müller, Rechtsstaat, S. 73; ders., KJ 1977, S. 14; ders., Leviathan 1977, S. 526. 464 Hirschberg, Justiz VIII (1932/33), S. 122 ff., 125, 127 ff. 465 So auch v. Pestalozza, JW 1932, S. 2677; vgl. auch Simader, Ablehnung, S. 2.

104

I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte 111. Der Übergang zum Nationalsozialismus

An die Verordnung vom 14. Juni 1932 schlossen sich alsbald neue Notverordnungen an, die den Beweiserhebungsanspruch filr bestimmte Verfahren weiter beschnitten. Zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen wurden zunächst durch Verordnung vom 9. August 1932 466 Sondergerichte gebildet, die den Umfang der Beweisaufnahme frei bestimmen konnten467 • Zwar wurden die "Papenschen Sondergerichte" im Dezember 1932 wieder abgeschafft, doch richtete die Regierung Hitler bereits am 21. März 1933 erneut Sondergerichte mit der gleichen Befugnis ein468 • Rechtsmittel gegen Entscheidungen dieser Sondergerichte gab es nicht469 • Der rechtsstaatlich-liberale Charakter des Strafverfahrens wurde in Folge der zunehmenden Entformalisierung des Prozeßablaufs und der Ausrichtung an einem autoritären Verfahrensverständnis mehr und mehr ausgedünnt, zumal entgegenstehende rechtsstaatliche strafprozessuale Prinzipien, wie etwa das Beweisantizipationsverbot, durch fiskalisch-ökonomische Rationalisierungserwägungen disponibel gestellt wurden. Diese Tendenzen machten auch vor dem Beweiserhebungsanspruch des Angeklagten keinen Halt, der als vermeintlich umständliches, zeitraubendes und liberal-individualistisches Verfahrensrecht dem erstarkenden autoritären Zeitgeist nicht mehr konform erschien. Den Nationalsozialisten war damit in einem erheblichen Maße inhaltlich vorgearbeitet worden.

466 Verordnung der Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten vom 9. August 1932, RGBI. 1932, Teil I, Nr. 54, S. 404-407 (dazu Koch, Reform, S. II ff.). 467 § 14 Sondergerichtsverordnung. Der Zuständigkeitsbereich der Sondergerichte war relativ groß. Neben Straftaten gegen die öffentliche Ordnung, Widerstandes gegen die Staatsgewalt und diversen durch vorangegangene Notverordnungen begründeten Sondertatbeständen, zählten auch Delikte nach §§ 21 I. ff., 223 a ff., 239 ff. und 303 ff. StGB zum Zuständigkeitskatalog der Verordnung vom 9.8. 1932 (vgl. § 2). Zudem waren die Sondergerichte auch dann zuständig, wenn eine ihnen zugewiesene Tat zugleich den Tatbestand eines anderen Delikts erfüllte oder ein tatsächlicher Zusammenhang bestand (§ 3). Sofern die Tat nicht aus politischen Beweggründen begangen wurde oder ihre alsbaldige Aburteilung durch die Sondergerichte zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder Staatssicherheit von minderer Bedeutung war, konnte allerdings die spezielle Anklagebehörde das Verfahren an die Staatsanwaltschaft zur Weiterverfolgung im ordentlichen Verfahren abgeben (§ 4). 468 Verordnung der Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten vom 21. März 1933, RGBI. 1933, Teil I, Nr. 24, S. 136-138. V gl. 1. Müller, Strafprozeßrecht, S.60. 469 Die Sondergerichtsverordnungen stießen auf harte Kritik. Gerland, DJZ 1932, Sp. 1184, sprach bzgl. der Verordnung vom 9. 8. 1932 von einem "fast standrechtlichen Verfahren". In dem Ausschluß des Beweiserhebungsanspruchs sah Gerland eine geradezu ungeheuerliche Bestimmung, deren ganze Bedeutung erhelle, wenn man die Unanfechtbarkeit der sondergerichtlichen Entscheidungen bedenke (a.a.O., Sp. 1184).

G. Zeit des Nationalsozialismus

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G. Die Zeit des Nationalsozialismus Die nationalsozialistische Zeit zeigt in beispielhafter Weise, daß "alles Strafprozeßrecht neben der rein juristischen Struktur seiner Anordnungen einen eminent politischen Einschlag,,470 hat und als "Seismograph der Staatsverfassung,,471 die Grundeinstellung des Staates zum Individuum widerspiegelt472 .

I. Ausgangslage • Die neuen ideologischen Einflüsse auf das Verfahrensrecht Der bürgerlich-liberalen Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts war es zu verdanken, daß der Beschuldigte von seiner Objektstellung befreit und im reformierten Strafprozeß zum mit eigenen Rechten ausgestatteten Verfahrens subjekt aufsteigen konnte. Der prinzipiell jedem Strafverfahren immanente Widerstreit von Individualinteressen und Gemeinschaftsbelangen wurde - anders als im alten Inquisitionsverfahren - nicht mehr einseitig nach den Belangen der Staatsräson aufgelöst. Die nationalsozialistische Rechtslehre zielte nun wieder auf eine "Umwertung der Werte,,473 . In der Strafprozeßordnung von 1877 glaubte man, eine individualistisch-atomistische, staatsfeindliche Haltung erkennen zu können, die das Individuum allzu einseitig zum Zwecksubjekt allen staatlichen Handeins gemacht habe474 .

Graf zu Dohna, Strafprozeßrecht, S. 3. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 2 Rn. 1; H.-L. Schreiber, Tendenzen, S. 15. 472 Das bekannte Zitat Exners: "Anderer Staat - anderer Strafprozeß" stammt aus dem Jahre 1935 (ZStW 54 [1935], S. 4). Vermerkt wurde allerdings auch, daß die nationalsozialistische Rechtserneuerung in anderen Rechtsgebieten, etwa im materiellen Strafrecht, im Verfassungs- und Verwaltungsrecht, stärker in Erscheinung getreten sei. Sellert (NS-Ideologie, S. 74, 96 Anm. 137, erklärt das Auseinanderklaffen der "Wertparallelität" zwischen gelebter Verfassungswirklichkeit und Strafprozeßrecht mit einer Strafprozeßpraxis, die Reformen des Gesetzes entbehrlich machte (vgl. auch Koch, Reform, S. 245 f.). Dahm (a.a.O.) hat ganz in diesem Sinne formuliert, als er ausführte, daß vieles von dem, was formal erhalten bleibe, "durch die nationalsozialistische Revolution eine Veränderung seines Sinngehalts und damit auch des Inhalts und seiner praktischen Bedeutung" erfahre. "Rechtsanwendung als Gesetzgebungsersatz" durch "unbegrenzte Einlegung" (nämlich der nationalsozialistischen Weltanschauung) nennt Rüthers, Entartetes Recht, S. 22 und passim, diesen Vorgang. 473 Vgl. Stock, Strafprozeßerneuerung, S. 203. 474 Vgl. etwa Stock, Strafprozeßerneuerung, S. 201; Exner, ZStW 54 (1935), S. 4 f.; Schroers, Umgestaltung, S. 22 f.; Schaffstein, DR 1935, S. 520 ff.; Eigenschaftsworte wie "individualistisch" und "atomistisch" waren ebenso wie die Termini "mechanistisch", "rationalistisch" und "intellektualistisch" Antibegriffe, Kampfbegriffe, gegen den vermeintlich gemeinschaftswidrigen Liberalismus (dazu Koch, Reform, S. 44 f.). 470

47\

106

1. Teil: Historische Entwicklung und Refonngeschichte

Nach nationalsozialistischer Doktrin sollte die "Volksgemeinschaft" der oberste Wert, die "Zentralsonne der Rechtsordnung" sein475 . Gegenüber ihren Belangen war das Individuum gemäß der Maxime, daß "der Einzelne nichts, die Gemeinschaft alles ist,,476, nachrangig. Aufgabe des Rechts in diesem ideologischen Bezugsrahmen war es allein, der "Volksgemeinschaft" zu dienen, nicht das Individuum zu schützen477 . Gegenüber dem absoluten Primat der Gemeinschaft - hinter dem sich aber wohl doch eher Machtinteressen der Herrschaftsclique verbargen - hatten individuelle Rechte der Einzelpersönlichkeit stets zurückzutreten478 . Das halboffizielle "Nationalsozialistische Handbuch ftir Recht und Gesetzgebung" hatte daher keinerlei Skrupel zu formulieren, daß es gleichgültig sei, "ob es dem Angeklagten bei dem Verfahren zur Wahrheitsermittlung gut oder schlecht geht,,479 . Aufgabe des Verfahrensrechts sollte es ausschließlich sein, staatlichen Zugriff zu organisieren und eine schnelle Aburteilung zu gewährleisten, ohne weitere Schutzvorrichtungen gegen staatliche Zugriffe vorzusehen480 : "Nicht mehr daß Hemmungen zugunsten vielleicht Unschuldiger vorhanden sind, ist das Wesentliche, sondern daß der Verbrecher bezwungen werden kann.,,481

Dazu galt es, im Rahmen der nationalsozialistischen Rechtsemeuerung all das aus der Strafprozeßordnung zu eliminieren, was man als Emanation des politischen Liberalismus im reformierten Strafprozeß zu erkennen glaubte. Ty475 Stock, Strafj>rozeßerneuerung, S. 204 ff.; zur "Volksgemeinschaft" in der nationalsozialistischen Ideologie: Majer, Grundlagen, S. 117 fI.; Koch, Refonn, S. 27 ff.; Anderbrügge, ARSP Beiheft 1811983, S. 128 f. 476 Stock, Strafj>rozeßerneuerung, S. 202. 477 Vgl. Schroers, Umgestaltung, S. 43; Siegert, ZStW 54 (1935), S. 15 f., 22 ff. 478 Griffige Schlagworte waren in diesem Sinne etwa "Du bist nichts, Dein Volk ist alles", "Erst kommt das Volk und dann der einzelne" oder "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" (vgl. Anderbrügge, Völkisches Rechtsdenken, S.78 m.w.N., 152; Sellert, NSIdeologie, S. 63; Koch, Refonn, S. 27 f.). 479 Schwarz, NS-Handbuch, S. 1460. 480 Neben der Veränderung der weltanschaulichen Grundlagen (insbes. von der Stellung der Einzelpersönlichkeit im Strafverfahren), die zu einer tiefgreifenden Umgestaltung drängten, war die Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens erklärtes Refonnziel. Im Blick hatte man dabei vor allem die aufsehenerregenden, umfangreichen und langandauernden "Monstreprozesse" der "Systemzeit", die zu Beginn der 30er Jahre als Folge der WeItwirtschaftskrise vorrangig in Fonn von Wirtschaftsprozessen, Aufsehen erregten. V gl. Schwarz, NS-Handbuch, S. 1467 ff. ("Krebsschaden rur die Rechtspflege"); Siegert, ZStW 54 (1935), S. 15; Lehmann, DJ 1935, S. 1000. Dazu Koch, Refonn, S. 97; Herrmann, ZStW 85 (1973), S. 255 f., jeweils m.w.N. Der 11. Internationale Kongreß rur Strafrecht und Geflingniswesen 1935 in Berlin, widmete sich ganz dem Thema "Monstreprozesse" (Kongreßthema: "Welche Maßnahmen sind zu empfehlen, um die sogenannten 'Monstreprozesse' abkürzen zu können"; zit. nach Herrmann, a.a.O., S. 255 f., Fn. 3). 481 Peters, ZStW 56 (1937), S. 38.

G. Zeit des Nationalsozialismus

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pische Reizworte waren etwa "Fonnalismus,,482, "Waffengleichheit,,483 und "Parteiprozeß,,484. Im Blickpunkt stand damit eine der Haupterrungenschaften des refonnierten Strafprozesses: Die Anerkennung des Angeklagten als mit eigenen, echten Rechten ausgestattetes, aktiv am Verfahrensablauf teilhabendes Prozeßsubjekt - die Partizipation bei der Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme inbegriffen.

11. Die Eliminierung individueller Prozeßrechte

Das rechtstheoretische Rüstzeug filr die Überwindung des refonnierten Strafprozesses sollte eine "völkisch" verstandene Rechtslehre bieten48S , zu der im weiteren Sinne auch das "konkrete Ordnungsdenken" earl Schmitts486 und Karl Larenz' Lehre vom "konkret-allgemeinen Begrift"487 zählen. In bewußter Frontstellung zum liberal-individualistischen Gedankengut des bürgerlichen Verfassungsstaates sollte an die Stelle der abstrakten, negativen Freiheit die gemeinschaftsgebundene Rechtsstellung des Volksgenossen tre-

482 "Auflockerung" (Freisler, Grundsätzliches, S. 15) des Verfahrens hieß demgemäß eines der Reformziele. Reichsjustizkommissar H. Frank, DR 1934, S. 232, sehnte sich nach der Befreiung "von der Ueberkommenheit leerer mechanischer Begriffe" und gab die Parole aus: "Lebensrecht, und nicht Formalrecht soll das Ziel sein"; Siegert, ZStW 54 (1935), S. 16, postulierte die "radikale Abkehr von jedem Formalismus im Prozeß, von jeder Prinzipienreiterei"; Freisler, a.a.O., S. 15, sprach von der "Zwangsjacke zwingender Einzelbestimmungen"; Noack, DR 1934, S. 357, forderte die Überwindung des "krassen Rechtsformalismus". 483 Stock, Strafprozeßemeuerung, S.204 ("Fort mit dem abwegigen Gedanken der Waffengleichheit"); vgl. auch Sellert, NS-Ideologie, S.63 m.w.N., und Koch, Reform, S.119. 484 Wortfilhrer im Kampf gegen den Parteiprozeß war Henkel (etwa in DStrR 1935, S. 130 ff., 141 ff.; DJZ 1935, Sp. 531 ff.; ZStW 54 [1935], S. 44). 485 Dazu Anderbrügge, Völkisches Rechtsdenken, S. 132 ff., der auf ein breites Spektrum disparater, von nationalsozialistischen Vorstellungen gespeisten, sog. "völkischen Rechtslehren" hinweist und selbst systematisch zwischen "völkischen Rechtsdenken i.w.S. " (als Dachbegriff), zum dem er auch C. Schmitts "konkretes Ordnungs- und Gestaltungsdenken" zählt, und den spezifischen "völkischen Rechtslehren i.e.s" unterscheidet (a.a.O., S. 96 f., 132 f.). 486 Vgl. C. SchmUt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, wo der Begriff "konkretes Ordnungs- und Gestaltungsdenken" in Anknüpfung an die Institutionenlehre eingefiihrt wird (S. 58). Hierzu ausfiihrIich: Anderbrügge, Völkisches Rechtsdenken, S. 106 ff.; außerdem: Thoss, Das subjektive Recht, S. 40 ff.; Werle, Justiz-Strafrecht, S. 144 f.; Koch, Reform, S. 37 f.; Rüthers, Entartetes Recht, S. 59 ff., 63 ff., 72 ff. 487 Siehe Rüthers, Entartetes Recht, S. 76 ff., 88 ff.; Thoss, Das subjektive Recht, S. 40 ff.

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

ten488 . Die Einzelpersönlichkeit wurde zum "Glied der Volksgemeinschaft" stilisiert, dessen Rechtsstatus sich nicht mehr über seine Rechte, sondern ausschließlich über seine Pflichten definierte 489 • Dementsprechend wurden subjektive staats gerichtete Rechte, die dem Staat ein bestimmtes Tun oder Unterlassen vorschreiben, als "Götter des Liberalismus" liquidiert490 . Die Folge war der Untergang des Individuums als Rechtssubjekt. Für den Bereich des Strafverfahrensrechts bewirkte diese theoretische Uminterpretation, daß der Angeklagte mit zunehmender Entrechtung mehr und mehr wieder zum Objekt des Verfahrens herabsank, in dem er nur als "Prozeßverpflichteter" galt491 . Mit der Überwindung der vermeintlich "zweiteiligen Staatskonstruktion" des Liberalismus, das heißt der Entgegensetzung Staat - Individuum, sei es nicht mehr sinnvoll "ein ganzes Gebäude von Rechtsschutzmitteln und -einrichtungen aufzubauen, um die hilf- und schutzlose, arme, isolierte Einzelperson vor dem mächtigen Leviathan 'Staat' zu schützen,,492. Individuelle Verfahrensrechte und formstrenge, die Macht des Staates begrenzende, Rechtsschutzgarantien waren letztlich sogar überflüssig. Denn der als Ausdruck liberalen Parteidenkens geltenden Entgegensetzung der Prozeßrollen von Angeklagtem, Richter und Staatsanwalt im reformierten Strafprozeß wurde das Modell von der "Gleich488 Vgl. Stock, Strafprozeßerneuerung, S.202; Siegert, ZStW 54 (1935), S.23; E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 361, 364 ff.; Maunz, ZStaatsW 96 (1936), S. 74, 92, 103 ff.; vgl. dazu I. Müller, Rechtsstaat, S. 88 ff.; Anderbrügge, Völkisches Rechtsdenken, S.78, 151 ff., 213 ff. (zum Einfluß des Neuhegelianismus); ders., ARSP Beiheft 18/1983, S. 130 ff.; Rüping, Grundriß, S. 95; ders., in: SellertlRüping, Studien- u. Quellenbuch, Bd. 2, S. 231; ders., ARSP Beiheft 18/1983, S. 66 f.; Majer, Grundlagen, S. 151 ff. 489 Siehe Majer, Grundlagen, 152 ff.; Koch, Reform, S. 121 ff.; Arth. Kaufmann, ARSP Beiheft 18/1983, S. 6 f. m.w.N. 490 Maunz, ZStaatsW 96 (1936), S. 74 f., 92 f., 95 ff.,l1 I, proklamierte - in seinem gleichnamigen Aufsatz - das Ende des subjektiv-öffentlichen Rechts (siehe auch E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 359 ff., 364 ff.); zur Auflösung des subjektiven öffentlichen Rechts und den Konsequenzen fiir den totalen Rechtsverlust des Einzelnen vgl. Majer, Grundlagen, S. 149 ff.; weiterhin Arth. Kaufmann, ARSP Beiheft 18/1983, S. 7 m.w.N.; Rüthers, Entartetes Recht, S. 44; Röhl, Rechtslehre, S. 354 f. 491 Siegert, ZStW 54 (1935), S. 23 f.: "Heute verschiebt sich ... die Stellung die Prozeßrolle des Angeklagten von der Stellung des Prozeßsubjektes mehr zu der des Untersuchungsobjektes hin." [Hervorhebung durch Verf.). Der Beschuldigte habe sich "als Untersuchungsobjekt mit seinen Interessen denen der Allgemeinheit unerzuordnen". Freister forderte, den Täter zum Gegenstand strafrechtlicher Einwirkung zu machen, wobei sich Art und Ausmaß dieser "Einwirkung" ganz nach den Bedürfnissen der Allgemeinheit bemessen sollte (Grundsätzliches, S. 14); in diesem Sinne auch Peters, ZStW 56 (1937), S. 54, Schroers, Umgestaltung, S. 56, und Finke, Liberalismus, S. 37, insbes. Fn. 5; zu den Auffassungen der nationalsozialistischen Rechtslehre über die Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren vgl. weiter Koch, Reform, S. 121 ff.; zur Objektstellung des Beschuldigten Schorn, Schutz der Menschenwürde, S. 14,66. 492 C. Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, S. 22 ff.; vgl. auch E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 359 ff., 363.

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richtung der Verfahrenskräfte" gegenübergestellt493 . Der Angeklagte wurde in logischer Konsequenz seiner pflichtgebundenen, gliedhaften Rechtsstellung zum "Mitstreiter" an seiner eigenen Verurteilung erhoben. Für den Angeklagten bedeutete dieses "Einheitsmodell,,494, daß seine individuellen Verfahrensrechte, insbesondere die mit kontradiktorischen Charakter, als redundant oder sogar gegenüber der gemeinschaftlichen Aufgabe - schädlich erschienen. Das Schicksal des Beweiserhebungsanspruchs des Angeklagten war damit besiegelt.

III. Die Auflösung des Beweisantragsrechts

J. Das Beweisantragsrecht als Relikt des liberal-individualistischen Formalismus Nationalsozialistischer Rechtsanschauung gemäß, glaubte man im Beweisantragsrecht eine vom typisch liberalistisch-individualistischen Parteigedanken geprägte Einrichtung, zudem den "Hauptnährboden" für die "Monstreprozesse" der verhaßten "Systemzeit", zu erkennen495 . Als formstrenges Verfahrensrecht stand es überdies der von Hitler verkündeten "Elastizität der Urteilsfindung" entgegen, d. h. den Tendenzen nach Entformalisierung des Strafverfahrens, die in nationalsozialistischer Diktion euphemistisch "Auflockerung" genannt wurden496 . Henkel sah im Beweisantragsrecht eine liberalem Verfahrensdenken entspringende "Hemmungsapparatur,,497. Und Siegert forderte dazu auf, die "Zwirnsfäden des Beweisantragsrechts" zu zerreißen 498 .

493 Henkel, DJZ 1935, Sp.530; ders., ZStW 54 (1935), S.35; ders., DR 1935, S. 279; ders., DStrR 1935, S. 142 ff.; Stock, Strafprozeßerneuerung, S. 208 f.; Peters, ZStW 56 (1937), S. 36, hielt demgegenüber den Gedanken, daß "der Täter an der Seite des Staates gegen seine eigene Tat ficht" für wirklichkeitsfremd; ebenso Gallas, ZStW 58 (1939), S. 640. 494 Vgl. Hassemer, StV 1982, S. 277, der von einer harmonistischen Verfahrenskonzeption spricht. 495 Siegert, ZStW 54 (1935), S. 16, 30 f.; Henkel, Strafverfahren, S. 393; Schwarz, NS-Handbuch, S. 1470. 496 Rüping, ARSP Beiheft 18/1983, S. 68. Zur Formenphobie und Entformalisierung vgl. auch I. Müller, Rechtsstaat, S. 79; Sellert, NS-Ideologie, S. 64, S. 84 f. zu Anm. 39 m.w.N. 497 Henkel, DJZ 1935, Sp. 532; Noack, DR 1934, S. 358, forderte zur Vermeidung jedes Formalismus die Aufhebung gesetzlicher Bindungen des Richters bei der Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme. 498 Siegert, ZStW 54 (1935), S. 16.

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I. Teil: Historische Entwicklung und Refonngeschichte

Derselbe resümierte: "Der Geist, der auf die Grundsätze des Beweisantragrechts verwendet worden ist, ist nicht nationalsozialistischer Geist. ,,499

2. Das Beweisantragsrecht als "Kamp/mittel jüdischer Verteidigungskunst" Statt dessen glaubte man, im Beweisantragsrecht ein typisches Konstrukt eines jüdischen Formalismus zu erkennen50o . So wurde deklamiert, daß das Beweisantragsrecht das durchschlagende Kampfrnittel jüdischer Verteidigungskunst gewesen seiSOl . Der Mißbrauch dieses Antragsrechts durch jüdische Strafverteidiger, denen es letztlich auf die Schädigung der deutschen Rechtspflege angekommen sei, sei deshalb so einfach gewesen, "weil er [der Mißbrauch des Beweisantragsrechts] keine geistige Arbeit, sondern nur Gewissenlosigkeit voraussetzte"S02. Und Siegert, "ein furioser Judenhasser',so3, glaubte wiederum feststellen zu können, daß die Register des Beweisantragsrechtes zum Schaden der Rechtspflege mit allem Raffmement namentlich von jüdischen Verteidigern gezogen worden seiens04 . Derartige antisemitische Ausfälle entsprangen nicht bloß dem Rassenhaß strammer Nationalsozialisten und der allgemeinen, zeitgeistgemäßen Diffamierung jeglichen Formalismus und der Brandmarkung liberal-rechtstaatlicher Formen als jüdischer Taktik zur "Bekämpfung der deutschen Volksgemeinschaft und Förderung des Judenturns"sos, sondern waren vor allem gegen das Siegert. ZStW 54 (1935), S. 31 (Siegert spielte hier auf Max Alsberg an). Fonnalismus galt als jüdische, wertzersetzende Methode (vgl. Pauly, Staatsrechtslehre, S. 305), die Juden allgemein als "Zersetzer von Wertordnungen" (Nipperdey, Dt. Geschichte, Bd. I, S. 404). 501 Friedrich, JW 1938, S. l301. 502 Friedrich, JW 1938, S. l301. 503 Halfmann, Pflanzstätte, S. 104. 504 Siegert, ZStW 54 (1935), S. 31. Auf der vom "Reichsrechtfiihrer" H. Frank und von C. Schmitt im Oktober 1936 initiierten Tagung "Die Judentum in der Rechtswissenschaft" wähnte derselbe in seinem Vortrag "Das Judentum im Strafverfahrensrecht": "Wesentlich hemmungsloser und fast unverhüllt tritt uns in den letzten Jahren vor 1933 das jüdische Wesen im Strafverfahrensrecht entgegen. Am stärksten und verhängnisvollsten konnte als Einzelperson Max Alsberg wirken ... Mancher Verbrecher verdankte ihm, daß er der verdienten Strafe entging". Hierzu Göppinger, Nationalsozialismus, S. 6, 74 f. ("monströse Behauptungen"); Eh. Schmidt, Einfilhrung, S.428 ("gehässige Kritik von kläglicher Niveaulosigkeit"); außerdem: Krach, Jüdische Rechtsanwälte, S. 104; ders., in: Deutsche Juristen, S.663, und Halfmann, Pflanzstätte, S. 128 Anm.145. 505 Siegert, Referat auf der Tagung "Das Judentum in der deutschen Rechtswissenschaft" im Oktober 1936, zit. nach Krach, in: Deutsche Juristen, S. 663. 499

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Lebenswerk des jüdischen Juristen Max Alsberg (1877-1933) gerichtet. Alsberg, der wohl bekannteste Strafverteidiger der Weimarer Republik, wurde durch seine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Beweisantragsrecht, insbesondere durch seine grundlegende Monographie zu diesem Thema ("Der Beweisantrag im Strafprozeß", 1930)506, auf das engste mit diesem Rechtsinstitut in Verbindung gebracht507 . Auf Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur hatten Alsbergs Gedanken einen überwältigenden Einfluß ausgeübt508 . Die Folge von Alsbergs Wirken war nun, daß das von ihm mitgeformte Beweisantragsrecht nicht nur - wie jedes andere institutionalisierte Angeklagtenrecht - als liberal-individualistischer Formalismus desavouiert, sondern auch aus antisemitischen Motiven "makelbehaftet" war. In Anbetracht dieser ideologischen Prämissen ist die Geschichte des Beweiserhebungsanspruchs im Nationalsozialismus konsequent die Geschichte seiner Abschaffung. Durch Verordnung vom 21. März 1933 509 wurden zunächst weitere sondergerichtliche Zuständigkeiten zur Aburteilung der in der "Reichstagsbrandverordnung,,510 und der Verordnung zum Schutz der "Regierung der nationalen Erhebung,,511 bezeichneten Delikte begründet512 . In den Verfahren vor diesen Gerichten galt das freie Ermessen des Gerichts bei der Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme (§ 13). 3. Das Strafverfahrensänderungsgesetz 1935

Der nächste Eingriff erfolgte durch das umfangreiche Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom

506 Darüber hinaus hat Alsberg häufig Entscheidungen des Reichsgerichts, die das Beweisrecht betrafen, in der Juristischen Wochenschrift (JW) in Form von Urteilsanmerkungen besprochen. 507 Zur Person vgl. Krach, Jüdische Rechtsanwälte, S. 98 ff., 169, 429, wo sich auch ein geraffter Überblick über Alsbergs Lebenswerk findet; ders., in: Deutsche Juristen, S. 655 ff.; Göppinger, Nationalsozialismus, S. 75,91,94, l31; Jungfer, Max Alsberg, S. 141 ff.; Sarstedt, DAR 1964, S. 311; ders., AnwB11978, S. 7 ff.; Seibert, NJW 1966, S.1649. 508 Sarstedt, AnwBI 1978, S. 9. 509 Verordnung der Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten vom 21. März 1933, RGBI. 1933, Teil I, S. 136. 510 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933, RGBI. 1933, Teil I, S. 83. SII Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21. März 1933, RGBI. 1933, Teil I, S. l35. 512 Zu den sondergerichtiichen Zuständigkeiten näher H-J Klee, Bestimmung, S. 134 f.

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

28. Juni 1935 513 • Die Kommentierung aus dem Reichsjustizministerium bezeichnete die Novelle als das "erste bewußt vorweggenommene Stück aus der nationalsozialistischen Strafprozeßreform". Ihr "Grundthema" sollte die "Auflockerung des Prozesses" in den "verschiedensten Variationen" seinS 14 • Im Hinblick auf das Beweisrecht des Angeklagten brachte die Novelle zwar vordergründig eine "optische" Verbesserung seiner RechtsteIlung, sachlich jedoch den weiteren Abbau. Vermeintliche Liberalität zeigte das Strafverfahrensänderungsgesetz durch die gesetzliche Fixierung der vom Reichsgericht entwickelten und bereits in den Entwürfen 190811909 SlS und 1919516 enthaltenen Ablehnungsgrunde (§ 245 Abs. 2). Ausdrücklich aufgenommen wurde auch der - schon bislang als oberstes Axiom betrachtete - Amtsermittlungsgrundsatz (§ 244 Abs.2). Festgeschrieben wurde damit aber in beiden Fällen nur bereits geltendes (Richter-) RechtS 17 • Im übrigen galt der Ablehnungskatalog des neuen § 245 Abs. 2 nur ftir Verhandlungen mit einer Tatsacheninstanz, in denen das Urteil entweder gar nicht oder nur mit der Revision anfechtbar war (große Strafkammer, Schwurgericht, Oberlandesgericht, Volksgerichtshof sI8 ). Übereinstimmend mit der Notverordnung vom 14. Juni 1932 wurde das freie richterliche Ermessen ftir die amtsrichterlichen und schöffengerichtlichen Verfahren sowie ftir die Verfahren vor dem Landgericht in der Berufungsinstanz beibehaltensl9 . Wurde diesbezüglich noch der status quo gewahrt, brachte die Strafprozeßnovelle ansonsten eine weitere Demontage des Beweiserhebungsanspruchs des Angeklagten. In erster Linie SI3 RGBI. 1935, Teil I, S. 844-850; Literaturhinweise: SchäferlLehmannlDärffler, Novellen, S. 56. 514 SchäferlLehmannlDärffler, Novellen, S. 55. 515 § 232 Abs. 2 E 1908/1909. 516 § 237 Abs. 2 E 1919. 517 Vgl. zu § 245 Abs. 2 n. F: Lehmann, JW 1935, S. 2328 f. ("Die Vorschrift enthält geltendes Richterrecht"); SchäforlLehmannlDärfJler, Novellen, S. 55 (" ... erhebt die Novelle die Rechtsprechung des Reichsgerichts über die Behandlung von Beweisanträgen zum Gesetz); zu § 244 Abs.2 n. F.: SchäforiLehmannlDärffler, a.a.O., S.62 (die bislang aus § 155 Abs. 2 abgeleitete Aufklärungspflicht ist nun "klar ausgesprochen"); siehe auch Koch, Reform, S. 149, Fn. 4; SarstedtlHamm, Revision, Rn. 249. 518 Der Volksgerichtshofübemahm durch Gesetz vom 24. April 1934, RGBI. 1934, Teil I, S. 341, die erstinstanzliehe Zuständigkeit des Reichsgerichts für schwere politische Straftaten. 519 Unklar und umstritten war, ob das Gericht in diesem Rahmen zu Beweisantizipationen berechtigt sein sollte: Bejahend RG DStR 1938, S. 240 (240 f.); H.-J Klee, Bestimmung, S. 140 f. m.w.N; Finke, Liberalismus, S. 54; unklar Schwarz, GS 105 (1935), S. 363; a.A. Peters, ZStW 56 (1937), S.52 ff.; LR-Niethammer, 2. Nachtrag zur 19. Aufl., Einleitung, S. 7, 15 ff., § 244, S. 118 f., 112 f.; zu den Divergenzen ausführlich H.-J Bruns, DR 1940, S. 2043 ff.

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sticht hervor, daß die Sonderstellung der präsenten Beweismittel aufgehoben wurde, wie sie bislang nach § 245 Abs. 1 a.F. bestand. Der Angeklagte hatte damit kein selbständig auszuübendes Präsentationsrecht mehr520 . Und das ihm noch verbleibende Beweisantragsrecht wurde nicht nur durch die Eingrenzung auf nicht berufungsfiihige Strafsachen beschränkt, sondern galt auch nur fUr den Zeugen- und Urkundsbeweis. Beim Sachverständigen- und Augenscheinsbeweis sollte das Gericht generell nicht an den Ablehnungskatalog des § 245 Abs. 2 gebunden sein521 • Einen verbindlichen Beweiserhebungsanspruch hatte der Angeklagte damit nur noch unter einer dreifachen Bedingung. Die Sache mußte in einem Verfahren mit nur einer Tatsacheninstanz verhandelt werden, ein Zeugen- und Urkundsbeweis in Frage stehen, und schließlich durfte keiner der AblehnungsgrOnde vorliegen. 4. Der Entwurf 1939

Bereits unmittelbar nach der Machtübernahme setzten Bestrebungen zu einer Gesamtreform des Strafverfahrensrechts ein, um dieses den neuen weltanschaulichen Grundlagen anzupassen. Im Herbst 1933 wurde eine Vorkommission ("Kleine Strafprozeßkommission") ins Leben gerufen, die ihre Beratungen in zweiter Lesung im Februar 1936 beendete522 . Am 27. Februar 1936 wurden streng vertrauliche Entwürfe einer Strafverfahrens ordnung (E-StrVO 1936)523, einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung und eines Gerichtsverfassungsgesetzes justizintern vorgestellt und an Ministerien und andere Institutionen versandt. Hinsichtlich des Umfangs der Beweisaufnahme lehnte sich der Entwurfsvorschlag der Kommission (§ 65 E-StrVO 1936) an §§ 244, 245 StPO in der novellierten Fassung von 1935 an. Reichsjustizminister Gürtner berief daraufhin die sog. Große Strafprozeßkommission ein, die am 14. Dezember 1936 unter seinem Vorsitz zusammentrat. Aufbauend auf dem Vorentwurf, der· als Beratungsgrundlage diente, legte die Kommission am 28. Oktober 1937 einen Entwurf einer Strafverfahrensord-

520 Zustimmend Lehmann, DJ 1935, S. 1002; ders., JW 1935, S.2328; Schäfer/ LehmannlDärffler, Novellen, S. 55, 63; Schwarz, DJZ 1935, Sp. 927; LR-Niethammer, 2. Nachtrag zur 19. Aufl., Einleitung, S. 7; zur Beseitigung der Sonderstellung der präsenten Beweismittel H.-J. Klee, Bestimmung, S. 139 m.w.N. 521 Vgl. RG DStR 1938, S. 240 (240 f.); Lehmann, DJ 1935, S. 1002; zur Reaktion des Reichsgerichts Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 207 ff. 522 Zur Besetzung und Tätigkeit der Kleinen Strafprozeßkommission vgl. Schubert, Entwürfe, S. VIII. 523 Abdruck des Entwurfs einer Strafverfahrensordnung vom 27. Februar 1936 bei Schubert, Entwürfe S. 3 ff., 17-76. 8 Schatz

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nung nach erster Lesung vor524 • Die zweite Lesung wurde im Dezember 1938 abgeschlossen52s • Am 1. Mai 1939 wurde schließlich der "Entwurf einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmanns ordnung" (E 1939) präsentiert526 • Im Einklang mit den ideologischen Prämissen der nationalsozialistischen Rechtsdoktrin konstatierte der E 1939, daß die Strafprozeßordnung von 1877 "individualistisch ausgerichtet" sei und "wesentlich darauf abgestimmt, die Individualfreiheit zu schützen", während man demgegenüber das "Schutz- und Sühne bedürfnis der Volksgemeinschaft ... stark vernachlässigt" habe 527 • Ein wichtiges Mittel zur Verwirklichung der nationalsozialistischen ("wahren") Gerechtigkeit sah der Entwurf in der "Auflockerung der Verfahrensvorschriften und in der Vereinfachung des Gangs der Strafrechtspflege". Ziel sei daher eine möglichst freie und dem Einzelfall angepaßte Verfahrensfiihrung528 • Dementsprechend war vorgesehen, das richterliche Ermessen bei der Behandlung von Beweisanträgen freier zu gestalten529 : §§ 64, 65 E 1939530 beseitigten ganz im Sinne der eingeforderten "Auflockerung" die gesetzlich fixierten Gründe zur Ablehnung von Beweisanträgen, die de lege lata noch fiir die schweren Strafsachen galten, in denen das Urteil entweder gar nicht oder nur mit der Revision anfechtbar war (§ 245 Abs. 2 StPO [1935]). Alleiniger Maßstab sollte "das alles überragende Gebot der Wahrheitserforschungspflicht" sein (vgl. § 64 E 1939i31 • Dieser Grundsatz wurde als so einfach und klar angesehen, daß eine gesetzliche Erläuterung des Umfangs der

524 Abdruck bei Schubert, Entwürfe, S. 103-163. Die wichtigsten Beratungsergebnisse der ersten Lesung werden von den Mitgliedern der Strafprozeßkommission, in: Gürtner (Hrsg.), Das kommende Strafverfahren, Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission (1938), kommentiert. Zu dem Kommissionsbericht und den Stellungnahmen in der Literatur vg!. Koch, Refonn, S. 205 ff. 525 Abdruck eines ersten Entwurfs nach zweiter Lesung vom Oktober 1938 bei Schubert, Entwürfe, S. 175-220. Eine revidierte Fassung der zweiten Lesung vom 14. Februar 1939 ist ebenfalls bei Schubert, a.a.O., S. 221-285, abgedruckt. 526 Abdruck bei Schubert, Entwürfe, S. 297-361; zur Genese und Inhalt vg!. Koch, Refonn, S. 169 ff., 210 ff.; LR-Schäfer, Ein!. Kap. 4 Rn. 12 ff.; weiterhin Sellert, NSIdeologie, S. 67 ff. 527 Begründung zum E 1939, Abdruck bei Schubert, Entwürfe, S. 372. 528 Begründung zum E 1939, Abdruck bei Schubert, Entwürfe, S. 375. 529 Entwurfsbegründung, Schubert, Entwürfe, S. 375. 530 Gleichlautende Bestimmungen enthielten vorangegangene Entwürfe der Großen Strafprozeßkommission (§ 57 Entwurf 1. Lesung; §§ 57, 57 a Entwurf 2. Lesung, 1. Fassung; §§ 57, 57a Revidierter Entwurf 2. Lesung). 531 Begründung, Schubert, Entwürfe, S. 402.

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Beweisaufnahme durch Einzelvorschriften als "kleinliches Stückwerk"532 angesehen wurde 533 . Mit Kriegsbeginn scheiterte zwar schließlich die Gesamtrefonn534 . Die ideologische Anpassung des Strafverfahrensrechts an nationalsozialistische "Wertmaßstäbe" verfolgte man aber weiterhin, nun eben durch Einzelmaßnahmen535 .

5. Die" Vereinfachungs-Verordnung" 1939 Das Anliegen der amtlichen Strafprozeßkommission, die Gerichte bei der Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme von Anträgen des Angeklagten freizustellen, wurde wenige Monate nach der Präsentation des E 1939 zwar nicht dem Wortlaut, wohl aber der Sache nach durch die Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege vom I. September 1939536 realisiert537 .

§ 24 dieser sog. "Vereinfachungs-Verordnung" (VereinfVO) beseitigte zur "Schlagkraftsteigerung der Strafrechtspflege,,538 die gesetzlichen Restriktionen, die bei der Ablehnung von Beweisanträgen nach der Strafprozeßnovelle von 1935 noch zu beachten waren539 . Durch diese Vorschrift wurde die Entscheidung, ob ein Beweis zu erheben ist, generell in das freie Ermessen des Tatrichters gestellt. Die Regelung des § 245 Abs. 1 StPO (1935), die bislang nur filr amtsgerichtliehe und zweitinstanzliehe landgerichtliehe Verfahren galt, wurde nun auf alle Verfahren und auf alle Arten von Beweismitteln erstreckt540 . Sämtlichen Gerichten war es jetzt gestattet, Beweisanträge abzulehnen, wenn sie die

532 Niethammer, Protokoll der Großen Strafprozeßkommission, 11. Sitzung v. 9. 2. 1937, in: Schubert, Protokolle, S. 206; ders., Antrag "A 19" zu §§ 52-68 StrVO vom 21. I. 1937 (Große Strafprozeßkommission), Schubert, a.a.O., S. 566. 533 Vg!. Begründung, Schubert, Entwürfe, S. 417. 534 V g!. Koch, Reform, S. 233 ff. 535 Zu den nationalsozialistischen Reformbemühungen: LR-Schäfer, Ein!. Kap. 3 Rn. 21 ff., Ein!. Kap. 4 Rn. 12 ff.; Sellert, NS-Ideologie, S. 62 ff., 67 ff. 536 RGB!. 1939, Teil I, S. 1658-1662. 537 Vgl. H-J Bruns, DR 1940, S.2042, 2049; Koch, Reform, S.237. Zur großen Bedeutung des E 1939 für die strafprozessuale Novellengesetzgebung vom I. 9. 1939 vgl. Schubert, Entwürfe, S. XVI f. 538 Freisler, DJ 1939, S. 1537. 539 Entgegen dem E 1939 stand die Entscheidung über "Beweisanträge" in Kollegialgerichten aber immerhin dem Gerichtskollegium und nicht bloß dem Vorsitzenden als Führer der Hauptverhandlung zu. 540 Vgl. RGSt 47, S. 153 (154); H-J Bruns, DR 1940, S. 2042; LR-Niethammer, 2. Nachtrag zur 19. Aufl., S. 227.

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1. Teil: Historische Entwicklung und Refonngeschichte

Beweiserhebung nicht filr erforderlich hielten541 • Der wenigstens filr die schweren Strafsachen geltende Katalog des § 245 Abs. 2 StPO (1935) mit seinen gesetzlich fixierten AblehnungsgrUnden war damit - zugunsten einer einheitlichen weiten Ermessensregel - ausgeschaltet542 • § 24 VereinfVO markiert damit den Schlußpunkt einer fortschreitenden Entformalisierung des Verfahrens 543 : Der verbindliche Beweiserhebungsanspruch des Angeklagten war endgültig liquidiert. Der historische Komprorniß, der 1877 zwischen der liberal-demokratischen Mehrheit im Reichstag und dem - noch autoritär-monarchischem Staatsdenken verhafteten - Bundesrat ausgehandelt wurde" war revidiert, der liberale Beitrag vollständig eliminiert. Dem Gericht wurde eine Stellung eingeräumt, wie sie bereits § 207 E 3 in Anlehnung an das preußische Recht vorgesehen hatte und die bereits damals als ungebührlich bezeichnet worden war544 • Nach der "Vereinfachungs-Verordnung" stand dem Angeklagten nur noch das unmittelbare Ladungsrecht zu (§ 220 StPOi45 • Er konnte sich insoweit immerhin noch Hoffnung machen, das Gericht werde zur Vernehmung schreiten, wenn die Beweisperson erstmal anwesend sei. Durch die "Verordnung zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege" vom 13. August 1942546 entfiel auch diese Minimalbefugnis, die selbst im E 3 (§ 183) und schon im bayerischen und kurhessischen Partikularrecht vorgesehen war547 •

541 Die subjektivierende Fonnulierung vom "rur erforderlich halten" (anstelle "erforderlich sein"; vgl. § 244 Abs. 2 StPO [1935]: " ... notwendig ist") unterstreicht die ungebundene Stellung des Gerichts; vgl. LR-Niethammer, 2. Nachtrag zur 19. Aufl., S. 226; ders., FS-Sauer, S. 31. 542 § 245 Abs. 2 StPO (1935) wurde jedoch nicht fonnell aufgehoben (H-J. Bruns, DR 1940, S.2048). Umstritten war daher, ob diese Bestimmung angesichts § 24 VereinfVO fortgalt (vgl. Gra/zu Dohna, FS-Kohlrausch, S. 336). Unbestritten war jedoch, daß das Gericht sich nicht mehr an den Katalog von Ablehnungsgründen zu halten hatte, wenn es es der Ansicht war, eine weitere Beweiserhebung sei nicht mehr erforderlich. Auch nach Auffassung der Berurworter einer Fortgeltung des § 245 Abs. 2 StPO (1935) sollte die Bestimmung nur dann anwendbar bleiben, wenn sich das Gericht ausdrücklich auf einen dort genannten Ablehnungsgrund beruft (H-J. Bruns, a.a.O.; vgl. RGSt 75, S. 11 [13]). 543 Nicht ohne Grund wurde § 24 VereinfVO von H-J. Bruns als Abschluß der strafprozessualen Emeuerungsbewegung bezeichnet. Ausdrücklich verwahrte er sich dagegen, in der Vorschrift lediglich eine kriegsbedingte Ausnahmeregel zu sehen (DR 1940, S.2014). 544 Abg. Reichensperger, Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 852. 545 Zur Kritik an dieser Bestimmung vgl. Henkel, DJZ 1935, Sp. 535; Schoetensackl Töwe, Denkschrift des Ausschusses rur Strafprozeßrecht der Strafrechtsabteilung der Akademie rur Deutsches Recht (1937), S.26. Gegen die Streichung des § 220 StPO Schaffstein, DR 1935, S. 521. 546 Art. 9, § 1 Abs. 3, RGBI. 1942, Teil I, S. 508-512. 547 Art. 129 Abs. 2 Bay. Gesetz vom 10. November 1848; § 47 Kurhessisches Gesetz vom 31. Oktober 1848.

G. Zeit des Nationalsozialismus

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IV. Die Reaktion des Reichsgerichts

I. Die Rückkehr von Beweisantizipationen Die angeklagtenfreundliche Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Beweisrecht war in republikanischer Zeit als "Ruhmesblatt" seiner Judikatur und als "wirksamer Schutzwall der .Interessen der Verteidigung" bezeichnet worden548 • Gemeint waren die Grundsätze, die das Reichsgericht über die Behandlung von Beweisanträgen im Laufe jahrzehntelanger Rechtsprechung aus dem bereits im Jahre 1880549 anerkannten Beweisantizipationsverbot herausdestilliert hatte. Dieses zentrale Herzstück seiner ganzen zum Beweisantragsrecht entwickelten Judikatur stellte das Reichsgericht in Anbetracht von § 24 VereinfVO in Frage55o . In der Formel vom "freien Ermessen" sah es einen Dispens vom Beweisantizipationsverbot551 • Eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung, so erklärte das Reichsgericht weiter, läge sogar im Sinne des § 24 VereinfV0 552 • Im Gegensatz zum früheren Recht bedeute es daher keinen Verfahrensverstoß mehr, wenn der Tatrichter einen Beweisantrag ablehne, weil er die Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit nicht filr erforderlich553 oder die unter Beweis gestellte Tatsache bereits durch das bisherige Beweisergebnis filr widerlegt halte 554 •

Pestalozza, JW 1932, S. 2677. Urteil vom 6. Februar 1880 (RGSt 1, S. 189 [190]). 550 Hinzuweisen ist allerdings darauf, daß das Reichsgericht bereits aufgrund des in der Notverordnung vom 14. Juni 1932 postulierten "freien" richterlichen Ermessens zum Teil vom Beweisantizipationsverbot abrückte. Vgl. RGSt 67, S. 97 (98) = JW 1933, S. 954, Nr. 8; RG JW 1933, S. 953, Nr. 7; BayOLG DRiZ 1932, Sp. 696, Nr. 852. Dies wird häufig übersehen, wenn der Wandel in der Rechtsprechung des Reichsgerichts allein an § 24 der Vereinfachungsverordnung geknüpft wird (z.B. Eb. Schmidt, Einfiihrung, S. 444; P. Hoffmann, Zeuge, S. 69). 551 Vgl. 1. Senat: RGSt 74, S. 147 (149) = RG DR 1940, S. 972 (972), anders noch in RGSt 67,97 (98) zur Verordnung vom 14. Juni 1932; 4. Senat: HRR 1940, Nr. 483; unklar RGSt 75, S. 11 (12, 14); der 2. Senat (HRR 1940, Nr. 211) erklärte zunächst die Vorwegnahme des Beweisergebnisses fiir unzulässig - der hieraus von LR-Niethammer, 2. Nachtrag zur 19. Aufl., S. 228 f., und P. Hoffmann, Zeuge, S. 69 f., gezogene Schluß, der 2. Senat habe sich seiner Tradition (vgl. RGSt 1, S. 189 [190]) treu verhalten und sich gegen die Wiederkehr von Beweisantizipationen gestemmt, stehen freilich die Entscheidungen RGSt 74, S. 153 (154) und RGSt 74, S. 394 (396) entgegen, mit denen er sich ausdrücklich den anderen Strafsenaten anschloß. Dabei wies er eigens darauf hin, daß Niethammer, dem Hoffmann folgt, einem Mißverständnis erlegen sei (RGSt 74, S. 394 [396]). 552 RGSt 74, S. 147 (149) = DR 1940, S. 972 (972); vgl. auch H-J Bruns, DR 1940, S. 247 ff. 553 RGSt 74, S. 147 (150) = DR 1940, S. 972 (972 f.); RGSt 74, S. 394 (396). 554 RGSt 75, S. 11 (12). 548

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

Die Lage war damit, wie Niethammer 1939 feststellte, "überaus emst,,555 . Er wies dabei eindringlich auf die Gefahren für die Zuverlässigkeit der Wahrheitserforschung hin 556 . Zehn Jahre später bemerkte dann der frühere Reichsgerichtsrat bitter: "Niemand kann die Menge Menschen ausfinden, denen die vom Obersten Gerichtshof gebilligte Vorwegnahme des Beweisergebnisses zum Verhängnis, zur Ursache einer unverdienten Todesstrafe oder langen und schweren Freiheitsstrafe geworden ist. ,,557

2. Amtsaufklärungspflicht und Ausbau der Aufklärungsrüge Die Gefahren filr die Wahrheits erforschung hat auch das Reichsgericht erkannt. Einem allzu exzessiven Umgang der Tatgerichte mit Beweisantizipationen versuchte es dadurch Herr zu werden, daß es die gerichtliche Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO [1935]) in den Mittelpunkt seiner revisionsgerichtlichen Tätigkeit stellteS58 • Beweisantizipationen sollten zwar grundsätzlich - im Sinne von § 24 VereinfVO - nach freiem Ermessen zulässig sein559 . Beherrschende Richtlinie des Verfahrens und einschränkender Maßstab filr die Ausübung dieses Ermessens sei jedoch die richterliche Pflicht zur Wahrheitserforschung 560 . Von der Amtsaufklärungspflicht aus erfolgte der Ausbau der Aufklärungsrüge, der vor allem in den dreißiger Jahren parallel zur Demontage des durch Beweis antrag ausgelösten Beweiserhebungsanspruchs in der Rechtsprechung des Reichsgerichts stattfand561 . Indem die Tatgerichte durch die Sanktion der UrLR-Niethammer, 2. Nachtrag zur 19. Aufl., S. 231. LR-Niethammer, 2. Nachtrag zur 19. Aufl., S. 5 ff., 15 ff., 113,224 ff., 230f; später ders., in: LR, 20. Aufl. (1958), S. 52 ff.; ebenso: Eb. Schmidt, FS-Kohlrausch, S. 295 ff.; ders. ZStW 61 (1942), S. 460 f., und rückblickend, EintUhrung, S. 444; siehe auch Wagner, Umgestaltung, S. 265. 557 Niethammer, FS-Sauer, S. 35. 55S Vgl. RGSt 67, S. 97 (98); RGSt 74, S. 394 (396); RG HRR 1940, Nr. 211; HRR 1940, Nr. 278); HRR 1940, Nr. 406; HRR 1940, Nr. 839; HRR 1940, Nr. 840; RG DR 1940, S. 689 (Nr. 19); RG DR 1940, S. 972 (973); HRR 1942, Nr. 512; zur Haltung des Reichsgerichts vgl. auch Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 214 ff. m.w.N. 559 RGSt 74, S. 147 (149, 152) = RG DR 1940, S. 972 (972 f.). 560 RGSt 74, S. 147 (149, 151 f.) = RG DR 1940, S.972 (973); RG HRR 1942, Nr. 509 u. Nr. 512; zur Rechtsprechung vgl. H.-J. Bruns, DR 1940, S.2045 ff., und Wißgott, Beweisantragsrecht, 214 ff. 561 Grundlegend RG JW 1928, S. 1506 Nr. 22 mit Anm. Alsberg (vgl. schon RG JW 1922, S. 1394 [1394 f], Nr.6, mit Anm. Alsberg [So 1395]). Dann RG HRR 1932, Nr. 2329; RG JW 1933, S. 2217 (2219); RG JW 1937, S. 1359 (1359 f), Nr. 81; RG JW 1937, S. 1360 (1360), Nr. 82; RG HRR 1937, Nr. 425; RG HRR 1939, Nr. 816; RG HRR 1939, Nr. 545. Eine Vielzahl von Entscheidungen erging ab 1939 angesichts der 555

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teilsaufhebung angehalten wurden, sich nicht mit einer allzu dürftigen Beweisgrundlage zufriedenzugeben, hat das Reichsgericht einen gewissen Mindeststandard der Sachverhaltsennittlung und Wahrheitserforschung gesichert562 • Bemerkenswert an dieser Rechtsprechung war nicht die deutliche Herausstellung der Amtsaufklärungspflicht an sich, denn diese galt stets als oberstes Axiom des Strafverfahrensrechts, sondern ein ihr gegenüber völlig verändertes Verständnis. Zur Erinnerung: Während das Reichsgericht rur den Bereich des Beweisantragsrechts die "Überzeugungstheorie", das heißt die Ansicht, daß der freien BeweisWÜTdigung die freie Bestimmung des Beweisaufhahmeumfangs korreliert, schon in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts aufgegeben hatte, hielt es an ihr fiir die Beweiserhebung von Amts wegen viele Jahrzehnte fest 563 • Wäre es hierbei geblieben, hätte die besondere Betonung der Amtsaufklärungspflicht durch das Reichsgericht wenig Bedeutung erlangt. Denn die Beteuerung, der Tatrichter müsse von Amts wegen alles tun, um die Wahrheit zu erforschen, ist wenig wert, wenn sie rein subjektiv, nämlich so verstanden wird, daß nur das zu tun sei, was er zur Erforschung der Wahrheit fiir erforderlich hält. Der entscheidende Fortschritt bestand nun darin, daß sich das Reichsgericht von der "Überzeugungstheorie" löste und das Aufklärungsgebot: "Das Gericht hat von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig ist' (§ 244 Abs. 2) wörtlich nahm und damit objektiv verstand564 . Während es sich also zuvor - ohne die tatsächlich erhobene Beweisbasis zu berückSichtigen56S - lediglich darauf beschränkt hatte nachzuprüfen, ob der Tatrichter sich seiner Pflicht zur Wahrheitserforschung bewußt war566 und als - psychiBeseitigung des Beweisantragsrechts (RG HRR 1940, Nr. 278; HRR 1940, Nr. 840; HRR 1941, Nr. 750; HRR 1942, Nr. 509). Zur "Auffangfunktion" und "Vertreterrolle" der Aufklärungsrüge vgl. Mannheim, JW 1932, S. 3357; WesseIs, JuS 1969, S. I (I f); Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S.9; Heescher, Untersuchungen, S.80; Wenner, Aufklärungspflicht, S. 16 ff.; Rieß, Reichsjustizamt-FS, S. 429; SarstedtlHamm, Revision, Rn. 249 f.; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 181; H.-J. Klee, Bestimmung, S. 136 f; Meurer, GS-Hilde Kaufmann, S.957; P. Hof/mann, Zeuge, S.62 f; Schutz, Stellung, S.IOOff.; Wißgott, Beweisantragsrecht, S.197 ff., 213, 218ff., 231 f; zur Entwicklungsgeschichte der Aufklärungsrüge Traulsen, Aufklärungsrüge, S. 72 ff. 562 Urteile des Amtsrichters und des Schöffengerichts waren der reichsgerichtlichen Kontrolle allerdings entzogen. Die Sprungrevision war mit § 16 der VereinfachungsVerordnung ebenso abgeschafft worden wie die Revision gegen Berufungsurteile der Strafkammer. 563 Siehe oben C. 11. I. 564 Wenner, Aufklärungspflicht, S. 17 f; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 178; Sarstedt/Hamm, Revision, Rn. 262; Herdegen, Beweisantragsrecht, S.26, 40; ders., NJW 1996, S. 28; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 170 ff., 174 ff., 178, 183, 198 ff., 232. 565 Vgl. RGSt I, S. 297 (298). 566 Vgl. RGSt 6, s. 135 (136); RGSt 13, S. 158 (160); RGSt 47, s. 417 (423 f); Alsberg, JW 1929, S. 859.

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

sches Faktum - eine verurteilungsfeste Überzeugung gewonnen hatte 567 , kontrollierte es nun, ob der Beweisstoff nach objektivierten Maßstäben erschöpft war oder ob die Erhebung weiterer Beweise zur Erforschung der Wahrheit erforderlich gewesen wäre. Kurz: Entscheidend war aus revisionsgerichtlicher Sicht nicht mehr, ob der Tatrichter überzeugt war, sondern ob er angesichts der bestehenden Beweislage schon überzeugt sein durfie 568 . Diese Revisionspraxis wird angesichts der parallel verlaufenden Auflösung des Beweisantragsrechts als "rechtspolitische Großtat des Reichsgerichts" gefeiert569 • Nicht vergessen werden sollte jedoch: Zwar waren ungeachtet der Aufhebung des Beweisantizipationsverbots Vorwegwürdigungen keineswegs - wie es § 24 VereinfVO vordergründig nahelegte - nach "freiem Ermessen", d.h. nach Belieben des Tatrichters, zulässig, sondern nur nach Maßgabe der vom Reichsgericht bestimmten Amtsaufklärungspflicht570 • Kam der Tatrichter aber nach pflichtgemäßer Prüfung zu der Überzeugung, daß eine Benutzung der noch zur Verrugung stehenden Beweismittel keine weitere Klärung der Sache verspreche, daß sie insbesondere auch rur die Beurteilung des schon vorliegenden Beweisergebnisses nicht mehr erforderlich seien, gab sich das Reichsgericht hiermit zufrieden571 • Krasse Beweisantizipationen wurden also aufgehoben, insgesamt waren sie jedoch gegenüber dem früheren Recht in erheblich größeren Umfange zulässig.

V. Die Haltung des Schrifttums

In der gleichgeschalteten Literatur wurde die Beseitigung des Beweisantragsrechts überwiegend begrüßt. Schließlich war die freie richterliche Stel-

567 SarstedtlHamm, Revision, Rn. 245; Schulz, GA 1981, S. 313 f.; ders., StV 1991, S. 359; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S.22; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 45; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 129 ff., 133 ff., 241. 568 B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 393; vgl. auch Herdegen, Beweisantragsrecht, S.26. 569 Schulz, StV 1991, S.359; ders., GA 1981, S.314; a.A. Braum, Geschichte, S. 179: "Autklärungsruge ist die Umsetzung des staatsautoritären Wahrheitsverständnisses in die Revisionsdogmatik" und "funktional für die Vernichtung der Bürgerrechte im totalen Staat". 570 Die vom Reichsgericht postulierte Vereinbarkeit von § 24 VereinfVO mit der gerichtlichen Wahrheitserforschungspflicht ist daher angezweifelt worden. GraJzu Dohna erklärte, er müsse eingestehen, daß er sich redlich, aber vergeblich bemüht habe, die Widerspruche in der Rechtsprechung des Reichsgerichts aufzuklären (FS-Kohlrausch, S. 333): "Ist das Ermessen pflichtgebunden, und ist das Revisionsgericht ermächtigt und gehalten, die Beobachtung dieser Bindungen nachzuprufen, so ist es kein freies Ermessen". 571 RGSt 74, s. 147 (152) = RG DR 1940, S. 972 (973). Zur Gleichstellung des "freien" (LS. v. § 24 VereinfVO) mit einem "pflichtmäßigen" Ermessen (i. S. v. § 244 Abs. 2 StPO [1935]) durch das Reichsgericht siehe H.-J. Bruns, DR 1940, S. 2047 f.

G. Zeit des Nationalsozialismus

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lung gegenüber Beweisanträgen schon zuvor häufig gefordert worden 572 . So war man der Auffassung, daß die Freistellung des Gerichts ganz "im Zuge der strafprozessualen Rechtserneuerungsbestrebungen,,573 liege und dem "berechtigten Abwehrkampf gegen formale Parteirechte" diene574 • Differenzen bestanden allerdings in der Frage, ob und in weIchem Umfang angesichts des in § 24 VereinfVO gewährten freien richterlichen Ermessens Beweisantizipationen statthaft sein sollten. Ein Teil der Literatur wollte Beweisantizipationen in weitesten Umfang zulassen: Daß die Amtsaufklärungspflicht in der Lage sei, das "freie Ermessen" des Tatrichters zu beschränken und inhaltlich auszurullen, wurde nicht anerkannt575 . Eine andere Ansicht erklärte ganz auf der Linie des Reichsgerichts zwar Beweisantizipationen filr "an sich" zulässig, wollte aber die insoweit gewährte Ermessensfreiheit durch den Primat des Aufklärungsgebotes reguliert wissen576 . Andere Autoren wollten schließlich, ungeachtet der Freistellung des Gerichts von Beweisanträgen, grundsätzlich an dem Verbot der Beweisantizipation festhalten 577 . Vereinzelte Stimmen in der Literatur, namentlich Eb. Schmidt, der stets den Wert prozessualer Formen betont hat, sprachen sich nicht nur filr die Aufrechterhaltung des Beweisantizipationsverbots aus, sondern auch filr einen gesetzlich fixierten Ablehnungskatalog im Sinne des § 245 Abs. 2 StPO (1935)578.

sn H.-J. Klee, Bestimmung, S. 143 ff.; Siegert, ZStW 54 (1935), S. 16; ders., JW 1936, S. 3008; Schreiber, JR 1932, S. 188; Frank, DR 1934, S. 50; Schroers, Umgestaltung, S.50; K. Klee, GA 77 (1933), S. 81 ff., 94; Freisler, Grundsätzliches, S.16; Schwarz, NS-Handbuch, S. 1470; Finke, Liberalismus, S. 53 f.; Henkel, DJZ 1935, Sp. 535; vgl. auch ders., ZStW 54 (1935), S. 40, wo das Votum einer Zusammenkunft deutscher Strafrechts lehrer im März 1934 in Leipzig referiert wird. 573 H.-J. Bruns, DR 1940, S. 204112042. 574 GraJzu Dohna, FS-Kohlrausch, S. 334. 575 H.-J. Klee, DJ 1937, S. 1386. 576 H.-J. Bruns, DR 1940, S. 2047 ff. 577 GraJzu Dohna, FS-Kohlrausch, S. 332 ff.; Kohlrausch, StPO, Vorbem. §§ 244256 Anm. 12, § 245 Anm. 3, 9 f; Henkel, Strafverfahren, S. 395 ff.; Gallas, ZStW 58 (1939), S. 655 f.; SchoetensacklTöwe, Denkschrift des Ausschusses tUr Strafprozeßrecht der Strafrechtsabteilung der Akademie tUr Deutsches Recht (1937), S. 28; Töwe, Referat vor der Großen Stratprozeßkommission vom 11. 12. 1936, in: Schubert, Protokolle, S. 531; Niethammer, Hauptverhandlung, S. 168 f.; ders., in: LR, 2. Nachtrag zur 19. Aufl., S. 5 ff., 15 ff., 112 f., 224 ff. 578 Eb. Schmidt, FS-Kohlrausch, S. 295 ff.; ders. auch in ZStW 61 (1942), S. 460 f; ähnlich H. Mayer, GS 104 (1934), S. 330 f; Peters, ZStW 56 (1937), S. 52 ff.

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

H. Die Rechtsentwicklung in der Bundesrepublik 1950 - 1975 I. Das Rechtsvereinheitlichungsgesetz vom 12. September 1950

Mit dem Rechtsvereinheitlichungsgesetz vom 12. September 1950579 verfolgte der erste Deutsche Bundestag zwei Ziele. Formal sollte die Rechtseinheit wiederhergestellt werden, die infolge der zonal unterschiedlichen Nachkriegsgesetzgebung verlorengegangen war580 . Inhaltlich war das Vereinheitlichungsgesetz von dem Bemühen getragen, ein rechtsstaatliches und den Grundrechten des Grundgesetzes konformes Fundament fiir das Strafverfahren (wieder-) aufzubauen 581 . Unter Verzicht auf grundlegende Reformen beschränkte man sich weitgehend darauf, die wesentlichen rechtsstaatsfeindlichen Änderungen, die das Strafverfahrensrecht in der NS-Zeit erfahren hatte, rückgängig zu machen 582 . Wirkliche Neuerungen, wie das in § 136 a StPO statuierte Verbot menschenunwürdiger Vemehmungsmethoden, blieben die Ausnahme583 . Seinem "restaurativen Charakter,,584 entsprechend, kehrte das Rechtsvereinheitlichungsgesetz bezüglich der Regelung des Beweisaufuahmeverfahrens ausdrücklich zu den "altbewährten Grundsätzen" zurück58S . Gemeint waren damit zum einen die Grundsätze, die das Reichsgericht in seiner Rechtsprechung zum Beweisantragsrecht entwickelt hatte, zum anderen die gesetzlichen Regelungen der Jahre 192511926, die auf dem Höhepunkt der Weimarer Zeit dem Angeklagten den bislang weitestgehenden Beweiserhebungsanspruch eingeräumt hatten. Im Einklang mit der Judikatur des Reichsgerichts regelte das Vereinheitlichungsgesetzjetzt in den neugefaßten Bestimmungen des § 244 Abs. 3 - 5 StPO die zulässigen Ablehnungsgrilnde gegenüber Beweisanträgen. Die Differenzie579 Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom ·12. September 1950 (BGB!. I S. 455 t1). 580 Begründung, BT-DrS 11530, S. 3, 33. Zur Nachkriegsgesetzgebung bis 1949 siehe LR-Schäfer, Ein!. Kap. 3 Rn. 45 ff.; Hornhardt, ZRG Germ. Abt., Bd. 106 (1989), S. 246 ff. 581 Begründung, BT-DrS 11530, S. 3, 33; Peters, Strafprozeß, S. 72; H.-L. Schreiber, Tendenzen, S. 16. 582 Auf eine Neugestaltung wurde bewußt verzichtet, um die gebotene rechtsstaatsgemäße Bereinigung und Anpassung des Verfahrensrechts an das Grundgesetz schleunig durchführen zu können (Begründung, BT-DrS 11530, S. 3, 33; Dehler, Verhandlungen Dt. BT, I. Wahlperiode 1949, Sitzungsberichte Bd. 2, Nr. 26-50, S. 1434; LR-Schäfer, Ein!. Kap. 3 Rn. 52; Hornhardt, ZRG Germ. Abt., Bd. 106 (1989), S. 267. 583 I. Müller, Rechtsstaat, S. 94; Rieß, ZRP 1977, S. 68; Hornhardt, ZRG Germ. Abt., Bd. 106 (1989), S. 270, spricht von einem "Festhalten an historischen Strukturen und Vorschriften". 584 Rieß, Gesamtreform, S. 160; ders., ZRP 1977, S. 68. 585 Begründung, BT-DrS 11530, S. 47.

H. Rechtsentwicklung in der Bundesrepublik 1950-1975

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rungen früherer Gesetzesfassungen, zuletzt der Novelle von 1935, zwischen Verfahren mit einer und Verfahren mit zwei Tatsacheninstanzen, wobei nur fiir die ersteren ein strenges Beweisrecht bestimmt war, wurde nicht übernommen. Der Ablehnungskatalog galt vielmehr nun fiir sämtliche Gerichte. Dies bedeutete eine erhebliche Verstärkung der RechtsteIlung des Angeklagten in Strafsachen unterer und mittlerer Kriminalität, in denen bislang kein verbindliches Beweisantragsrecht bestanden hatte. Ausgenommen von der strikten Regelung waren allein Privatklagesachen (§ 384 Abs. 2 StPO)586, fiir die schon nach den Fassungen von 1925/1926 eine freiere Stellung des Gerichts gegolten hatte. Für Übertretungen, der damals einfachsten Form einer Straftat58 ? , galt dagegen das strenge Beweisantragsrecht ebenso wie bei Verhandlungen über Vergehen und Verbrechen. Darüber hinaus stellte das Rechtsvereinheitlichungsgesetz die 1935 beseitigte Sonderstellung der präsenten Beweismittel wieder her (§ 245 StPO). In Anlehnung an § 245 Abs. 2 StPO (1926) bestand nun wieder ein Präsentationsrecht mit weitgehender Verwendungspflicht des Gerichts 588 . Ergänzend wurde das unmittelbare Ladungsrecht des Angeklagten, das 1942 von den Nationalsozialisten eliminiert worden war589 , wiederbelebt590 . Dem Angeklagten war damit großzügiger denn je ein ilirmlicher Beweiserhebungsanspruch gewährt, der wieder auf zwei Säulen beruhte: Einerseits auf dem Beweisantragsrecht, andererseits auf der Kombination aus Präsentationsund unmittelbarem Ladungsrecht. In der gerichtlichen Praxis der Bundesrepublik stellte sich allerdings, wie schon in der Weimarer Zeit, das Beweisantragsrecht bald - wohl wegen des geringeren Aufwandes und der Kostenfreiheit rur den Antragsteller - als das vorrangig eingesetzte Instrument dar591 . Selbständige Bedeutung behielt das Präsentationsrecht im wesentlichen nur fiir den Restbereich, in dem das Beweisantragsrecht gerichtliche Beweisantizipationen noch zuläßt592 , also vor allem beim Sachverständigenbeweis, wo dem Gericht durch

586 Seit StP ÄG 1964 (BGBI. 1964, Teil I, S. 1067 ff. - Art. 7 Nr. 18b) als § 384 Abs.3 StPO. 58? 1974 überwiegend zu Ordnungswidrigkeiten herabgestuft (Art. 13 EGStGB vom 2. März 1974, BGBI. 1974, Teil I, S. 469 ff.). 588 Vgl. Begründung, BT-DrS 1/530, S. 47. 589 Verordnung zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 13. August 1942. 590 §§ 220, 38 StPO. 591 Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S.9; Hagemann, Entstehung, S. 123 ff.; Perron, Beweisantragsrecht, S. 138, 140,271/272. 592 Rieß, Reichsjustizamt-FS, S. 430; vgl. auch Reg.-Entwurf Strafverfahrensänderungsgesetz v. 4.10. 1977, BT-DrS 8/976, S. 51.

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I. Teil: Historische Entwicklung und Refonngeschichte

§ 244 Abs.4 StPO (i. d. F. des Rechtsvereinheitlichungsgesetzes) em weites Ennessen eingeräumt wird 593 .

11. Von der "Kleinen Strafprozeßreform" (1964) bis zur Strafprozeßreform 1974175

Eine grundlegende Reform des materiellen Strafrechts war 1954 in Angriff genommen worden 594 . Entsprechend wurde versucht, auch auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts zu einer Gesamtreform zu kommen 595 . Zunächst dachte man eine einheitliche Kodifikation, später sollte sie durch mehrere Einzelreformgesetze, das heißt durch eine ,,strafprozeßreform in Raten"596 erreicht werden 597 . Eine erste eingreifende Änderung der StPO brachte 1964 die "Kleine Strafprozeßreform". Mit dem Strafprozeßänderungsgesetz (StPÄG) vom 19. Dezember 1964598 wurde hauptsächlich das Ziel verfolgt, die Rechtsstellung des Beschuldigten zu stärken599 . Die Beweisregelung der §§ 244, 245 StPO blieb aber unverändert. Kritisiert wurde das StPÄG dennoch: Wegen seiner Liberalität gegenüber den Beschuldigteninteressen wurde es - wie schon der "Goldschmidt-Entwurf' 191911920 - als "Verbrecherschutzgesetz,,600 bezeichnet. Eine Vielzahl erheblicher Verfahrensänderungen brachten dann das "Erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts" (1. StVRG) vom 9. Dezember 1974 601 , das Ergänzungsgesetz zum 1. StVRG vom 20. Dezember 1974602 und 593 Marx, NJW 1981, S. 1415; Dahs, Handbuch, 5. Aufl., S.369, Rn. 581; Grün· wald, Beweisrecht, S. 113; Engels, GA 1981, S. 35; Perron, Beweisantragsrecht, S. 256 ff., 274, weist auf die Probleme einer Sachverständigenpräsentation durch den Angeklagten hin (finanzielle Hürden; Problem einen anerkannten Sachverständigen zu gewinnen; Mißtrauen der Strafverfolgungsorgane gegenüber Privatgutachtern). 594 Beginnend mit der Großen Strafrechtskommission 1954-1959. 595 LR-Schäfer, Ein. Kap. 4 Rn. 28 ff.; H.-L. Schreiber, Tendenzen, S. 16; lescheck, Rechtsvergleichung, S. 8 ff. 596 So der Titel des gleichnamigen Aufsatzes von Baumann, ZRP 1975, S. 38 ff. 597 Zur Gesamtrefonn: LR-Schäfer, Ein!. Kap. 4 Rn. 28 ff.; AKJStPO-Schreiber, Ein!. I, Rn. 13; ders., Tendenzen, S. 17 f.; Roxin, FS-Jauch, S. 183, 188; Rieß, ZRP 1977, S. 69; ders., Gesamtrefonn, S. 164 ff. 598 Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes (StPÄG) vom 19. Dezember 1964, BGB!. 1964, Teil I, Nr. 63, S. 1067 ff. 599 Rieß, ZRP 1977, S. 68; ders., Gesamtrefonn, S. 160; Roxin, FS-Jauch, S. 188; H.-L. Schreiber, Tendenzen, S. 16; lescheck, Rechtsvergleichung, S. 8; zur Genese, Zielsetzung und Inhalt LR-Schäfer, Ein!. Kap. 3 Rn.61 ff.; Rieß, FS-Kleinknecht, S. 355 ff. 600 Die Bezeichnung wird referiert von Eser, ZStW 79 (1967), S. 566, und Hanack, FG-Schultz, S. 299. 601 BGB!. 1974, Teil I, Nr. 132, S. 3393 ff.

H. Rechtsentwicklung in der Bundesrepublik 1950-1975

125

das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB vom 2. März 1974)603. Während die Reformbestrebungen in den Sechzigerjahren noch davon geleitet waren, den rechts- und sozialstaatlichen Gehalt des Grundgesetzes in das Strafverfahrensrecht zu transponieren, zeichnete sich nun eine - als Gegenreformation apostrophierte 604 - Trendwende in der Zielrichtung der Reformen ab 605 . Das erklärte Ziel des 1. StVRG war es, das Verfahren "zu beschleunigen und zu straffen,,6Q6. Diese Motivation wurde jetzt zur dominierenden Triebfeder der künftigen Reformbestrebungen im Strafverfahrensrecht und damit auch zum Agens einer Reformierung des Beweisantragsrechts. Der kriminalpolitische Paradigmenwechsel ist vor allem vor dem Hintergrund des Terrorismus - und später der Organisierten Kriminalität - zu sehen607 . Nicht ohne Einfluß auf die veränderte Bewertung der Reformziele dürfte auch gewesen sein, daß annähernd zeitgleich in die kriminalpolitische Diskussion ein nüchterner Pragmatismus einzog, der mit niederschmetternden Effizienzanalysen die "Behandlungseuphorie" der beiden Jahrzehnte des Wirtschaftswunders verdrängte und auf die bekannte Frage von Martinson ("What works ?,,)608 In der resignativen Antwort vom "nothing works" seinen Ausdruck fand 609 . Das Beweisantrags- und Beweispräsentationsrecht blieb vorerst noch unangetastet61O • Zum einen suchte das 1. StVRG die gewünschte Beschleunigung 602 Gesetz zur Ergänzung des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 20. Dezember 1974, BGBl. 1974, Teil I, S. 3686 ff. 603 BGBl. 1974, Teil I, S. 469 ff.; zum Inhalt vgl. LR-Schäfer, Einl. Kap. 5 Rn. 1 ff. 604 Hassemer, StV 1982, S. 275 ff. 605 H.-L. Schreiber, Tendenzen, S. 19 ff.; Rieß, NStZ 1994, S. 411. 606 Begründung (I.StVRG), BT-DrS 7/551, S. 31, 34 ff. Demgegenüber stand das 1. StVRGErgG ganz unter dem Eindruck des Baader-Meinhof-Verfahrens, sog. "lex RAF" (Verteidigerausschluß [§§ 138 a - d StPO n.F.], Beschränkung der Verteidigerzahl [§ 137 Abs. 1 S.2 StPO n.F.], Abschaffung gemeinschaftlicher Verteidigung mehrerer Beschuldigter [§ 146 StPO n.F.]). 607 Zur Initialfunktion der Terroristenprozesse Driendl, Verfahrensökonomie, S. 16. 608 Martinson, zit. nach Jehle, MSchrKrim 1991, S. 303. 609 Scheffler, GA 1995 (142), S. 450 f. 610 Eine Freistellung von der Bindung an Beweisanträge wurde dem Gericht jedoch im Jahre 1968 auf einem in der gerichtlichen Praxis eher unbedeutenden Nebenschauplatz der StPO eingeräumt. So wurde durch das ,,Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG)" (BGBl. 1968, Teil I, S.503 ff., Erster Abschnitt, Artikel 2, Nr. 16) das Einziehungsverfahren neu geregelt. Stand bislang einem Einziehungsbeteiligten, d.h. demjenigen, der ohne selbst angeklagt zu sein, möglicherweise einen rechtlichen Anspruch an dem infragestehenden Gegenstand hat und deshalb am Verfahren zur Abwehr eigener Rechtsnachteile als Nebenbeteiligter teilnehmen kann, ein eigenes Beweisantragsrecht zu, dessen Reichweite der des Angeklagten entsprach, so erklärte nun § 436 Abs. 2 StPO n.F. die strengen Regeln des § 244 Abs. 3 S. 2, Abs. 4 bis 6 StPO auf Beweisanträge des Einziehungsbeteiligten zur Frage der Schuld des Angeklagten für nicht anwendbar. Vgl. Bode, NJW 1969, S. 1052 ff., 1055.

126

1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

des Verfahrens vorrangig durch eine Reform des Ermittlungsverfahrens zu erreichen 611 . Zum anderen befand sich die Regelung der §§ 244,245 StPO noch nicht unter nennenswertem Druck der politischen Öffentlichkeit. Obwohl es seit den Sechzigerjahren mit den NS-Verfahren, großen Wirtschaftsstrafverfahren und dem Contergan-Prozeß612 wieder aufsehenerregende "Monstreprozesse,,613 gab, in denen die Angeklagtenseite teilweise umfangreichen Gebrauch von ihren Beweisrechten machte 614 , hatte das Beweisantragsrecht seinen alten Ruf, das "Grundübel des deutschen Strafprozesses,,615 zu sein, noch nicht wiedererlangt.

I. Die Rechtsentwicklung in der Deutschen Demokratischen Repuhlik (DDR) Im östlichen Teil Deutschlands wurde die StPO aus dem Jahre 1877 abgelöst616 . An ihre Stelle trat 1952 eine neue, "sozialistische" Strafprozeßordnung617 , die ihrerseits im Jahre 1968 durch ein reformiertes Regelwerk ersetzt wurde618 . Ungeachtet des selbstgesteckten Ziels, der "sozialistischen GesetzBegründung (1.StVRG), BT-DrS 7/551, S. 35. Der Contergan-Prozeß galt mit seiner zweieinhalbjährigen Dauer als das längste Strafverfahren der deutschen Rechtsgeschichte (H.-i. Bruns, FS-Maurach, S. 469). An dem Verfahren waren 7 Angeklagte mit 18 Verteidigern und 180 Nebenkläger beteiligt. 120 Zeugen und 60 Sachverständige wurden vernommen, nahezu 2000 Urkunden verlesen (Herrmann, ZStW 85 [1973], S. 258). 613 Zu "Monstreprozessen" der Weimarer Zeit: Oben F. 11. (Fn.); G. 1., III. 1. (Fn.). 614 H.-i. Bruns, FS-Maurach, S. 481, zur ausgiebigen Sistierung von präsenten Zeugen und Sachverständigen im Contergan-Verfahren; zu den Wirtschaftsprozessen vgl. BT-DrS 101272, S. 5, und Lange, Strafrechtsreform, S.50; al1g. Herrmann, ZStW 85 (1973), S. 256 ff., 280; G. Schmidt, JR 1974, S. 323; v. Glasenapp, NJW 1982, S. 2058, meint sogar, daß sich die Tendenz, Beweisanträge zu stellen, seit Ende der 60er Jahre "epidemisch ausbreitete". 615 v. Bassewitz, DRiZ 1982, S. 461. 616 Zur Rechtsentwicklung in der DDR: Speck, Rechtsstellung, S. 27 ff.; Rüping, in: Sellert/Rüping, Studien- u. Quellenbuch, Bd. 2, S. 385 ff.; zur DDR-Sicht vgl. Luther u.a. (Autorenkollektiv), Lehrbuch, S. 33 ff. 617 Gesetz über das Verfahren in Strafsachen in der Deutschen Demokratischen Republik (Strafprozeßordnung) vom 2. Oktober 1952 (Gbl. I 1952, Nr. 142, S. 997 ff.; Textausgabe mit Stichwortverzeichnis, hrsg. vom Ministerium der Justiz, Berlin [Ost], 1955). 618 Strafprozeßordnung der Deutschen Demokratischen Republik (StPO) vom 12. 1. 1968 (Gbl. 11968, Nr. 2, S. 49 ff.). Zuletzt in der Neufassung vom 19.12.1974 (Gbl. I 1975, Nr. 4, S. 62), sowie i.d.F. des 2. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 7.4. 1977 (Gbl. I 1977, Nr. 10, S. 100), des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 28.6. 1979 (Gbl. 11979, Nr. 17, S. 139), des 4. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 18.12.1987 (Gbl. I 1987, Nr. 31, S. 301) und des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. 12. 1987 (Gbl. 11987, Nr. 31, S. 302). 611

612

1. Rechtsentwicklung in der DDR

127

lichkeit" und damit dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu dienen 619 , zeigte die DDR-StPO aber in ihrer Verfahrensstruktur Kontinuität62o . Dies gilt vor allem für die konstituierenden Prozeßprinzipien621 : So beruhte auch das Strafverfahren der DDR grundsätzlich auf dem Prinzip der Erforschung der Wahrheit von Amts wegen 622 , dem Anklagegrundsatz, dem Legalitätsprinzip und den Grundsätzen der Unmittelbarkeit, der Mündlichkeit und Öffentlichkeit623 . Ein fundamentaler Unterschied ergab sich jedoch aus dem die ganze Rechtsordnung überwölbenden Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit624 • Danach fiel dem Recht die funktionale Aufgabe zu, als Mittel zur Verwirklichung sozialistischer Gesellschaftsverhältnisse zu dienen 625 . Diesen instrumentellen Charakter hatte auch das Strafverfahrensrecht. Der Gesetzeswortlaut war nicht strikt verbindlich, sofern eine abweichende Entscheidung dazu diente, die "sozialistische Ordnung" - das heißt den Willen der Partei - durchzusetzen626 . Die praktische Handhabung der Verfahrensregeln konnte deshalb durchaus vom Gesetzeswortlaut und der offiziellen Auslegung abweichen 627 . Zum Beweisrecht: Da man an der Grundstruktur des "reformierten Inquisitionsprozesses" festhielt 628 , beruhte es auf dem kontinentaleuropäischen Prinzip der materiellen (objektiven)629 Wahrheit. Die Beweisaufnahme war Sache des Gerichts, das 619 Vgl. § 2 StPO vom 2.10.1952; §§ 1 Abs. 1,2 Abs. 1 und 3 StPO i.d.F. vom 19. 12. 1974; Luther u.a. (Autorenkollektiv), Lehrbuch, S. 58 ff.; Noack/Schindler/Uhlig/ Wesner, Leitfaden, S. 59 ff. 620 Marxen, "Strafprozeßordnung", in: HRG, Bd.4, Sp.2044; Rüping, in: Sellertl Rüping, Studien- u. Quellenbuch, Bd. 2, S. 388 f. 621 Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden: Bechthold, Prozeßprinzipien im Strafverfahren der DDR (1967). 622 § 200 Abs. 1 StPO vom 2. 10.1952; §§ 8 Abs. I, 220 Abs. I, 222 Abs. 1 StPO i.d.F. vom 19.12.1974. 623 Zu den Verfahrensprinzipien siehe Noack/Schindler/UhliglWesner, Leitfaden, S. 54 ff. 624 Vgl. Maiwald, NJW 1993, S. 1881 ff.; Reich/Reichel, Einführung, S. 63 ff; Schulter, Geschichte, S. 367 ff.; Jescheck, Entwicklung, S. 81 ff.; Menzel, Bedeutung, S. 39 ff.; Speck, Rechtsstellung, S. 32 f 625 Entsprechend der Führungsrolle der SED war das Recht damit letztlich ein Instrument zur Durchsetzung des Partei willens (vgl. Maiwald, NJW 1993, S. 1881 f.). 626 Vgl. auch Maiwald, NJW 1993, S. 1887 (zur Instrumentalisierung des Rechts: S. 1881 ff; ders., JZ 1996, S. 867). 627 Marxen, "Strafprozeßordnung", in: HRG, Bd.4, Sp.2044; zur praktischen Anwendung vgl. Schulter, Geschichte, S. 303 ff., 316 f. 628 Speck, Rechtsstellung, S. 26. 629 Nach marxistisch-leninistischer Erkenntnistheorie ist im Strafprozeß nicht nur eine "materielle", sondern sogar eine "objektive" Wahrheit feststellbar, welche die Wirklichkeit getreu, d.h. vom Erkenntnissubjekt unabhängig, widerspiegelt (Speck, Rechtsstellung, S. 33 f; Ebeling, Studie, S. 19 ff.; Noack/Schindler/UhliglWesner, Leitfaden, S. 62 ff; Luther u.a. [Autorenkollektivl, Lehrbuch, S. 60 ff.; Bechthold, Prozeß-

128

1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

von Amts wegen alle zur Erforschung der Wahrheit notwendigen Maßnahmen zu treffen hatte 630 . Daneben normierte die DDR-StPO auch ein Recht des Angeklagten, Beweisanträge stellen zu dürfen631 . Dieses Beweisantragsrecht sollte u.a. den "konsequent demokratischen Charakter des Strafprozeßrechts der Deutschen Demokratischen Republik zum Ausdruck" bringen und wurde als wesentlicher Bestandteil des Rechts auf Verteidigung und des Rechts auf Gehör (Art. 102 Abs. 1 Verfassung der DDR) angesehen632 . Die gesetzestextliehe Ausgestaltung des Beweisantragsrechts in der DDR-StPO knüpfte allerdings nur sehr bedingt an die überlieferte deutsche Rechtstradition an. So übernahm die Strafprozeßordnung von 1952 die strikten Ablehnungsgründe des Reichsgerichts nur in aufgeweichter Form: § 202 (1) Das Gericht kann einen Beweisantrag ablehnen,

1. wenn die Erhebung des Beweises zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist; 2. wenn die Erhebung des Beweises rur die Entscheidung ohne Bedeutung ist; 3. wenn der Antrag ausschließlich der Prozeßverschleppung dient.

(2) Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses.

In der offiziellen Literatur wurde zu dieser Bestimmung vermerkt, daß Beweisanträgen des Angeklagten grundsätzlich stattzugeben, die Ablehnung eines Beweisantrages nur aus den enumerativ aufgezählten Gründen möglich sei 633 • Anlaß zu Zweifeln an dem abschließenden Charakter des Ablehnungskatalogs gibt jedoch bereits die weite Fassung der ersten Ablehnungsmodalität "zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich". Zwar wurde dieser Ablehnungsgrund eng ausgelegt. Eine Beweiserhebung sollte in der Regel nur dann nicht erforderlich sein, wenn die zu beweisende Tatsache bereits erwiesen oder eine

prinzipien, S. 111 ff.; Hassemer, KriV 1990, S. 268). Die grundsätzlichen epistemologischen Zweifelsfragen um die Subjektivität menschlichen Erkenntnisvermögens wurden daher nicht problematisiert (Fincke, Strafprozeß, S. 115, Fn. 18, zur analogen Auffassung in der sowjetischen Prozeßwissenschaft) oder in Abrede gestellt (etwa bei Weiß, Fragen, S. 19 ff.). 630 Weiß, Fragen, S. 12 ff., 35 f; Lu/her u.a. (Autorenkollektiv), Lehrbuch, S. 74 ff., 228, 235, 243 ff.; Noack/Schindler/Uhlig/Wesner, Leitfaden, S. 231 ff. 631 Weiß, Fragen, S. 35 f; Schindler, Fragen, S. 56 ff.; das Recht, Beweisanträge zu stellen, stand ebenso der Staatsanwaltschaft, dem Verteidiger und dem Geschädigten zu (§§ 13,64, 17 StPO i.d.F. vom 19.12.1974); zu weiteren Antragsberechtigten siehe Luther u.a. (Autorenkollektiv), Lehrbuch, S. 245; Ministerium der Justiz (Hrsg.), Kommentar, § 223 Anm. 1.2. 632 Luther u.a. (Autorenkollektiv), Lehrbuch, S. 68 f, 86 ff.; Noack/SchindlerlUhlig/ Wesner, Leitfaden, S. 30, 233, 250 f 633 Schindler, Fragen, S. 58; Noack/SchindlerlUhlig/Wesner, Leitfaden, S. 253.

I. Rechtsentwicklung in der DDR

129

Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig war634 . Nicht eingreifen sollte dieser Ablehnungsgrund, wenn durch die beantragte Beweiserhebung das Gegenteil von dem bewiesen werden sollte, was die bisherige Beweisaufnahme ergeben hatte, oder wenn ein an sich zulässiges Beweismittel ungeeignet erschien 635 . Schließlich wurde auch ausgeschlossen, daß ein Beweisantrag lediglich wegen Verspätung verworfen werden dart 36 . Insofern orientierte man sich jedenfalls bei der offiziellen Gesetzesauslegung an den überlieferten Ablehnungsgründen des Reichsgerichts. Daß diese einschränkende Auslegung jedoch in der Praxis dazu filhrte, daß Beweisanträgen des Angeklagten grundsätzlich nachzukommen war, ist sehr zu bezweifeln. Gegen eine verpflichtende Wirkung spricht, daß selbst in der DDR-Literatur der nachstalinistischen Liberalisierungsphase die zu weite Formulierung des Gesetzes bemängelt wurde 637 • Schindier, Kommissarischer Direktor des Instituts fiir Prozeßrecht und Dozent an der Deutschen Akademie fiir Staats- und Rechtswissenschaft "Walter Ulbricht", schlug 1956 eine engere Fassung der Ablehnungsgrüllde vor, die sich wieder an die Rechtsprechung des Reichsgerichts anlehnte 638 . Dabei ging es gerade um eine Beseitigung des Ablehnungsgrundes "zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich". Wegen der unzureichenden Objektivierung, sah Schindler "das Recht auf Stellung eines Beweisantrages praktisch in eine bloße Möglichkeit [verwandelt], denn ein Recht, dessen Gewährung von der subjektiven Auffassung des Gewährenden abhängig ist, ist kein Recht mehr,,639. Die Reformvorschläge blieben jedoch erfolglos. Das Beweisantragsrecht dürfte damit - im Einklang mit der Einschätzung Schindlers - (zumindest) "zum Teil illusorisch" gewesen sein640 . Gegen einen verpflichtenden Charakter von Beweisanträgen spricht auch, daß der instrumentelle Charakter des Strafprozeßrechts den Rechtsanwender dazu verpflichtete, im Einzelfall je nach politischer Opportunität die gesetzlichen Bindungen zu überschreiten. Zu bedenken ist darüber hinaus, daß es nach der sozialistischen Rechtstheorie staatsgerichtete subjektiv-öffentliche Rechte, wie sie bürgerlich-liberalem Verfassungsdenken entsprechen, nicht gab.

NoackiSchindler/Uhlig/Wesner, Leitfaden, S. 253. NoackiSchindlerlUhlig/Wesner, Leitfaden, S. 253 f. 636 NoackiSchindler/Uhlig/Wesner, Leitfaden, S. 256. 637 Bechthold, Prozeßprinzipien, S. 143; Schuller, Geschichte, S.290, 332 (zur rechtspolitischen Tendenz dieser Zeit: S. 386 ff., 391). 638 Schindler, Fragen, S. 58 f, 175. Die vorgeschlagene Neufassung wurde begrüßt von Woljf, Fragen, S. 89 f., der Fälle unzulässiger Beweisantizipation referiert; ablehnend dagegen Ranke, Fragen, S. 119 f; vgl. Bechthold, Prozeßprinzipien, S. 143 f; zur internen Kritik siehe auch Jescheck, Entwicklung, S. 98. 639 Schindler, Fragen, S. 58. 640 Schindler, Fragen, S. 58. 634 635

9 Schalz

130

l. Teil: Historische Entwicklung und Refonngeschichte

Die offizielle Doktrin behauptete, daß mit der Überwindung des bürgerlichkapitalistischen Verfassungs staates und der Schaffung von Gesellschaftseigenturn an den Produktionsmitteln der Interessengegensatz zwischen der Gesellschaft und dem Einzelnen dialektisch aufgehoben worden sei64l • Im Grundriß der "Staats- und Rechtsgeschichte der DDR" hieß es zu dieser dialektisch konstruierten Interessenidentität642 , das sozialistische Strafrecht sei "von der Übereinstimmung der grundlegenden Interessen der Gesellschaft, des Staates sowie der Bürger und ihrer Kollektive" geprägt643. Selbständige Freiheitsrechte hatten in dieser Konzeption keinen Platz. Entsprechend wurde das Verteidigungsrecht im Strafverfahren "als rechtliche Befugnis zur Verwirklichung der mit den gesamtgesellschaftlichen Erfordernissen übereinstimmenden persönlichen Interessen des Beschuldigten und Angeklagten" betrachtet644 . Der Angeklagte war damit in seiner prozessualen Stellung gleichgeschaltet645 • Kontradiktorische Prozeßrechte, die es ihm erlaubt hätten gegen den verordneten Konformismus zu opponieren, waren mit diesem - aus der Zeit des Nationalsozialismus nicht unbekannten - "Einheitsmodell" unvereinbar. Die getroffenen Feststellungen über die Unverbindlichkeit von Beweisanträgen gelten auch fiir das 1968 neugeregelte Verfahren. Die Strafprozeßordnung von 1952 hatte immerhin noch formale Ablehnungsgrunde normiert, auch wenn diese gegenüber der vom Reichsgericht überlieferten Rechtstradition schon deutlich abgeschliffen waren. Die Prozeßordnung aus dem Jahre 1968 brachte dann die vollständige Entformalisierung. § 223 DDR-StPO n.F. bestimmte jetzt schlicht: Das Gericht hat allen Beweisanträgen stattzugeben, wenn die beantragte Beweiserhebung für die Feststellung der Wahrheit erheblich sein kann.

Bei der Auslegung der revidierten Norm orientierte man sich zwar an der bisherigen Rechtslage. Jedoch wurde nun ausdrücklich betont, daß die Mitwirkung des Angeklagten nicht verbindlich fiir das Gericht sei, da dieses über die

Reich/Reichel, Einführung, S. 85; Rüping, Grundriß, Rn. 408. Zur Lehre von der Interessenidentität: Bechthold, Prozeßprinzipien, S. 51 f.; Rüping, Strafverfahren, S. 8; Menzel, Bedeutung, S. 21; Knapp, Verteidiger, S. 79 f., 83; Speck, Rechtsstellung, S. 37, 41 ff., 48 f., 74 f. 643 Melzer u.a. (Autorenkollektiv), Staats- und Rechtsgeschichte, S. 205. Zum Verständnis der DDR-Wissenschaft vom "subjektiven Recht" siehe Hirsch/eider, Recht, S. 35 ff., 46 (auf S. 49 heißt es, daß im Sozialismus eine Einheit zwischen den Interessen der Gesellschaft und den wichtigsten richtig verstandenen [!] Interessen der Persönlichkeit bestehe). 644 Luther u.a. (Autorenkollektiv), Lehrbuch, S. 67. 645 Vgl. Werkentin, NJ 1991, S. 483. 641

642

1. Seit 1975: Reforminitiativen und gesetzliche Änderungen

l31

Durchfilhrung der beantragten Beweiserhebung allein entscheide646 . Und obwohl das Beweisantizipationsverbot verbal bekräftigt wurde, sollte nach der amtlichen Kommentierung von 1989 eine Ablehnung von Beweisanträgen zulässig sein, wenn "zu dem benannten Beweisthema bereits ausreichende, sich nicht widersprechende Beweise vorliegen,,647 . Damit scheint es so, als ob die neue Prozeßordnung von 1968 die Rechtsstellung des Angeklagten verschlechtert hätte, ihm also vorher ein größerer Einfluß auf den Beweisaufnahmeumfang eingeräumt wurde. Dieses Bild überrascht, da sich in der DDR seit den 60er Jahren eine Phase der Konsolidierung bemerkbar machte 648 und die politische Führung zunehmend darauf bedacht war, zumindest äußerlich den Anschluß an internationale Rechtsstandards zu dokumentieren649 . Insoweit hätte es nahegelegen, die Rechtsstellung des Angeklagten durch einen verbindlichen Beweiserhebungsanspruch zu verstärken, anstatt das richterliche Ermessen zu erweitern. Die Erklärung fiir das scheinbare Paradox dürfte darin liegen, daß 1968 lediglich der Gesetzestext einer Rechtspraxis angeglichen wurde, die ein echtes Beweisantragsrecht auch vorher nicht gewährte. Diese Interpretation entspricht dem Umstand, daß im Recht der DDR nicht Formen, sondern allein ideologisch imprägnierte Inhalte entscheidend waren650 . Ein Beweisantragsrecht mit Verbindlichkeitsanspruch gab es folglich im Strafverfahren der DDR zu keiner Zeit651 . Mit dem Beitritt nach Art. 23 S.2 GG a.F. am 3. Oktober 1990 und der Übernahme der bundesdeutschen Strafprozeßordnung durch Art. 8 des Einigungsvertrages652 hatte schließlich der Weg im "real existierenden Sozialismus" ein Ende.

J. Die Zeit seit 1975: Reforminitiativen und gesetzliche Änderungen I. Kriminalpolitische Ausgangslage

1. Maßnahmen reaktiver Krisenbewältigung und Terrorismusbekämpfung

Das vom Gesetzgeber mit der Strafprozeßreform 1975 zunächst noch verfolgte Konzept, durch mehrere aufeinander abgestimmte Einzelgesetze eine umLuther u.a. (Autorenkollektiv), Lehrbuch, S. 245. Ministerium der Justiz (Hrsg.), Kommentar, § 223 Anm. 3.1. 648 Rüping, in: SellertlRüping, Studien- u. Quellenbuch, Bd. 2, S. 385. 649 Werkentin, NI 1991, S. 483; Maiwald, IZ 1996, S. 867. 650 V gl. Menzel, Bedeutung, S. 4. 651 I. E. ebenso: Speck, Rechtsstellung, S. 190 f., 194, 362; zur Nichtgewährung eines Beweispräsentationsrechts ders., a.a.O., S. 156, 194. 652 BGBL 1990, Teil 11, S. 885 ff. 646 647



132

1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

fassende Totalerneuerung des Strafverfahrensrechts zu erreichen, schlug bald fehl. Im Zeichen der Terrorismusbekämpfung wurde die Tätigkeit des Gesetzgebers von "Maßnahmen reaktiver Krisenbewältigung,,653 anstelle von konzentrierter Reformarbeit beherrscht654 . Diese hektische Augenblicksgesetzgebung setzte mit dem Ergänzungsgesetz zum 1. StVRG ("lex RAF")655 ein, das ganz unter dem Eindruck des Baader-Meinhof-Verfahrens stand656 . Es folgten das "Anti-Terrorgesetz" (1976)657, das "Kontaktsperregesetz" (1977)658 und schließlich das Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung (1978)659. Die im Zeichen des RAF-Terrors stehende Krisengesetzgebung war damit weitgehend abgeschlossen. Trotz vereinzelter Forderungen660 war es noch zu keiner Änderung der §§ 244, 245 StPO gekommen. 2. Gewandelte Prozeßkultur und Funktionsfähigkeit der Strafrechtspjlege

Nach der heißen Phase des Terrorismus traten wieder Gesichtspunkte allgemeinerer Art in den Mittelpunkt der Reformbestrebungen. Maßnahmen zur Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens und zur Abwehr von mißbräuchlichen Prozeßhandlungen standen auf dem Forderungskatalog weit oben661 . Leitmotiv war ein in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts entwickelter und bereits bei der strafjustiziellen Aufarbeitung des Terrorismus verwendeter Argumentationstopos: die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspjlege662 • Rieß, ZRP 1977, S. 69; ders., Gesamtreform, S. 164, 166. AKJStPO-Schreiber, Ein!. I, Rn. 15. 655 Siehe oben H. 11. 656 Verteidigerausschluß (§§ 138 a - d StPO n.F.), Beschränkung der Verteidigerzahl (§ 137 Abs. 1 S.2 StPO n.F.), Abschaffung der gemeinschaftlichen Verteidigung mehrerer Beschuldigter (§ 146 StPO n.F.); zum weiteren Inhalt: LR-Schäfer, Ein!. Kap. 5 Rn. 70 ff. 657 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung, des Gerichtsverfassungsgesetzes, der Bundesrechtsanwaltsordnung und des Strafvollzugsgesetzes vom 18. August 1976, BGB!. 1976, Teil I, Nr. 102, S. 2181-2185. 658 Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz vom 30. September 1977, BGB!. 1977, Teil I, Nr. 66, S. 1877-1879. 659 Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung vom 14. April 1978, BGB!. 1978, Teil I, Nr. 20, S. 497-499. 660 Vg!. G. Schmidt, JR 1974, S. 323. 66\ Roxin, Gesamtkonzept, S. 18. 662 In BVerfGE 19, S. 342 [347] aus dem Jahre 1965 ist bereits von den "unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung" die Rede; in diesem Sinne auch BVerfGE 20,45 (49); 20, S. 144 (147); 29, S. 183 (194); ähnlich BGHSt 31, S.304 (309). Die Entscheidung BVerfGE 33, S. 367 (383) aus dem Jahre 1972 argumentierte dann mit der "Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege"; weiterhin E 34, S. 238 (248 0; 38, S. 105 (118); 38, S. 312 (321); 41, S. 246 (250); 44, S. 353 (374, 378); 46, S.214 (222); 51, S. 324 (343). In neueren Entscheidungen spricht das BVerfG z.T. wieder von 653

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Die Refonndiskussion fand vor dem Hintergrund nachhaltiger Veränderungen der Strafprozeßwirklichkeit statt: So hat sich in den siebziger Jahren der Mißbrauch prozessualer Rechte in der gerichtlichen Praxis, der rechtspolitischen Diskussion und nicht zuletzt mit den Terroristenverfahren auch in der öffentlichen Meinung zu einem als äußerst dringlich empfundenen Problem entwickelt663 . Die gewandelten Rahmenbedingungen waren Folge einer neuen Prozeßkultur, die seit Ende der sechziger Jahre Einzug in deutsche Gerichtsäle hielt664 . Auslöser dürfte der sich zeitgleich vollziehende Wandel im politischen und soziologischen Selbstverständnis vieler Strafverteidiger gewesen sein665 . Das tradierte Bild vom systemintegrierten Verteidiger, der sich selbst als "Organ der Rechtspflege" begriff, wurde zunehmend in Frage gestellt666 und eine öffentlich-rechtliche Komponente von Strafverteidigung geleugnet667 . Einerseits war nun Strafverteidigung mit einer strafprozessual aktiveren und qualifizierteren Anwaltschaft mehr als lediglich ein "Feigenblatt des Rechtsstaats,,668 . Andererseits - und das ist die negative Seite der Medaille - wurde nun häufiger der Status der Strafprozeßordnung, verbindliche Grundregelung eines sinnvollen Prozedere in Strafsachen zu sein, in Frage gestellt: Die Anerkennung der Ziele des Strafverfahrens, der Strafprozeßordnung als verbindlicher "Spielanleitung" und - die zielorientierte - Einhaltung der einzelnen "Spielregeln" war nun nicht mehr selbstverständlich669 . Das "Konfliktmodell" eta-

den Bedürfnissen wirksamer Strafverfolgung (BVerGE 77, S. 65 [76]) oder bezieht sich auf die "Erfordernisse einer wirksamen Rechtspflege" (BVerfGE 80, S.367 [375]). Anders allerdings wieder BVerfG NJW 1994, S. 573 (573). 663 Weber, GA 1975, S. 289; Metzger, Ablehnung, S. 95; Kühne, Strafprozeßlehre, Rn. l34.l; Vogel, NJW 1978, S. 1223; Heinicke, Beschuldigte, S. 150 f., Fn. 82 m.w.N.; vgl. auch Günter, DRiZ 1984, S. 326; ders., DRiZ 1994, S. 303; Fischer, NStZ 1997, S.213; Protokoll der Arbeitstagung der Generalstaatsanwälte und des Generalbundesanwaltes zum "Verteidigerverhalten in Terroristenverfahren", StV 1991, S. 284 ff. 664 Vgl. Peters, FS-Würtenberger, S.86; Küng-Ho/er, Beschleunigung, S. 11 f.; Dahs, NJW 1994, S. 909; Dürr/eId, Probleme, S. 308. Zur Kritik an der gewandelten Prozeßkultur vgl. etwa das Protokoll einer Arbeitstagung der Generalstaatsanwälte und des Generalbundesanwaltes zum "Verteidigerverhalten in Terroristenverfahren", StV 1991, S.284 ff., und Kunkis, DRiZ 1993, S. 189 f.; positive Bewertung dagegen bei Jungfer, Strafverteidigung, S. 56 ff., und Mauz, Politische Prozesse, S. 8. 665 Hanack, FG-Schultz, S. 301 ff.; Fezer, StV 1995, S. 263; Hassemer, StV 1995, S. 484; Kunkis, DRiZ 1993, S. 189 f. m.w.N. 666 Breucker, Verhalten, S. 107 ff.; Beulke, Reform, S. 30 ff.; Hanack, StV 1987, S. 501. 667 AK/StPO-Stern, Vorbem. § l37 Rn. 24 ff. m.w.N. 668 Mauz, Politische Prozesse, S. 8. 669 Vgl. Weber, GA 1975, S. 289; H.-L. Schreiber, Bedeutung des Konsenses, S. 71; Hanack, StV 1987, S.501; Küng-Hofor, Beschleunigung, S. 12; Kühne, StV 1996, S. 686; Fischer, NStZ 1997, S. 2l3.

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

blierte sich als prozessuale Interaktionsfonn670 . "Konfliktverteidigung,,671 wurde zu einem der Schlüsselbegriffe der rechtspolitischen Diskussion672 . Diese Entwicklung machte auch vor dem Beweisantragsrecht nicht halt: Je nach politischer Motivation (in Verfahren mit politisch-ideologischem Einschlag)673 oder auch nüchtern kalkulierender Prozeßstrategie, wie in Wirtschaftsstrafverfahren674 , in denen die verteidigenden Anwälte keinerlei fmanziellen Beschränkungen unterworfen sind, wurde und wird es verstärkt zur Erreichung außerprozessualer Ziele oder schlicht zur Verfahrensobstruktion zweckentfremdet675 . Hinzu kam, daß auch außerhalb der Mißbrauchsflille seit den siebziger Jahren zunehmend Verfahren von langer Dauer und mit einer hohen Rate von Beweisanträgen zu beobachten sind676 . All dies hatte Folgen fUr die zeit- und kostenintensiven wie mißbrauchsanfliliigen Beweisrechte der Angeklagtenseite: Seit den ausgehenden siebziger und beginnenden achtziger Jahren gelten sie 670 Dabei scheint es sich weitgehend um eine deutsche Erscheinung zu handeln. In anderen westlichen Rechtsstaaten wird ein auf Konfrontation angelegtes Verteidigerverhalten selten beobachtet (Perron, Querschnitt, S. 577 f., 582; ders., ZStW 108 [1996], S. 149; zur österreichischen Verfahrenswirklichkeit Moos, Grundlinien, S. 58: "Nicht Auflehnung gegen die Obrigkeit scham Freiheit, sondern Anpassung", d. h. "Konsenszwang und Konfliktverbot"). 671 LG Wiesbaden, StV 1995, S. 239 (240) m. Anm. Asbrock, StV 1995, S. 240; zu diesem Stichwort weiter: Malmendier, NJW 1997, S. 227 ff.; lahn, ZRP 1998, S. 103 ff. 672 An gesicherten empirischen Belegen rur eine zunehmende Konfliktbereitschaft der Verteidiger fehlt es jedoch (Barton, StV 1996, S. 693 f.); Meyer-GoßnerIStröber, ZRP 1996, S. 356, meinen gleichwohl: "Rechtsanwälte gehen immer häufiger dazu über, sogenannte Konfliktverteidigung zu betreiben". 673 Siehe Gewaltkommission, Bd. 11 (Erstgutachten), S. 792; zum Baader-MeinhofProzeß Breucker. Verhalten, S. 150 ff. (Vietnam-Beweisanträge), S. 189 ff. (Dum-DumBeweisanträge), S. 207 ff. (Trinkwasserentzug-Beweisanträge). 674 Allgemein zum Rechtsrnißbrauch in Wirtschaftsprozessen: Weber, GA 1975, S. 290; Lange, Strafrechtsreform, S. 50; Huber, NStZ 1996, S. 532; siehe aber auch Richter II, AnwBI 1997, S. 78 ff., der rur den "Herstatt-Prozeß", ein differenziertes Bild allseitiger Unzulänglichkeiten und Versäumnisse nachzeichnet. 675 Neu sind die Klagen über den Mißbrauch prozessualer Rechte und die Instrumentalisierung des Strafverfahrens freilich nicht. Vgl. etwa zur Kaiserzeit Hamm, DJZ 1911, Sp. 312: "Zudem ist es auch immer häufiger geworden, öffentliche Strafverfahren zu sensationellen Schaustellungen oder zu politischen Agitationen zu mißbrauchen." Zur Weimarer Zeit: RGSt 66, S. 14 (14 f.); zum bayerischen Partikularrecht: Hänle, GS 6 (1854), Bd. 2, S. 47 f.; zum friderizianischen Preußen: Malmendier, NJW 1997, S. 227. 676 Vgl. Berz, NJW 1982, S. 729, 733 f.; Weber, GA 1975, S. 300; Herrmann, ZStW 85 (1973), S.280; nach den Untersuchungen von Barton, StV 1984, S. 395 ff., und Vogtherr, Rechtswirklichkeit, S. S. 182/183, 343, 348 f., 425, ist die Häufigkeit von Beweisanträgen in amts- und landgerichtlichen Hauptverhandlungen allerdings insgesamt gering. Nach Barton, a.a.O., S. 396, kam es in nur 15 % der überhaupt zu einem Beweisantrag und noch seltener zu mehreren Anträgen.

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vielen als dysfunktional, zu großzügig, zu umständlich, zu langwierig und zu teuer.

11. Das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 (StVÄG 1979)

Gegenstand der Refonndiskussion war zunächst das Beweispräsentationsrecht (§ 245 StPO). Bereits während der Beratungen zum I.StVRG im Jahre 1974 setzten im Bundesjustizministerium Vorarbeiten fiir ein weiteres tiefgreifendes Änderungsgesetz ein677 . Im Frühjahr 1975 wurde eine gemeinsame Bund-Länder Arbeitsgruppe "Strafverfahrensrefonn" eingesetzt, deren Aufgabe es u. a. sein sollte, "Maßnahmen zum Schutz vor mißbräuchlicher Ausnutzung beweisrechtlicher Vorschriften" zu erarbeiten678 . Anlaß hierfiir waren nicht zuletzt die Erfahrungen, die man mit obstruktivem Verteidigungsverhalten in Terroristenverfahren gemacht hatte679 . Die Beratungsergebnisse der Arbeitsgruppe flossen in diverse Entwürfe680 und schließlich in das Strafverfahrensänderungsgesetz ein, das vom Bundestag am 8. Juni 1978 beschlossen wurde und schließlich am 1. Januar 1979 in Kraft trat (StV ÄG 1979)681 . 1. Wegfall des autonomen Präsentationsrechts

und Beschränkung des Verwendungszwanges

Um Mißbrauchsmöglichkeiten und Verfahrensverzögerungen auszuschalten, schränkte die Beschleunigungsnovelle die Sonderstellung der präsenten Beweismittel erheblich ein, die nach dem Krieg in Anknüpfung an die vornationalsozialistischen Regelungen wiederhergestellt worden war682 . Die Verpflichtung der Gerichte, in Ansehung von § 245 StPO a.F. die Beweisaufnahme 677 V g\. BT-DrS 8/976, S. 17; zur Entstehungsgeschichte des StVÄG 1979 siehe Hagemann, Entstehung, S. 82 ff., und Rieß, NJW 1978, S. 2265 f. 678 BT-DrS 8/976, S. 17. 679 Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 9 f.; Kunert, GA 1979, S. 413. 680 BR-Entwurf, BT-DrS 7/5267, BT-DrS 8/354; Entwurf der CDU/CSU-Fraktion, BT-DrS 8/323; Reg.-Entwurf, BT-DrS 8/976. 681 BGB\. 1979, Teil I, Nr. 57, S. 1645 ff. 682 Eine Einschränkung des § 245 StPO war bereits Gegenstand der Erörterungen des 50. DJT. 1974 gewesen, der sich dem Thema "Empfiehlt es sich, besondere strafprozessuale Vorschriften fiir Großverfahren einzufilhren ?" gewidmet hatte. Grünwald sprach sich jedoch in seinem Gutachten gegen eine Beschränkung aus (C 72 ff.); ebenso Waldowski, Referat, K 52; H.-J. Bruns, Referat, K 85, plädierte filr die Einfiihrung eines weiteren Ablehnungsgrundes (mangelnde Sachzugehörigkeit). Dieser Vorschlag fand in der Abstimmung jedoch keine Mehrheit (VerhDJT 1974, Diskussion, K 176).

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1. Teil: Historische Entwicklung und Refonngeschichte

grundsätzlich auf alle präsenten Beweismittel erstrecken zu müssen, und zwar ungeachtet der Entscheidungsrelevanz, hatte man als Quelle prozessualen Mißbrauchs ausgemacht683 . Da eine Zurückweisung des Beweisbegehrens außer bei allseitigem Verzicht und im Falle der Unzulässigkeit oder Prozeßverschleppungsabsicht nicht in Frage kam, konnten dem Gericht Beweise aufgezwungen werden, denen es offensichtlich an der Beweiserheblichkeit oder Beweiseignung mangelte 684 . Dementsprechend brachten Angeklagte das Alte Testament mit in die Hauptverhandlung, um antisemitische Propaganda zu treiben 685 , und Schriftstücke, um damit Aggressionsabsichten der Westmächte im allgemeinen, die Ursachen des atomaren Wettrüstens, des Koreakrieges oder die Präventivkriegstrategien der NATO im besonderen, unter Beweis zu stellen686 • Extremen Mißbräuchen hatte die Rechtsprechung deshalb durch eine weite Auslegung des Begriffs der "Unzulässigkeit" beizukommen versucht687 • Die Neufassung des § 245 StPO sollte dem Mißbrauch entgegentreten, und zwar durch zwei Maßnahmen: Zunächst wurde - außer fiir gerichtlich vorgeladene Beweispersonen und vom Gericht oder der Staatsanwaltschaft herbeigeschaffte sonstige Beweismittel (§ 245 Abs. IStPO) - der Verwendungsanspruch an ein förmliches Antragserfordernis gekoppelt (§ 245 Abs. 2 StPO). War bislang zur Durchsetzung des Präsentationsrechts kein besonderer Antrag erforderlich, so konnte nach der Neuregelung ein Anspruch auf Beweispräsentation nur noch auf Beweisantrag hin entstehen688 . Das formelle Antragserfordernis wurde ergänzt durch einen - an § 244 Abs. 3 StPO angelehnten - Katalog von Ablehnungsgründen. Der Katalog wurde allerdings enger gefaßt als die Regelung für nichtpräsente Beweismittel. Neben die schon bislang geltenden Ablehnungsgründe der Unzulässigkeit und der Prozeßverschleppungsabsicht traten zunächst drei unmittelbar aus § 244 Abs. 3 StPO entlehnte: Das Erwiesensein und die Offenkundigkeit der Beweistatsache sowie die völlige Ungeeignetheit des Beweismittels. Nicht übernommen - obwohl vom Bundesrat zur Aufnahme 683 BR-Entwurf, BR-DrS 8/354, S.9; Reg.-Entwurf, BT-DrS 8/976, S.24, 51; Hi. Bruns, FS-Maurach, S.481; Weber, GA 1975, S.300; SKiStPO-Schlüchter, § 245 Rn. 1; bereits in der Kaiserzeit wurde das Präsentationsrecht für unnötige Verzögerungen verantwortlich gemacht; zur Kritik Sontag, GA 68 (1920), S. 331, und Finger, GS 87 (1920), S. 443. 684 Reg.-Entwurf, BT-DrS 8/976, S. 51; Weber, GA 1975, S. 300; Alsberg/Nüse/ Meyer, Beweisantrag, S. 778. 685 BGHSt 17, S. 28 (29,31). 686 BGHSt 17, S. 337 (341 ff.). 687 BGHSt 17, S.28 (30); 17, S.337 (343); Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 778, 799 f. m.w.N.; Marx, NJW 1981, S. 1417. 688 Eine derartige Erstreckung des Antragserfordemisses auf das Präsentationsrecht war aber bereits Gegenstand des E 1908/1909 (vgl. Beschluß der Reichstagskommission zu § 232 Abs. 3 E 1909) und des "Goldschmidt-Entwurf', § 237 Abs. 3 E 1919, gewesen.

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in den neuzuschaffenden Ablehnungskatalog vorgeschlagen689 - wurde der Ablehnungsgrund "für die Entscheidung ohne Bedeutung" (§ 244 Abs. 3 S.2 Var. 2 StPO)690. Das StV ÄG wollte in die Regelung über die präsenten Beweismittel nur solche Ablehnungsgründe übernehmen, bei denen negative Beweisantizipationen vollständig ausgeschlossen sind691 . Da eine Beweisantragsablehnung wegen "Bedeutungslosigkeit" auch dann statthaft ist, wenn ein sachlicher Zusammenhang zwar besteht, die zu beweisende Tatsache aber die gerichtliche Entscheidung nicht zu beeinflussen vermag, weil sie nur mögliche, nicht zwingende Schlüsse zuläßt und das Gericht den möglichen Schluß nicht ziehen will 692 , bestanden hier in bezug auf das Beweisantizipationsverbot Bedenken. Deshalb sollte im Rahmen des § 245 Abs. 2 StPO nur der objektiv fehlende sachliche Zusammenhang zwischen der zu beweisenden Tatsache und dem Gegenstand der Urteilsfmdung zur Ablehnung berechtigen. Verzichtet wurde auch auf eine Übernahme der Ablehnungsmöglichkeiten wegen der Offenkundigkeit des Gegenteils, wegen Wahrunterstellung und aus den Gründen des § 244 Abs. 4 und Abs. 5 StPO.

2. Kritik an der Neuregelung

In der öffentlichen Diskussion, welche die Genese des StVÄG allgemein begleitete, blieb die Beseitigung der antragsunabhängigen Beweispräsentation und die Einschränkung der Verwendungspflicht "merkwürdig unbeachtet,,693 . Erst nach Inkrafttreten der Vorschrift regte sich nennenswerte Kritik694 . Diese 689 Vgl. BR-Entwurf, BT-DrS 7/5267, S. 6, BT-DrS 8/354, S. 5 f., allerdings mit der Einschränkung der "offensichtlichen" Bedeutungslosigkeit (ebenso der Entwurf der CDU/CSU-Fraktion, BT-DrS 8/323, S. 5). 690 Aufgrund der ablehnenden Haltung der Bundesregierung (vgl. Stellungnahme zum BR-Entwurf, BT-DrS 8/354, S. 18). Zur Gefahr von Beweisantizipationen bei der Ablehnung wegen Bedeutungslosigkeit vgl. Reg.-Entwurf, BT-DrS 8/976, S. 51; Herdegen, NStZ 1984, S. 98; KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 66. 691 Reg.-Entwurf, BT-DrS 8/976, S. 51; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 779; Köhler, NJW 1979, S. 350; Hagemann, Entstehung, S. 100. 692 Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 244 Rn. 54, 56; Hagemann, Entstehung, S. 106 f.; Marx, NJW 1981, S. 1420; AKlStPO-Schöch, § 244 Rn. 85, 87; KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 74. 693 Rieß, NJW 1978, S. 2270; Hagemann, Entstehung, S. 123; außerdem Kühl, Prozeßgegenstand, S. 60 ff. 694 Peters, Strafprozeß, S. 73, 315 f.; Krekeler, AnwBl 1979, S. 216; I. Müller, KJ 1978, S. 304 f.; Quedenfeld, FG-Peters, S. 226; Kunert, GA 1979, S. 413; Hagemann, Entstehung, S.95 ff.; E. Müller, NJW 1981, S. 1805; Marx, NJW 1981, S. 1415 ff.; Schroeder, NJW 1983, S. 140; Resolution 6. Strafverteidigertag (1982), StV 1982, S. 302; Kühl, Prozeßgegenstand, S. 77 ff.; Rüping, Strafverfahren, S. 143; Kühne, Straf-

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richtete sich zunächst gegen die der Neufassung zugrunde liegende Prämisse, das Beweisvorfilhrungsrecht sei Ursache fUr Mißbrauch und Verfahrensverlängerungen gewesen 69S . So wurde bezweifelt, daß § 245 StPO a.F. tatsächlich erhebliche Belastungen der Gerichte hervorgerufen habe 696 . Zudem wurde bemängelt, daß mit dem Beweisantragserfordernis nun die genaue Angabe eines bestimmten Beweisthemas erforderlich war697 . Zumindest beim Zeugen- und Sachverständigenbeweis sei dieses Bestimmtheitserfordernis verfehlt698 , weil hier die Beweisthematik häufig gar nicht eindeutig benannt werden könne 699 . Inhaltlich wurde in der Neufassung ein Verstoß gegen das Prinzip der Waffengleichheit erkanneoo . Schon bislang habe es eine aus den ungleichen Ladungsvoraussetzungen resultierende Asymmetrie zwischen Anklage und Verteidigung gegeben, da der Staatsanwaltschaft ein selbst auszuübendes unmittelbares Ladungsrecht zugestanden wird (§ 214 Abs. 3 StPO)701, während der Angeklagte das umständliche und unflexible Verfahren der Ladung durch den Gerichtsvollzieher beschreiten muß (§§ 220 Abs. 1, 38 StPO). Diese Ungleichbehandlung sei nun dadurch intensiviert worden, daß von der Staatsanwaltschaft

prozeßlehre, Rn. 454; Junker, Analyse, S. 130 ff.; Hanack, FG-Schultz, S. 322 f (bzgl. des formellen Antragserfordernisses); zustimmend dagegen Rudolphi, JuS 1978, S. 866. 695 Vgl. KG JR 1971, S. 338 (338 ff.) mit Anm. Peters, S. 340 f: Der Angeklagte hatte den Verleger Axel Springer, ohne daß dieser - was offensichtlich war - etwas Beweiserhebliches mitteilen konnte, als präsenten Zeugen LS. § 245 StPO a.F. unmittelbar vorladen lassen (§ 220 StPO), um ihn Beschimpfungen aus der Zuhörerschaft auszusetzen und Springer selbst beleidigen zu können (zu den rechtlichen Problemen dieses Falles Wagner, JuS 1972, S. 315 ff.). 696 Hagemann, Entstehung, S. 129 ff., 142; Hanack, FG-Schultz, S.323, insbes. Fn. 90; Krekeler, AnwBl 1979, S. 216 f; Grünwald, Gutachten, C 74; Kühne, Strafprozeßlehre, Rn. 454. 697 Rechtsprechung und Literatur forderten zu § 245 StPO a.F. nur die Angabe des Beweisthemas in seinen Umrissen (Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S.821 Fn.43 m.w.N.). Zur Kritik an der Neuregelung Heinicke, Beschuldigte, S. 163; Köhler, Inquisitionsprinzip, S.78; ders., NJW 1979, S.350; KKlStPO-Herdegen, § 245 Rn. 13; Peters, Strafprozeß, S. 316. 698 KKiStPO-Herdegen, § 245 Rn. 13; Köhler, NJW 1979, S. 350; vgl. auch AKI StPO-Schöch, § 245 Rn. 22. 699 Peters, Strafprozeß, S.316; Hagemann, Entstehung, S.99 f.; vgl. auch KKHerdegen, StPO, § 245 Rn. 13; AKlStPO-Schöch, § 245 Rn. 22; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 779, Fn. 13, 822 f. 700 Hagemann, Entstehung, S. 90 f., 119 f.; Köhler, NJW 1979, S. 349 f.; Schroeder, NJW 1983, S. 140; I. Müller, KJ 1978, S.305; Perron, Beweisantragsrecht, S. 190 Fn. 109, hält diesen Einwand angesichts der "nur eingeschränkten Bedeutung" der Waffengleichheit im deutschen Strafprozeß für vernachlässigenswert. 701 § 38 StPO soll für Ladungen der Staatsanwaltschaft nicht gelten (Kleinknecht/ Meyer-Goßner, § 214 Rn. 13, vgl. § 38 Rn. 1; kritisch Köhler, NJW 1979, S. 350; ders., Inquisitionsprinzip, S. 79). Der Staatsanwaltschaft ist es so kurzfristig möglich, weitere Beweispersonen in der Hauptverhandlung zu präsentieren oder diese, falls anwesend, unmittelbar im Gerichtssaal zu laden (vgl. Köhler, NJW 1979, S. 350).

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präsentierte Sachbeweise nach § 245 Abs. 1 StPO n.F. zwingend zu erheben seien702 , während fiir sachliche Beweismittel der Angeklagtenseite der Ablehnungskatalog des § 245 Abs.2 StPO n.F. gelte 703 • Der Anklageseite bleibe so zumindest zum Teil das Beweiserzwingungsrecht erhalten, während die Realisierung der Beweisbegehren der Angeklagtenseite ganz von einer gerichtlichen Vorprüfung abhängig gemacht werde 704 • Schließlich wurde der Eintritt eines prozeßpsychologischen Vertrauens schwundes gegenüber den am Verfahren beteiligten Laien und der Öffentlichkeit befiirchtet, wenn die Beweiserhebung trotz Greifbarkeit des Beweismittels versagt werde. Da sich aus Laiensicht wegen der unterschiedlichen Relevanzstrukturen und Vorverständnisse - die Bedeutsarnkeit einer Beweiserhebung häufig anders darstelle als aus gerichtlicher Sicheo5 , könne so leicht der Verdacht aufkommen, das Gericht wolle die "wirkliche" Wahrheit gar nicht erforschen706 • 3. Resümee und weitere Entwicklung

Die Neufassung war gegenüber der bisherigen Rechtslage durch zwei wesentliche Änderungen gekennzeichnet: Durch das formale Erfordernis eines Beweisantrages, mit dem das antragsunabhängige ("autonome") Präsentations-

702 Ein Verwendungszwang rur die von der Staatsanwaltschaft präsentierten Beweismittel sollte nach § 245 Abs. I StPO allerdings nur dann gelten, soweit die Beweismittel bereits bei Anklageerhebung mit den Akten vorlagen oder die Herbeischaffung im Rahmen der Vorbereitung der Hauptverhandlung erfolgte. Für erst in der Hauptverhandlung präsentierte Beweismittel gilt von vornherein das Antragserfordernis des § 245 Abs.2 StPO (AlsbergINüseIMeyer, Beweisantrag, S.789 f; Kleinknechtl Meyer-Goßner, § 245 Rn. 4). 703 Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 78 f; ders., NJW 1979, S. 349; Peters, Strafprozeß, S. 316;1. Müller, Rechtsstaat, S. 123; Junker, Analyse, S. 135 f. 704 Diese Kritik scheint durch die neuere Rechtsprechung des BGH (BGHSt 37, 168 [171 ff.] = JR 1992, S. 34 ff. m. Anm. Fezer = StV 1992, S. 3 f m. Anm. Köhler) zur Auslegung des Merkmals "herbeigeschafft" in § 245 Abs. I StPO n. F. überholt zu sein (vgl. Fezer, JR 1992, S. 36, Fn. 12; Perron, Beweisantragsrecht, S. 190, Fn. 109). Der BGH hat erklärt, daß das bloße körperliche Vorhandensein der von der Staatsanwaltschaft herbeigeschafften Beweismittel und ein auf ihre Benutzung gerichtetes Beweiserhebungsverlangen nicht hinreichten, um eine Verwendungspflicht des Gerichts zu begründen. Vielmehr sei neben der Feststellung ihres Vorhandenseins eine Erklärung des Gerichts erforderlich, die Beweisgegenstände tatsächlich als Beweismittel benutzen zu wollen. Da das Gericht es somit in der Hand hat, durch eine vorangehende Willenserklärung über das Eingreifen der Verwendungspflicht nach § 245 Abs. I StPO zu befinden, steht der Staatsanwaltschaft kein eigenständiges Erzwingungsrecht mehr zu. 705 Dieser psychologische Gesichtspunkt war immerhin das leitende Motiv rur den Gesetzgeber im Jahre 1950 gewesen, mit § 245 StPO a.F. ein striktes Beweisvorfilhrungsrecht zu gewähren (vgl. BT-DrS 11530, S. 47). 706 Krekeler, AnwBl 1979, S. 216; Hagemann, Entstehung, S. 117, 122; vgl. schon Grünwald, Gutachten, C 74.

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

recht beseitigt wurde, und durch die neuen materiellen Ablehnungsgrunde, die den Verwendungszwang gegenüber § 245 StPO a.F reduzieren. Das entwicklungsgeschichtlich ältere Beweispräsentationsrecht ging damit ersatzlos in dem - erst später herausgebildeten - Beweisantragsrecht auf. Damit brach die Neufassung des § 245 StPO mit einer langen, bis ins Jahr 1877 zurückreichenden, liberalen Tradition, nach der der Angeklagtenseite die Befugnis zustand, sich durch eine selbständige Beweispräsentation an der Herstellung der Beweisbasis zu beteiligen. Der Entzug dieses Mitgestaltungsrechts bedeutete einen nicht unerheblichen Eingriff in die Prozeßstruktur707 . Für den historischen Gesetzgeber war die Gewährung eines antragsunabhängigen Beweisvorfuhrungsrechts ein Bekenntnis zum reformierten Inquisitionsprozeß, der auf der Verschmelzung inquisitorischer und akkusatorischer Verfahrens grundformen beruhte ("processus mixtus") 708. Trotz Beibehaltung der Inquisitionsmaxime, d.h. der Verpflichtung des Gerichts zur allseitigen Sachverhaltsermittlung, wurde dem Angeklagten mit dem Präsentationsrecht gleichsam als Reminiszenz an das akkusatorische anglo-amerikanische Parteiverfahren und insoweit typenvermischend - ein Mitwirkungsrecht mit kontradiktorischem Charakter eingeräumt. Mit der Neuregelung wurde dieses Beweisvorfuhrungsrecht nun getilgt und das Inquisitionsprinzip der Strafprozeßordnung gestärkt. Allerdings darf bei diesem Verdikt nicht übersehen werden, daß das Präsentationsrecht durch die Herausbildung eines auf nichtpräsente Beweismittel gerichteten Beweisantragsrechts ohnehin stark in den Hintergrund gedrängt worden war, und daß dieses Beweisantragsrecht - jedenfalls in der heutigen verbindlichen Ausgestaltung - ebenfalls eine Durchbrechung des reinen inquisitorischen Modells darstelle09 • Von der Ausgangslage des Jahres 1877 aus betrachtet, läßt sich daher eine gewisse Kompensation feststellen 710 . Ungeachtet der Neuregelung der präsenten Beweismittel stand fur den Gesetzgeber eine Änderung des § 244 Abs. 3 - 6 StPO in der gesamten Debatte seit dem 1. StVRG über die Möglichkeiten einer Verfahrensbeschleunigung und Justizentlastung nicht ernsthaft zur Diskussion7ll . Das Beweisantragsrecht wurPeters, Strafprozeß, S. 316; Quedenfeld, FG-Peters, S. 226. Zur Mischung der Verfahrensmodelle Zachariae, Handbuch, Bd. 1, S. 3, 42 ff., Bd. 2, S. 328, und Weigend, ZStW 104 (1992), S. 488 f. 709 Perron, Beweisantragsrecht, S. 274; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 261 f. 710 Ähnlich Rieß, GA 1980, S. 273. 7ll Ausnahme: Der "Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen" (DE-Rechtsmittelgesetz vorn Dezember 1975) der Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Strafverfahrensreforrn". Für das dort vorgeschlagene Strafbescheidsverfahren, dessen Einführung als dritte vereinfachte Verfahrensart (neben dem Strafbefehls- und dem beschleunigten Verfahren) empfohlen wurde, sollte das Beweisantragsrecht nicht gelten: "Das Gericht bestimmt unbeschadet des § 244 Abs. 2 den Umfang der Beweisaufnahme" (§ 295 DE-Rechtsmittelgesetz). Damit wäre das Beweisantragsrecht (und das 707

708

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de in den Jahren 1978/79 im Rahmen der rechtspolitischen Diskussion um das StV ÄG im Gegenteil sogar von der Bundesregierung als "wesentliche rechtsstaatliche Errungenschaft" gelobt und seine unterstützende Funktion rur die Wahrheitsfmdung im Strafprozeß und den Schutz des Angeklagten hervorgehoben712 . Wegen dieser bedeutsamen Aufgaben käme eine Einschränkung oder Änderung nicht in Betracht, auch wenn es in EinzelflilIen möglicherweise zu einer Verfahrensverzögerung mißbraucht werden könne 713 . Es schien nun insgesamt eine längere legislatorische Pause beabsichtigt, die der Konsolidierung des neuen Rechts dienen sollte 714 , zumal man der Auffassung war, daß der gesetzgeberische Spielraum fiir effiziente und zugleich rechtsstaatsverträgliche Entlastungsmaßnahmen weitgehend ausgeschöpft sei7l5 . Die rechtspolitische Diskussion stand jedoch nicht lange still. Nachdem das StV ÄG das antragsunabhängige Präsentationsrecht beseitigt hatte, setzte Anfang der Achtzigerjahre eine bis heute währende Offensive gegen das Beweisantragsrecht des § 244 Abs. 3 - 6 StPO ein.

III. Die Vorschläge für die 53. Justizministerkonferenz (1982)

"Angesichts des ständig steigenden Geschäftsanfalls in weiten Bereichen der Rechtspflege" wurde auf der 52. Konferenz der Justizminister und -senatoren (Oktober 1981) der Beschluß gefaßt, Vorschläge zur Entlastung der Strafgerichte und Beschleunigung der Strafverfahren zu erarbeiten716 • Ausgeschöpft werden sollten alle "irgend vertretbaren Möglichkeiten,,717. Daraufhin wurde von den Strafverfahrensrechtsreferenten der Landesjustizverwaltungen und des Bundesjustizministeriums (Ministerialräte Rieß und Katholnigg) im Februar 1982 eine Arbeitsunterlage fiir den Bereich Strafprozeß zusammengestellt, dessen erklärtes Ziel es war, die Strafjustiz zur Verringerung ihres Kostenaufwandes zu entlasten718 . Für das Beweisantragsrecht empfahl das Arbeitspapier gleich mehBeweisvorführungsrecht) für nahezu alle strafrichterlichen Sachen beseitigt gewesen (vgl. DE-Rechtsmittelgesetz, S.62). Einen entsprechenden Vorschlag hat R. Schmitl 1977 für das beschleunigte Verfahren entwickelt (ZStW 89, S. 645). 712 Reg.-Entwurf, BT-DrS 8/976, S. 23 f.; ebenso H-J Vogel, NJW 1978, S. 1225. 713 Reg.-Entwurf, BT-DrS 8/976, S. 23 f. 714 Rieß, ZRP 1977, S. 77; ders., NJW 1978, S. 2272; H-L. Schreiber, Tendenzen, S. 19; Ulsenheimer, AnwB11983, S. 374. 715 Vgl. BR-DrS 546/83, S. 11; RefE-StVÄG 1983 (s.u. III. 6. [Fn.]), S. 8; Berz, NJW 1982, S. 735. 716 Vgl. Dokumentation in StV 1982, S. 325. 717 Dokumentation in StV 1982, S. 325. 718 Die Arbeitsunterlage findet sich in den "Materialien zum Strafverfahrensänderungsgesetz 1987", zusammengestellt von der Bibliothek des Bundesgerichtshofes,

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

rere Einschränkungen: Vor dem Amtsgericht sei es gänzlich abzuschaffen. Und rur die verbleibenden Verfahren könne eine Präklusionsfrist eingefiihrt und die Ablehnungsgründe der Prozeßverschleppungsabsicht und Unerreichbarkeit des Beweismittels erweitert werden 719 • Im einzelnen: J. Beseitigung des Beweisantragsrechts in amtsgerichtlichen Verfahren

Zunächst schlug das Arbeitspapier vor, fiir die strafrichterlichen und schöffengerichtlichen Sachen das so betitelte "formelle" Beweisantragsrecht zu beseitigen. Gemeint war damit die Freistellung von dem strengen System der Ablehnungsgründe in §§ 244 Abs. 3-5, 245 StP0720 und von der Pflicht zur förmlichen Bescheidung (§ 244 Abs. 6 StPO)721. Für nahezu 98 % aller erstinstanzlichen Verfahren722 wäre damit die gerichtliche Aufklärungspflicht (§ 244 Abs.2 StPO) zum alleinigen Maßstab bei der Entscheidung über antragsförmige Beweisbegehren geworden. 2. Einführung einer Präklusionsfrist für Beweisanträge

Als Entlastungsmaßnahme fiir die landgerichtlichen und erstinstanzlichen oberlandesgerichtlichen Verfahren wurde § 246 Abs. 1 StPO zur Disposition gestellt, der die Stellung von Beweisanträgen in zeitlich sehr weitgehendem Maße bis zum Beginn der Urteilsverkündung zuläßt723 • Diskutiert wurden unterschiedliche Präklusionsmodelle: Nach einem Vorschlag der Berliner Justizverwaltung724 sollte dem Gericht die Befugnis zustehen, eine Frist zur Stellung von Beweisanträgen zu setzen. Für erst nach Fristablauf gestellte Anträge sollte das strenge Beweisantragsrecht nicht mehr gelten, wenn die Beweiserhebung zu Karlsruhe 1982-1987; ein Auszug ist in der Dokumentation, StV 1982, S. 325 ff., abgedruckt. 719 Dokumentation, StV 1982, S. 331 ff. (die Erweiterung des Ablehnungsgrundes der Unerreichbarkeit wurde nur auf der Referentenbesprechung erörtert, jedoch nicht in das abschließende Konzeptpapier übernommen). 720 Dokumentation, StV 1982, S. 327. Zustimmend: Böttcher, DRiZ 1983, S. 130; Rebmann, NStZ 1984, S.245; Presseerklärung Dt. Richterbund, DRB - Information 8/1982, I 46; Kritik bei Ulsenheimer, AnwB11983, S. 376. 721 Dokumentation, StV 1982, S.327; Ulsenheimer, AnwBI 1983, S. 376; überwiegend ist aber mit dem Ausdruck "formelles" Beweisantragsrecht nur die enumerative Regelung der Ablehnungsgrtinde angesprochen (vgl. Kintzi, DRiZ 1994, S. 328; Gössel, JR 1995, S. 365; Foth, JR 1996, S. 99). 722 Ulsenheimer, AnwBI 1983, S. 375; Asbrock (ÖTV-Stellungnahme), ZRP 1983, S.21. 723 KleinknechtIMeyer-Goßner, § 244 Rn. 33, § 246 Rn. I. 724 Arbeitspapier Berlin S. 1-5 (siehe Materialien, S. 000181, und Dokumentation, StV 1982, S. 331 f.).

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einer Unterbrechung der Hauptverhandlung über den laufenden Verhandlungstag hinaus oder sogar zu einer Aussetzung des Verfahrens filhren würde 725 . Alternativ hierzu wurde ein noch weitergehender Berliner Referentenvorschlag unterbreitet, wonach nicht nur das Beweisantragsrecht zeitlich limitiert, sondern auch die Amtsaufklärungspflicht nach Ablauf der gerichtlich festgesetzten Frist entfallen sollte. Über einen Beweisantrag, der ohne verständigen Grund nach Fristablauf gestellt werde, sollte das "freie Ermessen,,726 des Gerichts entscheiden, sofern wiederum eine Unterbrechung über den Verhandlungstag hinaus oder eine Verfahrensaussetzung Folge der Beweiserhebung wäre 727 . Schon auf der Referentenbesprechung im Februar 1982 wurden aber hinsichtlich der Berliner Vorschläge schwerwiegende Bedenken geltend gemacht728 . Zwei weitere Präklusionsvarianten des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz waren zurückhaltender. In erster Linie wurde vorgeschlagen, die Geltung des verbindlichen Beweisantragsrechts filr Anträge, die erst nach Schluß der Beweisaufnahme gestellt werden, auszuschließen, es sei denn, der Antragsteller könne ausreichende Gründe filr die nachträgliche AntragsteIlung glaubhaft machen729 . Für den Fall, daß man an den Ablehnungsgründen bis zum Beginn der Urteilsverkündung festhalten wolle, könne man bei Beweisanträgen nach Abschluß der Beweisaufnahme zumindest auf die förmliche Beschlußfassung (§ 244 Abs. 6 StPO) verzichten 730 • Derartige Anträge sollten erst im Urteil beschieden werden 731 3. Lockerung der Anforderungen an die Beweisantragsablehnung wegen Verschleppungsabsicht Weiterhin wurde vorgeschlagen, die von den Revisionsgerichten aufgestellten Begründungsanforderungen an tatrichterliche Ablehnungsentscheidungen wegen Prozeßverschleppungsabsicht zu reduzieren. Beim Ablehnungsgrund der Prozeßverschleppungsabsicht (§ 244 Abs.3 S.2 Var.6 StPO) sei zu diesem

Dokumentation, StV 1982, S. 332. Vgl. zum "freien Ermessen" die Bestimmungen der Notverordnung v. 14.6. 1932 (oben F. III.), das Strafverfahrensänderungsgesetz v. 28.6.1935 (oben G. III. 3.) und die VereintvO v. I. 9. 1939 (oben G. III. 5.). 727 Dokumentation, StV 1982, S. 332 f. 728 Dokumentation, StV 1982, S. 331. 729 Dokumentation, StV 1982, S. 331; zustimmend Rebmann, NStZ 1984, S. 246 f. 730 Dokumentation, StV 1982, S. 331. 731 Zustimmend: Strafrechtskommission des Dt. Richterbundes (DRB - Information 9/1982, I 55; vgl. auch DRiZ 1994, S. 304). 725

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

Zweck der Zusatz "nach Überzeugung des Gerichts" einzufugen732 . Damit sollte zum Ausdruck gebracht werden, daß sich das Revisionsgericht hinsichtlich der Bewertung der vom Tatrichter festgestellten tatsächlichen Umstände nicht an dessen Stelle setzen dürfe, sondern sich vielmehr darauf zu beschränken habe, nachzuprüfen, ob der Tatrichter seine Überzeugung in rechtlich einwandfreier Weise gewonnen hae 33 . 4. Erweiterung des Ablehnungsgrundes der Unerreichbarkeit Schließlich wurde angeregt, den Ablehnungsgrund der Unerreichbarkeit des Beweismittels dadurch zu erweitern, daß sich im Ausland befmdliche Zeugen bereits dann als unerreichbar gelten, wenn sie "schwer erreichbar" sind734 . 5. Die Reaktionen auf die Vorschläge Die Organe und Fachkommissionen der Richterschaft stimmten den Vorschlägen im wesentlichen zu 735 . Dagegen wurde von der Anwaltschaft scharfe Kritik geübe 36 . Hier war von der "Mißachtung rechtsstaatlicher Prozeßgrundsätze,,737 und einer "unerträglichen Demontage" des Beweisantragsrechts738 ebenso die Rede wie von einer indiskutablen und skandalösen Beseitigung formaler Fesseln und rechts staatlicher Garantien 739 , einer "Kampfansage,,740, ei732 Zustimmend: Rebmann, NStZ 1984, S. 246; Strafrechtskommission des Dt. Richterbundes (vgl. Rebmann, a.a.O.); Asbrock (ÖTV~Stellungnahme), ZRP 1983, S.21. 733 Dokumentation, StV 1982, S. 331; siehe weiter unten 2. Teil: 3. Kapitel, A. IV. 734 Vgl. Arbeitspapier Bayern, S. 1 (siehe Materialien, S.000181), das den Vorschlag allerdings ablehnte, a.a.O., S.000185; Resolution 6. Strafverteidigertag, StV 1982, S. 302. 735 Presseerklärung Dt. Richterbund, DRB - Information 8/1982, I 46; Strafrechtskommission des Dt. Richterbundes, DRB - Information 8/1982, I 47 u. 9/1982, I 54 f. (die Präklusionsmodelle wurden allerdings bis auf den bayerischen Hilfsvorschlag abgelehnt); Präsidium des Dt. Richterbund, DRB-Information 811982, I 47 und 9/1982, I 54 f. (nur Abschaffung des Beweisantragsrechts vor dem Amtsgericht). Die Fachkommission der ÖTV hat dagegen - bis auf die Lockerung der Begründungsanforderungen bei Antragsablehnungen wegen Verschleppungsabsicht - Einschränkungen abgelehnt (vgl. Asbrock, ZRP 1983, S. 21). 736 DAV-Stellungnahme, AnwBl 1982, S. 298 ff.; Resolution 6. Strafverteidigertag, StV 1982, S. 301 ff.; Stellungnahme 7. Strafverteidigertag (1983), StV 1983, S. 260 f.; Erklärung der Vereinigung hessischer Strafverteidiger, StV 1982, S. 392 ff.; Heinicke, Beschuldigte, S. 164 ff.; v. Plottnitz, KJ 1983, S. 302 ff.; Ulsenheimer, AnwBl 1983, S. 375 ff.; Winters, AnwBl 1983, S. 290 f.; außerdem Frohn, GA 1984, S. 562. 737 Winters, AnwBl 1983, S. 290. 738 Resolution 6. Strafverteidigertag (1982), StV 1982, S. 302. 739 Stellungnahme 7. Strafverteidigertag (1983), StV 1983, S. 260.

J. Seit 1975: Reforminitiativen und gesetzliche Änderungen

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nem "Eingriff in die rechtsstaatliche Substanz der Strafverteidigung,,741 , die sie zur "Staffage,,742 mache, und einer endgültigen Zerstörung der Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung 743 . Die "Gegenreformer,,744 wurden aufgefordert, "diesen Weg in den Unrechtsstaat"745, von einem "dialogisch geführten hinein in ein diktatorisch angelegtes Strafverfahren,,746, aufzugeben. Neben derart massiven Attacken wurden auf lokaler Ebene Anwaltvereine aktiv, die auf Diskussionsveranstaltungen den geschlossenen Widerstand unter den Strafverteidigern zum Ausdruck brachten747 . Das durch die Justizministerkonferenz ausgelöste Beben hallt sogar bis heute nach, wenn das damalige Arbeitspapier nach wie vor als "Horror- oder Spinnerliste" bezeichnet wird 748 . Bezweifelt wurde auch die Eignung der Vorschläge, etwas zur Verfahrensentlastung und Kostensenkung beizutragen 749 : Vielmehr führten die vorgesehenen Einschränkungen des Beweisantragsrechts geradewegs zu einer Belastung der Justiz, da sich die Zahl der Berufungen sprunghaft erhöhen werde 75o , wenn die Angeklagtenseite mit ihrem Vorbringen in erster Instanz nicht durchdringe751 . Insgesamt blieb die Diskussion aber verbandspolitisch orientiert. Im wissenschaftlichen Schrifttum fand keine nennenswerte Auseinandersetzung mit dem Vorhaben im allgemeinen und den Vorschlägen zum Beweisantragsrecht im besonderen statt. 6. Das weitere Schicksal der Initiative

Die weitere Diskussion des Gesetzesvorhabens führte zu einer wesentlichen Reduzierung des Vorschlagskatalogs 752 . Gleichwohl wurde ein nicht unerheblicher Teil der Vorschläge von der 53. Justizministerkonferenz im September 1982 übernommen: So etwa auch die Abschaffung des Beweisantragsrechts im

Asbrock (ÖTV -Stellungnahme), ZRP 1983, S. 21. Winters, AnwBl 1983, S. 290. 742 Erklärung der Vereinigung hessischer Strafverteidiger, StV 1982, S. 392. 743 DA V-Stellungnahme, AnwBl 1982, S. 299; Ulsenheimer, AnwBI 1983, S. 377. 744 Erklärung der Vereinigung hessischer Strafverteidiger, StV 1982, S. 396. 745 Resolution 6. Strafverteidigertag (1982), StV 1982, S. 303. 746 Erklärung der Vereinigung hessischer Strafverteidiger, StV 1982, S. 392. 747 Vgl. Winters, AnwB11983, S. 291; Böttcher, DRiZ 1983, S. 131. 748 Bandiseh, StV 1994, S. 158; vgl. bereits v. Plottnitz, KJ 1983, S. 302,304. 749 Asbrock (ÖTV -Stellungnahme), ZRP 1983, S. 21. 750 Vgl. bereits Druckers Kritik aus dem Jahre 1924, in der er die "Züchtung vermeidbarer Berufungen" durch die Emminger-Verordnung geißelte (JW 1924, S. 244). 751 Ulsenheimer, AnwB11983, S. 378; DAV-Stellungnahme, AnwB11982, S. 299. 752 Vgl. RefE-StV ÄG 1983, BR-DrS 546/83, S. I!. 740 741

10 Schatz

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

amtsgerichtlichen Verfahren 753 . Im Anschluß wurde der Bundesjustizminister gebeten, die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen einzuleiten754. Dies erfolgte Ende September 1982 mit dem Referentenentwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1983 (RefE-StV ÄG 1983)755 . Er sollte das Fazit ziehen aus der durch die 52. lustizministerkonferenz angestoßenen Reformdiskussion über eine Verfahrensvereinfachung und -entlastung756 . Das Resümee fiel offenbar hinsichtlich der Frage, ob Einschränkungen des Beweisantragsrechts berechtigt und erforderlich sind, negativ aus. Keine der ursprünglich vorgeschlagenen Restriktionen wurde' in den Referentenentwurf übernommen 757 . In der einleitenden Begründung wurde hierzu unter anderem festgestellt, daß eine Lockerung von Beweisaufnahmevorschriften für das amtsgerichtliche Verfahren zumindest starke Zweifel daran aufkommen ließen, ob sie ein "gerechtes Urteil und den rechtsstaatlich unverzichtbaren Schutz des Beschuldigten noch gewährleisten" würden 758 . Auf erneutes Drängen der lustizminister und -senatoren der Länder nach Entlastung der Strafjustiz wurde dann auf der Grundlage der Referentenvorlage ein Regierungsentwurf erarbeitet, der nach Einschaltung des Bundesrates im April 1984 dem Bundestag zugeleitet wurde 759 . Die Regierungsvorlage übernahm, wie der RefE-StV ÄG 1983, keine der aus der Arbeitsunterlage bekannten Änderungen des Beweisantragsrechts. Der damalige Bundesjustizminister Engelhard äußerte hierzu: Einen "kurzen Prozeß im bösen Sinne des Wortes" werde es auch weiterhin nicht geben. Rechtsstaatlich unverzichtbare Regelungen würden nicht angetastet; es seien keine Abstriche im Beweisantragsrecht vor den Amtsgerichten vorgesehen 76o .

753 Vgl. Winters, AnwB11983, S. 291. 754 Vgl. BR-DrS 546/83, S. 11. 755 Referentenentwurf (RefE) eines Gesetzes zur Änderung strafverfahrensrechtlicher Vorschriften (Strafverfahrensänderungsgesetz 1983 - StV ÄG 1983) - Stand 30. September 1982 (vgl. Brüssow, AnwBl1983, S. 21 ff.; Winters, AnwB11983, S. 291; Ulsenheimer, AnwBI 1983, S. 374 f.; Werle, ZRP 1983, S. 197 ff.; Böttcher, DRiZ 1983, S. 130). 756 RefE-StVÄG 1983, S. 7. 757 Vgl. Dokumentation, StV 1982, S. 600 (601); Werle, ZRP 1983, S. 197; Ulsenheimer, AnwBI 1983, S. 374 f.; Böttcher, DRiZ 1983, S. 130; Quedenfeld, FG-Peters, S.227. m RefE-StVÄG 1983, S. 10. 759 Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1984 (StV ÄG 1984), Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 23. Dezember 1983: BR-DrS 546/83, BT-DrS 10/1313; zum weiteren Gesetzgebungsverfahren RießIHilger, NStZ 1987, S. 146. 760 Verhandlungen des Bundesrates, Stenograph. Bericht, 531. Sitzung v. 3. Februar 1984, Plenarprotokoll S. 49.

1. Seit 1975: Reforminitiativen und gesetzliche Änderungen

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Nach intensiven Beratungen im Rechtsausschuß verabschiedete der Bundestag schließlich eine modifizierte Kompromißfassung, die nach der Zustimmung des Bundesrates im Januar 1987 verkündet wurde und am 1. April 1987 als Strafverfahrensänderungsgesetz 1987 (StV ÄG 1987) in Kraft trae61 • Hauptziel des StVÄG 1987 war wiederum die Entlastung der Justiz durch Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens 762 • Der mit dem 1. StVRG 1975 eingeleitete kriminalpolitische Paradigmenwechsel in der Strafprozeßreform wurde also fortgesetzt. Dennoch fand sich auch im StVÄG 1987 keine der 1981/1982 ursprünglich diskutierten Einschränkungen des Beweisantragsrechts wieder. Entsprechend ging die Rede von der "deformierten Reform" um 763 . Zwar schienen mit dem StVÄG 1987 die Forderungen nach Entlastung der Justiz zunächst einen gewissen Abschluß gefunden zu haben764 , zumal der Gesetzgeber - wie schon nach dem StVÄG 1979 - glaubte, daß mit dem StV ÄG 1987 der Spielraum fiir weitere effiziente wie rechtsstaatliche Maßnahmen zur Justizentlastung im Strafverfahren weitgehend ausgeschöpft see6S • Diese Einschätzung wurde aber bald revidiert. Weder genügte das StVÄG 1987 den Forderungen nach Entlastung noch war die Auffassung von Dauer, daß die Grenze rechtsstaatlich vertretbarer Änderungen weithin erreicht sei.

IV. Das Rechtspflege-Entlastungsgesetz vom 11. Januar 1993

I. Entstehungsgeschichte

Den Anstoß fiir einen erneuten Versuch, die Stratjustiz zu entlasten, gab die deutsche Wiedervereinigung im Oktober 1990. Zum Aufbau einer rechtsstaatlichen Justiz in den neuen Bundesländern und zur Bewältigung der durch den Einigungsprozeß erweiterten Aufgaben der Gerichte sollten alle Vereinfachungs- und Beschleunigungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden 766. Der damalige Bundesjustizminister Kinkel kleidete den Wunsch nach Verfahrensvereinfachung und -straffung programmatisch in den Satz: "Notzeiten erfordern

761 BGBI. 1987, Teil 1, Nr. 9, S.475-480. Zum StV ÄG siehe Rieß/Hilger, NStZ 1987, S. 145 ff., 204 ff.; Meyer-Goßner, NJW 1987, S. 1161 ff. 762 Rieß/Hilger, NStZ 1987, S. 145 f. 763 V gl. Günter, DRiZ 1990, S. 106. 764 Meyer-Goßner, NJW 1987, S. 1169; vgl. ders., NJW 1993, S. 501, wo er das Fehlgehen seiner Prognose feststellt. 765 BR-DrS 546/83, S. 11; BT-DrS 10/1313, S. 11; ebenso "Entwurfeines ... Strafrechtsänderungsgesetzes", BT-DrS 10/272, S. 5. 766 "Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege", BR-DrS 314/91, S. 1, 52, BT-DrS 12/1217, S. 17 ff.

10·

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1. Teil: Historische Entwicklung und Refonngeschichte

besondere Maßnahmen,,767. Treibende Kraft fiir das Entlastungsgesetz waren wiederum die fiir die Strafjustiz überwiegend zuständigen Länder. Deren Justizminister und -senatoren verabschiedeten auf einer Sonderkonferenz am 24. April 1991 den "Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege", der sodann von zehn Bundesländern in den Bundesrat eingebracht wurde. Dieser billigte den Entwurf am 5. Juli 1991 im wesentlichen 768 - nach durchaus kontroverser Beratung769 . Mit einer teilweise sehr kritischen Stellungnahme der Bundesregierung770 wurde der Entwurf dann dem Bundestag zugeleitee71 . Der Rechtsausschuß des Bundestages, dem der Entwurf in der 1. Plenarlesung überwiesen worden war, empfahl nach Anhörung verschiedener Berufs- und Fachorganisationen den Gesetzentwurf mit Änderungen anzunehmen 772 . Das Plenum des Bundestages schloß sich diesem Votum an. Am 18. Dezember 1992 wurde die Annahme des Entwurfs in der durch den Rechtsausschuß modifizierten Form beschlossen773 . Nach Zustimmung des Bundesrates wurde das "Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege" am 11. Januar 1993 verkündee74 . Am 1. März 1993 trat es in Kraft. 2. Die Vorschläge des Bundesrates

Der vom Bundesrat eingebrachte Entwurf sah neben einem ganzen Bündel weiterer Maßnahmen auch drei Änderungen im Beweisantragsrecht vor775 • Diese sollten nicht nur der Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung dienen, sondern auch der Abwehr von problematischen, das heißt wohl von mutmaßlich mißbräuchlichen Beweisanträgen. Die Beschränkungen könnten, so heißt es, dazu beitragen, der "in letzter Zeit zunehmend festzustellenden übermäßigen Verfahrensdauer entgegenzuwirken", zumal "problematische Beweisanträge"

FAZ vom 11. Mai 1991, S. 10. 633. Sitzung am 5.7. 1991, BR-DrS 314/91 (Beschluß). 769 Vgl. die abweichenden Anträge Hessens und Schleswig-Holsteins (BR-DrS 314/ 4/91) und der Freien und Hansestadt Hamburg (BR-DrS 314/12/91), siehe unten 3. 770 BT-DrS 12/1217, S. 63 ff., 67. 77J BT-DrS 12/1217. 772 BT-DrS 12/3832; vgl. Hansens, AnwB11993, S. 197. 773 125. Sitzung am 27. November 1992 (BR-DrS 837/92). 774 Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993, BGBl. 1993, Teil I, Nr. 2, S. 50-57. 775 Der vierte, zunächst diskutierte Vorschlag, das Beweisantragsrecht im amtsgerichtlichen Verfahren abzuschaffen, war bereits auf der Sonderkonferenz mit knapper Mehrheit abgelehnt und nicht in den BR-Entwurf übernommen worden (vgl. Schutz, StV 1991, S.355; Gemeinsame Erkärung der BRAK und des DAV, AnwBI 1991, 767 768

S.31O).

1. Seit 1975: Refonninitiativen und gesetzliche Änderungen

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nicht selten gerade in Verfahren vorkämen, die "ohnehin schwierig oder umfangreich" seien776 • a) Die Auslandszeugenregelung Zunächst sollte § 244 Abs. 5 StPO ergänzt werden: Ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre, kann auch dann abgelehnt werden, wenn seine Vernehmung nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist (§ 244 Abs. 5 S.2 StPO LV.m. § 244 Abs. 5 S. 1 StPO). Zur Rechtfertigung dieser Bestimmung filhrte die EntwurfsbegrUndung aus, daß sich das Gericht außerhalb seiner Amtsautklärungsptlicht auf die Beweismittel beschränken solle, die sich im Hoheitsbereich des erkennenden Gerichts befmden, um den internationalen Rechtshilfeverkehr in Strafsachen nicht mit der Beibringung von Beweismitteln zu belasten, die es selbst nicht fiir erforderlich halte 777 . Der wirkliche Hintergrund fiir diesen Vorschlag dürfte aber eher in der Obstruktionstaktik mancher Verteidiger zu finden sein, das letzte Mittel des Erfolgs in der sprichwörtlichen "Verteidigung mit dem Telefonbuch von Ankara" zu suchen778 • Neu war der Vorschlag freilich nicht, eine erleichterte Ablehnungsmöglichkeit fiir schwer erreichbare Zeugen bereitzustellen: Schon auf der Referentenbesprechung im Frühjahr 1982 war eine Erweiterung des Ablehnungsgrundes der Unerreichbarkeit (§ 244 Abs. 3 S.2 Var. 5 StPO) zur Diskussion gestellt worden779 • b) Erweiterung der Ablehnung wegen Verschleppungsabsicht . Der Gesetzentwurf sah weiterhin vor, die Begründungsanforderungen an Ablehnungsbeschlüsse wegen Verschleppungsabsicht zu lockern. Dazu sollte § 244 Abs. 3 S.2 Var.6 StPO durch den Zusatz "nach der freien Würdigung des Gerichtes" ergänzt werden 780 • Mit dem Einschub wollten die Entwurfsverfasser klarstellen, daß dem Tatgericht bei der Würdigung des Ablehnungs776 BR-DrS 314/91, S. 100; BT-DrS 12/1217, S. 35; vgl. auch Weber, Stellungnahme fiir den Dt. Richterbund, Öffentl. Anhörung im Rechtsausschuß des Dt. BT vom 29.4.1992,38. Sitzung, 12. WP, S. 38/155: "Wir wollen den Mißbrauch bekämpft sehen". 777 BR-DrS 314/91, S. 103 f.; BT-DrS 12/1217, S. 36. 778 Rückei (Stellungnahme fiir BRAK), Öffentl. Anhörung im Rechtsausschuß des Dt. BT vom 29.4.1992,38. Sitzung, 12. WP, S. 38/152; Basdorf, StV 1995, S.313; Maatz, FS-Remmers, S. 589; bei Schlüchter, GA 1994, S. 416, ist es im Anschluß an Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 38, das "Telefonbuch von Istanbul". 779 Siehe oben III. 4. 780 Art. 3 Nr. 4 a (BR-DrS 314/91, S. 11; BT-DrS 12/1217, S. 7).

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

grundes der Verschleppungsabsicht ein revisions gerichtlich nicht überprUfbarer Beurteilungsspielraum zustehe und deshalb rur die Ablehnungsentscheidung ein reduzierter Begrilndungsumfang ausreichend seC81 • Eine vergleichbare Ergänzung des Ablehnungsgrundes der Prozeßverschleppungsabsicht durch den Zusatz "nach Überzeugung des Gerichts" war bereits Gegenstand der von der lustizministerkonferenz 1981 initiierten Arbeitsunterlage zur Entlastung der Strafjustiz782 • Wortwörtlich wiederholt fmdet sich dieser Vorschlag derzeit in den Entwürfen rur ein Zweites Rechtspflege-Entlastungsgesetz wieder783 • c) Zeitliche Begrenzung des strengen Beweisantragsrechts Schließlich sollte nach § 244 Abs. 5 StPO ein weiterer Absatz eingerugt werden: § 244 Abs. 5 a BR-Entwurf. Diese Bestimmung sah vor, das Beweisantragsrecht zeitlich zu begrenzen. Die Ablehnungsgrilnde sollten keine Anwendung fmden auf Beweisanträge, die erst nach Schluß der Beweisaufnahme gestellt werden und bei denen "ein verständiger Grund ftir die verspätete AntragsteIlung" nicht erkennbar ise84 • Für die Beurteilung der Frage, ob ein verständiger Grund vorliegt, war vorgesehen, dem Tatgericht mit der Gesetzesformulierung "nach der freien Würdigung des Gerichtes" einen revisionsgerichtlich nicht überprUfbaren Beurteilungsspielraum einzuräumen78s • Eine ähnlicher Vorschlag war bereits Gegenstand der Arbeitsunterlage rur die 53. lustizministerkonferenz (1982) gewesen 786 : Diese wollte die Regelung des § 244 Abs. 3 - 6 StPO nur dann zur Anwendung kommen lassen, wenn "zureichende Gründe ftir die nachträgliche AntragsteIlung glaubhaft gemacht werden". Zwei Punkte sollten damals allerdings anders gehandhabt werden: Zum einen legte der frühere Vorschlag dem Antragsteller mit dem Gebot, Gründe glaubhaft zu machen, ausdrücklich eine Substantiierungslast aufs7 • Zum anderen sollte bei "verspäteten" Beweisanträgen auch die formalisierte Ablehnungsentscheidung durch Gerichtsbeschluß (§ 244 Abs.6 StPO) entfal781 BR-DrS 314/91, S. 101 ff.; BT-DrS 12/1217, S.36; siehe weiter unten 2. Teil: 3. Kapitel A. IV. m.w.N. 782 V gl. Arbeitspapiere Bayern, Berlin (vgl. StV 1982, S. 331). 783 Siehe unten VI. 1., 2 a) cc), 3. 784 Art. 3 Nr. 4 c (BR-DrS 314/91, S. 11; BT-DrS 12/1217, S. 7). 785 Vgl. BR-DrS 314/91, S. 106; BT-DrS 12/1217, S. 37. 786 Arbeitspapier Bayern, S. 8-10 (vgl. StV 1982, S. 331). 787 Praktisch dürfte aber auch § 244 Abs. 5 a StPO eine gewisse Nachweispflicht des Antragstellers statuieren, schließlich trägt er das Ablehnungsrisiko, wenn das Gericht in freier Würdigung keinen verständigen Grund zu finden vermag (ähnlich Werle, JZ 1991, S.794; Kremer, Absprachen, S.323; vgl. auch Schlüchter, Weniger ist mehr, S.32, 48). De lege lata ist der Antragsteller nicht verpflichtet, "Verspätungsgründe" darzulegen (vgl. BGH NStZ 1986, S. 371 [371]).

J. Seit 1975: Refonninitiativen und gesetzliche Änderungen

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len. Der BR-Entwurf sieht demgegenüber nur eine Freistellung von den strengen Ablehnungskriterien vor788 • 3. Die Behandlung der Vorschläge im Gesetzgebungsverjahren Im Ergebnis hat sich allein die Auslandszeugenregelung (§ 244 Abs. 5 S. 2) durchgesetzt. Die anderen beiden Vorschläge scheiterten im Gesetzgebungsverfahren. Bereits im Bundesrat waren sie kontrovers beurteilt worden: Hamburg lehnte sie mit der Begründung ab, sie fiihrten zu einer rechtsstaatlich bedenklichen Beschränkung der Revisionskontrolle 789 . Hessen und Schleswig-Holstein verwarfen sogar jegliche Änderung des Beweisantragsrechts790 . Übereinstimmend bezweifelten die drei Bundesländer den Entlastungseffekt der Vorschläge 791 . Auch die Bundesregierung, die den Gesetzentwurf des Bundesrates als nächstes zu beurteilen hatte (vgl. Art. 76 Abs.3 GG), wies in ihrer Stellungnahme die vorgeschlagenen Einschränkungen sämtlich zurück792 . Ihre Ablehnung begründete sie neben rechtlichen Bedenken vor allem mit der Gefahr der Kontraproduktivität der Änderungen. Der Rechtsausschuß des Bundestages lehnte die erleichterte Antragsablehnung wegen Verschleppungsabsicht und die zeitliche Limitierung des Beweisantragsrechts mit den gleichen Erwägungen ab 793 . Eine Mehrheit fand im Rechtsausschuß aber § 244 Abs. 5 S. 2, trotz des ablehnenden Votums der SPD-Fraktion, der die erleichterte Ablehnung von Beweis anträgen auf Vernehmung eines Auslandszeugen zu pauschal und weitreichend erschien?94 . Der Bundestag hat sich dann schließlich der Empfehlung des Rechtsausschusses angeschlossen und - lediglich - die Auslandszeugenregelung beschlossen.

BR-DrS 314/91, S. 104 f.; BT-DrS 12/1217, S. 37. BR-DrS 314/12/91, S. 2; vgl. aber wenig später BR-DrS 290/94, unten VI. 1. 790 Ihre ablehnende Haltung begründeten sie damit, daß die Befugnis des Angeklagten, den Gegenstand und Umfang der Beweisaufnahme durch Beweisanträge mitzubestimmen, unabdingbarer Bestandteil eines rechtsstaatlichen und fairen Verfahrens sei. Dieses Recht des Angeklagten werde durch die vorgeschlagenen Änderungen in unvertretbarem Maß begrenzt und die Verteidigungsmöglichkeiten unzumutbar verkürzt. Zwar ließe sich eine Zunahme der Verfahrensdauer beobachten. Diese Erscheinung sei jedoch nicht Folge des Beweisantragsrechts; ein Mißbrauch dieses Rechts sei nur vereinzelt erkennbar (BR-DrS 314/4/91, S. 2). 791 BR-DrS 314/4/91, S.3 (Hessen, Schleswig-Holstein); BR-DrS 314/12/91, S.2 (Hamburg). 792 BT-DrS 12/1217, S. 63 ff., 67. 793 BT-DrS 12/3832, S. 10 f., 40 f.; vgl. Hansens, AnwBI1993, S. 198. 794 Hansens, AnwBI 1993, S. 198. Vgl. auch die Äußerung des SPD-Abg. Prof. Dr. E. Pick, Verhandlungen des Dt. Bundestages, Stenograph. Berichte, 12. WP, 125. Sitzung vom 27. November 1992, Bd. 164, S. 10782. 788

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

4. Die Reaktionen in der juristischen Öffentlichkeit

Die kriminalpolitische Zielrichtung der Entlastungsnovelle und die einzelnen EntiastungsmaßnaJunen stießen auf eine breite Front der Ablehnung 795 , die durch alle juristischen Professionen verliee96 . Selbst unter den Justizpraktikern erntete der Entlastungsentwurfnur verhaltene Zustimmung797 . a) Kritik an der kriminalpolitischen Zielrichtung der Novelle Derart heftige Reaktionen, wie sie der Entlastungsentwurf hervorrief, hatte es allenfalls zur Emminger-Reform 1924 und zur Notverordnung vom 14. Juni 1932 gegeben. Die Ablehnung war anders als bei früheren Entlastungsvorhaben nicht auf die Anwaltschaft beschränkt, sondern erfaßte auch die Organisationen der Richterschaft, die Bundesanwaltschaft und eine große Zahl der Hochschullehrer. In einer gemeinsamen Erklärung 94 deutscher Strafrechtslehrerinnen und Strafrechts lehrer wurde kritisiert, daß rechtsstaatliche Prinzipien zugunsten einer empirisch nicht belegten Effizienzsteigerung der Strafrechtspflege abge-

Vgl. FAZ vom I I. Mai 1991, S. 4 ("Juristen gegen Entlastungsgesetz"). Ablehnend äußerten sich der Deutsche Anwaltverein und die Bundesrechtsanwaltskammer (vgl. AnwBI 1991, S. 308 ff., 311 0, der Deutsche Richterbund (DRiZ 1991, S. 293, 295 0, die Strafverteidigervereinigungen (vgl. StV 1991, S. 280 ff), die Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in der Gewerkschaft ÖTV (vgl. Asbrock, ZRP 1992, S. I I ff.), und (vgl. I. Müller, KJ 1992, S.230) der Strafverteidiger e.V., die Neue Richtervereinigung, der Deutsche Juristinnenbund, der Republikanische Anwältinnen- und Anwaltverein, die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen, die Gustav Heinemann Initiative, die Humanistische Union, das Komitee für Grundrechte und Demokratie und die SPD in einem eigenen Parteitagsbeschluß; 94 Strafrechtslehrer in einer gemeinsamen Erklärung (StV 1991, S. 398 f; vgl. auch ZRP 1991, S. 309); Werle, JZ 1991, S. 789 ff.; Schulz, StV 1991, S. 354 ff.; P.-A. Albrecht, KrVjschr 1993, S. 172 f.; Prütting, AnwBI 1991, S. 608; Hamm, StV 199 I, S. 530 ff.; I. Müller, KJ 1992, S. 230 ff.; Ignor, Jura 1992, S. 239 f; Scheffler, GA 1995, S. 454 ff.; Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 58; Schomburg/Klip, StV 1993, S.208 ff.; Asbrock, ZRP 1992, S. I I ff.; Kremer, Absprachen, S.322 f (zu § 244 Abs. 5 a BR-Entwurf); Schoreit, DRiZ 1991, S. 404 ff.; zustimmend: Schlüchter, Öffentl. Anhörung im Rechtsausschuß des Dt. BT vom 29.4.1992,38. Sitzung, 12. WP, S. 38/72 ff.; dies., Weniger ist mehr, S. 12 ff.; Böttcher/Mayer, NStZ 1993, S. 153 ff., die von einer gegen das RpflEntlG geführten "öffentlichen Kampagne" des DAV, des DRB und der ÖTV sprechen, durch die das Vorhaben "als rechtsstaatlich bedenklich skandalisiert" worden sei. 797 Vgl. die Praktikerbefragung in der hessischen Justiz, bei der sich zustimmende und ablehnende Äußerungen die Waage hielten (siehe Hessische Kommission "Kriminalpolitik", S.96, 105 ff., 112 ff., 126 f; dazu auch P.-A. Albrecht, KrVjschr 1993, S. 173 f., 175 ff.). 795

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1. Seit 1975: Refonninitiativen und gesetzliche Änderungen

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schmolzen würden 79s . Der Deutsche Richterbund (DRB) bezeichnete das, von ihm in Anfiihrungszeichen gesetzte, "Entlastungs"-Gesetz als inakzeptabef99 . Der 15. Strafverteidigertag (1991) sah in den Vorschlägen unter dem Vorwand der Aufbauhilfe-Ost staatsautoritäre Vorstellungen am Werk, die einen Angriff auf die Grundfesten eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens darstellten soo . Schünemann bezeichnete in der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses das Entlastungsgesetz als das "schlechteste Reformkonzept" in ,,115 Jahren Strafprozeßreformdiskussion"sol. Und Bundesanwalt Schoreit meinte, daß aus "vordergründigem Effektivitätsdenken" unverzichtbare und verdienstvolle Rechtsinstitute (gemeint war unter anderem das Beweisantragsrecht) demontiert und so der "rechtsstaatliche Strafprozeß kaputtgemacht" werde so2 . b) Kritik an den Vorschlägen zur Einschränkung des Beweisantragsrechts Die Kritik an den vorgesehenen Beschränkungen des Beweisantragsrechts hat sich vor allem auf folgende Argumente gestützt803 : Im Hinblick auf die angestrebte Justizentlastung wirkten die neuen, erleichterten Ablehnungsmöglichkeiten geradezu kontraproduktivso4 : Die drohende Zurückweisung wegen Prozeßverschleppung oder Verspätung zwinge ohne Rücksicht auf den weiteren Verlauf der Beweisaufnahme zur Vorverlegung aller denkbaren Beweisanträge 798 Erklärung von 94 deutschen Strafrechtslehrerinnen und Strafrechtslehrern zum Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege, StV 1991, S. 398 (398 f.); vgl. auch ZRP 1991, S. 309. 799 DRiZ 1991, S.293. Den Änderungen zum Beweisantragsrecht wurde aber im Grundsatz zugestimmt (vgl. Weber, Stellungnahme für den Dt. Richterbund, äffentl. Anhörung im Rechtsausschuß des Dt. BT vom 29. 4.1992,38. Sitzung, 12. WP, S. 38/ 155). 800 Erklärung des 15. Strafverteidigertages (1991), StV 1991, S. 280 ff. 801 38. Sitzung, 12. WP, S. 38/78. 802 Schoreit,DRiZ 1991, S. 406. 803 Vgl. Gemeinsame Erklärung der BRAK und des DAV, Entschließung der Mitgliederversammlung - DAV (AnwBI 1991, S. 308 ff.); Bandisch (Strafrechtsausschuß des DAV), AnwBI 1991, S. 311 f; Asbrock, ZRP 1992, S. 12 f.; P.-A. Albrecht, KrVjschr 1993, S. 172 f; Erklärung von 94 deutschen Strafrechtslehrerinnen und Strafrechtslehrern, StV 1991, S.398; Erklärung des 15. Strafverteidigertages (1991), StV 1991, S. 280 ff.; Schutz, StV 1991, S.354; Weßlau, DuR 1991, S. 390; ter Veen, Beweisumfang, S. 308 f; Maatz, FS-Remmers, 579 ff.; Hamm, Einführung, S. 19; Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 58 f; Wenger, Beweisanträge, S. 127; Hettinger, Entwicklungen, S. 101; eingeschränkt auch Schlüchter, Weniger ist mehr, S.46 ff.; in der öffentl. Anhörung des Rechtsausschuß im Dt. BT vom 29. 4. 1992, gab es allerdings auch zustimmende Stellungnahmen, vgl. 38. Sitzung, 12. WP, S.38/141 ff.; grundsätzlich zustimmend auch Basdorf, StV 1995, S. 313 f, und Fischer, NStZ 1997, S.216/217; zusammenfassend: Fezer, StV 1995, S. 266 f 804 Rechtsausschuß des Bundestages, BT-DrS 12/3832, S. 40; Schoreit, DRiZ 1991, S. 404; eingeschränkt auch Wenger, Beweisanträge, S. 119 f.

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

und damit zu einer unnötigen Autblähung des Prozeßstoffs805 • Im übrigen sei zu erwarten, daß die neuen Einschränkungen des Beweisantragsrechts zu weiteren revisionsrechtlichen Auslegungsproblemen und zu einer deutlichen Zunahme von Autklärungsrügen fUhren werden806 • Nicht hinnehmbar sei auch, daß im Interesse einer schleunigen Abstrafung bewußt Fehlurteile in Kauf genommen würden 807 . Denn das Fehlurteilsrisiko steige aufgrund des mit der Zulassung von Beweisantizipationen verbundenen Autklärungsdefizits, zumal die tatrichterliche Ablehnungsentscheidung mit Formeln wie "nach der freien Würdigung des Gerichtes" bzw. "dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichtes" weitgehend von revisionsgerichtlicher Kontrolle befreit werde 808 • Zudem vernichte man die Voraussetzungen für eine aktive Verteidigung, wenn anstelle von objektivierten Ablehnungsmodalitäten dem Gericht die Entscheidung übertragen werde, ob weitere Beweiserhebungen sinnvoll seien809 • Auch sei die AuslandszeugenregeJung nicht zeitgemäß in Anbetracht einer auf allen übrigen Gebieten zunehmenden europäischen Integration, im Hinblick auf eine wachsende Mobilität und die allgemeine Internationalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse 81O • Schließlich sei die Vereinbarkeit der Auslandszeugenregelung mit Art. 6 Abs. 3 Lit.d MRK und dem Prinzip der Waffengleichheit zweifelhaft 811 : Während Gericht und Staatsanwaltschaft über eigene Möglichkeiten verfügten, Rechtshilfeersuchen zu stellen, habe die Angeklagtenseite keine vergleichbare Rechtsposition. Ein grenzüberschreitendes Recht zur Ladung besteht anders als im Inland (§§ 220, 38 StPO) nicht. Bislang habe der Angeklagte mit dem Beweisantragsrecht wenigstens über ein indirektes Instrument verfUgt, die Ladung von Auslandszeugen zu bewirken812 • 805 Werle, JZ 1991, S. 794; Asbrock, ZRP 1992, S. 13; Fezer, StV 1995, S. 267; Erklärung des 15. Strafverteidigertages (1991), StV 1991, S. 281; Schünemann, äffenti. Anhörung im Rechtsausschuß des Dt. BT vom 29. 4. 1992,38. Sitzung, 12. WP, S. 38/ 147; ders., Schrift!. Stellungnahme, a.a.O., S. 209 f; Bandisch (Strafrechtsausschuß des DAV), AnwBI 1991, S. 312; Kremer, Absprachen, S. 323 f; Schlüchter, Schrift!. Stellungnahme, äffent!. Anhörung im Rechtsausschuß des Dt. BT vom 29. 4. 1992, 38. Sitzung, 12. WP, S. 324, dies., Schrift!. Stellungnahme, a.a.O., S. 356 f., dies., Weniger ist mehr, S. 48, sah in dem "Vorfluten" der Beweisanträge einen möglichen Vortei!. 806 Gemeinsame Erklärung der BRAK und des DAV, AnwBI 1991, S. 310; auch Asbrock, ZRP 1992, S. 13. 807 Erklärung des 15. Strafverteidigertages (1991), StV 1991, S. 281. 808 Vg!. Erklärung des 15. Strafverteidigertages (1991), StV 1991, S. 281; Schünemann, äffent!. Anhörung im Rechtsausschuß des Dt. BT vom 29. 4. 1992, 38. Sitzung, 12. WP, S. 38/146 ff 809 Erklärung des 15. Strafverteidigertages (1991), StV 1991, S. 280. 810 Asbrock, ZRP 1992, S. 13; Bandisch (Strafrechtsausschuß des DAV), AnwBI 1991, S. 312; Schoreit, DRiZ 1991, S. 404; Hamm, Einfiihrung, S. 19; Maatz, FS-Remmers, S. 579, 582; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 267; Hirsch, Prozeßverschleppung, S.99. 811 Hierzu: Kinzig, StV 1997, S. 5 f. 812 Schomburg/Klip, StV 1993, S. 210 f

1. Seit 1975: Refonninitiativen und gesetzliche Änderungen

155

5. Resümee

Mit der neuen Auslandszeugenregelung des § 244 Abs. 5 S. 2 StPO ist ein neuer Ablehnungsgrund geschaffen worden. Das Bundesverfassungsgericht hält diese Regelung fiir eine verfassungsrechtlich mögliche und zulässige Ausgestaltung des Strafverfahrensrechts813 • Die Entscheidung, ob der beantragten Vernehmung von Auslandszeugen entsprochen wird, ist von der Bindung an den formalen Ablehnungskatalog des § 244 Abs. 3 S. 2 StPO (inbes. Var. 5 - "Unerreichbarkeit") abgelöst und allein der Amtsaufklärungspflicht unterstellt814 • Damit soll in einem weitergehenden Umfang die Vorwegnahme der Beweiswürdigung gestattet sein. Entsprechend dieser Intention des Gesetzgebers erklärte der Bundesgerichtshof in seiner ersten Entscheidung zu § 244 Abs. 5 S. 2 StPO das Beweisantizipationsverbot fiir unanwendbar815 , während das Bundesverfassungsgericht sich vorsichtiger äußerte, das Verbot der Beweisantizipation gelte nicht uneingeschränkt816 • In formeller Hinsicht bleibt der Antrag auf Vernehmung von Auslandszeugen ein Beweisantrag, d.h. er ist protokollierungspflichtig und nur durch Gerichtsbeschluß (§ 244 Abs. 6 StPO) begründet ablehnbar817 . Den Forderungen der Länder wurde mit der Auslandszeugenregelung (§ 244 Abs.5 S. 2 StPO) nicht genügt. Die weitergehenden Vorschläge, von der gänzlichen Abschaffung des Beweisantragsrechts in den amtsgerichtlichen Verfahren über die zeitliche Befristung bis zur Erweiterung des Ablehnungsgrundes der Verschleppungsabsicht, die bereits 1981/1982 verlangt und auf der Justizministerkonferenz im April 1991 lediglich erneuert wurden, wurden jüngst -

813 BVerfG StV 1997, S. I (2 f.) m. Anm. Kinzig = NJW 1997, S. 999 (1000); verfassungsrechtliche Zweifel äußert dagegen Perron, Beweisantragsrecht, S. 479. 814 Vgl. BR-DrS 314/91, S. 99 f, 103 f; BT-DrS 12/1217, S. 35 f; BGHSt 40, S. 60 (62); BGH NStZ 1994, S. 554; BGH StV 1997, S. 511 (511); Werte, JZ 1991, S. 793; Meyer-Goßner, NJW 1993, S. 500; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 267. 815 BGHSt 40, S. 60 (62) m. Anm. Kintzi = NStZ 1994, S. 448 = StV 1994, S. 229 = JZ 1995, S. 209 m. Anm. Perron (vgl. auch ders., JZ 1995, S. 211); bestätigt von BGH StV 1997, S. 511 (511). Der 5. Strafsenat des BGH hat zudem in einem obiter dictum erklärt, daß sich die zur Ablehnung eines Beweisantrags auf Einnahme eines Augenscheins nach § 244 Abs. 5 S. I StPO entwickelten Grundsätze (dazu: Alsberg/Nüse/ Meyer, Beweisantrag, S. 745 f.) über die Grenzen zulässiger Beweisantizipation nicht auf die Auslandszeugenregelung übertragen ließen (StV 1994, S.283 [284]). Dem hat allerdings der I. Strafsenat widersprochen (BGH NStZ 1994, S. 554 [554]); ablehnend auch Maatz, FS-Remmers, S. 585; zusammenfassend Wenger, Beweisanträge, S. 97 ff. 816 BVerfG StV 1997, S. I (2) = NJW 1997, S. 999 (1000). 817 Zu den Begrundungsanforderungen: BGHSt 40, S.60 (63); BGH NStZ 1994, S. 554; Schulz, StV 1991, S.357; KK-Herdegen, StPO, § 244 Rn. 85; Kintzi, NStZ 1994, S. 448; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 268.

156

1. Teil: Historische Entwicklung und Refonngeschichte

leicht modifiziert - wieder im Zusammenhang mit einem 2. RechtspflegeEntlastungsgesetz diskutiertSIS .

V. Das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. Oktober 1994

Das "Superwahljahr" 1994 war bestimmt vom Thema innere SicherheitSl9 . Gesetzesverschärfungen waren medienwirksames Wahlkampfthema. Der Organisierten Kriminalität wurde ebenso der Kampf angesagt wie der zunehmenden Gewaltkriminalität und dem politischen Extremismus. Der damalige Bremer Justizsenator Henning Scherf sprach von einem "Wettbewerb von Law and order"s20 . Das Produkt dieser öffentlichen Auseinandersetzung war das Verbrechensbekämpfungsgesetz (VBG)S21 .

1. Entstehung Den Anstoß hatte ein Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen gegeben s22 . Am 18. Februar in den Bundestag eingebracht und am 24. Februar in 1. LesungS23 beraten, wurde der Entwurf nach SachverständigenanhörungS24 und kurzer Beratung im Rechtsausschußs25 bereits am 20. Mai verabschiedetS26 . Obwohl eine Reihe der vom Bundestag beschlossenen Maßnahmen auf Anregungen der Länder zurückgingenS27 , verweigerte der Bundesrat dem Gesetz zunächst seine Zustimmung. Der Vennittlungsausschuß arbeitete daraufhin eine entschärfte Fassung aus S2S , die Bundestag und Bundesrat im September 1994

Siehe unten VI. Vg\. H. Bieber, in: Die Zeit vom 11. März 1994, S. 6. 820 Scherf, in: Die Zeit vom 3. Juni 1994, S. 10. 821 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz) vom 28. Oktober 1994, BGB\. 1994, Teil I, Nr. 76, S. 3186-3198. 822 BT-DrS 12/6853; zur weiteren Entstehungsgeschichte vg\. Dahs, NJW 1995, S. 553 Fn. 5. 823 Stenograph. Berichte, 12. WP., Bd. 173,210. Sitzung vom 24.Februar 1994. 824 Vg\. Protokoll der 120 Sitzung des Rechtsausschusses und der 93. Sitzung des Innenausschusses vom 11. April 1994 (12. WP., Protokoll Nr. 120). 825 Vg\. Protokoll der 127.Sitzung des Rechtsausschusses am 18. Mai 1994 (12. WP., Protokoll Nr. 127); zur Beschlußempfehlung vg\. BT-DrS 12/7584. 826 Bundestag, 229. Sitzung vom 20. Mai 1994, Stenograph. Bericht, Bd.174, S. 19867 ff. 827 Vg\. Stenograph. Bericht (Bundesrat)" 674. Sitzung vom 23. September 1994, S.538. 828 Beschlußempfehlung vom 19.9. 1994, BT-DrS 12/7837. 818

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akzeptierten829 . Das dergestalt modifizierte VBG wurde am 28. Oktober verkündet und trat am 1. Dezember 1994 in Kraft. Obwohl es mit einer Vielzahl von Eingriffen in das materielle und formelle Recht bedeutende Änderungen brachte, hatte die parlamentarische Beratungszeit nur sieben Monate betragen 830 .

2. Die Neuregelung des beschleunigten Verfahrens Für das Strafverfahren enthielt das VBG nur wenige Maßnahmen zur Bekämpfung des Organisierten Verbrechens und der Gewaltkriminalität831 . Neben diesen öffentlichkeitswirksam in den Vordergrund gestellten Änderungen verfolgte man erneut das bekannte Ziel, die Strafverfahren allgemein "zu koordinieren, zu vereinfachen und zu beschleunigen,,832 . Im Mittelpunkt dieses abermaligen Beschleunigungsversuchs stand die Neukonzeption des beschleunigten Verfahrens (Art. 4 Nr.lO VBG: §§ 417 - 420 StPO n.F.)833. Die Begründung zum Entwurf hatte moniert, daß die Justizpraxis bislang vom beschleunigten Verfahren (§§ 212 - 212 b StPO a.F.) nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht habe 834 . Um in einfach gelagerten Fällen eine schnelle Aburteilung zu erreichen, "die der Tat möglichst auf dem Fuße folgt", sollten die Staatsanwaltschaften und die Amtsgerichte zu einer stärkeren Nutzung dieser Verfahrens art veraniaßt werden 835 . Zur Attraktivitätssteigerung sah die Neuregelung neben einer Erweiterung der materiellen Anwendungsvoraussetzungen (§ 417 StPO)836 ein vom Regelverfahren abweichendes, verkürztes Beweisverfahren (§ 420 StPO)837 vor. 829 Bundestag, Stenograph. Bericht, 12. WP., 243. Sitzung vom 21. September 1994, S. 21547 ff.; Bundesrat, Stenograph. Bericht, 674. Sitzung vom 23. September 1994, S. 518 ff. 830 Dahs, NJW 1995, S. 553. 831 Änderung der §§ 100a S. 1, 112 Abs. 3, 112 a Abs. 1 S.2, 474 ff. StPO; Übersicht der sonstigen Änderungen im Straf- und Strafverfahrensrecht bei Dahs, NJW 1995, S. 555 ff., und König/Seitz, NStZ 1995, S. 1 ff. 832 Siehe BT-DrS 12/6853, S. 1, 19. 833 Ausführlich Loos/Radtla!, NStZ 1995, S. 569 ff., NStZ 1996, S. 7 ff.; außerdem Sprenger, NStZ 1997, S. 574 ff.; Ambos, Jura 1998, S. 289 ff. 834 BT-DrS 12/6853, S. 34. 835 BT-DrS 12/6853, S. 19,34. 836 Mit der Neufonnulierung des § 417 StPO n.F. soll der Anwendungsbereich des beschleunigten Verfahrens gegenüber § 212 StPO a.F. erweitert werden (BT-DrS 12/ 6853, S. 35). Im einzelnen Loos/Radtla!, NStZ 1995, S. 572 f., NStZ 1996, S. 9 f. 837 Ihre endgültige Fassung hat die Vorschrift im Vennittlungsausschuß bekommen (AKIStPO-Loos, § 420 Rn. 3). Zur ursprünglichen Fassung siehe BT-DrS 12/6853, S. 11, zur Beschlußempfehlung des Vennittlungsausschusses BT-DrS 12/7837, S. 2 f.

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3. Die vereinfachte Beweisaufnahme nach § 420 StPO n.F. Nach bisher geltendem Recht erschöpfte sich der Beschleunigungseffekt in ModifIkationen der die Hauptverhandlung vorbereitenden Verfahrensschritte 838 , während fiir diese selbst die allgemeinen Vorschriften galten839 . Die neue Vorschrift des § 420 StPO brachte nun auch die "beschleunigte Hauptverhandlung" mit einer in zwei Punkten vereinfachten Beweisaufnahme. Einerseits wurde der Unmittelbarkeitsgrundsatz erheblich abgeschwächt: Über die bislang bestehenden Durchbrechungen (§§ 251, 256 StPO) dieses Prinzips hinaus dürfen Vernehmungsniederschriften und schriftliche Äußerungen von Beweispersonen und Erklärungen von Behörden und Behördenangehörigen verlesen werden (§§ 420 Abs. 1, Abs. 2 StPO)840. Flankiert wird diese Abweichung vom Regelverfahren durch die allgemein geltende Ausweitung des Selbstleseverfahrens (§ 249 Abs. 2 StPO)841 . Andererseits schaffte § 420 Abs. 4 StPO fiir das beschleunigte Verfahren vor dem Strafrichter842 - und damit fiir die überwiegende Zahl der beschleunigten Verfahren843 - das strenge Beweisantragsrecht ab 844 . Obwohl Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger noch kurz zuvor erklärt hatte 845 , daß nach der Auslandszeugenregelung (§ 244 Abs. 5 S.2 StPO) vom Vorjahr weitere Einschränkungen des Beweisantragsrechts unterbleiben sollten, wurde nun unter fast wörtlicher Übernahme der 838 Wegfall des Zwischenverfahrens (§ 212 a Abs. 1 StPO a.F.), Verkürzung der Ladungsfrist (§ 212 a Abs. 3 StPO a.F.), Verzicht auf eine schriftliche Anklage (§ 212 a Abs. 2 StPO a.F.). 839 BT-DrS 12/6853, S. 34 f.; Dahs, NJW 1995, S. 556. Allenfalls unterschied sich die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren dadurch, daß die Anklage zu Sitzungsbeginn mündlich erhoben werden durfte (§ 212 a Abs. 2 StPO a.F.; im Regelverfahren zwingende Verlesung der schriftlichen Anklage: § 243 Abs. 3 S. 1 StPO). 840 Erforderlich ist allerdings das Einverständnis von Angeklagtem, Verteidiger und Staatsanwalt (§ 420 Abs. 3 StPO); siehe auch BT-DrS 12/6853, S. 37. 841 Streichung der §§ 251, 256 StPO aus der bisherigen Fassung (zur Kritik Dahs, NJW 1995, S. 555 f.). 842 Die auf Verfahren vor dem Strafrichter beschränkte Annulierung des herkömmlichen Beweisantragsrechts ist erst auf Empfehlung durch den Vermittlungsausschuß eingefUgt worden (BT-DrS 12/7837, S. 3). 843 Seit der Neufassung des § 25 Nr. 2 GVG durch das RpflEntiG vom 11. Januar 1993 ist der Strafrichter zuständig, wenn bei Vergehen keine höhere Strafe als Freiheitsstrafe von zwei Jahren zu erwarten ist. Da im beschleunigten Verfahren im Obermaß nur eine Freiheitsstrafe von einem Jahr verhängt werden darf (§ 419 Abs. 1 S.2 StPO), ist ein solches vor dem Schöffengericht in erster Linie nur bei Verbrechen denkbar, bei denen wegen eines minderschweren Falles oder wegen des Eingreifens eines Strafrnilderungsgrundes nur eine Freiheitsstrafe von maximal einem Jahr zu erwarten ist (vgl. LooslRadtke, NStZ 1996, S. 8). 844 R. Schmitt hatte bereits 1977 (in ZStW 89 [1977], S. 645) angeregt, das strenge Beweisantragsrecht im beschleunigten Verfahren aufzugeben. 845 DRiZ-Interview, DRiZ 1994, S. 190 (191).

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Vorschläge zur lustizministerkonferenz 1982 und zum RpflEntlG, der Privatklageregelung des § 384 Abs. 3 StP0846 , sowie - eingeschränkt - in Anlehnung an das Ordnungswidrigkeitenrecht (§ 77 Abs. I S. I OWiG)847 angeordnet: "Im Verfahren vor dem Strafrichter bestimmt dieser unbeschadet des § 244 Abs. 2 den Umfang der Beweisaufnahme."

Nach der Vorstellung der Entwurfsverfasser sollte die Bestimmung den "Entscheidungsrahmen des Richters bei der Beurteilung der Notwendigkeit weiterer Beweisaufuahmen vergrößern und damit einen rascheren Verfahrensabschluß ermöglichen,,848 .

4. Konsequenz für das Beweisantragsrecht des Angeklagten Die bisherigen Ablehnungsgründe bleiben zwar anwendbar849 , doch der materielle Kern des Beweisantragsrechts, das auf dem engen numerus clausus beruhende Beweisantizipationsverbot, ist weitgehend durchbrochen. Alleiniger Maßstab fiir die Verbescheidung von Beweisanträgen ist nunmehr letztlich die Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO)850. Danach dürfen Beweisanträge auch mit der Begründung abgelehnt werden, der Sachverhalt sei genügend geklärt und die weitere Beweiserhebung werde an der Überzeugung des Gerichts nichts mehr ändern851 . Vom Beweisantragsrecht bleibt so nur eine formale Hülse zurück852 : Beweisbegehren können weiterhin antragsförmig unter Beachtung der Bestimmtheitsanforderungen vorgebracht werden 853 . Derartige "Beweisanträge" sind in das Sitzungsprotokoll aufzunehmen und obligatorisch in der formellen Form eines Gerichtsbeschlusses abzulehnen (§ 244 Abs. 6 StPO)854. Vgl. BT-DrS 12/6853, S. 36. § 77 Abs. 1 S. I OWiG nimmt bewußt nicht Bezug auf § 244 Abs. 2 StPO, sondern spricht lediglich von gerichtlicher Wahrheitserforschungspflicht. Bezweckt ist durch diese Nichtinbezugnahme in Abs. 1 S. 1 LV.m. S.2 eine Auflockerung der Beweiserhebungspflicht von Amts wegen (OWiG-Novelle, BT-DrS 10/2652, S. 11; Böttcher, NStZ 1986, S. 393 f.; Göhler, OWiG, § 77 Rn. 1,3; Leimer, Umfang, S. 68). 848 BT-DrS 12/6853, S. 35, ähnlich S. 36. 849 AK/StPO-Loos, § 420 Rn. 23. 850 Vgl. auch BT-DrS 12/6853, S. 36. 851 BT-DrS 12/6853, S. 36; KleinknechtIMeyer-Goßner, § 420 Rn. 10. 852 Widmaier, NStZ 1994, S. 417: Wer das Beweisantragsrecht § 244 Abs. 2 StPO unterstellt, scham es in seiner wirklichen Substanz ab. 853 LooslRadtke, NStZ 1995, S. 570 (Fn. 18); Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 140. 854 AK/StPO-Loos, § 420 Rn. 22, 25; KleinknechtIMeyer-Goßner, § 420 Rn. 10 f.; siehe auch BT-DrS 12/6853, S. 36; demgegenüber ging der Referentenvorschlag 1982 für die straf- und schöffengerichtlichen Verfahren - trotz fast wörtlicher Übereinstim846 847

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Rieß erklärte hierzu für das federführende Bundesjustizministerium, daß der Antrag mit der "relativ einfachen" Begründung verworfen werden könne, daß er zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sei 85S • Daran zeigt sich, daß die formale Bescheidungspflicht (§ 244 Abs. 6 StPO) bei alleiniger Herrschaft der Amtsaufklärungspflicht im Grunde ihren Wert einbüßt. Eine derart knapp begründete Ablehnung erfüllt kaum die Aufgabe, die der gerichtliche Ablehnungsbeschluß bei der Geltung eines strengen Beweisantragsrecht hat: Den Antragsteller über den Standpunkt des Gerichts zu informieren und ihm so Gelegenheit zu geben, sich mit weiteren Beweisvorbringen auf die neue, mit der Ablehnung seines Beweisantrages entstandene Verfahrenslage einzustellen 856 . Zur praktischen Relevanz ist zu sagen: Die Anwendungshäufigkeit des beschleunigten Verfahrens war bis zur Neuregelung durch das VBG eher gering, wenn auch mit starken regionalen Abweichungen. Während 1993 im alten Bundesgebiet durchschnittlich 3 % der amtsgerichtlichen Verfahren durch Antrag auf Aburteilung im beschleunigten Verfahren eingeleitet wurden, betrug die Antragsziffer in Hamburg immerhin rund 22 %857. Im Jahre 1990 lagen die entsprechenden Werte bei 4 % bzw. knapp 30 %858. Seine eigentliche Bedeutung für die Gerichtspraxis erhält das vereinfachte Beweisverfahren ohnehin erst durch die Verweisungsnorm des § 411 Abs.2 S.2 StPO. Diese unscheinbare Bestimmung erklärt die Erleichterungen der Beweisaufnahme im beschleunigten Verfahren auf die Hauptverhandlung nach Einspruch auf Strafbefehl für anwendbar. Damit ist auch in diesen Verfahren § 244 Abs. 3 StPO liquidiert. Dabei übersteigt die Zahl der Anträge auf Erlaß eines Strafbefehls mittlerweile die Zahl der regulären Anklagen beim Amtsgericht deutlich 859 . Allein durch § 411 Abs. 2 S. 2 StPO i.V.m. § 420 Abs. 4 StPO

mung - davon aus, auch von der förmlichen Bescheidungspflicht zu dispensieren (siehe oben III. 2.). 855 Protokoll der 127. Sitzung des Rechtsausschusses am 18. Mai 1994 (Protokoll Nr. 127, 12.WP.), S. 44; zustimmend: KleinknechtIMeyer-Goßner, § 420 Rn. 10; a.A.: AKJStPO-Loos, § 420 Rn. 25; Herdegen, NJW 1996, S. 28; SKJStPO-Paejfgen, § 420 Rn. 28. 856 Vgl. unten 2. Teil: 1. Kapitel, B. I. 2. a). 857 Statistisches Bundesamt, Rechtspflege-Statistik, Fachserie 10, Reihe 2: Gerichte und Staatsanwaltschaften, Berichtsjahr 1993, S. 56. Die Zahlen erfassen die beschleunigten Verfahren insgesamt, während § 420 Abs. 4 StPO nur für solche vor dem Strafrichter gilt. Vor dem Strafrichter werden aber praktisch sämtliche Verfahren dieser Art verhandelt. 858 Vgl. BT-DrS 1216853, S. 34. 859 Statistisches Bundesamt, Rechtspflege-Statistik, Fachserie 10, Reihe 2: Gerichte und Staatsanwaltschaften, Berichtsjahr 1993, S. 76. Den Anträgen wird seitens der Gerichte fast immer entsprochen (K. 1. Müller, Strafbefehlsverfahren, S. 260; H.-i. Albrecht, NJ 1994, S. 398).

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ist so für mehr als die Hälfte der Strafsachen, die in die Zuständigkeit der Amtsgerichte fallen, das Beweisantragsrecht ausgeschlossen.

5. Reaktionen im Schrifttum Im Schrifttum ist die - weitgehende - Abschaffung des strengen Beweisantragsrechts in den beiden "Schnellverfahren,,86o überwiegend abgelehnt worden 861 : Vor allem befürchtete man eine minder sorgfiiltige Sachaufklärung und damit ein Risiko für die Wahrheitsfmdung862 , zumal in beiden Verfahrensarten die Filterfunktion des Zwischenverfahrens entfalle863 und mit der durch das RpflEntiG geschaffenen Annahmeberufung (§ 313 StPO) unter Umständen keine zweite Tatsacheninstanz zur Verfiigung stehe, mit der die im beschleunigten Durchgang unterbliebene Beweiserhebung nachgeholt werden könne 864 .

6. Zur Kritik an Zielsetzung und Begründung der Neuregelung Obwohl das Beweisantragsrecht für eine erhebliche Anzahl der Strafsachen durchlöchert wurde, hat sich der Gesetzgeber weder die Zeit für die Erarbeitung rechtstatsächlicher Grundlagen genommen noch hat er sich überhaupt inhaltlich mit den Einwänden auseinandergesetzt, die gegen eine derartige Aushöhlung dieses Rechtsinstituts sprechen. Statt dessen ist ein nahezu vollständiger Begrlindungsausfall zu verzeichnen. Handstreichartig wird mit lediglich sechs dürren, inhaltlich überaus unergiebigen Sätzen865 , die allein die Möglichkeiten ei860 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 59 Rn. 1, zu §§ 417 ff. StPO; das Strafbefehlsverfahren ist bis zum Übergang ins Regelverfahren (§§ 410 f. StPO) gar nur ein summarisches Verfahren (ders., a.a.O., § 66 Rn. 2). 861 Dahs, NJW 1995, S. 556 f; LooslRadtke, NStZ 1996, S. 11 f. m.w.N.; Bandisch, StV 1994, S. 157 f; Wächtler, StV 1994, 160; Scheffler, NJW 1994, S. 2193 f; Neumann, StV 1994, S. 275 f.; Hamm, StV 1994, S.458; Weigend, Referat, M 22; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 141; SKiStPO-Paeffgen, § 420 Rn. 3, 19 f.; Hirsch, Prozeßverschleppung, S. 99; Ambos, Jura 1998, S. 292 f.; zustimmend: KöniglSeitz, NStZ 1995, S. 5; differenzierend: Sprenger, NStZ 1997, S. 575; auch die Stellungnahmen der Sachverständigen im Rechtsausschuß waren überwiegend ablehnend: Vgl. etwa Haft, a.a.O., S. 39 ff. (46); siehe auch Schöch, a.a.O., S. 187 ff. (189); Strafverteidigervereinigungen, a.a.O., S. 115 ff. (122 f.); differenzierend: Gössel, a.a.O., S. 15 ff. (20); Schlüchter, a.a.O., S. 191 ff. (205 ff.); DRB, a.a.O., S. 353 ff., (365 ff.); zustimmend: Krey, a.a.O., S. 105 ff. (110). Im Bundesrat wurde § 420 Abs. 4 von der Freien Hansestadt Bremen unter Hinweis auf Art. 6 Abs. 3 MRK - abgelehnt (Stenograph. Bericht, 674. Sitzung vom 23.9. 1994, Anlage 23, S. 541). 862 Loosl Radtke, NStZ 1996, S. 11 f, 13 f 863 Dahs, NJW 1995, S. 556 f 864 Kleinknechtl Meyer-Goßner, vor § 417 Rn. 6; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 141; vgl. auch AKlStPO-Loos, vor § 417 Rn. 7. 865 BT-DrS 12/6853, S. 36.

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Schatz

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

ner Straffung und Verkürzung der Hauptverhandlung betonen, das Beweisantragsrecht - das jahrzehntelang als das wichtigste aller Parteirechte des Angeklagten galt866 - substantiell beseitigt. Dem VBG lag offensichtlich der unausgesprochene Gedanke zugrunde, daß für "minder bedeutsame Fälle" auch ein abgemagertes Beweisrecht vertretbar sei. Dafür spricht, daß der neu geschaffene § 420 StPO an die entsprechende Regelung des Privatklagerechts (§ 384 Abs. 3 StPO) und die Bestimmungen aus dem Ordnungswidrigkeitenrecht (§§ 77 Abs. 1 S. 1, 77 a Abs. 1, 2 und 4 OWiG) angelehnt wurde, wo § 77 Abs. 1 S.2 OWiG das Gericht sogar ausdrücklich anweist, die Bedeutung der Sache bei der Bestimmung des Beweisaufnahmeumfangs zu berücksichtigen867 . Allerdings ist es doch sehr fraglich, ob diese Erwägung auch für das beschleunigte Verfahren gerechtfertigt ist, ob also auch Strafhöhen bis zu einem Jahr noch minderer Bedeutung sind, zumal hier die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt werden braucht. Aber auch für das Strafbefehls verfahren, wo der Bewährungsvorbehalt gilt, sind Bedenken an der Geringfügigkeit anzumelden, und zwar erst recht in Anbetracht der gegenwärtigen rechtspolitischen Entwicklung: Immerhin ist es mittlerweile in der Diskussion, den Strafbann der "postalisch auszuübenden Strafgewalt,,868 auf zwei Jahre zu erhöhen und die Beschränkung des Strafbefehlsverfahrens auf Verfahren vor dem Amtsgericht aufzuheben 869 . Nicht einmal ansatzweise problematisiert wird vom VBG auch die Frage, ob der Verlust des strengen Beweisantragsrechts nicht zu einer kontraproduktiven Vermehrung der Berufungen führt 870 . Und das, obwohl durchaus historische Beispiele für derartige Belastungsverlagerungen vorliegen: Schließlich hat schon die Kritik an der Emminger-Reform gezeigt, daß der Rationalisierungseffekt, der mit einer reduzierten Beweisaufnahme im erstinstanzlichen Verfahren einhergehen mag, wertlos ist, wenn die verhinderte Beweiserhebung in der Berufungsinstanz nachgeholt wird 871 . Darüber hinaus weisen auch die Erfahrungen Vgl. RGSt 22, S. 335 (336); AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 371. Zur Regelung im OWiG vgl. Böttcher, NStZ 1986, S. 393 f.; Leisner, Umfang, S. 52 ff. 868 Vgl. Hamm, StV 1995, S. 493. 869 Unveröffentlichter Bericht des Strafrechtsausschusses für die 65. Konferenz der lustizministerinnen und lustizminister am 22./23. November 1994 zur Vorbereitung eines weiteren Rechtspflegeentlastungsgesetzes, S. 8 f.; anders wieder der Gesetzesantrag der Länder Baden-Württemberg, Bayern und Thüringen vom 6. Oktober 1995, BR-DrS 633/95, S. 14,82 f. 870 Um das Bedürfnis der Angeklagtenseite nach Einlegung eines Rechtsmittels zu verringern, schlagen LooslRadtke, NStZ 1996, S. 10, vor, ein Zustimmungserfordernis einzuführen. X71 Bedenken auch bei Bandisch, StV 1994, S. 157; LooslRadtke, NStZ 1996, S. 10; AKlStPO-Loos, vor § 417 Rn. 9. 866 867

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mit dem Strafbefehlsverfahren und seiner hohen Einspruchsquote von über dreißig Prozent darauf hin, daß die Akzeptanz, eine im "Schnellverfahren" erzeugte Entscheidung hinzunehmen, im Vergleich zum Regelverfahren mit seinen Rechtsgarantien deutlich verringert ist872 • Auch ein letzter Einwand gegen das VBG wiegt schwer: Die verfolgte Strategie, das beschleunigte Verfahren und das Einspruchsverfahren nach Strafbefehl durch eine Beschränkung des Beweisantragsrechts zu straffen und zu entlasten, ist empirisch höchst zweifelhaft873 • Denn daß in diesen Verfahrensarten das Beweisantragsrecht einer zügigen Verfahrensdurchführung in der Praxis entgegensteht, hat bislang - soweit ersichtlich - noch niemand behauptet und wird auch von der mageren Entwurfsbegründung nicht vertreten. Bei den Amtsgerichten, erst recht bei den hier infragestehenden besonderen Verfahrensarten, ist der ansonsten häufig beklagte scheinlegal-dysfunktionale oder jedenfalls legalextensive Gebrauch dieses Rechtsinstituts weithin unbekannt, und zwar aus einem einfachen Grund: In der Regel werden keine und wenn, dann keine "raffinierten" Beweisanträge gestellt874 . Vielmehr sind es ausufernde Hauptverhandlungen vor den Land- oder Oberlandesgerichten, die das Beweisantragsrecht zum Gegenstand der Reformforderungen gemacht haben875 • Hier, vor allem in den Wirtschafts-, Umwelt-, und Betäubungsmittelstrafsachen und "politischen" Verfahren 876 , hat es sich den Ruf erworben, ein mißbrauchsintensives und verfahrensverzögerndes Instrument zu sein. Völlig im Dunkeln bleibt daher, welcher Entlastungseffekt mit § 420 Abs. 4 StPO (LV.m. § 411 Abs.2 S.2 StPO) fiir die Beweisaufnahme verbunden sein soll, wenn der Tatrichter ihren Umfang ohnehin regelmäßig unbeeinflußt von Beweisanträgen bestimmt. Zur Erreichung des von der Entwurfsbegründung postulierten Zieles: Allgemeine Entlastung der Stratjustiz durch Verfahrensbeschleunigung in Bagatellsachen, ist die Bestimmung jedenfalls weitgehend untauglich877 • Noch weniger ist sie geeignet, der zweiten Stoßrichtung des VBG zu dienen: Organisierter Kriminalität und Gewaltkriminalität läßt sich mittels einer vereinfachten Durchführung von beschleunigten Verfahren und Strafbefehlsverfahren nicht begegnen. Angesichts dieser Inkonsistenzen zwischen tatVgl. K. J Müller, Strafbefehlsverfahren, S. 261. V gl. Weigend, Referat, M 22 f. 874 Zum amtsgerichtlichen Verfahren: Rudolph, DRiZ 1992, S. 10; Linden, Referat, M 46; Herzog, StV 1995, S. 375; Meyer-Goßner, zit. nach Barth, ZStW 108 (1996), S. 160; Sprenger, NStZ 1997, S. 575. 875 Basdorf, StV 1995, S. 318; Perron, ZStW 108 (1996), S. 139; vgl. auch Linden, Referat, M 46. 876 Barton, StV 1996, S. 692. 877 Zur Kritik an der praktischen Eignung vgl. die Erörterung im Rechtsausschuß des Bundestages (Protokoll der 127.Sitzung am 18. Mai 1994, S. 43 ff., 45); weiterhin Perron, Beweisantragsrecht, S. 275; Weigend, Referat, M 22. 872 873

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sächlicher Regelung und offiziellem Regelungszweck stellt sich die Frage nach der wahren Funktion der Bestimmung. Betrachtet man die Aushöhlung des Beweisantragsrechts im beschleunigten Verfahren und im Einspruchsverfahren gegen einen Strafbefehl in einem größeren rechtspolitischen Kontext, dann erscheint die Regelung des § 420 Abs. 4 StPO (i.V.m. § 411 Abs. 2 S. 2 StPO) als Versuchsballon, mit dem - vorerst auf Bagatellsachen beschränkt - eine allgemeine Akzeptanz filr ein vom Beweisantragsrecht befreites Strafverfahren geschaffen werden so1l878. Nach einer gewissen Zeit der Eingewöhnung ist schließlich die "Hemmschwelle" gegenüber diesem historisch gewachsenen Recht soweit gesunken, daß auch filr das Regelverfahren "effektive" Beschränkungen des Beweisantragsrechts politisch durchsetzbar sind879 . Wie realistisch eine derartige Entwicklung ist, machte das 2. Rechtspflege-Entlastungsgesetz deutlich. In dem Vorentwurf filr dieses Gesetz, der schon vor dem Inkraftreten des VBG zirkulierte, hieß es demgemäß ganz unverblümt: Die Abschaffung des Beweisantragsrechts filr das strafrichterliche Regelverfahren filhre konsequent den Ansatz im Verbrechensbekämpfungsgesetz fort880 . Nachdem Anfang der Achtzigerjahre die umfassenden Vorschläge zur Einschränkung des Beweisantragsrechts vehement abgeschmettert wurden, scheint sich der Gesetzgeber nun also auf eine Politik der kleinen Schritte verlegt zu haben.

VI. Forderungen nach einem 2. Rechtspflege-Entlastungsgesetz

Treibende Kraft filr ein 2. Rechtspflege-Entlastungsgesetz waren wiederum die Justizverwaltungen der Länder, denen die bisherigen Maßnahmen des RpflEntiG und des VBG nicht weit genug gingen. Bereits wenige Monate nach Inkraftreten des RpflEntlG wurde eine neue Runde filr Änderungen im Be878 Rieß, FS-Pfeiffer, S. 173, sieht allgemein in jüngeren Entwicklung "apokryphe Refonnansätze": "Hinter zunächst anscheinend nur punktuellen Anpassungsänderungen verbergen sich nicht unerhebliche Einbruche und Veränderungen bei den traditionellen Prozeßmaximen, die vom Gesetzgeber nicht in einem Gesamtzusammenhang thematisiert werden und bisweilen diese Eigenschaft erst dadurch gewinnen, daß im Laufe der kontinuierlichen Novellengesetzgebung eine Einzeländerung sozusagen stilbildend fiir spätere Novellen wird." 879 Ähnliche Einschätzung bei Loos/Radtlre, NStZ 1996, S. 12 Fn. 132; SchefJler, NJW 1994, S. 2193,2195; ders., GA 1995, S.457, 460; Wächtler, StV 1994, S. 160; SKiStPO-Paeffgen, § 420 Rn. 3. Der gleiche Vorgang zeigt sich auch in anderen Bereichen der StPO: V gl. die Einfiihrung einer Annahmeberufung (§ 313 StPO) durch das RpflEntlG - nun Erweiterung des Anwendungsbereichs durch ein 2. Entlastungsgesetz (s.u. VI.); Verhängung von Freiheitsstrafe durch Strafbefehl seit dem RpflEntlG (§ 407 Abs. 2 StPO) - nun Erweiterung des Strafbanns von einem Jahr auf zwei Jahre. 880 Unveröffentlichter Bericht des Strafrechtsausschusses fiir die 65. Konferenz der lustizministerinnen und lustizminister, Begründung zu Nr. 33.

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weisantragsrecht eingeleitet, also bereits zu einem Zeitpunkt, als dessen Auswirkungen noch nicht abzuschätzen waren und das VBG die parlamentarischen Hürden noch zu überwinden hatte.

I. Die Initiative der Bundesländer Hamburg und Bayern Die Bundesländer Hamburg881 und Bayern 882 brachten unabhängig voneinander im Frühjahr 1994 Gesetzesanträge zur Beschleunigung der Strafjustiz in den Bundesrat ein. Zum Beweisantragsrecht werden in beiden Entwürfen wortwörtlich und mit der gleichen Begründung die gescheiterten Vorschläge der Bundesratsvorlage zum RpflEntlG von 1991 wiederholt: - Lockerung der Ablehnung wegen Verschleppungsabsicht (§ 244 Abs. 3 S. 2 Var. 6 StPO), - Zeitliche Begrenzung des Beweisantragsrechts (§ 245 a StPO neu). Erstaunlich ist insbesondere die Haltung der Freien und Hansestadt Hamburg. War es doch gerade Hamburg gewesen, das 1991 den identischen Vorschlägen der Bundesratsinitiative für ein erstes Rechtspflege-Entlastungsgesetz widersprochen hatte. Beide Vorschläge waren damals mit der Begründung abgelehnt worden, sie führten "zu einer unter rechtsstaat lichen Gesichtspunkten bedenklichen Beschränkung der Überprüfungs möglichkeiten durch das Revisionsgericht,,883, Von beiden Einwänden ist nicht einmal drei Jahre später keine Rede mehr. Nunmehr heißt es, gegen die "teilweise Einführung der freien Beweiswürdigung" im Beweisantragsrecht seien "unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten .. Bedenken schon deshalb nicht zu erheben, weil der dem deutschen Strafprozeß eigene Amtsermittlungsgrundsatz vollen Umfangs erhalten" bleibe 884 . Dieser Anschauungswandel ist ein schönes Beispiel für die hervorragende Rolle politischen Wollens und die oftmals untergeordnete Bedeutung dogmatischer Bedenken im Beweisantragsrecht.

881 BR-DrS 290/94, Gesetzesantrag der Freien und Hansestadt Hamburg: "Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung"; vom Bundesrat am 20. 5. 1994 beschlossen und dem Bundestag noch in der 12. Legislaturperiode zugeleitet (BTDrS 12/8385). Nach den Wahlen zum 13. Dt. Bundestag hat der Bundesrat den Entwurf erneut eingebracht, § 125 GeschO BT (BR-DrS 1039/94; BT-DrS 13/197). 882 BR-DrS 331/94, Gesetzesantrag des Freistaates Bayern vom 20. 4. 1994: "Entwurf eines Gesetzes zur Straffung und Beschleunigung von Strafverfahren"; vgl. den Bericht in DRiZ 1994, S. 309 ff. 883 BR-DrS 314/12/91, S. 2 (Kursivsetzung vom Verf.). 884 BR-DrS 290/94, S. 2 (Kursivsetzung vom Verf.).

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

2. Der Vorentwurf für ein 2. Rechtspflege-Entlastungsgesetz Das RpflEntiG war erst wenige Monate in Kraft, als die Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister der Länder erneut aktiv wurde. Auf ihrer 64. Konferenz (Juni 1993) wurde der Beschluß gefaßt, Möglichkeiten fiir eine weitere Beschleunigung und Effektivierung des Strafverfahrens zu prüfen. Das Ergebnis war ein aus über einhundert Einzelvorschlägen und Folgeänderungen bestehender Vorentwurf rur ein 2. Rechtspflege-Entlastungsgesetz. Im November 1994 wurde er der 65. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister vorgelegt885 . a) Die Vorschläge zum Beweisantragsrecht Ein bedeutsamer Komplex des Vorentwurfs besteht aus Vorschlägen zur Einschränkung bzw. Abschaffung des strengen Beweisantragsrechts. In leicht variierter Gestalt handelt es sich dabei um die bekannten Maßnahmen, mit denen sich bereits die Justizministerkonferenz 1982 beschäftigt hatte und die dann zehn Jahre später im Zusammenhang mit dem ersten Rechtspflege-Entlastungsgesetz 1991/1993 erneut Gegenstand der Reformdiskussion waren. aa) Beseitigung des Beweisantragsrechts im strafrichterlichen Regelverfahren So hatten die Justizminister uhd -senatoren auf ihrer 53. Konferenz (1982) und auf ihrer Sonderkonferenz im April 1991 den Vorschlag diskutiert, das verbindliche Beweisantragsrecht rur alle Verfahren vor dem Amtsgericht, strafrichterliche wie schöffengerichtliche, abzuschaffen. Diese Forderung hat der Vorentwurf eingeschränkt - auf das amtsgerichtliche Verfahren vor dem Strafrichter - übernommen. Anders noch als der Vorschlag aus dem Jahre 1982 wollte er zudem die äußere Hülse des Beweisantragsrechts bestehen lassen: Beweisanträge sollten nach wie vor nur durch einen formellen Gerichtsbeschluß ablehnbar sein (§ 244 Abs. 6 StPO). bb) Zeitliche Begrenzung des Beweisantragsrechts Für die Verfahren vor dem Schöffengericht, dem Landgericht und dem Oberlandesgericht, war vorgesehen, das Beweisantragsrecht zeitlich zu begrenzen. 885 Bericht des Strafrechtsausschusses rur die 65. Konferenz der lustizministerinnen und lustizminister am 22.123. November 1994 in Hamburg über die Arbeiten zur Vorbereitung eines weiteren Rechtspflegeentlastungsgesetzes (unveröffentlicht).

1. Seit 1975: Refonninitiativen und gesetzliche Änderungen

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Die bisherige Bestimmung des § 246 Abs. 1 StPO, wonach eine Beweiserhebung nicht wegen Verspätung abgelehnt werden darf, sollte ersetzt werden durch eine Präklusionsregelung: Die Antragsberechtigten haben ihre Beweisanträge zu stellen, sobald ihnen die zu beweisende Tatsache, deren Bedeutung und das Beweismittel bekannt geworden sind. Beweisanträge, die nach diesem Maßstab nicht rechtzeitig gestellt wurden, sollten dann im Rahmen der Amtsautklärungspflicht abgelehnt werden können, auch wenn - worauf die Begründung hinweist - die Beweiserhebung zu keiner weiteren Verzögerung der Hauptverhandlung fUhren würde. Zur Konkretisierung der Rechtzeitigkeit bzw. Nichtrechtzeitigkeit hieß es dann im Vorentwurf, ein vor Beginn der Beweisaufnahme 886 gestellter Antrag gelte stets als rechtzeitig, ein nach Schluß der Beweisaufnahme gestellter Antrag stets als nicht rechtzeitig. Für den verbleibenden zeitlichen Zwischenraum, das heißt filr die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung, sollte das Gericht über die Rechtzeitigkeit entscheiden. Insoweit sei der Zeitpunkt des Bekanntwerdens glaubhaft zu machen887 • Habe der Angeklagte einen Verteidiger, komme es bezüglich des Zeitpunkts des Bekanntwerdens der beweiserheblichen Tatsachen auf dessen Kenntnis an 888 • Zusammengefaßt: Vor Beginn der Beweisaufnahme gilt das Beweisantragsrecht uneingeschränkt, in der Beweisaufnahme kommt es auf die vom Gericht festzustellende Rechtzeitigkeit an, nach Abschluß der Beweisaufnahme gilt es nicht mehr. c"c) Beurteilungsspielraum bei der Antragsablehnung wegen Verschleppungsabsicht Ein weiterer Vorschlag wurde wörtlich aus dem Bundesratsentwurf fiir das RpflEntlG (1991) übernommen: § 244 Abs.3 S.2 Var.6 StPO sei vor den Worten "zum Zwecke der Prozeßverschleppung" um den Zusatz "nach der freien Würdigung des Gerichtes" zu ergänzen. Bereits in der Arbeitsunterlage 1982 hatte es sachlich vergleichbar "nach Überzeugung des Gerichts" geheißen.

886 Gemeint ist das Ende der Einvernahme des Angeklagten zur Sache (§§ 243 Abs. 4 S. 2, 324 Abs. 2 StPO) bzw., wenn er sich nicht zur Sache äußert, der Zeitpunkt unmittelbar nach der Belehrung gern. § 243 Abs. 4 S. IStPO. 887 Verwiesen wird auf die Regelung i.R. des Ablehnungsverfahrens (§ 26 StPO) und dessen Kriterien. 888 Damit würde dem Angeklagten praktisch das Anwaltsverschulden zugerechnet (Freund, ZRP 1995, S. 271). Das ist nicht unproblematisch. Bislang war das Prinzip der Nichtzurechung des Anwaltverschuldens - jedenfalls im Bereich von Fristen und anders als im Zivilprozeß, wo § 85 Abs. 2 ZPO gilt - rur den Strafprozeß unangefochten (unten 2. Teil: 3. Kapitel, B. m.w.N.).

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

b) Reaktionen in der juristischen Öffentlichkeit Die Vorschläge zum Beweisantragsrecht haben überwiegend Kritik geerntet889 . Dies ist auch nicht weiter verwunderlich, handelt es sich doch durchweg um altbekannte Forderungen, die bislang stets auf heftigen Widerspruch gestoßen sind. Ungeachtet der Kritik haben die Justizministerinnen und Justizminister auf ihrer 66. Konferenz (Juni 1995) beschlossen, zu prüfen, "ob und inwieweit das von ihnen jeweils vertretene Land eine Bundesratsinitiative auf der Grundlage des vorgelegten Vorentwurfs mittragen kann,,890 .

3. Der Länderentwurf(Oktober 1995) und die Bundesratsinitiative (März 1996) für ein 2. Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege Die auf der Justizministerkonferenz verlangte Prüfung des Vorentwurfs tUhrte zu einem Gesetzesentwurf der Länder Baden-Württemberg, Bayern und Thüringen891 . In ihm finden sich die beweisantragsrechtlichen Maßnahmen des Vorentwurfs nur zum Teil wieder: Nicht enthalten ist die Abschaffung des Beweisantragsrechts fiir die strafrichterlichen Verfahren. Die Forderung nach einer zeitlichen Begrenzung wurde stark eingeschränkt übernommen. Anstelle der zeitlichen Staffelung des Vorentwurfs 892 findet sich eine schlichte Lösung893 : " Für Beweisanträge, die bis zum Schluß der Beweisaufnahme gestellt werden, gelten die Absätze 3 bis 6. Für danach gestellte Beweisanträge gilt Abs. 2.,,894

Der im Vorentwurf vorgesehene Zusatz zur erleichterten Ablehnung von Beweisanträgen wegen Verschleppungsabsicht wurde dagegen wörtlich über-

889 Stellungnahme eines Arbeitskreises von Strafrechtslehrerinnen und Strafrechtslehrern, siehe Freund, ZRP 1995, S. 270 f.; Herzog, StV 1995, S. 374 f.; Scheffler, GA 1995, S. 460 f.; zustimmend dagegen Späth, DRiZ 1995, S. 221, 224. 890 BR-DrS 633/95, S. 3. 891 BR-DrS 633/95, Gesetzesantrag der Länder Baden-Württemberg, Bayern und Thüringen vom 6. 10. 1995: "Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege (strafrechtlicher Bereich)"; vgl. Bertram, ZRP 1996, S. 46 ff. 892 Vor der Beweisaufnahme uneingeschränkte Bindung an das strenge Beweisantragsrecht, in der Beweisaufnahme nur eingeschränkte (abhängig von der glaubhaft gemachten Rechtzeitigkeit) und nach Schluß der Beweisaufnahme keine Bindung des Gerichts mehr. 893 BR-DrS 633/95, S. 8, 64 f. 894 Im Unterschied zum Vorentwurf wäre damit der Beweiserhebungsanspruch bei der überwiegenden Zahl der Beweisanträge nicht von einer vorgängigen richterlichen Prüfung der Rechtzeitigkeit des Beweisvorbringens und dem unsicheren Ausgang der Glaubhaftmachung abhängig, sondern - in den Grenzen der Ab\ehnungskasuistik - bis zum Abschluß der Beweisaufnahme garantiert.

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nommen 895 . Mit diesen Änderungen wurde der Länderentwurf im Oktober 1995 dem Bundesrat vorgelegt. Dort konnte sich die ohnehin stark modifizierte zeitliche Begrenzung des Beweisantragsrechts - nach einem ablehnenden Votum des Rechtsausschusses 896 - nicht durchsetzen. Von den drei Maßnahmen, die der Vorentwurf ursprünglich vorgesehen hatte, enthielt deshalb der endgültige Gesetzesentwurf, dessen Einbringung in das Gesetzgebungsverfahren vom Bundesrat am 1. März 1996 beschlossen wurde, allein die Erweiterung des Ablehnungsgrundes wegen Verschleppungsabsicht durch die Wörter: "nach der freien Würdigung des Gerichts,,897 . Eine öffentliche Anhörung zu dem Entwurf fand vor dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages am 4. Februar 1998 statt898 . Weiter konnte das Reformvorhaben freilich nicht gedeihen: Mit dem Ende der 13. Legislaturperiode im Oktober 1998 ist es - vorerst - erledigt worden (§ 125 Geschäftsordnung des Dt. Bundestages).

VII. Das Beweisantragsrecht in weiteren Reformkonzepten

1. AE 1980 (AE-NÖV), AE 1985 (AE-StPO-HV) und AE 1996 (AE-ZVR) Vom Arbeitskreis Alternativentwurf, einem Zusammenschluß deutscher und schweizerischer Strafrechtslehrer, wurde 1980 der Entwurf eines "Strafverfahrens mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung" präsentiert899 . Dieser AE 1980 (AE-NÖV) sah vor, rur die leichte und mittelschwere Kriminalität eine mittlere, dritte Erledigungsform zwischen Stratbefehlsverfahren und der herkömmlichen öffentlichen Hauptverhandlung zu schaffen. Gedacht war diese Verfahrensart rur Fälle, in denen der Täter im wesentlichen geständig und der

BR-DrS 633/95, S. 8, 65. 896 Vgl. BR-DrS 633/1195. 897 BR-DrS 633/95 (Beschluß); BT -DrS 13/4541; vgl. dazu auch die kritische Stellungnahme der Bundesregierung: BT-DrS 13/4541 - Anlage 2. 895

898 Öffentl. Anhörung im Rechtsausschuß des Dt. BT vom 4. 2.1998, 109. Sitzung, 13. WP: Zur vorgeschlagenen Änderung des Beweisantragsrechts zustimmend etwa: Böttcher, a.a.O., S. 3 und Anlage S. 7; Sprenger, a.a.O., Anlage S. 97 f.; ablehnend: Frister, a.a.O., S. 5 f. und Anlage S. 21 ff.; H-D. Nagel, a.a.O., Anlage S. 61 f. 899 Arbeitskreis AE (Hrsg.), Alternativ-Entwurf: Novelle zur Strafprozeßordnung Strafverfahren mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung, Tübingen 1980.

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

Sachverhalt nicht ernstlich umstritten ist90o . Zum Beweisverfahren hieß es in § 407 e Abs. 6 S. 1901 : "Der Richter bestimmt unbeschadet der Vorschriften der §§ 244 Abs. 2 und 246 den Umfang der Beweisaufnahme."

Die Abschaffung des strengen Beweisantragsrechts war für den ins Auge gefaßten Anwendungsbereich des nichtöffentlichen Verfahrens durchaus sinnvoll. Nicht aus dem Gesichtspunkt heraus, hier gehe es ohnehin nur um Bagatellsachen (u.a. sollte eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr statthaft sein)902 , sondern wegen der Beschränkung dieser Verfahrensart auf unstreitige Sachverhalte. Dieser dem nichtöffentlichen Verfahren zugrundeliegende Vorbehalt sollte abgesichert sein durch die bis zum Beginn der Urteilsverkündung widerrufliche Einverständniserklärung des Beschuldigten, im nichtöffentlichen Verfahren prozedieren zu wollen903 . Bei strittigem Sachverhalt wäre damit eine Verhandlung im Regelverfahren mit dem vollgültigen Beweisaufnahmerecht der §§ 244 Abs.3 - 6, 245 StPO jederzeit erzwingbar gewesen. Im Jahre 1985 veröffentlichte der Arbeitskreis Alternativentwurf einen Gesetzesvorschlag zur Reform der Hauptverhandlung, der die Forderung nach einer Gesamtreform des Strafverfahrens wieder aufgritf04 • Mit dem AE 1985 (AE-StPO-HV) sollte gegenüber punktuellen, einseitig an der "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" orientierten Beschleunigungs- und Entlastungsnovellen für die Hauptverhandlung, ein rechts- und sozialstaatlich überzeugendes Gesamtmodell präsentiert werden 90s . Ein inhaltlicher Schwerpunkt war die Verbesserung der Kommunikationsstruktur: Vor allem durch die Einfiihrung des Wechselverhörs sollte die richterliche Dominanz bei der Sachaufklärung vermindert und die anderen Verfahrensbeteiligten verstärkt einbezogen

Begründung S. 7,21. Zu dieser Bestimmung vgl. Begründung S. 33. Ähnliches sah der "Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen" (DE-Rechtsmittelgesetz) vom Dezember 1975 vor. Für das dort vorgeschlagene Strafbescheidsverfahren sollte das Beweisantragsrecht ebenfalls nicht gelten; siehe oben 11. 3. (Fn.). 902 § 407 a Nr. 1 AB 1980 (AB-NÖV). 903 §. 407 AB 1980 (AB-NÖV): Einverständniserklärung, 407 f Abs. 2 Nr. 2 AB 1980 (AB-NOV): Antrag auf Verweisung in das allgemeine Verfahren; vgl. hierzu auch die Begründung S.21 und S.35, die deutlich macht, daß das Einverständnis zwingende Voraussetzung für das nichtöffentliche Verfahren ist, weil für den Beschuldigten Einschränkungen bei der Beweisaufuahme gelten. 904 Arbeitskreis AB (Hrsg.), Alternativ-Entwurf: Novelle zur Strafprozeßordnung Reform der Hauptverhandlung, Tübingen 1985. 905 AE 1985 (AE-StPO-HV), Einfilhrung, S. 1 ff. 900 901

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werden906 . Den äußeren Rahmen filr das neue Verhandlungsmodell bildete eine durch Tatinterlokut in Tat- und Rechtsfolgenverhandlung zweigeteilte Hauptverhandlung907 . Zu der Regelung der §§ 244 Abs. 3-6, 245 StPO wurden keine Änderungen vorgeschiagen 908 . Allein eine durch die Zweiteilung der Hauptverhandlung bedingte Modiftkation war vorgesehen (§ 240 Abs. 1 S. 2 AE 1985/ StPO-HV): Beweisanträge zur Tatfrage im zweiten Verhandlungsabschnitt sollten ausgeschlossen sein, um ein ständiges Wiederaufgreifen der Tatverhandlung zu unterbinden909 . Offensichtlich stand die geltende Beweisantragsregelung mit dem Anliegen des AE 1985, die rechts- und sozialstaatlich gebotenen Bezüge des Strafprozeßrechts zu verdeutlichen und die dialogische Struktur der Hauptverhandlung zu verbessern, im Einklang. Der 1996 vorgestellte "Alternativ-Entwurf Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit (AE-ZVR)" behandelt einen speziellen Themenbereich und berührt das Beweisantragsrecht daher nur arn Rande: Zum Schutz kindlicher oder jugendlicher Opferzeugen in der Hauptverhandlung sollen bei Sexualund Körperverletzungsdelikten oder der Gefahr körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen Beweisanträge grundsätzlich abzulehnen sein, wenn eine Niederschrift oder eine Ton- und Bildaufzeichnung über eine frühere richterliche Vernehmung vorliegt (§ 244 Abs. 3 S. 2 AE_ZVR)910. 2. Gewaltkommission der Bundesregierung (1990) Die von der Bundesregierung Ende 1987 eingesetzte "Unabhängige Regierungskornrnission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission)" hat in ihrem 1990 vorgelegten Gesamtgutachten auch strafprozessuale Reformvorschläge unterbreitet. Unter dem Stichwort "Beschleunigung des Strafverfahrens durch Straffung der Hauptverhandlung" wurden "Korrekturen" beim Beweisrecht angeregt91\ , und zwar durch Änderung des § 246 StP0912 . Diese Bestimmung mache es leicht, mit dem Beweisantragsrecht "Schindluder" zu treiben und es in erheblichem Umfang zur Verfahrensverzögerung oder

AE 1985 (AE-StPO-HV), Einfiihrung, S. 3, 7 f., Teil B, S. 50 f AE 1985 (AE-StPO-HV), Einfiihrung, S. 4 ff., Teil B, S. 53 ff.; vgl. Schöch, Reform, S. 52 ff. m.w.N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 42 Rn. 60 ff. m.w.N. 908 Vgl. AE 1985 (AE-StPO-HV), Teil A, S. 23 f. 909 AE 1985 (AE-StpO-HV), Teil B, S. 63 f 9\0 Arbeitskreis AE (Hrsg.), Alternativ-Entwurf Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit (AE-ZVR), München 1996, S. 114 f. 911 Gewaltkommission, Bd. I (Endgutachten), 130. 912 Siehe Gewaltkommission, Bd. I (Endgutachten), S. 218, Bd. II (Erstgutachten), S. 818 f; vgl. auch Baumann, ZRP 1990, S. 109. 906 907

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

-sabotage auszunutzen913 . § 246 StPO sei deshalb dahingehend zu ändern, daß "verspätete Beweisanträge wie bloße Beweisanregungen zu behandeln sind, wenn nicht ein triftiger Grund fiir die Verspätung glaubhaft gemacht wird,,914. Die Begründung hierfiir fiel außerordentlich knapp aus: Es könne dem Angeklagten ohne unvertretbare Beeinträchtigung seines Gestaltungs- und Verteidigungsrechts zugemutet werden, in Verfahren, die sich über Monate hinziehen, seine Beweisanträge rechtzeitig zu stellen915 . Die entscheidende Frage allerdings, wann ein Beweisantrag als verspätet gelten soll, wurde nicht behandelt916 . 3. Niedersächsische Reformkommission (1992)

Die "Niedersächsische Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts", die 1990 von der niedersächsischen Landesregierung eingesetzt worden war, setzte sich in ihrem Abschlußbericht (1992)917 nicht ausdrücklich mit den Bestrebungen zur Reform des Beweisantragsrechts auseinander. Insoweit wurde nur allgemein empfohlen, die "entliberalisierenden" Änderungen im Strafverfahrensrecht in den 70er und 80er Jahren zu revidieren918 . Gedacht war damit in erster Linie aber an eine Revision der AntiTerrorismus-Gesetzgebung919 . 4. Hessische Kommission "Kriminalpolitik" (1992)

Die "Hessische Kommission 'Kriminalpolitik'" hat ebenfalls im Jahre 1992 ihre Vorschläge zur Reform des Straf- und Strafverfahrensrechts veröffentlicht920 . Verworfen wurden kategorisch alle Maßnahmen, die eine Entlastung der Stratjustiz durch Abbau von prozessualen Förmlichkeiten zu erreichen su913 Vgl. Krey, Reformvorschläge, S.36 f.; Gewaltkommission, Bd.1I (Erstgutachten), S. 793. 914 Vorschlag Nr. 132 (Gewaltkommission, Bd. I, S. 218). 915 Gewaltkommission, Erstgutachten, Bd. 11, S. 819. 916 Vgl. hierzu Krey, Reformvorschläge, S. 38, der darauf hinweist, es handele sich zunächst nur um einen Reformvorschlag, nicht um einen gesetzestechnisch ausgefeilten Entwurf. 917 Strafrecht - ultima ratio, Empfehlungen der Niedersächsischen Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts, Baden-Baden 1992. 918 Empfehlungen, Fünfter Teil, S. 79 f., 96. 919 Vgl. Empfehlungen, Fünfter Teil, Überschrift. 920 Rechtsgüterschutz durch Entkriminalisierung, Vorschläge der Hessischen Kommission "Kriminalpolitik" zur Reform des Strafrechts, Baden-Baden 1992; hierzu Laos, ZRP 1993, S. 310 f.

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chen. Vielmehr sollten die Freiheitsrechte des Bürgers gegenüber staatlicher Strafverfolgung gestärkt werden921 . Dabei ging die Kommission von der Prämisse aus, daß das Strafverfahrensrecht allein individualschützende Funktionen habe 922 , während nach ganz überwiegender Auffassung der Strafprozeßrechtswissenschaft daneben gleichberechtigt der Auftrag steht, die Normen des materiellen Strafrechts in prozeßförmiger Weise zu konkretisieren923 , das Strafverfahrensrecht also (zumindest auch) als Instrument zur Verwirklichung des materiellen Strafrechts begriffen wird924 . Die Haltung der Kommission zum Beweisantragsrecht war vor diesem Hintergrund vorbestimmt: Einschränkungen lehnte man durchweg ab. Eine Überbeanspruchung der Justizressourcen wurde zwar diagnostiziert92S , ihr sollte jedoch mit einer konsequenten materiellrechtlichen Entkrirninalisierung abgeholfen werden926 . 5. Die Vorschläge des Deutschen Richterbundes

Mitte der siebziger Jahre hatte die Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes (DRB) Einschnitte in das Beweisantragsrechts noch abgelehnt927 • Seit Anfang der achtziger Jahre haben sich dann jedoch die Gremien des DRB mehrfach mit den Möglichkeiten einer Einschränkung befaßt928 • Anlaß sind die Klagen von Mitgliedern, daß die richterliche Verfahrensherrschaft zunehmend dahinschwinde durch eine steigende Bereitschaft zur "Konfliktverteidigung,,929. Das vorrangige Vehikel, mit dessen Hilfe dem Gericht die Durchfilhrung des Verfahrens erschwert oder nach Belieben auch unmöglich gemacht werden könne, sei das Beweisantragsrecht in seiner gegenwärtigen Form. In Anbetracht der ohnehin schwierigen Belastungssituation der Justiz seien deshalb gesetzgeberische Maßnahmen erforderlich, um die justizielle Hilflosigkeit zu beenden. In diesem Sinne hat sich dann die Strafrechtskommission

Vgl. a.a.O., S. 83, 104. Vgl. a.a.O., S. 83, 104. 923 Vgl. Paulus, FS-Spendel, S. 703 f. 924 Loos, ZRP 1993, S. 311; Eh. Schmidt, LK I, Rn. 24 ff.; vgl. weiter: 2. Teil: 1. Kapitel, A I. 925 Aa.O., S. 104. 926 Aa.O., S. 10,29,49. 927 Vgl. DRB - Information 8/1982, I 54. 928 Bereits 1978 war der Presse zu entnehmen, daß der Deutsche Richterbund im Beweisantragsrecht eine "breite Einfallspforte" für Verfahrensverzögerungen sieht und sich deshalb im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung auch eine erleichterte Ablehnungsmöglichkeit gegenüber Beweisanträgen wünscht (FAZ v. 10. 6. 1978, S. 6). 929 Vgl. das Resümee von Kintzi, DRiZ 1994, S. 324 ff.; weiterhin die DRB-Vorschläge, DRiZ 1994, S. 303 f. 921

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

des DRB den Forderungen nach einer Einschränkung des Beweisantragsrechts angeschlossen und die Arbeitsunterlage fiir die lustizrninisterkonferenz 1982 weitgehend befilrwortet: Im amtsgerichtlichen Verfahren sei das beweisantragsrechtliche Regelwerk der §§ 244 Abs. 3 - 5, 245 StPO gänzlich entbehrlich930 . Darüber hinaus sollte der Ablehnungsgrund der Prozeßverschleppungsabsicht erweitert und als Endzeitpunkt fiir das strenge Beweisantragsrecht der Schluß der Beweisaufuahme bestimmt werden 931 . Seitdem werden diese Forderungen mit geringen Abweichungen variiert: 1988 etwa von der StPO-Kommission932 des DRB anläßlich der wiederaufgeflammten Diskussion um eine Gesamtreform des Strafverfahrens und 1990 von der Großen Strafrechtskommission des DRB in einem Gutachten zur Problematik sog. Verständigungen im Strafverfahren933 . Eine erneute Aufforderung an den Gesetzgeber, das geltende Beweisantragsrecht zu beschränken, hat die Bundesvertreterversammlung des DRB 1993 verabschiedet934 . In dem vom Bundesjustizrninisterium veranlaßten Gutachten "Möglichkeiten der Vereinfachung und Beschleunigung von Strafverfahren de lege ferenda" (1994) hat schließlich die Große Strafrechtskommission des DRB den bekannten Kanon von Einschränkungsforderungen - in leicht modifizierter Form - wiederholt935 : Für die amts gerichtlichen Verfahren vor dem Strafrichter sollte das Beweisantragsrecht gar nicht mehr gelten936 . Für das Schöffen-, Land- und Oberlandesgericht war eine gestufte Präklusionsregelung vorgesehen: Uneingeschränkt sollte der strenge Ablehnungskatalog nur noch bis zum Beginn der Beweisaufuahme gelten. Für Beweisanträge, die nach diesem Zeitpunkt, jedoch vor Schluß der Beweisaufuahme (also in der Beweisaufuahme) gestellt werden, sollte eine Bindung nur bestehen, wenn "nach freiem Ermessen des Gerichts ein verständiger Grund filr den verspäteten Beweisantrag vorliegt oder glaubhaft gemacht wird, insbesondere Umstände erst später eingetreten oder dem Berechtigten erst später bekannt geworden sind,,937 . Mit Abschluß der Beweisaufuahme trete dann die absolute Präklusion ein938 : Weitere Beweisbegehren sollten nur noch informelle Anregungen im Rahmen der gerichtlichen Autkärungspflicht sein. DRB _ Information 8/1982, 147. DRB _ Information 9/1982, I 54 f. 932 Vgl. DRiZ 1988, S. 229. 933 Vgl. den Bericht von Kintzi, JR 1990, S. 309 fI., 311, 316. 934 DRlZ 1994, S. 70; zu Einschränkungsforderungen des DRB siehe auch Günter, DRiZ 1994, S. 304. 935 Vgl. den Bericht von Kintzi, DRiZ 1994, S. 325 ff, 327 ff 936 Kintzi, DRiZ 1994, S. 328. 937 Kintzi, DRiZ 1994, S. 329. 938 Kintzi, DRiZ 1994, S. 330. 930 931

J. Seit 1975: Reforminitiativen und gesetzliche Änderungen

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6. Das Gutachten von Karl Heinz Gössel zum 60. Deutschen Juristentag (1994) Für die strafrechtliche Abteilung des 60. Deutschen Juristentages in Münster (September 1994) wurde von Karl Heinz Gössel ein Gutachten vorgelegt zum Thema: "Empfehlen sich Änderungen des Strafverfahrensrechts mit dem Ziel, ohne Preisgabe rechtsstaatlicher Grundsätze den Strafprozeß, insbesondere die Hauptverhandlung, zu beschleunigen ?".

a) Die Thesen zum Beweisantragsrecht Als ein unnötiger Verzögerungs faktor wurde von Gössel das strenge Beweisantragsrecht identifiziert. Vor allem die Rechtsprechung der Revisionsgerichte verdiene Kritik. Ihr extrem weites Verständnis der Amtsermittlungsmaxime habe dazu gefilhrt, daß einige der gesetzlichen Gründe ftlr die Ablehnung von Beweisanträgen fast wirkungslos geworden seien939 . Die gesetzliche Regelung in ihrer obergerichtlichen Ausformung lade geradezu zu einer extensiven, bis zur Verfahrensverhinderung gehenden Nutzung ein940 . So habe die revisionsgerichtliche Judikatur eine zunehmend verfahrensverzögemde Wirkung erlangt941. Abhilfe 942 soll zunächst eine scharfe Präklusionsregelung bringen, die den bisherigen § 246 StPO ersetzt943 . Über die Präklusion von Beweisanträgen hinaus sei die gerichtliche Amtsaufklärungspflicht einzuschränken und die revisionsgerichtliche Kontrolle des Beweisaufnahmeumfangs herabzusetzen944 . Im einzelnen: Um das Beweisantragsrecht zeitlich zu limitieren, schlägt Gössel vor, daß Beweisanträge bereits im Zwischenverfahren vollständig und umfassend zu stellen sind. Die Staatsanwaltschaft soll ihre Anträge zusammen mit der Anklageschrift einreichen945 , der Angeklagtenseite wird mit der Zustellung der Anklageschrift eine Frist von mindestens zwei Wochen zur BeweisantragsteIlung

Gössel, Gutachten, C 17. Gössel, Gutachten, C 85. 94\ Gössel, Gutachten, C 17. 942 Vorbereitet findet sich Gössels Konzeption bereits in FS-Kleinknecht (1985), S. 140 ff. 943 Gössel, Gutachten, C 61 ff. 944 Gössel, Gutachten, C 81, 85. 945 § 200 Abs. I S. 2 der vorgeschlagenen Neuregelung. 939 940

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

gesetzt946 . Danach soll das strenge Beweisantragsrecht grundsätzlich präkludiert sein. Spätere Beweisanträge wären nur dann statthaft, wenn die entsprechenden Beweismittel präsent sind 947 oder wenn die AntragsteIlung im Zwischenverfahren schuldlos, das heißt weder vorsätzlich noch fahrlässig, unterlassen wurde 948 • Dieser Präklusionsregelung stellt Gössel eine Neubestimmung der gerichtlichen Aufklärungspflicht zur Seite. Sein Gutachten schlägt insoweit zwei Maßnahmen vor: Zunächst soll sich die Amtsennittlungspflicht nur auf solche Beweismittel erstrecken, die rur das Gericht erreichbar sind949 • Entscheidend ist dabei die von ihm mitgelieferte Legaldefinition der Unerreichbarkeit. Sie lautet: Ein Beweismittel ist unerreichbar, wenn die Erhebung des entsprechenden Beweises ohne Aussetzung der Hauptverhandlung nicht möglich ist950 • Diese Neubestimmung des Umfangs der Instruktionsmaxime hat nach Gössels Vorstellungen auch Konsequenzen rur das Beweisantragsrecht. Ist das beantragte Beweismittel nicht innerhalb einer Frist von 30 Tagen beizuschaffen951 , soll es zwingend als unerreichbar anzusehen sein, das heißt die Beweiserhebung wird selbst dann untersagt, wenn das Gericht sie zur Wahrheits erforschung rur unerläßlich ansieht952 • Darüber hinaus soll im Gesetz ausdrücklich geregelt werden, daß sich die Aufklärungspflicht nur auf existierende Beweismittel zu erstrecken habe 953 • Auch diese Bestimmung soll rur Beweisanträge gelten 954 . Anders als bei der Neufestsetzung der Unerreichbarkeit sind die Auswirkungen auf das Beweisantragsrecht hier jedoch unklar. Das Gutachten erklärt insoweit nur, die Beweisaufnahme auf diejenigen Beweismittel beschränken zu wollen, über die das Gericht verrugen könne955 • Wenn es sich bei dieser Klausel jedoch um mehr, als um die Selbstverständlichkeit handeln sollte, daß die Gerichte zur Erhebung 946 § 201 Abs. 1 der vorgeschlagenen Neuregelung: Beweisantragstellung in der Erklärung zur Anklageschrift. 947 § 244 Abs. 3 der vorgeschlagenen Neuregelung. Danach sind Beweispersonen präsent bei ordnungsgemäßer Ladung und Anwesenheit, sachliche Beweismittel, wenn sie dem Gericht vorgelegt werden, oder, falls dies nicht möglich ist, ohne Aussetzung der Hauptverhandlung verlesen oder in Augenschein genommen werden können. 948 § 244 Abs. 5 der vorgeschlagenen Neuregelung. 949 § 244 Abs. 2 S. 1 der vorgeschlagenen Neuregelung. 950 § 244 Abs. 2 S. 2 der vorgeschlagenen Neuregelung. 951 Bei Beweisanträgen soll die zulässige Unterbrechungsfrist auf 30 Tage erweitert werden (§ 229 der vorgeschlagenen Neuregelung; vgl. Gössel, Gutachten, C 71, 76). 952 V gl. Gössel, Gutachten, C 68. 953 § 244 Abs. 2 S. 1 der vorgeschlagenen Neuregelung. 954 § 244 Abs. 6 S. 1 2. Hs. der vorgeschlagenen Neuregelung. 955 Gössel, Gutachten, C 69 f.; ders., JR 1995, S. 365; hierzu Schlüchter, GA 1994, S. 410 f., 418.

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nicht existierender Beweismittel nicht verpflichtet sind, liegt es nahe, hierin eine neue Ablehnungsbefugnis zu sehen: Das Gericht hat sich nur noch um die Herbeischaffung von Beweismitteln zu bemühen, von deren Existenz es positiv überzeugt ist956 • Flankiert werden die dargestellten Maßnahmen durch die Quasi-Abschaffung der herkömmlichen Autklärungsruge. Sie soll nur noch zulässig sein, wenn sich der Revisionsfiihrer zuvor erfolglos mit einem entsprechenden Beweisantrag um die von ihm filr notwendig erachtete Beweiserhebung bemüht hat und nun die fehlerhafte Behandlung eines Beweisantrages geltend machen kann957 • Der Verstoß gegen das Amtsautklärungsgebot als solches - Ansatzpunkt der klassischen Autklärungsruge - soll nach Gössels Konzeption irrevisibel sein. Ansonsten sieht das Gutachten noch vor, die Beendigung der Beweisaufnahme durch einen förmlichen Beschluß auszusprechen958 • Beweisanträge, denen das Gericht nicht entsprechen will, müssen vor dieser Entscheidung durch Gerichtsbeschluß zurückgewiesen werden959 • Die Ablehnung darf weder zu einem früheren noch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen960 • Nach Schluß der Beweisaufnahme dürfen gar keine Beweisanträge mehr angenommen werden 961 • Beweismittel, die wegen Verspätung oder Unerreichbarkeit präkludiert sind, können erst in einem späteren Wiederaufnahmeverfahren geltend gemacht werden 962 • Insoweit sieht das Gutachten eine Erweiterung des Katalogs der Wiederaufnahmegrunde vor963 • b) Die Aufnahme der Thesen auf dem Juristentag und in der juristischen Öffentlichkeit Die Referenten des Juristentages äußerten sich überwiegend kritisch zu dem Gutachten964 • Bei der anschließenden Diskussion standen die Maßnahmen zum Beweisantragsrecht im Mittelpunkt. Die Debatte zeigte ein nach Berufsgruppen Frister, StV 1994, S. 446. § 337 Abs.2 S.2 der vorgeschlagenen Neuregelung; vgl. Gössel, Gutachten, C 81; ähnlich insoweit Braum, Geschichte, S. 244 (mit ansonsten völlig anderer Zielrichtung: nämlich Stärkung des Beweisantragsrechts). 958 § 245 Abs. I S. 2 der vorgeschlagenen Neuregelung. 959 § 245 Abs. 2 der vorgeschlagenen Neuregelung. 960 Ausgeschlossen ist damit die Bescheidung von Hilfsbeweisanträgen im Urteil (vgl. Gössel, Gutachten, C 72; Perron, JZ 1994, S. 825). 961 § 245 Abs. 3 der vorgeschlagenen Neuregelung. 962 Gössel, Gutachten, C 72. 963 § 359 Nr. 6 - neu; außerdem § 363 Abs. 3 - neu. 964 Weigend, Referat, M 28 ff.; Linden, Referat, M 46 f.; E. Müller, Referat, M 63 ff., 82; Zusammenfassung der Referate: DRiZ 1994, S. 479 f. 956

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

und ihrem Rollenantagonismus 965 gespaltenes Meinungsbild 966 . Während aus dem Kreis der Richter und Staatsanwälte überwiegend positive Stimmen kamen 967 , lehnten die Verteidiger die vorgeschlagenen Änderungen ab. Bei der Beschlußfassung wurde Gössels Präklusionsmodell schließlich mit großer Mehrheit abgelehnt968 . Statt dessen entschied sich der Juristentag - im Anschluß an das Referat von Linden 969 - für die vergleichsweise milde Lösung, die seit der Arbeitsunterlage 1982 schon wiederholt gefordert worden ist: Die Präklusionswirkung tritt mit dem Schluß der Beweisaufnahme ein, es sei denn, daß ein verständiger Grund für die Verspätung voriiegt970 . Auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur hat Gössels Reformmodell überwiegend Ablehnung gefunden 971 • Die Kritik macht vor allem rechtsstaatliche Einwände geltend. Aus rechtsstaatlicher Sicht sei fraglich, ob die scharfe Präklusionswirkung mit dem zentralen Anliegen des Strafprozesses vereinbar sei 972 : der Ermittlung des wahren Sachverhalts 973 . Wahrheit lasse sich nicht präkludieren. Unter Umständen müsse das Gericht einen Unschuldigen verurteilen, weil das offensichtlich entlastende Beweismittel nicht innerhalb des zulässigen Zeitraumes von 30 Tagen herbeigeschafft werden könne 974 . Falsche Urteile sehenden Auges allein aus verfahrensökonomischen Gründen hinzunehmen und den mit dem Makel strafgerichtlicher Verurteilung Belasteten auf das Wiederaufnahmeverfahren zu vertrösten, sei verfassungsrechtlich schon wegen der Unschuldsvermutung nicht angängig975 • Bedenklich sei ebenfalls, daß auch Belastungsbeweise abgeschnitten würden 976 • Wenn etwa der entscheidende Belastungszeuge wegen einer Erkrankung nicht innerhalb der Unterbrechungsfrist vernommen werden könne, müsse das Gericht freisprechen, ohne daß für diesen 965 Zum - in der Struktur der StPO angelegten - Rollenantagonismus vgl. Schünemann, StV 1993, S. 608 f. 966 VerhDJT (1994), Band II12; Überblick bei Gropengießer, JZ 1995, S. 192. 967 Zustimmend auch Bertram, NJW 1994, S. 2188. 968 Der Beschluß fiel mit 11: 126: 8 (Zustimmung!AblehnunglEnthaltung) eindeutig aus (VerhDJT 1994, Beschluß Nr. 19.2. Var. I, Bd. II1I, M 90 f.); vgl. auch DRiZ 1994, S.480. 969 Linden, Referat, M 47. 970 VerhDJT 1994, Beschluß Nr. 19.2. Var. 3, Bd. 11/1, M 91. 971 Ausführliche Kritik bei Perron, JZ 1994, S. 825 ff.; ders., Beweisantragsrecht, S. 494 ff.; weiterhin Frister, StV 1994, S. 445 ff.; Widmaier, NStZ 1994, S. 416 f.; Basdorf, StV 1995, S. 314; Bernsmann, ZRP 1994, S. 331; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 264 f.; zurückhaltend Schlüchter, GA 1994, S. 415 ff. 972 Vgl. BVerfGE 57, S. 250 (275); 63, S. 45 (61). 973 Vgl. Weigend, Referat, M 25. 974 Schlüchter, GA 1994, S. 418; Perron, JZ 1994, S. 828; ders., Beweisantragsrecht, S.496. 975 E. Müller, Referat, M 69; Frister, StV 1994, S. 447. 976 Frister, StV 1994, S. 447; vgl. auch Perron, Beweisantragsrecht, S. 496.

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Fall eine Wiederaufnahmemöglichkeit vorgesehen wäre 977 • Die stärkere Inptlichtnahme des Angeklagten für die Vorbereitung der Hauptverhandlung und seine Mitverantwortung für eine vollständige Sachaufklärung seien zudem nur vertretbar, wenn man ihm die Möglichkeiten an die Hand gebe, der erhöhten Prozeßverantwortung gerecht zu werden978 • Bedenklich sei auch, daß die Angeklagtenseite gezwungen werde, ihre häufig ambivalenten Beweismittel noch vor dem Hauptverfahren an die Staatsanwaltschaft auszuliefem979 • Da die Staatsanwaltschaft nach überwiegender Ansicht befugt ist, die Ermittlungen während des Hauptverfahrens fortzufiihren, könne sie unter Umständen aus den ursprünglichen Entlastungsbeweisen belastende Umstände herausermitteln980 . Angesichts des drohenden Verlustes potentieller Entlastungsbeweise nehme der Angeklagte dieses Risiko der Selbstbelastung nicht freiwillig in Kauf. Damit sei der Schutzbereich des nemo-teneturGrundsatzes berührt981 • Zu der mutmaßlichen Effizienz von Gössels Reformkonzept heißt es: Zwar sei eine deutliche Straffung der Hauptverhandlung durchaus realistisch982 • Die späte Stellung häufig schwer zu erfiillender Beweisanträge wäre praktisch ausgeschlossen und die Verhandlung insoweit vor Ablaufhemmungen weitgehend gefeit. Der Verteidigung würde das Taktieren mit bröckchenweise eingefilhrtem Beweismaterial wegen des hohen Risikos verleidet, über präsente Beweismittel nicht zu verfUgen und mit dem Verlangen nach nicht-präsenten Beweismitteln präkludiert zu werden. Zu erwarten seien jedoch mittelbare Folgewirkungen kontraproduktiver Art. So stehe zu befilrchten, daß die Gerichte unter dem Strich mit weit mehr Beweisanträgen beschäftigt werden, als es derzeit der Fall ist983 . Die starre Präklusionsregelung sei geradezu ein "Planungspanzer", der das Wesen der Hauptverhandlung als ein sich lebendig entwickelndes Geschehen vemachlässige 984 • Anstatt den Verlauf der Beweisaufnahme abzuwarten, 977 Frister, StV 1994, S. 447, der allerdings darauf hinweist, daß Vernehmungssurrogate über § 251 StPO eingeführt werden könnten; insoweit würde Gössels Vorschlag auch zu einer Einschränkung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes führen. 978 Perron, JZ 1994, S.827; ders., Beweisantragsrecht, S.496 f.; auch Weigend, Referat, M 29 Fn. 91; H.-J. Albrecht, NJ 1994, S. 400. 979 E. Müller, Referat, M 68 f.; Perron, JZ 1994, S. 827; ders., Beweisantragsrecht, S. 88 f, 497; siehe weiter unten 2. Teil: 3. Kapitel, A. I. 3. c). 980 Perron, JZ 1994, S. 827; Wagner, Diskussion, VerhDJT 1994, Bd. 1112, M 169. 981 E. Müller, Referat, M 69; Perron, JZ 1994, S. 827; ders., Beweisantragsrecht, S.89. 982 Perron, JZ 1994, S. 825 f; ders., Beweisantragsrecht, S. 495. 983 Weigend, Referat, M 29 f; Linden, Referat, M 43; E. Müller, Referat, M 68; Basdorf, StV 1995, S. 314; Perron, JZ 1994, S.826; ders., Beweisantragsrecht, S.495; Richter II, StV 1994, S. 455. 984 Widmaier, NStZ 1994, S. 417.

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

könnten sich Staatsanwaltschaft Wld Angeklagtenseite gezwungen sehen, vorsorglich alle Beweisbegehren vorzubringen, die später nur irgendwie relevant werden können, um der drohenden Präklusion von Beweismaterial zu entgehen. Die Folge wäre eine Flut von präventiv gestellten Beweisanträgen, die zwar aus der Sicht des frühen Verfahrensstadiums sinnvoll erscheinen, aus der Perspektive der entfalteten Beweisaufnahme jedoch fruchtlos sein müssen. Weiterhin sei fraglich, ob die mögliche Verfahrensentlastung nicht durch ein nachträgliches Wiederaufnahmeverfahren erkauft wird, dessen alleiniger Zweck es ist, die präkludierten Beweise einzubeziehen985 • Mancher Verteidiger könnte sich sogar aus taktischen Gründen veranIaßt sehen, Beweise zurückzuhalten, um über das Wiederaufnahmeverfahren eine zweite Hauptverhandlung zu erzwingen 986 . c) Resümee Gössels Beitrag zur Reformdiskussion ist in zweifacher Hinsicht ein Novum. Zunächst ist festzustellen, daß ein derart radikales Präklusionsmodell, das eine BeweisantragsteIlung vor der Hauptverhandlung bereits im Zwischenverfahren verlangt, bislang noch nicht vertreten wurde. Bisherige Forderungen nach einer zeitlichen Limitierung des Beweisantragsrechts knüpften in der Regel an den Schluß der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung an987 • Allein der zeitlich spätere, in diesem PWlkt vermutlich von Gössel inspirierte Vorentwurf fiir ein weiteres (zweites) Rechtspflege-Entlastungsgesetz vom November 1994 sah eine ähnliche Präklusionsregelung vor988 • Darüber hinaus galt es bislang - zumindest verbal - als Wlangefochtener Grundsatz, daß im Strafverfahren an der sachlichen Reichweite der Amtsaufklärungspflicht nicht gerüttelt werden dürfe 989 • Das Gutachten schlägt nun ausdrücklich eine Neubestimmung des Umfangs der Inquisitionsmaxime vor, die eine Verminderung bedeutet. Zwar zeigten schon Schlüchter, GA 1994, S. 418; Perron, lZ 1994, S. 827. E. Müller, Referat, M 69; Schlüchter, GA 1994, S. 418; Perron, Beweisantragsrecht, S. 496. 987 Vorschläge zur 53. lustizministerkonferenz 1982 (Arbeitspapier Bayern), oben III. 2.; auch das Berliner Arbeitspapier, das eine Fristbestimmung durch das Gericht vorsah, ging weniger weit (Fristsetzung erst in der Hauptverhandlung, vgl. StV 1982, S. 332); Entwurf zum RpflEntlG 1991, oben IV. 2. c); Gesetzesantrag der Freien und Hansestadt Hamburg, BR-DrS 290/1994, oben VI. 1.; Gesetzesantrag des Freistaats Bayern, BR-DrS 331/1994, oben VI. 1.; Gesetzesantrag der Länder Baden-Württemberg., Bayern u. Thüringen, BR-DrS 63311995, oben VI. 3. 988 Siehe oben VI. 2. a) bb). 989 Vgl. Entwurf-RpflEntlG 1991 (BR-DrS 314/91, S. 98 f.; BT-DrS 1211217, S. 35); Gesetzesantrag des Freistaats Bayern, BR-DrS 331/1994, S. 7; Gesetzesantrag der Länder Baden-Württ., Bayern und Thüringen, BR-DrS 63311995, S. 64.; Linden, Referat, M 45.; VerhDJT 1994, Bd. II11, Beschluß Nr. 17, M 89. 985

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J. Seit 1975: Refonninitiativen und gesetzliche Änderungen

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frühere Stellungnahmen des Gesetzgebers eine ähnliche Tendenz. Denn anders lassen sich die unstimmigen Bewertungen zur Verschränkung von Beweisantragsrecht und Amtsaufklärungspflicht nicht erklären: Einerseits wird der Bereich, in dem das Beweisantragsrecht über die Amtsaufklärungspflicht hinausgehen soll, als äußerst schmal angesehen990 ; andererseits soll die alleinige Beschneidung des Beweisantragsrechts eine wirksame Maßnahme zur Entlastung der Strafgerichte sein. Daß der Gesetzgeber über diese Unstimmigkeit bislang stets hinweggeglitten ist, legt die Vermutung nahe, daß er jedenfalls in der Praxis deutliche Abstriche im Aufklärungsumfang bei alleiniger Geltung der Amtsaufklärungspflicht erwartet. So gesehen ist Gössels Forderung konsequent, nicht nur das Beweisantragsrecht, sondern zugleich ausdrücklich die gerichtliche Aufklärungspflicht einzuschränken. Jedoch ist die von ihm neu defmierte Erreichbarkeit und Existenz des Beweismittels als Schranke der Ermittlungspflicht nicht ausreichend, wenn sein Präklusionsmodell tatsächlich effektiv den Beweisaufuahmeumfang vermindern soll. Da grundsätzlich an der Amtsaufklärungspflicht festgehalten werden soll, bestünde die Verpflichtung des Gerichts, jedem potentiell erheblichen Beweisbegehren von Amts wegen nachzukommen, und zwar auch dann, wenn der entsprechende Beweisantrag wegen Verspätung präkludiert ist. Die Folge wäre eine Verlagerung des Beweisbegehrens auf die Amtsaufklärungspflicht, die das Präklusionssystem umgehen und weitgehend wirkungslos machen würde. Diese Gefahr hat offenbar auch Gössel erkannt. Doch anstatt auch in diesem Punkt den Preis fi.ir .die gewünschte Entlastung zu benennen und die Aufklärungspflicht gegenüber Beweisen einzuschränken, die dem Gericht durch präkludierte Beweisanträge bekannt werden, wird empfohlen, die revisionsgerichtliche Kontrolle zu beschneiden: Schließlich soll die Aufklärungsrüge nur noch zulässig sein, wenn sich der Angeklagte zuvor erfolglos mit einem nicht präkludierten Beweisantrag um die von ihm fi.ir notwendig erachtete weitere Aufklärung bemüht hat991 • Die Konsequenz wäre, daß das Tatgericht zwar theoretisch dazu verpflichtet sein kann, die in den präkludierten Beweisanträgen bezeichneten Beweise von Amts wegen zu erheben, das Unterlassen der Beweisaufuahme jedoch wegen der Präklusion nicht revisibel ist. Damit setzt das Gutachten fi.ir die Praxis offenbar darauf, daß die Tatrichter ihre Aufklärungspflicht nicht mehr so genau nehmen, wenn die Revisionskontrolle und damit die Gefahr einer Urteilsaufhebung enttallt. Nur so kann das Präklusionsmodell Wirkung zeigen. Das 990 V gl. Arbeitsunterlage filr die 52. Justizministerkonferenz (1982), StV 1982, S. 333; Entwurf-RpflEntlG 1991 (BR-DrS 314/91, S. 99 f.; BT-DrS 12/1217, S. 35). 991 § 337 Abs. 2 S. 2 der vorgeschlagenen Neuregelung; Gössel, Gutachten, C 81 f., 85; dazu Frister, StV 1994, S. 448 f.; Widmaier, NStZ 1994, S. 418; Perron, JZ 1994, S. 825, 826; ders., Beweisantragsrecht, S. 494 f.

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I. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

Kalkül, der Tatrichter werde den von der Amtsaufklärungspflicht gebotenen Aufklärungsumfang reduzieren, sobald nicht mehr das Damoklesschwert der Revision über ihm schwebt, hat jedenfalls seine Berechtigung992 . Zur Richtlinie der Gesetzgebung sollte ein derartiges Ansinnen allerdings nicht erhoben werden.

K. Ergebnis: Historische Entwicklung und Reformgeschichte Graf zu Dohna hat 1929 in seinem Lehrbuch ausgefilhrt, alles Strafprozeßrecht habe neben der rein juristischen Struktur seiner Anordnungen einen eminent politischen Einschlag993 • Das kommt in kaum einem Punkt klarer zum Ausdruck, als in der Haltung des Gesetzgebers zu eigenen Beweisrechten der Angeklagtenseite. Kaum eine andere Regelung der StPO ist so häufig geändert worden und trotzdem umstritten geblieben wie das Recht des Beweisantrags994 • Und an kaum einer anderen Bestimmung lassen sich die Auslenkungen des politisch-gesellschaftlichen Zeitgeistes besser ablesen: Bekanntlich gilt das Strafverfahrensrecht als Seismograph der Staatsverfassung99S • Die Entwicklung und Reformgeschichte des Beweisantragsrechts hat gezeigt, daß dieses Rechtsinstitut das dazugehörige Seismogramm darstellt! Im patriarchalisch-absolutistischen Staat der Vormodeme war der Beschuldigte bloßes Objekt in einem Strafverfahren, das sich ganz an den Belangen der Staatsräson orientierte. Einen verbindlichen Beweiserhebungsanspruch, der Ausdruck einer SubjektsteIlung gewesen wäre, gab es folglich nicht. Im 19. Jahrhundert veränderte sich dann - unter dem Einfluß der Gedanken der Aufklärung, der Französischen Revolution und des bürgerlichen Liberalismus - die Vorstellung davon, welche Rolle der einzelne in der Gesellschaft im allgemeinen und als angeklagter Bürger im besonderen innehaben sollte996 • Betont wurden jetzt Autonomie und SubjektsteIlung des Angeklagten. Zwar blieb es in vielen deutschen Territorien dabei, daß das Gericht den Umfang der Beweis992 Siehe unten 2. Teil: l. Kapitel, B. I. 2. b); 3. Kapitel, A. V. 2; siehe auch Frister, StV 1994, S. 449. 993 Grafzu Dohna, Strafprozeßrecht, 3. Auflage 1929, S. 3. 994 Vgl. Herdegen, NJW 1996, S.26: "Die Reformen und Gegenreformen, die das Beweisantragsrecht erfahren hat, verschafften ihm Geltungsschwankungen, die der Folgerichtigkeit eines Opernlibrettos vergleichbar sind". 995 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 2 Rn. I; H.-L. Schreiber, Tendenzen, S. 15; "Staatsverfassung" ist nicht im spezifisch konstitutionellen Sinne, sondern als "politisch-soziale Bauform einer Zeit" (Böckenjörde, Recht-Staat-Freiheit, S. 244) zu verstehen. 996 Vgl. Bendix, JW 1920, S. 268: "Die erste entscheidende politische Vorfragejeder Regelung des Strafverfahrens ist die des Verhältnisses vom einzelnen zur Allgemeinheit und dem sie bei uns vertretenden Staate."

K. Ergebnis: Historische Entwicklung und Refonngeschichte

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aufnahme nach seinem Ermessen bestimmt. Auch wurde nirgendwo ein heutigem Verständnis entsprechendes verbindliches Beweisantragsrecht anerkannt. Erste Ansätze eines selbständigen Beweiserhebungsanspruchs fmden sich aber etwa im vergleichweise liberalen Bayern in Form eines Selbstladungs- mit korrespondierendem Präsentationsrecht. Die Abhängigkeit von den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen zeigt sich auch deutlich am Maß des Einflusses, den die RStPO von 1877 dem Angeklagten bei der Bestimmung des Beweisaufnahmeumfangs zugestand: Der austarierte Komprorniß, der zwischen einer restriktiven autoritären Staatsauffassung und einem angeklagtenfreundlichen liberalen Individualismus oszillierte, entsprach im kleinen dem Arrangement, das die monarchischen und parlamentarisch-demokratischen Kräfte im großen in der konstitutionellen Monarchie der Kaiserzeit gefunden hatten. Gewährt wurde dem Angeklagten ein Selbstladungs- und Präsentationsrecht. Ein verbindliches Beweisantragsrecht war - wie schon zuvor in den Partikularrechten - nicht vorgesehen. Schon kurz nach Inkraftreten der Strafprozeßordnung im Jahre 1877 wurde es aber vom Reichsgericht aus übergeordneten Verfahrensprinzipien entwickelt und in jahrzehntelanger Rechtsprechung nach und nach ausgebaut. Der Angeklagte erhielt so auch bezüglich nichtpräsenter Beweismittel einen von gerichtlichem Ermessen weitgehend unabhängigen Beweiserhebungsanspruch. In den von politischem Umbruch und wirtschaftlicher Not geprägten Krisenzeiten der Weimarer Republik, also an ihrem Anfang und ihrem Ende, hat der Gesetzgeber das Beweisantragsrecht weitgehend eingeschränkt. Gleichwohl bekannte man sich noch grundsätzlich zum reformierten Strafprozeß mit seiner liberalen Verfahrenstradition und seinen förmlichen Bindungen997 • Das änderte sich mit der totalitären und antiliberalistischen Grundhaltung des Nationalsozialismus. Hatte man sich in der Weimarer Zeit noch auf die "Not von Volk und Reich" berufen, war das liberal-angeklagtenfreundliche Beweisantragsrecht nun schon vom Ansatz her mit den neuen ideologischen Prämissen unvereinbar. Entsprechend wurde es sukzessiv abgeschaffi. Ähnlich wirkten die ideologisch-politischen Prämissen in der DDR, deren Strafverfahrensrecht gleichfalls ein verbindliches Beweisantragsrecht nicht kannte. Die nationalsozialistische" Volksgemeinschaft", gegenüber der es keine individuellen Rechte geben konnte, wurde einfach durch die "sozialistische Gesellschaft" ersetzt: Zwei Topoi, die in ganz ähnlicher Weise den Gegensatz zwischen Individualinteressen und Gemeinschaftsbelangen leugnen und ein harmonisches "Einheitsmodell" postulieren, eine "Gleichrichtung der Verfahrens-

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Rüping, ARSP Beiheft 18/1983, S. 73.

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1. Teil: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

kräfte,,998 bzw. - nach marxistisch-leninistischer Lehre - die dialektische Vereinigung antagonistischer Interessen. In der Bundesrepublik wurde - im Lichte des Grundgesetzes und als Antwort auf die "Un"-Rechtsentwicklung im Nationalsozialismus - das verbindliche Beweisantragsrecht in weitgehender Ausgestaltung festgeschrieben. In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten galt es dann weitgehend unangefochten. Die rechtspolitische Diskussion wurde beherrscht von der Frage, wie die Rechtsstellung des Beschuldigten im liberal-rechtsstaatlichen Sinne verbessert werden kann. Mitte der Siebzigerjahre gab es dann einen kriminalpolitischen Paradigmenwandel: In den Vordergrund trat die "Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege" und mit ihr Fragen der Mißbrauchsabwehr, vor allem aber das Streben nach Justizentlastung und Verfahrensbeschleunigung. Der von der StPO verlangte prozessuale Aufwand, insbesondere der mit dem Beweisantragsrecht verbundene, galt jetzt vielen angesichts maroder Staatsfmanzen und einer - tatsächlich oder vermeintlich - kurz vor dem Kollabieren stehenden Strafjustiz als nicht mehr vertretbar. Verstärkt haben sich die sog. ökonomischen Sachzwänge mit der deutschen Wiedervereinigung 1989/1990. Seitdem ist eine deutliche Steigerung der Geschwindigkeit festzustellen, mit der versucht wird, an der Gesetzgebungsschraube zu drehen. Einzelne Einschränkungen sind bereits wirksam geworden. Und die Forderungen nach einer "wirksamen" Reform des Beweisantragsrechts werden in zunehmend kürzeren Abständen wiederholt. Hier kann an das Wort von C. Schmitt vom "motorisierten Gesetzgeber" erinnert werden999 . Fast jedes Jahr wird ein "neuer" Vorschlag zum Beweisantragsrecht auf dem rechtspolitischen Markt gehandelt, der den Mißständen in der Strafrechtspflege abhelfen soll. Um kreative Rechtspolitik handelt es sich hier allerdings nicht: Schließlich kehren die bekannten Reformvorschläge immer wieder, häufig nicht einmal geringfiigig verändert. Und das, obwohl sie allesamt außerordentlich umstritten sind und neue Fakten, die eine Bewertungsänderung tragen könnten, nicht vorliegen. Diese ständige - von dogmatischen Einwänden weitgehend unbeeinflußte - Reanimation nach dem Motto: Steter Tropfen höhlt den Stein, belegt eben998 Henkel, DJZ 1935, Sp.530; ders., ZStW 54 (1935), S.35; ders., DR 1935, S. 279; ders., DStrR 1935, S. 142 ff. 999 C. Schmitt, Lage der europäischen Rechtswissenschaft, S. 18 ff.: Kritisiert wurde mit diesem Ausdruck die unheilvolle Verordnungspraxis in der Weimarer Zeit (1. Teil: F. vor 1.), deren tiefere Ursache C. Schmitl in einem Phänomen sah, das auf die hier interessierenden Reformbestrebungen gleichermaßen zutrifft: "Daß das Verfahren der Gesetzgebung immer schneller und summarischer, der Weg des Zustandekommens einer gesetzlichen Regelung immer kürzer, der Anteil der Rechtswissenschaft immer kleiner wurde."

K. Ergebnis: Historische Entwicklung und Reformgeschichte

185

falls, daß der Streit um das Beweisantragsrecht nicht nur, vermutlich noch nicht einmal in erster Linie prozeßdogmatischer Natur ist, sondern maßgeblich von rechtspolitischen Determinanten gesteuert wird. Verfehlt, weil allzu simplifizierend wäre es jedoch, die politischen Faktoren allein auf den schlichten Gegensatz zwischen einem autoritären und einem liberalen Verfahrensverständnis zurückfuhren zu wollen. Vielmehr kann man sich bei Betrachtung der neueren Rechtsentwicklung des Eindrucks nicht erwehren, daß die klassische Konzeption des Verfahrens, mit ihrem Bezug auf Wahrheit und Gerechtigkeit, mehr und mehr verabschiedet wird. Neuer Maßstab fiir die Strafprozeßreform scheint ein technokratischer Pragmatismus geworden zu sein, der an Luhmanns systemtheoretische Verfahrenslehre lOoo erinnert, bei der die klassischen Werte zwar verbal noch aufrechterhalten werden, die eigentliche Verfahrensfunktion sich jedoch auf die - möglichst (preis-) günstige - Konfliktabsorption reduziert.

1000

Zu Luhmanns systemtheoretischer Verfahrenstheorie: Unten 2. Teil: 1. Kapitel,

A. vor 1. (Fn.), IV. 1.

Zweiter Teil

Die gegenwärtige Reformproblematik Dogmatischer Hintergrund, Reformbedarf und Reformmöglichkeiten Die Darstellung der neueren Reformgeschichte wie der aktuellen Reformbestrebungen hat bereits deutlich gezeigt, daß die geltende Beweisantragsregelung unter wachsendem rechtspolitischen Druck steht. Die Angriffe, die auf eine Beschneidung der lex lata abzielen, haben zunehmende Tendenz und waren zum Teil auch schon erfolgreich. Ein Blick in die juristische Zeitschriften-, Kommentar- und monographische Literatur erhärtet das Bild. Das gegenwärtige Beweisantragsrecht gilt vielen als eine zu weitgehende und deshalb einschränkungsbedürftige Rechtsposition 1 , manchen sogar als das "Grundübel des deutschen Strafprozesses,,2 . Die Zahl der neueren Veröffentlichungen, die sich mit einer Novellierung des Beweisantragsrechts befassen, ist kaum mehr zu überblicken. Und in einem annähernd monatlichen Rhythmus wächst ihre Zahl. Dabei läßt sich die Bedrängnis, in der sich das Beweisantragsrecht befindet, nicht allein an der Vielzahl der Stellungnahmen ablesen, die sich filr eine Einschränkung dieses Instituts aussprechen, sondern auch an deren Eindringlichkeit: Danach scheint im Falle eines Festhaltens am status quo das Ende des Rechtsstaates unmittelbar bevorzustehen3 • Das Recht des Beweisantrags befmdet sich also - wieder einmal - in der Krise. Nicht nur in historischer Sicht hat es sich als eines der umstrittensten Institute der StPO erwiesen, auch gegenwärtig gilt das Beweisantragsrecht als eines der zentralen Probleme, wenn nicht sogar als das Problem des Strafprozesses 4 . Allerdings ist dieses Verdikt - und damit auch die Berechtigung der verbreiteten Reformwünsche - keinesfalls unumstritten. Sowohl die faktischen wie auch die rechtlichen Prämissen der Reformbefiirworter werden angezweifelt

1 2 3

4

Siehe die Nachweise unten 2. Kapitel, A. I. So etwa v. Bassewitz, DRiZ 1982, S. 461. Siehe unten B. 11. vor 1. v. Glasenapp, NJW 1982, S. 2058.

2. Teil: Gegenwärtige Reformproblematik

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und die Forderungen nach einer Einschränkung der geltenden Regelung rur unberechtigt oder jedenfalls in ihrer Reichweite fiir überzogen erklärt. Die nachfolgende Untersuchung dieses Fragenkomplexes muß methodisch bei der strafprozessualen und verfassungsrechtlichen Dogmatik des Beweisantragsrechts ansetzen. Hier entscheidet sich, ob dieses Institut letziich nur "überflüssiges Brimborium"s darstellt oder aber fiir ein rechts staatliches, nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Rechtsfrieden strebendes Verfahren unentbehrlich ist. Besteht über diese Frage Klarheit, kann die eigentliche Analyse der gegenwärtigen Reformproblematik einsetzen: Sie hat sich in einem ersten Schritt mit der grundsätzlichen Frage nach der ReformbedUrftigkeit des geltenden Rechts zu befassen, um sich sodann - im bejahenden Falle - einzelnen Reformmöglichkeiten zuzuwenden. Diesem Aufbau entspricht die weitere Abhandlung.

5 Vgl. Hassemer, StV 1995, S. 483: "Die Hauptverhandlung oder das Rechtsmittelrecht, einst Gegenstände von Debatten über Gerechtigkeit, Kommunikation und Sozialisation, sind im Visier des Gesetzgebers nur noch als Räume für Zeitverschwendung und Halden überflüssigen Brimboriums, das man folgenlos abschmelzen kann."

Erstes Kapitel

Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts Die von der Strafprozeßordnung zur Verrugung gestellten Rechtsinstitute und Einzelbefugnisse stehen nicht als isolierte Regelungen rur sich allein, sondern sind in den größeren Sinnzusammenhang der Institution Strafverfahren eingebettetl. Sie sind deshalb teleologisch auf die Ziele des Strafverfahrens bezogen: Die einzelnen strafprozessualen Rechte sind nicht um ihrer selbst willen gewährt, sondern dazu bestimmt, mittelbar oder unmittelbar Aufgaben des Strafverfahrens zu verfolgen, das heißt instrumentell den Verfahrenszielen zu dienen2 • Dementsprechend haben sich auch die Aufgaben und Funktionen des Einzelinstituts "Beweisantragsrecht" nach den Zielen der Gesamtinstitution "Strafverfahren" zu richten 3 • Das gilt sowohl fiir die jetzige als auch fiir eine zukünftige gesetzliche Regelung. Bedingt durch diese notwendige Abhängigkeit ist es zunächst erforderlich, sich über die Strafverfahrensziele zu verständigen.

A. Aufgaben und Ziele des Strafverfahrensrechts Während eine Reihe von neueren öffentlich-rechtlichen Gesetzen (§ 1 Tierschutzgesetz, § I Atomgesetz, § 1 Bundes-Immissionsschutzgesetz) ihren Ge-

I Vgl. BGHSt 14, S. 358 (364); KKlStPO-Pfeiffer, Ein!. Rn. 2; eine Parallele zum soziologischen Funktionalismus (= Gesellschaft als Funktions- und Strukturzusarnmenhang, in dem die einzelnen Elemente bestimmte Funktionen zur Aufrechterhaltung des Ganzen leisten [Hillmann, Wörterbuch, S. 252]) stellt Schlüchter, Wert, S. 217 ff., her: "Das einzelne Seiende verrichtet seine Aufgabe im Rahmen des Ganzen." 2 Henckel, Gerechtigkeitswert, S.9; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1181; Rieß, FS-Schäfer, S. 168; RüpinglDornseifer, JZ 1977, S. 418; Perron, Beweisantragsrecht, S. 98; Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 14 (zum Haftrecht). 3 Diese Korrespondenz besteht auch - wie noch zu zeigen ist (2. Kapitel, B. I. 1.) bei konkreten Anwendungsfragen: Die Ausübung des Beweisantragsrechts muß sich im Rahmen der Verfahrensziele halten oder andersherum, ein Beweisantrag, der zweckwidrig strafverfahrensfremde Ziele verfolgt, liegt außerhalb der institutionellen Rechtsgewährung und wird als mißbräuchlich bezeichnet (vgl. RGSt 65, S. 304 [305]; KG JR 1971, S. 338 [338]; BGH StV 1991, S. 99 [100]; BGHSt 38, S. 111 [113]; Weber, GA 1975, S. 295 ff.; Rüping, Strafverfahren, S. 16 f.; ders., JZ 1997, S. 868; RüpinglDornseifer, JZ 1977, S. 418 ff.; vg!. auch Sch/üchter, Strafverfahren, Rn. 129: Interaktion der Prozeßsubjekte muß vom Prozeßzweck geprägt sein).

A. Aufgaben und Ziele des Strafverfahrensrechts

189

setzeszweck selbst defmieren4 , enthält die bundesdeutsche Strafprozeßordnung - anders als die der DDR5 - keine derartige Aussage 6 . Aufgaben und Ziele des Strafverfahrens müssen daher durch Interpretation ermittelt werden. Dementsprechend nimmt es nicht wunder, daß der institutionelle Sinn des Strafverfahrens uneinheitlich erklärt wird: Zumeist werden Wahrheit und Gerechtigkeit als Prozeßziele defmiert7 . Daneben wird dem Strafverfahren die Aufgabe zugewiesen, das materielle Strafrecht durchzusetzen 8 • Häufig fmdet sich als fmale Bestimmung auch der Begriff der Rechtssicherheit9 oder des Rechtsfriedens lO • Schließlich wird die Justizförmigkeit des Verfahrens selbst in den Rang eines eigenständigen Prozeßziels erhoben 11. In der neueren Literatur werden diese Topoi regelmäßig in unterschiedlichen Konstellationen miteinander verbunden. Roxin etwa weist dem Strafverfahren drei Ziele zu: Es soll eine materiell richtige, prozeßordnungsgemäß zustande gekommene und Rechtsfrieden schaffende

4 TierSchG vom 25. Mai 1998 (BGB!. I S. 1105), AtG vom 15. Juli 1985 (BGB!. I S. 1565), BlmSchG vom 14. Mai 1990 (BGB!. I S. 880). 5 §§ 1, 2 Strafprozeßordnung der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. I. 1968 (Gb!. I 1968, Nr. 2, S. 49 t1); Neufassung vom 19.12.1974 (Gb!. I 1975, Nr. 4, S. 62); letzte ÄndG vom 18. 12. 1987 (Gb!. I 1987, Nr. 31, S. 301 und S. 302). Als Prozeßzwecke werden - unsystematisch - genannt: Die gerechte Anwendung des sozialistischen Strafrechts, der Schutz der sozialistischen Staats- u. Gesellschaftsordnung und jedes Bürgers, die Bekämpfung der Kriminalität, die allseitige Aufklärung von Straftaten, die Bestrafung jedes Schuldigen, die Verschonung Unschuldiger und die "Entwicklung der schöpferischen Kräfte des Menschen und der gesellschaftlichen Verhältnisse". 6 §§ 155 Abs.2, 160, 244 Abs. 2 StPO geben allerdings mit dem Wahrheitserforschungsauftrag bereits eine Orientierungslinie vor. 7 Eb. Schmidt, LK I Rn. 20 f., 329; ders., Kolleg, Rn. 4; ders., Sache der Justiz, S. II ff.; ders., FS-Kohlrausch, S. 264, 288 f.; v. Stackelberg, AnwBI 1959, S. 190; Gallas, ZStW 58 (1939), S. 627; Henkel, Strafverfahrensrecht (1953), S. 96; LR-Schäfer, Ein!. Kap. 6 Rn. 7 a.E., Kap. 13 Rn. 1; Niese, Prozeßhandlungen, S. 31, 110; Stock, FS-Mezger, S. 446; Peters, Strafprozeß, S. 80, 82 f.; Gössel, Gutachten, C 24 f., 33 f.; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 176. 8 BVerfGE 20, S.45 (49); 57, S. 250 (275); BerlVerfGH NJW 1993, S. 515 (517), NJW 1994, S. 436 (439); Henkel, Strafverfahrensrecht (1953), S. 95; Eb. Schmidt, LK I Rn. 24 ff.; M. Wolf, Verfahrensrecht, S. 13; LR-Schäfer, Ein!. Kap. 6 Rn. 7; AK/StPOSchreiber, Ein!. I Rn. 2; AK/StPO-Hassemer, vor § 1 Rn. 339 f., 345; ders., Einführung, S. 119. 9 Lampe, GA 1968, S. 48, Beulke, Verteidiger, S. 63; Rüping, Strafverfahren, S.9; Schlüchter, Wert, S. 215. 10 Schmidhäuser, FS-Eb.Schmidt, S. 516 ff.; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 183, 200 ff.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 2 ff.; Weigend, Deliktsopfer, S. 195 ff., 213 ff.; H-J Albrecht, Möglichkeiten, S. 560; ders., NJ 1994, S. 397. 11 Rüping, Strafverfahren, S. 9; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 2 ff.; Beulke, Verteidiger, S.63; ders., Strafprozeßrecht, Rn. 5; weitergehend Hassemer, StV 1982, S. 278 f., der das Ziel des Verfahrens einseitig im Schutz der individuellen Freiheitsrechte sieht.

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

Entscheidung über die Strafbarkeit des Beschuldigten hervorbringen!2. RieB bestimmt die Sicherung des Rechtsfriedens als fonnales Hauptziel, das er durch die Ausrichtung des Verfahrens auf Wahrheit, Gerechtigkeit und die Durchsetzung des sachlichen Strafrechts und unter Hinweis auf die legitimierende Kraft eines justizf6nnigen Verfahrens materiell fundiert!3. In der Frage, welchen Kriterien die gesetzliche Ausgestaltung des Strafverfahrens letztlich Rechnung tragen muß, besteht also weitgehend Einigkeie 4 • Unklar ist allein die Gewichtung der einzelnen Gesichtspunkte und damit die Zuordnung untereinander!5 . Eine sinnvolle Ordnung ergibt sich, wenn man eine Art von "Zielbaum" mit zunehmender Abstraktionshöhe erstellt.

I. Verwirklichung des materiellen Strafrechts

Anzusetzen ist zunächst bei der exklusiven Strafgewalt, die der neuzeitliche Staat mit der Ablösung des Fehderechts an sich gezogen hat!6. Als Korrelat zu dem von ihm in Anspruch genommenen Strafrnonopol hat der Staat zugleich die Pflicht, ftlr eine wirksame Justizgewährleistung zu sorgen!7. Er hat als ultima 12 Roxin, Strafverfahrensrecht, Rn. 3; ebenso KKlStPO-Pfoiffer, Ein!. Rn. 2, und UIsenheimer, AnwBl 1983, S. 378; ähnlich Rüping, Strafverfahren, S. 9, und Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 2, 496. 13 Rieß, FS-Schäfer, S. 170 f.; ähnlich: SKiStPO-Wolter, vor § 151 Rn. 49; ders., GA 1985, S. 53; Weigend, ZStW 104 (1992), S. 503; KleinknechtIMeyer-Goßner, Ein!. Rn. 4; Gössel, Gutachten, C 30, 32; Gollwitzer, FS-Kleinknecht, S. 149. 14 Einen grundsätzlich anderen Ansatz vertritt aus soziologischer Sicht N. Luhmann mit seiner systemtheoretischen Verfahrenslehre (Legitimation durch Verfahren, 3. Auflage 1993 [1978]): Die "klassische Konzeption des Verfahrens" - mit den Verfahrenszielen "Wahrheit" und "Gerechtigkeit" - erklärt er rur unzureichend. Werte wie Wahrheit und Gerechtigkeit werden in seinem empirisch-funktionalistischen Bezugsrahmen als soziale Mechanismen aufgefaßt, deren Leistung darin bestehen soll, "reduzierte Komplexität", d.h. bestimmte im Verfahren getroffene Selektionsleistungen, zu übertragen (Luhmann, a.a.O., S. 20 ff., 23). Erforderlich zur Abnahme der so gefundenen Entscheidungen sei allein, daß das Verfahren die Überzeugung vermittele, "daß alles mit rechten Dingen zugeht, daß in ernsthafter, aufrichtiger und angestrengter Bemühung Wahrheit und Recht ermittelt werden" (Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 123). Hagen, JuS 1972, S. 486, bezeichnet "Wahrheit" deshalb als "Vehike1begrift"; Schünemann, GA 1978, S. 176, spricht insoweit von einer "Poternkinschen Fassade. Siehe auch unten IV. 1. 15 Vg!. Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 183, der von einer - durch unscharfe Abgrenzungen und Überschneidungen bedingten - "Familienähnlichkeit" der Prozeßzweckdefinitionen spricht. 16 Siehe oben 1. Teil: A. I. vor 1. 17 Zur Justizgewährleistungspflicht: Peters, Strafprozeß, S.21, Malmendier, NJW 1997, S. 228, und Eb. Schmidt, LK I Rn. 1 ff., der aber im Anschluß an Goldschmidt, Prozeß, S. 76 ff., 138, in dieser ein allein materiell-staatsrechtliches Rechte- und Pflichtenverhältnis sieht, während er spezifisch prozessuale Rechte und Pflichten leugnet (a.a.O., Rn. 19,38 ff., 60 ff.); a.A. Henkel, Strafverfahrensrecht (1953), S. 293 f.

A. Aufgaben und Ziele des Strafverfahrensrechts

191

ratio zum Schutze seiner Bürger nicht nur Strafvorschriften zu schaffen l8 , sondern diese bei Zuwiderhandlung auch durchzusetzen l9 . Aufgabe des Strafprozesses ist also zunächst, das materielle Strafrecht zu verwirklichen20 . Sie kann nur von einer funktionstüchtigen Justiz bewältigt werden, welche die Entscheidbarkeit der Strafrechtsflille in absehbarer Zeit gewährleister l . Die Forderung nach Durchsetzung des sachlichen Strafrechts setzt also zugleich die Durchfilhrbarkeit des Verfahrens - in der Diktion des Bundesverfassungsgerichts die ,,Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege,,22 - voraus.

11. Wahrheitsermittlung

Grundlage fi1r die Verwirklichung der Normen des sachlichen Rechts ist die Aufklärung des tatsächlichen Sachverhaltes23 . Ohne Rekonstruktion des Tatgeschehens, auf das die Normen Anwendung fmden sollen, kann eine sachlich richtige Entscheidung über Schuld oder Unschuld nicht getroffen werden. Mit der Sachaufklärung steht und flillt daher das aus der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsgebot abzuleitende Prinzip, daß keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf4 . Die Ermittlung der Wahrheit, ohne die das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden kann, ist demzufolge ein zentrales Anliegen des Strafprozesses (vgl. §§ 155 Abs. 2, 160,244 Abs. 2 StPO)2S.

BVerfGE 39, S. I (47); 88, S. 203 (258). Eb. Schmidt, LK I Rn. 6; KKlStPO-Pfeiffer, Ein!. Rn. I; SKJStPO-Wolter, vor § 151 Rn. 49. 20 Daneben hat das materielle Strafrecht noch einen anderen Verwirklichungsmodus: Gemeint ist die freiwillige Beachtung der strafrechtlichen Ge- und Verbote (Weigend, Deliktsopfer, S. 193 f.). 21 (er Veen, Beweisumfang, S. 218; Niemöller, StV 1996, S. 503. 22 BVerfGE 33, S.367 (383); 34, S.238 (248 f.); 38, S. 105 (115 f.); 44, S.353 (374); 46, S. 214 (222); 49, S. 24 (54); 51, S. 324 (343 f.); BVerfG NStZ 1987, S. 419 (419); BerlVerfGH, NJW 1994, S. 436 (439); BGHSt 38, S. 214 (220); BGH (GSSt) StV 1996, S. 465 (468/469); zur Rspr. des BVerfG siehe auch Robbers, Gerechtigkeit, S. 57 ff. 23 Rüping, Strafverfahren, S. 8 f. 24 Vg!. BVerfGE 20, S. 323 (331); 57, S. 250 (275). 25 BVerGE 57, S.250 (275); 63, S.45 (61); 77, S.65 (77); BVerfG NStZ 1987, S. 419 (419); BVerfG StV 1997, S. I (2) = NJW 1997, S.999 (1000); BGHSt 27, s. 355 (357); 28, S. 122 (128); 37, S. 30 (32); LR-Go/lwitzer, § 244 Rn. 38; AKJStPOSchöch, § 244 Rn. 26; Maul, FG-Peters, S.47; KKlStPO-Pfoif.fer, Ein!. Rn. 2; KleinknechtIMeyer-Goßner, § 244 Rn. 11; Herdegen, NJW 1996, S.27; Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. I, Rn. 35; Eb. Schmidt, LK I Rn. 363 f.; Kahlo. KrVjschr 1997, S. 203. 18

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts III. Materielle Gerechtigkeit

Eine auf wahrer Tatsachengrundlage beruhende, sachlich zutreffende Durchsetzung des Strafrechts schafft schließlich Gerechtigkeie6 • Da diese "Gerechtigkeit im strafrechtlichen Sinne,,27 positivistisch im Sinne des materiellen Rechts zu verstehen ist28 , kann sie als materielle Gerechtigkeit bezeichnet werden 29 . Eine Entscheidung ist demnach materiell gerecht, wenn sie mit dem sachlichen Strafrecht übereinstimmt: Ziel des Verfahrens ist also, daß einerseits jeder Unschuldige freigesprochen wird, andererseits jeder Täter die dem Unwert seiner Tat entsprechende, im materiellen Strafrecht bestimmte Strafe erhäle o . Zu eng ist es allerdings, das Verfahrensziel der Gerechtigkeit nur in dieser materiellen, sich in der verfahrensabschließenden Entscheidung manifestierenden Ergebnisgerechtigkeit zu sehen31 : Es ist nicht nur die Herstellung materieller Gerechtigkeit zu fordern, sondern daneben auch die Verwirklichung prozeduraler Gerechtigkeit.

IV. Prozedurale Gerechtigkeit

In den letzten drei Jahrzehnten ist die angesprochene prozedurale Gerechtigkeit, auch Verfahrensgerechtigkeit genannt, zu einem wichtigen, international

26 Vgl. BVerfGE 63, S. 45 (61); Peters, Strafprozeß, S. 82; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 176; Küng-Hofer, Beschleunigung, S. 16; Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. 1, Rn. 35; Eser, ZStW 104 (1992), S. 363; Neumann, ZStW 101 (1989), S.52; Gössel, Gutachten, C 34; ders., FS-Nishihara, S. 221; van der Ven, FS-Peters, S. 467; Krauß, FS-Schaffstein, S. 411; Schmidhäuser, FS-Eb. Schmidt, S. 512; ähnlich auch BVerfGE 57, S. 250 (275, 279); 80, S. 367 (378). 27 Geerds, SchlHA 1964, S. 65. 28 Neumann, ZStW 101 (1989), S. 52; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1204 f.; BVerfGE 42, S.64 (73); zu der Rechtsprechung des BVerfG: Robbers, Gerechtigkeit, S. 57 ff. m.w.N. 29 Die Terminologie ist uneinheitlich. Wie hier Röhl, Rechtslehre, S. 530; Stock, FSMezger, S. 446 f., 451. Zum Teil wird die Ergebnisgerechtigkeit auch als materiale Gerechtigkeit bezeichnet (so Neumann, ZStW 101 [1989], S. 52 ff.). Demgegenüber spricht Sauer, Rechts- und Sozialphilosophie, S. 229 f., von konkreter Gerechtigkeit und Stock, a.a.O., S. 433 f., auch von objektiver Gerechtigkeit. 30 BVerfGE 63, S.45 (63); Paulus, FS-Spendel, S.688/689; Schmidhäuser, FSEb.Schmidt, S. 522 ("ideales Ziel"); Heinicke, Beschuldigte, S. 441; Beulke, Verteidiger, S. 62; Küng-Hofer, Beschleunigung, S. 15 f.; Eser, FS-Miyazawa, S. 562; Frisch, FS-Henkel, S. 284 f.; Peters, Strafprozeß, S. 84; in diesem Sinne auch schon Martin, Lehrbuch (1836), S. 18. 31 Kritisch gegenüber einer derart einseitigen Ausrichtung auch Volk, FS-Salger, S.416 Fn.22, 417; Hassemer, StV 1982, S. 276 f.; Neumann, ZStW 101 (1989), S. 52 ff.; Bottke, Verfahrensgerechtigkeit, S. 33; R. Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 211 und passim.

A. Aufgaben und Ziele des Strafverfahrensrechts

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diskutierten rechtsphilosophischen Topos geworden32 . Ein Transfer in die Strafprozeßrechtsdogmatik hat bislang jedoch kaum stattgefunden33 . Zur Begründung der hier vorgeschlagenen Adoption in den Katalog der Strafverfahrensziele soll deshalb der Begriff näher erläutert werden. 1. Einführung in den Diskussionsstand

Lange Zeit sah man im Verfahrensrecht nur ein dem materiellen Recht dienendes, wertfreies Instrumene 4 • Prozeßrecht sei nur ein neutrales Mittel zum Zweck, eine "Geschäftsanweisung,,35, "mehr Technik als Recht,,36 und "der Ewigkeitswerte bar',37. Selbst Goldschmidt, hervorragender Vertreter der modemen Prozeßrechtsdogmatik38 , wandte sich gegen eine "metaphysische" Prozeßwissenschaft, die in den prozessualen Normen mehr als nur technische Zweckmäßigkeitserwägungen siehe9 . Später hat man erkannt, daß die ethischen Reflexe des materiellen Rechts notwendig auf die prozessualen Vorschriften abfärben, soweit diese dazu beitragen, das sachliche Recht durchzusetzen und damit materielle Gerechtigkeit zu verwirklichen40 • Damit war anerkannt, daß auch das Verfahrensrecht ethisch imprägniert ist41 • Einen Gerechtigkeitsgehalt

J2 Zum Diskussionsstand mit unterschiedlichen Schwerpunkten: R. Hof/mann, Verfahrensgerechtigkeit, 1992; Neumann, ZStW 101 (1989), S. 52 ff.; Arth. Kaufmann, Prozedurale Theorien, S. 5 ff.; ders., Jura 1993, S. 239 ff.; ders., in: KaufmannlHassemer, Einführung, S. 166 ff.; Dreier, Recht - Staat -Vernunft, S. 18 ff., 23 ff.; Bottke, Verfahrensgerechtigkeit, 1991; Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 202 f., 237 ff.; Hollerbach, Art. "Gerechtigkeit", in: Staatslexikon, Bd.2, Sp.901; Röhl, ZfRSoz 1993, S. I ff.; ders., Rechtslehre, S. 529 ff.; ders., Procedural Justice, S. 57 ff. 33 V gl. aber Geerds, Strafrechtsptlege und prozessuale Gerechtigkeit, SchlHA 1964, S. 57 ff.; Neumann, Materiale und prozedurale Gerechtigkeit im Strafverfahren, ZStW 101 (1989), S. 52 ff. 34 Neumann, ZStW 101 (1989), S.53 m.w.N.; R. Hof/mann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 27 ff. m.w.N.; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 170 ff., 174 f. 35 V gl. Sauer, Prozeßrechtslehre, S. 3, der sich gegen diese Klassifizierung wendet. 36 Vgl. Eb. Schmidt, ZStW 65 (1953), S. 162, der seIbstjedoch stets den Eigenwert "schützender Formen" betont hat (vgl. ders., JZ 1958, S. 601, NJW 1969, S. 1139 ff., LK I Rn. 22 f., Kolleg, Rn. 6). 37 F. Stein, Grundriß des Zivilprozeßrechts und des Konkursrechts, Tübingen 1921, Vorwort (zit. nach Röhl, Rechtslehre, S. 523). 38 Vgl. Eb. Schmidt, LK I Rn. 51 ff.; ders., Kolleg, Rn. 35 ff. 39 Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, S. 150, 188; vgl. auch R. Hof/mann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 28; Henckel, Gerechtigkeitswert, S. 7. 40 R. Hof/mann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 23 f. 41 Peters, FS-Würtenberger, S. 79 ff., und Kriele, Recht, S. 33, wonach Kompetenzund Verfahrensvorschriften "die Funktion haben, die heteronome Verbindlichkeit und Durchsetzung der fundamentalen Gemeinschaftsregeln realistisch zu gewährleisten, und die insofern mittelbar ethisch begründbar sind".

13 Schatz

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

maß man prozessualen Vorschriften jedoch zunächst nur beschränkt auf ihre dem sachlichen Recht dienende Rolle ZU42. Geschärft wurde der Blick fiir eine darüber hinausgehende, eigenständige Funktion des Strafverfahrens durch die systemtheoretische Verfahrenslehre N. Luhmanns (1969)43 , die eine breite interdisziplinäre Diskussion angestoßen hat44 • Nach der funktionalen Betrachtungsweise45 der Systemtheorie besteht die Leistung des sozialen Systems "Gerichtsverfahren" nicht darin, materielle Wahrheit und Gerechtigkeit zu verwirklichen, sondern unter weitgehender "Zersplitterung und Absorption von Protesten" Komplexität zu reduzieren46 . Durch Hintereinanderschaltung von verschiedenen Selektionsleistungen werde eine Entscheidung hervorgebracht, die unter Vernachlässigung des materiellen Ergebnisses ihre Legitimation im Verfahrensablauf selbst fmdet ("Legitimation durch Verfahren,,)47 . 42 In der Literatur wird zum Teil - soweit es um die Bereitstellung prozessualer Strukturen zur Realisierung des materiellen Rechts und damit einer final gerechten Entscheidung geht - von "externer Verfahrensgerechtigkeit" (Röh/, ZfRSoz 1993, S. 6), "materieller Verfahrensgerechtigkeit" (Bottke, Verfahrensgerechtigkeit, S. 11, 78) oder auch von "absichernder prozedura/er Gerechtigkeit" (R. Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 134 ff.) gesprochen. Terminologisch wird hier indes Neumann, ZStW 101 (1989), S. 59, und Geerds, SchlHA 1964, S. 57 ff., gefolgt, die in der dienenden Funktion prozessualer Normen keine Form von prozeduraler Gerechtigkeit sehen. 43 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1. Aufl. 1969,3. Aufl. 1993 (1978); vgl. bereits oben vor 1.; zusammenfassend: H. L. Schreiber, ZStW 88 (1976), S. 136 ff., ders., Bedeutung, S. 72 ff.; Röh/, Rechtssoziologie, S. 409 ff.; Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 34 ff.; Machura, ZfRSoz 1993, S. 97 ff.; zur systemtheoretischen Rechtsauffassung allgemein: Smid, JuS 1986, S. 513 ff. 44 Vgl. H.-L. Schreiber, ZStW 88 (1976), S. 137; Hassemer, Einfiihrung, S. 98 f.; Hagen, JuS 1972, S. 486; Arth. Kaufmann, Jura 1992, S. 184, Jura 1993, S. 239; Röh/, Rechtssoziologie, S. 409 ff.; ders., ZfRSoz 1993, S. 19 ff.; ders., Rechtslehre, S. 531 f.; Beu/ke, Verteidiger, S. 64 ff.; Zippelius, FS-Larenz, S. 293 ff.; Neumann, ZStW 101 (1989), S. 72 f.; Weigend, Deliktsopfer, S. 200 ff.; R. Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 31, 115, 167 f.; Ostendorf, NJW 1978, S. 1347; Überblick bei Machura, ZfRSoz 1993, S. 97 ff. 45 Die funktionale Betrachtungsweise, die auf dem soziologischen Funktionalismus beruht (Gesellschaft als Strukturzusammenhang, bei dem die Elemente bestimmte Funktionen zur Aufrechterhaltung des Ganzen leisten; siehe Hillmann, Wörterbuch, S. 252), bewertet Zusammenhänge nicht nach inhaltlichen Motiven, sondern allein nach ihrer objektiven Bedeutung, ihrer "Funktion", die im soziologischen Sprachgebrauch (vgl. Hassemer, Einfiihrung, S. 99) keinen intentionalen Charakter hat (Röh/, Rechtslehre, S.257: "Funktionen sind Wirkungen, die ohne Rücksicht darauf eintreten, ob sie bezweckt worden sind"). Sie ist wertfrei-positivistisch. 46 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 23 ff., 116. 47 Die Systemtheorie kann und will mit ihrer funktionalen Analyse ihren Gegenstand nicht "rechtfertigen" (Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 6 f.). Deshalb geht es nicht um ein normatives Begründungsmodell (nach Luhmann, a.a.O.: "Krypto-Normierung"), sondern um empirisch-soziologische Vorgänge, um faktische Legitimation (Röhl, Rechtssoziologie, S. 418 f.).

A. Aufgaben und Ziele des Strafverfahrensrechts

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Die Leistung des Verfahrens wird also auf den Prozeß - und nicht auf ein bestimmtes Ergebnis - bezogen48 : Das System legitimiert sich und seine Anerkennung selbst49 • Heute entspricht es der weit überwiegenden Ansicht, daß das Verfahrensrecht nicht nur eine subalterne, dienende Funktion hat, die sich darauf beschränkt, materielle Erfolgsgerechtigkeit prozessual zu fördernso. Dementsprechend meint prozedurale Gerechtigkeit etwas anderes als die verfahrensmäßige Absicherung einer materiell gerechten EntscheidungSl : Prozedurale Gerechtigkeit ist nicht zu verwechseln mit der materiellen Gerechtigkeit prozeßrechtlicher NormenS2 • Diese weist dem Verfahrensrecht die Aufgabe zu, eine materiell gerechte Entscheidung durch bestimmte Verfahrensstrukturen prozessual abzusicherns3 . Jene hat dagegen ihre materiale Basis im Verfahrensablauf und ist damit von der Verwirklichung des materiellen Rechts unabhängig54 : Die gegenständliche Folie für Gerechtigkeitsurteile stellt das Verfahren selbst dar55 .

Vgl. Rieß, FS-Schäfer, S. 169. Arth. Kaufmann, Jura 1993, S. 239. 50 Röhl, ZfRSoz 1993, S. I ff.; ders., Rechtslehre, S. 529 ff.; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1205 f.; Neumann, ZStW 101 (1989), S. 54); Schroeder, NJW 1983, S. 140; R. Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 140 ff. (zur Entwicklung S. 27 ff.); Momsen, Verfahrensfehler, S. 341 f., 399 ff.; in dieser Hinsicht ist der Beschluß des BerlVerjGH (NJW 1993, S. 515 ff.) zur Haftentlassung Erich Honecleers interessant: Die DurchfUhrung eines Strafverfahrens sei unzulässiger Selbstzweck, wenn eine Verurteilung und Bestrafung, zumindest aber eine vollständige Aufklärung der Tat nicht mehr möglich sei (zustimmend Roxin, Strafverfahrensrecht, § 21 Rn. 12). Diese rein instrumentelle, d.h. auf den "Erfolg" bezogene Deutung des Verfahrenszwecks ist in der Literatur überwiegend auf Kritik gestoßen, die darauf hinwies, daß der Durchfohrung des Strafverfahrens selbst "eine - gerade im Fall Honecker kaum zu überschätzende - friedensstiftende Funktion" zukomme (Klein/Haratsch, JuS 1994, S. 563 m.w.N.). 51 Röhl, ZfRSoz 1993, S. 5 f., und R. Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 140 ff., sprechen von "interner Verfahrensgerechtigkeit" bzw. "interner prozeduraler Gerechtigkeit", Bottlee, Verfahrensgerechtigkeit, S. 11/12, 33, 63/64, von "formeller Verfahrensgerechtigkeit" . 52 Neumann, ZStW 101 (1989), S. 59. 53 Ähnlich hier die Grundrechtsdogmatik des Bundesverfassungsgerichts, das den "Grundrechtsschutz durch Verfahren" konstruiert hat: Gerichtliche Verfahren müssen so gestaltet sein, daß nicht die "Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition entsteht" (BVerfGE 63, S. 131 [143]). Grundrechte setzen deshalb auch "Maßstäbe fUr eine den Grundrechtsschutz effektuierende Verfahrensgestaltung" (BVerfGE 53, S. 30 [65, 72 f. m. w. N.]; 69, S. 315 [355 m.w.N.]). Im Grunde sei das Verfahren sogar die einzige Möglichkeit, Grundrechte durchzusetzen und wirksam zu gewährleisten (vgl. BVerfGE 53, S. 30 [72] mit Hinweis aufSondervotum zu BVerfGE 49, S. 220 [235]); vgl. auch Alexy, Theorie, S. 428 ff.; NiemölleriSchuppert, AöR 107 (1982), S. 403; Denninger, HbStR V, § 113 Rn. I ff. 48

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2. Belege für das Erfordernis einer Einbeziehung prozeduraler Gerechtigkeit in das System der Verfahrensziele Die Erkenntnis, daß das Verfahren neben seiner "Dienerrolle" eine gewisse Selbständigkeit gegenüber dem materiellen Strafrecht hat und darum bestimmten Anforderungen "prozeduraler Gerechtigkeit" entsprechen muß, ist gar nicht so neu 56 . Gedanken der Verfahrensgerechtigkeit fanden sich jedoch bislang nicht unter dem umfassenden Terminus der prozeduralen Gerechtigkeit, sondern unter anderen Topoi. So verwendet das Bundesverfassungsgericht das aus dem angelsächsischen Rechtskreis entlehnte Gebot von der "Fairneß" des Verfahrens ("fair trial,,)57 als terminologische Variante für bestimmte Anforderungen prozeduraler Gerechtigkeit58 . Ansonsten wurden und werden einzelne Aspekte der Verfahrens gerechtigkeit meist ausschließlich unter der eingeengten Perspektive der Justizförmigkeit des Verfahrens gesehen: Für diesen Blickwinkel kann beispielhaft Eb. Schmidt genannt werden: Er bemerkte im Jahre 1958: "Es geht in der Strafrechtspflege nicht nur um die materiellrechtliche Richtigkeit der Urteile, sondern ebensosehr auch um ihre Gewinnung auf keinem anderen als demjustizförmigen Wege,,59. Die hier zum Ausdruck kommende Einsicht, daß es im Strafverfahren nicht darum gehen darf, den Täter seiner - im Ergebnis vielleicht gerechten ! - Strafe mit allen Mitteln zuzuführen, hat sich seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes unangefochten durchgesetzt. In keinem Fall heiligt der Zweck die Mittel 60 . Angesichts der Bedeutung der Menschenwürde als "obersten Wert,,61 der Verfassung, der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte und aus allgemein rechtsstaatlichen Gründen, gilt - anders als im alten Inquisitionsprozeß - das Verbot der Wahrheitsjindung um jeden Preis62 • Wahrheitsermittlung ist vielmehr nur in den Grenzen der JustiztOrmigkeit zulässig63 •

54 An dieser Emanzipation prozeduraler Gerechtigkeit vom materiellen Recht ändert sich auch nichts dadurch, daß viele prozessuale Normen in erster Linie auf eine materiell gerechte Endentscheidung ausgerichtet sind. Als Nebenzweck können sie gleichwohl losgelöst vom Ergebnis - prozedurale Gerechtigkeit verwirklichen. 55 R. Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 104. 56 So sprach - bezogen auf den Zivilprozeß - Henckel bereits 1966 in seiner gleichnamigen Schrift "Vom Gerechtigkeitswert verfahrensrechtlicher Normen". 57 Siehe unten B. 11. 3. a), b). 58 Neumann, ZStW 101 (1989), S. 68 f.; R. Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 34 ff., 88 ff. m.w.N. 59 Eh. Schmidt, JZ 1958, S. 601; zustimmend LR-Schäfer, Ein!. Kap. 6 Rn. 7. 60 LR-Schäfer, Ein!. Kap. 6 Rn. 7. 61 BVerfGE 32, S. 98 (108); 87, S. 209 (228): "Tragendes Konstitutionsprinzip im System der Grundrechte".

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Dabei drückt sich die Justizfönnigkeit des Verfahrens gerade auch in denjenigen strafprozessualen Vorschriften aus, die selbst dann zu beachten sind, wenn sie unter dem Aspekt der Wahrheitssuche als Voraussetzung fiir die Herstellung fmaler Gerechtigkeit kontraproduktiv sind64 • Ausprägungen einer solchen Selbstbeschränkung der Wahrheitsfmdung aus übergeordneten Erwägungen sind etwa die Belehrungspflichten (§§ 136 Abs. 1 S.2, 163 a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2, 243 Abs. 4 S. 1 StPO) und die strafprozessualen Beweisverbote65 . So entfaltet etwa das Verbot unzulässiger Vemehmungsmethoden (§ 136 a StPO) eine prozedurale, ethisch gebotene Sperrwirkung66 : Obwohl sich durch psychischen Zwang oder physische Folter die Wahrheit oft vollständiger ennittein ließe, bescheidet man sich "mit einem nur unzureichend erhellten Sachverhalt um der Personenhaftigkeit und damit der Würde integrität des Angeklagten willen. ,,67 Rechtsstaatliche und grundrechtsschützende Sicherungen des Prozeßrechts können also der Wahrheitserforschung durchaus entgegenstehen und unter Umständen ein mit der materiellen Rechtslage unvereinbares Ergebnis perpetuieren; der Weg zur materiellen Ergebnisgerechtigkeit wird durch die Einziehung derartiger Schranken versperrt68 . Die "prozessuale Verfälschung des Richtigen,,69 zeigt, daß das Verfahrensrecht hier offensichtlich anderen Vorgaben als denen materieller Ergebnisgerechtigkeit folgt70. Diese Nonnen, die nicht unter

62 BGHSt 14, S. 358 (365); 31, S. 304 (309); 38, S. 214 (220); 38, S.372 (374); KKlStPO-Herdegen, Einl. Rn. 2; Maul, FG-Peters, S. 51; Beutke, Verteidiger, S.63; Eser, ZStW 104 (1992), S. 362; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 16; Spendet, JuS 1964, S. 467; Wesseis, JuS 1969, S. 3; Krause, FS-Peters, S. 328; Gollwitzer, FS-Kleinknecht, S. 159; Wolter, GS-Meyer, S. 503. 63 Rüping, Strafverfahren, S. 9; terVeen, Beweisumfang, S. 215 f. 64 Neumann, ZStW 101 (1989), S. 69; van der Ven, FS-Peters, S. 466; R. Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 141; Röht, Rechtslehre, S. 523; vgl. auch (zum Zivilprozeß) Hencket, Gerechtigkeitswert, S. 9, 16,21. 65 Vgl. BGHSt 38, S. 214 (219 ff.); Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 13 ff. 66 Zur ratio legis des § 136 a StPO (einerseits Wahrung der Menschenwürde, Unschuldsvermutung und Rechtsstaatlichkeit, andererseits geringer Wert von erzwungenen Aussagen - keine "Vergiftung der Quelle") vgl. Joerden, JuS 1993, S. 927 f. 67 R. Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 143; vgl. auch Momsen, Verfahrensfehler, S. 401. 68 BGHSt 27, S. 355 (357); 28, S. 122 (128); 37, S. 30 (32); 38, S. 214 (220); Stock, FS-Mezger, S. 446 f.; Eb. Schmidt, ZStW 65 (1953), S. 168; Ostendorf, NJW 1978, S. 1347; Hassemer, Einfiihrung, S. 153. 69 Volk, Wahrheit, S. 9; van der Ven, FS-Peters, S. 469, spricht von der Wirklichkeit, die bis zur Unkenntlichkeit "umgebogen" sein kann. 70 Momsen, Verfahrensfehler, S. 401; vgl. auch Volk, FS-Salger, S. 417, der die Beschränkungen der Wahrheitsfindung "unmittelbar mit Gerechtigkeit in Verbindung

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

dem Vorbehalt einer effektiven Wahrheitsermittlung gewährt werden und nicht in einem unmittelbaren Bedingungsverhältnis zur fmalen Entscheidung stehen, bringen vielmehr eigenständige, vom Verfassungsrecht motivierte prozessuale Wertungen zum Ausdruck71 . Sie sind von der materiell-rechtlichen Zweckdienlichkeit losgelöst und haben mit der materiellen Gerechtigkeit des Endurteils nichts zu tun. Mit eigenen verfahrensrechtlichen Wertentscheidungen belegen die prozessualen Schutzprinzipien die angesprochene verfahrenszentrierte Selbständigkeit und sind Ausdruck prozeduraler Gerechtigkeit72 • Im Gebot der Justizformigkeit des Verfahrens fmden sich also Anhaltspunkte dafilr, daß das Verfahrensrecht gegenüber dem materiellen Recht teilweise autonom sein kann und zum Teil durchaus eigenen Imperativen folgt73 . Ein weiterer Ansatzpunkt filr eigenständige prozedurale Wertungen ist die prinzipielle Offenheit der Normen des materiellen Rechts 74 . Zu Zeiten des Naturrechts und später des Rechtspositivismus galt das Recht als etwas substantiell Vorgegebenes, das vom Richter - in der Metaphorik Montesquieus als "Mund des Gesetzes" ("La bouche qui prononce les paroies de la loi,,)75 - objektiv eindeutig angewendet werden könne 76 . Entgegen diesem statischen Rechtsverständnis, wonach der Richter nur als gesetzlich programmierter Entscheidungsautomat, gewissermaßen als willenloser Subsumtionsmechaniker tätig sein sollte77 , ist in der modemen Rechtstheorie - selbst unter Rechtspositivisten 78 -

bringt" und sie nicht als Negativkosten im rechtsstaatlichen Interesse, sondern als positive Faktoren eines als gerecht empfundenen Ergebnisses bewertet. 71 AKJStPO-Hassemer, vor § I Rn. 342, 344 f. 72 Volk, Wahrheit, S. 9 f., 18 ("Maximen prozessualer Gerechtigkeit"); OstendorJ, NJW 1978, S. 1347 ("Ausfluß des Gerechtigkeitsprinzips"). 73 In diesem Sinne sprechen etwa Rieß (FS-Schäfer, S. 171), Degenhart (HbStR III, § 76 Rn. 35 Fn.222), Go/lwitzer (FS-Kleinknecht, S. 149), Rüping (Strafverfahren, S.9), Wolter (GA 1985, S. 53); Müller-Dietz (ZStW 93 [1981], S. 1205 f.) und Roxin (Strafverfahrensrecht, § I Rn. 4) zu Recht davon, daß die Justizformigkeit des Verfahrens einen materiellen Eigenwert hat und keine bloß formale Kategorie ist. 74 Neumann, ZStW 101 (1989), S. 59 f.; vgl. auch Röhl, Procedural Justice, S. 67. 7S Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch XI, Kap. 6, S. 225: "Richter sind ... nur der Mund, der die Worte des Gesetzes ausspricht, willenlose Wesen". 76 Mikinovic/Stangl, Strafprozeß, S. 14; Boy/Lautmann, Kommunikationssituation, S. 44 f.; Gast, Rhetorik, Rn. 5; Arth. Kaufmann, Jura 1992, S.298, 1993, S. 239 (vgl. auch ders., Jura 1992, S. 183 ff.). 77 Arndt, NJW 1959, S. 1301, spricht in diesem Zusammenhang plastisch von "der positivistischen Illusion einer Rechtsmechanik"; vgl. auch ders., NJW 1959, S. 6 ff. 78 H. L. A. Hart, Begriff des Rechts, S. 173 ff., 178 ff., der von einer "offenen Struktur" des Rechts ("open texture of law") spricht und damit anerkennt, daß "Rechtsregeln unscharfe Ränder" (Arth. Kaufmann, Prozedurale Theorien, S. 28) bzw. "Vagheitsspielräume" (Dreier, NJW 1986, S. 892) haben.

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weithin unumstritten, daß die Nonnen des materiellen Rechts grundsätzlich79 interpretationsfithige Sätze sind, die die Entscheidung keineswegs vollständig detenninieren so • Seine konkrete Gestalt erhält das Recht deshalb erst im Prozeß, in dem die mangelnde materielle Programmierung kompensiert wirdSI. Für einen solchen "dynamischen Rechtsbegriff"S2 gewinnt der Entscheidungsvorgang besondere Bedeutung. In der Art und Weise, wie Tat und Strafe rechtsgestaltend "herausprozessiert" werden, ist das Verfahrensrecht selbständig und offen filr eigene Wertungen prozeduraler Art. Schließlich rechtfertigt sich die Forderung nach einer auf den Verfahrensablauf bezogenen Gerechtigkeit auch aus dem Umstand, daß die fmale Ergebnisgerechtigkeit nicht garantiert werden kanns3 • Angesichts pragmatischers4 wie erkenntnistheoretischers5 Defizite bei der WahrheitserforschungS6 wird die

79 Daneben gibt es zweifellos auch Fälle, bei denen sich das Ergebnis logisch durch Subsumtionsschluß ergibt (Larenz, Methodenlehre, S. 275). 80 Mikinovic/Stangl, Strafprozeß, S. 14; Arth. Kaufmann, Prozedurale Theorien, S. 8; ders., Jura 1992, S. 304; R. Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 202 f.; Gast, Rhetorik, Rn. 2; zur geschichtlichen Entwicklung siehe Kühne, Kommunikationsproblem, S. 22 ff.; Planspiele an der Dt. Richterakademie untermauern die Rechtstheorie empirisch: "Obgleich es sich stets um denselben Fall, dasselbe Aktenstück und dieselben Regieanweisungen handelte, kamen die jeweils mit anderen Tagungsteilnehmern besetzten Jugendschöffengerichte zu jedesmal verschiedenen Ergebnissen (Hiegert, Offenkundigkeit, S. 90)." Zu dieser Problematik vgl. auch Peters, Strafprozeß, S. 84 f.; Pieth, Beweisantrag, S. 276. 81 Arndt, NJW 1959, S. 7 f.; Kriele, Recht, S. 67 ff., 71 ff.; Arth. Kaufmann, Jura 1993, S. 239. 82 Arndt, NJW 1959, S. 7. 83 Hassemer, Einfilhrung, S. 87; Bottke, Verfahrensgerechtigkeit, S. 33, 64; Röhl, Procedural Justice, S. 67; Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 21: "Ein System, das die Entscheidbarkeit aller aufgeworfenen Probleme garantieren muß, kann nicht zugleich die Richtigkeit der Entscheidung legitimieren. Funktionale Spezifikation in der einen Richtung schließt die in der anderen aus." 84 Zu den "Unsicherheiten des Beweisens" Perron, Beweisantragsrecht, S. 45 ff., 50 (i. d. R. keine unmittelbare Wahrnehmung des Geschehens durch den Urteiler, deshalb Rückgriff auf Beweismittel, die aber aus faktischen, rechtsstaatlichen (Beweisverbote !) und ökonomischen Gründen unvollständig bleiben und die, soweit sie herangezogen werden können, mit zusätzlichen Fehlerquellen (insbes. beim Zeugenbeweis) behaftet sind; zudem bleibt die Würdigung dieser lückenhaften und verzerrten Beweisbasis durch den Richter mangels eingeschränkter Rationalisierbarkeit der Überzeugungsbildung ein zusätzlicher Unsicherheitsfaktor); vgl. auch Schünemann, FS-Pfeiffer, S. 475 ff.; Ostendorf, NJW 1978, S. 1347 f. 85 Entgegen der früher in der DDR herrschenden marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie ("Widerspiegelungstheorie" als Variante der "Abbildtheorie"; siehe oben 1. Teil: I. [Fn.]) ist es heute ganz überwiegende Ansicht, daß die "absolute Wahrheit" i.S. einer objektiven Übereinstimmung des rekonstruierten Sachverhaltes mit dem tatsächlichen Geschehen ("essentia rei in mente = essentia rei in natura") im Strafverfahren

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Wirklichkeit als Entscheidungsbasis zwangsläufig mehr oder weniger verfehlt 87 : Kaum ein Urteil beruht auf der "wahren Wirklichkeit,,88 . Die im Prozeß hergestellte Wahrheit kann sich ihr nur annähern89 . Irrtümer sind notwendig vorprogrammiert und Fehlurteile, wie das Wiederaufnahmeverfahren (§§ 359 ff. StPO) zeigt, durchaus einkalkuliert90 • Materielle Gerechtigkeit - "richtige Rechtsanwendung auf wahre Sachverhalte,,91 - kann angesichts dieser prozeßimmanenten Defizite zwangsläufig nur unvollständig geschaffen werden 92 • Hieraus resultiert das Verlangen nach einer zweiten Legitimationsgrundlage93 .

nicht zu ermitteln ist (vgl. RGSt 15, S. 338 [339]; 61, S.202 [206]; RGSt 66, S. 163 [164]; BGHSt 10, S. 208 [209]; Schünemann, FS-Pfeiffer, S. 475 ff.; Eb. Schmidt, LK I Rn. 20; Krauß, FS-Schaffstein, S. 425; Pieth, Beweisantrag, S. 274; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 392, 407; Hassemer, KrVjschr 1990, S. 269 f.; Gössel, Gutachten, C 25, 33). Umstritten ist jedoch, ob damit der traditionellen aristotelisch-scholastischen Adäquationstheorie ("Veritas est adaequatio rei et intellectus") eine grundsätzliche Absage zu erteilen ist, etwa zugunsten einer Diskurs- bzw. Konsensustheorie (Habermas, Wahrheitstheorien, S. 127 ff.). Zu den epistemologischen Problemen der Wahrheit im Strafprozeß vgl. Arth. Kaufmann, Kielwein-Colloquium, S. 15 ff.; ders., Jura 1993, S. 240; P.-A. Albrecht, NStZ 1983, S. 486 f.; SpendeI, JuS 1964, S. 465 ff.; J. Schmidt, JuS 1973, S. 204 ff.; Hetzer, Wahrheitsfindung, S. 19 ff.; Pieth, Beweisantrag, S.5, 274 ff.; Niethammer, FS-Sauer, S.27; Volk, FS-Salger, S. 411 ff.; Paulus, FS-Spendel, S. 687 ff. 86 Nicht verkannt wird hier, daß die Sachaufklärung im Strafverfahren ohnehin nicht auf die (ganze, ungeteilte) Wahrheit abzielt, sondern von vornherein nur an einem Ausschnitt aus der Wirklichkeit, nämlich allein an juristisch relevanten Tatsachen, interessiert ist. Deshalb geht es im Prozeß auch nicht um die Menschheitsfrage "Was ist Wahrheit", die Pontius Pi/atus angeblich Jesus gestellt hat (Johannes Kap. 18,38) und die in der Philosophie seit über zweitausend Jahren diskutiert wird. Im Strafverfahren werden Ziel und Umfang der Wahrheitssuche (im Rahmen der Anklage - § 155 Abs. 1 StPO) vom materiellen Recht bestimmt (vgl. AK/StPO-Maiwald, § 261 Rn. 17; Weigend, Deliktsopfer, S. 183), d.h. die materielle Wahrheit, die es im Prozeß aufzufinden gilt, ist die Wahrheit des materiellen Rechts. Die prozessuale Wahrheitsfrage ist ,juristisch überfärbt", es geht ausschließlich um eine rechtlich gefilterte Wahrheit und damit um einen "systemfunktionalen Wahrheitsbegrift"; vgl. van der Ven, FS-Peters, S. 463 ff.; Ostendorf, NJW 1978, S. 1348; Perron, Beweisantragsrecht, S.45; Volk, Wahrheit, S. 9 f., 18,24; ders., Prozeßvoraussetzungen, S. 194 f.; ders., FS-Salger, S. 411 ff. 87 Paulus, FS-Spendel, S. 696; WesseIs, JuS 1969, S. 6; Ostendorf, NJW 1978, S. 1347; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 392; KKiStPO-Herdegen, § 244 Rn. 18; Strate, DuR 1992, S. 280; Pieth, Beweisantrag, S. 274; Freund, Probleme, S. 1 und passim. 88 Volk, Wahrheit, S. 10. 89 Siehe unten B. I. 1. a) bb) (3). 90 Vgl. Freund, Probleme, S. 1 ff. u. passim; LR-Schäfer, Einl. Kap. 6 Rn. 4; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 2; Strate, DuR 1992, S. 280; Perron, Beweisantragsrecht, S. 72; Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 45/46. 91 So die Formulierung im Sondervotum zu BVerfDE 35, S. 41 (60). 92 Vgl. Paulus, FS-Spendel, S. 696. 93 Röhl, Rechtslehre, S. 532; ders., Procedural Justice, S. 67; zur Kompensation von "Wahrheitsdefiziten" durch "andere Gerechtigkeits-Interessen" bzw. ,,-werte" vgl. auch Volk, FS-Salger, S. 416 ff.

A. Aufgaben und Ziele des Strafverfahrensrechts

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Wenn die Richtigkeit des Ergebnisses nicht sichergestellt werden kann, sind zumindest hohe Anforderungen an das Verfahren zu stellen94 . Das Verfahren hat zwar keine alleinlegitimierende Funktion (frei nach der englischen Redensart: "Give hirn a fair trial and hang him")95 , aber doch immerhin eine mitlegitimierende Funktion96 • Die Entscheidung legitimiert sich sonach nicht allein durch das - nach menschlicher Erkenntnis stets zweifelhafte - Endergebnis, sondern auch durch das Verfahren selbst97 . Schließlich hat die Verfahrensgerechtigkeit auch aus der Sicht der Rechtsunterworfenen einen Eigenwert. Rechtssoziologische und sozialpsychologische Untersuchungen haben die subjektiv legitimierende Wirkung eines gerechten Verfahrens empirisch belegt: Die Akzeptanz der Entscheidung bei den Betroffenen wie in der Allgemeinheit steigt, wenn auch das Procedere selbst als gerecht eingestuft wird98 . Insoweit kann bereits das Verfahren spezial- wie generalpräventive99 Wirkungen entfalten lOo • 3. Strukturelemente prozeduraler Gerechtigkeit Es verbleibt die Frage, welche Verfahrensmodi geeignet sind, prozedurale Gerechtigkeit zu verwirklichen. Als Elemente prozeduraler Gerechtigkeit können vor allem die folgenden Grundsätze gelten 101 : Die im Gebot der JustizfOrPerron, Beweisantragsrecht, S. 52; ähnlich Strate, DuR 1992, S. 280 f Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1207. 96 Neumann, ZStW 101 (1989), S. 70 und Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 238, die a.a.O. zugleich eine alleinlegitimierende Funktion im Grundsatz ablehnen (ebenso Rieß, FS-Schäfer, S. 169; Henckel, Gerechtigkeitswert, S. 9 f.; H.-L. Schreiber, ZStW 88 [1976], S. 140; Rüping, Strafverfahren, S. 10; Gössel, Gutachten, C 24 f.; vgl. Röhl, ZfRSoz 1993, S. 19). 97 Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1205 f, 1209 f.; Röhl, Rechtslehre, S. 530, 532, der darauf hinweist, daß prozedurale Gerechtigkeit materielle Gerechtigkeit sogar teilweise ersetzen kann. 98 Röhl, ZfRSoz 1993, S. 7 ff. (m.w.N. auf zahlreiche US-amerikanische Untersuchungen); ders., Rechtslehre, S. 530 ff.; ders., Procedural Justice, S. 61 ff.; ähnliches berichtet Albert Schweitzer vom primitiven Rechtsdenken bei Naturvölkern (in: Zwischen Wasser und Urwald, S.72, zit. nach Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 281 f. Anm.l). 99 Im Sinne von positiver Generalprävention bzw. Integrationsprävention (vgl. hierzu Hassemer, Einfiihrung, S. 324 ff. m.w.N.). 100 Siehe unten B. I. 1. b); zur Resozialisierung als Prozeßziel allgemein: Roxin, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 8; zur positiven Generalprävention ders., Gesamtkonzept, S.21; Weigend, Deliktsopfer, S. 194 f.; Perron, ZStW 108 (1996), S. 153; Fischer, NStZ 1997, S. 214. 101 R. Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 70 ff. (Meinungsüberblick), S. 106 ff. (Analyse prozessualer Grundsätze auf ihren prozeduralen Gerechtigkeitsgehalt); außerdem Neumann, ZStW 101 (1989), S. 68 f; Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 238 ff.; 94

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

migkeit des Verfahrens enthaltenen Beschränkungen der Wahrheitserforschung, die richterliche Unabhängigkeit, das Recht des Beschuldigten auf Beistand eines Verteidigers, das rechtliche Gehör, die prozessuale Waffengleichheit, die Öffentlichkeit des Verfahrens, die Einrichtung eines gerichtlichen Instanzenzuges und - worauf noch zurückzukommen sein wird - das Beweisantragsrecht lO2 • Ein Gebot prozeduraler Gerechtigkeit ist auch die Schaffung von Rechtssicherheit lO3 • Ginge es im Strafverfahren allein um die Herstellung fmaler Ergebnisgerechtigkeit, dann mUßte jedes fehlerhafte Urteil im Interesse einer materiell richtigen Entscheidung zu korrigieren sein, und zwar ohne zeitliche Limitierung 104 • Der hierdurch eintretende, unbegrenzte Schwebezustand - ein "processus ad infmitum,,105 - wäre jedoch filr den Abgeurteilten wie filr die Allgemeinheit, aber auch filr den durch die Straftat Verletzten, unerträglich lO6 • Rasch klare Verhältnisse zu schaffen und ein fi1r allemal die Verfahrensbeendigung herbeizufilhren, ist deshalb ebenso ein Ausdruck von Verfahrensgerechtigkeit wie bestimmte Gebote der Verfahresdurchführung. Der Gesetzgeber hat aus diesem Grund mit einer - durch Fristen, Formen und Zuständigkeiten - beschränkten Zulassung von Rechtsmitteln die Möglichkeiten fi1r eine Fehlerkorrektur stark beschnitten. Mit dem Institut der Rechtskraft wird der materiellen Gerechtigkeit der Weg also zunächst verstellt l07 • Andererseits können im Ergebnis ungerechte Urteile jedoch keine schrankenlose Bestandskraft haben. Die Folge wäre ansonsten "Unrechtssicherheit,,108. Deshalb wird unter engen Voraussetzungen, wenn das Ergebnis unzumutbar erscheint, zugun-

ders., FS-Larenz, S. 298; Bottke, Verfahrensgerechtigkeit, S. 64; Geerds, SchlHA 1964, S. 60 ff.; Weigend, Deliktsopfer, S. 194; Denninger, HbStR V, § 113 Rn. 29. 102 Hierzu unten B. I. 1. b). 103 Geerds, SchlHA 1964, S. 65. In der auf Radbruch zurückgehenden Trias ist die Rechtssicherheit (neben Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit) Bestandteil der "Rechtsidee", die als "Wertidee" der Rechtssetzung und Rechtsanwendung ein Leitprinzip vorgibt (Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 168 ff., 280; Hollerbach, Art. "Gerechtigkeit", in: Staats lexikon, Bd. 2, Sp. 901 f.; Henkel, Rechtsphilosophie, S. 389 f., 436 ff.). Aus dem Nebeneinander der drei Elemente der Rechtsidee folgt die häufig behauptete Möglichkeit eines Gegensatzes zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit (Henkel, Strafverfahrensrecht [1953], S. 441; ders., Rechtsphilosophie, S. 445 ff.; Peters, Strafprozeß, S. 83 f.; Hollerbach, a.a.O., Sp. 902). Nach dem hier vertretenen Ansatz konfligieren jedoch zwei unterschiedliche Ausdrucksformen der Gerechtigkeit (materielle und prozedurale). 104 Stock, FS-Mezger, S. 447; Schmidhäuser, FS-Eb.Schmidt, S. 513. 105 Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 196. 106 Geerds, SchlHA 1964, S. 65; Stock, FS-Mezger, S. 448 ff.; Henkel, Strafverfahrensrecht (1953), S. 440 f.; Eb. Schmidt, LK I Rn. 283, 312; Schmidhäuser, FS-Eb. Schmidt, S. 519. 107 Stock, FS-Mezger, S. 447. 108 Stock, FS-Mezger, S. 451 Fn. 1.

A. Aufgaben und Ziele des Strafverfahrensrechts

203

sten der materiellen Gerechtigkeit ein Ventil geöffnet und die Nachprüfung der Entscheidung im Wiederaufnahmeverfahren ermöglicht. Im Falle der Wiederaufnahme (vgl. § 370 Abs. 2 StPO) triumphiert also die materielle über die prozedurale Gerechtigkeit, anderenfalls ist es umgekehrt. Auch hier zeigt sich, daß sich materielle und prozedurale Gerechtigkeit durchaus widersprechen können und im Einzelfall - in sogleich unter 4. zu erörternder Weise - gegeneinander abgewogen werden müssen lO9 • Eine solche Abwägung hat der Gesetzgeber mit den enumerativen Wiederaufnahmegründen (§§ 359, 362 StPO) getroffen. Auch die bereits unter dem Aspekt der Justizilirmigkeit des Verfahrens erwähnten Schutznormen, die um vorzugsWÜTdiger Gegeninteressen willen die prozessuale Wahrheitssuche begrenzen, sind das Resultat einer Abwägung. 4. Resümee

Die unter 2. genannten Gesichtspunkte belegen die Emanzipation des Verfahrensrechts vom materiellen Recht 110 : Nicht allein die Endentscheidung, das fmale "Was", ist von Bedeutung, sondern auch das Verfahren der Ergebnisfmdung selbst, das modale "Wie,,1II . Daher ist ein Gerechtigkeitsbegriff, der sich allein auf die fmal-materielle Endgerechtigkeit bezieht, zu eng ll2 . Strafrecht und Strafverfahrensrecht stellen nicht nur faktisch eine Wirkungseinheit "staatliches Strafen" dar 113 , sondern ergänzen sich auch in ihren normativen Zielvorgaben 114: Es geht um die Verwirklichung unterschiedlicher Teilausschnitte der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit als Verfahrensziel umschließt deshalb sowohl die Forderung nach materieller Ergebnisgerechtigkeit als auch das Gebot, durch bestimmte Strukturanforderun109 Neumann, ZStW 101 (1989), S. 73 f., unklar jedoch S. 65. Die Rechtssicherheit kann nicht nur mit der materiellen Ergebnisgerechtigkeit, sondern auch mit den anderen Geboten prozeduraler Gerechtigkeit in Widerspruch treten, etwa wenn an der prozeßordnungswidrig zustandegekommenen Entscheidung aus Gründen der Rechssicherheit festgehalten wird. 110 Daß die StPO auch genuin verfahrensrechtliche, vom materiellen Recht unabhängige Wertenscheidungen trifft, ist heute anerkannt (Perron, Beweisantragsrecht, S. 39; AKJStPO-Hassemer, vor § 1 Rn. 342 ff.; ders., Einführung, S. 119; Wolter, GA 1985, S. 53; Gollwitzer, FS-Kleinknecht, S. 149; Rieß, FS-Schäfer, S. 171); vgl. auch Geppert, DRiZ 1992, S. 414: "Das 'Wie' einer Strafverfolgung ist ebenso wichtig wie das erzielte Ergebnis"; zustimmend Ostendorf, DRiZ 1993, S. 198. 111 Ähnlich R. Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 141. 112 Geerds, SchlHA 1964, S. 57. 113 Perron, Beweisantragsrecht, S. 39 f.; Zipf, Strafprozeßrecht, S. 19; Peters, Strafprozeß, S. 7; AKJStPO-Hassemer, vor § 1 Rn. 340; Hassemer, StV 1982, S. 278. 114 Vgl. zum Stichwort Rechtsfriedensschaffung: Momsen, Verfahrensfehler, S. 342, 399 f., 402, und Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1205; zur Integrationsprävention: Weigend, Deliktsopfer, S. 194 f.

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

gen an das Verfahren - siehe oben 3. - prozedurale Gerechtigkeit herzustellen. Beide "Gerechtigkeiten", die materielle wie die prozedurale Komponente, sind als Emanationen der umfassenden Gerechtigkeitsidee 115 anzusehen l16 . Das Strafverfahren hat somit eine "rechtsethische Doppelfunktionalität,,117 : Der Prozeß ist nicht nur Vermittler von Gerechtigkeit, sondern auch ein ihr eigener Bestandteil 118 . Bei einem Wertkonflikt zwischen den beiden Elementen der Gerechtigkeitsidee hat eine Abwägung im Wege "praktischer Konkordanz,,119 zu erfolgen: Es gibt keinen apriorischen Vorrang, sondern es gilt das Prinzip relativer Wertoptimierung, das heißt bestmöglicher beiderseitiger Verwirklichung l20 . Ein in diesem Sinne sachgemäßer Ausgleich zwischen prozeduraler und materieller Gerechtigkeit schafft schließlich Rechtsjrieden 121 •

V. Generalziel: Rechtsfrieden Rechtsfrieden ist ein normativer Begriff, der auf einer höheren systematischen Ebene die bestehenden Antagonismen dialektisch überwindet 122 und damit einen Idealwert beschreibt: Rechtsfrieden kann nicht als empirisch evaluier115 Vgl. Henkel, Rechtsphilosophie, S. 417; BVerfGE 3, S. 225 (233); 27, S. 18 (29); 37, S. 57 (65); 45, S. 187 (259/260). 116 Ähnlich Geerds, SchlHA 1964, S. 57,66; Henckel, Gerechtigkeitswert, S. 7,25; R. Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 211; Hollerbach, Art. "Gerechtigkeit", in: Staatslexikon, Bd.2, Sp. 901, sieht in der Verfahrensgerechtigkeit einen besonderen Anwendungsbereich der allgemeinen Gerechtigkeitsidee. 117 Vgl. R. Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 98. 118 Robbers, Gerechtigkeit, S. 59, unter Hinweis auf Sondervotum zu BVerfGE 35, S. 41 (52), wo dem Verfahren selbst eine ethische Affinität zugeschrieben wird. 119 Der Terminus von der praktischen Konkordanz stammt aus dem Verfassungsrecht: Kollidierende Verfassungsgüter sollen dergestalt zueinander geordnet werden, daß die beteiligten Interessen zu jeweils (relativ) optimaler Entfaltung kommen. Dazu muß die Grenzziehung verhältnismäßig sein; Einschränkungen dürfen nicht weitergehen als notwendig ist, um die Konkordanz beider Rechtsgüter herzustellen (Hesse, Grundzüge, Rn. 317 ff.; vgl. auch Alexy, Theorie, der sich mit der Lösung von "Prinzipienkollisionen" [So 78 fI] und mit einem dem Prinzip der praktischen Konkordanz entsprechenden Abwägungsmodell [So 143 ff., 152] befaßt). 120 Nach BVerfGE 6, S. 55 (72); 43, S. 154 (167), gilt im Verfassungsrecht die Auslegungsregel, daß "derjenigen Auslegung der Vorrang zu geben [ist], die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltet", sog. "Prinzip optimaler Wirksamkeit". 121 Rechtsfrieden ist somit nicht mit Rechtssicherheit identisch, wie es in der älteren Literatur z.T. angenommen wurde (z.B. Niese, Prozeßhandlungen, S. 111; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 169; Henkel, Strafverfahrensrecht [1953], S. 441; richtig ders., Rechtsphilosophie, S. 441 f.: Rechtssicherheit als ein der Friedenssicherung dienendes Element); vgl. auch Momsen, Verfahrensfehler, S. 332,339 ff., 362 ff., 399 ff. 122 Schmidhäuser, FS-Eb.Schmidt, S.521; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 198; Momsen, Verfahrensfehler, S. 339 ff.; Hassemer, StV 1982, S. 277.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

205

bares gesellschaftliches Faktum verstanden, sondern nur normativ interpretiert werden als ein Zustand, "bei dem von der Gemeinschaft vernünftigerweise erwartet werden kann, daß sie sich über den Verdacht einer Straftat beruhige,,123 . In der Herstellung von Rechtsfrieden, besteht somit das ideale Generalziel des Strafverfahrensrechts 124 . Zusammenfassend läßt sich also zu den Zielen des Strafverfahrensrechts sagen: Hauptziel ist die Wiederherstellung von Rechtsfrieden. Er ist das Produkt von - unter Umständen konfligierenden - Unterzielen. Um die friedensstiftende Wirkung zu erzielen, muß nämlich einerseits der wahre Sachverhalt bestmöglich ermittelt werden, um das materielle Recht und damit materielle Gerechtigkeit zu verwirklichen, andererseits muß das Verfahren selbst bestimmten Anforderungen prozeduraler Gerechtigkeit entsprechen. Die beiden Teilkomponenten der Gerechtigkeitsidee können parallel laufen, sich aber auch widersprechen: Im Konfliktsfalle hat eine Abwägung im Wege praktischer Konkordanz stattzufmden.

B. Die Bedeutung des Beweisantragsrechts im System der Verfahrensziele Vor dem Hintergrund der allgemeinen Ziele des Strafverfahrensrechts lassen sich nun die besonderen verfahrensrechtlichen Funktionen und die verfassungsrechtliche Relevanz des derzeit geltenden Beweisantragsrechts bestimmen. I. Die verfahrensrechtlichen Funktionen des Beweisantragsrechts

In verfahrensrechtlicher Hinsicht hat das Beweisantragsrecht in erster Linie drei Funktionen: Es bietet dem Antragsberechtigten zunächst die Möglichkeit, bestimmenden Einfluß auf das Beweisverfahren zu nehmen 125 . Darüber hinaus hat der Beweisantrag auch im Falle seiner Ablehnung eine (lnformations-) Funktion filr den Antragsteller dadurch, daß der über ihn befmdende Gerichtsbeschluß frühzeitige Aufschlüsse über die richterliche Beurteilung der Beweislage gibe 26 . Bedeutung hat das Beweisantragsrecht schließlich für die Revisionsmöglichkeiten 127 .

123 Schmidhäuser, FS-Eb.Schmidt, S. 521 f.; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 200 f.; Momsen, Verfahrensfehler, S. 339; etwas abweichend Weigend, Deliktsopfer, S. 207 ff., 213 f., 215 ff. 124 Schmidhäuser, FS-Eb.Schmidt, S. 521 f.; SKiStPO-Wolter, vor § 151 Rn. 49; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1204 f. 125 Dazu sogleich unter l. 126 Dazu unten 2 a). 127 Dazu unten 2 b).

206

2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

1. Mitgestaltungsmöglichkeit im Beweisverfahren

Der Beweisantrag ist - im Sinne der auf Goldschmidt zurückgehenden Klassifizierung 128 - eine an das Gericht adressierte Erwirkungshandlung, mit der eine gerichtliche Entscheidung bestimmten Inhaltes (hier: Anordnung und Vornahme der Beweiserhebung) herbeigefUhrt werden SOll129 . Der gegenüber einer solchen Erwirkungshandlung anzulegende Entscheidungsmaßstab wird vom Gesetz nicht positiv nach bestimmten Zulässigkeits- und Begründetheitskriterien formuliert, sondern als Regel-Ausnahme-Satz J3O • Das Gericht hat dem Antrag zu entsprechen und den Beweis zu erheben (Regel), es sei denn, es liegt einer der gesetzlich fixierten, enumerativen Ablehnungsgründe vor (Ausnahme)J3J ; die Begründungslast hierfiir liegt dann beim Gericht. Der Beweisantrag präsentiert sich so als ein Instrument, mit dem der Antragsteller in erheblichem Maße den Ermittlungsgang dirigieren und mitgestaltenden Einfluß auf den Umfang der Beweisaufnahme zur Tat-, Schuld- und Rechtsfolgenfrage nehmen kann J32 • Von Bedeutung ist diese Befugnis vor allem fiir die Angeklagtenseite. Für die Staatsanwaltschaft, ebenfalls antragsberechtigt, hat das Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung dagegen weit geringere praktische Relevanz l33 . Das liegt zunächst daran, daß "ihre" in der Anklage benannten Beweismittel (§ 200 Abs. 1 S.2 StPO) in der Regel schon vom Gericht geladen (§ 214 Abs. 1 StPO) bzw. herbeigeschafft (§ 214 Abs. 4 S. 2 StPO) werden, weil das Gericht mangels eigener Ermittlungstätigkeit auf das Ermittlungsergebnis der Staatsanwaltschaft angewiesen ist 134 . Ohnehin fließt die staatsanwaltschaftliche TatperspekGoldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage (1925), S. 364 ff., 381 ff., 432 ff. Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 34; Peters, Strafprozeß, S. 252; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 159 f.; KMR-Paulus, § 244 Rn. 382; allg. Eb. Schmidt, LK I, Rn. 213 ff.; LR-Schäfer, Ein!. Kap. 10 Rn. 3 ff. 130 Kol/hosser, Stellung, S. 230 f.; Schmidt-Hieber, JuS 1985, S. 292; Grünwald, Beweisrecht, S. 91. 13l BGHSt 29, S. 149 (151); AKlStPO-Schöch, § 244 Rn. 73; KMR-Paulus, § 244 Rn. 415 ff.; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 545; LR-Gol/witzer, § 244 Rn. 179; Thole, Scheinbeweisantrag, S. 196. l32 Ob der Beweisantrag lediglich die Funktion eines Informationsträgers hat, der vermittelt über die Aufklärungspflicht (Vergrößerung des Aufklärungshorizontes durch Mitteilung unbekannten Beweismaterials) den Beweisaufnahmeumfang mitbestimmt oder aber einen über § 244 Abs. 2 StPO hinausgehenden Beweiserhebungszwang begrundet, ist umstritten (vg!. hierzu unten a). Da aber auch die bloße Mitteilung noch unbekannten Beweismaterials - durch Aktualisierung der Aufklärungspflicht - den Beweisaufnahmeumfang faktisch mitbestimmt, ist eine "gestaltende" Einwirkung auf die Beweisaufnahme nach bei den Ansichten gegeben. 133 Nierwetberg, Jura 1984, S. 633; Gol/witzer, JR 1991, S. 473. 134 Dahs, Handbuch, Rn. 578. 128

129

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

207

tive bevorzugt in die Sachverhaltsrekonstruktion ein, und zwar systembedingt kraft ihrer Verfahrens- und Defmitionshoheit im Ermittlungsverfahren. Denn bereits in diesem frühen Stadium legt die Staatsanwaltschaft weitgehend die Ermittlungsrichtung fest, die sich dann mit "vorurteilsbildender Wirkung,,135 fi1r das Gericht in der Anklage und den Ermittlungsakten perpetuiert (vgl. § 199 Abs. 2 StPO)136. Art, Umfang und Würdigung der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung werden auf diese Weise in erheblichem Maße vorstrukturiert 137 . Der Beschuldigte hat demgegenüber kein äquivalentes Pendant im Vorverfahren, um frühzeitig einem etwaigen Fehlverlauf der Ermittlungen entgegenzusteuern, obwohl sich häufig - wie die Untersuchungen von Peters zum Fehlurteil gezeigt haben - ein in die falsche Richtung laufendes Verfahren später in der Hauptverhandlung nicht mehr umlenken läßt 138 . Die in diesem Stadium durch § 163 a Abs. 2 StP0 139 eingeräumte Rechtsposition ist äußerst schwach ausgebildet und von nur geringer praktischer Bedeutung: Beantragte Beweise brauchen nur erhoben zu werden, wenn sie nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft "von Bedeutung" sind. Beurteilungsmaßstab ist die Autklärungspflicht nach § 160 StP0 140 . Ablehnende Entscheidungen sind nicht anfechtbar 141 . Der Antragsteller braucht nach traditioneller Ansicht nicht einmal beschieden, geschweige denn begründet ab135 Perron, Beweisantragsrecht, S. 148; zum sozial- und informationspsychologischen Hintergrund: Krekeler, Beweiserhebungsanspruch, S. 219 ff.; Schünemann, GA 1978, S. 167, 170 ff. ("Erkenntnistrübung durch Vorbefangenheit"); ders., StV 1993, S. 608; Frohn, GA 1984, S. 569 f.; Malek, Verteidigung, Rn. 283. 136 Zur "Fernwirkung" des Ermittlungsverfahrens Perron, Beweisantragsrecht, S. 82, 126 f., 146 ff., 156, 172,276,279,503; ders., JZ 1994, S. 830 Fn. 72 m.w.N.; Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 12; Bernsmann, ZRP 1994, S.331; Schreiber, FS-Baumann, S. 384; Krekeler, Beweiserhebungsanspruch, S. 217 ff. m.w.N.; Peters, FS-Würtenberger, S. 84; ders., Fehlerquellen, Bd. 2, S. 195; Beulke, Reform, S. 46; Quedenfeld, FGPeters, S.230; Rieß, FS-Schäfer, S. 207 f.; KleinknechtIMeyer-Goßner, § 163 Rn. 3 a. E.; Schulz, Stellung, S. 92. Die empirischen Untersuchungen von Peters zum Fehlurteil im Strafprozeß zeigen, wie sich Aufklärungsmängel der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen bis in das Urteil fortsetzen (Peters, Fehlerquellen, Bd. 2, S. 195 ff., 226 ff.). 137 E. Müller, Gedanken, S. 64. 138 Peters, Fehlerquellen, Bd. 2, S. 195; Boetticher, FS-Boujong, S. 708 f.; Rieß, FSSchäfer, S. 208; H.-L. Schreiber, FS-Baumann, S. 384. 139 Zu § 163 a Abs. 2 StPO: H.-L. Schreiber, FS-Baumann, S. 386 ff.; Krekeler, Beweiserhebungsanspruch, S. 25 ff. 140 AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 336; Quedenfeld, FG-Peters, S. 218; Perron, Beweisantragsrecht, S. 171 ff. (dazu auch S. 296 f., und ders., ZStW 108 [1996], S. 140). 141 Vgl. AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S.337; H.-L. Schreiber, FS-Baumann, S.387.

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2. Teil, I. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

gewiesen zu werden 142 . Darüber hinaus fehlt es häufig an der Aktenkenntnis des Verteidigers, ohne die eine BeweisantragsteIlung einem "Schuß in den Nebel" gleicht, der - indem er be- statt entlastende Fakten zutage fördert - nicht nur daneben, sondern auch nach hinten losgehen kann 143. Die notwendige unbeschränkte Akteneinsicht erhält der Verteidiger aber nach § 147 Abs. 2 StPO nicht selten erst dann, wenn die Ermittlungen abgschlossen sind, sich ein bestimmtes Sachverhaltsbild also bereits verfestigt hae 44 . Deshalb ist es der Angeklagtenseite allein in der Hauptverhandlung möglich, sich mit Beweisanträgen effektiv an der Herstellung der empirischen Beweisbasis zu beteiligen l45 . Das strenge Beweisantragsrecht der §§ 244 Abs.3 ff., 245 Abs. 2 StPO stellt insoweit einen gewissen Ausgleich fiir das Übergewicht der Staatsanwaltschaft im stark inquisitorisch geprägten Ermittlungsverfahren dar l46 . Dabei überragt es bei weitem alle anderen Möglichkeiten der Angeklagtenseite, auf die Sammlung des Beweisstoffs und den richterlichen Erkenntnisvorgang einzuwirken l47 : Die Aussage des Angeklagten zur Sache (§ 243 Abs. 4 StPO), das Fragerecht bei und das Erklärungsrecht nach jeder Beweiserhebung (§§ 240 Abs. 2,257 Abs. 1 StPO), das Recht zum Schlußvortrag (§ 258 Abs. 1 StPO) und das letzte Wort des Angeklagten (§ 258 Abs. 3 StPO), treten demgegenüber zurück. Nicht ohne Grund wird die durch das Beweisantragsrecht gewährte Rechtsstellung als das "wertvollste Recht des Angeklagten,,148 und die "stärkste Machtposition der Verteidigung überhaupt" 149 bezeichnet. Der konstatierte Befund, daß das Beweisantragsrecht die wohl "schärfste Waffe der Verteidigung,,150 darstellt, dürfte unzweifelhaft sein. Der mit dieser Aussage verbundene Erkenntnisgewinn ist allerdings im hier interessierenden 142 So etwaAlsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 337; siehe weiter Perron, Beweisantragsrecht, S. 168; zu Refonnvorschlägen: Rieß, FS-Schäfer, S.21O, und Wolter, Aspekte, S. 90. 143 Sarstedt, DAR 1964, S.307; Quedenfeld, FG-Peters, S. 219; vgl. auch Malek, Verteidigung, Rn. 268. 144 Quedenfeld, FG-Peters, S. 2 I 9. 145 Vgl. U/senheimer, AnwBI 1983, S. 377. 146 Fezer, StV 1995, S. 268; ter Veen, Beweisumfang, S. 220; Bandiseh, StV 1994, S. 159; Köhler, NJW 1979, S. 348; Weßlau, DuR 1991, S. 390; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 174; Weigend, Referat, M 29; LR-Schäfer, Einl. Kap. 6 Rn. 15; Bernsmann, ZRP 1994, S. 331; Leisner, Beweisumfang, S. 126 ff.; DAV-Stellungnahme, AnwBI 1982, S.299. 147 KMR-Paulus, § 244 Rn. 368; Nierwetberg, Jura 1984, S. 631; Schünemann, JA 1982, S. 127. 148 Oetker, GS 90 (1924), S. 349. 149 Schünemann, Gutachten fUr den 58. DJT (München 1990), B 48; ähnlich Weßlau, DuR 1991, S. 389; Resolution 6. Strafverteidigertag (1982), StV 1982, S. 302 ("wichtigste Waffe des Verteidigers im Kampf um den Prozeßausgang"). ISO AK/StPO-Schöch, § 244 Rn. 157.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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Zusammenhang gering. Denn gerade weil die normative Berechtigung des Beweisantragsrechts bestritten wird, ist die Feststellung einer faktischen Einwirkungsmöglichkeit auf das Beweisverfahren nicht ausreichend, um dieses Rechtsinstitut zu rechtfertigen. Daß sich aus dem Sein kein Sollen ableiten läßt, hat bereits Kant nachgewiesen 151 : Allein aus dem Umstand, daß etwas faktisch wirkt, läßt sich nicht begründen, daß es so wirken SOll152. Dreh- und Angelpunkt der Diskussion um die Beibehaltung des Beweisantragsrechts muß deshalb die normative Frage nach der sachlichen Legitimation fiir dieses Recht zur Beteiligung an der Sammlung des Beweisstoffs sein. Hier ist zunächst an die Ziele des Strafverfahrensrechts zu erinnern. Wie bereits gezeigt, beziehen die von der Strafprozeßordnung zur Verfiigung gestellten Rechtsinstitute und Einzelbefugnisse ihre Legitimation aus ihrer Funktion, den Zielen des Strafverfahrensrechts zu dienen. a) Der Beitrag des Beweisantragsrechts zur Wahrheitsfmdung Als eines der Verfahrensziele ist die Erforschung der Wahrheit bestimmt worden: Denn die Aufklärung des tatsächlichen Sachverhaltes bildet die Grundlage fiir die Verwirklichung des materiellen Strafrechts und ist damit unerläßliche Voraussetzung fiir die Herstellung materieller Gerechtigkeit. Demgemäß hat das Beweisantragsrecht der §§ 244 Abs. 3 ff., 245 Abs. 2 StPO eine normative Berechtigung, wenn es der Wahrheitserforschung dient. Hierfiir scheint zunächst zu sprechen, daß die Wahrheitsermittlung nach Ansicht der Rechtsprechung und Literatur Ziel des gesamten Beweisverfahrens ist l53 , so daß es naheliegt, die primäre Aufgabe des - hierin eingebetteten Beweisantragsrechts gleichfalls darin zu sehen, an der Erforschung des Sachverhaltes mitzuwirken 154. Eine derartige Aufgabenzuweisung mag zunächst überraschend erscheinen, denn schließlich ist das Gericht bereits durch das von Amts wegen bestehende Aufklärungsgebot zur Wahrheitserforschung verpflichtet: Zeichnet sich das deutsche Amtsermittlungsverfahren - anders als der angloamerikanische Strafprozeß, wo die Beweiserhebung Sache der Anklagevertre-

151 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Akademieausgabe, S. 389, 408 ff., 442 (Sperrung im Original): "Empirische Principien taugen überall nicht dazu, um moralische Gesetze darauf zu gründen." 152 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 97 ff.; vgl. auch Henkel, Rechtsphilosophie, S. 20 ff., 27. 153 BGHSt 17, S. 28 (30); 17, S. 337 (343); Alsberg, JW 1922, S. 258; Simader, Ablehnung, S. 8; Krauß, FS-Schaffstein, S. 411; Bergmann, Beweisanregung, S. 1; Julius, Unerreichbarkeit, S. 86; Thole, Scheinbeweisantrag, S. 18; Perron, Beweisantragsrecht, S. 40; Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 12 Rn. 44, 47. 154 Nierwetberg, Jura 1984, S. 631; Thole, Scheinbeweisantrag, S. 18.

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Schatz

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

tung und der Verteidigung istiSS - doch gerade dadurch aus, daß der Richter schon von sich aus verpflichtet ist, zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme auf alle entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken (§ 244 Abs. 2 StPO). Der Tatrichter muß deshalb auch ohne Antrag und selbst gegen den ausdrücklichen Willen des Angeklagten entlastende oder gegen den Willen der Staatsanwaltschaft belastende Beweise erheben, wenn er das fiir erforderlich hält l56 . Diese Beweiserhebungspflicht reicht so weit, wie die dem Gericht bekanntgewordenen Tatsachen zum Gebrauch weiterer Beweismittel drängen oder ihn jedenfalls nahelegen l57 . Das soll nach der bisherigen Rechtsprechung schon dann der Fall sein, wenn auch nur die entfernte Möglichkeit einer Änderung der durch die bisherige Beweisaufnahme begründeten Vorstellung von dem zu beurteilenden Sachverhalt besteht l58 . In diesem - zumindest verbal weitgesteckten - Rahmen besteht ein unverzichtbarer Rechtsanspruch - ein subjektiv-öffentliches Recht l59 - auf Beweiserhebung l60 . Dieser Befund zur Amtsautklärungspflicht provoziert die Frage, die Gössel den Teilnehmern des 60. Deutschen Juristentages gestellt hat: "Ja, mein Gott, was kann man denn noch darüber hinaus tun

?,,161

Wenn bereits die Amtsautklärungspflicht einen Anspruch auf Erhebung aller relevanten Beweise begründet, mag tatsächlich bei unbefangener Betrachtung ein weiteres Recht der Verfahrensbeteiligten, durch Beweisanträge den Gang und den Umfang der Beweisaufnahme mitzugestalten, überflüssig erscheinen l62 : Entweder zielt das Beweisantragsrecht auf entscheidungsrelevante Beweiserhebungen. Dann müßte es entbehrlich sein, da bezüglich aller rechtlich Siehe oben 1. Teil: A. 11. 2. BGH StV 1981, S. 164 (165); Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 21; Maul, FG-Peters, S. 51; KKlStPO-Herdegen, § 244 Rn. 20; ders., NStZ 1984, S. 97; Maatz, FS-Remmers, S. 578; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 177. 157 Siehe unten bb) (2) (b). 158 BGHSt 23, s. 176 (188); 30, S. 131 (143); BGH StV 1981, S. 164 (165); BGH NStZ 1990, S. 384 (384); BGH NStZ 1991, S. 399 (399); offengelassen in BGHSt 40, S. 3 ff. (wo die entscheidende SteHe jedoch gerade nicht abgedruckt wurde) = NStZ 1994, S. 247 f. m. Anm. Widmaier = StV 1994, S. 169 ff. m. Anm. Strate. 159 Die Arntsaufklärungsptlicht bietet dem Angeklagten also mehr als lediglich einen begünstigenden Rechtsreflex des objektiven Rechts (Schulz, GA 1981, S. 314; zur Abgrenzung Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 683 ff.). 160 Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S.21, 23; Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 25, 30, 31; ders., NJW 1996, S. 27; ders., FS-Boujong, S. 785; ders., Revision, § 10 Rn. 78; Scheffler, NJW 1994, S. 2194; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 3; Voigtel, Freibeweis, S. 252. Die korrespondierende, auf das Gericht bezogene Ptlichtenseite wird von BGHSt I, S. 94 (96) und BGH GSSt 32, S. 115 (122 f.), betont. 161 Diskussion, VerhDJT 1994, Bd. II/2, M 128. 162 Vgl. Schulz, Stellung, S. \05. 155

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B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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zulässigen und praktisch möglichen Ermittlungen bereits die Amtsaufklärungspflicht eingreift. Oder aber es richtet sich auf Beweiserhebungen außerhalb des durch § 244 Abs. 2 StPO gebotenen Aufklärungsumfanges, also auf solche, die fiir die Entscheidung ohne Bedeutung sind: Dann wäre es unnütz und diente nur der Verfahrensverzögerung. aa) Das Verhältnis von Beweisantragsrecht und Amtsaufklärungspflicht Damit stellt sich hier - das heißt im Hinblick auf das Verfahrensziel "Wahrheitserforschung" - die Frage, welche Funktion das Beweisantragsrecht neben der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht hat. Die Bedeutung des Nebeneinanders beider Institute ist umstritten. (1) Die "Inkongruenz/ehre"

Die auf Alsberg 163 zurückgehende, wohl überwiegende Ansicht in der Literatur vertritt die Auffassung, daß das Beweisantragsrecht über den Umfang der von Amts wegen gebotenen Sachaufklärung hinausgeht und das Tatgericht zu einem "Mehr" an Aufklärung verpflichtet l64 • Mit einem Beweisantrag könne Alsberg, Beweisantrag, S. 12 f, 43. Vertreter dieser Meinungsgruppe: Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 29 t1, 65, 73, 88, 371, 412, 868; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 244 Rn. 12; Simader, Ablehnung, S. 24 ff.; Stützei, Beweisantrag, S. 2 f, 5, 9; H.-J. Bruns, DR 1940, S. 2042, 2047; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 43 Rn. 4; ders., Strafprozeßrecht, Nr. 321, 505; Schroeder, Strafprozeßrecht, Rn. 246; PfeifferlFischer, § 244 Rn. 13; Leisner, Umfang, S. 50 f; Kühne, Strafprozeßlehre, Rn. 438 a.E.; Gatzweiler/Mehle, Hauptverhandlung, § 9 Rn. 249; Rieß, JR 1975, S.228; Rüping, Strafverfahren, S. 132; HKJStPO-Krehl, § 420 Rn. 5; HKJStPO-Julius, § 244 Rn. 2; ders., NStZ 1986, S. 62 f.; ders., Unerreichbarkeit, S. 108 f., 244; ders., MDR 1989, S. 118; HKJStPO-Kurth, § 384 Rn. 12; Greiser, JA 1983, S. 432; Nierwetberg, Jura 1984, S. 631, 637; LR-Schäfer, Ein!. Kap. 13 Rn. 72; Hellmann, Strafprozeßrecht, S. 237; Eb. Schmidt, LK 11, Vorbem. zu §§ 244256, Rn. 22 f.; Sarstedt, DAR 1964, S.308; Grunsky, Grundlagen, S.442; Böttcher/ Mayer, NStZ 1993, S. 155; AKJStPO-Schöch, § 244 Rn. 28, 156; AKJStPO-Rössner, § 384 Rn. 8; AKJStPO-Loos, § 420 Rn. 21; Malek, Verteidigung, Rn. 289; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 1557; Quedenfold, FG-Peters, S. 228 f; Schneidewin, ReichsgerichtFS, S. 329/330; H.-J. Klee, DJ 1937, S. 1386, 1388; Schmidt-Hieber, JuS 1985, S. 292; Wohlers, StV 1997, S. 570; KKJStPO-Pelchen, § 384 Rn. 3; Kudlich, JuS 1997, S. 508; Thole, Scheinbeweisantrag, S.44, 183, 190, 196 (unklar S. 188 Fn.463); Hoffmann, Zeuge, S. 88 ff.; Holz, Beweiserhebungsumfang, S. 14 ff.; Foth, JR 1996, S. 99 f.; Jerouschek, GA 1992, S. 503; SKJStPO-Schlüchter, § 244 Rn. 52; dies., Strafverfahren, Rn. 544 Fn. 505; dies., Weniger ist mehr, S. 45; dies., FS-Spendel, S. 745 f.; dies., GA 1994, S. 411 f.; Grünwald, Beweisrecht, S. 106 f; Schellenberg, Hauptverhandlung, S. 137; KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 42; ders., NStZ 1984, S. 99; ders., Beweisantragsrecht, S. 30; ders., NStZ 1995, S. 202; ders., NJW 1996, S. 28; Zipf, Strafprozeßrecht, S. 182; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 59, 119; Cloeren, Strafbarkeit, S. 55; Maatz, FS-Remmers, S. 580; Weigend, Deliktsopfer, S. 512; ders., Referat, M 29 Fn. 87; Hie163

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

das Gericht dazu gezwungen werden, über die von ihm fiir erforderlich und ausreichend angesehene Beweisaufnahme hinauszugehen, also über Tatsachenbehauptungen Beweis zu erheben, von deren Gegenteil es bereits überzeugt ist. Im Rahmen der Amtsaufklärungspflicht sollen demgegenüber weitergehende Beweisantizipationsmöglichkeiten bestehen 165 . Hier dürfe der Tatrichter einen potentiellen Beweis bereits dann übergehen, wenn keine "begründeten Zweifel" an der Richtigkeit der bereits festgestellten Tatsache mehr bestehen l66 . Während also der Ablehnungsgrund des § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 3 StPO eine Zurückweisung nur bei Bewiesensein der beantragten Beweistatsache gestattet, kann im Bereich der Amtsaufklärungspflicht unter Umständen schon das Bewiesensein des Gegenteils der Beweistatsache hinreichend sein, um eine weitere Beweiserhebung zu unterlassen 167 •

gert, Offenkundigkeit, S. 250; Hirsch, Prozeßverschleppung, S. 38 ff., 44 f.; Krekeler, Beweiserhebungsanspruch, S. 7, 43/44; Werle, JZ 1991, S. 792; Widmaier, NStZ 1994, S. 415 f; Perron, Beweisantragsrecht, S.196, 215 ff.; Basdorf, StV 1995, S.313; Scheffler, NJW 1994, S. 2194; Strate, Aspekte, S. 84; Kollhosser, Stellung, S. 226 f, 233; ders., FS-Stree/Wessels, S. 1039 f; Kintzi, DRiZ 1994, S. 328; ders., NStZ 1994, S. 448; Linden, Referat, M 45; E. Müller, Referat, M 66; ders., AnwBI 1997, S.90; Frister, StV 1989, S.381 Fn. 10; ders., ZStW 105 (1993), S.360; ders., StV 1994, S.449; ders., StV 1997, S. 153; Schulz, Stellung, S. 105; Liemersdorf, StV 1987, S. 175 f, 178; Keller, ZStW 101 (1989), S. 393; ter Veen, Beweisumfang, S. 42, 65 ff., 70,77,79; DahslDahs, Revision, Rn. 247, 252; SarstedtlHamm, Revision, Rn. 252; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 5, 139; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 253 ff.; Voigtel, Freibeweis, S. 255 ff. 165 Differenzierend Frister, StV 1989, S. 381 Fn. 8, ZStW 105 (1993), S. 347 ff., Grünwald, Beweisrecht, S. 105 ff., Hirsch, Prozeßverschleppung, S. 40 ff., und SKI StPO-Paeffgen, § 420 Rn. 17 f., die (wie schon Beling, JW 1925, S. 2783, und neuerdings Herdegen, FS-Boujong, S. 778 f) zwischen zwei unterschiedlichen Formen der Beweisantizipation unterscheiden: Während die eine (negative Antizipation des Beweisergebnisses) allein in der Beweisantragssituation unzulässig sei (i.E. wie h.M.; insoweit noch anders Grünwald. Gutachten, C 70 f), gelte die andere (Vorwegnahme der Beweiswürdigung) in gleichem Maße im Rahmen der Sachaufklärung von Amts wegen (insoweit wie Identitätslehre; s. u.). Der Wert dieser Differenzierung ist jedoch zweifelhaft (Perron, Beweisantragsrecht, S. 217 f. Fn. 230; Widmaier, NStZ 1994, S. 416 Fn. 26; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 31 Fn. 52). Zutreffend hält Herdegen (a. a. 0., S. 785 f) trotz expliziter Unterscheidung beider Antizipationsformen eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung im Rahmen des § 244 Abs. 2 StPO im Ergebnis rur statthaft; das entspricht auch der Ansicht der Rechtsprechung (vg!. Perron, a.a.O., S. 219 Fn. 238 m.w.N.). 166 BGH NJW 1951, S.283 Nr.22; BGH NStZ 1985, S.324 (325); Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 823; Werle, JZ 1991, S. 792; vg!. auch Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 152 m.w.N. Fn. 30. Zur Rspr. der OLG im Bußgeldverfahren: OLG Koblenz (Besch!. vom 25. 10. 1976), OLGSt (alt), § 244 Abs. 3 StPO. 167 AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 30,412,642; SKiStPO-Schlüchter, § 244 Rn. 37,82; dies., Strafverfahren, Rn. 823; Herdegen, NStZ 1984, S. 99; LR-Wendisch, § 384 Rn. 7; Kintzi, NStZ 1994, S. 448; Maatz, FS-Remmers, S. 584; zur Rspr. m.w.N. Perron, Beweisantragsrecht, S. 219 Fn. 238; a.A. Frister, ZStW 105 (1993), S. 359 f.; Grünwald, Beweisrecht, S. 105 ff.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

213

Nach der hier als "Inkongruenzlehre,,168 bezeichneten Ansicht besteht somit trotz eines großen Überschneidungsbereichs 169 zwischen der materiellen Wahrheitsfmdungspflicht des Gerichts und dem Beweisantragsrecht keine Identität beider Beweiserhebungspflichten 1?O . Der Bundesgerichtshof geht gleichfalls von der fehlenden Deckungsgleichheit beider Beweiserhebungspflichten aus 1?1 : In BGHSt 32, S. 68 (73) ist er einerseits der Auffassung, daß an die gerichtliche Aufklärungspflicht im Hinblick auf die Erreichbarkeit eines Zeugen "eher weniger strenge Anforderungen" zu stellen seien als bei der Ablehnung eines Beweisantrags nach § 244 Abs. 3 S. 2 Var.5 StP0 172 . Der Sache nach meint dies auch BGHSt 40 S. 60 (62), wenn dort ausfiihrt wird, daß das Tatsachengericht im Rahmen der Aufklärungspflicht, anders als bei der Verbescheidung von Beweisanträgen nach § 244 Abs. 3 StPO, vom Verbot der Beweisantizipation befreit sei und seine Entscheidung deshalb von den zu prognostizierenden Ergebnissen der Beweisaufnahme abhängig machen dürfe l ?3 . Im Anschluß an BGHSt 10, S. 116 (118f) war der BGH im bekannten "Bartsch"-Fall (BGHSt 23, S. 176 ff) andererseits der Meinung, daß die Inkongruenz von Beweisantragsrecht und Wahrheitsfmdungspflicht auch in umgekehrter Richtung bestehen könne, d.h. die Amtsaufklärungspflicht in Ausnahmefiillen auch weiterreiche als die Pflicht zur Beweiserhebung auf Antrag hin. Zwar ist es grundsätzlich anerkannt, daß die Pflicht zu weiterer Aufklärung nach § 244 Abs. 2 StPO entfiillt, wenn einer der Ablehnungsgründe des Be-

168 Eine allgemein verwendete Bezeichnung existiert für diese Meinungsgruppe - anders als bei der sog. Identitätslehre (s.u.) - nicht. Zum Teil wird auch von "Divergenztheorie" gesprochen (Julius, Unerreichbarkeit, S. 101 Fn. 222). Treffend wäre auch die Kennzeichnung als "Teilmengenlehre", da das Beweisantragsrecht nach h.M. zwar über die Aufklärungspflicht hinausgeht, unterhalb des überschießenden Bereichs jedoch ein weites Überschneidungsfeld besteht. Zudem kann auch in Ausnahmefiillen (BGHSt 23, S. 176 ff: "Bartsch"-Fall) die Amtsaufklärungspflicht weitergehen. Beide Bereiche verhalten sich deshalb wie zwei schneidende Kreise (vgl. Schlüchter, Weniger ist mehr, S. 43; dies., GA 1994, S. 411), die Teilmengen bilden. 169 Siehe H. Mayer, GS 104 (1934), S.330; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 31; Perron, Beweisantragsrecht, S. 140. 170 KMR-Paulus, § 244 Rn. 234 ff., lehnt ebenfalls eine Identität ab, weil die Aufklärungspflicht weitergehen könne als das Beweisantragsrecht, bestreitet jedoch entgegen der h.M. den umgekehrten Fall. 171 In BGHSt 21, S. 118 (124) findet sich die auch der überwiegenden Ansicht im Schrifttum zugrundeliegende Formel, daß das Beweisantragsrecht gerade dazu bestimmt sei, das Gericht zu nötigen, über das von ihm zur Sachaufklärung für erforderlich Gehaltene hinauszugehen; bestätigt von BGH NStZ 1989, S. 334 (335) = StV 1989, S. 287 (288), und BGH StV 1997, S. 567 (568) = NStZ 1997, S. 503 (504). 172 Bestätigt von BGH NStZ 1994, S. 247 (248) = StV 1994, S. 169 (170/171). 173 Ebenso BGH StV 1997, S. 511 (511).

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

weisantragsrechts eingreift 174 • Wegen der nahezu einmaligen Art der sexuellen Triebanomalie des Angeklagten, zu der es in der einschlägigen Literatur keine vergleichbaren Fälle gab, war es jedoch durch die Aufklärungspflicht geboten, neben den bereits hinzugezogenen psychiatrischen Sachverständigen noch einen weiteren Gutachter mit spezieller Erfahrung auf dem Sondergebiet der Sexualpathologie anzuhören, obwohl ein entsprechender Beweisantrag nach der gesetzlichen Regelung zu Recht gemäß § 244 Abs. 4 S. 2 StPO hätte abgelehnt werden dürfen 175 . Schließlich steht auch der Gesetzgeber auf dem Standpunkt, daß die Beweiserhebungspflicht aufgrund eines Beweisantrages - wenn auch nur "in einem äußerst schmalen Bereich" - über das von Amts wegen Gebotene hinausgehe 176 : Denn im Rahmen der Amtsaufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO habe der Tatrichter einen größeren Ermessensspielraum, der ihn dazu berechtige, einen Beweisantrag auch dann abzulehnen, wenn er den Sachverhalt fUr genügend geklärt hält und der Auffassung ist, eine weitere Beweiserhebung werde an der Überzeugung des Gerichts nichts ändern 177 • Einen legislatorischen Ausdruck hat diese Ansicht in den Vorschriften des § 384 StPO (Privatklageverfahren) und § 77 OWiG (Ordnungswidrigkeitenverfahren) und jüngst in § 244 Abs. 5 S. 2 StPO (Auslandszeugenregelung), § 420 Abs.4 StPO (beschleunigtes Verfahren) und §§ 411 Abs.2 S.2, 420 Abs.4 StPO (Einspruchsverfahren nach Strafbefehl) gefunden. Der vom Gesetzgeber mit diesen Vorschriften verfolgte Zweck besteht gerade darin, dem Richter über die enumerativen Ablehnungsgründe hinaus freier zu stellen, was die Prämisse impliziert, daß der Beweiserhebungsumfang in beiden Fällen divergiert 178 • Die zahlreichen Vorschläge zur Reform des Beweisantragsrechts, zwecks Entlastung an die Stelle der enumerativen Ablehnungssystematik ganz, zum Teil oder nach einer bestimmten Frist die richterliche Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO zusetzen, wären auch ansonsten nicht recht verständlich 179 •

174 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 43 Rn. 4; SKJStPO-Schlüchter, § 244 Rn. 52; dies., Strafverfahren, Rn. 544; KleinknechtIMeyer-Goßner, § 244 Rn. 12; Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 30; Pfeif/erIFischer, § 244 Rn. 13. 175 BGHSt 23, S. 176 (187 ff.); ebenso bereits BGHSt 10, S. 116 (1l8 f.). 176 BR-Entwurf zum RpflEntlG (1991), BR-DrS 314/91, S. 99 f., BT-DrS 12/1217, S.35. 177 Regierungsentwurfzum VBG (1994), BT-DrS 12/6853, S. 36. 178 AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S.29; Werle, JZ 1991, S.792; AKJStPORössner, § 384 Rn. 8; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 257 f. 179 Widmaier, NStZ 1994, S. 415.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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(2) Die .. Identitäts/ehre"

In Teilen des Schrifttums wurde und wird demgegenüber die auf Beling 180 zurückgehende Auffassung vertreten, daß der Umfang der von Amts wegen bestehenden Wahrheitsfmdungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO mit der durch einen Beweisantrag nach § 244 Abs. 3 ff. StPO ausgelösten Pflicht zur Beweiserhebung rechtlich übereinstimme, beide Institute also das Gericht zu identischen Aufklärungsbemühungen verpflichteten ("Identitätslehre,,)181: Im Bereich des § 244 StPO gebe es nur eine Aufklärungs- und Beweiserhebungspfliche 82 . Ein Beweisantrag sei nicht mehr als die begründete Behauptung des Antragstellers, daß nach seiner Auffassung die Amtsaufklärungspflicht die Erhebung des beantragten Beweises erfordere 183 . Argumentativ beruft sich diese Lehre auf die historische Entwicklung des Beweisantragsrechts und auf teleologische Gesichtspunkte. Zunächst wird die behauptete Identität aus der Entstehungsgeschichte des Beweisantragsrechts abgeleitet: Die hierzu formulierte "Entwicklungshypothese,,184 lautet: Das "Mutterinstitut" ist die Amtsaufklärungspfliche 85 . Die heute ausdrücklich in § 244 Abs. 3 ff. StPO genannten Ablehnungsgründe habe das 180 Beling, ZStW 38 (1917), S. 620 f.; ders., JW 1925, S.2784; ders., DJZ 1931, Sp.843. 181 Vertreter der Identitätslehre: Graf zu Dahna, FS-Kohlrausch, S. 334 f; Mattern, WahrunterstellUJlg, S. 10 f; KMR-Fezer, § 384 Rn. 7; ders., Strafprozeßrecht, Fall 12 Rn. 99; ders., StV 1995, S. 268; Engels, Aufklärungspflicht, S. 12 f., 21 ff., 66 ff., 162; Grünwald, Gutachten, C 71 (modifiziert in Beweisrecht, S. 105 f, 108); Kreuzer, Bestimmung, S. 28 ff.; Pieth, Beweisantrag, S. 250 f.; Wesseis, JuS 1969, S. 3 f; Bergmann, Beweisanregung, S. 136 ff. (vgl. aber S. 183); Bavensiepen, Freibeweis, S. 63 f.; Wenner, Aufklärungspflicht, S. 157 ff., 172, 243; Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 27 Fn.9; Ulsenheimer, AnwBl 1983, S. 376; Erklärung der Vereinigung hessischer Strafverteidiger e.V., StV 1982, S.396; ähnlich auch Gössel, Strafverfahrensrecht, S.246, 248; ders., Gutachten, C 17 f, 65 ff.; ders., VerhDJT 1994: Diskussion, Bd. II/2, M 128 f; ders., ZStW 106 (1994), S. 837 f, 843; ders., JR 1995, S. 365; ders., JR 1996, S. 101 (Beweisantragsrecht gehe nicht über Aufklärungspflicht hinaus, was allerdings keineswegs Deckungsgleichheit impliziere; vgl. ders., GA 1995, S.285); ders., GA 1998, S. 254; ders., FS-Nishihara, S. 221 ff. 182 Wesseis, JuS 1969, S. 4; Bergmann, Beweisanregung, S. 139; Wenner, Aufklärungspflicht, S. 172; Uisenheimer, AnwBI 1983, S. 376. Eine "verstärkte" Beweiserhebungspflicht, die über § 244 Abs. 2 StPO hinausgeht, besteht nach dieser Ansicht nur im Rahmen der Regelung rur präsente Beweismittel (§ 245 Abs. 2 S. 3 StPO); vgl. Kreuzer, Bestimmung, S. 63. 183 Gössel, JR 1996, S. 101. 184 Die "Entwicklungshypothese" wird auch von einigen Vertretern der herrschenden Inkongruenzlehre (etwa SK/StPO-Schlüchter, § 244 Rn. 52; KaI/hasser, FS-Stree/Wessels, S. 1039) und vom Gesetzgeber (vgl. BR-Entwurf zum RpflEntlG [1991], BR-DrS 314/91, S. 99, BT-DrS 12/1217, S. 35) behauptet. 185 Pieth, Beweisantrag, S. 32; Uisenheimer, AnwBl 1983, S. 376 ("zentrale und vorrangige Norm").

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

Reichsgericht lediglich aus ihr herausmodelliert 186 . Die Ablehnungsregelung stelle daher nur eine "Konkretisierung" 187 , eine "nähere Umschreibung" 188 , eine "Aus formung" 189 , eine BÜßdelung von "Fallgruppen,,190 der richterlichen Sachaufklärungspflicht dar. Wenn nun aber - so wird argumentiert - die Ablehnungsgründe nur Präzisierungen des allgemeinen Grundsatzes sind, dann verbiete der gemeinsame Ursprung eine unterschiedliche Reichweite beider Beweiserhebungspflichten 191 . Es sei deshalb kein Fall denkbar, in dem der Richter einem Beweisantrag stattgeben müßte, sich der infragestehenden Beweiserhebung aber bei korrekter Ausübung seiner Amtspflicht verschließen könnte l92 . Die teleologischen Überlegungen der Identitätslehre stützen sich zum einen auf ein bestimmtes Verständnis vom Beweisantizipationsverbot und zum anderen auf den "Informationseffekt" von Beweisanträgen. Zur ersten Begründungslinie: Die Argumentation mit dem Verbot der Beweisantizipation beruft sich darauf, daß jedenfalls beim (praktisch dominierenden)193 Zeugen- und Urkundenbeweis 194 eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung im Hinblick auf das Wahrheitserforschungsgebot immer fehlerhaft sei, gleichviel, ob Beweisanträge gestellt werden oder nicht l95 . Wenn nun eine Relativierung der Wahrheitssuche durch Beweisantizipationen stets unzulässig sei, dann müsse das Beweisantizipationsverbot im Rahmen der Amtsautklärungspflicht in gleicher Weise zu beachten sein wie bei der Ablehnung eines 186 Wenner, Aufklärungspflicht, s. 157; Engels, Aufklärungspflicht, S. 76; Bovensiepen, Freibeweis, S. 63 f.; Gössel, VerhDJT 1994: Diskussion, Bd. II12, M 129; Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 12 Rn. 99. Damit nicht ganz deckungsgleich (vgl. Frister, ZStW 105 [1993], S. 343 Fn. 8) findet sich die Formulierung, das Ablehnungssystem sei aus dem übergeordneten Gebot zur allumfassenden Wahrheitserforschung (also nicht: Amtsaufklärungspflicht) entwickelt worden; vgl. WesseIs, JuS 1969, S. 3; Ulsenheimer, AnwBI 1983, S.376; zur Bedeutung der Differenzierung vgl. bb) (1) und Widmaier, NStZ 1994, S. 415 Fn. 21. 187 Engels, Aufklärungspflicht, S. 13, 64; ders., GA 1981, S. 22; WesseIs, JuS 1969, S. 3, 8; Bovensiepen, Freibeweis, S.64; Ulsenheimer, AnwBI 1983, S. 376; Pieth, Beweisantrag, S. 250; Bergmann, Beweisanregung, S. 136; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 248; ders., VerhDJT 1994: Diskussion, Bd. 1112, M 129; ders., ZStW 106 (1994), S. 838; ders., JR 1995, S. 365; ders., FS-Nishihara, S. 221. 188 Kreuzer, Bestimmung, S. 33. 189 Kreuzer, Bestimmung, S. 33. 190 Wenner, Aufklärungspflicht, S. 157. 191 Wenner, Aufklärungspflicht, S. 157. 192 Kreuzer, Bestimmung, S. 29. 193 Zum Zeugenbeweis: BVerfGE 38, S. 105 (116); ter Veen, Beweisumfang, S. 62. 194 Zu dieser Einschränkung vgl. Engels, GA 1981, S. 33, 36. 195 Kreuzer, Bestimmung, S.33; Engels, Aufklärungspflicht, S. 54, 64, 66 ff., 73, 162; ders., GA 1981, S. 26, 30, 36; Wenner, Aufklärungspflicht, S. 131 f.; a.A. WesseIs, S. 5 (Fn. 47); Mattern, Wahrunterstellung, S. 11.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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Beweisantrages nach dem Katalog des § 244 Abs. 3 S. 2 StPO I96 • Dieser Katalog stelle gerade das vom Reichsgericht herausdestillierte - abschließende 197 Spektrum von Möglichkeiten dar, ohne die verbotene Beweisantizipation über eine weitere Beweiserhebung zu entscheiden l98 . Deshalb sei der Richter auch von Amts wegen an die Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 - 5 StPO gebunden l99 . Darüber hinaus berufen sich die Vertreter der Identitätslehre auf das "Informationsargument". Zwar sei nicht zu bestreiten, daß zwischen dem Umfang einer beantragten und einer von Amts wegen erfolgenden Beweisaufnahme in der Praxis häufig ein Gefiille bestehe 200 • Dieses beruhe jedoch nicht, wie von der Gegenansicht behauptet, auf der rechtlichen Inkongruenz beider Beweiserhebungspflichten, sondern allein auf dem faktischen Umstand, daß der Tatrichter nur solche Aufklärungsmöglichkeiten ergreifen kann, von deren Existenz er Kenntnis haeo l . Indem der Beweisantrag neue Beweistatsachen und/oder Beweismittel in den Prozeß einfUhrt, werde der Wissensstand des Gerichts erhöht und damit sein Aufklärungshorizont erweitert202 • Sofern also der Aufklärungsumfang durch den Beweisantrag zunehme, sei dies allein eine Folge des tatsächlichen Informationsgewinns: Der Antrag hat nach dieser Auffassung also nur einen "Informationseffekt", der die latent bestehende Aufklärungspflicht aktual is iert203 • (3) Relevanz des Streits

Die Relevanz des Meinungsstreites fiir die Bewertung der gegenwärtigen Forderungen nach einer Einschränkung oder völligen Beseitigung des Be196 Kreuzer, Bestimmung, S. 33; Engels, Autklärungspflicht, S.64, 66 ff., 73; GA 1981, S. 32; Gössel, Gutachten, C 66 f. 197 Neben diesen Ablehnungsgründen sollen nach Ansicht von Engels (Autklärungspflicht, S. 16 f.; 40, 52 f., 162; ders., GA 1981, S. 24) keine weiteren denkbar sein, die nicht mit dem Beweisantizipationsverbot kollidieren. 198 Engels, Autklärungspflicht, S.40, 47, 52 f.; ders., GA 1981, S.26; Pieth, Beweisantrag, S. 251. 199 Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 12 Rn. 99; Bovensiepen, Freibeweis, S. 68; Wenner, Autklärungspflicht, S. 174, 176,222; Engels, GA 1981, S. 24, 33. 200 Wesseis, JuS 1969, S. 4; Bergmann, Beweisanregung, S. 137; Wenner, Autklärungspflicht, S. 154, 162; Pieth, Beweisantrag, S.252; Ulsenheimer, AnwBl 1983, S.378. 201 Wesseis, JuS 1969, S. 4; Mattern, Wahrunterstellung, S. 12 ff.; Engels, GA 1981, S.32; Pieth, Beweisantrag, S.252; vgl. auch Gössel, ZStW 106 (1994), S.837, 843, und Gutachten, C 66. 202 Bergmann, Beweisanregung, S. 137 f.; Wenner, Autklärungspflicht, S. 160 ff. 203 Wesseis, JuS 1969, S.4; Bergmann, Beweisanregung, S. 137 ff.; Engels, GA 1981, S. 32; Pieth, Beweisantrag, S. 252.

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2. Teil, I. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

weisantragsrechts liegt auf der Hand. Von dem Verhältnis des Beweisantragsrechts zur Amtsaufklärungspflicht hängen zwei für die Reformdiskussion zentrale Aspekte ab: Zum einen entscheidet sich hier, ob bei einer Beschneidung des Beweisantragsrechts eine Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit der Sachaufklärung zu befürchten steht oder ob die Amtsaufklärungspflicht auch alleine in der Lage ist, dem Verfahrensziel der Wahrheitserforschung gerecht zu werden. Zum anderen geht es darum, ob und inwieweit die mit dem Verlangen nach einer Restriktion des Beweisantragsrecht verbundenen Hoffnungen auf eine Beschleunigung des Strafverfahrens und eine Entlastung der Strafjustiz überhaupt eine reale Grundlage haben. Beide Gesichtspunkte lassen sich an Hand der zuletztgenannten Identitätslehre verdeutlichen. Aufklärungsdefizite wären nach dieser Ansicht selbst bei einer völligen Beseitigung des gegenwärtigen Beweisantragsrechts nicht zu befürchten, da - angesichts der unterstellten Deckungsgleichheit beider Beweiserhebungspflichten - auch bei alleiniger Geltung des Amtsaufklärungsgebots kein Beweis unerhoben bleiben dürfte, der nach geltendem Recht mit einem Beweisantrag verlangt werden kann. Entscheidend ist nach dieser Auffassung nur der Informationseffekt des Antrages: Dem Gericht wird eine neue Beweistatsache und/oder ein neues Beweismittel vorgetragen, wodurch die Aufklärungspflicht in Gang gesetzt wird. Kommt es jedoch nur auf diesen Informationswert an, dann muß die Befugnis, Beweisanträge stellen zu können, nicht als rechtsförmliches Antragsrecht institutionalisiert sein. Das Sachaufklärungsinteresse der Angeklagtenseite schiene bereits ausreichend durch die dem Gericht obliegende Wahrheitsfindungspflicht gewährieistet204 . In diesem Sinne hatte bereits die Begründung zum E 1939 ausgeführt, der alles beherrschende Wahrheitserforschungsgrundsatz sei "so einfach und klar, daß eine gesetzliche Erläuterung des Umfangs der Beweisaufnahme durch Einzelvorschriften unnötig ist,,205 . Wäre nach der Identitätslehre eine Einschränkung oder Abschaffung des Beweisantragsrechts im Hinblick auf die Wahrheitsermittlung also weitgehend unbedenklich, so stellten sich andererseits die auf Einsparung abzielenden gesetzgeberischen Reformvorhaben als untaugliche Versuche dar. Wenn die gesetzliche Typologie der Ablehnungsgründe lediglich eine Ausformulierung der ohnehin von Amts wegen bestehenden Verpflichtung zur Erforschung der Wahrheit wäre, dann müßte die Streichung der Beweisantragsregelung eine bloße äußerliche Formalie bedeuten und der Tatrichter weiterhin an die jetzt

204 Allenfalls entfiele ein Hilfs- und Kontrollinstrument zur Sicherung der gerichtlichen Aufklärungspflicht (vgl. Schlüchter, Weniger ist mehr, S. 37,43,46). 205 Begründung zu § 64 E 1939 (S. 46), Schubert, Entwürfe, S. 417; ähnlich später auch Niethammer, FS-Sauer, S. 36 f.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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noch in §§ 244 Abs. 3 ff. StPO nonnierten Gründe gebunden sein206 • Bei großzügigerer Behandlung verstieße er gegen die Aufklärungspflicht; das Urteil wäre mit der Aufklärungsrtige im Revisionsverfahren angreifbar. Solange die Amtsaufklärungspflicht also unangetastet bleibt, ist nach der Identitätslehre jedenfalls de iure207 keine Begrenzung der Beweisaufhahme zu erwarten208 • Eine Einsparung könnte dann allein in der fonnalen Behandlung des Antrags, das heißt in der Bescheidungs-, Begründungs- und Protokollierungspflicht liegen. Selbst die Ersetzung des gegenwärtigen Ablehnungskataloges durch eine weite Klausel, die die Ablehnung von Beweisanträgen ausdrücklich in großem Stil gestattet, wäre obsolet: Zwar erlaubte sie die Ablehnung des Beweisantrages, zugleich müßte das Gericht aber von Amts wegen - unter Beachtung der derzeit geltenden Ablehnungsgründe (!) - Ennittlungen in die durch den Beweisantrag gewiesene Richtung anstellen209 • Sollte sich demgegenüber die Hypothese der herrschenden Meinung als zutreffend erweisen, daß das Recht des Beweisantrags über das Amtsaufklärungsgebot hinausreicht, so bestünden zwei Möglichkeiten: Entweder hat das Beweisantragsrecht im Hinblick auf die Erforschung der Wahrheit einen Eigenwert, mit der Folge, daß eine Abschmelzung der gegenwärtigen Regelung zu Einbußen in diesem Bereich fUhrt, oder aber der "überschießende" Bereich ist schlicht überflüssig, weil der Wahrheitserforschung nicht dienlich oder hierfilr zumindest nicht unentbehrlich210 • Die Berechtigung eines eigenständigen Beweisantragsrechts ließe sich dann jedenfalls nicht auf das Verfahrensziel der Wahrheits erforschung stützen.

206 Vgl. Ulsenheimer, AnwBI 1983, S. 376; Frister, StV 1994, S.448; Gössel, IR 1995, S. 364 f.; ders., IR 1996, S. 100 f. 207 De facto bleibt die Beweisaufnahme im Rahmen der Aufklärungspflicht jedoch häufig zurück (hierzu: Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 31; ders., NIW 1996, S. 28; Quedenfeld, FG-Peters, S. 228; Perron, Beweisantragsrecht, S. 220). 208 Ulsenheimer, AnwB11983, S. 376; ebenso: BR-Entwurfzum RptlEntiG (1991), BR-DrS 314/91, S. 99, BT-DrS 12/1217, S. 35. 209 Vgl. die Erwägungen des BGH im "Bartsch-Fall" (BGHSt 23, S. 176 ff.); ähnlich Leisner, Umfang, S. 27, zum Ordnungswidrigkeitenrecht (§ 77 Abs. 20WiG). 210 So etwa der BR-Entwurf zum RptlEntiG (1991): Einerseits wird konstatiert, die Aufklärungspflicht reiche "im Regelfall weniger weit .. als die Beweiserhebungspflicht auf Antrag". Andererseits sollten die vorgeschlagenen Einschränkungen im überschüssigen Bereich des Beweisantragsrechts nicht "auf Kosten der Zuverlässigkeit der tatsächlichen Feststellungen" gehen (BR-DrS 314/91, S.99; BT-DrS 12/1217, S. 35); vgl. hierzu auch Schulz, StV 1991, S. 355, 356.

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

bb) Stellungnahme Das Verhältnis des Beweisantragsrechts zur Amtsaufklärungspflicht ist somit relevant rur die gegenwärtige Reformdiskussion: Da die Lehre von der Inkongruenz der Beweiserhebungspflicht auf Antrag und von Amts wegen, die der der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und der herrschenden Meinung im Schrifttum zugrundeliegt, bestritten wird, soll im folgenden die abweichende These der Minderheitsposition von der pflichteninhaltlichen Identität überprüft werden. (1) Die historische Entwicklung des Beweisantragsrechts

Zunächst wird von den Vertretern der Identitätslehre behauptet, daß sich die Deckungsgleichheit beider Beweiserhebungspflichten aus einem gemeinsamen Ursprung ergebe: Das Beweisantragsrecht bzw. das Beweisantizipationsverbot sei vom Reichsgericht aus der Amtsaufklärungsmaxime abgeleitet worden2ll . Handele es sich aber beim Beweisantragsrecht entwicklungsgeschichtlich lediglich um derivative Konkretisierungen, so könne der vom "Mutterinstitut" abgesteckte Ermittlungsrahmen nicht hinter der durch Beweisanträge ausgelösten Beweiserhebungspflicht zurückbleiben212 • Zu dieser "Entwicklungshypothese" ist zunächst zu bemerken, daß sie - unabhängig von ihrer sachlichen Richtigkeit - wenig beweiskräftig ist. Selbst wenn die Beweisantragsregelung vom Reichsgericht vor dem Hintergrund der Amtsaufklärungspflicht entwickelt worden wäre, könnte sich doch aus der späteren Legiferierung dieser Rechtsprechung eine weitergehende Beweiserhebungspflicht - vor allem im Interesse der Angeklagtenseite - ergeben haben. Hier ist insbesondere die Veränderung im Verfassungsverständnis seit der Rechtsprechung des Reichsgerichts Ende des 19. Jahrhunderts zu bedenken, die unter der Geltung des Grundgesetzes zu einer verstärkten Betonung der SubjektsteIlung des Angeklagten gefuhrt hat. Das Beweisantragsrecht könnte einen Bedeutungswandel erlebt haben und jetzt (!) mehr sein als eine bloße Konkretisierung der Amtsaufklärungspflichr i3 .

Vgl. Gössel, FS-Nishihara, S. 217. Wenner, Aufklärungspflicht, S. 157; Ulsenheimer, AnwB11983, S. 376. 2\3 Zudem gilt auch hier: Aus dem bloßen historischen Gewordensein ließe sich ohnehin kein normativ begründetes Sollen ableiten (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 389, 408 ff., 442; vgl. auch Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 97 ff.; Henkel, Rechtsphilosophie, S. 20 ff., 27). Zu historisch-genetischer Beweisfiihrung - aus argumentationstheoretischer Sicht - Schleichert, Fundamentalisten, S.42: "Rein logisch hat die Wahrheit bzw. Falschheit einer These nichts mit der Ausbildung und Ausformulierung dieser These im Lauf der Geschichte zu tun." 211

212

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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Diese bislang in der Diskussion unbeachtet gebliebene Überlegung kann hier jedoch auf sich beruhen, da die Entwicklungshypothese bereits auf sachlich unzutreffenden Prämissen aufbaut. Im entwicklungs- und reformgeschichtlichen Teil dieser Arbeit wurde festgestellt, daß die Herausbildung des Beweisantragsrechts in der reichsgerichtlichen Judikatur von einem Grundsatz getragen wurde, der im Bereich der Amtsaufklärungspflicht gerade keine Anwendung fand: dem Beweisantizipationsverbot214 • Das Verbot der Beweisantizipation galt zunächst ausschließlich tur den Fall, daß eine weitere Aufklärung durch Beweisantrag verlangt wurde. Außerhalb der Beweisantragssituation gewährte das Reichsgericht den Tatrichtem dagegen noch lange einen großen, revisionsrechtlich nicht überprüften Ermessensspielraum. Hier sah das Reichsgericht den Aufklärungsumfang weiterhin - ganz im Sinne der überkommenen "Überzeugungstheorie" - vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung überlagert: Die Sachaufklärungspflicht reiche nur so weit, wie dies notwendig sei, um eine hinreichend feste Überzeugung zu gewinnen. War dies der Fall, blieben selbst offensichtliche Defizite bei der Sachaufklärung irrevisibel. Erst mehrere Jahrzehnte nach der Herausbildung des von dem Verbot der Beweisantizipation getragenen Beweisantragsrechts wurden mit der Anerkennung und Durchsetzung der AufklärungsrUge in den zwanziger und dreißiger Jahren Aufklärungsdefizite zu Lasten des Angeklagten bei der Amtsermittlung einer revisionsgerichtlichen Kontrolle unterworfen und so das tatrichterliche Ermessen zur Negativauslese eingeschränkt. Damit ist die "Entwicklungshypothese" widerlegt, das Reichsgericht habe das Beweisantragsrecht lediglich konkretisierend aus der Amtsaufklärungspflicht herausgeformt215 . Das Beweisantragsrecht kann aus entwicklungsgeschichtlicher Sicht keine bloße "Konkretisierung" der gerichtlichen Aufklärungspflicht sein, weil das fiir die Herausarbeitung des Beweisantragsrechts konstitutive Element, das Beweisantizipationsverbot, im Bereich der allgemeinen Sachverhaltserforschung gerade nicht galt. Es ist - abstrakt formuliert - unmöglich, etwas aus einem allgemeinen Grundsatz zu konkretisieren, dem das konkretisierte Spezifikum gar nicht immanent ist: Eine "Induktion im deduktiven Gewand" und damit ein Methodenwiderspruch 216 • I. Teil: C. H. 1. Ebenso Schulz, StV 1985, S. 313; ders., StV 1991, S. 359 f.; I. Müller, KJ 1992, S. 231; Widmaier, NStZ 1994, S. 415; ter Veen, Beweisumfang, S.201; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 241 ff.: "Zu dem umgekehrten Schluß kann man nur gelangen, wenn man flilschlicherweise das heutige Verständnis von Wahrheitsermittlung und freier Beweiswürdigung ... der reichsgerichtlichen Judikatur unterschiebt." 216 Vgl. Gast, Rhetorik, Rn. 285; KMR-Paulus, § 244 Rn. 235, hält es rur eine "petitio principii", von Folgerungen (= § 244 Abs. 3-5 StPO) aus § 244 Abs. 2 StPO auf dessen Inhalt rückzuschließen. 214 215

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

Andererseits hat die Analyse der Rechtsprechung des Reichsgerichts deutlich gemacht, daß das Beweisantizipationsverbot vor dem Hintergrund der Erkenntnis statuiert wurde, daß Beweisaufnahme und Beweiswürdigung prinzipiell auseinanderzuhalten sind: Über das Ergebnis der beantragten Beweisaufnahme dürfe nicht schon im voraus ein Urteil gefällt werden, welches nach der Bestimmung des § 260 StPO 1877 (= § 261) erst am Ende des Erkenntnisgangs "aus dem Inbegriff der Verhandlung" zu schöpfen sei. Unmittelbar wurde das Beweisantizipationsverbot also aus der Norminterpretation des § 260 StPO 1877 (= § 261 StPO) geschlossen2 17 • Den eigentlichen Grund, weshalb die tatrichterliche Freiheit zur BeweisWÜfdigung nicht zugleich die Freiheit umfaßt, Art und Umfang der Beweisaufnahme nach Ermessen festzulegen, sah das Reichsgericht jedoch in dem Gebot zur umfassenden Wahrheitserforschung218 : Denn das Prinzip der freien BeweisWÜfdigung beruhe auf der Voraussetzung, daß zunächst der Verpflichtung, die materielle Wahrheit zu erforschen, genügt worden isfl9 . Wenn das Reichsgericht gleichwohl diesen Gedankengang ausschließlich im Bereich des Beweisantragsrechts gelten lassen wollte, zeigt sich, daß es zwischen der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht und einem allgemeineren Ziel bestmöglicher Wahrheitserforschung unterschieden hat: Dieses umfassende Optimierungsgebot wurde nicht allein - wie die Aufklärungspflicht - auf die verständige Würdigung des Tatrichters bezogen, sondern auf den Dualismus zweier Erfolgsprognosen gegründet: auf die des Gerichts und die des Beweisantragsstellers 22o • Der Unterschied lag in der Frage, wem die Kompetenz zustehen sollte, über die Erfolgsaussichten einer weiteren Beweisaufnahme zu entscheiden. 217 RG Rspr. 7, S. 296 (297): "Ist ... die Aufnahme dieses Beweises nur deshalb abgelehnt worden, weil ... die Ueberzeugung des Gerichts von der Unwahrheit der aufgestellten Behauptung bereits unerschütterlich begründet sei, ... tritt eine unrichtige Auffassung des Rechts der freien Beweiswürdigung klar zu Tage. Denn die Bestimmung des § 260 der StrPrO. beruht auf der Voraussetzung, daß der Verpflichtung, die materielle Wahrheit zu erforschen, gemäß §§ 243, 244 a.a.O. im vollen Umfang genügt, insbesondere auch der von dem Angeklagten über wesentliche Punkte in zulässiger Weise angetretene Beweis erhoben worden ist." Außerdem RG Rspr. 2, S. 126 (126 f.); RG Rspr. 6, S. 453 (454); RG Rspr. 8, S. 306 (307); RGSt 7, S. 76 (78); RGSt 47, S. 100 (104); RG DJZ 1914, Sp.507 (508); RG JW 1914, S.433 (433); daneben wurden auch auf die Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit herangezogen (Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 233 ff.). 218 Heute h.M.: Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S.412; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 183; Bergmann, Beweisanregung, S. 143; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 181. 219 RG Rspr. 6, S. 453 (454); RG Rspr. 7, S. 296 (297); w.N. bei Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 240. 220 Widmaier, NStZ 1994, S. 415 Fn. 21, meint ähnlich, daß Beweisantragsrecht wie Aufklärungspflicht jeweils dem Ziel bestmöglicher Sachverhaltserforschung dienen, jedoch zwei unterschiedliche Wege zu diesem Ziel beschreiben.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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Für die Sachaufklärung von Amts wegen erklärte es das Reichsgericht filr ausreichend, daß der Tatrichter sich seiner Amtspflicht fonnal bewußt war22I . Wie er sie inhaltlich ausfilllte, blieb ihm anheimgestellf 22 • Eine sachliche Beschränkung des tatrichterlichen Ennessens durch eine auch nur ansatzweise erfolgende Reglementierung des notwendigen Aufklärungsumfangs fand nicht statt. Daher waren selbst offensichtliche Aufklärungsdefizite irrevisibel 223 • Für den Bereich der Amtsaufklärungspflicht vertraute das Reichsgericht also ganz dem Tatrichter und seiner Prognose, ob eine Ausdehnung der Beweisaufnahme aussichtslos oder überflüssig sein würde. Diese Haltung entsprach dem von autoritären Kreisen goutierten Ideal vom unfehlbaren Richter, dem deshalb weitestgehende Freiheit einzuräumen sef 24 • Mit einem Beweisantrag war es dem Antragsteller dagegen möglich, zusätzlich seine Warte in den Prozeß der Sachverhaltsfeststellung einzubringen. Gerade im Falle einer negativen Beweisprognose des Gerichts konnte so die Erhebung eines Beweises erzwungen werden, von dessen Gegenteil der Richter bereits überzeugt war oder dessen Gelingen er in Abrede stellte. Vor allem filr den sonst weithin einflußlosen Angeklagten war es von Bedeutung, daß er in der entscheidenden Beweissarnmlungsphase mit der Stellung eines Beweisantrages die Evaluierung seiner Gegenhypothese auch gegen eine abweichende Einschätzung des Gerichts durchsetzen konnte. So war er in der Lage, korrigierend in eine sich verdichtende, fehlerhafte Überzeugungsbildung einzugreifen und bereits verfestigte "Vorurteile" zu erschüttern. Während demnach im Bereich der Amtsaufklärungspflicht ausschließlich die Einschätzungsprärogative des Gerichts den inhaltlichen Umfang der Aufklärungsbemühungen absteckte, erkannte das Reichsgericht filr die Beweisantragssituation eine Verdopplung des Prognosehorizontes und damit gewissennaßen eine dialektische Vervollständigung der Beweismaterials an. Mit einem Beweisantrag waren auch bzw. gerade diejenigen Beweisaufnahmen erzwingbar, die von der - einseitig auf die Würdigung des Gerichts bezogenen - Aufklärungspflicht nicht gefordert wurden. Eine rechtliche Grenze fand diese Befugnis nur darin, daß sie auf Sachverhaltsaufklärung gerichtet, das heißt ein irgendwie

221 Vgl. RGSt 6, S. 135 (136); RGSt 13, S. 158 (160); RGSt 47, S. 417 (423 f.); Alsberg, JW 1929, S. 859; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S.22; Schutz, StV 1991, S.359. 222 Hierzu RGSt 13, S. 158 (161): "Die konkrete Art, wie das richterliche Ennessen ... waltet, ist an sich nicht geeignet, einen Revisionsgrund abzugeben". 223 Eine Ausnahme bildeten Rügen der Staatsanwaltschaft gegen freisprechende Urteile, die sich auf den Grundsatz "in dubio pro reo" stützten; vgl. hierzu 1. Teil: C. 11. 1.

(Fn.).

224 Vgl. v. Spindler, Hauptverhandlung, S. 464,468; K. Klee, GA 77 (1933), S.96; v. Campe, DJZ 1916, Sp. 1012 ff.

224

2. Teil, I. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

gearteter Zusammenhang mit der verhandelten Strafsache bestehen mußte 225 . Insoweit wurde das Beweisantragsrecht durchaus als ein "Partei" - Recht226 der Angeklagtenseite aufgefaßt: Ob sie ihren prozessualen Anspruch auf Beweiserhebung geltend machte, blieb ihrer Disposition überlassen, wenn sie sich jedoch hierfiir entschied, war das Gericht grundsätzlich gebunden. Mißachtete es diese Bindung und antizipierte es unter Verkennung der Scheidung von Beweisaufnahme und Beweiswürdigung den beantragten Entlastungsbeweis zum Nachteil des Antragstellers, dann sah das Reichsgericht regelmäßig "die Vertheidigung in einem fiir die Entscheidung wesentlichen Punkte" (§ 377 Nr. 8 StPO 1877; § 338 Nr. 8 StPO) unzulässig beschränkt227 . Die Anwendung dieses Revisionsgrundes erhellt, daß es gerade als ein Recht der Verteidigung angesehen wurde, mit der von ihr fiir notwendig und aussichtsreich angesehenen Beweiserhebung ihr Bild vom Sachverhalt in dessen beweismäßige Rekonstruktion miteinfließen zu lassen228 . Die historische Entwicklung des Beweisantragsrecht spricht somit nicht fiir, sondern gegen die von der Identitätslehre behauptete Deckungsgleichheit der von Beweisantragsrecht und Amtsaufklärungspflicht begründeten Beweiserhebungspflichten. (2) Teleologische Erwägungen

Die Vertreter der Identitätslehre argumentieren weiterhin mit dem Verbot der Beweisantizipation: Zugunsten einer umfassenden Wahrheitssuche gelte es im Beweisverfahren uneingeschränkt (a) und (deshalb) im Rahmen der Amtsaufklärungspflicht in gleichem Maße wie im Beweisantragsrecht (b )229.

Schutz, Stellung, S. 100. So Alsberg, Grundlegung, S. 287; Simader, Ablehnung, S. 27; von einem parteiprozessualen Element sprechen: Schulz, StV 1985, S. 313; ders., StV 1991, S. 361 f.; Julius, MDR 1989, S. 119; Widmaier, NStZ 1994, S. 416; KK/StPO-Herdegen, § 244 Rn. 18, 42; ders., Beweisantragsrecht, S.49; Herzog, StV 1994, S. 167; Fezer, StV 1995, S. 265, 267; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 250. 227 RG Rspr. 2, S. 126 (126 ff.); RG Rspr. 6, S. 453 (454); RG Rspr. 8, S. 306 (307); RGSt 7, S. 76 (79). 228 Ähnlich Schulz, StV 1991, S. 360; E. Müller, Referat, M 66; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 252. 229 So insbesondere Engels, Aufklärungspflicht, S. 40, 52 ff., 64, 66 ff., 73, 162, GA 1981, S. 26, 30, 36, rur den dominierenden Zeugen- und Urkundenbeweis. Beim Sachverständigenbeweis und Augenscheinsbeweis werden die ausdrücklichen Durchbrechungen der gesetzlichen Regelung (vgl. § 244 Abs. 4 S. 2 HS. I StPO, § 244 Abs. 5 S. I StPO) allgemein anerkannt. 225

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B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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(a) Zur These von der schrankenlosen Geltung des Beweisantizipationsverbots Bereits die erste Prämisse der Identitätslehre, daß jedwede Vorweg-Negation des Beweisgelingens unzulässig sei, trifft selbst filr das Beweisantragsrecht nicht zu. Zwar scheint die These vom schrankenlosen Dogma plausibel, wenn man hier den Zeugen- und Urkundenbeweis (§ 244 Abs. 3 S. 2 StPO) betrachtet. So ist es zwar richtig, daß das Beweisantizipationsverbot das "Kemstück,,230 des Beweisantragsrechts bildet: Schon die dogmengeschichtliche Untersuchung hat gezeigt, daß das Reichsgericht sich maßgeblich auf diesen Grundsatz berief, als es den förmlichen Beweiserhebungsanspruch auf Antrag anerkannt und damit das strenge Beweisantragsrecht konstituiert hat. Und die hierzu angestellten Erwägungen des Reichsgerichts sind auch heute noch maßgebend: Denn das zentrale Anliegen des Strafprozesses, die Ermittlung der Wahrheit als Grundlage filr die Herstellung materieller Gerechtigkeit würde zu gering angesetzt, wenn das Tatgericht die beantragte Beweiserhebung allein deshalb abschneiden dürfte, weil es sich ein "Vorurteil" bereits gebildet hat23 ! . Jedoch zeigt eine genauere Betrachtung einzelner Ablehnungsgrunde des § 244 Abs. 3 S. 2 StPO, daß dem Beweisantragsrecht Beweisantizipationen auch außerhalb der abweichenden Regelungen in Abs. 4 und Abs. 5 nicht völlig fremd sind232 : Durchbrochen ist das Beweisantizipationsverbot etwa im Rahmen der Unerreichbarkeitsprüfung (§ 244 Abs. 3 S.2 Var. 5 StPO): Die Prognose, der Zeuge sei unerreichbar, darf unter Berücksichtigung des Gewichts des zu erwartenden Beweisergebnisses, der Pflicht zur Verfahrensbeschleunigung sowie unter Rückgriff auf die Bedeutung der Sache getroffen werden 233 . Darüber hinaus lassen auch die Ablehnungsgrunde der Offenkundigkeit (Var. 1) sowie der völligen Ungeeignetheit (Var.4) negative Beweisprognosen ZU234: Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 24; E. Müller, Referat, M 66. Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 24. 232 SKJStPO-Schlüchter, § 244 Rn. 92 (Abs. 3 S.2 Var. I), Rn. 96 (Var. 2), Rn. 99 (Var. 3), Rn. 100 (Var. 4), Rn. 113 (Var. 5), Rn. 119 (Var. 6), Rn. 124 (Var. 7), Rn. 137 (Abs.4 S. 2).; Keller, ZStW 101 (1989), S. 388 ff.; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 418 f.; KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 66; ders., FS-Boujong, S. 786 ff.; a.A. Engels, GA 1981, S. 26 ff.; vgl. zum Diskussionsstand: ter Veen, Beweisumfang, S. 68 ff. m.w.N. 233 BGH JZ 1988, S. 982; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 419, 622 f.; KKJ StPO-Herdegen, § 244 Rn. 81; AK/StPO-Schöch, § 244 Rn. 76, 95 ff.; Maatz, FS-Remmers, S. 581; a.A. Engels, Aufkl!irungspflicht, S. 40 f., 116; ders., GA 1981, S. 27. 234 In beiden Fällen muß allerdings nach bisheriger Ansicht die Beweisantizipation prospektiv an dem beantragten Beweis selbst und seiner Beziehung zum Verfahrensgegenstand ansetzen; dieser muß also aus sich selbst heraus völlig ungeeignet oder offenkundig sein. Unzulässig ist hingegen der retrospektive Rückgriff auf das bisherige Beweisergebnis (KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 77, und LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 279; abweichend jetzt BGH StV 1997, S. 567 [569], m. abI. Anm. Wohlers, StV 1997, S. 571 230

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

Bei der Offenkundigkeit (Var. 1) folgt dies daraus, daß die Deklarierung einer Beweistatsache oder ihres Gegenteils 235 als offenkundig denknotwendig die (antizipierende) Negation der jeweiligen Antithese beinhaltet236 . Und da die Feststellung der präsumtiven Ungeeignetheit (Var.4) eines Beweismittels ein prognostisches Urteil erfordert, ist auch hier ohne eine gewisse Vorbeurteilung des mutmaßlichen Beweisergebnisses nicht auszukommen237 ; deutlich zeigt sich dies in Fällen bloß subjektiven Unvermögens 238 , in denen die Ungeeignetheit aus der "absoluten" Unglaubwürdigkeit des Zeugen oder seiner mangelnden Erinnerungsfähigkeit geschlossen wird239 . Auch der Ablehnungsgrund der Prozeßverschleppung (§ 244 Abs. 3 S. 2 Var.6 StPO) filhrt das Beweisantizipationsverbot nicht strikt durch240 . Er gestattet nach ganz überwiegender Ansicht die Ablehnung, wenn drei Voraussetzungen kumulativ erfilllt sind: Die begehrte Beweiserhebung würde den Verfahrensabschluß wesentlich hinauszögern (objektiver Faktor), der Antragsteller ist sich dieser Umstände bewußt und bezweckt dies auch ausschließlich (intentionaler Faktor) und das Gericht ist schließlich selbst der Auffassung, daß die Beweisaufnahme nichts Sachdienliches zugunsten des Antragstellers einbringen werde (prognostischer Faktor)241 . Die danach vorausgesetzte eigene Überzeugung des Gerichts von der Fruchtlosigkeit der beantragten Beweiserhebung (prognostischer Faktor) setzt eine gedankliche Vorbeurteilung des prospektiven = NStZ 1997, S. 503 (504) m. abI. Anm. Herdegen, NStZ 1997, S. 505 f; zur Differenzierung zwischen prospektiver und retrospektiver Beweisantizipation vgl. Kühl, Prozeßgegenstand, S. 63 f 235 Nach h.M. erlaubt § 244 Abs. 3 S.2 Var. 1 StPO sowohl die Ablehnung wegen Offenkundigkeit der Beweistatsache als auch wegen Offenkundigkeit ihres Gegenteils (AlsbergINüseIMeyer, Beweisantrag, S. 419,531 f.; zweifelnd Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 208; Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 37 f.; a.A.: Engels, GA 1981, S. 29 f; Grünwald, Beweisrecht, S. 93; ausfiihrIich Keller, ZStW 101 [1989], S. 384 ff.). 236 Herdegen, NStZ 1984, S. 98. 237 AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 602 f., 610; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 215; KKiStPO-Herdegen, § 244 Rn. 66; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 278. 238 Zur Differenzierung zwischen objektiver Unmöglichkeit (ein Blinder soll aussagen, ob die Lichtzeichenanlage rot oder grün zeigte) und subjektivem Unvermögen vgl. KKiStPO-Herdegen, § 244 Rn. 77 f.; AKlStPO-Schöch, § 244 Rn. 92. 239 Alsberg/NüseIMeyer, Beweisantrag, S.419, 602, 610 ff.; KKiStPO-Herdegen, § 244 Rn. 77 f.; ablehnend zu dieser Fallgruppe Engels, GA 1981, S. 27 f. 240 BGHSt 21, S. 118 (121 f); BGH NStZ 1990, S. 350 (350); Kühne, Strafprozeßlehre, Rn. 452.1; AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S.30, 419, 637, 6411642; LRGollwitzer, § 244 Rn. 183, 211; AKlStPO-Schöch, § 244 Rn. 76, 112; KKlStPO-Herdegen, § 244 Rn. 66, 88; ders., NStZ 1984, S. 98; ders., FS-Boujong, S. 787; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 43 Rn. 19; KleinknechtIMeyer-Goßner, § 244 Rn. 68; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 552.1; Wendisch, NStZ 1990, S. 3511352. 241 BGH NStZ 1990, S.350 (350); BGH NJW 1992, S. 2711 (2712); BGH StV 1998, S. 4 (4); Schulz, StV 1985, S. 313; KKlStPO-Herdegen, § 244 Rn. 86; AKlStPOSchöch, § 244 Rn. 107; Fezer, StV 1995, S. 263 m.w.N.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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Beweisergebnisses und Beweiswertes notwendig voraus: Denn die Frage, ob die Beweiserhebung etwas zugunsten des Antragstellers erbringen werde, läßt sich nicht beantworten, ohne daß die Wahrscheinlichkeit der Bestätigung der Beweistatsache und die Qualität des Beweismittels bewertet wird242 • Damit erfordert auch der Ablehnungsgrund der Prozeßverschleppung eine negative Beweisprognose des Gerichts. Die erste Prämisse der Identitätslehre - ein umfassendes Verbot der Beweisantizipation - ist mit dem Nachweis der Zulässigkeit von Beweisantizipationen im Beweisantragsrecht widerlegt. Damit ist zwar ihre Ausgangsposition erschüttert, der behaupteten Deckungsgleichheit jedoch nicht der Boden entzogen. Denkbar ist nämlich, daß es zwar geringe Ausnahmen vom Beweisantizipationsverbot gibt, diese aber wiederum - im Sinne der zweiten Prämisse der Identitätslehre (s.o.) - in gleichem Maße rur Beweisantragsrecht wie Amtsaufklärungspflicht gelten243 • Auch sie ist jedoch verfehlt: Daß im Rahmen der von Amts wegen gebotenen Aufklärung nur die im Beweisantragsrecht anerkannten engen Ausnahmen filr eine Negativauslese zulässig sind, trifft nicht zu. (b) Die unterschiedliche Reichweite des Beweisantizipationsverbots Die Gefahren filr die Wahrheitsermittlung, die jeder Beweisantizipation immanent sind, scheinen zwar in der Tat dafilr zu sprechen, auch im Rahmen der Amtsaufklärungspflicht nur die marginalen Ausnahmen von dem Verbot anzuerkennen, die das Beweisantragsrecht zuläßt. Die frühe Einsicht des Reichsgerichts in das "Wechselspiel der Beweisprinzipien" muß hier gelten: Der beweistheoretische Fundamentalsatz, daß der Beweiswürdigung grundsätzlich eine von Beweisantizipationen befreite Beweissarnmlungsphase voranzugehen hat, wird sich auch bei einem ausschließlich an den Imperativen der Aufklärungspflicht orientierten Erkenntnisgang nicht bestreiten lassen. Auch hier gilt der Erfahrungssatz, daß der Gebrauch eines nicht offensichtlich untauglichen Beweismittels entgegen aller Erwartung des Ge-

242 Herdegen, NStZ 1984, S.98; A/sberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S.30, 642; demgegenüber ist zum Nachweis des intentionalen Faktors eine Beweisantizipation im eigentlichen Sinne nicht erforderlich (so aber BGHSt 21, 118 [121]; KaI/hasser, Stellung, S. 234; KMR-Pau/us, § 244 Rn. 430; AKlStPO-Schöch, § 244 Rn. 112), weil das Gericht aufgrund der mit dem Beweisantragsrecht verbundenen Prognosekompetenz die inhaltliche Plausibilität der Beweiserwartungen des Antragstellers grundsätzlich nicht zu überprüfen hat (Frister, StV 1989, S. 381; Tho/e, Scheinbeweisantrag, S. 188; vgl. auch ter Veen, Beweisumfang, S. 239 f.; 2. Kapitel, B. 1. 3. a). 243 So Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 12, Rn. 98.

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

richts das bis dahin fiir zuverlässig gehaltene Bild erschüttern kann244 . Deshalb muß das Beweisantizipationsverbot auch im Rahmen der Amtsautklärung prinzipiell Geltung beanspruchen245 . Es stellt also keine "Besonderheit des Beweisantragsrechts,,246 dar, die - wie zum Teil behauptef47 - bei von Amts wegen betriebener Beweisaufnahme gar nicht zu beachten wäre. Jedoch herrscht das Beweisantizipationsverbot im Bereich der Amtsautklärung nicht in gleicher Strenge wie im Beweisantragsrecht. Es dient zwar auch hier der Wahrheitserforschung und damit letztlich der materiellen Gerechtigkeit. Eine strenge Anwendung wäre jedoch nach den Imperativen des Beweisantragsrechts unter eben diesem Gesichtspunkt dysfunktional: . Zum einen ist es nicht so, daß eine weitausgedehnte Beweisaufnahme stets die größte Gewähr fiir eine auf wahrer Tatsachengrundlage beruhende Entscheidung bietet248 . Einer einfachen Proportionalität nach dem Schema, umso umfassender die Beweisaufnahme desto richtiger das Urteil, stehen anthropologische Bedingtheiten und weitere faktische Einschränkungen des Beweisens entgegen. Denn das menschliche Auffassungs- und Verarbeitungsvermögen ist begrenzt: Bereits verhandelte Umstände verblassen, Details gehen verloren, bestimmte Eindrücke verlieren ihre Komplexität und werden auf ein leicht erinnerbares Maß reduziert249 . Je länger sich die Beweisaufnahme hinzieht, umso schwerer wird es fiir den Richter, dem Gebot des § 261 StPO zu entsprechen: Seine Überzeugung aus dem "Inbegriff der Verhandlung" zu schöpfen. Auch durch Notizen oder andere Hilfsmittef50 läßt sich die lebendige Erinnerung

244

Julius, NStZ 1986, S. 63; Engels, GA 1981, S. 32; Wesseis, JuS 1969, S. 7.

245 Ebenso die überwiegende Ansicht im Schrifttum: Mattern, Wahrunterstellung,

S. 11; Gutmann, JuS 1962, S. 374; AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 412; Herdegen, Beweisantragsrecht, S.28; ders., NJW 1996, S.28; ders., FS-Boujong, S.785; KleinknechtIMeyer-Goßner, § 244 Rn. 12; Widmaier, NStZ 1994, S. 216; Perron, Beweisantragsrecht, S. 217; ders., JZ 1995, S. 211; Liemersdorf, StV 1987, S. 176; SKI StPO-Schlüchter, § 244 Rn. 37; dies., Weniger ist mehr, S. 38; auch in der Rspr. wird z.T. darauf hingewiesen, daß Beweisantizipationen nur eingeschränkt zulässig sind (Maul, FG-Peters, S. 50; Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 28/29 m.w.N.). 246 So Hamm, Einleitung, S. 16. 247 BGHSt 40, S.60 (62): "vom Verbot der Beweisantizipation befreit"; BGH StV 1997, S. 511 (511). 248 Wesseis, JuS 1969, S. 6 f.; Driendl, Verfahrensökonomie, S. 269 f.; Julius, Unerreichbarkeit, S.89, 107 f.; Holz, Beweiserhebungsumfang, S. 14 f.; Perron, JZ 1994, S.829; ter Veen, Beweisumfang, S.208; offenbar a.A. Schulz, AnwBl 1983, S.493: "Steigerung des Umfangs der Beweisaufnahme [kann] nie die Richtigkeit des Urteils gefährden". 249 Vgl. Julius, Unerreichbarkeit, S. 90; Herrmann, ZStW 85 (1973), S. 260; Peters, Strafprozeß, S. 552. 250 Wie Protokollauszüge oder Tonbandaufzeichnungen (vgl. hierzu Herrmann, ZStW 85 [1973], S. 260).

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

229

nicht konservieren251 . Das Ideal der StPO ist deshalb die konzentriert durchgefiihrte Beweisaufnahme, möglichst "in einem Zug,,252. Umschrieben wird es als "Konzentrationsmaxime,,253, gesetzlichen Ausdruck fmdet es etwa in den §§ 228, 229 StPO über die Unterbrechung und Aussetzung des Verfahrens 254 . Für eine zügig durchgefiihrte Beweisaufnahme spricht aber nicht nur die beschränkte subjektive richterliche Verarbeitungskapazität, sondern auch die objektive, mit zunehmender Dauer der Beweisaufnahme eintretende Verschlechterung des Beweismaterials: Eine Beweistrübung ist mit fortschreitendem Zeitabstand zur Tat unvermeidbar. Sie resultiert vor allem aus der Vergänglichkeit der sachlichen Beweismittel und den zunehmenden Erinnerungslücken bei den Zeugen und deren verstärkter Neigung zu Konfabulationen255 . Zum anderen ist folgender Einwand zu berücksichtigen: Müßte der Tatrichter wegen einer strengen Bindung an das Beweisantizipationsverbot von Amts wegen jedes nur erdenkliche Beweismittel heranziehen, bei dem eine irgendwie geartete Chance besteht, daß es einen Aufklärungszuwachs bringt - und das theoretisch auf Beweisantrag hin zu berücksichtigen wäre - würden viele Strafverfahren zu praktisch endlosen Veranstaltungen. Unabhängig von den negativen Auswirkungen einer solchen ausufernden Beweisaufnahme auf das jeweilige Verfahren bestünde fiir die Strafrechtspflege insgesamt die Gefahr, daß ihre - nicht unbegrenzt vermehrbaren 256 - finanziellen und personellen Ressourcen letztlich überfordert würden 257 . Die Erledigungskapazität einzelner Spruchkörper erschöpfte sich in wenigen langwierigen Verfahren, während andere nicht mehr durchgefiihrt werden könnten 258 . Sailer, NJW 1977, S. 25; Peters, Strafprozeß, S. 552. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 16 Rn. 5, § 42 Rn. 6. 253 Vgl. Peters, Strafprozeß, S. 552 f.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 16 Rn. 5, § 42 Rn. 6; Kühne, Strafprozeßlehre, Rn. 125 ff.; KKlStPO-Pfeiffer, Einl. Rn. 10; über die Konzentrationsmaxime hinaus, die nach zügiger Durchführung der Hauptverhandlung verlangt, gilt für alle Verfahrensstadien als allgemeines Prinzip der Beschleunigungsgrundsatz (Roxin, a.a.O., § 16 Rn. 3 f.; KKlStPO-Pfeiffer, a.a.O., Rn. 11; Julius, Unerreichbarkeit, S. 90 Fn. 181; ter Veen, Beweisumfang, S. 210 Fn. 64). 251

252

254 Nach BGHSt 23, S.224 (226) dient die restriktive Aussetzungsregelung dazu, daß nicht "der Eindruck von der mündlichen Verhandlung abgeschwächt und die Zuverlässigkeit der Erinnerung an die Vorgänge in der Hauptverhandlung beeinträchtigt" wird. 255 Julius, Unerreichbarkeit, S.91; Glasenapp, NJW 1982, S.2058; Küng-Hofer, Beschleunigung, S. 23 f.; Rebmann, NStZ 1984, S. 244; Kintzi, DRiZ 1994, S. 328; ter Veen, Beweisumfang, S. 208. 256 Hendel, DRiZ 1980, S.377; Gollwitzer, FS-Kleinknecht, S. 153; Schroeder, NJW 1983, S. 138. 257 Perron, JZ 1994, S.829; ter Veen, Beweisumfang, S. 213; Hassemer, Einführung, S. 150 f.: "Dem Strafverfahren fehlt es an Zeit, an Menschen und an Gelcf'; es geht um eine "Verteilung des Mangels". 258 Vgl. AKJStPO-Schöch, § 244 Rn. 29.

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

Zunächst ist dies ein Einwand gegen die Praktikabilität der Identitätslehre259 , gewissermaßen ein (teleologisches) "argumentum ad absurdum"z60. Doch im Grunde geht es darum, daß die Verwirklichung des materiellen Strafrechts, gleichfalls Bestandteil des Katalogs der Strafverfahrensziele, in weiten Teilen nicht mehr gewährleistet wäre: Die rechtsstaatlich gebotene "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege,,261 erfordert eine "geordnete und effektive Beweiserhebung,,262, was auch eine sinnvolle Eingrenzung umfaßt263 . Eine Abwägung zwischen den Belangen der Wahrheitserforschung, der Konzentrationsmaxime und dem Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege ist somit unerläßlich 264 . Sie fUhrt zu dem Ergebnis, daß der Tatrichter zu "ausufernder Aufklärung" (BGH) nicht verpflichtet werden kann 265 . Denn im Bereich der Sachaufklärung von Amts wegen, wo er ständig gezwungen ist, über die Notwendigkeit und den Umfang einer weiteren Beweisaufuahme zu entscheiden, wäre ohne gerichtliche Beweisprognosen und -selektionen ein sinnvolles Prozedieren ebensowenig möglich wie die Erledigung des Verfahrens in absehbarer Zeie66 . Der Tatrichter muß zur Beurteilung der Frage, ob eine weitere Beweiserhebung geboten

259 Schmidt-Hieber, JuS 1985, S. 293 f.; i.E. ebenso Julius, Unerreichbarkeit, S. 107 f.; ders., NStZ 1986, S. 63; AKJStPO-Schöch, § 244 Rn. 29; Frister, ZStW 105 (1993), S. 343 f.; ter Veen, Beweisumfang, S. 66. 260 In der traditionellen Logik ist das argumentum ad absurdum (apogogischer Beweis) die Beweisführung mittels Widerlegung des kontradiktorischen Gegenteils. Überwiegend wird der apogogische Beweis jedoch nicht als formal-logische Schlußform, sondern inhaltlich - d.h. an teleologischen Sachargumenten ausgerichtet - verwandt: Von der Untragbarkeit des Auslegungsergebnisses wird auf die L'nrichtigkeit des Ausgangspunktes geschlossen; siehe E. Schneider, Logik, S. 167 ff.; Gast, Rhetorik, Rn. 339 f. 261 Siehe oben I. Teil: 1. I. 2., und unten H. 3. a). 262 BVerfGE 38, S. 105 (115 f., 120). 263 Vgl. BVerfG StV 1997, S. I (2) = NJW 1997, S.999 (1000); an dem Beispiel von Schmidt-Hieber, JuS 1985, S. 293, läßt sich das plakativ verdeutlichen: Vor ausverkauftem Fußballstadion hat es ein Absichtsfoul gegeben. Nach der Identitätslehre wären alle (l) ermittelbaren Zuschauer (möglicherweise mehrere Tausend) als Zeugen zu vernehmen: Denn wegen des uneingeschränkten Beweisantizipationsverbots müßte auch bei identischen Aussagen noch der letzte Zuschauer geladen werden. 264 BGHSt 32, S. 68 (73); BGH NStZ 1994, S. 247 (248) = StV 1994, S. 169 (171); SKJStPO-Schlüchter, § 244 Rn. 40; Perron, Beweisantragsrecht, S. 217; ter Veen, Beweisumfang, S. 205 ff., 210 ff.; DERS., StV 1990, S. 571 f. 265 BGH NStZ 1994, S. 247 (248) = StV 1994, S. 169 (170); vgl. auch BGHSt 30, S. 131 (140). 266 AKJStPO-Schöch, § 244 Rn. 29; Perron, JZ 1994, S. 829; ders., Beweisantragsrecht, S. 217; Hamm, Einführung, S. 16/17; Julius, Anmerkung zu OLG Zweibrücken, OLGSt 6, § 244 StPO Nr. 12, S. 26; vgl. auch BVerfG StV 1997, S. I (2) = NJW 1997, S. 999 (1000).

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

231

und aussichtsreich ist, notwendig bestimmte Erfahrungssätze zugrundelegen267 • Für jeden einzelnen denkbaren Beweis die Probe auf das Exempel zu machen, hieße, das Verfahren mit redundanten Informationen zu blockieren. Nicht jede Chance fiir eine weitere Beweiserhebung braucht ausgenutzt zu werden268 • Im Rahmen der Amtsaufklärung kann daher von Beweiserhebungen abgesehen werden, bei denen nach der Lebenserfahrung und mangels besonderer Anhaltspunkte davon auszugehen ist, daß sie nichts einbringen269 . Kennzeichnend fiir die Amtsaufklärungspflicht ist also die Einschätzungsprärogative des Tatgerichts. Diese unterliegt zwar - anders als in der frühen Rechtsprechung des Reichsgerichts - revisionsgerichtlicher Überprüfung, der entscheidende Maßstab fiir die Zulässigkeit der Beweisprognosen und -selektionen ist jedoch die sich am Einzelfall orientierende verständige Würdigung des Tatrichters27o • Bestimmend ist, ob sich aus seiner Sicht eine weitere Beweisaufnahme aufdrängt oder zumindest naheliegr71 , und nicht der abschließend

267

S. 19.

AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 3l!32; Holz, Beweiserhebungsumfang,

BGH NStE Nr. 105 zu § 244 StPO. BGH NStZ 1984, S. 134 (134); NStZ 1992, S.450 (451); BGHSt 36, S. 159 (164/165); BayVerfGH NStE Nr. 42 zu § 244 StPO; AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 32; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 46; Maul, FG-Peters, S. 50; DahslDahs, Revision, Rn. 247. 270 BGH NJW 1951, S.283 Nr.22; BGH NStZ 1994, S.247 (248) = StV 1994, S. 169 (170); BayVerfGH NStE Nr. 42 zu § 244 StPO; KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 21; ders., NStZ 1984, S.98; ders., Beweisantragsrecht, S. 28 f.; Kleinknechtl Meyer-Goßner, § 244 Rn. 12; SKiStPO-Paeffgen, § 420 Rn. 18; SKiStPO-Schlüchter, § 244 Rn. 37; dies., FS-Spendel, S. 741; Holz, Beweiserhebungsumfang, S. 16 f.; Widmaier, NStZ 1994, S. 249 f.; Malek, Verteidigung, Rn. 259; Eisenberg, Beweisrecht, S. 11; Wohlers, StV 1997, S.570. Die von der Rechtsprechung (BGHSt 23, S. 176 [188]; 30, S. 131 [143]; BGH StV 1981, S. 164 [165]; offengelassen jetzt von BGH NStZ 1994, S.247 [248] = StV 1994, S. 169 (170)) mitunter gebrauchte Formel, der Tatrichter sei verpflichtet, ein Beweismittel auszuschöpfen, wenn nur die entfernte Möglichkeit einer Änderung der bisher begründeten Vorstellung von dem zu beurteilenden Sachverhalt besteht, ist dagegen zu eng (Herdegen, NStZ 1984, S. 98; SKiStPO-Paeffgen, a.a.O.). Für die Praxis stellt die Formel mehr einen Appell an das richterliche Verantwortungsbewußtsein als einen wortwörtlich zu verstehenden Imperativ dar (vgl. Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 31; Strate, StV 1994, S. 172). 271 BGHSt 3, S. 169 (175); 10, S. 116 (119); 36, S. 159 (165, 166); BGH StV 1981, S. 164 (165); BGH NStZ 1985, S.324 (325); BGH NStZ 1990, S. 384 (384); BGH NStZ 1991, S. 399 (399); BGHR StPO § 244 Abs.2: Zeugenvernehmung 4; BGHR StPO § 344 Abs. 2 S. 2: Aufklärungsrüge 3, 4, 6, 7; BGH NStZ 1994, S. 247 (248) = StV 1994, S. 169 (171); BVerfGE 63, S.45 (68); BayVerfGH NStE Nr. 42 zu § 244 StPO; Eb. Schmidt, LK 11 (Nachträge und Ergänzungen), § 244 Rn. 7; Widmaier, NStZ 1994, S. 250; ders., NStZ 1994, S. 418; AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 20; LRGollwitzer, § 244 Rn. 46; 339, 342, 345 f.; Liemersdorf, StV 1987, S. 176; KMR-Paulus, § 244 Rn. 223; KleinknechtIMeyer-Goßner, § 244 Rn. 12,80 ff.; DahslDahs, Revision, Rn. 247; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 43 Rn. 3, § 53 Rn. 30; Maul, FG-Peters, 268

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2. Teil, I. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

definierte Ablehnungskatalog des Beweisantragsrechts272 . Obwohl diese normativen Kriterien von den Revisionsgerichten letztlich retrospektiv aus ihrer Sicht beurteilt werden 273 , bleibt doch den Tatrichtern ein Entscheidungsspielraum erhalten 274 . Das Tatsachengericht darf von der Beweiserhebung absehen, wenn es für die Revisionsinstanz schlüssig, das heißt "intersubjektiv akzeptabel,,275, darlegen kann, daß die in Betracht kommende Beweisaufnahme seiner Ansicht nach mit großer Wahrscheinlichkeit fruchtlos bleiben werde 276 . (c) Verstärktes Beweisantizipationsverbot als Zuweisung autonomer Prognosekompetenz Anders dagegen, wenn ein Beweisantrag gestellt wird: Während im Rahmen der Amtsaufklärung zugunsten einer liquiden Verfahrensdurchführung von Beweiserhebungen abgesehen werden kann, die nach aller Erfahrung nichts einbringen, können durch Beweisantrag die Ausnahmen von den Regeln geltend gemacht werden, die das Gericht zugrundelegt277 . Denn der Ablehnungskatalog des § 244 Abs.3 StPO (und erst recht der des § 245 Abs.2 S. 3 StPO) beschränkt die gerichtliche Kompetenz, durch Beweisantizipationen den Wert des Beweismittels und den Inhalt der Beweisaussage zu überprüfen, auf einen S.50; SKJStPO-Schlüchter, § 244 Rn. 36,177; dies., Strafverfahren, Rn. 710; KKJ StPO-Herdegen, § 244 Rn. 37; ders., NStZ 1984, S. 97 f. 272 Das Begriffspaar "Aufdrängen" und "Naheliegen" verdeutlicht, daß nicht jedes ex post feststell bare Unterlassen einer Beweiserhebung die Revisibilität begründen kann, vielmehr ein sicheres Anzeichen für ein relevantes Aufklärungsdefizit vorliegen muß (LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 347; Nierwetberg, Jura 1984, S. 637; hierzu Wenner, Aufklärungspflicht, S. 205 f., 209, 213 f.). Deutlich zeigt sich dies auch daran, Jaß sich bei der allgemeinen Beschreibung der Aufklärungspflicht zumeist die genannte Doppelformel findet, i.R. der Revisionsrüge hingegen häufig - ohne daß sachliche Unterschiede herausgestellt werden - ein "Aufdrängen" verlangt wird. 273 BGH NStZ 1985, S. 324 (325); BGH StV 1996, S. 581 (582); B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 178; SarstedtlHamm, Revision, Rn. 262; KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 22, 39; ders., Beweisantragsrecht, S. 26, 40; ders., NStZ 1995, S. 202; ders., NJW 1996, S. 28. 274 Oetker, JW 1930, S. 1106; KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 22; Kollhosser, Steilung, S.225 Fn. 36, S. 234 Fn. 56, S. 250; Nierwetberg, Jura 1984, S. 637; Sarstedtl Hamm, Revision, Rn. 262; SKJStPO-Paef!gen, § 420 Rn. 32; vgl. auch Perron, Beweisantragsrecht, S. 162, 220; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 347; offenbar a.A. Gössel, JR 1996, S. 101. 275 Herdegen, NStZ 1995, S. 202. 276 KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 22; ders., NJW 1996, S. 28; ders., FS-Boujong, S. 785; Fezer, StV 1995, S. 263 Fn. 7; E. Müller, AnwBI 1997, S. 90; vgl. auch BGHSt 36, S. 159 (\64/165); BGH NStZ 1985, S. 229 (229); BayVerfGH NStE Nr. 42 zu § 244 StPO. 277 AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 32, und Holz, Beweiserhebungsumfang, S. 19; ähnlich Dencker, ZStW 102 (1990), S. 73 Fn. 71.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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schmalen Bereich: Während sich die Reichweite der Amtsaufklärungspflicht an einer einzelfallbezogenen Beweisprognose des Tatgerichts orientiert278 , wird im Rahmen des Beweisantragsrechts eine Beweisantizipation dank der engen, tatbestandiich ausgeformten Kriterien nur in den abschließend beschriebenen Fällen gestattet279 • Durch diese strukturelle, pauschale Abwägungen und Prognosen weitgehend ausschließende Objektivierung wird das Gericht gezwungen, sich gegenüber der ihm angetragenen Sachverhaltshypothese zu öffnen und auch solche Beweise zu erheben, die es nach Maßgabe seiner Wahrheitserforschungspflicht nicht rur erforderlich oder geeignet zu halten brauche80 • Die Verantwortung dafiir, ob die beantragte Beweiserhebung tatsächlich zu dem prognostizierten Ergebnis fUhren wird, überträgt dabei das Beweisantragsrecht dem Antragsteller: Das Gericht ist an seine Beweisprognose weitgehend gebunden281 , die inhaltliche Plausibilität der Beweiserwartung hat es grundsätzlich nicht zu überprüfen282 . Das Beweisantragsrecht weist damit dem Antragsteller die Kompetenz zu, seine Relevanz- und Ergebnishypothese auch gegen eine negative Beweisprognose des Gerichts durchzusetzen283 • Die Ergebnisprognose bezieht sich auf die Wahrscheinlichkeit der Bestätigung der Beweistatsache, das heißt darauf, ob die Beweistatsache im Sinne der Behauptungen des Antragstellers überhaupt oder jedenfalls mit dem konkreten Beweismittel zu beweisen ist. Die Relevanzbeurteilung zielt dagegen auf den Beweiswert, also auf die Eignung der Beweiserhebung, die richterliche Überzeugungsbildung zu beeinflussen. Gemeint ist: Während das Gericht im Rahmen der Amtsaufklärung in gewissem Umfang auch die BeweisWÜfdigung antizipieren darf 84 , kann der Beweisantragsteller mit Hilfe seiner Beweiswertprognose die "Probe aufs Ex278 BayVerfGH NStE Nr.42 zu § 244 StPO; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 20; KKlStPO-Herdegen, § 244 Rn. 42. 279 BGH StV 1997, S. 567 (568) = NStZ 1997, S. 503 (504); KKlStPO-Herdegen, § 244 Rn. 42, 64; Perron, Beweisantragsrecht, S. 218. 280 KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 42. 281 Frister, ZStW 105 (1993), S. 352. 282 Frister, StV 1989, S. 381; Perron, Beweisantragsrecht, S. 194 f., 202; vgl. bereits Glaser, Handbuch I, S. 398. 283 Werle, JZ 1991, S. 792; E. Müller, Referat, M 66; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 257 f.; ähnlich auch Frister, StV 1989, S. 381; ders., StV 1994, S. 449; ders., ZStW 105 (1993), S. 351 ff., 360 (Kompetenzzuweisung bezieht sich nur auf Ergebnishypothese). 284 BVerfG StV 1997, S. 1 [2] = NJW 1997, S. 999 [1000]; Herdegen, FS-Boujong, S. 785 f.; SKJStPO-Schlüchter, § 244 Rn. 37,82; a.A. Frister, StV 1989, S. 381; ders., StV 1994, S. 449; ders., ZStW 105 (1993) S. 351 ff., 360.

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

empel" verlangen, ob die konkrete Beweiserhebung nicht doch einen Beweiswert haben und die richterliche Überzeugungsbildung beeinflussen wird285 . Der Antragsteller kann so vermeiden, daß das Gericht eine Beeinflussung des Verfahrensergebnisses selbst bei einer Bestätigung der Beweistatsache ausschließt, weil es etwa den Zeugen rur unglaubwürdig hält oder eine weitere Beweiserhebung unterläßt, weil es bereits vom Gegenteil der behaupteten Tatsache überzeugt ist. In der Kompetenzzuweisung, prospektiv über den Erfolg einer weiteren Beweiserhebung zu urteilen, liegt die eigentliche Bedeutung des Beweisantragsrechts286 . Kraft seiner Prognosekompetenz hat der Antragsteller eine selbständig und in eigener Verantwortung auszuübende Rechtsrnacht, an der Sammlung des potentiell entscheidungserheblichen Beweisstoffs mitzuwirken 287 . Die entscheidende, aus dieser Kompetenzzuweisung resultierende (Macht-) Frage, wie sie sich in der aktuellen Kontroverse zwischen Tatrichtern und Strafverteidigern um das Beweisantragsrecht widerspiegelt, lautet demnach: Wer hat die Einschätzungsprärogative, die Erfolgsaussichten eines noch nicht erhobenen Beweises zu beurteilen, das Gericht (§ 244 Abs. 2 StPO) oder die Angeklagtenseite (§ 244 Abs. 3 StPO) ?288 Deutlich zeigt sich die mit einem Beweisantrag einhergehende Verlagerung der Prognosekompetenz am Ablehnungsgrund der Prozeßverschleppungsabsicht (§ 244 Abs.3 S.2 Var.6 StPO). Die Ablehnung eines Beweisantrag wegen

285 Denn weder läßt sich das Beweisergebnis und die oft von Einzelheiten des gesamten Geschehens beeinflußte Komplexität der Eindrücke einer realen Beweiserhebung vollständig abstrakt-gedanklich antizipieren noch hat ein nur vorgestelltes Beweisergebnis in der Würdigung die gleiche Dignität wie ein konkret festgestelltes; vielfach wird das Gericht häufig einem nur unterstellten Beweisergebnis einen geringen Beweiswert zumessen als einem Beweisergebnis, über dessen Existenz es sich in der Hauptverhandlung überzeugen konnte; vgl. Pieth, Beweisantrag, S. 289, 311, 326, 351/352; Frister, ZStW \05 (1993), S. 354; ter Veen, Beweisumfang, S. 60; Peters, Fehlerquellen, Bd. 2, S. 228; Arzt, Strafrechtsklausur, S. 196; Perron, JZ 1994, S. 829; ders., Beweisantragsrecht, S.79, 227, 232 f.; vgl. Herdegen, FS-Boujong, S. 784 ("suggestive Wirkung einer Beweisaufnahme"). Die Problematik ist vom Ablehnungsgrund der Wahrunterstellung (§ 244 Abs. 3 S. 2 Var. 7 StPO) bekannt: Den als wahr unterstellten Tatsachen fehlt die Überzeugungskraft erwiesener Fakten (vgl. KKlStPO-Herdegen, § 244 Rn. 93; hierzu schon Heinemann, ZStW 26 [1906], S. 535; ausfiihrlich: Grünwafd, Beweisrecht, S. 96; Perron, Beweisantragsrecht, S. 227 Fn. 274, 232 f. 286 Werfe, JZ 1991, S. 793; E. Müller, Referat, M 66; ders., AnwBl 1997, S. 90; bezüglich der Ergebnisprognose auch Frister, ZStW \05 (1993), S. 351, 360, und Hirsch, Prozeßverschleppung, S. 41 ff., 45. 287 Werfe, JZ 1991, S. 792; KKlStPO-Herdegen, § 244 Rn. 42; Hamm, Einfiihrung, S. 18; vgl. auch Dencker, ZStW 102 (1990), S. 73 f., 78; Hassemer, Einfiihrung, S. 141. 288 Schulz, StV 1991, S. 361: "Hier geht es um das Verhältnis von Gewichten und Gegengewichten im Rahmen institutionalisierter Abläufe, um die Verteilung und Verschränkung von Macht".

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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Prozeßverschleppung ist nicht schon dann zulässig, wenn das Gericht - aufgrund seiner Prognose - zu der Auffassung gelangt, die Beweiserhebung werde fruchtlos verlaufen (prognostischer Faktor). Auch wenn es die Beweisaufuahme tUr noch so aussichtslos hälf89 , kann der Beweisantrag nur abgelehnt werden, wenn zugleich dem Antragsteller nachgewiesen wird, daß auch er sich dieser Umstände bewußt ist und sich selbst von der Beweiserhebung keinen sachlichen Erfolg verspricht (intentionaler Faktor)290 . Der Nachweis dieses intentionalen Faktors ist aber nur im Beweisantragsrecht erforderlich. Würde das Gericht dagegen von Amts wegen verfahren, dürfte es sich mit seiner Einschätzung des voraussichtlichen Beweisergebnisses zufriedengeben und bei negativem Ausfall die Beweiserhebung unterlassen 291 . Das heißt: Hier behält das Gericht die Alleinkompetenz zur Prognostizierung der Erfolgsaussichten einer weiteren Beweiserhebung. Das intentionale Moment qualifiziert somit den durch Beweisantrag ausgelösten Beweiserhebungsanspruch durch ein zusätzliches Merkmal gegenüber demjenigen, der aus der allgemeinen Sachaufklärungspflicht des Gerichts folgt. Und dieses zusätzliche Merkmal besteht in der Anerkennung der Kompetenz des Antragstellers, seine subjektive Erfolgserwartung entgegen einer negativen Beweisprognose des Gerichts der konkreten Nachprüfung zu unterwerfen, das heißt auch diejenigen Beweise erheben zu lassen, von denen allein er sich einen sachlichen Erfolg versprichf 92 . Deshalb ist auch das "Informationsargument" der Identitätslehre letztlich nicht tragfähig293 : Zwar ist es richtig, daß oft erst der mit einem Beweisantrag verbundene Informationszuwachs eine Beweistatsache oder ein Beweismittel derart konkretisiert und aus der Masse des rein gedanklich möglichen Beweismaterials hervorhebt, daß auch bei ausschließlicher Geltung der Amtsaufklärungspflicht eine Beweiserhebung erfolgen müßte294 . Doch muß dies nicht stets 289 Erheblichkeit der Beweistatsache und irgendwie geartete Beweismitte1eignung unterstellt (vgl. Kühne, Strafprozeßlehre, Rn. 452.1.; Eb. Schmidt, LK 11, § 244 Rn. 38; BGHSt 21, S. 118 [121/122]). 290 BGHSt 21, S. 118 (121); BGHSt 29, S. 149 (151); BGH StV 1998, S. 4 (4); Aisberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S.642 m.w.N.; KKlStPO-Herdegen, § 244 Rn. 88; Kollhosser, FS-Stree/Wessels, S. 1039; Niemöller, StV 1996, S. 504. 291 Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S.30; Herdegen, NStZ 1984, S. 98 f.; ter Veen, Beweisumfang, S. 65, 75 Fn. 50. 292 Ähnlich Frister, StV 1989, S. 381; ders., ZStW 105 (1993), S. 351, 360; ders., StV 1994, S. 449; ders., StV 1997, S. 153; Schulz, StV 1985, S. 312. 293 I. E. ebenso: Julius, Unerreichbarkeit, S. 103 ff.; ders., NStZ 1986, S. 62 f.; Leisner, Umfang, S. 49 f. 294 Entsprechend ist es ganz h.M., daß der Erfolg von Beweisermittlungsanträgen, für die allein § 244 Abs. 2 StPO gilt, maßgeblich vom Grad ihrer Substantiierung bestimmt wird; vgl. BGHSt 30, S. 131 (140); Wesseis, JuS 1969, S. 5; Bergmann, Beweisanre-

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

so sein. Denn allein bei theoretischer Abstraktion kann es nur eine zutreffende Antwort auf die Frage geben, ob sich - infolge der neuen Informationen - eine weitere Beweisaufnahme aufdrängt oder zumindest nahe liegt. Das Problem für die Praxis liegt demgegenüber im Bereich konkreter Erkenntnis. Sicherlich gibt es einen großen Bereich "positiver" und "negativer Kandidaten,,295 , also sowohl eindeutig naheliegende als auch nicht-naheliegende Beweiserhebungen. Daneben verbleibt jedoch ein Rest "neutraler Kandidaten", bei denen ein objektiv eindeutiger Maßstab fehle 96 . Hier kann die Erfolgsprognose des Gerichts von der Einschätzung des Informationslieferanten abweichen297 . Wegen dieser Möglichkeit divergierender Prognosen läßt sich der Beweisantrag nicht auf die Funktion eines reinen Informationsträgers reduzieren, mit dem lediglich die latent bestehende Aufklärungspflicht aktualisiert wird. Er ist vielmehr das Instrument, um den unvermeidbaren subjektiv-dezisionistischen Restbereich bei der prognostischen Beurteilung des Beweiserfolges durch das Gericht zu überspringen und eine - ebenso subjektive - Gegenthese zu formulieren und entsprechende Verifizierungsbemühungen zu erzwingen. Wenn deshalb der Unterschied zwischen Beweisantragsrecht und Amtsaufklärungspflicht nicht ausschließlich tatsächlicher Art ist (im Sinne eines Informationsgewinns), sondern auch rechtlicher, so folgt das aus der besonderen Kompetenzzuweisung an den Antragsteller, qua Beweisantrag ein verstärktes Beweisantizipationsverbot zu aktivieren, das seine Sachverhaltshypothese, seine "Wirklichkeitstheorie", auch gegen die Überzeugung des Gerichts zur Geltung bringt298. (3) Normative Legitimationfür die Zuweisung einer Prognosekompetenz Bei der Frage nach der Relevanz der Kontroverse um das Verhältnis von Beweisantragsrecht und Amtsaufklärungspflicht ist darauf hingewiesen worden, daß eine Bestätigung der Hypothese der herrschenden Meinung - also: keine

gung, S. 129, 138 ff., 144, 151; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S.88; SKiStPOSchlüchter, § 244 Rn. 69. 295 In der Rechtstheorie verwandte Terminologie zur Feststellung semantischer Unschärfen von Gesetzesbegriffen (vgl. Röhl, Rechtslehre, S. 26; Hassemer, Einführung, S. 181). 296 Vgl. Perron, Beweisantragsrecht, S. 78 f.; ders., ZStW 108 (1996), S. 135; Foth, JR 1996, S. 100; das verkennen Wenner, Aufklärungspflicht, S. 172, und Gössel, JR 1996, S. 101, und GA 1998, S. 254. 297 Kudlich, JuS 1997, S.510; siehe auch Schroeder, Strafprozeßrecht, Rn. 246: "Gesetz berücksichtigt .. einen gewissen Beurteilungsspielraum". 298 Vgl. Schutz, StV 1983, S.346; Frister, StV 1989, S. 381; ders., ZStW 105 (1993), S. 351, 360; E. Müller, Referat, M 66.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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Deckungsgleichheit der jeweiligen Beweiserhebungspflichten - nicht zwangsläufig dazu führt, daß das Beweisantragsrecht unter dem hier interessierenden Gesichtspunkt der Wahrheitserforschung einen Wert hat. Eine Legitimation im Wahrheitsziel müßte verneint werden, wenn der "überschießende", das heißt der von der Amtsaufklärungsptlicht nicht mitabgedeckte Bereich, zur Wahrheitserforschung überflüssig wäre 299 . Sie wäre hingegen zu bejahen, wenn die mit dem verstärkten Beweisantizipationsverbot verbundene Zuweisung einer Prognosekompetenz an den Beweisantragsteller zur Wahrheitsfmdung und damit letztlich zur Herstellung materieller Gerechtigkeit beiträgt. Der Klärung dieser Frage gilt der folgende Untersuchungs schritt. Dabei ist zunächst daran zu erinnern, daß in der Epistemologie spätestens seit Kant die Idee einer der menschlichen Erkenntnis zugänglichen objektiven Wirklichkeit überholt ise oo . Mit einem derartigen objektivistischen ErkenntnisbegriffO I ist auch die Vorstellung unhaltbar geworden, es gebe im Strafverfahren eine "objektive", "absolute" Wahrheit, die das Gericht als Duplikat empirischer Vergangenheit nur aufzufmden brauche (im Sinne der marxistisch-leninistischer "Widerspiegelungstheorie" oder aristotelisch-scholastischer "Korrespondenztheorie,,)302. Jede menschliche Wahrheitserkenntnis stellt sich als etwas Subjektives und damit Relatives da?°3 : Eine Wirklichkeit an sich, die ihm nach Art einer Photographie als bloßes Abbild erscheint, gibt es für den Menschen niche04 •

299 So Schlüchter, Weniger ist mehr, S. 45; dies., GA 1994, S. 412 f.; dies., ÖffentI. Anhörung im Rechtsausschuß des Dt. BT vom 29. 4. 1992, 38. Sitzung, Stenograph. Protokoll, 12. WP, S. 38/143 f. 300 Vgl. etwa H.-L. Schreiber, ZStW 88 (1976), S. 123 (unter Hinweis auf - u. a. Karl R. Popper); Pieth, Beweisantrag, S. 274 ff., insbes. S. 281; Hassemer, Einführung, S. 84 ff., 148 f.; Arth. Kaufmann, FS-Baumann, S. 120 ff., 126; bereits Bendix, JW 1920, S. 268 (mit Hinweis auf das "time-lag" zwischen Erkenntnistheorie und Jurisprudenz). 301 Wie er noch von der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie vertreten wurde (oben 1. Teil: 1.). 302 Zur - unerreichbaren - absoluten Wahrheit siehe auch: Eb. Schmidt, LK 1 Rn. 20; v. Stackelberg, AnwBl 1959, S.190; Wesseis, JuS 1969, S.6; P.-A. Albrecht, NStZ 1983, S.486; Hassemer, Einführung, S. 148 f.; Gössel, ZStW 94 (1982), S.20; ders., Gutachten, C 25; Ostendorf, NJW 1978, S. 1347; Dahs, Handbuch, Rn. 6; ter Veen, Beweisumfang, S. 207. 303 RGSt 66, S. 163 (164); Arndt, NJW 1959, S. 1300; v. Stackelberg, AnwBl 1959, S. 190; Hanack, JZ 1970, S. 562; Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 41 ff.; Hassemer, Einführung, S. 84: "Dieselbe 'Wirklichkeit' mündet in verschiedene Konkretionen. Wer die 'Wirklichkeit' versteht, sie in Fällen und Situationen erlebt, erlebt und versteht sie 'für sich' und deshalb anders als andere". 304 Niethammer, FS-Sauer, S. 27; Arth. Kaufmann, FS-Baumann, S. 121; Boy/Lautmann, Kommunikationssituation, S. 44 f.

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2. Teil, \. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

Die Vorstellung von der Wirklichkeit gleicht vielmehr dem Bild eines Malers, das nach individuellen Wahrnehmungs- und Schaffensstrukturen vom menschlichen Geist angefertigt wird305 . Zugleich wird die Wirklichkeit immer nur in perspektivistischen Ausschnitten getroffen306 . Hierfür gibt es ein schönes alt-indisches Gleichnis: Ein Maharadscha läßt einen Elefanten von einer Anzahl Blinder an jeweils an anderer Stelle befühlen und amüsiert sich dann darüber, daß die Blinden in Streit geraten, weil jeder den von ihm ertasteten Körperteil des unbekannten Tieres für die zutreffende Beschreibung des ganzen Elefanten hält. Ähnlich wie die Blinden konstitutionsgemäß nur Teilaussagen über die Wirklichkeit treffen können, "bilden sich regelmäßig auch Opfer, Zeugen, ermittelnde Polizeibeamte, anklagender Staatsanwalt, Angeklagte samt ihren Verteidigern und schließlich auch die aburteilenden Richter je verschiedene Vorstellungen über den wahrheitsgemäßen Ablauf des Geschehens,,307 . Die beschriebene Relativität menschlichen Erkenntnisvermögens überträgt sich auf die Bestimmung des Beweisaufnahmeumfangs. Ob eine bestimmte Beweisaufnahme dazu geeignet oder ungeeignet ist, etwas zur Wahrheitsfindung beizutragen, wird sich zwar häufig sicher vorhersagen lassen 308 , doch verbleibt ein Bereich, bei dem die Prognosen auseinandergehen können, ohne daß sich ein objektiv eindeutiger Maßstab fmden ließe 309 . Gössel meint hierzu zwar, daß eine "objektive" Bewertung der Entscheidungserheblichkeit retrospektiv durch die Revisionsgerichte erfolge. Hiermit vermengt er aber die normative Frage, wem im Instanzenzug die Letztbeurteilungskompetenz zusteht und die erkenntnistheoretischen Hindernisse, die empirischer Art sind und für das Revisionsgericht in gleicher Weise gelten. Deshalb kann es bei der Frage, ob eine weitere Beweisaufnahme geboten ist oder nicht, nicht ausschließlich auf die - sei es auch revisionsgerichtlich überprüfte - Prognose des Tatgerichts ankommen. Der Preis für ein solches eingleisiges Verfahren der Wahrheitserforschung, bei dem allein das Gericht nach den Imperativen seiner Amtsaufklärungspflicht den Umfang der Beweisaufnahme bestimmt, wäre die unüberprüfte Verwerfung von Sachverhaltshypothesen anderer Verfahrensbeteiligter, die zwar ebenso subjektiv sind wie die

Schlüchter, FS-Spendel, S. 738. Kühne, StV 1996, S. 687; Cloeren, Strafbarkeit, S. 5\. 307 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 20/21; ders., Gutachten, C 25. 308 Wenner, Aufklärungspflicht, S. 172, meint demgegenüber, dies müsse immer der Fall sein. 309 Gössel, JR 1996, S. 101; vgl. auch ders., ZStW 106 (1994), S. 838; Gutachten, C 68; VerhDJT 1994: Diskussion, Bd. 11/2, M 128/129; JR 1995, S. 365; FS-Nishihara, S.223. 305

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B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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Annahmen des Gerichts, deshalb aber auch den gleichen Anspruch auf Verifizierung haben 310 . Ein Schritt zur "Objektivierung" des Erkenntnisvorgangs besteht darin, die Vorverständnisse und Sichtweisen dieser Verfahrensbeteiligten in die Herstellung der "Wahrheit" miteinfließen zu lassen 31l . Ein taugliches Instrument hierfiir ist das Beweisantragsrecht, das die Realität divergierender Prognosen fiir die Wahrheitserforschung fruchtbar macht: Es weist dem Antragsteller die Kompetenz zu, seine Perspektive auch gegen eine abweichende Einschätzung des Gerichts zur Geltung zu bringen, und das nicht nur im Wege abstrakter Behauptungen, sondern durch die konkrete Einfilhrung entsprechender Beweise in den Prozeß, welche damit rur das Gericht die gleiche emotionale Eindrücklichkeit wie das bislang erhobene Beweismaterial erhalten312 . Unterschiedliche Einschätzungen über das mögliche Ergebnis einer Beweisaufnahme sind durch Erhebung des betreffenden Beweises zu klären 313 , denn ob eine Beweiserhebung tatsächlich nichts erbringt, stellt sich erst dann heraus, wenn der Beweis erhoben und das Beweisergebnis in den Zusammenhang der bisher getroffenen Feststellungen eingeordnet wird314 . Der so provozierte Gegensatz unterschiedlicher Wirklichkeits standpunkte ermöglicht einen - intersubjektiv hergestellten - Grad der Annäherung an die Wahrheit, die einem einspurigen Verfahren der Wahrheitsermittlung, einem "inquisitorisch-obrigkeitlichen Alleingang des Richters" (Arndt)315 , verschlossen bleiben muß 316 . Dem wird allerdings von Gössel entgegenhalten, daß es auf die Perspektive der nichtrichterlichen Verfahrensbeteiligten gar nicht ankomme, weil sich das Gesetz bereits mit der Instruktionsmaxime (§ 244 Abs. 2 StPO) und der freien richterlichen BeweisWÜTdigung (§ 261 StPO) auf eines der "divergierenden

Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 43. Vgl. Hassemer, Funktion, S. 143; ders., Einfilhrung, S. 87; ders., zit. nach Barth, ZStW 108 (1996), S. 156; vgl. auch Hetzer, Wahrheitsfindung, S. 72; Baur, Richtermacht, S. 111. 312 Siehe oben (2) (c). 313 Frister, ZStW 105 (1993), S. 363; E. Müller, Referat, M 67; vgl. Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 43. 314 Vgl. bereits RGSt 1, s. 189 (190). 315 Vgl. Arndt, NJW 1959, S. 1300. 316 Das entspricht dem, was Arth. Kaufmann "Konvergenztheorie" der Wahrheit nennt (ARSP 72 [1986], S. 441; FS-Baumann, S. 130; Jura 1993, S. 240; Grundprobleme, S. 216; ders./Hassemer, Einfilhrung, S. 174): Jeder am Verfahren Beteiligte sieht den verhandelten Prozeßgegenstand aus seiner Sicht anders. Hält man diese divergierenden Aussagen über ein und dasselbe Thema, den identischen Prozeßgegenstand, gegeneinander, dann schwächen sich sich die subjektiven Momente aneinander ab, während die objektiven Momente konvergieren, weil sie aus demselben Gegenstand stammen. 310

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2. Teil, I. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

Wahrheitsbilder" festgelegt habe: auf dasjenige des Richters 31 ? Das Gericht habe sich selbst durch eigene Tätigkeit eine der objektiven Wahrheit möglichst nahekommende Überzeugung vom Geschehensablauf zu verschaffen318 . Von einem "Widerstreit oder gar einem Kampf der verschiedenen Wahrheitsbilder" könne deshalb "nicht eigentlich [?] die Rede sein,,319 . Dazu ist zu sagen: Daß es letztlich auf die Überzeugung des Tatrichters ankommt und die Entscheidung zuletzt bei ihm liegt, ist so richtig wie banal. Hierüber darf die Forderung nach Teilhabe am Verfahren der Wahrheitsfindung nicht hinwegtäuschen 320 . Doch steht Gössel mit seiner Argumentation auf dem Stand der - bereits vom Reichsgericht überwundenen - "Überzeugungstheorie,,321 . Ihr ist zu erwidern: Beweissammlungsphase und BeweisWOrdigung (Entscheidung) - das heißt: das Objekt der Wertung und die Wertung des Objekts322 - sind auseinanderzuhalten 323 . Hieran ist im Interesse der Wahrheitsfrndung nicht zu rütteln. Daraus, daß das Urteil letzten Endes anhand des richterlichen "Wahrheitsbildes" gefällt wird324 , folgt nicht, daß sich dieses "Wahrheitsbild" im vorangehenden Beweisverfahren ohne Mitwirkung der Angeklagtenseite und der Staatsanwaltschaft entwickeln soll325 . Gerade weil der Richter den Dialog in einem personal-autoritativen Entscheidungsakt abbrechen muß, der auch "bei höchster Kultivierung nicht frei von irrationalen Komponenten und anderen subjektiven Bedingtheiten,,326 ist, kommt es auf eine dialektische Vorbereitung seiner Entscheidung an, die auch abweichende Interpretationen von Wahrheit in den Erkenntnisprozeß miteinbeziehe 2? Nur wenn die subjektive Überzeugungsbildung des Richters auf eine 3\7 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 21; ders., Gutachten, C 25; ders., GA 1995, S. 285; ähnlich auch Hanack, JZ 1970, S. 562. Ablehnend: Pieth, Beweisantrag, S. 283 ff. 3\8 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 28. 3\9 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 21; ders., Gutachten, C 25; ders., GA 1995, S. 285. 320 H-L. Schreiber, ZStW 88 (1976), S. 144. 32\ Eine weitere Friktion in Gössels Argumentation liegt darin, daß er zwar zu Recht in der Erforschung der Wahrheit ein verfassungsrechtliches Gebot sieht, dann aber die Beschränkung auf das Wahrheitsbild des Richters - d.h. auf die "ha1be Wahrheit" (Pieth, Beweisantrag, S. 290) - durch das einfache Recht der StPO postuliert, ohne zu erklären, wie sich diese Einschränkung mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben in Einklang bringen läßt. 322 Herdegen, Beweisantragsrecht, 164. 323 V gl. oben 1. Teil: C. 11. 1. 324 Vgl. Hassemer, Einruhrung, S. 143. 325 Pieth, Beweisantrag, S. 284 f. 326 Herdegen, NStZ 1984, S. 97; vgl. auch ders., Beweisantragsrecht, S. 61. 327 Pieth, Beweisantrag, S. 325 f.; Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 46 ff.; Herdegen, NStZ 1984, S. 97; Perron, JZ 1994, S. 829.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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"intersubjektive Objektivität,,328 aufbauen kann, besteht ein hinreichend objektives Fundament fiir das Urteil 329 . Die prozessual bestmögliche Wahrheit bildet sich mithin in einem Interaktionsvorgang330 und nicht in einem monologischen Verfahren331 . Damit wird nicht - wie Gössel meine 32 - einem Parteiverfahren das Wort geredet, das unter dem hier interessierenden Gesichtspunkt der Wahrheitserforschung bedenklich wäre 333 und von ihm zu Recht ablehnt wird334 . Gössel verkennt mit seinem Einwand aber die Verschränkung von Beweisantragsrecht und Amtsaufklärungspflicht: Denn "um der Richtigkeit des Urteils willen soll die Inquisitionsmaxime den Gefahren des Parteiprozesses wehren, wie umgekehrt die parteiprozessualen Komponenten [zuvörderst das Beweisantragsrecht] die Gefahren des Inquisitionsverfahrens kompensieren sollen.,,335 Das Beweisantragsrecht trägt somit dazu bei, die Wahrheitsfmdung im Strafverfahren zu optimieren. Damit hat es im Verfahrensziel "Wahrheitserforschung" eine normative Stütze.

Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 49. Die neuere Literatur und Rechtsprechung des BGH geht davon aus, daß die richterliche Überzeugung sich auf eine verläßliche Tatsachenbasis stützen muß: Neben der subjektiven Komponente der persönlichen Gewißheit wird ein objektives Korrelat verlangt; vgl. etwa BGH NStZ 1987, S. 473 (473/474); NStZ 1988, S. 236 (237); BGH StV 1993, S. 510 (511); anders noch BGHSt 10, S. 208 (210); P.-A. Albrecht, NStZ 1983, S. 487 ff.; KKiStPO-Herdegen, § 244 Rn. 18; ders., NStZ 1984, S. 97; ders., Beweisantragsrecht, S. 61 ff., 144 ff., 166; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 392 ff., 405, 407 ff.; BenderlNack, Tatsachenfeststellung, Rn. 360 ff.; PfeifferlFischer, § 261 Rn. 2. 330 Zur Interaktion als Struktur des Strafprozesses siehe Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 1 ff., passim; Interaktion darf freilich nicht als harmonisches miteinander und aneinander Verstehen mißverstanden werden (Hassemer, Einfiihrung, S. 139); dem steht die konfliktbehaftete Realität unterschiedlicher Interessenlagen entgegen (Pieth, Beweisantrag, S. 282: "im Kern eine Machtfrage"). 331 Pieth, Beweisantrag, S. 282 ff.; Hassemer, Einfiihrung, S. 139, 141, der das Beweisantragsrecht als Teilnahmerecht an einem interaktiven Verstehensprozeß bezeichnet (instruktiv auch seine Unterscheidung von "szenischem Verstehen" im Strafverfahren und "Textverstehen" bei Auslegung des materiellen Strafrechts; a.a.O., S. 122 ff.). 332 JR 1996, S. 10 1; ders., GA 1998, S. 254 f.; ders., FS-Nishihara, S. 224 f. 333 Zu den Gründen siehe Perron, Beweisantragsrecht, S. 472. 334 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 29; ausfiihrlicher hierzu Peters, Strafprozeß, S. 101. 335 Schulz, StV 1991, S. 361; vgl. auch Widmaier, NStZ 1994, S. 416; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 258. 328

329

16 Schatz

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

(4) Zusammenfassung

Im Ergebnis ist demnach festzuhalten, daß das Beweisantizipationsverbot zwar auch im Bereich der Amtsaufklärungspflicht gilt, jedoch weniger streng als im Beweisantragsrecht336 . Beweisantragsrecht und Amtsaufklärungspflicht sind daher - im Sinne der herrschenden Meinung - nicht deckungsgleich. Ungeachtet eines großen Überschneidungsbereichs, in dem eine durch Beweisantrag erzwingbare Beweiserhebung zugleich von der Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO geboten wäre, bestehen Unterschiede 337 . Diese resultieren daraus, daß häufig über das mutmaßliche Gelingen einer Beweiserhebung unterschiedliche Prognosen möglich sind. Im Rahmen der Amtsaufklärung entscheidet die verständige Würdigung des Tatsachengerichts vom prospektiven Erfolg einer weiteren Beweiserhebung. Sofern das Gericht mit hochgradiger Wahrscheinlichkeit einen Beweiserfolg ausschließen kann, besteht keine Beweiserhebungspflicht. Im Beweisantragsrecht hat dagegen der Antragsteller die Prognosekompetenz. Er kann durch Beweisantrag auch solche Beweiserhebungen erzwingen, die nur er für aussichtsreich ansieht und deren Gelingen nach der gerichtlichen Beweisprognose außerordentlich unwahrscheinlich ist. Das Gericht wird so gezwungen, sich der Sachverhaltsversion des Beweisantragstellers zu öffnen und Beweise zu erheben, die es selbst - nach seiner Beweisprognose zu recht - für aussichtslos halten dürfte. Das Instrument zur Durchsetzung seiner Einschätzungsprärogative ist das im Beweisantragsrecht streng geltende Beweisantizipationsverbot. Die durch das Beweisantragsrecht institutionalisierte Mitwirkungsbefugnis hat zudem im Hinblick auf das Verfahrensziel "Wahrheitserforschung" ihre Berechtigung: Sie bildet ein Gegengewicht zur Inquisitionsmaxime, indem sie deren Einseitigkeit und die damit verbundenen Gefahren kompensiere 38 : Dadurch, daß die Beteiligten ihre jeweiligen "Wirklichkeitstheorien" in einen diskursiven Wahrheitserforschungsprozeß einbringen können, stellt es eine Garantie für ein intersubjektiv diskutables Ergebnis dar339 • Dabei ist nicht das Modell eines ,,rationalen" bzw. "herrschafts freien" Diskurses (Habermas)34o gemeint,

336 Im Ergebnis: KleinknechtIMeyer-Goßner, § 244 Rn. 12; Widmaier, NStZ 1994, S. 416; Schmidt-Hieber, JuS 1985, S. 294. 337 AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 31; Kollhosser, Stellung, S. 226 Fn.40; P. Hoffmann, Zeuge, S. 92. 338 Vgl. Schutz, StV 1991, S. 360 ff.; E. Müller, Referat, M 66; Widmaier, NStZ 1994, S. 416; Hirsch, Prozeßverschleppung, S. 45; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 139. 339 H.-l. Albrecht, NJ 1994, S. 398. 340 Habermas, Wahrheitstheorien, S. 127 ff.; ders., Theorie des kommunikativen Handeins. Bd. I, S. 25 ff., 62 f.; vgl. Hassemer, Einführung, S. 130 ff.; Arth. Kaufmann,

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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das für die Strafverfahrenswirklichkeit mangels einer zwanglosen "idealen Sprechsituation,,341 irreal ise 42 . Ebensowenig ein Verfahrensmodell, das auf einen echten gleichberechtigten, freien Dialog setzt, eine "Verbrüderung hüben und drüben", wie sie der Staatsanwalt in Dürrenmatts "Panne" - einem zwar ideal dialogischen, zugleich aber pervertierten Verfahren - beschreibe 43 . Vielmehr geht es darum, daß Vollständigkeit und Richtigkeit der Tatsachenfeststellungen besser gesichert werden, wenn alle einschlägigen Sachverhaltshypothesen vor dem Urteil zur Sprache kommen und ihnen die Chance gegeben wird, durch reale Nachprüfung das gleiche Konkretisierungsniveau zu erreichen. Dem Gericht soll mit anderen Worten, bevor es die Beweiswürdigung mit einem personal-autoritativen Machtspruch entscheidet, eine objektiv möglichst vollständige und von allen Seiten beleuchtete Beweisbasis vOrliegen344 . Im Hinblick auf die Reformfrage folgt aus diesem Befund als Zwischenergebnis zweierlei: Gegen einen größeren Einschnitt oder gar die Abschaffung des strengen Beweisantragsrechts bestehen wegen der zu erwartenden Einbußen bei der Wahrheitserforschung erhebliche Bedenken. Es bedürfte hierzu schon gewichtiger Argumente, die sich gleichfalls anhand der Verfahrensziele legitimieren müßten. Aber selbst dann wären die Möglichkeiten, gerichtliche Beweisaktivitäten einzusparen, nicht sehr groß, solange und soweit an der Amtsaufklärungspflicht im bisherigen Umfang festgehalten wird 345 : Denn diese erlaubt wegen des (wenn auch abgeschwächt) geltenden Beweisantizipationsverbots - jedenfalls de iure - auf keinen Fall Beweisantizipationen nach "freiem Ermessen", sondern nur insoweit, als das Tatgericht in der Lage ist, die hohe Wahrscheinlichkeit des Beweismißlingens festzustellen. De facto bestünde allerdings die Gefahr, daß eine derartige Gesetzesänderung dahingehend interpretiert würde, der Strafrichter brauche seine Verpflichtung zur Amtsaufklärung "nicht ganz so ernst zu nehmen,,346 .

Kielwein-Colloquium, S. 15 ff.; zum Modell einer "ungezwungenen Sprechgemeinschaft" (Rottleuthner) H.-L. Schreiber, ZStW 88 (1976), S. 141 ff. 341 Habermas, Wahrheitstheorien, S. 174 ff. 342 AKiStPO-Wassermann, Ein!. 11 Rn. 18; Schöch, Reform, S. 69; H.-L. Schreiber, ZStW 88 (1976), S. 141 f., 146; ders., Tendenzen, S. 25; Arth. Kaufmann, KielweinColloquium, S. 22 f.; ter Veen, Beweisumfang, S.217; Volk, Wahrheit, S. 15 f.; vg!. auch Arzt, SchwZStR 106 (1989); S. 3 f. 343 Dürrenmatt, Die Panne, Hörspielfassung 1956/61, S.26, zitiert nach Arzt, SchwZStR 106 (1989), S. 4, der sich, a.a.O., S. 3 ff., instruktiv mit diesem Themenkreis auseinandersetzt. 344 Perron, Beweisantragsrecht, S. 79. 345 Frister, StY 1994, S. 448; Freund, ZRP 1995, S. 270; Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 28, 30; ders., NJW 1996, S. 28; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 263 f. 346 Freund. ZRP 1995. S. 270/271. 16'

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2. Teil, I. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

b) Die Legitimations- und Integrationsfunktion: Das Beweisantragsrecht als Ausdruck prozeduraler Gerechtigkeit Einleitend zur verfahrensrechtlichen Bedeutung des Beweisantragsrechts wurde hervorgehoben, daß es vor allem der Angeklagtenseite einen mitgestaltenden Einfluß auf den Umfang der Beweisaufnahme einräumt. Die weitere Untersuchung ergab, daß dieses Mitgestaltungsrecht dazu beiträgt, die Wahrheitssuche zu optimieren und hierdurch die materielle Ergebnisgerechtigkeit zu befördern. Daneben trägt die vom Beweisantragsrecht gewährte Befugnis, auf die Gestaltung der Beweisaufnahme Einfluß nehmen zu können, aber auch Bedürfnissen Rechnung, die sich nicht auf Wahrheitserforschung reduzieren lassen: Die Beteiligung der Angeklagtenseite an der Beweisaufnahme kann prozedurale Gerechtigkeit schaffen. Dabei ist zunächst an die Ausführungen zur prozeduralen Gerechtigkeit zu erinnern347 • Es wurde darauf hingewiesen, daß sich die Richtigkeit des Ergebnisses nicht garantieren läßt. Jedem von Menschen betriebenen Strafverfahren ist ein gewisses Fehlverurteilungsrisiko immanent. Gleichwohl muß das Strafverfahrensrecht eine taugliche Handlungsanweisung für die Herstellung von Rechtsfrieden sein. Diese Aufgabe kann es nur deshalb erfüllen, weil die unvermeidlichen Defizite der materiellen End-Gerechtigkeit durch Elemente prozeduraler Gerechtigkeit kompensiert werden können. Eine derartige Kompensationsfunktion hat nun auch das Beweisantragsrecht 348 : Wenn schon der strafverfolgende Staat nicht sicherstellen kann, daß das richterliche Urteil auf der "wahren Wirklichkeit" basiert349 , so hatte der Angeklagte doch zumindest die Möglichkeit, in eigener Verantwortung eine abweichende Sachverhaltshypothese vorzutragen und diese durch Beweise konkret abzustützen, so daß er sich ein unrichtiges Ergebnis - auch - selbst zuschreiben lassen muß 350 . Die mit dem Beweisantragsrecht gewährte Rechtsmacht, bestimmend auf den Umfang der Beweisaufnahme einzuwirken, erlaubt es also im Gegenzug, das unvermeidbare Fehlverurteilungsrisiko - zumindest

Oben A. IV. Ähnlich: Perron, Beweisantragsrecht, S. 52, 73; ders., 1Z 1994, S. 827, 829; Strate, DuR 1992, S. 280 f.; Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 45 f. (zu § 245 StPO a.F.); allgemeiner Bottke, Verfahrensgerechtigkeit, S. 33, 64, der wegen des Fehlurteilsrisikos eine "irrtumskontrollierende, effektive Teilhabe" des Betroffenen am Zustandekommen der Entscheidung durch "effiziente Beteiligungs- und Gegenrechte" verlangt. 349 Siehe oben A. IV. 2. 350 Vgl. Perron, Beweisantragsrecht, S. 52; ders., 1Z 1994, S. 829; ders., ZStW 108 (1996), S. 132. 347 348

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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zum Teil - auch in der Sphäre der Angeklagtenseite zu lozieren351 . Denn so wie die Strafe in materiellrechtlicher Hinsicht auf der Eigenverantwortlichkeit der Rechtsunterworfenen basiert, besteht auch im Strafverfahren ein Synallagrna zwischen Organisationsfreiheit und Folgenverantwortunl 52 : Der SubjektsteIlung des Angeklagten korreliert seine Prozeßverantwortung353 . Das heißt: Der Angeklagte muß sich als Kehrseite dafiir, daß er als Person emstgenommen wird und selbständig mit Beweisanträgen die Beweisaufnahme mitbestimmen darf, eine Mitverantwortung354 fiir das Ergebnis der Beweisaufnahme zuschreiben lassen355 . Zudem gilt allgemein, daß die Abnahmebereitschaft fiir eine gerichtliche Entscheidung bei den Rechtsunterworfenen steigt, wenn das Procedere selbst als gerecht eingestuft wird356 . Und das Procedere wird besonders dann als gerecht aufgefaßt werden, wenn der Angeklagtenseite ein verbindliches Mitwirkungsrecht "auf dem Felde, auf dem die Würfel fallen" (Herdegeni 57 , das heißt bei dem "Zentralproblem des Strafprozesses" (Alsberg)358 zugestanden wird: Bei der beweismäßigen Rekonstruktion des angeklagten Lebenssachverhalts. Da im Strafverfahren nur selten um Rechtsfragen, meistens aber um Tatsachen gestritten wird359 , hat gerade eine zwingende Einwirkungsbefugnis des Betroffe351 Perron, Beweisantragsrecht, S.50; ders., ZStW 108 (1996), S. 132; vgl. auch Kollhosser, Stellung, S. 227 f.; Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 41 ff., 45 f.; Schmid, Verwirkung, S. 329 f.; Freund, Probleme, S. 69 f. 352 Vgl. Perron, Beweisantragsrecht, S.73; Kollhosser, Stellung, S. 227 ff.; Kreke/er, NStZ 1989, S. 153; zum Synallagma von Freiheit und Verantwortung aus rechtsphilosophischer Sicht Lesch, JA 1994, S. 515; weiterführend auch Kud/ich, Rege1ungsmöglichkeiten, S. 13 ff. 353 Maiwald, FS-Lange, S. 762 ff.; Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 103 Abs. I Rn. 6 (Erstbearbeitung Dürig, 1960); zustimmend MaunzlDürig/Schmidt-Aßmann, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 Rn. 8, Art. 103 Abs. 1 Rn. 5, 18. 354 Dabei geht es selbstverständlich nicht um die Zuweisung einer Beweislast (im Gegensatz zum Zivilprozeß gibt es im Strafverfahren weder eine formelle noch eine materielle Beweislast; bei einem non liquet gilt der Satz "in dubio pro reo"; vgl. Eb. Schmidt, LK I, Rn. 366 ff.; Kühne, Strafprozeßlehre, Rn. 136 ff., 429; KMR-Pau/us, § 244 Rn. 285), sondern um die Ausübung seiner Prozeßsubjektstellung (Peters, Strafprozeß, S. 305): Die Beweisfiihrungspflicht liegt allein beim Gericht (§ 244 Abs. 2 StPO); ob der Angeklagte seine Wahrheitsperspektive geltend machen und sich an der Mitkonstitution der Beweisbasis beteiligen will, ist seine freie Entscheidung, in der sich seine SubjektsteIlung widerspiegelt. 355 Kol/hosser, Stellung, S. 227 ff.; Perron, Beweisantragsrecht, S. 50, 73; vgl. auch Schmid, Verwirkung, S. 329 f.; Freund, Probleme, S. 69 f.; Frohn, GA 1984, S.570; Strate, DuR 1992, S. 281; Hassemer, Einfiihrung, S. 87. 356 Siehe oben A. IV. 2. 357 Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 47. 358 Alsberg, Beweisantrag, S. III. 359 Sarstedt, DAR 1964, S. 307; Krekeler, Beweiserhebungsanspruch, S. 6; Bergmann, Beweisanregung, S. 1.

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

nen auf diese entscheidende Schaltstelle des Verfahrens - von der regelmäßig Freispruch oder Verurteilung abhängen 360 - eine legitimierende Wirkung. Mit der selbständigen Einbindung der Angeklagtenseite in die Herstellung des Sachverhaltsbildes trägt das Beweisantragsrecht daher dazu bei, die Akzeptanz rur das Verfahrensergebnis und damit die Legitimation der Institution "Strafverfahren" sowohl beim Abgeurteilten als auch in der Öffentlichkeit zu erhöhen361 • Auf diese legitimierende und integrierende Funktion eigenständiger Beweisrechte hat bereits Völk in der Reichsjustizkommission hingewiesen: "Nicht nur darauf, daß eine Verurtheilung des Schuldigen herbeigeführt werde, sondern auch darauf komme es an, dem Schuldigen durch die Verhandlung die Ueberzeugung davon beizubringen, daß er überführt sei, und daß ihm Recht geschehe. So lange aber auch nur ein ganz irrelevanter Entlastungszeuge unvernommen bleibe, könne der Angeklagte sich einreden, er sei nicht gerecht behandelt.,,362

Und in der Sachverständigenkommission zum E 1905 hieß es dazu: "Das Vertrauen in die Rechtspflege werde stark erschüttert werden, wenn man ihm dieses Recht verkürzen wolle. Der Angeklagte nehme die ihm auferlegte Strafe ruhiger an, wenn alle von ihm vorgeladenen Zeugen vom Gericht auch gehört worden seien. Werde ihm aber eine Beweisführung, von der er nun einmal glaube, daß sie ein für ihn günstiges Ergebnis erbracht haben würde, ab§eschnitten, so werde er sich ungerecht behandelt und unschuldig verurteilt halten.',3 3

In der modemen systemtheoretischen Paraphrasierung durch Luhrnann klingt es dann so: "Durch ihre Teilnahme am Verfahren werden alle Beteiligten veraniaßt, den dekorativen Rahmen und die Ernsthaftigkeit des Geschehens, die Verteilung der Rollen und Entscheidungskompetenzen, die Prämissen der gesuchten Entscheidung, ja das ganze Recht, soweit es nicht im Streit ist, mit darzustellen und zu bestätigen. Es genügt nicht, daß die Vertreter der Macht ihre Entscheidilngsgrundsätze und Entscheidungen in feierlicher Einseitigkeit verkünden. Gerade die Mitwirkung derer, die möglicherweise den kürzeren ziehen, hat für die Bestätigung der Normen, für ihre Fixierung als verbindliche, persönlich-engagierende Verhaltensprämisse besonderen Wert.

360 Freund, Probleme, S. VII; ter Veen, Beweisumfang, S. 221. 361 Vgl. Schulz, StV 1991, S. 356; Freund, ZRP 1995, S. 269; Bovensiepen, Freibeweis, S. 72; Leisner, Umfang, S. 127, 132; allgemein zum rechtlichen Gehör und einer partizipativ-diskursiven Verfahrensgestaltung: R. HojJmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 114 ff., 206 ff. 362 Zitiert nach Hahn, Materialien, Erste Abth., S. 853; ähnlich ders., a.a.O., Zweite Abth., S. 1336; hierzu Glaser, Handbuch I, S. 397; ähnlich Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 41: Als vernünftiges Subjekt müsse der Verurteilte einsehen können, ihm sei recht geschehen. 363 Protokolle der Kommission zum E 1905, Bd. 2, S. 120.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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Kommt es auf die bestätigende Mitwirkung des Betroffenen an, gewinnt die Frage des Gesprächsumfangs im Verfahren große Bedeutung. Ein Gericht, das den Beteiligten nur einige noch fehlende Informationen abverlangt und dann nach eigener Einsicht überraschend entscheidet, nutzt die Chancen der Legitimation nicht, die ein Verfahren bietet. ,,364

Dem Angeklagten wird es zwar in erster Linie darum gehen, möglichst ungeschoren davonzukommen, doch wird jedenfalls der schuldige Angeklagte auch bei einem fUr ihn ungünstigen Ausgang des Verfahrens eher bereit sein, das Ergebnis anzunehmen, wenn er zumindest eine effektive Chance zur Einbringung seiner Perspektive - oder, wie es Köhler formuliert - zur subjekthaften Mitkonstitution der Entscheidung365 hatte366 . Insoweit kann ein befriedigtes "Interesse auf Selbstbehauptung,,367 in der prozessualen Interaktion ("voice and participation")368 bereits die Basis fiir eine spezialpräventiv-resozialisierende Einwirkung darstellen 369 . Zugleich wird die Allgemeinheit in ihrer Akzeptanzbereitschaft bestärkt, wenn sie darum weiß, daß der Angeklagte nicht hiltlos dem staatlichen Angriff ausgesetzt war, sondern seine Sachverhaltssicht effektiv in die Entscheidungsfmdung miteintlech-

Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 114 f. Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 41 f., 43. 366 Söllner, Beweisantrag, S.2; andeutungsweise Schutz, StV 1991, S.356; allgemeiner im Hinblick auf Einwirkungsrechte des Betroffenen Röhl, Procedural Justice, S.64 (sog. Repräsentativregel), bezüglich der Gewährung rechtlichen Gehörs R. Hof!mann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 114 ff.; in bezug auf die Grundsätze eines fairen Verfahrens Röhl, ZfRSoz 1993, S. 8/9; ders., Rechtslehre, S. 530; Steiner, Fairneßprinzip, S. 114: "Eine 'faire Wahrheitsfindung' kann .. durchaus zur Legitimierung der verhängten Strafe beitragen"; hierzu kritisch Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1209 f. 367 Perron, Beweisantragsrecht, S. 54; der Begriff geht auf Rüpings Forschungen zum rechtlichen Gehör zurück (in: Grundsatz, S. 133 ff.; vgl. auch BK-Rüping, Art. 103 Abs. 1 Rn. 11; ders., ZStW 91 [1979], S. 354; ders., NVwZ 1985, S. 306; ders.l Dornseifer, JZ 1977, S. 419): "Selbstbehauptung" bedeutet nach Rüping, dem Betroffenen im Prozeß die Befugnis zur Einflußnahme auf das Verfahrensergebnis zu gewähren, um ihn - in Erfilllung des obersten Rechtsgebots: Achtung und Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) - als selbstverantwortliches (Verfahrens-) Subjekt zu respektieren. 368 Röhl, ZfRSoz 1993, S. 17. 369 Vgl. Schulz, StV 1991, S. 356; Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), S.404; Maiwald, Diskussionsbeitrag, S. 86: "Der Konsens des Angeklagten könne, wenn er erreichbar sei, einen Teil der Funktion der Strafe übernehmen, etwa die Resozialisierung erleichtern." Kritisch aus empirisch-soziologischer Sicht dagegen Luhmann (Legitimation durch Verfahren, S. 112 fI): Im Regelfall könne der Angeklagte nicht zielgerichtet zur Hinnahme der Entscheidung motiviert werden. Ein soziales System, das Umlernen von Meinungen und Einstellungen ("enttäuschungsloses Lernen") leisten solle, müsse ganz anders strukturiert sein als eine invariante "Rechtsanwendung im Sinne von Progranunausfiihrung" . 364

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

ten konnte 37o . Indem so die Öffentlichkeit die Überzeugung gewinnt, daß im Verfahren "alles mit rechten Dingen zugeht, daß in ernsthafter, aufrichtiger und angestrengter Bemühung Wahrheit und Recht ermittelt werden,,37l, trägt das Beweisantragsrecht mit dazu bei, einen allgemeinen - genera/präventiv (genauer: integrationspräventiv) wirksamen - Grundkonsens über die Legitimität des staatlichen Strafverfahrens und staatlichen Entscheidens herzustellen372 • Neben der der materiellen Gerechtigkeit dienenden Optimierungsfunktion im Verfahren der Wahrheitserforschung hat das Beweisantragsrecht damit auch eine Legitimations- und Integrationsfunktion: Indem es der Angeklagtenseite die verbindliche Rechtsrnacht einräumt, sich in eigener Verantwortung an der Konstituierung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu beteiligen und so - auch gegen die Einschätzung des Gerichts - auf den Untersatz des Urteilssyllogismus Einfluß zu nehmen, steigert es die Akzeptanz fiir das einzelne Verfahrensergebnis wie auch fiir das staatliche Procedere in Strafsachen als Ganzes. Insgesamt dient es damit der Herstellung prozeduraler Gerechtigkeit. c) Die funktionale Ambivalenz der Mitgestaltungsbefugnis Die vom Beweisantragsrecht zugewiesene Kompetenz, den Umfang der Beweisaufuahme mitzubestimmen, hat mitunter aber nicht nur eine den Verfahrenszielen dienliche Wirkung. Die gewährte Mitbestimmungsrnacht kann sich im Hinblick auf die Ziele des Strafprozesses auch dysfunktional auswirken. Deshalb wäre eine Betrachtung, die allein die positiven Funktionen des Beweisantragsrechts in den Blick nimmt, zu einseitig. Um die Bedeutung dieses Rechtsinstituts vollständig erfassen zu können, muß der Begriff der "Funktion" weit, das heißt im Sinne der sozialwissenschaftlichen Begriffsverwendung373 , verstanden werden: Es sind also nicht allein die mit der normativen Aufgabenzuweisung intentional verfolgten Zwecke zu berücksichtigen, sondern auch die objektiven Konsequenzen, welche mit der Rechtsgewährung faktisch bzw. mittelbar verbunden sind374 . Aus dieser Perspektive zeigen sich auch "Negativfunktionen" des Beweisantragsrechts. 370 Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 45 f.; Beulke, Verteidiger, S. 66 f. (zur Bedeutung der Verteidigung). 371 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 123. 312 Ähnlich P. HofJmann, Zeuge, S. 79; Kollhosser, FS-Stree/Wessels, S. 1040; Herzog, StV 1994, S. 168; aHgemeiner Weigend, Deliktsopfer, S. 194 f., 216; zur verstärkten Akzeptanz von Entscheidungen durch ein faires Verfahren auch Steiner, Fairneßprinzip, S. 114 f. 373 Siehe oben A. IV. 1. 374 Dabei ist es grundsätzlich nicht entscheidend, ob diese von den Beweisantragsberechtigten ihrerseits gewoHt sind oder nicht: Das Beweisantragsrecht kann sowohl bei

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So muß aus Gründen beschränkter menschlicher Erkenntniskraft nicht unbedingt jede Erweiterung des Beweisaufnahmeumfangs der Wahrheitsfmdung dienen. Gerade in ohnehin schon unübersichtlichen und umfangreichen Verfahren kann der Prozeßstoff durch weitere Beweiserhebungen derart an Breite und Unübersichtlichkeit zunehmen, daß die Erreichung des Verfahrensziels "Wahrheitserforschung" eher behindert als gefördert wird. Vor allem kann aber eine inflationäre Ausnutzung der beweisantragsrechtlichen Mitgestaltungsbefugnis mit der "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" in Konflikt geraten 375 , die rur die Durchsetzung des materiellen Rechts und die Schaffung materieller Gerechtigkeit legitim und unerläßlich ise 76 . Wie kaum ein anderes Verfahrensrecht stellt das Beweisantragsrecht eine "breite Einfallspforte,,377 rur Verschleppungs- und Sabotageversuche dar378 • So werden Strafverfahren zu nahezu endlosen Veranstaltungen, wenn nach Beendigung einer mehrmonatigen (oder sogar mehrjährigen) Beweisaufnahme mit einer Vielzahl von Beweisanträgen und mühselig herbeigeschafften Zeugen weitere Anträge gestellt werden und das Verfahren deshalb ausgesetzt werden muß, mit der Folge, daß anschließend eine erneute Einvernahme aller bisherigen Zeugen notwendig wird, in deren Verlauf es wiederum zu neuen Beweisanträgen und damit zu weiteren Unterbrechungen und Aussetzungen kommen kann379 . Nicht selten wird in solchen und ähnlichen Fällen die Durchsetzung des materiellen Rechts selbst in Frage gestelle so . Aber auch wenn es schließlich nach

legitim-extensiver Ausnutzung als auch bei mißbilligtem Rechtsmißbrauch kontraproduktiv wirken. Jedoch werden bei mißbräuchlicher Ausübung die nachteiligen Auswirkungen besonders klar zu Tage treten, sind diese - etwa die Lahmlegung des Verfahrens - doch gerade beabsichtigt. Schutz, StV 1991, S. 361 f., hat insofern recht, wenn er meint, das Beweisantragsrecht berge funktionell notwendig eine Mißbrauchsgefahr in sich. 375 Gössel, ZStW 106 (1994), S. 841; Brause, NJW 1992, S. 2865; Schlüchter, GA 1994, S. 411; ter Veen, Beweisumfang, S. 218 ff.; ähnlich auch BVerfG StV 1997, S. 1 (2) = NJW 1997, S. 999 (1000); überzogen LG Wiesbaden, StV 1995, S. 239 (240). 376 Siehe oben 1. Teil: J. I. 2.; 2. Teil: 1. Kapitel, A. 1., B. 11. 3. a); vgl. auch BVerfGE 38, S. 105 (115 f., 120): Eine wirksame Rechtspflege erfordert eine "geordnete und effektive Beweiserhebung" als Bedingung einer "materiell richtigen und gerechten Entscheidung" . 377 F AZ vom 10. Juni 1978, S. 6 (über Forderungen des Deutschen Richterbundes zum Beweisantragsrecht). 378 Greiser, JA 1983, S. 432; Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 21; Schellenberg, Hauptverhandlung, S. 137 ("Tummelplatz von Verfahrenssaboteuren"); Gössel, JR 1995, S. 365 ("vorzügliches Mittel"). 379 Vgl. Gössel, Gutachten, C 69. 380 Ostendorf, DRiZ 1993, S. 198: Mit dem Beweisantragsrecht "kann ein Prozeß, kann jeder Prozeß 'kaputt' gemacht werden".

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

langer Verfahrensdauer aufgrund "allgemeiner Ermüdung,,381 der Beteiligten doch noch zu einer Entscheidung kommt (möglicherweise praeter oder contra legern im Wege des "Deals"), leidet jedenfalls die Erledigungseffizienz des Gesamtsystems an dem hohen Verbrauch der - nicht beliebig vermehrbaren "Ressource Recht". Es zeigt sich somit eine funktionale Ambivalenz des Beweisantragsrechts. Sein Gebrauch leistet nicht ausschließlich positive Beiträge zur Erreichung der Verfahrensziele, sondern kann mitunter auch kontraproduktiv wirken: Es dient zwar in der Regel der Wahrheitsfmdung, kann ihr aber in Extremfällen auch zuwiderlaufen. Insbesondere kann eine exzessive Ausnutzung der vom Beweisantragsrecht gewährten Rechtsrnacht die "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" beeinträchtigen und so die Verwirklichung des materiellen Rechts und damit materieller Gerechtigkeit behindern, statt diese - wie im Regelfall zu fördern. Ein schrankenloses Beweisantragsrecht wäre deshalb nicht vertretbar382 . Notwendig ist vielmehr ein Abwägungskompromiß, der im Wege "praktischer Konkordanz,,383 die Antinomien bestmöglich auszugleichen suche 84 : Er muß einerseits der Angeklagtenseite - im eigenen wie im allgemeinen Interesse - eine effektive Möglichkeit einräumen, bei der Beweisaufnahme mitzuwirken und ihre Perspektive auch gegen die gerichtliche Überzeugung zur Geltung zu bringen und er muß andererseits durch eine sachgerechte Eingrenzung der Beweisaufnahme noch eine Bewältigung des Prozeßstoffs ermöglichen, den Verfahrensablauf liquide halten und so die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege sichern. Den Versuch eines solchen Abwägungskompromisses stellt der Ablehnungskatalog des § 244 Abs. 3 ff. StPO dar. Sämtliche dort aufgefUhrten Ablehnungsgründe sind vom Reichsgericht entwickelt worden, um durch Konzentration der Beweisaufnahme ausufernde Beweisaktivitäten zu vermeiden385 . Ihr gemeinsamer Grundinhalt ist der, daß Beweiserhebungen unterbleiben können, wenn sie ungeeignet sind, zur "Findung der Wahrheit" beizutragen386 .

381 So der Senatsvorsitzende nach Beendigung des "Düsseldorfer Kurdenprozesses" (zit. nach FAZ vom 8. März 1994, S. 4); zu diesem Verfahren unten 2. Kapitel, A. I. 382 Willms, FS-Schäfer, S.277; Bringewat, MDR 1986, S. 355; Perron, JZ 1994, S. 829; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 262. 383 Zur "praktischen Konkordanz" oben A. IV. 4. 384 Vgl. Gol/witzer, FS-Kleinknecht, S. 150 ff., 159, zur Abwägung im Konflikt von Wahrheitsfindung, Individualinteressen und den Belangen einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege. 385 Vgl. Hiegert, Offenkundigkeit, S. 36; Engels, GA 1981, S. 22; ter Veen, Beweisumfang, S. 43, 72 f.; Mattem, Wahrunterstellung, S. 10. 386 Simader, Ablehnung, S.93; StützeI, Beweisantrag, S. 57; Kudlich, JuS 1997, S.508.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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Da der Maßstab fiir prozessuale Wahrheit das richterliche Fürwahrhalten ise 87 , ist das der Fall, wenn sie ungeeignet sind, "Einfluß auf die richterliche Überzeugung vom Sachverhalt" auszuüben 388 . Ob einer zulässigen Beweiserhebung stattgegeben werden muß, hängt demnach von der Beweiserheblichkeit (Abs. 3 S.2 Var. 2) und der Beweisbedürftigkeit der Beweistatsache (Abs. 3 S.2 Var. 1,3, 7) einerseits und der Brauchbarkeit des Beweismittels (Abs. 3 S.2 Var. 4 und 5) andererseits ab 389 . Hinzu tritt die Ablehnungsmöglichkeit wegen Verschleppungsabsicht. Beweisanträge auf Vernehmung eines Sachverständigen können darüber hinaus auch dann abgelehnt werden, wenn das Gericht glaubt, genügende eigene Sachkunde zu besitzen (Abs. 4 S. 1) oder wenn nach seiner Ansicht durch ein früheres Gutachten bereits das Gegenteil der behaupteten Tatsache feststeht (Abs. 4 S. 2). Beweisanträge auf Einnahme eines Augenscheins (Abs. 5 S. 1) oder auf Vernehmung eines Zeugen, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre (Abs. 5 S. 2), unterliegen ganz dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Bei den präsenten Beweismitteln nach § 245 StPO ist die Ausgangsbasis fiir die Abwägung etwas verschoben390 : Denn Verzögerungen des Verfahrens, die durch die Herbeischaffimg der Beweise eintreten können, vor allem ladungsbedingte Verzögerungen beim Zeugenbeweis, sind hier wegen der defmitionsgemäßen Präsenz der Beweismittel ausgeschlossen. Eine Verzögerung des Verfahrensabschlusses kann sich allein aus ihrer Erhebung ergeben391 oder noch allenfalls daraus, daß der erhobene Beweis zu weiteren Beweisaktivitäten zwingt392 .

387 Richterlichem Urteilen liegt nicht unmittelbar "Wahrheit" zugrunde, sondern die richterliche Überzeugung von einer an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit (Arndt, NJW 1959, S. 1300). Das maßgebende Wahrheitskriterium im Strafverfahren gleichsam das personale "Instrument für die Evaluation von Wahrheit" (P.-A. Albrecht, NStZ 1983, S. 486) - ist somit die persönliche Überzeugung des Richters i. S. v. § 261 StPO (v. Stackelberg, AnwBl 1959, S. 191; Herdegen, Beweisantragsrecht, S.64; ter Veen, Beweisumfang, S. 47 m.w.N.; siehe weiter oben I. Teil: B. 11. 2. a). 388 Vgl. BGH NJW 1953, S. 35 (36); BGHSt 36, S. 159 (165); Schulz, StV 1983, S.346; ders., StV 1991, S. 362; AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S.419; Graf zu Dohna, FS-Kohlrausch, S. 323; Köhler, Inquisitionsprinzip, S.37; ter Veen, Beweisumfang, S. 74. 389 Einteilung nach LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 208; AKlStPO-Schöch, § 244 Rn. 74; Rüping, Strafverfahren, S. 139 ff.; etwas abweichend: AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 410; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 43 Rn. 14 ff. 390 Vgl. KMR-Paulus, § 245 Rn. 3. 391 Kühne, Strafprozeßlehre, Rn. 455. Zu denken ist etwa an ein Massenaufgebot an präsenten Zeugen oder auch an die Vorlegung umfangreichen Urkundenmaterials (vgl. KleinknechtIMeyer-Goßner, § 245 Rn. 27; LR-Gollwitzer, § 245 Rn. 76). 392 Vgl. Schwenn, StV 1981, S. 631.

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

Entsprechend sind die Ablehnungsgründe des § 245 Abs. 2 S. 3 StPO erheblich enger gefaßt als die Ablehnungsgrunde des § 244 Abs. 3 ff. StP0393 • Beweisantizipationen - die in abgestufter Fonn im Bereich der Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) und bei nicht-präsenten Beweismitteln (§ 244 Abs. 3 ff. StPO) eine sachgerechte Konzentration der Beweisaufnahme bewirken 394 - werden von § 245 Abs. 3 S. 2 StPO praktisch vollständig ausgeschlossen395 . Die in der Praxis dominierenden Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 StPO, "Unerreichbarkeit" (Abs. 3 S.2 Var. 5) und "Wahrunterstellung" (Abs. 3 S.2 Var. 7), fehlen ebenso wie die Sonderregelungen für Sachverständige, Augenscheinsgegenstände und Auslandszeugen (vgl. §§ 244 Abs. 4, 5 StPO). Desweiteren ist eine Ablehnung wegen der Offenkundigkeit des Gegenteils der Beweisbehauptung unzulässig (vgl. § 244 Abs. 3 S.2 Var. I StPO). Schließlich dürfen Beweisanträge nicht wegen der Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache (vgl. § 244 Abs. 3 S.2 Var. 2 StPO), sondern nur bei gänzlich fehlendem Zusammenhang zwischen Beweistatsache und Gegenstand der Urteilsfmdung abgelehnt werden (§ 245 Abs. 2 S. 3 Var. 3 StPOi 96 • Übereinstimmend mit der Regelung des § 244 Abs. 3 StPO kann eine Ablehnung hingegen auf das Erwiesensein und die Offenkundigkeit der Beweistatsache gestützt werden (vgl. §§ 244 Abs. 3 S. 2 Var. 1,2,245 Abs. 2 S. 3 Var. 1,2 StPO). Darüber hinaus gelten im Rahmen des § 245 Abs. 2 S. 3 StPO auch die Ablehnungsgründe der völligen Ungeeignetheit des Beweismittels (Var. 4) und der Prozeßverschleppungsabsicht (Var. 5), allerdings ist hier gegenüber § 244 Abs. 3 StPO ein - durch die Präsenz des Beweismittels bedingter - deutlich strengerer Maßstab anzulegen 397 • 2. Die "Annex "-Funktionen des Beweisantragsrechts Die Aufgabe des Beweisantragsrechts, dem Antragsteller einen (mit-) gestaltenden Einfluß auf den Umfang der Beweisaufnahme zu gewähren, wird durch "Annex"-Funktionen effektuiert.

393

Regierungsentwurf StV ÄG 1979, BT-DrS 8/976, S.53; LR-Gollwitzer, § 245

Rn. 65; AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 779.

Perron, JZ 1994, S. 829; ter Veen, Beweisumfang, S. 232 Fn. 189. Regierungsentwurf StVÄG 1979, BT-DrS 8/976, S.51; AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 779, 824; LR-Gollwitzer, § 245 Rn. 65,77. 396 D.h.: Die Ablehnung ist nur zulässig, wenn jeder Sachzusammenhang fehlt; bloße Unerheblichkeit aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen genügt nicht (vgl. KleinknechtIMeyer-Goßner, § 245 Rn. 25, und § 244 Rn. 54 ff.). 397 Perron, Beweisantragsrecht, S. 272 m.w.N. 394

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B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

253

a) Der Infonnationsgehalt einer ablehnenden Entscheidung So errullt der Beweisantrag auch im Falle seiner Ablehnung einen rur die Angeklagtenseite wichtigen Zweck: Er liegt in der Infonnationsfunktion der - zwingend zu begrundenden398 - Ablehnungsentscheidung (§§ 244 Abs. 6, 34 StPOi 99 . Die Rechtsprechung läßt es nicht genügen, die Ablehnung eines Beweisantrages nur mit den Worten des Gesetzes zu begrunden40o . Vielmehr verlangt sie, daß aus dem Gerichtsbeschluß hervorgeht, welches die tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen waren, die das Gericht zur Ablehnung fiihrten 401 . Das Gericht wird so genötigt, zu der ihm vorgelegten Frage Stellung zu beziehen402 . Durch diese "erzwungene Indiskretion,,403 erhält die Verteidigung wichtige Hinweise auf die vorläufige tatsächliche und rechtliche Beurteilung der Beweislage seitens des Gerichts und damit - hierin liegt der eigentliche Sinn des Begründungszwangi04 - die Möglichkeit, ihr weiteres Prozeßverhalten entsprechend einzurichten, insbesondere durch die Stellung zusätzlicher Beweisanträge40S . Diese Möglichkeit, vorab einen "Blick ins Beratungszimmer" zu werfen, 398 Zur Begründungspflicht vgl. K/einknecht/Meyer-Goßner, § 244 Rn. 41a ff. 399 Zwar ist auch der Beweisermittlungsantrag nach neuerer Ansicht ein echter An-

trag i. S. v. § 34 StPO und mithin im Ablehnungsfall zu begründen (Alsberg/Nüse/ Meyer, Beweisantrag, S.89/90; Bergmann, Beweisanregung, S. 183 ff., 186 f.; SKI StPO-Sch/üchter, § 244 Rn. 68, 70; KKiStPO-Herdegen, § 244 Rn. 53, 55; HKiStPOJu/ius, § 244 Rn 11; a.A. Simader, Ablehnung, S. 86; Sarstedt, DAR 1964, S. 310; Kud/ich, JuS 1997, S. 508; vgl. m.w.N. Schu/z, GA 1981, S. 301 f., 312 ff.), doch stellt die Rechtsprechung an den Begründungsaufwand deutlich geringere Anforderungen (K/einknechtIMeyer-Goßner, § 244 Rn. 27; Herdegen, Beweisantragsrecht, S.29, 31; zur Kritik ders., NJW 1996, S. 28). 400 BGHSt 2, S. 284 (286); 13, S. 252 (257); BGHSt 40, S. 60 (63); BGH StV 1982, S.253 (253); OLG Düsseldorf, MDR 1980, S.868 (869); vgl. AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 756; LR-Go/lwitzer, § 244 Rn. 146; KleinknechtIMeyer-Goßner, § 244 Rn. 41 a. 401 RGSt I, S. 417; 74, S. 147 (150); RG JW 1936, S. 3473 Nr. 53; BGHSt 2, S. 284 (286); OLG Brandenburg, NStZ 1995, S.52 (53); vgl. auch Sarstedt, DAR 1964, S. 311; LR-Go/lwitzer, § 244 Rn. 145; Solbach/Vedder, JA 1980, S. 165; Alsbergl Nüse/ Meyer, Beweisantrag, S. 759 (zu den weiteren Begründungsanforderungen bei den einzelnen Ablehnungsgründen S. 760 ff. m.w.N.). 402 A/sberg, Beweisantrag, S. 12; Kreuzer, Bestimmung, S. 33; Schulz, GA 1981, S. 308; Schwenn, StV 1981, S. 631; Perron, Beweisantragsrecht, S. 155; vgl. BGHR StPO § 344 Abs. 2 S. 2: Aufklärungsrüge 5. 403 Sarstedt, DAR 1964, S. 311. 404 Dahs, Handbuch, Rn. 552; Sarstedt, DAR 1964, S. 311 f.; Ju/ius, Anmerkung zu OLG Zweibrücken, OLGSt 6, § 244 StPO Nr. 12, S. 30; OLG Düsseldorf, MDR 1980, S. 868 (869). 405 BGHSt 2, S.284 (286); 19, S.24 (26); 40, S.60 (63); BGH StV 1982, S.253 (253); BGH NStZ 1983, S.568 (568); Alsberg, Beweisantrag, S. 12; ders., Grundlegung, S.288; ders., Beweisermittlungsantrag, S. 263; A/sberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 756; Simader, Ablehnung, S.27; Gutmann, JuS 1962, S. 377; Sarstedt, DAR 1964, S. 311 f.; Liemersdorf, StV 1987, S. 177; Quedenfeld, FG-Peters, S. 227; Engels,

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

ist auch der Grund dafiir, daß häufig Beweisanträge gestellt werden, nicht um mit ihnen Erfolg zu haben, sondern damit sie abgelehnt werden406 . Für eine Verteidigung, die nicht nur in der Statistenrolle das rechtsstaatliche Feigenblatt spielen soll, ist eine "Früherkennung" der gerichtlichen Entscheidungstendenz überaus wichtig407 . Informationen bilden die faktische Voraussetzung fiir eine aktive Ausübung ihrer Handlungskompetenzen408 . Das gilt auch fiir die durch das Beweisantragsrecht zugewiesene Prognosekompetenz. Denn die Angeklagtenseite kann sich nur dann sinnvoll an der Beweisaufuahme beteiligen, kontrollierend und korrigierend eingreifen, wenn sie weiß, "wohin die Reise gehen soll,,409 . Um ihre Gegenhypothesen gezielt entwickeln zu können, muß die Angeklagtenseite die Sachverhaltshypothesen kennen, von denen das Gerichts bei seinen Ermittlungen ausgeht, und dazu imstande sein, die Relevanz der erhobenen Beweise fiir die richterliche Entscheidungsfmdung zu beurteilen410 . Nur so lassen sich "Überraschungs entscheidungen" vermeiden, die erst in der mündlichen Urteils begründung etwaige Aufklärungslücken und Fehlinterpretationen der richterlichen BeweiswUrdigung offenbaren411 . Die Informations funktion des Bescheidungs- und BegrUndungszwanges nach §§ 244 Abs. 6, 34 StPO stellt somit eine notwendige Ergänzung zur Mitwirkungskompetenz dar. b) Die Kontrollfunktion Eine weitere wichtige Funktion - vor allem rur die Angeklagtenseite - hat das Beweisantragsrecht schließlich in der Revision, die gemäß §§ 333, 335 StPO gegen alle erstinstanzlichen Urteile412 sowie gegen Berufungsurteile der kleinen

Aufklärungspflicht, S. 76; ders., GA 1981, S. 34; Gollwitzer, JR 1980, S. 35; Solbach/ Vedder, JA 1980, S. 100, 165; Ulsenheimer, AnwBI 1983, S. 377 f.; KKlStPO-Herdegen, § 244 Rn. 58; ders., NStZ 1984, S. 99; ders., Beweisantragsrecht, S. 28; E. Müller, AnwBl 1997, S. 90; Dahs, Handbuch, Rn. 552; Schlothauer, StV 1988, S. 548; Malek, Verteidigung, Rn. 269, 295; Schellenberg, Hauptverhandlung, S. 138; Fezer, StV 1995, S.268. 406 Schulz, GA 1981, S. 308; Ulsenheimer, AnwB11983, S. 378. 407 Hamm, FG-Peters, S. 170 f, 174 f; Schlothauer, StV 1988, S. 548; E. Müller, AnwBI 1997, S. 90; Schulz, Stellung, S. 100. 408 Pieth, Beweisantrag, S. 27, 30; Hassemer, Einflihrung, S. 87. 409 Sarstedt, DAR 1964, S. 311; Hamm, FG-Peters, S. 170. 410 Vgl. Perron, Beweisantragsrecht, S. 126 f 411 Vgl. Schünemann, GA 1978, S. 178 f.; Sarstedt, DAR 1964, S. 311 f.; E. Müller, AnwB11997, S. 90. 412 Zur Frage, ob eine Sprungrevision (§ 335 StPO) im Anwendungsbereich der durch das RpflEntlG 1993 geschaffenen Annahmeberufung (§ 313 StPO) statthaft ist, siehe Roxin, Strafverfahrensrecht, § 53 Rn. 4.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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Strafkammer des Landgerichts zulässig ist: Denn die Erfolgsaussichten einer Revisionsrüge, die sich auf die rechtsfehlerhafte Behandlung eines Beweisantrages stützt413 , sind erheblich größer als etwa bei der Rüge, das Gericht habe seine Aufklärungspflicht aus § 244 Abs. 2 StPO verletzt414 • Das hat verschiedene Gründe: Zunächst sind bei der Rüge der Verletzung des Beweisantragsrechts die formellen Voraussetzungen dieses Rechtsmittels leichter zu errullen: Die besondere Formalisierung der tatrichterlichen Reaktion auf den Beweisantrag - das heißt der Bescheidungs- und Begründungszwang (§§ 244 Abs. 6, 34 StPO) und die Pflicht zur Protokollierung des Antrags wie der ablehnenden Entscheidung415 (§ 273 Abs. 1 StPO) - helfen dabei, die strengen Anforderungen zu erfiillen, die Gesetz (§ 344 Abs. 2 S. 1 Alt. I, S. 2 StPO) und Rechtsprechung416 an die Begründung von Verfahrensrügen stellen417 . Bei einer auf die Verletzung des § 244 Abs. 2 StPO gestützten Aufklärungsrüge wegen mangelnder Sachaufklärung muß in der Revisionsbegründungsschrift schlüssig dargelegt werden, welche Tatsache das Gericht hätte aufklären müssen, welches Beweismittel zu ihrem Nachweis erforderlich gewesen wäre und warum das Gericht sich zu dieser Beweiserhebung gedrängt sehen mußte, insbesondere, daß und aus welchen Gründen dem Gericht Tatsache und Beweismittel erkennbar waren418 • Schließlich muß angegeben werden, welches Ergebnis von der unterbliebenen Beweiserhebung zu erwarten gewesen wäre und ob dieses sich günstig rur den Revisionsfilhrer ausgewirkt hätte 419 • An diesen Anforderungen scheitern außerordentlich viele Autklärungsrügen42o : Denn 413 Zur Frage, ob bei fehlerhafter Behandlung eines Beweisantrags die Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 8 StPO (so Roxin, Strafverfahrensrecht, § 43 Rn. 28 a.E.) sinnvoll ist, siehe AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 867 f., und AKJStPO-Schöch, § 244 Rn. 146; zur Aufklärungsrüge wegen der Nichterhebung beantragter Beweise LRGollwitzer, § 244 Rn. 354 m.w.N. 414 Perron, Beweisantragsrecht, S. 140 Fn. 148, 383; Gutmann, JuS 1962, S.377; Schwenn, StV 1981, S. 631; Nierwetberg, Jura 1984, S. 636 f.; I. Müller, KJ 1992, S. 233; Gollwitzer, JR 1991, S. 472. 415 Die Protokollierungspflicht umfaßt den wesentlichen Inhalt der Begründung (BGHR Entscheidung 3; KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 58). 416 KKiStPO-Herdegen, § 244 Rn. 36 m.w.N. 417 AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S.29, 868; Alsberg, Beweisantrag, S. 12; Simader, Ablehnung, S. 27; Kreuzer, Bestimmung, S. 33 ff.; Quedenfeld, FG-Peters, S.227; Schwenn, StV 1981, S. 631; Engels, Aufklärungspflicht, S. 76 f.; ders., GA 1981, S. 34; Herdegen, NStZ 1984, S. 99; Nierwetberg, Jura 1984, S. 631; Grünwald, Beweisrecht, S. 107 f.; BGHSt 2, S. 284 (286); 40, S. 60 (63). 418 KMR-Paulus, § 244 Rn. 596 ff.; SKiStPO-Schlüchter, § 244 Rn. 176 ff.; dies., Strafverfahren, Rn. 710; Schünemann, JA 1982, S. 128. 419 AKJStPO-Schöch, § 244 Rn. 152; KleinknechtIMeyer-Goßner, § 244 Rn. 81; Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 12 Rn. 104; Wesseis, JuS 1969, S. 9. 420 Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 12 Rn. 104; Liemersdorf, StV 1987, S. 177; KKJ StPO-Herdegen, § 244 Rn. 36; ders., NStZ 1984, S. 99.

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

das Revisionsgericht wird vor allem davon schwer zu überzeugen sein, daß sich dem Tatrichter die unterbliebene Beweiserhebung aufdrängen mußte, wenn es die Angeklagtenseite selbst nicht für erforderlich gehalten hat, die Erhebung der infragestehenden entlastenden Beweise zu beantragen421 . Wie sollen sich dem Gericht - so lautet der Gedankengang - weitere Aufklärungsnotwendigkeiten aufgedrängt haben, die nicht einmal der Verteidigung als besonderer Interessenvertretung des Angeklagten aufgefallen sind oder die sie sogar bewußt zurückgehalten hat422 . Gelingt es dem Revisionsfuhrer nicht, diesen Einwand schlüssig zu widerlegen, ist seine Aufklärungsrüge bereits unzulässig423 . Wird demgegenüber die rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrages gerügt, müssen in der Regel nur der Antrag und der gerichtliche Ablehnungsbeschluß vorgetragen werden424 . Wenn die Begründung nicht bereits selbst die Fehlerhaftigkeit der Entscheidung erkennen läßt, sind zudem noch die den Gesetzesverstoß begründenden Tatsachen anzufuhren425 . Der revisionsrechtliche Vorteil des Beweisantragsrechts erschöpft sich aber nicht darin, daß es durch die förmliche Behandlung der Anträge, insbesondere durch die gebotenen Darlegungen des Tatgerichts und ihrer Dokumentation, leichter ist, die strengen inhaltlichen Anforderungen an die Revisionsbegründung zu erfüllen (Zulässigkeitsjrage). Von erheblicher Bedeutung ist auch, daß der formalisierte Ablehnungskatalog nicht nur das Tatgericht zu einer Argumentation "unmittelbar am Gesetz" zwingt426 , sondern zugleich den Prüfungsumfang des Revisionsgerichts erweitert (Begründetheitsprüfung): Zunächst geben die tatbestandiich defmierten Ablehnungsgründe des Beweisantragsrechts (§§ 244 Abs. 3 - 5, 245 Abs. 2 StPO) dem Revisionsgericht objektivierte Kriterien für die Überprüfung der Ablehnungsentscheidung an die

421 Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S.26; KMR-Paulus, § 244 Rn. 369; LRGollwitzer, § 244 Rn. 340 Fn. 1020; LR-Hanack, § 344 Rn. 94; Wenner, Aufklärungspflicht, S. 210 ff., 215, 220 f.; Perron, Beweisantragsrecht, S. 140; Widmaier, NStZ 1994, S. 418. Deshalb sieht die Praxis im Versäumnis, einen Beweisantrag zu stellen, einen Anhaltspunkt dafilr, daß eine weitere Aufklärung von Amts wegen nicht geboten war. 422 BGHSt 32, S. 68 (73); BayVerfGH NStE Nr. 42 zu § 244 StPO; SarstedtlHamm, Revision, Rn. 252; Liemersdorf, StV 1987, S. 177; vgl. Schulz, GA 1981, S. 318; Schünemann, JA 1982, S. 128. 423 BGHR StPO § 244 Abs. 2: Zeugenvernehmung 4; § 344 Abs. 2 S. 2: Aufklärungsrüge 3, 4, 6, 7; OLG Koblenz, DAR 1973, S. 106 (107). 424 BGH NStZ 1986, S. 519 (520); BayOLG NStZ 1989, S. 586 (587); Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 307; Herdegen, NStZ 1984, S. 99; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 877 ff. m.w.N. (zu Darlegungspflichten bei den anderen Fehlerarten S. 876 f., 880). 425 Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 879; KKlStPO-Herdegen, § 244 Rn. 107; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 348; AKlStPO-Schäch, § 244 Rn. 149. 426 Wenner, Aufklärungspflicht, S. 177.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

257

Hand427 • Darüber hinaus erlauben nur sie eine Kontrolle, ob die Tatsacheninstanz bei ihrer Entscheidung die Prognosekompetenz des Beweisantragsberechtigten über die Erforderlichkeit und das Ergebnis einer weiteren Beweiserhebung beachtet hat: Denn mit der Rüge der Verletzung des § 244 Abs. 2 StPO kann nur die Beachtung des Aufklärungsgebotes überprüft werden, das dem Tatgericht die Einschätzungsprärogative zuweist. Ob dagegen der Antragsteller die vom Beweisantragsrecht verbürgte Gelegenheit hatte, im Rahmen der Ablehnungsgründe seine Prognosekompetenz auszuspielen, kann - Bejahung der Beruhensfrage vorausgesetzt - erfolgreich nur als Verletzung des beweisantragsrechtlichen Anspruchs auf Beweiserhebung überprüft werden. Aus all diesen Gründen ist die revisionsgerichtliche Kontrolle der Handhabung des Beweisantragsrechts durch das Tatgericht effektiver als die Kontrolle der Beachtung der Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StP0428 • Und die verstärkte Revisionskontrolle hat ihren guten Grund429 • Erst das Damoklesschwert einer effektiven Revisionskontrolle zwingt die Tatrichter dazu, Beweisanträge ernst zu nehmen430 • Eine den Vorgaben der gesetzlichen Regelung entsprechende Behandlung von Beweisanträgen ist ohne drohende revisionsgerichtliche Beanstandung und ZUTÜckverweisung nicht selbstverständlich, und zwar vor allem deshalb nicht, weil das Beweisantragsrecht darauf abzielt, das erkennende Gericht zu Beweiserhebungen zu zwingen, die es selbst gerade filr überflüssig hält. Daß Tatrichter Beweisanträge ex ante in der Antragssituation nicht selten als lästiges Übel empfmden, weil sie einen frontalen Angriff auf ihre bisherige Sachverhaltseinschätzung darstellen, ist diesem Institut immanent und - soweit es darauf abzielt eine bereits verfestigte richterliche Überzeugung zu erschüttern - auch gewollt. Ohne wirksame Revisionskontrolle mit ihrer "Vorwirkung" auf die Praxis der Tatgerichte ist deshalb ein echtes, verbindliches Beweisantragsrecht, das der Angeklagtenseite eine von der richterlichen Bewertung weitgehend unabhängige Mitwirkungsbefugnis gewährt, die sich in kritischen Fällen auch gegen die subjektive Überzeugung des Tatrichters durchsetzen kann, nicht denkbar431 • Bereits die historische Entwicklung durch das Reichsgericht hat deutlich ge427 Vgl. KKJStPO-Herdegen, § 244 Rn. 42; zur Formalisierung bereits H Mayer, GS 104 (1934), S. 331. 428 Herdegen, Beweisantragsrecht, S.21; Pieth, Beweisantrag, S. 35 f.; Mattern, Wahrunterstellung, S. 14 f.; Nierwetberg, Jura 1984, S. 637. 429 Zur Bedeutung der Revisionskontrolle im Beweisantragsrecht vgl. Perron, Beweisantragsrecht, S. 159 fr., 179 ff., 327, 337, 382 f.; Kreuzer, Bestimmung, S. 34 f.; ter Veen, Beweisumfang, S. 32; Schlüchter, Stellungnahme zum VBG, Protokoll der 120. Sitzung des Rechtsausschusses und der 93. Sitzung des Innenausschusses vom 11. April 1994 (12. WP., Protokoll Nr. 120), S. 207. 430 Vgl. unten 3. Kapitel, A.V.2. 431 Vgl. Perron, Beweisantragsrecht, S. 162.

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

macht, daß es letztlich erst die intensive Revisionskontrolle ist, auf der die eigentliche Potenz des Beweisantragsrechts beruht. Die Revisionskontrolle ist damit ein integraler Bestandteil der gesetzlichen Konzeption und nicht hinwegzudenken, ohne das Beweisantragsrecht mit seinen wertvollen Aufgaben zu zerstören.

11. Die verfassungsrechtliche Verankerung des Beweisantragsrechts

"Strafprozeßrecht ist letztlich angewandtes Verfassungsrecht,,432. Daher ist es naheliegend, daß auch das "wertvollste Recht des Angeklagten,,433, der verbindliche Beweiserhebungsanspruch auf Beweisantrag hin, verfassungsrechtliche Berührungspunkte hat. Tatsächlich zeichnet sich die gegenwärtige Reformdiskussion mitunter durch ein ostentatives Schwingen der "Rechtsstaatskeule,,434 aus: Häufig wird die Rechtsstaatswidrigkeit jedweder Verkürzung der geltenden Beweisantragsregelung behauptet435 oder sogar - durch Herstellung von Parallelen zur (Un-) Rechtsentwicklung im Nationalsozialismus436 - der "Weg in den Unrechts staat" prophezeit437 . Diese mehr oder weniger polemischen Attacken sind als das zu nehmen, was sie vermutlich auch sein sollen: Als scharfe Warnungen in einer emotional aufgeladenen rechtspolitischen Auseinandersetzung, in der Klappern zum Handwerk gehört.

Sax, Grundsätze, S. 967; Peters, Strafprozeß, S. 29; Hi/l, HbStR VI, § 156 Rn. 2. Oetku, GS 90 (1924), S. 349; RGSt 22, S. 335 (336); Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 371. 434 Kintzi, DRiZ 1994, S. 327; Wassermann, NJW 1994, S. 1708 f 435 ÖTV -Stellungnahme, ZRP 1983, S. 21 ("Kernbereich des rechtsstaatlichen Strafprozesses" berührt); Bandiseh, AnwBI 1991, S. 311 ("Wer derartige Gedanken hegt, handelt nicht rechtsstaatlich und verfassungskonform"); ders., StV 1994, S. 158 ("steht die Garantie eines rechtsstaatlichen und fairen Strafverfahrens der geplanten Gesetzesänderung - in welcher Form auch immer - entgegen"); Bernsmann, ZRP 1994, S. 331 ("Vorschläge verkennen den rechtsstaatlichen Gehalt des ... Beweisantragsrechts"); Herzog, StV 1994, S. 168 ("Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts in einem liberalrechtsstaatlichen Verfahren"); ders., StV 1995, S.375 ("wird ... vom rechtsstaatlichliberalen Verfahrensmodell Abschied genommen"). 436 Vgl. etwa Herzog, StV 1994, S. 166 f.; Bandiseh, AnwBI 1991, S. 311; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 260; im Hinblick auf die rechtsstaatlichen Verfallserscheinungen in der Weimarer Republik auch P.-A. Albrecht, NI 1994, S. 198 f.; Wächtler, StV 1994, S. 160 f). Gössel, dessen weitgehende Forderungen zum Beweisantragsrecht scharfer Kritik ausgesetzt sind, sieht sich sogar veranIaßt zu bemerken, man wolle ihm doch wohl nicht unterstellen, er sei vom "NS-Ungeist besessen" (JR 1996, S. 101). 437 Resolution 6. Strafverteidigertag (1982), StV 1982, S. 302 f 432

433

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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Aus dem Rechtsstaatsprinzip läßt sich das Beweisantragsrecht jedenfalls kaum unmittelbar deduzieren438 . Das folgt schon aus den Gegenläufigkeiten, die diesem Rechtsprinzip immanent sind439 . Es umfaßt so heterogene Unterprinzipien wie das Recht auf ein faires Verfahren und die "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege,,44o. An diesem "In-sich-Konflikt,,44I hat auch das Beweisantragsrecht teil, da es einerseits - wie noch zu zeigen sein wird - eine seiner Wurzeln im rechtsstaatlichen Fairneßgebot hat, andererseits aber - wie bereits oben dargelegt - die gleichermaßen rechtsstaatlich gebotene Funktionstahigkeit der Stratjustiz beeinträchtigen kann. Eine direkte Lokalisierung des Beweisantragsrechts auf der Ebene des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips wird durch diese Ambivalenz ausgeschlossen442 . Ohnehin ist vor einer Überstrapazierung der verfassungsrechtlichen Frage und einer Entmaterialisierung und Transzendierung des einfachen Prozeßrechts zu warnen443 . Da das Grundgesetz weder ausdrücklich ein prozessuales Grundrecht, Beweisanträge stellen zu können, noch gar einzelne Modalitäten fiir den Umgang mit diesen enthält, muß man sich der Gefahr bewußt sein, nach Art des Zauberers, der sein Kaninchen aus dem Hut zieht, dem Füllhorn verfassungsrechtlicher Topoi genau diejenigen Vorgaben fiir das Beweisantragsrecht zu entnehmen, die man zuvor hineingelegt hat444 •

438 Methodisch ist es zudem unzulässig, auf das allgemeine Rechtsstaatsprinzip zurückzugreifen, sofern speziellere Gewährleistungen dieses Prinzips betroffen sind, etwa das rechtliche Gehör i. S. v. Art. 103 Abs. I GG oder das "fair trial"-Gebot (Hili, HbStR VI, § 156 Rn. 14); zu diesen Teilelementen siehe im folgenden. 439 Vgl. BVerfGE 57, S.250 (276); 63, S.45 (61); 65, S.283 (290); BGH NJW 1996, S. 1547 (1549) = StV 1996, S. 187 (189) = NStZ 1996, S.291 (293); Maunz/ Dürig/Herzog, Art. 20 Rn. 3 (VII); SKiStPO-Wolter, vor § 151 Rn. 55. 440 Degenhart, HbStR III, § 76 Rn. 31; Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), S. 394 ff., 398. 441 Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), S.398; Degenhart, HbStR III, § 76 Rn. 29 f. 442 Skepsis auch bei Rieß, NStZ 1994, S. 410, und H.-J. Albrecht, NJ 1994, S. 397; vgl. auch Kollhosser, FS-StreelWessels, S. 1040. 443 Kritisch zur "Kolonialisierung" des Strafverfahrens durch das Verfassungsrecht Arzt, FS-Armin Kaufmann, S. 847 ff.; zur Überbeanspruchung verfassungsrechtlicher Argumentation auch: Bertram, NJW 1994, S. 2189; Schöch, Reform, S. 53; Rieß, FSSchäfer, S. 183 Fn. 105; ders., NStZ 1994, S. 410; Meyer, FS-Kleinknecht, S. 268 ff.; Foth, DRiZ 1997, S. 205; Starck, HbStR VII, § 164 Rn. 28; Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 21 f.; Röhl, Rechtslehre, S. 676 ff. 444 Die Gefahr läßt sich freilich nur offen legen und minimieren, aber nicht ausschalten: Nur Anhänger eines positivistischen Subsumtionsideals können behaupten, Verfassungsinterpretation erschöpfe sich in der mechanischen Rekonstruktion eines der Verfassung innewohnenden objektiven Willens oder im bloßen Nachvollzug einer präexistenten gesetzgeberischen Entscheidung. Tatsächlich schließen Weite und Offenheit der Verfassungssätze einen einfachen syllogistischen Mechanismus aus. Konkretisierung der Verfassung ist daher stets schöpferische Rechtsgestaltung aufgrund eines volitiv-

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

Damit soll nicht behauptet werden, das Grundgesetz enthielte gar keine bestimmbaren Maßstäbe rur das Strafverfahren im allgemeinen und das Beweisantragsrecht im besonderen. Verfehlt sind jedoch allzu hohe Erwartungen an das mögliche Konkretisierungsniveau verfassungsrechtlicher Auslegungsbemühungen: Dem Grundgesetz läßt sich zwar ein "Feld von UnvertUgbarem" entnehmen, etwa das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das Fairneßprinzip, die Anerkennung der Subjektqualität des Angeklagten, das Verbot der Folter und sonstiger menschenunwürdiger Verfahrensweisen44s • Es enthält jedoch keine detaillierten Direktiven fiir eine in allen Einzelheiten determinierte einfachgesetzliche Ausgestaltung446 . . Innerhalb bestimmter verfassungsrechtlicher Grenzen bleibt dem Gesetzgeber ein nach strafprozessualen Zweckmäßigkeitserwägungen ausübbares Ermessen447 . Eine - in der Leistungsfahigkeit realistisch gesehene - Analyse der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Beweisantragsrechts ist damit nicht wertlos, da auf jeden Fall die "verfassungsrechtlichen Eckwerte" fiir die Gesetzgebung festzulegen sind. Weil sich jedoch - wie bereits erwähnt - dieser unverrugbare Kembereich nicht unmittelbar aus dem zu abstrakten und inhaltlich heterogenen Rechtsstaatsprinzip ableiten läßt, ist das Grundgesetz im folgenden daraufhin zu untersuchen, ob sich ihm konkretere Aussagen über das strafprozessuale Beweisantragsrecht, vor allem des Angeklagten, entnehmen lassen. J. Das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. J GG) Eine spezielle Gewährleistung fiir das gerichtliche Verfahren ist das Recht auf Gehör nach Art. 103 Abs. I GG. Es hat sowohl einen menschenrechtlichen als auch einen rechtsstaatlichen Gehalt: Es dient der Achtung der Menschenwürde (Art. I Abs.1 GG) und ist zugleich eine Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips 448. Kraft dieser doppelten Fundierung wird der Anspruch auf rechtliches Gehör vom Bundesverfassungsgericht auch als prozessuales "Ur-

dezisionistischen Aktes (vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. I, § 4 III 8 e, S. 137 f.; AKJGGStein, Einl.II Rn. 3, 50, 67; Starck, HbStR VII, § 164 Rn. 16; Hesse, Grundzüge, Rn. 60). 445 Rieß, NStZ 1994, S. 410; H. -J. Albrecht, Möglichkeiten, S. 561; SKJStPO- Wolter, vor § 151 Rn. 130; ders., GS-Meyer, S. 510 ff. 446 Vgl. BVerfGE 52, S. 131 (144); 65, S. 283 (290); 74, S. 129 (152). 447 BVerfGE 45, S. 187 (246); 57, S. 250 (276); Sax, Grundsätze, S. 969 f.; Perron, Beweisantragsrecht, S. 73 f.; MaunzlDürig/Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. I Rn. 129. 448 BVerfGE 9, S.89 (95); 63, S.332 (337); Arndt, NJW 1959, S. 1298; Seidel, Recht, S. 4 f.; Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), S. 475; Bröll, Gehör, S. 101 f.; Kopp, AöR 106 (1981), S. 607 f.; SKJStPO-Rogall, vor § 133 Rn. 88; MaunzlDürig/ Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. 1 Rn. 2, 3 Fn. 8.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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recht des Menschen" bezeichnet449 • Sein Geltungsbereich umfaßt alle staatlichen Gerichtsverfahren, besondere Bedeutung hat Art. 103 Abs. 1 GG aber vor allem fiir den Beschuldigten im Strafverfahren450 • Inhaltlich hat der Anspruch drei Verwirklichungstufen451 : Als Recht auf Information verpflichtet Art. 103 Abs. 1 GG das Gericht zunächst dazu, den Beschuldigten über den Verfahrensstoff vollständig in Kenntnis zu setzen, damit dieser überhaupt sein Prozeßgrundrecht sachgerecht wahrnehmen kann. Als Recht aufAußerung berechtigt es den Beschuldigten auf einer zweiten Stufe, zu allem potentiell Erheblichen in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht Stellung zu nehmen. Da schließlich die bloße Äußerungsmöglichkeit leerliefe, wenn das Gericht nicht verpflichtet wäre, das Gehörte zur Kenntnis zu nehmen und in die Entscheidungsfmdung miteinzubeziehen, garantiert Art. 103 Abs. 1 GG als drittes Element das Recht auf Berücksichtigung. Fraglich ist nun, ob und wenn ja, welche verfassungsrechtlichen Maßstäbe sich aus dieser Normstruktur des rechtlichen Gehörs fiir das strafprozessuale Beweisantragsrecht ableiten lassen. Dabei interessieren schon aus Raumgründen nicht sämtliche Detailfragen452 • Im Hinblick auf die gegenwärtige Reformproblematik ist nur die Frage zu untersuchen, ob Art. 103 Abs. 1 GG ein eigenständiges, über die Amtsaufklärungspflicht hinausgehendes Beweisantragsrecht verbürgt. Einen unmittelbaren Bezug zu dieser Frage hat zunächst die zweite Realisierungsstufe des rechtlichen Gehörs: das Recht auf Außerung. Denn dieses Recht, vor Gericht zu allen tatsächlich und rechtlich relevanten Punkten des Verfahrensgegtmstandes453 Ausfilhrungen zu machen, beinhaltet auch die Befugnis, Beweisanträge zu stellen454 • Zwar zielen Beweisanträge unmittelbar BVerfGE 55, S. 1 (6). Dahs. Rechtl. Gehör, S. 12. 451 MaunzlDürigISchmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. 1 Rn. 69; Knemeyer, HbStR VI, § 155 Rn. 28 ff.; AKJGG-Wassermann, Art. 103 Rn. 20; BK-Rüping, Art. 103 Abs. 1 Rn. 24; ders., NVwZ 1985, S.306; ders., ZStW 91 (1979), S.354; JarasslPieroth, Art. 103 Rn. 11 ff., 19 ff., 23 ff. 452 Offen bleiben kann etwa, ob das Recht auf Information das Gericht dazu verpflichtet, die Prozeßbeteiligten zur Stellung sachdienlicher Beweisanträge zu veranlassen und sie bei der AntragsteIlung zu unterstützen (vgl. KleinknechtIMeyer-Goßner, § 244 Rn. 35 m.w.N. einerseits, Seidel, Recht, S. 53, andererseits). 453 Zu dieser Einschränkung siehe Dahs, Rechtl. Gehör, S. 15; Rüping, NVwZ 1985, S. 307; BräU, Gehör, S. 149; vgl. auch BVerfGE 60, S. 250 (252); 65, S. 305 (307); 69, S. 141 (143); BVerfG NJW 1992, S. 299 (299), zur Beschränkung auf erhebliche Beweisanträge. Zu beachten ist allerdings, daß hierbei prinzipiell die Sicht des Betroffenen - und nicht die gerichtliche Perspektive - maßgeblich sein muß, da das rechtliche Gehör Ausdruck der Selbstbehauptung des Beschuldigten ist (BräU, a.a.O., S. 143, 149 f.; BKRüping, Art. 103 Abs. 1 Rn. 39; ders.lDornseifor, JZ 1977, S. 419); hierzu auch unten 3. b). 454 Zum StraJprozeß: BVerfGE 57, S. 250 (274); BVerfG StV 1997, S. 1 (2) = NJW 1997, S.999 (1000); KleinknechtIMeyer-Goßner, Einl. Rn. 28, § 244 Rn. 29; Dahs, 449

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2. Teil, l. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

bloß auf das Verfahren und enthalten nur inzident - in ihrer fiir einen echten Beweisantrag konstitutiven Tatsachenbehauptung - einen auf den verhandelten Verfahrensstoff bezogenen Sachvortrag. Doch soll die beantragte Beweiserhebung gerade die inzident behaupteten Tatsachen bestätigen, so daß sich beides nicht trennen läßt455 . Das Recht zur Stellung von Beweisanträgen ist daher durch Art. 103 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich abgesichert. Allerdings ergibt sich aus der Erkenntnis, daß der Anspruch auf rechtliches Gehör (in Form des Rechts auf Äußerung) die Befugnis umfaßt, Beweisanträge als solche zu stellen, nichts fiir die Frage, wie diese inhaltlich zu behandeln sind. Insbesondere folgt hieraus nichts darüber, ob dem Beweisbegehren auch entsprochen werden muß, wie es de lege lata in weitem Umfang der Fall ist. Für diese Frage ist die Reichweite der dritten Verwirklichungsebene des rechtlichen Gehörs entscheidend: die Berücksichtigungspjlicht des Gerichts. Da das Äußerungs- und Antragsrecht wertlos wäre, wenn das Vorgebrachte nicht beachtet wird, kann dem rechtlichen Gehör nicht durch "bloßes Redenlassen" genügt sein456 . Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet deshalb nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht dazu, das Vorbringen "zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen,,457 . Das Gericht hat also die Beweisanträge des Angeklagten zu "berücksichtigen", das heißt es muß sich über die Hintergründe und die Zielrichtung der Beweisbegehren Gedanken machen458 . Verfassungsrechtlich unzulässig wäre demnach die ungeprüfte Verwerfung von Beweisanträgen ohne inhaltliche Auseinandersetzung459 . Unstatthaft wären auch bloß formelhafte Abiehnungen460 . Andererseits folgt aus der Beachtenspflicht nicht, daß Beweisanträgen stets entsprochen werden müßte461 .

Recht!. Gehör, S. 13 f., 87; DahslDahs, Revision, Rn. 111, 114; Bovensiepen, Freibeweis, S. 62 f.; Jagusch, NJW 1959, S.267; Seidel, Recht, S.2, 12, 53; Bröll, Gehör, S. 142; Peters, Strafprozeß, S.204; Frohn, GA 1984, S.563; Gutmann, JuS 1962, S.377; Rüping, ZStW 91 (1979), S.356. Allgemein: Knemeyer, HbStR VI, § 155 Rn. 31; Waldner, Anspruch, Rn. 72; Kopp, AöR 106 (1981), S.619; BK-Rüping, Art. 103 Abs. 1 Rn. 40; AKJGG-Wassermann, Art. 103 Rn. 20. 455 Kopp, NJW 1988, S. 1708; vg!. auch Waldner, Anspruch, Rn. 72. 456 Arndt, NJW 1959, S. 7. 457 BVerfGE 11, S. 218 (220); 28, S. 378 (384); 45, S. 315 (319); 47, S. 182 (187); 50, S. 32 (35); 60, S. 250 (252); 65, S. 305 (307); 69, S. 126 (139); 69, S. 141 (143); 83, S. 24 (35); BVerfG NJW 1990, S. 3191 (3192); BVerfG NJW 1992, S. 299 (299); BVerfG NJW-RR 1995, S. 377 (378). 458 BVerfGE 65, S. 305 (307); 69, S. 141 (143); BVerfG NJW 1992, S. 299 (299); BVerfGE NVwZ 1994, S. 60 (61); BVerfG NJW 1994, S.995 (996); Jarass/Pieroth, Art. 103 Rn. 23; Dahs, Recht!. Gehör, S. 13,38; Kopp, NJW 1988, S. 1708. 459 KMR-Paulus, § 244 Rn. 368; Leisner, Umfang, S. 118. 460 Vg!. AKJGG-Wassermann, Art. 103 Rn. 34. 46\ BayVerfDH BayVB!. 1974, S. 433 (433).

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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"Berücksichtigung" impliziert nicht den Zwang, im Sinne des Antragstellers tätig zu werden. Art. 103 Abs. 1 GG enthält mit dem Gebot, daß Vorgebrachte zu berücksichtigen, nur das Recht potentieller Einflußnahme462 , garantiert aber nicht den Erfolg der Mitwirkung463 . Arndt spricht treffend von der "Anwartschaft darauf, Gehör zu jinden,,464 . Art. 103 Abs. 1 GG begründet daher keinen Anspruch auf ein bestimmtes Beweismittel465 . Damit ist der äußere Rahmen abgesteckt: Art. 103 Abs. 1 GG untersagt grundsätzlich, Beweisanträge ohne echte inhaltliche Prüfung abzulehnen; hat eine solche geistige Auseinandersetzung aber ernsthaft stattgefunden, dürfen die vom Antragsteller beantragten Beweiserhebungen durchaus zurückgewiesen werden. Dabei bleibt die nähere Ausgestaltung dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben den einzelnen Prozeßordnungen überlassen466 . Der Anspruch auf rechtliches Gehör erweist sich als stark normgeprägt467: Er steht dem Anspruchsinhaber grundsätzlich nur im Rahmen und mit den Beschränkungen des Prozeßrechts ZU468. SO sind etwa Präklusionsvorschriften (im Zivilprozeß: §§ 296, 528 ZPO), die den Ausschluß verspäteten Vorbringens vorsehen, mit dem grundrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör vereinbar469 . Art. 103 Abs. 1 GG stellt insgesamt nur eine "Mindestgarantie" dar470 •

462 Von einer "Gelegenheit" zur Einflußnahme sprechen BVerfGE 9, S. 89 (96); 63, S. 45 (59); 83, S. 24 (35). 463 Dahs, Recht!. Gehör, S. 13, 38; Waldner, Anspruch, Rn. 183; Rüping, NVwZ 1985, S. 307; MaunzlDürig/Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. I Rn. 98; Perron, Beweisantragsrecht, S. 31. 464 Arndt, NJW 1959, S. 7 (Kursivsetzung im Original). 465 BVerfGE 57, S. 250 (274); 63, S.45 (60); BVerfG StV 1997, S. 1 (2) = NJW 1997, S.999 (1000); BayVerfGH BayVB!. 1974, S.433 (433); NiemöllerlSchuppert, AöR 107 (1982), S. 428; KleinknechtIMeyer-Goßner, Ein!. Rn. 28; Kopp, NJW 1988, S. 1708; Waldner, Anspruch, Rn. 75; Perron, Beweisantragsrecht, S. 29, 71; Degenhart, HbStR III, § 76 Rn. 35; vg!. auch Dahs, Recht!. Gehör, S.87, zu BVerfGE I, S.418 (429), und die "Spurenaktenentscheidung" BVerfGE 63, S. 45 (60): "Es ist nicht Sinn und Zweck grundgesetzlicher Gewährleistung rechtlichen Gehörs vor Gericht, dem Beschuldigten Zugang zu dem Gericht nicht bekannten Tatsachen zu erzwingen"; "ein solcher Anspruch läßt sich .. aus diesem Verfahrensgrundrecht ebensowenig herleiten wie ein Recht auf ein bestimmtes Beweismittel". 466 BVerfGE 9, S. 89 (95196); 18, S. 399 (405); Arndt, NJW 1959, S. 1298; Degenhart, HbStR III, § 76 Rn. 15; SKiStPO-Rogall, vor § 133 Rn. 89. 467 JarasslPieroth, Art. 103 Rn. 9; MaunzIDürig/Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. 1 Rn. 15. 468 BVerfGE 21, S. 191 (194); 28, S. 378 (384); 30, S. 173 (187); 36, S. 92 (97); 45, S. 315 (319); 50, S. 32 (36); 69, S. 141 (143/144); BVerfG NJW 1992, S.299 (299); Kopp, NJW 1988, S. 1708; vg!. aber ders., AöR 106 (1981), S. 618. 469 BVerfGE 36, S. 92 (98); 55, S. 72 (94); 69, S. 126 (136 f.); 75, S. 302 (312 ff., 315); BVerfG NJW-RR 1995, S.377 (378); Degenhart, HbStR III, § 76 Rn. 16; MaunzlDürig/Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. I Rn. 128 ff.; Waldner, Anspruch, Rn.

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2. Teil, I. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist allerdings nicht grenzenlos471 . Eine Schranke fmdet sie dort, wo der Kernbereich dieser Gewährleistung berührt ist, wenn sich also von einer ausreichenden Möglichkeit, Beweisanträge stellen zu können und einer inhaltlichen Auseinandersetzung des Gerichts mit ihnen, nicht mehr sprechen ließe. Die notwendige inhaltliche Auseinandersetzung wäre insbesondere dann nicht mehr sichergestellt, wenn man dem Gericht negative Beweisantizipationen nach Belieben gestatten würde, da es seiner Pflicht zur Beachtung des Vorgebrachten nur dann gerecht werden kann, wenn es aufnahmefiihig und aufnahmebereit bleibt472 . Aufnahmefiihigkeit und -bereitschaft bestehen aber grundsätzlich nur solange, wie das Gericht sich nicht infolge individueller Voreingenommenheit verfrüht auf bestimmte Sachverhaltshypothesen festlegt und sich so von vornherein weiteren Informationen verschließt473 . Diese Erkenntnis gibt jedoch nichts fiir die hier interessierende Frage her, ob es unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten eines über die Amtsautklärungspflicht hinausgehenden Beweisantragsrechts bedarf, da auch § 244 Abs. 2 StPO keinesfalls negative Beweisantizipationen nach freiem Ermessen gestattet474 . Kann das Tatsachengericht in rationaler, intersubjektiv nachvollziehbarer Weise prognostizieren, daß die in Betracht kommende Beweisaufnahme ohne Ertrag bleiben wird, genügt es nicht nur seinem Auftrag aus § 244 Abs. 2 StPO, sondern auch der von Art. 103 Abs. 1 GG gebotenen Pflicht zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Beweisbegehren. Damit ist das Beweisantizipationsverbot nur in seinem Kern von Art. 103 Abs. 1 GG abgesichert. Ein strenges Beweisantragsrecht i.S. der geltenden Regelung wird nicht verlangt475 . Dem Anspruch auf rechtliches Gehör wäre auch schon durch ein unselbständiges Beweisantragsrecht genügt, das sich in seiner Reichweite an § 244 Abs. 2 StPO orientiert. 252; das gilt auch für an sich erhebliches Vorbringen (vgl. BVerfGE 60, S. 250 [252]; BVerfG NJW 1979, S. 413 [414]; BayVGH NJW 1977, S. 244 [244]). 470 BVerfGE 7, S. 53 (57); 21, S. 132 (137); 25, S. 158 (166); BayVerfGH BayVBI. 1974, S. 433 (433); Bay- VerfGH NJW 1977, S. 243 (243); SKJStPO-RogaU, vor § 133 Rn. 89; AKJGG-Wassermann, Art. 103 Rn. 7, 10, 21; Knemeyer, HbStR VI, § 155 Rn. 12; BK-Rüping, Art. 103 Abs. 1 Rn. 8, 18; ders., NVwZ 1985, S. 305; Maunz/Dürig/ Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. I Rn. 21. 471 Rüping, NVwZ 1985, S. 305 (; Kopp, AöR 106 (1981), S. 618. 472 Vgl. Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. I Rn. 95; BK-Rüping, Art. 103 Abs. 1 Rn. 53; AKJGG-Wassermann, Art. 103 Rn. 35. 473 Ähnlich BröU, Gehör, S. 150; Benda, DAR 1986, S. 373; Schlüchter, Weniger ist mehr, S. 38; anders Leisner, Umfang, S. 118 Fn. 276, der jedoch außer acht läßt, daß es nicht allein auf die "Kenntnisnahme", sondern gerade auf die Auseinandersetzung mit dem zur Kenntnis Genommenen ankommt. 474 Siehe oben I. I. a) bb) (2) (b). 475 Offenbar a.A. Kahlo, KrVjschr 1997, S. 203/204.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

265

Weitgehende gesetzgeberische Freiheit besteht nicht nur für die Regelung der materiellen Kriterien: Auch die für Beweisanträge notwendige Form und die formelle Behandlung durch das Gericht liegen grundsätzlich außerhalb des Schutzbereichs des Art. 103 Abs. 1 GG476 . Allerdings folgt aus dem Informationsrecht und dem Berücksichtigungsgebot die Verpflichtung des Gerichts, ablehnende Entscheidungen zumindest in knapper Form zu begründen477 : Denn ohne Information über den Standpunkt des Gerichts ist der Antragsteller außerstande, sein weiteres Prozeßverhalten sinnvoll einzurichten 478 ; zudem kann er nur anhand der Gründe beurteilen, ob sein Vorbringen überhaupt berücksichtigt wurde 479 . Zusammenfassend ist somit festzuhalten: Das Beweisantragsrecht enthält zwar einen durch Art. 103 Abs. 1 GG geschützten verfassungsrechtlichen Kern, geht aber ansonsten in seiner derzeitigen Ausgestaltung über das gehörspezifisch gebotene Minimum hinaus. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet nur, daß der Angeklagte die Gelegenheit zur Antragsstellung als solche hat, das Gericht sich mit den Beweisanträgen ernsthaft auseinandersetzt und erforderlichenfalls begründet bescheidet.

2. Internationale Gewährleistungen (EMRK, IPBPR, Mindestgrundsätze- VN) Die Justizgrundrechte, welche die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)48o enthält, sind in der Bundesrepublik unmittelbar geltendes innerstaatliches Recht. Ob sie Verfassungsrang haben481 oder zumindest über dem einfachen Bundesrecht stehen482 , ist nach wie vor umstritten483 .

476 Vg!. Waldner, Anspruch, Rn. 79; Rüping, NVwZ 1985, S. 305. Dahs, Recht!. Gehör, S. 13, 14 (vg!. aber S. 39); etwas enger Bovensiepen, Freibeweis, S. 69 f.: Wenn ansonsten effektive Beweisantragsausübung ausgeschlossen; vg!. auch AlsberglNüselMeyer, Beweisantrag, S. 59/60: Hilfsbeweisantragsteller verzichtet mit der Antragsbescheidung vor Urteilsverkündung - auf sein rechtliches Gehör; BVerfG StV 1997, S. I (2) = NJW 1997, S. 999 (1000), spricht undeutlich davon, daß die Anträge "zu bescheiden sind"; vg!. auch DahslDahs, Revision, Rn. 114. 478 DahslDahs, Revision, Rn. 114; siehe oben I. 2. a). 479 AKlGG-Wassermann, Art. 103 Rn. 33; JarasslPieroth, Art. 103 Rn. 28; Kopp, AöR 106 (1981), S.619, 626 f.; Waldner, Anspruch, Rn. 185 ff.; siehe auch Amdt, NJW 1959, S. 7. 480 Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 4. I!. 1950 (BGB!. 1952, Teil H, S. 685-700, 953); in Kraft: 3. 9. 1953. 481 So etwa die EMRK in Österreich (FroweinIPeukert, EMRK, Einführung Rn. 6). 482 Zum "Übergesetzesrang" der EMRK in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg: FroweinlPeukert, EMRK, Einführung Rn. 6; zu Frankreich vg!. Barth, Landesbericht, S. 124. 477

266

2. Teil, I. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

Ihr formaler Geltungsrang kann aber für den hier interessierenden Zusammenhang offen bleiben, da sie jedenfalls rechtsstaatliehe Mindestrechti 84 darstellen und vom Bundesverfassungsgericht wie vom Bundesgerichtshof zur Ausfüllung und Konkretisierung des Grundgesetzes herangezogen werden485 , so daß sie wenigstens "materiellen Verfassungsrang" haben486 . Eine Untersuchung der EMRK nach Anhaltspunkten für eine menschenrechtliche Verankerung des strafprozessualen Beweisantragsrechts fUhrt unmittelbar zu Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK: Diese Schutznorm gewährt dem Beschuldigten ausdrücklich das Recht, die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken487 . Jedoch ist der Spielraum der Vertragsstaaten für die einfachgesetzliche Ausgestaltung groß. Die Straßburger Konventionsorgane (Europäische Kommission und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) interpretieren die Vorschrift - mit ihrer Wendung "unter denselben Bedingungen" - wortlautgemäß lediglich als Ausdruck formaler Waffengleichheit488 : Solange die Staatsanwaltschaft nicht bevorrechtigt wird, kann der Anspruch auf Zeugenladung nach Maßgabe des nationalen Rechts beschränkt werden489 • Danach enthält Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK kein absolutes Recht auf Zulassung aller angebotenen Beweise490 , sondern nur eine "relative", "formale" Garantie 491 • 483 Nach h.M. handelt es sich um einfaches Bundesrecht (MaunzlDürig/SchmidtAßmann, Art. 103 Abs. 1 Rn. 24; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 3 Rn. 6; Kleinknechtl Meyer-Goßner, vor Art. 1 MRK Rn. 3; a.A. Guradze, EMRK, Ein!. § 5 V, S. 17; Peters, Strafprozeß, S.93: allgemeine Regel des Völkerrechts i. S. v. Art. 25 GG; mit guten Gründen für Verfassungsrang I. Müller, Rechtsstaat, S. 53 ff., 56; weitere Nachweise zum Meinungsstreit bei Heubel, Fair Trial, S. 32. 484 Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. I, Rn. 133; Pieth, Beweisantrag, S. 205; Heubel, Fair Trial, S. 39; vg!. auch Peters, Strafprozeß, S. 30. 485 Vg!. BVerfGE 74, S. 358 (370); 82, S. 106 (115); BGHSt 25, S. 44 (49); Hesse, Grundzüge, Rn. 278; Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. I, Rn. 132, 134; Perron, Beweisantragsrecht, S. 33; Guradze, EMRK, Ein!. § 7 V, S. 23. 486 Echterhölter, JZ 1955, S. 692; I. Müller, Rechtsstaat, S. 56; vg!. auch Kühl, ZStW 100 (1988), S. 408 ff., 428 f.; ähnlich für die Schweiz das Schweizer Bundesgericht, EuGRZ 1975, S. 351 (351), das der EMRK "ihrer Natur nach einen verfassungsrechtiichen Inhalt" beimißt. 487 Über den Wortlaut hinaus gilt Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK auch für Sachverständige (Pieth, Beweisantrag, S. 206; Perron, Beweisantragsrecht, S.33 Fn.27 m.w.N.). Beweis durch Urkunden wird unmittelbar an den Anforderungen des Art. 6 Abs. I EMRK gemessen (LR-Gollwitzer, Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR Rn. 211). 488 Pieth, Beweisantrag, S. 206 ff. (der für ein materielles Verständnis von Waffengleichheit plädiert, S. 210 ff.); LR-Gollwitzer, Art. 6 MRKlArt. 14 IPBPR Rn. 210, 212; Perron, Beweisantragsrecht, S. 34. 489 Pieth, Beweisantrag, S. 206 f.; LR-Gollwitzer, Art.6 MRK I Art. 14 IPBPR Rn. 215 f. 490 Pieth, Beweisantrag, S.207; LR-Gollwitzer, Art.6 MRK I Art. 14 IPBPR Rn. 215.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

267

Die Vorschrift entspricht damit angelsächsischem Prozeßverständnis mit seinem Bild von einem akkusatorischen Parteiverfahren492 . Auch wird den nationalen Gerichten ein weitgehender Ermessensspielraum

fiir Beweisantizipationen zugestanden493 . Beweise müssen nur dann berücksichtigt werden, wenn das Gericht sie fiir erforderlich erachtet494 . Toleriert

werden damit auch "krasseste Fälle antizipierter Beweiswürdigung,,49s. Beanstandungen sind nur bei schwerwiegenden Mißbrauchsfiillen erfolgversprechend496 . Die von den Straßburger Organen vertretene restriktive Auslegung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK stößt zwar im Schrifttum auf Kritik497 , fiir sie spricht jedoch unter gesamteuropäischem Blickwinkel, daß die Vertrags staaten bei der Ratiftkation davon ausgingen, daß ihre jeweiligen Verfahrens ordnungen konventionsgemäß sind498 . Da nun die deutsche Beweisantragsregelung in der Reichweite ihrer Rechtsgewährung im internationalen wie auch im europäischen Vergleich einzigartig ist499 , läßt sich schwerlich behaupten, die EMRK verlange ein strenges Beweisantragsrecht nach deutschem MusterSOO . Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK ist somit fiir die Reformfrage nichts zu entnehmen, was nicht bereits ohnehin durch die - groben - Vorgaben des Art. 103 Abs. I GG sichergestellt wäreSOl . Ob der Schutz des Beweisantragsrechts durch Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK sogar noch hinter dem grundgesetzlichen Anspruch auf 491 Trechsel, SchwZStR 96 (1979), S. 369; FroweinlPeukert, EMRK, Art. 6 Rn. 71, 138; zu Ausnahmen mit einer stärkeren Berücksichtigung materieller Elemente vgl. Trechsel, a.a.O., S. 369; Perron, Beweisantragsrecht, S. 35 Fn. 40. 492 Pieth, Beweisantrag, S. 206 f.; Trechsel, SchwZStR 96 (1979), S. 366 f; Rüping, ZStW 91 (1979), S. 357; LR-Gollwitzer, Art. 6 MRKlArt. 14 IPBPR Rn. 210. 493 Perron, Beweisantragsrecht, S. 35 (m.w.N. in Fn. 39); ders., ZStW 108 (1996), S. 130; LR-Gollwitzer, Art. 6 MRKlArt. 14 IPBPR Rn. 218. 494 TrijJtererlBinner, EuGRZ 1977, S. 143; FroweinlPeukert, EMRK, Art. 6 Rn. 71, 138; Guradze, EMRK, Art. 6 Rn. 36; LR-Gollwitzer, Art. 6 MRKlArt. 14 IPBPR Rn. 215; Trechsel, SchwZStR 96 (1979), S. 367/368. 495 Pieth, Beweisantrag, S.209; vgl. auch Trechsel, SchwZStR 96 (1979), S.371, der von einem nahezu "platonischen Recht" auf Entlastungszeugen spricht. 496 Trechsel, SchwZStR 96 (1979), S. 369. 497 TrijJterer/Binner, EuGRZ 1977, S. 143; Pieth, Beweisantrag, S. 209 f; weitere Nachweise bei Perron, Beweisantragsrecht, S. 36 Fn. 43. 498 Heubel, Fair Trial, S. 38; kritisch zur subjektiv-historischen Interpretation Pieth, Beweisantrag, S. 209 f. 499 Perron, Querschnitt, S. 582; ders., ZStW 108 (1996), S. 148; G. Müller, DRiZ 1993, S. 384; Schöch, VerhDJT 1994: Diskussion, Bd. 11/2, M 144 ("das luxuriöste Beweisantragsrecht der Welt"); vgl. weiter unten 2. Kapitel, B. 11. 500 Im Ergebnis offenbar anderer Ansicht der Senat der Freien Hansestadt Bremen, der seine ablehnende Haltung gegenüber einer Abschaffung des selbständigen Beweisantragsrechts bei den Beratungen zum VBG auf Art. 6 Abs. 3 EMRK stützte (Stenograph. Bericht, Bundesrat: 674. Sitzung vom 23. 9. 1994, Anlage 23, S. 541). 501 Ähnlich MaunzlDürig/Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. I Rn. 27.

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

rechtliches Gehör zurückbleibt, wie etwa Perron meint502 , braucht nicht entsc.hieden zu werden. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPRi 03 enthält in Art. 14 Abs. 3 lit. e eine mit Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK wörtlich und inhaltlich praktisch deckungsgleiche Garantie des Rechts, "Entlastungszeugen unter den fiir die Belastungszeugen geltenden Bedingungen" zu erwirken504 . Die Ausfiihrungen zur EMRK gelten daher entsprechend. Anders als EMRK und IPBPR, die Bestandteil des innerdeutschen Rechts sind, befmden sich die "Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen rur das Strafverfahren,,505 von 1992 (Mindestgrundsätze - VN)506 noch im Entwurfsstadium. Sie haben daher gegenwärtig nur empfehlenden Charakter507 . Doch bestimmte Maßgaben rur die Reichweite des deutschen Beweisantragsrechts sind ihnen ohnehin nicht zu entnehmen: Die Mitwirkungsrechte, die der Angeklagtenseite an der Bestimmung des Beweisaufnahmeumfangs eingeräumt werden sollen, beschränken sich auf das Recht des Beschuldigten angehört zu werden und die Befugnis der Verteidigung, "Beweise beizubringen" (wohl im Sinne eines Präsentationsrechts)508. Weiterhin heißt es, daß "in vollem Umfang alle Beweise" erhoben werden sollen509 . Diese Bestimmung zählt der Entwurf aber nicht zu den "Rechten des Beschuldigten" oder den "Rechten der Verteidigung", sondern zu den Vorschriften über die Durchfiihrung des mündlichen Verfahrens und damit zum Bereich der richterlichen Verhandlungsführung. Daß es sich hier nicht um "Beweisrechte" der Angeklagtenseite handelt, wird vom zweiten Halbsatz der Klausel bestätigt: Es sind alle Beweise zu erheben, "die die Überzeugung vom Vorliegen der vorgeworfenen Tatsachen begründen oder dazu beitragen sollen, die Unschuld des Angeklagten aufzuzeigen". Der Umfang der Beweisaufnahme wird also - entsprechend der "Überzeugungstheorie", die Beweisaufnahme und Beweiswürdigung in eins setzt - auf die richterliche Überzeugungsbildung von der Schuld oder Unschuld des Angeklagten 502

Perron, Beweisantragsrecht, S. 35.

503 Internationaler Pakt der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966 (BGBI. 1973, Teil 11, S. 1533-1555); in Kraft getreten am

23.3. 1976; nach h.M. hat der IPBPR - wie die EMRK - einfachen Gesetzesrang (vgl. Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. 1, Rn. 157). 504 LR-Gollwitzer, Art. 6 MRKlArt. 14 IPBPR Rn. 210. 505 "Reglas Minimas dei Proceso Penal"; der Entwurf wird, nach dem Tagungsort der internationalen Arbeitsgruppe (1990-1992), auch "Regeln von Mallorca" genannt ("Reglas de Mallorca"). 506 Dokumentation in ZStW 105 (1993), S. 668-678. 507 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 3 Rn. 7. 508 Punkt: C) Rechte des Beschuldigten, Nr. 7.; Punkt: D) Rechte der Verteidigung, Nr.13. 509 Punkt: F) Mündliches Verfahren, Nr. 27.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

269

bezogen. Ein Verbot der Beweisantizipation, das dazu dient, beide Ebenen aufzuspalten, und das Grundlage für ein echtes Beweisantragsrecht wäre, sehen die "Mindestgrundsätze -VN" also nicht vor.

3. Die prozessualen Aufgaben des Beweisantragsrechts aus veifassungsrechtlicher Sicht Nach der - für die Reformdebatte wenig ergiebigen - Untersuchung der verfassungsrechtlichen (Art. 103 Abs. 1 GG) und menschenrechtlichen Gewährleistungen (Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK / Art. 14 Abs. 3 lit. e IPBPR), die sich ausdrücklich auf die Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren beziehen, stellt sich nun die Frage, ob sich aus übergreifenden Wertentscheidungen des Grundgesetzes nähere Vorgaben für die Beweisantragsregelung ableiten lassen. Da es insoweit an unmittelbaren Anhaltspunkten im Verfassungstext fehlt, muß der Zugang über die Aufgaben des Beweisantragsrechts erfolgen, das heißt es ist zu fragen, ob und inwieweit die dem Beweisantragsrecht zugewiesenen Hauptfunktionen bzw. deren Voraussetzungen unter dem Schutz der Verfassung stehen S10 . Im Hinblick auf das Generalziel des Strafverfahrens, die Rechtsfriedensschaffung, hat sich gezeigt, daß hier zwei Aufgaben des Beweisantragsrechts im Vordergrund stehen: Es soll zunächst einen Beitrag zur Wahrheitsfindung leisten, darüber hinaus aber auch die Angeklagtenseite in das Beweisverfahren integrieren, um so zusätzliche Legitimation und prozedurale Gerechtigkeit zu schaffen. a) Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Wahrheitsermittlung im Strafprozeß Klärungsbedürftig ist damit zunächst, ob die Ermittlung des wahren Sachverhalts verfassungsrechtlich geboten ist und - bejahendenfalls - inwiefern das Beweisantragsrecht erforderlich ist, um diesem Auftrag gerecht zu werden. Zur ersten Frage: In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gilt die Wahrheitserforschung nicht nur als das zentrale Anliegen des Strafprozes-

510 Zur Methodik: Die verfassungsrechtlichen Leitgrundsätze lassen sich nicht allein mit Hilfe der klassischen Canones ausdeuten (Hesse, Grundzüge, Rn. 55 ff.). Zur Konkretisierung ist die problembezogene Herausarbeitung der sachlichen Eigenarten des zu ordnenden Lebenssachverhaltes erforderlich ("sach- und problemgebundene Auslegung"). Vgl. Hesse, a.a.O., Rn. 45 f., 53 ff., 60 ff., 69; Heubel, Fair Trial, S. 43 f.; Stern, Staatsrecht, Bd. 1, § 4 III 8 e m.w.N.

270

2. Teil, I. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

ses, sondern auch als Ziel von verfassungsrechtlicher Dignität5ll . Ursprünglich berief sich das Bundesverfassungsgericht zur Begründung unmittelbar auf das Rechtsstaatsprinzipsl2. Eine differenziertere, zwei stufige Ableitung hat das Gericht dann in der grundlegenden Entscheidung E 57, S. 250 ff., 274 ff. ("Fall Cremer") vorgenommen: Danach beruht die verfassungsrechtliche Absicherung der Wahrheitserforschung zunächst darauf, daß die Verhängung von Strafe nur dann mit der Würde des Menschen zu vereinbaren ist, wenn der Betroffene tatsächlich in persönlich verantwortlicher Weise eine mit Strafe bedrohte rechtswidrige Tat begangen hatS13 . Hier scheint Kantische Philosophie durch: Der Mensch darf nicht "unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt"Sl4 , das heißt nicht zum Objekt degradiert werden, wie es geschieht, wenn der Bürger ftlr etwas abgestraft wird, was er gar nicht getan hat, weil dann die Sanktion nicht Folge seiner freien selbstbestimmten Willensentscheidung istS15 . Deshalb ist es der - vor allem aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG (Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen) und Art. 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaatsprinzip) abzuleitende 516 - materiellrechtliche Grundsatz, daß keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf ("nulla poena sine culpa"), welcher nach verfahrensrechtlichen Vorkehrungen verlangt, die die Ermittlung des wahren Sachverhaltes in möglichst vollständiger Annäherung gewährleisten517 . Darüber hinaus wird das Wahrheitserforschungsgebot vom Bundesverfassungsgericht in einen engen Zusammenhang mit dem Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren gebracht518 . Die Wurzeln dieses "fair trial"Grundsatzes verortet es in einem materiell verstandenen Rechtsstaatsprinzip (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und den darin verbrieften Grund-

511 BVerfGE 57, S. 250 (275 ff.); 63, S. 45 (60 f.); 77, S. 65 (77); BVerfG StV 1997, S. I (2) = NJW 1997, S. 999 (1000). 512 Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), S. 443 m.w.N. 513 BVerfGE 20, S. 323 (331); Hili, HbStR VI, § 156 Rn. 8. 514 Kant, Die Metaphysik der Sitten, § 49 E I, Akademieausgabe Bd. VI, S. 331. 515 Sax, Grundsätze, S. 937; Perron, Beweisantragsrecht, S. 72. 516 BVerfGE 45, S. 187 (259); 54, S. 100 (108); 57, S. 250 (275); 80, S. 244 (255); BVerfG NJW 1993, S.190 (191); Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), S.469 m.w.N.; z.T. wird auch Art. 103 Abs.2 GG herangezogen, vgl. BVerfGE 25, S.269 (285). 517 BVerfGE 57, S.250 (275); BVerfG StV 1997, S. 1 (2) = NJW 1997, S.999 (1000); Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), S. 442 f.; Sax, Grundrechte, S.991: "Denn das Schuldprinzip wäre nichts als leere Deklaration, wenn die Möglichkeit einer rur Menschen überhaupt erreichbaren Wahrheitsermittlung nicht prozessual sichergestellt wäre." 518 Vgl. BVerfGE 57, S. 250 (275); 63, S.45 (61); 70, S. 297 (308); BVerfG StV 1997, S. 1 (2) = NJW 1997, S. 999 (1000); Steiner, Fairneßprinzip, S. 166 f.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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rechten und Grundfreiheiten des Menschen519 . Dabei geht es um die in Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Menschenwürde, vor allem aber um das von der drohenden Strafsanktion betroffene Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, dessen freiheitssichernde Funktion auch im Verfahrensrecht Beachtung erfordert520 . Damit zielt das Bundesverfassungsgericht auf die Verfahrensdimension der Grundrechte, auf den sog. "Grundrechtsschutz durch Verfahren"S21 : Läßt das "Verfahrensrecht ... die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition [entstehen], dann ist es mit dem Grundrecht, dessen Schutz es bewirken soll, unvereinbar"s22 . Entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht schon in früheren Entscheidungen aus Art. 2 Abs. 2 GG die Pflicht hergeleitet, das Verfahren so zu gestalten, daß eine Verletzung der von diesen Grundrechten geschützten Rechtsgüter ausgeschlossen istS23 . Inhaltlich konkretisiert das Bundesverfassungsgericht den Anspruch auf ein faires Verfahren vor allem zum "Recht auf wirksame Verteidigung"S24: Dieses bestimmt nicht nur die Prozeßsteliung des Angeklagten, insbesondere seine Befugnisse, auf das Verfahren Einfluß zu nehmen, sondern beeinflußt auch die Wahrheitsermittlung und Beweiserhebung durch das Gericht52S . Das "fair trial"Gebot (bzw. das "Recht auf wirksame Verteidigung") kann deshalb auch durch verfahrensrechtliche Gestaltungen berührt werden, weIche die Erforschung des wahren Sachverhalts zu Ungunsten des Beschuldigten behindern526 . Damit entnimmt das Bundesverfassungsgericht auch dem Fairneßprinzip Mindestanforderungen fiir eine zuverlässige WahrheitsermittlungS27 . Zu den hierfiir in der StPO vorgesehenen Kautelen rechnet es vor allem die tatrichterliche Pflicht zur Wahrheitserforschung von Amts wegen nach § 244 Abs.2 StPOS28 . Sodann 519 BVerfGE 57, S. 250 (274 f.); 86, S. 288 (317); BVerfG NStZ 1987, S. 419 (419); BVerfG NJW 1993, S. 190 (191); BVerfG StV 1997, S.1 (2) = NJW 1997, S.999 (1000); zur Rspr. des BVerfG vgl. Steiner, Fairneßprinzip, S. 35 ff. 520 BVerfGE 57, S. 250 (275); 70, S.297 (308); 86, S.288 (317); auch Art. 103 Abs. 1 GG ist Bestandteil des "fair trial"-Gebots (Meyer, FS-Kleinknecht, S. 268 Fn. 11), verlangt aber weniger (AKlGG-Wassermann, Art. 103 Rn. 15); der Gehöranspruch deckt nur einen Teil des Fairneßprinzips ab (Spezialität; vgl. MaunzlDürig/ Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. 1 Rn. 9). 521 NiemölleriSchuppert, AöR 107 (1982), S. 403; siehe auch oben A. IV. I. 522 BVerfGE63, S.131 (143). 523 Vgl. BVerfGE 51, S. 324 (345 ff.); 52, S. 214 (219 ff.); 53, S. 30 (65). 524 Degenhart, HbStR III, § 76 Rn. 29, 36 ff., 39. 525 Degenhart, HbStR III, § 76 Rn. 39; SKJStPO-Rogall, vor § 133 Rn. 96. 526 BVerfGE 57, S. 250 (275); 63, S. 45 (61); Hili, HbStR VI, § 156 Rn. 36; NiemöllerlSchuppert, AöR 107 (1982), S. 427 f.; JarasslPieroth, Art. 20 Rn. 68. 527 BVerfGE 70, S. 297 (308); 86, S. 288 (317); BVerfG StV 1997, S. 1 (2) = NJW 1997, S. 999 (1000). 528 BVerfGE 57, S.250 (279); BVerfG StV 1997, S. 1 (2) = NJW 1997, S.999 (1000).

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

sieht es aber ausdrücklich - neben anderen Sicherungen, wie dem Frage- und Erklärungsrecht (§§ 240, 257, 258 StPO) - auch in dem Recht des Angeklagten zur Stellung "von Beweisanträgen, die nur unter engen Voraussetzungen abgelehnt werden können (§§ 244 Abs.3 bis 6, 245 Abs.2, 246 Abs. 1 StPO)", einen Schutz gegen falsche Beweisergebnisse529 . Den Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts ist zuzustimmen: Die Herstellung einer möglichst "wahren" Tatsachengrundlage für jede strafrichterliche Entscheidung ist nicht nur ein Gebot prozeßdogmatischer Rationalität, sondern - innerhalb der faktischen und (grund-) rechtlichen Grenzen530 - auch von Verfassungs wegen geboten 531 . Um die vom Schuldprinzip und "fair trial"Grundsatz geforderte Ennittlung des tatsächlichen Geschehens sicherzustellen, hat der Gesetzgeber entsprechende verfahrensrechtliche Vorkehrungen zu treffen. Es bleibt also die Frage, ob es zur Errullung dieser verfassungsrechtlichen Anforderungen eines echten Beweisantragsrechts bedarf. Sie ist zu bejahen: Nimmt man das Wahrheitserforschungspostulat ernst, dann stellt das verbindliche Beweisantragsrecht eine der vom Grundgesetz verlangten Richtigkeitsbedingungen dar. Denn für eine optimale tatsächliche Urteilsgrundlage muß das Erkenntnisverfahren auch die Perspektive der Angeklagtenseite miteinbeziehen, und zwar nicht nur im Wege des Anhörens abstrakter Behauptungen, sondern durch die Gewährung der Gelegenheit, abweichende Sachverhaltsdarstellungen auf derselben konkreten Ebene wie das vorliegende Belastungsmaterial zu präsentieren532 . Das Instrument hierfür ist das selbständige Beweisantragsrecht, das es der Angeklagtenseite erlaubt, auch dann auf der Beweisaufnahme zu insistieren, wenn das Gericht sie aufgrund seiner Beweisprognose für fruchtlos hält. Nur eine solche dialektische Konfrontation unterschiedlicher Wirklichkeitsstandpunkte bietet die erforderliche "größtmögliche Gewähr für die Erforschung der Wahrheit,,533. Deshalb läßt sich die vom Bundesverfassungsgericht einverlangte "zuverlässige Wahrheitserforschung,,534 letztlich nur mit einem Beweisantragsrecht realisieren, dessen Reichweite nicht von der Amtsaufklä529 BVerfGE 57, S. 250 (279 f.); 63, S. 45 (68); BVerfG StV 1997, S. 1 (2) = NJW 1997, S. 999 (1000); eine Zuordnung des Beweisantragsrechts zum "fair trail"- Grundsatz erfolgt auch bei Basdorf, StV 1995, S. 313; Strate, StV 1990, S. 392 (mit Hinweis auf die Waffengleichheit). 530 Siehe oben A. IV. 2.; zur "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" bereits 1. Teil: J. I. 2.; 2. Teil: 1. Kapitel, A. I. 531 KMR-Paulus, § 244 Rn. 110; AKlStPO-Schöch, § 244 Rn. 26; Rieß, NStZ 1994, S. 410; Basdorf, StV 1995, S. 310; Jarass/Pieroth, Art. 20 Rn. 68; für "Übergesetzesrang" bereits Niethammer, FS-Sauer, S. 27 ff., 36. 532 Pieth, Beweisantrag, S. 311; weiter siehe oben I. 1. a) bb) (3). 533 BVerfGE 86, S. 288 (318). 534 BVerfGE 70, S. 297 (308); 86, S. 288 (317).

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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rungspflicht abhängig ist, sondern der Angeklagtenseite eine weitgehend eigenverantwortlich wahrzunehmende Prognosekompetenz einräumt535 • Das bedeutet allerdings nicht, daß das derzeit geltende Beweisantragsrecht in seiner einfachrechtlichen Ausgestaltung insgesamt verfassungsrechtlicher Mindeststandard wäre 536 • Zutreffend hebt das Bundesverfassungsgericht stets hervor, daß dem Recht auf ein faires Verfahren - ebenso wie dem noch unschärferen Rechtsstaatsprinzip - keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- oder Verbote zu entnehmen sind537 • Erforderlich ist vielmehr eine Gesamtschau aller auf die Herstellung einer möglichst wahren Tatsachengrundlage gerichteten prozessualen Vorschriften und der zugrundeliegenden Verfahrensstruktur538 • Konkrete Folgerungen fiir die Verfahrensgestaltung lassen sich erst dann ziehen, wenn diese Gesamtbetrachtung - und nicht zuletzt eine Berücksichtigung der im Rechtsstaatsprinzip selbst angelegten Gegenläufigkeiten - unzweideutig ergibt, daß rechts staatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr erfiillt sind539 • Daraus folgt: Zu verlangen ist zwar, daß die Angeklagtenseite die Option behält, das richterliche Wahrheitsbild effektiv zu ergänzen und notfalls auch zu korrigieren. Dazu bedarf sie der Rechtsmacht, in eigener Verantwortung auch solche Beweisaufuahmen durchzusetzen, die von der richterlichen Beweisprognose abweichen. Wie der Gesetzgeber die gesetzliche Regelung jedoch im einzelnen ausgestaltet, steht grundsätzlich in seinem Ermessen. Dabei darf das

535 Ob auch das BVerjG aus seinen Prämissen diesen Schluß ziehen will, ist noch ungeklärt: BVerfDE 57, S. 250 (276, 279 f), verweist letztlich nur auf die Notwendigkeit einer Gesamtschau (dazu sogleich im Text). BVerfDE 70, S. 297 (309) scheint die richterliche Aufklärungspflicht rur ausreichend zu halten, bezieht sich aber nur auf den Freibeweis im Vollstreckungsverfahren; BVerfD StV 1997, S.I (2f) = NJW 1997, S. 999 (1000), hält ganz ähnlich die durch § 244 Abs. 5 S. 2 StPO erfolgte Begrenzung des Einflusses des Angeklagten auf Informationszulieferung im Rahmen der Amtsaufklärungspflicht rur verfassungsrechtlich unbedenklich, bezieht sich dabei aber auch auf den besonderen Aufwand der Ladung von Auslandszeugen. BVerfDE 63, S.45 (68), stellt Aufklärungspflicht und Beweisantragsrecht als zwei zusammenwirkende Instrumente zur Sicherung der verfassungsrechtlich gebotenen Wahrheitserforschung dar (so auch BVerfD StV 1997, S. 1 [2] = NJW 1997, S. 999 [1000]). Interessant auch BVerfD NVwZ 1987, S. 785 (785): Für die Beweiserhebung im Verwaltungsprozeß nach § 86 VwGO, auf den § 244 Abs. 3 StPO weitgehend entsprechende Anwendung finden soll (vgl. Kopp, NJW 1988, S. 1708), werden Beweisantizipationen weitgehend rur unzulässig erklärt (zur Interpretation dieser Entscheidung Leisner, Beweisumfang, S. 118 f.). 536 I. E. ebenso Basdorf, StV 1995, S. 310, 312. 537 BVerfD StV 1997, S. I (2) = NJW 1997, S. 999 (1000), und BVerfGE 28, S. 264 (277); 35, S. 41 (47); 45, S. 187 (246). 538 BVerfDE 57, S. 250 (276); 63, S. 45 (61); 64, S. 135 (145 f.); 70, S. 297 (308 f); Perron, Beweisantragsrecht, S. 30; Hili, HbStR VI, § 156 Rn. 36; Rieß, NStZ 1994, S.413. 539 BVerfGE 57, S.250 (276); 63, S.45 (61); 64, S. 135 (145/146); 70, S.297 (308/309); 86, S. 288 (318); BVerfG StV 1997, S. I (2) = NJW 1997, S. 999 (l000).

18 Schatz

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung nicht isoliert von den übrigen, auf die Herstellung einer möglichst wahren Urteilsgrundlage gerichteten Vorkehrungen gesehen werden. Kompensationen durch funktionale Äquivalente, etwa durch verstärkte prozessuale Möglichkeiten der Angeklagtenseite, bereits im Ermittlungsverfahren Einfluß auf die Wahrheitsfmdung zu nehmen, sind daher möglich und bei substantiellen Einschränkungen auch geboten540 . Bei seiner Entscheidung hat der Gesetzgeber außerdem zu berücksichtigen, daß die Wahrheitserforschung zwar fundamentale Bedeutung hat, aber nicht als allein gültige verfassungsrechtliche Vorgabe verabsolutiert werden darf 541 • Denn das Gebot umfassender Sachaufklärung - und erst recht ein weitgehendes Beweisantragsrecht mit einem erheblichen Mißbrauchspotential - kann leicht mit der Forderung nach einer praktikablen Verfahrensorganisation, die einen Abschluß der Masse der Strafverfahren in einem überschaubaren Zeitrahmen erlaubt, kurz: mit der "Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege" kollidieren. Die "Funktionstüchtigkeit" stellt ihrerseits eine der grundlegenden Bedingungen fi1r die Durchsetzung des materiellen Rechts und damit fi1r die Herstellung materieller Gerechtigkeit dar. Sie ist damit gleichfalls eine zwingende und rechtsstaatlich gebotene Anforderung an die Verfahrensgestaltung542 • Dieser Status der "Funktionsfähigkeit" ist zwar nicht unumstritten543 , im Ergebnis aber zutreffend: Wer die Legitimität und Notwendigkeit der Institution "staatliche Strafrechtspflege" anerkennt, muß auch die Mittel bereitstellen, um den Geboten des materiellen Rechts im Falle der Zuwiderhandlung Geltung zu verschaffen544 . Recht, das die Feststellung und Durchsetzung des entstandenen

540 Zu den Forderungen nach Verstärkung des Beweisantragsrechts im Ermittlungsverfahren siehe unten 2. Kapitel, A. III. . 541 Das zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit an den rechtsstaatlichen und grundrechtsschützenden prozessualen Sicherungen, welche den Umfang der Wahrheitserforschung begrenzen, z.B. den Beweisverboten. 542 Ebenso: H.-L. Schreiber, Tendenzen, S. 21; Vogel, NJW 1978, S. 1218; Rieß, FSSchäfer, S. 172, 182 f.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 7; NiemöllerlSchuppert, AöR 107 (1982), S. 394 ff.; Julius, Unerreichbarkeit, S. 228 ff.; P. Lang, Verlust, S. 135 ff.; Gössel, Gutachten, C 28 ff. 543 Kritik: Grünwald, JZ 1976, S. 772 f.; Hassemer, StV 1982, S. 275 ff.; ders., KrVjschr 1990, S. 265 ff.; Degenhart, HbStR III, § 76 Rn. 31; I. Müller, Rechtsstaat, S. 28 f.; Ignor, Jura 1994, S. 240 f.; Riehle, KJ 1980, S. 316 ff.; siehe auch Niemöllerl Schuppert, AöR 107 (1982), S. 399 ff. Die Kritik richtet sich nicht gegen die "Funktionstüchtigkeit" selbst, sondern gegen ihre Implementierung in das Rechtsstaatsprinzip, vor allem aber gegen das damit einhergehende erhöhte Gewicht, das dieser Argumentationskategorie als Verfassungswert zukommen soll. 544 Ihr Gewicht erhält die "Funktionstüchtigkeit" also nicht erst durch ihre begriftliche Lozierung im Rechtsstaatsprinzip, sondern aus dem Wert und der inneren Systemlogik jeder Strafrechtspflege: Ein Rechtsstaat ohne Strafrechtspflege ist nicht denkbar. Rechtsgewährung ist im Begriff des Rechtsstaats schon mitgedacht (H.-J Albrecht,

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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staatlichen Sanktionsanspruchs nicht oder nicht in überschaubarer Zeit sicherstellte, wäre kein Recht, sondern bloße "staatliche Erbauungsprosa"s4s . Erkennt man aber den Verfassungsrang der "Funktionstüchtigkeit" an, wird unter Umständen eine Abstimmung im Wege "praktischer Konkordanz"s46 erforderlich547 . b) Integrationsfunktion und Subjektstellung des Angeklagten Bei der Untersuchung der verfahrensrechtlichen Funktionen des Beweisantragsrechts hat sich ergeben, daß dieses Institut nicht allein der Wahrheitsfmdung dient, sondern durch die Integration des Angeklagten in das Beweisverfahren auch ein Element prozeduraler Gerechtigkeit darstellt. Die prozedural integrierende Wirkung beruht darauf, daß der Angeklagte die Möglichkeit hat, seine Sicht der Dinge im Verfahren eigenverantwortlich geltend zu machen und sich aktiv an der Herstellung der "Wahrheit" zu beteiligen. Prozedurale Gerechtigkeit im hier angesprochenen Sinne setzt also eine sich auf die Mitkonstitution der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage erstreckende Prozeßsubjektstellung des Angeklagten voraus. Unter verfassungsrechtlichem Blickwinkel ist nun entscheidend, daß diese Prozeßsubjektivität ihrerseits grundrechtlich abgesichert ist. Ihre Wurzeln liegen in der MenschenWÜTdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG, der nicht nur eine negative Abwehrfunktion hat, sondern filr den Angeklagten auch positiv die Chance zur Selbstbestimmung und Selbstgestaltung gewährleistef 48 . Aber auch das von der Strafsanktion betroffene Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG mit seiner Verfahrenswirkung549 und das ,,fair-trial"-Prinzip, das gleichfalls nicht nur Abwehr-, sondern auch Teilhaberecht ist5SO , gewähren ein Recht auf Möglichkeiten, S. 559). Wer dies aber anerkennt, muß auch Strafverfahren so einrichten und ausstatten, daß sie das materielle Strafrecht durchsetzen können. 545 Wassermann, Justiz, S. 16; vgl. auch Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 19 ff., 29 ff. (Recht ist nicht nur abstrakte Normenordnung). Nach traditionellem Verständnis der Rechtsphilosophie ist die Durchsetzbarkeit des Rechts, seine Realisierungssicherheit, die "securitas", eine Forderung der Rechtssicherheit (vgl. Henkel, Rechtsphilosophie, S. 441; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 169; Zippelius, a.a.O., S. 163). 546 Oben A. IV. 4., B. I. 1. c). 547 Gol/witzer, FS-Kleinknecht, S. 150 ff.; NiemölleriSchuppert, AöR 107 (1982), S.443/444. 548 MaunzlDürig (1. Aufl.), Art. 1 Rn. 18; Wolter, GS-Meyer, S. 495; Steiner, Fairneßprinzip, S. 165; Perron, ZStW 108 (1996), S. 131 f.; ders., Beweisantragsrecht, S. 60 f.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 43 Rn. 28; vgl. auch BVerfGE 38, S. 105 (114): "Aktive Teilnahme des Bürgers". 549 Perron, ZStW 108 (1996), S. 131 f., zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 550 BVerfGE 38, S. 105 (111); SK/StPO-Rogall, vor § 133 Rn. 104. 18"

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

aktive Selbstbehauptung innerhalb der prozessualen InteraktionssI. Die Rolle des Angeklagten als handelndes Verfahrenssubjekt verlangt daher nach effektiven prozessualen Handlungskompetenzens52 : Er muß die Gelegenheit haben, zur Wahrung seiner Rechte aktiv und in "verfahrensmäßiger Selbständigkeit"SS3 auf den Gang und die Ergebnisse des Strafverfahrens Einfluß nehmen zu können S54 . Überträgt und konkretisiert man diese zunächst noch unspezifizierte verfassungsrechtliche Vorgabe auf den Verfahrensabschnitt der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung, dann bedeutet Prozeßsubjekt zu sein fiir den Angeklagten: Er muß die Befugnis zur selbständigen Mitwirkung an der Sammlung des Beweisstoffs haben, da es gerade die im Tatsächlichen liegenden Beweisfragen sind, die das "Zentralproblem des Strafprozesses" (AlsbergiSS ausmachen und die regelmäßig über den Verlauf und das Ergebnis des ihn betreffenden und beschwerenden Verfahrens entscheidens56 . Gerade am Vorhandensein einer effektiven Einwirkungsmöglichkeit des Angeklagten auf diese Schaltstelle des Prozesses zeigt sich paradigmatisch, ob und inwieweit er als Prozeß- oder bes551 Vg!. Perron, Beweisantragsrecht, S. 30; auch das rechtliche Gehör, Art. 103 Abs. I GG, findet seine primäre Grundlage in der Selbstbehauptung (BK-Rüping, Art. 103 Abs. I Rn. 12; ders., Grundsatz, S. 133 ff.; ders., ZStW 91 [1979], S.354; ders.lDornseifer, JZ 1977, S. 419). 552 Das Bundesverfassungsgericht (E 63, S.45 [61]) und die Literatur (vg!. Rieß, FS-Schäfer, S. 175; Perron, Beweisantragsrecht, S. 61 ff.; Hili, HbStR VI, § 156 Rn. 46; I. Müller, Rechtsstaat, S. 58) leiten hieraus zugleich das Verlangen nach einer gewissen verfahrensrechtlichen "Waffengleichheit" zwischen dem Beschuldigten und der Anklagebehörde ab. Damit ist nicht etwa eine formelle Gleichstellung gemeint, die weder in der inquisitorischen Verfahrensstruktur kontinentaleuropäischer Prägung noch im anglo-amerikanischen Strafverfahrensmodell reinlich durchführbar wäre (E. Müller, NJW 1976, S. 1065). Vielmehr geht es um den Abbau sachlich nicht gerechtfertigter Benachteiligungen, d.h. um die Herstellung eines Prozeßgleichgewichts unter Berücksichtigung der Verschiedenartigkeit der Prozeßrollen (E. Müller, a.a.O., S. 1066 f.; Rieß, a.a.O., S. 175; KleinknechtIMeyer-Goßner, Ein!. Rn. 88). Einer so verstandenen Waffengleichheit dient auch das selbständige Beweisantragsrecht (LR-Schäfor, Ein!. Kap. 6 Rn. 15; U1senheimer, AnwB11983, S. 377; Bernsmann, ZRP 1994, S. 331; Leisner, Beweisumfang, S. 129 ff.; Strate, StV 1990, S. 392), indem es das Übergewicht der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren wenigstens zum Teil kompensiert. 553 BVerfGE 38, S. 105 (112). 554 BVerfDE 57, S. 250 (275); 63, S. 45 (61); 70, S. 297 (323); BVerfG NJW 1993, S. 190 (191); BVerfG StV 1997, S.1 (2) = NJW 1997, S.999 (1000); Kleinknechtl Meyer-Goßner, Ein!. Rn. 80; JarasslPieroth, GG, Art. 20 Rn. 67; Rieß, ZRP 1977, S. 75; Strate, DuR 1992, S. 281; Peters, Strafprozeß, S. 203; ter Veen, Beweisumfang, S. 219; Rieß, NStZ 1994, S. 410; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1262 f.; Gollwitzer, FS-Kleinknecht, S. 159. 555 Beweisantrag, S. III; vg!. zur Bedeutung der Tatsachenfeststellung auch BVerfGE 86, S. 288 (318). 556 Im Ergebnis: Pieth, Beweisantrag, S. 310 f., 352; ähnlich Hassemer, KrVjschr 1993, S. 273; ter Veen, Beweisumfang, S. 221; Kahlo, KrVjschr 1997, S. 202 f.

B. Bedeutung des Beweisantragsrechts

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ser als Erkenntnissubjekt tatsächlich ernstgenommen wird. Und von einem echten Teilhaberecht am Erkenntnisprozeß läßt sich nur dann sprechen, wenn der Angeklagte die Möglichkeit hat, sein Wahrheits bild eigenverantwortlich zu präsentieren und durch konkrete Beweiserhebung für alle nachvollziehbar zu verifizieren. Dazu bedarf es eines von gerichtlicher Beurteilung weitgehend unabhängigen, auf dem Verbot der Beweisantizipation557 beruhenden Beweiserhebungsrechts, mit dem das Gericht auch dann zur Beweisaufnahme gezwungen werden kann, wenn es diese aufgrund seiner Beweisprognose für entbehrlich hält558 . Somit ist festzuhalten: Ein Beweisantragsrecht, mit dem der Angeklagte in eigener Verantwortung seine Beweisprognosen überprüfen lassen und so seine Sichtweise zur Geltung bringen kann, ist Ausdruck seiner Prozeßsubjektstellung 559 und insoweit auch verfassungsrechtlich gewährieistet560 . Die oben unter a) beschriebenen Einschränkungen gelten jedoch auch hier: Das selbständige Beweisantragsrecht ist zwar im Kern unverzichtbar, unmittelbare Direktiven für die einfachrechtliche Ausgestaltung lassen sich jedoch schwerlich aus der grundgesetzlich verbürgten Rolle des Beschuldigten als Prozeßsubjekt ziehen561 . Zu berücksichtigen sind wiederum in einer Gesamtbetrachtung Art und Umfang sonstiger ihm eingeräumter prozessualer Teilhaberechte und Möglichkeiten, des weiteren die gegenläufigen verfassungsrechtlich geschützten Güter, die einem einseitigen Schutz der Individualinteressen entgegenstehen ("funktionierende Strafrechtspflege"), und schließlich die - wenn auch begrenzte - gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit. Im Ergebnis dürften sich daher die aus der Prozeßsubjektstellung ableitbaren Anforderungen an die Beweisantragsregelung nicht von denen unterscheiden, die von Verfassungs wegen zur Wahrheitsermiulung geboten sind. 557 Das Beweisantizipationsverbot stellt sich in diesem Zusammenhang als Hilfsinstrument zur Effektivierung der SubjektsteIlung dar (Pieth, Beweisantrag, S. 309 f.), indem es "den entscheidenden sachlichen Schutz für die prozessualen Einwirkungs- und Aufklärungsbefugnisse der Beweisantragsberechtigten" bildet (Hanack, JZ 1970, S.562). 558 Dahs, NJW 1995, S. 556; E. Müller, Referat, M 66; Herzog, StV 1995, S. 375; ter Veen, Beweisumfang, S. 220. 559 Maiwald, FS-Lange, S.750; Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 47 f.; Schünemann, FS-Pfeiffer, S. 463; Schutz, StV 1991, S. 356; Bernsmann, ZRP 1994, S. 331; Werle, JZ 1991, S. 793; Frister, ZStW 105 (1993), S. 362; H.-J. Albrecht, NJ 1994, S. 398; Fezer, StV 1995, S. 268; ders., JZ 1996, S. 658; E. Müller, AnwBI 1997, S. 90; SKJStPO-Pae.!fgen, § 420 Rn. 19; Kahlo, KrVjschr 1997, S. 202 f.; GatzweilerlMehle, Hauptverhandlung, § 9 Rn. 249; vgl. auch Herdegen, Beweisantragsrecht, S. 48: "Beweisantragsrecht ist Ausdruck gesetzgewordener Humanität". 560 Ähnlich Strate, DuR 1992, S. 281; ders., Aspekte, S. 84; Pieth, Beweisantrag, S. 309 ff., 352; Kahlo, KrVjschr 1997, S. 202 ff. 561 Kahlo, KrVjschr 1997, S. 202 Fn. 71.

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2. Teil, 1. Kap.: Zur Dogmatik des Beweisantragsrechts

4. Ergebnis Wie zu erwarten war, sind dem Grundgesetz und auch den menschenrechtlichen Gewährleistungen keine konkreten Imperative fiir die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Beweisantragsrechts zu entnehmen. Die derzeitige Regelung, die das Beweisantragsrecht in der Prozeßordnung gefunden hat, läßt sich deshalb nicht als verfassungsrechtlicher Mindeststandard bezeichnen. Ebenso unzutreffend wäre es auch zu behaupten, jede weitere Einschränkung sei rechtsstaatswidrig. Daraus läßt sich allerdings nicht folgern, das selbständige BeweisantragSrecht stelle eine verfassungsneutrale Manövriermasse dar: Zutreffend ist zwar, daß dem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 auch schon durch ein unselbständiges, an der Amtsaufklärungspflicht ausgerichtetes Beweisantragsrecht Genüge getan wäre. Aber: Um dem verfassungsrechtlichen Auftrag zur bestmöglichen Wahrheitserforschung im Strafprozeß gerecht zu werden und die grundrechtlich gebotene SubjektsteIlung des Angeklagten zu garantieren, ist ein unabhängiges Beweisantragsrecht in einem Kernbereich unverzichtbar. Es vollständig und ohne Ausgleich abzuschaffen, wäre damit aus verfassungsrechtlicher Sicht unzulässig.

Zweites Kapitel

Zur Reformbedürftigkeit der geltenden Beweisantragsregelung A. Überblick über den Meinungsstand Kaum ein Institut unseres heutigen Strafverfahrensrechts ist so geeignet zu polarisieren, wie das Recht des BeweisantragsI. Entsprechend enthält die Frage nach einer Reform reichlich Zündstoff. I. Forderungen nach einer Einschränkung des Beweisantragsrechts

Heftige Kritik an der lex lata wird vor allem von den Justizpraktikern und ihren Berufsverbänden geübt. Unter den Tatrichtern sind Klagen über das Beweisantragsrecht, das als "Sorgenkind,,2 oder gar als "Grundübel des deutschen Strafprozesses") gilt, und Forderungen nach einer Restriktion weit verbreitet4 • Es sei "fast das tägliche Brot eines Strafrichters, mit unglaublichen und unfaßbaren Beweisanträgen von Strafverteidigern konfrontiert zu werden"s. Das beweisantragsrechtliche Instrumentarium sei eine "Daumenschraube", an der die Verteidigung bis zur "Schmerzgrenze" drehe6 . Eine zusätzliche Behinderung sieht man in der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung: Überspitzte An-

I Kol/hosser, FS-StreelWessels, S. 1029, bemerkt zu der wertungsgeprägten Diskussion um das Beweisantragsrecht: "Ein rein sachlich-neutrales Verhältnis dürften allerdings nur die wenigsten Strafrechtler zu ihm haben." 2 v. Glasenapp, NJW 1982, S. 2057. 3 v. Bassewitz, DRiZ 1982, S. 461. 4 Bertram, NJW 1994, S. 2188 f.; Burckhardt, DRiZ 1993, S.202; v. Glasenapp, NJW 1982, S. 2057 f.; Berg, DRiZ 1994, S. 383; Brause, NJW 1992, S.2869; ders., Kriminalistik 1995, S. 354; Kunkis, DRiZ 1993, S. 188 ff.; v. Bassewitz, DRiZ 1982, S. 461; Rudolph, DRiZ 1992, S. 10; Bräutigam, in: FAZ vom 18. November 1993, S. 10; vgl. auch Strate, StV 1990, S. 392 (zum Abschlußbericht der Hamburger "Arbeitsgruppe Strafverfahren", 1989), Günter, DRiZ 1990, S. 303, und die Diskussionsbeiträge auf dem 60. DJT, VerhDJT 1994, Bd. II12; a.A.: Zierl, DRiZ 1983, S.410; Asbrock, ZRP 1992, S. 12 f. 5 LG Oldenburg, zit. nach OLG 0ldenburg, StV 1987, S. 523. 6 Schrader, NStZ 1991, S. 225.

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forderungen schnürten dem Tatrichter ein immer engeres Korsett7 • Bis zur praktischen Unbrauchbarkeit sei der ganze § 244 StPO in der Judikatur der Obergerichte verformt worden 8 . Bei einer Befragung9 hessischer Justizpraktiker nach den Möglichkeiten einer Entlastung der Strafrechtspflege war der mit Abstand am häufigsten genannte Reformwunsch die Einschränkung des Beweisantragsrechts lO • Nahezu 90 % der richterlichen Reformvorschläge zielten darauf ab, die beweisantragsrechtlichen Befugnisse der Angeklagtenseite zu kappenlI. Die Forderungen gingen prinzipiell dahin, den Umfang des Beweisantragsrechts enger bzw. die richterlichen Zurückweisungsbefugnisse weiter zu fassen 12 • Auch bei der Praktikerbefragung, die Perron im Rahmen seiner Habilitationsschrift durchgefiihrt hat, "ergab sich ein klarer Wunsch nach Erweiterung der Ablehnungsmöglichkeiten,,13 . Bei der empirischen Untersuchung von Römbke zum Ablehnungsgrund der Prozeßverschleppung (§ 244 Abs.3 S.2 Var.6 StPO) sprachen sich die befragten Strafrichter ebenfalls überwiegend filr eine extensivere Ausgestaltung der tatbestandlichen Voraussetzungen dieses Ablehnungsgrundes und eine Verringerung der Begründungsanforderungen aus. Verlangt wurde zudem die Einfilhrung einer allgemeinen Mißbrauchskiausel 14 . Bei den gleichfalls befragten Staatsanwälten war der Wunsch nach einer Restriktion des Beweisantragsrechts weniger verbreitet 15 • Dieser unterschied-

7 Bräutigam, Mitteilungen 4/1993 des DRB-Landesverbandes Berlin, S. 16, zit. nach Lauthütte, FS-Salger, S. 340 f.; Burckhardt, DRiZ 1993, S. 202; Günter, DRiZ 1990, S. 106 (fortschreitende "Feinziselierung"). 8 Schrader, NStZ 1991, S.225; Gössel, Gutachten, C 17; Kunkis, DRiZ 1993, S. 185, 188 ff. (Überjustizialisierung); ebenso der sächsische Iustizminister Heitmann, in: FAZ vom 4. 6. 1996, S. 10 ("unnötige allgemeine Komplizierung"). 9 Vgl. Hessische Kommission "Kriminalpolitik", S.22, u P.-A. Albrecht, KrVjschr 1993, S. 173 Fn. 42. . 10 Vgl. Hessische Kommission "Kriminalpolitik", S. 98 f., 105 f., 112 ff., 126 f.; P.A. Albrecht, KrVjschr 1993, S. 175 ff.; ders., NI 1994, S. 197 ("Aus der Rechtspraxis erschallt der Ruf nach Entfonnalisierung des Strafverfahrens unüberhörbar"). II Hessische Kommission "Kriminalpolitik", S. 98; P.-A. Albrecht, KrVjschr 1993, S.175. 12 Siehe die in den Vorschlägen der Hessischen Kommission "Kriminalpolitik", S. 105 f.; 112 ff., wiedergegebenen Kernthesen der befragten Praktiker. Allerdings gab es auch - in geringer Zahl - ablehnende Stimmen gegenüber einer Beweisantragsrechtseinschränkung (a.a.O., S. 114 f.). 13 Perron, Beweisantragsrecht, S. 339. 14 Römbke, Ablehnungsgrund, S. 181 ff. 15 Siehe die Befragungsergebnisse der Hessischen Kommission "Kriminalpolitik", S. 126 f.; abI. Stellungnahme etwa von Nehm/Senge, NStZ 1998, S.389; Schaefer, VerhDJT 1994: Diskussion, Bd. II/2, M 133; ders., Diskussionsbeitrag Internationales Christian-Broda-Symposion, in: Schreiber/Wassermann, Gesamtrefonn, S.49; refonn-

A. Überblick über den Meinungsstand

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liehe Befund deutet bereits an, daß die Refonndiskussion stark mit berufsständischen Interessen verknüpft ise 6 , ein Umstand, der sich auch an der durchgehend ablehnenden Haltung der Rechtsanwaltschaft zeigen wird. Unterstützung fmden die Tatrichter beim Deutschen Richterbund, der seit Jahren auf eine Einschränkung des geltenden Rechts drängtl7. Gehör fmden die Klagen zudem bei der Ministerialbürokratie der Länder, die schon etliche Refonnvorhaben in die Wege leitete und auch Initiatorin der derzeit aktuellsten Refonninitiative vom Oktober 1995 ist l8 . Unter den Rechtslehrem und Rechtslehrerinnen fmden sich ebenfalls namhafte Stimmen, die eine Dezimierung der beweisantragsrechtlichen Befugnisse des Angeklagten verlangen. Keine Übereinstimmung besteht allerdings über das Ausmaß des erforderlichen Eingriffs. Entschiedenster Verfechter einer weitgehenden Radikalkur dürfte derzeit Karl Heinz Gössel sein, der sein rigides Reformkonzept als Gutachten fiir den 60. Deutschen Juristentag (1994) vorgestellt hae 9 • Ansonsten sind viele Stimmen in der Rechtslehre von einer eher skeptischabwägenden Haltung gegenüber den Refonnforderungen geprägt2o: Die Notwendigkeit einer Refonn wird zwar grundsätzlich anerkannt, doch sei der Spielraum, der nach den bereits verwirklichten Maßnahmen fiir weitere Änderungen am Beweisantragsrecht verbleibe, sehr schmal. Entweder seien nur geringfiigige Eingriffe vertretbar I oder es werde zugleich eine grundlegende Revision der

bejahend dagegen: Linden, Referat, M 45 ff.; Günter, DRiZ 1990, S. 106; ders., DRiZ 1994, S. 304; Späth, DRiZ 1995, S. 224. 16 Vgl. Hessische Kommission "Kriminalpolitik", S. 104. 17 Siehe oben 1. Teil: J. VII. 5. 18 1. Teil: J. III. vor 1. (Arbeitsunterlage 1982), 1. IV. 1. (RptlEntlG); 1. VI. vor. 1. (Forderungen nach einem 2. RptlEntlG); vgl. auch die Stellungnahmen einzelner Ministerialbeamter: Böttcher (Bayern), DRiZ 1983, S. 130; Huber (Sachsen), NStZ 1996, S. 532; Groß (Hessen), Diskussionsbeitrag, Internationales Christian-Broda-Symposion, in: Schreiber/Wassermann, Gesamtreform, S. 51: "Wir brauchen keine Strafprozeßreform, wir brauchen nur eine starke Reduzierung des Beweisantragsrechts" . 19 Siehe oben 1. Teil: 1. VII. 6.; ders. in FS-Kleinknecht (1985), S. 140 ff.; weiterhin die Ausführungen zum Beweisantragsrecht in VerhDJT 1994: Diskussion, Bd. 1112, M 127 ff.; ZStW 106 (1994), S. 835 ff., 838 f. und S. 839 ff. 20 Schlüchter, Weniger ist mehr, S. 45 ff.; dies., GA 1994, S. 412 f., 417; dies., Protokoll der 38. Sitzung des Rechtsausschusses vom 29. 4. 1992 (12.WP.), S. 73 f., 143 f., 353 ff.; dies., Protokoll der 120. Sitzung des Rechtsausschusses vom 11. 4. 1994 (12. WP), S. 206 f.; Schöch, VerhDJT 1994: Diskussion, Bd. 1112, M 145, zurückhaltender ders., in: AK/StPO, § 244 Rn. 157 f.; Weigend, Referat, M 29; außerdem auch Rebmann, NStZ 1984, S. 245 f.; Wassermann, NJW 1994, S. 1708; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 174. 21 Exemplarisch Schöch, VerhDJT 1994: Diskussion, Bd. 1112, M 145: "Ich glaube also, daß wir um minimale, wenn auch vorsichtige Korrekturen des Beweisantragsrechts nicht herumkommen."

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gesamten Verfahrensstruktur der StPO erforderlich22 • Ähnlich war das Stimmungsbild auf dem 60. Deutschen Juristentag 1994 in Münster. Zwar sprach man sich ebenfalls fiir eine Modifizierung des Beweisantragsrechts in seiner gegenwärtigen Form aus. Im Vergleich zu den weitergehenden Vorschlägen des Gutachters Gössel und den Forderungen mancher Diskutanten war bei der Beschlußfassung jedoch nur eine zurückhaltende Korrektur der lex lata mehrheitsfahig 23 • Zur Rechtfertigung ihrer Reformforderungen verweisen die Befiirworter einer Restriktion auf eine Reihe von Mißständen; fiir die sie die geltende Beweisantragsregelung verantwortlich machen: Die Hauptverhandlungen und damit die Strafverfahren dauerten immer länger, weil insbesondere die Strafverteidiger ihr Beweisantragsrecht zunehmend exzessiv ausnutzten 24 • Diesem Trend müsse durch eine Einschränkung des Rechts Einhalt geboten werden, da langandauemde Verfahren fiir das Strafjustizsystem wie fiir die Verfahrensbeteiligten eine große Belastung darstellten25 : Der Anstieg der Verfahrensdauer bedeute zunächst eine Gefahr fiir die Wahrheitsfmdung, da es mit zunehmendem zeitlichen Abstand von der Tat zu Beweisverlusten komme und die Qualität der Beweismittel, insbesondere die Erinnerungstahigkeit der Zeugen, abnehme 26 • Zudem steige die physische und psychische Belastung fiir alle Beteiligten erheblich 27 • Darüber hinaus sei die spezialpräventive Erziehungswirkung wie der Abschreckungseffekt eines erst nach vielen Jahren ergehenden Strafurteils geschmälert28 • Ferner werde das Ansehen der Strafjustiz durch den öffentlichen

22· Perron, Beweisantragsrecht, S. 479 ff.; ders., VerhDJT 1994: Diskussion, Bd. Il/2, M 109; ders., JZ 1994, S.832 (825 ff.); allgemeiner auch AKJStPO-Schreiber, Ein!. I Rn. 19; Rieß, NStZ 1994, S. 412. 23 Siehe oben 1. Teil: J. VII. 6. b). 24 Glasenapp, NJW 1982, S. 2058; Gössel, FS-Kleinknecht, S. 131 ff.; Kintzi, DRiZ 1994, S. 325; vg!. auch Basdorf, StV 1995, S. 311; zu entsprechenden empirischen Erkenntnissen einer Hamburger Srudie siehe ter Veen, StV 1997, S. 382. 25 Zu den Gefahren überlanger Verfahren Herrmann, ZStW 85 (1973), S.260; Grünwald, Gutachten, C 14 f.; Rebmann, NStZ 1984, S.244; Prochnow, Beschleunigung, S. 2 f.; Küng-Hofor, Beschleunigung, S. 22 ff.; Berz, NJW 1982, S. 729 f. 26 Glasenapp, NJW 1982, S. 2058; Küng-Hofor, Beschleunigung, S. 23 f.; Rebmann, NStZ 1984, S. 244; Kintzi, DRiZ 1994, S. 328; Weigend, Referat, M 18; H.-1. Albrecht, NJ 1994, S. 396; Stankowski, Grenzen, S. 34. 27 Prochnow, Beschleunigung, S. 3; Rebmann, NStZ 1984, S. 244; Küng-Hofer, Beschleunigung, S. 21; Kintzi, DRiZ 1994, S. 328; Kohlmann, FS-Pfeiffer, S. 205. 28 Begründung zum 1. StVRG, BT-DrS 7/551, S. 34 f.; Driendl, Verfahrensökonomie, S.270; Küng-Hofer, Beschleunigung, S. 24 ff.; Grünwald, Gutachten, C 14 f.; Rebmann, NStZ 1984, S. 244; hierzu kritisch H. -1. Albrecht, NJ 1994, S. 396; zusammenfassend zu den unterschiedlichen Präventionsgesichtspunkten: ter Veen, Beweisumfang, S. 226.

A. Überblick über den Meinungsstand

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Eindruck justizieller Hilflosigkeit gemindert29 . Nicht zuletzt fehle angesichts leerer Staatskassen das hier vergeudete Geld in anderen wichtigen Bereichen30 . Schließlich sei sogar der gänzliche Kollaps der Strafjustiz zu befiirchten31 . Gegenüber einer exzessiven bis mißbräuchlichen Ausübung des Beweisantrags~ rechts seien die Tatrichter mit den derzeitig zur Verfiigung stehenden strafprozessualen Mitteln weitgehend hilflos 32 . Das Beweisantragsrecht sei fiir den Tatrichter nicht mehr praktikabel. Es zeige sich "Wildwuchs und Perversion des überformalisierten Strafprozeßrechts,,33. Praktisch stehe es im' Beliebendes Verteidigers durch geschicktes Taktieren mit diesem Institut, jedenProzeß zeitweilig oder sogar endgültig lahmzulegen34 ; In euphemistischer Weise werde ein derartiges Verhalten auch noch als "Verteidigungsstrategie" bezeichnees. Der Mißbrauch weise steigende Tendenz auf und sei keineswegs beschränkt auf eXzeptionelle Einzelfiille und wenige "schwarze Schafe,,36 . . Die Angeklagtenseite setze ihre mit dem' Beweisantragsrecht verbundene Machtposition zudem verstärkt als Druckmittel ein" um "die Richtet weichzukochen" und dem Gericht' einen' "Deal" aufzuzwingen3? Die Zunahme informeller Absprachen in der gerichtlichen Praxis beruhe nicht zuletzt darauf, daß die Gerichte angesichts eines beharrlichen Beschusses mit Beweisanträgen immer häufiger nicht mehr imstande seien, das Verfahren prozeßordnungsmäßig nach dem formellen Programm der StPO zu Ende zu bringen. Es gebe bereits 29 Prochnow, Beschleunigung, S.2; Glasenapp, NJW 1982, S. 2058; Kling-Hafer, Beschleunigung, S. 27; Rebmann, NStZ 1984, S. 244; Linden, Referat,M 35. 30 v. Bassewitz, DRiZ 1982, S. 462; Rebmann, NStZ 1984, S. 244. 31 Kintzi, DRiZ 1994, S. 325; LG Wiesbaden, StV 1995, S, 239 (240); vgl. auch ter Veen, Beweisumfang, S. 4/5; Schlüchter, Weniger ist mehr, S. 11. 32 Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 372; Körner, NJW 1982, S.676; Günter, DRiZ 1994, S. 303 f.; Sptith, DRiZ 1995, S. 223 f.; Berg,DRiZ 1994, S. 382 ff.;Kunkis, DRiZ 1993, S. 188 ff.; Gössel, Gutachten, C 17; Bräutigam, in: FAZ vom 18. November 1993, S. 10; LG Wiesbaden, StV 1995, S.239 (240); vgl. auch Berz, NJW 1982, S. 734, der sich jedoch im Ergebnis gegen eine Beschneidung des Beweisantragsrechts ausspricht. 33 Burckhardt, DRiZ 1993, S. 202. 34 Ostendorf, DRiZ 1993, S. 198; Rudolph, DRiZ 1992, S. 10; Gössel, ZStW 106 (1994), S.838; vgl. auch die eindringlichen Schilderungen von Wassermann, NJW 1994, S. 1106 f., und Ankermann, DRiZ 1993, S. 67 ff. 35 Günter, DRiZ 1994, S. 304. 36 Kintzi, DRiZ 1994, S. 325; SKiStPO-Schlüchter, §244 Rn. 1 ("... erschreckt der Rechtsrnißbrauch gerade auf diesem Gebiet"). 37 Bertram, NJW 1994, S. 2188 fWeiterhin Geiger, DRiZ 1994, S. 71; SKiStPOSchlüchter, vor § 213 Rn. 4, 23 ff., § 244 Rn. 1; dies., FS-Spendel, S. 742,744; dies., Weniger ist mehr, S. 13 f.; Hanack, StV 1987, S. 501; Gössel, FS-Kleinknecht, S. 133; Günter, DRiZ 1990, S. 106; Kunkis, DRiZ 1993, S. 189; Rudolph, DRiZ 1992, S. 9 f.; Nüsse, VerhDJT 1994: Diskussion, Bd. 11/2, M 154 f.; Basdorf, StV 1995, S.31H.; Fezer, StV 1995, S. 264, 269; Kremer, Absprachen, S. 27 f., 320.

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Schriftsätze, in denen dem Gericht unverblümt angetragen werde, das Verfahren gegen Bußzahlung einzustellen oder sich mit einer Bewährungsstrafe zu begnügen, damit das Verfahren nicht mit einer Fülle von Beweisanträgen boykottiert werde 38 . Derartige Erpressungen seien ein Angriff auf das Entscheidungsmonopol der Gerichte und damit auf Art. 92 GG 39 . Zugleich leide unter dieser Praxis die Gerechtigkeit: Während sich der gutsituierte Angeklagte mit einer gewieften und damit teuren Verteidigung, die virtous auf der Klaviatur des Beweisantragsrechts spielen könne, den "Discounttarif' verschaffe, gelte fiir die "normalen Strauchdiebe und Schränker ohne weißen Kragen" mit einer weniger raffmierten Verteidigung die ganze Härte des "N ormaltarifs,,40 . Augenfiillige Belege rur die ReformbedÜTftigkeit des Beweisantragsrechts sind fiir viele Kritiker diverse aufsehenerregende Verfahren, wahre "JustizMonstren", bei denen sie ihre Befiirchtungen bestätigt, wenn nicht schon übertroffen sehen. Als derartiges Monstrum gilt etwa der 1994 abgeschlossene sog. DüsseldorJer-Kurdenprozeß gegen Angehörige der PKK41 . Annähernd viereinhalb Jahre schleppte sich dieser Prozeß mit 353 Verhandlungstagen zum Urteil hin42 . Als Ursache fiir die lange Verhandlungsdauer wird unter anderem die exzessive Ausübung prozessualer Rechte seitens der Verteidiger genannt43 . Der Vorsitzende des Düsseldorfer Senats sprach in der Urteilsverkündung von ideologischer Verteidigung und einer Disziplinlosigkeit bei den Verteidigern, die Züge von Terror angenommen habe 44 . Neben 154 Ablehnungsgesuchen wurde insbesondere das Beweisantragsrecht umtanglich ausgeübt. Es wurden 174 Beweisanträge gestellt, zum Teil mit Auslandsbezug45 . Hiervon sollen nur 5 % zu weiteren, im übrigen ergebnislosen Beweiserhebungen gefiihrt haben. Im Ergebnis wurden nahezu 200 Zeugen und mehr als 20 Sachverständige einmal oder auch mehrfach vernommen46 . Die Kosten des Verfahrens werden aufrund 40 - 70 Millionen DM geschätzt47 . Wassermann, NJW 1994, S. 1107. Gössel, ZStW 106 (1994), S.837, 838; ders., VerhDJT 1994: Diskussion, Bd. 11/2, M 128. 40 Geiger, DRiZ 1994, S. 71; Gössel, Gutachten, C 65; Schlüchter, GA 1994, S. 398: "Verfahren gegen die 'Annen und Dummen' nach dem 'Hard Law' und das Vorgehen nach dem 'Soft Law' gegen die in beiderlei Hinsicht weniger Benachteiligten". 41 Vgl. Bertram, NJW 1994, S. 2186 ff.; Krumsiek, ZRP 1995, S. 175; Hermanski, DRiZ 1991, S. 298. 42 Krumsiek, ZRP 1995, S. 175. 43 Krumsiek, ZRP 1995, S. 175. 44 FAZ vom 8. März 1994, S. 4. Allerdings wurde auch der Senatsvorsitzende selbst wie auch die Anklagevertreter der Bundesanwaltschaft kritisiert (vgl. Hermanski, DRiZ 1991, S. 298). 45 Krumsiek, ZRP 1995, S. 175. 46 Krumsiek, ZRP 1995, S. 175. 47 V gl. FAZ vom 8. März 1994, S. 4; Krumsiek, ZRP 1995, S. 175. 38

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A. Überblick über den Meinungsstand

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Konnte der DüsseidorJer-Kurdenprozeß immerhin mit einem Urteil be endet werden, mußte ein weiteres spektakuläres Verfahren vor der Staatsschutzkammer des LG Stuttgart, der sog. Stuttgarter Neonazi-Prozeß, nach 120 Verhandlungstagen und einer mehr als dreijährigen Dauer mit ungewissem Ausgang vorerst ausgesetzt werden, nachdem eine Schöffm erkrankt war48 . Vorangegangen war die nach Abschluß der gerichtlichen Beweisaufnahme vorgebrachte Drohung des Verteidigers, er werde mit 400 Beweisanträgen dafiir sorgen, daß das Verfahren noch Jahre andauere, wenn das Gericht nicht zu einer Einstellung gelange49 . Nachdem das Gericht diesem Ansinnen nicht folgte, wurden sukzessive an jedem Verhandlungstag zwischen 19 und 40 Beweisanträge gestellt50 . Vielfach stimmte die Adresse der beantragten Zeugen nicht oder es mußten diese im Ausland geladen werden. Insgesamt wurden bis zum "Platzen" des Prozesses auf Antrag mehr als einhundert, im Ergebnis unergiebige Zeugen vernommen51 . Mit einem weiteren extremen Fall aus Dortmund mußte sich schließlich der Bundesgerichtshof beschäftigen52. Hier drohte der Angeklagte in einem vergleichsweise kleinen Betrugsverfahren, nachdem er bereits 300 Beweisanträge gestellt hatte und die Strafkammer deshalb mehrere Monate "nahezu ausschließlich mit der Entgegennahme und Bescheidung von Beweisanträgen" beschäftigt war, ein weiteres Paket von 8500 bis 9000 schriftlich formulierten Beweisanträgen an53 : Angesichts dieses 64 Kilogramm (!) schweren Bündels untersagte der Strafkammervorsitzende dem Angeklagten (obwohl nach der gesetzlichen Regelung selbständig beweisantragsberechtigt)54, in eigenem Namen weitere Beweisanträge zu stellen und nahm diese fortan nur noch vom Verteidiger an 55 .

48 Vgl. Wassermann, NJW 1994, S. 1106 f., 1708 f.; Kintzi, DRiZ 1994, S.326; Berg, DRiZ 1994, S. 380 ff.; Bertram, NJW 1994, S. 2187, spricht von einem "Lehr-

stück aus der sozialen Psychiatrie". 49 Wassermann, NJW 1994, S. 1106; Kintzi, DRiZ 1994, S. 326. 50 Wassermann, NJW 1994, S. 1106; Kinlzi, DRiZ 1994, S. 326. 51 Wassermann, NJW 1994, S. 1106. 52 BGHSt 38, S. 111 = NJW 1992, S. 1245 = NStZ 1992, S. 140. 53 Zu diesem Fall siehe Hamm, NJW 1993, S. 291, 296; Kühne, Strafprozeßlehre, Rn. 134.2,452.2; H.-J Albrecht, NJ 1994, S. 398; Nagler, VerhDJT 1994: Diskussion, Bd. I1/2, M 140, Nüsse, a.a.O., M 154, Schulz, a.a.O., M 175 f.; Niemöller, StV 1996, S. 505 f.; Perron, Beweisantragsrecht, S. 184 f.; Rüping, JZ 1997, S. 865 ff. 54 KJ.