Das ›Anegenge‹ – Text und Studien 9783110775723, 9783110775495

This volume presents an extensive philological and literary reevaluation of the Early Middle High German intellectual An

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Das ›Anegenge‹ – Text und Studien
 9783110775723, 9783110775495

Table of contents :
Danksagung
Inhalt
I Einleitung
II Edition des Textes
III Text
IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte
V Schlusswort
Literaturverzeichnis
Personenregister

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Eva Bauer Das ›Anegenge‹ – Text und Studien

Deutsche Literatur Studien und Quellen

Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Band 45

Eva Bauer

Das ›Anegenge‹ – Text und Studien

Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München (Tag der mündlichen Prüfung: 12. Februar 2021).   Gefördert durch den Karrierefonds der Sprach- und Literaturwissenschaften der LMU München.       

        ISBN 978-3-11-077549-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077572-3 ISSN 2198-932X   Library of Congress Control Number: 2022937424 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse), Cod.Pal.germ. 848, Blatt 355v. Wikimedia Commons Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Für Steffi

Danksagung Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die ich im Februar 2021 an der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München verteidigt habe. Allen voran möchte ich meiner Erstbetreuerin Beate Kellner danken: Sie hat mich von der Entstehung des Themas bis zur Drucklegung betreut, beraten und gefördert und mir stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Ebenso möchte ich meiner Zweitbetreuerin Susanne Reichlin danken, die mich in zahlreichen Gesprächen durch ihre kritischen Nachfragen zu immer weiterem Nachdenken und größerer Leistung angespornt hat. Meine Begeisterung für die Mediävistik und die Philologie sowie das dazugehörige Handwerkszeug habe ich von Holger Runow gelernt. Ihm gebührt mein besonderer Dank. Bei allen Schwierigkeiten und Problemen hatte er immer ein offenes Ohr, einen guten Rat und oft auch ein tröstendes Wort. Bedanken möchte ich mich auch bei all denjenigen, die mich in vielen fachlichen und persönlichen Gesprächen unterstützt, beraten und begleitet haben. Gerne würde ich alle namentlich nennen, beschränke mich aber auf einige wenige: Magdalena Butz, Jan Hon, Fabian Prechtl, Alexander Rudolph, Dominik Streit, Carolin StruweRohr, Alexandra Urban, Herfried Vögel, Michael Waltenberger, Meihui Yu und Julia Zimmermann. Bei Beate Kellner und Claudia Stockinger bedanke ich mich für die freundliche Aufnahme in die Reihe, bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags, insbesondere bei Robert Forke und Eva Locher, für die umfassende Betreuung. Der Fakultät 13 danke ich für die großzügige Bewilligung des Druckkostenzuschusses. Mein großer Dank gilt darüber hinaus meinen Freundinnen, Anna Keil, Franziska Klein, Lisa Scheer und Katja Weidner, sowie meiner Familie, meiner Mutter Gabriele, meinem Vater Martin, meiner Schwester Susanne und meiner Großmutter Georgine: Ohne ihr fortdauerndes Verständnis und ihre liebevolle Unterstützung wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Last but not least danke ich Stephanie Häusler dafür, dass sie immer für mich da war und im Kampf gegen den inneren Schweinehund stets das passende Werkzeug hatte. Ihr ist dieses Buch gewidmet. München, März 2022

https://doi.org/10.1515/9783110775723-001

Eva Bauer

Inhalt Danksagung 

 VII

I Einleitung 

 1

 9 II Edition des Textes  1 Cod. Vind. 2696   9 2 Editorische Neubewertung   10 3 Neuedition   25 3.1 Editionsprinzipien   25 3.2 Eigenheiten der Handschrift  3.3 Zur Umsetzung   31 III Text 

 26

 36

 112 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte  1 Gott, der Sprecher und ‚die Anderen‘   112 1.1 Prolog und Epilog   112 1.2 Der Sprecher und ‚die Anderen‘   125 1.3 Wahrheitsinstanzen   134 1.4 Fazit   138 2 Wer? Wie? Wann? Wo? – Voraussetzungen der trinitarischen Beratungen   139 2.1 Gott vor der Schöpfung   139 2.2 Fazit   148 3 Das Sprechen der Trinität   150 3.1 Der Schöpfungsrat   150 3.2 Der Erlösungsrat – Streit der Tugenden Gottes   156 4 Das Sprechen über die Trinität   169 4.1 Gleichewigkeit   170 4.2 Subordination   172 4.3 Einheit in der Dreiheit   176 4.4 Die Person Christi   180 4.5 Das Zusammenwirken der trinitarischen Personen   182 4.6 Fazit   186 5 Schöpfung, Sündenfall, Erlösung – Biblische Geschichte im Anegenge   188 5.1 Teil I: Von der Erschaffung des Menschen bis zur Verfluchung Chams   189 5.2 Teil II: Verkündigung, Geburt und Tod Christi   212

X 

 Inhalt

5.3 Fazit   220 6 Die Sündenwaage – Zwischen Makro- und Mikrostruktur   221 7 Gestaltungselemente im Anegenge   231 7.1 Initialen   231 7.2 Namen und Stichworte   235 7.3 Abbreviationen   239 7.4 Wiederholungen und Neuansätze   243 7.5 Fazit   248 8 Das Anegenge und seine Kotexte im Cod. Vind. 2696   249 8.1 Noch einmal Cod. Vind. 2696   249 8.2 Rezeptionsmöglichkeiten   251 8.3 Auswahl und Anordnung der Texte   255 8.4 Fazit   258 V Schlusswort 

 261

 266 Literaturverzeichnis  Primärliteratur   266 Sekundärliteratur   268 Hilfsmittel, Lexika, Onlineressourcen  Personenregister 

 279

 278

I Einleitung   Aber der Auszug aus Sinear bedeutete ihm ja auch eben nur einen bedingten und besonderen Urbeginn, und er war wohlunterrichtet darüber, durch Lied und Lehre, wie es dahinter ins Allgemeine weiter und weiter ging, über viele Geschichten, bis zu Adapa oder Adama, dem ersten Menschen […]; zurück zu dem Garten im Osten, worin die beiden Bäume, das Lebensholz und der unkeusche Baum des Todes, gestanden hatten; zurück zum Anfang, zur Entstehung der Welt, der Himmel und des irdischen Alls aus Tohu und Bohu durch das Wort, das frei über der Urflut schwebte und Gott war. Aber war nicht auch dies nur ein bedingter, besonderer Anfang der Dinge? Wesen hatten damals dem Schöpfer bewundernd und auch verwundert zugeschaut: Söhne Gottes, Gestirnengel, von denen Joseph manche merkwürdige und selbst lustige Geschichte kannte, und widrige Dämonen. Sie mußten aus einem vergangenen Welt-Äon stammen, das einst zu Tohu- und Bohu-Rohstoff geworden war bei seinem Altersuntergange – und war nun dieses das Allererste gewesen? Hier schwindelt es den jungen Joseph, genau wie uns, indem wir uns über den Brunnenrand neigen, und trotz kleiner uns unzukömmlicher Ungenauigkeiten, die sein hübscher und schöner Kopf sich erlaubte, fühlen wir uns ihm nahe und zeitgenössisch in Hinsicht auf die Unterwelt­ schlünde von Vergangenheit, in die auch er, der Ferne, schon blickte (Vorspiel, S. 13–14).1

In das ‚Vorspiel‘ zu Thomas Manns Joseph-Roman ist die Menschheitsgeschichte vor Joseph eingeflochten.2 Rückwärtsgehend versucht der Erzähler an ihren Anfang zu gelangen, doch ist der „Ur-Anfang“ prinzipiell unerreichbar.3 Denn: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen“ (Vorspiel, S. 7)? Der Versuch, zum Ur-Anfang zurückzugehen, muss zwangsläufig scheitern, denn immer kann man fragen: Und was war davor?4 Ist der Anfang der erste Mensch? Die Entstehung der Welt? Des Alls? Ist es Gott, sein Wort, sein Geist? Und wie verhält sich dies zur Urflut? Eine schier endlose Kette an Fragen, in denen man sich wie in einem Brunnen ertränken könnte, die zu beantworten aber immer wieder versucht wurde. Den Anfang aller Dinge nimmt auch das (früh-)mittelhochdeutsche Anegenge in den Blick. Und wie Thomas Manns Erzähler weiß das anonyme Sprecher-Ich des Anegenge, dass dies schwierig, ja vielleicht unmöglich, mit Sicherheit aber gefährlich ist, und es warnt seine Rezipienten:5 ich wil des geltes ledic sein an allen den, die dar in ir gedanch gevellent. die daz ervorschen wellent, wa got vor des genas, do der entwederz was 1 Zitiert wird nach: Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. Frankfurt a.M. 2007. 2 Dabei hat er allerdings nicht nur die Bibel im Blick, sondern die Gründungsgeschichten verschiedenster Völker und Kulturen. Vgl. zum ‚Vorspiel‘ einführend u.  a. Kurzke, 1993, S. 33–36. 3 Vgl. Kurzke, 1993, S. 34. 4 Vgl. Kurzke, 1993, S. 34. 5 Zitiert wird der Text der Neuausgabe (s.  u.). https://doi.org/10.1515/9783110775723-002

2 

 I Einleitung

himel noch erde noch daz liecht, solhe gedanc sint enwicht, unt die sich versenchent dar in, wie die drei namen sein, unt war umbe diu gotes gute der grozzen ubermute dem tievel verhancte, da er sich selben mit versancte unt im manic sel seit angewan, unt wie er dem ersten man valles verhancte, an dem er wol erchante, daz er mit dehainen dingen in wider möhte bringen wan mit sein selbes bluote, unt war zuo der guote des geburt wolde, an dem er wesse, daz er solde in der helle ewichlichen sein, unt wa mit diu armen chindelein daz fuwer haben gechouffet, diu da ungetoufet an ir schulde schaident von hinne, swer nach solhem sinne tieffe wil gedenchen, der mac sich selben wol ertrenchen. (V. 57–88)

Wo war Gott vor Anbeginn der Zeit? Wie lauten die Namen der Trinität? Weshalb ließ der gütige Gott den Teufel stürzen? Weshalb ließ er auch den ersten Menschen fallen, obwohl er wusste, dass dieser nur durch das Blut des Erlösers gerettet werden könnte? Weshalb sind Kinder, die ohne die Taufe sterben, für immer verdammt? Wer solchen Fragen nachhängen will, der kann sich leicht selbst in ihnen ertränken.6 In diesen Fragen hat die Forschung bisher das Programm des Anegenge vermutet.7 Die Schlussfolgerung: Das Anegenge stellt keinesfalls die gesamte Heilsgeschichte8 dar. Vielmehr gehe es dem Dichter9 vor allem um den Fall des Menschen und seine Wiedergutmachung durch Christus.10

6 Siehe ausführlicher Kap. IV.1.1. 7 Rupp, 1971, S. 241. Vgl. zum Forschungsstand auch Bauer, 2019, S. 31–34. 8 Zur Problematisierung des Begriffs siehe u.  a. Prica, 2010, S. 7–47. 9 Vgl. u.  a. Rupp, 1971, S. 255–260. 10 Vgl. Rupp, 1971, S. 243; 244–247. Für Rupp sind „Fall und Erlösung des Menschen [Hervorhebung im Original, E.B.] das Hauptanliegen“ des Dichters (vgl. ebd., S. 245). Noch expliziter plädiert Schwietering, 1931/41, S. 57–58, für die inhaltliche wie rezeptionsgerichtete Fokussierung der Dichtung auf den Menschen. Siehe dazu auch Kap. IV.4.

I Einleitung 

 3

Edward Schröder sah im Anegenge, ausgehend von dem Vers wie sich hup unser hail (V. 226), sogar nur eine Schöpfungsgeschichte: Dieser Teil habe entschieden das Übergewicht innerhalb eines „höchst confusen Programmes“, das nach ausführlicheren biblischen Erzählungen und Exkursen schließlich doch noch die Erlösung zum Ziel haben sollte.11 Die ältere Forschung scheint also das Anegenge unter der Erwartungshaltung wahrgenommen zu haben, dass es einen Abriss der (gesamten) Heilsgeschichte, ähnlich einer Summa, bieten müsse.12 Dass das Anegenge jedoch gerade dies nicht leistet, kritisiert Heinz Rupp wiederholt, wobei er insbesondere das Fehlen des Jüngsten Gerichts moniert: Es fehlt aber die Darstellung des Jüngsten Gerichtes, und es fehlt die Darstellung der Zeit zwischen der Erlösungstat und dem Jüngsten Gericht. Eine Dichtung, die dies nicht enthält, bietet keine vollständige Heilsgeschichte. Daß aber dies alles fehlt, ist für unsere Dichtung bezeichnend. Kein deutscher Dichter vor dem Dichter des ‚Anegenge‘, der eine Heilsgeschichte geben wollte, hat das Jüngste Gericht übergangen.13

Unverständlich bleibt dabei, weshalb die Spannweite vom Sündenfall bis zur Erlösung nicht die ‚ganze‘ Heilsgeschichte umfassen,14 beziehungsweise, weshalb die Wiedergabe einer solchen  – insbesondere mit Blick auf den handschriftlich überlieferten Titel (Daz buoch heizzet daz anegenge, fol. 89vb)15 – überhaupt nötig sein sollte. Die hier schon anklingende Kritik spiegelt sich auch in der weiteren Forschung zum Anegenge: Zumeist wenig beachtet stammt die Mehrzahl der Beiträge aus dem späten neunzehnten oder beginnenden zwanzigsten Jahrhundert. Hauptsächlich beschäftigte sich die ältere Forschung mit Reim und Versuntersuchungen,16 Textkritik17 oder Quellenstudium.18 Umfassendere Untersuchungen zum Anegenge bieten nur die Studien von Edward Schröder19 und Heinz Rupp.20 11 Vgl. Schröder, 1881, S. 78. 12 Vgl. auch Rupp, 1971, S. 241–242. De Boor, 1960, S. 138, nennt das Anegenge hingegen „die umfassendste Heilsgeschichte des 12.  Jahrhunderts“; ebd., S.  174, bezeichnet er das Anegenge als ein Lehrgedicht vom Typus der Summa theologiae. 13 Vgl. Rupp, 1971, S. 241–242. Zum Jüngsten Gericht im Anegenge siehe auch Kap. IV.7.2. 14 Vgl. Rupp, 1971, S. 241. 15 Obwohl es sich bei dem Wort anegenge um einen alten, im vierzehnten Jahrhundert gewiss nicht mehr üblichen Begriff handle, hielt schon Schröder, 1881, S. 78, den Titel für unpassend, da er sich lediglich auf den ersten Teil des Textes beziehen ließe. Rupp, 1971, S. 241, geht in der Ablehnung des handschriftlichen Titels sogar noch weiter und bezeichnet ihn als „Schreibertitel“, den der Schreiber aus einer ihm unverständlichen Vokabel (anegenge) konstruiert habe, weil sie ihm an einer wichtigen Stelle (V. 2235–2237) entgegengetreten sei. Zum Titel siehe auch Kap. II.1. 16 Vgl. u.  a. Zingerle, 1864, S. 23; Heusler, 1891, S. 62; Hertel, 1909; Schirokauer, 1923. 17 Vgl. Bartsch, 1882; Scheidweiler, 1944. 18 Vgl. Teuber, 1899. Eine Verbindung aus Textkritik und Quellenstudium versucht Leitzmann, 1940. 19 Schröder, 1881. 20 Rupp,1971, S. 217–260. Vgl. zu weiteren Titeln auch Gentry, 1992, S. 145–149.

4 

 I Einleitung

Insgesamt war die Forschung in ihrem Urteil über das Anegenge weit weniger gnädig als es der Erzähler des Joseph-Romans mit Joseph ist, dem er sich „trotz kleiner uns unzukömmlicher Ungenauigkeiten […] nahe und zeitgenössisch“ (Vorspiel, S. 14) fühlt: Das Anegenge und sein Dichter gelten allgemein als mangelhaft. Einige Beispiele: Daß sich die gedankliche Gliederung […] nur schwer erkennen läßt, daß vieles leicht zu Mißverständnissen führt, geht zu Lasten des Dichters, dem es nicht gelingt, diesen großen Plan auch im einzelnen klar durchzuführen.21 Viel häufiger aber stößt man auf die mangelnde Fähigkeit, sinn- und planvoll zu gliedern, und vermißt ein Gefühl für Proportionen, im Großen und im Kleinen.22 Das Anegenge ist „eine in der Formulierung nicht immer klare, im Gedankengang nicht immer folgerichtige gelehrte Erörterung schwieriger dogmatischer Themen“.23 Ästhetische Formkunst gehört dagegen nicht unbedingt zu seinen Stärken […]. Unreine Reime sind zuhauf vertreten […].24 Eine zunächst von der einleitend thematischen Zusammenfassung (V.  61–85) angelegte syntagmatische Stringenz wird durch zahlreiche Rückgriffe, Neuanfänge und Wiederholungen von bereits früher Besprochenem permanent unterlaufen. […] Dieses nach textueller Kohärenz bemessene unlogische Prinzip muss nicht per se für eine grundsätzliche Unsicherheit des Dichters im Umgang mit seinen Quellen sprechen, auch wenn schon die vielen Fehler bei den Bibelzitaten dafür ein Indiz sein können.25 So folgt im Grunde eine Kniffligkeit auf die nächste, ohne dass eine von ihnen ganz bewältigt wäre.26

Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.27 Man bescheinigte dem Text  – und die Zitate zeigen, dass dies für die jüngere Forschung ebenso gilt wie für die ältere – geringe inhaltliche und ästhetische Qualität und hob besonders die Unfähigkeit des anonymen Autors zu thematischer Kohärenz hervor. Werturteile dieser Art bestätigten den schlechten Ruf des Anegenge immer wieder und trugen zu seiner mangelnden Beachtung bis heute bei. Und selbst die wenigen Beiträge neueren Datums zum

21 Rupp, 1971, S. 225. 22 Rupp, 1971, S. 257. 23 Vgl. Fechter, 1968, S. 254–255. 24 Stridde, 2011, Sp. 502. 25 Stridde, 2011, Sp. 501. 26 Kiening, 2015, S. 72. 27 Einzig Teuber, 1899, hat in seinem Quellenstudium die geschickten Überleitungen des Dichters und seinen Umgang mit den Quellen (ebd., S. 276 u.  a.) gelobt. Für ihn ist das Anegenge ein „werk, das unter allen mittelhochdeutschen geistlichen gedichten das dunkelste, aber auch an gedankentiefe und reichtum des inhaltes das bedeutendste ist“ (ebd., S. 360).

I Einleitung 

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Anegenge fußen großteils noch immer auf den Ergebnissen und Einschätzungen der älteren Forschung.28 So haben sich beispielsweise Christian Kiening29 oder Jan-Dirk Müller30 im Rahmen umfangreicherer Studien mit dem Prolog oder den Raum- und Zeitstrukturen des Anegenge beschäftigt; jüngere Arbeiten bieten auch vergleichend angelegte Studien zu Sündenfall31 oder Töchterstreit.32 Die jüngere Forschung konnte dabei die von ihr fokussierten Aspekte weitaus tiefer erschließen, als dies die ältere Forschung getan hat.33 Dennoch wurden zumal die großen Annahmen und Werturteile zu Anlage und Aufbau des Anegenge kaum je hinterfragt, die Ergebnisse der älteren Forschung oft wiederholt oder zum Ausgangspunkt für die eigenen Analysen genommen.34 Dem liegt das Problem zugrunde, dass sich die Forschung zumeist nicht mit dem Anegenge als Gesamtkonzept befasst hat: Konzentrierte sich die ältere Forschung vorrangig auf Textkritik und Quellenstudien, griff sich die jüngere Forschung nur einzelne thematische Aspekte wie Anfang35, Schöpfung36, Zeit und Raum37, Sprechen der göttlichen Personen38 heraus. Wie die nachfolgenden Kapitel zeigen werden, kann ein solches Herausgreifen oder Zusammenbinden kleinerer Abschnitte aufgrund der besonderen Konzeption des Anegenge schnell zu Missverständnissen und Fehleinschätzungen führen.39 Das eigentliche Problem liegt dabei weniger im Anegenge selbst, als vielmehr im Zirkelschluss der Erwartungen begründet: Dem Anegenge wurde ein bestimmtes Inhalts- und Formkonzept – die gesamte Heilsgeschichte in ästhetisch ansprechender Form – unterstellt, das umzusetzen der Dichter nicht geschafft habe. Im Versuch, dem Anegenge die gelungene Durchführung dieses einmal angenommenen Konzepts abzusprechen, wurden zwar ‚permanent‘ (vermeintliche) neue Mängel und Fehler aufgedeckt. Das Konzept selbst wurde jedoch, wie es scheint, nicht hinterfragt. Demgegenüber ist es nötig, sich von derartigen Vorurteilen zu lösen und dem Anegenge nochmals möglichst unvoreingenommen gegenüber zu treten. Erst diese Unvoreingenommenheit ermöglicht es nämlich, dem Text losgelöst von allen Forderungen nach ästhetischer Qualität oder thematischen Kohärenzen und Vollständigkeitsansprüchen neu zu begegnen. Erst dann können andere Ebenen der poetischen

28 Vgl. u.  a. Kiening, 1992; ders., 2015, S. 68–74; Müller, 2017, S. 257–262; 307–313; Sherwood-Smith, 2003; Stridde, 2012; dies., 2011; Unzeitig, 2012. 29 Vgl. Kiening, 1992; ders., 2015, S. 68–74. 30 Vgl. Müller, 2017; ders. 2017a. 31 Vgl. u.  a. Murdoch, 1972; ders., 1967, S. 375–382. 32 Vgl. u.  a. Mäder, 1971, S. 46–52; Sherwood-Smith, 2003, S. 213–224, hier bes. S. 214–219. 33 Die einzelnen Beiträge werden in den nachfolgenden Kapiteln wieder aufgegriffen. 34 Siehe dazu Kap. IV.7.4. 35 Vgl. u.  a. Müller, 2017a. 36 Vgl. u.  a. Kiening, 2015; ders. 2015a. 37 Vgl. u.  a. Müller, 2017. 38 Vgl. u.  a. Stridde, 2009; dies., 2012; Sherwood-Smith, 2003. 39 Vgl. insbesondere Kap. IV.7.4.

6 

 I Einleitung

Gemachtheit, die starken Eigenlogiken des Anegenge beobachtet und für die Erarbeitung neuer Erkenntnisse und Bewertungen fruchtbar gemacht werden. Nimmt man das Anegenge dergestalt ernst, rückt ein anderer Schwerpunkt in den Blick: die Trinität.40 Dass das Paradoxon der Trinität im Anegenge mit „ganz besonderer Liebe und […] Ausführlichkeit“ thematisiert wird, hatte zwar bereits Schröder gesehen, dabei jedoch moniert, dass es „zu Anlage und Umfang des Gedichtes in gar keinem Verhältniss“ stehe.41 Dem zugrunde liegt wiederum das von der Forschung angenommene Inhalts- und Formkonzept, zu dem die breite Thematisierung der Trinität so gar nicht passen wollte. Lässt man hingegen derartige Vorannahmen einmal beiseite, stellt man fest, dass die Trinität nicht nur einen sehr viel breiteren Raum im Anegenge einnimmt als bisher angenommen, sondern dass sie gleichsam zentral zu sein scheint: Das Anegenge will das Paradoxon der Einheit in der Dreiheit, das Zusammenwirken der drei göttlichen Personen bei Schöpfung und Erlösung, ihren Heilsplan und ihre Heilshandlungen, vorstellen und so weit wie möglich erschließen. Die Heilsgeschichte ist damit tatsächlich nicht vollständig auserzählt – was nicht schon bedeutet, dass sie lückenhaft wäre –, denn sie ist, wie zu zeigen sein wird, vorrangig für die Konturierung der Trinität funktionalisiert. Da diese Bedeutung der Trinität für das Anegenge bisher nicht erkannt wurde, führte gerade die Unvollständigkeit des Syntagmas nicht nur zu Irritationen, sondern erweckte ein Gefühl des Mangels, aus dem womöglich die starke Kritik an diesem Text resultiert.42 Im Folgenden soll daher eine Re-Lektüre des Anegenge unternommen werden. Für eine umfassende Neubewertung ist es dabei nicht ausreichend, einfach nur den bereits edierten Text neu zu lesen, sondern es bedarf auch eines editorischen Neuansatzes: Um neue interpretatorische Aspekte erkennen und überprüfen zu können, muss auch der philologische Blick auf den Text neu justiert werden.43 In einem ersten Schritt (II.2) soll das Anegenge daher einer editorischen Neubewertung unterzogen werden. Dabei wird zu zeigen sein, dass der überlieferte Text, um ihn für neue Interpretationszugänge allererst aufzubereiten und sodann offen zu halten, ernst genommen werden muss. (Vorschnelle) Konjekturen und ‚Reparaturen‘ legen den Text oft auf nur eine Lesart fest und schränken damit das breite Bedeutungsspektrum vieler Passagen ein. Demgemäß sollen ausgehend von den Eigenheiten des Überlieferungsträgers Editionsprämissen (II.3) erarbeitet werden, die in ihrer Tendenz den Text zwar für die weitere Benutzung aufbereiten und zugänglich machen, ihn

40 Vgl. Bauer, 2019. 41 Schröder, 1881, S. 66. Einen großen Anteil Gottes (in seiner Trinität) sieht auch Hauck, 1958, S. 533– 535. Rupp, 1971, S. 257, setzt für die Behandlung der Trinität genau 556 Verse an. Murdoch, 1972, S. 125, räumt ein, dass „the EMHG poet is, after all, particularly concerned with the Trinity elsewhere in the work.“ 42 Vgl. Bauer, 2019. 43 Vgl. Runow, 2017.

I Einleitung 

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aber möglichst wenig verändern. Ausgehend hiervon soll sodann der aus dem Codex unicus neu edierte Text des Anegenge (Kap. III) geboten werden.44 Diese Edition dient als Basis für die Re-Lektüre des Anegenge. Dabei soll zunächst die Ausgangssituation geklärt werden (IV.1): Wer spricht mit wem worüber? Wie sich zeigen wird, will ein nicht näher bestimmtes Sprecher-Ich zu seinen Adressaten über Gott, respektive die Trinität, sprechen, wobei nicht nur weltliche Wahrheitsinstanzen, sondern vor allem Gott selbst die Richtigkeit der rede verbürgen sollen. Die trinitarischen Personen kommen daraufhin selbst zu Wort (IV.3): In einer ersten Ratsszene bedenken Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist zunächst die Schöpfung. Als Folge des Sündenfalls berät die Trinität sodann in einer zweiten Ratsszene mit den Qualitäten Gottes im sogenannten Töchter- oder Tugendstreit über die Erlösung des Menschen. Unter welchen Bedingungen im Anegenge ein Gespräch Gottes mit sich selbst stattfinden kann, wenn es noch weder Raum noch Zeit gibt, wird im voranstehenden Kapitel besprochen (IV.2). Wie sich die trinitarischen Personen dabei zueinander verhalten, wie das Paradoxon der Dreiheit in der Einheit im Anegenge dargestellt wird, soll im Anschluss an das Sprechen der Trinität analysiert werden (IV.4). Die Ergebnisse der trinitarischen Beratungen, die Erschaffung des Menschen und die Menschwerdung Christi, werden im Anschluss an die jeweiligen Ratsszenen umgesetzt. Die biblische Geschichte im Anegenge bildet damit zwei Teile (IV.5): Von der Erschaffung des Menschen über den Sündenfall bis zur Verfluchung Chams nach der Sintflut; von der Verkündigung bis zur Himmelfahrt Christi. Dabei wird zu zeigen sein, dass nur so viel biblische Geschichte auserzählt wird, wie notwendig ist, um das Paradoxon der Trinität ansichtig zu machen und zugleich einen Bogen von der Schöpfung bis zur Erlösung zu spannen. Nach der Geburt Christi werden im Bild der Sündenwaage (IV.6) Lapsus und Erlösung kontrastiv gegenübergestellt. Folgte das Anegenge bisher weitgehend chronologisch der Heilsgeschichte, werden die einzelnen Elemente nun eher paradigmatisch dargestellt. Dabei wird sich herausstellen, dass das Anegenge zwar auf der Makroebene der Heilsgeschichte folgt, diese Chronologie auf der Mikroebene aber wiederholt unterläuft. Um dies zu ermöglichen, bedient sich das Anegenge verschiedener Gestaltungselemente (IV.7), die den Text gliedern und strukturieren. Im letzten Kapitel (IV.8) wird der Blick nochmals erweitert auf den Überlieferungsträger des Anegenge, den Cod. Vind. 2696, wobei zu zeigen sein wird, dass die Sammelhandschrift nach einem redaktionellen Konzept angelegt ist, das die Einzeltexte miteinander verbindet. Die Ergebnisse der Re-Lektüre werden abschließend in einem kurzen Schlusswort zusammengefasst (V).

44 Meine Studienausgabe Das Anegenge. Text, Übersetzung, Kommentar (erscheint voraussichtlich 2024 in der Reihe de Gruyter Texte) wird den Text hingegen stärker für die Bedürfnisse von Studium und Lehre aufbereiten.

8 

 I Einleitung

Ausgangspunkt ist dabei grundsätzlich eine textnahe Lektüre des Anegenge. Wo es der Argumentation und dem Verständnis dient, kann auf den Bibeltext45 oder auf theologische Autoritäten und vorgeprägte Lehrmeinungen verwiesen werden.46 Die theologischen Traditionen in denen das Anegenge steht, sollen dabei nicht aufgearbeitet werden. Solche Untersuchungen wären Thema einer eigenen Arbeit47 und wurden überdies bereits (mehrfach) geleistet.48 Auch lassen sich immer nur mögliche Quellen, Abhängigkeiten oder Entwicklungen aufzeigen. Belegbar sind sie im Allgemeinen nicht.49 Wie im Falle des Anegenge versperren solche Untersuchungen sogar häufig den Blick auf das Wesentliche, den Text selbst: „Über Quellenspekulationen und ähnlichen Vorfeld-‚Ausschweifungen‘ ist auch sonst in der Mediaevistik lange Zeit das eigentliche Werk fast vergessen oder doch nur unzulänglich beachtet worden“.50 Indem beispielsweise wiederholt versucht wurde, die einzelnen Gedanken des Anegenge Autoritäten wie Hugo von St. Viktor, Augustinus oder Honorius Augustodunensis zuzuweisen, wurde nicht nur vergessen, den Eigenwert des Anegenge zu untersuchen, es konnte auch qualitativ niemals an diese Autoritäten heranreichen – wieder ein Mangel. Im Folgenden soll daher die Aufmerksamkeit ganz einer literarhistorischen Neubewertung des Anegenge gelten.51

45 Zitiert wird nach: Biblia Sacra. Iuxta vulgatam versionem. Editionem quintam emendatam retractatam praeparavis Roger Gryson. Stuttgart 2007. Die deutsche Übersetzung wird zitiert nach: Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, hg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands u.  a. Stuttgart 1980. 46 In den Fußnoten werden zudem die entsprechenden Angaben bei Teuber (1899) mitgeführt. 47 Teubers 112 Seiten umfassende Studie zu den Quellen des Anegenge beweist dies eindrucksvoll. 48 Schröder (1881), Teuber (1899), Leitzmann (1940) oder Rupp (1971) verwenden einen Großteil ihrer Arbeiten darauf, die Quellen des Anegenge-Dichters aufzuzeigen bzw. deutlich zu machen, wo dieser von den Traditionen abweiche. 49 Siehe dazu jüngst auch Lechtermann, 2021, S. 99–100. 50 Schweikle, 1994, S. 122. Als „repräsentatives Beispiel“ (ebd.) gibt er das Nibelungenlied an, doch ist auch das Anegenge passend. 51 Erst im Anschluss daran können weiterführende Studien, ggf. auch zu möglichen Quellen, (wieder) fruchtbar gemacht werden.

II Edition des Textes 1 Cod. Vind. 2696 Das Anegenge ist unikal im Codex Vindobonensis 26961 überliefert, einer Wiener Sammelhandschrift, die von Karin Schneider auf „um 1300“ datiert wird.2 Es handelt sich um eine Pergamenthandschrift mit 158 erhaltenen Blättern. Die Blattgröße beträgt 242x165 mm, der Schriftraum 195x122–133 mm. Die Handschrift ist zweispaltig angelegt, eine Spalte umfasst 35 bis 40, gewöhnlich 38 Zeilen. Die Verse sind abgesetzt und mit Reimpunkten versehen, wobei in der ersten Spalte der jeweils zweite Vers eines Reimpaares eingerückt ist; der Rand der zweiten Spalte ist bündig.3 Die Handschrift wurde von einem einzigen Schreiber4 verfasst, die rubrizierten Werktitel von anderer Hand eingefügt.5 Bei der Schriftart handelt es sich um eine „regelmäßige druckstarke Textualis“, zu deren Besonderheiten unter anderem häufigere doppelte Brechung, zusammengeschobene Wortblöcke und unregelmäßige Bogenverbindungen zählen.6 Die Schreibsprache weist in den südbairisch-österreichischen Raum;7 über die genaue Provenienz der Handschrift ist nichts bekannt. Insgesamt handelt es sich um eine großenteils sorgfältig geschriebene und gut lesbare Handschrift, die über die ÖNB digital einsehbar ist. Sie weist – zumindest im Abschnitt des Anegenge – einige Schreiberkorrekturen, Stellen von Abrieb sowie einzelne Eintragungen am Seitenrand auf.

1 Digitalisat unter http://data.onb.ac.at/rec/AL00176503, abgerufen am 10.03.2022. Zur Beschreibung der Handschrift vgl. Handschriftencensus http://www.handschriftencensus.de/1216, abgerufen am 10.03.2022; Schneider, 1987, S.  228–230; Fingernagel  und  Roland, 1997, S.  112–113; Wiesinger, 2013, S. 595–596; Bauer, 2019, S. 31–33. Zu einer ausführlichen Beschreibung der Handschrift im Hinblick auf das Anegenge vgl. Neuschäfer, 1966, Studien, S. 14–31, bes. S. 14–16. 2 Vgl. Schneider, 1987, S. 229. Ältere Forschungsansätze trägt Neuser, 1973, S. 15–32, zusammen. 3 Vgl. Geith, 1968, S. 119. Schneider, 1987, S. 229, weist darauf hin, dass der Schreiber zu Beginn der Handschrift Schwierigkeiten mit diesem scheinbar ungewohnten Vorgehen gehabt, sich im Laufe der Arbeit aber daran gewöhnt habe, sodass „Irrtümer […] nur noch gelegentlich“ vorkommen. Doch scheint auch der erste Spaltenrand bisweilen über mehrere Verse hinweg beinahe bündig zu sein (fol. 92ra, V. 313–315; fol. 96ra, V. 935–944 u.  a.). 4 Für den Schreiber und seine Vorgänger hat Neuschäfer, 1968, S. 67, mit Verweis auf andere Texte der Sammelhandschrift, festgehalten, dass sie „überliefern“, nicht „bearbeiten“. Gerade mit Blick auf das Konzept der Sammelhandschrift (siehe Kap.IV.8) müsste allerdings nochmals geprüft werden, welche Änderungen es gibt und auf wen sie allenfalls zurückzuführen sind. 5 Vgl. Schneider, 1987, S. 229. 6 Vgl. Schneider, 1987, S. 229. 7 Vgl. Schröder, 1881, S. 3–12, hier bes. S. 6; Schneider, 1987, S. 229. https://doi.org/10.1515/9783110775723-003

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 II Edition des Textes

Die Wiener Sammelhandschrift 2696 überliefert nach eigenen Angaben zehn Texte – Summe der buͦ che ſint ze|heniv (fol. 0v)8 –, sechs davon unikal,9 die alle geistliche Themen behandeln: Die Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen; die Urstende Konrads von Heimesfurt; das Jüdel; Sankt Katharinen Marter; der Oberdeutsche Servatius; das Priesterleben und das Gemeine leben10 Pseudo-Heinrichs von Melk11; das Anegenge; Albers Tnugdalus; die Warnung. Für neun der zehn Texte ist ein rubrizierter Titel (Daz buͦ ch heizzet …) erhalten. Untergliedert werden die Einzeltexte durch ebenfalls rubrizierte Initialen, die in unregelmäßigen Abständen nach einem Reimpaar gesetzt sind.12 Dass diese Anlage für die Sammlung bedeutsam war, lässt sich besonders am Anegenge beobachten: Sein zweizeiliger Titel Daz buͦ ch heizzet daz | anegenge (fol. 89vb) steht auf Rasur, es lässt sich aber noch erkennen, dass hier zunächst Daz buͦ ch heizzet daz gemeî|ne leben zu lesen war.13 Daz gemeine leben steht unmittelbar vor dem Anegenge, weshalb Neuschäfer davon ausgeht, dass der Rubrikator versehentlich den eben erst geschriebenen Titel wiederholt, sich dann aber korrigiert habe.14 Die Kombination aus den für alle Texte gleichgebauten Titelformulierungen, ihrer sorgfältigen Korrektur und der ‚Inhaltsangabe‘ lässt zweifelsohne ein bewusstes Redaktionsprinzip erkennen, nach dem der Codex gestaltet wurde.15

2 Editorische Neubewertung Das Anegenge liegt derzeit in zwei Versionen derselben Edition vor: Die ursprüngliche Ausgabe Dietrich Neuschäfers von 1966 (Reihe Medium Aevum Bd. 8)16 und eine um 8 Diese ‚Inhaltsangabe‘ ist ebenso rubriziert wie der auf derselben Seite überlieferte Titel der Kindheit Jesu (vgl. Menhardt, 1960, S. 132). 9 Vgl. Handschriftencensus http://www.handschriftencensus.de/1216, abgerufen am 10.03.2022. 10 Dieser Text hat von der Forschung unterschiedlichste Namen erhalten – Von des todes gehugde, Erinnerungen an den Tod, Mahnreden über den Tod, um nur einige zu nennen (eine Zusammenstellung findet sich bei Brüggen, 2000, S. 37–38, Anm. 25). Der Text ist nur im Cod. Vind. 2696 unter dem Titel Daz (buoch heizzet daz) gemeine leben (fol. 156v) bezeugt. Dieser Titel wird im Folgenden verwendet. 11 Siehe Neuser, 2VL, Bd. 3, Sp. 787–789. 12 Ausführlicher siehe Kap. IV.7.1. 13 Vgl. Neuschäfer, 1966, Studien, S. 15. Im Digitalisat ist dies allerdings kaum mehr erkennbar. 14 Neuschäfer, 1966, Studien, S. 15, geht davon aus, dass dem Rubrikator eine Titelliste vorgelegen habe, von der er die Titel nachträglich in die Handschrift kopiert habe. Neuser, 1973, S. 14–15, hier bes. Anm. 5, geht hingegen davon aus, dass die Titel des Anegenge und des Gemeinen lebens „nicht wesentlich später als die Rubrizierungen der Handschrift“ von anderer Hand korrigiert worden seien. Unabhängig davon, von wem die Korrekturen vorgenommen wurden, spiegeln sich in den Arbeiten am Sammlungsträger doch eine sorgfältige Konzeption und Redaktion. 15 Vgl. ausführlicher Kap. IV.8. 16 Das Anegenge. Textkritische Studien. Diplomatischer Abdruck. Textkritische Ausgabe. Anmerkungen zum Text, hg. von Dietrich Neuschäfer. München 1966.



2 Editorische Neubewertung 

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die textkritischen Studien gekürzte, ansonsten aber unveränderte Version von 1969 (Reihe Altdeutsche Texte Bd. 1)17. In den ‚Studien‘18 arbeitet Neuschäfer detailliert die Besonderheiten der Handschrift sowie die metrischen, (reim-)grammatischen oder dialektalen Eigenarten des Anegenge heraus. Der kritische Text19 wird in Synopse zu einem diplomatischen Abdruck des Handschriftentextes20 gegeben. Ein Forschungsapparat unter dem kritischen Text weist zahlreiche frühere Konjekturvorschläge und Lesarten nach;21 ein Einzelstellenkommentar22 versammelt grammatische Fragen, vereinzelte Übersetzungsvorschläge und Sachhinweise. Neuschäfers Edition hat von der Forschung Lob wie Kritik erfahren;23 aus heutiger Sicht fehlen ihr vor allem eine Übersetzung und eine zeitgemäße Kommentierung.24 Meine geplante Studienausgabe25 mit Text, Übersetzung und Kommentar soll hierauf reagieren. Für eine umfassende Re-Lektüre, wie sie in diesem Band unternommen wird, ist es allerdings zunächst geboten, zurück zur Überlieferung zu gehen. Dies möchte ich im Folgenden anhand einiger Textstellen exemplarisch begründen. 1. Beispiel: Konjekturen Als erstes Beispiel soll eine Stelle vom Beginn des Anegenge dienen: Nachdem nur wenige Verse zuvor aufgezählt wurde, welche theologischen Probleme und Glaubensfragen im Folgenden beantwortet werden sollen,26 beteuert das Sprecher-Ich27 die absolute Autarkie Gottes von allem Geschaffenen, das nur durch seiniu chint (V. 109), nicht aber zu seinem eigenen Vorteil gemacht sei. Es fährt fort:28 17 Das Anegenge, hg. von Dietrich Neuschäfer. München 1969. Im Folgenden wird die grundlegende Ausgabe von 1966 besprochen. 18 Vgl. Neuschäfer, 1966, Studien, S. 11–86. 19 Vgl. Neuschäfer, 1966, Text, S. 89–267. 20 Dieser orientiert sich an der Ausgabe Gedichte des XII. und XIII. Jahrhunderts, hg. von Karl August Hahn. Quedlinburg 1840 (vgl. Neuschäfer, 1966, S. 92). 21 Anmerkungen zur Handschrift wie zum diplomatischen Abdruck werden in einem eigenen Apparat unter dem diplomatischen Abdruck gegeben. 22 Vgl. Neuschäfer, 1966, Kommentar, S. 269–295. 23 Vgl. u.  a. die Rezensionen von Ganz, 1968; Geith, 1968; Murdoch, 1969. Alle drei Rezensionen sprechen der Edition Neuschäfers ihre Anerkennung aus, machen aber auch auf diverse Schwächen und Lücken aufmerksam (siehe unten). 24 Die Kommentareinträge Neuschäfers sind eher spärlich, die Apparate hingegen überfrachtet (zu einer generellen „Kritik des Apparats“ vgl. Kragl, 2014). Die Benutzung ist insgesamt umständlich; in der Ausgabe von 1969 fehlt den Benutzer/innen der Studienteil, da eine Vielzahl der textkritischen Entscheidungen Neuschäfers nur dort vermerkt und erklärt ist. 25 Siehe Einleitung, Anm. 44. 26 Siehe dazu Kap. IV.1.1. 27 Siehe Kap. IV.1. 28 Text nach Neuschäfer, 1966. Die Kursivierungen zeigen hier und im nächsten Beispiel die Eingriffe Neuschäfers an; die Hervorhebungen im Fettdruck stammen von der Verfasserin.

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 II Edition des Textes

got muoz elliu dinc bewarn und ûf haben mit sîner chrefte. meht im iht an sîner magenchrefte geschaden, sô het er muo dannen. ir sult ouch wizzen, von wannen dem tievele chom die hôchvart, durch die er verstôzen wart. Gottes gewalt was ie und verwandelte sich nie, noch niemer getuot (V. 122–131)

Wer daran zweifeln sollte, dass Gott allmächtig, ewig gleich und vollständig unabhängig von jeglicher Schöpfung ist, dessen Glaube sei auf Abwege geraten (der geloube hât sêre missevarn, V. 121). Denn Gott ist all dies und in diesem Sein fasst er – gleichsam aus dem Nichts (von nieht, V. 136) – den Beschluss, dass er seine Freude nicht länger ungeteilt lassen (niht eine tragen, V. 138) will. Aus diesem Argumentationsverlauf fällt die Ankündigung heraus, dass die Rezipienten ouch wissen sollen, woher des Teufels superbia (hôchvart, V. 126) gekommen sei. Die Kursivierung in diesem Vers zeigt an, dass in den überlieferten Text eingegriffen wurde.29 Eine Begründung für den Eingriff fehlt hier,30 lässt sich aber leicht erschließen: Was haben Luzifer und die Ursachen für seinen Sturz im Kontext der Unabhängigkeit Gottes von seiner eigenen Schöpfung verloren? Schon Heinz Rupp sieht im Verweis auf den Teufel ein neues Thema.31 Dass der Teufelssturz hier aufgerufen, dann aber erst sehr viel später behandelt wird,32 verwundert ihn und dürfte, seiner Ansicht nach, bereits den mittelalterlichen Rezipienten verwundert haben.33 Für Rupp, und Neuschäfer stimmt ihm mit seinem Eingriff implizit zu,34 ist dies eine ‚Verwirrung‘, die dem Autor anzulasten ist: Schon aus diesen […] Versen des Anfangs wird deutlich, was der Dichter will – und was er nicht zu leisten vermag. Er will schwierige dogmatische Fragen behandeln und erklären. Es gelingt ihm aber nicht immer, sich gedanklich klar auszudrücken und einen bestimmten Plan konsequent durchzuführen. Das zeigen die Verwirrungen und Wiederholungen, die das ganze Gedicht durchziehen.35 29 Neuschäfer markiert Eingriffe in den Text sauber, unterscheidet aber nicht zwischen Zusätzen und Änderungen, sondern setzt beide kursiv. Die Art des Eingriffes lässt sich so zwar nicht auf den ersten Blick erkennen, durch den nebenstehenden diplomatischen Abdruck ist er aber problemlos als Zusatz erkennbar. 30 Eine angedeutete Begründung (s.  u.) findet sich allerdings in den ‚Studien‘ (Neuschäfer, 1966, Studien, S. 77). 31 Vgl. Rupp, 1971, S. 219. 32 „Jetzt endlich kommt der Dichter zu seinem Thema“, dem Teufelssturz (Rupp, 1971, S. 220). 33 Vgl. Rupp, 1971, S. 219. 34 Neuschäfer kannte die erste Auflage [1958] von Rupps Religiösen Dichtungen, wie ein Blick in sein Literaturverzeichnis zeigt (Neuschäfer, 1966, Studien, S. 90). 35 Rupp, 1971, S. 220.



2 Editorische Neubewertung 

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Geht man von solchen Vorannahmen aus, liegt es nahe, derartige Fehler und ‚Verwirrungen‘ zu korrigieren. Der Eingriff Neuschäfers ist dabei minimal, der Text der Handschrift wird nicht verändert, sondern ‚nur‘ ergänzt: Durch die Zugabe des ouch wird aus dem vermeintlich unmotivierten „ihr sollt wissen, woher des Teufels superbia kam“ ein „darüber hinaus sollt ihr wissen, woher …“.36 Verständlicher ist die Stelle damit allerdings nicht unbedingt geworden. Stattdessen suggeriert das eingefügte ouch, dass die Verse etwas Zusätzliches vermitteln sollen, das über das bisher Gesagte hinausgeht, nämlich das Wissen über den Sturz des Teufels. Die Verse werden also nicht stärker in den Kontext der Stelle, die Autarkie Gottes, eingebunden, vielmehr wird ihre Extravaganz – nicht zuletzt über die sichtbare Markierung des Eingriffs – explizit ausgestellt. Die Annahme der Forschung, dem Dichter gelinge es nicht, eine Argumentationslinie logisch-stringent durchzuhalten, wird somit durch die auf den ersten Blick so unbedeutend wirkende Konjektur geradezu bestätigt und verfestigt. Derartige Argumentationsschleifen heißt es zu durchbrechen, wenn das Anegenge einer Neubewertung unterzogen werden soll. Doch muss deswegen die Möglichkeit der Konjektur nicht rundweg abgelehnt und verurteilt werden. – Edieren frei von subjektiven Urteilen37 ist ohnehin nicht möglich: Editionen beruhen immer schon auf „urteilenden und wertenden Vorentscheidungen“, wodurch sie bereits selbst „integraler Teil des hermeneutischen Zirkels sind, in den man eben nicht erst mit seiner Interpretation eintritt.“38 – Es sollte indes vor jedem Eingriff geprüft werden, ob der überlieferte Text tatsächlich in einem streng objektivierbaren Sinne fehlerhaft ist, oder ob er sich ‚nur‘ einem unmittelbaren Verständnis entzieht. Im ersten Falle ist die Konjektur weiterhin angebracht, da ein grammatisch-syntaktisch oder semantischinhaltlich schadhafter Text nicht verstanden werden kann. Hier ist es die Aufgabe der Editor/innen, einen Vorschlag zur Korrektur zu machen, den die Benutzer/innen annehmen oder auch ablehnen können.39 Im zweiten Fall hingegen ist keine Konjektur, sondern ein Kommentar angebracht: Wenn der Text verständlich-unverständlich ist, sollte er nicht verändert werden, das Unverständliche sollte vielmehr ausgestellt, analysiert und bestenfalls erklärt werden.

36 Vgl. Neuschäfer, 1966, Studien, S. 77. 37 In Anlehnung an die berühmte Aussage Lachmanns in seiner Vorrede zum Novum Testamentum (1842, S. V): „recensere […] sine interpretatione et debemus et possumus“. Vgl. auch Stackmann, 1964, S. 245. Lachmanns Annahme wird inzwischen weitgehend als unmöglich angesehen: „Längst überholt ist nämlich eine alte und nur scheinbare Selbstverständlichkeit, nach der das Edieren eine streng handwerkliche Tätigkeit sei, aufbauend auf der mit gleichsam mathematischer Präzision zu leistenden ‚recensio‘ im Lachmannʼschen Sinne […] und mit dem Ergebnis eines objektivierbaren Autor- bzw. Ursprungstextes“ (vgl. Runow, 2014, S. 52). 38 Vgl. u.  a. Runow, 2014, S. 52. Diesen Grundgedanken hat bereits Schiendorfer, 1989, S. IX, in der Vorrede zu seiner Neubearbeitung der Schweizer Minnesänger auf den Punkt gebracht: „Edition ist ja nie denkbar ohne Interpretation“. Oder noch expliziter: „Edieren heißt interpretieren“ (Heinzle, 2003, S. 15). Vgl. auch Stackmann, 1983. 39 Transparenz ist hier das Stichwort, auf das weiter unten noch einzugehen sein wird.

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 II Edition des Textes

Behält man die überlieferte Formulierung, um auf das Beispiel zurückzukommen, bei, könnte man die Verse etwa folgendermaßen verstehen: Niemand, der rechten Glaubens ist, dürfe behaupten, dass Gott nicht allmächtig, unabhängig und mühelos in der Lage sei, alliu dinc mit seiner Macht zu bewarn. Wollte man anderer Ansicht sein – so die implizite Botschaft –, dann solle man nur daran denken, wie Luzifer zum Teufel wurde. Die hôchvart, Gott Abhängigkeit von seiner eigenen Schöpfung zu unterstellen, würde damit der superbia Luzifers, aufgrund derer er aus dem Himmel verstoßen wurde, parallelisiert. Der Verweis auf den Teufelssturz könnte so den Zweiflern als abschreckendes Beispiel dienen. Der Umgang mit den vorliegenden Versen hat somit nicht nur Auswirkungen auf Annahmen über die (inhaltliche) Kohärenz des Anegenge, sondern auch über das theologische Wissen, das hier transportiert wird: Durch Neuschäfers Konjektur wird der Eindruck erweckt, den Rezipienten seien die Gründe für Luzifers Sturz nicht bekannt. Der überlieferte Text hingegen könnte gerade dieses Wissen voraussetzen und dazu nutzen, Gottes Unabhängigkeit von jeglicher Schöpfung umso mehr herauszustellen und zugleich den Zweiflern eine subtile Warnung zukommen zu lassen. Der Vorteil dieser Lesart liegt damit nicht etwa (nur) darin, dass sie ‚besser‘ ist – als Ergebnis von Interpretation wäre jede Lesart immer auch anders denkbar –, sondern in der Rückkehr zum überlieferten Text: Während die Konjektur die Komplexität der Passage mindert und auf nur eine Lesart – zugegebenermaßen eine weniger voraussetzungsreiche  – festlegt, werden oder vielmehr bleiben ohne sie weitere Bedeutungspotentiale sichtbar,40 der (überlieferte!) Text bleibt offen für neue Interpretationsansätze.41 Noch ein zweites Beispiel, diesmal vom Ende des Erlösungsrates, in dem die Tugenden Gottes über die Erlösbarkeit des Menschen verhandeln: Als die Erlösung beschlossen ist und nun deren Modalitäten verhandelt werden sollen, dringt das reht auf die unbedingte Wahrung der Rechtmäßigkeit der Erlösungshandlungen (V. 2340– 2343).42 In Neuschäfers Edition endet die Rede des rehtes mit den Worten: daz ist unser êre – und ist iedoch gevuore des schuldigen chnehtes. diu gerte dînes rehtes ist ein gerte dînes rîches!“ (V. 2377–2381)

40 So haben bereits Ganz, 1968, S. 153, und Geith, 1968, S. 123, in ihren Rezensionen zu Neuschäfers Edition festgestellt, dass die Ergänzung des ouch an dieser Stelle möglich, aber keineswegs nötig ist. 41 Nicht zuletzt da der Teufel im Anegenge eine wichtige Rolle spielt, wäre seine Funktion an dieser Stelle weiterer Überlegungen wert. Siehe zum Teufel im Anegenge auch Kap. IV.5 und Kap. IV.6. 42 Zum Erlösungsrat siehe Kap. IV.3.2, zum reht im Anegenge Kap. IV.4 und Kap. IV.6.



2 Editorische Neubewertung 

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Wiederum zeigt die Kursivierung einen Eingriff an, denn in der Handschrift steht Folgendes: daz recht deineſ rechtes.  | Iſt ein gerte deineſ reiche[s] (fol. 105va). Ausschlaggebend für Neuschäfers Konjektur war die Annahme, dass hier ein Psalmvers zugrunde liege: virga directionis virga regni tui (Ps 44,7).43 Ausgehend von dieser Überlegung hat schon Felix Scheidweiler die überlieferten Verse als „Unsinn“ abgetan.44 Neuschäfer korrigierte alsdann den Text der Handschrift, um das entstellte Bibelwort wiederherzustellen. Zu lesen ist nun: „Das Zepter des Rechtes ist (zugleich) das Zepter des göttlichen Herrschaftsbereichs. Sinn ist: Das Wesen Gottes ist Gerechtigkeit.“45 Soweit leuchtet der Eingriff ein. Doch sind die überlieferten Verse wirklich Unsinn? Paraphrasiert lauten sie: Das Recht deines rehtes ist eine Insigne deiner Herrschaft.46 Das bedeutet, dass sich in der Wahrung des rehts die Gottheit zeigt.47 Nur wenn dem reht Gerechtigkeit widerfährt, oder noch deutlicher: nur wenn Gott allen Tugenden gereht wird, kann Gott wahrhaftig Gott sein und der Mensch dennoch erlöst werden – die Quintessenz des Erlösungsrates. Es scheint sich hier also um eine intensivierende Umgestaltung des Psalmverses auf das reht hin, zu handeln, was insofern reizvoll ist, als gerade das reht selbst die Verse spricht.48 Diese Lesart ist der Anpassung an den Psalmvers unbedingt vorzuziehen, nicht nur da sie den überlieferten Textbestand erhält, sondern weil sie zugleich die ‚lectio difficilior‘ ist.49 Für die Neuedition lässt sich aus diesem Beispiel Folgendes ableiten: Grundsätzlich sind Stellen wie diese ein Glücksfall für Editor/innen, nicht nur weil Textverderbnis hier vermeintlich leicht erkannt, sondern auch leicht ‚geheilt‘ werden kann. Die Konjektur liegt auf der Hand und ist, wenn schon nicht von Parallelüberlieferung, so

43 Vgl. Neuschäfer, 1966, Studien, S.  82–83, sowie ebd., Kommentar, S.  289, V.  2380/81. Vgl. auch Teuber, 1899, S. 338. 44 Vgl. Scheidweiler, 1940, S. 24, mit Verweis auf Teuber. De Boor, 1965, S. 47, hingegen behält den Wortlaut der Handschrift bei. 45 Neuschäfer, 1966, Kommentar, S. 289, V. 2380/81. Vgl. auch Neuschäfer, 1968, S. 69. Dass bei einem solchen Vorgehen die Gefahr vorschneller ‚Verbesserungen‘ besteht, hat Neuschäfer (ebd.) zwar selbst eingewendet, konjiziert hat er aber dennoch. 46 Mäder, 1971, S. 50, Anm. 121, paraphrasiert: „[D]as Recht (d.  h. die Beachtung der gerechten Forderungen) der Gerechtigkeit ist die Gerte deines Reiches, die Grundlage deiner Herrschaft.“ 47 Dies umso mehr als Gott selbst das recht ist: er haizzet rechter unt chumftigære,  | richtære unt furnunftigære (V. 363  f.; Text nach der Neuausgabe). 48 Vgl. schon Mäder, 1971, S. 50, Anm. 121. 49 Auffällig ist an dieser Stelle ein Korrekturzeichen der Handschrift, das nach Neuschäfer, 1968, S. 65, einem „schräg geneigten großen lat. H (= H) ähnelt“, das allerdings nicht an V. 2380, sondern an V. 2381 angebracht scheint. Zwei Deutungsmöglichkeiten wären zu erwägen: 1. Das Zeichen bezieht sich tatsächlich auf V. 2381, dann wäre nach dem Fehler, den es markieren soll, zu fragen (das fehlende s an reiche?). 2. Das Zeichen ist eher unspezifisch gesetzt und bezieht sich auf den ganzen Satz. In diesem Falle könnte dem Urheber des Zeichens (einem Schreiber, Redakteur, Rezipienten?) die Entstellung des Psalmwortes aufgefallen sein. Eine Korrektur wurde allerdings (wie auch an allen anderen Stellen mit diesem Zeichen) nicht vorgenommen. Siehe dazu auch Neuser, 1973, S. 26–27.

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 II Edition des Textes

doch von Prätext(teil)en gestützt. Doch sollte man gerade in solchen Fällen aufpassen, einem überlieferten Text nicht allzu leichtfertig Vorlagen, Prätexte oder überhaupt die Absicht einer wörtlichen Referenz zu unterstellen. Auch muss nicht immer die Bibel – in welcher Version eigentlich? – Ausgangspunkt gewesen sein; ebenso denkbar wären im Rahmen eines breiteren laientheologischen Diskurses auch Bezugnahmen auf Predigten, Kommentare oder Ähnliches. Mit Blick auf die im Anegenge verwendeten Wahrheitsinstanzen könnten sich überdies die Lehren eines maisters anbieten.50 Ganz abgesehen davon, dass es immer auch möglich ist, dass mit Zitaten gespielt wird, sie aufgerufen und abgewandelt werden. Hier wäre folglich der Kommentar vorzuziehen, der die verschiedenen Deutungshorizonte – Zitat des Psalmverses; Verballhornung oder Intensivierung des Psalmverses o.a. – diskutiert, ohne den überlieferten Text zu verändern und auf nur eine mögliche Lesart festzulegen. Zu fragen bliebe allerdings, ob hierbei nicht ein Extrem – die Abwertung der Überlieferung und die Suche nach dem verlorenen Original – in ein anderes – das (zu?) optimistische Vertrauen in die Überlieferung  – verkehrt wird.51 Doch sollte, um es mit Schweikle zu sagen, „nicht derjenige, welcher der Überlieferung folgt, dafür eine Beweislast tragen müssen, sondern der, welcher davon abweicht“.52 Das Anegenge ist unikal, anonym und zudem noch in deutlichem Abstand zu seiner angenommenen Entstehung überliefert. Der auf uns gekommene Text mag somit „nicht ohne Probleme“ sein, er ist jedoch notwendig „alternativlos“.53 2. Beispiel: Interpunktion Neben der Konjekturalkritik hat die Einführung eines modernen Interpunktionssystems gravierende Folgen für die Wahrnehmung eines Textes, auch wenn oder gerade weil diesem zumeist wenig(er) Aufmerksamkeit geschenkt wird.54 Ohne ins Grundsätzliche abschweifen zu wollen,55 sollen im Folgenden einige syntaktische Besonderheiten des Anegenge, aufgezeigt und im Hinblick auf ihre Konsequenzen für die Interpunktion der Neuedition diskutiert werden. Wie für mittelalterliche Textzeugen üblich, kennt der Cod. Vind. 2696 keine Satzzeichen.56 Reimpunkte dienen der Abtrennung von Versen, können aber vereinzelt

50 Siehe Kap. IV.1.3. 51 Vgl. mit anderer Ausrichtung Stackmann, 1994, S. 418–419. 52 Schweikle 1994, S. 134. 53 In Anlehnung an Runow, 2017, S. 34. 54 Zu Konjektur und Interpunktion siehe u.  a. Kern, 1988, S. 351. 55 Vgl. zur Geschichte und Problematik der Interpunktion mittelhochdeutscher Texte grundlegend Gärtner, 1988, S.  86–89; Kern, 1988, S.  342–343; Schubert, 2013, S.  38–55, mit weiterführenden Literaturangaben. 56 Gemeint sind damit ‚moderne‘ Satzzeichen wie Kommata, Frage- und Ausrufezeichen oder auch Anführungsstriche zur Kennzeichnung wörtlicher Rede. Dass diese Satzzeichen gar nicht so modern



2 Editorische Neubewertung 

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bereits syntaktische Funktion übernehmen.57 Es gehört somit zu den Aufgaben der Editor/innen einen Text zu interpungieren.58 Zumeist wird dies ohne größere Ausführungen (behutsam) nach modernen Maßgaben59 vorgenommen,60 was auch für die Interpunktion Neuschäfers gilt.61 Interpunktion ist dabei in besonderem Maße vom jeweiligen (Text-)Verständnis der Edierenden geleitet; Zweifelsfälle und Inkonsequenzen62 lassen sich zumal mit Blick auf die Besonderheiten mittelhochdeutscher Syntax nie ganz vermeiden.

sind, sondern bereits seit der Antike (und in der Karolingerzeit) bekannt waren, zeigten schon Arbeiten wie Wattenbach, 1878, S. 78–84. Vgl. auch Kern, 1988, S. 342. 57 Handschriften bieten zum Teil differenzierte Auszeichnungssysteme vermittels Reimpunkten, Virgeln oder Hochpunkten (vgl. Schubert, 2013, S. 42–43). Diese können auch gliedernde Funktionen übernehmen, dienen dabei aber wohl eher dem „Erfassen der inhaltlichen Zusammenhänge und nicht der Markierung syntaktischer Einheiten“ (vgl. Gärtner, 1988, S. 87). War der mittelhochdeutsche Text noch stärker der Sprechsprache verpflichtet und wurde Interpunktion eher unter „rhetorischintonatorischen“ (ebd.) Gesichtspunkten in Anwendung gebracht, so ist moderne Interpunktion einem „grammatisch-syntaktischen“ (ebd.) Prinzip verpflichtet (vgl. auch Hofmeister, 2010, S. 592). Schubert, 2013, S. 44, hingegen hat der syntaktischen Gliederung mittelalterlicher Texte größere Bedeutung zugemessen als Gärtner. Auch Kern, 1988, S. 343–345, zeigt anhand mehrerer Beispiele, dass (unter bestimmten Bedingungen) syntaktische Einheiten markiert werden: „Je mehr die syntaktische Diktion in ein spannungsvolles Konkurrenzverhältnis zur metrischen Gestalt der Dichtung tritt, desto häufiger sind neben Punkten und Virgeln, mit denen die formale Struktur verdeutlicht wird, in den Handschriften auch Satzzeichen angebracht“ (ebd., S. 344). Für die Anegenge-Handschrift lässt sich allerdings wohl kaum von einem Interpunktionssystem sprechen, da Reimpunkte lediglich mehr oder weniger mechanisch nach jedem abgesetzten Vers (siehe dazu Kern, 1988, S. 343) verwendet werden und nur selten zur Abgrenzung einzelner Satzglieder und Worte (wie z.  B. das Adverb [bzw. die Konjunktion] ê). 58 Diese Notwendigkeit hat bereits Karl Lachmann in seiner Vorrede zur Wolfram-Ausgabe, (1926, S. VIII–IX) betont, der über Interpunktion nicht nur das Studium der mittelhochdeutschen Syntax, sondern auch das Verständnis der Texte erleichtern wollte. Vgl. zusammenfassend und erläuternd u.  a. Gärtner, 1988, S. 88, sowie die Bemerkungen zur Interpunktion in Gärtner, 2015, Vorwort zur Klage, S. XXV. 59 Vgl. beispielsweise die Zusammenstellung bei Schubert, 2013, S. 39–40. Dass das Prädikat ‚modern‘ dabei selbst dem Wandel der Zeiten bzw. den unterschiedlichen (Rechtschreibe-)Reformen unterliegt, hat beispielsweise Gärtner, 1988, S. 86–87, gezeigt. 60 Viele zumal ältere Editionen orientieren sich dabei an Lachmann, dessen ‚System‘ sich allerdings aus den Vorworten zu seinen Editionen allenfalls erschließen lässt (vgl. u.  a. Schubert, 2013, S. 40). Eine Aufstellung der Satzzeichen und ihrer sich wandelnden Bedeutungen bietet Schubert, 2013, S. 47–52. 61 Vgl. Neuschäfer, 1966, Studien, S. 93. 62 Bei Neuschäfers Interpunktion ist besonders die häufige Verwendung des Doppelpunkts zu ­beachten. Lachmann verwendete den Doppelpunkt als einen „kleineren punkt“ (Lachmann, 1843, Vorwort zum Iwein, S. VII), der stärker als ein Semikolon, aber schwächer als ein Punkt sei (vgl. Schubert, 2013, S. 49). Neuschäfer hingegen verwendet den Doppelpunkt u.  a. auch schon zur Einleitung wörtlicher Rede.

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 II Edition des Textes

Die Interpunktion des Anegenge stellt die Edition dabei noch vor zusätzliche Herausforderungen. Ein Beispiel aus der Abhandlung über die Namen Gottes:63 In einer listenartigen Aufzählung werden verschiedene Namen für die Personen der Trinität (V. 351–389) den Bezeichnungen gewalt, wîstuom und güete zugeordnet, die wiederum rückgebunden werden an die Grundbegriffe Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist (V. 390–396).64 Die Liste beginnt mit der Aufzählung der Namen des Vaters:65 er heizet hêrre unt gebietære, er heizet rîcher unt vorchtigære, er heizet unwandeliger und starcher unde chreftiger. ander namen hât er vil, die ich den gelîchen wil: die hôrent alle an den gewalt, der ze dem vater ist gezalt. swâ wir den vater nennen, dâ sul wir die namen alle mit bechennen. (V. 351–360)

63 Vgl. zum Folgenden unter anderen Gesichtspunkten auch Bauer, 2019, S. 38–40. 64 Vgl. Teuber, 1899, S. 263–266. 65 Text nach Neuschäfer, 1966. Eine auf den ersten Blick sehr ähnliche Passage lässt sich in Hugos von St. Victor De sacramentis finden: Si uniuersum nominas. si incorruptum dicis. si eternum. si incommutabilem. & quecunque horum similia totum hoc potestatis est. Si scientem appellas. si prouidum. si inspectorem. si scrutantem. & considerantem. & discernentem. totum hoc sapientie est. Si mittere. si mansuetum. si compacientem. & benignum. uel quecunque his similia sunt uocas totum hoc bonitatis est. & nichil est quod in istis non est. & quod in istis est plenum est. & consumatum totum (DS I,2; S. 63, Z. 6–11). [Wenn du ihn ‚unermeßlich‘ nennst, wenn du ihn ‚unverderblich‘ nennst, wenn ‚ewig‘ und un­,veränderlich‘ und was immer solcher Art sonst, so gehört dies zur Macht. Wenn du ihn als ‚wissend‘ benennst, wenn als ‚vorsehend‘, wenn als ‚hineinschauend‘, wenn als ‚untersuchend‘ und ‚erwägend‘ und ‚unterscheidend‘, so gehört all dies zur Weisheit. Wenn du ihn als ‚sanft‘, wenn als ‚milde‘, wenn als ‚mitleidend‘ und ‚wohlwollend‘ oder als was immer diesem ähnlich ist, anrufst, so gehört dies alles zur Gutheit. Und es gibt nichts, was nicht in diesen ist, und was in diesen ist, ist vollständig und alles vollendet (DS I,2; S. 80, Z. 32–S. 81. Z. 7).] Bei genauerer Analyse zeigt sich jedoch, dass es Hugo wesentlich stärker um die Ausstellung der Vielfalt göttlicher Eigenschaften geht, während der Fokus im Anegenge auf den unterschiedlichen Benennungen liegt. Zitiert wird hier und im Folgenden nach: Hugo von St. Victor: De sacramentis Christiane fidei. cura et studio Rainer Berndt SJ. Münster 2008 (Corpus Victorinum iussu Instituti Hugonis de Sancto Victore edendum curavit Rainer Berndt SJ. Textus historici 1). Die Übersetzung wird zitiert nach: Hugo von St. Viktor: Über die Heiltümer des christlichen Glaubens. Übersetzung von Peter Knauer SJ. Einleitung, Apparate, Bibliographie und Register von Rainer Berndt SJ. Münster 2010 (Corpus Victorinum iussu Instituti Hugonis de Sancto Victore edendum curavit Rainer Berndt SJ. Schriften 1).



2 Editorische Neubewertung 

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Eine eindeutige Zuordnung von Namen und Person erweist sich jedoch als schwierig, denn die gerade noch Gott Vater (V. 359) zugeschriebenen Namen verschieben sich anschließend sukzessive auf den Sohn hin: er heizet schephære unt got der gewære, er heizet rehter unde chunftigære, rihtære unt vernunftigære, heilant unde wunderlîch: alle namen, die den sint gelîch, die hôrent an den wîstuom, der dâ genant ist der suon. swâ wir den sun nennen, bî den sul wir dise namen bechennen. (V. 361–370)

Während schephære (V. 361) noch problemlos dem gewalt zugerechnet werden kann, scheinen rihtære (V. 364) und heilant (V. 365) bereits auf den Sohn bezogen, was durch die nachfolgende Zuordnung (swâ wir den sun nennen,  | bî den sul wir dise namen bechennen, V.  369–370)66 noch unterstrichen wird. Hieran scheinen sich weitere Namen Christi zu schließen:67 er heizet senfter unde guoter unde diemuoter, milter unt erbarmiger, gedultiger und genædiger unt diu wâre minne, swaz wir in solchem sinne der namen mugen besliezen. nû sult ir ouch wizzen, sô heizet der heilige geist: alles guotes schüntære unt volleist. gotes guote heizet er ouch dâ bî. (V. 371–381)

66 Und zwar mit derselben Formulierung, in der die Bezeichnungen zuvor dem gewalt zugeordnet wurden (V. 359). 67 Ein Eindruck, der durch die Interpunktion Neuschäfers noch unterstützt wird. Dass die Interpunktion an dieser Stelle eine wichtige Rolle spielt, stellt Sherwood-Smith, 2003, S. 219, Anm. 7, aus, wenn sie Neuschäfers Interpunktion als inkonsequent kritisiert: „In v. 360 setzt er nämlich nach bechennen einen Punkt; was danach folgt, bezieht er auf die nächste Person, den Sohn. Im analogen v. 370 aber setzt er einen Doppelpunkt, so daß sich die danach folgenden Bezeichnungen immer noch auf den Sohn, statt auf den Heiligen Geist beziehen.“ Sherwood-Smith würde stattdessen Vers 370 mit einem Punkt abschließen (vgl. ebd.), da sich die darauffolgenden Namen auf den Heiligen Geist bezögen.

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 II Edition des Textes

Doch wie bei Vater und Sohn könnte man überlegen, ob nicht zumindest Teile der Bezeichnungen bereits dem Heiligen Geist zuzuordnen wären. Das sô heizet (V. 378) ließe sich dann auf die voranstehenden Namen (genædiger, V. 374; wâre minne, V. 375 usf.) beziehen. Die nachfolgenden Verse scheinen dem jedoch zu widersprechen: ez ist niht durft, daz er baz genennet sî, ir ist genuoc an disen drîn. irn mehten ouch niht minner sîn, wan sô gebræste des vollen dâ. (V. 382–385)

‚Er‘ müsse nicht weiter bezeichnet werden, drei Namen reichten vollständig aus. Ist mit er (V. 382) noch der Heilige Geist gemeint, dem unmittelbar zuvor die drei Namen alles guotes schüntære, volleist und gotes guote (V. 380–381) zugeschrieben wurden, so wären alle anderen vorgängigen Namen noch dem Sohn zuzuordnen. Die Interpunktion Neuschäfers, der nach geist (V. 379) einen Doppelpunkt setzt, macht diese Lesart eindeutig. Doch soll gerade das nicht gesagt werden, der Heilige Geist ist nicht mit den drei Namen schüntære, volleist und gotes güete ausreichend bezeichnet; vielmehr werden diese drei über das heizet er ouch dâ bî (V. 381) deutlich als Zusatz zu den zuvor genannten markiert. Denn mit er (V.  382) ist nicht der Heilige Geist alleine, sondern die Einheit der Trinität (unser hêrre, V. 342) gemeint. Deutlich wird dies vom Eingang dieser Abhandlung her: In der Passage zu den Namen Gottes soll herausgestellt werden, weshalb gerade drei Namen (ûzgemerchet drî, V. 340) von besonderer Bedeutung sind (daz man die sunderlîchen êre, V. 344). Diese eingangs aufgestellte Behauptung, dass Gott mit drei Grundbegriffen (V.  340)  – gewalt (Vater), wîstuom (Sohn) und guote (Heiliger Geist) – ausreichend bezeichnet sei, bestätigen die Verse 382–385 abschließend noch einmal:68 Den aufgeführten Bezeichnungen müssen keine weiteren hinzugefügt werden, da alle denkbaren Namen  – auch diejenigen, die in deutscher Sprache gar nicht erfasst werden könnten (mit tiuscher zunge | niht mac errechen, V. 389)69 – immer schon in den Grundbegriffen (disen drîn, V. 383) enthalten sind. Man kann somit festhalten: Der Übergang von den Namen, die den Sohn bezeichnen, auf die Namen des Heiligen Geistes ist im Anegenge ebenso fließend, wie zuvor der Übergang vom Vater auf den Sohn. Die (Namen der) göttlichen Personen werden

68 Vgl. auch Teuber, 1899, S. 263. Für das Anegenge ist es nicht ungewöhnlich, dass zu Beginn einer Sinneinheit eine Aussage gemacht wird, die am Ende der Sinneinheit wiederholt wird (siehe Kap. IV.7.1). 69 Gott Namen und Eigenschaften zuzuordnen ist beispielsweise auch für den Islam charakteristisch: „Man spricht von den ‚hundert schönsten Namen Allahs‘, die in Nominalform in Koran und Sunna vorkommen. Darüber hinaus lassen sich weitere Namen und Eigenschaften aus der Vielfalt seiner Manifestationen ableiten“ (vgl. Scholl, 2006, S. 108–109).



2 Editorische Neubewertung 

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dabei zwar einzeln abgehandelt, zugleich aber wird die untrennbare Einheit des trinitarischen Gottes erhalten und ausgestellt.70 Das Paradoxon der Einheit in der Dreiheit wird auf syntaktischer Ebene gespiegelt: Während die trinitarischen Personen über die unterschiedlichen Bezeichnungen in ihre drei Wesensheiten auseinandergelegt werden, werden sie syntaktisch wieder zusammengebunden. Im mündlichen Vortrag lassen sich solche syntaktischen Gebilde leicht realisieren,71 und auch die Verschriftung72 ist – zumal für den Codex 2696, der keine differenziert(er)en syntaktischen Gliederungen vornimmt – unproblematisch: „Der mittelalterliche Schreiber […] konnte die Beziehung nach vorwärts und rückwärts leichter offen und in der Schwebe lassen als ein heutiger.“73 Wie aber kann man dem hier herausgearbeiteten Ineinandergreifen von Inhalt und Syntax mittels eines modernen Interpunktionssystems gerecht werden?74 Wo soll man syntaktische Grenzen – Satzzeichen  – setzen, wenn doch gerade Untrennbarkeit ausgestellt werden soll? Der Inhalt kollidiert mit der Interpunktion.75 Das Problem, das hier aufscheint, ist ein grundlegendes: Interpunktion ist Interpretation.76 Philologische und literaturwissenschaftliche Arbeit am Text verschränken sich, was am Anegenge besonders deutlich hervortritt. Die syntaktische Struktur des Anegenge tendiert zu einer ‚offenen‘, ‚schwebenden‘ Syntax:77 Häufig lässt sich nicht entscheiden, ob ein Wort, ein Satzglied, oder ein ganzer (Halb-)Satz noch dem Voran70 Egert, 1973, S.  120, gibt an, dass Teuber, 1899, S.  265, „views all of the titles and attributes as referring to the triune Godhead without distinction of persons“. Teuber, 1899, S. 263–265, äußert sich jedoch weniger zur Zuordnung der Namen als zu den (möglichen) Quellen. 71 Siehe dazu die drei Gründe, die Kern, 1988, S. 347, für die syntaktische Mehrdeutigkeit vieler mittelhochdeutscher Passagen aufzählt. 72 Zum Unterschied von ‚Verschriftung‘ und ‚Verschriftlichung‘ vgl. Oesterreicher, 1993. Vgl. auch Schaefer, 2004, S. 87–91. 73 Schröder, Vorrede zum Willehalm, 1978, S. LXXXIII. 74 Dass diese Frage nicht nur für einen Text über die Einheit in der Dreiheit relevant, sondern in mittelhochdeutschen Texten immer wieder anzutreffen ist, zeigt Kern, 1988, S. 346–347, eindrucksvoll am Beispiel einer Passage des Moriz von Craun, für die er „bei 14 Versen sieben Varianten der Interpunktion“ ausweist. 75 Sherwood-Smith, 2003, S. 119, Anm. 7, hat das Problem mit ihrem Versuch einer anderen Interpunktion zwar angedeutet, aber nicht expliziert. 76 Frei nach Heinzle, 2003, S. 15: „Edieren heißt interpretieren.“ Die wechselseitige Verschränkung von Interpunktion und Interpretation wurde in der Forschung immer wieder festgestellt. Vgl. beispielsweise Hofmeister, 2010, der verschiedene Möglichkeiten eine Textstelle zu interpungieren diskutiert. 77 Vgl. zur Satzfügung im Mittelhochdeutschen u.  a. Runow, 2022, S. 378, Anm. 42, der sie als „oft ‚lockerer‘ und gelegentlich polyvalenter“ als im Neuhochdeutschen bezeichnet. In diese Richtung könnte das Prinzip des Reimebrechens/-bindens weisen, nach dem der Cod. Vind. 2696 verfährt (siehe genauer Kap. IV.7.1). Dabei endet ein Satz immer auf einen Anreim, der Reimklang wird also nicht erfüllt. Der Wunsch, diesen zu erhalten, erzeugt somit ein beständiges Vorwärtsstreben, das nicht nur Dynamik verleiht, sondern zugleich über syntaktische Grenzen hinwegträgt. Vgl. zum Reimebrechen und -binden u.  a. Bögl, 2006, S. 25.

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 II Edition des Textes

stehenden oder bereits dem Nachfolgenden zuzuordnen ist,78 was oft als constructio apo koinou beschrieben wird.79 In dieser offenen Syntax schlagen sich nicht selten auch inhaltliche Konzepte nieder; im Anegenge tritt dies am deutlichsten im Hinblick auf das Paradoxon der Trinität zu Tage, wie das angeführte Beispiel zeigen sollte. Die dort herausgestellten Verschränkungen von Inhalt und Syntax können mit unserem modernen Interpunktionssystem nicht wiedergegeben werden, da es eine Eindeutigkeit  – syntaktische Einheiten, Satz- und Sinnabschnittsgrenzen, Zuordnungen  – suggeriert, die in mittelalterlichen Texten so nicht angelegt ist.80 Eine naheliegende Konsequenz daraus wäre, einfach auf Interpunktion zu verzichten. Ein solcher Schritt würde allerdings den Zugang zum Text massiv einschränken. Eine Edition, die sich an moderne Benutzer/innen richtet, kann auf moderne Interpunktion nicht verzichten.81 Somit bleibt für Editor/innen nur die Möglichkeit, diese moderne Interpunktion so problembewusst und reflektiert wie möglich zu setzen, für Benutzer/innen, sie ebenso zu rezipieren.82 Hierbei können zwei grundsätzliche Richtungen eingeschlagen werden: Editor/ innen können versuchen, möglichst kleine syntaktische Einheiten zu bilden, oder aber möglichst große. Die erste Option würde für das vorliegende Beispiel so aussehen:83 er haizzet herre unt gebietære. er haizzet reicher unt vorchtigære. er haizzet unwandeliger unt starcher unt chrefftiger. ander namen hat er vil, die ich den geleichen wil. die hœrent alle an den gewalt, der ze dem vater ist gezalt. swa wir den vater nennen, da sul wir die namen alle mit bechennen.

78 Kern, 1988, S. 348–349, unterscheidet mit einer Reihe von Beispielen „drei Klassen von Zweifelsfällen“, bei denen sich Interpunktion nicht eindeutig festlegen lässt, und die den hier angedeuteten Phänomenen ‚schwebender‘ Syntax entsprechen. 79 Nicht jede inhaltlich nach vorne und rückwärts beziehbare Aussage ist eine constructio apo koinou. Hierfür muss nicht nur eine inhaltliche, sondern zugleich eine syntaktisch-grammatische Beziehbarkeit bestehen. Kern, 1988, S. 348–349, bezeichnet nur die erste von drei Klassen uneindeutiger Zuordnungsformen als „ἀπὸ κοινοῦ-Fügungen im strengen Sinne“. 80 Vgl. Joachim Bumkes Vorwort zum Parzival, 2008, S. XV. 81 So bereits Lachmann, Vorrede zur Wolfram-Ausgabe, 1926, S. VIII–IX; vgl. auch Stackmann, 1994, S. 417. Anders Glinz, 1979, S. 165–166. 82 So auch die (vorläufige) Lösung bei Kern, 1988, S. 350–351. 83 Zitiert wird der Text der Neuausgabe (s.  u.)



2 Editorische Neubewertung 

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Eine solche Interpunktion hat den Vorteil, dass durch die starke Segmentierung (syntaktische) Zusammenhänge schnell überblickt werden können. Indem sie allerdings die Tendenzen zu ‚schwebender‘ Syntax vollständig ignoriert, gehen Sinnzusammenhänge, die über die engen syntaktischen Grenzen hinausgehen, auch schnell verloren. Überdies kann Parataxe aus heutiger Sicht als ein stilistischer Mangel empfunden werden, der allzu leicht dem Text auch produktionsseitig angelastet werden mag. Die zweite Option sähe dagegen so aus: er haizzet herre unt gebietære, er haizzet reicher unt vorchtigære, er haizzet unwandeliger unt starcher unt chrefftiger, ander namen hat er vil, die ich den geleichen wil, die hœrent alle an den gewalt, der ze dem vater ist gezalt, swa wir den vater nennen, da sul wir die namen alle mit bechennen;

Lange syntaktische Einheiten haben den Vorteil, dass sie Bezüge eher offen halten können als kurze, teilweise allerdings auf Kosten der Übersichtlichkeit – und damit oft der Nachvollziehbarkeit. Welche Option die geeignetere ist, lässt sich wohl nicht pauschal festlegen, sondern muss nicht nur für jeden Text, sondern für jeden (Sinn-) Abschnitt neu erwogen werden.84 Gerade für das Anegenge wäre hierbei zu differenzieren: Passagen, die sich verstärkt dem Paradoxon der Trinität oder anderen schwer zu greifenden (Glaubens-)Fragen widmen, können unter Umständen eine andere Interpunktion erfordern als beispielsweise Abschnitte, in denen biblische Geschichte erzählt wird.85 In der Neuedition wird im Abschnit zu den Namen der Trinität, um im Beispiel zu bleiben, die ‚schwebende‘ Syntax oder zumindest ein gewisser fließender Duktus durch längere syntaktische Einheiten und die Tendenz zu Komma statt Punkt unterstrichen. Der ‚Strichpunkt‘ (Semikolon) soll dabei an besonders fließenden Stellen, die im Wortsinn sowohl den Strich (Komma) als auch den Punkt erfordern könnten,

84 Zumal ungeübte(re) Benutzer/innen sich durch allzu lange syntaktische Einheiten schnell überfordert fühlen. Demnach ist Interpunktion nicht nur abhängig vom jeweiligen Text, sondern auch von der Zielgruppe einer Edition. 85 Kern, 1988, S.  350, weist darauf hin, dass die „Segmentierung eines Textes“ den Rezipienten immer dann besondere Schwierigkeiten bereiten könne, wenn die „Aussage oder Vorstellung vom Text (einem lehrhaften Traktat etwa) allererst aufgebaut“ werden muss. Ohne das Anegenge einen lehrhaften Traktat nennen zu wollen, trifft die letztere Aussage gerade in den Trinitätspassagen zu, die womöglich die Vorstellung von der Dreieinigkeit erst noch (in der Volkssprache) herausarbeiten oder verfestigen mussten.

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 II Edition des Textes

gesetzt werden.86 Klar sollte allerdings sein, dass es sich dabei nur um Lesehilfen und Verständnisangebote handelt, die angenommen wie abgewiesen werden können. Oder um mit Lachmann zu sprechen: Es „darf jeder meine interpunction ändern, weil sie nur von mir ist“.87 Bis hierher sollte deutlich geworden sein, dass eine Neubewertung des Anegenge notwendig von seiner Überlieferung, nicht von einer bereits bestehenden Edition ausgehen muss. Neuschäfers Edition ist zwar im Großen und Ganzen sauber und transparent gearbeitet, dabei jedoch nicht frei von Interpretamenten. Sie bleibt methodisch den theoretischen Prämissen ihrer Zeit, den 1960er Jahren, verhaftet, was der edierte Text deutlich widerspiegelt: Mittels textkritisch-rekonstruierender Verfahren sollte der ursprüngliche Autortext rückgewonnen werden.88 Dahinter steht der Wunsch, einen original(er)en Text zu (re-)konstruieren, der im Laufe des Überlieferungsprozesses verlorengegangen sei. Ein solcher Ansatz ist jedoch gerade für das Anegenge schwierig: Da der Text unikal überliefert ist, seine Entstehungszeit und Entstehungsbedingungen unklar sind, muss der Versuch, einen Archetyp oder gar ‚das Original‘ zu rekonstruieren, notwendig spekulativ bleiben. – Der Blick auf die Überlieferung und daher auch die Bedeutung und Funktion von Editionen hat sich nicht erst, aber durch die ‚New Philology‘ noch einmal verstärkt,89 gewandelt, was alleine eine Neuedition schon wünschenswert erscheinen lässt. Zudem ist die derzeitige Edition nicht nur von älteren philologischen, sondern auch literaturwissenschaftlichen Forschungsansätzen geprägt: Die teils vernichtende (Text-)Kritik am

86 Dennoch bleibt es ein (fauler) Kompromiss. Zu überlegen wäre gerade für solche Fälle die Einführung neuer Satzzeichen, wie dies etwa Eva Willms für ihre Marner-Ausgabe unternommen hat: Sie setzt einen Doppelpfeil (↔) für apo koinou (vgl. Willms, Einleitung, 2008, S. 94). So bemerkenswert dieser Versuch ist, stört er den Lesefluss zum Teil nicht unerheblich. Bereits Lachmann hat in seiner Vorrede zur Wolfram-Ausgabe (1926, S. VIII) betont, dass Interpunktion den Lesefluss nicht über Gebühr behindern dürfe (vgl. auch Schubert, 2013, S. 45–46). Zwar bezieht sich Lachmann dabei mehr auf Satzzeichenhäufungen (Beispiele bei Schubert, 2013, S. 45), doch lässt sich dies ebenso auf die Art der Satzzeichen umlegen. Demgemäß könnte man dem Ansatz von Willms folgend ein weniger auffälliges Satzzeichen wählen, den Hochpunkt (·). Dieser Hochpunkt würde die Möglichkeit einer (Satz-)Grenze andeuten, ohne eine tatsächliche Begrenzung darzustellen. Der Hochpunkt wäre damit den Reimpunkten der Handschrift verwandt  – Handschriften unterscheiden zur Lese- und Verständnishilfe bisweilen einen punctus und einen punctus elevatus, einen Hochpunkt (vgl. Schubert, 2013, S. 42; ausführlicher Gärtner, 1990, S. 366–368). Die so bewahrte ‚schwebende‘ Syntax könnte damit gleichsam eine Brücke schlagen zwischen der eher mündlich-gesprochenen Ausrichtung mittelalterlicher Syntax und modern(er)en Interpunktionssystemen. Diese Überlegung, Mehrdeutigkeit gerade zuzulassen statt zu verhindern, steht allerdings im Gegensatz zu Heinzle, 1993, S. 53, der sich gerade für die Festlegung auf eine Bedeutung durch den Herausgeber ausspricht. Schweikle, 1992, S. 96, wiederum fordert, dass die Interpunktion „so offen wie möglich“ bleiben solle. 87 Vgl. Lachmann, Vorrede zur Wolfram-Ausgabe, 1926, S. IX. 88 Siehe dazu Neuschäfer, 1968. 89 Vgl. u.  a. Stackmann, 1994; Schnell, 1997.

3 Neuedition 

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Anegenge hat merklichen Einfluss auf seine Edition genommen, woraufhin diese wiederum Grundlage für die weiteren (literaturwissenschaftlichen) Arbeiten zum Anegenge wurde – ein potentieller circulus vitiosus. Gerade dies sollten die Beispiele zeigen: Edition ist immer schon selbst Interpretation. Eine literaturwissenschaftliche Revision des Anegenge muss daher einhergehen mit einer philologischen, der Text muss neu ediert werden. Edition und literaturwissenschaftliche Arbeit verzahnen sich dabei und bedingen einander gewissermaßen gegenseitig im Versuch, neue Zugänge zum Anegenge aufzuzeigen und überhaupt erst zu ermöglichen. Die Neuerarbeitung des Textes aus der Handschrift ist nicht Zugabe zu einer literaturwissenschaftlichen Arbeit, sondern zugleich deren Ergebnis wie auch ihre Voraussetzung. Damit eine Edition Grundlage und Anregung für (weitere) Arbeit am Text sein kann, sollte sie eine möglichst große Nähe zur Überlieferung bewahren, um (neue) Interpretationsansätze nicht bereits von vorneherein einzuschränken oder zu verhindern. Die vorliegende Arbeit versucht demgemäß möglichst vorbehaltslos das Anegenge als einen Text mit starken Eigenlogiken zu lesen. Wie jede Edition wird auch diese nicht frei von Interpretamenten sein, Ziel ist es aber, den überlieferten Text so weit wie möglich zu bewahren und nur dort einzugreifen, wo es für sprachliche Korrektheit oder Verstehbarkeit notwendig ist: Trotz allen Strebens nach Überlieferungsnähe bleiben Eingriffe in den Text stellenweise notwendig, oberstes Gebot muss dabei jedoch die Transparenz sein, die auf die Überlieferung hin durchlässige Nachvollziehbarkeit editorischer Entscheidungen.90 Wie diese Neuedition im Einzelnen aussehen und nach welchen Prämissen sie gegeben werden soll, wird im folgenden Kapitel ausgeführt.

3 Neuedition 3.1 Editionsprinzipien Das Anegenge ist unikal überliefert, weder der Autor noch die Abfassungszeit sind bekannt. Spätestens seit Edward Schröder auf die zweite Hälfte des zwölften  Jahrhunderts datiert,91 scheinen etwa 150 Jahre zwischen seiner Entstehung und seiner Niederschrift in der erst um 1300 entstandenen Wiener Sammelhandschrift 2696 zu

90 Vgl. schon Stackmann, 1964, S. 267. 91 Schröder, 1881, S. 5, verweist unter Bezugnahme auf die Durchführung des a-Umlautes auf die Zeit um 1180 als „terminus ad quem […], während wir andererseits nicht über die Mitte des Jahrhunderts hinausgehen dürfen.“ Vgl. Neuser, 2VL, Bd. 1, Sp. 352–356, hier Sp. 352, wo als Entstehungszeitraum 1173–1180 vermutet wird. Als Gründe werden Reim- und Verskunst (bis 1180) sowie eine vermutete Benutzung der Historia scholastica des Petrus Comestor (nach 1173) angegeben (vgl. zu Letzterem auch Schröder, 1881, S. 47). Ob diese zeitliche Einordnung tatsächlich haltbar ist, müsste in weiteren Studien und Vergleichen, auch mit den anderen Texten der Sammelhandschrift, geprüft werden.

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 II Edition des Textes

liegen.92 Versuche der Rückgewinnung eines Autororiginals93 müssen (nicht nur) deswegen scheitern. Statt der von Neuschäfer unternommenen textkritisch-rekonstruierenden Arbeit am Codex unicus soll hier eine Leithandschriftenedition gegeben werden, die die Überlieferung möglichst ernst nimmt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Neuedition eine reine Transkription des Handschriftentextes sein soll – schon Nathanael Busch hat deutlich gemacht, dass eine „reine Transkription“ Gefahr läuft, „den Aneignungsprozess, den sie immer schon darstellt, selbst zu überdecken.“94 Der Text der Handschrift wird demnach zwar weitestgehend beibehalten, doch sollen einige Leseerleichterungen vorgenommen werden: Supraskripte und Abbreviaturen werden aufgelöst, Interpunktion wird eingefügt usf. Ebenso werden nötigenfalls Textbesserungen vorgenommen, die überhaupt erst Verständnis herstellen. Doch bevor die Einzelheiten zu Einrichtung und Gestaltung der Anegenge-Neuedition im nächsten Schritt erklärt werden sollen, zunächst zu einigen Eigenheiten des Überlieferungsträgers.95

3.2 Eigenheiten der Handschrift Der Cod. Vind. 2696 ist zumal im Abschnitt des Anegenge sorgfältig und gut leserlich geschrieben. Abbreviaturen kommen kaum vor, zu nennen wären vor allem das gebräuchliche vn̄ /un̄ für und(e) oder das zweimalige ꝓpheten für propheten (V. 2637; 2665). Diakritische Zeichen sind in Maßen vorhanden, wobei es sich vor allem um übergeschriebenes ‹ᵒ› und ‹e› handelt. Zumal Letzteres erscheint dabei wiederholt über Vokalen, wo es keinen eindeutig erkennbaren phonologischen Zweck erfüllt (choͤ r, V. 985; verboͤ t, V. 1273; u.  a.). Das Anegenge wird in der Handschrift durch 56 rubrizierte Initialen (inklusive der großen Eingangsinitiale) strukturiert. Die Initialen sind unregelmäßig gesetzt, schon Menhardt sieht durch sie Sinnabschnitte gekennzeichnet.96 Die Schreibsprache der Handschrift gilt allgemein als bairisch-österreichisch: Beispielsweise ist der Plosiv /k/ überwiegend als ‹ch› (/kk/ als ‹cch›) realisiert. Das in bairisch-österreichischer Schreibsprache sonst übliche ‹p› oder ‹w› für /b/97 ist hingegen

92 Vgl. Schneider, 1987, S. 229. 93 Vgl. die vielfältigen textkritischen Versuche u.  a. bei Schröder, 1881, hier bes. S. 92–96; Bartsch, 1882; Leitzmann, 1940; Scheidweiler, 1944; Neuschäfer, 1968. 94 Vgl. Busch, 2010, S. 108. 95 Alle Angaben beziehen sich auf den Abschnitt des Anegenge, wobei wiederum nur einige für die nachfolgende Neuedition wichtige Besonderheiten herausgegriffen werden. Zur Handschrift siehe auch Neuschäfer, 1966, Studien, S. 14–50. 96 Menhardt, 1960, S. 132. Siehe ausführlicher Kap. IV.7.1. 97 Vgl. Neuschäfer, 1966, Studien, S. 20–21.

3 Neuedition 

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selten (poten für boten, V. 906; unwandelwære für unwandelbære, V. 3149). Daneben finden sich dialektale Spuren, die ins Mitteldeutsche zu weisen scheinen:98 Formen wie vir- für ver-; zuo- und zu- für zer-; sal für sol; wart für wort (insbesondere warte : harte, V. 2447  f.) u.  a.; oder die für das Mitteldeutsche gebräuchliche Monophthongierung von /ie/, /uo/, /üe/ zu /i/, /u/, /ü/; zu überlegen wäre, ob auch die graphische Realisierung von /χ/, besonders vor /t/, als ‹ch› in diese Richtung weisen könnte.99 Inwieweit sich diese Beobachtungen fruchtbar machen ließen, etwa für neue Erkenntnisse über die Vorlage(n) oder Provenienz des Cod. 2696, bedürfte allerdings weiterer Untersuchungen.100 Was den Lautstand des Cod. Vind. 2696 betrifft, fällt auf, dass die Bairische Diphthongierung von /i:/ zu /ei/ bereits durchgeführt ist. Neuschäfer konstatiert, dass sich die Schreibung der Bairischen Diphthongierung in der Kindheit Jesu, dem ersten Text der Sammlung, erst noch entwickeln musste: So stehe zunächst ‹î›ͤ statt altem ‹î›, wozu vereinzelt schon ‹ei› trete. In den weiteren Werken dominiere dann /ei/ (zunächst als ‹ai›, dann als ‹æi›).101 Doch auch im Anegenge, dem siebten Text des Cod. Vind 2696, ist die Bairische Diphthongierung nicht konsequent umgesetzt: Neben den überwiegenden diphthongierten Formen erscheinen auch die alten Monophthonge, besonders in Reimstellung, aber auch im Versinneren (wîp, V. 1187; gît, V. 1202). Auch die Schreibung ‹î›ͤ , die wie eine Kombination aus altem und neuem Laut anmutet, findet ͤ , V. 1177; lîp ͤ , V. 1178). Wohl zur Unterscheidung von sich wiederholt im Anegenge (wîp altem Diphthong /ei/ (‹ei›) und neuem Diphthong /ei/ aus /i:/ (‹î›) gibt die Handschrift das /ei/102 des alten Diphthongs als ‹æi› wieder, während diphthongiertes /i:/ als ‹ei› gesetzt wird. Doch findet sich weiterhin auch die Schreibung ‹ei› für alten Diphthong /ei/, so beispielsweise regelmäßig bei Formen des unbestimmten Artikels ein (V. 42; 138; 178 u.v.m.). Die Handschrift kennt den Zirkumflex als Hinweis auf lange Vokale (so auch bei den alten Monophthongen in wîp, V. 1187; gît, V. 1202) oder bei /ei/ aus altem /i:/: ‹eî› oder (seltener) ‹êi›. Regelmäßig steht der Zirkumflex auf dem ersten oder zweiten Teil eines Diphthongs (îe, V. 31 oder cetîeffe, V. 49; ſeît, V. 101; wishæît, V.  141 u.  a.). Häufig findet er sich auch anstelle eines Tremas zur Abgrenzung von

98 Für Schröder, 1881, S. 6, fehlen hingegen jegliche mitteldeutschen Eigentümlichkeiten. 99 So beispielsweise „niht,  stn.“,  Mittelhochdeutsches Handwörterbuch von Matthias Lexer, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https:// www.woerterbuchnetz.de/Lexer?lemid=N01108, abgerufen am 10.03.2022. Die gleiche graphische Realisierung von /k/ und /χ/ als ‹ch› ist insofern auffällig, als eine andere graphische Realisierung zur Unterscheidung erwartbar wäre, wie dies beispielsweise bei ‹ei› für neues /ei/ nach Bairischer Diphthongierung und ‹æi› für altes /ei/ der Fall ist. 100 Um zu prüfen, ob eventuelle mitteldeutsche Spuren für die Provenienz des Anegenge (oder des Codex) fruchtbar gemacht werden könnten, müssten alle Texte der Sammelhandschrift untersucht werden. 101 Vgl. Neuschäfer, 1966, Studien, S. 21–22. 102 Darüber hinaus finden sich vereinzelte /e/, die mit ‹æ› wiedergegeben sind.

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 II Edition des Textes

Vokalen, die nicht als Monophthong gelesen werden sollen (Nôe, V. 1750). Überdies steht der Zirkumflex wiederholt auf kurzen Vokalen, wo seine Funktion nicht recht zu bestimmen ist (gewîs, V. 118).103 Die Handschrift tendiert insbesondere nach Diphthongen oder (ursprünglich) langen Vokalen zu Doppel-Konsonanten (tieffe, V. 49; grozzen, V. 68; mazzen, V. 831). Nach kurzen Lauten folgt hingegen zumeist nur ein einfacher Konsonant (bote, V. 2551; biten, V. 318; vgl. aber u.  a. chrafft, V. 134). Des Weiteren lässt sich eine Tendenz zu (eher ungewöhnlichen) starken Flexionen, vor allem (der Adjektive) im Dativ, beobachten: dem mane statt dem manen, V. 114; dem hailigem statt dem hailigen, V. 301; dem selbem statt dem selben, V.  1374.104 Neben iemer und niemer werden auch die schon gebräuchlichen Formen immer / nimmer verwendet.105 Das Anegenge suggeriert, wie noch zu zeigen sein wird,106 eine mündliche Kommunikationssituation, und auch die Überlieferung lässt gewisse Reflexe von Mündlichkeit107 aufscheinen. Zu erinnern ist zunächst an das Interpunktionsbeispiel: Dort zeigte sich, dass die moderne Interpunktion in Spannung steht zu der lock(er)er gefügten, noch stärker der Mündlichkeit verpflichteten Syntax des Mittelhochdeutschen. Während die ‚schwebende‘ Syntax des Anegenge produktionsseitig als Reflex von Mündlichkeit gesehen werden kann, weist auch die Verschriftungspragmatik in diese Richtung, was sich besonders an den zahlreichen Apokopen und Synkopen,108 insbesondere des schwachen (Nebensilben)-e, spiegelt: gedæcht inne, V. 21; gedacht er, V.  33; wold er, V.  170; gæb im, V.  293 u.v.a.  – Besonders im Reim stehen hingegen häufig Vollformen von Verben (enberen, V. 105). Stichproben deuten darauf hin, dass dies ein Phänomen ist, das nicht nur das Anegenge, sondern die Sammelhandschrift insgesamt betrifft. – Diese Formen, wiewohl von Neuschäfer ‚korrigiert‘, sind schlicht Elisionen (mocht[en] enbern), wie sie für mittelhochdeutsche Verse allgemein angenommen werden.109 Der überlieferte Text des Anegenge kann somit als Reflex mittelhochdeutscher Sprech- bzw. Vortragsart gedeutet werden, die es zu erhalten gilt. Die Überlieferung scheint hier durchsichtig zu werden auf eine gelebte

103 Ob die Zirkumflexe Rudimente einer womöglich noch nicht diphthongierten Vorlage, Schreibergewohnheit oder ähnliches sind, müsste dabei genauer untersucht werden. 104 Vgl. Paul, § S 101–106. Immer wieder lässt sich beobachten, dass die Handschrift im Abschnitt des Anegenge ‹m› hat, wo ‹n› zu erwarten wäre (V. 270; 1025); zu überlegen wäre daher, ob eine Vorlage womöglich Nasalstriche hatte, die dieser oder ein früherer Schreiber aufgelöst haben könnten. 105 Dies gilt auch für andere Varianzen, die dem Übergang im dreizehnten Jahrhundert geschuldet sind. 106 Siehe Kap. IV.1. 107 Schröder, 1881, S. 83, geht davon aus, „dass das Gedicht zum Vorlesen bestimmt war oder doch einmal vom Dichter vorgelesen worden ist.“ 108 Vgl. Neuschäfer, 1966, Studien, S. 37–40, der Synkopen und Apokopen weitgehend dem Schreiber zurechnet. 109 Vgl. u.  a. Bögl, 2006, S. 16.

3 Neuedition 

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Praxis, die für uns kaum noch zu greifen ist.110 – Dass bei solchen Überlegungen immer auch moderne Vorstellungen davon zugrunde liegen, wie der Text geklungen haben könnte respektive wie er klingen soll, macht Ulrich Müller deutlich.111 Obwohl die Verse des Anegenge erkennbar auf Vierhebigkeit hin ausgerichtet sind, ist auch (noch) die frühmittelhochdeutsche Verspraxis mit unterzähligen (V. 220; V. 423 u.  a.) und überzähligen (V. 26; V. 124 u.  a.) Hebungen dominant.112 Ähnliches gilt für die Reimästhetik:113 Zwar ist der Vollreim vorherrschend, doch kennt das Anegenge auch die Assonanz (willen : dingen, V. 331  f.; erwagte : gehabte, V. 711  f.). Hinzu kommen wiederholt dialektale Reime wie liechte : nichte (V. 23  f.)114 oder gute : hete (V. 745  f.). – In den Reimen ließen sich dabei wohl noch am ehesten Spuren eines ursprünglichen Gestaltungswillens festmachen.115 Gerade die Tatsache, dass reiner Reim erkennbar angestrebt, dabei aber nicht immer erreicht oder augenfällig116 ist, hat dazu geführt, dass zum Teil ganze Verse zur Herstellung des Reims eingefügt werden konnten. Ein in der (älteren) Forschung viel diskutiertes Beispiel sind die Verse 2241–2245:117 unz an die ceit zware, daz got mensch wart, 110 Gerade die schriftliche Überlieferung ist es, die den Verlust der mündlichen Aufführungs- und Vortragspraxis mitbewirkt hat. Umso bemerkenswerter ist es, dass sie punktuell doch durchlässig scheint auf die mittelalterliche Praxis. 111 Müller, 2011. 112 Vgl. zur Verskunst u.  a. Schröder, 1881, S. 12–23, Hertel, 1908; Heusler, 1891; Schirokauer, 1923. Für die Bedeutung der metrisch-formalen Anlage spräche auch, dass Reimpaare nach Möglichkeit nicht durch Spalten- oder Seitenumbrüche getrennt werden (vgl. Neuschäfer, 1966, Studien, S. 14). 113 Zur Reimtypologie vgl. die Aufstellung bei Hoffmann, 1981, S. 37–39. 114 Dies ist übrigens keine Besonderheit allein des Anegenge; beispielsweise Walther von der Vogelweide reimt in L 88,21 lieht : nieht (zitiert wird nach: Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausg. Karl Lachmanns, hg. von Christoph Cormeau. Berlin u.  a. 1996 (de Gruyter Texte)) 115 Vgl. zur Reimgrammatik u.  a. Wiesinger, 1991, S. 56–93, zur Beständigkeit von Reimworten bes. S. 60–61. Neuschäfer hat versucht, den angestrebten vierhebigen Versen möglichst nahe zu kommen, was viele seiner Eingriffe in den Text bedingt. Bei den meisten handelt es sich nur um die erwähnten apokopierten und synkopierten Nebensilben-e, die Neuschäfer einfügt oder tilgt. Auch der Reim sollte möglichst rein gestaltet werden (vgl. Neuschäfer, 1966, Studien, S. 62–73), was bisweilen größere Eingriffe zur Folge hatte (quit statt seit, V. 1228), auch wenn diese den Sinn nicht allzu sehr beeinflusst haben (mögen). Die Konjektur von hsl. seit zu quît ist zumal mit Blick auf Vorlagen oder Schreibprozesse spannend, denn in der Handschrift steht seît. ‹eî› ist im Abschnitt des Anegenge, wie oben ͤ , V. 1227) ausgeführt, zumeist Hinweis auf aus /i:/ diphthongiertes /ei/, was der Reim auf weip (hsl.: wîp erfordern würde. Der Schreiber (?) scheint also bei dem aus sagen kontrahierten Verb seit von diphthongiertem sît (vermutlich von sîn) ausgegangen zu sein. Welche Erkenntnisse daraus gewonnen werden können, bedürfte weiterer Untersuchungen. 116 So reimt beispielsweise nimt : chumt (V. 3145  f.) für unsere Augen nicht, in bairischer Aussprache jedoch sehr wohl. 117 Zitiert wird nach der Neuedition.

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 II Edition des Textes

musen si alle samt varen, si wæren reich oder armen, si musen ze helle.

Ein Reimwort auf wart (V. 2242) fehlt an dieser Stelle, was zu der Annahme Anlass gegeben hat, hier fehle mindestens ein Vers, womöglich sogar noch mehr. Auffällig ist, dass in der Handschrift zwei Anfangsmajuskeln aufeinander folgen (fol. 104vb), was die Vermutung, dass hier etwas fehlt, unterstützen könnte. Die ältere Forschung hat vielfältige Möglichkeiten zur Herstellung des Reimpaares erwogen.118 Für die angestrebte Neuedition ergibt sich jedoch nur dann Handlungsbedarf, wenn das Verständnis durch grammatische, syntaktische oder semantische Lücken gefährdet ist. Trotz der sorgfältigen Anlage der Handschrift und des Anegenge-Abschnitts treten solche Fälle wiederholt auf: Einzelne Wörter fehlen, wodurch die Syntax beziehungsweise die Satzaussage unvollständig und damit teils unverständlich werden; Wortdoppelungen oder Zusätze sprengen die Syntax oder ergeben keinen erträglichen Sinn. Zu fragen wäre allerdings, worauf solche Phänomene zurückzuführen sind: den Dichter, (fehlerhafte) Vorlage(n) oder redaktionelle Bearbeitung(en)119 wären denkbar. Häufig fallen überdies Schreibfehler, falsche oder zu viele / zu wenige Buchstaben, auf. Die meisten dieser Fälle lassen sich mit minimalen Eingriffen lösen.  – Im obigen Beispiel ließe sich der Text halten, indem V. 2241  f. apo koinou gelesen wird. – Zudem gibt es eine Reihe von Stellen, an denen der überlieferte Text ungrammatisch oder inhaltlich-syntaktisch120 defekt ist oder die Handschrift mechanisch erkennbar beschädigt (Abrieb, Löcher). Neuschäfer hat für die meisten dieser Stellen Konjekturvorschläge gemacht, die (zumeist) überzeugen können. Doch wird so auch ein Text erschaffen, der keine Grundlage im Codex unicus hat, und der, einmal in der (Text-)Welt, nicht einfach wieder wegzudenken ist. Überdies könnte selbst die überzeugendste und brillanteste Konjektur immer auch anders vorgenommen werden. In der Neuedition werden Stellen, die größere Eingriffe erfordern würden, daher zwar markiert und kommentiert, nicht aber konjiziert (s.  u.). Dies gilt im Übrigen auch für mehrere Stellen, an denen der überlieferte Text zwar grammatisch korrekt zu sein scheint, sich jedoch dem unmittelbaren Verständnis entzieht.121

118 Vgl. zur Forschungsdiskussion u.  a. Neuschäfer, 1968, S. 67–68; Schröder, 1881, S. 95; Bartsch, 1882, S. 501–502. 119 Siehe Kap. IV.8. 120 Zu fragen wäre für solche Stellen – beispielsweise die Verse 266–271 – ob es sich um (misslungene) redaktionelle Änderungen am Text handeln könnte. Zu den möglichen (redaktionellen) Kürzungstendenzen im Anegenge siehe Kap. IV.8. 121 Diese Handhabung erzeugt Transparenz und versucht zugleich die Forderung Stackmanns zu erfüllen, nach der eine Edition immer „ein höchstes Maß an Unsicherheit“ erzeugen und den Rezipierenden als Aufgabe übergeben werden sollte (vgl. Stackmann, 1964, S. 267).

3 Neuedition 

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Wie mit diesen und weiteren Eigenarten des Cod. Vind. 2696 für die konkrete Umsetzung in der Neuedition umgegangen wird, explizieren die nachfolgenden Editionsprämissen.

3.3 Zur Umsetzung Einrichtung des Textes Auf Grundlage der bisherigen Ausführungen ist der Text der Neuedition des Anegenge folgendermaßen eingerichtet: – Im edierten Text bezeichnet || Blattwechsel in der Handschrift, | Spaltenwechsel. Bei Blattwechsel wird jeweils die neue Foliozahl angegeben (89vb / 186). Die zweite Zahl bezeichnet die Seite im Wiener Handschriftendigitalisat und dient der leichteren Auffindbarkeit der Stellen im Digitalisat. – Die Initialen der Handschrift werden als Großbuchstaben im Fettdruck wiedergegeben. – Das Aus- und Einrückverfahren der je ersten Spalte wird nicht übernommen, ebenso wenig der Wechsel von Majuskel und Minuskel am Versanfang. – Die Reimpunkte der Handschrift werden nicht übernommen. Stattdessen wird moderne Interpunktion eingefügt. Generell werden längere syntaktische Einheiten bevorzugt, doch nur soweit dies den Lesefluss und das Leseverständnis nicht behindert (s.  o.). An Stellen, an denen sowohl Punkt als auch Komma möglich scheint, wird bevorzugt der Strichpunkt (;) gesetzt. – Abbreviaturen werden aufgelöst, ebenso diakritische Zeichen. Supraskripte ohne erkennbare Funktion, vor allem die häufigen diakritischen ‹e› (choͤ r, V. 985; verboͤ t, V. 1273), werden stillschweigend getilgt. – Eigennamen werden großgeschrieben. Die Personen der Trinität, gewalt, weishait  / weistuom und guote, werden nicht großgeschrieben, da vielfach nicht explizit entscheidbar ist, ob die Person oder das Substantiv gemeint ist. Die Mehrdeutigkeit solcher Stellen soll nicht durch eine Festlegung auf eine Möglichkeit eingeschränkt werden. – Hinzufügungen zum überlieferten Text erscheinen in Konjekturklammern ‹ ›. Ein Apparateintrag erfolgt nicht. – Größere Auslassungen gegenüber der Handschrift (z.  B. ganze Wörter) werden im edierten Text durch eckige Klammern [ ] ersetzt, der Text der Handschrift wird im Apparat vermerkt. – Änderungen einzelner Buchstaben werden kursiviert, die Lesart der Handschrift wird im Apparat vermerkt. Dasselbe gilt für die Auslassung einzelner kleinerer Wortteile oder Silben, wobei im Wortinneren die beiden umliegenden Buchstaben, am Wortanfang/-ende der je folgende oder voranstehende Buchstabe kursiviert wird.

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 II Edition des Textes

– Auf Ergänzungen oder Glättungen metri causa oder zur Herstellung von (reinem) Reim wird verzichtet. In Fällen wie dem im Bairischen geläufigen Reim liecht : nicht (Paul, § E 27,6) wird das Schriftbild nicht angepasst. – In Einzelfällen können schwache Neben- oder Endsilben, zumeist der Laut e, zur Verständnishilfe ergänzt werden (vleizechlichen, V. 558). Sie werden durch Kursivierung kenntlich gemacht, ein Apparateintrag erfolgt nicht. – Unverständliche Stellen, die nicht durch geringfügige Eingriffe zu bessern sind oder Lücken, die weitreichend(er)e Eingriffe erfordern, werden mit Cruces † † markiert und mit einem Kommentar versehen; diese Stellen werden (zumeist) auch im Untersuchungsteil diskutiert. Apparate Für die vorliegende Edition werden zwei Apparate eingeführt: Der erste Apparat vermerkt bei Texteingriffen die Lesarten der Handschrift. Es werden nur semantisch relevante Fälle berücksichtigt, um den Apparat nicht zu überfrachten. Der zweite Apparat wird nur im Bedarfsfall (unter den Lesartenapparat) gesetzt. Hier werden jene Fälle diskutiert, die im edierten Text mit Cruces markiert sind. Gelegentlich können dort auch Hinweise zu schwierigen Lesarten, Grammatik o.a. vermerkt sein. Das Ziel der vorliegenden Neuedition ist eine Rückkehr zur Überlieferung. Eingriffe in den Text erfolgen nur dann, wenn sie grammatisch-syntaktisch notwendig, also selbsterklärend sind. Auf einen Forschungsapparat, der frühere Konjekturen und Konjekturvorschläge verzeichnet, wird daher verzichtet. Wie Schweikle deutlich macht, dient ein solcher Apparat „in den seltensten Fällen dem eigentlichen Zwecke der Edition, nämlich einen historisch bezeugten Text zugänglich und verständlich zu machen.“122 Bezüglich größerer Konjekturen insbesondere Neuschäfers sei auf Erläuterungen im zweiten Apparat verwiesen.123 Lautgestalt und Lesehilfen Da der Text der Neuedition in Wort- und Lautgestalt weitgehend der Überlieferung entspricht, sollen im Folgenden nur einige wenige Besonderheiten des Cod. 2696, die bei der Lektüre irritieren könnten, aufgezeigt und in ihrer Konsequenz für die Neuedition besprochen werden. Für ausführlichere (grammatische) Hinweise und Analysen sei auf die künftige Studienausgabe verwiesen.

122 Vgl. Schweikle, 1994, S. 122. 123 Siehe auch die ausführliche Diskussion bei Neuschäfer, 1966, Studien, S. 51–84. Für alle weitere Hinweise zu und Diskussion von früherer Konjekturalkritik sei zudem auf die Studienausgabe (Einleitung, Anm. 44) verwiesen.

3 Neuedition 

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Vokalismus – Die Edition unterscheidet nicht zwischen langen und kurzen Vokalen; die vereinzelten Zirkumflexe der Handschrift werden nicht übernommen. Ausnahme sind die langen Umlaute /ü:/ und /ä:/, die die Handschrift selbst von den kurzen unterscheidet: z.  B. ‹iu›: diu, V. 435; aber ubel, V. 1285. Handschriftliches ‹æ› kann für die mhd. Laute /e/ und /ä:/ stehen, wobei es vor allem in ersterem Falle nicht immer der am Normalmittelhochdeutschen orientierten Leseerwartung entspricht (z.  B. zægeleiche, V. 227). Zugleich erscheint ‹æ› an erwartbaren Positionen wie beispielsweise im Konj. Prät. (wær, V. 7; tæte, V. 11). Wo es sinnvoll ist, wird das ‹æ› der Handschrift beibehalten, ansonsten setzt die Edition ‹e›. ‹œ› oder ‹oe› erscheint in der Handschrift zumeist als ‹oͤ ›; die Edition setzt analog zu ‹æ› das Ligatur-ö ‹œ› (hœren, V. 775) oder ‹ö› (möchte, V. 76). – Die in der Handschrift bereits durchgeführte Bairische Diphthongierung von /i:/ zu /ei/ und von /u:/ zu /ou/ bleibt erhalten. Bemerkenswert ist dabei, dass bisweilen neues dipthongiertes /i:/ (‹ei›) auf ‹î› reimt (sein : drin, V. 311  f.) – Der alte mhd. Diphthong /ei/ erscheint in der Handschrift als ‹æi›. Die Edition setzt ‹ai›. Ausnahme: Wenn die Handschrift den alten Diphthong selbst als ‹ei› schreibt (z.  B. regelmäßig bei Formen des unbestimmten Artikels ein, V. 42; 45;138; 178 u.v.m.), wird die Schreibung der Handschrift beibehalten. – ‹u› und ‹v› werden nach konsonantischem beziehungsweise vokalischem Lautwert unterschieden. ‹v› wird zumeist zu ‹u›, ‹u› hingegen nur selten zu ‹v› (vf > uf, V. 11; Dauid > Davit, V. 2069). – Der mhd. Laut /i/ erscheint in der Handschrift als ‹i›, ‹ie› ‹ý› oder ‹y›. Die Edition behält die Schreibung der Handschrift bei und tilgt lediglich das Diakritikum bei ‹ý›. – Die Handschrift kennt das Graphem ‹j› nicht. Allenfalls wäre zu überlegen, ob einige der ‹i›-Majuskeln als ‹j› gelesen werden könnten (Jemer, V. 199; Johannes, V. 2213).124 In der Edition werden ‹i› und ‹j› nach konsonantischem beziehungsweise vokalischem Lautwert unterschieden (iehen > jehen, V. 565). – In den schwachen Nebensilben kennt die Handschrift neben ‹e› auch ‹i›, was beibehalten wird. – Die mhd. Lautkombinationen /wu/ und /iuw/ erscheinen in der Handschrift häufig als einfaches ‹w› (wnder; fwer). Die Edition stellt die damit vermutlich indizierte Lautgestalt auch im Schriftbild her: wunder, fuwer. Konsonantismus – Schaft-s ‹ſ› wird als Rund-s ‹s› wiedergegeben. – Die die Handschrift scheidet gewöhnlich präzise zwischen den Phonemen /s/ (< germ. /s/) und /ʒ/ (< germ. /t/) (Paul, § L 120–123). Einzelne Ausnahmen vereinheitlicht die Edition: /s/ erscheint als ‹s›, /ʒ/ als ‹z›.

124 So liest es jedenfalls Neuschäfer.

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 II Edition des Textes

– Die mhd. Affrikata /z/ bzw. /ts/ erscheint in der Handschrift bisweilen als ‹tz›, ‹c› oder ‹ct›. Die Edition behält die jeweilige Schreibung der Handschrift bei. – Der Plosiv /k/ erscheint in der Handschrift, wie im Bairischen üblich, als ‹ch›, aber auch als ‹k› oder ‹c›. /kk/ erscheint in der Handschrift als ‹ch› oder ‹cch›. Die Edition behält die Schreibung der Handschrift bei. – Der mhd. Laut /χ/ erscheint in der Handschrift ebenfalls als ‹ch›, /χ/ vor /t/ als ‹cht›. Die Schreibung der Handschrift wird beibehalten. – Der mhd. Laut /b/ erscheint in der Handschrift in seltenen Fällen als bairisches ‹p› oder ‹w› (poten für boten, V. 906; unwandelwære für unwandelbære, V. 3149); die Schreibung der Handschrift wird beibehalten. – Wiederholt findet sich in der Handschrift in Reimstellung ‹t› statt erwartbarem ‹d› (wurte statt wurde, V. 3240; sunte statt sünde, V. 677). Die Schreibung der Handschrift wird beibehalten. Morphologie – Zusammen- und Getrenntschreibung wird behutsam an moderne Lesegewohnheiten angeglichen. – Die Handschrift tendiert zu Doppel-Konsonanten (tieffe, V. 49; liezze, V. 41; stiezze, V. 42). Nach kurzen Lauten folgt hingegen zumeist nur ein einfacher Konsonant (bote, V. 2551; gote, V. 2552; biten, V. 318). Die Schreibung der Handschrift wird beibehalten. – Die zahlreichen Apokopen und Synkopen, insbesondere von schwachem Nebensilben-e, werden beibehalten, solange das Verständnis nicht beeinträchtigt ist. Ansonsten werden die Ergänzungen kursiviert (s.  o.); Tilgungen erfolgen in der Regel nicht, falls doch werden sie wie alle anderen Tilgungen behandelt (s.  o.). – sie (Akk. Sg. Fem.) erscheint in der Handschrift häufig als sei. Entstanden wohl schon in ahd. Zeit als Schwachtonform si aus siu, das in betonter Stellung als sî erscheint und in der Bair. Diphth. zu sei wird (Paul, § M 41, Anm. 2). Die Edition behält sei bei. – sie (Akk. Pl. Mask.Fem.) erscheint in der Handschrift häufig als siu (V. 463; 192). siu ist mhd. eigentlich Nom. Sg. Fem. bzw. Nom.Akk. Pl. Neutr. Zumal im Alemannischen und im Bairischen kann siu aber auch für Akk. Pl. Mask.Fem. stehen (Paul, § M 41, Anm. 2). Die Edition behält siu bei. – Die mhd. Formen sî und sîn (3. Pers. Sing./Pl. Konj. Präs) des Verbum Substantivum sîn erscheinen in der Handschrift häufig als sei (V. 281; 394). Die Form der Handschrift wird beibehalten. – iuch kommt selten vor und bezeichnet dann den Akkusativ (V. 595), sonst hat die Handschrift iu für Dativ und Akkusativ. Die Edition unterscheidet zwischen iu = Dat. und iuch = Akk. (Paul, § M 40, Anm. 5), ein Apparateintrag erfolgt nicht.

3 Neuedition 

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Kann ein Wort stark und schwach flektieren (mane, V. 215), richtet sich die Wiedergabe im edierten Text nach seiner Flexion in der Handschrift.125 – Die Handschrift tendiert bei Adjektiven in attributiver Stellung sowie bei Pronomina zu starker Flexion, was sich besonders im Dativ zeigt: dem hailigem statt dem hailigen, V. 301; dem selbem statt dem selben, V. 1374 (vgl. Paul, § S 105). Die starke Flexion wird beibehalten. – Mhd. vröude erscheint in der Handschrift als friude / vriude, zweimal im Reim auf bischiude (V. 2135; 2178). Die Edition behält die Formen der Handschrift bei. – Das Lexem und / unde erscheint in der Handschrift als Abbreviatur vn̄ oder un̄ sowie als Vollform unt. Ausgeschriebenes zweisilbiges unde ist in der Handschrift126 nicht belegt, womöglich aufgrund der Tendenz zu Apokope und Synkope (s.  o.). vn̄ und un̄ werden konsequent zu unt aufgelöst.127 –

125 Neuschäfer, 1968, S. 66, weist (einige) der schwachen Flexionsformen dem letzten Schreiber zu, der die Flexion eigenmächtig geändert habe. 126 Dies gilt zumindest im Abschnitt des Anegenge. 127 Zur Frage nach der Ein- oder Zweisilbigkeit von und(e) als editorisches Problem vgl. Braun, Glauch und Kragl, 2016, S. 405–409.

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Daz buoch heizzet daz anegenge ||

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Domine, labia mea aperies. nu gestate mir, herre got, des, daz ich dein lob gesprechen mege. habe meine zunge in deiner phlege unt die rede von meinem munde, wan ob ich elliu buoch chunde, so wær mir der rede ze vil, der ich hie beginnen wil. nuo belaite meine sinne, sam du der eselinne uf tæte ir munt, daz si ir maister tæte chunt, daz er nicht furbaz solde, dar er doch reiten wolde. also phlege du meiner zunge mit deiner weisunge, wan ich von deiner gute unt von deiner diemute, von der weile unt von den tagen wolde genzlichen sagen, da du gedæcht inne, wie du mit deinem sinne die vinster bræchtest ze liechte unt wie du von nichte woldest wurchen elliu dinc, als si hiute hat der werlde umberinc.

90ra / 187

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Vernemt den allen besten gidanc, da von man saget oder ie gesanc, den got um uns hæte, e er ie icht getæte oder e ie icht wurde, do gedacht er der burde, | die er um uns wolde tragen. wir wellen groziu dinc sagen unt wunderlichiu mære von unserm schephære. nu such ich seine gute, daz er mich da vor behute, daz ez mir armen icht erge, als hie vor gebot diu alte e: swer an dem wege icht liezze,

15 Rasur am n von zungen, das gleichwohl noch erkennbar ist. Da zunge stark und schwach flektieren kann und der Reim zunge verlangt, wird die Rasur als Tilgung wahrgenommen.  https://doi.org/10.1515/9783110775723-004

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 III Text

daz sich ein blinde dar an stiezze, daz in der vasten solde. diu selbe e ouch wolde, swer einen brunnen wolde graben, daz er ze gelten muse haben, swaz dar inne ertrunche. alle, die nu dunche, daz ich ce tieffe welle graben, die wil ich gerne von dem schaden laiten hin dan baz. ich rat ouch den tumben daz, daz si sich des gelouben unt in diu gotes tougen so tieffe nicht gedenchen, daz si sich selben icht ertrenchen. ich wil des geltes ledic sein an allen den, die dar in ir gedanch gevellent. die daz ervorschen wellent, wa got vor des genas, do der entwederz was himel noch erde noch daz liecht, solhe gedanc sint enwicht, unt die sich versenchent dar in, wie die drei namen sein, unt war umbe diu gotes gute der grozzen ubermute dem tievel verhancte, da er sich selben mit versancte || unt im manic sel seit angewan, unt wie er dem ersten man valles verhancte, an dem er wol erchante, daz er mit dehainen dingen in wider möhte bringen wan mit sein selbes bluote, unt war zuo der guote des geburt wolde, an dem er wesse, daz er solde in der helle ewichlichen sein, unt wa mit diu armen chindelein daz fuwer haben gechouffet, diu da ungetoufet an ir schulde schaident von hinne, swer nach solhem sinne tieffe wil gedenchen, der mac sich selben wol ertrenchen. nu vernemt churzlichen daz, wa got vor allen tagen was

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III Text 

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unt vor aller geschefte: uf seiner magenchrefte er gewaltichlichen saz, in im selben er was. enbor trug in sein gothait. owe wie sanfte er enbait dirre werlde gruntveste. ob dem abgrunde was sein reste, der gotes gaist da swebte, wunnechlich er lebte. im wart seit nie wirs oder baz, denne im ouch do was. ich tuon iu wærlichen chunt, daz himel unt erde dehain stunt gotes nicht mocht enberen. daz wær uns nicht ze leren, daz er ir ze icht bedurfen solde. do er sie von erste wurchen wolde, | er schuff si wan durch seiniu chint. den dienten si immer mer wol sint. daz er werden hiez daz liecht, daz tet er umbe daz nicht, daz er ie vinster gewunne. den man unt die sunne die schuoff er ze diu, daz si solden dienen iu. sam tet er allez, daz der is. alle, die des sint gewis, daz er ez beschuoff umbe daz, daz im selben wære dester baz, der geloube hat sere missevarn. got muz alliu dinc biwarn unt uf haben mit seiner chrefte. möcht im icht an seiner magenchrefte geschaden, so het er mue dannen. ir sult wizzen von wannen dem tievel chom die hohvart, dur die er verstozzen wart. Gotes gewalt was ie unt verwandelte sich nie, noch nimmer getuot. got ist genædic unt guot. als groz was sein herschaft unt sein gewalt unt sein chrafft, e diu erde unt des himels liecht geschaffen wurden von nicht, sam si hiute sint in disen tagen. done wolt er die wunne nicht eine tragen.

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 III Text

er wart ze rat in seinem muote mit sein selbes gute unt mit seiner weishait. er wolde sein lob machen brait unt die wunne machen gemaine, die er alaine ie gedacht hæte. du waren seine gute ræte, || daz er die engel werden hiezze unt daz er in liezze frei ir gemute, ob si mit diemute im dienten willechleiche, daz si ze seinem reiche dester bezzer recht hieten. daz sumlich gerieten also gahes zu ir verlor, daz sach er vil wol vor. sam tet er sein selbes tot unt alle die not, diu im da von chumftic was. doch gunde er im der mu baz, die er da von gewunne, denne ob er sei getwunge, mit dehainer slachte sinnen, daz si in musen minnen. wan het got die engel geschaffen alle, daz si nicht möchten chomen sein zdem valle, so het er wider die gitan, die im dannoch bei wolden sein gistan. durch der verzagten siechtuom wold er in nicht unrechtes tuon den vesten unt den stæten, die seinen willen tæten vil gerne ane twanchsal. e wolde er dulden disen val unt ouch sein selbes tot, e er durch dehainer slachte not den guten bræche ir recht. swer hie het einen chnecht, der im gerne wolde dienen, ob er in dar uber vienge unt betwunge in der zuo, daz er ez muse tun denne under seinen danc,

146 gute flektiert hier stark. 178 hiu. 

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III Text 

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so het ‹d›er übel getwanc | den guoten willen geergerot an aller slachte not. Do diu gotes gute do an dem rate also mit seiner weisheit saz, do geriet si im daz, daz er schuff elliu dinc, als siu hat der werlde umberinch, den himel unt die erden. er hiez daz liecht werden unt die engel dar inne. daz was sein erste stimme, die got ie gesprach. die engel schuff er, daz si gemach iemer unt wunne unt mandunge mit sampt im hæten – daz het im sein gute geraten. ouch schuff der hailige christ allez, daz hiute ist, in fumf tagen, chundet uns daz buoch. an dem sehsten er den man geschuof unt ouch sumlichiu tyer. der tievel geviel do vil schier von dem himelreiche. vil harte wisleiche got ez allez underschiet: von der vinster tailt er daz liecht, daz ist der tac unt diu nacht. dem wazzer gab er seine macht, den sternen unt dem mane unt der sunne, baz, danne ich gesagen chunne, gab er in besunder ir ceit, also begiengen siz immer mere seit. wie chlaine er ez do ordenot, des ist dehain not, daz wir daz allez gesagen, wan wir der ceit nicht enhaben, || daz wir so verre chomen dar in,

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201 haten.  184 Im mündlichen Vortrag erübrigt sich die Korrektur, da der auslautende Dental von het und der anlautende von (d)er verschmelzen können. 

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 III Text

niwan daz wir mit disem begin iu‹ch› ermanen ein tail, wie sich hup unser hail, unt wie zegeleiche sich von gotes reiche der tivel selbe verstiez unt wie er uns des engelten liez. Die engel beschuoff der gotes giwalt durch seiner gute einvalt, daz si in loben solden, des si doch nicht enwolden. † Lucifern dunchen genuc, † untz er sich hoher hup, denne er von rechte solde: seinen stul er setzen wolde enneben seinem herren. des engalt er an seinen eren – unt was daz vil billich. –, do er nicht lie genugen sich, daz er got als geleich was als dem insigele daz wachs, daz umbe daz dar an gedrucht wirt, daz ez im geleichez bilde birt. des möcht in wol genuget han. er douchte sich so wol gitan, do er sich selben ane sach, in seinem willen er do sprach, er wolde dem obristen sein geleich. daz was iedoch vil tivelich, wan er wol wesse daz, daz got so giwaltic was, daz er in des wol wider bræchte. do tet erz in der andæchte, swie ez im ergienge oder swie erz angevienge, er wolde doch immer wider got sein. waz solde sant Augustin |

252 viel. 235 Vers grammatisch/syntaktisch unverständlich. Neuschäfer konjiziert 234  f. passend zu: des iedoch niht enwolde | Luciferen dunken genuoc. Zu überlegen wäre auch eine Konjektur zu: Lucifer enduhtez genuoc, | unz er sich hœher huop – was im Nu seiner Entstehung bzw. noch in deren Prozess der Fall ist (262–267). 246 Rasur von g vor birt. 252 Zu überlegen wäre, ob das handschrifltliche viel im mittel-/ nordbairischen Wandel von /i/ zu /ie/ vor Nasalen aufgefangen sein könnte (Paul, § L 32). l ist zwar kein Nasal, als Liquid allerdings den Sonorlauten zuzuordnen und somit dem Nasal verwandt. 

III Text 

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denne mainen da mite, er sprichet, daz er so lange niht enbite mit seinem ubermute, daz er der gotes gute ie gesmachte dehain tail. sein gedanc gebar im unhail, biz da‹z› er vol geschaffen wart; do warf in diu hohvart in daz abgrunde, in unt alle, die im der sunde wolden gehel‹l›en unt bei gistan, die musen vallen von dan in den ewigen tot, da si angest unt not unt fiurin gebende habent immer an ende. Durch so getane sunde hat daz abgrunde der tivel besezzen. wir sulen nicht vergezzen, wirn sagen, waz sei die dri genende. nu ist ez so tieff unt so fremde unt so gar grundelos, mich enwelle der ewige trost beweisen dar inne, daz ich ez mit meinem sinne nimmer mac verenden. wil aber er mir helfe senden, so wirt sein guot rat. got selbe gesprochen hat, swer von im reden wolde, daz er dar nach nicht denchen solde; er gæb im ze munde, daz er sprechen chunde, so ez im chœme an die not. sam tuo er ouch mir durch seinen tot. meinem gaist geb er die lere unt ouch den hœreren die ere, || daz ez in ze staten chume. von dem vater unt von dem sune unt von dem hailigem gaiste wil ich reden mit seiner vollaiste.

270 in. 

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 III Text

Do dannoch nicht geschaffen was, wan daz der gotes gaist saz uff des lufftes vederen, do was er an der namen entwedern, daz der vater unt der sun ist. er wart ouch ze dehainer vrist an den hailigen gaist nie. die dri namen het er ie. war zuo si ouch genant sein unt eine gothait an den drin, daz ist wunders so vol, daz ez niemen mag ergrunden wol. ouch ist von solher herschafft menschlicher unchrafft ze redene vil schedlich. nu sult ir biten umbe mich, der von anegenge also hiezze daz er mir den muot entsliezze. der vater ist der gotes gewalt, der wirt von rechte der zu gezalt, wan er gewaltichleiche besezzen hat diu reiche unt allez, daz der ist. er gebar in einer churzen vrist mit seiner chreffte den sun. der haizzet sein weistum, wan er weislichen tun chan, unt ist vil gehorsam seines vater willen an aller slachte dingen. der hailige gaist ist sein gute. e er ie icht getæte, diu het in alles ermant. die dri tugende waren ensamt | an der einen gothait ie. von diu wart er an die namen nie. Nu vernemt, zwiu daz gitan sei, daz der namen sein uzgimerchet drei unt minner noch mere, swie doch unser herre ander namen habe vil,

304 daz. 335 ſein.  307 unt in adverbialer Verwendung (Paul, § 179.3) als „auch“. 340 uzgimerchet steht auf Abrieb und ist im Digitalisat kaum lesbar. Ich lese gi.m.ᶴchet, Neuschäfer liest gimeᶴchet. Die Stelle müsste an der Originalhandschrift nochmals überprüft werden. 

III Text 

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daz er umbe dise wil, daz man die sunderlich ere: sein ist dehain durft mere wan dise dri genenden. da mit sint die fremden namen unt die chunden bevangen ze allen stunden. er haizzet herre unt gebietære, er haizzet reicher unt vorchtigære, er haizzet unwandeliger unt starcher unt chrefftiger. ander namen hat er vil, die ich den geleichen wil, die hœrent alle an den gewalt, der ze dem vater ist gezalt. swa wir den vater nennen, da sul wir die namen alle mit bechennen; er haizet schephære unt got der gewære, er haizzet rechter unt chumftigære, richtære unt furnunftigære, hailant unt wunderleich. alle namen, die den sint geleich, die hœrent an den weistuom, der da genant ist der sun. swa wir den sun nennen, bei den sul wir dise namen bichennen; er haizzet senfter unt guoter unt diemuter, milter unt erbarmiger, gedultiger unt genædiger, || unt diu ware minne, swaz wir in sölhem sinne der namen mugen besliezen. nu sult ir ouch wizzen, so haizet der hailige gaist, alles gutes schuntære unt vollaist; gotes guote haizzet er ouch da bei. ez ist niht durft, daz er baz genennet sei, ir ist genuc an disen drin. irn möcht ouch nicht minner sein, wan so gebræst des vollen da. ez hat ouch anderswa michel bezaichnunge, die man mit tiuscher zunge nicht mag errechen. nu wil ich iu entechen, war umbe man den gewalt an den rat habe gizalt

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 III Text

unt umbe waz der weistuom sei gezalt an den sun unt diu gute an den hailigen geist. ich wil dirz sagen, du sein niht enweist. Owe wie rechte er sprach, der daz von erste ane sach, daz der gotes gewalt an den vater ist gezalt, wan er nie nicht geworchte durch liebe noch durch vorchte, wan durch den sun hat erz gitan. daz sul wir also verstan: der vater het elliu dinc ie, im gebrast ir nie an seinem gewalte, ern gewunne sei wol, ob er wolte. do chunde der weistuom elliu dinc wol getuon, het er sich ce werch gehabt. da mit ist in nicht widersagt, | ern sei dem vater ebenhere, unt heten ie vil geleich ere an ieglichem dinge. der sun het an dem sinne, daz der vater het an dem gewalte, als ich iu da vor von im zalte. der sun ordenot elliu dinc, als si noch immer mere sint, e icht geschaffen wære worden, doch het er den orden vil gærlich verlorn, het uns der gewalt nicht geborn. do tet der gewalt durch den suon, der da ist sein weistuom, daz er guten machte nach des weistuomes achte. daz selbe het diu guote vil willechlichen in ir muote, wan der gewalt noch der weistuom die enchunden nicht getuon

406 nu. 424 vnz.  427 guten swV: „sich als gut erweisen“ („güete, swv.“, Mittelhochdeutsches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemid=G01630, abgerufen am 19.03.2022.). 

III Text 

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uber ir willen, noch enwolden, noch enmochten, noch ensolden. do enwolde diu gute, die der vater unt der sun heten in ir huote, die grozzen wunne nicht vertragen, daz die got eine wolde haben. do riet si dem vater daz, der gewaltic ze geben was, seit er so reich wære unt so here, daz er etswen mere da mit solde reichen. si bat den sun, ob er willechleichen wol getuon chunde ze ieglicher stunde, daz er den vater bæte, daz er im sein stat tæte. do sprach der gewalt ze dem weistum, wie er im sein stat solde tuon. || er sprach: „da soltu haizzen werden den himel unt die erden unt solt mit deiner chreffte si erfullen mit so getaner geschefte, der deiner hilfe muze durft sein. so hastu getailet daz guot dein, so sol‹z› uf haben dein giwalt, wan er dir, vater, ist gezalt. allenthalben soltu si biwarn, nach helfe so sulen si harn uf ze deiner gute. du solt mit diemute siu ce allen ceiten hœren, ob wir ez wellen stœren durch dehaine ir schulde, so sol si in die hulde wider gewinnen, ezn sei, daz si an solhen dingen wider uns icht getuo, daz dehain genade hœr der zuo. so sulen si dulten deinen slac. diu urtail wol mac ergen uber die verworchten, die got niene vorchten.“

457 ſchol. 

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 III Text

Hie muget ir wol hœren an, als ich da vor gesprochen han, daz si sein icht bedurfen solten, swaz si wurchen wolten, wan daz si daz wolten, daz wir da mit solten werden gereichet. „nu ez iu beiden geleichet,“ sprach aber der gewalt, der dem vater ist gezalt, „ich haizze ein erbe braitez unt vil bederbe, da wil ich selbe gewaltichleiche inne wonen ewichleiche. | ich erzaige wol, als ich mac, untz an den jungisten tac allen den gewalt mein. ouch soltu furbaz sein des gewaltic immer mere mit vollechlicher ere.“ Mit gedanchen disiu rede ergie. dane wart dehain wort nie under gesprochen. wir haben ouch da mit niht cebrochen dem gewalte sein recht, als ir dar nach wol geseht, daz wir in gecigen han, daz er uf welle geben san her nach diu reiche, wan im selben vil unschedeleiche diu furcicht wirt gitan. ezen sol niemen so verstan, daz er nimmer so eralte, daz er an dem gewalte dester harter icht verswache oder sich dester ermer mache oder daz si sich immer geschaiden, wan daz er nimmer mer erzaigen wil so grozzen seinen gewalt, noch seinen zorn so manicvalt

492 ſolte.  477–480 Neuschäfer hat die chiastische Struktur der Reime als nachträglich bewertet und konjiziert. Da die Verse aber verständlich sind und überdies nicht eines gewissen ästhetischen Reizes entbehren, bleiben sie hier unverändert. 

III Text 

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erzaiget an dehainer stet, als er des tages tet, do er elliu dinc werden hiez unt do er den engel verstiez durch sein hohvart unt so er do gesehen wart, do er sande die sintfluot – unt so er tæglichen tuot mit regene unt mit winde den winter herte, den sumer linde – unt als er sich erzaiget denne, so sein gewalt daz wazzer brenne, || so er die toten ermundert unt die ubelen gesundert von den seinen chinden. da sol sich underwinden der sun der reiche, daz er sei wisleiche immer mer besehe, daz uns dehain lait geschehe, unt daz er die minne so gevestene dar inne, swaz ie ener getuo, daz die andern haben minne der zuo, unt sol ez also cesamne tragen, daz der mensch unt die engel haben niewan ein gemute. der salwirt, diu gute, da ist der hailige gaist unt wirt sein alles vollaist under den drin genenden. wir mugen ez nicht volenden, daz wir dar umbe wizzen, wan also hat sich gevlizzen der vater durch der gute rat, daz er sein chint geerbet hat mit liuten unt mit lande. daz er den sun sande, daz tet er von rechte, do er seinem chnechte wolde geben die widervart, wan der mensch durch den sun geschaffen wart.

526 brenne als Konjunktiv Futur im abhängigen Satz. 

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 III Text

An disen worten sult ir vlaizechlichen warten unt vil wol erchennen, swie wir den nam sunder nennen, ezn ist doch nicht wan ein got. der ir einen git daz lop, der hat ez in allen drin gewegen. geschaiden wir siu niht enmegen, | swie doch diu buoch jehen, daz si besunder sein gesehen unt ouch besunder vernomen, do der gotes sun was chomen, do man in solte touffen; man sach den sun louffen under andern sundæren. die ie icht da von gelæren, die habent uns ie verjehen, daz der hailige gaist wurde gesehen in einer touben bilde unt ouch da wurde von himele des vaters stimme vernomen. er sprach: „her ist mein lieber sun chomen, den ich mir selbe erwelt han.“ des habe niemen dehain wan, daz si ie wurden geschaiden entweder von den baiden. doch man von der warhait jæhe, daz man si horte unt sæhe alle dri besunder. iedoch ist ez wunder, der uf der erde da gie under den sundæren hie, daz ouch der von himel sprach unt daz man in ob der touffe sach sweben, als ir ie habt vernomen, in dem luffte. wie daz mochte chomen, des welle wir iu ein tail sagen, wir mugen ez nicht verdagen, wirn bringen sein iuch inne – doch ez menschlichem sinne etswa vil frömde ist. fur daz der hailige christ elliu dinc bedachte unt si ze gesichte brachte, seit chom er von himel nie unt was ouch uf der erden hie ||

557 warten. 573 die. 

III Text 

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unt in dem abgrunde alsam. dehainen ende er nie genam, elliu dinc er bevangen hat, do er gelaiste den rat – der gewalt erfulte seine bet –, den im sein gute tet. wan daz recht het diu gute swaz si gerne tuot in ir mute, des ist ir vollaist der gewalt, der dem vater ist gezalt. daz selbe tuot der weistuom, also ist gehaizzen der sun. von diu was si ie in baiden ebenhere. ouch het der weistum die ere, swaz er geordenote, daz der gewalt unt diu gute des nicht widern salte. do mus ouch dem gewalte der weistuom sein gehorsam unt diu gute alsam, swaz er getun mochte oder chunde, daz si im des wol gunde, sine mocht ez minnechlichen erwenden. nu wer mac die zal volenden? von den drin gesant wart hern erde ein wort, daz nam vlaisch an sich. durch uns wart er menschlich, unt het an im die tugende der drier ginende: den gewalt, der ez her brachte, unt den weistuom, der iz bidachte, unt diu gute, diu ez riet, von der ez sich nie geschiet. ez wart gebildet nach dem man, den der tivel got angewan. Daz was der mensch, den man sach. diu stimme, diu von himel sprach, | von der was daz wort chomen, daz war‹t› vil billich vernomen von dem vater her ze tal. daz man da horte den schal, daz was diu starche gothait, diu an ir selber gibar die menschait. in dem vlaische was er gar,

628 vart. 633 den. 

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 III Text

doch geraichte sein gothait dar, da diu stimme oben sprach unt da man die touben sach. die dri tugende heten ensant erfullet elliu diu lant. von diu möht er vil wol reden unt gen unt sweben, swa so er wolte, wan er elliu dinc erfulte. daz sein ie uf der erden dester minner iht mochte werden, daz der vater von himel sprach oder daz man den sun hie sach, daz nem niemen in seinen muot, wan der geloube wære nicht guot. ez wære niwan ein urdanc. daz sich der hailige gaist swanc, dar man toufte den gotes suon, daz mus er billichen tuon, unt was ouch vil michel recht, wan da man seit seinen chnecht sande Basilium toufte unt in dem wazzer bisoufte, alda wart er ouch gisehen, unt ist vil diche seit geschehen, daz man in iemer ‹in› touben bilde sach. swer icht gutes gitet oder sprach, in des hercen mus er sweben unt enmocht doch nicht bigeben den, der nie dehain sunte gitet noch gefrumte. || Nu habt ir wol vernomen daz, daz der vater nicht was von dem sune geschaiden noch der hailige gaist von in baiden. noch welle wirz baz biwæren, daz si alle dri wæren in geleicher stæte ensant: der vater, der den sun hete gisant, der bewærte wol daz, daz er giwaltic, weise unt gut was. nu wie möht er weislicher getuon, wan daz er die weile, do er, der sun, in seiner muter bouche lac, der werlt als von erste phlac.

690 den. 

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III Text 

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der da ginant ist der weistuom, wie möht er anders gutlicher getuon, denne daz er die maintæten niht verchos unt si als drate nicht verlos, do si den sun viengen unt daz mort an im begiengen unt er vil bærmechleiche uf ze dem himelreiche nach hilfe rief loute harte, daz er ez do sparte unt ez als drate nicht enrach noch ez ungerne sach. da habet in diu gute, diu da was in dem rate, daz er in her frumte, daz er durch unser sunte gemartert muse werden. do der himel zu der erden von des sunes tode erwagte, daz er ez do gehabte, daz ez allez nicht zebrast unt daz diu sunne nicht gar erlasch, diu sich verwandelt hete, da half der weistuom unt diu gute | den gewalt biwarn. ez wære anders allez sant zevarn. diu gute truch im den zorn, der weistum half, daz ez nicht wart verlorn, der gewalt ez vaste habte, daz im diu bewegde nicht schadete. Vil diche erzaigte der sun, daz er den giwalt unt den weistuom unt dar zu die gute vil vollechlichen hete, wan uns von im geschriben ist aller der buche list, den er uf der erde vant; er uberziuhet in allen sant. den gedanchen er widersprach, in elliu herce er wol sach; daz was ein michel weistuom,

716 halt.  716–717 „Da halfen Weisheit und Güte dem Gewalt beim Bewahren.“ 

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 III Text

do er da wider nicht wolde tuon, daz man in stiez unt sluc unt manic scheltwort vertruc; do erzaigte er michel gute, wan er ez wol gewidert hete. er machte girecht die chrumben unt weiste die tumben, den blinden er ir liecht gab. do er sibentousent sat unt vierzic tage was ungaz, do erzaigte er wol daz, daz er den giwalt unt die gute unt den weistuom hete: er was ez eine allez sant. des uns churzlichen ermant der uns disiu wort vor sprach. den hailigen gaist, den man da sach in dem luffte oben sweben, zware, hete den bigeben der gewalt unt der weistuom, daz ist der vater unt der suon, || sone möcht er noch enchunde sich ze der stunde han gebildet ze einem vogele noch mit im sein gewesene da obene. er was ez allez, der da gie. er het ez dort unt hie enbedenthalben so bidacht, den er da her hete bracht, daz den icht geriwe sein chunft, untz er ouch die sigenunft an dem tivel genam, noch daz der vater nie giwan dehain trube umbe daz, daz des sunes armuot so groz was. also bedacht ez der hailige gaist, der sein alles was vollaist unt schuntære, daz an aller slachte swære ez beleiben solde. unt daz er sich da wolde lazzen hœren unt sehen, der warhait sul wir hier jehen zwar: er tet ez umbe daz, daz wir geloubten deste baz an die touffe unt an den gotes suon – wie möht er gutlicher getuon. er wolt ouch dem touffære erzaigen, daz er wære

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III Text 

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daz ware gotes lamp. da mit seit ir des ermant, daz ir drier dehainer von dem anderm nie wart geschaiden. Der nu wære ein boser irrære, der fraget uns ubellichen des, do er diu helfe selbe was, zwiu er daz tæte, daz er so tiwer an dem chriuce bæte? | unt du er zu der marter gie, daz er so harte vorchte die, daz er driu gebet uf ze seinem vater tet, ob er si mochte vervarn, doch er sich selbe biwarn chunde vor sere, wen er do helfe bæte mere? het im diu marter nicht gitan, daz gæb etwem den wan, daz er nicht mensch wære. dem vlaisch was vil swære, swaz er im wider mute erbot, im tet vil wer der tot. do rief er zu der gothait, der nie gebar dehain lait, daz si ez nicht enlieze. daz was ouch recht, daz ez den vater hieze, der ez an im selben da gibar, unt im chlagte, daz im ane schulde war. noch möcht wir vil rede da von phlegen, wan daz wirz ergrunden nicht enmegen. von diu lazze wir ez enceit, wan der herre Salomon quit, ez gebær im leicht michel lait, swer ce vil von der gothait sich wel‹le› an zuchen, unt daz ez in leichte muge verdruchen, der ez gar ervorschen welle. het ich durchvaren den himel unt die helle unt daz paradeise unt wær ouch also weise,

819 wil.  808 Bairisches ‹b› für ‹w›: gewar. 

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835

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850

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860

865

 III Text

als der herre Salomon was, unt chunde, swaz man ie gelas, so enmöcht ich mit dem liste iu daz minniste wort nicht errechen wol, wan ez ist wunders so vol. || von diu sul wir mit mazzen die rede enzeit lazzen. Swer nu ist armes sinnes, daz er sich des dinges berichten niene chunne, der sehe an die sunne, der got daz gegeben hat, daz man sei in manigem ende verstat: si wirt weizze gesehen unt muoz man ir doch hitze jehen. ir ist ouch daz recht gesetzet, daz si truchet unt netzet, swerzet unt weizzet, unt doch ein schein gleizzet. daz tuch blaichet si, daz ez weiz wirt, dem leibe si doch swerce birt. si derret die erde unt daz holz, si zelæt daz wachs unt daz smalz. der disen gewalt der sunnen von erste wolde gunnen, daz si stet an dem himele unt wurchet hie nidene diu werch elliu besunder, so gitaner wunder hat er geschaffen also vil, der siu elliu sant wil ergrunden unt ercellen, in behute got, er muz vallen, wand erz ein wunderlich got ist. wie den hailigen christ dar zuo traip sein barmechait, ze vertilgen unseriu lait, von himel zu der erden, umbe die er geruchte mensch werden, unt umbe wie gitane schulde wir verluren gotes hulde, unt umbe waz er daz tuon wolde, daz er den tot gerne dolde, |

842 truchent. 

95va / 198

III Text 

870

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880

885

890

895

900

905

910

daz er uns da mit nerte, denne daz er werte Adamen seinen val, unt umbe waz er geschuff den, der da sol in der helle ewichlichen sein, unt wie diu armen kindelein daz fuwer haben gechoufet, die da ungetouffet schaident von hinnen, des sul wir nu beginnen. Got het im selben gitan unrecht, het er so geschaffen seinen chnecht, daz er nicht möchte sein gevallen. wider den engelen allen het er verre gitan. wir mugen ouch dar an verstan, daz ez giwesen wære wider den obristen chore, den wir da sulen bowen. verdiene wir in mit triwen. nu vernemt, waz diu werch sein, daz diu armen chindelein die not habent erarnet, daz sich got uber siu nicht erbarmet: si heten mit ir missetæten, ob siz gelebt heten, gechoufet doch die hellen. unt daz diu buoch daz wellen, ez sei um siu also gitan, si wæren Lucifern bei gistan, ob er sis hete gebeten. daz buoch sprichet an genuc steten, daz ein islich mensch lebe, untz nicht bezzers an im werden mege. do got ir chunftigen val gisach – het er do gesehen daz, daz si heten giraten sam die zwelfpoten taten, || ern het siu so nicht geletzet; si heten sich gesetzet wider die gotes hulde. von ir vordern schulde chom ez ein tail, die verworch‹t›en in ir hail

912 ver wrchent. 

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955

 III Text

vil manigen enden hie. si unt alle die, die mit dehainer gernde verwurchent gotes erbermde, die geschuoff er alle umbe daz, daz ez ein volliu zal was. von der gothait was daz vorbisehen, swaz uns solde geschehen oder swie wir giraten wolden. daz wir daz dulten solden, daz was michel grozer recht, denne daz diu gute vorbesicht da gelukket wære. der gewalt het ouch die ere, wolt erz gitan haben, daz er allen unsern schaden wol hete erwendet, so het er geschendet des weistumes vorbesicht unt het im selbe getan unreht. Do der weistuom unt der giwalt unt diu gute waren ebenalt, wes liezen siu daz vorbisehen, daz uns solde geschehen so grœzlichiu ere? si enwære nicht gewesen so here diu hailige weishait, het si elliu unseriu lait des ersten undervarn. der weistuom muz ez allez biwarn unt richten immer mere. so hat der gewalt die ere, | daz himel unt erde, tel‹e›r unt berge, wac unt winde unt daz abgrunde muz im sein gehorsam. im enmac nicht widerstan, im muz dienen der luft. so hatez allez gedingen unt flucht zuo der gotes gute, ob si ze dem ersten heten uns biwart also verren, daz uns möchte giwerren

938 en wæren. 953 gvten. 

III Text 

960

965

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975

980

985

990

995

1000

nimmer nicht mere, so enheten si nicht die ere, die der vater unt der sun hat. het wir ir helfe rat, waz bedorft wir ir denne. ein tail ich dar an erchenne, daz ez wider den giwalt wære, het unser schephære so geschaffen menschlich gislehte, daz ez gevallen niene mechte, noch daz im nicht mochte geschaden; so möht er ouch giwaltes niht haben, mit uns ze tuon, swaz er wolde. von recht ez wesen solde allez, daz nu ist. uns hat der hailige christ da mit ze freitume bracht, unt hat doch sein recht bidacht. Daz ez gewesen wære wider den obristen chore unt wider den engeln allen, ob nicht mochte sein gevallen unser vater Adam, daz wirt uns hie uf gitan. do die engel got verliezen unt sich selben verstiezen || der micheln eren, da si zu geschaffen waren, do stunde der zehende chor lære unserm schephære daz erbarmote unt die gotes gute, diu in seit von himel treip. so mant in des sein weishait, er het vil wol vorbisehen, daz den engeln geschehen sumlichen wære. in bat sein guote, daz er icht lære den chor lieze durch ir missetat. in gab sein weishait den rat, diu allez dinc richten sol, ob er der engel val wol wolde ersetzen, er solt im selben einen sun schephen, vrien seines muotes, der des selben guotes mit dienest uf der erden wirdic solde werden,

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 III Text

e er den stul besæzze; ob er gotes vergæzze, ze dem tivel gevienge, daz daz so ringe ergienge, daz der chor lære bestunde nimmer mere durch dehainer slachte dinc; swenne ez elliu seiniu chint hie vil wol biwarte‹n›, daz er siu denne furte an der engel stat. sein gute in des bat, daz er in daz paradeise gæbe ze einem house, unt lieze in dar inne daz dienst so ringe, | daz er so sanfte tæte; nichtes er in bæte, wan daz er wære gehorsam. hete got des nicht gitan, so het er dem obristen chore geminneret sein ere, diu dem nidristem was gitan. ob er geschaffen wolde han menschlich geslechte, daz ez gevallen niene mechte, er‹n› het in seines schaden wol ergetzet, wan er was besetzet mit frien bowæren, e er gestunde lære. wie möcht wir daz gearnet haben, daz wir so hoh‹e› wæren chomen, daz der zehende chore, der obriste, wære uns ce haimute gegeben, daz wir da solden immer leben den engeln geleiche, die da vil vrileiche heten ir selber chur unt in da nicht salten fur, si enwolden gotes willen tuon. umb daz gab er uns den frituom, ob wir sam tæten, daz wir geleichez recht hæten ze seinem reiche.

1025 den. 

III Text 

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1055

1060

1065

1070

1075

1080

 61

er het ouch wærleiche wider die engel gitan, die in danches wolden bistan. nu hat ers alle biwart, daz ir mit ir vollaist vart in den obristen chor. † daz sant Peter dar in fur, daz endoucht sant Michhel niht umbillich, wan ir zwaier arbait waren ungeleich. † || Do der genædige got also bidachte sein lop umb unser ewigez hail unt do der engel ein tail geviel von seinem reiche, do volget er gutleiche dem rate seiner weishait. nicht lenger er enbait, als er den chor leren sach, willechlichen er do sprach: „einen menschen sul wir schephen, den val da mit ersetzen, den die engel hant gitan, daz si die selben wunne han.“ do geschuff got von himele nach sein selbes bilde unsern vater Adamen ze michelen genaden unt ze michelem haile uz einem blœdem laime. er blis im seinen gaist in, daz er ewic solde sein. die fumf sinne er im gab,

97ra / 201

1070 erſetzet. 

1050–52 Zu lesen als: „Er hatte auch richtig (wahrhaft) gegen jene gehandelt, die ihn freiwillig bekämpfen wollten.“ Das bedeutet, Gott hätte nicht nur den treuen, sündelosen Engeln ein Unrecht zugefügt, sondern auch den gefallenen, wenn er den Menschen so geschaffen hätte, dass er zu keiner Sünde fähig wäre. Neuschäfer geht von beistan aus und konjiziert zur gegenteiligen Aussage. beistan müsste in der Handschrift allerdings eher *beiſtan geschrieben sein, statt überliefertes biſtan mit schwachem Nebensilben-i. Zu einer weiteren Lesart vgl. Teuber, 1899, S. 284, der ebenfalls von beistan ausgeht. 1056–1058 Die Konstruktion lässt sich halten, wenn man exzipierendes wan („außer“) annimmt; inhaltlich-theologisch bleiben die Verse aber problematisch. Daran scheint auch Neuschäfers Konjektur von umbilleich zu () billeich wenig zu ändern. 

62 

1085

1090

1095

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1120

 III Text

dehaines dienstes er in bat, wan daz er gerne tæte. er gab im haimute in dem paradeise, daz er‹n› ce iglicher weise mit den engeln loben solte. daz er in da vor wolte alreste schephen unt denne drin setzen, daz entet er nicht ane sache. swie lait man uns ez mache, er het ez vil tieffe bidacht. ez het uns alle in not bracht, hete got der weise in dem paradeise | der geweichten erde genomen; der mensch wær uz im selben chomen. swaz er guotes an im funden hete, des er der gotes gute dehainen danc hete gesagt; von seiner frumechait het erz gehabt. des wær wir doch verlorn, het Adam daz obez gar verborn. do der chunic seinen sun gewaltic wolde tun alles, des uf der erde ist, do zaigt imz der hailige christ unt sprach: „ditz si dir Adam allez samt undertan, niwan einen boum mein, der sol dir verboten sein, dar an izzest du den tot.“ daz er uns daz obez verbot, daz behielt uns allez daz guot, daz er uns immer getuot. zwiu tet er daz gebot der vil genædige got, do er daz wol vor sach, daz Adam cebrach unt sich dar an verworchte? ern tet ez umbe daz nicht, daz er sein bedorfte oder daz erz ce icht wolte. der mensch der solte

1100 daz. 1109 ſider.  1120 daz < daz ez. 

III Text 

1125

1130

1135

1140

1145

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1160

1165

mit dem wenigem gibot sich so haben gleichet got, daz er dar nach wære gefuret uber die niun chœre, die der frien engel vol sint. er tet ez ouch durch ein ander dinc, daz uns micheler nutzer was, wan er wol wesse daz, daz im der herre Adam nimmer so gehorsam || wurde an dehainem gibot. do daz unser herre got vil wol besach, daz des dehain rat was der mensch der enviele, do riet im diu liebe, die er ze uns hete, daz er dem tievel stat tete, daz er menschlich geslechte wol gevellen mechte: ob wir in widersten wolten, daz wir haben solten ze varn dester bezzer recht uber die engel, die nicht anvecht wan ir eigen hohvart, diu in ouch ce laide wart. unt ob uns der tievel betruge zu dem valle mit seiner luge, der uns doch da chumftic was, daz wir möchten dester baz gewinnen die widervart. allen weis hat er uns biwart. wær Adam gevallen durch seinen muotwillen ane schuntunge, unser dehainer der gewunne nimmer gotes hulde. daz der engel schulde ane schuntunge ergie, des verwarf er alzoges die immer ewichleiche von seinem himelreiche. An aller der geschefte, die got geschuff mit seiner chrefte durch menschen geslehte,

1128 niwn. 1132 ez. 1164 al cegoteſ. 

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 III Text

dar under ern mechte nicht vinden so gitanes, daz dem herren Adames | iender wære geleich, ezn wær im ungevellechleich. do sant er im den slaf an. ein rippe er von im nam, dar uz schuoff er ein weip. diu zwai solden wesen ein leip. do Adam erwachte, do saz er unt lachte. frœlichen er do sprach, als er daz wip ane sach: „wol dir, herre, du bist guot. daz ist mein vlaisch unt mein bluot u‹n›t mein gebaine. ungerne was ich aine.“ do hiez er Even daz wip, diu uns allen doch seit half ze grozer not durch des tievels rat. Disiu rede ist wunderleich, sist iedoch der warhait geleich. iedoch hat einer der von geschriben, ern werde wider getriben von etwem seiner worte, daz uns betrubet harte. wes gihet er dar umbe? er chiut, daz si got in einer stunde beschuoff bediu ensampt, daz irn wederz chom in sein hant unt er hiez siu bediu Adam. daz git dirre rede einen michel archwan, die wir da vor haben gesagt. swer den streit habe behabet, so volge wir dem buchstabe, der ez sus her bracht habe, der da wil, daz Adam, do got daz wip von im nam, so weise wære, daz er ir den namen gæbe || unt aller der geschefte, die got mit seiner chrefte im hete gemachet undertan.

1175 in. 1201 fvr. 

98ra / 203

III Text 

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vil dicche ich vernomen han von wol gelerten phaffen, er hab den man zwir gischaffen unt daz wip dristunt. so tet mir mein maister chunt. daz sult ir also verstan: e der herre Adam ie gebildet wurde, do geschuff got ein erde unt uz der erde den man. zwai geschefte waren do gitan. do was daz diu drite, daz er dem manne nam ein rippe, dar uz macht er ein weip. fur war uns daz buoch seit, si haizze ‚virago‘. nu horet, wie si gevielen do. Den tivel muote der neit, daz der man unt daz weip den stuol besitzen solte, dannen in sein ubermuot valte. do er daz wolde wenden, er troute den man nicht geschenden, durch daz er nach got gepildet was. vil wol sach er an im daz. durch daz bestunt er daz weip, daz die got het seit geschaffen nach dem manne. alzogis von danne was er ir brœde gewis unt versach ouch sich des, daz er sei dester leichte‹r› verriete, daz si nicht vernomen hete, daz im got daz obez verbot unt im da von gehiez den tot. | nu sten ich an einem dinge, daz ich enwaiz, wie ich fur bringe einen streit ze einer warhait: sumlichen phaffen ist daz lait, der daz sagt fur ware, daz der tievel wære in dem paradeise. die nu sein so buochweise, die widerreden ez, ob si megen.

1216 zwier. 1223 uns. 

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 III Text

ich horte meinen maister reden, daz er in eines slangen weise chœm in daz paradeise zu dem weibe gegangen. der tivel uz dem slangen sprach, zwiu si daz liezze, daz si nicht enæzze daz obez, daz ir verboten was. do sagte si im daz, daz ez ir verboten wære von ir schephære. wie sol disiu rede zesamne chomen, daz ir von uns habt vernomen, daz si da nicht wære, da unser schephære im daz obez verbot unt daz si sich selbe an not hat doch so vaste angezogen? er wæne, ich gar habe gelogen. wir wellen daz nicht fur luge haben, war zu solde wirz iu danne sagen, so wær ez bezzer verdagt. ir möcht ez der man haben gesagt. unt gewuc aber er ir sein nie zuo, so was ez ir wol verboten duo, do daz got wolte, daz man unt wip ein leip wesen solte. Der ubel tivel was so charc, der sich da in dem slangen barc, || untz er daz wip betorte, daz er wol horte an dem ir gichœse, daz ir herce was bœse. do sprach der tivel uz der slange: „dir unt deinem manne wil ich sagen den list, umbe waz iu daz obez verboten ist. er verbot ez dir umbe daz, daz im wol chunt was, swie schier du sein enbeizzest, daz du als drat wizzest bediu ubel unt guot.“ des weibes getloser muot sich sa wandelen bigan, michel wunder sei des nam, waz daz ubel wære. die gaistlichen sele gab si dar umbe,

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III Text 

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daz si daz erfunde. ein tail si ez widersaz, ze dem wurme sprach si daz: „der uns daz obez verbot, der sprach, daz uns der tot da von chumftic wære.“ „daz la dir sein ummære“, sprach aber do der slange, „daz ret‹t›e er von danne, als ich dir gesaget han; du wirdest als got gitan, swie schier du sein gizzest. fur war du daz wizzest, dir werdent elliu dinc chunt.“ do geriet aber der ubel hunt, daz si gie, da si den boum sach, unt des obes dar abe brach. als si ez in den munt ginam, zehant begraiff sei diu scham. | ein loup si fur sich brach, wan ir uf gitan was die sunde mit der schande. des si e nicht erchande, daz was ir do gewizzen. diu arme was enbizzen ze michelen riwen. der grozzen untriwen der het si engolten, daz si chomen wolte uber ir schephære. ein burde vil swære hete si uf sich geladen, als wir si noch hiute tragen. zehant erzaigte sich der neit. harte vorcht ir daz weip, daz si dem manne wære immer mer ummære unt erbunde im des, daz er dannoch was raine unt unschemlich. daz er ir wurde geleich durch daz verriet si den man, als sei der tivel hete gitan, unt trug im daz obez zuo. vil harte erchom er do,

1334 wolten. 

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 III Text

als si ez gegen im bot, wan er vorchte den tot, der im da von gehaizzen was. do verriet in daz, daz si ouch nicht enstarp, wan ir daz selbe gehaizzen wart. von diu gevolget er ir bet, daz ouch er daz selbe tet, daz si hete gitan. do waren si ungehorsam worden bediu ensant. ein wunnechlich giwant || het in der tivel abgezogen. er het siu bediu sampt betrogen. Do si daz obez gazzen, do musen si lazzen die wat der unschulde. si heten gotes hulde gerlichen verlorn unt wol verdienet seinen zorn, der vil starche uf siu ergie, wand erz immer seit engelten lie ir afterchomen alle von dem selbem valle, wie hoh er alle die hat bracht, die seit dar wider habent gidacht. ein lutzel uber mitten tac unser herre dar trat uz dem himelreiche in daz paradeise unt suchte den man, an dem was gevallen san diu sunne des rechtes. diu schulde seines chnechtes was im vil wol chunt. im erbarmte, daz in der ubel hunt sus hete betœret, daz er het uberhœret seines schephæres gibot. dristunt er chot: „wa bistu Adam? machtu her zu mir gan?“ als er ze dem dritem mal sprach, der da vil schuldic was wider seinen herren, er erschamte sich vil sere. ein loup er fur sich brach, daz eines ölboumes was,

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III Text 

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da er engegen im gie. er sprach: „herre, ich bin hie. | do ich dein stimme vernam, do begraif mich diu scham.“ des antwurte der ware christ: „wa von waistu, waz scham ist? hastu daz obez gaz?“ vil wol ez im giwizzen was. doch vragt er sein umbe daz, daz diu seine gute gern vernomen hete, ob er riwe wolde haben. der arme begunde sich entsagen, den schilt er fur sich bot. da mit chouft er uns den tot unt verlos uns gotes hulde: alle seine schulde wolt er uf got haben gezogen. er sprach: „mich hat daz wip betrogen, die du mir, herre, gæbe.“ recht als ob er spræche: „ich wil vil unschuldic sein. daz du mir gæbe daz wip, des sint die schulde dein.“ der genædige got ze dem wibe do chot: „wes riet du daz dem manne?“ si sprach, daz irz diu slange hete geraten. do sprach er also drate: „der muzze ze unlusten gen uf den brusten hinne fur uf der erde. diu vientschaft diu werde under weiben unt under slangen unt muz ouch vil lange under in zwein gesten: swa‹s› ein ander wider gen, da rament die slangen mit zagel unt mit zungen dem weibe der versen. unt ob der wurm werde || geruret von dem wibe, daz geloubet, mit der versen an daz houbet, sa ce stet lige er tot.“ noch ist ez als ez got gebot.

1404 wæiſtuͦ . 

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 III Text

e was der slange, daz ist uns gesaget lange, ein vil herlich geschafft unt hete die chrafft, daz er ufrechter gie. fur daz er den vluoch enphie, do lag er uff dem bouche zesamne gelochen. Do er sich an dem wurm gerach, zuo dem wibe er do sprach: „ich gemanicvaltige deiniu lait. d‹u› must laiden arbait hinne fur immer mere. deiniu chint gebirst du mit sere under dem gewalte deines mannes.“ zu Adam e‹r› sprach affter des: „verfluchet sei diu erde in deinem werche ze unwerde, diu muz dir gebern distel unt dorn. hinne fur du muzzest swaz so du nutzest mit swaizze gewinnen, ob du deines weibes stimmen mer hast gehorsamet denne mir. nu setze ich die arbait dir, untz du ze einer erde werdest unwerde. du bist ein erde unt ein stoub, dar zu mustu werden ouch.“ owe wie er sich rach. ze laide er im do sprach: „nu ist worden Adam als unser einer gitan.“ | so sprach er umbe daz, daz er dar umbe was worden ungehorsam, daz er wurde gitan als sein schephære. wir versten, daz diu rede wære gesprochen in schim‹p›fweise. fur daz paradeise er siu bediu samt stiez, einen engel er do hiez,

1478 Do. 

III Text 

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der was gehaizzen cherubin, daz er sei dar wider in dehainen weis icht liezze. er sprach, ob er gæzze daz obez, daz des lebens wære, daz er danne wære immer mer untœdlich. daz was diu vil geleich, als ob in erbarmote, ob der mensch in der note immer me ligen solde, unt daz ers nicht enwolte. ez wær uns gewisse ein michel not, erloste unser sele der tot uz disem ellende nicht, wan in daz ewige liecht gebirt er die rechten, swie harte wir in furchten. Die tur man biwarte mit einem fiurinem swerte, untz ez der schacher dan huop des tages, do got sein bluot an dem chriuce uz goz, da er uns die porten mit entsloz, als si uns hiute offen stat, einer ieglichen sel, diu gern dar in gat. wir giengen alle gern drin, da muz aber mer bei sein || den ein also reichlich ganc. den stouf, den er da hie tranc der genædige christ, ob uns daz erbe lieb ist, des muz wir alle bichorn oder wir haben ez immer verlorn. nu mag iu wol erbarmen, daz dem vil armen, dem e nichtes gibrast unt dem diu ginuchtsam was gegeben aller ding, daz er muse gewinnen mit dem seinem swaizze choum unt agelaizze, daz er ernerte den lip. er erwante daz vil wol sit. der tivel, der in da bitrouc, daz er vil gar louc, er gehiez im ubel unt guot; der het er vil unt genuc

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 III Text

beider erchunnen. einen sun si gewunnen, den hiezzen si Cayn. er muse in wol sein in den ceiten vil liep. doch er ubel geriet. Got lobten si umbe den sun, schier gewunnen si einen der zuo, den hiezzen si Abele. do si got bede affter manigen tagen dannen ir opher solden bringen, Abel was ein guot man: uz allem seinem vihe er nam daz aller beste lamp, daz er inder dar under vant, got er daz brachte. jener wirser gedachte, | der da elter was: seine garbe er uberdrasch, do er sei got wolde bringen, dem wir da nicht verhelen megen. ir baider herce er ansach. dem einem er do zu sprach, so uns diu schrifft chundet: „Cayn, du hast gesundet. des sol in gistillen. deines bruoder willen chumt vil hoher uber dich, des opher enphah ich.“ daz was Cayn lait, daz got sein opher vermait unt ze dem Abeles sach. vil starche er ez uber in rach: ze tode er in dar umbe sluc. do gemailte daz bluot die magetrainen erde, daz der gotes werde vor seinem bruder uz goz. daz mort was michel unt groz. Do er do gefrumte die michelen sunte unt daz vil michel mail, der ware got im erschain

1562 in > ich in. 

III Text 

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dar nach vil schiere unt fraget in, wa wære Abel, der bruder sein. des antwurte im Cayn, ern wesse, wa er wære, ob er ein hutære seines bruder solde sein. „waz hastu gitan, Cayn?“ sprach der vil ginædige christ dem nicht verholen ist, „diu stimme deines bruder ruffet vil loute || blutige her zu mir. waz het er gitan dir, daz du in mortlich hast erslagen? diu erde, diu da enphangen habe daz bluot Abeles, diu muzze hinnen fur des immer mer verfluchet sein.“ do sprach der arme Cayn: „meiner sunde ist so vil, daz ich engetar noch enwil nimmer gesinnen, daz ich antlaz gewinne, so groz ist mein unrecht. hiute wird ich armer chnecht verworfen, herre, von dir. nu waiz ich, herre, daz ez mir an zweivel muz ergan, seit ich dein hulde verlorn han. swa ich nu gen aine uf der wilden haide, da erslecht mich mein eigen chunne.“ do sprach diu gotes stimme: „daz wære mir nicht liep. doch widerrede ich ez nicht, dir enwerde vil we uf der erde, diu in enphie deines bruder Abeles bluot. unt ist aber iemen, der ez tuot, des lait sibenvaltig ich, swer so erslehet dich.“ ane sache sol ez nicht sein, daz der arme Cayn verfluchet von got was,

1619 ienemen. 

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1665

 III Text

daz er doch disiu wort sprach, swer so in ersluge, daz uber den muse so michel rache ergan. dar an mug wir verstan, | daz er des nicht enwil, daz iemen den andern so vil ze laide gitan habe, daz er in durch daz erslahe. vil gerichtes wil er selbe phlegen unt daz wir ein ander vergeben. Der arme schiet dannen. so wart er bivangen mit der missetriwe, daz er rechte riwe nimmer mer giwan. eine chonen er im ginam, ze meren daz geslechte. etwer nu mechte fragen, wa wære dannoch daz weip. da was ez ein vil lange ceit von Cayns geburte, e von im wurte sein bruder Abel † geborn †. ez möchte werden geborn vil manic mensch under diu, wand Adam driu unt sechzic chint gewan. der waren driu unt dricic man, daz ander waren allez wip, die gewan er e unt ouch seit, so diu schrift in genugen steten wil. der buoch ist ouch vil, die der zal nicht enhabent, als uns die buchstabe sagent. daz hat nu dirre buchstab, daz Adam vil manigen tac affter diu wære mit laide unt mit sere so harte bivangen, daz er von dannen

1648 Vermutlich durch Augensprung doppeltes geborn. Der Kontext verlangt ein Wort, das im weitesten Sinne ‚töten‘, ‚ermorden‘, ‚erschlagen‘ bedeutet und dabei den Reim auf geborn herstellt. Neuschäfer konjiziert passend verlorn. 

III Text 

1670

1675

1680

1685

1690

1695

1700

1705

alzogis seine chonen mait. so ummæzlichen lait || was im der Abeles tot, untz im‹z› got verbot. seinen sun er im wol galt: do er hundert jar alt wart, do gewan er daz beste chint, daz er e oder sint ie gewinnen möchte. von des geslechte wart der gotes sun giborn unt verswente den zorn, den got ze dem menschen ie giwan. er wart ein vil sæliger man, den hiezzen si Sethin, vil michel vriude si hetin. after des lebt Adam, unt‹z› er in gewan, acht hundert jar, daz sage ich iu fur war. Einen sun er do gewan sam der verworchte man, den hiez er Enos. ein stat er im chos durch des chindes liebe. do cimbert er schiere ein burch lussam, die hiez er alsam den sun. des wæne wir aller beste. daz wære diu erste veste, diu uf der erde ie gelac. dar nach lebt er manigen tac Cayn der verworchte man, untz er einen sun gewan, der hiez Girat, so ez der buchstabe hat. von des chindes chinde wart daz unbilde an Cayn errochen, von dem wart er erschoz‹z›en, | der hiez Lamech. got im die gabe verlech, daz er mit dem bogen wol schoz, untz er vor alter verlos

1666 ſeinen. 1677 versvente. 1691 ſcimbert. 

101ra / 209

 75

76 

1710

1715

1720

1725

1730

1735

1740

1745

1750

 III Text

vil harte sein liecht. er tet ez seines danches niht, daz er Cayn erschoz. fur ein tyer er in chos, da er in einem boschen saz, als im von got ertailet was. wie mochte daz sein, daz der arme Cayn seinem sun eine burch worchte, do er im so harte vorchte, fur daz er den fluoch enphie, daz er immer mere gie in dem stoudæhe, daz in iemen sæhe, von dem er würde erslagen? si mochten wol holz haben. unt waren die liute so starch, daz man schiere michel werch der mit fur cherte, als in etwer lerte, so möcht ez wol frumen sein wip. nu churce wir ez enceit. wir mugen ez allez nicht gesagen, genuc muze wir sein vertragen. die do wurden giborn vil sere si den gotes zorn teglichen choufften, untz er‹s› muse bisiufften in der sinfluote. mit maniger ungute triben si in der zuo, daz in mus riwen du daz er den menschen ie geschuoff. ein rechter man do wuchs || in Set‹h›es geslechte, der wart durnechte mit allen seinen siten guot. sein † † sich ouch ane hup wol in manigen enden hie, wan got mit im manige wunder bigie.

101va / 210

Er was gehaizzen Noe. do daz wazzer vil we tet allem dem, daz der was, vil wol er genas

1747 Hier fehlt ein Teil des Subjekts; die Handschrift hat keine Lücke oder Hinweise auf ein fehlendes Wort. Neuschäfer ergänzt passend sein lop. 

III Text 

1755

1760

1765

1770

1775

1780

1785

1790

1795

 77

seiner gute: er nicht engalt. do er wart fumfhundert jar alt der got liebe man, drei sun er gewan. der hiez einer Cham. der ander hiez Sem. der drite hiez Japhet. von in allen drin stet michel wunder geschriben, wie siu got wolde gefriden mit veterlicher gute in der sinflute. nu welle wir iu mer sagen, als vil so wir mugen, wie si choufften den gotes zorn, daz er lie werden verlorn alle die der waren, wan die da ginaren in der Noes arche. er rach sich vil starche, do si ez brachten der zuo. zwai geslechte waren duo: daz aine hiez diu gotes chint, si liezzen in sumliche sint des vil ubel geniezzen. die andern die hiezzen der menschen chint, harte mischten si sich sint | mit ir hiræte. daz eine chom von Sethe, daz ander chom von Cham. † den gotes chinden an gewan diu wip wolgetanen † si machten, daz si namen chonen in daz verworchte chunne. diu chint, diu si da bei gewunnen, die verwurfen gotes gibot. ir schephæres lop hazten si vil sere; die vluhen götlich ere. vil maniges si sich underzugen, da si sich selbe mit betrugen unt ouch got vermanden. in allen den landen wart daz unrecht so groz,

1781 Rasur an si, ursprünglich sie.  1785–1786 Die Verse sind so nicht zu verstehen. Neuschäfer konjiziert passend an zu er. 

78 

1800

1805

1810

1815

1820

1825

1830

1835

 III Text

daz si got von recht verlos, wand er vil manic mail sach. durch not er do sprach, daz sein gaist mechte in der menschen geslehte gewonen nicht mere. in gerou vil sere, daz er siu hete gischaffen. des wære so vil erwachsen, des nicht wesen solde, daz er vertilgen wolde allez, daz do wære, daz nichtes nicht ginære. Diu wort sprach er Noe zuo unt hiez in du unt hiezze in wurchen ein arche michel unt starche, diu ringes holzes wære, da er selbe inne genære. er gab im die mazze, daz er sei solde lazzen || fumfhundert chlaffter lanc. hiez er lazzen die tur dar in. er sprach, daz si solde sein fumfzic chlaffter tieff, † dreizecher † er hiez si lazzen vollechleiche. stiege unt venster reiche unt chemnate hiez er im drate wurchen genuge. er schuff, daz er gifuge wol verworchtiu venster, si bestriche mit chlenster, hiez er lazzen oben in. er sprach, der vierst sol sein einer chlafftern brait. nicht langer er do bait.

102ra / 211

1813  f. Neuschäfer tilgt hier das unt hieze (1814): unde hiez in duo | () wurchen eine arche. Die Handschrift gibt keinen Hinweis auf einen Fehler an dieser Stelle. Augensprung von 1814 auf 1813, was die ‚Doppelung‘ erklären würde, scheint unwahrscheinlich: vnt hiez (1813), vnt hiezze (1814). Ob 1813 einen (erträglichen) Sinn bietet, wäre zu fragen. 1825 Was das dreizecher der Handschrift bedeuten soll, ist ungewiss. Neuschäfer konjiziert zu: dreizec chlafter hoch. 1831  ff. Die Reihenfolge der Verse scheint falsch. Neuschäfer ordnet daher: 1831, 1833, 1832. Ob diese Maßnahme nötig ist bleibt zu fragen, da die mhd. Syntax lockerer gefügt ist, als moderne Lesegewohnheiten erwarten lassen.  

III Text 

1840

1845

1850

1855

1860

1865

1870

1875

 79

zwainzic jar dacht er der zuo, vollechlichen er sei duo zehenzic jar worchte, wan er daz wazzer vorchte. unt do ez wesen solde, daz got erzaigen wolde seinen zorn vil starche, do hiezze er in die arche Noeen so vil tragen, daz er dar inne möchte haben wol ze einem jare speise. im gebot ouch got der weise, daz er dar in solde nemen seine sun unt ir chonen. er hiez in dar in gewinnen aller lebentiger dinge ie sibeniu unt sibeniu unt sprach, daz diu elliu rein solten sein. er hiez des unrainen drin | ie zwei unt zwei setzen. nu liset man uns an einer letzen, daz diu rede geschæhe vor dem sintwæge siben tage vor unt nicht mer. ze michelem wunder muzze wir iu ez sagen nuo, wie er diu tyer elliu duo so gahes gevienge, want siu dannoch gienge‹n› uf der wilden haide in vil weiter spraide. Nu habent genuoge den streit, daz er lenger ceit dar zuo muse haben. daz welle wir iu widersagen. wir sulen noch enmegen daz nicht widerreden, im enhulfe vil wol daz, daz er sein waidegeselle was. der si ouch solte erneren,

1876 in.  1867 Rasur an gienge, womöglich um den Reim auf gevienge (1866) herzustellen; das n ist noch erkennbar. 

80 

1880

1885

1890

1895

1900

1905

1910

1915

1920

 III Text

dem möchten si sich nicht erweren, er entribe si im elliu cehant, da er siu vor der arche vant. do er do ieglichem stat in der arche gegab, got selbe zuo sloz. do wart ein weter vil groz. si taten die urspringe uf, elliu wazzer giengen uz, der himel vinster gewan; starche ez regen bigan vierzic tage volle, daz die berge alle stüenden in dem wage so tieffe zware, der der hœhiste was, daz des nicht gibrast, || ezen gienge dar ubere, da ist nicht widere, fumfzehen chlaffter tieff. daz in got da gehiez, daz muos in alle volchomen. wir haben des nicht vernomen, daz icht des genære, des uf der erde wære, wan daz got dar inne bisloz. vil weiten diu arche vloz in der sinflute, sei truc diu gotes gute. Do daz wazzer seigen bigan, diu mensch wunder genam, die da genaren unt in der arche waren. Noe do sande, wie ez stüende in dem lande, uz ze boten einen raben, daz im der wider solte sagen, wie ez stünde in dem reiche. do tet er bœsleiche, daz er nicht wider cham. eine touben er do nam unt sande ouch uz die, diu was ein guot vogel ie, diu chom des selben tages widere mit müedem gevidere.

1887 vͦ z. 

102va / 212

III Text 

1925

1930

1935

1940

1945

1950

1955

1960

1965

 81

ich enwaiz, wes sei genære, oder wa si gevlogen wære, si möchte sich nicht gesetzen, sine wolde sich netzen. er ‹e›nthielt sich aber danne siben tage lange, untz sich der wac baz zeliez. die selben touben er do hiez uz varen aber sa. do vlouch si, unz, ich enwaiz wa, | si einen ölboum sach. ein zwei si dar ab brach, daz brachte si im do. des wurden si vil vro. an dem zwei er wol sach, daz gesigen was der wach, da siz da hete gebrochen. dennoch baitet er ein wochen, untz ez baz geviele. wa diu toube entwiele oder durch waz si daz liez, do er si ze der driten stunde hiez uz varen nach mære, si widersagt im nicht mere. ich wæne si sein vergaz, do si so chaltiu gesaz an die warmen sunnen. rechte wir enchunnen iu dar umbe nicht gesagen, wan‹s› do in den selben tagen nicht hin wider quam. michel wunder in des nam. do brach er obene daz dach, selbe er do wol sach, wie ez stüende in dem lande. daz er got erchande, des het er vil wol ginozzen. diu arche was entslozzen. do gie uz unt chras allez, daz dar inne was, an die suzzen waide. trucchen was diu haide.

1924 waz. 1946 mere. 1948 enwæne.  1943 entwiele wohl von entwalen swV („verweilen“), das hier stark flektiert wird (vgl. MWB I, 1744 mit weiteren Hinweisen zu möglichen Verbindungen zu entwellen oder twalten). 1962 kresen stV. 

82 

1970

1975

1980

1985

1990

1995

2000

2005

 III Text

do daz wazzer vervloz unt got die arche entsloz, do schuf der hailige christ dem speise unt [ ] wist, den da seine gute untz her ernert hete. || er hiez im bowen die erde, daz im dar uff wurde genuchtsam alles guotes, unt hiez im des bluotes mit dem vlaische nicht ezzen, daz er solde wizzen, daz des vihes sele in dem bluote wære, unt alle die ez ezzen wolten, die musen in die sel gelten.

103ra / 213

Da het dem herren Noe daz wazzer gitan so we, daz er nicht wolte bowen. er mocht des nicht gitrowen, daz [ ] mit fride wære vor dem sintgewæge diu werlt immer mere. do gehiez im unser herre, unt muos ez halt vil vaste loben, do sant er im den regenbogen ze einem urchunde, daz er mit wages unde diz werlt nimmer mer verlur. als dicche als er daz zaichen chur, daz er dar an gedæchte, daz er im gehaizen hæte, daz er uns mit der sintfluot nimmer mer lait getuot. owe der hailige christ, wie vollechlich er doch gut ist, daz er so phlegte seinen schalch. wie vlaizechlich er im bivalch, daz er worchte ein altare unt im dar uff gæbe alles seines gutes tail. do huop sich erste daz hail, daz man chirchen bigan.

1969 vnt vnt. 1971 ernerte. 1986 Daz ez mit. 2002 vlegte.  2007 Ob hier ein Verb chirchen angesetzt werden kann, ist fraglich. Neuschäfer ergänzt bûwen. 

III Text 

2010

2015

2020

2025

2030

2035

2040

2045

2050

Noe was gehorsam | als verre, so er chunde, bowen er begunde. er phlanzte weingarten. do die ze nutz wurden durch den seltsæmen smac, so man si wol cihen mac unt in diu schrifft in genugen steten wil, do tranc er eines tages so vil, daz im den rechten sin binam unt daz den guoten man der slaf so vaste begraif, daz sein wat von im entslaif, daz er schemlichen lac. sein sun Cham daz ersach, er‹n› wolt in wecchen er wolt ouch in nicht decchen, er wolt ez ouch nicht verdagen, sunder er wolde sagen seines vater schande. seine bruder er bisande, daz si das musen sehen, wie ir vater wære geschehen. daz tet er im ce laide. si dachten in baide vil getriulichen unt als im begunde weichen der trunchenhait ungimach, do wesse er wol dar nach, wie si heten gitan. er sprach: „mein sun Cham der muzze seiner bruder eigen sein, die da bedachten die schame mein.“ von dem wurden die schalche giborn, wan si heten wol gearnet seinen zorn. Nu welle wir iu einez der under sagen, daz wir iu da vor bewæret haben mit manigen urchunden, da wil ich ze disen stunden || sumlichez her wi‹de›r reden. wir ensulen noch enmegen des nicht gelouben,

2029 seinen bruder. 2036 Div. 2042 den.  2018 daz < daz ez. 

103va / 214

 83

84 

2055

2060

2065

2070

2075

2080

2085

2090

2095

 III Text

daz mit vlaischlichen ougen ie dehain man sæhe got. weder do er diu wort wider Noe chot oder inder an dehainer stet. die rede, die er mit Adam tet in dem paradeise, unt mit Cayn dem unweisen unt mit Abelen, daz was nicht mere, wan daz ein engel in erschain. nie gesach ‹in› ir dehain. Elyas unt Enoch, die er dar zuo zoch, daz er siu noch bede mit leibe unt mit sele hat bihalten, swa er wil, die engesahen in nie als vil do oder seit. Abraham unt Davit die gesahen in nie. solt in iemen sehen hie, daz het Moyses gitan, von dem ich wol vernomen han, daz er in vlaizechlichen bat, do er im die e gap, daz er sich in sehen lieze. nu sprichet daz buch, er hiezze hin hinder einen stain sten, da er gahes fur wolde gen, daz er nach im sæhe. daz buoch sprichet, daz im got verjæhe, in enmöchte niemen gesehen, im enmuse da von lait geschehen. Daz tet der herre Moyses. seine varwe verlos er des | unt wart so rechte liechte von der selben gesichte, daz von im gie ein schein sam zwai horn fiurein. obe im ‹daz› da von geschach, daz er nie nicht ensach wan einen blic durch einen stain, nu werdet rechte des enein, waz dem wære geschehen, der genzleichen hete gesehen

2060 im. 

III Text 

2100

2105

2110

2115

2120

2125

2130

2135

alle seine magenchrafft. wærlich, die engisach sant Peter noch nie weder dort noch hie ern getuot noch nie gitet e als manchunne erstet. si sehent in denne michel baz denne die engel, geloubet daz, die in da immer sulen loben. † als in die ubel habent erzogen, † also sehent si in da. nu möchte etwer sprechen, wa si do ie wæren, daz si sein nicht sæhen seine troute alle. der daz ervinden welle, der vorsche nach der stet, da von sant Paulus ein rede tet, der grozze lerære. daz er ez selbe wære, des zoch er sich nicht an. er sprach, er wesse einen man, der dar gefuret wære, da er horte unt sæhe so gitane wunne, von der menschen zunge nicht möchte gesagen. da mugen si sich wol zuo haben, || die dar nach vragent hie. daz aber er des ie iemen verjæhe, daz er got selben sæhe, des habe wir nicht vernomen. die dar sint chomen, die sint vil wol bihalten da unt ouch anderswa in dem gotes reiche, da er selbe tegleiche ist ir fur unt ir friude. in seiner bischiude da mendent si sich inne.

 85

104ra / 215

2108 So. 2136 menn ent.  2105  f. Syntaktisch korrekt, aber unverständlich. Die Handschrift zeigt keine Spuren von Verderbnis an dieser Stelle. Neuschäfer konjiziert unter Verweis auf Scheidweiler: als in die nebel habent bezogen | also sehent die in da. 

86 

2140

2145

2150

2155

2160

2165

2170

2175

2180

 III Text

so si jene her nach sulen gewinnen, so habent si sein noch nicht gesehen. swer icht anders dar umbe wil jehen, des antwurt wir im enceit, so wir vernemen seinen streit. Er hat ein tieffe rede gitan ze diu, daz er uns ben‹e›ne‹t› den man, der da tichtet daz liet. ern tæte sein firnamens nicht, ern wesse wol die warhait. der elliu rechtiu buoch da schraip, mit dem wil erz behaben unt wil dar uber sagen manic testimonium, daz der ware gotes sun von dem selben dinge sprach, do er mensch hie enerde was, daz uns michel hilfe geit. in genugen steten hat seit Gregorius der von geredet, da bi ir wol meget die warhait erchennen. daz er denne vil wol vindet, ob sich iemen underwindet | dehaines streites drumbe. iedoch wil ich nuo ze stunde iu des ein tail sagen, wie daz chumt, daz si nicht enmegen gesehen den hailigen christ die doch sint, da er da ist. dar ze himel ist niemen gar, e ouch der lip chumet dar, der dannoch hie enerde ist. als den unser herre christ wider git der sele, so sehent si in immer mere von gesichte ze gesichte unt sehent in al gerichte, als er uns nu tuot. dennoch habent si seiniu guot nicht ce voller beschiude, wan sich meret ir vriude von tagen ze tagen, so hœre wir daz buoch sagen.

2155 ſtet in bat. 2174 zegeſichte zegeſichte. 

III Text 

2185

2190

2195

2200

2205

2210

2215

2220

2225

der nu gerne hub einen streit, der spræche: „so sahen si in immer seit, die mit im erstunden von dem grabe an dem sæligem tage, do der gotes sun erstuont.“ nain []zwar, noch entuont, wan sæhen in die wol, so‹n› waiz ich, zwiu daz buoch sol, da man uns abe hat gelernet, daz die engel teglichen gernt ze sehen ir schephære wærlichen. unt wære der iemen da mit volchomen, so wær diu girde gar binomen sante Mychahele, wan er ist vil here, im ist got vil liep. in sehent die engel unt sehent sein nicht. || owi wie chumt daz? der ie in einem gadem was, der engesach ez uzen nie. also habt iu‹ch› umbe die, die in got sint. er giwan nie so liebez chint, daz im so liep wære, daz ez ie gesæhe alle seine magenchrafft, wan er ist unendhafft. elliu dinc er erfullet, untz er uns umbehullet. er ist ir gruntveste unt ir dach, als sant Johannes sprach, der hailige ewangeliste, der uz der gotes bruste vil michelen weistum nam. daz muget ir ane wan vil wol gelouben, wan umbe die gotes tougen unt von seiner gothait me niemen tieffer gesait. der wil des vaste jehen, daz er noch sei ungesehen, unt gelouben ez ouch wol da bei, daz unser dehainer sei, der des mit mir muge gejehen, daz er den andern habe gesehen.

2187 enzwar. 2192 Die. 2195 gierde. 

104va / 216

 87

88 

 III Text

seh wir den andern an dem vlaische, wir sehen niemen an dem gaiste. 2230

2235

2240

2245

2250

2255

2260

2265

2270

Disiu rede ist tieff unt swære. niemen enwære, der‹s› mit seinen sinnen möchte furbringen an die gotes lere. noch redete wir gern mere von dem anegenge, wan ih furchte, ez duncche iu‹ch› ze lenge, | als ez ouch wol mechte, wan sehs unt dricic gislechte von Adamen chomen waren, unz an die ceit zware, daz got mensch wart, musen si alle samt varen, si wæren reich oder armen, si musen ze helle. swen diu pechwelle da nicht vollichlichen twanc, der muse rouch unt stanc unt dar zuo die vinster tragen. daz wir iu da wellen sagen, da hœret vlaizechlichen zuo, wie der ware got duo uns dem tivel an gewunne: eine samnunge diu gotes erbarmde gisprach, wan si vil ungerne sach unser ewigez lait. da widerfur diu warhait der erbarmde unt der gute drate. nu sazzen si ze rate um den menschen, der da was verlorn. uf hœher stunt der gotes zorn, unz uns genade geschach. diu erbarmde do alreste sprach: „heya, gewal‹t› unt weistum, wenne möcht wir daz widertuon um den menschen, der da verlorn ist? nu gedenche, daz du ez got bist. gewin in wider etwie, der dem tivel hat gedienet ie, 2241–2245 Die Forschung geht davon aus, dass hier mindestens ein Vers (mit dem Reim auf wart, 2242) ausgefallen ist. Neuschäfer ergänzt daher: 2243 *die hellecleichen vart. Zur Forschungsgeschichte siehe Neuschäfer, 1966, S. 75–76; 213–214. Liest man 2241 ‚apo koinou‘ ist der Abschnitt syntaktisch korrekt und in sich verständlich; ein Eingriff erfolgt daher nicht. 

III Text 

2275

2280

2285

2290

2295

2300

2305

2310

daz er ewichlich icht verlorn sei, den wir haben geschaffen vrei, wan er hat michel lait.“ des antwurt im diu warhait, si sprach: „mich duncchet an gedinge. || solde er gewinnen von helle die widervart, dem von uns gehaizzen wart vil wærlichen der tot, do man im daz obez verbot? unseriu wort muzzen war sein.“ „unt solt doch die hantgitat dein nicht lazzen underwegen. wer sint, die gislaffen megen unt nimmer erwachent? einen mensch‹en› mug wir machen reinen uz der erden, der etwenne werde um den menschen gegeben.“ do sprach diu warhait: „wir enmegen. des tages, do Adam wart ungehorsam, do wart verfluchet diu erde in seinem werche ze unwerde. daz mac nicht werden widertan. elliu dinc ich leichter han uz nichte gischaffen, danne daz ich wider mache den menschen, als er e was.“ „nu weistu vil wol daz,“ sprach aber diu erbarmde, „ob durch Adames gernde verfluchet wær diu erde in seinem werche ze umwerde, daz in unserm werche niht verfluchet ist. du da gewaltic got bist. wil du im geben die widervart, wan er der zu betwungen wart, so machtu von der erden einen menschen haizzen werden, dannen ene wirt gerainet.“ da mit wart diu maget gemainet,

 89

105ra / 217

2274 im als „für ihn“, „statt seiner“. Neuschäfer konjiziert ebenso passend zu ir. 2311 Neuschäfer geht wohl von einem Maskulinum (der Mensch oder Adam) aus und konjiziert daher zu ener. Das handschriftliche ene scheint jedoch auf Eva zu verweisen, deren Sünden im Anegenge (teilweise) von der im Anschluss genannten Jungfrau Maria (2312) aufgewogen werden. ene bleibt daher unverändert (siehe Kap. IV.3.2). Zur weiteren Diskussion um die Bedeutung von ene / ener vgl. u.  a. Neuschäfer, 1966, Kommentar, S. 287, V. 2311. 

90 

2315

2320

2325

2330

2335

2340

2345

2350

2355

 III Text

diu uns daz hail brachte. | owe wie tieff er dachte der genædige got. diu warhait ze der barmde chot: „nu weistu vil wol daz, daz nicht enwas, daz den tivel anvæchte wan sein eigen andachte. von himel viel er ane not in den ewigen tot, durch daz er fri geschaffen was. nu bedenche wir daz, wie von der brœden erden ein so vester mensch solte werden, von dem gitragen wurde aller menschen burde mit chreffte an zaghait, swenne er diu micheln lait von dem tivel hiete unt von seiner diete, daz er nicht geswiche der burde. ob er so geschaffen wurde, daz er gevallen nine möchte, so wær daz fri geslechte da mit nicht vergolten, ezn wære, daz wir wolten dem tivel unrechte tuon.“ „dane chom ez nimmer zuo.“ sprach daz hailige rechte. „welle wir im nemen seine chnechte, daz sol mit rechte werden gitan.“ „weiser got, woldestu ez an ergan,“ sprach aber diu bermde, „daz du menschlich ermde an dich næmest, unt daz du quæmest in einer reinen magde bouch, so wurde wol geholfen uf allem manchunne; || ob du ane sunde 105va / 218 von der d‹i›u geborn wurdest, unt durch den menschen ersturbest, so wurden alle die gehailet, die sich selben nicht verta‹i›lent.“

2320 eingen. 2330 ir. 2346 div. 2352 ſunne. 

III Text 

2360

2365

2370

2375

2380

2385

2390

2395

„Owe,“ sprach der giwalt, „waz habe wir an uns gizalt. wie sol uns ertailet werden des himels unt ouch der erden unt elliu dinc muz biwaren, mug wir den stouf nicht vervaren.“ sprach diu hailige weishait: „durch des menschen sælichait werd ez nach deinem willen volbraht.“ als daz recht vernam die andaht, do spra‹n›ch ez dar under unt sprach: „wir wellen wurchen wunder. nu sul wir behuten daz recht. ob wir dem tivel seinen chnecht mugen an gewinnen, daz tuon mit so gitanen dingen, daz er her nach icht mege mit dehainer slahte rede gesprechen uf seinen schalch, der sich im selben bevalch. daz ist unser ere unt ist iedoch gefure des schuldigen chnechtes. daz recht deines rechtes ist ein gerte deines reiche‹s›.“ e diu stunt vil vrömdechleiche der fride hin dane. als er die rede vernam, do spranch er der zuo. ein ander chusten si duo daz hailige recht unt der fride. do het diu barmunge vertriben alle die vientschaft, diu zwischen dem menschen unt got was bihaft. | ze sune was chomen der chnecht. daz sach von himel daz recht vil dicche her an die erden, daz der mensch gehailet solde werden. do der tieffe rat fur wart, do chunte got seine vart von himel her enerden, daz er mensch wolde werden. uf sich nam er die sunde,

2367 ſprach. 2384 vᶴname.  2361 Syntaktischer Anschluss unklar. 

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 III Text

die allez manchunne angierbet waren von hern Adames jaren. daz tet er chunt den weissagen, er hiez siu ez nicht verdagen, er hiez siu chunden uber al, daz er den Adames val wolde bringen ze guote mit sein selbes bluote. daz taten si zeware vil unhelbære. wie er mensch wolde werden unt wie er wolde ersterben, daz sagten si verre vor. flucht von dem ewigem verlor si vlaizechlichen rieten. gedinge si hieten ze diu, daz in chumftic was. daz der himel nicht durchbrast, daz was vil dicche ir chlage, daz in ze helfe dar abe ir urlœsære dester schierer chomen wære. Do got den willen wolde erfullen, als er solde, den sein guottæte ze dem haile hæte, daz uns da solde geschehen, ein maget hiez er vorbisehen, || chiusche unt raine, ledic aller maile unt vil diemute. michel waren ir gute. ze der wart ein engel gesant ze Galylea in daz lant, hin ze einer stet, diu ist gehaizzen Nazaret. dar inne gesprach sei der bot‹e›, er gehiez ir heil von got.

106ra / 219

2417 im. 2437 got.  2425 Neuschäfer konjiziert: seiner guote ræte. guottæte (MWB II,1050) ließe sich aber als auf den künftigen Gnadenakt bezogen verstehen. Der Konj. hæte in 2426 wäre dann futurisch („haben würde“) aufzufassen. 

III Text 

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 93

mit disen worten gruzt er sei da: „hailic wis du, frowe Maria. volliu genaden du bist, unser herre mit dir ist. uber elliu wip soltu gesegen‹t› sein unt daz wucher des bouches dein. du solt bern ein chint, des diu reich elliu sint.“ der unchunden worte erchom si vil harte. si sprach: „von wie gitanen dingen sol ich chint gewinnen, wan ich nie erchande man unt ouch des ‹han› dehainen wan, daz ich immer man erchenne?“ do sprach er an der stunde: „du traist den waren gotes sun, von dem hailigem gaiste enphæhestun. daz chint sol haizzen Jesus.“ des antwurt im diu maget sus: „er ist mein herre unt ich sein diu. doch bin ich vil unwirdigiu des, daz du mir vil armer sagest. nu gescheh ez, als du gesprochen habest.“ Diu maget was gevestent einem man, do si do gahes bigan von dem chinde grozzen, do wolde er sei lazzen | tougenlichen, sprach der ewangeliste. do was aber er von christe dar zuo wirdiger bidacht, daz mit im werde volbracht, daz er da vor hete bisehen. ane sache solt ez nicht geschehen, daz der gotes sun wære im ze einer muoter næme eine maget, diu bevestenet was. er tet ez dar umbe, daz si dester baz dem tivel möchte verheln seine vart, unt daz ouch si da mit uber wart, des diu alte e gebot:

2447 warte.  2473 wære ist hier Attribut zu gotes sun. Neuschäfer scheint wære als Verb aufzufassen und interpungiert entsprechend. 

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 III Text

einem ieglichem weibe was der tot ertailet, diu wurt erfunden mit so gitanen sunden, da von möchte chomen chint ane chonlichiu dinc. die solt man alle stainen. von so gitanen mainen möchte si sich ubels haben entsaget, het si des gemahels nicht gihabet. er tet ez ouch umb ein ander dinc: so si gebære daz chint, daz er ez veterlichen zuge, unt in Egiptum mit im fluhe uz des chuniges æchte, unt mit ir daz opher bræchte. durch so gitane mære wolt unser hailære eine gimahel ze einer muoter nemen, diu im doch wol möchte gezemen unt diu doch wære ein maget. e daz der engel daz sagte Joseben, dem guten man, do wolt er sei lazzen han, untz im der engel aber erschain. er sprach: „du solt des aber werden enain, || daz du nemest deine chonen, dune darfst dar ab nicht erchomen. si sol ein chint gewinnen, daz hat si enphangen von dem hailigem gaiste. mein gebot du dar an laiste, daz ez Jesus werde genant.“ daz chiut in diutscher zunge ‚hailant‘: er sol seine diet enbinden von allen ir sunden. Der vil sælige man die frowen er ze sich ginam unt phlag ir mit huote, unz diu maget guote des chindes solte genesen. do het si ermechlichez wesen, so wir da bei chiesen megen, daz man den muose legen, der elliu dinc muz biwaren, in einer chuo baren,

2487 Moͤ chten. 2488 hat. 

106va / 220

III Text 

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2560

2565

do sein diu here maget ginas. owi, wie wunderlich doch was elliu sein andacht, daz er in der sweine bacht sein houbet ie geleite. wer aber in daz seite, daz si in nine frazzen, daz welle wir iu‹ch› wizzen lazzen mit churzlichen worten. an dem velde den vihierten bracht ein engel diu mære, daz ein hailant wære geborn ze Bethlehem. er hiez siu drate dar gen, da si in da funden, mit hadern bewunden in einer vihe chrippen ermeclichen likken. | als er daz mære sagte, hin umbe daz ez vol tagte, do wart der engel ein michel tail, die uns daz ewige hail chunten des tages vil gewis. si sungen: “gloria in excelsis.” ane sache daz nicht ergie, daz erz die vihierte wizzen lie, in sait ez ein redlicher bote. si waren der juden, die von gote ein michel tail heten vernomen, unt was ‹er› durch siu her chomen, unt giborn von ir gislehte. swie er siu gieren mechte, daz het er gern gitan. daz muget ir dar an verstan, daz den armen vihierten so grozze mær wurten von den engelen gesaget unt daz ir wol vernomen habet, [ ] den drin herren, die da chunige waren in chuniges gislechte in vil chlainer achte mit einem vil unredlichem dinge,

2530 im. 2563 daz.  2542 licken stV. ist eine Nebenform zu ligen. 

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 III Text

daz nicht hete stimme unt was ouch unversten‹t›lich. dem vihe lebten si geleich unt enwessen, waz got was. von diu was recht daz, do si nicht sinnes haben wolden, daz in daz chint zaigen solde ein unredhafter bote. alsus bedacht ez allez got. Waz daz zaichen wære, daz die chunige mære hin tze dem house laitte unt in daz chint zaigte, || daz hat uns geschriben da Matheus ewangelista an seinen hailigen buchstaben. er sprichet, in den tagen, do giborn wart daz chint, des diu reich elliu sint, do schain ein liechter sterne in dem ostern reiche verre drin chunigen mæren, do si uz gegangen waren, schouwen an daz gestirne. in der liste lirne heten si sich geflizzen, daz si mochten wizzen allez, daz in chumftic was. ir muot gehiez in daz, daz ein chunic wære giborn, der wær uber al die werlt erchorn † ze herren immer solde sein. † si giengen drate dar wider in unt namen drier slachte gebe. si volgiten nach dem wege, den si da weiste der sterne, uz dem osterm reiche verre begunde er in allez vor gen, untz in die burch ze Jerusalem. da hal er sich ze einer vrist, als uns da von geschriben ist, daz sis nicht ensahen. do begunden si vragen, wa daz chint wære, der chunic ist uber Israhele,

2598  f.  Syntax defekt. Neuschäfer tilgt wære (2598). 

107ra / 221

III Text 

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der da wære giborn, den heten si dar zuo erchorn, daz si in anbet‹t›en gerne unt in erschin ein sterne, der si dar hete bracht. ein vil ubel andacht | het der chunic Herodes. er wande sicherlichen des, daz im iemen vor wære. er unt alle die burgære wurden dirre worte bitrubet vil harte, do si ez vernamen. vil harte si erchamen. ze sundersprach er do nam die dri dar chomen man. er vragte siu der mære, wie in der stern erschinen wære, daz taten si im ce wizzen. alle, die sich geflizzen heten in den buochen, die hiez er im suochen, die weisisten in dem gesinde er vragte von dem chinde, von dem die propheten geweissaget heten, wa des geburt solde ergen. si sprachen: „ze Betlehem.“ unt sagten im daz, daz der burge zu was gesprochen von dem weissagen, daz wir alle nine mugen mit worten vervahen. do si im do verjahen, daz si von dem chinde heten gilarn, unt do die herren wolden varn, do bat siu der chunic Herodes vil vlaizechlichen des, so si daz chint funden, daz si imz solten chunden, er solt ouch digen an. daz was mit ungitriwen, als er wol erzaigte seit unt als uns daz buch seit. ||

2623 warte. 2637 den. 

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 III Text

Swaz er wunders da unt ouch seit anderswa in drin unt drizec jaren begie, do er was mensch hie, unt in sechs unt zwainzec wochen, daz ist uns allen offen, wie ermechlich er hie was, untz er erfulte allez daz, daz die propheten von im geweissaget heten. dem rechte gieng er wol nach, untz er seiniu verlorniu schaff wol wider haim brachte. gegen einer jeglichen sunde er gidahte einer ebengeleicher buzze, die bittere gegen der suzze, die er leiden solde. wan do der tivel Even vellen wolde, do gehiez er in baiden mit ungetriwen aiden, als si des obzes enbizzen, daz si fur war solden wizzen bediu daz wip unt der man, daz si wurden als got gitan, im ebenreich unt ebenher. unt do si do mer selbe gewinnen wolten, denne si haben solten, da von wurden si versalt in des tivels gewalt unt in daz ewige lait. do si gevielen mit der geitichait unt mit der ubermute unt mit uppiger gute unt wurden ungehorsam unt heten manslacht gitan unt ein sacrilegium – wie möchtens immer wirs getuon? | si wurden ouch mainaide, daz wart in billichen ze leide, wan si heten den verlorn, † der siu het erwelt unt erchorn den engelen in der hœhe † unt der menschliche brœde

107va / 222

2700 menſchlichen.  2698 Syntax defekt. Neuschäfer ergänzt: den engelen gelîche in der hœhe. 

III Text 

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2740

zu im selbem het vereinet. daz ist also gemeinet: do got geschuff unser vlaisch, do nam er sein selbes gaist unt blies den dar in, daz wir seiniu solden sein unt er unser houbet. des heten si sich beroubet durch des tivels rat. daz was ein michel meintat. Do si gotes hulde von ir selber schulde verluren so manigen weis, da bi sult ir sein gewis, swer von des tivels schulde ein houpthafte sunde getuot oder hat gitan, er muz ir aller schuldic stan, die uns da verboten sint. unt alle, die fur einen wint diu gotes gebot wellent haben, si getunt vil leichte schaden. also ergieng ez Even unt Adamen, do si die warhait wolden haben ze einem wane unt fur einen hinterlist, die in der hailige christ durch allez guot zu sprach. do ez do Adam zebrach, do was verirret ir geloube unt waren gevallen an dem roube, unt wurden ungehorsam unt ‹heten› ein sacrilegium gitan || unt heten uns alle samt erslagen. daz muge wir fur michel not sagen. si waren ledic unchiuscher dinge, elliu ir minne was ein wunne ir gaistes, ane girde ir vlaisches. got het si im ze troute genomen, daz von in rainer wuocher wær chomen. die minne si getrubten den rainen fridel si uberhugten, die waren minne si fluhen.

2725 hintern list. 2742 der.  2706 Neuschäfer ergänzt (sîniu) lit. 

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 III Text

zuo dem tivel si sich zugen, ze troute si den namen, der mit seinem samen erchuchte bœsez minnen. ir vlaisch muse brinnen, wand do begunde ez gern, des siz vil dicche musen wern. daz was ein michel uberhuor. mit dem willen Adam des swuor, do im got daz obez verbot unt im da von gehiez den tot, daz erz immer meiden wolde, als er von rechte solde. do wart er maineide. daz got ich‹t› underscheide unser zunge oder den munt, des ist undurft. im was ie chunt elliu unser andacht, e daz herce habe fur bracht gedanch oder willen uberlout oder stille, so ist ez im allez chunt. sein ist undurft, daz im der munt immer icht bescheide. ez sint allez eide, swaz im daz herce gelobet. owe wie harte er tobet, | der daz immer widerrait, ezn sei ein meiner ait, swaz wir im gehaizzen, ob wir des nicht laisten. Si heten ouch daz maiste sacrilegium gitan, daz ie dehain man uf der erde getet, daz si an einer so hailigen stet ie missetaten unt daz nicht bidachten, daz ez was in dem paradeise. von diu ist er unweise, der da sprichet, daz Adam nicht vil hete gitan wider die gotes hulde,

2760 vnchunt.  2759 Sinngemäß müsste hier ein Oppositionswort zu munt stehen; Neuschäfer korrigiert zunge passend zu herze. 

III Text 

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2825

2830

wan er sei verlos mit voller schulde. wie groz diu schulde wære, doch erbarmte unserm schephære unser ewigez lait. doch enwolde er die warhait noch daz recht nicht schenden, er wolt ez anders wenden. er wolt ouch dem tivel nicht giwalt tuon. sein erbarmde unt sein weistuom die gedachten einer wage, sam ob dar uf læge elliu diu schulde, da mit si verluren gotes hulde. dar zu chom daz recht gesezzen, ez begunde vlaizechlichen mezzen. do diu schulde wart uf gitragen unt man die wage enbor solde haben, so was daz unrecht so swære, ob allez guot der gegen gelait wære, daz ie iemen getet, so enwær diu wage von der stet nimmer erwegen, unze sich got dar uf muse legen. || do gidacht diu gotes weishait, wie sich unser lait von erste hete erhaben. dem wol‹t› er ein geleichez tragen ze dem ersten uf die wage. swer uns nu vrage, wie sich hube der val, den birichte wir sein wal. Daz chom von einem weibe, diu wart mit neide von dem tivel bistanden. wie si si geschanden, des wurden si ze rate, swer si also drate mochte geschunden ze der obristen sunden, diu da haizzet ubermuot. ez enwart nie niht so unguot, ez wart ouch got nie nicht so lait. des heten si die warhait an in selben enstanden. – einen bœsen gaist si sanden

2820 ſich. 2824 den. 

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2875

 III Text

in daz paradeise, der chom geslichen leise zu der getlosen. er tet ir ein‹en› rat bœsen, den nam si fur guot durch ir ubermuot unt durch ir geitichait gab si genade umbe lait. da wider wart von got ein vil redlicher bote ze einer magde gesant, an der man dehain bœshait vant, unt diu nie getlos wart noch dehain hohvart in ir herce nie gewan unt die nie nichtes gezam, | wan daz ir got gegeben hete, unt nie begie dehain uppige gute. ir chiusche unt ir raine diu wagen wider diu maine, die der tivel an truc, da mit er allez manchunne ersluoc. da wider wolt got wider geben uns daz ewige leben. do was ouch daz billich, daz dirre rat haimlich vor dem tivel wær verholn, als ouch er verstoln zu der armen Even slaich, untz er uns alle beswaich. der ubel engel der louc, untz er daz arm‹e› wip betrouc. er gruzte sei ouch da mite, daz er ir einen fluch tete, wan ditz sein erste rede was: „we, zwiu lat ir daz, daz ir alles des obezes nicht ezzet, daz ir hie inne wizzet?“ also ist ez an dem sinne, versweige wirz, we unser stimme, so sprach erz doch mit dem muote. er hiet sei als leicht geschundet ze gute, wan daz er daz gern sach, daz ir vil we geschach. er gehiez ouch ir vil wærleich, si wurde got geleich,

2876 wurden. 

III Text 

2880

2885

2890

2895

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2905

2910

2915

 103

ob si daz obez æzze, daz siz ze nichte widersæzze. der disiu wort verstet nah der schrift, so was ez ein fluoch unt ein vergift. Da wider wart der magde ein segen von dem engel gegeben, den got zwir dar sante. swaz er ir ouch chunte, || daz selbe daz ergie, als er die rede ane vie. er gehiez ir ouch diu dinc, diu einem weibe sorchlich sint, wan ez nimmer enwirt, swa ein wip chint gebirt, si chom sein in angest unt in not. wider dem gute, daz der tivel bot, da wider wolt got sein hail geben, wider den fluoch den segen, wider die luge die warhait. der man gehiez die reichait, diu enphie den ewigen tot, der man aber gehiez die chumftigen not, diu enphie daz ewige leben. diu muo was ir ouch gegeben halt mit michelem vollen, do diu maget unbewollen von dem chinde begunde grozzen, do macht diu natoure nicht verlazzen, irn wurde etwenne we. daz het got wol geordent e, wie der ir raine lip fur daz schuldige wip im solte helfen buzzen. Eva giwan nie so grozze suzze mit dem gedingen fur sich, daz si got wurde geleich, in engulte Maria mit riwen vollechlichen da, do si sach, daz man ir sun vie unt do si zu dem chriuce gie, do buzte si alle die trite,

109ra / 225

2883 Neuschäfer konjiziert zwir zu zuo ir (Maria); das zwir könnte aber auch auf die Tradition anspielen, dass der Engel zweimal zu Maria gesandt wird. 2904 natover: Bairische Diphthongierung mit er-Rhotazismus. 

104 

2920

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2955

 III Text

die d‹i›u arme zu dem holze tete. man sagt uns zeware, daz ez † † da der mensch an geviele. alle die liebe, | die Eva dar zuo giwan, daz si unt ir man solden werden so here, die galt Maria mit sere, do man den an sluc, den si in ir bouche truc. diu maget galt mit darben daz ezzen, da diu uncharge da az ir schaden. si muse sich durch not enthaben, do si ir sun lieben sach hahen zuo den dieben. do si in an daz chriuce nageln sach unt do man in durch die seiten stach, do was ir herze vil we. nu sei niemen, der ez so verste, daz diu maget raine icht buzte altersaine fur daz schuldige wip. nein so het der tivel leicht gezogen in sein recht, daz im sein diu unt sein chnecht nicht wæren vergolten, als si von rechte solten, die er an dem roube gevie. dar umbe sich got ouch martern lie. Do diu gotes gute mit vil manigem rate den gewalt des ubergie, daz er seinen zorn lie unt daz er‹z› nemen wolte, ob im der mensch gulte, unt daz er im ze rechte wolde gistan, daz er wider in hete gitan, do enhete menschlich gislechte niht so vil raines, daz ez vergelten mehte,

2945 waren.  2920 Stelle in der Handschrift verderbt. z aus r bei ez gebessert. Der restliche Vers fehlt vollständig. Neuschäfer ergänzt passend: daz holz wære. 

III Text 

2960

2965

2970

2975

2980

2985

2990

2995

3000

so michel was ir armde. do sprach aber diu erbarmde || ze dem habendem gewalte. einen menschen, der mit im selben galte, den sande er uns ce troste, der mit sein selbes leibe erloste allez manchunne. umbe ein ieglich sunde wolde er buzze leiden unt im selben nicht entleiden, daz der herre Adam dar an hete missetan, daz er hœher chomen wolte, denne er von rechte solte. da lait dirre mensch widere, daz er sich selben so nidere von hohen dingen brachte, daz er in dem bachte vor den rindern lac. owe wie er die wage wac unt wie er dem rechte nach gie. den tivel er sich bechorn lie rechte dri stunde mit der selben sunde, da Adam an geviel in des tivels giel. mit vasten er ouch buzte vierzic tage in der wuste, daz Eve mit Adam heten ein sacrilegium gitan unt ein uberhuor unt daz ir itweders maines swur unt lerte uns da mite, daz wir furen mit guotem site uz den unmuzzen, so wir wolten buozzen unt so wir icht gutes biginnen wolten, wie wir uns da vor tempern solten. in der selben wuste bechort in der tivel aller erste | mit der chelgitichait, do er so lange mait, daz er nicht az noch entranc.

2990 er.  2968 Lies: und sich selbst das Leid nicht ersparen. 

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3045

 III Text

des het der tivel manigen gidanc, wie daz chomen mechte, daz er sam sein ander gislechte nicht æzze noch entrunche. daz begunde in seltsæme dunchen unt wolde sich der von nemen. der gidanch was nie so schiere chomen, so sich der gotes sun hungern lie ze diu, daz er in undervie, unt tet ouch dem Sathanat des versuchens stat. Also der valant an im ervant, daz in hungerot, er sprach: „nu mach den stain ze brot, ob du ez seist der gotes sun, so macht duz harte wol tuon, unt satte dich der mite nach gewonlichem site, ob dir der hunger sei leit.“ – zu der chelgiticheit het er in gerne gitriben. – „nuo waistu wol, daz ist geschriben, daz der mensch nicht einginote mac gileben von dem brote, ern habe daz gotes wort der zuo.“ mit hunger buzt er do der arm‹en› chelgitichait, ze vertilgen unseriu lait. Do da der valant dehain stat an im vant, do furt er in ze Jerusalem unt bat in algerichte sten uf daz tempel obene unt hiez in, den liuten ze lobene, || daz er hin abe viele. er sprach: „dir choment schiere die engel unt habent dich enbor, si sint dir allenthalben vor, unt daz si dich furen, dein fuzze den stain icht ruren.“ des antwurte im der hailant: „var furder, valant. ja ist ouch geschriben daz,

3021 ſo. 3035 vͦ f. 

110ra / 227

III Text 

3050

3055

3060

3065

3070

3075

3080

3085

3090

daz du unrainez vaz deinen herren nicht solt bechorn. du hast dein arbait verlorn.“ da mit galt er diemute die uppigen gute, die Eva unt Adam dar an heten gitan, daz si gelobt wolden werden von den liuten uf der erden umbe ir gute unt um ir zaichen. do er in du nicht mochte erwaichen zuo der uppigen gute, duo wolt ern bichorn mit der ubermute. do furt er in uf ein hœhe unt sprach, swaz er ubersæhe, daz er in des giwaltic tæte, ob er in nider vallende bæte. do hiez ern furder schaben. er sprach, daz daz geschriben offenlichen wære, daz er seinen schephære billichen ane bæte. da buzt er die missetæte, die Eva unt Adam dar an heten missetan, daz si wolten gotes reichtuom. dar nach liez er im tuon als einem diube, der givangen wirt an roube. | also liez er sich villen durch unsern willen unt lie sich vaste gihten unt uber sein‹e› ougen richten, als man uber die Adames solte, die dar laiten, da der tivel wolte, wand er ims verbinten lie, under den galgen strouchende gie. er wart bespotet unt bispirn mit chrademe bischrirn, als man immer den tuot, der dem anderm stilt sein guot unt der mit wirt gevangen. den bisment alle, die der zu choment gegangen. also liez er‹m› under diebe lonen, er lie sich mit dornen chrœnen, daz taten die juden durch ir haz.

3081 vns. 3089 dieve. 

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3135

 III Text

da mit galt er wol daz, daz Eva unt Adam die seine gotes chrone wolten han unt chunicreiche. da galt er vollechleiche. in douchte billich unt recht, ob der schuldige chnecht von dem holze nam den tot daz uns hulfe von der not. dar umbe er an daz chriuce gie. die hende er ouch durchstechen lie, die daz obez da namen, daz solt man Adamen unt froun Even ‹han› gitan. nu stuont aber dirre guot man fur siu an ir baider stete. alle ir unnutze trite die richt man uber sein fuze. er tranc ouch fur die suze, diu uz dem obez da gie, daz ir baider munt enphie, || die gallen unt den ezzich. sein herce enphieng ouch einen stich umbe die bœsen andacht, diu siu bede anevacht, daz diu vom ergistem gie. umbe daz mort er sich hahen lie, daz Eva unt Adam an uns allen hete‹n› gitan. dar umbe liez er sich bigraben, als er am dritem tage uns vorersten wolte, daz wir sam ersten solten. Er wolt ouch, daz wurte mit der selben verte diu menschait geeret unt ouch daz geleret, wie wir ze der haimute solten chomen, diu uns da wart binomen. da wart der tivel mit betrogen, daz im uz der hant war‹t› gezogen mit rechte allez manchunne, wand er Adam vant ane sunde, unz er im zuo gelouc, daz er in zuo den sunden bitrouc;

3100 daz < daz ez. 

110va / 228

III Text 

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do zoch er in ze sich sa. daz recht verlos er gar da, da er sich des underwant, an dem er seines nicht envant unt in an alle schulde hie. da mit verlos er alle die, die er mit recht hete bihabt. daz ist iu dicche vor gesagt, swer dem anderm daz seine nimt, ob er im denne nach chumt, der nimt im wol daz selbe guot, unt swaz er im anders getuot, daz ist unwandelwære vor dem rihtære. | also ergie ez dem valande. sich selben er gischande, do er nicht ansehen wolde seine grozze unschulde, der nie dehain sunte gitet noch gefrumte. do daz der tivel geriet, daz man als einen diep den geweihten gotes sun erhie, do fur er hin ze helle unt hiez die, daz si sich uf tæte frœlichen unt drate. si solte den enphahen, unt er sæhe in hahen, der sich da hiez den gotes sun. si solt ez frœlichen tun unt er het ez giraten mit den, die ez da taten, unt si solt in immer quelen. des antwurte im diu helle: „ez wæne anders geschiht. zwar ich sich ein michel liecht scheinen vor der helle. ich wæne, ez her welle. an zweivel, du bist bitrogen. ich hœre die ir † ſch † die wir da heten in gitan,

3150 tichtære. 3169 choͤ len.  3169 queln swV mit Nebenform quellen. Zur bairischen Rundung von e zu o siehe Paul, § L 104. 3176 Stelle in der Handschrift verderbt, das Wort bricht nach ſch ab. Neuschäfer ergänzt passend: schephære loben.

110 

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 III Text

Even unt Adam unt alle die weissagen die jehent, daz si den vernomen haben, der in ie daz gehiezze, daz ers underwegen icht liezze.“ do chom der vater unt der sun, do si uns genade wolden tun, unt der hailige gaist den armen ze vollaist, die da waren in dem ewigem verlor, unt zestiezen daz tor, || daz ez allez zebrast. dar inne erschain ein unchunder glast. den er da hete giladen, der chom im nach seinem schaden. den hellegraven er gibant, swaz er der rechten dar inne vant, die fuort er frœleiche mit samt im in sein reiche. dar nach am dritem tage do erstuonde er von dem grabe. nu vragent genuge der mære, wa er under diu wære, untz an den driten tac. ich enchan noch enmac iu der von nicht gecellen. sumliche die wellent, daz der schachære der erste nach got wære, der uf tet daz paradeise, do ez got der weise von der helle gewan. ouch widerreit ez manic man. Do der geweichte gotes sun den roup dem angewan, den er wænen wolte, daz ern immer haben solte, unt do chom hin widere von dirre nidere in seines vater reiche, da gebarten vrömdechleiche die engel alle wider in unt trachten alle, wer er mochte sein, unt sprachen, swer er wære. im stuont sein wat sam einem torculære.

3186 dem. 3222 nv. 

111ra / 229

III Text 

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3240

des antwurt ‹er› in mit diemute daz er die torculen eine t‹r›ete unt im hulfe niemen der zuo. fur daz die engel duo | recht an im erchanten unt an seinem bluot varwem gewante, daz den stul die menschait hete gewunnen mit arbait, den si des tages bisaz, do gunden si‹n› uns deste baz fur die weile immer mere. der iu‹ch› gemachet hab so here mit sein selbes bluote, dem lonet sein mit guote oder ich sag iu zware, daz iu bezzer wære, daz der selben verte nie gedacht wurte. nu lobe wir den gotes sun in secula seculorum. amen.

3223 im. 3224 hete.

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IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte 1 Gott, der Sprecher und ‚die Anderen‘ 1.1 Prolog und Epilog Domine, labia mea aperies. nu gestate mir, herre got, des, daz ich dein lob gesprechen mege. (V. 1–3)1

Das Anegenge beginnt mit dem ersten Teil des Psalmverses 50,172: Domine labia mea aperies et os meum adnuntiabit laudem tuam.3 Mit diesen Versen, die dem „Beginn der ersten Gebetszeit des Tages“ entsprechen,4 wird eine implizite Verbindung zur Liturgie hergestellt.5 Die Nennung des Namens Gottes im Gebet steht dabei für seine Gegenwart, „Gott selbst, der seinen Namen kundgibt, öffnet dem Beter die Lippen“.6 Derlei lateinische Anfangszitate mögen „einen leichteren Übergang vom Latein der Liturgie zum volkssprachigen Vortrag des Gedichts“ ermöglicht haben.7 Der Psalmvers 50,17 ist folglich geradezu prädestiniert für den Auftakt zu einer Rede über Gott, da in ihm liturgische Elemente und Gebetsinitiation ebenso transportiert werden wie die Bitte nach Inspiration (s.  u.). So überrascht es nicht, dass lateinisches Zitat und volkssprachliche Paraphrase beinahe wortgleich einen weiteren geistlichen Text eröffnen, die vor 1200 entstandene Vorauer Sündenklage:8 Domine, labia mea aperies! nu gestade, herre, mir des, daz ich din lop gesprechen mege.

1 Im Folgenden wird, soweit nicht anders angegeben, der Text der Neuausgabe zitiert. 2 Vgl. auch Stridde, 2011, Sp. 499. Zu den (möglichen) Quellen des Anegenge siehe grundlegend Kelle, 1876, S. 141–155; Teuber, 1899. Vgl. u.  a. auch Schröder, 1881, S. 39–68; Scheidweiler, 1944; Rupp, 1971, S. 250–255. Teuber, 1899, nimmt als wichtigste Quellen des Anegenge-Dichters neben der Bibel Hugo von St. Victor und Augustinus (häufig indirekt über Hugo) an. 3 Herr, öffne meine Lippen und mein Mund wird deinen Ruhm verkünden (Ps 51,17). Vgl. Rupp, 1971, S. 217; Zum Anegenge-Prolog vgl. auch Kiening, 1992, S. 426–430. 4 Vgl. Meßner, 2001, S. 229. 5 Thelen, 1989, S. 244–245. Siehe auch Hauck, 1958, S. 534–535. 6 Vgl. Meßner, 2001, S. 229. 7 Thelen, 1989, S. 245. Vgl. auch Kiening, 2015, S. 73. Zu fragen bliebe jedoch, in welchem Verhältnis Liturgie und volkssprachliche(r) Text(e) zu einander gestanden haben. Siehe auch Kap. IV.3. 8 Vgl. Thelen, 1989, S. 244. Vgl. Schröder, 2VL. Bd. 10, Sp. 528–530, mit weiterführender Literatur; Freytag, 1986, S. 140–141; Schneider, 2006, S. 191–192; Haug, 1992, S. 49–50; Stridde, 2009, S. 95–96; Unzeitig, 2012, S. 223. https://doi.org/10.1515/9783110775723-005



1 Gott, der Sprecher und ‚die Anderen‘ 

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minen munt insliuz unde phlege der werche miner zungen, daz ich dich bitten kunne (VS V. 1–6)9

Das Ich der Vorauer Sündenklage bittet Christus (heiliger Crist, VS V. 7) und die Jungfrau Maria (Sancte Maria, VS V. 8) um Beistand bei seinem Vorhaben. Die Sündenklage nutzt dabei lediglich den lateinisch zitierten Teil des Psalmverses, die Bitte, seinen Mund zu öffnen (labia mea aperies, VS V.1) und damit seine Worte zu führen (phlege [ ] miner zungen, VS V. 4  f.). Der zweite Teil des Psalms, das Gotteslob, wiewohl in der Paraphrase mittransportiert, bleibt (zunächst) dysfunktional. Anders im Anegenge: Hier bittet ein Sprecher unspezifisch got um Hilfe für sein Vorhaben, ein Gotteslob (V. 3; 17–20). Die beiden nachfolgenden Verse paraphrasieren das lateinische Zitat, wobei sich der Fokus im Anegenge dahingehend verschiebt, dass erst die Erlaubnis beziehungsweise Befähigung (gestate mir, V. 2) von Gott die Verkündigung des Gotteslobes überhaupt möglich macht. Dies setzt sich auch in den weiteren Versen fort, wenn das Sprecher-Ich darum bittet, dass Gott sich seiner zunge und seiner rede annehmen möge (V. 4  f.). Dem Sprecher alleine sei sein Vorhaben (rede, V. 7)10 nämlich, selbst wenn er über alles (Buch-)Wissen verfügen würde (wan ob ich elliu buoch chunde, V. 6), zu schwer (ze vil, V. 7).11 Wie in geistlichen Texten (zumeist) beobachtbar tritt dieses Sprecher-Ich hier und im Folgenden kaum hervor.12 Ebenso unklar bleibt, ob mit dem Beginn der rede ‚nur‘ auf die Vortragssituation referiert wird oder ob (auch erst) die Produktion gemeint ist, beziehungsweise inwieweit beides überhaupt getrennt werden kann.13 Auch sonst gibt es im Anegenge keinerlei Reflexion über Produktionsbedingungen, das Sprechen, Singen, Schreiben oder Verfassen des Textes. Ebenso fehlen jegliche Angaben zu Auswahl von und Umgang mit Quellen,14 Sprachbarrieren (Latein zu 9 Zitiert wird nach: Die Vorauer Sündenklage. In: Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. 3 Bd. Nach ihren Formen bespr. und hg. von Friedrich Maurer. Bd. 3. Tübingen 1970, S. 98–123. 10 Zur Verwendung von rede im Cod. Vind. 2696 vgl. Düwel, 1983, S. 31–40. 11 Zu Inspiration und Autorschaft vgl. u.  a. Klein, 2006. 12 Vgl. u.  a. Freytag, 1986, S. 120–121. 13 „Gleichwohl ist durch die doppelte Bedeutung von mhd. rede als We r k b e z e i c h n u n g [Hervorhebungen im Original, E.B.] und als R e d e der Satz nicht nur A n k ü n d i g u n g , sondern bereits Vo l l z u g der Ankündigung. Der Vorgang des Vortrags, sein Beginn und der Vortragsbeginn der Dichtung sind verknüpft“ (Unzeitig, 2012, S. 220). Noch für den Parzival Wolframs von Eschenbach schreibt Curschmann, 2004, S. 30: „In der Praxis dürften Produktion und Rezeption des so entstehenden Werkes über Jahre hinweg zwischen partieller Kodifizierung, öffentlichem, histrionisch akzentuiertem Vortrag, Privatlektüre, Revision und Gespräch changiert haben.“ 14 Während vor allem spätere (höfische) Texte, beispielsweise der Tristan Gottfrieds von Straßburg (Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. 3 Bd. Stuttgart 2010, V. 135–171) oder der Parzival Wolframs von Eschenbach (Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittel-

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Deutsch)15 oder Gönnern16. Die Betonung liegt lediglich wiederholt auf der Inspirationsbitte17 und dem Flehen des Sprechers, Gott möge seine rede lenken (habe meine zunge in deiner phlege | unt die rede von meinem munde, V. 4  f.). Beispielhaft ist hierfür der Vergleich mit einem (anderen) göttlichen Sprachwunder: dem Bileams-Esel.18 Der eselinne (V. 10) verlieh Gott die Sprache (uf tæte ir munt, V. 11), damit sie ihren maister (V. 12) vom falschen Weg – den Weg gegen Gott(es Willen) – abhalten könne (daz er nicht furbaz solde, | dar er doch reiten wolde, V. 13  f.). So zumindest referiert es das Anegenge. Der Bibeltext (Nm 22,28–35) funktioniert eigentlich anders: Da ein Engel in ihren Weg tritt, bleibt die Eselin mehrfach stehen, worfür sie von Bileam geschlagen wird. Beim dritten Mal fragt sie schließlich, weshalb er sie züchtige, da sie ihm doch bisher immer zuverlässig gedient habe. Erst jetzt sieht Bileam den Engel und erfährt von diesem von seinem Fehlverhalten.19 Während die ‚Warnung‘ des Esels in der Bibel vorrangig im Akt des Stehenbleibens besteht, wird die Eselin im Anegenge selbst zum Sprachrohr Gottes. In diesem abgewandelten Bileams-Vergleich schwingen gleich mehrere implizite Aussagen mit: die Denkfigur,

hochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der ‚Parzival‘-Interpretation von Bernd Schirok. Berlin/New York 22003 (de Gruyter Texte), 453–455,22 u.  a.) zum Teil ausführlich über ihre Quellen und Vorlagen sprechen und dabei für sich die ‚richtige‘ Darstellung verbuchen (vgl. u.  a. Curschmann, 2004, S. 11–16), bezieht sich das Anegenge nur punktuell und allgemein auf Wahrheitsinstanzen. Den Begriff ‚Wahrheitsinstanz‘ verwendet auch Müller, 2017, S. 56 und passim, bezieht sich damit aber auf Phänomene memorialen Erzählens. Hier wird der Begriff neutral zur Bezeichnung unterschiedlicher Mittel zur Legitimierung der Sprecher-Rede benutzt. 15 So beispielsweise in der Urstende Konrads von Heimesfurt: (ûf genâde ich aber wil | […] ein latînisch buoch ze diute | gerne bringen, U V. 44  ff.; zitiert wird nach: Konrad von Heimesfurt: ,Unser vrouwen hinvart‘ und ,Diu urstende‘. Mit Verwendung der Vorarbeiten von Werner Fechter hg. von Kurt Gärtner und Werner J. Hoffmann. Tübingen 1989 (ATB 99)); oder das Rolandslied des Pfaffen Konrad (also iz an dem buͦ che gescribin stat | in franczischer zungen, | so han ich iz in die latine bedwngin, | danne in di tutiske gekeret, RL V. 9080–9083; zitiert wird nach: Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, hg. von Carl Wesle. Dritte, durchges. Aufl. bes. von Peter Wapnewski. Tübingen 1985 (ATB 69)). 16 Vgl. beispielsweise die verschiedenen Widmungsschreiben in Otfrids Evangelienbuch (Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch. Auswahl. Hg., übers. und komm. von Gisela Vollmann-Profe. Stuttgart 1987) oder biscoph guntere vone babenberch (EL V. 1) im Ezzo-Lied (zitiert wird nach: Das Ezzo-Lied in der Vorauer Überlieferung. Text, Übersetzung und Kommentar, hg. von Christoph Lange. München 2014). 17 Vgl. allg. Unzeitig, 2012, S. 217. 18 Mit diesem Vergleich kann das Sprecher- [i.e. Sprecher-Ich] Ich überdies seine Buchgelehrsamkeit ausstellen. Doch auch allgemein scheint es ein beliebter Vergleich zumindest der Texte der Sammelhandschrift zu sein, denn der Bileams-Esel findet sich neben dem Anegenge auch noch im Priesterleben und im Servatius (vgl. Schröder, 1881, S. 38). Vgl. zum Bileams-Esel u.  a. Haug, 1992, S. 49–50; ders., 2001, S. 34; Kiening, 1992, S. 427, mit weiteren Hinweisen. 19 Vgl. auch Teuber, 1899, S. 250. Auffällig ist überdies, dass Bileam augenscheinlich mit Gott, in Wahrheit aber mit einem Engel spricht, eine Konstellation, die unabhängig von Bileam im Anegenge in Zusammenhang mit der Unsichtbarkeit Gottes behandelt wird (vgl. Kap. IV.7.2).



1 Gott, der Sprecher und ‚die Anderen‘ 

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dass Gott seine Worte durch alles lenken kann – am Rande mag hier wohl auch die (humoristische) Aussage enthalten sein, dass, wenn ein Esel von Gott sprechen kann, es wohl auch beim Sprecher des Anegenge funktionieren werde –20 ebenso wie die implizite Bitte des Sprechers, ihn selbst (und seine Rezipienten?) vom falschen Weg abzuhalten. Insbesondere im Prolog des Anegenge zieht sich der Sprecher fast vollständig auf seine Funktion als Verlängerung des göttlichen Sprachorgans zurück: Wie die Eselin stilisiert er sich zum Sprachrohr Gottes.21 Das Anegenge entwirft damit eine mündliche Kommunikationssituation:22 Gott soll direkten Einfluss nicht nur auf das Denken des Sprechers nehmen (nuo belaite meine sinne, V. 9)23, sondern auf seine Sprache selbst, indem er dessen Sprechwerkzeuge, zunge und munt, führen soll. Dem Sprecher des Anegenge ist dabei bewusst, dass menschliche Sprache Göttliches niemals vollständig erfassen kann.24 Er stellt seine rede daher als der Wahrheit so nahe wie möglich aus, denn wie wunderlich sie auch erscheinen mag, sie ist doch der warhait geleich25 (V. 1191–1192). Wie auch an anderen Texten beobachtbar, könnte man darin gewissermaßen einen „Übergang vom Wort Gottes zur menschlichen Stimme, von der göttlichen zur menschlichen Autorschaft“ sehen.26 Ähnliche Inspirationsbitten lassen sich auch in anderen Texten beobachten, beispielweise dem Rolandslied des Pfaffen Konrad: Schephare allir dinge,  | […] lere mich selbe diniu wort; | duͦ sende mir zemunde | din heilege urkunde, | daz ich die luge uirmide, | die warheit scribe (RL V. 1–6). Während hier Mündlichkeit (zemunde) und Schriftlichkeit (scribe) gleichsam verschränkt scheinen, wird im Anegenge betont, dass das Produkt der Inspiration, die rede, ein mündliches ist, dessen Urheber gewissermaßen Gott ist.27 20 Vgl. auch Haug, 1992, S. 49; Schneider, 2006, S. 192. 21 Vgl. Schneider, 2006, S. 192. 22 Damit sei nicht automatisch gesagt, dass es mündlich vorgetragen und auditiv rezipiert worden sein muss. Vgl. zu Mündlichkeit und Schriftlichkeit u.  a. Betten, 1990; Kiening, 2003; Schaefer, 2004; Stridde, 2009, S. 15–26; dies., 2012, S. 25–29. 23 Anklingend hier der spätere Willehalm-Prolog (Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Text der Ausgabe von Werner Schröder. Übersetzung, Vorwort und Register von Dieter Kartschoke. 3., durchges. Aufl. Berlin/New York 2003 (de Gruyter-Texte), 1,23–25). Vgl. auch Ohly, 1962, S. 3; Kiening, 1991, S. 30; Haug, 2001, S. 40. 24 Vgl. Kellner, 2005, S. 141: „Als menschlicher Gesang hat er das Heilige zum Gegenstand, das er prinzipiell nicht einholen kann“. Allg. siehe Neuheuser, 2013. 25 Die Forschung hat wiederholt darauf hingewiesen, dass sich ein ganz ähnlicher Vers (Diz mære ist war, doch wunderlich, W 5,15) im Willehalm Wolframs von Eschenbach findet (vgl. u.  a. Kiening, 1991, S. 210, hier bes. Anm. 157 und 158 mit weiteren Literaturangaben). 26 Vgl. Kellner, 2005, S. 141. 27 Sogar noch deutlicher lässt sich diese Denkfigur schon bei Beda Venerabilis finden, wie Kellner, 2005, S. 139–140, herausstellt: „Der Logos verkörpert sich im Geschöpf, und die Stimme Gottes klingt durch den Körper des menschlichen Sängers hindurch. […] Gott ist der Urheber des Textes, sein eigentlicher Autor“.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Da menschliche Sprache – zumal mit Blick auf das Göttliche – defizitär ist, muss das Gesagte immer wieder abgesichert und an Gott rückgebunden werden. In den Bitten des Sprechers um Unterstützung fallen topische Unfähigkeitsbeteuerungen und Inspirationsgedanken zusammen, wobei die Kommunikationssituation wiederum eine mündliche ist. Es wird suggeriert, dass das, was aus dem Mund des Sprechers kommen soll – und was die Adressaten hören (Vernemt, V. 27; hœreren, V. 298)28 können –, gerade nicht Dichter-, sondern Gotteswort ist. Gott selbst soll es sein, der dem Sprecher die Worte zum Gotteslob eingibt29 – eine Forderung, die an späterer Stelle noch expliziert wird, denn got selbe gesprochen hat, swer von im reden wolde, daz er dar nach nicht denchen solde; er gæb im ze munde, daz er sprechen chunde (V. 290–294)

Gott selbst gibt demjenigen, der von ihm sprechen möchte, die richtigen Worte ein.30 Ganz ähnliche Aussagen finden sich beispielsweise in der Altdeutschen Exodus: suer in dînen minnon | ieht wolte redenon, | daz er ûf tâte den munt, | dû eruultest ime in an der stunt (E V. 23–26);31 oder in der Rede vom heiligen Glauben des Armen Hartmann: wander selbe alsus gebot: […] tuo uf dinen munt, ich irvullen dir zestunt, | daz du maht sprechen (RG Str. 3, V. 2–4).32 Die volkssprachlichen Verse rekurrieren womöglich auf die synoptischen Evangelien, in denen Jesus seine Jünger auffordert, ohne Sorge Zeugnis für ihren Glauben abzulegen, denn selbst wenn sie vor Gericht gestellt würden, würde der Heilige Geist ihnen die angemessenen Antworten eingeben.33 Indem sich das Anegenge somit als rede stilisiert, die direkt von Gott kommt, wird diese rede nicht nur legitimiert, sondern mit einem unverbrüchlichen Wahrheitsanspruch verbunden.34 Zugleich weist der Sprecher, gerade wenn er auf die Evangelien referiert, nicht nur jede Verantwortung für seine rede von sich und Gott zu, sondern

28 Dies könnte man als Hinweis auf eine mögliche Performanzsituation, verstehen, denn der Text wird als auditiv rezipierbar inszeniert, was mit den bereits von Schröder, 1881, S.  24, herausgearbeiteten deutlichen Predigtanklängen harmonisieren würde. Schröder, 1881, S. 82, geht davon aus, „dass das Gedicht zum Vorlesen und Vortragen verfasst wurde.“ Siehe auch Ehrismann, 1966, S. 62. 29 Vgl. ähnlich Schneider, 2006, S. 196. 30 Vgl. Teuber, 1899, S. 260; Schneider, 2006, S. 195; Kiening, 2015, S. 73. 31 Zitiert wird nach: Die Altdeutsche Exodus, hg. von Edgar Papp. München 1969 (Altdeutsche Texte 2). 32 Zitiert wird nach: Der arme Hartmann: Rede vom heiligen Glauben. In: Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. 3 Bd. Nach ihren Formen bespr. und hg. von Friedrich Maurer. Bd. 2. Tübingen 1965, S. 569–628. 33 Vgl. Mt 10,19–20; Mc 13,11; Lc 12,11–12; 21,14–15. 34 Vgl. auch Kellner, 2005, S. 141.



1 Gott, der Sprecher und ‚die Anderen‘ 

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deutet bereits seine Verteidigungsstrategie an: Gott möge ihm nicht nur die Worte (rede) eingegeben, sondern ihm auch bei einer möglichen Anklage das Wort führen. In dieser unmittelbaren Rückbindung an Gott könnte womöglich ein Grund für das Fehlen jeglicher Angaben zu Gönner und Produktion, insbesondere aber des auffällig unspezifischen Sprecher-Ichs liegen. Was genau will dieser Sprecher nun eigentlich beginnen, wovon soll die rede handeln? Das Sprecher-Ich übergibt seine rede der weisunge Gottes (V. 15–16), denn es möchte von seiner gute und von seiner diemute (V. 17  f.), von der weile unt von den tagen […] genzlichen sagen, da du [Gott, E.B.] gedæcht inne, wie du mit deinem sinne die vinster bræchtest ze liechte unt wie du von nichte woldest wurchen elliu dinc, als si hiute hat der werlde umberinc. (V. 19–26)

Nun erst wird das eingangs angekündigte Gotteslob (dein lob, V. 3) spezifiziert: Es soll von Gott gesprochen werden, präziser von Gott ‚vor der Schöpfung‘. Explizit wird hier darauf verwiesen, dass nicht nur Gott allgemein Thema sein, sondern auch von der weile unt von den tagen35 gesprochen werden solle, in denen Gott über die Möglichkeit(en) einer Schöpfung nachdenkt.36 Dieses denchen Gottes spielt im gesamten Verlauf des Anegenge eine herausgehobene Rolle. Nicht nur werden die beiden Beratungen, Schöpfungs- und Erlösungsrat, in Gottes muote (V. 139) und damit seinem denchen verortet,37 auch der Epilog rekurriert abschließend noch einmal darauf: Nachdem Christus in den Himmel aufgefahren ist, erkennen ihn die Engel nicht, er jedoch weist sich im ikonographischen Bezug auf ‚Christus in der Kelter‘38 als Gottessohn und Erlöser aus (V. 3211–3233). Der knappe Epilog expliziert mit dem Verweis auf das Blut Christi (V. 3235) die ikonographischen

35 Auffällig ist hier wie auch im Folgenden die teils konkrete Räumlichkeit und Zeitlichkeit, mit der die Ewigkeit Gottes ausgestaltet ist. Siehe auch Kap. IV.2. 36 Zu überlegen wäre daher, ob im Anegenge überhaupt Heilshandlungen vorgenommen werden, oder ob es sich ausschließlich um das Heilsdenken, gewissermaßen die vorbesicht der Trinität, handelt. 37 Siehe Kap. IV.2. 38 unt trachten alle, wer er mochte sein, | unt sprachen, swer er wære. | im stuont sein wat sam einem torculære. | des antwurt er in mit diemute | daz er die torculen eine trete | unt im hulfe niemen der zuo (V. 3220–3225). Is 63,1–3: quis est iste qui venit […] quare ergo rubrum est indumentum tuum et vestimenta tua sicut calcantium in torculari torcular calcavi solus et de gentibus non est vir mecum [Wer ist jener, der (…) kommt (…)? (…) Warum aber ist dein Gewand rot, / ist dein Kleid wie das eines Mannes, der die Kelter tritt? Ich allein trat die Kelter; / von den Völkern war niemand dabei.] Vgl. u.  a. Schröder, 1881, S. 77; Teuber, 1899, S. 360; Thomas, 1970, Sp. 497–504.

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Bezüge von Wein und Blut39 und nimmt sie zum Ausgangspunkt für eine abschließende Ermahnung: der iuch gemachet hab so here mit sein selbes bluote, dem lonet sein mit guote oder ich sag iu zware, daz iu bezzer wære, daz der selben verte nie gedacht wurte. nu lobe wir den gotes sun in secula seculorum. amen. (V. 3234–3243)

In einer resümierenden Ermahnung fordert das Sprecher-Ich die Rezipienten dazu auf, die Heilstat Christi mit guote zu erwidern, sich also gut, das heißt: sündelos, zu verhalten. Ansonsten wäre es besser, wenn der selben verte | nie gedacht worden wäre (V. 3239  f.). Mit verte scheint hier die Menschwerdung Christi gemeint zu sein.40 In lockerer Paraphrase: Wenn der Mensch die Erlösungstat nicht entsprechend (mit guote, V. 3236) belohnt (lonet sein, V. 3236), ist Gottes Erlösungstat umsonst gewesen. Wie für mittelalterliche Literatur üblich wird hier eine Reziprozität von Gabe (Erlösung) und Gegengabe (guote) angesetzt.41 Doch ließe sich die Stelle auch folgendermaßen lesen: Der Mensch soll sich dem Opfer Gottes angemessen verhalten oder es wäre besser, Gott hätte überhaupt nicht (nie) in diese Richtung (der selben verte) gedacht, nicht an die Erlösung, vielleicht nicht einmal an die Schöpfung. verte würde in dieser Lesart nicht nur die Erlösungstat selbst umfassen, sondern das grundsätzliche Heilsdenken (gedacht, V.  3240)42 der Trinität. Da die Menschwerdung Gottes gleichsam die ultima ratio des Erlösungsrates ist, müsste das ‚Projekt Mensch‘ als gescheitert angesehen werden, wenn dieser größtmögliche Gnadenakt ‚umsonst‘ gewesen wäre.43 Beide Lesarten scheinen möglich 39 Vgl. Thomas, 1970, Sp. 497–498. 40 Vgl. auch V. 3125–3130: Er wolt ouch, daz wurte | mit der selben verte | diu menschait geeret | unt ouch daz geleret, | wie wir ze der haimute solten chomen, | diu uns da wart binomen. 41 Eine Parallele findet sich beispielsweise im Leben Jesu der Frau Ava: nu sehet, wie ir im sîn lônôt (LJ V. 1692; zitiert wird nach: Frau Ava: Das Leben Jesu. In: Ava: Geistliche Dichtungen, hg. von Maike Claußnitzer und Kassandra Sperl. Stuttgart 2014 (Relectiones 3), S. 32–170). Vgl. u.  a. Angenendt, 2004, S. 71. Zu Gabe und Reziprozität siehe u.  a. Sahm, 2014; dies., 2014a; Büchner, 2017; Egidi, 2017; Haferland, 2017. 42 Da das Subjekt des denchens nicht besetzt ist, wären allerdings auch andere Bezüge möglich, so beispielsweise auf den Menschen, der in dieser Leseart besser erst gar nicht (als falsch?) gedacht hätte. Von hier aus wären ebenfalls Bezüge zum Anfang des Textes möglich, wo das tieffe [ ] gedenchen (V. 87) als gefährlich ausgewiesen wurde. 43 Vgl. Kap. IV.3.



1 Gott, der Sprecher und ‚die Anderen‘ 

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und an beide Lesarten schließt sich das finale Gotteslob in secula seculorum (V. 3242) passend an.44 Insbesondere zur zweiten Lesart, die in ihrer Rekurrenz auf das denchen Gottes nochmals Schöpfungs- und Heilsplan in eins führt, passt das Lob des Gottessohnes (nu lobe wir den gotes sun, V. 3241), da in ihm Schöpfergott (V. 203) und Erlösergott zugleich angesprochen sind. Der Epilog schließt somit den Kreis, den der Prolog mit Gottes Denken an die burde, | die er um uns wolde tragen (V. 32  f.) eröffnet. Dieses denchen Gottes wird im Prolog, um darauf zurückzukommen, im Vor-derSchöpfung (V.  30) verortet und somit in Gottes Ewigkeit vor Zeit und Raum, denn letztere entstehen erst mit der Schöpfung respektive dem Sündenfall.45 Dabei ändert sich die Perspektive der Sprechhaltung:46 Hatte der Sprecher mit du bisher Gott selbst angesprochen, so richtet er seine Worte nun an ein ir, das sich in der Phrase um uns (V. 29) als Teil der Schöpfung erweist – dieses ir wird Adressat der gesamten nachfolgenden rede, des Anegenge, sein. Das Sprechen zu Gott wird hier zu einem Sprechen durch Gott.47 Das Adressaten-ir soll nun nicht nur Gottes Worte und Taten, sondern sogar seine Gedanken (gidanc, V. 27) erfahren (Vernemt, V. 27). Dadurch wird suggeriert, dass die Adressaten selbst teilhaftig an göttlichem Gedankengut, an göttlichen Ideen werden könnten. Sie werden direkt in das Geschehen hineingenommen und erhalten so nicht nur Einblick in die göttlichen Schöpfungs- und Heilshandlungen, sondern sogar in deren Planung. Denn in Gott, in seinem denchen, ist die gesamte Heilsgeschichte bereits eingefaltet:48 e er ie icht getæte oder e ie icht wurde, do gedacht er der burde, | die er um uns wolde tragen. (V. 30–33)

44 Das Anegenge rahmen somit ein lateinisches Eingangsgebet und ein lateinisches Ausgangsgebet. Vgl. u.  a. Schröder, 1882, S. 199; Thelen, 1989, S. 507–508; 510. 45 Vgl. Goetz, 2014, S. 4. Siehe ausführlicher Kap. IV.2. 46 Vgl. Unzeitig, 2012, S. 224. 47 Unzeitig, 2012, S. 224–225, allg. S. 219, sieht in diesem Wechsel die stillschweigende Erfüllung der Inspirationsbitte unterstellt. 48 Der Gedanke, dass alles in Gott ‚eingefaltet‘ ist, findet sich beispielsweise bei Nikolaus von Kues: Nam cum ipsa intra se complicet omnes naturas, ut supremum inferioris et infimum superioris, si ipsa secundum omnia sui ad unionem maximitatis ascenderit, omnes naturas ac totum universum omni possibili modo ad summum gradum in ipsa pervenisse constat [Denn da sie in sich Naturen einfaltet, also das Oberste der niederen Natur und das Unterste der höheren Natur, so steht fest, daß in ihr alle Naturen und das gesamte Universum auf jede mögliche Weise zur höchsten Stufe gelangt sind, wenn sie hinsichtlich aller ihrer Bestimmungen zur Einsicht mit der Größe aufgestiegen sind]. Zitiert wird nach: Nikolaus von Kues: Philosophisch-theologische Werke. Lateinisch-deutsch. Mit einer Einleitung von Karl Bornmann. 4 Bd. Hamburg 2002, Bd. 1: De docta ignorantia. Die belehrte Unwissenheit, 197,7–12. Zum complicatio-Begriff bei Nikolaus von Kues siehe u.  a. von Bredow, 1971, Sp. 1026–1028.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Noch bevor Gott sein Schöpfungswerk beginnt, noch im Stadium des Nachdenkens darüber, sind seinem Denken die gesamte Schöpfung, Teufelssturz, Sündenfall und Erlösung bereits inhärent. Abgesehen von solchen textimmanenten Erklärungen ist natürlich auch der theologische Diskurs für das Verständnis solcher Textstellen relevant.49 Dies zeigt allein das Fallbeispiel Hugos von St. Victor: omnia in creatore ab eterno increata fuerunt. que ab ipso temporaliter creata sunt, & illic sciebantur ubi habebantur (DS I,2; S. 67, Z.  25–26).50 Begrifflich unterscheidet Hugo dabei ‚Vorsehung‘ in scire, praescire, providere und praedestinare.51 Für das Anegenge hat die Forschung bisher vor allem von Präszienz gesprochen.52 Doch changieren, wie sich zeigen wird, vorbisehen (z.  B. V. 919; 935; 991) und vorbesicht (z.  B. V. 924; 931) im Anegenge zwischen den Bedeutungsnuancen Wissen (scientia), Voraussehen (providentia) und Vorauswissen (prae­ scientia) Gottes. Einzig eine praedestinatio, die Vorherbestimmtheit der Schöpfung, wird zurückgewiesen.53 Anstatt nun medias in res zu gehen, hält der Sprecher inne, um erneut Gottes Beistand zu erflehen. Dabei wird aus dem singulären ich ein plurales wir, das groziu dinc und wunderlichiu mære (V. 34  f.) von Gott erzählen möchte. Dieses Vorhaben des Sprechers, von Gott reden zu wollen, wird als gefährlich gezeichnet, da die Möglichkeit besteht – insbesondere, wenn Gott es nicht da vor behute[n] sollte (V. 38) –, anderen mit seiner rede Schaden zuzufügen. Das Problem verdeutlicht der Sprecher über zwei Gebote der alten e (V. 40, V. 44): Jeder, der ein Hindernis für einen Blinden auf einem Weg zurücklasse (V.  41–43; Lv 19,14), müsse Schadenssersatz leisten, ebenso wie jeder, der einen Brunnen gräbt, für alles haften müsse, was darin ertrinkt (V. 44–47; Ex  21,33  f.). Dahinter steht folgender Gedanke: Sollte der Sprecher mit seiner rede Falsches sagen, oder sogar nur die Möglichkeit offen lassen, dass sie jemand falsch verstehen könnte, so habe er sich nach dem Rechtsgebrauch der alten e schuldig gemacht und müsse dafür geradestehen. – Während das Anegenge keine Angaben zu konkreten Produktionsbedingungen macht, lässt sich hier und im Folgenden doch

49 Wie in der Einleitung angekündigt, soll hier und im Folgenden keine (hermeneutische) Auswertung des theologischen Diskurses vorgenommen werden. Vielmehr soll er nur punktuell als Ausgangspunkt dienen, um die Eigenheiten des Anegenge noch stärker herauszustellen. Häufig bietet sich dazu das Fallbeispiel Hugo von St. Victor an, bei dem die Forschung zahlreiche Parallelen zum Anegenge meinte ausmachen zu können (vgl. u.  a. Teuber, 1899, S. 249; Schwietering, 1931/41, S. 57; siehe auch Kap. IV.1, Anm. 2). 50 „Alle Dinge waren im Schöpfer von Ewigkeit her unerschaffen, die von ihm zeitlich erschaffen wurden. Und sie wurden dort gewusst, wo sie sich befanden“ (DS I,2; S. 86, Z. 13–14). 51 Vgl. DS I,2; S. 67–69. 52 Vgl. beispielhaft Rupp, 1971, S. 241. 53 Siehe auch Kap. IV.3. Zur Unterscheidung von Providenz, Präszienz und Prädestination vgl. u.  a. Karfiková, 2015, S. 72–99.



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eine „Reflexion des literarischen Aktes vor dem Hintergrund alttestamentlicher Metaphorik“ beobachten.54 Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, weist das Sprecher-Ich jegliche Schuld weit von sich, indem es angibt, keine Verantwortung für die tumben (V. 52) übernehmen zu können, die so tieffe […] gedenchen, dass sie sich selbst ertrenchen (V. 55  f.).55 – Wieder geht es um das denchen, diesmal um menschliches Denken, das im Gegensatz zu göttlichem gefährlich werden kann. – Der Sprecher greift, indem er seine eigene Arbeit als graben (V. 49) bezeichnet, den im biblischen Gebot aufgerufenen Bildspenderbereich des Brunnenbaus und Ertrinkens wieder auf. Die tumben sollen gewarnt werden, sodass sie gar nicht erst versuchen, so tief in die göttlichen Schöpfungsgeheimnisse (in diu gotes tougen, V. 54) vorzudringen,56 dass Gefahr für sie entstehen könnte. Ähnliches formuliert auch Klingsor im Rätselspiel des Wartburgkrieg-Komplexes: wan vindet, daz man gotes tougen fürebaz | niht suochen sol, swer wesen wil bi sinne (Str. 10, V. 2  f. nach C).57 Mit derlei Warnungen wird betont, wie unvorstellbar und unerreichbar die göttlichen (Schöpfungs-)Geheimnisse sind. Zugleich mögen sie auch auf die mittelalterliche Auffassung rekurrieren, dass „zwar der Glaube an die Dogmen von Trinität und Inkarnation für jeden Christen verbindlich“ ist; die „inhaltlich-spekulative Beschäftigung mit ihnen ist jedoch ausschließlich den gelehrten Theologen vorbehalten, während Laien nachdrücklich davor gewarnt werden, in diese und andere Mysterien des christlichen Glaubens eindringen zu wollen.“58 Die Warnungen des Sprechers im Anegenge sind damit durchaus berechtigt, zumal gerade das Paradoxon der Trinität im weiteren Textverlauf beständig präsent ist.59 Doch scheint die daraus resultierende Gefahr – zumindest an dieser Stelle – wohl für andere, nicht aber für das Sprecher-Ich selbst gegeben zu sein.60 Da der Sprecher seine rede gerade nicht als Dichter-, sondern als Gotteswort ausstellt, ist er womöglich aufgrund der intensiven Beistands- und Inspirationsbitten vor derartigen Gefahren gefeit – erneut klingt hier 54 Kiening, 1992, S. 428. 55 Freytag, 1986, S. 146, versteht dies so, dass der Dichter „bestimmte Probleme ausklammern wolle, um den t u m b e n [Hervorhebung im Original, E.B.] nicht zu schaden“. Das scheint allerdings nicht zutreffen; die Probleme sollen nicht ausgeklammert werden, vielmehr will der Sprecher nur keine Verantwortung für eine falsche Rezeption übernehmen (s.  u.). 56 Siehe dazu auch Hallmann, 2015, S. 165, Anm. 45. Hinter diesem so tieffe könnte man die Sünde der curiositas sehen. Zum Begriff vgl. u.  a. Bös, 1995. 57 Zitiert wird nach: Studien zum mittelhochdeutschen ‚Wartburgkrieg‘. Literaturgeschichtliche Stellung, Überlieferung, Rezeptionsgeschichte. Mit einer Edition der ‚Wartburgkrieg‘-Texte, hg. von Jan Hallmann. Berlin u.  a. 2015. 58 Hallmann, 2015, S. 164. 59 Siehe Kap. IV.5; 6. 60 Rupp, 1971, S. 218, spricht vom „Hochmut des Gebildeten“, der der „Leistung“ keineswegs angemessen ist. Kiening, 1992, S. 428, sieht eher die „Vermittlungskompetenz des Autors“, obwohl auch für ihn der „Kontrast zwischen der Abweisung eines Denkens, das sich über letzte Grenzen hinwegzusetzen sucht, und dem eigenen Erzählvorhaben, das eben diese Grenzen in den Blick nehmen wird, zunächst bestehen“ bleibt.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

der Bileams-Esel an: Wie der Prophet durch die Eselin, möge der Sprecher des Anegenge durch Gottes Obhut (V. 15  f.) von falschen Wegen abgehalten werden (V. 13  ff.).61 Und so rät er auch nicht pauschal von einer Beschäftigung mit den gotes tougen, insbesondere dem Paradoxon der Trinität, ab, sondern verschränkt seine Warnungen mit dem Verweis auf die eigenen geistigen Fähigkeiten: Das Sprecher-Ich kann (implizit) keine Verantwortung für diejenigen übernehmen, die schlicht zu dumm sind, seine rede zu verstehen. Nicht der Sprecher trage die Schuld an allen späteren Folgen, sondern diejenigen, die sich selbst und ihre geistigen Kapazitäten nicht angemessen einschätzen könnten. Das Sprecher-Ich weist somit die Verantwortung für eine unangemessene Rezeption von sich und den Rezipienten zu. Ähnliche Strategien finden sich prominent in den Prologen des späteren Parzival Wolframs von Eschenbach und des ebenfalls späteren Tristan Gottfrieds von Straßburg – immer steht dahinter auch die Denkfigur, dass niemand sich selbst als zu tump (Pz 1,15) oder als un-edelez herze (vgl. T V. 117) sehen möchte.62 Sollte allerdings jemand denken, dass der Sprecher ce tieffe welle graben (V. 49),63 der solle nur umso mehr vor schaden (V.  50) bewahrt werden (laiten hin dan baz, V. 51). Was mit diesem baz gemeint ist, wird nicht expliziert; an die Warnungen des Sprechers schließt sich jedoch eine Liste von Themen an,64 die denjenigen, die daz ervorschen wellent (V. 60), gefährlich werden könnten. Diese Liste von gotes tougen, göttlichen (Schöpfungs-)Geheimnissen, nennt Themen, die im Anegenge behandelt werden sollen.65 Die Warnung vor unangemessener Erforschung (tieffe […] gedenchen, V. 55; 87), die nur allzu leicht mit dem Ertrinken enden kann, bildet dabei gleichsam ihren Rahmen. Man könnte sagen, dass die Themen in einer apo-koinou-ähnlichen Konstruktion gleichsam von der Warnung umschlossen werden. Als Themen werden genannt: Gott vor der Schöpfung (V. 61–64); die Namen Gottes (V. 65–66); die Ursachen und Folgen des Teufelssturzes (V. 67–71) und des zweiten Sündenfalls, der wiederum mit der Erlösung durch Christus verbunden ist (V. 72–81); aber auch schwierige theologische Probleme wie die Verdammnis ungetaufter Kinder (V. 82–85).66 – Zumal in der letzten Frage scheint das Theodizeeproblem angesprochen zu sein: Wie kann der gütige Gott das Leid seiner Schöpfung zulassen?67 Wiewohl diese Frage auch im Anegenge wiederholt anklingen mag, wird sie doch an keiner Stelle explizit gestellt oder erörtert. Vielmehr geht es in allen Fällen um Gottes vorbesicht, in der jedes Leid des Menschen stets vor dem Horizont der Erlösung zu denken ist. So wird auch die Ver-

61 Dazu könnte auch passen, dass das Sprecher-Ich, bevor es sich den Namen der Trinität zuwendet, erneut um Inspiration und Unterstützung flehen muss (V. 282–320; s.  u.). 62 Vgl. u.  a. Rupp, 1971, S. 247–248, für den der Text an ein adliges Laienpublikum gerichtet ist. 63 Vgl. u.  a. Kelle, 1876, S. 150; Schröder, 1881, S. 59. 64 Teuber, 1899, S. 251, sieht in dieser Liste den „hauptinhalt des ganzen gedichtes niedergelegt.“ 65 Vgl. u.  a. Rupp, 1971, S. 241; Kiening, 1992, S. 427. 66 Vgl. u.  a. Schröder, 1881, S. 62; Teuber, 1899, S. 279–280. 67 Zum Theodizee-Problem vgl. u.  a. Birkhan, 2002, S. 74–75; Angenendt, 2004, S. 79.



1 Gott, der Sprecher und ‚die Anderen‘ 

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dammnis der ungetauften Kinder damit erklärt, dass Gott vorausgesehen hat (gisach, V. 903), dass si heten mit ir missetæten, | ob siz gelebt heten, | gechoufet doch die hellen (V. 893–895), also ohne jeden Zweifel dem Teufel verfallen wären (vgl. V. 879–920). Hier scheint eine gewisse Tendenz zur praedestinatio auf, was der Verweis auf Gottes gute vorbesicht (V. 924), die nicht gelukket werden dürfe (V. 925)68, noch unterstreicht. Wie die nachfolgenden Verse (V. 926–932) deutlich machen, ist es jedoch gerade der freie Wille des Menschen, der unweigerlich zu bestimmten von Gott vorhergesehenen – nicht vorherbestimmten! – Ergebnissen führen wird.69 Indem das Sprecher-Ich sein gesamtes Vorhaben als gefährlich ausstellt, lehnt es die Verantwortung nicht nur für die (zu tumben) Rezipienten, die seine Aussagen als nicht richtig, als unangemessen (ce tieff) beurteilen, sondern für seine rede insgesamt ab.70 Der Sprecher gibt den Adressaten quasi eine Liste mit Themen  – das Anegenge –, über die sie besser nicht zu tief nachdenken sollten. Das Anegenge wird damit, wird es falsch rezipiert, selbst zum Brunnen, selbst zur (tödlichen) Gefahr.71 Die aufgezählte Liste an gotes tougen wurde von der Forschung als Inhaltsangabe verstanden, die an späterer Stelle sogar in einer Art Binnenprolog nochmals wiederholt wird (V. 860–879).72 Bisher wurde allerdings nicht gesehen, dass das übergreifende Thema des Anegenge, wie eingangs formuliert, Gott in seiner Trinität ist. Die Bedeutung der dri genende (V. 281) zeigt sich auch dadurch, dass die Passage, in der es konkret um die Vorstellung der einzelnen Namen und Personen der Trinität geht,73 durch ein erneutes Gebet des Sprechers eingeleitet werden muss: Die Eröffnungsbitte um Gottes Beistand wird wiederholt (V.  282–320), doch scheint die Bitte allein des

68 Das gelukket bezieht sich dabei auf zweierlei: Zunächst auf die vorbesicht Gottes; zugleich aber meint gelukken wohl im Wortsinn eine Lücke reißen, hier in die Zahl der Menschen, die Gott als Ersatz für die gefallenen Engel vorherbestimmt hat (V. 914–918). Vgl. Teuber, 1899, S. 281. 69 Besonders deutlich wird dies im Rahmen des Sündenfallgeschehens im Anegenge (siehe Kap. IV.5). Demgemäß finden sich im Anegenge auch Menschen, die als rechte (V. 1504 u.  a.) bezeichnet werden, und solche, die (implizit) unrechte (V. 1798 u.  a.) sind. 70 Fast könnte man sagen, der Sprecher des Anegenge lehne gerade seine „Verantwortung“ dafür ab, „daß er das Wort der Bibel richtig weitergibt, daß es in rechtem Verständnis aufgenommen wird, daß es dem Seelenheil derer frommt, an die er sich wendet“ (vgl. Masser, 1976, S. 15). 71 Vgl. ähnlich Kiening, 1992, S. 429: Die rede ist „Prozeß und Gegenstand zugleich, Weg und Hindernis, Akt des Grabens und Loch in einem“; ders., 2015, S. 74: „Sie erscheint selbst als […] ein Brunnen, der unerhörte Tiefen eröffnet, denen man zum Opfer fallen kann, so man sich nicht der Kompetenz des Sprechers anvertraut.“ 72 Vgl. insbesondere Rupp, 1971, S. 241: Seiner Ansicht nach gehe es im Anegenge um „Gott vor der Schöpfung – die Trinität – der Fall des Teufels – der zweite Sündenfall – die Erlösung – warum Gott Menschen schafft, von denen er weiß, dass sie doch in die Hölle kommen: die Präszienz. […] Es geht dem Dichter vor allem um den Fall des Menschen und um die Wiedergutmachung dieses Falles durch Christus.“ Diese Meinung hat sich in der Forschung festgesetzt, doch zumindest für Vollmann-Profe, 1994, S. 149, „denkt und argumentiert der Autor dabei ganz vom göttlichen Pole her“. 73 Vgl. Kap. II.2.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Sprechers nicht mehr auszureichen.74 Bevor er sich der Trinität zuwendet, bittet er die Rezipienten (hœreren, V. 298; ir, 318) um ihre Fürbitte für sich und sein Vorhaben bei Gott: nu sult ir biten umbe mich, | der von anegenge also hiezze | daz er mir den muot entsliezze (V. 318–320). In dieser Lesart würde  – und die nachfolgenden Kapitel werden es noch genauer herausstellen  – bereits das erste Wort des Anegenge sein Thema nennen: Dominus.75 Zwischenfazit Es lässt sich somit festhalten: Das Anegenge suggeriert eine mündliche Kommunikationssituation, die sich zwischen den Polen Gott (du) – Sprecher (ich/wir) – ‚die Anderen‘ (ir) aufspannt. Während das ir anscheinend nur über Fürbitten (für den Sprecher) mit Gott kommunizieren kann, spricht das Sprecher-Ich sowohl zu Gott als auch zu den Anderen. Vermittels der rede des Sprechers, die als von Gott gelenkt inszeniert wird, können die Adressaten Anteil nicht nur an göttlichem Schöpfungs- und Heilshandeln, sondern bereits an der Planung in Gottes denchen nehmen. Dennoch bleibt die (menschliche) Sprache defizitär, zumal im Hinblick auf die Vermittlung von Göttlichem. Indem das Sprecher-Ich aber gerade davon sprechen möchte, begibt es sich auf einen gefährlichen Weg, der leicht ins Verderben führen kann, dann nämlich, wenn man tumb ist oder ce tieffe darüber nachsinnen wollte – was weniger den göttlich-inspirierten Sprecher selbst, als seine Adressaten zu betreffen scheint. Wie prekär das Vorhaben, die rede, einerseits und das Wagnis der Rezeption andererseits sind, wird in der eindringlichen Zurückweisung jeglicher Verantwortung des Sprechers deutlich. Pointiert könnte man sagen: Eine Beschäftigung mit dem Anegenge kann ausschließlich ohne Gewähr und auf eigene Gefahr erfolgen. Zu überlegen wäre, ob sich aus der Thematik des Anegenge, insbesondere der Thematisierung der Trinität, die Laien untersagt war, ableiten lässt, dass es in einem klerikalen Umfeld entstanden ist.76 In diese Richtung könnten auch der immer wieder beobachtbare Predigtgestus (s.  u.) deuten. In jedem Fall grenzt sich das Sprecher-Ich, nicht zuletzt in der Zurückweisung jeglicher Verantwortung für die Rezeption seiner rede, deutlich von seinem Gegenüber ab. Die ‚Interaktion‘ des Sprechers mit den Adressaten soll daher im Folgenden genauer betrachtet werden. 74 Eine ähnliche Denkfigur lässt sich auch im Willehalm (W 2,16–26) finden (vgl. u.  a. Ohly, 1962, S. 2–4; Haug, 1992, S. 47). 75 Noch präziser würde es der erste Vers der späteren Erlösung ausdrücken: Got hêre in dîner trinitât! (Zitiert wird nach: Die Erlösung. Eine geistliche Dichtung des 14. Jahrhunderts. Auf Grund der sämtlichen Handschriften zum erstenmal kritisch hg. von Friedrich Maurer. Leipzig 1934 (Deutsche Literatur 6)). Siehe zur Erlösung auch Kap. IV.3; 6. 76 Vgl. dazu u.  a. Hallmann, 2015, S. 169. Gottschall, 1992, S. 61, geht davon aus, dass der Dichter sein (Schul-)Wissen in einer „Kloster- oder Domschule“ erworben habe. Für Sullivan, 2001, S. 16, handelt es sich beim Dichter des Anegenge um einen „priest or monk“.



1 Gott, der Sprecher und ‚die Anderen‘ 

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1.2 Der Sprecher und ‚die Anderen‘ Wiederholt tritt der Sprecher seinen Adressaten in didaktisch-belehrender Haltung gegenüber. Diese zeigt sich besonders in Formeln wie: ich wil dirz sagen, du sein niht enweist, V. 396; des welle wir iu ein tail sagen, V. 593; nu welle wir iu mer sagen, V. 1766; muzze wir iu ez sagen nuo, V. 1864; Nu welle wir iu einez der under sagen, V. 2044; iu des ein tail sagen, V. 2164; u.m. – wobei diese Phrasen, zumal in Kombination mit nu, häufig neue Themen ein- oder auf unterbrochene zurückleiten. Ein Beispiel, in dem das Sprecher-Ich seinen Adressaten Wissen vermitteln will, wäre der Katalog göttlicher Namen und Bezeichnungen. Der Lehrgestus wird bereits zu Beginn der Passage deutlich, die eingeleitet wird mit den Worten Nu vernemt, zwiu daz gitan sei (V. 339). Der Sprecher stilisiert sich damit selbst als Wissender, der den Adressaten seine Kenntnisse weitergeben möchte (nu wil ich iu entechen, V. 390): Er kennt die Namen Gottes, kann sie aufzählen und darüber hinaus sogar auf weitere Bezeichnungen in fremden Sprachen verweisen (V. 386–389).77 Während dieser Lehrgestus den Sprecher des Anegenge von seinen Adressaten abgrenzt, ist er zugleich auch Teil ihrer Gruppe, dann nämlich, wenn damit die gesamte Christenheit gemeint ist. Dies äußert sich insbesondere in der Referenz auf Gott (unser herre, V. 342) oder wenn der Sprecher versucht, seine rede abzusichern: Durch den Plural (uns, V. 573; daz sul wir also verstan, V. 404) zeigt er sich als Teil der betroffenen oder zu belehrenden Gruppe (der Laien, der Christen), hebt sich aus dieser Gruppe jedoch sogleich wieder heraus, da er fähig ist, eben diese Lehren selbst zu erteilen. Auch im weiteren Verlauf des Anegenge wechselt das Sprecher-Pronomen immer wieder zwischen Singular (ich) und Plural (wir).78 Wer mit dem wir gemeint ist, wird im Anegenge nicht geklärt. An manchen Stellen kann der Wechsel von Singular und Plural jedoch auf den Gestus des Predigthaften zurückgeführt werden.79 Überdies lässt sich zeigen, dass das wir häufig eine Gruppe von Wissenden und daher Lehrbefähigten meint, der sich der Sprecher zurechnet. Ein Beispiel: Das Sprecher-Ich beteuert, dass Gott die Schöpfung nicht um seinetwillen, sondern nur für seiniu chint (V. 109) wollte.80 Zunächst ist es der Sprecher selbst, der ausführlich die absolute Unabhängigkeit Gottes von jeglicher Schöpfung betont (V. 101–137).81 Dabei stilisiert er sich als Wissender, als Lehrer (ich tuon iu wærlichen chunt, V. 103): Das Sprecher-Ich weiß, dass die Schöpfung Gott braucht (daz himel unt erde dehain stunt | gotes nicht mocht enberen, V. 104  f.), nicht aber Gott die Schöpfung. Durch diesen Wissensvorsprung grenzt es sich von ‚den Anderen‘ ab. Doch verlässt es sich nicht nur auf seine eigene Autorität: daz wær uns nicht ze leren, | 77 Vgl. Teuber, 1899, S. 263–264. 78 Anders Stridde, 2011, Sp. 549–500. 79 Der Wechsel von 1. Pers. Sg. und Pl. begegnet zumal in geistlichen Texten immer wieder (vgl. u.  a. Hellgardt, 1998, S. 58–59). Im Folgenden wird weiterhin vom Sprecher(-Ich) gesprochen. 80 Siehe auch Ohly, 1994, S. 254–255. 81 Vgl. Teuber, 1899, S. 252.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

daz er ir ze icht bedurfen solde (V. 106  f.). Indem der Sprecher im Plural, uns, spricht, suggeriert er eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe Lehrbefähigter (leren, V. 106), die ihm sozusagen ‚Rückendeckung‘ geben (könnten).82 Probleme, die allem Anschein nach besonders komplex oder (er-)klärungsbedürftig sind, werden in einer Art Frage-Antwort-System besprochen. Das (Schein-)FrageAntwort-System erinnert dabei in nuce an die Gattung der Lehrdialoge: „Der Autor des Anegenge […] überträgt theologische Fragen in das Schema einer disputatio, setzt sich mit möglichen Einwänden auseinander […] und stützt seine Argumentation durch zahlreiche Quellenberufungen“.83 Das Anegenge nutzt dabei verschiedene Fragetypen mit unterschiedlichen Antwortstrategien. Einen ersten Typ stellen Fragen dar wie: Warum erlegt Gott dem Menschen ein Verbot auf, das zwangsläufig gebrochen werden wird (V. 1117–1121)? Derartige Fragen werden mit teils längeren Ausführungen beantwortet, im vorliegenden Fall entwickelt der Sprecher eine differenzierte Begründungsstrategie, deren Resultat der ‚kontrollierte Sündenfall‘ darstellt.84 Daneben kann es vorkommen, dass (indirekt) die Richtigkeit voranstehender Ausführungen in Zweifel gezogen wird. So weist eine Frage innerhalb der Darstellung des Sündenfallgeschehens – wie kann Eva von Gottes Verbot wissen – selbst auf einen Widerspruch hin, der dadurch erst (recht) evident wird:85 wie sol disiu rede zesamne chomen, daz ir von uns habt vernomen, daz si da nicht wære, da unser schephære im daz obez verbot […]? er wæne, ich gar habe gelogen. wir wellen daz nicht fur luge haben, war zu solde wirz iu danne sagen, so wær ez bezzer verdagt. (V. 1269–1279)

82 Neuschäfer hingegen konjiziert die überlieferten Verse zu: daz wart uns niht gelern, | daz er ir ze iht bedurfen solde. Die zunächst harmlos erscheinende Konjektur hat doch weitreichende Folgen: Nach Neuschäfer reiht sich das Ich in die Gruppe derer (uns, V. 106) ein, denen gesagt wurde (gelern, V. 106; „LISE“, Mittelhochdeutsches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www.woerterbuchnetz.de/ BMZ?lemid=L01001, abgerufen am 14.03.2022.), dass Gott seine Schöpfung nicht braucht. In den überlieferten Versen hingegen stilisiert sich der Sprecher selbst zum Lehrenden (ze leren). 83 Vgl. Freytag, 1986, S. 147–148. Siehe auch Ehrismann, 1966, S. 60; Sullivan, 2001, S. 16; Lechtermann, 2021, S. 100–101. 84 Siehe Kap. IV.5. 85 Vgl. Kelle, 1876, S. 150; Teuber, 1899, S. 293; Kiening, 1992, S. 429; ders., 2015, S. 74.



1 Gott, der Sprecher und ‚die Anderen‘ 

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Bemerkenswert ist im Anegenge wiederum der Wechsel der Personalpronomina. Der Vorwurf, Lügen zu verbreiten, wird im Singular (ich, V. 1276) referiert; die Lüge (gelogen, V. 1276) wird damit allein dem Sprecher angelastet. Doch steht der Sprecher mit seinen Aussagen keineswegs allein da, sondern ist abgesichert durch ein gemeinschaftliches wir: Die in Frage gestellte rede ist über den Plural von uns (V. 1270) als ‚Gemeinschaftsprodukt‘ ausgewiesen. Demgemäß steht auch die anschließende Wahrheitsbeteuerung im Plural (uns, V. 1270; wir, V. 1277; 1278). Indem sich das Sprecher-Ich als Teil einer anderen Gemeinschaft86 (uns, V. 1270; wir, V. 1277; wirz, 1278) stilisiert, distanziert es sich deutlich vom Vorwurf der Lüge und damit auch von seinen Adressaten (ir, V. 1270; er, V. 1276; iu, V, 1278).87 Zugleich wird der Vorwurf der Lüge als per se absurd ausgestellt, denn was wäre der Nutzen davon (war zu, V. 1278), Falsches zu berichten. Nach diesen Legitimierungsstrategien überrascht die Begründung des Sprechers für Evas Wissen um das Verbot: ir möht ez der man haben gesagt (V. 1280). Doch kann man die im Anegenge aufscheinende Lakonik so verstehen, dass es schlicht keiner (weiteren) Begründung bedarf: So paradox und unverständlich die Aussagen des Sprechers auch sein mögen, er spricht wahr, was das kollektive wir unterstreicht. Abgesehen von solch textimmanenten Erklärungen, wäre auch zu überlegen, ob sich hier eine direkte oder indirekte Verbindung zu Hugo von St. Victor herstellen ließe. Hugo nutzt Fragen, wie sie sich auch im Anegenge finden, „zur tieferen Begründung seiner Lehren. Er widerlegt zu diesem Zwecke, was keiner behauptet. Er verteidigt, was niemand bestritten.“88 So findet sich auch die Diskussion um Evas Wissen über das Verbot in Hugos De sacramentis: Sane hic considerandum quod non quemadmodum superius uidetur soli uiro preceptum datum est (DS I,7; S. 170, Z. 23–24).89 Hugo betont in dieser Diskussion die Abhängigkeit der Frau vom Mann: Da sie dem Mann unterworfen ist, kann sie göttliches Gebot nur vermittels des Mannes erfahren.90 Diese Bedeutung mag in dem bewussten Vers 1280 – ir möht ez der man haben gesagt – nachhallen. Doch liegt die Betonung im Anegenge im Rückbezug auf Gn 2,24 – erunt duo in carne uno – gerade auf der Gleichheit von Mann und Frau:

86 Wie schon zuvor kann hier die Gruppe der Wissenden oder der Lehrbefähigten ebenso gemeint sein wie Gott, der die Sprache des Sprechers lenkt. 87 Ausnahme ist das unser (V. 1272), mit dem sich die Sprechinstanz in die Gemeinschaft aller Gottesgeschöpfe eingliedert. 88 Kelle, 1876, S. 150. 89 „Es ist freilich hier zu erwägen, dass das Gebot nicht, so wie es weiter oben scheint, allein dem Mann gegeben wurde“ (DS I,7; S. 196, Z. 1–2). Vgl. auch Teuber, 1899, S. 294–295. Eine direkte Bezugnahme des Anegenge auf Hugo muss damit allerdings nicht gegeben sein. 90 Vgl. DS I,7; S. 170, Z. 23–S. 197, Z. 3. Vgl. auch Teuber, 1899, S. 295.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

unt gewuc aber er ir sein nie zuo, so was ez ir wol verboten duo, do daz got wolte, daz man unt wip ein leip wesen solte. (V. 1281–1284)

Die Verbindung zu Hugo von St. Viktor hatte schon Teuber aufgezeigt. Sein Fazit: Allein es stellt sich heraus, dass für die ganze stelle Hugo von St. Victor dem dichter als quelle diente. Dadurch erscheinen jene verse nicht mehr als ein ausfluss selbständigen denkens und forschens, sondern lediglich als gelehrter und poetischer aufputz.91

Die voranstehende Analyse der Passage, macht jedoch deutlich, dass sich zwar gewisse Verbindungen zu gelehrten theologischen Diskursen, vielleicht auch im Besonderen zu Hugo von St. Victor, aufzeigen lassen, dass im Anegenge dabei aber durchaus eigene Schwerpunkte und Akzente gesetzt sind. Auf den ersten Blick ähnlich funktioniert im Anegenge ein weiterer Fall, der der Passage zu Kains Schicksal nach dem Brudermord entnommen ist: wie mochte daz sein, daz der arme Cayn seinem sun eine burch worchte, do er im so harte vorchte, fur daz er den fluoch enphie, daz er immer mere gie in dem stoudæhe, daz in iemen sæhe, von dem er würde erslagen? (V. 1716–1724)

An die Genealogie Kains schließt sich die Frage, weshalb Kain trotz seiner extremen Todesangst eine burc für seine Nachkommen habe errichten lassen. Auch hier fällt die Antwort denkbar lakonisch aus und bleibt, im Gegensatz zum vorherigen Beispiel, trivial: si mochten wol holz haben (V. 1725); alternativ möcht ez wol frumen sein wip (V. 1730). Die Antworten lassen daran zweifeln, ob es sich hierbei tatsächlich um eine ernst gemeinte oder nicht eher um eine Scheinfrage handelt – doch auch dann bleibt zu überlegen, wozu sie dienen soll; über die Antworten des Sprechers kann hier weder Wissen noch Eloquenz ausgestellt werden.92 Allenfalls könnte in der Trivialität eine

91 Teuber, 1899, S. 294. 92 Zu überlegen wäre allerdings, ob zumindest der Verweis auf das vorhandene Holz auf eine Tradition anspielen könnte, nach der Kain sich mit seiner Frau an einem Ort niedergelassen habe, „wo es viele bäume und wälder hatte“ (zitiert wird nach: Das christliche Adamsbuch des Morgenlandes.



1 Gott, der Sprecher und ‚die Anderen‘ 

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gewisse Komik liegen, die für die vorliegende Sammelhandschrift auf den ersten Blick eher ungewöhnlich scheint.93 Ein anderes Beispiel, das dem Sprecher falsche Aussagen unterstellt, stammt aus dem Abschnitt zum Bau der Arche: Nu habent genuoge den streit, daz er lenger ceit dar zuo muse haben. daz welle wir iu widersagen. wir sulen noch enmegen daz nicht widerreden, im enhulfe vil wol daz, daz er sein waidegeselle was. der si ouch solte erneren, (V. 1870–1878)

Das Sprecher-Ich weist auf eine Auseinandersetzung darüber hin, in welcher Zeitspanne Noah die Arche mit den zu rettenden Lebewesen habe beladen können,94 wobei es eindeutig Position bezieht: Die von ihm genannte Zeit von sieben Tagen (siben tage unt nicht mer, V. 1862) sei korrekt, denn Gott selbst habe Noah als weide­ geselle (V. 1878) geholfen, alle Lebewesen zusammenzutreiben. Dieses Vorgehen ist kein Einzelfall: Wiederholt referiert der Sprecher unterschiedlichste Lehr- oder (vermeintliche) Irrmeinungen (V. 788  ff.;95 V. 1193  ff.;96 V. 2183  ff.;97 u.  a.), um sich anschließend selbst dazu zu positionieren. Besonders deutlich zeigt sich dies bei der Frage nach der Gottheit Christi: Der nu wære ein boser irrære, der fraget uns ubellichen des, do er diu helfe selbe was, zwiu er daz tæte, daz er so tiwer an dem chriuce bæte? unt du er zu der marter gie, daz er so harte vorchte die, daz er driu gebet uf ze seinem vater tet, ob er si mochte vervarn, Aus dem Äthiopischen übers. von August Dillmann. Göttingen 1853 [Nachdr. Leopold Classic Library], S. 74). Vgl. Teuber, 1899, S. 312. 93 Ob und inwiefern sich Ironie in den Texten des Cod. Vind. 2696 finden lässt, bedürfte weiterer Untersuchungen. Vgl. zu Ironie im Kontext der Heilsgeschichte u.  a. Althoff und Meier, 2011, S. 39–58. 94 Vgl. Kelle, 1876, S. 148–149; Teuber, 1899, S. 318. 95 Vgl. Teuber, 1899, S. 277–278. 96 Vgl. Teuber, 1899, S. 290. 97 Vgl. Teuber, 1899, S. 331.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

doch er sich selbe biwarn chunde vor sere, wen er do helfe bæte mere? (V. 787–800)

Wieso muss Christus am Kreuz Gott um Hilfe anflehen, wenn er doch selbst Gott ist? Die indirekt vermittelte Irrmeinung gestattet es dem Sprecher Glaubensfragen aufzuwerfen, die als ketzerisch gelten könnten. Nicht das Sprecher-Ich ist es somit, das eine solche Möglichkeit in Erwägung zieht, sondern sündhafte Irrgläubige (bœser irrære, V. 788) – über den Irrealis wære (V. 787), der eine solche Meinung als rein hypothetisch ausstellt, wird sogar eine noch größere Distanz geschaffen.98 In der Beantwortung dieser Frage kann der Sprecher einmal mehr sein Wissen auch um schwierige theologische Probleme unter Beweis stellen: Christus ist ganzer Gott und ganzer Mensch, und nur als letzterer leidet er Schmerzen (dem vlaisch was vil swære, V. 804).99 Der Sprecher kennt das dahinterstehende theologische Problem  – die Zwei-NaturenLehre –100 und kann es erklärend vermitteln. Noch ein weiteres, deutlich weniger brisantes Beispiel dafür, wie das Sprecher-Ich Fragen nutzt, um eigenes Wissen zu referieren: Wo soll die Frau hergekommen sein, mit der Kain seine Nachkommen zeugte – etwer nu mechte | fragen, wa wære dannoch daz weip (V. 1643  f.)?101 Über seine Antwort kann der Sprecher sein Wissen um die Nachkommenschaft Adams ausstellen: Dieser hatte driu | unt sechzic chint (V. 1652) von denen waren driu unt dricic man, | daz ander waren allez wip (V. 1653  f.).102 Zugleich wird die Frage zum Aufhänger, um von Kain zurück auf die Genealogie Adams und damit die Geburt Seths, dem dritten Sohn Adams und Evas, zu leiten. Neben Äußerungen im Frage-Antwort-Modus nimmt das Sprecher-Ich wiederholt eine kommentierend-reflektierende Haltung ein. Diese zeigt sich in eingeschobenen einzelnen Versen – solhe gedanc sint enwicht (V. 64); unt was daz vil billich (V. 241); iedoch ist ez ein wunder (V. 586) –, oder sogar nur einzelnen wertenden Attributen: willechlichen er do sprach (V. 1068); frœlichen (V. 1181); diu armen chindelein (V. 82); diu arme [Eva nach dem Sündenfall] (V. 1330); Der ubel tivel (V. 1285) usf. Doch auch längere Kommentare, die Gottesrat103 wie biblische Erzählung104 durchziehen, lassen sich finden. 105 Das Sprecher-Ich unterbricht dann die jeweiligen 98 Vgl. Kiening, 1992, S. 429. 99 Siehe auch Kap. IV.4. 100 Vgl. u.  a. Angenendt, 2004, S. 22–23; Goetz, 2011. 101 Anders Teuber, 1899, S. 308–309, der weip (V. 1644) auf Eva bezieht. 102 Die in dieser Lesart naheliegende Problematisierung des Verwandtschaftsverhältnisses zwischen Kain und seiner (Schwester-)Frau wird stillschweigend übergangen. Im Christlichen Adamsbuch des Morgenlandes (S. 74), wird Kains Frau explizit als seine Schwester Luva ausgewiesen. 103 Siehe Kap. IV.3. 104 Siehe Kap. IV.5. 105 Lechtermann, 2021, S. 99, sieht in der Passage zur Sündenwaage, im Abschnitt zur Unsichtbarkeit Gottes und in der Reflexion über die Namen der Trinität drei „commentaries […] expanded to the size



1 Gott, der Sprecher und ‚die Anderen‘ 

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Ausführungen, um ein Aussagen zu spezifizieren oder ins rechte Licht zu rücken. Ein Beispiel vom Ende des Sündenfallgeschehens: „nu ist worden Adam als unser einer gitan.“ so sprach er umbe daz, daz er dar umbe was worden ungehorsam, daz er wurde gitan als sein schephære. wir versten, daz diu rede wære gesprochen in schimpfweise. (V. 1476–1484)

[E]cce Adam factus est quasi unus ex nobis (Gn 3,22). „Nun ist Adam wie wir geworden“ – so die direkte Rede Gottes im Anschluss an die Entdeckung des Sündenfalls. Gott beklagt, dass Adam durch den Tabubruch, den Verzehr der verbotenen Frucht, Anteil am Göttlichen, die Erkenntnis von Gut und Böse, erhalten habe. Der Kommentar des Sprechers intensiviert diese Aussage im Anegenge noch: Der Mensch habe das Gebot gebrochen, gerade weil er wie Gott werden wollte. Die göttliche Rede ist damit gleichsam das Fazit dessen, was in der Verführungsszene präsentiert und nun vom Sprecher resümierend erinnert und präzisiert wird. Zugleich perspektiviert der Sprecher, als kollektives wir,106 die Worte Gottes auf eine weitere Sinndimension hin: Indem er die Worte Gottes als schimpfweise (V. 1484) bezeichnet und damit den Kontrast zwischen beabsichtigter Konsequenz (wie Gott werden) und tatsächlicher (Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies) betont, weist er das Gotteswort als Hohn aus. Diese Dimension ist ein Zusatz zu Gn 3,22, die sich ähnlich auch bei Hugo von St. Victor findet: „Irrisio est, quae respicit“.107 Ein ähnliches Beispiel zeigt sich wenige Verse später. Wiederum spricht Gott, diesmal in indirekter Rede: Wenn der Mensch auch vom Baum des Lebens gegessen hätte, wäre er auf ewig unsterblich. Und wiederum präzisiert der Kommentar des Sprechers die Worte Gottes: Sie könnten so verstanden werden, als habe Gott Mitleid (erbarmote, V. 1496) mit dem Menschen und wolle nicht, dass er auf ewig (immer me,

of small treatises“. Zu den Kommentaren des Sprecher-Ich und dem Kommentarhaften im Anegenge siehe grundlegend Lechtermann, 2021. 106 Während in der didaktisch-belehrenden Haltung des Sprechers wiederholt ein sublimes Spiel mit den Personalpronomina und den damit verbundenen Legitimationsansprüchen zu beobachten ist, sind seine Kommentare häufig frei von ich- und wir-Aussagen. Die selten(er)en wir-Aussagen haben zumeist eine andere Funktion: Das Ich integriert sich weniger in ein Kollektiv des Wissens, vielmehr handelt es sich um das Kollektiv der Christenheit, die Gottes Gnade verloren hat oder von ihm erlöst werden will. 107 Hugo von St. Victor: Adnotationes elucidatoriae in Pentateuchon, PL 175, 43C. Vgl. Teubner, 1899, S. 302 mit weiteren Hinweisen.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

V. 1498) verdammt bleiben müsse (in der note | […] ligen solde, V. 1497  f.). Der Kommentar, der hier auch als Deutung bezeichnet werden könnte, erhält jedoch eine (vorsichtige) Einschränkung: Der Sprecher behauptet kein Wissen; er will nicht postulieren, dass Gott eben dies habe sagen wollen, er antizipiert es lediglich: daz was diu vil geleich, | als ob (V. 1495  f.).108 – Über das erbarmen Gottes wird zudem ein impliziter Konnex zwischen Sündenfall und nachfolgender Erlösung(sberatung) hergestellt. Eine wieder andere Haltung zeigt der Sprecher in moralisch-predigthaften Ermahnungen109 zu richtigem, gottgefälligem Verhalten110 – ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch den gesamten Überlieferungsträger des Anegenge zieht, ich verweise hier nur auf das Priesterleben oder die Warnung. Als Beispiel kann nochmals der Epilog des Anegenge dienen: Das Sprecher-Ich wendet sich an die Adressaten (iuch, V. 3234) und ermahnt sie, die Erlösungstat Christi mit gute (V. 3236) zu erwidern, da es ihnen (iu, V. 3238) sonst schlecht ergehen würde. Indem der Sprecher von einem ir, nicht aber von einem wir spricht, grenzt er sich von seinen Adressaten ab. Die Ermahnung zu richtigem, gottgefälligem Leben richtet sich an alle anderen, die Adressaten oder sogar die ganze Christenheit; der Sprecher selbst scheint keine derartige Ermahnung nötig zu haben, ihm ist die Notwendigkeit guot zu sein bereits bewusst. – Generell scheint es dem Sprecher des Anegenge nicht so sehr um sein eigenes Seelenheil, als um das der anderen zu gehen. Nirgends wird wie beispielsweise in Otfrieds von Weißenburg Evangelienbuch gesagt, dass der Sprecher mit seiner rede Vorsorge treffen möchte für ein Leben nach dem Tode,111 sich wie etwa der gelehrte Ritter im Armen Heinrich Hartmanns von Aue Fürbitten für der sêle heiles (AH V. 25) erhoffe,112 oder sich wie das Ich der Kindheit Jesu von falschen (weltlichen) Einflüssen oder der Sünde distanzieren wolle.113 – So kann es in direktem Anschluss an seine Ermahnung eine Möglichkeit, Gott mit guote zu danken, aufzeigen: nu lobe wir den gotes sun (V. 3241). Im Gebet steht der Sprecher ‚den Anderen‘ nicht mehr gegenüber, sondern gliedert sich ein in die Reihe derer, die seinen eigenen Rat beherzigen wollen. Die Erlösungstat Christi, die mit den Versen der iuch gemachet hab so here | mit sein selbes bluote (V. 3234  f.) aufgerufen ist, ist dabei zugleich der Grund für die Ermahnungen des Sprechers und der Garant für die Wahrheit seiner Aussagen.

108 Vgl. Teuber, 1899, S. 303. 109 Schröder, 1881, S. 25–26. 110 Vgl. zur mittelalterlichen Predigt u.  a. Knoch, 2004. 111 Vgl. u.  a. Otfrieds von Weißenburg Evangelienbuch (I,2, V. 40–46). Siehe auch Kartschoke, 1984, S. 21. 112 Vgl. Der armen Heinrich Hartmanns von Aue (AH V. 1–25; zitiert wird nach: Hartmann von Aue: Der arme Heinrich, hg. von Hermann Paul, neu bearb. von Kurt Gärtner. 17. durchges. Aufl. Tübingen 2001 (ATB 3)). 113 Vgl. Die Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen (KJ V. 88–90; zitiert wird nach: Konrad von Fußesbrunnen: Die Kindheit Jesu, hg. von Hans Fromm und Klaus Grubmüller. Berlin/New York 1973). Vgl. u.  a. Tomasek, 2018, S. 68, bes. Anm. 18.



1 Gott, der Sprecher und ‚die Anderen‘ 

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Zwischenfazit Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass sich das Sprecher-Ich stets – außer im Gros der Christenheit – von seinen Adressaten abgrenzt: Es hat keine Lehren oder Ermahnungen nötig, sondern kann selbst lehren, auslegen, erklären und widerlegen. Zu diesem Zweck nutzt das Sprecher-Ich wiederholt (Schein-)Fragen, um Wissen auszustellen, Übergänge zu schaffen oder Probleme zu diskutieren. Der Modus erinnert dabei an Hugo von St. Victor, der mittels solcher Verfahrensweisen seine Lehre verdeutlichen und begründen möchte. Zugleich scheint auch Abaelards Sic et Non114 aufgerufen, in der sich dieser mit widersprüchlichen Aussagen in den Schriften der Kirchenväter auseinandersetzt.115 Indem der Sprecher des Anegenge ebenfalls Probleme und Irrmeinungen ausstellt, kann er (implizit) beweisen, dass er nicht nur um die Gefahren weiß, sondern auch die (aktuellen theologischen) Diskurse kennt und die richtige Lehre vermitteln kann.116 Diesbezüglich sei nochmals an den Prolog des Anegenge erinnert: Dort hatte der Sprecher die Verantwortung für seine nachfolgende rede weit von sich und einer angemessenen Rezeption(shaltung) zugewiesen. Die nachfolgenden Fragen, Diskussionen und Problematisierungen verdeutlichen einmal mehr, wie viel Falsches im Hinblick auf Glaubensfragen behauptet wird und wie leicht es wäre, sich darin zu ertrenchen (V. 88). Problematisch ist allerdings, dass der Sprecher die aufgezeigten Fragen, Widersprüche oder Irrmeinungen zwar nennt, aber nicht angibt, worauf sie zurückzuführen seien. Auch diskutiert er nicht nur schwierige theologische Probleme oder divergente Lehrmeinungen ohne sich auf die entsprechenden Autoritäten zu berufen, sondern arbeitet sich überdies an Problemen wie der Frage nach Kains burch ab, die bisweilen ins Triviale abzugleiten drohen. Zu fragen bliebe demnach, ob es sich bei dem Frage-Antwort-Modus lediglich um ein Rudiment gelehrter (lateinischer) Diskurse handelt, dessen Bedeutung im Anegenge nicht (mehr) in jedem Fall erkennbar ist, oder ob es eine bewusste Strategie ist, mittels derer beispielsweise der Zugang zu den sperrigen, komplexen Themen aufgelockert oder erleichtert werden sollte.117 Zugleich nimmt die rede des Sprechers wiederholt predigthafte Züge an, immer dann nämlich, wenn es seine Rezipienten zur richtigen Einsicht und zu gottgefälligem Verhalten ermahnt. Die Heilige Schrift changiert dabei zwischen Grundlage und Ausgangspunkt der Ausführungen des Sprechers und Beleg

114 Peter Abaelard: Sic et Non. A Critical Edition, hg. von Blanche B. Boyer und Richard McKeon. Chicago/London 1977. 115 Siehe u.  a. Flasch, 2000, S. 246–248. 116 Im Hintergrund kann man hier wohl wieder die Autorität seiner von Gott gelenkten Sprache sehen. Zu weiteren Legitimationsstrategien siehe unten. Vgl. auch Kiening, 2015, S. 73–74. 117 Für Kiening, 1992, S. 430, verweisen derartige ‚Zusatzinformationen‘ auf „das ‚naive‘ Interesse des Publikums an Leerstellen und lebensweltlicher Stimmigkeit der Bibelerzählung und der Heilsereignisse“.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

für die Richtigkeit seiner rede. Doch ist die Bibel nicht die einzige Wahrheitsinstanz des Anegenge. Welche Wahrheitsinstanzen der Sprecher des Anegenge zur Absicherung seiner rede heranzieht und wie er diese integriert, soll daher im nächsten Abschnitt überblickshaft aufgezeigt werden.

1.3 Wahrheitsinstanzen Der Sprecher des Anegenge nimmt im Versuch, zwischen Gott und den Rezipienten zu vermitteln, verschiedene Sprechhaltungen ein. Um den Vorwurf, Falsches zu berichten und die Rezipienten damit zu gefährden, zu vermeiden, stilisiert der Sprecher seine rede als von Gott gelenkt – ein Wahrheitsanspruch, der stets mitzudenken ist. Zusätzlich zieht er weitere Mittel und Personen heran, um die Wahrheit seiner rede zu garantieren: Buchwissen (swie doch diu buoch jehen, V. 565)118 und Lehrmeinungen (die ie icht da von gelæren, | die habent uns ie verjehen, V. 572  f.), um nur zwei Optionen zu nennen. Indem der Sprecher die beigebrachten Belege erklärt und ausdeutet (daz sul wir also verstan, V. 404), kann er zugleich seine eigene Kompetenz unter Beweis stellen. Als wichtigste Wahrheitsinstanz sind dabei sicherlich die buoch zu nennen. Mit buoch kann allgemeine (Buch-)Gelehrtheit (elliu buoch chunde, V. 6; unt chunde, swas man ie gelas, V. 826) ebenso gemeint sein wie d a s Buch, die Heilige Schrift. Letzteres kann auf die Gesamtheit der Bibel und dem mit ihr verbundenen Wahrheitsanspruch, oder auf einzelne ihrer Bücher bezogen sein. Da im Anegenge die Schöpfungsgeschichte zentral ist, ist mit buoch zumeist die Genesis gemeint: in fumf tagen, chundet uns daz buoch (V. 205; Gn. 1), wird die Welt in ihren Grundfesten erschaffen; daz buoch seit (V. 1228), dass die aus der Rippe des Mannes gebildete Frau ‚virago‘ (V. 1229; Gn 2,23) heiße – das lateinische Zitat transportiert zusätzliche Legitimation; die Variante buchstabe (V. 1205; Gn 2,23) belegt die Benennung Evas durch Adam; für die Ermordung Abels durch Kain wird die Genesis ebenso als Zeugin aufgerufen, so uns diu schrift chundet (V. 1560; Gn 4,1–16), wie für die Nachkommen Kains (so ez der buchstabe hat, V. 1701, Gn 4,17–24). Auch das Verb schriben kann auf die Genesis rekurrieren (geschriben, V. 1762). Weitere Bücher des Pentateuch, etwa das Buch Exodus, klingen unter anderem in der Frage nach der (Un-)Sichtbarkeit Gottes an:119 Hier sprichet daz buch (V. 2077), dass sich Moses verbergen müsse, um nicht von der Ansicht Gottes zerstört zu werden (V. 2081  ff.). Neben buoch oder buchstabe, schriben oder schrifft120 kann auch e für die (Bücher der) Bibel stehen. Altes und Neues Testament werden auch in 118 Zu buoch, und schrifft siehe u.  a. Schröder, 1881, S. 24–25; 39–40. 119 V. 2049–2100; Ex 33,20; Io 1,18. 120 Wie Teuber, 1899, S. 322, anmerkt, kann es vorkommen, dass solche Verweise ins Leere laufen. Siehe dazu jüngst auch Lechtermann, 2021, S. 102–107.



1 Gott, der Sprecher und ‚die Anderen‘ 

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anderen Texten als alte e beziehungsweise niwe e bezeichnet.121 Im Anegenge kommt vor allem die Wendung alte e, bezogen auf (alte) Rechtsgebräuche, zur Anwendung. Beispiele hierfür finden sich im Prolog (als hie vor gebot diu alte e, V. 40; diu selbe e ouch wolde, V. 44) sowie in Bezug auf die Verbindung Marias mit Joseph (des diu alte e gebot, V. 2479). Die niwe e, die Evangelien, werden im Anegenge hingegen eher wieder mit buoch oder buochstabe bezeichnet – etwa hat Matheus ewangelista | an seinen hailigen buchstaben (V. 2582  f.; Mt 2,1–12) von der Reise der Könige aus dem Morgenland nach Bethlehem geschrieben –, oder schlicht über den (jeweiligen) Evangelisten selbst: sant Johannes sprach, | der hailige ewangeliste (V. 2212  f.); sprach der ewangeliste (V. 2467)122. Daneben können auch biblische Gestalten die Wahrheit des Gesagten verbürgen:123 Zu nennen wären beispielsweise der Prophet Bileam, die propheten (V. 2637; 2665) allgemein, Elias und Enoch, Abraham und David, Moses, Petrus und Paulus. Mit ihrer Nennung werden ihre jeweilige Geschichte und die damit verbundenen göttlichen wunder aufgerufen und eingespielt.124 Besondere Bedeutung erhält König Salomon, den der Sprecher nicht nur zur Wahrheitssicherung anruft (wan der herre Salomon quit, V. 816), sondern obendrein als Vergleichsobjekt und Maß allen Wissens nutzt (V. 824  f.). Neben biblischen Figuren beruft sich der Sprecher auch auf reale Personen, Patriarchen oder Kirchenväter: Basilius (V.  669), Gregor der Große (V.  2156) oder Augustinus (V.  260).125 So soll ein Wunder bei der Taufe des Heiligen Basilius (V. 669) belegen, dass Gott zeitgleich in verschiedenen Erscheinungsformen – als himmlische Stimme, als der Mensch und als Taube (V. 572–577) – wahrgenommen werden kann. Dasselbe Problem soll ein Naturphänomen veranschaulichen: Die Sonne steht einerseits oben am Himmel und wirkt doch unten auf Erden (V. 833– 859). Deutlich wird hier, dass das Sprecher-Ich mittels verschiedenster Strategien und Zugänge versucht, seinen Adressaten schwierige theologische Sachverhalte näher zu bringen. Der Sprecher zeigt dabei seine Kenntnisse nicht nur von der Bibel, Heiligenleben oder Kommentaren der Kirchenväter, sondern kann auch Naturphänomene und Beispiele aus der ‚Lebenswelt‘126 seiner Adressaten beibringen und entsprechend instrumentalisieren. 121 Vgl. „ÊWE, stf.“, Mittelhochdeutsches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im  Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www. woerterbuchnetz.de/BMZ?lemid=E00436, abgerufen am 14.03.2022. 122 Hier wohl Matthäus, der über Josephs Reaktion auf Marias Schwangerschaft berichtet (Mt 1,19). 123 Ihr Name kann dabei wiederum mit Formen von schriben/schrifft/buoch verbunden sein. 124 Siehe Kap. IV.7.2. 125 Vgl. zu Augustins in Bezug auf das Anegenge u.  a. Schröder, 1881, S. 60; Kelle, 1896, S. 145; Teuber, 1899. Zu Gregor vgl. u.  a. Teuber, 1899, S. 328–330. Zu Basilius vgl. Geith, 1968, S. 124–125. 126 So etwa die Sonne oder das Exempel vom chnecht (V. 177–186): Um eine komplexe Glaubenswahrheit zu verdeutlichen, zieht der Sprecher ein allgemeinverständliches Beispiel heran, womöglich in lockerer Bezugnahme auf Ecl 7,22 (vgl. Teuber, 1899, S. 254). Der chnecht, der gerne seinem Herren

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Über die höchste Legitimationskraft – neben Gott – scheint für den Sprecher aber sein maister zu verfügen, auf den er sich zweimal beruft: Zu Beginn des Sündenfallgeschehens hält der Sprecher – diesmal im Singular (V. 1249; 1250 etc.) – inne, um auf eine Debatte (streit, V. 1251) aufmerksam zu machen: War der Teufel im Paradies oder nicht? nu sten ich an einem dinge, daz ich enwaiz, wie ich fur bringe einen streit ze einer warhait: sumlichen phaffen ist daz lait, der daz sagt fur ware, daz der tievel wære in dem paradeise. die nu sein so buochweise, die widerreden ez, ob si megen. ich horte meinen maister reden, daz er in eines slangen weise chœm in daz paradeise (V. 1249–1260)

Die Ansicht, dass der Teufel wære | in dem paradeise (V. 1254  f.) scheint so problematisch zu sein,127 dass sie sogar einigen phaffen (V. 1252)128 zuwider (lait, V. 1252) ist – alternativ könnte der Vers auch bedeuten, dass der streit selbst den phaffen unlieb ist. Die Position des Sprechers ist jedoch eindeutig: Andere, zumal die Gelehrten (die nu sein so buochweise, V. 1256), können gerne dagegenhalten – wenn sie können (ob si megen, V. 1257) –, sein maister aber habe ihm gesagt, dass der Teufel als Schlange in das Paradies gekommen sei.129 Die Lehre des maisters ist demnach die ausschlaggebende, sie überbietet alle anderen Lehren (aller anderen Buchgelehrten) und, je nach Lesart, auch die mancher phaffen. Bereits wenige Verse zuvor hatte sich das Sprecher-Ich – wiederum im Singular (ich, V.  1214; mir mein, V.  1218)  – in einer ähnlichen Streitfrage auf seinen maister berufen:

dient, wird dies nicht lieber tun, wenn er dazu gezwungen wird. Dass bei der Bezeichnung solcher und noch deutlicher ‚weltlich‘ anmutender Elemente in geistlichen Texten als ‚lebensweltlich‘ Vorsicht geboten ist, betont u.  a. Brüggen, 2000, S. 29–30. 127 Vgl. zum Schlange-Teufel-Diskurs u.  a. Murdoch, 1972, S. 17–38; Müller, 2017a, S, 19, Anm. 13. 128 Mit den phaffen sieht Teuber, 1899, S. 293–294, jene Leute bezeichnet, „die Ambrosius im auge hat, wenn er sagt: plerique tamen, qui volunt in paradiso diabolum non fuisse“. 129 Dies wird mehrfach betont: u.  a. V. 1262; 1286; 1291.



1 Gott, der Sprecher und ‚die Anderen‘ 

 137

vil dicche ich vernomen han von wol gelerten phaffen, er hab den man zwir gischaffen unt daz wip dristunt. so tet mir mein maister chunt. (V. 1214–1218)

Problematisch ist hier die Erschaffung Adams und Evas.130 Auch diesbezüglich ist die Meinung des maisters die ausschlaggebende, allerdings geht seine Meinung diesmal konform mit der von wol gelerten phaffen (V. 1215). Die Autorität des maisters scheint in beiden Fällen so hoch zu sein, dass der Sprecher auf jegliche zusätzliche Wahrheitsbeteuerung – kollektives wir o.a. – verzichten und sich sogar gegen die Meinung anderer (phaffen, buochweise) stellen kann. Wer dieser maister ist oder in welchem Verhältnis der Sprecher zu ihm steht, ist allerdings nicht geklärt.131 So unbestimmt die Hinweise auf die Identität des maister sind, so zahlreich sind die Spekulationen darüber. Teuber beispielsweise vermutet den Lehrer des Dichters in Hugo von St. Victor,132 der auch die hier bevorzugte Lehre zu Teufel und Schlange vertreten habe,133 ohne ihn aber explizit mit dem maister gleichzusetzen. Nach Kelle hingegen folge der maister „hier dem heiligen Ambrosius“.134 Schröder wiederum identifiziert den maister zumindest teilweise mit Abaelard.135

130 Diese Verse sind schwer verständlich, da zwir (V. 1216) und dristunt (V. 1217) gewöhnlich mit „zweimal“ und „dreimal“ nicht aber mit „als Zweites / Drittes“ übersetzt werden (vgl. „zwire, adv.“, Mittelhochdeutsches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im  Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www.woerterbuchnetz.de/ BMZ?lemid=Z01169, abgerufen am 14.03.2022.; „STUNDE, stf.“, Mittelhochdeutsches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemid=S06970, abgerufen am 14.03.2022). Zum möglichen Hintergrund siehe Kelle, 1876, S. 147. Die nachfolgenden Verse bietet jedoch eine andere Erklärung an: Die erste Schöpfung stellen Himmel und Erde und alles damit Verbundene dar. Sodann wird als zweite Schöpfung aus der Erde (blœdem leime) der Mann und wiederum aus diesem die Frau geschaffen (V. 1220–1227); vgl. Teuber, 1899, S. 291–292. Wenigstens für dristunt lassen sich (spärliche) Belege für eine Verwendung als „drittens“ finden (vgl. „STUNDE, stf.“, Mittelhochdeutsches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemid=S06970, abgerufen am 14.03.2022, hier 1d). Zu überlegen wäre, ob womöglich eine Kontamination verschiedener Vorstellungen vorliegt, beispielsweise die der drei Schöpfungen (Welt, Mann, Frau) mit der Zeit ihrer Erschaffung: Nach manchen Vorstellungen habe Gott Adam in der ersten und Eva in der dritten Stunde geschaffen (vgl. u.  a. Müller, 2017a, S. 20–21). 131 Vgl. zum maister und zum Dichter u.  a. Rupp, 1971, S. 256. 132 Teuber, 1899, S. 277. 133 Vgl. Teuber, 1899, S. 293–294. 134 Vgl. Kelle, 1876, S. 150. 135 Vgl. Schröder, 1881, S. 25; 68.

138 

 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

1.4 Fazit Der Sprecher des Anegenge ist nahezu unbestimmt. Name, Gönner, Quellen, Enstehungsumstände oder ähnliche Angaben, die sich mitunter in Prologen oder Epilogen finden lassen,136 fehlen vollständig. Auch über die Art der rede erfahren wir nichts. Während sich beispielsweise die spätere Erlösung explizit von der höfischen Literatur, namentlich dem Tristan-Stoff, zu distanzieren versucht,137 und dabei nicht nur auf den Inhalt, sondern vor allem auf den geblüemten Stil138 abhebt (vgl. E V. 85–103), gibt das Anegenge keinerlei Hinweise auf Sprache, Stil oder Stofftradition(en). Auch scheint der Sprecher des Anegenge, anders als beispielsweise das Ich der Vorauer Sündenklage, nicht selbst von seiner rede ‚betroffen‘ zu sein; nirgends wird erwähnt, dass der Sprecher versuche, der eigenen Sündhaftigkeit entgegenzuwirken oder Vorsorge zu treffen im Hinblick auf das Leben nach dem Tod. Funktional bildet der Sprecher vielmehr eine Vermittlungsinstanz zwischen Gott und ‚den Anderen‘. Der stete Wechsel zwischen ich- und wir-Aussagen, der auch in anderen (geistlichen) Texten beobachtbar ist, ist im Anegenge als Teil der Wahrheitssicherung funktionalisiert. Da menschliche Sprache jedoch grundsätzlich defizitär ist, nutzt der Sprecher überdies eine Reihe weiterer Wahrheitsinstanzen – Lehrer, Kirchenväter, die buoch –, um seine Aussagen zu bestätigen und zu untermauern. Dies zeigt einerseits das große Wissen des Sprechers, zugleich aber erlaubt es ihm auch, sich unterschiedlich sowohl zu den Adressaten als auch zu den Wahrheitsinstanzen selbst zu verhalten, Gesagtes zu diskutieren und sich innerhalb von Diskursen und Debatten zu positionieren. Dabei wählt der Sprecher wiederholt einen belehrenden Gestus, doch geht es bei der Didaxe weniger um die Vermittlung korrekter Verhaltensregeln – obwohl auch solche bisweilen gegeben werden, so beispielsweise im Epilog –, als vielmehr um die Vermittlung von Einblicken in die Strukturen der Trinität und der Heilsgeschichte. Dies ist insofern bemerkenswert, als es Laien eigentlich nicht gestattet war, sich (tiefer) mit den Geheimnissen der Dreifaltigkeit auseinanderzusetzen.139 Zu fragen wäre daher, ob das Anegenge womöglich in einem klerikalen Umfeld entstanden sein könnte. In diese Richtung könnte auch der immer wieder beobachtbare Predigtgestus deuten. Doch handelt es sich gerade nicht um einen geistlichen Traktat. Das Anegenge kombiniert vielmehr Predigthaftes, gelehrte Abhandlung, Bibelparaphrase oder Trinitätsspekulationen und präsentiert diese in gebundener Rede, also in ästhetisch ansprechender Form. Der Fokus liegt dabei vor allem auf Gott (in seiner Trinität), was sich bereits im ersten Wort des Textes zeigt: Dominus. In dem schlichten „Herr“ sind die trinitari136 Vgl. allg. Naumann, 1970. 137 Siehe zur Höfisierung u.  a. Ukena-Best, 2014. 138 Zum geblümten Stil vgl. u.  a. Hübner, 2008, S. 7–32. 139 Schwietering, 1931/41, S. 58, sieht im Anegenge eine „wachsende Rücksicht auf die Laien“. Vgl. zu Dichter und Publikum auch Rupp, 1971, S. 247–50.



2 Wer? Wie? Wann? Wo? – Voraussetzungen der trinitarischen Beratungen 

 139

schen Personen, Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist, eingefaltet, der nachfolgende Text des Anegenge faltet die einzelnen Personen, insbesondere vermittels der trinitarischen Beratungen, aus, um das unzugängliche Paradoxon vermittelbarer zu machen. Zum Ende des Anegenge hin, beginnend mit der Geburt Christi, wird es dann wiederum eingefaltet in die Person des Gottessohnes, der stellvertretend für die Trinität steht: nu lobe wir den gotes sun (V. 3241). Denn während das Anegenge syntagmatisch Heilsgeschichte präsentiert, ist es paradigmatisch vom Thema der Trinität durchzogen, wobei sich die Ebenen wechselseitig erklären und ergänzen.140 Dies soll in den nachfolgenden Kapiteln verdeutlicht werden.

2 Wer? Wie? Wann? Wo? – Voraussetzungen der trinitarischen Beratungen Bevor die Trinität und ihre Funktionsweisen im Anegenge näher untersucht werden können, müssen zunächst ein paar Grundvoraussetzungen – wer spricht ‚wann‘ und ‚wo‘ mit wem worüber?  – geklärt werden. Oder anders gewendet: Unter welchen Bedingungen kann im Anegenge ein Gespräch Gottes mit sich selbst stattfinden, wenn es noch weder Raum noch Zeit gibt? Dies soll im folgenden Kapitel ausgeführt werden.

2.1 Gott vor der Schöpfung Nach dem Prolog konzentriert sich das Anegenge zunächst churzlichen (V. 89) darauf, wa got vor allen tagen was | unt vor aller geschefte (V. 90  f.): ob dem abgrunde was sein reste, der gotes gaist da swebte, wunnechlich er lebte. (V. 98–100)

Das knappe spiritus Dei ferebatur super aquas der Genesis wird im Anegenge amplifiziert und ausgeschmückt:141 Gott saß uf seiner magenchrefte (V. 92  f.), seine Göttlichkeit trug ihn enbor (V. 95), er ruhte gleichsam in sich selbst (in im selben er was, V. 94). Mit der Frage, wo Gott vor allen tagen (V. 90) gewesen sei, wird ein eindeutiger Zeitmarker (tage) gesetzt und Gott in einem nicht näher ausgeführten Davor (vor) verortet. Obwohl Gott der (noch gar nicht existierenden)142 Zeit enthoben ist, kann nur unter

140 Vgl. Bauer, 2019. Vgl. zu Syntagma und Paradigma u.  a. Warning, 2001; Strohschneider, 2007, S. 163–170. 141 Gn 1,2. Vgl. Kiening, 2015, S. 71. 142 Vgl. u.  a. Goetz, 2014, S. 4.

140 

 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

den Bedingungen von Zeit über ihn gesprochen werden. Ähnliches ist der Fall, wenn Gott als keiner Veränderung unterworfen dargestellt wird (im wart seit nie wirs oder baz, V. 101), seine Existenz aber dennoch mit Verben beschrieben wird, die Zeitlichkeit implizieren (enbait, V. 96; lebte, V. 100).143 Noch deutlicher wird dies, wenn von Gottes (All-)Macht gesprochen wird: Gottes gewalt (V. 129)144 wird als ewig existent (ie, V. 129) und unwandelbar (nie, V. 130) ausgewiesen. Das Präteritum (was, V. 129; verwandelte, V. 130) bezeichnet dabei die Unveränderlichkeit, das Immer-schon.145 Mit dem Wechsel ins Präsens (getuot, V. 131) wird die Macht Gottes und damit natürlich Gott selbst vom Status des Immer-schon in ein Immer-mehr überführt: got ist genædic unt guot (V. 132), auch heute noch und in alle Zukunft (nimmer, V. 131). Die solcher Art auf Gegenwart und Zukunft ausgedehnte Allmacht Gottes wird nun durch die Rückkehr ins Präteritum (was, V. 133) rückprojiziert auf Gott vor der Schöpfung (e diu erde unt des himels liecht | geschaffen wurden, V. 135). Durch den wiederholten Tempuswechsel zwischen Präteritum, Präsens und Futur kann die Unveränderlichkeit, das Immer-schon, Immer-mehr und Immer-gleich, gewissermaßen vorgeführt werden. Hinzu kommt die Betonung der absoluten Selbstgenügsamkeit Gottes: Er benötigt keine Schöpfung, da er in im selben (V. 94) ruht. In der Ausstellung dieser Unabhängigkeit von jeglicher Schöpfung (owe wie sanfte er enbait, V. 96)146 wird Gott allerdings gerade in Bezug zu ihr (dirre werlde grundtveste, V. 97) gesetzt. Die Schöpfung wird ex negativo bereits vorweggenommen, indem ihre Elemente als das aufgezählt werden, was Gott nicht benötigt: daz er werden hiez daz liecht, daz tet er umbe daz nicht, daz er ie vinster gewunne. den man unt die sunne die schuoff er ze diu, daz si solden dienen iu. sam tet er allez, daz der is. (V. 111–117)

Eine ähnliche Schöpfung ex negativo präsentiert das althochdeutsche Wessobrunner Gebet:

143 Nach Kiening, 2015, S. 71, ist Gott im Anegenge „nicht einfach ein unbewegter Beweger, er kennt selbst Bewegung, er trägt Züge, die man normalerweise eher einem geschaffenen Wesen zuschreibt (wunneclîch er lebte)“. Doch ist Gott hier nicht wirklich der Zeit unterworfen; vielmehr lässt sich Zeitlosigkeit eben nur unter den Bedingungen von Zeit beschreiben (vgl. auch Müller, 2017, S. 312). 144 Man ist versucht, bereits hier den gewalt (Gott Vater) bezeichnet zu sehen (s.  u.); doch kann auch schlicht die „Macht“ Gottes gemeint sein. 145 Für Müller, 2017a, S. 26, zeigt das Präteritum hier „Dauer, nicht vergangenes Geschehen“ an. 146 Die Selbstgenügsamkeit Gottes, dass er ir [der Schöpfung, E.B.] ze icht bedurfen solde (V. 107), ist ein zentraler Aspekt des Anegenge.



2 Wer? Wie? Wann? Wo? – Voraussetzungen der trinitarischen Beratungen 

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Dat gafregin ich mit firahim firiuuizzo meista, Dat ero ni uuass noh ufhimil, noh paum noh pereg ni uuas, ni nohheinig noh sunna ni scein, noh mano ni liuhta, noh der mareo seo. Do dar niuuiht ni uuas enteo ni uuenteo, enti do uuas der eino almahtico cot (V. 1–7)147

Soll im Anegenge gerade die Selbstgenügsamkeit Gottes betont werden, so hebt das Wessobrunner Gebet die Existenz Gottes ‚vor aller Zeit‘ heraus. Zugleich ist über die Negativdarstellung der Schöpfung „die Ausnahme zur temporären Ordnung“,148 Gott und seine Voraussicht, ausgestellt: Schöpfung, Sündenfall und Erlösung sind im denchen Gottes ‚immer schon‘ existent.149 Dieser immer schon existente und vollständige Schöpfungsplan faltet sich im Anegenge aus in die erste Beratung der trinitarischen Personen, den Schöpfungsrat. Gott fasst den Beschluss zur Schöpfung: done wolt er die wunne nicht eine tragen (V. 138).150 Das Wollen Gottes (wolt er, V. 138) wird zum Auslöser, der die Heilsgeschichte in Gang setzt. Das mittelhochdeutsche Verbum wellen mag dabei implizit auf das lateinische velle verweisen, mit dem bereits hier Hugos von St. Victor „bonitate voluit“ anklingen würde (s.  u.).151 Mit dem do wird zugleich die bisher ausgestellte Zeitlosigkeit der göttlichen Ewigkeit (erneut) unterlaufen:152 Es wird ein Zeitpunkt markiert, an dem etwas Neues geschieht, ein Aufbruch. Gott will seine Freude nicht länger ungeteilt lassen, weshalb er sich zur Schöpfung entschließt und den trinitarischen Gottesrat einberuft. – Indem zuvor ausführlich über die Selbstgenügsamkeit Gottes gesprochen wurde, wird sein Entschluss zur Schöpfung umso deutlicher als Gnade markiert. – ‚Aufbruch‘ bedeutet dabei allerdings keine Bewegung im eigentlichen Sinn. Anders als beispielsweise in der Wiener Genesis ist mit diesem do noch kein „Übergang von Zeitlosigkeit in Zeit“ verbunden.153 Durch die Modus des denchens Gottes bleibt das Wollen in Gott(es Ewigkeit) und damit vor jeder Schöpfungshandlung.

147 Zitiert wird nach: Wessobrunner Hymnus und Gebet. In: Althochdeutsches Lesebuch. Zusammengestellt und mit Wörterbuch vers. von Wilhelm Braune, fortgef. von Karl Helm. 17. Aufl. bearb. von Ernst A. Ebbinghaus. Tübingen 1994, S. 85–86. 148 Vgl. Schwarzbach-Dobson, 2016, S. 40. 149 Müller, 2017a, S. 28: „In Gottes ewigem Wissen ist die künftige Zeit präsent, im Anfang die gesamte Heilsgeschichte, unz an den jungisten tac (V. 490).“ 150 Vgl. Schwietering, 1931/41, S. 57. 151 Siehe Kap. IV.3. 152 „Zeitindices müssen negiert werden; es wird auf einen Zeitraum der Zeitlosigkeit (dô) verwiesen, der der Zeit vorausging“ (Müller, 2017a, S. 26). Ähnliches arbeitet Müller (ebd. S. 21–22) für die Wiener Genesis heraus. 153 Vgl. Müller, 2017a, S. 22.

142 

 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

In Gott ist dabei bereits vollständig vorhanden, was im ‚Außen‘ (der Schöpfung) erst noch werden muss.154 Dies lässt sich jedoch durch das Medium Sprache nicht wiedergeben, weshalb den Ratsszenen gleichsam automatisch zeitliche Aspekte eingeschrieben werden.155 Der in Gott immer schon vollständige Schöpfungs- und Heilsplan wird ausgefaltet, indem er im Bild der Beratung gleichsam erst entwickelt wird. Das Immer-schon wird so mit einem Erst-noch konfrontiert: Es wird versucht, das Zeitenthobene des göttlichen Denkens, seinen Heilsplan, in Verbindung mit seiner Verwirklichung in der Zeit darzustellen.156 Dies ist auch der Grund, weshalb für den Schöpfungsrat zumeist nicht entscheidbar ist, ob noch von der Schöpfungsplanung oder bereits von einer Schöpfungshandlung die Rede ist. Doch muss diese Entscheidung gar nicht gefällt werden: Durch die spezielle – raumzeitliche (s.  u.) – Ordnung in Gott verschmelzen schließlich Planung und Umsetzung, was an den Versen 194–196 deutlich wird: Die Erschaffung des Lichts (Gn 1,3) ist als performativer Sprechakt zu sehen, als das erste Wort Gottes (sein erste stimme, V. 196), in dem der Wille zur Schöpfung, das Nachdenken darüber und die tatsächliche Schöpfungshandlung in Eins fallen.157 Noch deutlicher lässt sich das Problem des Erzähles vom Anfang (der Heilsgeschichte), von Zeit in der Ewigkeit am Beispiel des Teufelssturzes158 zeigen: Gott erschafft die Engel, damit sie ihn loben sollen (V. 231–234). Das allerdings genügt dem Engel Luzifer nicht, er erhebt sich (hoher hup, V. 236) gegen Gott. Das dunchen […], untz (V. 235  f.)159 impliziert dabei einen gewissen Zeitraum, in welchem Luzifer unzufrieden ist. Wenig später wird allerdings unter Berufung auf Augustinus ausgeführt, dass Luzifer schon im Moment seiner Erschaffung Unheilvolles geplant habe:

154 Vgl. Kap IV.1. 155 Vgl. Müller, 2017a, S. 26. 156 Müller, 2017a, S. 28: „Das Anegenge wechselt zwischen verschiedenen Zeitpunkten, spricht einmal aus der Perspektive der geschaffenen Welt von dem, was ihr vorausging, einmal aus der der Zeit vor der Zeit von dem, was ihr folgte.“ Zu berücksichtigen wäre hierbei allerdings das Prinzip Wiederholungen und Neuansätze (siehe Kap. IV.7.4). 157 Die Einschätzung Rupps, 1971, S. 219, der Dichter verbreite sich über die Erschaffung der Welt „in recht unklarer Gedankenfolge“ ist damit nicht zutreffend. Für die Wiener Genesis hält Müller, 2017a, S. 23, fest, dass Gottes Wille im Moment seiner Formulierung zur Tat wird. Da Gott im Anegenge nicht spricht, sondern denkt und Gottes erste stimme (V. 196) deutlich markiert ist, kann eine solche Aussage hier nicht so leicht getroffen werden. Siehe auch Kap. IV.3. 158 Vgl. dazu u.  a. Goetz, 2014, S. 6–11. 159 Dieser Vers ist beschädigt, weshalb er im edierten Text mit Cruces versehen ist. Die vorliegende Deutung ist davon allerdings nicht betroffen. Neuschäfer konjiziert: des iedoch niht enwolde | Lucifern dunchen genuoc, unz … Doch lässt sich Vers 234 auch an das Voranstehende, an die Engel anschließen, wodurch die Krux nur V. 235 betreffen würde. Hierfür wäre folgende Konjektur zu überlegen: Lucifern duchtez genuc, | untz …, in Übersetzung: „Luzifer erschien das nicht ausreichend, bis …“ (siehe auch den Apparateintrag zu dieser Stelle).



2 Wer? Wie? Wann? Wo? – Voraussetzungen der trinitarischen Beratungen 

 143

sein gedanc gebar im unhail, biz daz er vol geschaffen wart; do warf in diu hohvart in daz abgrunde (V. 266–269)

Ein Widerspruch? Der Vers biz daz er vol geschaffen wart (V. 267) bildet gleichsam ein Scharnier zwischen dem denken Luzifers, das ihm im Moment seiner Erschaffung – ja bereits im Prozess des Entstehens – unhail (V. 265) erzeugt,160 und seinem selbstverschuldeten Sturz in den Abgrund (abgrunde, V.  269). Im Nu seiner Entstehung, so macht die Stellung des Verses deutlich, denkt Luzifer wider Gott und stürzt sich damit selbst.161 Ein genuin zeitloser Moment in der göttlichen Ewigkeit wird zum Prozess, zum Prozess des Erschaffens, des Denkens, des Stürzens, und bleibt doch immer zeitlos.162 Durch die Fokussierung des Augenblicks, in welchem Luzifer sich gegen Gott erhebt, nur um ‚sogleich‘ zu stürzen, wird nicht nur eine Handlungsfolge, sondern auch ihre Geschwindigkeit163 suggeriert: Luzifer zögert nicht (niht enbite, V. 262), der Moment seiner Erschaffung ist der Moment seiner Rebellion ist der Moment seines Sturzes. Während andere Texte, beispielsweise die Wiener Genesis, Luzifer Gott durchaus vil liep (WG V. 17) sein lassen, wird er im Anegenge als das immer schon Böse ausgestellt, dieses Böse zugleich ins Unermessliche gesteigert. Die Schnelligkeit seines Falls steht dabei in explizitem Kontrast zu seiner Strafe und verdeutlicht so gerade das Ausmaß seines Vergehens.164 Denn während Luzifer nicht schnell genug stürzen kann, wird er immer an ende (V. 276) dafür büßen müssen: Seine Strafe ist der ewige tot (V. 273). Problematisch ist jedoch nicht nur das Erzählen von Ewigkeit unter den Bedingungen von Zeit, sondern auch von räumlichen Verhältnissen, [d]o dannoch nicht geschaffen was (V. 303). Als Luzifer sich hoher hup (V. 236), sich gegen Gott wandte, seinen stul er setzen wolde | enneben seinem herren (V. 238  f.).165 Dass Luzifer hoher hinauf will, drückt zunächst, in übertragenem Sinne, das Sich-Erheben gegen Gott, die superbia,166 aus. Im wörtlichen Sinn impliziert es zudem ein räumliches Gefälle

160 Subtil wird der Teufel hier als Anti-Schöpfer ausgestellt, denn während Gott die Engel – und unter ihnen Luzifer – erschafft, gebiert (gebar, V. 266) dieser ausschließlich unhail. 161 Zu den verschiedenen Theorien, wie viel ‚Zeit‘ zwischen der Erschaffung des Teufels und seinem Sturz vergangen sei, vgl. überblickshaft Goetz, 2014, S. 8–9; Müller, 2017a, S. 19. 162 Vgl. allg. Kiening, 2015a. Dass dies auch für zeitgenössische Rezipienten nicht leicht verständlich gewesen sein mag, zeigt der zugleich legitimierende wie fragende Verweis auf Augustinus (V. 260– 265); vgl. auch Müller, 2017a, S. 18–19. 163 In Bezug auf die Wiener Genesis sieht Müller, 2017a, S. 23, in der Verkürzung der Zeit den Versuch, „sich der Zeitlosigkeit anzunähern“. 164 Vgl. zur Schnelligkeit der Verstoßung Luzifers in der Wiener Genesis auch Lieb, 2009, S. 49. 165 Vgl. Is 14,13–14. 166 Vgl. u.  a. Hempel, 1970, S. 142–143.

144 

 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

zwischen den Engeln und Gott, in welchem Gott oberhalb, die Engel aber unterhalb angeordnet sind. Dass es diesbezüglich eine Abstufung gibt, zeigt schon das Denkmodell der Himmelschöre, deren höchsten (und damit erhabensten) Luzifer bis zu seinem Sturz inne hat,167 und den später der Mensch besetzen sollte.168 Während die Himmerlschöre im Anegenge nur angedeutet werden, weist die Wiener Genesis den einzelnen Chören ihrem Rang nach Namen zu (WG V. 15–24), wodurch die Hierarchie der Engelschöre untereinander eindrucksvoll betont wird.169 Derartige Modelle und Umschreibungen sind demnach nicht nur räumlich zu denken, sondern stehen  – hier – für eine Hierarchie zwischen Gott und den Engeln: ere (V. 240) wird über ein hierarchisches Gefälle, über eine oben-unten-Relation ausgedrückt.170 Beim Teufelssturz wird dieser Dimension von oben und unten noch eine weitere hinzugefügt, die horizontale: Über das enneben (V.  239) wird eine Gleichrangigkeit suggeriert, die Luzifer mit seinem hoher heben (V. 236) erreichen will.171 Der stul (V. 238) kann dabei wiederum konkret oder im übertragenen Sinne als Herrschersitz gelesen werden. Doch scheitert Luzifers Versuch, und auch dieses Scheitern wird räumlich dargestellt: Statt aufzusteigen und eine Gleichrangigkeit mit Gott zu erwirken, stürzt der Teufel in die Hölle, in den tiefsten Abgrund. Dieser Abgrund ist dabei räumlich-hierarchisch als Unterstes zu denken, in übertragenem Sinne aber als ewiger Tod – die muosen vallen von dan | in den ewigen tot (V. 272  f.) –, wordurch ihm zugleich eine zeitliche Komponente eingeschrieben wird. Eine ähnliche oben-unten-Relation zeigt sich schon in der Verortung Gottes im Vor-der-Schöpfung (V. 90  f.):172 Gott wird als oberhalb (enbor, V. 95; ob dem abgrunde, V. 98; swebte, V. 99) gezeichnet, obgleich es noch nichts gibt, oberhalb dessen er sein könnte.173 Indem Gott dabei uf seiner magenkrefte (V. 92) schwebt, ist auch hier eine hierarchische Dimension erkennbar: Gott als das Einzige, Höchste, ‚schwebt‘ über allem (noch nicht Existierenden), wobei er gleichsam auf seiner Erhabenheit in sich selbst ruht. Demgemäß ist der Gottesrat in Gott selbst, nämlich in gotes muote (V. 139), angesiedelt:174 er wart ze rat in seinem muote | mit sein selbes guote | unt mit seiner weis-

167 Hier zeigt sich, dass eine Ausstellung des unmittelbaren Zusammenfalls von Erschaffung und Sturz Luzifers im weiteren Verlauf nicht durchgehalten werden kann. 168 Vgl. Teuber, 1899, S. 283. 169 Siehe dazu u.  a. Lieb, 2009, S. 46. 170 Müller, 2017a, S. 27: „‚Oben‘ meint hier keinen Raum, sondern Gottes Rang, eine Existenz ‚oberhalb‘ von allem Raum.“ 171 Luzifer will sich somit nicht über Gott erheben, er will ihm ‚nur‘ gleichrangig sein. Auch in der Wiener Genesis will Luzifer iz ime haben ebene (WG V. 27). Vgl. Lieb, 2009, S. 48, der darin auch einen Willen zur Unabhängigkeit sieht. 172 wa und vor verschränken sich dabei gleichsam im Versuch einer ontologischen Bestimmung Gottes. 173 Vgl. Müller, 2017a, S. 27. 174 Zu den Beratungen der Trinität vgl. u.  a. Ohly, 1994; ders., 1953, S, 208; Egert, 1973, S. 220; Sherwood-Smith, 2003, S. 214–219; Stridde, 2009, S. 207–209.



2 Wer? Wie? Wann? Wo? – Voraussetzungen der trinitarischen Beratungen 

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hait (V.  139–141).175 Der bisher schlicht als got bezeichnete Gott vor der Schöpfung wird dabei aufgefächert in die drei schon bei Abaelard thematisierten trinitarischen Appropriationen potentia, sapientia und benignitas/bonitas.176 Diese Ausfaltung der Appropriationen deutet sich bereits im Prolog des Anegenge an:177 Dort wird betont, dass in Gottes denchen (V. 32) die Schöpfung, aber auch die Passion Christi ‚immer schon‘ angelegt und vorhergesehen sind:178 e er ie icht getæte oder e ie icht wurde, do gedacht er der burde, die er um uns wolde tragen. (V. 30–33)

Mit der Einspielung der Passion Christi, durch die der im Sündenfall schuldig gewordene Mensch erlöst werden soll, wird nicht nur die Heilsgeschichte  – Schöpfung, Sündenfall und Erlösung – aufgerufen, es deutet sich auch bereits die Dreieinigkeit Gottes an, wenn der ‚Schöpfergott‘ (Gott Vater) mit dem ‚Erlösergott‘ (Gott Sohn) gleichgesetzt wird. Wenn also Gott im Anegenge beschließt, dass er die wunne nicht eine tragen will, geschieht dies nicht nur in der Voraussicht der künftigen Ereignisse, sondern als Dreiheit in der Einheit. Doch wird, obwohl die trinitarischen Personen teils selbst zu Wort kommen, betont, dass dane wart dehain wort nie | under gesprochen (V. 496  f.).179 Diese beiden Präzisierungen  – die räumliche Verortung in Gott sowie die Wortlosigkeit des Gesprächs – können als Hinweise darauf verstanden werden, dass die Beratung der Trinität nach anderen Regeln funktioniert als gewöhnliche Beratungen.180 Aufgerufen sind damit Gespräche, die weniger mit einem tatsächlichen oder gedachten Gegenüber als vielmehr mit sich selbst geführt werden. Als prominentes Beispiel sei hier nur die um 1180 entstandene und damit dem Anegenge wohl auch zeitlich nahestehende

175 Dieser ‚Raum‘, der muot, faltet sich, nach der Darstellung des Anegenge, erst mit Gottes Willen zur Schöpfung aus, doch ist der muot-Raum Gott ewig inhärent, der Eindruck des Entstehens liegt wiederum in der sprachlichen Ausführung begründet. 176 Vgl. u.  a. Schröder, 1881, S. 66; Dittmar, 1934, S. 28–29; Scheidweiler, 1944, S. 12–13; Hauck, 1958, S. 534; Rupp, 1971, S. 220–222; S. 245; Goetz, 2011, S. 199–201. Für Rupp, 1871, S. 255, handelt es sich nur um die Übernahme der Begriffe, „vom Tiefsinn und der Problematik der Werke Abaelards ist bei unserem Werke nichts zu spüren.“ Teuber, 1899, S. 275, hingegen geht von einer Tradition nach Hugo von St. Victor aus, den er als Hauptquelle des Anegenge herausstellt. Ähnlich Ohly, 1953, S. 208–209. 177 Anders Rupp, 1971, S. 219. 178 Anders Schröder, 1881, S. 78. 179 Siehe auch Ohly, 1953, S. 208–209. Müller, 2017a, S. 27: „Das Selbstverhältnis der Trinität muss als ein Gespräch erzählt werden, eine Beratung der drei Personen, aber es ist eine Beratung, die nur in sînem muote stattfindet“. Vgl. auch Stridde, 2009, S. 207–208. 180 Dennoch erinnern die Ratsszenen des Anegenge in ihrer Darstellung grundsätzlich an höfische Ratsszenen (vgl. zum Rat u.  a. Müller, 1993).

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Klage Hartmanns von Aue genannt.181 In dieser beklagt sich der lîp (K V. 32) eines jungen Mannes (jungelinc, K V. 7) bei seinem Herzen und dessen Verstand (herze und dîn sin, K V. 33) über eine unerfüllte Minnesehnsucht (K V. 6–16). Damit ist die Ausgangssituation für ein ‚Selbstgespräch‘ geschaffen, dessen Teilnehmer personifizierte Körperteile, lîp, herz und sin sind.182 Wiederum wird das Gespräch in sînem muote (K V. 25), hier des jungen Mannes, verortet. Zwar könnte man, wie es auch im Anegenge möglich wäre, den Vers einfach mit „bei sich“ übersetzen – was vor allem für die Klage durchaus zutreffend wäre. Doch lässt sich dieser muot, in dem Gespräche stattfinden können, auch räumlich konkret denken. Im Anegenge wird dies sogar noch verstärkt, indem ‚Bewegung‘ im muot-Raum möglich ist: an dem rate sitzen (V. 188  f.; 2260), hin dane sten (V. 2382  f.), dar zuo springen (V. 2385) u.  a. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Bezeichnung des Heiligen Geistes als saltwirt (V. 542). Was mit dieser Zuschreibung gemeint sein soll, ist in der Forschung strittig.183 Neuschäfer paraphrasiert salwirt als „Herrscher des […] himmlischen Saales“, wobei er im salwirt einen Anwalt des Menschen sieht:184 Beim Jüngsten Gericht (so er die toten ermundert | und die ubelen gesundert, V. 527  f.) soll der Gottessohn dafür sorgen, daz der mensch unt die engel haben niewan ein gemute. der salwirt, diu gute, da ist der hailige gaist unt wirt sein alles vollaist (V. 540–544).

Doch geht es in dieser Passage weniger um den Menschen. Vielmehr wird die ungeminderte Macht des gewalt (Vg. 495–511) und das ewige Zusammenwirken der trinitarischen Personen (daz si sich immer gescheiden, V. 512) bis zum Jüngsten Gericht betont. Der Heilige Geist ist demnach nicht nur volleist des Menschen, sondern – vor allem – des göttlichen Heilsplanes. Stattdessen sei auf eine Stelle im Vorauer Marienlob aufmerksam gemacht. Dort heißt es im Hinblick auf Christus, den einbornen sun | unser frouwen sancte Mariun (VM V. 73  f.)185: 181 Vgl. Cormeau, 2VL. Bd. 3, Sp. 503. Zitiert wird nach: Hartmann von Aue: Die Klage, hg. von Kurt Gärtner. Berlin u.  a. 2015 (ATB 123). 182 Anders als im Anegenge liegt der Grund für das Selbstgespräch hier im Wunsch des jungen Mannes, seine Gefühle und Pläne zu verheimlichen (daz ez verswigen wære, K V. 23). Zur Wechselrede zwischen Leib und Herz vgl. u.  a. Hess, 2016, bes. S. 66–77. 183 Siehe Neuschäfer, 1966, Kommentar, S. 274, V. 542. 184 Neuschäfer, 1966, Kommentar, S. 274, V. 542. 185 Zitiert wird nach: Das Vorauer Marienlob. In: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland. 800–1150, hg. von Walter Haug und Benedikt Konrad Vollmann. Frankfurt a.M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 1), S. 850–857.



2 Wer? Wie? Wann? Wo? – Voraussetzungen der trinitarischen Beratungen 

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[ ] er ist daz gotes sal, dar inne buwet uber al diu gotheit gemeine ane aller slahte teile. (VM V. 79–82)

Christus wird hier als sal (VM V. 79) als „Haus“186 bezeichnet, in dem die Dreiheit als Einheit (VM V. 81  f.) wohnt. Man könnte daher überlegen, ob der muot im Anegenge dem sal als ‚Wohn- und Beratungsstätte‘ der gotheit vergleichbar sein könnte, dessen wirt der Heiligen Geist ist. Das Miteinander-in-sich-selbst der trinitarischen Ratsszenen würde damit noch unterstrichen, doch bleibt der Bezug notwendig spekulativ. In anderen Zusammenhängen kann mit sal auch die Seele gemeint sein.187 So heißt es beispielsweise im St. Trudperter Hohelied: wir unsere sêle darumbe minnen, | daz si gotes sal ist (TH 21,32  f ).188 Während im St. Trudperter Hohelied die Seele und ihr Verhältnis zu Gott zentral sind, spielt sie im Anegenge eine eher untergeordnete Rolle; allegorische Ausdeutungen oder Personifikationen der Seele kommen nicht vor. Ein Bezug darauf erscheint demnach eher unwahrscheinlich. In der Klage, um darauf zurück zu kommen, wird das Innere des jungen Mannes ausgefaltet in einen Gesprächsraum, in dem unterschiedliche ebenfalls dem jungen Mann inhärente Personifikationen auftreten und zu Wort kommen können. Ähnliches geschieht im Anegenge: Wenn Gott (Vater) in seinem muote eine Beratung mit seiner weishait und seiner guote abhält (V.  139  f.), so scheint es sich bei diesen ebenfalls um körper- oder wesensinhärente Teile Gottes zu handeln. Der Modus des (Rats-) Gesprächs erlaubt es den trinitarischen Personen dabei als einzelne Parteien aufzutreten, doch werden sie sogleich als die beiden anderen eigenständigen und doch untrennbaren Personen der Trinität ausgewiesen. Allerdings muss man unterscheiden zwischen der Darstellungsform und dem Darstellungsgegenstand: Zwar wird die göttliche Ratsversammlung als Gespräch dargestellt, in dem die trinitarischen Personen teils direkt, teils indirekt zu Wort kommen. Doch ist dieses ‚Gespräch‘ als innertrinitarisches denchen zu werten. – Sherwood-Smith pointiert: „Der Gebrauch der direkten Rede dient dazu, stumme, lautlose innertrinitarische Vorgänge für die Rezipienten sprachlich zu veranschaulichen.“189 – Der muot wird im Anegenge der Körperlichkeit, die ihm in der Klage anhaftet, enthoben und auf etwas Abstraktes, ja 186 Haug und Vollmann, 1991, S. 855. 187 Vgl. u.  a. Heinrichs von Mügeln Der meide kranz: Wib saßen in der sele sal (MK V. 99); zitiert wird nach: Heinrich von Mügeln: Der meide kranz. In: Heinrich von Mügeln: Die kleineren Dichtungen. Zweite Abteilung, hg. von Karl Stackmann mit Beiträgen von Michael Stolz. Berlin 2003 (Deutsche Texte des Mittelalters 84), S. 47–203. Siehe dazu auch Urban, 2021, S. 119. 188 Zitiert wird nach: Das St. Trudperter Hohelied. Eine Lehre der liebenden Gotteserkenntnis, hg. von Friedrich Ohly unter Mitarbeit von Nicola Kleine. Frankfurt a.M. 1998 (Bibliothek des Mittelalters 2). 189 Sherwood-Smith, 2003, S. 224.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Transzendentes hin geöffnet: Die trinitarischen Personen sprechen vor der Erschaffung von Raum und Zeit in der Ewigkeit miteinander in sich selbst.190 Karl Bartsch hielt in seinem muote (V. 139) lediglich für einen Zusatz des Schreibers, um den Reim auf guote (V. 140) herzustellen.191 Doch scheint mir, dass es sich dabei um eine konzeptionelle Aussage handelt, mittels derer versucht wird, paradoxe Denkfiguren in die Volkssprache zu transferieren: Während das Anegenge die Auseinanderlegung der Trinität in die Appropriationen unterstreicht und diese sogar einzeln zu Wort kommen lässt, hält es mittels der Figur der Beratung in sich selbst zugleich an Denkmodellen wie dem Soliloquium bzw. dem quasi consilium fest.192

2.2 Fazit Wiewohl Gott bzw. die Trinität jeglichen Kategorien von Zeit, Raum oder Bedürfnissen enthoben ist, kann über sie doch nur unter solchen Bedingungen gesprochen werden. Die eingangs gestellte Frage, unter welchen Prämissen im Anegenge ein Gespräch Gottes mit sich selbst stattfinden kann, lässt sich somit folgendermaßen beantworten: unter menschlichen. Den Beratungen der trinitarischen Personen im Anegenge ist eine raumzeitliche Dynamik eingeschrieben, die unter anderem einen Progress, eine Entwicklung des göttlichen Heilsplanes suggeriert. Dass dieser Heilsplan, Schöpfung, Sündenfall und Erlösung, jedoch immer schon in Gottes denchen vollständig präsent ist, zeigt sich bereits im Prolog: Gott denkt noch vor aller Schöpfung (V. 30  f.) an seine mit der Erlösung des Menschen verbundene Passion (V. 32  f.). Auf engstem Raum sind hier Gott vor der Schöpfung (e ie icht), die Schöpfung selbst (getæte, wurde) und die Passion (burde) zusammengebunden. Damit ist schon am Anfang das Ziel antizipiert  – und dies in doppelter Hinsicht. Einmal auf der Ebene des Erzählens: Zu Beginn des Anegenge ist sein Inhalt und sein Ziel bereits vorweggenommen und zusammengefasst. Zum anderen auf der Ebene des Erzählten: Vor allem Anfang, in der göttlichen Ewigkeit ist das Ziel des göttlichen Heilsplanes, die Erlösung, in Gottes denchen immer schon gesehen und vollständig. Anfang und Zielpunkt kulminieren in Gott.

190 Müller, 2017a, S. 27: „Aber ‚am Rat sitzen‘ meint das zeitenthobene Selbstverhältnis der Trinität, das von je ist. Der Ratschluss der Trinität, der Zeit begründet, muss aus der Zeitlichkeit herausgehalten werden; die Unterredung der drei Personen in der Gottheit ist keine wirkliche“. 191 Bartsch, 1882, S. 496. Siehe dazu auch Neuschäfer, 1966, Studien, S. 70. 192 Zum Soliloquium und quasi consilium mit Bezug zum Anegenge siehe u.  a. Ohly, 1953, S. 208–209; ders. 1994, S. 244–247; Stridde, 2009, bes. S. 204–208.; dies., 2012, S. 22–23. Für Stridde, 2012, S. 22, wird der Gesprächscharakter allerdings nur „wenig überzeugend“ durch das mit gedanchen (V. 495– 497) eingeschränkt. Sie vermutet hinter der Beratung im Anegenge „die Vorstellung einer Art von ”schweigendem Seelendialog““ (dies., 2009, S. 207–208).



2 Wer? Wie? Wann? Wo? – Voraussetzungen der trinitarischen Beratungen 

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Dies spiegelt sich auch in dem von der Forschung stets abgelehnten Titel Daz buoch heizzet daz anegenge:193 Einerseits handelt es sich beim Anegenge um einen Text, der versucht, die Heilsgeschichte ausgehend von Gottes denchen in der Ewigkeit (V. 31) zu verbalisieren. Der Begriff anegenge ließe sich also gerade auf diesen ‚Anfang‘ der Heilsgeschichte (wie sich hup unser hail, V. 226) beziehen, wobei dem Anfang der Heilsgeschichte, anders als Schröder angenommen hat,194 ihr Ziel, die Erlösung, immer schon inhärent ist.195 Darüber hinaus kann der Begriff anegenge auch auf Gott rekurrieren: Im Ezzo-Lied heißt es:196 Warer got, ich lobe dich, ein anegenge gih ich ane dich. daz anegenge bistu trehtin ein (EL, 6, 1–3)

Gott wird hier als anegenge (der Schöpfung) bezeichnet.197 Zwar stellt das Anegenge diese Verbindung weniger explizit her als das Ezzo-Lied, doch fleht das Sprecher-Ich: nu sult ir biten umbe mich, der von anegenge also hiezze, daz er mir den muot198 entsliezze. (V. 318–320)

Gott wird zum anegenge in Bezug gesetzt, wodurch die Titelbezeichnung stellvertretend auch für Gott (in seiner Trinität) stehen kann. Im Titel, lässt man ihn als solchen gelten, ist somit bereits die Struktur des Anegenge angelegt: Als Bezeichnung für eine Erzählung vom Anfang verweist er auf die syntagmatische Darstellung der Heilsgeschichte, als Bezeichnung für Gott hingegen betont er die paradigmatische Thematisierung der Trinität. Die nachfolgenden Kapitel werden dies weiter verdeutlichen.

193 Vgl. u.  a. Schröder, 1881, S. 78; Rupp, 1971, S. 241. 194 Vgl. Schröder, 1881, S. 78. 195 Vgl. Rupp, 1971, S. 246; Müller, 2017a. 196 Jaeger, 1978, S. 2, hält für das Ezzo-Lied fest: „Das Gleiten des Wortes anegenge durch verschiedene Bedeutungen ist auffällig“. 197 Unzeitig, 2012, S. 222: „Das Wort anegenge selbst ist zwar kein terminus technicus, jedoch ein Wort, das in Analogie zu Gottes Schöpfungsakt verstanden wird.“ Zur Verbindung von Gott und anegenge (Anfang) vgl. auch Jaeger, 1978. 198 Neuschäfer hat das handschriftliche muot zu munt konjiziert. Im muot spiegelt sich jedoch die direkte Einflussnahme Gottes nicht nur auf das Sprechen, sondern schon auf das Denken des Sprechers.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

3 Das Sprechen der Trinität Nachdem im voranstehenden Kapitel die Voraussetzungen geklärt wurden, soll im Folgenden untersucht werden, wie Trinität im Anegenge gedacht wird. Hierfür wird im Durchgang durch den Text zunächst das Sprechen der trinitarischen Personen in den beiden Ratsszenen, dem Schöpfungs- und dem Erlösungsrat, selbst betrachtet.

3.1 Der Schöpfungsrat Das Anegenge ist im zwölften Jahrhundert neben dem St. Trudperter Hohelied der einzige Text der Volkssprache, der die trinitarischen Personen nicht nur im Hinblick auf die Erlösung, sondern bereits auf die Schöpfung zu Wort kommen lässt.199 Im St. Trudperter Hohelied besteht die Beratung der trinitarischen Personen nur aus wenigen Versen (TH 2,17–24); ihr Fokus liegt darauf, dass die Erschaffung des Menschen – denn nur dieser wird hier fokussiert – ohne jegliche Notwendigkeit für eine der göttlichen Personen geschieht.200 Den eigentlichen Entschluss zur Schöpfung fasst im St. Trudperter Hohelied die güete: wir suln schepfen eine geschepfede, mit der wir teilen ebene den gewalt unde den unseren wîstuom (TH 2,22  f.).201 Der Wille der guote wird auch im Anegenge zum Auslöser für den Gottesrat, doch ist es das Ziel dieser Beratung, das göttliche lob [ ] brait zu machen unt die wunne [ ] gemaine, | die er alaine | ie gedacht hæte (V. 139–145).202 Das Anegenge betont damit stärker als das St. Trudperter Hohelied, den Wunsch nach der wunne der Schöpfung, was auch im weiteren Verlauf des Textes zentral ist.203 Die erste Ratsversammlung des Anegenge, der Schöpfungsrat, besteht aus dem gewalt (Gott Vater), seiner weishait (Gott Sohn) und seiner guote (Gott Heiliger Geist).204 Der Modus des Ratsgesprächs als Miteinander-in-sich-selbst bewirkt dabei, dass die Trinität zwar in ihre einzelnen Personen auseinandergelegt wird, diese aber zugleich wechselseitig überkreuzt werden können. Schon die erste Einbringung ver-

199 Zur Vorstellung eines Schöpfungsrates und zu weiteren Belegen siehe auch die Zusammenstellung bei Kern, 1971, S. 240–241. Vgl. dazu auch Ohly, 1953, S. 206–208, bes. S. 208; ders., 1994, S. 242–258. 200 Siehe dazu Ohly, 1953, S. 206–208. Ders., 1994, S. 254, sieht in den Selbstgenügsamkeitsbeteuerungen von gewalt und wîstuom ein Gegenargument zum Schöpfungsvorschlag der güete. Doch kann man die Stelle auch so verstehen, dass die Schöpfung, wie im Anegenge, beschlossen wird, obwohl sie nicht notwendig ist: aus reiner güete (TH. 2,19  f.). Siehe zu dieser Diskussion auch TH, Kommentar, S. 445–447. Siehe zum Sprechen der Trinität an dieser Stelle auch Stridde, 2009, S. 203–209; dies., 2012. 201 Siehe dazu auch Ohly, 1998, Kommentar, S. 443–447. 202 Zur Erschaffung des Menschen „allein aus der unermesslichen Gnade Gottes heraus“ vgl. u.  a. Ohly, 1994, S. 254; Kiening, 2015, S. 69–70. 203 Siehe Kap. IV.5. 204 Vgl. im Folgenden auch Bauer, 2019, S. 40–45.



3 Das Sprechen der Trinität 

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deutlicht dies: du waren seine gute ræte, | daz er die engel werden hiezze (V. 146  f.).205 Zwar sind die Ratschläge über das Possessivpronomen seine immer noch dem gewalt zugeordnet, implizit aber sind sie über das Adjektiv gut der guote inhärent.206 Mit dem Rat der guote wird eine Ereigniskette ausgelegt, die die Erschaffung der Engel mit Teufelssturz207, Schöpfung und Sündenfall sowie der Passion Christi verknüpft. Dabei wechselt die Perspektive, wiederum mittels eines Possessivums (sein selbes, V. 157), von gewalt und guote auf die weishait: daz sumlich [der Engel, E.B.] gerieten daz sach er vil wol vor. sam tet er sein selbes tot unt alle die not, diu im da von chumftic was. (V. 154–159)

Auf engstem Raum ist hier die Heilsgeschichte vorweggenommen: Es wird angedeutet, dass einige Engel durch den Missbrauch ihres freien Willens ihren eigenen Sturz herbeiführen werden. Durch diesen Fall, den Teufelssturz, wird der zehnte und höchste Himmelschor, den nach der Tradition Luzifer und die Engel besessen haben,208 vakant. Die so entstandene Leerstelle soll durch die Erschaffung des Menschen gefüllt werden: In der Bewährung seines freien Willens209 im Paradies soll dieser sich als würdig erweisen, seinen Platz über den niun210 chœren (V. 1128) einnehmen zu dürfen – was auch im Anegenge leichter gesagt als getan ist, denn das Scheitern des Menschen, der zweite Sündenfall, ist im Verweis auf Gottes Sterben (V. 157–159) bereits vorweggenommen. Weiterhin rät die guote, nun explizit, dass Gott die gesamte Schöpfung ins Werk setzen solle: Do diu gotes gute do an dem rate also mit seiner weisheit saz, 205 Dass der Rat zur Schöpfung von der guote ausgeht, findet sich beispielsweise auch bei Hugo von St. Victor (vgl. u.  a. Ohly, 1953, S. 206). Im Anegenge lässt sich die wunne nicht nur auf den Menschen beziehen, sondern auch auf die Engel und die gesamte Schöpfung (vgl. Ohly, 1994, S. 256–257). 206 Bei Neuschäfer lautet der Vers 146: duo wâren sîner guote ræte. Die Konjektur suggeriert, dass es explizit die guote ist, die dazu rät. Fasst man das handschriftliche gute allerdings als starkes Adjektiv auf, so erübrigt sich der Eingriff. Die beratende Rolle der guote bleibt über das Adjektiv gut – implizit – erhalten. 207 Vgl. u.  a. Goetz, 2014, S. 5. 208 Vgl. u.  a. Teuber, 1899, S. 283. 209 Vgl. Rupp, 1971, S. 228: „Der Mensch als Ersatz muß frei sein, und er muß sich seinen Platz – im Gegensatz zu den Engeln – erst verdienen.“ Zum freien Willen im Anegenge vgl. u.  a. Rupp, 1971, S. 225–228. 210 Die Handschrift überliefert hier niwn.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

do geriet si im daz, daz er schuff elliu dinc, als siu hat der werlde umberinch (V. 187–192)

Zwar scheint die guote dabei die mit ihr zu Rate sitzende weishait zu adressieren, die so in die Rolle des Schöpfergottes gerückt würde, doch wieder werden die Appropriationen über die Spezifizierung als gotes gute (V. 187) und das Possessivpronomen seiner (V. 189) in Abhängigkeit von dem gewalt gezeichnet: Auf dieses Maskulinum – der gewalt – beziehen sich das im (V. 190) und das er (V. 191). Dass Gott Vater der eigentliche Adressat des gutlichen Ratschlages ist, machen die nächsten Verse deutlich: er hiez daz liecht werden unt die engel dar inne. daz was sein erste stimme, die got ie gesprach. (V. 194–197)

Mit sein erste stimme (V. 195) klingt deutlich Genesis 1,3 – dixitque Deus | fiat lux et facta est lux – an, der Beginn des Sechstagewerks. Im Anegenge können die Verse er hiez das liecht werden etc. sowohl als Wiedergabe der göttlichen Ratsschlüsse wie als performativer Sprechakt gedeutet werden:211 Schöpfungsplan und Schöpfungshandlung fallen in eins, wie es auch im Hexaemeron der Genesis der Fall ist.212 Zugleich können die Verse 196  f. als Verweis auf das quasi consilium gelesen werden. In diese Richtung könnte auch weisen, dass der Schöpfungsrat, anders als der nachfolgende Erlösungsrat, großteils in indirekter Rede wiedergegeben ist. Dies zeigt sich gleich zu Beginn: Der Gottesrat wird eingeleitet durch eine Situationsbestimmung – die göttlichen Personen beraten sich –, woraufhin der Rat der guote zur Erschaffung der Welt in indirekter Rede wiedergegeben wird: do geriet si im daz, | daz er schuff (V. 190  f.).213 Darauf folgen eine Aufzählung verschiedener Schöpfungstaten (er hiez […] werden, V. 194) und eine auslegende Erklärung (daz was, V. 196  f.) des Sprechers. Was dabei indirekte Rede des geistlichen Ratschlages ist und was bereits Kommentar des Sprecher-Ich, ist kaum zu entscheiden.214 Erst die Auslegung, dass die Erschaffung des Lichts Gottes erste stimme, das erste Wort (der Schöpfung) sei, kann eindeutig dem Sprecher zugeordnet werden. Durch das Changieren zwischen indirekter Redewiedergabe und Sprecher-Kommentar, kann die Beratung der Trinität demnach präsentiert und ausgefaltet, zugleich aber auch kommentiert und reflektiert werden, und bleibt doch dem Denkmodell des quasi consilium – ein Stück weit – verhaftet.215 211 Vgl. allg. Kiening, 2014, S. 144. 212 Vgl. u.  a. Schneider, 2006, S. 197. 213 Vgl. Kap. IV.3.1, Anm. 205. 214 Siehe dazu auch Lechtermann, 2021, S. 108. 215 Anders Stridde, 2009, bes. S. 204–208.; dies., 2012, S. 22–23. Siehe auch Kap. IV.2.



3 Das Sprechen der Trinität 

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Bezüglich der Schöpfung müsste man für das Anegenge hier allerdings eher von einem ‚Fünftagewerk‘216 sprechen: ouch schuff der hailige christ allez, daz hiute ist, in fumf tagen, chundet uns daz buoch. an dem sehsten er den man geschuof (V. 203–206)

Gott, respektive der heilige christ, bringt – analog zur Bibel – die gesamte Schöpfung in fünf Tagen hervor, der sechste Tag ist für den Menschen reserviert.217 Doch wird die Erschaffung des Menschen hier nur angedeutet (an dem sehsten er den man geschuof, V. 206) und erst an späterer Stelle auserzählt.218 In der so entstehenden Doppelung des Schöpfungsberichts zunächst als Schöpfungsplan in Gottes muote, der zugleich das ‚Fünftagewerk‘ umsetzt, und sodann als (zweiter) Schöpfungsvorgang, die Erschaffung des Menschen, wird der doppelte Schöpfungsbericht der Genesis aufgerufen und mit der Textstruktur des Anegenge verknüpft. Zugleich wird in diesen Versen die voranstehende grammatisch subtile Überordnung des gewalt unterlaufen:219 Der Gottessohn wird als Schöpfergott aufgebaut (ouch schuff der hailige christ, V. 203), wodurch das Zusammenwirken der Trinität im Hinblick auf die Schöpfung betont wird.220 Noch deutlicher wird dies in den folgenden Versen:221 der sun ordenot elliu dinc, als si noch immer mere sint, e icht geschaffen wære worden, doch het er den orden vil gærlich verlorn, het uns der gewalt nicht geborn. […] daz selbe het diu guote vil willechlichen in ir muote, wan der gewalt noch der weistuom die enchunden nicht getuon uber ir willen, noch enwolden, noch enmochten, noch ensolden. (V. 419–434)

216 Diesen Begriff nutzt auch Ohly, 1994, S. 256–257. 217 Vgl. Teuber, 1899, S. 256. 218 Siehe Kap. IV.5. 219 Siehe Kap. IV.4. 220 Vgl. Rupp, 1971, S. 221: „Der Dichter behandelt nicht die ‚potestas Domini‘, sondern die Frage, wie die Trinität bei der Schöpfung zusammenwirkt.“ 221 Vgl. Teuber, 1899, S. 268; Rupp, 1971, S. 221.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Der gewalt, Gott Vater, wird als verantwortlich für das (ontologische) Ins-Werk-Setzen gezeichnet, während der Sohn eher konzipierend tätig ist:222 Der weistuom richtet die Schöpfung noch vor ihrer Entstehung, gleichsam im Geiste, ein. Die guote, der Heilige Geist, liefert den Willen dazu, denn weder der gewalt, noch der weistuom könnten, wollten oder sollten irgendetwas ohne ihren Willen unternehmen.223 Implizit klingt hier Hugo von St. Victor an: bonitate voluit, sapientia disposuit, potestate fecit (DS I,2; S. 65, Z. 18).224 Diese Formel ist im Anegenge aufgelöst in das trinitarische Ratsgespräch.225 Doch lassen sich die Zuständigkeiten im Anegenge nicht so klar zuordnen. Vielmehr wechseln die Zuständigkeitsbereiche insbesondere von gewalt und weistuom wiederholt,226 was die im Ratsgespräch auseinandergelegten göttlichen Personen implizit wieder aneinanderbindet und so ihre Untrennbarkeit umso deutlicher herausstellt.227 Auffällig ist, dass sowohl im Anegenge wie im St. Trudperter Hohelied die guote zur Erschaffung des Menschen rät. Auch dieser Gedanke findet sich bei Hugo von St. Victor, der zudem die daraus resultierenden Zeitlichkeitsimplikationen diskutiert: Et uidetur quasi quedam esse distintio & successio temporalis. & demonstrat se considerationi prima bonitas quia per eam uoluit deus. deinde sapientia, quia per eam disposuit. nouissime potestas quia per eam fecit quoniam ordo uidetur esse & fuisse uoluntas prima et postea dispositio. & nouissime operatio subsecuta. Nisi enim uoluisset non disposuisset. & nisi disposuisset non fecisset (DS I,2; S. 65, Z. 18–23). [Und es scheint, als bestehe wie eine gewisse Unterscheidung und zeitliche Aufeinandenderfolge. Und es erweist sich für die Erwägung als erste die Gutheit, weil Gott durch sie gewollt hat, sodann die Weisheit, weil Gott durch sie bereitet hat, zuletzt die Macht, weil er durch sie geschaffen hat. Denn es scheint eine Ordnung zu bestehen, und dass der Wille das erste gewesen sei, danach die Bereitung und zuletzt das darauf folgende Wirken. Wenn er nämlich nicht gewollt hätte, hätte er nicht bereitet; hätte er nicht bereitet, hätte er nicht geschaffen (DS I,2; S. 83, Z. 30–S. 84, Z. 3).]

222 Rupp, 1971, S. 221–222, unterteilt in die potentielle Schöpfungskraft des weistums und die aktuelle des gewalt. 223 Rupp, 1971, S. 221, spricht von einer „Art Aufgabenteilung“. 224 [Und mit der Gutheit wollte er, mit der Wesiheit bereitete er, und mit der Macht schuf er (DS I,2; S. 83, Z. 29–30).] Die Edition von Berndt, 2008, S. 65, Z. 18, hat hier uoluntate uoluit, verweist im Apparat aber unter der Sigle m auf das bekannte bonitate. Siehe auch Rupp, 1971, S. 221. 225 Vgl. Rupp, 1971, S. 221–222; Sherwood-Smith, 2003, S. 214–215. 226 Aber auch zwischen guote und gewalt, wenn beispielsweise der gewalt zum vollaist der guote wird (V. 611). 227 Vgl. zur Schöpferrolle Christi im Anegenge auch Dittmar, 1934, S. 32. Dieser verweist darauf (ebd., S.  31), dass die Gottheit Christi im Anegenge „stark und eigenartig“ hervortrete (vgl. Teuber, 1899, S. 276). Dittmar, 1934, S. 29–30, wundert sich (ebenso wie Teuber, 1899, passim), dass es Christus ist, der Adam das Paradies zuweist, der Noah vor der Sintflut rettet und vermutet dahinter „eine mißverstandene Analogiebildung zu den messianischen Prophezeiungen“. Doch scheinen derartige Zuweisungen vielmehr dem Versuch geschuldet, nicht nur die Einheit aller Personen in der Dreiheit, sondern die Einheit der Dreiheit in jeder Person herauszustellen (siehe Kap. IV. 4).



3 Das Sprechen der Trinität 

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Die Auseinanderlegung in Wille (velle), Planung (disponere) und Umsetzung (facere) der Schöpfung impliziert zwar eine Abfolge, doch ist in Gott die gesamte Schöpfung, der gesamte Heilsplan immer schon vollständig.228 Diese Problematik spiegelt sich ansatzweise auch im Anegenge: Wiewohl der sprachlichen Präsentation des Schöpfungsrates ein Progress insinuiert ist, lässt sich nicht eindeutig festlegen, was Schöpfungsplan, was Schöpfungshandlung ist. Überdies wird die scheinbare Abfolge von Wollen, Planen und Schaffen dadurch unterlaufen, dass es sich beim Schöpfungsrat nicht so sehr um die eine Beratung als vielmehr um mehrere Beratungssequenzen handelt. Diese setzen immer wieder neu mit einem Ratschlag der guote an, fokussieren dabei aber jeweils andere Aspekte der (künftigen) Schöpfung, wodurch diese umso mehr Profil erhält.229 Unterbrochen und strukturiert werden die einzelnen Sequenzen durch Sprecherrede, die zusammenfasst, spezifiziert, kommentiert oder auslegt. En passant können so verschiedenste Facetten der Einheit in der Dreiheit eingeflochten und ausgeführt werden, wodurch das Bild der Trinität einem Mosaik gleich immer mehr Kontur und Farbe erhält. Im Schöpfungsrat des Anegenge sollen demnach nicht nur möglichst viele Aspekte der Schöpfung aufgefächert und ausgedeutet werden, sondern besonders der trinitarischen Personen selbst. Die Schöpfung scheint im Anegenge zwar grosso modo an der Vorlage der Genesis orientiert, doch liegt der Fokus deutlich auf der Erschaffung des Lichts. Gottes Schöpfertätigkeit wird dabei als underscheiden (V.  211; dividere, Gn 1,4) bezeichnet: Gott scheidet Licht von Dunkelheit (V. 212), daz ist der tac unt diu nacht (V. 213). Dies entspricht dem ersten Schöpfungstag. Das appellavitque (lucem diem et tenebras noctem) der Genesis (Gn 1,5) wird dabei ersetzt durch die Zuweisung daz ist (der tac und die nacht). Daran schließen sich folgende Verse: dem wazzer gab er seine macht, den sternen unt dem mane unt der sunne, baz, danne ich gesagen chunne, gab er in besunder ir ceit, also begiengen siz immer mere seit. (V. 214–218)

Ohne auf die Erschaffung der Pflanzenwelt einzugehen, wird die macht des Wassers direkt verbunden mit der macht der Gestirne (V. 215), die nach der Genesis (Gn 1,14–19) am vierten Schöpfungstag erschaffen werden. Dort heißt es: fecitque Deus duo magna luminaria luminare maius ut praeesset diei et luminare minus ut praeesset nocti et stellas et posuit eas in firmamento caeli ut lucerent super terram et praeessent diei ac nocti (Gn 1,16–18)

228 Zu behaupten, dass nicht der ganze Gott ewig sei, wäre hingegen nefas (DS I,2; S. 65, Z. 26), Frevel (DS I,2; S. 84, Z. 8). Siehe auch Kap. IV.2. 229 Siehe ausführlich Kap. IV.7.4.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

[Gott machte die beiden großen Lichter, das größere, das über den Tag herrscht, das kleiner, das über die Nacht herrscht, auch die Sterne. Gott setzte die Lichter an das Himmelsgewölbe, damit sie über die Erde hin leuchten, über Tag und Nacht herrschen]

Über das mittelhochdeutsche Substantiv macht werden die Schöpfungstage zwei bis vier zusammengebunden, wobei macht stellvertretend für das lateinische Verbum praeesse (Gn 1,16) gesetzt ist, über das die Superiorität der Gestirne über die Tageszeiten herausgestellt wird. Anstelle weiterer Schöpfungstage wird im Folgenden allerdings berichtet, was sich beim Teufelssturz zugetragen hat (V. 230–276).230 Die unmittelbare Verknüpfung von Schöpfung und Teufelssturz erscheint zunächst als kompositorischer Missgriff, als Bruch der Darstellung. Tatsächlich hat der Bericht vom Teufelssturz nach der Logik des Anegenge gerade hier seinen Ort:231 Denn im Licht werden zugleich die Engel, und damit auch Luzifer, erschaffen.232 Dies rekurriert nach Teuber auf Augustinus, der die Erschaffung der Engel im caelum (Gn 1,1) sieht, wobei allerdings caelum durch das volkssprachliche liecht wiedergegeben wäre.233 Auch im Anschluss an den Teufelssturz wird das Fünftagewerk nicht wieder aufgenommen, doch wird die übrige Schöpfung im Anegenge nicht völlig ausgeblendet, sondern en passant mittels Andeutungen eingeflochten (V. 203–207 u.  a.), wodurch ein mosaikartiges Abbild des Hexaemeron entsteht. Der siebte Schöpfungstag wird allerdings an keiner Stelle thematisiert – womöglich gerade aufgrund der Ruhe, die Gott an diesem Tag einhält. Stattdessen werden die Personen der Trinität und ihre Bezeichnungen, ihre Relationen zueinander, ihr Zusammenwirken zu erklären versucht. Der Fokus liegt demnach gerade nicht auf der Schöpfung selbst, sondern auf der Trinität und ihrem Heilsdenken und Heilshandeln – was die zweite Ratsszene, der Erlösungsrat, noch expliziert.

3.2 Der Erlösungsrat – Streit der Tugenden Gottes Töchter- oder Tugendstreit? Im Anschluss an die Verfluchung Chams wird ein Resümee gezogen: 36 Generationen (V. 2230) sollten auf Adam folgen, bis Gott Mensch werden wollte.234 Der Verweis auf die Verdammnis des Menschen und seine Unerlöstheit in der Hölle (V. 2249) bildet 230 Siehe Kap. IV.2. 231 Vgl. Teuber, 1988, S. 257–258. 232 So bedeutet Lucifer wörtlich ‚Lichtträger‘. In 2 Cor 11,14 wird Satan überdies als angelus lucis [Engel des Lichts] bezeichent. Siehe auch Janota, 2009, S. 24. 233 Vgl. Teuber, 1988, S. 255. Siehe auch Goetz, 2013, S. 5. 234 Siehe Kap. IV.5; 7.2.



3 Das Sprechen der Trinität 

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dabei zugleich die Zusammenfassung der biblischen Geschichte seit dem Sündenfall und den Kernpunkt des Folgenden: Die erbarmde beruft eine Versammlung ein, die über die Erlösbarkeit des Menschen beraten soll (V. 2254–2257).235 Das Auftreten der erbarmde ruft eine Tradition auf, die spätestens seit Bernhard von Clairvaux bekannt,236 im Anegenge aber wohl zum ersten Mal in einen Text der Volkssprache eingearbeitet ist,237 den ‚Töchterstreit‘.238 Dieser allegorische Streit der sogenannten ‚Töchter Gottes‘ – misericordia (erbarmde), veritas (wahrhait), iustitia (recht) und pax (fride) – rekurriert auf Psalm 84,11: misericordia et veritas occurrerunt iustitia et pax deosculatae sunt. Die volkssprachliche Entsprechung dieser Psalmverse bildet im Anegenge den Rahmen, innerhalb dessen die trinitarischen Personen mit den ‚Töchtern‘ Gottes über die Erlösbarkeit des Menschen verhandeln:239 da widerfur diu warhait der erbarmde unt der gute drate. (V. 2258–2259). ein ander chusten si duo daz hailige recht unt der fride. (V. 2386–2387)

In der späteren ebenfalls anonym überlieferten Erlösung hingegen markiert die Paraphrase das Ende des Töchterstreits (E V. 1066–1075). Im Anegenge werden die Personifikationen von Barmherzigkeit, Wahrheit, Recht und Friede jedoch weder als Töchter bezeichnet,240 noch wird ihre Weiblichkeit ausgestellt. Letzteres zeigt sich besonders deutlich, wenn der fride (V.  2387)

235 Vgl. zum Töchter- oder Tugendstreit u.  a. Teuber, 1899, S. 334–339; Mäder, 1971. Ausgewählte Literatur bietet auch Ohly, 1994, S. 258–262. 236 Dass sich der ‚Töchterstreit‘ im Anegenge (zumindest teilweise) an Bernhard orientiert, meint Teuber, 1899, S. 334–339, zeigen zu können. Vgl. auch Hauck, 1958, S. 534; Mäder, 1971, S. 24; Tveitane, 1980, S. 411. Die Kombination aus ‚Töchterstreit‘ und Trinität überrascht dann allerdings insofern, als Bernhard selbst ein Gegner der Abaelardschen trinitarischen Gottesvorstellung war (vgl. u.  a. Schröder, 1881, S. 56). Zur (Kommentar-)Tradition dieses Motives vgl. u.  a. Heinzel, 1874; Scherer, 1877; Teuber, 1899, S. 334–339; Mäder, 1971; Tveitane, 1980; Quast, 2020, S. 47–48. 237 Vgl. Mäder, 1971, S. 46. 238 Zur Motivgeschichte siehe Mäder, 1971; Dᶏbrówka, 2012. 239 Dass im Anegenge überhaupt die trinitarischen Personen wie ihre Tugenden zu Wort kommen, sieht Rupp, 1971, S. 234 und ausführlicher S. 249–250, als eine Folge der „vulgarisatio“, mittels derer der Dichter versucht habe, seinen Stoff verständlicher zu machen. 240 Vgl. Heinzel, 1874, S. 45; Mäder, 1971, S. 51; Tveitane, 1980, S. 410; Sherwood-Smith, 2003, S. 216. Ohly, 1994, S. 275, weist überdies darauf hin, dass nicht nur die Tugenden nicht als Töchter zu gelten haben, sondern auch die Personen der Trinität nicht als Vater oder Bruder der Töchter bezeichnet werden.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

herbeispringt, um daz recht (V. 2387) zu küssen. Anderes lässt sich in der Erlösung beobachten: Hier wird das Verwandtschaftsverhältnis nicht nur der Töchter zu Gott, sondern auch untereinander als Schwestern deutlich betont (E V.  531; 550; 557 u.v.m.). Barmeherzekeit, Wârheit, Gerehtekeit und Vride sind dabei als weibliche Eigennamen genutzt.241 Im Anegenge von ‚Töchtern‘ oder dem ‚Töchterstreit‘ zu sprechen, ist also nicht angezeigt. Alternativ könnte man erbarmde, warhait, recht und fride auch als ‚Tugenden‘ bezeichnen.242 Doch auch der mittelhochdeutsche Begriff tugent wird im Anegenge nicht diesen Personifikationen zugeordnet. Vielmehr werden die Personen der Trinität selbst mit dem Begriff tugende belegt (V. 336; V. 631 u.  a.). Dennoch soll im Folgenden vom ‚Tugendstreit‘243 gesprochen werden. Mit diesem Begriff ist zugleich die Motivtradition aufgerufen und seiner Darstellung im Anegenge Rechnung getragen: Indem mit ‚Tugend‘ nicht nur die Qualitäten Gottes erbarmde, warhait, recht und fride, sondern auch seine Appropriationen gewalt, weishait und guote gemeint sein können, wird ihre grundsätzliche Unscheidbarkeit, die den Erlösungsrat im Anegenge prägt, betont. Der Streit der Tugenden Gottes Die erbarmde beruft eine samnunge ein, da das endlose Leid des unerlösten Menschen (wan er hat michel lait, V. 2273) ihr – naturgemäßes – Erbarmen erregt. Die warhait wird als Widerpart aufgebaut, der der erbarmde und der guote entgegentritt. Soweit das Setting des zweiten trinitarischen Gottesrates (V. 2254–2261). Bereits dieser Eingang unterscheidet das Anegenge von Vergleichstexten wie der Erlösung, denn dort ist es Gott selbst (der himmelherre | got von himmelrîche, E V. 350  f.),244 der eine Gerichtsverhandlung (gerihte, E V. 353) einberuft. An dieser Verhandlung nehmen in der Erlösung nicht nur die Appropriationen und die Töchter Gottes teil, sondern Gott berät mit aller himelischen schar (E V. 355). Die Zusammenkunft wird dabei, insbesondere durch die Einbeziehung der himelfursten (E V. 356), ganz als höfische Gerichtsbarkeit mit Gott als höfischem Herrscher inszeniert:245

241 Vgl. auch Sherwood-Smith, 2003, S. 216; 220. 242 Zu den Bezeichnungen ‚Tugenden‘ und ‚Töchter‘ vgl. u.  a. Teuber, 1899, S. 334–335. 243 Vgl. Mäder, 1971, S. 47. 244 Vgl. Schwietering, 1931/41, S. 57. 245 Vgl. zu Rat und Ratsszenen in der Epik u.  a. Müller, 1993. Die starke Höfisierung zeigt sich in der Erlösung allenthalben, eindrucksvoll beispielsweise an der ausführlichen Beschreibung von Gottes Thron (E V. 393–474), und ist schon im Prolog im Verweis auf die höfische Epik, vor allem den Tristan, angelegt. Vgl. u.  a. Ukena-Best, 2014; Lechtermann, 2020, S. 132.



3 Das Sprechen der Trinität 

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Dâ saz die werde majestas gekrônet wirdeclîche, als ein furste rîche billîch sitzen sulde, der gerichte haben wulde. (E V. 358–362)

Im Anegenge finden sich hingegen keine weiteren Angaben zum Umfeld, in dem der Erlösungsrat statthaben soll.246 Auch die Rahmenbedingungen, die für den Schöpfungsrat postuliert wurden – in Gottes muote; mit gedanchen –, werden im Erlösungsrat nicht mehr erwähnt. Dies muss jedoch keine „zunehmende Sorglosigkeit gegenüber dogmatischer Festigkeit“247 bedeuten. Nur auf der Darstellungsebene sind die beiden Ratsszenen durch die Zeit getrennt, nicht aber in Gottes denchen; für den Erlösungsrat ist demnach nicht von anderen Rahmenbedingungen auszugehen als für den Schöpfungsrat.248 Während der Schöpfungsrat jedoch zwischen (in-)direkter Rede der Appropriationen und Sprecherrede wechselt, tritt der Sprecher im Erlösungsrat beinahe vollständig hinter die wörtliche Rede der göttlichen Personen und ihrer Qualitäten zurück. Allenfalls macht er sich in Redezuweisungen bemerkbar, in den verba dicendi, die die Beratung strukturieren. Indem so die wörtliche Rede der trinitarischen Personen und ihrer Qualitäten in den Vordergrund tritt, erhalten die Rezipienten (vermeintlich) noch größeren Anteil am denchen Gottes als im Schöpfungsrat.249 Betrachtet man die Redezuweisungen näher, erkennt man allerdings, dass es sich nicht ausschließlich um verba dicendi handelt, sondern dass diesen Zusätze beigefügt sein können: diu erbarmde do alreste sprach, V. 2264; als daz recht vernam die andaht, V. 2366; do spranch ez dar under unt sprach, V. 2367. Auch Beginn und Ende des Tugendstreites sind diesbezüglich relevant: eine samnunge diu gotes erbarmde gisprach, wan si vil ungerne sach unser ewigez lait. […] nu sazzen si ze rate um den menschen, der da was verlorn. (V. 2254–2261)

246 Elemente der Höfisierung finden sich im Anegenge an keiner Stelle (siehe auch Kap. IV.5, Anm. 376). 247 Stridde, 2009, S. 208; dies., 2012, S. 23. 248 Anders Stridde, 2009, S. 208, für die im Erlösungsrat „nun ein echter Dialog fingiert“ wird; vgl. auch dies., 2012, S. 23. Für den Töchterstreit der Erlösung nimmt Quast, 2020, S. 56, an, dass er „Teil der (Menschen-)Geschichte“ ist und erst nach dem Sündenfall statthat. 249 Siehe zum Verhältnis von Sprecher und Rezipienten auch Kap. IV.1.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

e diu stunt vil vrömdechleiche der fride hin dane. als er die rede vernam, do spranch er der zuo. […] do het diu barmunge vertriben alle die vientschaft, diu zwischen dem menschen unt got was bihaft. ze sune was chomen der chnecht. (V. 2382–2391)

Während der Tugendstreit selbst beinahe ausschließlich aus der Wechselrede der beteiligten Parteien besteht, können Anfang und Ende sowie manche Redezuweisungen als narrative Elemente aufgefasst werden;250 ebenso das Dazwischenspringen des rechts oder der Kuss von recht und fride.251 – Überdies kann man darin wiederum Andeutungen zu Kommentierung und Ausdeutung der wörtlichen Redeanteile sehen. – Zu überlegen wäre, ob es sich bei solchen Elementen auch um eine Art ‚Regieanweisung‘ handeln könnte. Dass man die Wechselreden, den Streit der Tugenden im Anegenge, als ein gewisses ‚dramatisches‘ Element werten könnte, wurde zumal von der älteren Forschung wiederholt angemerkt.252 Zu fragen wäre dabei, ob sich hier Verbindungslinien zu anderen Gattungen, beispielsweise dem Streitgedicht oder dem Geistlichen Spiel, andeuten könnten. Die Funktion des Sprechers wäre dann gewissermaßen die eines Prelocutors, eines Vorsprechers, der unter anderem das ‚Setting‘ vorstellen und ‚Regieanweisungen‘ geben würde.253 Zwar hat das Motiv des ‚Töchterstreites‘– womöglich, wie Mäder andeutet, aufgrund einer Abneigung gegen allegorische Personen –254 nur selten Eingang in Geistliche Spiele gefunden.255 Es gibt aber auch Ausnahmen, beispielsweise das Maastrichter Passionsspiel oder das Künzelsauer Fronleichnamsspiel.256 Über das Geistliche Spiel ließe sich zudem eine weitere Ver250 Vgl. u.  a. Kiening, 2015, S. 71, der von einer „Durchsetzung der theologischen Erläuterungen mit narrativen und deskriptiven Passagen“ spricht. 251 Stridde, 2011, Sp. 500, nimmt hingegen an, dass die „dogmatische Festigkeit […] zugunsten eines dramatischen Dialogs körperlich vorgestellter Figuren aufgegeben“ werde. 252 Fechter, 1968, S. 255, sieht im Anegenge „Einlagen dramatischen und epischen Charakters“ enthalten. Dittmar, 1934, S. 28, spricht gar davon, dass „die drei Personen der Dreieinigkeit das Theater der Erlösung spielen.“ Teuber, 1899, S. 269, hingegen bezeichnet schon den Schöpfungsrat (ab V. 435) als dramatisch: „Im folgenden wird unser dichter dramatisch; er lässt die personificationen der drei göttlichen personen, den gewalt, den weistuͦ m und die guͦ te redend auftreten und den plan der schöpfung entwerfen.“ Siehe auch Kiening, 2015, S. 70. 253 Vgl. einführend Schulze, 2012, S. 18–19. 254 Das Motiv des Töchterstreits findet sich selten in Geistlichen Spielen, am ehesten wohl in jenen Spielen, die die Passion Christi zum Thema haben (vgl. Mäder, 1971, S. 86). Mit anderer Tendenz Kartschoke, 2000, S. 278. 255 Vgl. u.  a. Dauven-van Knippenberg, 2012, S. 33. 256 Vgl. mit weiteren Beispielen Mäder, 1971, S. 84–119; Dauven-van Knippenberg, 2012, S. 33–36.



3 Das Sprechen der Trinität 

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bindungslinie zur Liturgie ziehen, was einen Bogen zum Anfang des Anegenge schlagen würde.257 Ob und inwieweit derlei Traditionszusammenhänge aufgezeigt werden können, wäre allerdings Gegenstand einer eigenen Untersuchung. Nachdem im Anegenge die Ausgangssituation des Tugendstreites gesetzt ist, folgt ein kommentierender Einschub: uf hœher stunt der gotes zorn, unz uns genade geschach. (V. 2262–2263)

Diese Verse verbinden den status quo  – Gott ist zornig über den Ungehorsam des Menschen – mit dem Ergebnis der Ratsversammlung – die genade Gottes, also die Erlösung des Menschen. Die Verse bilden im Anegenge demnach zugleich einen Rückblick auf die voranstehende Sintflutepisode, in der Gottes zorn und genade in einem anderen Verhältnis zu einander standen, wie einen Ausblick auf das nachfolgende Erlösungsgeschehen. Erst nach dieser erneuten Scharnierstelle wendet sich die erbarmde mit ihrer Eröffnungsrede in direkter Apostrophe an gewalt und weistuom (V.  2365). Ohne Umschweife stellt sie die Frage in den Raum, wann (wenne, V. 2368) sie gemeinsam (wir, 2366) die verlorene Menschheit erlösen könnten.258 In der Erlösung eröffnet hingegen Gott selbst die rede (E V.  475), wobei er erst die Ausgangslage, den Fall des Menschen resümiert, um sodann zu fragen, waz er darumme lîden sal (E 503). Während der Fokus der Erlösung zunächst ganz auf der Verurteilung und Bestrafung des Menschen liegt,259 betont das Anegenge von Beginn an das Ergebnis des Tugendstreites, die genade (V. 2263). So steht auch für die erbarmde immer schon fest, dass der Mensch erlöst werden würde, weshalb sie nicht fragt, ob der Mensch erlöst werden könne, sondern wenne. Als umfassendes du (V. 2368)260 angesprochen, fordert die erbarmde Gott dazu auf, sich auf seine Göttlichkeit zu besinnen (gedenche, V. 2368) und den Menschen, der dem Teufel dient, zurückzuerobern (gewin in wider, V. 2369). Ihre Strategie hierfür scheint noch unspezifisch (etwie, V. 2369), ihre Rede fordert zunächst schlicht ihre eigene Wesensheit, Erbarmen mit dem Menschen, ein. Ist der Verweis auf die Wesenseinheit der erbarmde mit Gott im Anegenge hier nur angedeutet, so bringt es die Erlösung auf den Punkt: Hâst du niht barmherzekeit,  | sô ist ein niht dîn gotheit (E V. 534  f.). Gott wäre nicht vollständig, wäre nicht Gott, würde er nicht auch barmherzig 257 Siehe Kap. IV.1. 258 Vgl. zum Aufbau der Szene u.  a. Mäder, 1971, S. 47–50; Sherwood-Smith, 2003, S. 215–219. Siehe auch Lechtermann, 2021, S. 110. 259 Dies zeigt sich auch daran, dass in der Erlösung Gottes Einleitung mit zorneclîchem mûde (E V. 509) gesprochen wird. 260 Zu Verwendung und Verteilung der Personalpronomina im Tugendstreit des Anegenge vgl. u.  a. Sherwood-Smith, S. 215–219; Becker, 2020, S. 222–224.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

sein. Im Anegenge greift die erbarmde damit wieder auf, was schon an früherer Stelle angedeutet wurde, nämlich Gottes Mitleid (erbarmote, V. 1496) mit dem Menschen beim Sündenfall. Zugleich verweist die erbarmde darauf, dass sie (wir, V. 2372) den Menschen mit freiem Willen erschaffen hätten. Über das wir erweist sich die erbarmde nicht nur als teilhaftig am Schöpfungsakt, sie ist als eine seiner Qualitäten Teil Gottes selbst. Die Erlösung pointiert hingegen das genealogische Prinzip: Gedenke herre, daz ich dîn, | dohter heizen unde bin (E V. 530  f.).261 – Implizit ist im Anegenge über die Erwähnung des freien Willens, der zugleich einen Konnex zum Schöpfungsrat bildet, schon hier ein Kernpunkt des Erlösungsproblems aufgerufen. Auf die Rede der erbarmde antworten im Anegenge nun nicht die Angesprochenen, gewalt und weistuom, sondern die warhait: Auch sie argumentiert mit ihrer eigenen Wesensheit, indem sie darauf beharrt, dass unseriu wort muzzen war sein (V. 2281). Der Mensch, der beim Sündenfall von uns mit dem (ewigen) Tod bestraft worden sei (gehaizzen wart der tot, V. 2277  f.) – das vil wærlichen (V. 2278) betont noch die Dringlichkeit der Aussage –, könnte jedoch nur dann erlöst werden, wenn Gott sein Wort bricht. Eine Erlösung des Menschen sei somit völlig ausgeschlossen (an gedinge, V. 2275). Wie schon die erbarmde ist auch die warhait eine Qualität Gottes, was durch das umfassende Wir (uns, V. 2278; unseriu, V. 2281) noch unterstrichen wird. Die erbarmde hatte sich im Anegenge mit ihrer Du-Anrede als Anwältin des Menschen positioniert, die mit gewalt und weistuom über die Erlösung verhandeln will. Die warhait hingegen betont über das Wir ihre Personalunion mit gewalt und weistuom, an deren Stelle sie auch antwortet.262 Sie tritt damit nicht nur als Gegnerin der erbarmde, sondern auch der guote auf (V. 2258  f.), wodurch die erbarmde in die Nähe der guote gerückt zu sein scheint.263 – Wie schon im Falle der Barmherzigkeit sind die subtilen Verschränkungen von Appropriationen und Tugenden des Anegenge in der Erlösung prononcierter. Denn, so erinnert die Wâhrheit, hätte Gott, nit wârheit, | sô enwêre niht dîn gotheit (E V. 559). Argumentieren die Tugenden des Anegenge damit, dass sie Teil der göttlichen Wesensheit seien, pochen die Töchter in der Erlösung auf eine Personalunion mit Gott:

261 Ähnlich V. 546: obe ich dîn dohter moge sîn. 262 Diese Strategie könnte sich zudem in dem Vers des antwurt im diu warhait (V. 2274) spiegeln: Neuschäfer konjiziert das handschriftlich überlieferte im zu ir, wordurch die Antwort der warhait direkt an die erbermde adressiert ist. Das handschriftliche im ließe sich jedoch gerade in der Verbindung aus Gottesrat und Tugendstreit halten, denn damit wäre es gerade die göttliche Einheit, die hinter allem steht, die hier angesprochen wird. 263 In der Forschung wurde wiederholt überlegt, ob die Zusammenbindung von erbermde und guote bedeutet, dass die einzelnen Tugenden spezifischen Appropriationen zugeordnet sind (vgl. u.  a. Mäder, 1971, S. 47; Sherwood-Smith, 2003, S. 216–219; Becker, 2020, S. 218–224). Damit sollte zugleich erklärt werden, weshalb der Heilige Geist im Streit der Tugenden nicht weiter erwähnt wird: Die erbermde würde stellvertretend für den Heiligen Geist stehen, während die warhait eher Vater und Sohn zugeordnet wäre. Siehe auch Kap. IV.4.



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ich bin dû und dû bist ich (E V. 537).264 Diese, man möchte beinahe sagen: Plakativität lässt sich womöglich damit begründen, dass die Töchter Gottes in der Erlösung durch das höfische Setting, ihre ausgeprägte Anthropomorphisierung und ihre explizite Weiblichkeit eigenständiger erscheinen als die Tugenden im Anegenge.265 Können diese wenig konturierten Qualitäten subtil mit den Appropriationen verschränkt werden, müssen die Töchter der Erlösung ihre Zugehörigkeit zu Gott explizit und wiederholt ins Wort bringen.266 In der Erlösung folgt auf die Rede der Wârheit die Rede der Gerehtekeit, denn während die Tugenden im Anegenge miteinander diskutieren, bringen die Töchter der Erlösung ihr Anliegen – wie ein Plädoyer vor einem Richter – nacheinander vor Gottes Thron vor.267 Im Anegenge hingegen beharrt die erbarmde auf ihrer Forderung:268 Mit der Begründung, dass Gott trotz allem seine Schöpfung nicht im Stich lassen könne (nicht lazzen underwegen, V. 2283), schlägt sie vor, einen reinen Menschen aus Erde zu erschaffen, der etewene, künftig, für den Menschen hingegeben werden könne (V.  2286–2289).269 Die Strategie der erbarmde  – als (Mit-)Schöpferin des Menschen (V. 2272) –270 ist es folglich, die alte Schöpfung durch eine weitere, die die vorherige übertreffen solle, zu retten: einen menschen mug wir machen, | reinen uz der erden (V. 2286  f.); wiederum klingt hier Gn 1,26 an. Die Strategie ist dabei nicht neu, war es doch das Prinzip, das schon nach dem Teufelssturz zur Anwendung kam: Um den durch den Sturz der Engel leer gewordenen obersten Himmelschor wieder zu bevölkern, sollte der Mensch geschaffen werden – offensichtlich ein vergebliches Bemühen. Die warhait widerspricht auch sogleich, allerdings hat sie ein anderes Problem: Statt darauf hinzuweisen, dass der Vorschlag der erbarmde bereits versucht wurde  – und fehlgeschlagen ist  –, argumentiert die warhait mit dem Fluch, den Gott nach dem Sündenfall (des tages, do Adam  | wart ungehorsam, V. 2291  f.) gesprochen hat: maledicta terra in opere tuo (Gn 3,17). Indem Gott die Erde verflucht hat (wart verfluchet diu erde; V. 2293), habe er eine Neuschöpfung des Menschen unmöglich gemacht. Die warhait greift damit nicht zum offensichtlich(er)en Argument, sondern argumentiert erneut mit sich selbst: Muss das Wort

264 Siehe auch Prica, 2011, S. 142. Sherwood-Smith, 2003, S. 220, betont hingegen eher ihre Teilhaftigkeit an Gott. 265 Siehe auch Sherwood-Smith, 2003, S. 220; Becker, 2020, S. 220. 266 Dass diese Zugehörigkeit zu Gott in der Erlösung womöglich deutlich größere Schwierigkeiten bereitete als im Anegenge, mögen auch Verse wie obe ich dîn dohter muge sîn (E V. 546; 578; 612; 654) zeigen. Siehe auch Quast, 2020, S. 50. 267 Zur Redeverteilung in der Erlösung vgl. u.  a. Sherwood-Smith, 2003, S. 222–223. 268 Anders Scheidweiler, 1944, S.  23–24. Vgl. auch Mäder, 1971, S.  47–50; Sherwood-Smith, 2003, S. 217. 269 Vgl. auch Sherwood-Smith, 2003, S. 217. 270 In der Erlösung hingegen sind die Töchter nur Zeuginnen; am eigentlichen Urteilsverfahren, an der Schöpfung oder an eventuellen Erlösungsplänen sind sie nicht beteiligt. Vgl. Sherwood-Smith, 2003, S. 221; Quast, 2020, S. 51–54.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Gottes wahr bleiben, so ist selbstverständlich auch dieser Fluch unumgänglich (daz mac nicht werden widertan, V. 2295). – Implizit beantwortet die warhait damit zugleich die Eingangsfrage der erbarmde: wenne möcht wir daz widertuon (V. 2266)? Niemals. Hatte die warhait zuvor noch von einem uns gesprochen, so tritt sie nun selbst als alleinige Schöpferin auf (elliu dinc ich leichter han | uz nichte gischaffen, V. 2296  f.),271 was ihrem Widerspruch noch mehr Gewicht verleiht. Allerdings ist der warhait mit dieser Argumentation ein Fehler unterlaufen, auf den sie die erbarmde sogleich aufmerksam macht: „nu weistu vil wol daz,“ sprach aber diu erbarmde, „ob durch Adames gernde verfluchet wær diu erde in seinem werche ze umwerde, daz in unserm werche niht verfluchet ist. du da gewaltic got bist. wil du im geben die widervart, wan er der zu betwungen wart, so machtu von der erden einen menschen haizzen werden, dannen ene wirt gerainet.“ (V. 2300–2311)

Gott habe die Erde zwar für Adam (in seinem werche, V. 2304) verflucht, nicht aber für sich selbst (in unserm werche, V. 2305): Gott ist auch dort gewaltic (V. 2306), wo es der Mensch nicht ist.272 Das Argument der warhait ist somit hinfällig, die erbarmde wiederholt  – vermeintlich  – ihren ursprünglichen Vorschlag, einen Menschen aus Erde zu erschaffen, durch den das Menschengeschlecht von Sünden reingewaschen werden könne (V. 2307–2311). Ganz nebenbei präsentiert die erbarmde hier übrigens das ausschlaggebende Argument im Erlösungsstreit: Der Mensch ist erlösbar, weil er zur Sünde betwungen wart (V. 2308). Wurde der Streit der Tugenden bisher in wörtlicher Rede wiedergegeben und lediglich durch einzelne inquit-Formeln unterbrochen, meldet sich an dieser Stelle der Sprecher zu Wort:273 Mit dem reinen Menschen sei die Jungfrau gemeint (diu maget, V. 3212), diu uns daz hail brachte (V. 2313). Durch diesen Kommentar wird die Forderung nach einem ‚neuen‘ Menschen vereindeutigt: Mit ihm ist Maria gemeint,

271 Eindruckvoll zeigt sich hier die prinzipielle Untrennbarkeit der Qualitäten Gottes: Trat zunächst die erbermde als (Mit-)Schöpferin auf, so übernimmt diese Rolle nun die warhait. Sherwood-Smith, 2003, S. 223, hingegen sieht in dem ich einen Beleg dafür, dass die warhait, wenn nicht mit dem gewalt gleichzusetzen, so doch „Wortführerin der Trinität (mit einer deutlichen Nähe zum gewalt)“ ist. 272 Zu fragen wäre, ob die erbermde mit gewaltic got (V. 2306), wie Sherwood-Smith, 2003, S. 218, vorschlägt, konkret den gewalt adressiert. 273 Vgl. Sherwood-Smith, 2003, S. 217.



3 Das Sprechen der Trinität 

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die für ene (V. 2311)274 büßen solle. Wer ‚jene‘ sein soll, wird nicht spezifiziert, doch bietet sich die sündige Frau, Eva, an.275 Mit Blick auf das nachfolgende Motiv der Sündenwaage, auf der Evas Sünden Marias Leiden gegenübergestellt werden, lässt sich diese Vermutung noch bekräftigen.276 In dieser Lesart hätte die erbarmde somit nicht nur bereits die Menschwerdung Gottes im Sinn, sondern auch die rechtmäßige Durchführung der Erlösung.277 Das Anegenge spricht dabei nicht von einem niuwen menschen, sondern nur von einem (reinen) menschen. Während in anderen Texten mit dem niuwen menschen meist Christus gemeint ist,278 changiert der (reine) mensch im Anegenge zwischen einem Menschen aus brœder erde, der Jungfrau Maria (V. 2310) und Christus (V. 2286). – Gerade solche Stellen werden durchlässig für die Erkenntnis, dass der Streit der Töchter oder Tugenden Gottes eigentlich paradox ist: Während in der Voraussicht Gottes die Erlösung des Menschen fest eingeplant ist, müssen im Streit der Tugenden Gottes der Wille und die einzige Möglichkeit zur Erlösung erst ‚erarbeitet‘ werden. Der Tugendstreit führt damit prozessual und in zeitlicher Abfolge vor, was in Gottes denchen (owe wie tieff er dachte | der genædige got, V. 2313  f.)‚immer schon‘ feststand.279 Während die erbarmde damit schon weiter ist und über die Sprecherrede auch für die Rezipienten bereits ein Teil des Erlösungsplanes einsichtig wurde, hat die warhait weitere Einwände vorzubringen: Selbst wenn Gott einen reinen Menschen aus der brœden erden (V. 2325) machen könnte, sei dies doch nicht gleichbedeutend damit, dass dieser Mensch auch zur Erlösung tauge. Als Luzifer fiel, gab es nichts, daz den tivel anvæchte, | wan sein eigen andachte (V. 2319  f.), er stürzte allein aufgrund der Tatsache, daz er fri geschaffen was (V. 2323). Luzifer sündigte aus freiem Willen und wurde zum Teufel, nicht, weil er zur Sünde verführt worden sei. Der Mensch hingegen wäre neben diesem freien Willen auch noch den Anfechtungen des Teufels ausgesetzt. Die warhait greift hier den früheren Verweis der erbarmde auf den freien Willen des Menschen wieder auf, wendet ihn allerdings zu ihren Gunsten, denn gerade aufgrund dieses freien Willens scheint ihr eine Erlösung unmöglich: Wie könnte  – zumal aus brœder erde  – ein so vester mensch (V.  2326) geschaffen werden, dass er nicht geswiche der burde (V. 2328)? Für die warhait ist das unmöglich, es sei denn, Gott würde den neuen Menschen so schaffen, dass es ihm gar nicht erst

274 Neuschäfer konjiziert ene zu ener, womit er Adam bzw. den Menschen allgemein meint (vgl. Neuschäfer, 1966, Kommentar, S. 287, V. 2311). Dadurch aber läuft der nachfolgende Kommentar zu Maria ins Leere oder verlangt doch einen größeren Erklärungsaufwand. 275 Für de Boor, 1965, S. 46, bezeichnet ene eher die Erde als Eva. 276 Siehe Kap. IV.6. 277 Dementsprechend sind es weishait und erbermde, die an späterer Stelle, die Sündenwaage erdenken (vgl. V. 2794  f.). 278 Vgl. u.  a. Die Goldene Schmiede Konrads von Würzburg, GS V. 381; zitiert wird nach: Konrad von Würzburg: Goldene Schmiede, hg. von Edward Schröder. Göttingen 1926. 279 Vgl. zum Verhältnis von Ewigkeit und Prozess u.  a. Kiening, 2015a.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

möglich wäre, zu sündigen (daz er gevallen nine möchte, V. 2335) – also ein Mensch ohne freien Willen. Damit aber, schiebt die warhait nach, wær daz fri geslechte | […] nicht vergolten (V. 2336  f.). Ein Mensch, der nicht sündigen könnte, wäre kein adäquater Ausgleich für den sündhaften Menschen, könne also den freien Menschen niemals ersetzen oder gar erlösen. Da der Teufel den Menschen rechtmäßig in seine Gewalt gebracht hat – der Mensch hat sich verführen lassen und hat gesündigt –, darf er ihm nun nicht unrechtmäßig wieder genommen werden.280 Ein prädestinierter Mensch eignete sich somit nur dann als Erlöser, wenn man dem tivel unrechte tuon (V. 2339) wollte. – Ein weiteres Mal wird deutlich, dass eine Prädestination der Schöpfung im Anegenge rundweg abgelehnt wird.281 Dass die warhait hier von unrecht spricht, ruft indes eine weitere Tugend auf den Plan; wie aufs Stichwort meldet sich das recht zu Wort:282 Vehement fordert es, dass kein Unrecht, nicht einmal gegen den Teufel, begangen werden dürfe – dane chom ez nimmer zuo (V. 2340); eine Erlösung dürfe nur mit rechte geschehen (V. 2343). Mäder sieht die Aufgabe des rechtes allein in der „Verteidigung der Rechte Satans“ erschöpft.283 Indem das recht jedoch darauf achtet, dass unbedingte Gerechtigkeit herrscht, sorgt es ebenso für die Wahrung einer Wesensheit Gottes, wie alle anderen Tugenden: Auch das recht ist eine Qualität Gottes, und würde er gegen sie handeln, handelte er folglich gegen sich selbst.284 Überdies fordern sowohl warhait als auch erbarmde implizit Gerechtigkeit für sich und ihr Anliegen ein, was sich wiederum in der Verwendung der Personalpronomina spiegelt: Das recht spricht von einem kollektiven wir (V. 2342), in dem nicht nur die Wesenseinheit mit der trinitarischen Gottheit, sondern auch die impliziten Forderungen der anderen Tugenden aufgehen können. Das recht ist damit nicht Partei, sondern hat Anteil an allen Diskutanten.285 Seine Forderung (welle wir […], | daz sol, V. 2342  f.) leitet dabei gleichsam den Konsens zur Erlösung ein. Beinahe könnte man das recht damit als eine Art Mediator sehen, denn sein Auftreten bewirkt, dass nun nicht mehr über das Ob der Erlösung diskutiert wird, sondern über das Wie. – Eine ganz andere Ausrichtung hat hingegen die Rede der Gerehtekeit in der Erlösung. Ohne ins Detail zu gehen, lässt sich festhalten, dass Gerehtekeit in dieselbe Kerbe schlägt wie ihre Schwester Wârheit (E V.  585–614).286 Sie fungiert demnach in der Erlösung nicht als Mediatorin, sondern, wie Wârheit, als Gegnerin von Barmeherzigkeit. Die Rolle der Mittlerin übernimmt hingegen Vride: 280 Vgl. u.  a. Petersen, 2004, S. 76, Anm. 48. Vgl. u.  a. Rupp, 1971, S. 255; Mäder, 1971, S. 11–12, bes. Anm. 16. 281 Siehe zur Problematik der Erlösung zwischen Gnade und Prädestination auch Quast, 2020, S. 55. 282 Mäder, 1971, S. 50, hingegen bezeichnet das Auftreten des rechtes als „unvermittelt“. 283 Vgl. Mäder, 1971, S. 51. Vgl. ähnlich Ehrismann, 1966, S. 60, der das Leben Jesu ganz unter diesen „Zweckbegriff“ gestellt sieht. Lechtermann, 2021, S. 112, votiert für die grundsätzliche Bedeutung des Rechts auch im Anegenge. 284 Zum recht im Anegenge siehe ausführlich Kap. IV.2; 4. 285 Für Becker, 2020, S. 218, hingegen schlägt sich das recht auf die Seite der warhait. 286 Vgl. Sherwood-Smith, 2003, S. 223.



3 Das Sprechen der Trinität 

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Dabei greift sie nicht nur die formelhaften Selbstreferenzen ihrer Schwestern auf, sondern wendet auch deren Argumente zu ihren Gunsten, eine friedvolle Lösung, hin (E V. 615–656).287 Im weiteren Verlauf des Erlösungsrates muss im Anegenge nun versucht werden, dem Bedürfnis der erbarmde nachzukommen, ohne eine der anderen Tugenden um ihr recht zu bringen – ein Dilemma, für das es keine Lösung zu geben scheint und das gerade mittels des Tugendstreits plastisch-allegorisch ins Bild gesetzt wird. Zumal im Anegenge Tugendstreit und Erlösungsrat zusammengebunden sind, wird nun „aus dem Streit eine eigentliche Heilsplanung.“288 Die Verbindung der beiden Motive sei, so Mäder, auch der Grund dafür, dass die Lösung nicht von einer höheren, richterlichen Instanz ausgehe, sondern gewalt und weistuom sich dem Heilsbeschluss der Tugenden lediglich – widerwillig (Owe, V. 2357) – fügen würden.289 Tatsächlich ist es die erbarmde, welche auf den rettenden Gedanken kommt:290 „weiser got, woldestu ez an ergan,“ sprach aber diu bermde, „daz du menschlich ermde an dich næmest, unt daz du quæmest in einer reinen magde bouch, so wurde wol geholfen uf allem manchunne; ob du ane sunde von der diu geborn wurdest, unt durch den menschen ersturbest, so wurden alle die gehailet, die sich selben nicht vertailent.“ (V. 2344–2356)

Nur wenn Gott selbst – in der direkten Apostrophe an den weisen got ist hier bereits die Person des Gottessohnes, des Erlösers, herausgehoben –291 Mensch werden würde, indem er von einer reinen Jungfrau, also dem zuvor angedachten reinen menschen, geboren und sodann als ganzer Mensch und ganzer Gott für den Menschen sterben würde, könne das Menschengeschlecht erlöst werden. Nur durch die Menschwerdung Gottes selbst kann das innergöttliche Dilemma gelöst werden, ohne entweder der Trinität und ihren Qualitäten oder dem Teufel und allen (gefallenen) Engeln Unrecht zuzufügen. 287 Zum Frieden als „mediator and arbiter“ vgl. u.  a. Tveitane, 1980, S. 412–413. 288 Vgl. Mäder, 1971, S. 51. 289 Vgl. Mäder, 1971, S. 51. 290 In der Erlösung verfällt hingegen der Sohn, die wîsheit, auf den rettenden Erlösungsgedanken (E V. 699–768). Siehe auch Quast, 2020, S. 51–54. 291 Vgl. Sherwood-Smith, 2003, S. 218.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Auf diesen Vorschlag antwortet nun zunächst nicht der angesprochene weistuom, sondern der gewalt: Im ‚pluralis trinitatis‘ (wir, V. 2358) stellt der gewalt die Frage, wie sie allmächtig sein könnten (V. 2359  ff.), wenn es ihnen nicht einmal gelänge, diesen Kelch an sich vorrübergehen zu lassen (mug wir den stouf nicht vervaren, V.  2362). Wohl nicht zufällig klingen hier die Worte Jesu im Garten Gethsemane (Mc 14,36; vgl. auch Lc 22,42; Mt 26,42) an:292 Abba Pater omnia possibilia tibi sunt transfer calicem hunc a me. Durch das indirekte Zitat wird einerseits eine ansonsten nicht auserzählte Station der Heilsgeschichte, Christus am Ölberg, eingespielt, andererseits stellt es erneut die Untrennbarkeit der Einheit in der Dreiheit aus: Der Vater nimmt einen Teil der Rede des Sohnes vorweg. Der andere Teil – Sed non quod ego volo sed quod tu  – wird vom Sohn sogleich nachgereicht, wenn der weistuom antwortet, dass es nach [s]einem, des Vaters willen volbracht werden solle (V. 2365). Für die Erlösung hat Bruno Quast gezeigt, wie im Töchterstreit „die göttliche Identität radikal in Frage“ gestellt werde.293 Da die Appropriationen im Tugendstreit kaum das Wort ergreifen, ist diese Dimension im Anegenge wesentlich schwächer ausgeprägt. Doch kann beispielsweise die Rede des gewalt (V. 2359  ff.) einen Hinweis darauf geben, dass auch im Anegenge Konzepte wie Allmacht oder Monotheismus an ihre Grenzen gebracht werden.294 Allerdings ermöglicht gerade die geringe Eigenständigkeit und Anthropomorphisierung der Tugenden eine Überkreuzung der trinitarischen Personen untereinander und mit ihren Qualitäten,295 die derlei Probleme zumindest vordergründig überspielt. Gerade in der so entstehenden Untrennbarkeit der einzelnen Parteien zeigt sich zudem, dass Vater und Sohn nicht einfach nur widerwillig einem anderweitig getroffenen Beschluss zustimmen: Es ist alles Gottes Wille. Als das recht den Entschluss der weishait vernimmt, springt es hinzu und bringt seine Zustimmung zum Ausdruck: wir wellen wurchen wunder (V.  2367)! Begeistert über den Beschluss – die vierfache Alliteration unterstreicht dies noch – bestätigt das recht, dass auch ihm damit genüge getan sei (nu sul wir behuten daz recht, V. 2369): Durch die Menschwerdung Gottes könne das Recht jeder Partei gewahrt, der Mensch aber dennoch erlöst werden (gefure | des schuldigen chnechtes, V. 2378  f.). – Wie genau dabei das Recht auch des Teufels gewahrt werden soll, wird an dieser Stelle allenfalls angedeutet, jedoch im nachfolgenden Bild der Sündenwaage expliziert.296 – Beides, die Wahrung des Rechts wie die Erlösung des Menschen, ist der ere Gottes und der Tugenden (unser, V.  2377) angemessen, was der sentenzhafte Ausspruch daz recht

292 Schröder, 1881, S. 56, hält es für „eine eigene Erfindung Bernhards, wenn Gott sich mit den Worten von Matth. 26, 42 Non enim potest hic calix transire nisi bibam illum zur Sühne für den Menschen bereit erklärt“. 293 Quast, 2020, S. 51. 294 Vgl. mit Blick auf die Erlösung Quast, 2020, S. 56–57; 59. 295 Siehe auch Sherwood-Smith, 2003, S. 219; mit leicht anderer Tendenz Becker, 2020, S. 222. 296 Siehe Kap. IV.6.



4 Das Sprechen über die Trinität 

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deines rechtes | ist ein gerte deines reiches (V. 2380  f.) bekräftigt:297 Durch die Bewahrung des Rechtes des rechts wird das Reich Gottes bewahrt. Auch der fride, der bisher abseits (vil vrömdechleiche | […] hin dane, V. 2382  f.) gestanden und keinen Redeanteil am Streit der Tugenden hatte – der personifizierte Friede kann sich, so wohl die implizite Botschaft, unmöglich an einem Streit beteiligen –,298 ist zufrieden mit der gefundenen Lösung und besiegelt den Beschluss mit einem Kuss: ze sune was chomen der chnecht (V. 2391).

4 Das Sprechen über die Trinität Nachdem bisher das Sprechen der trinitarischen Personen selbst vorgeführt wurde, soll nun untersucht werden, was im Anegenge über Gott und die Trinität gesagt wird: wir sulen niht vergezzen, wirn sagen, waz sei die dri genende. (V. 280–281)

Mit diesen Versen beginnt eine Reflexion über die Namen der Trinität, die in der Forschung bisher stets als ein das Gesamtkonzept sprengender, überdimensionierter Exkurs gewertet wurde.299 Dass man für das Anegenge nicht von einem Trinitätsexkurs sprechen kann, dass vielmehr die Dreieinigkeit im gesamten Anegenge fokussiert wird und insbesondere in den beiden Ratsszenen sogar selbst zu Wort kommt, zeigen bereits die bisherigen Ausführungen. Reflexionen über die dri genende und trinitarische Beratungsreden ergänzen sich im Versuch das Paradoxon der Einheit in der Dreiheit so weit wie möglich zu erfassen. Dieses Kapitel beschäftigt sich daher mit der Frage, wie das Paradoxon der Trinität im Anegenge gedacht wird, wobei besonders die herausragende Rolle der Person Christi zu beleuchten sein wird. Auch sollen Streitfragen wie die Gleichewigkeit der drei göttlichen Personen, die Subordination oder ihr Zusammenwirken bei Schöpfung und Erlösung gemäß ihrer Bedeutung für die Trinitätsdarstellungen im Anegenge in den Blick genommen werden.300

297 Ausführlich Kap. II,2. 298 Vgl. unter anderen Gesichtspunkten Heinzel, 1874, S. 51. 299 Vgl. u.  a. Schröder, 1881, S. 66; zum Umfang des Trinitätsabschnittes Rupp, 1971, S. 257. 300 Zum Trinitätsproblem im Mittelalter vgl. überblickshaft u.  a. Goetz, 2011; Drecoll, 2011, S. 117–138; Haudel, 2018, S. 63–104.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

4.1 Gleichewigkeit Die Reflexion der dri genende setzt mit der erneuten Frage nach der Existenz Gottes vor der Schöpfung ein.301 In Bezug auf Genesis 1,1 werden die trinitarischen Personen als ewig und ungeschieden ausgestellt: In Gottes Ewigkeit, [d]o dannoch nicht geschaffen was (V. 303), und nur Gottes Geist auf des lufftes vederen (V. 305) saß, ist es so, dass der Vater auch als Sohn bezeichnet werden kann (daz der vater unt der sun ist, V. 307): do was er an der namen entwedern (V. 306). Damit wird zunächst eine starke Bindung zwischen Gott Vater und Gott Sohn aufgezeigt, die sogleich durch die dritte trinitarische Person ergänzt wird, denn Vater und Sohn waren nie (ze dehainer vrist, V. 308) ohne den Heiligen Geist.302 Die Grundvoraussetzung für die Reflexion über die Trinität im Anegenge ist damit geschaffen, die trinitarischen Personen, Vater, Sohn und Heiliger Geist, werden genannt und als ewig unanfänglich definiert.303 Diesen namen werden nun weitere Bezeichnungen zugeordnet: Der Vater wird als gewalt, der Sohn als weistuom oder weishait und der Heilige Geist als guote bezeichnet, wobei die bereits aus dem Schöpfungsrat (V. 139–141) bekannten Appropriationen nachträglich eingeführt und definiert werden. Auch die Erlösung thematisiert die namen drî (E V. 375) und betont, dass sie sint alle ein got (E V. 375). Ausgehend davon weißt die Erlösung dem Vater gebot (E V. 376), dem Sohn wîsheit (E V. 377) und dem Heiligen Geist des willen sûzekeit (E V. 378) zu. In der Formulierung der hât (E V. 376–378) wird dabei jedoch stärker der Besitz dieser Eigenschaft als die Wesens- und Namhaftigkeit der Attribute betont. Im Anegenge wird der Heilige Geist, die guote, als uranfänglich beziehungsweise mindestens prae creationem gezeichnet – noch bevor der gewalt überhaupt irgendetwas tat (e er ie icht getæte, V.  334), hatte die guote bereits dazu geraten (diu het in alles ermant, V. 335). Vom Sohn wird hingegen gesagt, er sei in einer kurzen vrist (V.  326) vom Vater geboren (er gebar, V.  326) worden. „Die Ausdifferenzierung der eigentlich uranfänglichen Trinität wird [damit] mit einem Zeitsignal verbunden,“304

301 Siehe Kap. IV.2. 302 Zum Vergleich eine Stelle aus Hugos von St. Victor De sacramentis: Itaque eterna bonitate semper uoluit. et eterna sapientia semper disposuit. quod eterna potestate aliquando facit. Et erant simul semper bonitas. & sapientia. & potestas. Nec diuidi nec separari ab inuicem tempore potuerunt que substancialiter idem erant (DS, I,2; S. 66, Z. 2–5). [So hat Gott mit ewigem Willen immer gewollt und mit ewiger Weisheit immer bereitet, was er mit ewiger Macht irgendwann schuf. Und es bestanden zugleich immer die Gutheit und die Weisheit und die Macht, und es konnte nicht durch Zeit voneinander abgeteilt und getrennt werden, was der Substanz nach dasselbe war (DS I,2; S. 84, Z. 10–13).] 303 Mit dem Verweis auf die namen, die die trinitarischen Personen stets (ie, V. 310) hatten, wird die Aufzählung der Namen Gottes eröffnet, die an früherer Stelle besprochen wurde (siehe Kap. II.2). 304 Kiening, 2015, S. 72. Vgl. auch Teuber, 1899, S. 262; Kiening, 2014, S. 145–147.



4 Das Sprechen über die Trinität 

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was zunächst gegen die Gleichewigkeit von Vater und Sohn zu sprechen scheint.305 Ansätze zu einer „Begründetheit des Sohnes durch den Vater (z.  B. beschrieben als ewige Zeugung)“ scheinen Trinitätsdarstellungen mitunter zu eignen.306 Schon in der Bibel wird der Sohn wiederholt als geboren (qui natus est ex Deo, 1 Io 5,18) oder eingeboren (unigenitus a Patre, Io 1,14) bezeichnet.307 Im ersten Brief an die Kolosser (Col 1,15) liest man sogar: qui [filius, E.B.] est imago Dei invisibilis primogenitus omnis creaturae. Der Sohn wird hier als Ebenbild des unsichtbaren Gottes, als Erstgeborener der ganzen Schöpfung ausgewiesen, in dem alles erschaffen wurde: quia in ipso condita sunt universa in caelis et in terra visibilia et invisibilia sive throni sive dominationes sive principatus sive potestates omnia per ipsum et in ipso creata sunt (Col 1,16) [Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen.]

Das lateinische per ipsum et in ipsum ist im Anegenge als durch den sun (V. 556) wiedergegeben. Die Präpositionen per, in und durch, können mit „wegen“ oder „durch“308 übersetzt werden, wobei instrumentale, finale und kausale Bedeutungsnuancen zusammenfallen: Der Sohn ist sowohl ursächliche als auch wirkende Begründung der Schöpfung. Bezieht man das gebar aus Vers 326 auf den biblischen primogenitus (Col 1,15), wäre im Anegenge zwar eine gewisse (genealogische) Nachordnung des Sohnes hinter den Vater spürbar,309 doch entsteht dieses wiederum aufgrund der Unzulänglichkeit menschlicher Sprache zur Beschreibung des Göttlichen. Die Begriffe ‚Vater‘ und ‚Sohn‘ sind menschliche Kategorien, mittels derer man zwar versuchen kann, sich dem Göttlichen anzunähern, erfassen lässt es sich damit jedoch nie:

305 Die Ansicht Dittmars, 1924, S. 29, der „theaterfreudige österreichische Dichter“ sehe „das Entstehen des Sohnes aus dem Vater als begreifbare Aktion in einer Zeitlichkeit an“, lässt die weiteren Ausführungen des Anegenge zur Gleichewigkeit der trinitarischen Personen unberücksichtigt. 306 Vgl. Drecoll, 2011, S. 9. 307 Zwar mögen sich diese Stellen vor allem auf den Mensch gewordenen Gottessohn beziehen, doch ist nicht ausgeschlossen, dass die Verse des Anegenge nicht ebenfalls darauf anspielen können (vgl. auch Brachtendorf, 2007, S. 364; Goetz, 2011, S. 195). 308 „DURCH,  adv. präpos. adv.“,  Mittelhochdeutsches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im  Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemid=D00891, abgerufen am 13.03.2022. Stowasser, Lemma per, S. 369–370; Lemma in, S. 251–252. 309 Dies zeigt sich auch an anderen Stellen (V. 811 u.  a.). Zudem wird gesagt, dass Gott Vater den Sohn ausgewählt habe: er sprach: „her ist mein lieber sun chomen, | den ich mir selbe erwelt han.“ (V. 578  f.). Dies scheint allerdings weniger problematisch zu sein als gebern. Vgl. Lc 9,35 und Mt 12,18 mit Verweis auf Is 42,1.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Das Selbstverhältnis Gottes in der Trinität kann zwar nur in Worten, die den Index der Zeitlichkeit tragen, ausgelegt werden wie z.  B. in der Metapher der ‚Geburt‘ des Sohnes aus dem Vater, doch ist es grundsätzlich zeitenthoben.310

Der Sohn kann demnach coaeternus und zugleich a Patre genitus sein.311 Nur für den Menschen sind Vater und Sohn, Zeugender und Gezeugter, verschieden; in Gott aber ist alles eins. So betont das Anegenge auch die Gleichewigkeit – respektive die ‚Gleichaltrigkeit‘ – nicht nur von Vater und Sohn, sondern auch des Heiligen Geistes: der weistuom unt der giwalt | unt diu gute waren ebenalt (V. 933  f.).312

4.2 Subordination Eng verbunden mit der Frage nach der Gleichewigkeit der trinitarischen Personen ist die Frage nach der Subordination: Lässt sich eine ‚Unterordnung‘ des Sohnes – oder des Heiligen Geistes – unter den Vater beobachten? Für das Anegenge sind diesbezüglich mehrere Stellen relevant. Zunächst wiederum die Passage zu den Namen der Trinität, in der es vom Sohn heißt: der haizzet sein weistum, wan er weislichen tun chan, unt ist vil gehorsam seines vater willen an aller slachte dingen. (V. 328–332)

Wenn der Sohn, der weistuom, hier als dem Vater vil gehorsam (V. 330) bezeichnet wird, entsteht der Eindruck, der Sohn sei dem Vater nachgeordnet und gleichsam seiner Weisung unterstellt. Dies könnte sich auch in dem Possessivpronomen sein (sein weistuom, V. 328) spiegeln: Durch das sein wird der weistuom dem Vater zugeeignet und so vermeintlich in eine gewisse Abhängigkeit (s.  u.) zu ihm gesetzt, wie es auch beim Heiligen Geist (sein gute, V. 333) geschieht. Eine weitere Passage innerhalb der Trinitäts-Reflexion im Anegenge scheint den Eindruck der Subordination zu bestätigen:

310 Müller, 2017a, S. 18. 311 Vgl. Rupp, 1971, S. 221, Anm. 11; Neuschäfer, 1966, Kommentar, S. 272, V. 326. Nach Augustinus gilt, „daß der Sohn gemäß seiner göttlichen Natur dem Vater zwar gleich ist, aber dennoch von ihm gezeugt wird und aus ihm hervorgeht“ (vgl. Brachtendorf, 2007, S. 264). 312 Teuber, 1899, S. 281, bezeichnet die Verse 932–962 als „erfindung des dichters“ mit Anklängen an Augustinus und die Psalmen.



4 Das Sprechen über die Trinität 

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do mus ouch dem gewalte der weistuom sein gehorsam unt diu gute alsam, swaz er getun mochte oder chunde, daz si im des wol gunde, sine mocht ez minnechlichen erwenden. (V. 620–625)

Wiederum wird gesagt, dass der weistuom dem gewalt, also dem Vater, gehorsam (V.  621) sein müsse, wobei diesmal auch die guote der Autorität des Vaters untergeordnet erscheint (unt diu guote alsam, V. 622). Hier allerdings wird dieser gehorsam weiter präzisiert. Es handelt sich keineswegs um ‚blinden‘ Gehorsam, wie das an aller slachte dingen (V. 332) zu implizieren scheint, es bleiben vielmehr Möglichkeiten zur Einflussnahme: Zumindest die guote könne den gewalt von seinem Handeln abbringen (erwenden, V. 625), wobei das minnechlichen (V. 625) diese Möglichkeit zugleich wieder einschränkt. Nur wenn der gewalt auf die liebevolle Gegenstimme eingeht, so scheinen die Verse zu sagen, kann die guote etwas erwenden. Ansonsten muss sie ihn gewähren lassen (gunnen, V. 624). Damit scheint der gewalt den beiden anderen trinitarischen Personen übergeordnet, diese gleichsam seiner Autorität unterstellt zu sein. Auch in der Bibel finden sich Wendungen, die den Sohn dem Vater unterzuordnen scheinen.313 Derlei Aussagen beziehen sich „nach Augustin aber auf die menschliche Natur in Jesus Christus, nicht auf die göttliche. Als Mensch ist Jesus Christus geringer als der Vater, als Gott hingegen ist er ihm gleich“.314 Was die Subordination betrifft, ist diese Trennung in den Menschen Jesus und den Gott im Anegenge weniger eindeutig, zumal an den angeführten Stellen immer von der trinitarischen Appropriation, nie von Jesus Christus gesprochen wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Anegenge der Trinität stärkere hierarchische Abhängigkeiten unterstellt als die Bibel (oder Augustinus), was an der folgenden Passage deutlich wird: da mit ist in nicht widersagt, ern sei dem vater ebenhere, unt heten ie vil geleich ere an ieglichem dinge. der sun het an dem sinne, daz der vater het an dem gewalte, als ich iu da vor von im zalte. (V. 412–418)

313 Beispielsweise Ih 14,28: Pater maior est [denn der Vater ist größer als ich]. 314 Vgl. Brachtendorf, 2007, S. 363; vgl. auch Goetz, 2011, S. 197.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Sowohl für den weistuom als auch für die guote wird festgehalten, dass sie dem gewalt gleichgestellt (ebenhere: V. 413 für den weistuom; V. 615 für die guote) seien.315 Ganz ähnlich wird das Verhältnis der drei göttlichen Personen zueinander auch in der Erlösung dargestellt: Ouch saz der sun dem vader glîch, […] dem vader glîch und ebenhêr; ir kein was minner oder mêr, wan an ganzer wirdekeit was glîch ir beider gotheit. Dâ saz ouch der heileg geist, der sô sûze volleist zû hôhen dingen kan gegeben; der was den zwein persônen eben. (E V. 363–374)

Wie im Anegenge werden der Sohn und der Heilige Geist in der Erlösung in Relation zu Gott Vater gesetzt (vgl. u.  a. E V. 367). Neben eben (E V. 374) und ebenhêr (E V. 367) fällt in der Erlösung zudem die häufige Verwendung des Adjektivs glîch auf (E V. 367; 370; 379). Dieses findet sich im Anegenge seltener, beispielsweise wenn gesagt wird, dass die göttlichen Personen einander völlig gleichgestellt seien und dieselbe (geleich, V. 414) ere hätten. Im Anegenge wird dabei betont, dass es sich bei den trinitarischen Personen nicht um einzelne Individuen handelt, sondern um ein und dasselbe in verschiedenen Erscheinungsformen:316 Während dem Vater der gewalt zugewiesen ist, ist dem Sohn die weishait zugeordnet. Der guote wird im Anegenge der Wille zu etwas zugeschrieben, dessen Umsetzung zwar gewalt und weishait obliegt, die guote aber gerade (von diu, V. 615) den beiden anderen trinitarischen Personen gleichstellt – implizit klingt wiederum das bonitate voluit Hugos von St. Victor an. Ausgestellt wird im Anegenge damit zweierlei: Zunächst das ineinandergreifende Zusammenwirken der trinitarischen Personen bezüglich Schöpfung und Erlösung, das weiter unten noch Thema sein wird. Zum anderen die Notwendigkeit der Gleichwertigkeit der göttlichen Personen: Zwar sind jeder Person gewisse Zuständigkeiten zugeordnet, doch ist es keinesfalls so, dass der Vater befiehlt und Sohn und Heiliger Geist lediglich (oder sogar gegen ihren Willen) ausführen: do tet der gewalt durch den suon, der da ist sein weistuom, daz er guten machte nach des weistuomes achte.

315 Bemerkenswert ist diesbezüglich, dass von Adam und Eva beim Sündenfall gesagt wird, dass sie Gott ebenreich unt ebenher (V. 2681) hatten werden wollen. 316 Vgl. u.  a. Angenendt, 2004, S. 19.



4 Das Sprechen über die Trinität 

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daz selbe het diu guote vil willechlichen in ir muote, wan der gewalt noch der weistuom die enchunden nicht getuon uber ir willen, noch enwolden, noch enmochten, noch ensolden. (V. 425–434)

gewalt, weistuom und guote sind einander ebenhere und müssen wechselseitig ihre achte und ihren willen berücksichtigen. Auch in der Erlösung wird die Gleichheit der trinitarischen Personen betont, doch treten sie – ähnlich wie die Töchter Gottes – aufgrund ihrer anthropomorphen Züge sehr viel stärker auseinander als im Anegenge.317 Auch die Subordination scheint in der Erlösung stärker zu sein. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass der Sohn den Vater um Erlaubnis (mit dîme willen, E V. 712) bittet, den Töchterstreit schlichten zu dürfen, oder der Vater ihm urloup (E V.  770) dazu gibt.318 Doch lassen sich derlei Beobachtungen wohl eher auf die ausgeprägte Höfisierung des Töchterstreits in der Erlösung zurückführen als auf hierarchische Abstufungen zwischen den göttlichen Personen.319 Im Anegenge hingegen entsteht der Eindruck der Subordination besonders des Sohnes unter den Vater wohl wiederum aufgrund des genealogischen Prinzips, das in der Vater-Sohn-Relation immer schon angelegt ist. – Darauf könnte auch die Rede des gewalt deuten: „ich haizze ein erbe | braitez unt vil bederbe, | da wil ich selbe gewaltichleiche  | inne wonen ewichleiche […]“ (V.  485–488). Das erbe, das der Vater hier seinem Sohn schaffen will, verdeutlicht zwar wiederum ein gewisses genealogisches Denkmodell, soll dabei aber nicht bedeuten, dass der Vater Macht abgeben oder einbüßen würde (V. 498–505).320 Dass es sich bei den trinitarischen Personen im Anegenge gerade nicht um drei hierarchisch abgestufte Individuen, sondern um eine einzige ebenhere Gottheit in drei Erscheinungsformen handelt, wird insbesondere am Beispiel der Taufe Christ herausgestellt (s.  u.).

317 Siehe Kap. IV.3. 318 Siehe auch Sherwood-Smith, 2003, S. 223. Die Vater-Sohn-Beziehung wird zudem in den Adressierungen der trinitarischen Personen untereinander deutlich, wenn der Sohn den vader mîn (E V. 711) anspricht und der Vater mit [k]int mîn uzerwelder sun (V. 741) antwortet. Adressierungen dieser Art finden sich auch im Anegenge so beipielsweise in Vers 458 vom Sohn zum Vater (dir, vater) oder in Vers 578 vom Vater über den Sohn (mein lieber sun). 319 Siehe Kap. IV.3, Amn. 263. 320 Vgl. zum Menschen als coheredes (Miterben) Christi auch Rm 8,17.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

4.3 Einheit in der Dreiheit Dass dem Anegenge die Vorstellung von der Göttlichkeit und Gleichewigkeit aller trinitarischer Personen zugrunde liegt, diese aber womöglich erst noch herausgestellt und gleichsam bewiesen werden muss, spiegeln unter anderem die immer neuen Ansätze wider, die zahlreichen Wiederholungen von bereits (mehrfach) Gesagtem  – z.  B. dass der gewalt dem Vater zugeordnet ist (V.  312  f.; 357  f.; 399  f.; 457  f. usf.)321 Als besonders problematisch erweist sich jedoch die Frage, wie es sein kann, dass eine einzige Gottheit zugleich als Mensch auf Erden wandelt, als Stimme vom Himmel herab vernehmbar und als Taube in der Luft sichtbar ist: swie doch diu buoch jehen, daz si besunder sein gesehen unt ouch besunder vernomen, do der gotes sun was chomen, do man in solte touffen; man sach den sun louffen under andern sundæren. die ie icht da von gelæren, die habent uns ie verjehen, daz der hailige gaist wurde gesehen in einer touben bilde unt ouch da wurde von himele des vaters stimme vernomen. (V. 565–577)

Diese Frage ist, ebenso wie die Selbstgenügsamkeit Gottes, ein zentrales Problem, das im Anegenge ausführlich behandelt wird. Dabei wird von Beginn an betont, dass die Ungeschiedenheit der drei Personen nicht verhandelbar ist: des habe niemen dehain wan, daz si ie wurden geschaiden entweder von den baiden. (V. 580–582)

Niemand dürfe glauben, dass die Dreifaltigkeit je wirklich aufgespalten worden wäre. daz man si horte unt sæhe | alle dri besunder (V. 584  f.), ist dabei so schwer zu verstehen, dass es einer Kapitulation gleichkommend schlicht als wunder (V.  586) bezeichnet wird. Das resignierende Moment dieser Aussage wird jedoch sogleich zurückgenommen, denn der Sprecher des Anegenge möchte zumindest versuchen,

321 Vgl. zu Wiederholungen und Neuansätzen auch Kap. IV.7.4.



4 Das Sprechen über die Trinität 

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seinem Gegenüber ein gewisses Verständnis (ein tail, V. 593)322 davon zu vermitteln: Auch wenn es für den menschlichen Verstand eigentlich unverständlich (vil frömde, V. 597) ist, so darf dieses Problem doch nicht übergangen werden (wir mugen ez nicht verdagen, V. 594). Zentrales Argument der nachfolgenden Ausführungen ist die Allgegenwart Gottes: Am Beispiel des Gottessohnes, der hier pars pro toto für die gesamte Trinität steht, wird ausgeführt, dass er, obwohl er auf erden (V. 602) und sogar in der Hölle (abgrunde, V. 603) war, doch niemals den himel (V. 601) verlassen habe. Möglich wird dies durch die allumfängliche, unendliche Gottheit Christi und damit der Trinität: dehainen ende er nie genam,  | elliu dinc er bevangen hat (V.  604  f.). Das Argument ist somit dieses: Auch wenn der Mensch bei Jesu Taufe eine Stimme von oben (Gott Vater), einen Menschen auf Erden (Gott Sohn) und eine Taube am Himmel (Gott Heiliger Geist) zu erkennen glaubt, so bedeutet dies doch nicht, dass es sich um drei getrennte Individuen handle. Gott umfasst alles, er ist überall, für seine Gottheit ist es – im Gegensatz zu menschlichem sinne (V. 596) – kein Problem an verschiedenen Orten in verschiedenen Erscheinungsformen aufzutreten und doch immer die eine Gottheit (nicht wan ein got, V. 561) zu bleiben. Das Argument der Allgegenwart Gottes wird nun wiederum verbunden mit dem Argument der Ungeschiedenheit Gottes. Gott ist zwar vollständig Fleisch geworden (in dem vlaische was er gar, V. 647), seine Gottheit wurde dadurch jedoch keineswegs verringert (doch geraichte sein gothait dar, V. 648  ff.). Gott kann zugleich vom Himmel herab sprechen (reden, V. 653), als Mensch auf Erden sein (gen, V.654) und als Taube gesehen werden (sweben, V. 654), da er überall ist (wan er elliu dinc erfulte, V. 656). Die Trinität (die dri tugende [ ] ensant, V. 651) umfasst die gesamte Schöpfung (elliu diu lant, V. 652). Dass die (trinitarische) Gottheit durch die Menschwerdung des Gottessohnes (uf der erden, V. 657) nicht verringert (dester minner, V. 658) wurde, sollen auch die weiteren Verse deutlich machen, denn anderes zu glauben, wäre falsch (niht guot, V. 662) und nichts als Lüge (niwan ein urdanc, V. 663)323. Stattdessen wird nochmals betont, dass Vater und Sohn stets ungeschieden waren, und auch der Heilige Geist, wie bereits zu Beginn der Reflexionspassage betont wurde (V. 303–310), niemals von den beiden anderen getrennt war:

322 Das ein tail sagen (V.  593) kann dabei sowohl eine gewisse Selektivität als auch eine gewisse Vollständigkeit der Darstellung implizieren (vgl. „TEIL, stn. stm.“, Mittelhochdeutsches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemid=T00264, abgerufen am 13.03.2022). 323 Vgl. Neuschäfer, 1966, Kommentar, S. 275, V. 663.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Nu habt ir wol vernomen daz, daz der vater nicht was von dem sune geschaiden noch der hailige gaist von in baiden. (V. 679–682)

Im Folgenden wird die Reflexion über die Ungeschiedenheit der Trinität genutzt, um die die Wahrheit der voranstehenden Aussagen über die Trinität noch stärker zu belegen (baz biwæren, V. 683). Dabei soll vor allem herausgestellt werden, dass eine göttliche Person stets die tugende aller trinitarischen Personen in sich vereint.324 Möglich wird dies wiederum durch das bei der Taufe Jesu ausgestellte Paradox der Ungeschiedenheit: Nicht nur ein Teil der Trinität, der Gottessohn, die weishait, ist Mensch geworden und lässt sich im Jordan taufen, sondern die gesamte Trinität: von den drin gesant wart hern erde ein wort, daz nam vlaisch an sich. durch uns wart er menschlich, unt het an im die tugende der drier ginende: den gewalt, der ez her brachte, unt den weistuom, der iz bidachte, unt diu gute, diu ez riet, von der ez sich nie geschiet. (V. 627–636)

Die Dreifaltigkeit (V. 627) hat ein Wort, das Fleisch geworden ist – deutlich klingt hier Ih 1,14 an –, zur Erde gesandt.325 Dieses Wort, gemeint ist Jesus Christus, hat somit zwei Naturen: Christus ist ganzer Mensch und ganzer Gott.326 – Überdies wird hier die vox Dei, die von himel spricht mit dem verbum Dei, das auf Erden wandelt, kurzgeschlossen. –327 Indem Christus ganzer Gott ist, ist er im Anegenge aber auch die ganze Dreifaltigkeit (V. 631  f.). Bezeichnet werden die trinitarischen Personen hier mit dem Wort tugende (V. 631), das im Anegenge stellvertretend für ‚Appropriation‘ gebraucht wird. Der Gott-Mensch Jesus hat im Anegenge somit die tugende von gewalt, weishait und guote in sich vereint, er ist eine und alle Person(en) der Trinität zugleich.

324 Teuber, 1899, S. 275–276, kapituliert an dieser Stelle, er habe „bei den alten Kirchenvätern nichts vorfinden“ können und auch Hugo sage nichts, worauf diese Behauptung zurückzuführen sei. 325 Siehe dazu u.  a. Kern, 1971, S. 48–53; 65. 326 Vgl. Angenendt, 2004, S. 5; 22–23; Goetz, 2011, S. 195. Dittmar, 1934, S. 28, hingegen sieht die „Gottmenschheit der Person Christi“ wenig präsent, sie „verschwindet fast über die Gottheit des Erlösers und über sein Verhältnis und seine Aufgabe innerhalb der Dreieinigkeit.“ 327 Vgl. Rupp, 1971, S. 223.



4 Das Sprechen über die Trinität 

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Um diese Aussage noch zu unterstreichen, wird die Episode der Menschwerdung Christi herangezogen, ganz präzise die Schwangerschaft Mariens: Sogar zu der Zeit (die weile, V. 690), als Jesus noch gar nicht geboren, sondern noch ein Fötus war (in seiner muter bouche lac, V. 691), bewies (bewærte, V. 683) Gott Vater, dass er nicht nur giwaltic, sondern auch weise unt gut (V. 688) ist. Gott Vater besitzt also die Eigenschaften von Gott Sohn (weise) und Gott Heiliger Geist (gut) zu jeder Zeit. Dasselbe gilt für Gott Sohn: Vil diche erzaigte der sun, daz er den giwalt unt den weistuom unt dar zu die gute vil vollechlichen hete, […] do erzaigte er wol daz, daz er den giwalt unt die gute unt den weistuom hete: (V. 723–746)

An mehreren Beispielen, die alle aus dem sonst nicht auserzählten Leben Jesu stammen (V. 735–743), wird gezeigt, dass der Gottessohn auf Erden sowohl weiterhin über seine weishait (V. 724) verfügt, als auch Gott Vater die tugende der ganzen Trinität in sich vereint, giwalt, weistuom und gute (V. 724  f.; 744  f.):328 er was ez eine allez sant (V. 747). Am Ende dieser Ausführungen stellt das Sprecher-Ich erneut die Frage, weshalb sich Gott überhaupt bei der Taufe Jesu habe sehen und hören lassen (V. 774  f.). Seine Antwort bekräftigt das zuvor Gesagte, denn Gott, expressis verbis der gotes suon (V. 779), beweist gerade dadurch seine guote (gutlicher, V. 780): Durch das Trinitätswunder während der Taufe Christi im Jordan soll dem Menschen, besonders Johannes dem Täufer (dem touffære, V. 781), gezeigt werden, dass die Prophezeiung sich erfüllt hat und Christus das wahre Gotteslamm (V. 783) ist. Eine implizite Vorwegnahme der Worte Johannes des Täufers beim Anblick Jesu: ecce agnus Dei qui tollit peccatum mundi (Io 1,29). Der Mensch solle damit umso mehr von der Bedeutung der Taufe überzeugt werden und, noch wichtiger, umso mehr (deste baz, V.  778) an Christus Jesus, an den gotes suon (V. 779), glauben.

328 Dasselbe wird auch für den Heiligen Geist gezeigt, denn auch dieser ist eine und jede Person zugleich: den hailigen gaist, den man da sach | in dem luffte oben sweben, | zware, hete den bigeben | der gewalt unt der weistuom, | daz ist der vater unt der suon, | sone möcht er noch enchunde | sich ze der stunde | han gebildet ze einem vogele | noch mit im sein gewesene da obene. | er was ez allez, der da gie (V. 750–759).

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

4.4 Die Person Christi Die Person Christi nimmt im Anegenge einen so großen Raum ein, dass die Personen des Vaters und des Heiligen Geistes im Anschluss an den Erlösungsrat beinahe vollständig hinter sie zurücktreten. Dass die Trinität allerdings nicht ausgeblendet, sondern vielmehr mit deutlichem Fokus auf Gott Sohn dargestellt wird,329 ist durch die ausführliche Abhandlung über die Ungeschiedenheit der Dreifaltigkeit bestens vorbereitet. – Überdies zeigt der Descensus Christi, in dem nicht nur der Sohn, sondern die gesamte Trinität das Tor zur Hölle eintreten, beispielhaft, dass die Dreifaltigkeit auch weiterhin mitgedacht werden muss.330 Bevor Christus allerdings stellvertretend für die Einheit in der Dreiheit agieren kann, wird im Anegenge die Frage nach der Göttlichkeit des Menschen Jesus, die Gottheit Christi verhandelt. Diese Frage stand schon bei der Thematisierung der Gleich­ ewigkeit der göttlichen Personen und der Subordination im Hintergrund: Ist der Gottessohn geschaffen oder gezeugt, ist er mit dem Vater coeternus, ist er wirklich Gott? Die Antwort des Anegenge darauf ist eindeutig: Jesus Christus ist ganzer Mensch und ganzer Gott (und ganze Trinität), wie die voranstehende Untersuchung gezeigt hat. Doch scheint dies noch nicht ausreichend, denn im Anschluss an das Trinitätswunder bei der Taufe Christi wird das Problem im Anegenge erneut aufgegriffen: Weshalb fleht Christus am Kreuz zu Gott um Hilfe, wenn er doch selbst die Hilfe, selbst Gott ist (V. 787–800)? In drei Versen, die der eigentlichen Frage (V. 790–800) vorgeschaltet sind, wird ihre unerhörte Sündhaftigkeit ausgestellt: Dies zeigt schon die Formulierung im Irrealis, der wære (V. 787  f.) statt der ist. Der, der eine solche Frage stellen könnte, wird zudem als irrære (V. 788)331, als Ketzer, bezeichnet und über das Attribut bose (V. 788) und das Adverb ubellich (V. 789) noch expliziter ‚verteufelt‘.332 Implizit wird so an die Spötter erinnert, die den gekreuzigten Christus verhöhnen und ihn auffordern, sich selbst zu helfen und vom Kreuz herabzusteigen (Mc 15,29–32). Für die Beantwortung der unerhörten Fragen wird sodann wieder die Zwei-Naturen-Lehre herangezogen:333

329 Vgl. u.  a. Teuber, 1899, S. 272–273, mit Verweisen auf Io 10,30 (ego [i.d. Jesus, E.B.] et Pater unum sum) und 14,9 (qui vidit me vidit et Patrem); Dittmar, 1934, S. 30–32; Schulze, 2003, Sp. 616. Siehe auch Ehrismann, 1966, S. 60. 330 Vgl. auch Petersen, 2004, S. 76, Anm. 48. 331 Kiening, 1992, S. 429. 332 Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn ubel und bœse finden sich im Anegenge vor allem im Hinblick auf den Teufel oder den Menschen beim Sündenfall (ubel: V. 1285; 1320; 1386 u.  a.; bœse: V. 1290; 2830; 3115 u.  a.). 333 Dittmar, 1934, S. 30, hingegen konstatiert, der Dichter des Anegenge habe diese Frage nicht lösen können.



4 Das Sprechen über die Trinität 

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het im diu marter nicht gitan, daz gæb etwem den wan, daz er nicht mensch wære. dem vlaisch was vil swære, swaz er im wider mute erbot, im tet vil wer der tot. (V. 801–806)

Da Christus als Mensch für den Menschen sterben muss, um diesen rechtmäßig zu erlösen (s.  u.), zeigt sich seine menschliche Natur auch in der Passion. Der Mensch Jesus, das Fleisch, fürchtet sich und bittet um Hilfe, weil er eben ganzer Mensch ist. Gerichtet sind diese Hilfsgebete dabei natürlich an die Gottheit: do rief er zu der gothait, der nie gebar dehain lait, daz si ez nicht enlieze. (V. 807–809)

Dass der Mensch Jesus Christus zu Gott um Hilfe fleht, bedeutet allerdings nicht, dass er selbst nicht Gott wäre: Indem er zu der gothait (V. 807) fleht, fleht er zugleich auch seine eigene zweite Natur an: der ganze Mensch den ganzen Gott. Dass er dabei zum Vater betet,334 ist durch die vorangegangene Trinitätsreflexion ebenfalls abgesichert: daz was ouch recht, daz ez den vater hieze, der ez an im selben da gibar, unt im chlagte, daz im ane schulde war. (V. 810–812)

Gott Sohn fleht zwar Gott Vater um seinen Beistand an, da dieser es war, der seinen eingeborenen Sohn als Mensch auf die Erde gesandt hat, um den Menschen zu erlösen. Da jedoch jede göttliche Person immer auch für alle anderen steht, fleht der Sohn, wenn er Vater sagt, genauso sehr zu diesem wie zu sich selbst und zum Heiligen Geist. Hier sei nochmals an die Aufzählung der Namen Gottes erinnert, bei der gesagt wird: der ir einen git daz lop, | der hat ez in allen drin gewegen (V. 562  f.). Damit sind, so kann man nach den voranstehenden Ausführungen schlussfolgern, nicht nur die verschiedenen Namen der einzelnen Personen gemeint, sondern implizit die Namen Vater, Sohn und Heiliger Geist, die stellvertretend auch füreinander genannt sein können. Eine ‚Strategie‘, mit der das Anegenge nicht alleine steht, denn nach Augustinus gilt, „daß die Bibel dort, wo sie über die Wirksamkeit Gottes spricht, stets

334 Vgl. auch Christi Worte am Kreuz: Deus meus Deus meus ut quid dereliquisti me [Mt 27,46; Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?] und Pater in manus tuas commendo spiritum meum [Lc 23,46; Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist].

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Vater, Sohn und Geist gemeinsam meine, und zwar auch dann, wenn unmittelbar nur von einer Person gesprochen werde“.335 Dies, die Gottheit Christi und seine vollständige Gleichwertigkeit innerhalb der Dreifaltigkeit wird auch in anderen Zusammenhängen, insbesondere im Zusammenwirken der göttlichen Personen, ausgestellt.

4.5 Das Zusammenwirken der trinitarischen Personen Dass die trinitarischen Personen nicht nur bei der Planung, sondern auch bei der Umsetzung von Schöpfung und Erlösung zusammenwirken, führen die beiden Ratsszenen vor Augen und Ohren. Diesbezüglich fallen zwei weitere Begriff auf, die im Anegenge von zentraler Bedeutung sind: ere (V. 414) und recht (V. 609).336 Zumal über den Begriff der ere werden die trinitarischen Personen einander noch deutlicher gleichgesetzt, als dies bisher gezeigt wurde: ouch het der weistum die ere, swaz er geordenote, daz der gewalt unt diu gute des nicht widern salte. (V. 616–619) der gewalt het ouch die ere, wolt erz gitan haben, daz er allen unsern schaden wol hete erwendet, so het er geschendet des weistumes vorbesicht unt het im selbe getan unreht. (V. 926–932) si enwære nicht gewesen so here diu hailige weishait, het si elliu unseriu lait des ersten undervarn. der weistuom muz ez allez biwarn unt richten immer mere. so hat der gewalt die ere daz himel unt erde, […] unt daz abgrunde muz im sein gehorsam. (V. 938–949) 335 Vgl. Brachtendorf, 2007, S. 363. Vgl. auch die Zusammenstellung bei Goetz, 2011, S. 175–177. 336 Vgl. auch Rupp, 1971, S. 245.



4 Das Sprechen über die Trinität 

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so hatez allez gedingen unt flucht zuo der gotes gute, ob si ze dem ersten heten uns biwart also verren, daz uns möchte giwerren nimmer nicht mere, so enheten337 si nicht die ere, die der vater unt der sun hat. (V. 952–959)

Der Begriff der ere wird gleichsam zum Bindeglied zwischen den trinitarischen Personen: Jede Person hat ihre eigene Erscheinungsform, als gewalt, als weistuom oder als guote, und damit auch gewisse Zuständigkeiten. So ist es beispielsweise der gewalt, der die Schöpfung hervorbringt (geborn, V. 424), der weistuom, der alles erdenkt und einrichtet (geordenote, V. 617) und die guote, die erdenkt und will (V. 610).338 Doch muss jede trinitarische Person in ihrem Handeln Rücksicht auf die ere der anderen Personen nehmen. Denn während der Sohn dafür zuständig ist, alles zu biwarn (V. 942) und zu richten (V. 943), was zu seinem Ansehen (here, V. 938) beiträgt, hat der gewalt die ere (V. 944), dass ihm die Schöpfung gehorsam (V. 949) ist. – Dass der Mensch im Sündenfall ungehorsam geworden ist und damit gegen die êre des Vaters verstoßen hat, lässt sich in der Erlösung womöglich implizit als Erklärung dafür anführen, weshalb der Sohn dem Vater durch die Erlösung des Menschen seine êre wiedergeben will.339 – Aber auch die guote hätte gemäß dem Anegenge nicht dasselbe Ansehen (ere, V. 958) wie Vater und Sohn, müssten die Menschen nicht aufgrund ihrer Sünden zu ihr um Hilfe flehen (V. 952  f.). Eng verschränkt mit dem Begriff der ere scheint im Anegenge der Begriff des rechts zu sein.340 recht kann dabei in die Nähe der Bedeutung „Privileg / Anrecht“ rücken: wan daz recht het diu gute, | swaz si gerne tuot in ir mute, | des ist ir vollaist der gewalt (V. 609  ff.). Die guote als Teil der Trinität hat ein Anrecht auf die Unterstützung der anderen göttlichen Personen. – Dass hier der gewalt zum vollaist der guote wird, verschränkt die trinitarischen Personen nochmals implizit, da ansonsten die guote als vollaist des gewalt bezeichnet wird (V. 380; 544; 770 u.  a.). – Dies bedeutet jedoch, dass die göttlichen Personen auch Pflichten haben, um das Recht der jeweils anderen 337 Zu überlegen wäre, ob in V. 958 enheten zu enhete konjiziert werden müsste. Aufgrund der schon früher (u.  a. Kap. IV.3, Anm. 260) ausgestellten Möglichkeit, dass der Wechsel von Singular- und Pluralformen das Paradoxon der Trinität spiegelt, wird hier auf eine Konjektur verzichtet. 338 Siehe auch Kap. IV.3.1. 339 Siehe auch Sherwood-Smith, 2003, S. 222. 340 Im Anegenge lassen sich verschiedene Formen von recht beobachten. So könnte recht, etwa in Bezug auf die Sonne, als eine Form von „besonderer Eigenschaft“ gesehen werden: Der Sonne ist daz recht gesetzet (V. 841), als ein einziger Schein doch auf unterschiedliche Weise zu wirken (swerzet, weizzet, truchet, netzet, V. 842  f.). Im Folgenden wird jedoch nur eine Auswahl mit direktem Bezug zu den Appropriationen geboten.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

zu wahren. Hierin drückt sich eine Eigenschaft Gottes aus, die sich in seinen Namen niedergeschlagen hat: Gott hat nicht nur Rechte, er ist selbst das Recht (er haizzet rechter, V. 363) und als solches auch der Rechtssprechende (richtære, V. 364).341 Demgemäß hat Gott (Vater) nicht nur das Recht (und die Pflicht) das recht von Gott (Sohn und Heiliger Geist) zu wahren, sondern das der gesamten Schöpfung – insbesondere beim Jüngsten Gericht.342 Wesentlich ist hierfür der freie Wille der Engel und Menschen, der ihnen erlaubt, Gott zu dienen und seinen Willen zu tun, um so dester bezzer recht (V. 153) auf sein Reich zu erhalten. Doch kann auch das Gegenteil geschehen, Mensch und Engel können stürzen. Denn hätte Gott den Teufelssturz oder Sündenfall verhindert, hätte er denen ein Unrecht (unrechtes, V. 170) zugefügt, die sich der Sünde enthalten hätten (den vesten unt den stæten, V. 171): e wolde er dulden disen val unt ouch sein selbes tot, e er durch dehainer slachte not den guten bræche ir recht. (V. 174–177)

Es ist das recht der Schöpfung, sich für Gut oder Böse zu entscheiden. Um dieses recht zu wahren, muss Gott im Anegenge den freien Willen zunächst ermöglichen und sodann auch respektieren. Doch geht es dabei nicht nur um das recht der Schöpfung, sondern wiederum um Gott selbst: Got het im selben gitan unrecht, het er so geschaffen seinen chnecht, daz er nicht möchte sein gevallen. (V. 879–881)

Nicht nur den Engeln (V.  883  f.) wäre durch die Prädestination des Menschen ein Unrecht zugefügt worden, sondern auch Gott selbst (im selben, V. 879). Konkret: Hätte Gott den freien Willen des Menschen negiert, indem er den Menschen an der Sünde gehindert und so vor Leid (schaden, V. 928) bewahrt hätte (wol hete erwendet, V. 929) – implizit wäre dann die Erlösung und damit die Passion Christi obsolet geworden –, so hätte er nicht nur gegen seine eigene vorbesicht (V. 924; 931)343 gehandelt, er hätte auch des weistumes vorbesicht (V.  931) zerstört (geschendet, V.  930). Das bedeutet: 341 Ähnliches findet sich beispielsweise in dem Gedicht Vom Rechte: Nieman ist so here  | so daz reht zware. | wan got ist ze ware | ein rehtir rihtære (VR Str.1, V. 1  f.; zitiert wird nach: Vom Rechte. In: Frühmittelhochdeutsche Literatur. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Auswahl, Übersetzung und Kommentar von Gisela Vollmann-Profe. Stuttgart 1996, S. 154–187). 342 Vgl. Mt 25,31–46. Vgl. auch Ehrismann, 1966, S. 60, Anm. 1. 343 Wobei jeder trinitarischen Person vorbesicht zugesprochen wird (gute vorbesicht, V.  924; des weistumes vorbesicht, V. 931).



4 Das Sprechen über die Trinität 

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Hätte Gott den ordo des Sohnes, wie dieser in göttlich-weiser Voraussicht alles ge­ ordenote (V. 617), nicht anerkannt, sondern dawider gehandelt, so hätte er nicht nur gegen das recht des Sohnes verstoßen, sondern sich auch selbst ein Unrecht (V. 932) zugefügt. Da Gott jedoch selbst recht ist, muss er auch recht handeln, sonst würde er unrecht werden.344 Dieses komplexe Gefüge von recht und unrecht im Anegenge wird im Tugendstreit plastisch herausgestellt: Als personifizierte Qualität Gottes sorgt das recht dafür, dass die Beschlüsse des Erlösungsrates rechtmäßig sind. – Wie wichtig das recht im Anegenge ist, zeigt sich auch daran, dass es die einzige Qualität Gottes ist, die als hailig bezeichnet wird (V. 2341; 2387). – Nur indem das Recht jeder beteiligten Partei – Mensch, Teufel, Tugenden und natürlich Gott – gewahrt bleibt, kann der Mensch erlöst werden. daz er den sun sande, daz tet er von rechte, do er seinem chnechte wolde geben die widervart, wan der mensch durch den sun geschaffen wart. (V. 552–556)

Die Menschwerdung des Gottessohnes und seine Erlösungstat sind rechtmäßig, da der Mensch ursprünglich durch (V. 556; s.  o.) ihn erschaffen wurde.345 Dass die Menschwerdung Christi nicht nur das Recht der anderen Parteien, sondern auch Christi selbst wahrt, wird dabei noch gesondert betont: von recht ez wesen solde allez, daz nu ist. uns hat der hailige christ da mit ze freitume bracht, unt hat doch sein recht bidacht. (V. 970–974)

Im Tod des Gottessohnes für die Menschheit zeigt sich jedoch nicht nur die rechtmäßigkeit der Erlösung, sondern wiederum das Zusammenwirken der Trinität im Anegenge: Beim Tod des Gottessohnes erbeben Himmel und Erde so sehr, dass sie aufeinander zu schwanken (der himel zu der erden | […] erwagte, V. 710  f.). Diese Verse erinnern an Mt 27,51, wo es heißt: terra mota est et petrae scissae sunt, steigern das Bild aber nochmals, indem nicht nur die Erde, sondern auch das Himmelsgewölbe erzittert und instabil zu werden droht. Dass die Schöpfung dennoch nicht zerstört wird (daz ez allez nicht zebrast, V. 713), ist dem Zusammenwirken der trinitarischen Personen zu verdanken; guote und weistuom helfen dem gewalt die Schöpfung zu erhalten (biwarn,

344 So jüngst auch Lechtermann, 2021, S. 111; bes. S. 114, Anm. 46. 345 Vgl. auch Teuber, 1899, S. 271.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

V. 717)346: Während der gewalt alles festhält (vaste habte, V. 721), sodass ihm das Beben (diu bewegde, V. 722) keinen Schaden zufügen kann, entlastet ihn der Heilige Geist dadurch, dass er seinen zorn (V. 719) trägt. Indem er den zorn des gewalt abfängt und somit für die Schöpfung unschädlich macht, erfüllt er seine Eigenschaft als guote, als bonitas, und erweist sich somit als Teil der Dreifaltigkeit. Und selbst der weistuom, aufgrund dessen Tod am Kreuz die Erde bebt, steht dem gewalt bei und hilft dazu, dass die Schöpfung (ez, V. 720) nicht zerstört wird (nicht wart verlorn, V. 720). Es zeigt sich folglich, dass die trinitarischen Personen nicht nur bei der Schöpfung und der Erlösung zusammenwirken, indem sie verschiedene ‚Aufgaben‘ übernehmen. Die Zuständigkeiten sind im Anegenge keine absoluten, sondern überkreuzen sich wechselseitig, was wiederum die Ungeschiedenheit der Trinität spiegelt: der Schöpfergott kann ebenso Erlösergott sein und vice versa. Auch im Tod des Gottessohnes wird ihr Zusammenwirken deutlich, und dies umso mehr als hier alle zuvor im Anegenge abgehandelten Aspekte der Trinität zusammengeführt sind: Es gibt nicht einen Gott und ihm zugeordnete ‚Akteure‘, die selbst jedoch nicht Gott sind, sondern alle trinitarischen Personen sind einander gleichgestellt, sind Gott. Und selbst der Mensch gewordene Gottessohn bleibt ganzer Gott  – nur als solcher kann er rechtmäßig als Mensch für den Menschen sterben und zugleich gewalt und guote bei der Bewahrung der Schöpfung helfen.

4.6 Fazit Anders als die Forschung bisher vermutete ist die Behandlung der Trinität im Anegenge nicht auf die Passage zu ihren Namen beschränkt, vielmehr ist sie, wie auch die weiteren Kapitel zeigen, Ausgangs- und Zielpunkt des gesamten Textes. Der Fokus liegt dabei auf den beiden Ratsszenen, die das Anegenge strukturieren und zusammenbinden: Im Schöpfungsrat werden die trinitarischen Personen zunächst gewissermaßen eingeführt, ihre unterschiedlichen ‚Aufgabengebiete‘ (gewalt, weishait, guote) ausgewiesen und ihr Zusammenwirken im Wollen und Schaffen veranschaulicht. Die trinitarischen Personen kommen dabei selbst (indirekt oder direkt) zu Wort, wobei ihre Beratung deutlich als denchen in Gottes muote ausgestellt ist. Im Erlösungsrat des Anegenge treten sodann weitere Qualitäten zu den trinitarischen Personen hinzu, um über die Rettung des Menschen zu beraten: Das Motiv des Tugendstreits wird verbunden mit der Beratung der Trinität,347 die als Hauptthema des Anegenge selbst Teil 346 Neuschäfer hat das handschriftliche den gewalt bewarn in dem gewalt bewarn geändert. Zugrunde liegt dabei wohl die Annahme, dass den gewalt bedeuten würde, dass Gott selbst gefährdet gewesen sei. Da helfen aber gleichbedeutend auch mit dem Akkusativ konstruiert werden kann, ist dieser Eingriff unnötig. Zu lesen ist dann: „Da halfen Weisheit und Güte dem Gewalt beim Bewahren.“ 347 Vgl. Mäder, 1971, S. 47.



4 Das Sprechen über die Trinität 

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des Aushandlungsprozesses ist. Durch die Zusammenbindung der beiden Motive – Tugendstreit und Erlösungsrat – wird die Relation zwischen den trinitarischen Personen und den Qualitäten noch diffuser, eine (klare) Abgrenzung der einzelnen Positionen ist schwierig bis unmöglich. Diese Unabgrenzbarkeit wurde zumeist als Ausweis der Unfähigkeit des Autors, die beiden Motive miteinander zu harmonisieren, gesehen.348 Im Anegenge sind erbarmde, warhait, recht und fride jedoch gerade nicht allegorische Töchter, sondern schlicht (weitere) Eigenschaften der Trinität oder eines ihrer Aspekte: Sie alle sind Facetten, „inhärente Attribute“349 des einen Gottes, die innerhalb einer (fiktiven) Beratung miteinander ins Gespräch treten.350 Dementsprechend ist es auch nicht notwendig, die einzelnen Qualitäten bestimmten göttlichen Personen zuzuweisen, wie es die Forschung immer wieder versucht hat.351 Dies würde einen Grad von Fraktionierung bedeuten, der im Anegenge nicht gegeben ist.352 Die Tugenden im Anegenge können zwar sprechen und sich bewegen, nehmen dabei aber kaum anthropomorphe Züge an sich. Stattdessen stilisieren sie sich mittels Personalpronomina immer wieder in Personalunion mit Gott. Da die Qualitäten im Anegenge nicht als Töchter bezeichnet werden, könnte man überdies fragen, ob das genealogische Modell der ‚Töchter Gottes‘, das den Monotheismusgedanken noch dezidierter als die Dreiheit in der Einheit an seine Grenzen bringen würde, hier bewusst vermieden wird.353 Polytheistische Verdachtsmomente können so bereits im Keim erstickt werden. Stattdessen wird die Untrennbarkeit nicht nur der Appropriationen voneinander,354 sondern auch von allen ihren Qualitäten umso stärker herausgestellt: ezn ist doch nicht wan ein got (V. 561). Unterbrochen, gerahmt und ergänzt werden die Passagen göttlicher Beratung durch solche, die mittels kommentierender Reflexionen das Paradoxon der Einheit in der Dreiheit ausdeuten und veranschaulichen. Dabei wird das Zusammenwirken der trinitarischen Personen nicht nur in Bezug auf die Heilsplanung, sondern auch 348 Vgl. u.  a. Mäder, 1971, S. 47. Auch habe er die aus den Eigenarten der Tugenden sich ergebenden Schwierigkeiten – einerseits sind sie mit Gott identisch, andererseits stehen sie ihm in der Vermittlung ihrer Ansprüche gegenüber – nicht schlüssig lösen können, was sich unter anderem im „Schwanken im Gebrauch der Personal- und Possessivpronomina“ spiegeln würde (vgl. ebd.). 349 Sherwood-Smith, 2003, S. 217. 350 Während im Anegenge implizite Hinweise wie die Verwendung von Pronomina reichen, um die Untrennbarkeit von Gott und seinen Qualitäten auszudrücken, muss ihre göttliche Wesensinhärenz in der Erlösung deutlich herausgestellt werden (siehe Kap. IV.3.2). 351 Vgl. u.  a. Sherwood-Smith, 2003; Becker, 2020. 352 Vgl. Sherwood-Smith, 2003, S. 216. 353 Zu Trinität und Monotheismus vgl. überblickshaft Brennecke, 2007, S. 119–127; Goetz, 2011, S. 175– 177. 354 Vgl. Sherwood-Smith, 2003, S. 219: „Immer wieder verwischen die Grenzen zwischen Vertreter und Vertretenem, und dennoch lassen sich Identifizierungen nie ganz eindeutig auf bestimmte trinitarische Personen festlegen. Auf diese Weise verleiht der anonyme Dichter des ‚Anegenge‘ der Problematik der Dreiheit in der Einheit besonderen Ausdruck: Man kann einzelne Personen erkennen und kann sie doch nie ganz aus der Einheit lösen.“

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

auf die Heilshandlungen, Schöpfung und Erlösung, ausgestellt. Auch wenn indes, womöglich durch das zugrundeliegende genealogische Prinzip der Vater-Sohnschaft, gelegentlich eine gewisse Subordination besonders des weistuom unter den gewalt spürbar ist, wird doch wiederholt die ebenhere und ebenalte Unscheidbarkeit aller Appropriationen betont. Begünstigt wird dies durch die geringe Eigenständigkeit bzw. Anthropomorphisierung der trinitarischen Personen. Anders als beispielsweise in der Erlösung wird im Anegenge weniger die Personhaftigkeit betont, als vielmehr die Wesensheit, was auch durch die vorherrschende Bezeichnung der trinitarischen Personen als tugende zum Ausdruck kommt. Insgesamt scheint das Anegenge dabei stärker um die Vermittlung der unbegreiflichen Glaubenswahrheiten zu ringen als vergleichbare Texte. Möglicherweise lässt dies darauf schließen, dass die Volkssprache erst noch Strategien entwickeln musste, um derlei Unbegreifliches zu erfassen.355 Hierauf könnte auch deuten, dass das Anegenge im Vergleich zu anderen (späteren) Texten der Volkssprache keine Bilder, Metaphern,356 Vergleiche und andere rhetorische Kunstmittel nutzt, um das Paradoxon der Trinität ansichtig zu machen.357 Stattdessen sind im Anegenge, wie hier und im voranstehenden Kapitel herausgestellt wurde, das Sprechen der Trinität selbst und das Sprechen über die Trinität zentral, wobei beides zueinander in Wechselwirkung tritt: Die Beratungsszenen und die Reflexionen über das Paradoxon der Trinität ergänzen und präzisieren sich wechselseitig, räumen (mögliche) Missverständnisse – oder gar häretische Anklänge – aus und legitimieren sich so gleichsam gegenseitig. Ergänzt von bibelepischen Passagen, die im nächsten Kapitel Thema sein werden, wirken damit unterschiedlichste Strategien zusammen im Versuch, sich dem eigentlich unbegreiflichen Paradoxon der Einheit in der Dreiheit, so weit wie möglich anzunähern.

5 Schöpfung, Sündenfall, Erlösung – Biblische Geschichte im Anegenge Die biblische Geschichte im Anegenge lässt sich in zwei ‚Blöcke‘ aufteilen, die sich jeweils an eine der beiden Ratsszenen anschließen:358 Der erste Block folgt auf den Schöpfungsrat und führt mit der Erschaffung des Menschen die dort begonnene Schöpfungsgeschichte fort bis zur Verfluchung Chams; der zweite Block mit Ver-

355 Vgl. u.  a. Haug, 1992, S. 70–74; Kiening, 1992, S. 430. 356 Siehe dazu u.  a. Kern, 1971. 357 Abgesehen vielleicht von dem Vergleich mit der Sonne im Rahmen der Taufe Jesu (V. 833–853). 358 Damit sind die größeren, zusammenhängenden Passagen gemeint. Dass es darüber hinaus immer wieder Versatzstücke biblischer Geschichte gibt, die in andere Passagen – Ratsszenen oder Reflexionen – eingebunden sind, ist evident. Diese Versatzstücke werden (zumeist) im Kontext ihrer jeweiligen Themenumgebung mitbehandelt. Für Lechtermann, 2021, S. 95, „the text forms two sections each of which is opend by a debate of personifications“.



5 Schöpfung, Sündenfall, Erlösung – Biblische Geschichte im Anegenge 

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kündigung, Geburt und Tod Christi ist Konsequenz aus und Ergebnis des Erlösungsbeschlusses im Tugendstreit. Es fällt auf, dass der erste Teil deutlich, bisweilen sogar wörtlich, dem Buch Genesis zu folgen scheint, während sich der zweite Teil nur in groben Zügen an den kanonischen Evangelien orientiert. Zugleich fallen aber auch mehr oder weniger große Abweichungen und Auslassungen von oder Ergänzungen zum Bibeltext auf.359 Zu fragen ist daher, welche Teile der biblischen Geschichte im Anegenge überhaupt erzählt und welche Aspekte dabei fokussiert werden. Dem soll im Folgenden mittels einer thesengeleiteten Paraphrase der bibelepischen Passagen360 im Anegenge nachgegangen werden. Um die Eigenheiten des Anegenge deutlicher herausarbeiten zu können, sollen dabei immer wieder Seitenblicke auf andere (zeitlich und inhaltlich nahestehende) geistliche Texte geworfen werden.

5.1 Teil I: Von der Erschaffung des Menschen bis zur Verfluchung Chams Die Erschaffung des Menschen Während das ‚Fünftagewerk‘ bereits im Laufe des ersten Schöpfungsrates erfolgt,361 wird die Erschaffung des Menschen im Anegenge erst knapp tausend Verse später erzählt. – Anders lässt es sich beispielsweise in der Wiener Genesis beobachten.362

359 Wie in Kap. II.2, ausgeführt, muss eine gewisse Nähe zur Bibel oder einem Kommentar nicht zwangsläufig bedeuteten, dass diese dem Verfasser auch tatsächlich vorlagen. Ebenso denkbar wären Bezugnahmen auf Predigten, Schulwissen, Liturgie etc. Ziel kann es demnach nicht sein, die Bibel als einen Prätext des Anegenge zu verstehen und zu behandeln. Vgl. u.  a. Lieb, 2009, S. 44: „Im Mittelalter hatten die volkssprachlichen Bibeldichter wohl eher selten einen vollständigen schriftlichen Bibeltext vor sich, auf den sie sich direkt beziehen konnten oder wollten, sondern sie arbeiteten überwiegend mit der Erinnerung“. Vgl. in Bezug auf die Wiener Genesis auch Brinker-von der Heyde, 2013. Allg. siehe auch Kapp und Scholl, 2006; Wolf, 2006; Neuheuser, 2013. 360 Das Anegenge wurde immer wieder als bibelepisches Werk bezeichnet (zuletzt Spreckelmeier, 2019, S. 14). Obwohl das Anegenge, wie gezeigt und noch zu zeigen, gerade dies nicht ist (vgl. auch Sullivan, 2001, S. 16; Becker, 2020, S. 212), beinhaltet es doch Passagen, die sich wohl am ehesten als ‚bibelepisch‘ bezeichnen lassen: die Schöpfung des Menschen bis zur Verfluchung Chams und Teile des Lebens Jesu. Doch sollen mit diesem Begriff keine Gattungs- oder Grundsatzfragen eröffnet oder beantwortet werden. Gemeint ist hier schlicht die nacherzählende Wiedergabe biblischer Geschichte – dass bibelepische Elemente, Passagen und Texte, „selbst wenn sie als Paraphrasen nah am biblischen Grundtext erzählen, weder als bloße Übersetzungen noch als geschöpftes Neues, sondern als Bearbeitungen eines biblischen oder apokryphen Stoffs als Gotteslob und Dienst am Glauben zu verstehen“ sind, hat Spreckelmeier, 2019, S. 12, deutlich gemacht. Zum Begriff ‚bibelepisch‘ vgl. allgemein u.  a. Spreckelmeier, 2019, S. 12–21; Masser, 1976. 361 Vgl. Kap. IV.3. 362 Die anfängliche Vermutung der Forschung, dass die Wiener Genesis direkte, weil mehrfach gehörte Vorlage sei, und sogar mit der letzen (V. 1859) gemeint sein könne, negiert bereits Kelle, 1896,

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Hier folgt das gesamte Hexaemeron auf den Engelssturz, nicht nur die Erschaffung des Menschen (WG V. 40–51).363 – Die Scharnierstelle zwischen trinitarischer Beratung und dem ersten Teil der bibelepischen Passagen wird dabei als Übergang von Schöpfungsplanung (bidachte, V.  1060) in Schöpfungshandlung (volget, V.  1064) inszeniert:364 Do der genædige got also bidachte sein lop umb unser ewigez hail unt do der engel ein tail geviel von seinem reiche, do volget er gutleiche dem rate seiner weishait. (V. 1059–1065)

Die Motivation für die Erschaffung des Menschen ist demnach eine doppelte: Zunächst soll mit ihm der Verlust der gefallenen Engel er- und der leer gewordene Engelschor wieder besetzt werden (V. 1064–1067). Indem die Erschaffung des Menschen im Anegenge explizit als Ersatzleistung für die gefallenen Engel ausgewiesen ist (einen menschen sul wir schephen, | den val da mit ersetzen, V. 1069  f.)365, wird der doch immer schon geplante Mensch dem Fünftagewerk gleichsam ‚hinzugefügt‘. Indem das Anegenge die Verbindung aus Teufelssturz und Menschenschöpfung betont, stellt es (kausale) Zusammenhänge heraus und deutet damit ein Ursache-Wirkungs-Prinzip an, das an späterer Stelle noch deutlicher hervortritt (s.  u.). Ähnliches lässt sich auch für den zweiten Grund für die Erschaffung des Menschen beobachten: Nach dem Sturz der Engel bedenkt Gott sein lop | umb unser ewiges hail (V. 1060  f.). Damit ist die Erlösungstat Gottes, die Menschwerdung und Passion Christi, gemeint, die dem Menschen hail, Gott aber lop garantiert.366 Erneut werden der unausweichliche Sündenfall und der anschließende Gnadenakt Gottes mit der Erschaffung des Menschen verschränkt. Die Erlösung, konkreter die Erlösbarkeit des

S. 152. Das Verhältnis von Wiener Genesis und Anegenge untersucht u.  a. Murdoch, 1972. Zu Schöpfung und Sündenfall in der Wiener Genesis siehe u.  a. Hensing, 1972; Esser, 1987. 363 Zitiert wird nach: Die frühmittelhochdeutsche Wiener Genesis. Kritische Ausgabe mit einem einleitenden Kommentar zur Überlieferung von Kathryn Smits. Berlin 1972 (Philologische Studien und Quellen 59). 364 Vgl. hier und im Folgenden auch Bauer, 2019, S. 45–51. 365 Hier klingt das „faciamus hominem“ der Genesis (Gn 1,26) an, dessen Plural gerade im Anegenge auf das Zusammenwirken der trinitarischen Personen im Schöpfungsakt bezogen werden kann (vgl. u.  a. Stridde, 2012, S. 15–16; 18). 366 Ein ‚Bedürfnis‘ Gottes nach lop ist hier allerding kaum gemeint, sondern vielmehr dessen Voraussicht (bidachte, V. 1060).



5 Schöpfung, Sündenfall, Erlösung – Biblische Geschichte im Anegenge 

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Menschen, wird damit zu einem zentralen Thema dieser Schöpfungspassage, was sich auch im Akt der Menschenschöpfung selbst spiegelt.367 Gott erschafft den Menschen im Anegenge – analog zu Genesis 1,26 – nach seinem Bild (nach sein selbes bilde, V. 1074). Auch in der Wiener Genesis wird dies betont (nâch sîneme bilede, WG V. 114),368 doch folgt hier eine ausführliche ‚Bauanleitung‘ des Menschen, die Formung aller Körperteile mit Benennung ihrer jeweiligen Eigenschaften (WG V. 108–205).369 Erst nachdem Gott alle Körperteile aus unterschiedlichen Erdarten (WG V. 108, leim als allgemeiner Werkstoff; V. 189, leim zâhe als Kleber; V. 196, brôde erde für das Fleisch; V. 198  f., slôte für die Haut usf.) geformt und zusammengesetzt hat, bläst er ihm sînen geist ein (WG V, 202).370 Im Anegenge formt Gott den Menschen, unsern vater Adamen (V. 1075),371 ebenfalls aus blœdem372 laime (V. 1078),373 doch unterbleibt die Darstellung der einzelnen Werksschritte. Gott bläst ihm schlicht seinen Atem ein, auch hier als gaist (V. 1079)374 bezeichnet, und stattet ihn mit den fünf Sinnen (V. 1081) aus.375 Anstelle der ausführlichen Beschreibung des Schöpfungsvorganges der Wiener Genesis wird im Anegenge von Beginn an betont, wie weise und vorausschauend Gott bei seiner erneuten Schöpfung vorgeht. Der Fokus liegt somit wie schon im Schöpfungsrat weniger auf der Handlung selbst als vielmehr auf der Voraussicht, dem Heilsplan Gottes: Durch die Verwendung von blœdem laime (V. 1078) zur Formung des Menschen, also ‚schwacher Erde‘ anstatt Paradieserde,376 stellt Gott ze michelem haile (V. 1077) sicher, dass der Mensch ihm zu Dank für seine Existenz verpflichtet 367 Tatsächlich liegt, wie schon Rupp, 1971, S. 245, festgehalten hat, ein Schwerpunkt des Anegenge auf der Erlösung des Menschen. Siehe auch Ehrismann, 1966, S. 59. Doch steht dabei gerade nicht der Mensch selbst, sondern die Erlösungsmechanismen, die Heilsplanung der Trinität im Fokus. Vgl. auch Vollmann-Profe, 1994, S. 149: „[O]bwohl die Frage seiner möglichen Rettung das Gedicht beherrscht, wird dennoch die Erlösung nicht so sehr ‚von unten‘ (in ihrer Bedeutung für den Menschen) betrachtet, sondern ‚von oben‘, als Manifestation einer wesentlichen Qualität Gottes: seiner Güte.“ 368 Siehe zur Ebenbildlichkeit in der Wiener Genesis auch Janota, 2009, S. 30; Lieb, 2009, S. 50; Brinker-von der Heyde, 2012, S. 320–325. 369 Vgl. Freytag, 1986, S. 127–128; Janota, 2009, S. 29. Auch im Ezzo-Lied werden die verschiedenen Körperteile des Menschen bei ihrer Erschaffung einzeln aufgeführt, allerdings liegt hier der Fokus nicht auf der Ebenbildlichkeit Gottes und auch nicht auf dem Nutzen der Körperteile. Vielmehr wird mit ihnen eine Verbindung zur übrigen Schöpfung hergestellt. So hat der Menschen beispielsweise von den wurcen […] di adren (EL V. 45) und die ouwgen von der sunnen (EL V. 50). 370 Siehe auch Brinker-von der Heyde, 2013, S. 317–318. 371 Adam wird damit genealogisch als Urvater des Menschengeschlechts ausgewiesen. 372 Neuschäfer hingegen konjiziert das Adjektiv blœde zu dem semantisch ähnlich besetzten brœde, was die geläufigere Formulierung darstellt. 373 Vgl. Teuber, 1899, S. 286. 374 er blis im seinen gaist in, | daz er ewic solde sein (V. 1079  f.). Ein ganz ähnliche Formulierung findet sich im Ezzo-Lied: du blise im dinen geist in | daz ! er ewich mochte sin ! (EL V. 73  f.). 375 Vgl. Teuber, 1899, S. 286. 376 Vgl. auch Egert, 1973, S. 124. Während Gott in der Wiener Genesis das Paradies erst nach der Formung des Menschen erschafft – Got dâ nâch began einen boumgarten phlanzen. | […], den hiez er pa-

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

ist – ansonsten wær wir doch verlorn, | het Adam daz obez gar verborn (V. 1103–1104; 1073–1104).377 Denn ein aus geweihter Paradieserde geschaffener Mensch hätte, so begründet es beispielsweise Hugo von St. Victor, seine Existenz und alle anderen göttlichen Wohltaten als ‚natürlich‘ angesehen, nicht aber auf die Gnade Gottes zurückgeführt.378 – Indem diese Gnade im Anegenge explizit als gotes gute (V. 1100) ausgewiesen wird, bleibt implizit auch das Thema der Trinität präsent. –379 Doch geht es hierbei nicht nur um die göttlichen Wohltaten und das Gute, sondern vor allem um das Böse,380 wobei wiederum ein Ursache-Wirkungs-Prinzip im Hintergrund steht: Wäre der Mensch aus geweihter Paradieserde geschaffen worden, wäre nicht nur das Gute, sondern auch das Böse aus dem Menschen selbst gekommen. Der Mensch wäre somit wie die gefallenen Engel nicht verführt worden und damit ebenfalls nicht erlösbar (s.  u.). Gerade diese Erlösbarkeit des Menschen aber bildet einen Schwerpunkt in der Darstellung der Menschenschöpfung im Anegenge und damit einen zentralen Unterschied zur Wiener Genesis:381 Letztere konzentriert sich vor allem auf die Anatomie des Menschen und die Funktionen der einzelnen Körperteile; der Erlösungshorizont wird lediglich im Anschluss an den Sündenfall angedeutet (WG V. 516–526). Im Anegenge hingegen stehen die Ursachen und Gründe für die Menschenschöpfung im Vordergrund: Der Mensch wird so geschaffen, dass der Heilsplan Gottes, (unausweichlicher) Sündenfall und (geplante) Erlösung, gemäß göttlicher Vorsehung ablaufen können. Beiden Texten gemeinsam ist hingegen, dass zunächst nur der männliche Mensch erschaffen wird, woran sich direkt das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, schließt (s.  u.). Erst danach wird die Erschaffung der Frau thematisiert. Die Genesis kennt diesbezüglich zwei Versionen: Im ersten Schöpfungsbericht heißt es, dass Gott den Menschen als Mann und Frau (masculum et feminam creavit eos, Gn 1,27) geschaffen habe, im zweiten Schöpfungsbericht wird Eva nachträglich aus der Rippe Adams

radîsum (WG V. 232  f.) –, wir die Entstehung des Paradieses im Anegenge nicht näher spezifiziert. – Die in der Wiener Genesis angedeutete Höfisierung (boumgarten, V. 232; stal, V. 214) fehlt dem Anegenge. 377 Obwohl auch in der Wiener Genesis der Mensch aus leim, aus brœder erde, geschaffen ist, fehlt dieser Deutungshorizont nahezu völlig; allenfalls ist er dem Adjektiv brœde implizit. In der Vorauer Sündenklage hingegen erinnert das Ich Gott daran (du vil wol weist daz, VS V. 801), dass es newederez was | weder isen noch bein (VS V. 802  f.), aus dem Gott das Ich geschaffen habe, sondern iz was ein broder leim (VS V.  804). Anders als im Anegenge wird damit gerade nicht auf die Erlösbarkeit des Menschen abgehoben, sondern auf seine von Gott verursachte Schwäche (du newoldest mich vester machen, VS V. 806). 378 Vgl. Teuber, 1899, S. 287; Goetz, 2014, S. 12. 379 Während die Trinität im Anegenge bei der Erschaffung des Menschen eher implizit wahrnehmbar ist, ist sie in der Wiener Genesis (nur) hier besonders präsent: alsô brouchet er den leim swî ez geviel in zwein, | deme vater jouch dem sune, der spiritus sanctus al mit ime (WG V. 110  f.). 380 Vgl. Rupp, 1971, S. 228. 381 Vgl. Kap. IV.3, Anm. 376.



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gebildet (Gn 2,21–23). Das Anegenge – wie auch die Wiener Genesis – folgt demnach ausschließlich dem zweiten Schöpfungsbericht:382 do sant er im den slaf an. ein rippe er von im nam, dar uz schuoff er ein weip. […] do hiez er Even daz wip, diu uns allen doch seit half ze grozer not durch des tievels rat. (V. 1175–1190)

Im Anegenge sind zudem Erschaffung und Benennung der Frau – abweichend von der biblischen Vorlage (Gn 3,1–20)383 – gekoppelt und mit der Vorausdeutung auf ihre Verführung durch den Teufel verschränkt.384 Damit lässt sich die Darstellungsstrategie der Erschaffung des Menschen dem Großkonzept des Anegenge vergleichen: Das Anegenge ist gerade kein bibelepischer Text, keine ‚Summa‘385. Erzählt wird vielmehr nur das, was für die unmittelbare Fortführung des Themas – die Trinität und ihr (Zusammen-)Wirken in Heilsplanung und Heilshandlung – notwendig ist. Verdeutlicht wird diese Strategie, indem wiederholt Kausalzusammenhänge herausgestellt und in ein Ursache-Wirkungs-Prinzip integriert werden: Die Erschaffung der Frau ist grundlegend für ihre Verführung durch den Teufel, die wiederum ursächlich dafür ist, dass der Mensch durch die Passion Christi erlöst werden muss. Frau und Sündenfall werden somit von Beginn an enggeführt, um von ihr direkt386 auf die nächste Station im Heilsplan Gottes überzuleiten, den Lapsus: nu horet, wie si gevielen do (V. 1230).

382 Vgl. Teuber, 1899, S. 289–290. Die Lehre (iedoch hat einer der von geschriben, V. 1193) von der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau (daz si got in einer stunde | beschuoff bediu ensampt, V. 1198  f.) wird im Anegenge abgelehnt (V. 1193–1213). Vgl. Kelle, 1896, S. 149. Nach Rupp, 1971, S. 229, scheitere der Dichter in dieser Passage „zwangsläufig“, da er versuche die Diskussion von Problemen mit der Erzählung von Heilsgeschichte zu verbinden. 383 Während die Frau in der Genesis und im Anegenge ihren Namen von Adam erhält, wird in der Wiener Genesis der Name Eva nach dem Sündenfall ‚nebenbei‘ in der Sprecher-Rede eingeführt (WG V. 322). 384 Vgl. Teuber, 1899, S. 290. 385 Vgl. Rupp, 1971, S. 241–242; 253. 386 Zwischengeschoben ist hier lediglich eine kurze Reflexion über die Erschaffung der Frau (s.  u.).

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Der Sündenfall und seine Voraussetzungen Die Voraussetzungen für den Sündenfall stehen im Anegenge, wie auch im ersten Schöpfungsbericht der Genesis (Gn 1–2), zwischen der Erschaffung Adams und der Erschaffung Evas: Gott macht Adam  – gemäß dem sechsten Schöpfungstag der Genesis (Gn 1,28–31) – die gesamte Schöpfung untertan und erlaubt ihm, von allen Pflanzen des Paradieses zu essen,387 „[…] niwan einen boum mein, der sol dir verboten sein, dar an izzest du den tot.“ (V. 1111–1113)

Die Drohung, mit dem Biss in die Frucht den Tod zu inkorporieren (dar an izzest du den tot, V. 1113), wird von Adam und Eva im Anegenge wörtlich verstanden. Dies zeigt sich an der Reaktion Adams, als Eva ihm die verbotene Frucht reicht: Dass Eva nach ihrem Verstoß gegen das göttliche Gebot noch am Leben ist (daz si ouch nicht enstarp, V. 1355), verführt (verriet, V. 1354) auch Adam zum Sündenfall. Gemeint ist damit jedoch, wie sich zeigen wird, nicht so sehr das leibliche Sterben als vielmehr das geistlich-seelische. Während das Verbot im Anegenge den Tod nicht näher spezifiziert und nur durch die Deutung Adams und Evas (zunächst)388 auf den leiblichen Tod festlegt, bleiben die beiden Dimensionen des Todes in der Wiener Genesis in der Schwebe. Dort heißt es vom Baum der Erkenntnis: Der aver des […] bîzzet vil lutzel ers geniuzet: er weiz ubel unt guot, daz ist der gewisse tôt. (WG V. 262–263)

Auch hier bringt der Genuss der Frucht den Tod, doch scheint er aus der damit erworbenen Erkenntnis von Gut und Böse zu resultieren (daz ist der gewisse tôt, WG V. 263) und weniger aus dem Biss in die Frucht selbst. Deutlicher wird der Zusammenhang von Essen und Tod in der Formulierung des Verbotes durch Gott: unze dû iz mîdest dehein ubel dû erchennest, alsô dû sîn gizzest ze stete dû erstirbest. sô muostû darben aller diser êren die dû nû waltest unze dû mîn gebot behaltest. (WG V. 284–287)

387 Auffällig ist, dass Gott hier (das einzige Mal) als chunic bezeichnet wird, der Mensch als sein sun (V. 1105). 388 Erst am Ende der Sündenfallpassage wird dieser metaphorisch reflektiert. Dabei ist jedoch nicht mehr die Todesmetaphorik, sondern die Kleidermetaphorik tragend (s.  u.).



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Solange der Mensch sich an Gottes Verbot hält (iz mîdest, WG V. 284), wird er kein Übel kennen;389 isst er hingegen von den verbotenen Früchten, stirbt er auf der Stelle (ze stete, WG V. 285). Der Zusatz, dass der Mensch dann auf die Annehmlichkeiten des Paradieses verzichten müsse (darben aller diser êren, WG V. 286), deutet jedoch an, dass mit dem erstirbest (WG V. 285) nicht der unmittelbare Verlust des Lebens, sondern vielmehr der Gnade Gottes gemeint ist. – Da der Mensch jedoch ‚nur‘ vom Baum der Erkenntnis, nicht aber vom Baum des Lebens gegessen hat (WG V. 496– 499), könnte sich das darben auch auf die Bestrafung des Menschen in der Hölle beziehen. – In anderen Texten, beispielsweise der sog. Summa Theologiae, wird die Frage nach einem Entweder-Oder gar nicht erst aufgemacht, vielmehr resümiert das Ich: wir waren zwiscilis dodis sculdig (ST Str. 12,2).390 Der Sprecher des Anegenge hebt dagegen zunächst weniger auf die Folgen des Tabubruchs ab, als auf den grundsätzlichen Vorteil, der dem Menschen aus diesem Verbot erwächst: daz er uns daz obez verbot, daz behielt uns allez daz guot, daz er uns immer getuot. (V. 1114–1116)

Gerade das Verbot solle dem Menschen die Gnade Gottes sichern. Doch weshalb? Die Notwendigkeit, sich an das Verbot zu halten (daz er wære gehorsam, V. 1023), wird als dienst (V. 1020) bezeichnet. Diesen Dienst muss der Mensch leisten, um den höchsten Himmelschor zu verdienen; hete got des nicht gitan, | so het er den obristen chore | geminneret sein ere (V. 1024–1026). Gemeint ist: Der Mensch muss sich in der freiwilligen Einhaltung des Verbotes als würdiger Ersatz für die freiwillig gefallenen Engel erweisen; das Verbot ist also gleichsam der Indikator für den freien Willen des Menschen und für seine Adäquanz (V. 1028–1034). Indem Gott dem Menschen das Verbot auferlegt, könnte man sagen, will er ihn für den höchsten Chor qualifizieren:391 der mensch der solte mit dem wenigem gibot sich so haben gleichet got, daz er dar nach wære

389 Mit ubel kann das Darben ebenso gemeint sein wie die Erkenntnis von Gut und Böse. 390 Vgl. u.  a. Schwietering, 1931/41, S. 56–58, mit Bezug zum Anegenge S. 57. Zitiert wird nach: De Sancta Trinitate. Die sogenannte ‚Summa Theologiae‘. In: Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. 3 Bd. Nach ihren Formen bespr. und hg. von Friedrich Maurer. Bd. 1. Tübingen 1964, S. 304–316. 391 Erneut wird dabei der Gedanke, dass Gott sein bedorfte (V. 1122) oder ce icht wolte (V. 1123) zurückgewiesen.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

gefuret uber die niun chœre, die der frien engel vol sint. (V. 1124–1129)

Doch ist dies nicht die (einzige) Gnade, die Gottes Verbot sichern soll: er tet ez ouch durch ein ander dinc, | daz uns micheler nutzer was (V. 1130  f.). Gott sieht voraus, dass der Mensch, wie zuvor schon die Engel, nicht stark genug sein wird, um niemals einer Sünde anheim zu fallen. – Aus struktureller Perspektive könnte man argumentieren, dass ein Tabu den (nachfolgenden) Bruch immer schon nahelegt. – Die Wahrscheinlichkeit, dass der Mensch nicht gegen Gottes Verbot verstoßen würde, liegt also gleichsam bei null. Wenn dem aber so ist, stellt sich die Frage, weshalb Gott überhaupt ein Verbot ausgesprochen hat: zwiu392 tet er daz gebot der vil genædige got, do er daz wol vor sach, daz Adam cebrach unt sich dar an verworhte? (V. 1117–1121)

– so fragt auch das Sprecher-Ich weiter. Das Anegenge gibt darauf zwei Antworten: Gott erlegt dem Menschen das Tabu auf, gerade weil er weiß, dass er über kurz oder lang der Sünde verfallen werde (daz des dehain rat was,  | der mensch der enviele, V.  1138  f.). Dass der Teufel den Menschen aus neit (V.  1231) in Versuchung führen würde, ist dabei ein wichtiger Teil der göttlichen Voraussicht. Da Gott die Schwäche des Menschen wie den neit des Teufels vorhersieht, kann er dem Teufel, nach der Darstellung des Anegenge, zuvorzukommen und den Menschen vor seinem endgültigen Verderben bewahren: Indem Gott dem Menschen das Verbot auferlegt, folgt er dem Rat der liebe (V. 1140), daz er dem tievel stat tete (V. 1142).393 Er bietet dem Teufel durch sein Verbot somit allererst die Möglichkeit, den Menschen zu verführen (daz er

392 Vgl. Neuschäfer, 1966, Kommentar, S. 278, V. 1117: „zwiu ‚wozu, weshalb‘“. Anders Rupp, 1971, S. 228, der nicht von einem Instrumentalis, sondern von einem Zahlwort auszugehen scheint: „Warum hat Gott Adam zweimal das Gebot verkündet?“ Dadurch hat der gesamte Abschnitt bei Rupp eine ganz andere Ausrichtung. 393 Den Vorschlag, stat als „eine Möglichkeit sich zu betätigen“ zu übersetzen hat Scheidweiler, 1944, S. 14, Anm. 1, gebracht. Rupp, 1971, S. 222, Anm. 15, lehnt diese Übersetzung ab und schlägt stattdessen mit Verweis auf Lexer „alles, wodurch etwas (gestattet) wird“ vor. Scheidweilers Übersetzungsvorschlag scheint jedoch den Kern der Sache zu treffen. Ausgehend davon wäre zudem zu überlegen, ob eine frühere Erwähnung von stat (V. 450) mit dem erbe (V. 485), das der Vater seinem Sohn schafft, zu identifizieren ist. Dann könnte man stat als „Betätigungsfeld“ oder „Zuständigkeitsbereich“ wiedergeben.



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menschlich geslechte | wol gevellen mechte, V. 1143  f.) – und macht ihn damit zu einem Werkzeug seines Heilsplanes.394 Eine ähnliche Instrumentalisierung des Teufels zeigt sich auch in der Summa Theologiae. Dort wird der Teufel in Folge seiner Sünde, die Auflehnung gegen Gott, als weibil (ST Str. 13,1), als Gerichtsdiener,395 bezeichnet. Das bedeutet, dass der Teufel als Strafe Gottes wiederum selbst zum Vollzieher der göttlichen Strafen wird.396 Diese Aussage wird wenig später nochmals intensiviert: Der viant an den gotis viantin richit den gotis antin, sinis undankis dinot er […]. (ST Str. 22,1–2)

Der Teufel wird zum Rächer (richit) der Kränkungen (andin), die Gott widerfahren, doch geschieht dies nicht freiwillig. Vielmehr wird der Teufel, gerade indem er sich teuflisch verhält, gegen seinen Willen (undankis) zum Werkzeug (dinot er) Gottes. Indem Gott den Teufel im Anegenge instrumentalisiert, schafft er somit zugleich die Voraussetzungen für den Sündenfall und für die Erlösung: ob wir in widersten wolten, daz wir haben solten ze varn dester bezzer recht uber die engel, die nicht anvecht wan ir eigen hohvart, diu in ouch ce laide wart. (V. 1145–1150)

Gelänge es dem Menschen, den Verführungsversuchen des Teufels wider Erwarten zu widerstehen und sich an das Verbot Gottes zu halten, so würde ihn dies umso mehr dazu berechtigen, den Platz der gefallenen Engel einnehmen zu dürfen.397  – Dass diese Möglichkeit wider besseren Wissens in Erwägung gezogen wird, zeigt erneut, dass die vorbesicht Gottes im Anegenge zwar als ein Vorauswissen, nicht aber als eine Determination gesehen wird.398 Der freie Wille könnte immer auch andere Optionen

394 Zum Teufel im Anegenge siehe auch unten sowie Kap. IV.6. 395 Vgl. „weibel, stm.“, Mittelhochdeutsches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im  Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www. woerterbuchnetz.de/BMZ?lemid=W00707, abgerufen am 12.03.2022. 396 Siehe auch Zelger, 2001, S. 74. 397 Wiederum ist hier das recht (V. 1147) zentral (vgl. Kap. IV.4). Rupp, 1971, S. 228, verweist diesbezüglich auf den Genesiskommentar Augustins und paraphrasiert folgendermaßen: „Die Fehlbarkeit des Menschen macht die Leistung des guten Menschen wertvoller, und sie gibt Gott die Gelegenheit, seine Macht, aber auch seine Gnade zu zeigen.“ 398 Zu den Begriffen siehe Kap. IV.1. Vgl. auch Neuschäfer, 1966, Kommentar, S. 276, V. 919, mit Hinweisen auf die (bis dato vorhandene) Forschung.

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ermöglichen, selbst wenn sie in der göttlichen Vorsehung bereits als nicht eintretend erkannt sind. Dass dieses Denkmodell notwendig in Paradoxien führt, ist evident.399 unt ob uns der tievel betruge zu dem valle mit seiner luge, der uns doch da chumftic was, daz wir möchten dester baz gewinnen die widervart. (V. 1151–1155)

Sollte der Teufel den Menschen jedoch gemäß der göttlichen Voraussicht zum Tabubruch verführen können, könnte der Mensch, gerade weil er dazu verführt wurde, umso leichter erlöst werden.400 Hätte Adam hingegen gesündigt, ohne verführt worden zu sein (ane schuntunge, V. 1159), so gäbe es keine Möglichkeit, Gottes Gnade wiederzuerlangen, keine Möglichkeit zur Erlösung (unser dehainer der gewunne  | nimmer gotes hulde, V. 1160  f.). Diese Option wurde im Anegenge bereits an den Engeln durchgespielt: Da sie nicht verführt wurden, sondern aus eigenem Antrieb sündigten, des verwarf er alzoges die | immer ewichleiche | von seinem himelreiche (V. 1164–1166). – Mit diesem Argument hat schon Remigius von Auxerre im neunten Jahrhundert zu erklären versucht, weshalb der Mensch erlöst werden könne, die gefallenen Engel aber nicht:401 Die Engel, die nicht anvecht | wan ir eigen hohvart (V. 1148  f.), hätten aus eigenem Antrieb, gleichsam aus sich selbst heraus gesündigt, der Mensch aber sei verführt worden – verführt von dem zuvor gefallenen teuflischen Engel Luzifer. Gott instrumentalisiert somit den Teufel im Anegenge mit dem Ziel, die Erlösbarkeit des gefallenen Menschen zu gewährleisten. Die Strategie des Anegenge ist es dabei, wie schon bei der Erschaffung des Menschen, den Ablauf der Heilsgeschichte als Ursache-Wirkungs-Prinzip darzustellen:402 Das Wollen des autarken, selbstgenügsamen Gottes ist die ‚Ursache‘, die als uranfänglicher Auslöser für alle weiteren ‚Wirkungen‘ gesehen werden kann, die sodann selbst in einer Art ‚Dominoeffekt‘ ablaufen. Indem sich der trinitarische Gott also den freien Willen seiner Geschöpfe zunutze macht, schafft er, gleichsam in einem ‚kontrollierten Sündenfall‘, die Voraussetzungen, um den erneuten Verlust seiner Schöpfung zu verhindern.403 Eine Strategie, der 399 Vgl. auch Rupp, 1971, S. 225. 400 Vgl. Rupp, 1971, S. 246. 401 Vgl. u.  a. Goetz, 2014, S. 5–6; 10. 402 Vgl. auch Bauer, 2019, S. 49, wo von einer ‚Reiz-Reaktions-Kette‘ gesprochen wird. Goetz, 2014, S. 23, nennt es dagegen „eine Art ‚Dreiecksverhältnis‘ zwischen Gott, dem Teufel und dem Menschen“. 403 Damit mag auch das zweimalige verhancte (V. 69; 73) des Prologes erklärt sein: Gott muss „zulassen“, dass der Teufel und der Mensch fallen können, um weder den freien Willen seiner Schöpfung noch seine eigene vorbesicht zu gefährden (siehe auch Kap. IV.2; 4); zugleich kann er es aber auch „laufen lassen“, da in seinem Heilsplan die Erlösung zumindest des Menschen immer schon vorgesehen ist. Nur vermeintlich rückt das verhengen gerade durch die Wahrung von freiem Willen und Vorsehung in die Nähe eines (prädestinierten) „verhängen“. Vgl. „verhenge, swv.“, Mittelhochdeutsches



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sich auch die Summa Theologiae bedient. Dort allerdings wird der Teufel weniger als Werkzeug zur Verführung des Menschen beim Sündenfall, als vielmehr des schuldlosen Gottessohnes im Erlösungsgeschehen eingesetzt (ST Str. 13, 3  ff.).404 In der Wiener Genesis hingegen lässt sich derartiges nicht beobachten, was daran liegen mag, dass die Erlösbarkeit des Menschen dort keine zentrale Rolle spielt. – Da hier explizit das Buch Genesis im Fokus steht, wird der Zusammenhang zwischen Anfang und Zielpunkt, Sündenfall und Erlösung, Altem und Neuem Testament, wohl immer wieder angedeutet, ohne jedoch die gleiche Aufmerksamkeit zu erhalten wie im Anegenge oder der Summa Theologiae. Der von Gott ‚kontrollierte Sündenfall‘ geht nun im Anegenge wie folgt von statten:405 Den tivel muote der neit, daz der man unt daz weip den stuol besitzen solte, dannen in sein ubermuot valte. (V. 1231–1234)

Aus Hass und Neid (beide Konnotationen sind im neit, V. 1231, angelegt)406 darauf, dass der Mensch den Platz, von dem er selbst zuvor gestürzt wurde, einnehmen soll, beschließt der Teufel, das zu wenden (V. 1235). Er wagt sich allerdings nicht an den Mann, da dieser Gottes Ebenbild (nach got gepildet, V. 1237) sei.407 Stattdessen greift (bestunt, V. 1239) er die Frau an. Da diese nicht direkt nach Gott, sondern (nur) nach dem Mann gebildet sei, glaubt er sich ihrer Schwäche (brœde, V. 1243) sicher sein zu können.408 Außerdem, so wird noch ergänzt, habe Eva aufgrund ihrer nachträglichen Entstehung das Verbot nicht von Gott selbst erhalten, was sie umso anfälliger für die Verführungsversuche des Teufels mache (V. 1242–1248).409 Indem sich das Anegenge hier wie bei der Erschaffung der Frau nur auf den zweiten Schöpfungsbericht, die Erschaffung Evas aus Adam, bezieht, entsteht eine Art ‚Schöpfungshierarchie‘, die die Frau bereits vor dem Sündenfall dem Mann nachordnet.410 Die Gottebenbildlichkeit der Frau – mindestens nach dem ersten Schöpfungsbericht der Genesis (Gn 1,27) Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemid=H00175, abgerufen am 12.03.2022. 404 Ähnliches findet sich an späterer Stelle auch im Anegenge (vgl. Kap. IV.6). 405 Vgl. zum Sündenfall im Anegenge u.  a. Murdoch, 1972. 406 nît ist auch in der Summa Theologiae bedeutsam, dort wird Luzifer sogar als des nidis vatir (ST Str. 6,1) bezeichnet. 407 Diese Ebenbildlichkeit ist sichtbar: vil wol sach er [der Teufel] an im [dem Mann] daz (V. 1238). 408 Vgl. u.  a. Goetz, 2014, S. 16; DeVane Brown, 2016, S. 159 409 Vgl. auch DeVane Brown, 2016, S. 159–160. 410 Vgl. dagegen Gn 3,16, wonach die Frau erst als Strafe für ihren Ungehorsam dem Mann untergeordnet wird.

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sind Mann und Frau diesbezüglich gleichgestellt – wird damit nicht nur ausgeblendet, sondern beinahe negiert.411 Noch deutlicher wird dies im Vergleich mit der Wiener Genesis, der eine solche Tendenz beinahe gänzlich fehlt: Auch hier richtet die teuflische Schlange ihre Verführungsversuche an Eva statt an Adam, doch wird nicht wie im Anegenge mit der (hörbaren) Verworfenheit der Frau argumentiert.412 Vielmehr fürchtet der Teufel, bei Adam schlicht nichts erreichen zu können (daz er in negeruochte fernemen, WG V. 319; daz er is niene tâte, WG V. 320) und wendet sich deshalb an Adames winegen (WG V. 322). Um Eva zu verführen, kommt der Teufel des Anegenge in eines slangen weise (V.  1259) in das paradeise (V.  1260): Er fragt die Frau, weshalb sie die verbotenen Früchte nicht essen würde, worauf die Frau antwortet, dass Gott es ihr verboten habe (daz ez ir verboten wære | von ir schephære, V.1267  f.). – Auch in der Wiener Genesis eröffnet der Teufel mit dieser Frage, verfolgt dabei jedoch noch ein weiteres Ziel: Er will vom Menschen hören, dass die Früchte des Baumes verboten sind, um zu vermeiden, dass er sich nach deren Genuss mit Unwissenheit oder Vergesslichkeit herausreden könne (daz si negetorsten sprechen si hâten is vergessen, | si wâren unwizzende chomen in die sunde, WG V. 329  f.).413 Die anschließende Verführungsszene ist im Anegenge – analog zu Gn 3,1–6 – als Dialog zwischen Frau und Schlange inszeniert, wobei in beiden Fällen der weitaus größere Redeanteil dem Teufel zukommt.414 Der Teufel lockt die Frau mit dem Versprechen der Erkenntnis von ubel unt guot (V. 1299), sobald sie von den Früchten äße. Die Frau lässt sich verleiten, ihr getloser muot | sich sa wandelen bigan (V. 1300  f.): Sie beginnt sich zu fragen, was denn das Böse (ubel, V. 1303) wäre – doch sollte sie die Antwort auf diese Frage ihr Seelenheil (die gaistlichen saele, V. 1304)415 kosten. Ganz so leicht macht sie es dem Teufel allerdings nicht, vielmehr verweist sie zunächst auf Gottes Warnung: Nicht Erkenntnis, sondern Tod sei die Folge des Fruchtverzehrs (V. 1307–1311). Im Gegensatz zur Frau ist dem Teufel jedoch bewusst, dass der Mensch nicht sterben wird; er widerspricht ihr: Gott habe dies nur deshalb gesagt, weil der Mensch sonst selbst göttlich werden würde (als got gitan, V. 1316), ihm würden elliu dinc chunt (V.  1319).416 Dem wiederholten (aber, V.  1320) Rat des Teufels, von den Früchten des verbotenen Baumes zu essen, folgt die Frau. 411 Vgl. Teuber, 1899, S. 292, Anm. 1, der einen Einfluss durch „Ambrosîus (femina non est facta ad imaginem dei)“ für möglich hält. DeVane Brown, 2016, S. 159, hingegen verweist bezüglich der Gottebenbildlichkeit nur Adams auf 1 Cor 11,7. 412 daz er wol horte | an dem ir gichœse, | daz ir herce was bœse (V1288  ff.). Vgl. Teuber, 1899, S. 295. 413 Für DeVane Brown, 2016, S. 160, verfolgt der Teufel dieses Ziel auch im Anegenge; explizit gesagt wird es allerdings nicht. 414 Nach Teuber, 1899, S. 296, ist die Schlange im Anegenge bei ihrem Verführungsversuch aktiver als in der Genesis, „indem sie Eva noch zum baume der erkenntnis lockt und sie von der frucht nehmen heisst. Die stelle selbst stimmt daher wol in der sache, aber nicht im Wortlaute mit Gen. 3, 6“ überein. 415 Vgl. Teuber, 1899, S. 296. 416 Vgl. Teuber, 1899, S. 296.



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Der versprochene Erkenntnisgewinn stellt sich sogleich ein,417 doch erkennt sie gerade ihr Vergehen, die sunde mit der schande (V. 1327):418 Sobald sie einen Bissen genommen hat (als si ez in den munt ginam, V. 1323), überfällt Eva die Scham (zehant begraiff sei diu scham, V. 1324). Sie hat sich, im wahrsten Sinne des Wortes, in riwe verbissen (V. 1330  f.), die erste Strafe dafür, dass sie sich über Gott hatte stellen wollen (V.  1332–1335). In der Formulierung uber ir schephære (V.  1335) klingt im Anegenge zugleich die Sünde Luzifers, die superbia419 an, wodurch Teufelssturz und zweiter Sündenfall zueinander in Bezug gesetzt werden. Da der Teufel seinen Verführungsversuch gerade deswegen unternimmt, weil der Mensch ihn übertreffen und seinen ursprünglichen Platz einnehmen sollte, ist es nur folgerichtig, dass er den Menschen zu derselben Sünde verführt, die auch er begangen hat. Der Mensch fällt, wie zuvor der Teufel, durch die superbia, wie Gott werden zu wollen. Die Parallelisierung von Teufel und Mensch wird im Anegenge aber noch weiter getrieben: Anstatt wie Gott zu werden, wird die Frau nun selbst zur Verführerin,420 und wie beim Teufel zeigt sich bei ihr der neit (V.  1339):421 Wie der Teufel zuvor die Frau zur Sünderin gemacht hat (als sei der tivel hete gitan, V. 1348), will nun die Frau, dass der Mann ir wurde geleich (V. 1346). Sie reicht ihrem Mann die verbotene Frucht. Während die Frau also die Rolle des Teufels übernimmt, schlüpft der Mann in die Rolle der Frau; er versucht zunächst zu widerstehen, da er aber sieht, dass Eva nicht tot ist, wie es verheißen war, tut er es ihr gleich: von diu gevolget er ir bet, | daz ouch er daz selbe tet, | daz si hete gitan (V. 1357–1359) – und fällt ebenfalls.422 Die Verführung des Menschen erfolgt im Anegenge somit in zwei Stufen: Zunächst fällt die Frau, die aufgrund ihrer Abstammung vom Mann im Anegenge als weniger gottebenbildlich und damit weniger resistent erachtet wird, um sodann selbst den Mann zu verführen. Trotz seiner angeblichen Widerstandsfähigkeit führt die vermeintliche Evidenz, dass sich Gottes Wort – Tod durch Fruchtverzehr – an Eva nicht erfüllt hat, auch zum Fall des Mannes. Das Anegenge hebt damit die Schuld beider Menschen deutlich hervor: Adams, weil er sich hat verführen lassen, und Evas sogar

417 Vgl. auch Murdoch, 1972, S. 102. 418 So ist denn auch Gottes Ausspruch, „nu ist worden Adam | als unser einer gitan.“ (V. 1476  f.) im Anegenge deutlich als schimpfweise (V. 1484), als purer Hohn, ausgewiesen (siehe ausführlicher Kap. IV.1). Vgl. Schröder, 1881, S. 50. 419 Vgl. zur superbia u.  a. Hempel, 1970, hier bes. S. 23–25; 29–37; 120–122; 131–133; Lieb, 2009, S. 47. 420 Zu anderen Ansätzen siehe Murdoch, 1972, S. 59–67. 421 Vgl. Teuber, 1899, S. 297–298. 422 Den Kontrast zwischen Einhaltung des Gebotes und Tabubuch macht das Anegenge auch sprachlich deutlich: Indem Adam und Eva das Gebot befolgt hätten, hätten sie sich so sehr gleichet got (V. 1126), dass sie sich des höchsten Himmelschores würdig erwiesen hätten; indem sie das Tabu aber brechen, wird die Frau zunächst dem Teufel parallelisiert, woraufhin sie dafür sorgt, dass auch ihr Mann ir wurde geleich (V. 1346).

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

in doppelter Hinsicht, da sie sich nicht nur verführen lässt, sondern anschließend sogar selbst zur Verführerin wird.423 Wesentlich neutraler verhält sich in dieser Hinsicht die Wiener Genesis: Die Vorsätzlichkeit der Verführung im Anegenge ist in der Wiener Genesis eher eine Fahrlässigkeit der Frau, denn die Erkenntnis ihrer Sünde hat sich hier noch nicht eingestellt. Diese kommt in der Wiener Genesis erst, nachdem auch Adam von der Frucht gegessen hat (zuo giench in beiden daz unheil, WG V. 359; vgl. Gn 3,7). Eva reicht ir manne Adame (WG V. 356) daher schlicht die zweite Hälfte der Frucht, von der sie eben gegessen hat, während der Teufel selbst Adam verführt: Es riet ime der ubele hunt (WG V. 357), dass er ohne zu fragen in dem Mund schieben solle, was Eva ihm gibt. Adam weiß damit zwar nicht, dass er eine verbotene Frucht zu sich nimmt, doch ist er deswegen nicht schuldlos. Vielmehr wird der unhinterfragte Verzehr, das blinde Vertrauen zur Frau, als Sünde ausgestellt.424 Somit bewirkt der Tabubruch in beiden Texten – obwohl er zumindest im Anegenge Teil des göttlichen Heilsplanes ist – zunächst einmal den Fall des Menschen und damit den Verlust der göttlichen Gnade: do waren si ungehorsam worden bediu ensant. ein wunnechlich giwant het in der tivel abgezogen. er het siu bediu sampt betrogen. Do si daz obez gazzen, do musen si lazzen die wat der unschulde. si heten gotes hulde gerlichen verlorn (V. 1360–1369)

Im Anegenge entspricht der Verlust der Gnade dem Verlust der ‚Kleidung‘; der Mensch ist im Akt der Sünde nackt geworden:425 Bisher sei er eingekleidet gewesen in ein wunderbares Gewand, das ihm der Teufel heruntergerissen habe. Die Entkleidung ist dabei eine doppelte und spiegelt gewissermaßen die frühere Problematik von leiblichem und geistlich-seelischem Sterben: Sie besteht zum einen in Adams und

423 Vgl. mit anderem Bezug Kelle, 1896, S. 149. 424 Überdies erweist er sich auch in seinem nachfolgenden Verhalten als teilhaftig an der Schuld (s.  u.). 425 Auch in der Wiener Genesis haben die Menschen das engliske gewâte (WG V. 487) verloren und müssen daher von Gott mit fellen (WG V. 491; Gn 3,21) eingekleidet werden, um nach der Vertreibung aus dem Paradies nicht zu frieren. Vgl. u.  a. Schröder, 1881, S. 71; Rupp, 1971, S. 230; Murdoch, 1967; ders., 1972, S. 106–118.



5 Schöpfung, Sündenfall, Erlösung – Biblische Geschichte im Anegenge 

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Evas Erkenntnis ihrer faktischen körperlichen Nacktheit,426 zum anderen ist sie auch metaphorisch als Verlust der göttlichen Gnade zu sehen. Darüber hinaus bleibt das Motiv im Anegenge auf den ersten Blick seltsam dysfunktional.427 Doch könnte man überlegen, ob in den Ausdrücken wunnechlich giwant (V. 1362) und wat der unschulde (V. 1367) mittels Stichwortgebens eine Motivtradition aufgerufen ist:428 Nach Bernhard von Clairvaux429 ist der Menschen im Paradies von den vier Tugenden Veritas, Iustitia, Pax und Misericordia umgeben, die ihn leiten sollen,430 wobei Is 61,10 diese Tugenden als Kleid bezeichnet.431 Indem der Mensch nach dem Sündenfall nackt geworden ist, habe er eben dieses Kleid der Tugenden verloren.432 Ist im Anegenge mit dem wunnechlich giwant dieses Kleid der Tugenden gemeint, ergibt sich eine komplexe Verbindung zu der zweiten trinitarischen Ratsversammlung, dem Erlösungsrat.433 Denn hier streiten eben diese bei Bernhard genannten Tugenden, erbarmde, warhait, recht und fride, mit dem trinitarischen Gottesrat über die Erlösung des Menschen.434 Nicht zuletzt, da sich der Verlust der Tugenden im Paradies auch typologisch auf Christus deuten lässt,435 hätten die Tugenden, die einst den Menschen als metaphorisches Kleid bedeckten, damit Anteil sowohl am Menschlichen wie am Göttlichen und könnten demnach als Bindeglied zwischen der verlorenen Schöpfung und dem trinitarischen Erlösungsrat fungieren. Die Vertreibung aus dem Paradies Dass das Großthema der Trinität auch während der Darstellung des Sündenfallgeschehens nicht verloren geht, zeigt spätestens die ‚Entdeckung‘ des Sündenfalls

426 In der Genesis wird zweimal (Gn 2,25 und Gn 3,7) erwähnt, dass Adam und Eva nackt waren, sich aber nicht voreinander schämten. Der Mensch ist also im Sündenfall nicht eigentlich nackt geworden, er hat seine Nacktheit nur erkannt. 427 Generell scheint es eine Tendenz des Anegenge zu sein, Allegorien und Allegoresen eher zu vermeiden. 428 Auch in der Kindheit Jesu ist von einem metaphorischen Gewand, dem Kleid der minne, | âne die nieman mac genesen (KJ V. 62  f.), die Rede. Siehe auch Murdoch, 1967, S. 381–382. 429 Vgl. Timmermann, 1982, S. 138–152; allg. Rupp, 1971, S. 252 430 Vgl. Timmermann, 1982, S. 141. Vgl. allg. Teuber, 1899, S. 334–335. 431 gaudens gaudebo in Domino et exultabit anima mea in Deo meo quia induit me vestimentis salutis et indumento iustitiae circumdedit me quasi sponsam ornatam monilibus suis [Von Herzen will ich mich freuen über den Herrn. Meine Seele soll jubeln über meinen Gott. Denn er kleidet mich in Gewänder des Heils, er hüllt mich in den Mantel der Gerechtigkeit, wie ein Bräutigam sich festlich schmückt und wie eine Braut ihr Geschmeide anlegt.]; Is 61,10. 432 Vgl. Heinzel, 1874, S. 45. 433 Vgl. in diese Richtung womöglich auch Ohly, 1994, S. 245, Anm. 10. 434 Vgl. u.  a. Rupp, 1971, S. 234–236. Vgl. auch Teuber, 1899, S. 334, der auf Hieronymus verweist, der „die sog. ‚töchter gottes‘ als tugenden auslegt, welche der mensch vor der sünde besessen habe.“ 435 Vgl. Timmermann, 1982, S. 141.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

durch Gott:436 Gott sucht den Menschen, von dessen Fall er – natürlich – bereits weiß (diu schulde seines chnechtes | was im vil wol chunt, V. 1384  f.) und der ihn erbarmte (V. 1386). Auf Gottes Rufen hin erscheint Adam mit (bedeckter) Scham, die die Stimme Gottes in ihm erregt habe (do ich dein stimme vernam, | do begraif mich diu scham, 1401  f.). War zuvor nur von unser herre (V. 1378) die Rede, so antwortet nun der ware christ (V. 1403): „wa von waistu, waz scham ist? | hastu daz obez gaz?“ In der Rede des Gottessohnes werden Erkenntnis (der Scham) und Tabubruch nochmals enggeführt, wobei die Fragen Gottes einerseits rhetorische sind, da er bereits alles weiß (vil wol ez im giwizzen was, V. 1406). Andererseits möchte die guote – sie zeichnet womöglich auch für das erbarmen in Vers 1386 verantwortlich – wissen, ob der Mensch riwe zeigt (V. 1410).437 Was allerdings die Konsequenz einer solchen riwe wäre, wird im Anegenge nicht gesagt. Anders in der Wiener Genesis:438 Hätten sich Adam und Eva hier zu ihrer Sünde bekannt und auf die Gnade Gottes vertraut (in sîne gnâde gân, WG V. 381), hätten sie im Paradies bleiben können: hêt er sô getân sô wâr er in dem paradîso bestân: got het iz verchorn, sô hêt der tiefel sîn arbeite florn. (WG V. 382–383)

Gott hätte dem Menschen verziehen und damit das Werk des Teufels zunichtegemacht. Im Anegenge hingegen handelt der Teufel als Instrument Gottes (unwillentlich) in dessen Sinne. Denn hier verfolgt Gott in weiser Voraussicht einen längerfristigen Plan: Die Möglichkeit einer sofortigen Vergebung ist damit im Anegenge zwar nicht gegeben, doch ist sie auch nicht nötig, da die gute vorbesicht Gottes bereits den Entschluss zur endgültigen Erlösung des Menschen gefasst hat – in der Wiener Genesis spielt dieser Heilsplan, wie zu erinnern ist, allenfalls eine Nebenrolle. Dessen ungeachtet zeigt der Mensch weder in der Wiener Genesis noch im Anegenge die nötige Reue.439 In Anlehnung an die Genesis (Gn 3,12) antwortet Adam auf Gottes Frage, dass er von der Frau, die Gott ihm gegeben hat (die du mir, herre, gæbe, V. 1418), verführt (betrogen, V. 1417) worden sei. Doch ebenso gut (recht als ob, V. 1419) hätte er sagen können: „ich wil vil unschuldic sein. daz du mir gæbe daz wip, des sint die schulde dein!“ (V. 1420–1421)

436 Vgl. u.  a. Murdoch, 1972, S. 119–129. 437 Vgl. Teuber, 1988, S. 300. 438 Siehe auch Kelle, 1896, S. 144. 439 Vgl. Rupp, 1971, S. 230; Murdoch, 1972, S. 130–139;



5 Schöpfung, Sündenfall, Erlösung – Biblische Geschichte im Anegenge 

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Das Anegenge expliziert damit, was in der Bibel nur angedeutet ist, nämlich, dass Adam versucht, die gesamte Verantwortung auf Gott abzuwälzen (alle seine schulde | wolt er uf got haben gezogen; V. 1415  f.). Und auch die Frau weist jegliche Schuld von sich und dem Teufel zu: si sprach, daz irz diu slange | hete geraten (V. 1425  f.; Gn 3,13). Statt mit Reue reagiert der Mensch mit Schuldzuweisungen und Blasphemie auf Gottes erbarmen und besiegelt damit sein Schicksal: da mit chouft er uns den tot | unt verlos uns gotes hulde (V. 1413  f.).440 Da der Mensch keine Reue zeigt, ist die Strafe unumgänglich.441 Diese trifft, analog zu Gn 3,14–15,442 zunächst die Schlange, in deren Gestalt der Teufel, aufgetreten ist: Diese, zuvor ein vil herlich geschafft (V. 1446),443 muss nun auf ihrem Bauch im Staub kriechen (V. 1450  f.), in immerwährender Feindschaft mit der Frau (V. 1435–1442). – Dass Gott die vom Teufel missbrauchte Schlange auch im Anegenge bestraft (sich an dem wurm gerach, V. 1452), scheint in Widerspruch dazu zu stehen, dass der Teufel doch letztlich Gottes Willen ausführt. Tatsächlich scheinen hier die Strategien des Anegenge mit den biblischen Vorgaben zu kollidieren, doch ist die Bestrafung der Schlange im Vergleich mit anderen Texten eher abgeschwächt.444 Doch nicht nur die Schlange, sondern auch der Mensch erhält seine Strafe: Die Frau muss fortan unter Schmerzen (mit sere, V.  1457; Gn 3,16) und unter der Herrschaft ihres Mannes (under dem gewalte deines mannes, V.  1448) Kinder gebären, während der Mann im Schweiße seines Angesichts (mit sweize, V. 1466; Gn 3,17–19) seinen Lebensunterhalt verdienen muss. – Hier spricht Gott den Fluch auf die Erde aus (verfluchet sei diu erde | in deinem werche ze unwerde, V. 1460  f.), der ein zentrales Argument im Streit um die Erlösbarkeit des Menschen ist.445 Nach ihrer Bestrafung werden Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben, dessen Pforte fortan ein Engel, der was gehaizzen cherubin (V. 1488; Gn 3,24), bewachen und versperren soll. Doch werden die Worte Gottes, dass der Mensch, hätte er auch vom Baum des Lebens gegessen, immer mer untœdlich wäre (V. 1494), als Erbarmen Gottes gedeutet,446 denn, so läuft die Argumentation weiter,

440 Vgl. Goetz, 2014, S. 14. In den Schuldzuweisungen des Anegenge wird der Sündenfall zugleich Schritt für Schritt rückwärts geführt, vom Mann über die Frau bis zum Teufel, wobei deutlich wird, wer welchen Anteil an der Schuld trägt. 441 Vgl. u.  a. Goetz, 2014, S. 17–18. 442 Teuber, 1899, S. 302, betont hier die enge Anlehnung an die Bibel: „Man sieht, der dichter hat keinen gedanken mehr und keinen weniger als die bibel; nur ist die anordnung derselben bei ihm etwas anders als dort.“ Doch lassen sich nicht nur hier diverse Abweichungen von der Bibel beobachten, die sich in das Gesamtkonzept des Anegenge integrieren lassen. 443 Vgl. Teuber, 1899, S. 301, mit weiteren Hinweisen. 444 Die Wiener Genesis hebt hingegen den Zorn (micheleme zorne, WG V. 404) auf die Schlange sogar noch hervor und ergänzt eine längere Ausdeutung ihrer Strafe (WG V. 413–457). 445 Siehe Kap. IV.3.2. 446 als ob in erbarmote, | ob der mensch in der note | immer me ligen solde, | unt daz ers nicht enwolte. (V. 1496–1499). Vgl. auch V. 1386.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

ez wær uns gewisse ein michel not, erloste unser sele der tot uz disem ellende nicht, wan in daz ewige liecht gebirt er die rechten, swie harte wir in furchten. (V. 1500–1505)

Die zuvor als Rache (owe wie er sich rach, V. 1474) bezeichnete Strafe Gottes wird damit auf die vorhergesehene und geplante Erlösung hin perspektiviert: Der Mensch, den Gott aus blœdem leime (V. 1078) gemacht hat, muss im Tod wieder zu diesem werden (du bist ein erde unt ein stoub, | dar zu mustu werden ouch, V. 1472  f.; Gn 3,19), doch liegt gerade darin seine Erlösbarkeit begründet.447 Erst der Tod, obwohl vom Menschen so sehr gefürchtet, ermögliche die Wiedergeburt hinein in das Ewige Leben. Denn würde der Mensch nicht sterben können, hätte, so die implizite Botschaft, auch der menschgewordene Gott nicht für den Menschen sterben und so seine Sünden vergelten können.448 Deutlich bringt dies die Wiener Genesis ins Wort: Duo got Even unt Adamen im daz paradîsum hiez rûmen, duo hiez er den engel cherubîn dâ fore stên werigen mit fûrînime swerte daz er daz bewarte daz ter niemen în chôme der des wuocheres genâme dâ mannegelich abe wurde untôtlich, want er daz wolte ûf scalten, ze bezzereme zîte gehalten, want er wolte fone wîbe werden geborn unte ane dem holze der martire gechorn, daz er dar ana verchargte der uns an deme holze bevalte, daz der Adames val der ê gie uber al vertîligôt wurde an deme gotes tôde der aller sunden was âne. (WG V. 516–525)

Gott lässt den Eingang zum Paradies bewachen, um zu verhindern, dass jemand hineingelangen und noch nachträglich vom Baum des Lebens essen könne. Denn Gott will als Mensch an demselben Holz sterben, an dem Adam und Eva der Verdammnis anheimgefallen sind,449 um durch seinen Tod die Menschheit zu erlösen – was nur möglich ist, wenn der Mensch tatsächlich sterben kann. Während die Wiener Genesis explizit Sündenfall, verschlossene Paradiespforte und Erlösung engführt, deutet das Anegenge die Passion Christi hier nur an: Die von

447 Diese Dimension ist auch in der Wiener Genesis aufgerufen, wo es heißt: Bezzer ist daz er sterbe unt sîn sculde sô gerochen werde, | denner werde untôtlich unt iemer uber in gê der grich (WG V. 498  f.). 448 Angespielt ist darüber hinaus wohl auch auf die Wiederauferstehung und das Jüngste Gericht, die ohne vorherigen Tod so nicht möglich wären. 449 Hier ist die Kreuzholzlegende aufgerufen (vgl. Benz, 1925, Sp. 455–457).



5 Schöpfung, Sündenfall, Erlösung – Biblische Geschichte im Anegenge 

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dem engel bewachte Paradiespforte werde nämlich so lange mit einem fiurinem swerte (V. 1507) verteidigt werden, unz ez der schacher dan huop des tages, do got sein bluot an dem chriuze uz goz (V. 1508–1510).

Das Paradies bleibt dem Menschen so lange versperrt, bis sich seine Pforte für den ersten Erlösten, den Schächer, der mit Christus am Kreuz stirbt, öffnen wird (V. 1510– 1513; Lc 23,39).450 Deutlich zeigt sich hier ein weiteres Thema, um das das Anegenge kreist – das in der Wiener Genesis an dieser Stelle jedoch ausgespart bleibt – und über das sich das Anegenge, neben anderem, auch in seinen Überlieferungsverbund eingliedern lässt: die Sünde.451 Indem gerade hier auf den Schächer, einen Sünder, verwiesen wird, macht das Anegenge deutlich, dass auch ein Sünder erlöst werden kann, wenn er Reue zeigt, weil der Gottessohn sein Blut für die Menschheit vergossen hat. Nach dem Sündenfall – Adam bis Noah Die Sünde, der der Mensch immer wieder verfällt, bleibt bis zum Erlösungsrat implizit Thema, wenn zunächst von Kain und Abel und anschließend von der Sintflut berichtet wird. Symptomatisch für die Erzählweise des Anegenge ist dabei zunächst die weitere Einbindung des Teufels: Im Anschluss an die Vertreibung aus dem Paradies wird der Kontrast zwischen einstigem paradiesischem Leben und jetziger Mühsal ausgestellt, in der der sündige Mensch kaum sein Leben fristen kann (V. 1522–1530). Doch gibt es Hoffnung: er erwante daz vil wol sit. der tivel, der in da bitrouc, daz er vil gar louc, er gehiez im ubel unt guot; der het er vil unt genuc beider erchunnen. (V. 1531–1536)

450 Vgl. u.  a. Teuber, 1899, S. 303–304. 451 Vgl. zu Sünde, schulde und Gnade im Anegenge auch Rupp, 1971, S. 242–243. Zum Überlieferungszusammenhang siehe Kap. IV.8.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Über das Verb erwinden452 wird erneut die Erlösung vorweggenommen: „Das sollte er später überwinden“.453 Das er kann sich hier sowohl auf den Menschen beziehen, der nicht ewig verdammt bleiben soll, als auch auf Gott selbst, der in der Passion Christi die Verdammung des Menschen beenden wird. Die folgenden Verse (V.  1532–1536) können dabei als Scharnier zwischen dem Leben vor und nach der Vertreibung aus dem Paradies gelten: Durch die Verführung des Teufels erfährt (erchunnen, V. 1536) der Mensch, obwohl vom Teufel belogen, ubel – Vertreibung aus dem Paradies, Verdammnis, Mühsal –, aber auch guot – die Erlösung und das ewige Leben.454 Da sich an das vom Teufel evozierte erchunnen direkt die Geburt Kains schließt (einen sun si gewunnen, | den hiezzen si Cayn, V. 1537  f.), lässt sich der Teufel in lockerer Fügung, verstärkt durch den Reim erchunnen : gewunnen, allenfalls auch für dessen Missraten (doch er ubel geriet, V. 1541) verantwortlich machen.455 Womöglich deshalb wird Kain in der anschließenden Erzählung von Kain und Abel – anders als in der Genesis (Gn 4,1–24) oder der Wiener Genesis (WG V. 578–588) – schon vor dem Brudermord, der die magetrainen erde (V. 1572) befleckt, negativ dargestellt:456 jener wirser gedachte, der da elter was: seine garbe er uberdrasch, do er sei got wolde bringen, dem wir da nicht verhelen megen. (V. 1553–1557)

Während das Opfer Kains in Gn 4,5 zunächst im Kontrast zu Abels Opfer, ansonsten aber neutral dargestellt wird,457 ist im Anegenge von Anfang an die böse Absicht Kains (uberdrasch, V. 1555) ausgestellt: Er will Gott hintergehen, indem er ihm ein wertloses Opfer – wertlose, weil kornlose Ähren  – anbietet.458 Zudem zeigt das Anegenge im Unterschied zur Genesis, die keine Begründung für die Bevorzugung Abels liefert, erneut Gottes Voraussicht und seine Allwissenheit: ir baider herce er ansach (V. 1558).

452 Vgl. MWB, http://www.mhdwb-online.de/wb/44976000, erwinden stV., 2.1: etw. überwinden’, mit Akk. d. S., aufgerufen am 12.03.2022. 453 Neuschäfer konjiziert erwinden zu ervinden. Damit würde der Mensch bald selbst herausfinden (er ervant daz vil wol sît, V. 1531), dass ihn der Teufel belogen hatte (V. 1533). 454 Die Verführung durch den Teufel ermöglicht – wie von Gott im ‚kontrollierten Sündenfall‘ geplant – allererst die Erlösung des Menschen. Erneut werden hier somit Sündenfall und Erlösung sowie die Voraussetzungen für das eine wie für das andere enggeführt. 455 Die Geburt Abels hingegen wird im Anschluss an ein Gotteslob (V. 1542) verkündet. 456 Vgl. Teuber, 1899, S. 306. Das Motiv der magetreinen erde findet sich u.  a. auch in Wolframs Parzival (Pz 464, 18–20). 457 Vgl. Teuber, 1899, S. 305–306, mit weiteren Quellenvorschlägen. 458 Der Kontrast zwischen der Opferung eines wertvollen Jungtieres und wertlosen Getreides wird damit noch erhöht.



5 Schöpfung, Sündenfall, Erlösung – Biblische Geschichte im Anegenge 

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Gott weiß von Kains Versuch, ihn zu hintergehen – ebenso wie er vom Sündenfall Adams und Evas wusste und auch bereits vom Brudermord weiß. Trotz der Beteuerung so uns die schrifft chundet (V. 1560) weicht die Darstellung des Anegenge gerade hier deutlich von der Genesis (Gn 4,5–7) ab: Während Gott Kain in der Genesis eher danach befragt, ob er sich einer Schuld bewusst sei, und ihn eindringlich vor weiterer Sünde warnt, wirft ihm Gott die Sünde im Anegenge direkt vor (Cayn, du hast gesundet, V. 1561). Zudem macht Gott die Bevorzugung Abels nicht nur im Empfang des Opfers, sondern auch im Wort explizit: „[…] deines bruoder willen | chumt vil hoher uber dich, | des opher enphah ich“ (V. 1563–1565). Wiederum zeigt sich hier, dass sich das Anegenge zwar im Großen und Ganzen an der Bibel orientiert, dabei jedoch eigene Schwerpunkte setzen, reflektieren, deuten und kommentieren kann. Diese Beobachtungen geben Raum zu der Überlegung, ob solche Stellen zeitgenössisch überhaupt als Abweichung von der Bibel – in welcher Weise auch immer ihr Inhalt rezipiert wurde, oder welche andere schrifft ggf. gemeint war – wahrgenommen wurden. Im Anegenge jedenfalls lässt die Erzählung von Kain und Abel eine Tendenz zur erneuten Betonung göttlicher vorbesicht sowie zur Disambiguierung Kains erkennen. Zudem zeigt sich ein gewisses genealogisches Interesse für die Nachkommenschaften nicht nur Adams und Evas, sondern auch Kains.459 Dabei wird immer wieder die Sündhaftigkeit des Menschen herausgehoben, welche als Überleitung auf den nächsten Abschnitt der Heilsgeschichte, die Sintflut, dient.460 Die Sintflut und ihre Folgen Der Verweis auf das sündhafte Verhalten des Menschen durch alle Zeiten hindurch (V. 1734–1738) dient als Überleitung auf die Erzählung von der sintfluot: Gott mus riwen du,  | daz er den menschen ie geschuoff (V.  1741  f.). Nach der knappen Ausstellung der Schlechtigkeit des erschaffenen Menschen wird zunächst Noah vorgestellt, ein rechter man (V.  1743) aus dem Geschlecht Seths (V.  1744). Dieser soll im Alter von fünfhundert Jahren mit seinen drei Söhnen, Sem, Cham und Japhet, eine Arche bauen, um der Sintflut zu entgehen (V.  1750–1765; Gn 7–8). Erst nach dieser Einführung werden die Gründe für die (fast vollständige) Vernichtung des Menschen genannt.461 In der fertigen Arche soll Noah sich und seine Familie sowie alle Tierarten unterbringen (V.  1812–1858; Gn 6–7).462 Sobald Noah alles erledigt hat, verschließt Gott selbst die Arche und die Unwetter brechen los (V. 1882–1898; Gen  7). Als das Wasser schließlich versiegt und das Land wieder bewohnbar ist

459 Siehe auch Kap. IV.7.2. 460 Vgl. Murdoch, 1994, S. 90–91. 461 Siehe Kap. IV.7.2. 462 Zu den genauen Angaben zum Bau der Arche und ihren Abweichungen von der Genesis vgl. u.  a. Teuber, 1899, S. 316–317.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

(V. 1961–1965; Gn 8–9),463 besiedeln es die Überlebenden der Sintflut erneut. Noah jedoch traut dem Frieden nicht ganz (V. 1982–1988).464 Gott gibt ihm daraufhin ein Versprechen, als dessen Zeichen der Regenbogen gelten kann (Gn 9): Dieser soll fortan bei Regen am Himmel erscheinen und den Menschen Zuversicht geben, dass der Regen vergehen und die Menschheit überleben werde (V.  1989–1999). Bereits an früherer Stelle (V. 512–529) wurde im Anegenge darauf hingewiesen, dass Gott seinen zorn nie mehr so gewaltic zeigen werde, wie er es beispielsweise mit der Sintflut getan hat. Eine Ausdeutung des Regenbogens auf die Passion Christi und das Jüngste Gericht hin, wie sie sich etwa in der Wiener Genesis (V. 731–737) findet, gibt es im Anegenge nicht – eine Tendenz, die sich im Vergleich der beiden Texte wiederholt beobachten lässt. Das Zusammenwirken der Trinität scheint im Abschnitt der Sintfluterzählung zurückzutreten hinter die allgemeine Bezeichnung got. Doch wird es nicht zuletzt über die bekannten Epitheta gewaltic, weise und gut präsent gehalten. So ist es beispielsweise got der weise (V. 1849), der Noah befiehlt, seine Söhne und deren Frauen in die Arche zu nehmen (V. 1849–1851), oder die gotes gute (V. 1907), die die Arche durch die Sintflut trägt (V. 1905–1907). Besonders deutlich wird das Zusammenwirken der Trinität, wenn die Überlebenden der Sintflut das Land neu besiedeln: do schuf der hailige christ dem speise unt wist, den da seine gute untz her ernert hete. (V. 1968–1971)

Hatte bisher die guote für die Lebewesen in der Arche gesorgt (ernert, V.  1971), so erschafft nun der hailige christ, der Gottessohn, Nahrung und Wohnung (speise unt wist, V. 1969) für sie. Indem es gerade der Gottessohn ist, der nach der Vernichtung (fast) allen Lebens auf Erden Neues hervorbringt, erinnern die Verse an das ‚Fünftagewerk‘, in dem ebenfalls der hailige christ | allez, daz hiute ist, geschaffen hat (V. 203– 206). Indirekt wird hier folglich eine zweite Schöpfung nach der Sintflut angedeutet.465 Nun beginnen Noah und seine Söhne das Land wieder urbar zu machen, bauen Häuser, Kirchen und Altäre (V. 2004; 2007), und legen schließlich auch einen Weinberg (weingarten, V. 2012) an. Als Cham seinen Vater vom Wein berauscht und mit entblößter Scham schlafend findet, holt er seine Brüder, um die Schande des Vaters

463 Die dazwischen liegenden Verse konzentrieren sich vor allem auf die verschiedenen Versuche Noahs herauszufinden, wie es außerhalb der Arche stünde (V. 1908–1960). Diese Versuche sind hier besonders breit auserzählt, während sie in der Wiener Genesis auf ein Minimum reduziert sind (WG V. 706–710). Vgl. Teuber, 1899, S. 318–319. 464 Vgl. Teuber, 1899, S. 321. 465 Auch in Gn 8,17 gibt es diesen Verweis auf die (erste) Schöpfung (Gn 1,22), wenn Gott sagt: crescite et multiplicamini super eam [die Erde, E.B.].



5 Schöpfung, Sündenfall, Erlösung – Biblische Geschichte im Anegenge 

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öffentlich zu machen. Die Brüder hingegen verhalten sich korrekt, bedecken den Vater und wenden sich ab. Als Noah erwacht und erfährt, was geschehen ist, verflucht er seinen Sohn Cham und macht ihn seinen Brüdern untertan. Im Unterschied zur Wiener Genesis erfolgt die Verfluchung Chams im Anegenge – wie in Genesis 9,24–27 – in wörtlicher Rede (V. 2029–2041). Auch sonst tendiert das Anegenge eher zu wörtlicher Rede als die Wiener Genesis. Während Letztere die Verfluchung Chams dazu nutzt, um auf den nächsten Teil der biblischen Geschichte – die nächste sündhafte Tat des Menschen –, den Turmbau zu Babel, überzuleiten, endet der erste Teil biblischer Geschichte im Anegenge mit der Verfluchung Chams; es folgen die Thematisierung der Unsichtbarkeit Gottes und schließlich das Erlösungsgeschehen.466 In der Forschung wurde immer wieder gefragt, weshalb die biblische Geschichte des Alten Testaments gerade an dieser Stelle endet.467 Die Antwort auf diese Frage scheint einfach: Im Anegenge soll eben vom ‚Anfang‘ berichtet werden  – was sich auch im Titel spiegelt.468 Es lassen sich aber noch weitere Gründe anführen: Um zur Erlösung(shandlung) kommen zu können, muss zunächst ein Menschengeschlecht entstehen, das erlöst werden kann – und dieses wiederum muss vor einer vollständigen Vernichtung durch die Sintflut errettet werden. Wenn das Anegenge also die biblische Geschichte, oder besser: die Geschichte des Menschengeschlechts bis zur Verfluchung Chams führt, sorgt es gleichsam für eine ununterbrochene genealogische Kette, an deren Anfang Gott – der von anegenge also hiezze (V. 319) – steht, der Adam erschafft, welcher seinerseits für die Erbsünde verantwortlich ist, und an deren Ende wiederum Gott steht, der als alter Adam stirbt, um den Menschen von eben dieser Sünde zu befreien. Die Sintflut bildet dabei eine Art Grenze, die überwunden werden muss, um zur Erlösung gelangen zu können, was durch die Reminiszenz an den Schöpfungsbericht verdeutlicht sein könnte. Zum anderen werden vom Sündenfall bis zur Verfluchung Chams verschiedene Sünden des Menschen ausgestellt – Ungehorsam gegen Gottes Gebote, (Bruder-)Mord oder Missachtung der Eltern, um nur einige zu nennen. In der Sintfluterzählung selbst liegt der Fokus daher weniger auf der Ausstellung derartiger Sünden, sondern auf deren Bestrafung. Damit wird zweierlei gezeigt: Zunächst kann die Passage im Anegenge als Gegenentwurf zur Erlösungshandlung gelesen werden: Gott hätte auch alle Menschen bestrafen respektive in der Sünde belassen können, anstatt sie zu erlösen. Zugleich zeigt sich am Beispiel Chams, dass der Mensch immer weiter sündigen wird. Keine Strafe (die Sintflut) und keine Gnadenbezeugung (das Überleben der Sintflut) kann ihn davon abbringen. Die im Streit der Tugenden zunächst angedachte Neuschöpfung eines reinen menschen, der die Sünden der Welt auf sich nehmen und so

466 Da in die Abhandlung zur Unsichtbarkeit Gottes weitere Versatzstücke biblischer Geschichte eingebunden sind, lässt sich allerdings nur bedingt von einem ‚Abbruch‘ sprechen (siehe Kap. IV.7.2). 467 Vgl. beispielsweise Rupp, 1971, S. 231–232; 258. 468 Siehe Kap. IV.2.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

die Menschheit erlösen könnte (V.  2307–2311), wird somit schon hier ad absurdum geführt.469 Der erste Teil der biblischen Geschichte im Anegenge dient damit einerseits der Illustration und Fortführung der im Schöpfungsrat thematisierten und begonnenen Schöpfung und des Zusammenwirkens der Trinität. Zugleich ist er ein indirekter Beleg für die Unumgänglichkeit der Menschwerdung und des Sterbens Gottes als Voraussetzung für die Erlösung des Menschen.470 – Dass der Mensch im Anegenge erlöst werden muss, zeigte schon die Ausrichtung der Schöpfungspassagen auf die Erlösbarkeit des Menschen hin. – Um dies herauszustellen, ist die Erzählung bis zur Verfluchung Chams ausreichend, in ihr ist bereits alles angelegt – Schöpfung und Sündenfall, das sündhafte Verhalten des Menschen, Gottes Zorn und Strafe, aber auch seine Barmherzigkeit: Im Anschluss an die Sintflut verspricht Gott, dass die totale Vernichtung der Schöpfung für ihn zukünftig keine Option mehr darstellen werde. Damit ist die Sintfluterzählung zugleich Voraussetzung und Auftakt für die größte Gnadenbezeugung Gottes, die Menschwerdung des Gottessohnes und seine Passion.

5.2 Teil II: Verkündigung, Geburt und Tod Christi Verkündigung der Geburt Christi Nachdem die biblische Geschichte von der Schöpfung des Menschen bis zur Verfluchung Chams den Ausgangspunkt für den sich anschließenden Erlösungsrat gebildet hat, wird sie knapp vierhundert Verse später mit der Verkündigung an Maria wieder aufgenommen.471 Der zweite Teil der biblischen Geschichte im Anegenge führt dabei – wie der erste Teil den Schöpfungsrat – den Erlösungsrat fort, indem illustriert wird, dass und wie die Beschlüsse der Ratsversammlung umgesetzt werden:472 daz sach von himel daz recht vil dicche her an die erden, daz der mensch gehailet solde werden. (V. 2392–2394)

Im Anschluss an den Tugendstreit wird dessen Ergebnis, die künftige Geburt des Erlösers, auf Erden verkündet.473 Gottes Menschwerdung dient der Erlösung des Men469 Schon beim Sündenfall wurde dies über den blœden laim (V.  1078), aus dem der Mensch geschaffen wurde, angedeutet. 470 Bemerkenswert ist allerdings, dass das Anegenge derartige Deutungen nie selbst vornimmt; sie bleiben stets implizit (vgl. Rupp, 1971, S. 232). 471 Vgl. Teuber, 1899, S. 340–341. 472 Vgl. Teuber, 1899, S. 339. 473 do der tieffe rat fur wart, | do chunte got seine vart | von himel her enerden (V. 2395–2397).



5 Schöpfung, Sündenfall, Erlösung – Biblische Geschichte im Anegenge 

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schen, durch seinen Tod soll die Sünde Adams überwunden werden. Das Leben Jesu auf Erden wird dabei allerdings nicht auserzählt. Anders als beispielsweise in der späteren Erlösung (E V. 3129–3320) oder der Kindheit Jesu (KJ V 775–1088)474 wird die Geburt Christi überhaupt nicht beschrieben. Lediglich resümierend wird festgestellt, daz man den muose legen  | […] in einer chuo baren,  | do sein diu here maget ginas (V. 2522–2525). Fokussiert werden stattdessen einerseits der Englische Gruß und seine Folgen für Maria und Joseph, sowie die Bekanntmachung der Geburt des Erlösers und die Reise der Könige aus dem Morgenland zum Kind. Doch zunächst zur Verkündigung an Maria: Als die Zeit gekommen ist, wird der im Erlösungsrat angedachte mensch (V.  2309–2311)  – eine maget [  ] vorbisehen (V. 2428) – von Gott gleichsam ins Werk gesetzt (hiez er, V. 2428). Zu dieser reinen Jungfrau wird sogleich ein Engel gesandt,475 der gehiez ir heil von got (V. 2438). Der Engel verkündet ihr, dass sie einen Sohn gebären soll, der über alle Reiche herrschen wird (V.  2440–2446). Während der Engel in der Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen, wie in manchen Traditionen üblich, zweimal zu Maria kommt – zunächst am Brunnen, dann in der Kemenate –, wird im Anegenge, analog zu Lc 1,26–38, nur die zweite Verkündigungsszene erzählt. Die Kindheit Jesu bezieht sich dabei besonders auf Is 7,14: du solt enphâhen unt gebern | einen sun, der heizet Emânuel (KJ V. 238  f.). Das Anegenge hingegen paraphrasiert die Verkündigung nach Lukas (Lc 1,28; 42), was an den Anfang des Mariengebetes ‚Ave Maria‘ erinnert: „hailic wis du, frowe Maria. volliu genaden du bist, unser herre mit dir ist. uber elliu wip soltu gesegent sein unt daz wucher des bouches dein. du solt bern ein chint, des diu reich elliu sint.“ (V. 2440–2446)

Diese Reminiszenz an das ‚Ave Maria‘ ist die einzige Form eines Marienpreises im Anegenge. Es finden sich weder Symbole, Bilder oder Epitheta, noch andere Lobpreisungen, wie sie aus anderen mariologischen Kontexten bekannt sind.476 Maria erschrickt sehr (erchom si vi harte, V.  2448) über die Worte des Engels und äußert ihre Verwunderung darüber, wie sie ein Kind empfangen solle, wenn sie nie einen Mann erchande noch je erchennen wolle (V. 2447–2453). Der Engel antwortet ihr:

474 Vgl. u.  a. Masser, 1969. 475 Wie für die Darstellung des Lebens Jesu im Anegenge symptomatisch scheint hier keine Zeit zwischen Gottes heizen und seinem senden zu liegen. 476 Vgl. u.  a. Salzer, 1886.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

„du traist den waren gotes sun, von dem hailigem gaiste enphæhestun. daz chint sol haizzen Jesus.“ (V. 2455–2457)

Die Kindheit Jesu betont an dieser Stelle, analog zu Lc 1,35, die noch bevorstehende Empfängnis durch den Heiligen Geist: der heilige geist chumt ze dir | unt beschetwet dich des obristen chraft. | alsô wirstu berhaft (KJ V. 250–252). Im Anegenge scheint hingegen – wie schon für die Schöpfung beobachtet – ein performativer Sprechakt vorzuliegen, denn im enphæhestun (V. 2456), das sowohl präsentische als auch futurische Bedeutung haben kann, ist die Empfängnis zugleich angekündigt und bereits vollzogen: Im Englischen Gruß empfängt Maria den Gottessohn durch den Heiligen Geist und ist somit gewissermaßen zugleich empfangend und bereits schwanger, was sich auch in der Formulierung du traist (V. 2455) zeigt. des antwurt im diu maget sus: „er ist mein herre unt ich sein diu. doch bin ich vil unwirdigiu des, daz du mir vil armer sagest. nu gescheh ez, als du gesprochen habest.“ (V. 2458–2462)

Maria beugt sich dem göttlichen Willen. Die auf den ersten Blick abrupt erscheinende Antwort Marias entspricht ihrer Reaktion im Evangelium nach Lukas (Lc 1,38). In der Selbstbezeichnung Marias als diu Gottes, die auch die Kindheit Jesu hat,477 drückt sich zudem ihre Gläubigkeit und Fügsamkeit aus. Im Anschluss an die Verkündigungsszene geht das Anegenge auf das Verhältnis von Maria und Joseph ein. Während in der Kindheit Jesu auch Marias Jugend und das Zustandekommen ihrer Verbindung mit Joseph (in unterschiedlichem Umfang) thematisiert werden, steht im Anegenge gerade der dort ausgesparte Erklärungsversuch im Vordergrund,478 weshalb Maria, die künftige Mutter Gottes, einem Mann versprochen sei. Ausgangspunkt hierfür ist die Reaktion Josephs auf die Schwangerschaft Mariens: Als er diese feststellt, will er sie – wenn auch nicht öffentlich, sondern heimlich, wie eigens betont wird – verlassen (V. 2464–2467; Mt 1,18–25). Gott hat allerdings andere Pläne mit Joseph, denn: ane sache solt ez nicht geschehen, daz der gotes sun wære im ze einer muoter næme eine maget, diu bevestenet was. (V. 2472–2475)

477 ich bin sîn diu unt vil bereit (KJ V. 258). 478 Siehe auch Kap. IV.8.



5 Schöpfung, Sündenfall, Erlösung – Biblische Geschichte im Anegenge 

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Die darauffolgende Erklärung wird in mehrfacher Hinsicht motiviert: Zum einen war es ein Rechtsgebrauch der alten e, dass einem ieglichem weibe was der tot ertailet, diu wurt erfunden mit so gitanen sunden, da von möchte chomen chint ane chonlichiu dinc. (V. 2480–2484)

Nach geltendem Recht hätte die schwangere Maria als unverheiratete Frau gesteinigt werden müssen. Die Rolle des vermeintlich legitimen Kindsvaters Joseph umfasst dabei nicht nur den Schutz Marias vor der Hinrichtung, sondern auch den des Christuskindes auf der Flucht nach Ägypten (V. 2489–2499). Zudem – und dieser Grund ist der entscheidende –, wählt Gott eine verlobte oder verheiratete Frau, dar umbe, daz si479 dester baz | dem tivel möchte verheln seine vart (V. 2476  f.). Die ansonsten auffällige – und durch die Steinigung womöglich gar hinfällige – jungfräuliche Geburt kann so unter unauffällig(er)en Bedingungen stattfinden. Was insofern entscheidend ist, als damit eine Voraussetzung für die Erlösung erfüllt wird: Hatte sich der Teufel in Gestalt einer Schlange heimlich in das Paradies geschlichen, um den Menschen zu verführen, so kommt auch der Gottessohn (zunächst) unerkannt auf die Welt, um den Menschen zu erlösen.480 Das Anegenge trifft folglich eine Auswahl aus den beispielsweise aus der Legenda Aurea481 bekannten Legitimationsgründen für die Verbindung zwischen Joseph und Maria und konzentriert sich dadurch auf die für den weiteren Textverlauf relevanten Argumente. Mittels der Reflexionen über die Verbindung von Maria und Joseph werden mit dem Verweis auf Herodes oder die Flucht nach Ägypten überdies einzelne Stationen der Kindheit Jesu angeschnitten, die ansonsten nicht Teil der Darstellung sind. Im Vergleich mit der Kindheit Jesu zeigt sich zudem, dass einzelne Elemente, die in der Kindheit enthalten sind, dem Anegenge fehlen und vice versa. Christi Geburt und ihre Bekanntmachung Joseph übernimmt die ihm von Gott zugedachte Rolle und kümmert sich um Maria, unz diu maget guote | des chindes solte genesen (V. 2518  f.). Die eigentliche Geburt wird, wie gesagt, nicht erzählt, lediglich deren Ärmlichkeit (ermechlichez wesen, V. 2520) wird im Verweis auf die Krippe (chuo baren, V. 2524)482 angedeutet. Stattdessen wird 479 Neuschäfer konjiziert dieses handschriftliche si, mit dem wohl Maria gemeint ist, in er, das sich auf Christus selbst bezieht. 480 Siehe Kap. IV.6. 481 Vgl. Benz, 1925, Sp. 325. 482 Zu chuo baren oder sweine bacht vgl. Teuber, 1899, S. 343.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

die Krippe, nun als der sweine bacht (V. 2528) bezeichnet, weiter thematisiert,483 um von dort aus auf die Verkündigung der Geburt Christi an die Hirten und Heiden überzuleiten. Den vihierten (V. 2534), derentwegen der Gottessohn Mensch geworden ist, und aus deren Geschlecht er stammt (V. 2254  f.), verkündet die Ankunft des Erlösers (ein hailant wære | geborn ze Bethlehem, V. 2536  f.) ein redlicher bote (V. 2551).484 Die Könige aus dem Morgenland (den drin herren, | die da chunige waren, V. 2563  f.) erfahren sie hingegen von einem vil unredlichem dinge,  | daz nicht hete stimme (V.  2567  f.). Als Begründung wird die religiöse Orientierung beider Parteien angeführt: Die Hirten seien juden, die von gote | ein michel tail heten vernomen (V. 2552  f.), die Könige hingegen enwessen, waz got was (V. 2571).485 – Zudem lebten sie wie das Vieh (dem vihe [ ] geleich, V. 2570), was die heidnischen Könige subtil den gläubigen Hirten unterordnet, da diese es sind, die das Vieh bewachen und beschützen. –486 Dass diese Angaben korrekt sind, belegt das Ich mit einem Verweis auf das Evangelium nach Matthäus: Waz daz zaichen wære, daz die chunige mære hin tze dem house laitte unt in daz chint zaigte, daz hat uns geschriben da Matheus ewangelista an seinen hailigen buchstaben. (V. 2577–2583)

In erweiternder Anlehnung an das Evangelium nach Matthäus487 wird im Anegenge nun von den Königen aus dem ostern reiche (V.  2588; ab oriente, Mt  2,1) berichtet, denen bei der Beobachtung der Gestirne ein liechter sterne (V. 2587; stellam, Mt 2,2) 483 Dass sich der Sohn Gottes in einen Schweinetrog legen lässt, wird als wunderlich (2526) bezeichnet und leitet über auf die Frage, wer gesagt habe, dass sie ihn nicht fressen würden. Das handschriftliche im (V. 2530) impliziert dabei, dass es Christus selbst ist, dem dies versichert werden müsse. Diese Lesart scheint unwahrscheinlich, ist doch Christus nicht nur Mensch, sondern immer auch ganzer Gott. Neuschäfer konjiziert das im daher zu in, was einen sowohl minimalen als auch passenden Eingriff darstellt: Sieht man das in auf die Hirten und Könige bezogen, bildet die Frage die Überleitung auf die Verkündigung der Geburt des Gottessohnes. Dazu passen auch die nachfolgenden Ausführungen, wie die Hirten und die Könige aus dem Morgenland von der Geburt des Erlösers erfahren hätten. Vgl. auch Teuber, 1899, S. 343, der diese Verse für eine „selbständige erfindung des dichters“ hält; Birkhan, 2002, S. 77–78, Anm. 70 484 Vgl. Teuber, 1899, S. 344; Rupp, 1971, S. 236–237. 485 Das Verhältnis von juden, heiden und Christen ist auch in den anderen Texten des Cod. Vind 2696 wiederholt mehr oder weniger zentrales Thema, so beispielsweise in der Kindheit Jesu, der Urstende oder dem Jüdel (siehe Kap. IV.8). 486 Zugleich wird hier ein spannungsreiches Hierarchiegeflecht entworfen: Während Viehhirten über Könige gesetzt werden, die selbst wie Vieh leben, muss der Gottessohn, der Mächtigste und Erhabenste von allen, in einem Viehtrog schlafen. 487 Vgl. Teuber, 1899, S. 345.



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erschienen sei. Da sie die Sterndeutung beherrschen und so die Zukunft vorhersehen können (V. 2592–2595),488 können sie den Stern als Zeichen für die Geburt eines Königs deuten, der wær uber al die welt erchorn (V. 2598). Die Fähigkeit der Sternenkunde widerspricht zunächst der vorherigen Aussage, dass sie nicht sinnes haben wolden (V. 2573). Doch scheint sich sin – hier verstanden als „denkender Geist, Verstand“489 – darauf zu beziehen, dass sie enwessen, waz got was, nicht aber auf eine allgemeine Denk- und Verständnisfähigkeit.490 Zudem wird den Heiden häufig eine gewisse astronomische Kompetenz zugesprochen, prominent besonders im Parzival Wolframs von Eschenbach oder im Wartburgkrieg.491 Ihrer Sterndeutung gemäß folgen die Könige aus dem Morgenland dem unredelichem dinge, bis sie nach Jerusalem gelangen. Dort berichten sie dem König Herodes von ihren Erkenntnissen. Alles weitere – der Kindermord, die Flucht nach Ägypten – werden in der Reaktion des Herodes zwar angedeutet (ein vil ubel andacht | het der chunic Herodes, V. 2618  f.), aber nicht erzählt.492 Der Tod Christi: Versuchung, Kreuzigung, Descensus, Himmelfahrt Die Strategie, durch Andeutungen Teile des Lebens Jesu einzuspielen, die ansonsten nicht erzählt werden, scheint symptomatisch für den zweiten Teil der bibelepischen Passagen im Anegenge zu sein. So wird im Anschluss an Epiphanias die übrige Lebenszeit Christi auf Erden gleichsam im Zeitraffer zusammengefasst:493 Swaz er wunders da unt ouch seit anderswa in drin unt drizec jaren begie, do er was mensch hie, unt in sechs unt zwainzec wochen, daz ist uns allen offen (V. 2657–2662)

Jesu Leben auf Erden muss nicht eigens auserzählt werden, da es allgemein bekannt ist, wenige Stichpunkte genügen, um es in Erinnerung zu rufen.494 Stattdessen liegt 488 Dies steht so allerdings nicht mehr bei Matthäus; dort heißt es schlicht magi ab oriente (Mt 2,1). 489 „sin,  stm.“,  Mittelhochdeutsches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im  Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www. woerterbuchnetz.de/BMZ?lemid=S03146, abgerufen am 12.03.2022. 490 Vgl. Teuber, 1899, S. 345. 491 Vgl. ausführlicher Hallmann, 2015, S. 167–168, mit weiteren Textverweisen. 492 Dagegen stellen diese Episoden einen großen Teil der Kindheit Jesu dar (KJ V. 1303–2530; siehe auch Kap. IV.8). 493 Vgl. Teuber, 1899, S. 348. 494 Mit dem Verweis auf die propheten (V.  2665) werden beispielsweise alle Vorausdeutungen auf den Erlöser resümiert (siehe auch Kap. IV.7.2). Überdies kann das Leben Jesu in zwei anderen Tex-

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

der Fokus ganz auf der Wiedergutmachung des Sündenfalls: gegen einer jeglichen sunde er gidahte | einer ebengeleicher buozze (V. 2670  f.), wobei das Leben und Sterben Jesu anzitiert und zum Sündenfall in Bezug gesetzt wird. Ausführlicher werden jedoch auch hier nur die Verführungsversuche des Teufels behandelt.495 Im Anschluss an seine fruchtlosen Verführungsversuche an Gottes Sohn sorgt der Teufel dafür, dass Christus wie ein gemeiner Dieb (diube, V. 3073) – oder der Schächer – ans Kreuz geschlagen wird. Der Kreuzestod selbst wird zwar nicht erzählt, doch kann man den Vorgang gleichsam gefiltert durch die Rede des Teufels, der in der Hölle auf die Ankunft des Gekreuzigten wartet, nachvollziehen: do daz der tivel geriet, daz man als einen diep den geweihten gotes sun erhie, do fur er hin ze helle unt hiez die, daz si sich uf tæte frœlichen unt drate. si solte den enphahen, unt er sæhe in hahen, der sich da hiez den gotes sun. si solt ez frœlichen tun unt er het ez giraten mit den, die ez da taten, unt si solt in immer quelen (V. 3157–3169)

Bemerkenswert ist dabei nicht nur die Bedeutung, die dem Teufel in dieser Form der Wiedergabe des Kreuzigungsgeschehens zukommt, sondern auch des Teufels Adressat: Seine Worte richten sich an die Hölle, der er die Anweisung erteilt, sich zu öffnen, um den Gekreuzigten zu empfangen. Die Hölle ist personifiziert, sie kann aktiv (uf tuon, V. 3161; enphahen, 3163) und allem Anschein nach auch ‚emotional‘ (frœlichen tun, V. 3166) handeln. Dies ist nicht ungewöhlich, bereits im Evangelium Nicodemi496 spricht der Teufel mit Inferus, der personifizierten Hölle, während er auf die Ankunft des Gekreuzigten wartet.497 Während sich der Teufel noch der Hinrichtung des Gekreuzigten rühmt und der Hölle Anweisungen zu dessen fortwährender Bestrafung erteilt (immer quelen, V. 3169), widerspricht ihm die Hölle.

ten der Sammelhandschrift, der Kindheit Jesu und der Urstende Konrads von Heimesfurt rezipiert werden. 495 Siehe Kap. IV.6. 496 von Tischendorf, 1976, S. 389–416; 417–432. 497 Vgl. zum Descensus Christi u.  a. Rupp, 1971, 240; Petersen, 2004.



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des antwurte im diu helle: „ez wæne anders geschiht. zwar ich sich ein michel liecht scheinen vor der helle. ich wæne, ez her welle. an zweivel, du bist bitrogen […].“ (V. 1370–1375)

Auch die Hölle scheint den Kreuzestod Christi zu beobachten, sie bemerkt sogar noch vor dem Teufel statt einer verlorenen Seele ein strahlendes Licht (michel liecht, V. 1373) vor sich, vor der helle (V. 1374). Dieses Licht identifiziert sie mit dem Schöpfer (V. 3176–3182),498 der die Insassen der Hölle, wie es prophezeit ist (die weissagen | die jehen, V. 3180  f.), erlösen wolle (underwegen icht liezze, V. 3182).499 Doch wird der Descensus nicht von Christus alleine vorgenommen, sondern von der gesamten Trinität:500 do chom der vater unt der sun, do si uns genade wolden tun, unt der hailige gaist den armen ze vollaist, die da waren in dem ewigem verlor, unt zestiezen daz tor, daz ez allez zebrast. (V. 3183–3189)

Auch im letzten Teil des Anegenge, in dem die Trinität gleichsam unter Christus subsumiert ist, wird ihre Dreiheit in der Einheit nochmals betont: Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist zerschlagen gemeinsam das Tor zur Hölle und erlösen damit die dort gefangenen Seelen.501 Ein Kampf mit dem Teufel oder der damit verbundene 498 Vers 3176 ist (durch Abrieb?) beschädigt und unleserlich. Aus dem Kontext lässt sich jedoch erschließen, dass in irgendeiner Form Gott bezeichnet sein muss. Neuschäfer konjiziert schepher. 499 Vgl. u.  a. Petersen, 2004, S. 64. In den Worten der Hölle (ich hœre die ir † ſch † | die wir da heten in gitan, V. 3176  f.) könnte dabei das Gespräch der Verdammten (Even unt Adam | unt alle die weissagen, V. 3178  f.) zusammengefasst sein, das in der Urstende (U V. 1693–2116) breit ausgeführt ist. Vgl. dazu u.  a. Ukena-Best, 2012. 500 Vgl. zum Descensus Christi mit Unterstützung von Vater und Heiligem Geist u.  a. Schwietering 1931/41, S. 58; von Tischendorf, 1976, S. 389–416; Rupp, 1971, S. 250; Petersen, 2004, S. 76, Anm. 48. Teuber, 1899, S. 359, nimmt hingegen an, dass der Descensus der ganzen Trinität die „eigene erfindung“ des Dichters sei. 501 Auch bei Walther von der Vogelweide (L 15,27–33; zitiert wird nach: Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausg. Karl Lachmanns. Hg. von Christoph Cormeau. Berlin u.  a. 1996) begleiten der Vater und der Heilige Geist den Sohn in die Hölle: Hinnen vuor der sun zer helle, | […], des was ie der vater geselle, | und der geist. Vgl. auch Rupp, 1971, S. 250, Anm. 101; Egert, 1973, S. 125–126.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Sieg wird allerdings nicht eigens ausgestellt.502 Stattdessen wird der Teufel  – nun wieder von einem singularen er – umstandslos gebunden (den hellegraven er gibant, V. 3193), die Gerechten (swaz er der rechten dar inne vant, V. 3194) werden, wohl von Christus, mit samt im in sein reiche (V. 3196) geführt.503 dar nach am dritem tage | do erstuonde er von dem grabe (V. 3197  f.).

5.3 Fazit Im Anegenge wird grosso modo die biblische Geschichte von der Schöpfung bis zur Himmelfahrt Christi erzählt. Doch ist das Anegenge deshalb kein Bibelepos. Es trifft vielmehr eine Auswahl an biblischen Episoden und ordnet diese in zwei Blöcken, je im Anschluss an eine Ratsszene, an: Auf den Schöpfungsrat folgen die Erschaffung des Menschen, sein Sündenfall und das Leben danach. Dieser erste Teil endet mit der Verfluchung Chams im Anschluss an die Sintflut. Der zweite Teil folgt auf den Erlösungsrat und enthält Ausschnitte aus dem Leben Jesu: die Verkündigung der Empfängnis Christi, die Bekanntgabe der Geburt des Erlösers. Die Bibel selbst, vor allem die Genesis und die Evangelien nach Lukas und Matthäus, dienen dabei der Orientierung. Obwohl sich auf den ersten Blick häufig eine beinahe wörtliche Reminiszenz zu zeigen scheint, wird der Bibeltext zumeist durch Kürzungen oder Ergänzungen, Umstellungen, Schwerpunkverlagerungen, Ausschmückungen und vieles mehr abgewandelt und bearbeitet.504 Besonders deutlich zeigt sich dies im zweiten Teil der biblischen Geschichte im Anegenge: Neben den Ereignissen im Rahmen der Geburt Christi – die Grundvoraussetzung der Erlösung – werden keine weiteren Stationen des Lebens Jesu auserzählt, sondern lediglich angedeutet. Nicht einmal die Passion, das Sterben und Auferstehen Jesu, erfährt eine ausführliche Darstellung. Auffällig ist dabei, dass wiederholt solche Episoden äußerst knapp erzählt oder sogar übergangen werden, die in anderen Texten der Sammelhandschrift einen größeren Raum einnehmen: Christi Geburt, Flucht nach Ägypten (Kindheit Jesu); Christi Kampf in der Hölle (Urstende) u.  a. Zugleich lassen sich Parallelen zu wieder anderen Texten der Sammlung finden, wie beispielsweise die Heidenthematik (Jüdel; Legenden) oder die Sünde (Gemeinez leben; Warnung). Auf Vollständigkeit oder Ausführlichkeit sind die bibelepischen Passagen des Anegenge damit nicht angelegt. Stattdessen wird nur das erzählt, was für den unmit-

502 Anders in der Urstende (U V. 2021–2055; in Albers Tnugdalus, der im Cod. Vind. 2696 direkt auf das Anegenge folgt, werden die Hölle und ihre Strafen eindrucksvoll geschildert. Vgl. auch UkenaBest, 2012, S. 325. 503 Das fuort er frœleiche (V. 3195) kann man dabei als Korrespondenz zum frœlichen tun (V. 3166) der helle sehen. 504 Vgl. Lieb, 2009, S. 44.



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telbaren Fortgang der Heilsgeschichte vom Sündenfall zur Erlösung notwendig ist. Die bibelepischen Passagen können dabei sowohl als Illustration des in den jeweiligen Ratsszenen thematisierten Heilsplans Gottes gesehen werden, wie als dessen Durchführung und Bezeugung. Zudem kann das im göttlichen denchen Behandelte durch weiter(führend)e Details angereichert und vertieft werden. – Auch wenn die bibel­ epischen Passagen im Anegenge stärker erzählend sind als andere Textteile, finden sich doch immer auch erklärende und reflektierende Momente,505 die die Möglichkeit bieten, Probleme, Fragen oder Unstimmigkeiten zu diskutieren, sowie Gesagtes auszudeuten und zu erklären. Zentral ist in den bibelepischen Episoden dabei vor allem Gottes Wille zur Erlösung und sein sorgfältig angelegter Heilsplan, der sich bereits bei der Erschaffung des Menschen zeigt. Sündenfall und Erlösung, Anfang und Zielpunkt, werden damit nicht nur im Heilsdenken Gottes, sondern auch im Heilshandeln aufeinander bezogen. Eindrucksvoll zeigt sich dies im Motiv der Sündenwaage, das im nächsten Kapitel behandelt werden soll.

6 Die Sündenwaage – Zwischen Makro- und Mikrostruktur Die Passage zur Sündenwaage506 steht im Anegenge zwischen Epiphanias und dem Kreuzestod Christi, also im zweiten Block biblischer Erzählungen zum Leben Jesu. Dieses wird jedoch, obwohl Christus eindeutig im Fokus steht, kaum auserzählt. Die wichtigsten Stationen werden lediglich angedeutet, die weitere Geschichte in wenigen Worten zusammengefasst. Dabei wird insbesondere die Rechtmäßigkeit seines Lebens betont: dem rechte gieng er wol nach, untz er seiniu verlorniu schaff507 wol wider haim brachte. (V. 2667–2669)

Der Begriff des rechts bildet gleichsam das Bindeglied, um von der Geburt Jesu auf das Erlösungsgeschehen überzuleiten. Hierfür wird im Anegenge eben das Motiv der Sündenwaage genutzt. Auf dieser will der Gottessohn, um die Rechtmäßigkeit der

505 Rupp, 1971, S. 230, bezeichnet das Anegenge zumindest im Anschluss an den Sündenfall als „Erzählung mit Erklärenden Einschüben.“ 506 Siehe u.  a. Ohly, 1994, S. 262–263; Quast, 2020, S. 54, Anm. 24. Bezüge ließen sich auch zur Bibel, u.  a. Rm 5,19, herstellen. Ein ähnlicher Gedanke findet sich beispielsweise in der deutlich späteren Goldenen Schmiede Konrads von Würzburg: daz din [Marias] gebeneditiu fruht  | den aphel ie moht überwegen (GS V. 392  f.). 507 Vgl. zu Erlösung und Gleichnis vom verlornen Schaf u.  a. Petersen, 2004, S. 70–71.

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Erlösung zu verdeutlichen, alle Sünden des Menschen abwiegen und durch ein entsprechendes Gegengewicht kompensieren:508 gegen einer jeglichen sunde er gidahte einer ebengeleicher buzze, die bittere gegen der suzze, die er leiden solde. (V. 2670–2673)

Auf diese Verse folgt allerdings nicht der Wägeprozess selbst, sondern zunächst eine Rekapitulation des Sündenfalls. Was auf den ersten Blick redundant, wenn nicht gar überflüssig anmutet – immerhin wurde das Sündenfallgeschehen im Anegenge ausführlich im ersten Block biblischer Erzählungen thematisiert  –, ist eigentlich Strategie: Denn indem in mehreren rekapitulierenden Wiederholungen Sündenfall und Erlösung kontrastiv gegeneinandergestellt werden, wird die Rechtmäßigkeit der Rettung des Menschen umso deutlicher vorgeführt und bewiesen. Zugleich werden alle Fäden des Anegenge im Bild der Sündenwaage wieder aufgegriffen und zusammengeführt. Wie dies im Einzelnen funktioniert, soll im Folgenden gezeigt werden. Zu Beginn der Passage ruft das Sprecher-Ich den status quo des Menschen, die ewige Verdammnis (ewige lait, V. 2687), in Erinnerung und rekapituliert die Ursache, aufgrund derer die Erlösung überhaupt erst notwendig wird: die Verführung Evas durch den Teufel (do der tivel Even vellen wolde, V. 2674).509 Ihr Vergehen wird, wie an anderer Stelle Luzifers hohvart (V. 268), als superbia gedeutet,510 als ein unrechtmäßiges Zu-viel-Wollen (do si do mer | selbe gewinnen wolten, | denne si haben solten, V. 2682– 2684), wodurch der Mensch auf ewig in die Fänge des Teufels geraten sei (versalt | in des tivels gewalt, V. 2685  f.). Anschließend wird der Lapsus aufgeschlüsselt in die einzelnen Sünden, die dabei begangen wurden:511 Habgier (geitichait, V. 2688), Hochmut (ubermute, V. 2689), übermäßige Ruhmsucht (uppiger gute, V. 2690)512, Ungehorsam (V. 2691), gebrochener Eid (mainaide, V. 2695), ein sacrilegium (V. 2693), schlicht eine maintat (V. 2710). Deutlich klingen hier Teile der sieben Todsünden (houbthafte sunde, V. 2716)513 an, doch werden ira und accedia nicht explizit genannt.514 invidia zeigt sich

508 Vgl. Rupp, 1971, S. 237. Fechter, 1968, S. 255, bezeichnet die Erlösung als „Rechtsakt“. 509 Die gestaffelte Verführung erst Evas durch die Schlange und dann Adams durch Eva, die der erste Teil der biblischen Geschichte im Anegenge bot (siehe Kap. IV.5), wird hier allenfalls angedeutet. 510 Vgl. Engelen, 1973, S. 357, Anm. 20; Lieb, 2009, S. 47. 511 Vgl. Rupp, 1971, S. 237. Sünden im Übrigen, vor denen (unter anderem) auch im voranstehenden Gemeinen leben gewarnt wurde (vgl. Brüggen, 2000, S. 40). Vgl. auch Murdoch, 1972, S. 81–88. Vgl. allg. Goetz, 2013, S. 14–15. 512 Zum Begriff siehe u.  a. Kelle, 1876, S. 145; Gottschall, 1992, S. 63. 513 Vgl. zu den houbthaften sünden im Anegenge auch Gottschall, 1992, S. 62–66. 514 Gottschall, 1992, S. 65, geht davon aus, dass das Anegenge hier und im Folgenden „offensichtlich verschiedene ‚Sündenreihen‘ mischt“.



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im neit (V. 1339), aufgrund dessen Eva Adam verführt; gula scheint mit der chelgitic­ hait (V. 2999) gemeint zu sein.515 Die Wiederholung dieses ersten Teils der biblischen Geschichte im Anegenge entspricht demnach nicht demselben bibelepischen Erzählen wie zuvor. Vielmehr wird die Paraphrase angereichert und neu perspektiviert auf die Sünden hin, die der Mensch beim Lapsus begangen hat. Die zunächst redundant anmutende Zusammenfassung des Sündenfallgeschehens hat somit ihren Platz im Textgefüge: Durch die Variation, die Einführung der Sünden, wird zugleich das Geschehen erinnert und die Grundlage für die anschließende Zusammenschau von Sündenfall und Erlösung gelegt.516 Die einzelnen Sünden werden dabei zunächst genannt und dann – in Auswahl – näher beschrieben.517 So wird beispielsweise der Bruch des Schwures Gottes Gebot zu halten als michel uberhuor (V. 2751), als Ehebruch, bezeichnet:518 Die Sünde wird mit einem (weltlichen) Rechtsterminus versehen, der in die Nähe des triuwe-Bruchs gerückt werden kann. Zudem kann uberhour auf die minne Gottes zum Menschen bezogen sein, die letzterer mit dem Sündenfall von sich gewiesen hat: Adam und Eva tauschen die reine, geistliche minne (zu Gott) gegen die falsche, fleischliche minne (zu einander und zum Teufel). Trotz all dieser Sünden hat Gott Erbarmen mit dem Leid des Menschen:519 wie groz diu schulde wære, doch erbarmte unserm schephære unser ewigez lait. (V. 2787–2789)

Gottes Erbarmen bildet den Auftakt zu einer zweiten Rekapitulation. Über das Verb erbarmen (V.  2788) wird der Streit der Tugenden im Erlösungsrat aufgerufen. Das Mitleid mit dem Menschen wird über schephære Gott Vater zugeordnet.  – Subtil werden somit schon hier Schöpfung und Erlösung verknüpft. – Die Rekurrenz auf den Tugendstreit wird im Folgenden noch vertieft: Gott habe zwar erbarmde, doch wolle er deswegen weder warhait und recht noch dem Teufel Gewalt antun (nicht schenden,

515 Vgl. „kelgîtecheit,  stf.“,  Mittelhochdeutsches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https:// www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemid=G00865, abgerufen am 11.03.2022. Für Kelle, 1876, S. 145, hingegen entspricht gula der uppige[n] guote (V. 2690). Doch sind in jeder Todsünde alle anderen Sünden implizit enthalten (vgl. Rupp, 1971, S. 237). 516 Anders de Boor, 1960, S. 175. 517 Siehe auch Gottschall, 1992, S. 63–64. 518 Der Treuebruch des Menschen gegenüber Gott wird auch in der Bibel wiederholt als Ehebruch bezeichnet (vgl. u.  a. Ier 9,2). Als Bruch einer Minnebeziehung bzw. als Wahl eines falschen Minnepartners ließen sich auch die Verse 2739–2750 lesen. Vgl. mit anderer Ausrichtung Northcott, 1964, S. 169–173. 519 Vgl. Rupp, 1971, S. 237–238.

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V. 2791; nicht giwalt tuon, V. 2793). Damit wird das innergöttliche Dilemma des Tugendstreites zusammengefasst und ebenfalls neu perspektiviert. Denn nun sind es nicht mehr die Tugenden, die die Wahrung ihrer Wesensheit fordern, sondern Gott selbst will (enwolde er, V. 2790) keine seiner Qualitäten übergehen. Erneut wird das Wollen Gottes zum Auslöser:520 Die erbarmde, die den Erlösungsrat einberufen hat, und der waistuom, der die Erlösung ‚umsetzen‘ will, erdenken eine wage (V. 2795), auf der die Schuld des Menschen abgewogen werden soll (V. 2796–2768). Die Sündenwaage versinnbildlicht dabei was im Erlösungsrat mittels des Streits der Tugenden Gottes ausgehandelt wurde.521 Doch geht es nicht so sehr um die Darstellung des Innergöttlichen Dilemmas, als um die konkrete Umsetzung der Erlösung. Auch in der Erlösung wird das Motiv der Sündenwaage mit dem Töchterstreit verknüpft, funktioniert dort allerdings anders:522 Soll die Sündenwaage im Anegenge die Rechtmäßigkeit der Erlösung des Menschen vorführen, versinnbildlicht sie in der Erlösung den Töchterstreit selbst. Demgemäß sind hier alle Töchter am Wägevorgang beteiligt, während im Anegenge nur recht und erbarmde mit den Appropriationen weishait und guote die Waage bedienen. Die Rollenverteilung in der Erlösung entspricht der des Töchterstreits: Auf der einen Seite, in der einen Waagschale, befinden sich Gerechtigkeit und Wahrheit. Ihre Argumente wiegen so schwer, dass die Waagschale nach unten gedrückt wird (hine zû dal, E V. 877). Das Übergewicht von Wahrheit und Gerechtigkeit wird noch zusätzlich betont, indem sie gleichsam den Rahmen des SündenwaageExkurses bilden.523 des mûz daz mensche jâmers plegen (E V. 870). Die einzige Chance, die der Mensch hat, ist ob vrouwe Barmeherzekeit | daz gepunde wider leit | und ir hôchgewihte | die wâgen wider rihte (E V. 873–876). Nur wenn es der Barmherzigkeit gelingt, die Waage wieder ins Lot zu bringen, kann der Mensch wider an die vroude kumen (E V. 887). Vride möge dazu den rât finden (E V. 882).524 Auf welche Weise Barmherzigkeit und Friede die Waage in der Erlösung ausgleichen sollen, wird an dieser Stelle nicht präzisiert. Erst knapp 150 Verse später erklärt der Gottessohn: Sus wil ich selbe an lîbe | wesen daz gewihte, | daz die wâgen wider rihte (E V. 1016–1018).525 Das Anegenge hingegen führt das Aufwiegen Schritt für Schritt vor: Das Bild der Sündenwaage wird verknüpft mit der Zusammenschau von Sündenfall und Erlösung, denn gegen jede sündhafte Handlung beim Lapsus will Gott eine erlösende setzen (geleichez tragen, V.  2812). In die eine Waagschale werden die zuvor aufgezählten Sünden,526 elliu diu schulde, | da mit si verluren gotes hulde (V. 2797  f.), gelegt; dazu

520 Über den Willen Gottes wird zugleich nochmals Schöpfung und Erlösung parallelisiert. 521 Vgl. Schwietering, 1931/41, S. 57–58. 522 Vgl. u.  a. Sherwood-Smith, 2003, S. 221–222; Quast, 2020, S. 53–54. 523 Gerehtekeit hât vorgewegen (E V. 869) […] die Wârheit hât gewegen nider (E V. 892). 524 Vgl. zum funt in der Erlösung Quast, 2020, S. 52–53. 525 Siehe auch Lechtermann, 2020, S. 134–135. Zu einer weiteren Parallele siehe Dᶏbrówka, 2012, S. 48–52. 526 Vgl. Murdoch, 1972, S. 85–88.



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setzt sich das recht (V. 2799), um die Rechtmäßigkeit des Wägevorgangs zu garantieren. Diese Seite wiegt damit so schwer (was daz unrecht so swære, V. 2803), dass sich die Waagschale nicht bewegen würde, selbst wenn man allez guot […], | daz ie iemen getet (V. 2804  f.), dagegen aufwiegen würde. Erst als sich Gott selbst auf die Waage legt (unze sich got dar uf muse legen, V. 2808), kann der Ausgleich erzielt werden. Dieser Ausgleich wird allerdings nicht sofort vorgenommen. Wie der Sündenfall in zwei Stufen erfolgte,527 so wird auch die Erlösung in zwei Ansätzen ausgeführt: Gegen die vom Teufel verführte Eva wird zunächst Maria in die Waagschale geworfen. Diese Zusammenschau beginnt gleichsam mit einem Fazit:528 Daz chom von einem weibe, diu wart mit neide von dem tivel bistanden. wie si si geschanden, des wurden si ze rate, swer si also drate mochte geschunden ze der obristen sunden, diu da haizzet ubermuot. […] einen bœsen gaist si sanden in daz paradeise, der chom geslichen leise zu der getlosen. (V. 2817–2833)

Die Verse machen deutlich, dass nicht nur Schöpfung und Erlösung, sondern auch der Sündenfall Ergebnis einer Beratung ist. In letzterem Falle handelt es sich jedoch nicht um einen göttlichen, sondern um einen teuflischen Ratsschluss: Ohne näher auszuführen, wer mit si (V. 2820; 2821; 2030) gemeint ist, beraten dämonische Wesen darüber, wie sie Adam und Eva verführen könnten (wie si si geschanden, | des wurden si ze rate, V. 2820  f.) und wer diese Aufgabe erledigen solle (swer si also drate | mochte geschunden, V.  2822  f.). Diesbezüglich bietet sich ein Blick auf einen anderen Text der Sammelhandschrift 2696 an. In St. Katharinen Marter finden sich ein vergleichbares Teufelsconsilium,529 allerdings wird hier deutlich gesagt, um wen es sich dabei handelt: daz sint, die Even betrugen, die tivel uz der hellen, Lucifer unt seine gesellen, den lait ist aller slacht guot,

527 Vgl. Kap. IV.5: Zunächst wird Eva vom Teufel verführt und verführt anschließend selbst Adam. 528 Vgl. Teuber, 1899, S. 352. 529 Vgl. auch Neuschäfer, 1966, S. 291–292, 2819–33.

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wand siu got durch ir ubermuot des himelreiches verstiez unt siu ze der helle vallen liez, do er sei hete vermeldit. durch den zorn unt durch den neit gerieten si unt gedachten, daz si Even dar zu brachten, daz bediu si unt Adam got wurden ungehorsam unt ubergiengen sein gebot. (KM V. 200–213)530

Luzifer und seine Gefährten – gemeint sind diejenigen Engel, die beim Teufelssturz verbannt wurden (KM V. 204–207) – beraten (gerieten, KM V. 209) gemeinsam darüber, wie sie Adam und Eva zu Fall bringen könnten. Im Anegenge sendet das Teufelsconsilium schließlich einen bœsen gaist (V. 2830) ins Paradies, der gerade nicht als Teufel bezeichnet wird – was vor dem Hintergrund der breit diskutierten Frage, ob der Teufel im Paradies gewesen sei, umso bemerkenswerter ist.531 Implizit wird dem Erlösungsrat damit ein ‚Verführungsrat‘ entgegengestellt, wodurch dem Teufel erneut eine (ungewöhnlich) große Bedeutung zukommt.532 Anschließend wird das Sündenfallgeschehen schrittweise erinnert und mit den entsprechenden Erlösungshandlungen kontrastiert (da wider, V. 2839; 2881 u.  a.).533 Auf den ersten Blick mutet diese Gegenüberstellung im Anegenge typologisch an:534 Dem teuflischen Engel Luzifer, der in Gestalt einer Schlange zu Eva kommt und sie mit einem Fluch anredet, entspricht der Engel Gabriel, der Maria den englischen Segensgruß bringt; der maine des Teufels die chiusche und raine Marias; dem ezzen des Apfels das darben Marias; der liebe, die der Teufel Eva durch das Brechen des Verbotes verspricht, die sere, die Maria beim Tod ihres Sohnes empfinden wird und so fort (V. 2817–2948). Dabei wird auch geklärt, warum die Geburt des Gottessohnes vor dem Teufel geheim gehalten werden sollte (V. 2476–2477): Da der Teufel heimlich in Gestalt einer Schlange zu Eva kam, ist es nur recht und billich, | daz dirre rat haimlich | vor dem tivel wær verholn (V. 2855–2857). Das Anegenge argumentiert bezüglich der heimlichen Menschwerdung Christi nur damit, dass auf eine Aktion die entsprechende Reaktion folgen müsse, um die Erlösung rechtmäßig zu machen. Die Summa Theologiae geht 530 Zitiert wird nach: Cod. Vind. 2696, fol. 39v/86. Der Text folgt der Handschrift mit leichten Lesehilfen (siehe auch die Prämissen der Neuedition (Kap. II.3)). 531 Siehe dazu Kap. IV.1. 532 Vgl. zu Teufel und Dämonen im Mittelalter u.  a. Goetz, 2016, S. 185–364; Eming und Fuhrmann, 2021. Ob sich zugleich Verbindungen zum geistlichen Spiel ziehen ließen, bedürfte eingehenderer Prüfungen. Rupp, 1971, S. 240, verweist zumindest bezüglich des Descensus auf die späteren Osterspiele. 533 Vgl. zur Gegenüberstellung Eva / Maria auch Rupp, 1971, S. 238. 534 Vgl. u.  a. Murdoch, 1972; Ohly, 1977, S. 312–337, bes. S. 321–323; Schulze, 1980, Sp. 616; Haug, 1992, S. 65–66; Stridde, 2011, Sp. 500; Bauer, 2019, S. 41–43; 50.



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hingegen weiter, denn hier ist der Mensch Jesus der Köder, an dem der Teufel gefangen wird: do ahti der viant di mennisceit, da dir middi was virborgin du gotheit. | daz chodir vrumit er irhangin, mid dem angili wart er givangin (ST Str. 14, V. 2–3). Daneben werden über Marias Buße weitere Versatzstücke des Marienlebens – Verkündigung, Schwangerschaft, Leiden unter dem Kreuz – anzitiert und eingespielt. Doch geht es im Anegenge gerade nicht um das Verhältnis von „Vorbildung“ (Altes Testament) und „Ausbildung“ (Neues Testament), wie es die Typologie fordern würde.535 Es soll nicht gezeigt werden, inwiefern das Alte Testament auf Jesus Christus als den Erlöser vorausverweist, sondern inwiefern Christi Erlösungshandeln recht-mäßig ist. Das Anegenge bedient sich demnach zwar des typologischen Grundgedankens – unbestreitbar werden Ereignisse und Personen des Alten mit solchen des Neues Testaments kontrastiert –, bleibt dabei jedoch stets im Bild der Sündenwaage (wagen wider, V. 2850): Ist sie ausgewogen, ist die Erlösung rechtmäßig. Durch die Buße Marias alleine kann die Waage allerdings gerade nicht ausgeglichen werden: nu sei niemen, der ez so verste, daz diu maget raine icht buzte altersaine fur daz schuldige wip. (V. 2938–2941)

Im Tugendstreit wurde ein reiner Menschen uz der erden (V. 2287) in Erwägung gezogen, der die Sünden der Menschen abbüßen solle. Diese Möglichkeit wird im Wägeprozess Eva / Maria gleichsam durchgespielt und als ungenügend ausgestellt: Die Erlösung des Menschen wäre nicht rechtmäßig, der Teufel könnte zu Recht darauf pochen, daz im sein diu und sein chnecht | nicht wæren vergolten (V. 2944  f.). Deswegen ist es nötig, dass sich got ouch martern (V. 2948) lässt. Gott muss sich, um den Menschen erlösen zu können, selbst erniedrigen, muss als Mensch geboren werden und als Mensch für die Menschen sterben (V. 2949–2977).536 In der zweiten Stufe wird daher die Buße Jesu den Sünden Adams entgegengesetzt  – wiederum scheint das typologische Muster, Christus als alter Adam, auf.537 Diese vermeintlich strikte Verteilung von Sünde und Erlösung auf Eva / Maria beziehungsweise Adam / Christus wird indes unterlaufen, indem je nur zu Beginn Adam und Eva explizit genannt werden, dann aber stets von beiden im Plural gesprochen wird (in, V.  2675; si, V.  2677 usf.). Jeglicher Verdacht, Maria könne Erlöserin Evas sein, wird somit schon im Keim erstickt.

535 Vgl. Ohly, 1977, S. 321. 536 Rupp, 1971, S. 239: „Die ‚humilitas Dei‘ steht als Buße für die ‚superbia hominis‘; hier ist der Angelpunkt der Erlösungstat genannt.“ 537 Vgl. u.  a. I Cor 15, 45–47.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Die eigentliche Synopse Christus  / Adam wird eingeleitet durch eine weiteren Neuansatz des Erlösungsrates,538 in dessen Zentrum diesmal guote und erbarmde stehen (V. 2949–2965). Im Modus des Gottesrates wird beinahe wörtlich der Anfang der Passage zur Sündenwaage wiederholt und auf Christi Erlösungshandlungen ausgerichtet: umbe ein ieglich sunde | wolde er buzze leiden (V. 2966  f.). Christus will mit recht aufwiegen, dass Adam hœher chomen wolte, | denne er von rechte solte (2971  f.). Recht wird gegen Unrecht gesetzt: owê wie er die wage wac unt wie er dem rechte nach gie. (V. 2978–2979)

Die Verse bilden, indem sie den Eingang der Passage zur Sündenwaage (V. 2667–2971) gleichsam umkehren, ein Scharnier: Mit der Gegenüberstellung der Sünden Adams und der Buße Christi wird das biblische Erzählen vom Leben Jesu wieder aufgenommen. Das Bild der Sündenwaage bleibt zwar weiterhin präsent, indem dem Sündenfall einzelne Elemente aus dem Leben Jesu gegenübergestellt (V. 2978–3001) werden, doch geht es weniger um das Aufwiegen (da wider, V. 2839; 2853; 2881), als um das buzzen (V. 2967; 2985; 3068): Analog zu Matthäus 4, 1–10 versucht der Teufel Jesus dreimal: mit chelgiticheit (V. 3022), mit uppiger gute (V. 3050) und mit ubermute (V. 3058), mit all jenen Sünden also, zu denen sich Adam und Eva im Paradies von der Schlange hatten verführen lassen.539 Doch bei Christus hat der Teufel keinen Erfolg. Stattdessen vergilt jener mit seinem Verhalten die Sünden der Menschen: Gegen die chelgiticheit setzt er den hunger (V. 3028). Aus Adams und Evas geiticheit, die der avaritia gleichgesetzt werden kann, ist hier die Fresssucht, gula, geworden. Diese Konkretisierung ist einerseits dem Biss in den Apfel angemessen, andererseits fordert sie gewissermaßen die Sühnehandlung, Christi Fasten in der Wüste. Gegen die uppige gute setzt Christus die diemute (V. 3049) und statt des ubermutes einer Teufelsanbetung (V. 3059–3062) betet er zu seinem schephære, wie das Recht es verlangt (billichen, V. 3067). Da die Verführungskünste des Teufels nichts ausrichten können, lässt er im tuon | als einem diube, | der givangen wirt an roube (V. 3072  f.): Jesus wird ans Kreuz geschlagen und kann so zum Schaden des Teufels, zum Wohle des Menschen für die Sünden der Welt sterben. Die Gegenüberstellung wird jedoch noch weiter getrieben: Christus büßt, indem er sich die Dornenkrone aufsetzen lässt, den Wunsch Adams und Evas nach der Krone Gottes (V. 3094); mit dem Durchstechen der Füße die Schritte, die Eva zum verbotenen Baum ging (V. 3108  f.); mit dem Durchstechen der Hände den Griff nach der verbotenen Frucht (V. 3102  ff.); mit dem Trinken des Essigs die Süße, die Adam und Eva beim Biss in die verbotene Frucht schmeckten (V. 3110  ff.). Der Stich in Christi Seite (sein herce, V. 3114) erfolgt schließlich wegen der bœsen andacht (V. 3115), also der Sünde 538 Siehe Kap. IV.7.4. 539 Vgl. Rupp, 1971, S. 239; Gottschall, 1992, S: 64–65.



6 Die Sündenwaage – Zwischen Makro- und Mikrostruktur 

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selbst, die gerade im hercen sitzt (V.  2761  f.). Zugleich wird die Rechtmäßigkeit der Erlösung im Anegenge nochmals auf einer anderen Ebene ansichtig gemacht: Durch des Teufels eigenes Handeln540 zunächst in den Verführungsversuchen an dem völlig Sündelosen und dann in seiner Hinrichtung ermöglicht der Teufel selbst die Erlösung des Menschen.541 Indem der Teufel Christus, obwohl oder gerade weil er ihn nicht verführen konnte, kreuzigen lässt (V. 3138–3156), setzt er sich ins Unrecht und schafft so wiederum selbst die Voraussetzungen diesmal zur Erlösung. Wiederum wird der Teufel gleichsam zum Instrument Gottes, wodurch – implizit – einem ‚kontrollierten Sündenfall‘542 auch eine ‚kontrollierte Erlösung‘ gegenüber gestellt wird. Zu Beginn der Sündenwaage-Passage wurde das Abwiegen der Sünden im Modus des Erlösungsrates als denchen Gottes ausgestellt. Die Sündenwaage war demnach in Gottes Ewigkeit angesiedelt, wodurch dem Akt des Aufwiegens von Sünde und Erlösung eine überzeitliche Perspektive eingeschrieben wurde. Mit den Bußhandlungen Christi aber geht diese zeitlose Perspektive über in das bereits bekannte biblische Erzählen des Anegenge, wobei Christus zur zentralen Mittlerfigur wird.543 Im Motiv der Sündenwaage fallen im Anegenge demnach verschiedene Zeitdimensionen – göttliche Ewigkeit; Überzeitlichkeit; Menschheitsgeschichte – zusammen.544 Dies spiegelt sich auch auf der Darstellungsebene, denn nach der Geburt Christi werden Bibelparaphrase, göttliche Beratung und Reflexion kombiniert, wodurch die einzelnen Fäden nicht nur inhaltlich, sondern auch auf der Ebene der Darstellung zusammenlaufen. Was auf den ersten Blick verwirren mag, ist demnach Strategie: Indem in mehreren rekapitulierenden Wiederholungen das Problem, der Lapsus, und die (Er-)Lösung, die im Tugendstreit erarbeitete Menschwerdung Christi, kontrastiv gegeneinandergestellt werden, kann die Rechtmäßigkeit der Erlösung umso deutlicher vorgeführt und bewiesen werden. Fazit Das Leben Jesu wird im Anegenge nicht auserzählt, vielmehr wird von seiner Geburt direkt auf das Erlösungsgeschehen übergeleitet. Zwischen Geburt und Kreuzigung ist dabei das Motiv der Sündenwaage eingeschoben, das Anfangs- und Zielpunkt, Sündenfall und Erlösung, gegenüberstellt. Dabei wird deutlich, was schon zuvor vermutet wurde: Biblische Geschichte im Anegenge erfüllt keinen Selbstzweck, sondern ist funktionalisiert. Erzählt wird ausschließlich das, was notwendig ist, um von der Schöpfung über den Sündenfall zur Erlösung zu gelangen. Als neutestamentliche Elemente sind Geburt und Tod Christi, Menschwerdung und Descensus, hierfür ausreichend. Die 540 Vgl. Rupp, 1971, S. 240; vgl. auch Goetz, 2014, S. 23–24, mit Bezug auf Teufelssturz und Sündenfall. 541 Vgl. u.  a. Goetz, 2014, S. 23. Noch deutlicher wird dies in der Summa Theologiae (ST Str. 13–14). 542 Siehe Kap. IV.5. 543 Zu Christus als Mittlerfigur siehe u.  a. Kiening, 2010; ders., 2010a. 544 Siehe allg. auch Kiening, 2010; Kiening, 2010a.

230 

 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Sündenwaage steht dabei symbolisch für die Rechtmäßigkeit der Erlösung. Indem im Bild der Sündenwaage die Sünden des Menschen und die Bußhandlungen Gottes gegenübergestellt und miteinander verbunden werden, werden zugleich die einzelnen Abschnitte des Anegenge zueinander in Bezug gesetzt.545 Folgte das Anegenge bisher makroskopisch der Chronologie der Heilsgeschichte, so werden Anfang und Zielpunkt, Sündenfall und Erlösung, nun eher paradigmatisch kontrastiert. Ausgehend vom Bild der Sündenwaage verbinden sich dabei nicht nur Anfangs- und Zielpunkt der Heilsgeschichte, sondern auch die Darstellungsmodi des Anegenge. Für Kiening „fluktuiert“ das Anegenge „zwischen Bibelnacherzählung, liturgischer Aktualisierung, theologischer Explikation, typologischer Deutung und Reflexion über die Möglichkeiten des Verstehens.“546 Dass im Anegenge unterschiedliche Darstellungsmodi genutzt werden, um sich dem Paradoxon der Trinität weitest möglich anzunähern, wurde in den voranstehenden Kapiteln deutlich.547 Der Sündenwaage kommt dabei eine Scharnierstelle zu: Göttliches denchen, Sprecher-Rede und bibelepische Passagen, die verschiedenen Ansätze also, mit denen versucht wurde, das Paradoxon der Trinität, ihren Heilsplan und ihre Heilshandlungen darzustellen, kulminieren in der Synopse Christi. Zu fragen bleibt jedoch, ob all dies nicht auch mit weniger Wiederholungen und Redundanzen zum Ausdruck hätte gebracht werden können. Die Antwort: Die Wiederholungen sind hier Strategie.548 Erstens setzen sie die einzelnen Textteile und -stränge des Anegenge zueinander in Verbindung. Zweitens wird, indem nicht nur der Anfang des Anegenge wiederholt wird, sondern es auch innerhalb der Passage zu Doppelungen (z.  B. Eva / Maria und Adam / Christus) kommt, die Komplexität und Größe des göttlichen Heilsplanes und damit Gottes selbst verdeutlicht.549 Dabei wird nochmals der Anteil der einzelnen Appropriationen schephære, weishait und guote betont: In den Wiederholungen zeigt sich der ‚Anteil‘ jeder Appropriation am Erlösungsgeschehen. In den Überschneidungen wird zugleich die Ausstellung ihres Zusammenwirkens und ihrer Ungeschiedenheit gleichsam auf die Spitze getrieben. Indem sodann der Blick von der Planung der Erlösung mittels der Sündenwaage auf ihre Durchführung in den Verführungsversuchen an Jesus Christus wechselt, wird nicht nur der Heilsplan Gottes, sondern auch seine Heilshandlung, die Erlösung, vorgeführt und als rechtmäßig, das heißt: erfolgreich, herausgestellt. 545 Ähnlich, aber von der Typologie her denkend, de Boor, 1960, S. 175. Siehe auch Ehrismann, 1966, S. 60. 546 Kiening, 2015, S. 69. 547 Vgl. besonders Kap. IV.1; 4. 548 Zur Funktion von Wiederholungen in der Heilsgeschichte am Beispiel der Wiener Genesis vgl. Lieb, 2009, S. 43–59, bes. S. 56–58. 549 Lieb, 2009, S. 58, stellt Gott als „Wiederholungtäter“ aus, wobei er die Erlösungstat Christi als „endgültige erfüllende Wiederholung“ (ebd., S. 56) bezeichnet. Auch im Anegenge lässt sich die bei Lieb an der Wiener Genesis entwickelte Wiederholungskette von der Engelsschöpfung bis zur Erlösung (S. 56) finden, doch handelt es sich dabei um eine andere Form der Wiederholung als die hier ausgestellte. Zu Wiederholung und Neuansatz siehe auch Kap. IV.7.4.



6 Die Sündenwaage – Zwischen Makro- und Mikrostruktur 

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Dabei wird nochmals deutlich, dass der Anfang (anegenge) – Gottes denchen in der Ewigkeit; Schöpfung und Sündenfall – stets präsent bleibt, obwohl sich das Anegenge auch mit dem Zielpunkt der Heilsgeschichte, der Erlösung, beschäftigt. Wie dies im Einzelnen geschieht beziehungsweise vermittels welcher Gestaltungselemente, wird im nächsten Kapitel analysiert.

7 Gestaltungselemente im Anegenge Im Anegenge werden, wie das voranstehende Kapitel gezeigt hat, Trinitätsdarstellungen und Trinitätsspekulationen mit bibelepischen Passagen verknüpft. Hierzu nutzt das Anegenge verschiedene Gestaltungselemente, textuelle und literarische Verfahren, die im Folgenden vorgestellt werden sollen.

7.1 Initialen Ein erstes Gestaltungselement zeigt sich in der Versumgebung von Initialen. Der überlieferte Text des Anegenge enthält 56 rubrizierte Initialen inklusive der großen Eingangsinitiale. Diese sind unregelmäßig gesetzt, schon Menhardt sieht durch sie Sinnabschnitten gekennzeichnet.550 Ihre Funktion lässt sich jedoch noch differenzierter betrachten: Zunächst sind Initialen  – zumeist in Verbindung mit do  – an Stellen gesetzt, an denen ein neues Thema ein- oder auf ein unterbrochenes zurückgeführt wird.551 Daneben beinhalten Verse mit Initiale häufig eine direkte Wendung an die Adressaten.552 Allerdings gibt es auch eine Reihe von Versen ohne Initiale, die gleicherweise an die Adressaten gerichtet sind.553 Ob mit oder ohne Initiale, derartige Verse bilden ein Aufmerksamkeitssignal für die Rezipienten, wodurch ihr Fokus auf einen (neuen) Aspekt oder ein (neues) Thema gelenkt wird. Überdies kann mit einem Initial-Vers auch eine Diskussion von Streitfragen oder die Abwägung anderer (falscher) Lehrmeinungen eingeleitet werden.554 Indem solche Verse Abschnitte als Erklärung (z.  B. zwiu) oder Belehrung (z.  B. sagen) ausweisen und so von anderen Passagen – Rats-

550 Menhardt, 1960, S. 132. 551 Do diu gotes gute do, V. 187; Do dannoch nicht geschaffen was, V. 303; Do der genædige got, V. 1059; Do er sich an dem wurm gerach, V. 1452; Do er do gefrumte, V. 1576 etc. 552 Vernemt den allen besten gidanc, V. 27; Nu vernemt, zwiu daz gitan sei, V. 339; Hie muget ir wol hœren an, V. 475; An disen worten | sult ir vlaizechlichen warten, V. 557  f.; Nu habt ir wol vernomen daz, V. 679 etc. 553 ich wil dirz sagen, du sein niht enweist, V. 396; des welle wir iu ein tail sagen, V. 593; nu welle wir iu mer sagen, V. 1766 etc. 554 Nu habent genuoge den streit, V. 1870; Der nu wære, V. 787 etc.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

gespräche, bibelepische Passagen – abgrenzen oder zu ihnen in Bezug setzen können, dienen sie zugleich der Orientierung im Textverlauf.555 Verse mit Initiale erklären zuvor Gesagtes jedoch nicht nur, sondern geben ihm häufig eine neue Wendung. Beispielhaft zeigt sich dies, wenn der Sprecher eine Rede der weishait als Beleg für seine eigenen Ausführungen nutzt: Hie muget ir wol hœren an, als ich da vor gesprochen han, daz si sein icht bedurfen solten, swaz si wurchen wolten (V. 475–478)

Zwar hat die waishait, anders als es die Zusammenfassung des Sprechers suggeriert, gar nicht explizit von der Selbstgenügsamkeit Gottes gesprochen. Die Autarkie Gottes wird in der Rede der waishait allenfalls implizit in Abgrenzung zur Schöpfung, der Gottes hilfe muze durft sein (V. 455), zum Ausdruck gebracht.556 Doch indem der Sprecher seine Rede auf diese Weise auslegt, interpretiert er das Gotteswort als Legitimation für seine eigenen Worte um. Über das als ich da vor gesprochen han wird zudem eine Verbindung zwischen dem Ratsgespräch und der voranstehenden Thematisierung der Unabhängigkeit Gottes hergestellt. Ein bereits abgehandeltes Thema kann so bestätigt und präsent gehalten oder mit einem neuen Aspekt, hier einem Beschluss zur Schöpfung, verknüpft werden. – Stellen wie diese zeigen, dass nicht nur die Sprecherrede selbst relevant ist, wenn man ihre jeweilige Bedeutung für das Anegenge herausarbeiten möchte. Vielmehr müssen auch die Passagen, in die diese Äußerungen eingebettet sind, mitbetrachtet werden: Textstellen können abhängig davon, ob sie auf Voranstehendes oder Nachfolgendes bezogen werden, ihre Bedeutung verändern.557 Nur wenige Verse später findet sich ein zweites Beispiel: In den Versen vor der Initiale fasst Gott Vater auf Anraten von Gott Sohn und Heiligem Geist einen Beschluss zur Schöpfung („ich haizze ein erbe […]“, V. 485  ff.). Dass mit diesem Beschluss nicht schon die Umsetzung des Schöpfungsplanes in Schöpfungshandlung verbunden ist, wird durch die Aussage des Sprechers verdeutlicht: Mit gedanchen disiu rede ergie (V. 495).558 Damit wird die wörtliche Rede des gewalt als denchen ausgewiesen, wogegen seine erste stimme (V. 196; Gn 1,3) die Schöpfung initiieren wird.559 Verse mit Initiale enthalten im Anegenge damit auch besonders bedeutsame Feststellun-

555 Daz was der mensch, den man sach, V. 639; Daz tet der herre Moyses, 2081 u.  a. Siehe dazu auch Glintz, 1979, S. 168–170. 556 Auffällig ist, dass derartige resümierende Kommentare oder Zusammenfassungen des Sprechers häufig unmittelbar vor oder nach einer Initiale stehen (siehe Kap. IV.7.1). 557 Vgl. zu weiteren Überleitungs- und Verknüpfungsstrategien auch Kap. IV.7.3. 558 Vgl. Stridde, 2009, S. 207; dies., 2012, S. 21–22. 559 Vgl. Kiening, 2015, S. 72.

7 Gestaltungselemente im Anegenge  

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gen, die mitunter an Sentenzen erinnern können. Wie im vorliegenden Beispiel kann damit auch ein Wechsel von der Figurenebene auf die Sprecherebene verbunden sein. Die Feststellungen können zudem den Charakter von Zusammenfassungen annehmen, die sich entweder in den Versen unmittelbar vor einer Initiale finden, oder mit dieser beginnen. Ein Beispiel: Durch so getane sunde | hat daz abgrunde | der tivel besezzen (V. 277–279). Die voranstehenden Ausführungen zum Teufelssturz werden zu Beginn des nächsten Abschnittes mit Initiale zusammengefasst. Erst danach beginnt das eigentliche neue Thema: wir sulen nicht vergezzen, | wirn sagen, waz sei die dri genende (V. 280  f.).560 Solche ‚Zusammenfassungen‘ können, wie beim Teufelssturz, aus ein bis zwei Versen bestehen und nur das direkt Voranstehende umfassen. Doch können sie auch größere (noch) nicht erzählte oder weiter zurückliegende Komplexe resümieren: Swaz er wunders da | unt ouch seit anderswa | in drin unt drizec jaren begie, | […] daz ist uns allen offen (V. 2657–2662). Mit diesen wenigen Versen wird ein ganzer Inhaltspunkt – das Leben Jesu auf Erden – zusammengefasst. Noch ein weiteres Beispiel: Do der genædige got also bidachte sein lop umb unser ewigez hail unt do der engel ein tail geviel von seinem reiche, do volget er gutleiche dem rate seiner weishait. (V. 1059–1065)

Die vorliegenden Verse übernehmen gleich mehrere Funktionen: Sie fassen den Schöpfungsrat zusammen (bedachte sein lop, V.  1060), vermitteln (Hintergrund-) Wissen  – die Engel sind gefallen (V.  1062  f.)  – und leiten auf das nächste Thema, die Umsetzung der Ratsschlüsse durch die Erschaffung des Menschen (V. 1066  ff.), über.561 Ein womöglich ähnliches Prinzip könnte sich in der Strophenstruktur der Chansons de geste zeigen. Dort gibt es die Möglichkeit, durch verschiedene Wiederholungsverfahren an Beginn und Ende der Strophen (Laissen) – reprise enchainement, reprise bifurquée, Laisses parallèles – Sinnzusammenhänge und (Strophen-)Verknüpfungen herzustellen.562 Nun ist das Anegenge zwar weder heldenepische Dichtung, noch stro-

560 Vgl. Teuber, 1899, S. 259–260. 561 Die doppelte Funktion, Zusammenfassung und Überleitung, betont auch Teuber, 1899, S. 285. Teuber spricht sich wiederholt für die geschickten Überleitungen (und Kombinationen von Quellen) aus. Vers 1067 hält er für ein „meisterstück dichterischer verknüfung“, wenn auch durch Hugo von St. Victor inspiriert (ebd.). 562 Vgl. u.  a. Rychner, 1955; Köhler, 1978.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

phisch gebaut. Doch lassen sich wiederholt Ankündigungen und Zusammenfassungen im Umfeld der Initialen, also gewissermaßen der ‚Sinnabschnitte‘, beobachten. Ein Beispiel soll dies illustrieren. Im Rahmen der Abhandlung über die Namen der Trinität beginnt ein Abschnitt mit Initiale folgendermaßen: Nu habt ir wol vernomen daz, daz der vater nicht was von dem sune geschaiden noch der hailige gaist von in baiden. (V. 679–682)

Vater, Sohn und Heiliger Geist bildeten seit je her eine Einheit. Dies ist einerseits die Zusammenfassung der voranstehenden Ausführungen, in denen die Ungeschiedenheit Gottes betont wurde (V. 639–678). Zugleich bilden die Verse den Auftakt für die nachfolgende (erneute) Beweisführung, dass alle tugende der trinitarischen Personen zu jeder Zeit in jeder einzelnen Person vollständig enthalten sind (V. 683–783). Diese Ausführungen enden – vor einer Initiale – gleichsam mit derselben Aussage, mit der sie begonnen haben: da mit seit ir des ermant, daz ir drier dehainer von dem anderm nie wart geschaiden. (V. 784–786)

Man kann also festhalten, dass Initialen – oder ihre unmittelbare Versumgebung – gliedernde Funktionen übernehmen, die insbesondere in Zusammenfassungen, Überoder Einleitungen bestehen können. Zumal die zuletzt herausgestellte Funktion der Zusammenfassung einzelner Sinnabschnitte oder ganzer Themen könnte auf eine gewisse Vortragspragmatik schließen lassen – denkbar, wenn auch nicht belegbar, wären beispielsweise Vortragssituationen mit wechselndem Publikum oder Textpräsentation in Fortsetzungen (mit Pausen, an anderen Tagen).563 Nun sind Initialen allerdings genuin visuelle Signale, die nur dann Bedeutung generieren können, wenn sie gesehen werden. Geht man dagegen von einem mündlichen Vortrag aus, so werden die Initialen der Handschrift bedeutungslos – könnte man meinen. Wie die voranstehenden Ausführungen zeigen sollten, stehen Initialen (fast) immer an solchen Stellen, die Einschnitte in den Erzählverlauf darstellen. Es wird Aufmerksamkeit erzeugt, ob durch Neuansätze (Do), Adressierungen (Nu vernemt) oder durch Zusammenfassungen und Ankündigungen neuer Themen. Diese Aufmerksamkeitssignale sind, anders als die Initialen selbst, nicht auf eine schrift-

563 Vgl. auch die Überlegungen bei Köhler, 1978. Inwieweit sich dieses Prinzip tatsächlich auf einen Text wie das Anegenge übertragen ließe, bedürfte weiterer Untersuchungen.

7 Gestaltungselemente im Anegenge  

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gebundene Rezeption beschränkt. Sie können gehört werden.564 Und dies umso mehr, als mit den Initialen ein weiteres Element verbunden ist: Im Anegenge ist das Prinzip des Reimebrechens565 umgesetzt – ein Prinzip, das sich spätestens ab der Mitte des zwölften Jahrhunderts immer größerer Beliebtheit erfreut.566 Das bedeutet, dass zwei Reimworte syntaktisch getrennt sind. Während sich dieses Prinzip mehr oder weniger konsequent durch die einzelnen Sinnabschnitte zieht, enden sie – vor einer Initiale – stets mit einer Reimbindung, also auf ein Reimpaar.567 Das bedeutet, dass mit den Initialen bzw. den mit ihnen verbundenen Beobachtungen nicht nur ein rezeptionsästhetisches Prinzip vorzuliegen scheint, sondern auch ein produktionsästhetisches. Die Einschnitte im Textverlauf, die Sinnabschnitte, sind demnach nicht willkürlich, zufällig oder nur durch äußere Gegebenheiten, beispielsweise im Rahmen eines Vortrages, entstanden, sondern konzeptionelles Element, was ihre Bedeutung noch unterstreicht.568

7.2 Namen und Stichworte Ein anderes Gestaltungselement bezieht sich auf die Auswahl biblischer Geschichte, die im Anegenge erzählt wird. Hierbei wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, erzählt wird vielmehr nur das, was für den unmittelbaren Fortgang der Heilsgeschichte vom Sündenfall bis zur Erlösung bzw. die damit verbundenen Aspekte trinitarischen Zusammenwirkens notwendig ist. Allerdings können über die beiden Blöcke biblischer Geschichte hinaus weitere Versatzstücke der Heilsgeschichte eingespielt werden. Dies zeigt sich beispielhaft in der Passage zur Unsichtbarkeit Gottes569 im Anschluss an das Sintflutgeschehen.570 Dort heißt es: wir ensulen noch enmegen des nicht gelouben,

564 Auch wenn über die Vortragspraxis an sich wenig bis nichts bekannt ist, kann man sich doch vorstellen, dass Vortragende derartige Aufmerksamkeitssignale beispielsweise durch Stimmmodulation oder Pausen noch unterstreichen konnten. 565 Vgl. dazu u.  a. Hoffmann, 1981, S. 77–78; Bögl, 2006, S. 25. 566 Vgl. u.  a. Hoffmann, 1981, S. 77–79; Bögl, 2006, S. 25. 567 Eine prominente Ausnahme von der Kombination Reimbindung – Initiale ist hier allerdings zu erwähnen: Ausgerechnet im Anschluss an den Prolog, der auf ein Reimpaar – gedenchen : ertrenchen (V. 87  f.) – endet, wird der folgende Abschnitt nicht durch eine Initiale eingeleitet. Nu vernemt churzlichen daz (V. 89) hat lediglich eine Majuskel, keine Initiale. Welche Implikationen damit verbunden sind, bedürfte näherer Untersuchungen ggf. auch im Vergleich mit anderen Texten der Sammlung. 568 Ob sich feststellen lässt, auf welcher Stufe der ‚Produktion‘ (Autor, Redakteur, andere) dieses konzeptionelle Element anzusiedeln ist, bedürfte weiterer Untersuchungen. 569 Vgl. u.  a. 1 Tim 6,16. Vgl. auch Teuber, 1899, S. 323–333; Rupp, 1971, S. 232–233; Kiening, 1992, S. 429. 570 Vgl. mit leicht anderer Tendenz Bauer, 2019, S. 35–37.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

daz mit vlaischlichen ougen ie dehain man sæhe got. weder do er diu wort wider Noe chot oder inder an dehainer stet. die rede, die er mit Adam tet in dem paradeise, unt mit Cayn dem unweisen unt mit Abelen, daz was nicht mere, wan daz ein engel in erschain. nie gesach in ir dehain. Elyas unt Enoch, […] Abraham unt Davit die gesahen in nie. (V. 2049–2070)571

Zunächst fällt hier eine für das Anegenge ungewöhnliche Häufung an Namen ins Auge. In diesen Namen wird die Heilsgeschichte reflektiert und in den (genealogischen) Bezügen ihrer Signifikanten verdichtet, woraus sich ein referentielles Verweissystem ergibt, das „die Heilsgeschichte sozusagen in Kurzform zitiert“.572 Indem die Namen im Anegenge an Situationen erinnern, in denen ein Mensch vermeintlich mit Gott, in Wahrheit aber mit einem seiner Engel gesprochen hat,573 werden sie zu Exempla dafür, dass niemand Gott mit vlaischlichen ougen (V. 2051) sehen kann. Einige dieser Namen – Adam, Kain und Abel sowie Noah – greifen dabei die zuvor erzählten biblischen Ereignisse von der Schöpfung bis zur Sintflut wieder auf. Darüber hinaus werden biblische Figuren aufgerufen, die bisher nicht Thema waren: Elias und Enoch, Abraham und David, oder einige Verse später Moses (V.  2072), Petrus und Paulus (V. 2097–2138). Über die Namen werden damit nicht nur Belege für die Unsichtbarkeit Gottes erbracht, sondern es werden weitere, ansonsten nicht thematisierte Versatzstücke biblischer Geschichte eingespielt. Etwa das vermeintlich fehlende Jüngste Gericht über Elias und Enoch.574 Indem so vermittels der Namen die voranstehenden Themen des Anegenge resümiert und mit der nachfolgenden Erlösungshandlung verbunden werden, schlagen sie eine Brücke vom Alten Testament – Adam, Noah, Moses usf. – zum Neuen Testament – Petrus und Paulus –, und bietet damit gewissermaßen eine Heilsgeschichte

571 Die Hervorhebungen im Fettdruck stammen von der Verfasserin. 572 Vgl. Kellner, 2004, S. 41. 573 Vgl. Brachtendorf, 2007, S. 364: „In den außergewöhnlichen Erscheinungen des Alten Testaments sendet Gott Engel aus, die entweder selbst sinnlich vernehmbar sprechen oder die Gestalt eines Geschöpfes annehmen, in der sie den Menschen symbolisch auf die Gegenwart Gottes hinweisen“. 574 Vgl. Rupp, 1971, S. 241–242. Darüberhinaus finden sich wiederholt Verweise auf die Rechtsprechung am Jüngsten Tag: V. 527–529; V. 2171–2176 u.  a.

7 Gestaltungselemente im Anegenge  

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en miniature. Auch an anderen Stellen werden wiederholt genealogische Linien – von Adam über Seth bis Noah; gotes chint (V. 1776) versus der menschen chint (V. 1780) – ausgezogen, die die Heilsgeschichte strukturieren und eine Linie von der Schöpfung bis zur Erlösung ausbilden. Während dieser Bogen makroskopisch auch in der Passage zur Unsichtbarkeit Gottes erkennbar ist, lässt sich mikroskopisch die Auswahl oder Anordnung der Namen nicht weiter differenzieren.575 Zwar werden viele Vertreter des Stammbaumes Christi genannt – David, Abraham, Adam, Noah –, anders als in den Evangelien (Lc 3,23–38; Mt 1,1–17) wird im Anegenge jedoch keine chronologische Linie von Adam bis Jesus576 gezogen. Neben Namen können auch Stichworte weitere Aspekte beispielsweise des Lebens Jesu einspielen: Wunderheilungen (den blinden er ir liecht gab, V. 741); Speisewunder (do er sibentousent sat, V. 742); sein Fasten in der Wüste (vierzic tage was ungaz, V. 743); seine Lehrtätigkeit (weiste die tumben, V. 740); die Passion (daz man in stiez unt sluoc, V.  735) u.  m.577 Ebenso können mittels des Prinzips des Stichwortgebens Altes und Neues Testament verknüpft werden. Ein Beispiel: er erfulte allez daz, | daz die propheten | von im geweissaget heten (V. 2664–2666). propheten meint dabei all jene Propheten, deren Vorausdeutungen (im Alten Testament) von Christus (im Neuen Testament) erfüllt werden. Eine andere Form der ‚Verdichtung‘ der Heilsgeschichte zeigt sich im Anegenge in der Verschaltung mehrerer biblischer Namen beziehungsweise Funktionen miteinander. Dies ist beispielsweise bei der Verschaltung von Kain, Cham und Kanaan im Namen Cham zu beobachten: Die Genesis (Gn 6,9–11) spricht in Vorbereitung auf die Sintflut schlicht davon, dass die Gottessöhne (filii dei) sich mit den Menschentöchtern (filiae hominum) verbunden hätten, woraus in der Vorzeit Helden hervorgegangen seien. Dann aber habe die Schlechtigkeit der Menschen (malitia hominum) auf Erden immer mehr zugenommen, weshalb Gott bereute, die Menschen – mit Ausnahme Noahs – geschaffen zu haben und seine Schöpfung wieder vernichten wollte. Auch in der Wiener Genesis gibt es zwei Gruppen von Menschen, die Unterscheidung ist jedoch sowohl genealogisch eindeutiger, als auch pejorativer als in der Genesis: In der Wiener Genesis sind es explizit die Nachkommen Seths, die als Gotteskinder (kint dîn, WG V. 665) bezeichnet werden. Anstelle von Menschenkindern werden ihnen aber Kinder des Teufels (der vater hiez Belial, daz ist der leidige tiefal, WG V. 667), die Nachkommen Kains, gegenübergestellt.578 Das Anegenge hingegen unterscheidet wie die Genesis in Gottessöhne und Menschentöchter, präzisiert die Genealogie aber folgendermaßen: diu gotes chint stammten von Seth ab, der menschen chint aber seien die 575 Allenfalls könnte man sagen, dass die Kette derer, die mit Gott gesprochen haben, ohne ihn wirklich zu sehen, mit dem zuletzt Fokussierten, Noah, beginnt, um sodann weitere Gewährspersonen zu nennen. 576 Vgl. Kellner, 2004, S. 47. 577 Vgl. u.  a. Teuber, 1899, S. 276–277, mit weiterführenden Verweisen. 578 Vgl. u.  a. Murdoch, 1994.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Nachfahren Chams (V. 1775–1784). Die wip, die für die Vermischung der gotes chint mit der verworchten chunne (V. 1787) verantwortlich zeichnen, entstammen somit nicht dem Geschlecht Kains, sondern dem Chams – also eigentlich auch dem Geschlecht Seths, da Cham als Sohn Noahs ein Nachfahre Seths ist. Im Anegenge wird dieser Cham von seinem Vater Noah nach der Sintflut verflucht und zum chnecht seiner Brüder gemacht. In der Bibel hingegen trifft der Fluch nicht Cham selbst, sondern sein Sohn Kanaan (Gn 9,25–27). Doch ist der Bezug auf Cham an dieser Stelle des Anegenge textlogisch begründbar: Während sich die Ausführungen zu Gottes- und Menschenkindern in der Bibel und in der Wiener Genesis vor der ersten Erwähnung Noahs finden, werden sie im Anegenge erst nach der Einführung Noahs eingeschoben.579 Sie können – so präzisiert das Sprecher-Ich – als Gottes Begründung der Sintflut gelesen werden: Diu wort sprach er Noe zuo (V. 1812).580 Da im Anegenge Cham sowohl Vater der menschen chint, als auch Empfänger von Noahs Fluch ist, zeigt sich eine (bewusste) Verschaltung zweier biblischer Motive: Indem Cham zum Stammvater der Sünder vor der Sintflut gemacht wird, tradiert er diese gewissermaßen über die Sintflut. Indem er sodann selbst, und nicht sein Sohn Kanaan, von Noah verflucht wird, ist Cham zugleich Stammvater des ‚alten‘ und ‚neuen‘ sündigen Menschengeschlechts.581 Die Passage zu den gotes chint und der menschen chint dient im Anegenge damit nicht nur der Begründung der Sintflut, sondern stellt zugleich die Tradierung der Sünde über die Vernichtung des sündhaften Menschengeschlechts sowie die immer neue Sündhaftigkeit auch der geretteten Menschen heraus. – Zudem kann durch die Verfluchung Chams statt seines Sohnes auf die Einführung weiterer biblischer Figuren (Kanaan) verzichtet werden, was dem allgemeinen Streben des Anegenge nach Kürze (s.  u.) entgegenkommt. Mittels der vorgeführten Verdichtungen in Namen (David, Petrus und Paulus), Stichworten (sat, ungaz) oder Andeutungen (geweissaget) kann somit eine Vielzahl weiterer Aspekte eingespielt werden, ohne auserzählt werden zu müssen. Über Verschaltungen, wie sie bei Cham und womöglich auch bei Enos582 begegnen, können

579 Zu bemerken ist dabei allerdings, dass auch in der Wiener Genesis Cham verflucht wird (WG V. 738–768). Eine ‚Verwechslung‘ von Cham und Kanaan findet sich laut Schröder, 1881, S. 40–42, in mittelalterlichen Predigten häufiger. Vgl. auch Wenzel, 2006, S. 62. 580 Während im Anegenge die Gründe für die Sintflut ausführlich dargelegt werden, heißt es in der Wiener Genesis nur: nû si an in [Gott, E.B.] niene wolten denchen (WG V. 689). Vgl. zu Noahs Fluch u.  a. Wenzel, 2006, S. 63–66, hier bes. S. 64. 581 Eine ähnliche Verschaltung zeigt sich eindrucksvoll im (deutlich) späteren Trojanerkrieg Konrads von Würzburg: Hier wird Peleus, der Vater des Achill, mit Pelias, dem Onkel Jasons, verschaltet, wodurch mehrere Sagenstränge (Archilleis, Argonautenfahrt, Krieg um Troja) verbunden werden können. Vgl. u.  a. Worstbrock, 2009, S. 169–170. 582 Auf ähnliche Weise wird womöglich die Genealogie Kains mit der Genealogie Seths verschaltet: Enos (V. 1688) ist – so kann man es in lockerer Fügung auch im Anegenge lesen – der Sohn Seths; im Folgenden wird jedoch ausschließlich die Genealogie Kains im Anschluss an Gn 4,17 verfolgt (Stadtbau; Benennung nach Kains Sohn Henoch; Geburt Girats und Lamechs usf.). Girat (V. 1700) wiederum

7 Gestaltungselemente im Anegenge  

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überdies Motivstränge verknüpft und fortgeführt werden. Damit kann das Anegenge Schöpfung, Sündenfall und Erlösung, Altes und Neues Testament verbinden. Auch wenn aufgrund der Konzeption des Anegenge eine vollständige Darstellung der biblischen Geschichte wohl nie Ziel war, machen solche Beobachtungen deutlich, dass ‚Vollständigkeit‘ oder ‚Unvollständigkeit‘ immer auch im Auge des Betrachters liegen. Nimmt man die selektive Darstellung der Heilsgeschichte im Anegenge nicht automatisch als Mangel oder Fehler wahr,583 kann diese Textstrategie zum Indikator dafür werden, dass der Fokus des Anegenge gerade nicht auf bibelepischem Erzählen per se, sondern auf dem Ineinandergreifen unterschiedlicher Darstellungsmodi – Ratsszenen; biblische Erzählung; Kommentare, Deutungen, Diskussionen des Sprechers u.v.m.  – liegt. Überdies kann das Prinzip des Stichwort- oder Namengebens sogar über textimmanente Beobachtungen hinaus fruchtbar gemacht werden für die Eingliederung des Anegenge in seinen Überlieferungsverbund.584

7.3 Abbreviationen Was sich in den vorgestellten Verdichtungen bereits andeutet, lässt sich auch an anderen Stellen des Anegenge erkennen: ein grundsätzliches Streben nach Kürze.585 Wiederholt fallen Abbreviationen586, Formulierungen, die zur Kürze mahnen, auf.587 Die Forschung, allen voran Rupp, hat diese Formulierungen auf die geringen Fähigkeiten des Dichters zurückgeführt, der eine geplante proportionale Verteilung von Versen auf die verschiedenen Themen nicht habe einhalten können.588 Da das Anegenge jedoch Trinitätsdarstellungen und Trinitätsspekulationen mit bibelepischen Passagen verknüpft, müssen die unterschiedlichen Themen und Aspekte immer wieder abgebrochen werden, um auf den eigentlichen Kern zurück- beziehungsweise auf den nächsten Aspekt überzuleiten. Dabei kann das Anegenge zwar verschiedenste Themen und Aspekte anreißen, muss sie jedoch nicht (in allen Einzelheiten) ausführen. Einige Beispiele sollen dies zeigen:

ist nicht, wie im Anegenge behauptet, Kains Sohn, sondern sein Enkel über Henoch. Teuber, 1899, S. 311–312, kann für diese „verwechslung […] eine quelle nicht auffinden“. Die große Ähnlichkeit der Genealogien Kains und Seths sieht auch Murdoch, 1994, S. 85; 91. Wie genau die Verschaltung der Genealogien Kains und Seths funktionieren könnte und welche Erkenntnisse sich daraus ziehen ließen, bedürfte weiterer Untersuchungen. 583 Vgl. die Forschungshinweise in der Einleitung. 584 Siehe Kap. IV.8. 585 Vgl. ähnlich Bauer, 2019, S. 34–37. Siehe mit anderem Fokus Lechtermann, 2021, S. 107. 586 ‚Abbreviation‘ oder abbreviatio wird hier weniger im strengen Sinne als terminus technicus der Rhetorik verwendet (vgl. u.  a. Curtius, 1993, S. 479–485, bes. S. 481–482), sondern allgemein für verschiedene Strategien (der Thematisierung) von Kürze und Kürzung im Text. 587 Eine Sammlung dieser zur Kürze mahnenden Formulierungen bietet Schröder, 1881, S. 27–28. 588 Vgl. Rupp, 1971, S. 257–258.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Ein erstes Beispiel findet sich bereits zu Beginn des Schöpfungsrates. Hier wird betont, wie hart wisleiche Gott bei der Schöpfung allez underschiet (V. 210  f.), wobei vor allem auf die Erschaffung des Lichts am zweiten Schöpfungstag rekurriert wird. Doch anstelle eines weiteren Schöpfungsberichts folgt eine Abbreviation: des ist dehain not, daz wir daz allez gesagen, wan wir der ceit nicht enhaben, daz wir so verre chomen dar in, niwan daz wir mit disem begin iuch ermanen ein tail, wie sich hup unser hail (V. 220–226)

Die bisherigen Ausführungen (mit disem begin, V. 224) werden abgebrochen (wan wir der ceit nicht enhaben, V. 222); es wird direkt auf den Teufelssturz übergeleitet, der inhaltlich zur Erschaffung des Lichts passt.589 Erklären lässt sich die Abbreviation damit, dass die ausführliche Darstellung des Hexaemerons hier (noch) nicht ihren Platz hat. Die Schöpfung befindet sich gewissermaßen (noch) in der Planungsphase in gotes muote. Stattdessen wird die Rekurrenz auf die Erschaffung des Lichts zum Ausgangspunkt, um die Voraussetzungen für die Erschaffung des Menschen, den Teufelssturz, vermitteln zu können. Eine weitere Abbreviation zeigt sich im Hinblick auf das Zusammenwirken der Trinität bei der Taufe Christi. Über mehrere hundert Verse hinweg wird diskutiert, wie und in welcher Form man sich die trinitarische Einheit und Ungeschiedenheit in der Dreiheit vorzustellen habe, wenn Gott Vater vom Himmel herab als Stimme vernehmbar ist, während der Sohn auf Erden wandelt und der Heilige Geist als Taube am Himmel fliegt.590 Diese Ausführungen beenden folgende Verse: noch möcht wir vil rede da von phlegen, wan daz wirz ergrunden nicht enmegen. von diu lazze wir ez enceit (V. 813–815)

Das Paradoxon der Trinität lässt sich niemals vollends durchdringen (ergrunden, V.  814), weshalb ein Versuch rechtzeitig (enceit, V.  815) beendet werden muss. Um dies zu unterstreichen, wird eine Warnung König Salomos herangezogen:591 ez gebær im leicht michel lait, | swer ce vil von der gothait | sich welle an zuchen (V. 817–819). Im Prolog hatte das Sprecher-Ich die Rezipienten davor gewarnt, dass sich leicht selbst

589 Siehe auch Kap. IV.3. 590 Vgl. Kap. IV.4. 591 Vgl. Teuber, 1899, S. 278, mit weiterführenden Angaben.

7 Gestaltungselemente im Anegenge  

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ertrenchen könne, wer ze tiefe in die gotes tougen einzudringen versucht (V. 54–56). Hier nun, so scheint es, muss sich der Sprecher mit dem Verweis auf Salomon selbst daran erinnern, da ez in leichte muge verdruchen, | der ez gar ervorschen welle (V. 820  f.). Der Gegenstand – die Trinität – ist wunders so vol (V. 830), dass das Ich mittels zweier Adynata die Unmöglichkeit einer angemessenen Darstellung zum Ausdruck bringt: Selbst wenn er den himel unt die helle | unt daz paradeise (V. 822  f.) bereist (durchvaren, V. 822) hätte und über die Weisheit Salomos verfügen würde (also weise, | als der herre Salomon was, V. 824  f.), könnte er doch daz minniste | wort nicht errechen (V. 828  f.). Deshalb sei es nicht nur angemessen (mit mazzen, V. 831), sondern sogar angeraten, bei Zeiten (enzeit, V. 833) zu enden: von diu sul wir mit mazzen die rede enzeit lazzen. (V. 831–832)

Doch gerade weil das Thema so unbegreiflich und wunders so vol ist, fällt das Aufhören nicht leicht. Anstatt ein neues Thema anzufangen, setzt der Sprecher nochmals an, um mit einem weiteren Vergleich – die Sonne steht oben am Himmel und kann doch auf Erden wirken (V. 833–853) – das Paradoxon der Ungeschiedenheit der Trinität zu verdeutlichen. Dass auch das Aufzählen immer weiterer wunder keinen Ausweg bietet, zeigen die nächsten Verse: Gott hat so viele so gitaner wunder (V. 854) geschaffen, dass der, der sie elliu sant (V. 856) ergrunden unt ercellen (V. 857) wollte, fallen muss (V. 858).592 Das Verb vallen (V. 858) erinnert dabei an Teufelssturz und Sündenfall, wodurch ein solcher Versuch subtil als superbia ausgestellt wird. Die Abbreviationen und die wiederholten Versuche, das Thema zu beenden, führen damit nicht nur die Gefahr des ertrenchen vor Augen, sondern sublim, wie leicht es wäre, einer (Tod-)Sünde anheim zu fallen.593 Eine vermeintlich ähnliche Abbreviation findet sich in der Passage zum Leben Kains nach dem Brudermord: nu churce wir ez enceit. wir mugen ez allez nicht gesagen, genuc muze wir sein vertragen.594 (V. 1731–1733)

592 Über den Nachsatz wand erz ein wunderlich got ist (V. 859) wird das Vorhaben, vollständig von Gottes wundern erzählen zu wollen, gleichgesetzt mit vollständig von Gott selbst erzählen zu wollen. 593 Wie schwierig das Abbrechen an dieser Stelle ist, zeigt auch der nachfolgende Binnenprolog (V. 860–879): Wie um sich selbst zu erinnern, wiederholt das Ich die im Prolog angekündigten (weiteren) Themen und kann so auf seinen nächsten Punkt – in welcher Relation stehen der freie Willen der Engel und Menschen und die göttliche Voraussicht zueinander – überleiten. 594 Neuschäfer konjiziert hier verdagen.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Waren mit der letzten Abbreviation tiefgründige Glaubensfragen verbunden, so ist hier eher das Gegenteil der Fall: Unmittelbar vor der Abbreviation wurde gefragt, weshalb Kain eine Burg errichtet habe (V.  1716–1724). Die Antwort: Er hatte wohl Holz (V.  1725) oder seine Frau mag es veranlasst haben (V.  1730).595 Die Antworten erwecken – zumindest in moderner Rezeption – den Anschein, als habe sich die rede in Nebensächlichkeiten verirrt und müsse wieder auf das Wesentliche zurückgeführt werden. Dies leistet die Abbreviation: Wiederum beendet sie das voranstehende Thema – rechtzeitig (enceit, V. 1731) könnte man sagen. Zugleich liegt in dem vertragen (V. 1733) die Lizenz, sich nicht weiter mit Detailfragen aufhalten zu müssen, sondern unmittelbar auf das Sintflutgeschehen überzuleiten (V. 1734  f.). Besonders aussagekräftig ist die letzte Abbreviation, die hier besprochen werden soll. Sie findet sich im Anschluss an die Thematisierung der (Un-)Sichtbarkeit Gottes und ist gleichsam zweigeteilt. Zunächst wird das Thema der (Un-)Sichtbarkeit mittels einer Unfähigkeitsbeteuerung beendet:596 Disiu rede ist tieff unt swære. niemen enwære, der‹s› mit seinen sinnen möchte furbringen an die gotes lere. (V. 2230–2234)

Wie das wunder der trinitarischen Ungeschiedenheit nicht vollständig erklärt werden kann, kann das wunder der Unsichtbarkeit Gottes von menschlichen sinnen (V. 2231) nicht recht erfasst werden.597 Nun erst folgt die eigentliche Abbreviation: noch redete wir gern mere von dem anegenge, wan ih furchte, ez duncche iuch ze lenge (V. 2235–2237)

Bis zu diesem Punkt war im Anegenge vom Schöpfungsrat und der Geschichte des Menschen bis zur Verfluchung Chams die Rede. Auf diesen ‚Anfang‘ des Menschengeschlechts ließe sich das Substantiv anegenge (V.  2236) beziehen. Im Folgenden soll jedoch das Erlösungsgeschehen  – Tugendstreit; Verkündigung, Geburt und

595 Vgl. Kap. IV.1.2. 596 Vgl. allg. Hellgardt, 1984, S. 135. 597 Die Verse 2231  ff. sind wohl so zu verstehen: Es gibt niemanden, der sie, die rede, mit seinem Verstand ohne die Lehre Gottes ausführen/leisten (vgl. „BRINGE“, Mittelhochdeutsches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemid=B02028, hier 6.2, abgerufen am 11.03.2022) könnte. Neu-schäfer konjiziert: vürdringen an.

7 Gestaltungselemente im Anegenge  

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Tod Christi – fokussiert werden. Die biblische Geschichte bis zur Menschwerdung Gottes wird dabei gleichsam im Zeitraffer zusammengefasst: wan sehs unt dricic gislechte | von Adamen chomen waren | unz an die ceit zware | daz got mensch wart (V. 2239–2242).598 Mit dieser Formulierung wird sie an die Genealogie Christi gebunden, wobei eine direkte Verbindung zwischen Adam und Christus als alter Adam hergestellt wird. Die Abbreviation bildet somit ein Scharnier, das das Schöpfungsgeschehen des Anegenge mit seinem Erlösungsgeschehen verbindet. – Zu erinnern ist überdies, dass mit anegenge auch Gott selbst gemeint sein kann.599 Zieht man diese Lesart hier in Betracht, so bezieht sich die Abbreviation nicht nur auf den Übergang von Schöpfungs- auf Erlösungshandlung, sondern auch von den Erklärungsversuchen explizit göttlicher Eigenschaften auf die nächste Ratsszene, den Tugendstreit. Damit lässt sich festhalten: In den Abbreviationen des Anegenge spiegelt sich nicht die Unfähigkeit eines Dichters sein Thema in den Griff zu bekommen,600 sondern sie haben funktionalen Anteil an der Struktur des Anegenge. Sie ermöglichen es, die verschiedenen Fäden oder Stränge des Anegenge  – bibelepische Passagen, trinitarische Beratungen, Kommentare oder Erklärungsversuche des Sprechers  – immer wieder einzufangen. Dadurch können auf dem Weg von der Schöpfung bis zur Erlösung wiederholt Abzweigungen genommen werden, mittels derer weitere Aspekte und Informationen eingespielt oder thematisiert werden können. Makroskopisch folgt das Anegenge damit der Heilsgeschichte, während mikroskopisch Umwege möglich sind. Noch deutlicher wird dies im folgenden Gestaltungselement.

7.4 Wiederholungen und Neuansätze Wiederholungen601 fallen im Anegenge nicht nur in der Passage zur Sündenwaage602, sondern immer wieder auf, was vor allem die ältere Forschung zu negativen Urteilen über Text und unbekannten Verfasser veranlasste.603 Rupp beispielsweise hält fest, dass schon aus den ersten gut 200 Versen des Anegenge deutlich wird, 598 Zu den 36 Generationen vgl. u.  a. Teuber, 1899, S. 334. 599 Vgl. dazu Kap. IV.2. 600 Dass die Forschung hier viel über einen Kamm geschert hat, ohne genauer nach Ursachen und Funktionen zu unterscheiden, zeigen schon die Belegstellen bei Schröder, 1881, S. 26–28. 601 Im Anegenge finden sich unterschiedliche Formen von Wiederholungen, so auch Epitheta, Phrasen und Formeln oder Sequenzen. Diese Arten von Wiederholung sollen im Folgenden nicht besprochen werden. Vgl. zu Wiederholungen in der Heilsgeschichte am Beispiel der Wiener Genesis Lieb, 2009. 602 Siehe Kap. IV.6. Einen anderen Ansatz, um die Wiederholungen und ,Verwirrungen‘ im Anegenge zu erklären, verfolgt Lechtermann, 2021, indem sie „commentarial forms in the Anegenge“ (ebd., S. 93) untersucht. 603 Vgl. schon Kelle, 1876, S. 143.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

was der Dichter will – und was er nicht zu leisten vermag. Er will schwierige dogmatische Fragen behandeln und erklären. Es gelingt ihm aber nicht immer, sich gedanklich klar auszudrücken und einen bestimmten Plan konsequent durchzuführen. Das zeigen die Verwirrungen und Wiederholungen, die das ganze Gedicht durchziehen.604

Derartige Einschätzungen scheinen die Sicht auf das Anegenge, wenn vielleicht auch unbewusst, so sehr geprägt zu haben, dass noch Jan-Dirk Müller (2017) von ‚Verwirrungen‘ im Anegenge spricht, obwohl seine Analyse gerade die Funktionalität der Wiederholungen und Anachronien zeigen will:605 Um Zeitenthobenheit darzustellen, verwirrt der Erzähler die Abfolge der Ereignisse, die der Schöpfung vorausgehen; ihr Verhältnis zueinander wird verunklärt. Die Erschaffung der Engel, der Engelsturz, die Schöpfung kommen mehrfach vor.606

Tatsächlich lässt sich beobachten, dass die Schöpfung mehrfach thematisiert wird,607 als Schöpfungsplan in Gottes muote und als Schöpfungshandlung in ‚Fünftagewerk‘ und Menschenschöpfung. Daneben werden wiederholt einzelne Aspekte der Schöpfung, wie die Erschaffung des Lichts, angeschnitten, ohne eigentliche Schöpfungshandlung zu sein.608 Insbesondere der letzte Punkt fällt verstärkt im Abschnitt des Schöpfungsrats auf – wobei es eigentlich irreführend ist, von ‚dem Schöpfungsrat‘ zu sprechen, denn die eine durchgängige Beratung gibt es nicht. Vielmehr lässt sich eine Reihe von ‚Schöpfungsratssequenzen‘, drei an der Zahl,609 beobachten, die durch verschiedene Themenkomplexe getrennt sind. Dreimal scheint die Beratung der Trinität gleichsam von Neuem zu beginnen, wobei jedes Mal die ursprüngliche Situation der Beratung (er wart ze rat, V. 139; an dem rate, V. 188; do riet si, V. 439) aufgerufen ist.610 Doch 604 Rupp, 1971, S. 220. Ähnlich Stridde, 2011, Sp. 501: „Eine zunächst von der einleitend thematischen Zusammenfassung (V. 61–85) angelegte syntagmatische Stringenz wird durch zahlreiche Rückgriffe, Neuanfänge und Wiederholungen von bereits früher Besprochenem permanent unterlaufen. Das entspricht der von Neuschäfer nachgewiesenen Kreisbewegung der Darstellung, durch welche Schöpfungs- und Heilstheologie typologisch aufeinander bezogen bleiben (1969, S. 5).“ 605 Vgl. Müller, 2017, S. 313; Müller, 2017a, S. 28: „Was auf den ersten Blick konfus scheint, ist ein Versuch, das Dilemma des Erzählens vom Anfang vor dem Anfang zu bewältigen.“ Womöglich hat auch Kiening, 2015, S. 72, derartigen Verwirrungen im Blick, wenn er von ‚zurückblenden‘ spricht. Hinter all diesen Annahmen steht wohl das Problem einer (modernen) Kohärenzerwartung, die das Anegenge zumindest (vordergründig) nicht erfüllt. 606 Müller, 2017, S. 313. 607 Vgl. auch Müller, 2017a, S. 28. 608 Wie Lieb, 2009, S. 56, herausstellt, ist eigentlich schon die Menschenschöpfung eine Wiederholung der Engelsschöpfung. 609 Becker, 2020, S. 212–216, geht hingegen davon aus, dass sich die Schöpfung im Anegenge in „Etappen“ vollzieht, von denen sie vier zählt. 610 Ähnliches zeigt Müller, 2017a, S.  28–33, für die sog. Christherre-Chronik. Müller (ebd.) nennt dieses Verfahren „Anläufe“, bezieht sich dabei aber eigentlich auf den dreifachen Prolog der Chronik.

7 Gestaltungselemente im Anegenge  

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bedeutet dies nicht, dass die Abfolge der Ereignisse ‚verwirrt‘ wäre. Vielmehr wird mit jedem dieser ‚Neuansätze‘611 ein je anderer Aspekt des (künftigen) Schöpfungsgeschehens als Rat des Heiligen Geistes,612 der guote, vorgeführt: du waren seine gute ræte (V. 146); do geriet si im daz (V. 190); do riet si dem vater daz (V. 439). Anstatt die Ereignisse zu verwirren, wird ein und dieselbe Grundvoraussetzung – die Trinität berät über die Erschaffung der Welt – wiederholt aufgegriffen, um von ihr aus je neue Gesichtspunkte, Bezüge und Probleme zu behandeln. Dabei kommt es zwangsläufig zu einem Nebeneinander beziehungsweise einer Überlagerung verschiedener (zeitlich-chronologischer) Aspekte. Deutlich zeigt sich dies beispielsweise in der zweiten Schöpfungs­ ratssequenz. Hier wird, wie im Zusammenhang mit den Abbreviationen ausgeführt, der zweite Schöpfungstag behandelt, die übrige Schöpfung jedoch nur angedeutet: an dem sehsten er den man geschuof unt ouch sumlichiu tyer. der tievel geviel do vil schier von dem himelreiche. (V. 206–209)

Dabei wird die Erschaffung des Menschen (V. 206  f.) enggeführt mit dem Sturz des Teufels (V. 208  f.). Das do (V. 208) das bereits an anderen Stellen als Hinweis auf Aufbrüche im Stillstand göttlich-zeitloser Ewigkeit fungierte,613 markiert auch hier einen Einschnitt. Es suggeriert einen zeitlichen Ablauf der Schöpfungshandlungen Gottes – wiewohl es sich bei diesen noch um Schöpfungspläne des trinitarischen Gottesrates handeln kann –, und verknüpft solcherart Menschenschöpfung und Engelssturz. In der Lesart des Anegenge scheint der Engelssturz dabei erst nach der Erschaffung des Menschen stattzufinden.614 Nach der Tradition, der das Anegenge folgt, ist es allerdings gerade der Engelssturz, der die Erschaffung des Menschen überhaupt erst ‚notwendig‘ macht:615

611 Der Begriff Neuansatz fällt, ohne näher bestimmt zu werden, bei Kiening, 2015, S. 73. Kiening (ebd., S. 74) hält zudem fest, dass „Fragen des Anfangs ein immer wieder neu ansetzendes Sprechen stimulieren können.“ 612 Zur besonderen Funktion des Heiligen Geistes als Ratgeber im Anegenge siehe Egert, 1973, S. 117– 126. 613 Siehe Kap. IV.2. 614 Viele Texte, „die in der Tradition der Vita Adae stehen, verlegen Luzifers Sturz z.  B. auf den sechsten Schöpfungstag, unmittelbar nach der Erschaffung Adams“ (vgl. Lieb, 2009, S. 52–53). Ob sich das Anegenge hier auf diese Tradition bezieht, bedürfte weiterer Untersuchungen. 615 Für Müller, 2017, S. 313, handelt es sich bei den Versen 206  ff. um eine Verwirrung der „Abfolge der Ereignisse, die der Schöpfung vorausgehen“: „In die Zeitordnung des Hexahemeron [sic!] ist als entscheidendes heilsgeschichtliches Datum die Empörung und der Sturz Lucifers eingeschoben, obwohl dieser doch schon selbst Voraussetzung der Schöpfung der Welt sein soll“ (ebd.). Vgl. zum Teufelssturz auch Lieb, 2009, S. 51–52, mit weiterführender Literatur.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

„einen menschen sul wir schephen, den val da mit ersetzen, den die engel hant gitan, daz si die selben wunne han.“ (V. 1069–1072)

Der Mensch wird erschaffen, um den höchsten Himmelschor, der durch den Sturz der Engel leer gewordenen ist, wieder zu besetzen. Ein Widerspruch? Nicht notwendigerweise, denn bei den Versen 206  f. handelt es sich weniger um den eigentlichen Schöpfungsakt, als um Schöpfungsplanung, die Ratschläge der guote. Erneut wird hier das Immer-schon des göttlichen Heilsplans ausgestellt – doch nicht durch ‚Verwirrungen‘, sondern durch Parallelisierungen: In Gottes Heilsplan ist alles angelegt und gesehen, es gibt kein vorher oder nachher, es gibt nur das Immer-schon.616 Stützen lässt sich diese Deutung zudem mit einem grammatischen Argument: Die Verbform geviel (V. 208) ist ein Indikativ Präteritum Singular, ordnet sich also den anderen Präteritumsformen (geschuof, underschiet) bei. Es wird eine Gleichzeitigkeit suggeriert, die dem Immer-schon des göttlichen Heilsplanes dienlich ist: Gott weiß ‚zu jeder Zeit‘ sowohl vom Engelssturz, als auch von der (anschließenden) Erschaffung des Menschen.617 Dass Wiederholungen im Anschluss an den Tugendstreit in der Passage zur Sündenwaage zentral sind, hat das voranstehende Kapitel gezeigt.618 Die Funktion einiger dieser Wiederholungen lässt sich nun nochmals mit Blick auf den Erlösungsrat präzisieren. Während für den Tugendstreit moniert wurde, dass (vermeintlich) keine richterlich-göttliche Instanz die Erlösung beschließe,619 kann im weiteren Verlauf kein Zweifel mehr bestehen: Das Wollen des schephære (V. 2788), Gott Vaters, wird zum Auslöser für den weistuom (V. 2794), den Gottessohn, im Bild der Sündenwaage die Erlösung – erneut – zu beschließen und zu ermöglichen.620 Denn der Erlösungsrat endet nicht mit dem Streit der Tugenden im Kuss von recht und fride (V. 2387), vielmehr wird wiederum mit der Strategie des Neuansatzes gearbeitet: Im ersten Ansatz, dem Tugendstreit, steht die Erarbeitung einer Lösung für das innergöttliche Dilemma, die Menschwerdung Christi, im Fokus. Im zweiten Ansatz wird diese Lösung über das Bild der Sündenwaage, bei dem jede Sünde Evas durch eine Erlösungstat Marias aufgewogen wird, erinnert und en detail abgearbeitet. In der Wiederholung des Erlösungsbeschlusses, einmal als Tugendstreit, einmal als zweiter Erlösungsrat in Christi denchen, kann die kaum fassbare Glaubenswahrheit – Menschwerdung und 616 Siehe auch Kap. IV.2. 617 Indem das ge-Präfix von geviel zugleich eine gewisse Vorzeitlichkeit einspielen kann (vgl. Paul, § S 4–6), changiert der Teufelssturz hier gleichsam zwischen Vorzeitigkeit und Gleichzeitigkeit. Vgl. zur Gleichzeitigkeit bei der Schöpfung u.  a. Kiening, 2015a. Vgl. allg. Köbele und Rippl, 2015. 618 Vgl. Kap. IV.6. 619 Siehe Kap. IV.3.2. 620 Anders Becker, 2020, S. 221–222, die den Beschluss zur Erlösung jeweils von der guote ausgehen lässt.

7 Gestaltungselemente im Anegenge  

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Sterben Gottes für den Menschen – anschaulich(er) gemacht werden.621 Zugleich zeigt sich erneut das Zusammenwirken der Trinität, wenn Gott Vater will und Gott Sohn denkt. Noch deutlicher zeigt sich dies im dritten Neuansatz, unmittelbar vor der Synopse von Adam  / Christus. Eingeleitet wird diese Zusammenschau durch eine erneute Zusammenfassung der Beschlüsse des Erlösungsrates (V. 2949–2965): Do diu gotes gute mit vil manigem rate den gewalt des ubergie, daz er seinen zorn lie […], do enhete menschlich gislechte niht so vil raines, daz ez vergelten mehte, so michel was ir armde. do sprach aber diu erbarmde ze dem habendem gewalte. einen menschen, der mit im selben galte, den sande er uns ce troste, der mit sein selbes leibe erloste allez manchunne. (V. 2949–2965)

Gott erbarmt das Leid des Menschen, doch kann die Menschheit nur erlöst werden, wenn Gott selbst Mensch wird (einen menschen, V.  2962), um den Menschen mit seinem Tod zu erlösen (der mit sein selbes leibe erloste | allez manchunne, V. 2964  f.). Während im ersten Ansatz der Fokus auf den Tugenden Gottes, im zweiten auf weishait und erbarmde liegt, sind es nun gute (V.  2949) und erbarmde (2960), die dafür sorgen, dass Christus die Sünden der Menschen aufwiegt. – In diesem dreimaligen Neuansatz des Erlösungsrates könnte man eine Korrespondenz zu den drei Neuansätzen des Schöpfungsrates sehen, wodurch implizit auch eine Synopse der beiden Ratsszenen angedeutet ist. –622 Der dritte Neuansatz kippt dabei gleichsam von Erlösungsberatung in Erlösungshandlung,623 wodurch die Erlösung gleichsam rechtskräftig wird.624 Es zeigt sich demnach, dass es sich bei den sogenannten ‚Verwirrungen‘ im Anegenge nicht um planlose (Rupp), aber auch nicht um absichtliche (Müller) Wirrnisse handelt. Vielmehr folgt jeder Neuansatz grundsätzlich der Chronologie heilsgeschicht-

621 Damit kommt zu den in Kap. IV.6 gezeigten Wiederholungen noch eine weitere Form hinzu. 622 Verdeutlichen könnte dies auch der beinahe formelhafte Eingangsvers Do diu gotes gute (V. 2949; vgl. V. 187). 623 Siehe Kap. IV.6. 624 Dies zeigt sich auch daran, dass auf den dritten Neuansatz Descensus und Himmelfahrt Christi folgen.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

licher Abfolgen. Doch werden durch die Strategie, immer wieder neu mit demselben Thema zu beginnen, um so verschiedenste Aspekte dieses Themas aufgreifen und ausleuchten zu können, Vor- und Rückgriffe nötig, die eine absolute Chronologie unterlaufen. Die dabei unumgänglichen Wiederholungen dienen einerseits als Transportmittel für neue Aspekte. Durch ihre Parallelität übernehmen sie sogar eine gewisse gliedernde Funktion. Zum anderen ist es gerade dieser Wechsel aus Wiederholungen und Neuansätzen, der es ermöglicht, (zeitliche) Abläufe trotz und in der Ewigkeit Gottes darstellen zu können: Die Neuansätze ermöglichen die Vorführung der göttlichen Beratung, den Nachvollzug göttlichen denchens, und suggerieren so eine Entwicklung des immer schon vollständigen Schöpfungs- und Heilsplanes Gottes.625

7.5 Fazit Das Anegenge ist ein Text des Anfangs. Dieser Anfang wird über das gesamte Anegenge hinweg präsent gehalten, was vornehmlich darauf zurückzuführen ist, dass Gott, genauer die Trinität, dargestellt werden soll. Denn in Gottes denken in der Ewigkeit ist immer schon der gesamte Heilplan angelegt und gesehen. Schöpfung, Sündenfall und Erlösung können damit in den Ratsszenen geplant, in den bibelepischen Passagen ausgefaltet und in den Reflexionen erklärt und diskutiert werden, wobei der Fokus doch immer auf der Trinität und ihrem Zusammenwirken im Heilsplanen und Heilshandeln bleibt.626 Deutlich wird dabei, dass das Anegenge zwar grundsätzlich der Chronologie der Heilsgeschichte – Schöpfung, Sündenfall, Erlösung – folgt, in nuce aber anachronistische Tendenzen aufweist, die zunächst ‚verwirren‘ mögen. Mit anderen Worten: Die Makroebene des Textes orientiert sich chronologisch an der Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur Erlösung,627 während diese Chronologie auf der Mikroebene wiederholt unterlaufen wird.628 Hierin mag auch der Grund dafür liegen, warum zumal die ältere Forschung dem Anegenge wiederholt eine schlechte

625 Die hier vorgestellten Wiederholungen und damit auch ihre Funktionen ließen sich vermehren, zumal wenn man auch mikroskopische Wiederholungen in Betracht zieht. 626 Beratungen „über Erschaffung und Erlösung des Menschen unternehmen es, den alt- und den neutestamentlichen Schöpfungsplan als zugleich zeitlichen und überzeitlichen Prozess aufeinander zu beziehen“ (vgl. Kiening, 2014, S. 145). Im Anegenge lässt sich dies besonders deutlich im Motiv der Sündenwaage beobachten (siehe Kap. IV.6). 627 Diese These wird dadurch bestätigt, dass die Heilsgeschichte in den bibelepischen Passagen – erst diese nämlich sind als ‚in der Zeit‘ zu denken – sehr wohl chronologisch erzählt werden kann; nur in Bezug auf die Beratungen der Trinität, und besonders im Schöpfungsrat, der vielleicht noch mehr als der Erlösungsrat der Zeit enthoben gesehen wurde, finden sich das, was die Forschung als ‚Verwirrungen‘ bezeichnet hat. 628 Vgl. mit anderem Fokus Stridde, 2011, Sp. 501. Kiening, 2015, S. 73, geht sogar soweit, dass er von einem „Oszillieren“ spricht, weshalb ein „naive[r] Nachvollzug der Heilsgeschichte […] verunmöglicht“ werde.



8 Das Anegenge und seine Kotexte im Cod. Vind. 2696 

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Machart unterstellt hat: das Anegenge lässt sich nicht gliedern. Dies ist jedoch kein Ausweis von mangelndem dichterischem Können, sondern gerade Teil der Eigenlogik des Anegenge: Wiederholungen, Rück- und Vorgriffe sind Strategie, um immer neue Aspekte der Trinität einzubringen und auszuleuchten und sich so dem eigentlich unbegreiflichen Paradoxon der Trinität so weit wie möglich annähern zu können. Am deutlichsten ließ sich dies an den beiden Ratsszenen zeigen, denn diese setzen immer wieder von Neuem an, um je andere Aspekte von Schöpfung und Erlösung, vor allem aber der Trinität zu transportieren. Im Bild der Sündenwaage wird das System von Wiederholung und Neuansatz dabei gleichsam auf die Spitze getrieben, wodurch nicht nur die Rechtmäßigkeit der Erlösung betont wird, sondern auch die Stränge der einzelnen Ansätze zusammengeführt und miteinander verknüpft werden. Hierfür nutzt das Anegenge weitere Gestaltungselemente, die nicht nur das Einspielen zusätzlicher Aspekte ermöglichen, sondern auch gliedernde Funktionen übernehmen, indem sie die einzelnen Elemente zusammenbinden, wodurch erst ein großes Ganzes, das Anegenge, ensteht. Diese Gestaltungselemente können auf neue Themen und Aspekte überleiten oder Aufmerksamkeit für sie erzeugen (Initialen); sie können Themen und Aspekte abbrechen und so den Fokus auf dem Wesentlichen halten (Abbreviationen); sie können Aspekte oder Elemente verschalten, andeuten und gleichsam nebenbei einspielen (Namen und Stichworte). All diese Gestaltungselemente ermöglichen es, Gottes Heilsplan bis zum Zielpunkt, die Erlösung des Menschen durch Christus, ja sogar bis zum Jüngsten Gericht, auszudehnen und mit dem Anfang zu verknüpfen.

8 Das Anegenge und seine Kotexte im Cod. Vind. 2696 8.1 Noch einmal Cod. Vind. 2696 Wurde das Anegenge bisher vorwiegend als Einzeltext behandelt und analysiert, so soll der Blick abschließend nochmals auf seinen Überlieferungsträger erweitert werden. Der Codex Vindobonensis 2696 überliefert zehn Texte, was in einer Art ‚Minimalinhaltsangabe‘ festgehalten ist: Summe der buͦ che ſint ze|heniv (fol. 0v).629 Diese Texte sind folgende:630

629 Die Angabe ist ebenso rubriziert, wie die auf derselben Seite überlieferte Überschrift der Kindheit Jesu. Siehe auch Neuser, 1973, S. 11, Anm. 18. Schon er hält fest, dass es interessant wäre, „den Beziehungen, die sich aus der Anordnung der Gedichte innerhalb des Codex […] ergeben, im einzelnen nachzugehen“ (ebd.). Zitiert wird nach den jeweiligen Handschriften mit leichten Leseerleichertungen (‹s› statt ‹ſ›; aufgelöste Supraskripte und Abbreviaturen); für Zitate aus dem Cod. Vind. 2696 siehe auch die Prämissen der Neuedition (Kap. II.3). 630 Im Folgenden wird lediglich auf jene Textelemente abgehoben, die Hinweise für eine konzeptionelle Handschriftenanlage sein könnten. Vgl. zum Inhalt des Cod. 2696 u.  a. Fechter, 1968.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Die Handschrift eröffnet die Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen (fol. 0v–20v).631 Hier werden Verkündigung und Geburt Christi sowie die Flucht nach Ägypten behandelt, wobei der Fokus verstärkt auf den frühen Wundertaten Christi (Speisewunder; Badeschaumwunder) liegt. Die nachfolgende Urstende Konrads von Heimesfurt (fol. 20v–35r) greift diese (und andere) wunder wieder auf und macht sie zum Thema der Anklagen gegen Christus, aufgrund derer er verurteilt und gekreuzigt wird.632 Die namensgebende Wiederauferstehung (urstende) Christi scheint allerdings eher Rahmenhandlung zu sein, im Fokus der Erzählung steht die Verhandlung der Ungläubigkeit der Heiden, insbesondere der Juden, – eine Thematik, die bereits in der Kindheit Jesu anklingt und auch den nachfolgenden Text bestimmt: Im Jüdel (fol. 35r– 38r) geht es um einen jüdischen Jungen, der in einer christlichen Schule möglichst viel Wissen erwerben soll.633 Immer stärker von christlichen Traditionen und Handlungsweisen geprägt, besucht der Junge die Messe. Eine visio Christi führt zu seiner conversio, woraufhin ihn die Juden zum Tod durch Verbrennen verurteilen. Maria aber rettet den Jungen als Lohn dafür, dass er einmal ihre Statue gereinigt hat, aus den Flammen. Wie schon die vorherigen Texte wirft das Jüdel ein negatives Bild auf die Juden, zeigt dabei jedoch, dass sie nicht nur fähig zur conversio sind, sondern sogar an göttlichen wundern teilhaben können. In Sankt Katharinen Marter (fol. 38r–59v) wird erzählt, wie die Heilige Katharina von Heiden gefoltert und schließlich getötet wird, wobei sie allerlei (Heiligen-)wunder vollbringt.634 Auch der Bischof Servatius wirkt in der gleichnamigen ServatiusLegende (fol. 59v–82v) bereits zu Lebzeiten wunder und bekehrt nach seinem Tod zahlreiche Zweifler, Juden und Heiden zum Christentum.635 Der nachfolgende Text, Daz gemeine leben (fol. 83r–89v; Titel: fol. 156v), zeigt, wie es am Jüngsten Tag allen, besonders aber den phaffen ergehen wird, die auf Erden gegen Gottes Willen und Gebote handeln.636 Hierauf folgt das Anegenge (fol. 89v–111r).637 Albers Tnugdalus (fol. 111r–125v) berichtet sodann von einer Vision, in deren Verlauf dem gleichnamigen Protagonisten Tnugdalus das Paradies und die Hölle gezeigt werden, was seine sofortige Umkehr zu einem christlichen Leben bewirkt. Auch im (vor-)letzten638 Text der Sammlung wird vor Tod und Jüngstem Gericht gewarnt, was sich wohl im Titel die Warnung (fol. 125v–151v) niedergeschlagen hat.639 631 Vgl. allg. Fromm, 2VL, Bd. 5, Sp. 172–175. 632 Vgl. allg. Fechter, 2VL, Bd. 5, Sp. 198–202. 633 Von Beginn an wird hier die Überlegenheit des Christentums, zumindest aber des christlichen Bildungssystems impliziert. Vgl. allg. Rosenfeld, 2VL, Bd. 4, Sp. 891–893. 634 Vgl. allg. Assion, 2VL, Bd. 4, Sp. 1059. 635 Vgl. allg. Gärtner, 2VL, Bd. 7, Sp. 1–5. 636 Vgl. allg. Neuser, 2VL, Bd. 3, Sp. 787–797. 637 Vgl. allg. Neuser, 2VL, Bd. 1, Sp. 352–356. 638 Ursprünglich bildete die Warnung wohl den letzten Text der Handschrift. 639 Vgl. allg. Huber, 2VL, Bd. 10, Sp. 733–735.



8 Das Anegenge und seine Kotexte im Cod. Vind. 2696 

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Nach heutiger Bindung schließt die Sammlung mit dem Fragment des sogenannten Priesterlebens Pseudo-Heinrichs von Melk (fol. 152r–156v), weitere Ermahnungen der phaffen, besonders im Hinblick auf einen gottgefälligen Umgang mit Frauen.640 Alle Texte sind mit einem rubrizierten Titel in der immer gleichen Formulierung Daz buͦ ch heizzet … versehen.641 Dies und die ‚Inhaltsangabe‘, aufgrund derer auch deutlich wird, dass trotz Lücken (s.  u.) alle Texte vorhanden sind, können, wie zu erinnern ist, auf eine planvolle Anlage der Sammelhandschrift hindeuten.642 Dies soll im Folgenden näher untersucht werden.

8.2 Rezeptionsmöglichkeiten Wenn man davon ausgeht, dass der Cod. Vind. 2696 Resultat einer konzeptionellredaktionellen Bearbeitung ist, ist zu fragen, ob es auch jenseits der Paratexte (Inhaltsangabe, Titel) Hinweise auf eine konzeptionelle Anlage gibt. Tatsächlich findet sich ein solcher Hinweis gleich im ersten Text der Sammlung: Liest man den Prolog der Kindheit Jesu, so fällt auf, dass die Passage zur Vermählung Josephs mit Maria in den verschiedenen Überlieferungszeugen je anders akzentuiert, zum Teil deutlich gekürzt oder erweitert ist.643 Während beispielsweise die Donau­ eschingener Handschrift C644 eine ausführliche Einlassung zur Notwendigkeit einer Vermählung Mariens bietet,645 ist in einer weiteren Wiener Sammelhandschrift, dem Cod. Vind. 2742 (fol. 76v–77r)646, folgendes überliefert: und wie ez seit dar zu chom daz si joseph ze konen nam und wie si in ainer chamer verspart von dem hailigen gaiste swanger wart unt wie si chom unz an die frist daz der hailige christ von der maide wart geboren mit welhem neide unt zorn 640 Vgl. allg. Neuser, 2VL, Bd. 3, Sp. 787–797. 641 Die einzige Ausnahme bildet das Priesterleben, dessen Titel (und Anfang) einem Blattverlust zum Opfer gefallen ist (s.  u.). 642 Siehe Kap. II.1. Vgl. auch Fechter, 1968, S. 247. 643 Grundsätzlich weist die Kindheit Jesu eine ausgeprägte handschriftliche Varianz auf, in der eine Kurzfassung (Cod. Vind. 2742, A) und eine Langfassung (Cod. Donaueschingen 74, C) von der Fassung des Cod. Vind. 2696 (B) abzugrenzen ist (vgl. Tomasek, 2018, S. 65, Anm. 7). Zu den verschiedenen Redaktionen der Kindheit Jesus siehe u.  a. Henkel, 1996, S. 10–12. 644 Karlsruhe, Badische Landesbibl., Cod. Donaueschingen 74. 645 Vgl. Fromm und Grubmüller, 1973, S. 77–79. 646 Wien, ÖNB, Cod. 2742: https://handschriftencensus.de/1229, aufgerufen am 11.03.2022; https:// digital.onb.ac.at/RepViewer/viewer.faces?doc=DTL_5464491&order=1&view=SINGLE, abgerufen am 11.03.2022.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

begunde under des der kunich herodes des selben kindes varen und wie ez got geruochte bewaren alle diu gelichait ist vor genzlich gesait swer des irre var der nem sein an dem ersten getihte || war ich velschot min chunst dar an swelich materi an ander man der werlde hiet gemachet chunt wolt ich die tihten ander stunt und wer auch ze lenge da von ich ez anvenge hie an ainer stat des er vor niht geschriben hat

Die Sammelhandschrift 2742 nutzt die Verse und wie ez seit dar zuo chom ff. als Auftakt für einen schlagwortartigen Abriss von Ereignissen – die Vermählung Marias mit Joseph; Verkündigung und Geburt Christi; die Verfolgung durch Herodes –, die bereits bestens bekannt (genzlichen geseit) seien. Erneut tihten zu wollen, was ein ander man | der werlde hiet gemachet chunt wäre der kunst dieses Ich nicht angemessen (velschot). Stattdessen soll mit etwas (an einer stat) begonnen werden, wovon er vor nicht geschrieben hat. Die Sammelhandschrift 2742 nimmt also im Vergleich zu den ausführlich(er)en Darstellungen der Donaueschingener Handschrift C eine ‚Kürzung‘ der heilsgeschichtlichen Ausführungen vor,647 da sie bereits zuvor Erzähltes nicht wiederholen wolle. Worauf genau damit angespielt ist, wird nicht gesagt, doch kann man vermuten, dass mit dem ander[n] man und dem er Priester Wernher gemeint ist, dessen Driu liet von der maget der Kindheit Jesu im Cod. Vind. 2742 direkt voranstehen.648 Zudem werden die Rezipienten der Kindheit Jesu explizit auf das erst[ ] getiht[ ] verwiesen – innerhalb dieses Überlieferungsverbundes Wernhers Driu liet.649 Dort könnten die Rezipienten nachlesen (nem sein […] war), wenn sie bezüglich der übersprungenen Ereignisse unsicher sind (swer des irre var).650 Die Kindheit Jesu des Cod. Vind. 2742 scheint somit konzeptionell-redaktionell an die Gegebenheiten speziell dieses Textträgers, an einen Rezeptionskontext mit den Driu liet von der 647 Vgl. Henkel, 1996, S. 14. 648 Vgl. Henkel, 1996, S. 14. Immer wieder wurde auch überlegt, ob dieser Verweis noch einem bereits zuvor genannten meister Heinrîch (KJ V. 98) zuzuweisen ist (vgl. u.  a. Scherer, 1875, S. 69–70; Düwel, 1983, S. 32; Tomasek, 2018, S. 65). Anders Schröder, 1929, S. 145. 649 Die Anlage der beiden Texte weist sie überdies als Einheit aus, da die Driu liet nur durch eine Initiale von der Kindheit Jesu getrennt und beide Texte von einer Hand geschrieben sind. Vgl. Henkel, 1996, S. 8; 14. Zum Verhältnis von Kindheit Jesu und den Driu liet siehe u.  a. Schmitt, 2012. 650 Überdies bestünde natürlich auch die Möglichkeit, die Driu liet und die Kinheit Jesu hintereinander zu rezipieren, wodurch sich ein Nachlesen erübrigen würde.



8 Das Anegenge und seine Kotexte im Cod. Vind. 2696 

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maget, angepasst worden zu sein.651 Es wird „eine Art stofflichen Erzählkontinuums ‚biblischer Geschichte‘ […] erarbeitet, bei dem sich das einzelne Werk als Teil eines umfassenderen Ganzen gibt.“652 Vergleicht man diesen Abschnitt des Cod. Vind. 2742 mit dem entsprechenden des Cod. Vind. 2696 (fol. 1v; links) und dem fast wortgleichen Fragment L (fol. 1v; rechts)653, so ergeben sich folgende Abweichungen: wie ez seit da zuo quam daz si Joseben genam daz verswige ih hie durch einen list want ez vor mir getihtet ist ich velschet meine chunst dar an swelh materie ein ander man den liuten hat gemachet chunt wold ih die tihten ander stunt Unt wer ouch ze lenge ein buoch heizzet daz anegenge Swer des mæres irre gat der suoch iz dar an wand ez da stat

Wie ez sider dar zuo quæme daz si Joseph ze wibe næme daz verswige ich durh den list wand ez vor mir getihtet ist Ich velschete mine chunst dar an swelhe materie ein ander man der werlde het gemachet chunt wold ich di tihten ander stunt daz wære ouh gar ze lenge ein buoch heizzet daz anegenge swer dises mære irre gat der suchez dran wand ez da stat

In der Anegenge-Handschrift wird mit derselben Kürzungsstrategie wie im Cod. 2742 gearbeitet, doch ist diese dort noch stärker umgesetzt: Sollen im Cod. 2742 neben Marias Verlobung auch Christi Empfängnis und Geburt etc. ausgespart werden, so ist im Cod. 2696 sogar nur noch von der Frage, weshalb si Joseben genam, die Rede. Zudem wird hier nicht auf den Text dar vor verwiesen, sondern auf ein buoch das heizzet daz anegenge. Dieser Verweis ist keine neue Entdeckung,654 eine Verlinkung zwischen der Kindheit Jesu des Codex 2696 und dem Anegenge derselben Handschrift wurde wiederholt erwogen,655 jedoch immer wieder verworfen.656 Der Bezug auf das Anegenge derselben Handschrift lässt sich jedoch affirmieren, wenn man die Stelle in den jeweiligen Überlieferungszeugen vergleicht. Denn während im Codex 2742 auf das erst[ ] getiht[ ] verwiesen wird, in welchem man die 651 Damit sei gerade nicht gesagt, dass dieser Bezug und diejenigen der anderen Handschriften (s.  u.) auf den Autor selbst zurückgehen. Anders Tomasek, 2018, S. 82. 652 Vgl. Henkel, 1996, S. 9. „Daß das nicht nur die Texte als solche betrifft, sondern auch innerhalb der Textgeschichte bei den eigenständig gestalteten Redaktionen beobachtet werden kann und vom jeweiligen Corpuszusammenhang bestimmt ist, wird sich erweisen“ (ebd.). 653 Berlin, SBB-PK, Ms. germ. 1021. http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001881D000 00000, abgerufen am 11.03.2022. Vgl. u.  a. Müller, 2006, S. 411. 654 Vgl. u.  a. Schröder, 1929; Henkel, 1996. 655 Schröder, 1929, S. 145, geht sogar mit einiger Bestimmtheit davon aus, dass es sich um eben das Anegenge derselben Handschrift handelt. Doch sieht er hierin keinen Hinweis auf eine konzeptionelle Anlage des Cod. 2696. 656 Schon Kelle, 1876, S. 153, lehnt eine mögliche Bezugnahme auf das vorliegende Anegenge ab. Zuletzt Henkel, 1996, S. 17, hier bes. Anm. 70.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

ausgesparten Informationen bei Bedarf nachschlagen solle, spricht der Codex 2696 davon, dass diese Informationen – eben die Gründe für die notwendige Vermählung Mariens – hie durch einen list verswigen werden sollen. Dieses hie ist ausschlaggebend, denn es steht nur im Cod. 2696, in der Handschrift also, die tatsächlich ein Anegenge überliefert. Deutlich wird dies am Fragment L: L verweist ebenfalls – beinahe wortgleich – auf ein Anegenge, das explizite hie des Codex 2696 fehlt ihm jedoch. In L gibt es gerade kein Anegenge, in dem nachgeschlagen werden könnte. Der Verweis läuft ins Leere, die Gründe für Marias Verbindung mit Joseph werden an späterer Stelle nachgereicht.657 Im Cod. Vind. 2696 hingegen funktioniert der Link, im Anegenge findet man tatsächlich (eine Auswahl der) Gründe für die Vermählung Marias mit Joseph.658 – Verstärkt wird die Verlinkung noch durch das indirekte Titel-Zitat ein buoch heizzet daz anegenge.659 Die Einzeltexte des Cod. 2696 scheinen somit Teil eines Rezeptionskontinuums zu sein; die Möglichkeit, die Texte nicht nur für sich, sondern in Verbindung miteinander wahrnehmen zu können, scheint konzeptionell. Dabei kann hier eine Tendenz, die im Anegenge immer wieder beobachtet wurde, auf seinen Überlieferungsverbund erweitert werden: die Kürze. Indem die Darstellung gewisser Elemente gleichsam in (einen) andere(n) Text(e) ausgelagert wird, kann der Einzeltext selbst auf womöglich umfangreiche Ausführungen verzichten. Aufgrund dieser Interpretation müsste man allerdings damit rechnen, dass die Einzeltexte im Hinblick auf ein Gesamtkonzept bearbeitet worden sein könnten; eine Möglichkeit, die zumindest das vorgeführte Beispiel aus der Kindheit Jesu nicht nur für den Codex 2696, sondern auch für andere Überlieferungszusammenhänge zu belegen scheint. Weitere derart eindeutige Verlinkungen, die das Verweisprinzip als konzeptionell erhärten könnten, finden sich im Cod. Vind. 2696 nicht, doch scheinen womöglich Indizien auf. So heißt es beispielsweise in der Warnung: möchten si [die verdammten Seelen, E.B.] her wider chomen, | ir hetet schiere vernomen, | waz in ze helle wirret (fol. 130rb). Was den Sünder in der Hölle erwartet, wird in der Warnung nicht genauer dargestellt, vielleicht, weil keine Seele zurückgekommen ist, um davon zu berichten – in der voranstehenden Vision Tnugdali allerdings wurde gerade dies ausführlich 657 Zu überlegen wäre also, ob im Fragment L zwar der Hinweis auf das Anegenge, nicht aber der Text selbst enthalten war. In der Folge funktionierte das Verweissystem nicht, die Gründe wurden an späterer Stelle eingetragen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Fragment L und der Cod. Vind. 2696 in einem Abschreibeverhältnis zueinander stehen müssen. Nicht zuletzt da sowohl das Fragment L (vgl. https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN810903075&view=overview-info) als auch das Anegenge ins zwölfte Jahrhundert datiert werden, müssten mögliche Abhängigkeitsverhältnisse weiter untersucht werden. Henkel, 1996, S. 11, geht von einer „Bearbeitungsstufe *CL“ aus. 658 Beispielsweise, um dem Teufel die Geburt des Erlösers zu verheimlichen oder um Maria vor den Folgen eines vermeintlichen Ehebruchs zu schützen (vgl. Benz, 1925, Sp. 325). 659 Mit Blick auf das Fragment L müsste allerdings nochmals danach gefragt werden, ob die Titel des Cod. Vind. 2696 erst mit dieser Sammlung entstanden sind (vgl. Schröder, 1929, S. 144–146), oder ob sie aus anderen Überlieferungszeugen übernommen wurden.



8 Das Anegenge und seine Kotexte im Cod. Vind. 2696 

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geschildert. Rezipienten hätten folglich die Möglichkeit, diese Schilderung entweder direkt zu erinnern, da sie den Tnugdalus bereits rezipiert haben, oder aber – analog zu der ‚Gebrauchsanweisung‘ in der Kindheit Jesu – im Tnugdalus nachzuschlagen. Ähnliches könnte für die Katharinen-Legende gelten: Wenn Katharina in etwa 50 Versen (fol. 45r–45v) die Heilsgeschichte resümiert, so lehrt sie letztlich das, was die voranstehenden Texte, insbesondere die Kindheit Jesu und die Urstende, zum Thema hatten. Nimmt man ein solches Prinzip des Übergehens und Nachschlagens für den gesamten Codex an, so erhält der Überlieferungsträger beinahe den Charakter eines umfassenden Sammelwerks geistlichen Wissens. Dies würde allerdings – neben einer zumindest groben Kenntnis der Inhalte der versammelten Texte – beinahe notwendig eine schriftgebundene Rezeption voraussetzen.660 Den Rezipienten müsste die Handschrift zum (eigenständigen) Lesen und Nachschlagen zur Verfügung gestanden haben. Unter der Voraussetzung einer schriftgebundenen Rezeption des Cod. Vind. 2696 ließen sich mitunter weitere konzeptionelle Ansätze bezüglich der Auswahl und Anordnung seiner Texte erwägen.

8.3 Auswahl und Anordnung der Texte Liest man die Wiener Sammelhandschrift 2696 ausgehend von diesen Überlegungen als Gesamtkomplex, lässt sich ein, wenn auch lockeres, Inhalts- und Anordnungskonzept erkennen. Dass der Cod. Vind. 2696 „nach einem bestimmten Plan oder ‚Programm‘ zusammengestellt“661 wurde, hat die Forschung wiederholt festgestellt.662 Werner Fechter bezeichnet die Handschrift als „Kompendium“,663 das der „Intensivierung des christlichen Lebens dienen sollte, also eine Gegenwartsaufgabe hatte“.664 Diese allgemeinere Einschätzung kann noch differenziert werden, betrachtet man Auswahl und Anordnung der Texte. Zunächst zur Auswahl der Texte. Diesbezüglich lässt sich eine Reihe von Themen finden, die sich wie ein roter Faden durch die Sammlung ziehen: Juden und Heiden versus Christen, Abkehr von werltlicher vröude oder Warnungen vor Tod und Jüngstem Gericht. Einige dieser Motive scheinen die Einzeltexte in besonderem Maße zu verbinden. Zunächst sind dies die wunder, denn viele der Texte  – wie im geistlichen Kontext wenig überraschend – können in der ein oder anderen Weise als Exempel göttlicher

660 Schon für den Cod. Vind. 2742 geht Henkel, 1996, S. 14, eher von einem Leser als einem Hörer aus. 661 Hoffmann, 1988, S. 84. 662 Vgl. u.  a. Fechter, 1968; Hoffmann, 1988, S. 84–85. Vgl. auch Huber, 2VL, Bd. 10, Sp. 733, der die Texte als „zyklisch“ geordnet bezeichnet. 663 Vgl. Fechter, 1968, S. 247. 664 Vgl. Fechter, 1968, S.  258–259. Wiesinger, 2013, S.  595–599, geht von „Glaubenslehre“ (ebd., S. 596) als verbindendes Element zumindest einiger der Texte aus.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Wundertaten gelesen werden: Während die ersten Texte, die Kindheit Jesu und die Urstende, Christus selbst als Wundertäter zeigen, rückt das Jüdel die Gottesmutter Maria in den Fokus, um anschließend den Blick auf Märtyrer und Heilige zu lenken, die im Namen Gottes wunder wirken.665 Die Vision im Tnugdalus kann ebenfalls als wunder gesehen werden, als wunderbarer Gnadenakt Gottes, der nicht nur die Umkehr Tnugdali, sondern auch die Bekehrung anderer bewirkt. Das Anegenge wiederum spricht im Zusammenhang mit dem Paradoxon der Trinität wiederholt von wunder (wunderlichiu mære, V. 35; iedoch ist ez ein wunder, V. 586; wir wellen wurchen wunder, V. 2368 u.  a.). Schwieriger einzufügen sind die verbleibenden Texte, die in Art und Anlage weniger Erzählungen als Mahnreden gleichen. In ihnen zeigt sich ein zweites Motiv, die Behandlung von Sünde und Erlösung. Während einige Texte wie das sog. Priesterleben, die Warnung oder auch der Tnugdalus die Sünde respektive deren Folgen nach dem Tod in den Fokus stellen, verweisen andere auf die Möglichkeit der Erlösung – auch nach sündhaftem Verhalten: Die Heiligenlegenden, das Jüdel oder wiederum der Tnugdalus. – Auch in diesen Kontext ließe sich das Anegenge über seinen Fokus auf Sündenfall und Erlösung passend eingliedern. – Im Resümee zeigt sich, dass sie alle gelesen werden können als Mahnung vor oder Exempel von sündhaftem Leben und den daraus resultierenden Konsequenzen nach dem Tod im Kontrast zur Seligkeit der Erlösung. Zumal in den Höllenfahrten und (Jenseits-)Visionen werden diese Konsequenzen eindrucksvoll vor Augen gestellt: Während in der Urstende und im Anegenge die Hölle im Rahmen des Descensus Christi thematisiert wird, zeigt die Vision Tnugdali – gleich einem Vorläufer von Dantes Inferno –666 die Strafen für die Sünder ebenso wie die Seligkeit derer, die Gottes Geboten folgen. In Kombination mit den Warnungen beispielsweise des Gemeinen lebens, des Priesterlebens oder der Warnung vor den Bestrafungen in der Hölle, verbindet dieses Motiv (fast) alle Texte der Sammlung.667 Erschwert wird der Nachvollzug eines Handschriftenprogramms allerdings durch die Versehrtheit der Handschrift: Textteile fehlen oder sind fragmentarisch an anderer Stelle neu eingebunden. Das Ende des Oberdeutschen Servatius, der den Abschluss der Märtyrertexte bildet, ist einem Blattverlust zum Opfer gefallen: Mehrere Seiten wurden aus dem Codex herausgeschnitten, die Spuren sind noch deutlich sichtbar.668 In der heutigen Bindung folgt auf den fragmentarischen Servatius ein Text, der beginnt: Mich laitet meines gelouben gelubde, | daz ich von des todes gehugde | eine rede fur bringe (fol. 83ra). In der Forschung wurde dieser Text einem sonst nicht bezeugten Heinrich von Melk unter dem Titel Von des tôdes gehugde (‚Erinnerungen

665 Vgl. auch Hoffmann, 1988, S. 84. 666 Vgl. Fechter, 1968, S. 256. 667 Auch im Servatius gibt es Jenseitsvisionen; im Gemeinen leben erscheinen sogar Tote, um vor der Bestrafung der Sünden zu warnen. Vgl. Kiening, 1992, S. 425, Anm. 92; Brüggen, 2000, S. 37–38, Anm. 25. 668 Siehe u.  a. Schröder, 1901, S. 217.



8 Das Anegenge und seine Kotexte im Cod. Vind. 2696 

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an den Tod‘)669 zugeschrieben.670 Der handschriftlich überlieferte Titel hingegen findet sich auf fol. 156vb in direktem Anschluss an das sogenannte Priesterleben, das ebenfalls von Heinrich stammen sollte, und lautet Daz buoch heizzet daz gemeine leben. Das bedeutet, dass das Priesterleben ursprünglich unmittelbar vor dem Gemeinen leben gestanden haben muss.671 Sein fragmentarischer Zustand könnte damit demselben Blattverlust zuzuschreiben sein, der auch für den Textverlust im Servatius verantwortlich ist. Blattverlust wie Umbindung der Texte zwischen dem Servatius und dem Gemeinen leben stören zwar den Ablauf des angedachten Handschriftenprogrammes, doch lässt sich in der Anordnung der Texte eine gewisse (inhaltlich-konzeptionelle) Sukzession erkennen. Aspekte vom Ende des einen Textes werden im je nachfolgenden aufgegriffen und zum Thema gemacht: Verweist die Kindheit Jesu in ihrem Epilog auf Christi Auferstehung, so wird diese in der sich anschließenden Urstende erzählt. Die Judenschelte, die die Urstende beschließt, weist den Weg zum Jüdel. In der Fluchtlinie der wunderbaren Rettung des jüdischen Jungen durch Maria wiederum liegen die Wundertaten der Märtyrerin Katharina sowie des Bischofs Servatius. Hier bricht die Kette ab: Es fehlt nicht nur der Schluss des Servatius, der nach dem vorgeführten Modell einen Hinweis auf die Lesart des folgenden Textes geben könnte, sondern auch der Anfang des ursprünglich folgenden Priesterlebens. Die Themenreihe lässt sich jedoch trotz der Lücke weiterverfolgen: Da sich die Ermahnungen des Priesterlebens an die phaffen richten, könnte man womöglich eine Verbindung vom Bischof Servatius zur phaffenheit allgemein vermuten. Diese Klage würde dann im Gemeine leben fortgeführt und mit Blick auf das Jüngste Gericht auf die gesamte Menschheit ausgedehnt werden. Das Gebet, das den Abschluss des Gemeinen lebens bildet – in dem hailigem gaiste | loben [wir] den vater unt den sun | in secula seculorum (fol. 89vb) –, könnte dabei als Überleitung auf das Anegenge gesehen werden, das die Trinität – Vater, Sohn und Heiliger Geist – zum Thema macht. Das Anegenge wiederum schließt mit der Aufforderung, der Erlösungstat Christi mit guote zu lohnen und in das Gotteslob einzustimmen. Was andernfalls geschehen könnte, wird in der nachfolgenden Vision Tnugdali eindrucksvoll demonstriert. Man könnte den Tnugdalus im Blick auf ein Handschriftenkonzept somit als Legitimation und intensivierende Verdeutlichung, ja fast als Illustration der voranstehenden Warnungen lesen. Die bildlichen Mahnungen des Tnugdalus gehen sodann über in die abschließende Warnung, die detailliert auf die Gefahren für das Seelenheil und die Mittel, um dieses zu bewahren, aufzeigt.

669 Vgl. ähnliche Überlegungen bei Fechter, 1968, S. 253. 670 Das Gemeine leben endet mit einer Autornennung – der chnecht Heinrîch – und einer Fürbitte für den abt Erchennenfride, die einzigen, wenig zielführenden Hinweise auf ein Entstehungsumfeld des Textes. Zum Titel vgl. Kap. II.1, Anm. 10. 671 Siehe dazu u.  a. Neuser, 1973, S. 12–13, mit weiteren Hinweisen zur Forschungsgeschichte.

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 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Die Warnung selbst ist wohl  – zumindest nach heutigem Befund  – Fragment, worüber allerdings die jetzige Bindung der Handschrift hinwegtäuscht: Die Warnung endet am Spalten- und Seitenende mit dem Vers daz selbe mære | leret die sundære (fol. 151vb), das sog. Priesterleben beginnt auf der nächsten Seite unvermittelt und völlig bruchlos mit den Versen daz sein ewiger gerich | uber siu muz ergen | die sich nicht wellent ensten | des der gotes sun gesprochen hat (fol. 152ra). Da sich die nun ersten Verse672 des Priesterlebens grammatisch-syntaktisch korrekt an die letzten Verse der Warnung anschließen lassen, könnte man glauben, dass es sich noch immer um ein und denselben Text handelt – zudem scheint es sich im Zusammenprall der beiden Texte um dieselbe metrische Struktur, vierhebige Reimpaarverse, zu handeln.673 Auch thematisch ließen sich die Texte im Konglomerat lesen, da die Warnung eine eher lockere Reihung verschiedener, teils stark redundanter Warnungen liefert, in deren Kette sich die Ermahnung der phaffen des Priesterlebens durchaus integrieren ließe. Dieser anfängliche Eindruck wird allerdings dadurch abgeschwächt, dass das Priesterleben im weiteren Verlauf einem deutlich anderen Versmaß folgt als die Warnung. Die Möglichkeit einer zunächst kohärenten Lektüre könnte allenfalls der Grund gewesen sein, dass das Fragment – was auch immer zu seiner Ausgliederung aus der ursprünglichen Bindung geführt haben mag –674 am Ende doch wieder der Handschrift ­zugebunden wurde und nicht gänzlich verloren ging wie die übrigen fehlenden Blätter. Damit bildet der Cod. Vind. 2696 in seiner speziellen Anordnung und mittels verschiedenster Strategien eine „Sinneinheit“.675 Die Einzeltexte funktionieren für sich alleine, doch kann ihre Bedeutung transformiert oder angereichert werden, wenn sie als Teil eines Rezeptionsgefüges wahrgenommen werden.

8.4 Fazit Dass sich alle (geistlichen) Texte des Mittelalters in der ein oder anderen Weise aufeinander beziehen lassen beziehungsweise durch heilsgeschichtliche Motive verbunden scheinen, ist evident.676 Daneben hat man jedoch immer wieder für deutlich 672 Wie viele Verse hier fehlen, kann nicht mit Sicherheit bestimmt werden, Schröder, 1901, S. 219, geht für den Servatius und das Priesterleben von einem Verlust von insgesamt zwei Blättern mit „höchstens 296 versen“ aus. Freytag, 1986, S. 148, hingegen erwägt, dass sein „verlorener Anfang […] möglicherweise 1900 Verse“ hatte, „überliefert sind nur knapp 750.“ 673 Zur metrischen Form vgl. u.  a. Neuser, 1973, S. 118–124; Wiesinger, 2013, S. 597. 674 Schröder, 1901, S. 218, geht ohne Angabe von Gründen davon aus, dass der Blattverlust noch vor Eintragung der ‚Inhaltsangabe‘ (Summe der buoche sint zeheniu) stattgefunden haben muss. 675 Vgl. Müller, 2009, S. 413: „Der Codex wird als Sinneinheit verstanden und steht damit neben der hermeneutischen Standardgröße, neben dem Text“. 676 Vgl. Müller, 2009, S. 416: „Sicher, auf einen gemeinsamen heilsgeschichtlichen Fluchtpunkt hin lassen sich wohl alle Erzählungen des Mittelalters lesen – und sei es, dass ein solcher durch seine Negation affirmiert wird.“



8 Das Anegenge und seine Kotexte im Cod. Vind. 2696 

 259

erkennbare Programme besonders geistlicher Sammelhandschriften plädiert  – als markantes Beispiel wäre hier die Vorauer Sammelhandschrift zu nennen.677 Auch für den Cod. Vind. 2696 wurden Sammlungskonzepte erwogen, die jedoch eher allge­ meineren Charakter hatten.678 Mehr Aufmerksamkeit haben die einzelnen Texte selbst und besonders der vorgestellte Link vom Anfang der Kindheit Jesu erhalten. Ein ­tatsächlicher Verweischarakter von der Kindheit Jesu auf das Anegenge derselben Handschrift wurde jedoch immer wieder in Abrede gestellt.679 Nimmt man diesen Link, wie hier geschehen, ernst, so kann er als Indikator für eine konzeptionelle Anlage des Codex dienen. Liest man die Texte der Sammlung im Verbund, zeigen sich einerseits übergeordnete Motive – die oben vorgestellten ließen sich vermehren –, die die Einzeltexte einem thematischen großen Ganzen zuordnen, sowie Motivketten, die die Texte systematisch aneinanderbinden und gleichsam generisch auseinander hervorgehen lassen. Die einzelnen Themen werden dabei in den verschiedenen Textsorten des Cod. Vind. 2696 auf unterschiedliche Weise beleuchtet: In ‚Erzählungen‘ (Kindheit Jesu; Urstende; Jüdel), in Heiligenlegenden (St. Katharinen Marter; Obd. Servatius), in Mahnreden (Daz gemeine leben; Priesterleben; Warnung) oder in Visionstexten (Tnugdalus; Jüdel).680 Zugleich können die Einzeltexte sich wechselseitig erklären und ergänzen; gemeinsam bilden sie gleichsam ein Sammelwerkes geistlichen Wissens. Sieht man solcherart den Codex als „Sinneinheit“681, ändern sich jedoch die Parameter der Einzeltextdeutung.682 Das Anegenge, um darauf zurückzukommen, thematisiert für sich gelesen das Paradoxon der Trinität. Liest man es aber als Teil des Cod. Vind. 2696, so liefert es beispielsweise eine neue Perspektive auf göttliche wunder, bietet eine Reihe biblischer wie nicht-biblischer Sünden – den Teufelssturz; den Sündenfall; Kain und Abel mit dem ersten Mord; die Sintflut; die Trunkenheit Noahs; das sündhafte Verhalten Chams –, oder eine weitere Perspektive auf die Hölle im Descensus Christi. Auch die für das Anegenge wiederholt gestellten Fragen, weshalb der alttestamentarische Teil ausgerechnet bis zur Sintflut geht, oder weshalb die Könige aus dem

677 Vorau, Stiftsbibl., Cod. 276 (früher XI). Kaiserchronik digital, Elektronische Ausgabe, hrsg. von Mark Chinca, Helen Hunter, Jürgen Wolf, Christopher Young. Heidelberg: Universitätsbibliothek, 2018. (https://doi.org/10.11588/edition.kcd). https://doi.org/10.11588/diglit.29478, abgerufen am 11.03.2022. Vgl. u.  a. Kuhn, 1969, S. 144; Freytag, 1986; Grubmüller, 2000; Müller, 2006, S. 416. 678 Vgl. beispielsweise Fechter, 1968; Wiesinger, 2013, S. 595–599. 679 Zuletzt Henkel, 1996. 680 Dass dies nicht nur auf geistliche Texte oder den Cod. 2696 zutrifft, zeigen u.  a. die Arbeiten von Fromm, 1995; Henkel, 1996; Müller, 2009. 681 Vgl. Müller, 2009, S. 413. 682 Für die Werke Konrads von Fußesbrunnen und Konrads von Heimesfurt beispielsweise hat Eichenberger, 2015, S. 144–148, gezeigt, dass es von ihrem Überlieferungskontext abhängig ist, ob ihre weltliche oder geistliche Dimension stärker hervortritt.

260 

 IV Analyse – Trinität und Heilsgeschichte

Morgenland683 einen so großen Raum einnehmen, während das Leben Jesu selbst kaum dargestellt wird, ließen sich von hier aus noch einmal anders perspektivieren: Neben den werkimmanenten Erklärungsmöglichkeiten könnte für diese Beobachtungen auch die konzeptionelle Anlage ihres Überlieferungsträgers in Betracht gezogen werden, deren Fokus unter anderem auf der Sünde – die Sintflut – und der Bekehrung von Heiden – die Könige aus dem Morgenland – liegt. Da das Leben und Sterben Jesu überdies in den ersten Texten der Handschrift, der Kindheit Jesu und der Urstende, ausführlich erzählt ist, erübrigt sich eine ‚Wiederholung‘ im Anegenge. Solche Überlegungen setzen jedoch beinahe zwingend eine schriftgebundene Rezeptionsform voraus, in der es nicht nur möglich ist, die Texte im Überlieferungsverbund – womöglich sogar hintereinander – wahrzunehmen, sondern auch zu blättern und nachzuschlagen. Die vorgestellten Indizien weisen zwar darauf hin, dass eine solche Benutzung möglich, wenn nicht sogar intendiert war, mit letzter Gewissheit lässt sie sich jedoch nicht behaupten.684 Zu fragen bliebe auch, welche Vorstellungen von Textualität einer solchen Sammlung zugrunde liegen bzw. was sich daraus nicht nur für Rezeptionsbedingungen, sondern auch schon für Produktionsbedingungen ableiten ließe. Die Möglichkeit, den Codex 2696 als Nachschlagewerk zu nutzen, lässt sich – mit zugegebenermaßen philologischem Aufwand und Erkenntnisinteresse – zwar aufzeigen, aber nicht nachweisen.685 Singulär wäre eine solche Benutzung allerdings nicht. Schon Otfrid fordert die (lesenden) Rezipienten seines Evangelienbuches wiederholt dazu auf, dass sie „selbst (selbo) in seinem Text vor- und zurückblättern oder in der Bibel nachzuschlagen sollen, um etwa das zu erfahren, was er ausgespart hat“:686 lis selbo theith thir redion (II,14, V. 3).

683 Insbesondere in der Kindheit Jesu, in der Urstende und im Anegenge werden die Könige aus dem Morgenland ausführlich(er) thematisiert. 684 Nicht zuletzt könnten die gefundenen Indizien im Cod. Vind. 2696 auch auf (eine) ältere Vorlage(n) zurückgehen, deren Anlage zwar kopiert, deren Intention aber nicht zwingend erkannt oder übernommen worden sein muss. 685 Vgl. Kellner, 2005, S. 161: Texte und ihre „materiellen Konkretionen in den Codices“ können zwar „ein ganzes Spektrum von Rezeptionsmöglichkeiten, lesen, hören, singen, und auch verschiedene mögliche Rezipientenkreise“ andeuten, doch ist allein die „Ebene der Inszenierung und der Gebrauchsspuren“ erschließbar, „will man nicht in das Feld der Spekulation geraten.“ Überdies: Selbst wenn die Sammlung eine bestimmte Benutzung intendiert hat und dafür konzeptioniert war, müsste dies doch nicht notwendig einhergehen mit der entsprechenden Rezeption(shaltung). 686 Vgl. Kellner, 2005, S. 159, mit weiteren Stellenangaben Anm. 63.

V Schlusswort   Das frühmittelhochdeutsche Anegenge ist unikal im Cod. Vind. 2696 überliefert. Es handelt sich um eine wohl um 1300 entstandene Pergamenthandschrift, die insgesamt zehn geistliche Texte umfasst. Die Texte sind in sich abgeschlossene, eigenständige Werke, sie lassen sich jedoch, wie gezeigt wurde, auch im Verbund als redaktionellkonzeptionell angelegtes Sammelwerk geistlichen Wissens lesen: Die Einzeltexte sind durch übergeordnete Motive (Sünde, wunder, Leben nach dem Tod) einem thematischen großen Ganzen zugeordnet. Über die bisherige Forschung hinaus konnte erschlossen werden, dass Motivketten die Texte zudem systematisch aneinanderbinden und sie gleichsam generisch auseinander hervorgehen lassen. Überdies ließ sich feststellen, dass Elemente der Heilsgeschichte, die im Anegenge nicht enthalten sind, in anderen Texten der Sammlung ausgeführt sind und vice versa. Während sich das Anegenge nicht zuletzt über die genannten Motive in das Konzept der Sammlung einfügt, wurde deutlich, dass es als Einzeltext andere Schwerpunkte setzt. Die hierfür notwendige umfassende literarhistorische Neubewertung des Anegenge setzte zunächst einen philologischen Neuansatz voraus. Die Neuerarbeitung des Textes aus der Handschrift ist demnach nicht Zugabe zu einer literaturwissenschaftlichen Arbeit, sondern zugleich deren Ergebnis wie auch ihre Voraussetzung. Für eine umfassende Neubewertung war es geboten, den Text editorisch möglichst überlieferungsnah zu bieten. Umfangreichere Korrekturen oder Konjekturen wurden daher bewusst vermieden. Die geplante Studienausgabe wird hingegen mit Übersetzung und Kommentar stärker auf die Bedürfnisse für Studium und Lehre regieren und die vorliegende Arbeit am Text damit ergänzen und abrunden.687 Im Hinblick auf den interpretatorischen Neuansatz konnte gegenüber der älteren Forschung herausgestellt werden, dass das Anegenge ein Text mit starken Eigenlogiken ist. Die eingangs aufgestellte These, dass es sich gerade nicht um ein Bibelepos oder eine Summa handelt, sondern dass der zentrale Aspekt dieses Textes die Aushandlung der eigentlich unbegreiflichen Trinität ist, konnte dabei bestätigt werden: Das Anegenge präsentiert zwar syntagmatisch Heilsgeschichte, paradigmatisch aber thematisiert es das Paradoxon der Dreifaltigkeit und versucht es zu vermittels. Die textnahen Analysen konnten dabei weitere Erkenntnisse liefern, die zur Bewertung des Anegenge maßgeblich sind: Erstens hat sich mit Blick auf die Heilsgeschichte im Durchgang durch den Text erwiesen, dass das Anegenge keine vollständige Bibelnacherzählung liefern möchte. Vielmehr werden nur jene Stationen biblischer Geschichte ausgeführt, die für den Fortgang der Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur Erlösung notwendig sind. Die biblische Geschichte ist dabei in zwei Blöcke aufgeteilt, die sich jeweils an eine innertrinitarische Beratung anschließen – dies ist eine Besonderheit des Anegenge, denn

687 Erscheint voraussichtlich 2024 in der Reihe de Gruyter Texte (siehe Einleitung). https://doi.org/10.1515/9783110775723-006

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nur noch das St. Trudperter Hohelied kennt im zwölften Jahrhundert neben einem Erlösungsrat auch einen Schöpfungsrat in der Volkssprache. Auf den Schöpfungsrat, in den das Fünftagewerk integriert ist, folgt im Anegenge die Erschaffung des Menschen und seine Geschichte bis zur Verfluchung Chams nach der Sintflut. Als zweiter Block schließt sich an den Erlösungsrat, in dem die Menschwerdung Christi beschlossen wird, das Leben Jesu von der Verkündigung seiner Geburt bis zu seiner Himmelfahrt. Doch wird Jesu Leben im Anegenge kaum auserzählt, die wichtigsten Stationen werden lediglich angedeutet, die weitere Geschichte in wenigen Worten zusammengefasst. Entgegen bisheriger Forschungsmeinung konnte hier gezeigt werden, dass über das Prinzip des Stichwort- und Namengebens immer wieder weitere Stationen biblischer Geschichte anzitiert und eingespielt werden. Im Vergleich mit der Bibel wurde zudem deutlich, dass die Genesis und die Evangelien (v.  a. nach Lukas und Matthäus) zwar der Orientierung dienen, der Bibeltext jedoch zumeist durch Kürzungen oder Ergänzungen, Umstellungen, Schwerpunktverlagerungen, Ausschmückungen und vieles mehr abgewandelt und bearbeitet wurde. In funktioneller Hinsicht konnte gegen die Forschung herausgestellt werden, dass die bibelepischen Passagen im Anegenge weniger Selbstzweck sind. Vielmehr können sie sowohl als mit weiteren Details angereicherte Illustration des in den jeweiligen Ratsszenen thematisierten Heilsplans Gottes gesehen werden, wie als dessen Durchführung und Bezeugung. Auch wenn die bibelepischen Passagen im Anegenge stärker erzählend sind als andere Textteile, haben sich auch hier stets erklärende und reflektierende Momente beobachten lassen, die die Möglichkeit bieten, Probleme, Fragen oder Unstimmigkeiten zu diskutieren sowie Gesagtes auszudeuten. Zweitens wurde im Hinblick auf das Paradoxon der Dreifaltigkeit deutlich, dass es sich bei der Thematisierung der Trinität im Anegenge nicht um einen unverhältnismäßig langen Exkurs handelt, sondern dass alle Aushandlungen gleichsam um das Paradoxon der Einheit in der Dreiheit kreisen. Dies ist insofern bemerkenswert, als es Laien eigentlich nicht gestattet war, sich (tiefer) mit den Geheimnissen der Dreifaltigkeit auseinanderzusetzen. Zu fragen bliebe daher, ob das Anegenge womöglich in einem klerikalen Umfeld entstanden sein könnte. In diese Richtung könnte auch der immer wieder beobachtbare Predigtgestus deuten. Doch handelt es sich, wie deutlich geworden ist, gerade nicht um einen geistlichen Traktat. Vielmehr konnte gezeigt werden, dass das Anegenge Predigthaftes, gelehrte Abhandlung, Bibelparaphrase, Trinitätsspekulationen und weitere Darstellungsmodi kombiniert und diese in gebundener Rede, also in ästhetisch ansprechender Form, präsentiert. Im Vergleich mit anderen Texten der Volkssprache ließ sich jedoch auch erkennen, dass das Anegenge keine Bilder, Metaphern, Vergleiche und andere rhetorische Kunstmittel nutzt, um das Paradoxon der Trinität ansichtig zu machen. Möglicherweise lässt dies darauf schließen, dass die Volkssprache erst noch Strategien entwickeln musste, um derlei Unbegreifliches zu erfassen. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass das Anegenge insgesamt stärker um die Vermittlung der unbegreiflichen Glaubenswahrheiten zu ringen scheint als vergleichbare Texte. Diesbezüglich konnte bestätigt werden, dass

V Schlusswort 

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die trinitarischen Personen Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist, die in Anlehnung an Abaelard und Hugo von St. Victor auch als gewalt (potestas), weishait / weistuom (sapientia) und guote (bonitas / benignitas) bezeichnet werden, nicht nur in zwei innertrinitarischen Beratungen miteinander ins Gespräch treten. Bei der Analyse der Sprecherrede wurde vielmehr deutlich, dass das eigentlich unbegreifliche Paradoxon in zahlreichen Kommentaren, Ausdeutungen und Reflexionen immer weiter ausgeführt und erklärt wird. Auch erläutert und diskutiert das Sprecher-Ich schwierige theologische Fragen wie die Gleichewigkeit, die Subordination oder die Ungeschiedenheit der Trinität, wobei der Person des Gottessohnes besondere Aufmerksamkeit zukommt. Über die Forschung hinaus konnte dargelegt werden, dass die Trinität im zweiten Teil des Anegenge zwar mit deutlichem Fokus auf Gott Sohn dargestellt, dabei jedoch gerade nicht ausgeblendet wird. Zum Dritten konnte die Analyse in Bezug auf die Struktur herausstellen, dass das Anegenge, wie schon der überlieferte Titel impliziert, ein Text des Anfangs ist. Deutlich wurde dabei, dass mit anegenge nicht nur der Beginn der Heilsgeschichte, sondern auch Gott, der Anfang aller Dinge, bezeichnet sein kann. Es ließ sich zeigen, dass der Text versucht, die Heilsgeschichte ausgehend von Gottes denken in der Ewigkeit zu situieren und dies in Worte zu fassen. Im Vergleich mit der Bibel, aber auch anderen geistlichen Texten der Volkssprache wurde zudem deutlich, dass dem Anegenge das Ziel der Heilsgeschichte nicht nur immer schon inhärent ist, sondern dass die Erlösbarkeit des Menschen von Beginn an einen zentralen Aspekt des trinitarischen Heilsplanes bildet. Schon für den Prolog konnte herausgestellt werden, dass dort auf engstem Raum Gott vor der Schöpfung, die Schöpfung selbst und die Passion zusammengebunden sind. Damit konnte entgegen der Forschung erarbeitet werden, dass im Anegenge bereits am Anfang das Ziel vorweggenommen ist – und dies in doppelter Hinsicht. Einmal auf der Ebene des Erzählens: Zu Beginn des Anegenge ist sein Inhalt und sein Ziel antizipiert und zusammengefasst. Zum anderen auf der Ebene des Erzählten: Vor allem Anfang, in der göttlichen Ewigkeit, ist das Ziel des göttlichen Heilsplanes, die Erlösung, in Gottes denchen bereits gesehen und vollständig. Anfangs- und Zielpunkt kulminieren in Gott. Besonders deutlich ließ sich dies am Bild der Sündenwaage demonstrieren: Indem die Sünde des Menschen und die Buße Gottes im Bild der Waage gegenübergestellt und miteinander verbunden werden, werden auch die einzelnen Abschnitte des Anegenge zueinander in Bezug gesetzt. Dabei wurde deutlich, dass sich im Bild der Sündenwaage nicht nur Anfangs- und Zielpunkt der Heilsgeschichte, sondern auch die Darstellungsmodi des Anegenge verbinden: Orientierte sich das Anegenge bisher überwiegend chronologisch am Ablauf der Heilsgeschichte, so werden Anfangs- und Zielpunkt, Sündenfall und Erlösung, nun eher paradigmatisch-kontrastiv gegenübergestellt. Die Passage zur Sündenwaage, so ließ sich erweisen, kombiniert Bibelparaphrase, göttliche Beratung und Reflexion, wodurch die einzelnen Fäden des Anegenge nicht nur inhaltlich, sondern auch auf der Ebene der Darstellung zusammenlaufen. Dabei wurde auch deutlich, weshalb zumal die ältere Forschung dem Anegenge wiederholt Verwirrungen und Wiederholungen,

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 V Schlusswort

eine schlechte Machart also, unterstellt hat: der Text lässt sich nicht gliedern. Denn während er zwar grundsätzlich der Chronologie der Heilsgeschichte folgt, weist er in nuce anachronistische Tendenzen auf, die zunächst ‚verwirren‘ mögen. Gegen die Forschung konnte jedoch erschlossen werden, dass dies kein Ausweis von mangelndem dichterischen Können, sondern gerade Teil der Eigenlogik des Anegenge ist: Wiederholungen, Rück- und Vorgriffe sind im Anegenge Strategie, um immer neue Aspekte der Trinität einzubringen und auszuleuchten und sich so dem eigentlich unbegreiflichen Paradoxon der Trinität so weit wie möglich annähern zu können. Am deutlichsten ließ sich dies an den beiden Ratsszenen demonstrieren, denn diese setzen, so das Ergebnis der Untersuchung, immer wieder von Neuem an, um je andere Aspekte von Schöpfung und Erlösung, vor allem aber der Trinität zu transportieren. In Kombination mit den unterschiedlichen Darstellungsmodi des Anegenge – Sprechen der Trinität, Sprecher-Rede, bibelepisches Erzählen – ergibt sich, so ließ sich zeigen, eine Art Mosaikbild nicht nur des Paradoxons der Dreiheit in der Einheit, sondern auch ihres Zusammenwirkens in Heilsplan und Heilshandlung. Die einzelnen Elemente verflechten sich dabei, untrennbar ineinander und erzeugen so, auf den ersten Blick, Verwirrung, die sich bei genauerem Hinsehen jedoch auflösen lässt. Da sich insbesondere die jüngere Forschung kaum je mit dem Anegenge als Gesamtkonzept befasste, sondern immer nur einzelne Aspekte herausgegriffen hat, kann ein solches Herausgreifen oder Zusammenlesen verschiedener Abschnitte ohne Rücksicht auf den Gesamtkontext schnell zu Missverständnissen und Fehleinschätzungen führen. Zugleich ließ sich zeigen, dass das Anegenge verschiedenste Gestaltungselemente nutzt, die die Kombination aus makroskopischer Chronologie und mikroskopischen Anachronismen ermöglichen und unterstützen. Zusätzlich erlauben sie nicht nur das Einspielen weiterer Aspekte, sondern übernehmen auch gliedernde Funktionen, indem sie die einzelnen Elemente arrangieren und verknüpfen, wodurch erst das große Ganze des Textes entsteht. Gerade dadurch, so konnte erwiesen werden, kann Gottes Heilsplan im Anegenge bis zum Zielpunkt, die Erlösung des Menschen durch Jesus Christus, ja sogar bis zum Jüngsten Gericht, ausgedehnt und mit dem Anfang verknüpft werden. Insgesamt konnte somit bestätigt werden, dass literarische Neubewertungen grundsätzlich mit philologischen einhergehen müssen: Nur in der reflektierten Rückkehr zur Überlieferung konnte der Text von Altlasten befreit und neu gelesen werden. Zugleich wurde, zumal am Beispiel der ‚Verwirrungen‘ und Wiederholungen im Anegenge deutlich, dass sich Einschätzungen der älteren Forschung teilweise bis heute so hartnäckig halten, dass sie sich trotz neuer abweichender Ergebnisse immer wieder in der aktuellen Forschung niederschlagen. Dies betrifft zumal solche Texte, die von der Forschung Prädikate wie ‚schlecht‘, ‚epigonal‘ oder ‚früh‘ erhalten haben. Solche Texte hieße es bewusst neu auf ihre spezifischen Eigenlogiken hin zu lesen. Vergleiche mit anderen Texten sollten, wie es hier vorgeführt wurde, zwar genutzt werden, um die jeweiligen Besonderheiten und Eigenarten der Texte umso klarer herauszustellen, nicht aber um sogleich Abhängigkeiten zu behaupten oder qualitativ wertende Ver-

V Schlusswort 

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dikte auszusprechen. Erst dann ließen sich tatsächliche Zusammenhänge, Entwicklungslinien oder Potentiale von Texten aufzeigen und für weitere Forschungsansätze fruchtbar machen. Die vorliegende Arbeit hat dies exemplarisch vorgeführt: Das Anegenge ist ein äußerst komplexer und vielschichtiger Text, dessen Potential noch lange nicht ausgeschöpft ist, da, um abschließend nochmals auf den Joseph-Roman Thomas Manns zurückzukommen, „hinter jeder lehmigen Dünenkulisse […] neue Weiten zu neuen Vorgebirgen vorwärtslocken“ (Vorspiel, S. 7).

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Primärliteratur 

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Personenregister Im Folgenden werden die Namen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Autoren und Personen aufgeführt. Nicht aufgenommen sind die Namen biblischer oder literarischer Figuren.

A Abaelard 133, 137, 145, 157, 263 Alber 10, 220, 250 Ambrosius 136, 137, 200 Augustinus 8, 112, 135, 142, 143, 156, 172, 173, 181 Ava 118 B Basilius 135 Beda Venerabilis 115 Bernhard von Clairvaux 157, 168, 203 D Dante Alighieri 256 Der arme Hartmann 116

Honorius Augustodunensis 8 Hugo von St. Victor 8, 18, 112, 120, 127, 128, 131, 133, 137, 141, 145, 151, 154, 170, 174, 178, 192, 233, 263 K Konrad von Fußesbrunnen 10, 132, 213, 250, 259 Konrad von Heimesfurt 10, 114, 218, 250, 259 Konrad von Würzburg 165, 221, 238 N Nikolaus von Kues 119 O Otfrid von Weißenburg 114, 260

G Gottfried von Straßburg 113, 122 Gregor der Große 135

P Petrus Comestor 25 Pfaffe Konrad 114, 115

H Hartmann von Aue 132, 146 Heinrich von Melk 10, 251, 256, 257 Heinrich von Mügeln 147

W Walther von der Vogelweide 29, 219 Wolfram von Eschenbach 113, 115, 122, 208, 217

https://doi.org/10.1515/9783110775723-008