Darwinismus und Literatur: naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich : 1859-1914 3205989457

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Darwinismus und Literatur: naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich : 1859-1914
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bßhlauWien

Literaturgeschichte in Studien und Quellen Band 2

Herausgegeben von Klaus Amann Hubert Lengauer und Karl Wagner

Werner Michler

Darwinismus und Literatur Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Osterreich, 1859-1914

Gedruckt mit der Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung Umschlagabbildung: Charles Darwin. Entommen aus: Welträtsel u n d Lebenswunder. Ernst Haeckel Werk, Wirkung, Folgen. Red. Erna Aeschtu. a. Linz 1998 (= Stapfia 56, zugl. Kataloge des OÖ. Landesmuseums N. F. 131).

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Michler, Werner: Darwinismus und Literatur : naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich, 1859-1914 / Werner Michler. Wien ; Köln ; Weimar ; : Böhlau 1999 (Literaturgeschichte in Studien und Quellen ; Bd. 2) ISBN 3-205-98945-7

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 1999 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H und Co. KG, Wien • Köln • Weimar Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier Druck: Plöchl, Freistadt

Fiir Felix

Inhalt

Einleitung 1 Darwinismus u n d Liberalismus Zur Geschichte einer öffentlichen Wissenschaft Kontroversen um Darwin und den Materialismus in Österreich (1859-1870/71) Kultur- und Naturwissenschaft: Wilhelm Scherer, Ernst Haeckel und die Deutsche Reichsgründung in Österreich Naturwissenschaft und Öffentlichkeit Das Publikum des Darwinismus 1876 Eine Stichprobe zur Sozialstruktur der Darwin-Begeisterung Freuds „Kränkungen " und der evolutionistische Enthusiasmus 2 „Kampf ums Dasein" und „Venus i m Pelz" Naturwissenschaftliche Aufklärung u n d ihre Grenzen bei Leopold v. Sacher-Masoch Der Naturforscher als Jude und Geistesheld Die ^furchtbare Konkurrenz der Wissenschaften" und Sacher-Masochs „Naturgeschichte des Menschen11 Darwinistische Szenarien 3 D i e „sozialen Triebe" Darwin bei Minna u n d Karl Kautsky 4 Erbhof u n d Erbgut Vom „Meineidbauern" zum „Stemsteinhof" : Darwin bei Anzengruber Verhärtungen im Kampf um das Erbgut: David, Kranewitter, Schönherr, Nabl Auswege aus dem Darwinismus: Roseggers „Jakob der Letzte"

9

27 31 43 73 88 100

108 108 120 140

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5 Degeneration, Identität u n d Teleologie in der „Wiener M o d e r n e " Zu Leopold v. Andrian u n d Richard Beer-Hofmann 289 Degeneration und Homosexualität: Andrians „Gartender Erkenntnis" . . . . 301 „ Unserem Blut aus Geschicken der Vorfahren vererbt": Neolamarckismus und Judentum in Beer-Hofinanns „Der Tod Georgs" . . . 320 6 Aschanti Anthropologie u n d Exotismus der Jahrhundertwende bei T h e o d o r Herzl u n d Peter Altenberg

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7 Marie Eugenie delle Grazie und Ernst Haeckel Weltanschauungsliteratur Darwin im Epos: „Robespierre" Monismus als Bildungsunternehmen

396 399 402 422

8 Krieg u n d Frieden. Pazifistische u n d militärische Darwinismen bei Bertha v. Suttner u n d Franz Conrad v. Hötzendorf

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Schluß

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Bibliographie

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Personenregister

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Einleitung In mindestens dreierlei Hinsicht sind „Darwin" und „Darwinismus" nicht nur Selbstverständigungskategorien des 19. Jahrhunderts, sondern auch Teil des Gegenwartsdiskurses. Verbreitet ist die vermeintlich kritische Rede von „Darwinismus", vom „Gesetz des Dschungels" und vom „Recht des Stärkeren"; eine gänzlich andere Variante des darwinistischen Diskurses des 19. Jahrhunderts wirkt in esoterischen Segmenten der Ökologiebewegung fort (der Terminus „Ökologie" wurde, beiseite gesprochen, 1866 von Ernst Haeckel eingeführt, dem prominentesten deutschen Propagandisten Darwins); ein dritter Bereich läßt sich in der instrumenteilen Technologie am Lebendigen ausmachen. Im ersten Fall, einer geläufigen Kritik am ökonomischen Neoliberalismus, dürfte - durchaus im Sinn des Darwinisten Freud - eine Verschiebung' von Elementen eines Diskurses in einen anderen (den „naturwissenschaftlichen") vorliegen; im zweiten Fall eine Neuauflage der Philosopheme von der Einheit mit der Natur, wie sie die (vorige) Jahrhundertwende aus Darwin und der Rezeption einer trivialisierten Romantik bezog; im dritten Fall schließlich die Wiederkehr einer Eugenik, die auch mit potenzierten Mitteln in ihren Hoffnungen nicht reflektierter geworden ist. Diese Aktualität lenkt den Blick auf den Ursprung des Phänomens und der damit verbundenen Emotionen im 19. Jahrhundert. Die Form der Präsenz disparater Partikel des darwinistischen Diskurses in der Gegenwart ließe nicht vermuten, daß es sich hierbei einmal u m ein kohärentes Programm gehandelt haben könnte. Doch hat das 19. Jahrhundert alle Dimensionen: Kampf und Entwicklung, eine modernisierte Naturmystik und einen technizistischen Zugriff auf Naturdinge, auch auf den Menschen selbst, zu vereinbaren vermocht, wobei es wohl gerade die heutige Nähe zu diesen Elementen ist, die das 19. Jahrhundert gegenwärtig fremder und exotischer erscheinen läßt als andere historische Epochen. Diese unplausibel gewordene Einheit widersprüchlicher Elemente verweist auf eine komplexe historische Situation, die genauer Prüfung bedürfte. Schon der schlichte Sachverhalt, daß sich eine Epoche in einem so grundlegend ambivalenten Modell wie dem darwinistischen wiedererkennen konnte, müßte das Interesse an ihr wachhalten.

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Die Literatur war das zentrale Medium, in dem diese Spannungen reflektiert, ausgehalten und transformiert wurden. Es ist daher umso überraschender, daß sich die Germanistik der Konstellation von Darwinismus und Literatur nur selten angenommen hat. Während im angelsächsischen Sprachraum der Zusammenhang von Literatur und Naturwissenschaft ein eingeführter Forschungsgegenstand ist und bereits ein hohes Reflexionsniveau erreicht hat, kann hiervon im deutschen nur sehr bedingt die Rede sein. Erst in jüngster Zeit sind einige größere Einzelstudien zum „Dialog" von Literatur und Evolutionsbiologie erschienen.1 Zunächst sollen einige terminologische und methodische Klärungen vorgenommen werden. Die vorliegende Arbeit hat es nicht mit Darwinismus als einem fortwirkenden und noch heute - mit Modifikationen - bestehenden biologischen Theorieprojekt zu tun, sondern mit „Darwinismus". 2 Darunter wäre nicht jene Theorie zu verstehen, die unter dem Autornamen Darwins publiziert wurde, sondern ein sich agonal herstellender Komplex von Vorentscheidungen, Ideologemen und Diskursen verschiedener Provenienz, der erst als Produkt gesellschaftlicher Verhandlungen für die Zeitgenossen den „Darwinismus" ausmachte. In dieser Perspektive gibt es daher keine „falsche" oder „verzerrende" Rezeption durch literarische Autoren oder die Öffentlichkeit. „Popularisierung" ist hierbei kein einfacher Ubersetzungsprozeß in leichtere Formen, der „Wissen" von „oben" nach „unten" vermittelt, sondern eine komplexe Strategie, die in beide Richtungen zu wirken vermag. Die Person Ernst Haeckels gewinnt dabei hervorragende Bedeutung, da Haeckel zugleich Popularisator und Fachbiologe ersten Ranges war; in den Berufungen auf Haeckel ging verloren, daß sein Darwinismus durchaus nicht immer mit den Annahmen und Ergebnissen Darwins übereinstimmte. „Darwinismus" macht zunächst keinen Unterschied zwischen den 1 Vgl. Hermann Josef Schnackertz: Darwinismus und literarischer Diskurs. Der Dialog mit der Evolutionsbiologie in der englischen und amerikanischen Literatur. München 1992. An älterer Literatur nur Günter Schmidt: Die literarische Rezeption des Darwinismus. Das Problem der Vererbung bei firmle Zola und im Drama des deutschen Naturalismus. Berlin 1974. Jetzt die Arbeiten von Barbara Krauß-Theim, Claudia Bibo und Dagmar Kaiser (vgl. Bibliographie). Jüngst erschien ein Problemaufriß von Peter Sprengel: Darwinismus und Literatur: Germanistische Desiderate. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für die Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 1 (1997), S. 140-182. 2 In der Darwin-Literatur ist von „Darwinism" versus „Darwinisticism" (Morse Peckham) gesprochen worden.

Einleitung

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einzelnen Theorieprojekten der Darwinisten; jede Berufung auf Darwin hat deshalb als „Darwinismus" zu gelten, auch wenn eine wissenschaftsgeschichtliche Verortung sie einer anderen Richtung zuordnete. Die Differenzierungsarbeit, die Peter J. Bowler in der historischen Aufarbeitung der Darwin-Rezeption in der Biologie geleistet hat 3 , muß für die vorliegende Arbeit nicht den Gegenstandsbereich konstituieren; auch die „Non-Darwinian Revolution" bleibt dabei „darwinistisch", selbst wenn mächtige Strömungen in der Biologie etwa die Selektionstheorie zugunsten eines antidarwinistischen Progressionismus relativieren oder ausschließen. Die „Krise des Darwinismus", von der um die Jahrhundertwende in Hinblick auf den Plausibilitätsverlust der Selektionstheorie und den neuen Streit u m die Mechanismen der Evolution gesprochen wurde, interessiert daher nur soweit, als es sich dabei u m eine Krise des „Darwinismus" gehandelt hat, u m eine Krise des Amalgams aus „Fortschritt", Szientismus und „naturwissenschaftlicher Aufklärung", wie sie gegen die „Reaktion" gestellt wurde. Lamarckismus ist deshalb ebenso Teil des Phänomens des „Darwinismus", wie er in dogmenhistorischer Perspektive sein Gegner gewesen sein mag. In ihrer konkreten historischen Gestalt erscheinen der „Neo-Lamarckism u s " eines Paul Kammerer und die lamarckistischen Elemente im Werk Haeckels viel eher als Versuche, den „Darwinismus" zu retten, sofern es auf die Potenzen des Phänomens ankam, die sich im Etablierungskonflikt des Darwinismus herausgebildet hatten. Diese Vorentscheidung beeinflußt auch die Textauswahl. Texte bzw. ihre Verfasser sollen nur dann als im darwinistischen Kontext stehend betrachtet werden, wenn sie sich am darwinistischen Angebot explizit oder implizit abarbeiten. Die starke Konzentration auf die Person und die Texte Haeckels ist sich dabei der wissenschaftshistorischen Verzerrung, die eine solche Verengung mit sich bringt, bewußt. Die Geschichte des Darwinismus in Osterreich erweist sich in mehrfacher Hinsicht als Teil der Geschichte des österreichischen Liberalismus; diese führt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer „verlorenen" Revolution zum Gewinn und schließlich, bereits ab den siebziger Jahren, schrittweise zum Verlust der politischen Hegemonie. Da der Liberalismus keine Massenbewegung ausgebildet hat, „verrät" er zudem schon bald den 3 Peter J. Bowler: The Eclipse of Darwinism. Anti-Darwinian Evolution Theories in the Decades around 1900. Baltimore, London 1983; ders.: The Non-Darwinian Revolution. Reinterpreting a Historical Myth. Baltimore, London 1988.

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demokratischen Impuls, dem er (auch) seinen Aufstieg verdankt, und wendet sich etwa gegen die Ausweitung des Wahlrechts. D e m österreichischen Liberalismus wird gemeinhin Schwäche nachgesagt, nicht zuletzt von den Liberalen selbst. Doch was für das politische System mit gewissen Einschränkungen gelten mag, hat nur sehr bedingt Geltung für andere gesellschaftliche Sektoren. Wenn Revolutionen als langfristige Transformationsprozesse zu betrachten sind, ist die zweite Jahrhunderthälfte eher eine Erfolgsgeschichte des Liberalismus, sofern er sich als umfassende Modernisierungsagentur verstand; was nicht impliziert, daß die Protagonisten von 1848 diesen Befund geteilt oder ausgesprochen hätten. Bedrohung und Verlust der politischen Vorherrschaft bedeuten jedenfalls historisch nicht das Ende des österreichischen Liberalismus; die Bedrohungen, denen er ausgesetzt war, erscheinen dank der privilegierten Diskursposition der Liberalen in Bildungswesen, Publizistik, Philosophie und Geschichtsschreibung der Epoche zudem oft vergrößert. Eine jüngst erschienene Darstellung des österreichischen Liberalismus 4 , die auf die sozialen Tiefenstrukturen seiner Politik abhebt, macht sichtbar, wie hoch die institutionelle Definitionsmacht des Liberalismus noch nach dem Ende seiner parlamentarischen Herrschaft gewesen ist. Ähnliche Ergebnisse zeigt die neuere Bürgertumsforschung. 5 Gerade am Darwin-Thema läßt sich das lange Leben des österreichischen Liberalismus dokumentieren, auch seine Transformationen. Die Naturwissenschaft diente dem Liberalismus als bevorzugtes Artikulationsmedium. „Darwinismus" als Selbstverständigungsform der „Fortschrittlichen" und des „Fortschritts" bildet sich in Österreich in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts aus und ist an die Erinnerung der Revolution gekoppelt; die Vorlesungen Karl Vogts, des letzten „Reichsregenten" von 1848/49, zur Urgeschichte des Menschen geraten 1869/70 zu einer Reihe von Selbstfeiern der liberalen Öffentlichkeit, die die alte Rhetorik wieder aufleben lassen. Die Arbeiterbewegung, die sich parallel konstituiert, übernimmt die spezifische ideologische Einheit von naturgesetzlichem Fortschritt, Wissen-

4 Pieter M. Judson: Exclusive Revolutionaries. Liberal Politics, Social Experience, and National Identity in the Austrian Empire, 1848-1914. Ann Arbor 1996. 5 Vgl. dazu etwa mehrere Beiträge in: „Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit". Zur Geschichte des Bürgertums in der Habsburgermonarchie. Hgg. v. Hannes Stekl u. a. Wien, Köln, Weimar 1992 und in anderen Bänden der Reihe „Bürgertum in der Habsburgermonarchie".

Einleitung

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schaftsvermittlung („Popularisierung") und gesellschaftlichem Wandel; gerade die Arbeiterbewegung hat zum Liberalismus noch lange ein Verhältnis spannungsreicher Nähe. Von diesen Effekten blieb die Literatur nicht unberührt. In der Epoche nach 1848 ist weniger ein Rückzug der Literatur aus der Politik zu beobachten als eine Transformation der Sprecherrolle. 6 Im Einzugsbereich des Darwinismus werden die impliziten Rollenentwürfe der Schriftsteller modifiziert; der „Naturforscher" gibt dabei ein Rollenmodell ab, das für eine solche Transformation benützt werden kann. Nicht der Rhetor und Vorkämpfer, sondern der Wissenschaftler steht jetzt im Vordergrund: Gerade der Naturforscher erscheint in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts als verläßlicher Geistesheld, der das liberale Erbe der Revolution von 1848 zu übernehmen imstande sei. Deren „Scheitern" schien sich im Nachhinein subjektivistischen Voluntarismen verdankt zu haben; um diese Last war ihr Erbe nun vermindert, dafür bestärkt durch methodische, intersubjektiv verbindliche Forschung. Protagonisten wie Leopold v. Sacher-Masochs jüdischer Aufklärer als Naturforscher, die „wissenschaftliche" Pazifistin bei Bertha v. Suttner, der „wissenschaftliche" Sozialist bei Minna Kautsky u n d der fiktionale Ernst Haeckel bei Marie Eugenie delle Grazie als Prophet sind dabei nur die auffälligen Ausformungen dieser Artikulationsmöglichkeiten. Als deren unspektakulärere Variante ist eine meist implizite „wissenschaftliche" Haltung der Erzählerinstanz zu beobachten, sie wird bei Sacher-Masoch und Peter Altenberg als Ethnologe, bei Ferdinand v. Saar als Physiologe und in Ludwig Anzengrubers Spätwerk als darwinistisch belehrter Physiognom sichtbar, bei Anzengruber am deutlichsten als Ersatzform seiner selbstgewählten Rolle des Volksaufklärers. Eine besondere Rolle spielt hierbei um die Jahrhundertwende ein quantitativ wohl bescheidenes, aber sehr artikuliertes und hoch vernetztes bürgerliches Milieu, das vor allem in Wien das intellektuelle Erbe der politischen liberalen Periode übernimmt und liberale T h e m e n jeweils in Zuspitzung zu „Bewegungen" vereinseitigt. Zur Propaganda dieser Themen: Feminismus, „Anti-Antisemitismus", Pazifismus, Sozialreform, „Mo-

6 Zu den Rollenkonzepten der „Achtundvierziger" vgl. Hubert Lengauer: Ästhetik und liberale Opposition. Zur Rollenproblematik des Schriftstellers in der österreichischen Literatur um 1848. Wien, Köln 1989; zur folgenden Epoche vgl. Karlheinz Rossbacher: Literatur und Liberalismus. Zur Kultur der Ringstraßenzeit in Wien. Wien 1992.

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Darwinismus und Literatur

nismus", der Lebensreform und im Zionismus auch eines defensiven Nationalismus, rekurriert dieses Milieu in einem Netz von Vereinen auf jene politischen Organisationsformen, die am historischen Beginn von Liberalismus und bürgerlicher Selbstartikulation gestanden waren. Die Entlastung von parlamentarischer Macht (die in Osterreich zudem nie besonders hoch war) vermindert auch die moralischen Kompromisse dieses Liberalismus und konserviert die Konstellation des gleichsam „hellen" „Darwinismus" daher auch besonders lange; jenseits aller ästhetischen Modernismen setzen die „Radikalen" (Albert Fuchs 7 ) auf die moralischen Wirkungspotentiale von Literatur und restituieren literarische Gattungen wie Utopie und Tendenzroman. Erst die sogenannten „neuen sozialen Bewegungen" der letzten Dekaden, die übrigens zunächst eine ähnliche Fülle von Tendenzliteratur hervorbrachten, haben sich der „radikalen" Intellektuellenpolitik dieser Periode wieder erinnert; soweit Darwinismus als deren Basisideologie erkennbar wurde, mit Befremden. Der (Deutsch-)Liberalismus transformierte sich nach 1880 zu einem spezifisch exliberalen Deutschnationalismus, der zumal in der Provinz seine Ursprünge sowohl bewahrte als auch in seinen politischen Koalitionen negierte. In der nationalistischen Rhetorik ist dabei (ebenso wie im Rassismus der Alldeutschen) von Darwin auffällig wenig die Rede. Rassismus bedarf in dieser Epoche der Naturwissenschaft nicht, sondern kann auf eine wilde Anthropologie und die jahrhundertealten Protorassismen rekurrieren, wie sie nicht zuletzt der Katholizismus tradiert hat. In der völkisch-nationalen Literatur vor d e m Ersten Weltkrieg scheinen naturwissenschaftliche Diskurspartikel tendenziell nicht m e h r als „Darwinismus" markiert zu werden, sie verschwinden in einem Amalgam aus einschlägigen Vorverständnissen über die nationale Natur der Widersacher und der eigenen Ethnie. Die neueren Ansätze zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Literatur lassen sich als Extremführungen zweier älterer Forschungsrichtungen ver-

7 Fuchs differenziert die „geistigen Strömungen" nach 1867 in: Liberalismus, Katholizismus, Arbeiterbewegung, Sozialreform (Radikalismus), Deutschnationalismus, idealistische Philosophie, Psychoanalyse und Pazifismus; die „Radikalen" (nach dem englischen „radical") zerfallen bei Fuchs in Sozialreformer, Frauenbewegung, Volksbildner und ethische Bewegung. Diese Einteilung ist gegenüber der eingebürgerten, groben Drei-Lager-Theorie immer noch von Interesse. Vgl. Albert Fuchs: Geistige Strömungen in Osterreich 1867-1918. [1949] Wien 1996.

Einleitung

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orten: des „Einfluß"-Modells und des „Zeitgeist"-Modells.8 Viele deutschsprachige Arbeiten zum Thema bewegen sich im Rahmen des „Einfluß"Modells und beobachten Rezeptionsvorgänge von Wissenschaft durch die Literatur. Wenn sie es mit Naturwissenschaft zu tun hatte, zeigte sich in der Literaturwissenschaft stets die doppelte Tendenz, ihr Gegenüber teils über-, teils unterzubewerten; überzubewerten, indem naturwissenschaftliche Wahrheiten stets als solche akzeptiert und damit die soziale Konstruiertheit von Wissenschaft, wie sie die neuere Wissenschaftsforschung aufzeigt, tendenziell vernachlässigt wurde; unterzubewerten, indem Naturwissenschaft im ganzen mit großer Geste dem Bereich des Ideologischen zugeschlagen wurde. Diese merkwürdige Unsicherheit mag ein Problem der sogenannten „zwei Kulturen" und in der Literatur selbst zu beobachten sein; sicher aber hat sie mit der nach wie vor unsicheren Konstitution ihres eigenen Objekts zu tun, mit dem Doppelcharakter des Kunstwerks als „autonom" und zugleich als „fait social" (Theodor W. Adorno). Wenn schon die Wissenschaftstheorie seit den Arbeiten von Thomas S. Kuhn zunächst eine historische, dann eine soziologische Wende erfahren hat (wobei im interessierenden Kontext insbesondere die Arbeiten von Peter Weingart und Kurt Bayertz zu nennen sind), so liegt kein Grund vor, die alte „Einfluß"-Konstellation ideengeschichtlich zu wiederholen, indem naturwissenschaftliches Wissen verdoppelt wird. Wenn also die historische Begrenztheit wissenschaftlicher Phantasie bereits ein legitimes Forschungsfeld darstellt, sollte auch die Literaturwissenschaft nicht agieren müssen, als wäre Wissenschaft ein nicht mehr befragbares Unternehmen, wenn der Literatur ideologische

8 Vgl. die Forschungsberichte von George Rousseau: Literature and Science: The State of the Field. In: Isis 69 (1978), S. 583-591, ders.: The Discourse(s) of Literature and Science. In: University of Hartford Studies in Literature 19 (1987), H. 1, S. 1-24 und N. ¡Catherine Hayles: Literature and Science. In: Encyclopedia of Literature and Criticism. Ed. by M . Coyle u. a. London 1991, S. 1068-1081. Auf den „Zeitgeist"-BegrifT der 1960er Jahre, der in Summe freilich Geistesgeschichte schreibt, beruft sich Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen 1993, S. 11. Die Rezension in der Fachzeitschrift für Sozialgeschichte der Literatur hat an diesem Zugang nichts auszusetzen, sondern beschränkt sich auf philosophiehistorische Korrekturen. Thomas Borgard: Naturwissenschaft und Dichtung. Aus Anlaß von Monika Ficks Studie zum Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 20 (1995), S. 192-208.

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Projekte unterstellt werden können, sollte das auch für die Naturwissenschaft gelten. Mit der Konzentration auf „Einflüsse" würde zudem Wissenschaft auf ein „Motiv" reduziert, das dann in literarischen Texten nachzuweisen wäre. Es ist leicht ersichtlich, daß eine solche Sicht von Wissenschaft weder ihrer Handlungsmacht noch ihren affektiven Dimensionen im 19. Jahrhundert gerecht werden könnte. Umgekehrt aber reduziert sich in dieser Sicht zugleich auch Literatur auf eine Rezeptionsagentur, die somit bloß Impulse „von außen" „nach innen" zu transponieren hat; damit geht eine selten bemerkte Dequalifizierung von Literatur einher, die ihrer Rolle als einer zentralen, und in Summe vielleicht nicht weniger handlungsmächtigen, gesellschaftlichen Reflexionsinstanz nachträglich beraubt würde. Der „Einfluß" der Wissenschaft auf die Literatur ist selbst ein gesellschaftliches Konstrukt, das sich im 19. Jahrhundert herausbildet und befestigt. Diese Kautelen schließen die Rekonstruktion von Intertextualitätsbeziehungen nicht aus, sondern lassen sie als eine notwendige Vorbedingung erscheinen.9 Zugleich betrachtet die vorliegende Arbeit die Austauschbeziehungen von Literatur und Wissenschaft als in Praxisfeldern situiert, von denen aus gesehen eine „autonome Literatur" und eine „autonome Wissenschaft" nur als Grenzfalle präsent sind. Diese Praxisfelder sind dabei nicht nur die Orte dieser Austauschbeziehung, sondern sind als Institutionalisierungen epochentypischer historischer Problematiken zu analysieren. Eine institutionenhistorische Untersuchung der „Orte", die dabei (wie etwa der Tiergarten) sehr reelle Orte sein können, ist hierfür eine weitere Voraussetzung. „Diskurse" sind dort zu studieren, wo ein ideologisches Projekt mit einer sozialen Praxis zusammentrifft. Durch dieses Verfahren soll das Dilemma umgangen werden, in Texten rekonstruierte Wissensbestände abstrakt und reduktionistisch auf eine als vorgängig gedachte Sozialgeschichte beziehen zu müssen. Demgegenüber ist die Prozeßhaftigkeit kultureller Praxen zu betonen, wobei auf die semi-autonome Entwicklungslogik sozialer Institutionen zu achten ist; ebenso gehorchen Wissenschaft und Literatur ihren jeweils eigenen Diskurs- und Innovationsregeln. Erst in diesem Spannungsfeld sind die wechselseitigen Bezie9 Grundsätzlich sei auf die Terminologie und den Skalierungsversuch von Intertextualität bei Broich/Pfister verwiesen: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hgg. v. Ulrich Broich u. Manfred Pfister. Unter Mitarb. v. B. Schulte-Middelich. Tübingen 1985.

Einleitung

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hungen von Literatur und Naturwissenschaft angemessen als Koalitionen analysierbar; keine der beteiligten Instanzen hat dabei ihre relative Autonomie aufzugeben. Zur sozialgeschichtlichen Makroperspektive stützt sich die vorliegende Arbeit ergänzend auf die Theorieangebote von Pierre Bourdieus Institutionenu n d Wissenssoziologie und greift fallweise auf die Diskursanalyse in Anschluß an Jürgen Link und verwandte Modelle zurück. Die Rekonstruktion historischer Kontexte hat durch die Arbeiten des New Historicism wesentlich an Differenziertheit gewonnen; diese Richtung hat dabei eine hohe Virtuosität bei der Auffindung überraschender und oft auch origineller Bezüge zwischen literarischen und anderen Diskursen erreicht, wobei man die „umfassende Verbreiterung der Materialbasis, de[n] Erwerb von ,local knowledge' im Umfeld der großen Texte" 10 schätzen kann, ohne alle poststrukturalistischen Prämissen teilen zu müssen (von manchen Ergebnissen zu schweigen). Vorliegende Arbeit neigt der verwandten Richtung des Cultural Materialism zu, wie sie sich besonders in Großbritannien in Anschluß an die Arbeiten Raymond Williams' herausgebildet hat. Dessen zentraler Impuls, „einerseits den materiellen Charakter kultureller Praxen zu untermauern, andererseits ihre konstitutive Rolle in der gesellschaftlichen Organisation zu behaupten" 1 1 , möge auch hier als Ausgangspunkt gelten. „Placing a text in its contexts" weist als Strategie „the supposed transcendence of literature" zurück, „seeking rather to understand it as a cultural intervention produced initially within a specific set of practices and tending to render persuasive a view of reality". 12 Die im deutschen Sprachraum generell zu beobachtende Konzentration (nicht nur) der Philologie auf das Aufsuchen historischer Philosopheme kann unterlaufen werden, indem ein Thema dort beobachtet wird, wo es sich konstituiert und gleichsam „arbeitet". Dieser Zugang dürfte auch durch den Umstand gerechtfertigt sein, daß die Bereitschaft literarischer Autoren, sich auf zeitgenössische Philosopheme

10 Moritz Baßler: Einleitung. In: New Historicism - Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Hgg. v. M. B. Mit Beiträgen v. S. Greenblatt u. a. Frankfurt/M. 1995, S. 7-28, S. 12. 11 H. Gustav Klaus: Grundprinzipien des kulturellen Materialismus. Eine Skizze, in: Neurath - Gramsci - Williams. Theorien der Arbeiterkultur und ihre Wirkung. Hgg. v. U. Apitzsch. Hamburg, Berlin 1993, S. 81-98, S. 82. 12 Alan Sinfleld: Faultlines. Cultural Materialism and the Politics of Dissident Reading. Berkeley, Los Angeles, Oxford 1992, S. 22.

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tatsächlich einzulassen, im allgemeinen als sehr bescheiden zu veranschlagen ist. Was die literarischen Autoren an wissenschaftlichen Themen wahrgenommen haben, war bereits deren öffentliche Gestalt; diese öffentliche Gestalt von Naturwissenschaft (wohl auch der Schulphilosophie) war auf solche Wiedererkennungen, Instrumentalisierungen und Anschlußmöglichkeiten hin angelegt. Die Themen, zu deren Bearbeitung Literatur auf Naturwissenschaft rekurriert, stehen in jeweils zu bestimmender Beziehung zu epochentypischen Basisproblematiken und sind dabei erstaunlich konstant. Als Ende der 1860er Jahre Leopold v. Sacher-Masoch seinen als vollständige Bearbeitung und Lösung der Zeitprobleme angelegten Novellenzyklus Das Vermächtniß Kains konzipiert, plant er als Themen die „Liebe der Geschlechter", das „Eigenthum", den „Staat", den „Krieg", die „Arbeit" und den „Tod". 13 Die Themen von Sexualität, Rasse, Sozialreform, Degeneration und Krieg sind später die Problemfelder, die der „Sozialdarwinismus" (ebenso wie die linksbürgerlichen „Single-issue-Bewegungen" der Jahrhundertwende) bearbeiten wird. Wenn auch die Kontextualisierung von Literatur im skizzierten Sinn der Relativierung der Text-Kontext-Dichotomie dienen soll, geht das Interesse der vorliegenden Arbeit doch von den literarischen Texten aus, die den primären Untersuchungsgegenstand bilden. Einer solchen Vorgangsweise kommt die besondere Theoriestruktur des Darwinismus entgegen. Die textuellen Potentiale des Darwinismus sind für die Integration in Literatur von zentraler Bedeutung. Wie der Darwinismus als „historical narrative" 14 den Geschichtswissenschaften näher stand als dem zeitgenössischen TheorieParadigma der Physik, so sind auch kulturelle „stories" in Darwin - gegen den strukturellen Charakter seiner Theorie - selbst enthalten: „The multiplicity of stories implicit in evolution was in itself an element in its power over the cultural imagination: what mattered was not only the specific stories it told, but the fact that it told many and diverse ones. Profusion and selection were part of the procedure of reception as well as being inherent to

15 L . v. Sacher-Masoch: Prospekt des Werkes „Das Vermächtniß Kains". An J. G. Cotta, 9. 1. 1870. In: Sacher-Masoch: Don Juan von Kolomea. Galizische Geschichten. Hgg. u. mit einem Nachw. vers. v. M. Farin. Bonn 1985, S. 179 f., S. 179. 14 Dazu Ernst Mayr: The Growth of Biological Thought. Diversity, Evolution and Inheritance. Cambridge, London 1982, S. 71-73 u. 521 f.

Einleitung

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the theory - and the congruity of reception and theory created confirmation, at a level beneath that of analysis." 15 Der Erfolg des Darwinismus als Theorie und Ereignis kann in dieser Sicht darauf zurückgeführt werden, daß seine spezifische diskursive und narrative Organisation die Anschließbarkeit an zentrale Ideologerae des 19. Jahrhunderts gewährleistete. 16 „Darwinismus" wird damit selbst als Set von durchaus divergenten Erzählkernen, „Mikroerzählungen", kenntlich, die in sehr unterschiedliche „Makroerzählungen" eingesetzt werden können. Für die Literatur ergibt sich - in idealtypischer Form - ein Repertoire von Narration (,Evolution') und Szene (,Kampf ums Dasein'); verwandelt der Mythos - nach Roland Barthes - Geschichte in Natur, so wird im Darwinismus aus Natur Geschichte. Die im 19. Jahrhundert verbreitete Mystifizierung von Naturwissenschaft zu einer Instanz, die als Ergebnis ernsthafter Forschung vernunftgemäße Handlungsanweisungen zu geben vermag, ist die Kehrseite „öffentlicher Wissenschaft". Diese gibt dem Naturforscher Gelegenheit, die Vorverständnisse und Wahrheiten seines Publikums aussprechen zu dürfen; dieselbe Öffentlichkeit erwirbt damit für sich die Möglichkeit, die eigenen Wahrheiten in einem „ausdifferenzierten" Medium gespiegelt zu sehen, dessen „Entdifferenzierung" sie im selben Moment betreibt. Diese Konstellation ist ähnlich auch für die textuelle Präsentation naturwissenschaftlicher Wissensbestände in Betracht zu ziehen. Literatur, sofern sie auf die politischen und weltanschaulichen Potenzen des Darwinismus rekurriert, die er in seiner öffentlichen Form erworben hat, steht dabei vor einer doppelten Aufgabe. Zum einen m u ß Wissenschaft als Fremdtext im Ensemble der Werke sichtbar („markiert") bleiben, will Literatur nicht auf das Modernitäts- und Aktualitätsangebot verzichten, das Naturwissenschaft verheißt. Als Prätexte werden seltener die Schriften Darwins selbst als vielmehr die „populären" Texte Ernst Haeckels und anderer herangezogen, wenn nicht überhaupt in Einschlüssen aus dem naturwissenschaftlichen Diskurs „Systemreferenz" angestrebt wird. Daneben geht der „darwinistische" Text auch strukturell (nach dem intertextuellen Kriterium der „Strukturalität" 17 ) in literarische Texte ein, wenn sie „Evolution" als narratives Makrokonzept nützen. Eine solche Inte-

15 Gillian Beer: Darwin's Plots. Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot and Nineteenth Century Fiction. London u. a. 1985, S. 114. 16 Zum Begriff des „Ideologems" Fredric Jameson: Das politische Unbewußte. Literatur als Symbol sozialen Handelns. Reinbek 1988. 17 Intertextualität, S. 28.

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gration verläuft auf der Basis der kollektiven kulturellen Zurichtung des Darwinismus zu einer ,großen Erzählung' vom Fortschritt, vom Niedergang, vom Kampf, von der Liebe und ähnlichem mehr. Diese kollektive literarisierende Arbeit an einer naturwissenschaftlichen Theorie bleibt damit die Voraussetzung für ihre problemlose Verarbeitung durch Literatur, wie sie sich umgekehrt auf die in der Naturwissenschaft sedimentierte kulturelle Erfahrung stützen kann. Dieselben Prozesse sind auch bei Naturwissenschaftlern zu finden. In der Naturwissenschaft konnte Darwin als ultimativer Befestiger der Evolutionserzählung gelten, ohne daß die antiteleologische Stoßrichtung seines Konzepts damit hätte akzeptiert werden müssen. Wenn also der „Darwinismus" in so engem Bezug zu den großen Legitimationsdiskursen der Epoche steht, läßt sich absehen, daß hinsichtlich ästhetischer Modernität die Angebote der Evolutionstheorie zunächst als bescheiden veranschlagt werden müssen. Solange jenes Paradigma, das am Beginn der Darwin-„Rezeption" steht, fortwirkt, werden von der Literatur aus dem Darwinismus eher homogenisierende, wenn man will: konservative Wirkungen bezogen. Am Beispiel Richard Beer-Hofmanns kann sogar gezeigt werden, wie ein nach den Kriterien der Literaturwissenschaft „moderner" Text wie Der Tod Georgs seine „Modernität" (das Aufbrechen der narrativen Kontinua der Erzählprosa des 19. Jahrhunderts) unter Rekurs auf Naturwissenschaft gerade zurücknimmt. Die meist enttäuscht registrierte, wenn auch oft mißverstandene Wendung, die der Text an seinem Ende nimmt, steht dabei im Dienst der Rettung biographischer Stützungen und der Herstellung eines identitätsstiftenden Modells in einer Epoche äußerer Gefährdung. Erst nachdem die Ausgangskonstellation „öffentlicher Wissenschaft" ihre Wirkung eingebüßt hat, dürfte „Darwin" für diskontinuierliche, „moderne" Schreibweisen verhandelbar geworden sein. Der erste Abschnitt der vorliegenden Arbeit befaßt sich mit jener Konstitution von „Darwinismus" im Wechselspiel von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Das erste Kapitel versucht, den Prozeß der Herstellung des Streitgegenstands im Durchsetzungskonflikt des Darwinismus, wie er in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstand, zu beschreiben. Der Ereignischarakter dieser Etablierungskonflikte wird anhand einer Reihe von Affaren demonstriert, in denen sich die öffentliche Form darwinistischer Wissenschaft erst konstituiert; dabei wird zu beachten sein, mit welcher Interessenlage die Naturforscher selbst an diesem Prozeß teilhaben. „Popularisierung" ist hierbei keine neutrale Ubersetzungstätigkeit, sondern

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beruht auf einem komplexen Wechselspiel zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft, das die Mystifizierung wissenschaftlichen Wissens und seiner Agenten zum Ergebnis hat und den eigenen Anteil des Publikums an der öffentlichen Wissenschaft zum Verschwinden bringt. Dazu wird dieser Prozeß an der wechselseitigen Stützung zweier sich zur selben Zeit etablierender Disziplinen, an der darwinistischen Evolutionsbiologie Ernst Haeckels und der nationalen Germanistik Wilhelm Scherers, untersucht. 18 Beide neuen Wissenschaften entwickeln Tendenzen zur Ausweitung und Universalisierung; beide setzen auf die Einheit von Wissenschaft und die Uberwindung der Spaltung in Geistes- und Naturwissenschaften. Der Kulturkampf, die deutsche Reichsgründung 1871 und die besondere österreichische Situation bilden dabei den Hintergrund für einen Etablierungsund Konstituierungskonflikt, in d e m beide Konzepte mit der postulierten Einheit der Wissenschaft auf die Einheit der „Nation" rekurrieren. Beide Wissenschaften sind als „öffentliche Wissenschaften" konzipiert. Die pragmatische Situierung des Konflikts auch auf der Ebene von Lehrstuhlberufungen und akademischer Kabinettspolitik soll dabei die spezifischen Homogenisierungsleistungen, die Biologie und Philologie eben nicht nur theoretisch, sondern auch in institutioneller Perspektive erbringen, darstellbar machen. Der zweite Abschnitt beschreibt exemplarisch den Gebrauch, den die „realistische" Literatur von Darwin gemacht hat. Bekanntlich hat die österreichische Literatur keine „realistische" Literaturprogrammatik im Sinn der Theorie des „Bürgerlichen Realismus" entwickelt; auch die „naturalistische" Literaturbewegung hat in Osterreich keinen großen Widerhall gefunden. Dagegen hat der österreichische „Realismus" neben einem gemeinhin so genannten „Sozialrealismus" eine Tradition engagierter Literatur auf liberaler und liberalistischer Grundlage ausgebildet; in diesen literarischen Kontext gehört Leopold v. Sacher-Masochs Literaturproduktion nicht weniger als Ludwig Anzengrubers Projekt von Volksaufklärung. Dieser Realismus hat die Allianz mit den Naturwissenschaften nicht gescheut und hat auch nicht auf die Re-Autonomisierung von Literatur gebaut. Im Gegenteil

18 Teile von Kap. 1 beruhen auf meinem Aufsatz: An den Siegeswagen gefesselt. Wissenschaft und Nation bei Wilhelm Scherer. In: Literatur und Nation. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 in der deutschsprachigen Literatur. Hgg. v. Klaus Amann u. Karl Wagner. Wien, Köln, Weimar 1996, S. 253-266.

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erscheinen beide Phänomene im Kontext des österreichischen „Darwinismus", der liberale Politik mit naturwissenschaftlicher Aufklärung verknüpft hat, plausibel verbunden. Das Werk Leopold v. Sacher-Masochs markiert den Ubergang von der Analyse der „öffentlichen Wissenschaft" zur Analyse der spezifischen Integrationen Darwins in die Literatur. In Der Hu/ (1877) wird im Gewand der jüdischen Ethnographie eine idealtypische Darstellung öffentlicher Wissenschaft gegeben, indem der Protagonist aus religiös verschuldeter Unmündigkeit geführt, zum „Geisteshelden" formiert und gegen das repressive staatliche System gestellt wird. Die Lektüre Sacher-Masochs im Kontext der liberalen Darwin-Rezeption soll dabei Textschichten zutage fordern, die in den bisher beschrittenen Analyserichtungen hinsichtlich der „masochistischen" und der „jüdischen" Thematik nicht zu sehen waren. Sacher-Masoch hat sich dabei vielleicht als erster literarischer Autor von gewissem Rang so stark auf die Angebote des Darwinismus eingelassen, daß seine Literatur „an der Seite der Naturwissenschaft" hätte stehen sollen. Seine Erfolgs- und Skandalnovelle Venus im Pelz (1870) darf darüber hinaus beanspruchen, bereits am Beginn der Geschichte der Integrationen Darwins in die Literatur mit literarischen Mitteln das Problem von „darwinistischer" Natur und Kunst reflektiert zu haben. Zugleich zeichnen sich in Venus im Pelz bereits die Aporien der literarischen Integration von Instanzen ab, die mächtiger sind als Kunst; diese Aporien werden den literarischen Darwinismus fortan begleiten. Neben dem Liberalismus war es vor allem die sozialistische Bewegung, die Darwin zur Abstützung ihrer Politik zu benützen verstand. In der österreichischen Szenerie stehen diese Phänomene in einem unmittelbaren genetischen Zusammenhang. Für den darzustellenden Sachverhalt ergibt sich glücklich die Konstellation, daß eine der wichtigsten Autorinnen sozialdemokratischer Prosaliteratur, Minna Kautsky, und der prominenteste Theoretiker der II. Internationale, Karl Kautsky, in der Periode des euphorischen Darwinismus während der Blütezeit des österreichischen Liberalismus über Darwin zum Sozialismus finden. Der genetische Zusammenhang gegnerischer politischer Ideologien muß dabei in den Werken zum Verschwinden gebracht werden. Der „wissenschaftliche Sozialismus" Karl Kautskys formiert sich dabei in unmittelbarer Nähe zu den narrativen Versöhnungsversuchen einer engagierten Literatur, die weniger auf die Bewußtseins- als vielmehr auf die Gefühlsbildung des ,lesenden Arbeiters' abhebt. Die narrativen Potentiale „Darwins" erwiesen sich dabei als kompatibel mit einer

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Schreibweise, die zur Formierung einer emotionalen Basisideologie für eine neue Klassenbewegung geeignet schien. Der Bildungs- und Wissenschaftsoptimismus der Sozialdemokratie, der über solche Vermittlungen tatsächlich ein Massenpublikum erreichte, ist dabei als Transposition des liberalen Enthusiasmus zu lesen, adaptiert an die Bedürfnisse einer politischen Option, die anders als der Liberalismus soziale Hierarchien thematisiert. Das Schreiben im Dienst der Partei verlangt hierbei einen veränderten Darstellungsmodus. 19 Das vierte Kapitel untersucht, ausgehend vom Werk Ludwig Anzengrubers, an der Literatur zum Bauernstand die Verknüpfung des Vererbungsthemas mit der liberalen Basisproblematik der Legitimität von Eigentum. Anzengrubers Roman Der Sternsteinhof (1884), der seinerseits schon einen Plot aus einer früheren Werkperiode des Autors transformiert, markiert dabei den Beginn einer besonderen literarischen Reihe in der österreichischen Literatur. Die literarischen Synthesen, mit denen der Hochliberalismus die Spannung von Ökonomie und Ethik negierte, erweisen sich zunehmend als brüchig; die Eigentumsproblematik wird radikalisiert, indem „Vererbung" vom ökonomischen Besitzstand in das erzählte Personal verschoben wird. Damit werden Potenzen von „Darwin's plots" (Gillian Beer) freigesetzt, die den Schreibvoraussetzungen des „Sozialdarwinismus" ähneln. Die Legitimitätsfrage steht in dieser Entwicklung in einem spannungsreichen Verhältnis zur Frage nach der Legalität; der Umgang der Texte mit dem juristischen Diskurs ist dabei ebenso zu beachten wie die zeitgenössische politische Diskussion des „Höferechts". Der dritte Abschnitt thematisiert das Verhältnis der Literatur der „Wiener Moderne" zu Darwin und zu den Darwinismen der Ära. Die (relativ) politikferne und (relativ) autonomiezentrierte Literatur Jung-Wiens hat dabei durchaus teil am „Darwinismus". Eine gegenüberstellende Lektüre von Leopold v. Andrians Der Garten der Erkenntnis (1895) und Richard BeerHofmanns Der Tod Georgs (1900) vor dem Hintergrund des Degenerationsdiskurses beschreibt die Bedrohungs-, aber auch die Stützungspotentiale evolutionistischer Modelle in der sehr spezifischen historischen Situation der Autoren der Wiener Moderne. Die vorläufige Abwendung vom politischen Kontext führt dabei zur Introjektion und Subjektivierung naturwis-

19 Das 5. Kapitel liegt vor in: Minna Kautsky. Beiträge zum literarischen Werk. Hgg. v. Stefan Riesenfellneru. Ingrid Spork. Wien 1996, S. 269-305.

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senschaftlicher Diskurse; auf dem hohen ästhetischen Niveau der Texte ist hier gleichsam deren Privatisierung zu beobachten, die aber signifikanterweise bei Beer-Hofmann mit den Mitteln des Evolutionismus in ein neues soziales, nationaljüdisches Projekt mündet. Die Problematiken von „Homosexualität" und „Judentum" stehen dabei in den konkreten gesellschaftlichen Konfliktlinien der Jahrhundertwende. An einer „ethnologischen Ausstellung" im Wiener Prater werden im Zusammenhang der Sozialgeschichte des Tiergartens Peter Altenbergs Skizzenreihe Ashantee (1897) und andere Texte im Kontext der evolutionistischen Ethnologie und Anthropologie situiert. Im vierten Abschnitt stehen mit Marie Eugenie delle Grazie und Bertha v. Suttner zwei Autorinnen der österreichischen „Spätaufklärung" (Friedrich Stadler) zur Diskussion. Die Texte sind hier wieder eng in die Handlungsfelder des (Links-)Liberalismus eingebunden, bei delle Grazie in die „monistische" Bewegung bzw. vor ihrer Konstituierung in die Propaganda der „Weltanschauungskämpfe", bei Suttner in den Pazifismus. Bei delle Grazie kann gesehen werden, wie die demokratische' Trägerideologie des demokratischen Materialismus, bedingt durch die Marginalität des Milieus, in neo-aristokratische Modelle umschlägt. Die Szenen demonstrativen Lernens, die delle Grazie gestaltet, sind dabei vor dem Hintergrund der Kämpfe um den Bildungssektor zu lesen. Abschließend ist an einer Engführung der Schriften Bertha v. Suttners und des Generalstabschefs Franz Conrad v. Hötzendorf zu beobachten, daß der Darwinismus als Ideologie des Liberalismus nicht nur hinter dem bürgerlichen Pazifismus, sondern bereits auch hinter der („imperialistischen") Ideologie führender Militärs steht. Der euphorische liberale „Darwinismus" der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts findet seinen (vorläufigen) Abschluß in der Frontstellung zweier einander diametral entgegengesetzter Darwin-Versionen, wobei der Darwinismus im Militär die Verbürgerlichung einer feudal geführten Institution signalisiert. Hier soll keine „Geschichte der Wechselbeziehungen von Literatur und Naturwissenschaft" geschrieben werden. Die narrative Organisation einer solchen Geschichtsschreibung müßte gerade die in dieser Beziehung liegenden historischen Erkernntnispotentiale wieder verdecken. Besonders Geschichten des Darwinismus haben - je nach Standort ihrer Verfasser teleologische Tendenz: Naturwissenschaftler schreiben seine „helle" Geschichte bis zur Gegenwart fort und feiern die Bewährung und, bei man-

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chen Irrtümern, langsame Befestigung einer der großen naturwissenschaftlichen Theorien. In den Kulturwissenschaften mündet eine „dunkle" Geschichte des Darwinismus stets unausweichlich in den „Sozialdarwinismus", in die Eugenik u n d die Rassenideologien des Nationalsozialismus. Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, weder die Heils-, noch die Unheilsgeschichte einer Theorie zu schreiben, sondern in einer Reihe von „thick descriptions" historisch noch unentschiedener Konstellationen in hoher kontextueller Konkretion die Ambivalenzen des Unternehmens aufzuweisen, Natur und Naturwissenschaft in das Projekt literarischer Aufklärung zu integrieren. Eine ähnliche kontraproduktive Vereindeutigung entstünde auch, andererseits, durch zu enge Anlehnung an die eingebürgerten Periodisierungen der Literaturgeschichtsschreibung. Die seit längerem geführte Debatte u m die österreichische Literaturgeschichte hat gezeigt, daß für die Literaturverhältnisse in Österreich eigene Maßstäbe und Zuordnungskriterien gefunden werden müssen. Wenn d e m „Naturalismus" gemeinhin eine besondere Nähe zum Darwinismus nachgesagt wird, so ist diese vor allem in den programmatischen Enunziationen der naturalistischen Literaturbewegung zu suchen; gerade der angesprochene notorische Mangel an ausformulierten und ernstgenommenen Programmen in der österreichischen Literatur bietet dagegen die Gelegenheit, ein teils offen zutage liegendes, teils untergründiges Netz von Verweisen im Raum der Werke sichtbar zu machen, das nicht n u r die sich über m e h r e r e literarische Generationen erstreckende Attraktivität von „Darwinismus" belegt, sondern auch dialogisch eine genuin literarische Bearbeitungsform von T h e m e n einer Epoche erkennen läßt, die nur scheinbar überwunden ist. Für Kooperation u n d Betreuung, Benützungs- und Zitiererlaubnis bin ich folgenden Personen u n d Institutionen zu Dank verpflichtet: der Archivabteilung im Ernst-Haeckel-Haus, Institut für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft u n d Technik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, insbesondere Frau Dr. Erika Krauße (Haeckel-Nachlaß u n d Korrespondenz), der Handschriftenabteilung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, d e m Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis Amsterdam (zu Minna Kautsky), d e m Leo Baeck Institute N e w York (Collection Richard BeerHofmann) und d e m Deutschen Literaturarchiv, Marbach/Neckar (zu Leopold v. Andrian). D e m Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung danke ich für die gewährte Druckkostenförderung. D e m Böhlau

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Verlag, insbesondere Bettina Waringer, danke ich für die gute Zusammenarbeit. Die Arbeit an diesem Buch wurde 1992 aufgenommen und im Frühjahr 1997 abgeschlossen. Mir später bekannt gewordene Forschungsliteratur konnte nur in Ausnahmefällen berücksichtigt werden. Zu danken habe ich vor allem Karl Wagner, der die Entstehung dieses Buches freundschaftlich begleitet und mit Kompetenz und Ironie die Evolution meines Projekts befördert hat. Meinen Kollegen und Freunden im FWF-Forschungsprojekt „Literarisches Leben in Osterreich, 1848-1890" an der Universität Wien, d e m ich von 1992 bis 1998 angehörte, danke ich für Anregungen, Unterstützung und produktive Zusammenarbeit: Catrin Seefranz, Christiane Zintzen, Oliver Bruck, Max Kaiser. Konstanze Fliedl danke ich für die kritische Lektüre der Rohfassung von Kapitel 5. Andreas Brandtner, Johann Sonnleitner und Max Kaiser haben das Typoskript gelesen. Herlinde Aichner danke ich für judaistischen Rat und vieles mehr.

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Darwinismus und Liberalismus Z U R G E S C H I C H T E EINER ÖFFENTLICHEN W I S S E N S C H A F T

Liegen iur andere Länder oft detaillierte Rezeptionsgeschichten des Darwinismus vor1, so existiert eine solche für Österreich erst in Ansätzen.2 Im folgenden Abschnitt, der dies auch nicht leisten könnte, sollen Hinweise zur Rekonstruktion der Darwin-Rezeption in einem sehr spezifischen Sinn gegeben werden, Hinweise zur Geschichte einer öffentlichen Wissenschaft. Denn der Geschichte der Durchsetzung des Darwinismus ist eine Geschichte der Konstitution von „Darwinismus" überhaupt vorgelagert, der gegenüber weder eine Dogmen- noch eine Institutionengeschichte der Biologie als Beschreibung der Etablierung eines neuen wissenschaftlichen „Paradigmas" im wissenschaftlichen Feld sachliche Priorität beanspruchen können. (So bestehen etwa hinreichend Gründe zur Annahme, daß die Berufung Ernst Haeckels nach Wien, wie sie Anfang der 1870er Jahre mehrmals versucht worden war, ohne eine „darwinistische" Grundstimmung im Kulturkampf nicht plausibel gewesen wäre.) Eine solche Geschichte einer öffentlichen Wissenschaft muß deutliche Abweichungen von der biologischen Dogmengeschichte zeigen. 3 Es wäre illusorisch, den „Fortgang der Wissenschaft" in der Öffentlichkeit wiederfinden zu wollen, zumal Dogmengeschichte immer ex post hergestellt wird (so unterscheidet sich etwa die Darwinismus-Präsentation bei Ernst

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Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert. Hgg., eingel. u. mit einer Auswahlbibl. vers. v. E.-M. Engels. Frankfurt/M. 1995; Alvar Ellegärd: Darwin and the General Reader: The Reception of Darwin's Theory of Evolution in the British Periodical Press, 1859-1872. Göteborg 1958; gute Uberblicksdarstellungen finden sich in: The Darwinian Heritage. Ed. by D. Kohn. Princeton, New Jersey 1985, darin Pietro Corsi u. Paul J. Weindling: Darwinism in Germany, France and Italy, S. 685-729. Dazu Thomas Praschek: Darwinismus, Gesellschaft und Politik. Ein Beitrag zur österreichischen Geistes- und Wissenschaftsgeschichte der Jahrhundertwende. Phil. Diss. Wien 1993. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht vgl. jetzt das Modell von „Popularisierung als komplexer Interaktionsprozeß" bei Ulrike Feit: „Öffentliche" Wissenschaft. Die Beziehung von Naturwissenschaften und Gesellschaft in Wien von der Jahrhundertwende bis zum Ende

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Mayr 4 grundlegend von der gleichsam zeitgenössischen Emanuel Rädls 5 , die in einer Situation entstand, in der Darwin bereits „tot" war). Öffentlichkeit als - wenigstens beim Thema Darwin - in den Kategorien von Klassen- und Bildungsschichtzugehörigkeit beschreibbares Konfliktfeld von politischen und diskursiven Kämpfen gehorcht ihrer eigenen Themen- und Interessenentwicklung. In Hinblick auf eine Sozialgeschichte von Wissenschaft ergeben sich dagegen Überschneidungen und Interessenkoalitionen von Wissenschaft und Öffentlichkeit, deren Ertrag zwar in je verschiedener Münze ausbezahlt wird, dennoch nach bestimmten historisch spezifischen Regeln konvertiert werden kann (und muß). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind das Persönlichkeits- und motivzentrierte, wie hier gezeigt werden soll. Wenn im folgenden eine Reihe von öffentlichen Konflikten um „Naturwissenschaft" in Miniaturen vorgestellt wird, so geschieht das unter der Prämisse, daß „Rezeption" von Wissenschaft in der Öffentlichkeit nicht in einem Modell von Widerstand, Uberwindung des Widerstandes und letztlicher Durchsetzung von Wahrheit gefaßt werden kann, sondern daß es eines komplexeren Modells bedarf. Zunächst muß der Streitgegenstand dieser Konflikte öffentlich erst konstituiert werden; dieser Schritt wird wohl in der Öffentlichkeit und unter ihren Streitregeln gesetzt, es muß jedoch in Rechnung gestellt werden, daß die Durchsetzung einer wissenschaftlichen Theorie in zwei Feldern, gegen die „weltanschaulichen" Widerstände von Laien und gegen die Skepsis von Fachgenossen, zu erfolgen hat. Der Szientismus des 19. Jahrhunderts erleichterte diesen Prozeß, indem konsekrierten Wissenschaftlern per se schon symbolisches Kapital zukam, sofern sie

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der Ersten Republik. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7 (1996), H. 1, S. 45-66. Seit neuestem liegt ein wissenschaftstheoretisch fundierter historischer Überblick zur Populärwissenschaft in Österreich vor: Klaus Taschwer: Wie die Naturwissenschaften populär wurden. Zur Geschichte der Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Österreich zwischen 1800 und 1870. In: Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung, 1997, H. 1-2, S. 4-31. Ernst Mayr: The Growth of Biological Thought. Diversity, Evolution and Inheritance. Cambridge, London 1982; ders.: ... und Darwin hat doch recht. Charles Darwin, seine Lehre und die moderne Evolutionsbiologie. München, Zürich 1994. Emanuel Rädl: Geschichte der biologischen Theorien seit dem Ende des 17. Jahrhunderts. 2 Tie. Leipzig 1905-1909.

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als Agenten von „Wissenschaft" auftraten.6 Dieser Szientismus als Leitwährung der liberalen Öffentlichkeit war so dominant, daß die Theologen als die gleichsam natürlichen Gegner des Darwinismus nicht auf ihrem Terrain, als Theologen, gegen die in Streit stehende Theorie auftraten, sondern sich des Rückhalts konfessionell gebundener oder aus anderen Gründen skeptischer Naturwissenschaftler versicherten.7 In der fachinternen Auseinandersetzung um den Darwinismus wieder verließen sich die Darwinisten keineswegs auf den zwanglosen Zwang des besseren Arguments, sondern bedienten sich ihrerseits der Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit, um den Darwinismus als Streitgegenstand in der Weise zu etablieren, daß das disparate und erst schwach institutionalisierte Feld der „Biologie" in „Anhänger" und „Gegner" zu polarisieren versucht wurde. In Wahrheit waren die Reaktionen der Fachgenossen auf Darwin ebenso komplex wie das ganze Feld; aus dem Werk Darwins wurden von den einzelnen Naturforschern Aspekte selegiert, neu gewichtet, abgelehnt, sodaß in kurzer Zeit eine Fülle von konkurrierenden Modellen und Positionen entstanden war.8 Solche Divergenzen wurden in der Öffentlichkeit erst in der sogenannten „Krise des Darwinismus" um die Jahrhundertwende sichtbar, nach dem Ende der „Kämpfe um den Entwickelungsgedanken" (Haeckel). Auf der anderen Seite standen, in der Form ihrer Artikulation denen der Naturforscher durchaus vergleichbar, die einzelnen ideologischen Projekte der Epoche, die sich der solcherart erst hergestellten Instanz „Wissenschaft" als Berufungsinstanz bedienten. Dazu kam, daß der „Fortschritt", um und in dessen Namen der Kampf von den Liberalen (im weitesten Sinn) geführt

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Vgl. zur Terminologie P. Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1983; ders.: Homo academicus. Frankfurt/M. 1992; ders.: The Peculiar Histoiy of Scientific Reason. In: Sodological Forum 6 (1991), H. 1, S. 3-26. Hermann Josef Doerpinghaus: Darwins Theorie und der deutsche Vulgärmaterialismus im Urteil deutscher katholischer Zeitschriften zwischen 1854 und 1914-. Phil. Diss. Freiburg/Br. 1969. Dieses Verfahren wendet etwa auch Sebastian Brunner an (Das Buch der Natur, mit oder ohne Verfasser, 1879). Eine neuere (nicht ganz verläßliche) Ubersicht über die Reaktionen der österreichischen Fachvertreter im weiteren Sinn zeigt die Vielfalt der individuellen Reaktionen auf den „Darwinismus", die sich nicht in „Gegner" und „Anhänger" sortieren lassen. Franz GrafStuhlhofer: Darwinismus-Rezeption bei Österreichs Biologen. In: Verdrängter Humanismus - Verzögerte Aufklärung. Bd. 3. Hgg. v. M. Benedikt u. R. Knoll. Klausen-Leopoldsdorf u. a. 1995, S. 797-807.

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wurde, seinen wie auch immer imaginären Gehalt aus der Form der Wissenschaftsentwicklung abziehen konnte. Nicht immer neue Produkte, neue Eisenbahnkilometer und neue reale technische Möglichkeiten legitimierten „Fortschritt" als hypostasiertes Bewegungsgesetz der Geschichte, sondern die Aussicht auf einen unabschließbaren Prozeß, der stetig neues Wissen hervorbringen würde. Die historischen Grenzen dieser Auffassung von Wissenschaft konnten schon deshalb nicht gesehen werden, da diese mit dem Selbstbild der Akteure im Feld der Wissenschaft übereinstimmte. Agenten von Wissenschaft, als die sich die Liberalen verstanden, standen deswegen immer auf der richtigen Seite. Um so genauer traf sich die Theorie Darwins mit den skizzierten Bedingungen öffentlicher Wissenschaft im 19. Jahrhundert, als sie als inhaltliche Garantie desselben Paradigmas ohne Probleme vereindeutigt werden konnte. Nur so läßt sich der populäre Erfolg des „Darwinismus" erklären, einer Form wissenschaftlichen Wissens, die - sehr im Gegensatz etwa zur Physiologie mit ihren Implikationen von der Medizin bis zur Ernährungsindustrie - keinerlei sichtbare zivilisatorische Verbesserung mit sich brachte. Die Populärwissenschaft, die in ihrem Formenrepertoire („erleichterte" Darstellung, Anthropomorphisierung, Personalisierung) noch heute von ihren Entstehungsbedingungen im 19. Jahrhundert geprägt ist, erhielt deshalb hohe Bedeutung, da sie Einblicke in die ,Werkstatt des Weltgeistes' versprach; nicht, um die Ergebnisse von Wissenschaft gesellschaftlicher Kontrolle und Einschätzung zugänglich zu machen, sondern um durch eine Diffusion von Wissen von seinen Produktionsinstanzen herab den Konsumenten von Populärwissenschaft historische Gleichzeitigkeit zu ermöglichen. Die Kluft zwischen Produzenten und Konsumenten blieb gleichwohl gewahrt. Damit emanzipierte sich „Wissen" für seine Konsumenten nicht nur von seinen Produktionsbedingungen, sondern verschwand überhaupt als Produkt.

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K O N T R O V E R S E N UM D A R W I N U N D D E N M A T E R I A L I S M U S IN Ö S T E R R E I C H

(1859-1870/71)

In Bertha v. Suttners Roman Die Waffen nieder! unterbricht die Protagonistin Martha Dotzky eine Diskussion des Vorfriedens von Villafranca (11. 7. 1859) mit ihrem Vater, einem pensionierten österreichischen General: „Dann, um abzulenken, zeigte ich auf ein Bücheipaket, das heute aus Wien eingetroffen war.,Schau her: Der Buchhändler schickt uns verschiedene Sachen zur Ansicht. Darunter ein eben erschienenes Werk eines englischen Naturforschers, eines gewissen Darwin: ,The Origin of Species' - und er macht uns aufmerksam, daß dies besonders interessant sei und geeignet, epochemachend zu wirken.'" 9 Das Zusammentreffen dieser beiden Ereignisse ist nicht „realistisch" und nur der Chronologie des Romans geschuldet; die englische Erstausgabe der Origin erschien erst Ende November 1859. In Suttners Roman wird durch diese Synchronisation blindes Schlachtenglück mit den epochalen Fortschritten des Geistes, der Wissenschaft und der Zivilisation verrechnet. In bestimmter Hinsicht jedoch ist die hergestellte Nähe der Niederlage von Solferino und der Publikation von Darwins Theorie motiviert. Solferino leitete die Ära der sogenannten „Verfassungsexperimente" im österreichischen Kaiserstaat ein und ließ auf eine schwunghafte ökonomische Modernisierung im autoritären, „neoabsolutistischen" Nachmärz10 Liberalisierungen im politischen System folgen, ohne die der Erfolg der Darwinschen Theorie wohl weniger öffentlichkeitswirksam ausgefallen wäre. Für die liberalen Bildungsschichten war das Fortschrittsmotiv, mit dem der „Darwinismus" von Anfang an verbunden war, so unmittelbar plausibel, als die Durchsetzung und Popularisierung Darwins im Gleichschritt mit den politischen Erfolgen zu erfolgen schien. Die Geschichte des Darwinismus in Osterreich ist damit untrennbar mit der Geschichte des österreichischen Liberalismus verbunden; mindestens in der ersten Phase der Darwinismus9 10

Bertha v. Suttner: Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte. Hgg. u. mit einem Nachw. v. S. u. H. Bock. Berlin 1990, S. 45. Dazu Herbert Matis: Sozioökonomische Aspekte des Liberalismus in Österreich 1848-1918. In: Sozialgeschichte Heute. FS Hans Rosenberg. Hgg. v. H.-U. Wehler. Göttingen 1974, S. 243-265; ders. u. Karl Bachinger: Österreichs industrielle Entwicklung. In: Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Bd. 1. Hgg. v. A. Brusatti. Wien 1973, S. 103-232; David F. Good: Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches 1730-1914. Wien, Köln, Graz 1986, S. 74-89.

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Rezeption bis zu seiner institutionellen Durchsetzung ist daher auch das Verhältnis des staatlichen Systems zu dieser Theorie von Bedeutung. Im Unterrichtsministerium des Neoabsolutismus besteht Mitte der 1850er Jahre das Vorurteil, Naturwissenschaft führe überhaupt in den Materialismus. Im Polizeiministerium ist man sich dessen gewiß; als der Anatom Joseph Hyrtl 1856 mit einer Delegation beim Kaiser um das Patronat für die in Wien stattfindende 52. Naturforscherversammlung einkommt, notiert der Polizeiminister Johann Franz Freiherr v. Kempen: „Sie kehrten die loyale Seite heraus, die bei ihnen ärmlich aussieht"11, nicht ahnend, daß Hyrtl nur wenige Jahre später - unter geänderten Bedingungen - gerade mit einer Rede gegen den Materialismus Skandal machen würde. Bereits vom Herbst 1860 berichtet dagegen der Geologe und liberale Abgeordnete Eduard Sueß von einer merklich milderen Reaktion des katholisch-klerikalen Staatssekretärs Helfert (am 20. Oktober 1860 war das „Oktoberdiplom" als erstes der „Verfassungsexperimente" ergangen): „Im Herbste 1860, als der Verein [ Verein zur Verbreitung

naturwissenschaftlicher

Kenntnisse in Wien, gegründet von Sueß, W. M.] ganz jung war, begann eben Darwins Lehre sich auszubreiten. Gustav Jäger (später als der Wolljäger bekannt) beschäftigte sich mit der Einrichtung eines Tiergartens im Prater und kündigte im Vereine einen Vortrag über Darwin an. Ich wurde in das Unterrichtsministerium zu Baron Helfert [Helfert war jedoch selbst Mitglied, W. M.], dem damaligen Unterstaatssekretär, beschieden. Es wurde mir vorgehalten, der Verein möge sich doch die Frage stellen, ob es nicht zweckmäßiger wäre, das Publikum über nützlichere Dinge zu unterrichten, z. B. über Spiegel- oder Stahlfabrikation. Ich erwiderte, daß Vermutungen und Hypothesen nur als solche geboten werden sollen, daß jedoch für die Auffassung der lebenden Natur maßgebende Tatsachen nicht auf die Dauer verschwiegen bleiben könnten. Die Tatsachen würden ja doch aufrecht bleiben. Damit war die Sache erledigt und der Vortrag wurde gehalten." 12 Gustav Jägers Vorträge im Verein zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse am 10. und 15. Dezember 1860 sind die erste öffentliche Stellt 12

Tagebuch Kempen, 13. 9. 1856. Zit. nach Eduard Winter: Revolution, Neoabsolutismus und Liberalismus in der Donaumonarchie. Wien 1969, S. 146. Eduard Sueß: Erinnerungen. Leipzig 1886, S. 124. Zu den Vorträgen im „Verein zur Verbreitung ..." s. auch Efdmund] R[eitlinge]r: Aus dem grünen Saale. In: Die Presse (Wien), 9. u. 10. 4. 1863, zu Jäger 9. 4.

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lungnahme für Darwin vor Laienpublikum in Wien. 13 Der Verein, der seit 1855 bestand, erfüllte dabei augenscheinlich öffentliche Bedürfnisse, schon wenige Wochen nach der konstituierenden Versammlung umfaßte er 519 Mitglieder, nicht durchwegs „Laien", sondern ebenso die jüngere Generation der Naturwissenschaftler. 14 Den „erhebenden Gedanken an die ewige, unendliche und unveränderliche Gesetzmässigkeit des Kosmos hinauszutragen in's Volk, das ist's was ich als die Mission dieses Vereines erkenne", sagt Sueß in der ersten Plenarversammlung. 15 Vorausgegangen war Jägers Vorträgen am 5. Dezember 1860 eine Kontroverse mit August v. Pelzeln in der k. k. Zoologisch-botanischen Gesellschaft, die Pelzeln zur Herausgabe einer Broschüre zur Widerlegung der Transmutationshypothese bewogen haben mag. 16 Jedenfalls war dem „Darwinismus" von Anfang an eine konfliktuelle und eine öffentliche Dimension eigen; es war die jüngere Generation der Naturforscher, die sich für Darwin einsetzte (1860 war Jäger 28, Sueß 29 Jahre alt), noch bevor sich jene für Darwin erklärten, die sich im Vormärz exponiert hatten. Zudem schienen sich die politischen Verhältnisse exakt zu dieser Zeit zum Besseren zu wenden: Im Dezember 1860 folgte dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Goluchowski das deutschliberale Kabinett Schmerling, 1861 mit dem „Februarpatent" eine deutsch-zentralistische Verfassung mit Ansätzen zu einem repräsentativen System. Wie eng der Darwinismus in Osterreich mit dem liberalen Projekt verknüpft war, zeigen auch die Daten der öffentlichen und wissenschaftlichen Anerkennung Darwins: 1867, im Jahr des Staatsgrundgesetzes und der beginnenden Machtübernahme der Liberalen, erhält Darwin ein Ehrendiplom der Zoologisch-botanischen Gesellschaft in Wien, das ihm Haeckel

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G. Jäger: Die Darwinsche Theorie über die Entstehung der Arten. Zwei Vorträge. In: Schriften des Vereines zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien 1 (1860/61), S. 81-110. Karl Hornstein: Vorläufiger Rechenschaits-Bericht des Geschäftsführers über den Stand der Mitgliederzahl und des Vereinsvermögens. In: Schriften des Vereines zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien 1 (1860/61), S. 15-20. Eduard Sueß: Ueber die Entstehung und die Aufgabe des Vereines. Ansprache des Geschäftsführers. In: Schriften des Vereines zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien 1 (1860/61), S. 3-14, S. 14 (i. O. gesperrt). August v. Pelzeln: Bemerkungen gegen Darwin's Theorie vom Ursprung der Spezies. Wien 1861.

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Darwinismus und Liberalismus

brieflich ankündigt 17 ; 1871 wird Darwin korrespondierendes, 1875 Ehrenmitglied der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften, seine Wahl zum auswärtigen Mitglied erfolgt einstimmig. 18 1872 wird Darwin (gemeinsam mit Baer, Haeckel, Quatrefages, Quetelet und Steenstrup) Ehrenmitglied der Wiener Anthropologischen Gesellschaft19; 1877 erhält er als erster Naturforscher zu Lebzeiten ein Denkmal an der Fassade des neuen Naturhistorischen Museums in Wien. Ein wichtiger Teil der Auseinandersetzungen um den Darwinismus fand auf akademischem Boden statt. Die Affare um das Wiener Rektorat des Anatomen Joseph Hyrtl zeigt Parallelen zum deutschen Materialismusstreit zwischen Karl Vogt und Rudolph Wagner um „Köhlerglauben" und „Wissenschaft"20; sie war eine erste Station in einer Reihe von Konflikten, als deren Ergebnis „Wissenschaft" und „Religion" nicht nur, wie zu erwarten wäre, in ihrer „Ausdifferenzierung" durch das Urteil der Öffentlichkeit bestätigt waren, sondern sich durch die tätige Mitwirkung dieser Öffentlichkeit im Verhältnis gegenseitiger Ausschließung befanden. In seiner Wiener Rektoratsrede (1. 10. 1864) hatte Hyrtl, der bis dahin unangefochten nicht nur als Haupt der Wiener Medizin, die immerhin auch um diese Zeit Weltruf zu verlieren hatte, sondern auch als eine Art Doyen naturwissenschaftlicher Forschimg gegolten hatte, durchaus bedenkenswerte Gründe gegen den mechanischen Materialismus der Karl Vogt und Ludwig Büchner vorgebracht, auf teleologischer Basis auch Einwände 17

A Calendar of the Correspondence of Charles Darwin, 1821-1882. Ed. by F. Burkhardt and S. Smith. New York, London 1985 (i. f. „CCD" u. Nummer), Nr. 5576. 18 Wurzbach: „Oscar Schmidt". An der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin wird Darwin 1863 korrespondierendes, erst 1878 auswärtiges Mitglied. Philipp Depdolla: Hermann Müller-Lippstadt (1829-1883) und die Entwicklung des biologischen Unterrichts. In: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 34 (1941), S. 264-334, S. 279. 19 Anonym: Darwin in Oesterreich. Zum 100. Geburtstag. In: Fremden-Blatt (Wien), 12. 2. 1909, S. 17; Mittheilungen der anthropologischen Gesellschalt in Wien 2 (1872), S. 97. In der Berliner Schwestergesellschaft kommt es „trotz mehreren Anläufen Virchows" nicht zur Ernennung Darwins. „Offensichtlich war man im Vorstand einmal nicht Virchows Meinung." Christian Andree: Geschichte der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 1869-1969. In: Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 3 (1969-1971), S. 9-142, S. 21. 20 Vgl. Frederick Gregory: Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany. Dordrecht, Boston 1977.

Kontroversen um Darwin und den Materialismus in Österreich

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gegen Darwin 21 ; eine frühe Attacke gegen hypertrophe Ansprüche der Naturwissenschaften, im Kern eine Vorwegnahme der „Ignorabimus"-Rede Ueber die Grenzen des Naturerkennens

(1872) E m i l D u B o i s - R e y m o n d s ,

ebenso aber auch eine Art Ehrenrettung von Rudolph Wagners „Köhlerglauben" (Vogt). Diesen Vergleich mit dem Vogt-Wagner-Streit zieht explizit ein Artikel in d e r Neuen

Freien Presse22;

in e i n e m Feuilleton d e s

deutschliberalen Autors Hieronymus Lorm wird ein Konnex von österreichischem Klerikalismus und dem nur wenig später erfolgten österreichischen „Ausschluß aus Deutschland" von 1866 hergestellt: „Oesterreich gehörte während des Hyrtl'schen Rectorats noch zu Deutschland. Wenn die Weltgeschichte von einer wissenschaftlichen Nemesis regiert würde, so wüßten wir jetzt, weßhalb wir nicht mehr dazu gehören. [...] Hyrtl's Rectorsrede [war] der große Schatten, welchen unsere Trennung von Deutschland vorauswarf". 23 Hyrtl koppelte in der Tat seinen Einspruch an geläufige Vorwürfe, der Materialismus leiste „Revolution, Königsmord, Anarchie, Blutschande, Bigamie" 24 Vorschub. Er löste damit eine wochenlange Kampagne der liberalen Presse gegen sich aus; die Studenten zogen schweigend aus dem Saal. Die Rede wurde zu Lebzeiten Hyrtls nicht gedruckt und erschien erst 1897 als katholische Broschüre der Leo-Gesellschaft. Hyrtls Rede als Jubiläumsrektor 186525 wieder (zum fünfhundertjährigen Bestehen der Wiener Universität, die Studierenden waren aus Furcht vor Demonstrationen ausgeschlossen) feierte die Herrschaft der Kirche über die Wissenschaft und löste gleichfalls Proteste aus, darunter einen (anonymen) Protest norddeutscher Gelehrter, die an der Feier teilgenommen hatten.26 Inzwischen war aller21

22 23 24 25

26

J. Hyrtl: Die Materialistische Weltanschauung unserer Zeit. Inaugurationsrede. Mit einem Vorw. v. H. Lammasch. Wien, Leipzig [1897], S. 51; über die Folgen des Materialismus S. 35 f. Ein Reflex auf die Rede Hyrtls findet sich in den Memoiren Alfred Meißners (Geschichte meines Lebens. 2 Hde. Teschen 1885, Bd. 1, S. 89 f.). Meißner verteidigt den „Zweck" als einen ihm unentbehrlichen „Fundamentalbegriff". Anonym: Das menschliche Gehini und Hyrtl's Rectorrede. In: Neue Freie Presse (Wien), 5. 10. 1864 (Abend). Hieronymus Lorm [d. i. Heinrich Landesmann]: Hyrtl und Rokitansky. In: Die Presse (Wien), 24. 12.1867. Vgl. Tagespost (Graz), 5. 10. 1864, S. 1 f. In: Bericht über die fünfhundertjährige Jubelfeier der Wiener Universität im Jahre 1865. Im Auftrage d. k. k. Universitäts-Consistoriums verfasst v. C. D. Schroff. Wien 1866, S. 52-63. Wurzbach: „Hyrtl" (Nachtrag).

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Darwinismus und Liberalismus

dings auch die Enzyklika Quanta cura mit dem „Syllabus" veröffentlicht worden (8. 12. 1864), die in ihrer Verurteilung der modernen „Irrtümer" Liberalismus und (Natur-)Wissenschaft nicht zu Unrecht zusammensah, damit allerdings diese Allianz auch befestigte. Wenige Jahre später kann ein Feuilletonist in einer Antipolemik zu Vorbehalten des katholischen Volksfreunds gegen die Gründung einer Anthropologischen Gesellschaft sagen: „Das ganze Leben und Streben eines ehrlichen Anthropologen ist eine antireligiöse Agitation in Eurem Sinne und ihr stellt Euch an als ob Ihr's nicht wüßtet."27 Andererseits wurde der Protest gegen Hyrtls Materialismusrede dadurch verschärft, daß sie in der Aula der alten Universität gehalten wurde, „wo so viele aufregende, practisch gemeinte und practisch wirkende Reden gehalten worden sind: in diesem denkwürdigen, dem Wiener symbolisch gewordenen Räume hat er seine Standrede gegen den Materialismus gehalten."28 Die Erinnerung an das Revolutionsjahr bleibt in der Folgezeit immer präsent. Ein Jahr später eröffnete der Grazer Zoologe Oscar (Eduard) Schmidt29 als erster protestantischer Rektor einer österreichischen Universität sein Grazer Rektorat mit einer Ansprache zur Inaugurationsfeier der medizinischen Fakultät (15. 11. 1865), die nicht nur die vollständige Trennung von Glauben und Wissenschaft verkündete, sondern auch eine engagierte Verteidigung Darwins enthielt. Schmidt „besprach den Einfluß der von dem Engländer Charles Darwin in seiner zu Stuttgart 1860 erschienenen Schrift [...] ausgesprochenen Principien auf die Zoologie, und vertheidigte seine großartige Hypothese gegen die neuesten Angriffe der Gegner, welche entweder vor den Consequenzen der Lehre zurückschrecken, oder annehmen, es gebe und müsse nun einmal Dinge geben, die dem Blicke des Menschen verschlossen sind. Die ebenso scharfe, als klare Darlegung war von echtem, freiem, wissenschaftlichem Geiste getragen und wurde von Seite der zahl-

27 28 29

Dr. G[randjea]n: Der anthropologische Verein in Wien. In: Wanderer (Wien), 20. 2. 1870. Rudolf Valdek: Gegen Professor Hyrtl's Rede. In: Die Presse (Wien), 16. 10. 1864, S. 1-3. Schmidt wurde später der größeren Öffentlichkeit durch eine Rede gegen die sozialistische Darwin-Interpretation bekannt (vgl. Kap. 3) und durch seinen Angriff auf den pessimistischen Philosophen Eduard v. Hartmann („Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Philosophie des Unbewussten", Leipzig 1877). Hartmann antwortete mit „Die naturwissenschaftlichen Grundlagen des Unbewussten und die darwinistische Kritik", einer Schrift, die er in seine „Philosophie des Unbewußten" aufnahm.

Kontroversen um Darwin und den Materialismus in Österreich

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reich versammelten Professoren und Studenten mit großem Beifalle aufgenommen." 30 Dies galt jedoch nicht für alle Anwesenden.31 Vier Studenten der theologischen Fakultät legten in der liberalen Presse, der Grazer Tagespost und dem Telegraf, Verwahrungen gegen deren Berichterstattung ein. Ihre selbstbewußte und auf einen scheinbar gegebenen Common sense vertrauende Manifestation sollte jedoch zur Minderheitenfeststellung werden. Studierende der drei weltlichen Fakultäten lancierten eine Gegenadresse und eine Unterschriftensammlung zur Verteidigung Schmidts und des von diesem „verfochtenen Grundsatze[s] der freien Forschung [...], indem wir darin allein die Bürgschaft für die Entwicklung der Wissenschaft erblicken".32 Diese Adresse wurde von 232 Studenten, damit knapp der Hälfte aller inskribierten Hörer außerhalb der theologischen Fakultät unterzeichnet33, mehr als einem Drittel aller Grazer Studenten. Dieser Anteil ist umso höher zu veranschlagen, da die Grazer philosophische Fakultät, unter deren Studenten man die meisten „Darwinisten" erwarten könnte, 1863 erst 39 Hörer zählte (dafür jedoch zehn Ordinarien, insgesamt 19 Lehrer). 34 Somit stand ein großer Teil der künftigen Funktionseliten von Medizinern und Juristen in dieser Affare auf Seiten der „freien Forschung" und des „Fortschritts". Die Gegner des „Theologenprotests" konnten zudem auf die Unterstützung durch die liberale Presse vertrauen, auch des Wiener Wanderers. In einer Broschüre, in der die vier Theologiestudenten (die später durchwegs hohe theologische und geistliche Positionen besetzen sollten35) ihr Anliegen argumentierend zusammenfaßten, wurden denn auch bereits deutlich defensive Töne angeschlagen: „daß wir uns nur sträubten gegen das Andringen

30 31

32 33 34 35

Tagespost (Graz), 16. 11. 1865, S. 3. Die Rede wurde nicht gedruckt. L . Schuster, F. Pölzl, J. Wöhr, J. Frühwirt: Die Theologen und die Festrede vom 15. November 1865. Eine Rechtfertigung im Namen der Hörer der theologischen Fakultät. Graz 1865; Maximilian Liebmann: Die theologische Fakultät im Spannungsfeld von Universität, Kirche und Staat von 1827 bis zur Gegenwart. In: Tradition und Herausforderung. 400 Jahre Universität Graz. Hgg. v. K. Freisitzer u. a. Graz 1985, S. 156-185. Nach: Die Theologen und die Festrede, S. 24 f., S. 25. 232 von 485 weltlichen Studenten. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Grazer Universität insgesamt 628 Hörer. Erich Leitner: Die Neuere deutsche Philologie an der Universität Graz 1851-1954. Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik in Osterreich. Graz 1973, S. 36. Liebmann: Spannungsfeld, S. 158.

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Darwinismus und Liberalismus

des Atheismus und Materialismus, der sich im Schafskleide des Darwinianismus in unsere christliche Steiermark einschmuggeln will." 36 Auch der „Zorn des Kardinal Rauscher" 37 , den sich Schmidt durch seine Rektoratsrede zuzog, konnte Schmidt nichts weniger als schaden; in seiner Grazer Zeit gehörte Schmidt, wohl nicht zuletzt durch seine Profilierung, dem steirischen Landtag als liberaler Landtagsdeputierter für den Wahlbezirk Windischgraz (1868-69) an, dem Gemeinderat (1867-69) und dem Landesschulrat.38 Als Schmidt sich in seiner Rektoratsrede für den Darwinismus ausspricht, hat Franz Unger, der Botaniker und Paläontologe der Universitäten Graz und Wien, der Lehrer Gregor Mendels 39 , bereits scharfe Auseinandersetzungen mit Sebastian Brunner aus den fünfziger Jahren hinter sich. Seine Botanischen Briefe von 1852, die ihm von Wurzbach den Ehrentitel „Vorläufer Darwins" eintragen 40 , veranlaßten Brunner zu Invektiven, „daß auf den österreichischen Hochschulen das Heidenthum gelehrt und mit Pferdekraft am socialen Umstürze gearbeitet werde", 1855 zum Epitheton „Isispriester" und zur generellen Einschätzung, Unger sei der österreichische „Büchner-Vogt-Moleschott".41 Größtes Aufsehen erregte Unger, als er am 22. Mai 1869 als Präsident des Naturwissenschaftlichen Vereinsfür Steiermark eine „Thronrede der Wissenschaft" (so der Grazer Wissenschaftsfeuilletonist J. B. Holzinger) gegen die Klerikalen hielt42: „In welchem Tone

36 37

Die Theologen und die Festrede, S. 44.1. 0. teilw. gesperrt. Erich Schmidt: Eduard Oscar Schmidt. Sein Leben. In: Arbeiten aus dem Zoologischen Institut zu Graz 1 (1887), S. VII-XIV, S. XI. 38 Schmidt: Eduard Oscar Schmidt; Christine Berghofen Die Anfange der Zoologie in Graz. Hausarb. Graz 1982, S. 69. 39 In der Mendel-Forschung daher auch die beste Bearbeitung Ungers (1800-1870), vgl. v. a. Robert Olby: Franz Unger and the Wiener Kirchenzeitung: An attack on one of Mendel's teachers by the editor of a Catholic newspaper. [1967] Wieder in: R. O.: Origins of Mendelism. 2nd edition. Chicago, London 1985, S. 199-208. 40 Wurzbach: „Unger". 41 Alexander Reyer: Leben und Wirken des Naturhistorikers Dr. Franz Unger. Graz 1871, S. 59. In der Wiener Kirchenzeitung erschien am 29. 1. 1856 der Artikel „Isispriester und Philister" gegen Unger, der nach vorhergehenden Attacken die Affäre auslöste. Weitere Angaben zur Affäre Brunner-Unger bei Wurzbach: „Unger". Gegen die Materialisten, bes. Karl Vogts „Physiologische Briefe" vgl. auch Sebastian Brunner: Keilschriften. Regensburg 1856. 42 J[oseph] B[ona] Holzinger: Eine Rede des Hofraths Unger. In: Tagespost (Graz), 25. 5. 1869, S. 3. (Text und Kommentar). Dazu auch Wurzbach: „Unger"; Otto Nowotny: Die

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namentlich das Pontificat in Rom in den bekannten Erlässen vom Jahre 1864 sich über die Naturwissenschaften aussprach, darüber - mag ganz hinweggesehen werden! Erstaunt muß man aber nach dem Grunde fragen und im höchsten Grade muß es bedenklich erscheinen, wenn da Jahr für Jahr die beschauliche Fastenzeit und allerlei andere Gelegenheiten dazu ausgenützt werden, um an geweihter Stätte mit Vehemenz gegen die Naturwissenschaft und ihre Lehre zu Felde zu ziehen, um die Repräsentanten und Größen derselben vor einem meist urtheilsunfahigen Publikum mit Roth zu bewerfen oder am höllischen Feuer schmoren zu lassen, um mit Einem Worte gerade das zu verdammen, was in mehr als Einer Beziehung als erhebend, heil- und segenbringend erscheinen muß." 43 In richtiger Einschätzung der Verhältnisse schloß Unger an: „Es wird indeß glücklicher Weise die so sehr befremdliche feindliche Stellung der Kirche gegen die Naturwissenschaft immerdar ohne alle Bedeutung bleiben."44 Karl Vogt, „Materialist", Enfant terrible der deutschsprachigen Naturwissenschaft und letzter „Reichsregent" des Stuttgarter Rumpfparlaments, hat zwischen 1867 und 1870 in über 30 Städten des deutschen Sprachraums zwischen Berlin und Triest, Graz und Neuchätel Vorlesungen zur Urgeschichte und zum Stammbaum des Menschen abgehalten. Stets handelte es sich um sechs Vorträge in etwa zehn Tagen; das Publikum wird meist einige hundert Personen umfaßt haben. In Wien hielt Vogt von 22. November bis 10. Dezember 1869 insgesamt sechs Vorlesungen im Akademischen Gymnasium über die Urgeschichte des Menschen; pikanterweise im Festsaal, der auch als Hauskapelle diente.45 Die Vorträge waren gut besucht; die Neue Freie Presse fragte, ob es nicht möglich wäre, „eine Individualität von Vogt's Bedeutung dauernd an Wien zu fesseln". 46 In seiner ersten Vorlesimg sagte Vogt, ,,[n]iemand könne ihm [...] den Tag bezeichnen, wo das Mittelalter begann, und noch viel weniger denjenigen, wo es aufhörte. (Heiterkeit.)"47 Entstehung und Entwicklung deutschsprachiger naturwissenschaftlicher Vereine und Zeitschriften in der Donaumonarchie bis 1914 und ihre Bedeutung für die Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse. Diplomarb. Wien 1986, S. 81 f. 43 44 45 46 47

Holzinger: Rede des Hofraths Unger. I. O. teilw. gesperrt. Holzinger: Rede des Hofraths Unger. I. 0 . teilw. gesperrt. Neue Freie Presse (Wien), 4. 12. 1869, S. 3. Neue Freie Presse (Wien), 28. 11. 1869, S. 6. Neue Freie Presse (Wien), 23. 11. 1869, S. 6.

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Darwinismus und Liberalismus

Vogt spricht bei allen seinen Vorlesungen denselben Text, der seit 1865 publiziert ist.48 Die Vorlesungen haben nicht primär die Funktion, Thesen einem größeren Publikum als dem der Teilnehmer an der Literatur und der Buchkäufer zugänglich zu machen (der Eintrittspreis als Publikumsbeschränkung ist exorbitant hoch). Der Text der Vorlesungen ist soweit bekannt, daß polemische Reaktionen zeitgleich mit Vogts Auftritten erscheinen können, in Brünn sogar vor dem Vortrag, der dann nicht zustande kommt. 40 Vogts Auftritte setzen im ganzen eine nicht geringe Anzahl von lokalen Agitationsbroschüren frei, die im lokalen Kontext mit bekannten Argumenten Vogts bekannte Argumente bestreiten. Die Autoren sind meist katholische Würdenträger, die in der apologetischen Literatur versiert sind. Selbständige Broschüren sind für die Vortragsorte Breslau, Aachen, Wien und Brünn erhalten; dazu sind die Auseinandersetzungen in der Tagespresse und den Zeitschriften zu zählen. In diesem hoch ritualisierten Spiel entsteht eine Spur, die sich durch den ganzen Sprachraum zieht und dem Ereignis selbst hohe Publizität verschafft. Die liberale Presse mobilisiert, ebenso die klerikale. In Wien hält der Theologe Vinzenz Knauer Gegenvorlesungen. 50 Viel eher also als mit einem volksbildnerischen hat man es mit einem politischen Ereignis zu tun, einer Reihe von Selbstfeiern der liberalen Öffentlichkeit. Dazu gehören auch die einladenden Institutionen, die in fund-raising-Aktionen die von Vogt als Sicherheit vorausgesetzte Summe von 900 Gulden sammeln; in Wien wird das von der Schriftsteller- und Journalistenvereinigung Concordia besorgt, in Graz etwa vom Naturwissenschaftlichen Verein für Steiermark, in Klagenfurt von einem Komitee 51 , in Triest vom lokalen Schillerverein, der auch Ernst Haeckel, Wilhelm Jordan und den Anzengruber-Darsteller Lewinsky eingeladen hat. 52 Diese Nähe zur

48 49 50 51

52

K. Vogt: Vorlesungen über den Menschen, seine Stellung in der Schöpfung und in der Geschichte der Erde. 2 Bde. Gießen 1863. Josef Schneider: Die Affenspriinge Vater Vogt's im Chaos! Brünn 1870. V. Knauer: Karl Vogt und sein Auditorium. Drei Vorträge gehalten in Wien vor einem den höchsten und intelligentesten Kreisen angehörigen Publikum. Wien 1870. Carl Vogt und seine Vorträge in Klagenfurt. In: Carinthia 60 (1870), H. 2, S. 39-44. Hier wird berichtet, in Linz und Brünn sei die Summe nicht zustande gekommen; in Klagenfurt seien (an Subskriptionen und Eintrittskarten) 1440 Gulden eingenommen worden. S. auch Karl Morre: Eine Streitschrift gegen Darwin und Vogt. In: K. M.'s Gedichte und humoristische Vorträge. Hgg. v. L. Harand. Graz 1899, S. 81-85. („Mir Kärntner sein gemüthliche Leut und lassen kan Menschen beleidigen.") Geschichte der deutschen Literatur in Österreich-Ungarn im Zeitalter Franz Josephs I.

Kontroversen um Darwin und den Materialismus in Österreich

41

literarischen Lesung wird auch zeitgenössisch immer wieder bemerkt; Vogt wird polemisch mit Franz Bacherl und Wilhelm Jordan verglichen.53 Vogt als Reisender ,„in Wissenschaft' für das Haus Simia & Co." 54 erliegt auch durch seine sensationalistische Reisetätigkeit der wissenschaftsgeschichtlichen Verzerrung, daß die Theorie der Affenabstammung des Menschen in der Öffentlichkeit gemeinhin dem „Affen-Vogt" zugeschrieben wird; der Name Darwins fallt kaum einmal. Wenn in Graz auf den „Volksmann" Vogt getoastet wird 55 und der so unter Mitwirkung der Achtundvierziger Veteranen publizistisch vorbereitete Bruch des Konkordats die letzte Bastion des nachmärzlichen Neoabsolutismus beseitigt, wenn in einem Gedicht auf Vogt die Zeilen erscheinen: „Ihr Grafen und Fürsten, ihr seid geäfft und geäfft" 56 , liegt die Bewertung nahe, es habe sich hier um eine gleichsam gefahrlose verbesserte Neuauflage des Jahres 1848 gehandelt. Der in die Schweiz geflüchtete Vogt hat bereits 1852 diesen Effekt aphoristisch zugespitzt beschrieben: „Ich dachte nicht an Deutschland, noch an seine Gelehrten - zuweilen nur an das deutsche Volk, das jetzt so gutmüthig ist, wenigstens meine Bücher zu kaufen, nachdem es verschmäht hatte, mir meine Politik abzunehmen." 57 Das Zusammentreffen dieser Elemente wird in den literarischen Feuilletons der großen Wiener Blätter zum willkommenen Schreibanlaß. So nimmt sich Daniel Spitzer Vogts Vorlesungen an, indem er eine Abgängigkeitserklärung für das alte Ehepaar Adam und Eva abgibt und der dalmatinische Aufstand in der Boccha zum Anlaß wird, in den Affen der Schönbrunner Menagerie eine neue österreichische Nationalität zu fürchten 58 ; Ferdinand Kürnberger beginnt seine „Gelegenheitsrede zur Eröffnung des römischen Konzils" Die Kirche und die Sittlichkeit mit einer ironischen Apologie des „Köhlerglaubens", nach Vogts Köhlerglaube und Wissenschaft (1855)59; der

33 54 35 56 57 58 59

Ein Handbuch unter Mitw. hervorr. Fachgenossen hgg. v. E. Castle. Bd. 2: 1890-1918. Wien 1937, S. 1273. Schneider: Affensprünge. Albert Schumann: Die Affenmenschen Carl Vogts. Leipzig 1868, S. 3. Zu Ehren Vogt's. Tagespost (Graz), 12.2. 1870. Anonym: Karl Vogt. In: Der Floh (Wien), 21. 11. 1869, S. 2. Karl Vogt: Bilder aus dem Thierleben. Frankfurt/M. 1852, Vorrede. [Daniel] Sp[itze]r: Wiener Spaziergänge. In: Die Presse (Wien), 28. 11. 1869. Ferdinand Kürnberger: Gesammelte Werke. Hgg. v. O. E. Deutsch. Bd. 1: Siegelringe. Eine Sammlung politischer und kirchlicher Feuilletons. Neue, wesentl. verm. Aufl. München, Leipzig 1910, S. 337 f.

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Darwinismus und Liberalismus

Achtundvierziger Hermann Rollett aus dem Kreis um Lenau und Anastasius Grün läßt in einer kleinen dramatischen Szene, die im Feuilleton der Presse abgedruckt wird 60 und Vertrautheit mit den Texten Vogts verrät, einen Naturforscher, einen Philosophen und einen Abt auftreten, die, befreundet, nach langer Zeit einander wieder treffen und in Streit geraten: Der Naturforscher vertritt die Thesen Vogts und wird - gemeinsam mit dem Philosophen - vom Abt exkommuniziert. Noch zwei Monate später wird der deutschnationale Germanist Wilhelm Scherer in einem seiner nicht seltenen politischen Feuilletons einen antiklerikalen Witz aus Vogts Vorlesung benützen. 61 Vogt erscheint in den liberalen Wiener humoristischen Blättern als Demiurg und als neuer Moses62, nie mit Attributen der Wissenschaft. Kürnberger muß die Differenz zu seiner eigenen literarischen Praxis, nach 1848 die Öffentlichkeit weiter zu bedienen, gespürt haben und rückt von Vogt ab; der Germanist Scherer, der sich zustimmend auf Vogt beruft, gerät hingegen durch seine eigene Tätigkeit für das Feuilleton nicht nur mit den Unterrichtsbehörden, sondern auch mit den Schreibnormen seiner eigenen Wissenschaft in Konflikt und zieht sich den Vorwurf des „Essayismus" 63 zu. Nicht anders gereicht den „Materialisten" ihre Tätigkeit für das große Publikum wissenschaftsintern zum Nachteil, ihr teils erzwungenes, teils freiwillig angenommenes neues Rollenkonzept wird nicht akzeptiert. Im Medium der Naturwissenschaft erscheint die Frontstellung von 1848 also ein zweites Mal, nun transformiert. An sein Wiener Publikum richtet Vogt beim letzten Vortrag die Aufforderung, die Hörer „mögen über die von ihm aufgestellten Theorien nachdenken und die Consequenzen daraus ziehen." 64 Wie gesehen, spielt die Revolution von 1848 bereits in den den „Darwinismus" in Osterreich konstituierenden Kontroversen vor dem VogtBesuch eine entscheidende Rolle. Der Liberalismus der Naturforscher, der ihnen in den sechziger und siebziger Jahren die Sympathie der Offentlich60 61 62 63 64

Hermann Rollett: Die Vermittlungs-Philosophie. Ernsthaftes Scherzspiel. In: Die Presse (Wien), Beil. z. 30. 11. 1869, S.[l] f. Wilhelm Scherer: Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Oesterreich. Berlin 1874, S. 328. Vgl. die Titelillustration von Karl Klic in: Der Floh (Wien), 21.11. 1869. Ebs. Anonym: Der aufgeschreckte Moses. [Satirische Zeichnung.] In: Figaro (Wien), 27. 11. 1869. Vgl. Rainer Kolk: Berlin oder Leipzig? Eine Studie zur sozialen Organisation der Germanistik im „Nibelungenstreit". Tübingen 1990, S. 60 f. Tages-Presse (Wien), 11. 12. 1869 (Abend), S. 3.

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Kultur- und Naturwissenschaft

keit einträgt, ist in vielen Fällen durch ihre Erfahrungen in Restauration und Vormärz beglaubigt; so war Unger in den zwanziger Jahren wegen einer Deutschlandreise inhaftiert gewesen. Vogts theatralische Auftritte, die mit ihren naturhistorischen Installationen die Vorlesungsreisen Haeckels vorwegnehmen, sind bereits Teil einer „öffentlichen Wissenschaft", die durch demonstrative Popularisierung und Überschreiten der Grenzen der Fachöffentlichkeit ihren Gegenstand konflikthaft konstituiert.

KULTUR- UND

NATURWISSENSCHAFT:

W I L H E L M S C H E R E R , E R N S T H A E C K E L UND DIE R E I C H S G R Ü N D U N G IN

DEUTSCHE

ÖSTERREICH

Wie eng institutionenpolitische Fragen mit den wissenschaftstheoretischen Konzepten des frühen Darwinismus verklammert sind, läßt sich an vielleicht unvermuteter Stelle, am Wechselspiel von Evolutionsbiologie und deutscher Philologie vor und um 1870 studieren. An der Ausgangskonstellation des „Positivismus" in der Germanistik steht ein enges Geflecht von wissenschaftsinternen und -externen Faktoren, die zusammen erst die „kritische Masse" zur Neubegriindung von Disziplinen ausmachen. Der Impuls von 1848, den die zeitgenössische Öffentlichkeit in der Naturwissenschaft wiedererkannte, erscheint hier, in der Reichsgriindungszeit, in den deutschnationalen transformiert; im deutschen Kulturkampf eine geläufige Operation, in Österreich hingegen eine problematische. „Dieselbe Macht, welche Eisenbahnen und Telegraphen zum Leben erweckte, dieselbe Macht, welche eine unerhörte Blüte der Industrie hervorrief, die Bequemlichkeit des Lebens vermehrte, die Kriege abkürzte, mit einem Wort die Herrschaft des Menschen über die Natur um einen gewaltigen Schritt vorwärts brachte - dieselbe Macht regiert auch unser geistiges Leben: sie räumt mit den Dogmen auf, sie gestaltet die Wissenschaften um, sie drückt der Poesie ihren Stempel auf. Die Naturwissenschaft zieht als Triumphator auf dem Siegeswagen einher, an den wir Alle gefesselt sind". 65 Unter dem Titel Die neue Generation erscheinen diese Sätze

65

Wilhelm Scherer: Die neue Generation. In: W. S.: Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Oesterreich. Berlin 1874, S. 408-414, S. 411.

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Darwinismus und Liberalismus

des 29jährigen Wiener Ordinarius für deutsche Sprache und Literatur Wilhelm Scherer am 19. Juni 1870 in der Wiener Presse, einen Monat vor Ausbruch des Deutsch-Französischen Kriegs. Der Text, der als Besprechung einer Schrift Julian Schmidts beginnt, verwandelt sich unter der Hand zu einem Manifest dieser „neuen Generation", zu deren Charakteristika Empirismus, Antisystematik und Antipessimismus erklärt werden; er schließt mit einer militant-optimistischen Vision von nationalem Kollektiv, Fortschritt und Kampf, die das Bild vom Siegeswagen wieder bemüht: „Gewaltig fortschreitende Zeiten wie die unsrige führen eine wunderbar beseligende und erhebende Kraft mit sich. Die Menschen wachsen moralisch über sich selbst hinaus. Die Frage nach dem Lebensglück des Einzelnen tritt weit zurück. Der Soldat, der auf dem Schlachtfelde mit dem Tode kämpft, jubelt mit dem letzten Athemzug den siegenden Cameraden ein Hurrah zu." 66 Das Feuilleton ist Teil einer reichen literarisch-politischen Publizistik, die Scherer ab 1869, kurz nach seiner Berufung, in Wiener und deutschen Tageszeitungen aufnimmt. In den vier Jahren seines Wiener Ordinariats vor seiner Berufung an die neugegründete Reichsuniversität Straßburg (1872) erscheinen insgesamt 28 solcher Feuilletons, zunächst in der Presse, dann, ab 1871, in der Deutschen Zeitung, deren Gründung als Organ des Deutschliberalismus durch die deutsche Reichsgründung motiviert war; bereits die zweite Nummer enthält einen Artikel Scherers. Die Themen spannen sich von einer Besprechung von Wilhelm Diltheys Schleiermacher-Biographie zu Reflexionen über Literatur und Kirche und zu Tagesfragen österreichischer Politik. Ein Gutteil dieser publizistischen Interventionen erscheint 1874 gesammelt und teilweise überarbeitet unter dem Titel Vortrcige und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland

und Oesterreich,

was den Status der einzelnen Aufsätze aber nicht klärt; an Lessing wird konfessionelle und humanistische Toleranz exemplifiziert, an Schleiermacher der nationale Enthusiasmus als „Glaube"; die Grillparzer-Aufsätze enthalten eine scharfe Auseinandersetzung mit dem Österreichischen überhaupt. Der Text über die „neue Generation" wird in Scherers Vorwort der Abteilung „Einzelheiten der deutschen Literaturgeschichte" zugeschlagen. Die Rubrizierung unter „Einzelheiten" konnte dennoch nicht verhindern, daß die Formulierung vom „Triumphator Naturwissenschaft" zum Kürzel

66

Scherer: Die neue Generation, S. 414.

Kultur- und Naturwissenschaft

45

von Scherers Wissenschaft und Methode schlechthin wurde, seinen „Positivismus" signalisierend. 67 Der gesamte Text schillert aber zwischen Politik und Methode, Programm und Polemik. Gerade diese Texte und ihre Form freilich sind Index - nicht so sehr Referat - der „Methode" Scherers und ihrer Grundlagen. Scherers wirkungsmächtige Neukonstituierung der Germanistik als historisch-kausaler interdisziplinärer Wissenschaft weiß sich in der Tat mit den Naturwissenschaften einig. Scherer bezieht sich in der ersten Auflage seiner Geschichte der deutschen Sprache (1868) auf den Wiener Physiologen Ernst Brücke, einst wie die Spitzengruppe deutscher Naturwissenschaft Emil Du Bois-Reymond, Justus Liebig, Hermann Helmholtz und Ernst Haeckel ein Schüler Johannes Müllers, und führt Lautphysiologie und Akustik in die Sprachwissenschaft ein. Mehrfach beruft sich Scherer auf die Geschichtskonzeption von Henry Thomas Buckle, gegen Droysens Historismus; auf ,,de[n] Determinismus, das demokratische Dogma vom unfreien Willen, diese Centrallehre des Protestantismus, de[n] Eckstein aller wahren Erfassung der Geschichte" 68 ; auf andere zeitgenössische Ansätze der Naturwissenschaft, von Anthropologie und Physiologie hin zum Darwinismus. Scherers Erneuerung der Germanistik als Überschreitung und Uberbietung des bereits außer Streit stehenden klassischen Philologiemodells von Carl Lachmann, Moriz Haupt und Karl Müllenhoff kann nicht von seiner nationalpolitischen Agitation erst für „Deutschland", dann für „Bismarck" und den Norddeutschen Bund, schließlich für das Deutsche Reich in Osterreich getrennt werden; das zeigt bereits die merkwürdige Konfusion der Gattungsgrenzen von Literaturwissenschaft und politischer Publizistik dieser Essays. Scherers Agitation ist seiner Wissenschaft nichts weniger als äußerlich, da Scherer die Grundlage seiner wissenschaftlichen Arbeit und Programmatik zugleich als ihr Objekt bestimmt: die (deutsche) Nation. 67

68

Die Schererforschung seit den siebziger Jahren hat engagiert diese extreme Verkürzung, die immer nur polemischen Sinn hatte in der Konstituierung anderer Positionen, zurückgewiesen. Vgl. v. a. Jürgen Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung. Die Entwicklung der Germanistik bei Wilhelm Scherer. Eine Biographie nach unveröffentlichten Quellen. Frankfurt/M., Bern, Cirencester/U. K. 1979. Auch Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989, S. 457-468. Wilhelm Scherer: Zur Geschichte der deutschen Sprache. Berlin 1868, S. VIII (Widmung an Karl Müllenhoff).

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„Die Entstehung unserer Nation, von einer besonderen Seite angesehen, macht den Hauptvorwurf des gegenwärtigen Buches aus"69, heißt es in Scherers Sprachgeschichte. Diese methodische Vorgabe etabliert aber einen Konflikt mit Scherers wissenschaftlicher Sozialisationsinstanz, zugleich: seiner institutionellen Deckung. Wohl war Scherer als Berliner Schüler Müllenhoffs im sogenannten „Nibelungenstreit" 70 der süddeutsch-österreichischen, auch antipreußischen Partei seines Wiener Lehrers Franz Pfeiffer71 als Agent des Gegners erschienen. Im „strengen" Berlin wird Scherer gleichwohl seine Tagespublizistik zum Vorwurf gemacht werden; als ab 1879 Teile seiner Literaturgeschichte als Vorabdruck in der Wiener Neuen Freien Presse erscheinen, „stecken [meine verehrten Collegen] die Köpfe darüber zusammen und finden, daß ich mich wieder einmal höchst,unakademisch' benommen und so ein schreckliches Ding wie ein Feuilleton geschrieben habe!" 72 Hatte Scherer sich Müllenhoff in Berlin zunächst durch seine textkritischen, also „exakt-philologischen" Leistungen empfohlen, gingen Scherers politische Optionen für Preußen damals in einer gleichsam natürlichen wissenschaftlichen Binnen-Konkulturalität auf und stärkten den Zusammenhalt der „Partei" gegenüber den „Gegnern" um Pfeiffer und Karl Bartsch; der Student Scherer hatte als doppelter Renegat, national und methodisch, gute Aufnahme in Berlin gefunden. Diesen Schein der Selbstverständlichkeit des Nationalen stützte das Faktum, daß in den frühen Phasen der Wissenschaftsentwicklung der Germanistik als Effekt der Professionalisierung Durchsetzungs- und Etablierungskonflikte insgesamt als Fragen charakterlicher Integrität ausgetragen wurden, wie Rainer Kolk gezeigt hat 73 ; nahe lag hier Scherers Identifikation mit dem „exakten", dann auch „männlichen", „strengen", „methodischen" Berlin-Preußen, dem das weichliche,

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Scherer: Geschichte der Sprache, S. IX. Vgl. dazu Kolk: Berlin oder Leipzig? Scherer fand „auf der Wiener Universität zwar rege Förderung von Seiten der classischen und slavischen Philologie, aber keine volle Befriedigung bei Franz Pfeiffer, dessen Entfaltung als Forscher und Lehrer auch durch Mängel des Autodidactenthums beeinträchtigt war und der allem Norddeutschen zähe Abneigung entgegensetzte. ,So machens die Preussen!' murrte er 1866[.] Rücksichtslos alles an sich raffen, in der Politik wie in der Wissenschaft!' Das war aber gar nicht nach dem Sinne des Jünglings". Erich Schmidt: Wilhelm Scherer. In: Goethe-Jahrbuch 9 (1888), S. 249-262, S. 250. An Ludwig Speidel, 16. 10. 1882. In: Briefe von Wilhelm Scherer. Mitgetheilt v. L. Speidel. In: Neue Freie Presse (Wien), 4. 9. 1887, S. 3. Rainer Kolk: Wahrheit - Methode - Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germa-

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phäakenhafte, aber auch „ungenaue" Wien, „Capua", gegenüberstand. Scherer selbst hat diese dichotome „Stammes"-Stereotypie immer wieder neu ausgeführt und rationalisiert, so an Grillparzer; „Osterreich" ist bei Scherer stets Träger philologischer Laster. Problematisch wird sein Verhältnis zu Müllenhoff und zur „Schule", als Scherers Uberwindung der Philologie als der einzigen Außerungsform wissenschaftlicher Leistung und auch Lebensform praktisch wird, ein Konzept, das im „heroic age" der Germanistik (Ulrich Wyss) wesentlich zur Etablierung als Disziplin im Wissenschaftssystem beigetragen hatte. Gemeinsam mit dem Wiener Historiker und Genealogen Ottokar Lorenz, dem schon seine Sprachgeschichte gewidmet war und der gleichfalls schon lange mit Müllenhoff bekannt ist, gibt Scherer 1871 eine Geschichte des Elsasses heraus,74 Selbsttherapie und Weihegabe zugleich. Die nationalpolitische Intervention, nicht zufallig an der „Professorenidee" 75 (Bismarck) des Elsaß entwickelt, ist Teil einer politisch-wissenschaftlichen Kampagne, die sich für den nicht weniger national orientierten Müllenhoff als schlechthin standeswidrig darstellt. Müllenhoff reagiert denn auf das „populäre Buch" (Scherer) innerhalb der Nationaltopik: „Es ist mir zu schön, zu österreichisch oder wenn Sie wollen zu essayistisch", für Scherer ein doppelter Angriff: „Aber österreichisch ist das gewiß nicht, sondern meinethalben essayistisch." 76 Für Müllenhoff ist Scherers nationale Germanistik tendenziell Rücknahme der erreichten gesicherten Position der Germanistik als Philologie im System der Wissenschaften. Die Verstimmung verschärft sich später wegen Scherers Goethe-Vorlesungen, die endgültig die neuere Literatur in die Disziplin einfuhren, zum Bruch.

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nistik im 19. Jahrhundert. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14 (1989), S. 50-73. „In der großen gewaltigen Spannung der Monate, die an uns vorübergingen, gab" die Arbeit „Trost und Erhebung". Ottokar Lorenz u. Wilhelm Scherer: Geschichte des Elsasses von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Bilder aus dem politischen und geistigen Leben der deutschen Westmark. In zusammenhängender Erzählung. 2 Halbbde. Berlin 1871,2. Halbbd., S. 261. Moritz Busch: Tagebuchblätter. Bd. 1: Graf Bismarck und seine Leute während des Krieges mit Frankreich 1870-1871 bis zur Beschießung von Paris. Leipzig 1899, S. 172. Scherer an Müllenhoff, 19. 1. 1871. Briefwechsel zwischen Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer. Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften hgg. v. A. Leitzmann. Mit einer Einf. v. E. Schröder. Berlin, Leipzig 1937, S. 413.

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Diese Verlängerung der Philologie in die Neuzeit, tendenziell in die Gegenwart, ist gleichfalls wieder Bedingung für die Rolle des Philologen als des kompetenten Sprechers in der Öffentlichkeit der Nation, die ja unter anderem als Gegenstand seiner Wissenschaft, damit seiner Kompetenz und Expertise aufgebaut wird; als Konstruktion zunächst nicht unplausibler als die Objektbestimmung als Geist oder Kunst, mit der etwa die George-Germanistik ihre soziale Rolle als Prophetie begründete.77 Nicht zufallig hat gerade Scherer die Relation Autor/Publikum in die Poetik eingeführt; die deutsche Philologie „ist ein Theil der deutschen Litteratur selbst" und hat „die Pflicht, der Litteratur der Gegenwart ihren sympathischen Antheil zu schenken". 78 Unter dem Aspekt der Systemdifferenzierung bedeutete das, daß sich der Erfolg von Scherers nationaler Wissenschaft nicht nur im Wissenschaftssystem gerade dem Umstand verdankt, die disziplinäre Ausdifferenzierung (in Linguistik, Altertumskunde, Philologie, Literaturgeschichte) wieder rückgängig gemacht zu haben. Die Innovationskraft Scherers, der sehr bald zu den anerkannten Größen der „Germanistik" zählte, bestand in der einheitlichen Bestimmung des Objekts seiner Wissenschaft - und der scheinbar problemlosen Einheit von Inhalt und Form des Räsonnements, das möglichst große Teile dieser nationalen Öffentlichkeit hätte teilhaben lassen sollen. Scherers Programm einer exakten Geschichtswissenschaft der Nation und ihrer Literatur steht demnach in einem mehrfachen Durchsetzungskonflikt: virtuell gegenüber allen Feinden der Nation; gegenüber der eigenen Sozialisationsinstanz, der „strengen Schule"; schließlich gegenüber positivistisch-ahistorischen Mißverständnissen aus den eigenen Reihen, wie das Scherer durch seinen „ersten Schüler" Richard Heinzel widerfuhr. In einem ähnlichen Durchsetzungskonflikt steht jedoch auch die evolutionistische Biologie. Der Konnex der rasch aufgenommenen Phrase vom „Kampf ums Dasein" mit dem „Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland" (Heinrich Friedjung) war geläufig; umso mehr, als in (vulgär-)darwinistischem Kon77

Zu den Problemen dieser Objektbestimmung vgl. Ernst Osterkamp: Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Germanisten aus dem GeorgeKreis. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Hgg. v. Ch. König u. E. Lämmert. Frankfurt/M. 1993, S. 177-198.

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Scherer: Kleine Schriften. Hgg. v. K. Burdach u. E. Schmidt. Bd. 1: Kleine Schriften zur altdeutschen Philologie. Hgg. v. Konrad Burdach. Bd. 2: Kleine Schriften zur neueren Litteratur, Kunst und Zeitgeschichte. Hgg. v. E. Schmidt. Berlin 1893. Bd. 1, S. 211 (Scherers Antrittsrede in der Berliner Akademie der Wissenschaften, 1884).

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text die österreichische Niederlage von Königgrätz als Sieg eines meist nicht näher bestimmten „Fortschritts" konzeptualisiert werden konnte - wie stets aus der Perspektive der Sieger: „Der geschichtliche Erfolg gehört stets dem Starken und Klugen", resümiert in einem Jahresrückblick auf 186679 der Herausgeber der Revue Das Ausland, Oskar Peschel, der 1860 auch die erste deutschsprachige Rezension von Charles Darwins Entstehung der Arten geliefert hatte. Ahnlich erlebt der in Wien lehrende Chirurg Theodor Billroth die Zeit des Deutsch-Französischen Krieges, „eine [...] Zeit furchtbarer, innerer Erregung": „Der Furor teutonicus tobte in mir", schreibt er an den verständnislosen Basler Kollegen Wilhelm His, ,,[e]s war ein Kampf ums Dasein. Der deutsche Urmensch kam überall heraus".80 Wenn der „Fortschritt" als „Fortschritt zur Einheit" erst einmal als Ergebnis eines Kampfes von Völkern verstanden wurde, lag in der spezifischen österreichischen Situation nahe, den nach 1866 permanent gestellten Nationalitätenkonflikt gleichfalls als solchen „Kampf ums Dasein" zu verstehen.81 „Ich meinerseits habe überall nur Entwicklung, nur Geschichte wahrgenommen", schreibt Scherer in der Widmung der Geschichte der deutschen Sprache an Müllenhoff. Die Sprachgeschichte wird ihm zu einer „Geschichte der Machtverhältnisse jener einfachen Laute, wie sie in Uebertragung und Differenzirung ihre Existenz und ihren Sinn zur Geltung

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[Oskar Peschel:] Ein Rückblick auf die jüngste Vergangenheit. In: Das Ausland 39 (1866), S. 866-874, S. 868. „Auch wir in Deutschland sollten die neueste Geschichte wie einen gesetzmäßigen [!] Entwicklungsproceß betrachten [...] [b]ei solchen großartigen Vorgängen handelt es sich nicht mehr um Recht oder Verschuldung, sondern es ist ein Darwinscher Kampf um das Daseyn, wo das Moderne siegt und das Veraltete hinabsteigt in die paläontologischen Grüfte." Ebd., S. 874. Ahnlich Adolph Wagner: Elsass und Lothringen und ihre Wiedergewinnung für Deutschland. 6. Aufl. Leipzig 1870, S. 16: Die „gallische Race oder das heutige französische Mischvolk" drohe „immer mehr vom Germanenthum erdrückt zu werden. Am Ende steht ihr gar das Schicksal aller niedrigeren Organismen im Darwinschen Kampf um's Dasein bevor. Eine bedenkliche Aehnlichkeit mit den Polen". Peschel erhält dennoch Ende der sechziger Jahre einen Ruf nach Osterreich (Graz), den er jedoch ablehnt; der Nationalökonom Wagner, der das Schicksal Österreichs ähnlich beurteilt, hatte zwischen 1858 und 1863 an der neuen Wiener Handelsakademie gelehrt und einige finanzwissenschaftliche Werke über Osterreich verfaßt. An Wilhelm His, 21. 5. 1871. Theodor Billroth: Briefe. 8., veränd. Aufl. Hannover, Leipzig 1910, S. 112. „Aber der Sprachenkampf, die Ausbreitung der einen, das Absterben der andern, hängt ab von dem Kampfe der Völker und Nationalitäten." Wilhelm Scherer: Zur Geschichte der deutschen Sprache. 2. Ausgabe. Berlin 1878, S. 18.

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bringen." 82 In etwa gleichzeitigen Fragmenten Naturwissenschaft vs. Geisteswissenschaft.

Ihre Berühr[un]gen,

ihr w[echsel]seit[iges]

V[er]h[ä]ltnis

(1867/68) wird postuliert: „Die g[an]ze Fortschrittsbeweg[un]g ist an den Theorien d[er] Naturforscher (Darwinismus) zu studiren (aber auch Entwickel[un]g d[er] U[ni]versalien hferjbeizuziehen)".83 Das deutsche Nationalgefiihl wird als Grundlage der literarischen Entwicklung verfolgt, die mit der Konkurrenz der Nationalliteraturen einerseits, zum anderen mit sozialen Parametern der Nation korreliere. Die „Verfallsprocesse unserer Litteratur" hingen demnach ab von ,,nationale[r] Eifersucht, in welcher fremde Leist[un]g[e]n anspornen. (So auch Österreich].)" „Adel u[nd] Bürgertum = Genießen u[nd] Arb[e]it[en]. (Abwesenh[ei]t v[on] Vorhandensein [!] des Kampfes ums Dasein)." 84 Der Darwinismus sei „anwendbar auf [die] Naturlehre des Genies" 85 , wobei Scherer anderenorts „Goethe's Selbstbiographie als Causalerklärung der Genialität" zum Index der methodischen „Richtung" erklärt, „die wir für den ganzen Umfang der Weltgeschichte einzuhalten streben." 86 Sein engster Schüler Erich Schmidt, Sohn des Zoologen Oscar Schmidt, gliedert in der Wiener Antrittsvorlesung Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte 1880 Scherers Programm in einen Fragenkatalog auf (der übrigens schärfer darwinistisch prononciert ist als bei Scherer): „Litteraturgeschichte soll ein Stück Entwicklungsgeschichte des geistigen Lebens eines Volkes mit vergleichenden Ausblicken auf die anderen Nationallitteraturen sein. Sie erkennt das Sein aus dem Werden und untersucht wie die neuere Naturwissenschaft Vererbung und Anpassung und wieder Vererbung und so fort in fester Kette." 87 Vor allem in seinen Feuilletons und Reden der Reichsgründungszeit macht Scherer fleißigen Gebrauch von naturwissenschaftlichen Analogien. So erscheint in der Presse ein Feuilleton zu Lessings Nathan, das Ungleichzeitigkeiten der Geistesgeschichte als „Atavismen" liest88; die Nation selbst als Zentralkategorie wird direkt aus dem „Streit um die Lebensbedürfnisse, welcher [...] unter dem Titel,Kampf ums Dasein' eine so große Berühmt-

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Scherer: Geschichte der Sprache, S. X u. XIII. Zit. nach Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution, S. 154. Zit. nach Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution, S. 133. Zit. nach Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution, S. 128. Scherer: Geschichte der Sprache, S. VIII. In: Erich Schmidt: Charakteristiken. 1. Rh. 2. Aufl. Berlin 1912, S. 480-498, S. 491. Scherer: Vorträge und Aufsätze, S. 328.

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heit erlangt hat" und dem Charakter des „kämpfenden Germanen" abgeleitet 89 , aus diesem die Synonymik, aus diesem „Kampf der Wörter" der Akzent auf der „Bedeutungssilbe", der „das Potenzirte der leidenschaftlichen Rede" zum Ausdruck bringe, der wieder die Nationbildung als Eigensprache verursacht habe. Vom kriegerischen Urvolk sei wohl nicht der Inhalt, aber die Form: die Konzentration auf das „Eine" geblieben - so wird der Nationalcharakter der Leidenschaft entwickelt, der „Idealismus" der Deutschen, die „selbstlose Gesinnung", die „Hingebung", die „Opferwilligkeit", das „Pathos", das an anderer Stelle als ,,emporleitende[r] Engel" 9 0 figuriert. In einer Rezension von Gustav Freytags Ahnen vermißt Scherer den germanischen „Fanatismus der kriegerischen Leidenschaft" an Freytags behäbigen Bauern. 91 Dieser natur- und geschichts-„gesetzliche" Gegensatz entwickelt so das Pathos als historisch determinierte Charakterologie; eine Eigenschaft, die den Vorzug hat, nicht nur auf die Zeitläufte selbst unmittelbar applikabel zu sein, sondern auch gleich den Modus der Durchsetzung einer wissenschaftlichen Hypothese in sich begreift. Besonders deutlich wird diese Operation, wenn Scherer das „Pathos" in der Literaturgeschichte aufsucht und Walther von der Vogelweide zum Typus des antiklerikalen nationalen Kämpfers in Österreich wird; und das nicht innerhalb einer gleichsam „privaten" Publizistik, sondern ex cathedra. Von der Kirche werde das „christliche Mittelalter" mobilisiert: „Schade nur, daß die Litteraturwissenschaft solche behagliche Illusionen zerstören muß." 9 2 Nicht anders wird Grillparzer hergeleitet aus dem „Staat als eine[r] unbewußt im Dichter mitarbeitende^] Kraft", dessen Negativa aus „natürlichen Folgen des Despotismus" und „geistliche[r] Erziehung" statt „Kraft und Stolz" „Demuth und Schwäche" erzeugen. Bei der Behandlung Grillparzers mangelt es dem Interpreten an „Enthusiasmus", die Freiheitskriege waren für den Donaustaat „niemals" „ein Existenzkampf", was eine „Epoche der Ermattung und Weichlichkeit" entstehen ließ.93

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Scherer: Vorträge und Aufsätze, S. 6 f. Das „nationale Pathos" sei der Weg für die deutschen Österreicher, die „Wurzeln der Kraft" im „allgemeinen Vaterlande" wiederzufinden. Scherer: Das geistige Leben Österreichs im Mittelalter. [1873] In: Scherer: Vorträge und Aufsätze, S. 124-146, S. 146. Scherer: Kleine Schriften, Bd. 2, S. 20 f. „Litteratur und Kirche" in der „Presse", 8. 12. 1869. Kleine Schriften, Bd. 1, S. 667-672, S. 667. „Moderne Poesie und Wissenschaft, das ist der eigendiche Antichrist." (Ebd.) Scherer: Vorträge und Aufsätze, S. 193 u. 293.

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„Wenn nicht Alles trügt, so stehen auf keinem Gebiete der Geisteswissenschaft so bedeutende Veränderungen nahe bevor, wie in der philosophischen Betrachtung der Geschichte. Daß die empirischen Gesetze des geschichtlichen Lebens aufgesucht und aus dem Wesen des Menschen wie aus den Naturbedingungen in die er hineintritt begriffen werden müssen" 94 , postuliert Scherer bereits 1865 in einer seiner ersten Arbeiten, zwei zu Buchumfang aufschwellenden biographischen Artikeln zu Jacob Grimm. Oft ist der Zusammenhalt von Scherers Programmatik einerseits, seiner durchaus nicht-„positivistischen" Praxis andererseits moniert worden. Diese Spannung findet aber ihr Äquivalent auch auf der anderen Seite der Allianz, in den Naturwissenschaften selbst; als Problematik der Konstituierung einer neuen Wissenschaft. In besonderer Heftigkeit muß dieser Umstand auf die Durchsetzungsbedingungen des Darwinismus als eines neuen „Paradigmas" der Biowissenschaften durchschlagen, da ja gerade die Darwinsche Theorie zugleich eine neue Metawissenschaft zu sein schien, die virtuell alle Bereiche des Lebens umfassen und in sich integrieren zu können meinte, zumal im Darwinismus die Natur historisch wird, mit Einschluß des beobachtenden Subjekts. Nun war es aber gerade die Crux dieser neuen Wissenschaft, daß sie einerseits ihr symbolisches Kapital (Pierre Bourdieu) aus der „naturbeherrschenden" Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts bezog, als deren Muster die Physik galt, andererseits gerade deren zentrale Eigenschaft, die wie auch immer nur scheinbare Herleitung aus vorurteilsfreier Erfahrung und die Bestätigung von aus dieser abgeleiteten Hypothesen aus dem Experiment für die Darwinsche Theorie gerade nicht galt. Viel eher hängt der von den Darwinisten sofort erhobene Geltungsanspruch für nahezu alle Phänomene des sozialen und intellektuellen Lebens mit gerade dieser zentralen Schwäche der Theorie zusammen. Diese „strukturelle Schwäche" ist aber eine Eigenschaft, die der Darwinismus mit den sogenannten Geisteswissenschaften teilt. Nicht Beweis, aber Plausibilitätsverstärkung ist die Darstellung der zeitlichen Sukzession aus räumlicher Kontiguität, die sich etwa aus dem Fossilbefund ergeben soll. Nicht unähnlich dem ist die historische Verortung von „Sprachdenkmälern" in einem historischen Prozeß, den diese Denkmäler selbst erst konstruieren helfen. Darwin spricht von „imperfection of the

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Wilhelm Scherer: Jacob Grimm. Zwei Artikel der Preußischen Jahrbücher aus deren vierzehnten, fünfzehnten [sie] und sechzehnten Bande besonders abgedruckt. Berlin 1865, S. 166.

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geological record". 95 Nicht unähnlich dem erscheint Scherer die Sprache als ein „lebendes Archiv", dem „deutsche Wissenschaft den Mund" öffne. 96 Schon 1866 sagt Franz Unger von paläozoischen Funden: „Es gewährt das Studium dieser organischen, längst von dem Schauplatze der Erde abgetretenen Wesen einen eigenen Reiz. Es sind zwar nur Bruchstücke, die wir meist durch glückliche Umstände erhaschen, aber aus diesen Bruchstücken sind wir im Stande, wie der Alterthumsforscher aus einzelnen Worten einer Inschrift, den Sinn des Ganzen zu errathen." 97 Das Problem bestand, pointiert, darin, aus der Enzyklopädie der Linneschen Naturgeschichte eine historische Abhandlung zu formulieren; eine historische Abhandlung des Kollektivs, dessen vorläufigem Schlußkapitel man noch selber angehörte. Auf der anderen Seite begann Scherer, von der Arbeit der Textkonstitution zu einer historischen Wissenschaft überzugehen, deren (vorläufiges) Schlußkapitel nicht nur noch zu schreiben war und dem man als Schreiber angehörte, sondern dessen Plot man als Autor auch selbst noch zu befördern hatte, um die Einheit des Textes herzustellen: Telos dieser Phase Schererscher Wissenschaft war die Reichsgründung; ein methodisches Element darum die „nationale Ethik", deren Aufgabe „sich mit den höheren Anforderungen auf das innigste berührt, welche man seit einiger Zeit an die historische Wissenschaft zu stellen beginnt." 98 Die Evolutionstheorie ruht auf der Annahme, daß die selben Mechanismen in der Gegenwart noch wirken, die das Leben in der gegenwärtigen Form hervorgebracht haben. Nur sind sie, ihrer Langsamkeit wegen, nicht unmittelbar zu beobachten; eine gravierende Differenz zur Physik, die das Wirken eines Zusammenhangs, als Mechanismus, in jedem beliebigen Zeitpunkt reproduzieren können muß. Dasselbe Problem stellte sich überhaupt allen Geschichtsspekulationen, die dennoch als Wissenschaft wollten auftreten können, im besonderen der Literaturgeschichte. Nicht anders leitet der später in Ungnade gefallene Scherer-Schüler Anton E. Schönbach, Ordinarius in Graz, die Dignität des Untersuchungsgegenstands „Gegen-

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Charles Darwin: The Origin of Species by Means of Natural Selection or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. Ed. with an introduction by J. W. Burrow. Harmondsworth 1985, Kap. 9, S. 291-516. Scherer, Vorträge und Aufsätze, S. 3. 0 . Schmidt u. Franz Unger: Das Alter der Menschheit und das Paradies. Zwei Vorträge. Wien 1866, S. 48. Scherer: Geschichte der Sprache, S. VIII.

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wartsliteratur" her: „Für eine solche streng geschichtliche Erforschung der Litteratur sind natürlich auch die Erscheinungen der Gegenwart höchst bedeutend, gestatten sie doch, lebend und wirksam zu beobachten, was uns sonst nur durch verschiedene störende Medien und Zwischenglieder überliefert wird; ist doch das Studium der Gegenwart für den Philologen der einzige Ersatz des Experimentes, über das die Naturforschung gebietet."99 Der Darwinismus bedurfte also schon seiner Theoriestruktur und damit seiner internen Probleme wegen in seiner Durchsetzungsphase in hohem Maß der Beglaubigung durch die Humanwissenschaften, wie umgekehrt die Humanwissenschaften der Anlehnung an die Naturwissenschaft bedurften, um überhaupt als Wissenschaften zu erscheinen. Schon Friedrich Schlegel, Jacob Grimm und Franz Bopp entwickelten die „vergleichende" Sprachwissenschaft aus dem Geist der „vergleichenden Methode" des Zoologen Georges Cuvier.100 Es handelte sich so um eine Versicherungsgesellschaft gegen den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit - auf Gegenseitigkeit.101 Von hier erklären sich Einheitswünsche der „historischen" Naturwissenschaften, wie sie bei Scherer genannt werden, die nur scheinbar auf sichererem Terrain sich bewegen als die Parallelinszenierungen der Philologie (als Literaturwissenschaft einerseits, als Linguistik andererseits), nach und neben Hegels System. Nicht ohne strategische Perspektive formuliert der Zoologe Haeckel, die neue geschichtsphilosophische Naturwissenschaft vereinige „Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft zu einer all-

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Anton E. Schönbach: Gesammelte Aufsätze zur neueren Litteratur in Deutschland, Oesterreich, Amerika. Graz 1900, S. 164. Der Gedanke scheint von Heinzel zu stammen, vgl. Sfamuel] Singer: Richard Heinzel. In: S. S.: Aufsätze und Vorträge. Tübingen 1912, S. 183-280, S. 196. Ähnlich Scherer: Geschichte der Sprache, 2. Ausg., S. 19: „Der einfache methodische Grundsatz, das Nahe, Erreichbare möglichst genau zu beobachten und daran den ursächlichen Zusammenhang zu studiren, um ihn in die Vergangenheit zu projiciren und so deren Ereignisse zu begreifen, ist noch lange nicht in seiner Wichtigkeit erkannt."

100 Zu den geistesgeschichtlichen Kontexten der „vergleichenden Methode" vgl. Erich Rothacker: Logik und Systematik der Geisteswissenschaften. Bonn 1948, bes. S. 92 ff. 101 „Die Wechselwirkung zwischen esoterischer und exoterischer Dimension der Wissenschaft" ist in der Konstitutionsphase einer neuen Disziplin intensiv, ,,[d]ie Wissenschaftler haben bei der Beurteilung einer Theorie nicht nur Fragen der empirischen Bestätigung oder der logischen Kohärenz im Auge, sondern auch die exoterische Dimension: die weltanschaulichen oder gar politischen Konflikte, die sie heraulbeschwören oder der institutionelle oder ideologische Einfluss, den man mit ihrer Hilfe gewinnen könnte." Kurt Bayertz: Darwinismus und Freiheit der Wissenschaft. Politische Aspekte der Darwinismus-Rezeption in Deutschland 1865-1878. In: Scientia 77 (1983), S. 267-281, S. 279 f.

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umfassenden, einheitlichen Gesammtwissenschaft." An die Stelle „der exacten, mathematisch-physikalischen [Methode tritt] die historische, die geschichtlich-philosophische Methode." 102 Die Differenz der Leitwissenschaft Physik zu dieser historischen Theorie wurde als Glaubensakt zu verwischen gesucht (man wird im 19. Jahrhundert zum Darwinismus „bekehrt"); Haeckel agiert im „weltanschaulich"politischen Feld umso aggressiver. Später engagierter Kulturkämpfer, führt Haeckel bereits in seiner ersten Propagandarede für den Darwinismus 1865 militärische Metaphern ein, die die Durchsetzung des Darwinismus von nun an, zunächst mit antiklerikaler Stoßrichtung, begleiten werden: so ist vom „Zeughause der Naturwissenschaft" die Rede, von „In's Feld schicken", von „Waffen", „Strudel", „Parteien", „ K a m p f , vom ,,große[n] Heerlager der Zoologen". ,,[A]uf der Fahne der progressiven Darwinisten stehen die Worte: ,Entwickelung und Fortschritt! 1 Aus dem Lager der conservativen Gegner Darwin's tönt der Ruf: , Schöpfung und Species!" 1103 Diese Kampfstellung kann sich nicht nur auf die Theorie selbst berufen, die Theorie enthält zugleich auch noch den Ausgang des Kampfes: „Denn dieser Fortschritt ist ein Naturgesetz, welches keine menschliche Gewalt, weder Tyrannen-Waffen noch Priester-Flüche, jemals dauernd zu unterdrücken vermögen."104 Woher die Belege für die Plausibilisierung stammen, ist aufgrund der bald wuchernden Universalisierungstendenzen der Theorie zunehmend gleichgültig. Haeckel beruft sich auf die Sprachwissenschaft105; ein Gedanke, den sein Freund und Jenenser Kollege, der Sprachwissenschaftler und Hobbygärtner106 August Schleicher, „den die Vorkommnisse 102 Ernst Haeckel: Ueber die heutige Entwickelungslehre im Verhältnisse zur Gesammtwissenschaft. Vortrag, gehalten am 18. September 1877 in der ersten öffentlichen Sitzung der fünfzigsten Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in München. In: E. H.: Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre. 2 Bde. 2., verm. Aufl. Bonn 1902, Bd. 2, S. 119-146, S. 154 u. 125. 103 Ernst Haeckel: Ueber die Entwickelungstheorie Darwin's. Vortrag, gehalten am 19. September 1863 in der ersten allgemeinen Sitzung der 38. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Stettin. In: E. H.: Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen, Bd. 1, S. 1-34, S. 4 f. 104 Haeckel: Ueber die Entwickelungstheorie Darwin's, S. 30. 105 „Dafür sprechen außer verschiedenen, durch die neuere Geologie und Alterthumsforschung an das Licht geförderten Thatsachen ganz besonders die neueren Entdeckungen auf dem Gebiete der vergleichenden Sprachforschung." Haeckel: Ueber die Entwickelungstheorie Darwin's, S. 28. 106 August Schleicher: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Offenes Send-

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d e r K o n k o r d a t s z e i t längst v o n P r a g n a c h J e n a g e f ü h r t h a t t e n " 1 0 7 , d e r g e s t a l t ironisiert, als d i e g r ö ß e r e A n c i e n n i t ä t d e s G e d a n k e n s w o h l ü b e r h a u p t b e i d e r Sprachwissenschaft läge.108 Scherer, der Schleicher mit Skepsis gegenü b e r s t e h t , b e d a n k t sich g l e i c h w o h l b e i d e n N a t u r f o r s c h e r n , i n d e m e r s e i n e i g e n e s P r o j e k t in e i n e n a l l g e m e i n e n T r e n d e i n f ü g t : „ E b e n vollzieht sich in d e r vergleichenden Anatomie der U e b e r g a n g zur historischen Ansicht mit d e r Ausbildung des Darwinismus: die Naturgeschichte wird

schichte." 109

Natur^e-

A m b i v a l e n t stellt sich d e r s e l b e S a c h v e r h a l t n o c h in d e r z w e i -

ten, runderneuerten Auflage der Sprachgeschichte dar: Schleicher habe „ n u r g e z e i g t , d a s s m a n in d e r v e r g l e i c h e n d e n L i n g u i s t i k e b e n s o S t a m m b ä u m e entwerfe, wie es durch die Darwinische Auffassung der Zoologie nothwendig g e w o r d e n " . 1 1 0 E s sei jedoch „kein Zweifel, dass die Sprachforschung wesentlichen Nutzen ziehen kann aus d e m Vorbilde von D a r w i n s T h e o r i e " , w a s b i s l a n g w e n i g g e s c h e h e n s e i ; u m d a n n zu v e r k ü n d e n : „ A u c h z w i s c h e n d e n W ö r t e r n h e r s c h t [sie] e i n K a m p f u m s D a s e i n . " 1 1 1 D e r C h i a s m u s ist p e r f e k t , als R i c h a r d H e i n z e l w i e d e r f ü r d i e E r s t e l l u n g v o n H a n d -

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schreiben an Herrn Dr. Ernst Häckel, a. o. Professor der Zoologie und Director des zoologischen Museums an der Universität Jena. Weimar 1863, S. 3 f. Joseph Körner: Deutsche Philologie. In: Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung in Österreich-Ungarn. Unter Mitw. hervorr. Fachgenossen nach dem Tode von J. W. Nagl u. J. Zeidler hgg. v. E. Castle. Bd. 3: Von 1848 bis 1890. Wien 1935, S. 48-89, S. 67. „Von Sprachsippen [...] stellen wir eben so Stammbäume auf, wie diess Darwin für die Arten von Pflanzen und Thieren versucht hat." Schleicher: Die Darwinsche Theorie, S. 13. Scherer: Geschichte der Sprache, S. 361. Scherer: Geschichte der Sprache, 2. Ausg., S. 18. Scherer: Geschichte der Sprache, 2. Ausg., S. 19. Besonders deutlich die darwinistische Grundierung der Schererschen Sprachwissenschaft in einem Aufsatz in den „Preußischen Jahrbüchern": „Die Geschichte der Sprachen läßt uns Erscheinungen beobachten, welche auf anderen Gebieten durch die neuere Naturwissenschaft aller Welt sehr geläufig geworden sind. Große Gruppen des Thierreiches, die man bisher nebeneinander zu stellen gewohnt war, werden jetzt genealogisch angeordnet. In viel verzweigten und mannigfaltig verästelten Stammbäumen gewahren wir, wie durch jahrhundertelange, jahrtausendelange Entwicklung aus uralten Einheiten allmählich Vielheit und Mannigfaltigkeit entsteht. Verschiedene und, soweit menschliche Beobachtung reicht, getrennte Thiergattungen werden auf gemeinschaftliche Urväter zurück geführt. Ein Zug zur Specialisirung beherrscht die gesammte organische Schöpfung. Auch der Mensch ist davon nicht ausgenommen." (Die deutsche Spracheinheit, 1872) Scherer: Vorträge und Aufsätze, S. 46.

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Schriften- und Sprachenstammbäumen „Parallelen in den Ahnenreihen der Deszendenztheoretiker" sucht.112 Wenn Scherer (gegen Schleicher) einwendet, daß es mit Darwins Innovation so weit auch wieder nicht her sei, als ja Darwin eingestandenermaßen den „Kampf ums Dasein" „aus dem Malthusschen Bevölkerungsgesetze entlehnt" hat, heißt das noch lange nicht, daß nicht die beiden Wissenschaften einander verbunden wären: ,,[E]s ist klar, dass der ganze Versuch einer Geschichte der Thierwelt die Analogien, welche die beobachtbare menschliche Geschichte darbietet, so viel als möglich ausnutzen muss. Aber in dieser gegenseitigen Befruchtung von Natur- und Geisteswissenschaft schärfen sich die Begriffe und verfeinern sich die Methoden." 113 So kann noch die Germanistik der Naturwissenschaft Ratschläge geben, im Bewußtsein, am selben Projekt zu arbeiten („Berührungspuncte mit den historischen Disciplinen der Naturwissenschaft" 114 ); eine Selbstaufgabe der Disziplinen ist dazu nicht nötig.115 Wilhelm Scherer ist in seiner Wiener Zeit in einen „interdisziplinären" Diskussionskontext eingebunden, der unter immer neuen Prämissen seiner Forderung nach „Arbeitsvereinigung" und „Einheit" nachkommt.116 So ist Scherer 1869/70 am Projekt der Wiener Anthropologischen Gesellschaft beteiligt, von dem die einen - seiner Organisationsform nach - einen Beitrag zur geistigen Wiedervereinigung mit „Deutschland", die anderen - seinem Inhalt nach - einen Beitrag zur Lösung der österreichischen Nationalitätenfragen erhoffen.117 Diese Gesellschaft hätte zugleich durch „Einheit und Ei-

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Singer: Heinzel, S. 194. Scherer: Geschichte der Sprache, 2. Ausg., S. 18 f. Scherer: Geschichte der Sprache, 2. Ausg., S. 16. Aus dieser Sicht ist es unwesentlich, ob (und eventuell bis wann) Scherer tatsächlich naturalistisch gedacht habe; vgl. Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution, S. 207 u. ö.; die Geisteswissenschaft muß nicht in der Naturwissenschaft aufgehen, um „im selben Schacht zu graben", historisch-kausale Wissenschaft zu sein. 116 Schon in den Grimm-Artikeln von 1865: ,,[W]as wir anstreben müssen, die möglichste Aufhebung der Arbeitstheilung zwischen Philologie und Geschichte." Scherer: Grimm, S. 165; mehrfach in der Sprachgeschichte. 117 Dazu jetzt Christian F. Feest: The Origins of Professional Anthropology in Vienna. In: Kulturwissenschaft im Vielvölkerstaat. Zur Geschichte der Ethnologie und verwandter Gebiete in Osterreich, ca. 1780 bis 1918. Hgg. v. B. Rupp-Eisenreich u. J. Stagl. Wien, Köln, Weimar 1995, S. 112-151.

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nigkeit" die deutschen Wissenschaftler durch lokale Zweigvereine in einem gesamtdeutschen Dachverband zu einer neuen Wissenschaft vereinigen sollen; und zugleich (nach der Eröffnungsrede Carl Rokitanskys) als Rassenkunde durch die Beförderung der Rassenvermischung den österreichischen Staat homogenisieren sollen. 118 Zu den Gründungsmitgliedern des österreichischen Zweigvereins zählen, den synthetischen Hoffnungen gemäß, die der Anthropologie entgegengebracht werden, der Altphilologe Theodor Gomperz, der Kulturgeschichtler und Populärdarwinist Friedrich Heller v. Hellwald, der liberale Geologe und Politiker Eduard Sueß und der Germanist Scherer. Wenn Gomperz, der mit Scherer und dem deutschliberalen Sozialpolitiker Max Menger Anfang der siebziger Jahre die Gründung von Arbeitervereinen auf Grundlage des „Selbsthilfe"-Konzepts (als Konkurrenzunternehmen zur gerade konstituierten Sozialdemokratie) erwägt119, mit Darwin selbst in Korrespondenz tritt und einige Vorschläge zur Lösung offengebliebener Probleme120 unterbreitet, schlägt Scherer Heinzel zur selben Zeit (Februar 1873) Applikationen von Beobachtungen Darwins vor, die er noch in den Entwürfen zur Poetik (1888 posthum erschienen) disku-

118 Carl Rokitansky: Eröffnungsrede, gehalten in der constituirenden Versammlung der anthropologischen Gesellschaft in Wien am 15. Februar 1870. In: Mittheilungen der anthropologischen Gesellschaft zu Wien 1 (1870), S. 1-10, v. a. S. 9. Zweideutig berichtet später Rudolf Virchow aus den Gründungsjahren, niemand sei damals im Zweifel gewesen, „dass Deutschland und Oesterreich in anthropologischen Dingen zusammengehören". „Aber die Dinge sind oft mächtiger als die Menschen. Die Strömung der folgenden Zeit wurde bestimmt durch Wünsche, die gleichgültig waren gegen die Auffassung, welche wir vom Standpunkte unbefangener Betrachtung der Dinge in den Vordergrund gestellt hatten." Virchow: Die Anthropologie in den letzten 20 Jahren. In: Bericht über die gemeinsame Versammlung der Deutschen und der Wiener anthropologischen Gesellschaft [...]. Mittheilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 19 (1889), S. [57]-[68], S. [57]. Der ideologische Rahmen der Gesellschaft verengt sich in der Folgezeit zunehmend auf deutschnationale und rassistische Positionen, nicht zuletzt unter der Führung der Volkskundler und Germanisten Matthäus und Rudolf Much. 119 Theodor Gomperz: Ein Gelehrtenleben im Bürgertum der Franz-Josefs-Zeit. Auswahl seiner Briefe und Aufzeichnungen, 1869-1912, erl. u. zu einer Darstellung seines Lebens verknüpft v. H. Gomperz. Hgg. v. R. A. Kann. Wien 1974, S. 52 f. 120 Gomperz an Darwin, 25. 8. 1875. Regest in: A Calendar of the Correspondence of Charles Darwin, 1821-1882. Ed. by F. Burkhardt and S. Smith. New York, London 1985, S. 589 (Nr. 9027); Darwin redet sich in seiner Antwort (ebd., S. 590, Nr. 9059) diplomatisch auf seine schlechte Gesundheit aus.

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tiert. 121 In der Poetik wird auch die Schöpfungsgeschichte nach Darwin als Stoff eines modernen epischen Lehrgedichtes erwogen. Erich Schmidts Vater, Oscar Schmidt, Preuße, war in Berlin Schüler von Johannes Müller gewesen, hatte aber zugleich Jacob Grimm, Lachmann und den Altphilologen August Boeckh gehört; nach einer Karriere, die ihn über Krakau, wo er den Germanisten Franz Thomas Bratranek kennenlernt, nach Graz 122 führt, schließt er dort Bekanntschaft mit den Germanisten Karl Weinhold und Karl Tomaschek, dem Dichter Karl v. Holtei, dem späteren Unterrichtsminister Karl v. Stremayr und dem liberalen Abgeordneten und darwinistischen Ethiker Bartholomäus v. Carneri; Berufungen schlägt er aus, ,,[v]on der Regierung sah er sich überall gefördert und bewahrte diese Gunst in einem treuen Gedächtnis." 1 2 3 Oscar Schmidt, bald einer der Hauptprotagonisten des Darwinismus in Osterreich, Ehrenmitglied der Grazer Korporation Arminia124, ist nationalpolitisch stark aktiv; als Scherer von Berlin aus die Berufung Erich Schmidts als Nachfolger Tomascheks betreibt, schreibt er nach Wien: „Gegen Erich Schmidt werden vielleicht diejenigen, welche seinen Vater Oscar Schmidt aus dessen Grazer Epoche kennen, gewisse persönliche Eigenschaften des letzteren und die Furcht geltend machen, daß sein Sohn ihm darin nachschlüge. Oscar Schmidt ist einer der besten Menschen, die mir je vorgekommen, aber er ist zu rasch, vorschnell. Erich Schmidt ist, wie ich versichern kann, das gerade Gegenteil, für seine jungen Jahre auffallend reif im Handeln, vorsichtig, maßvoll. An eine politische Betätigung würde er gewiß gar nicht denken." 1 2 5 Oscar Schmidt weiß sich mit seinem Freund Haeckel einig, außer in der

121 Etwa die Ätiologie von Singen und Lachen aus der geschlechtlichen Zuchtwahl im Kapitel „Uber den Ursprung der Poesie". Scherer: Poetik. Mit einer Einl. u. Materialien zur Rezeptionsanalyse hgg. v. G. Reiss. Tubingen 1977, S. 58 f. Vgl. auch Singer: Heinzel, S. 198. 122 Parallel zur Karriere Weinholds; Weinhold, erster protestantischer Dekan einer österreichischen philosophischen Fakultät, hatte gemeinsam mit seinem Nachfolger im Grazer Dekanat, Oscar Schmidt, die Zulassung von Nichtkatholiken zu dieser Funktion durchgesetzt. 123 Erich Schmidt: Eduard Oscar Schmidt, S. XII. 124 Schmidt hat sich schon 1862 für die Burschenschaften eingesetzt. Material zu Oscar Schmidts Grazer Zeit bei Berghofen Zoologie in Graz, S. 46-74. 125 25.9. 1878 an den Hochschulreferenten im Wiener Unterrichtsministerium, Benno v. David; Wilhelm Scherer, Erich Schmidt: Briefwechsel. Mit einer Bibliographie der Schriften von E. Schmidt hgg. v. W. Richter u. E. Lämmert. Berlin 1963, S. 277.

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Frage nach Goethes Bedeutung für die Genese der evolutionistischen Theorie, die er verneint 1 2 6 ; für Haeckel hingegen wird Goethe neben Darwin und Lamarck zum Urheber der Entwicklungslehre. Scherer wird in seiner Literaturgeschichte beide Seiten in den Anmerkungsapparat aufnehmen. 1 2 7 Als Erich Schmidt und Scherer die parallel zur großen Goethe-Ausgabe geplante Goethe-Biographie, die nach Sachgebieten aufgeteilt werden soll, diskutieren, wird Haeckel selbstverständlich berücksichtigt. 128 Als sich Haeckel 1857 in Wien aufhält, wird er begeisterter Anhänger der Physiologie Ernst Brückes 1 2 9 , der Scherers Lautphysiologie betreuen wird. Sigmund Freud berichtet, er habe in einer populären Vorlesung über den Darwinismus ein Goethe-Fragment Die Natur kennengelernt, das ihn so gefesselt habe, daß er beschlossen habe, Medizin zu studieren 130 , und wird wenig später Brückes Assistent; jenes Fragment stellt Haeckel ab 1868 allen Auflagen seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte voran. Brückes Person selbst mußte eine mögliche Einheit von Wissenschaft und Kunst nahelegen, hatte sich Brücke doch auch auf philologischem Terrain bewegt ( Die physiologischen Grundlagen der neuhochdeutschen Verskurist, 1871). Oscar Schmidt, 1871/72 bereits zum zweitenmal Dekan der Grazer philosophischen Fakultät, schließt im Februar 1872 die Verhandlungen mit der neuzugründenden Universität Straßburg ab, die Anfang Mai eröffnet wird. 1 3 1 Ende September wird Scherer berufen. „ D e r deutsch-französische

126 Vgl. den Widmungsbrief Schmidts „An Ernst Häckel" in Oscar Schmidt: War Goethe ein Darwinianer? Graz 1871. 127 Wilhelm Scherer: Geschichte der Deutschen Litteratur. Berlin 1883, S. 766. 128 „Haeckel ist sicher gewonnen und empfiehlt einen jungen Jenenser sehr für Geologie. Weiß für Optik niemand." E. Schmidt an Scherer, 8. 4. 1886. Briefwechsel, S. 231; vgl. ebd., S. 313. 129 Vgl. Die Wiener Medizinische Fakultät um 1857. Ein Brief Ernst Haeckels an seine Eltern. In: Ernst Wilhelm v. Brücke: Briefe an Emil Du Bois-Reymond. Hgg. u. bearb. v. H. Brücke u. a. 2 Bde. Graz 1981, Bd. 2, S. 126-137. 130 „Indes, die damals aktuelle Lehre Darwins zog mich mächtig an, weil sie eine außerordentliche Förderung des Weltverständnisses versprach, und ich weiß, daß der Vortrag von Goethes schönem Aufsatz ,Die Natur' in einer populären Vorlesung von Prof. Carl Brühl kurz vor der Reifeprüfung [1873] die Entscheidung gab, daß ich Medizin inskribierte." Sigmund Freud: „Selbstdarstellung". Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse. Hgg. u. eingel. v. I. Grubrich-Simitis. Frankfurt/M. 1989, S. 41. Das vermeintliche GoetheFragment stammt aus dem „Tiefurter Journal" von 1783; außerdem von Tobler. 131 „Schmidt ist Darwinianer und einer der entschiedensten Verfechter dieser Anschauung [...]. Darob hat er von jener Partei, die zum Syllabus schwört, denunciatorische Angriffe

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Krieg und die glorreiche Errichtung eines einigen deutschen Kaiserthums erfüllte ihn mit stolzer sehnsüchtiger Freude", berichtet der Sohn, „und als im Frühjahr 1872 auf Betrieb seines Freundes Haeckel ihm an der neuerstandenen Universität des Elsass eine Professur angeboten wurde, däuchte ihn die Annahme eine patriotische Pflicht". 132 Erich Schmidt, der unter Heinzel in Graz das Studium der deutschen Sprache und Literatur aufgenommen hat, folgt seinem Vater nach Straßburg, wo er Scherer kennenlernt. Dieser Vermittlungsdienst Haeckels für Oscar Schmidt hat eine außerordentlich interessante Vorgeschichte, die hier nur gestreift werden kann. 133 Ende Dezember 1870 wird Ernst Haeckel auf den Zoologischen Lehrstuhl in Wien berufen, Schmidt teilt ihm schon im Oktober diese Pläne des neuen liberalen Unterrichtsministers Stremayr mit; im Berufungsschreiben selbst heißt es, es sei dringend geboten, „daß das erwähnte, für Wien besonders wichtige Lehramt durch eine Persönlichkeit vertreten werde, welche volle Bürgschaft für ein in jeder Richtung ersprießliches Wirken bietet". 154 Bedenkt man, wie stark Haeckel zu dieser Zeit bereits antiklerikal engagiert war (ein bayrischer Kollege rät Haeckel zur Annahme der Professur mit dem Bedauern: „Wir hätten hier [München] Ihren kräftigen Arm im Kampf gegen die bayrischen Ultramontanen nur zu gut brauchen können" 135 ), kann dieser Schritt Wiens nur erstaunen; zumal Haeckels Forderungen exorbitant sind. Dennoch (Haeckel hatte u. a. ein dreifaches Professorengehalt gefordert) gehen die Verhandlungen mit Wien weiter, noch als Haeckel im Jänner 1871 ablehnt. Man plane, wie Sueß Haeckel vertraulich mitteilt, in Wien für diesen eine eigene Lehrkanzel, zur „Vertretung der aller Art erfahren müssen, die ihm den Aufenthalt in der freundlichen Murstadt verleiden sollten." Als Schmidt nach Straßburg berufen wird, „ließ [er] sich nicht mehr bestimmen, in Oesterreich zu bleiben, obwohl Alles versucht wurde, ihn der Gratzer Hochschule zu erhalten, wo er bei den Freunden des Fortschrittes als einer der muthigsten Vorkämpfer, bei seinen Schülern als liebenswürdiger Lehrer, im Privatverkehre als Ehrenmann allgemein geachtet und beliebt war." Wurzbach: „O. Schmidt", S. 311 f. 152 Erich Schmidt: Oscar Schmidt, S. XII. 155 Dazu Georg Uschmann: Geschichte der Zoologie und der zoologischen Anstalten in Jena 1779-1914. Jena 1959, S. 76-85. Jetzt Erika Krauße: Emst Haeckels Beziehungen zu österreichischen Gelehrten. Spurensuche im Briefnachlaß. In: Welträtsel und Lebenswunder. Ernst Haeckel - Werk, Wirkung, Folgen. Red. E. Aescht u. a. Linz 1998, S. 575-415, S. 585-588. 154 Zit. nach Uschmann: Zoologie in Jena, S. 76. 155 Zit. nach Uschmann: Zoologie in Jena, S. 78.

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höchsten Probleme unserer Wissenschaft", zur „Bildung von selbständigen Forschern". Haeckels Bedingungen würden gewährt. „So werden Ihnen, geehrter Collega, neben Ihrem großen Talente nun auch die äußern Mittel geboten, um eine glänzende Schule zu bilden, und an der größten deutschen Universität den Sieg der neuen natürlichen Anschauungen zu verkünden." Er werde in Wien auf viele Gleichgesinnte und Verehrer treffen. 136 Nicht nur dem Liberalen Stremayr, auch dem nachfolgenden konservativ-föderalistischen Kabinett Hohenwart liegt an Haeckels Berufung. Obwohl der Chirurg Billroth am 2. März einem deutschen Kollegen mitteilt: „Wir Deutschen sind hier ja nur noch geduldet, der Staat wird ja immer slavischer und ungarischer. Es ist eine Lebensfrage für uns Deutschen hier, daß wir wenigstens unseren wissenschaftlichen Zusammenhang mit dem Deutschen Reiche behalten" 137 , verbringt Haeckel dennoch Anfang März 1871 „vier unruhige Tage" in Wien mit Verhandlungen mit jenem ,slavischen und ungarischen Staat', die schließlich mit seiner definitiven Absage enden. Als Haeckel schließlich im Jänner 1872 an die Universität Straßburg berufen wird, erhält er einen neuerlichen Ruf nach Wien, diesmal vom wieder eingesetzten Stremayr. Durch geschickte Berufungsabwehr gelingt Haeckel in Jena eine neuerliche Gehaltserhöhung, worauf er beide Rufe ausschlägt; nach Straßburg empfiehlt er Oscar Schmidt. Als Billroth im Jahr nach Königgrätz an die Wiener medizinische Fakultät berufen wird, ist er selbst erstaunt: ,,[I]ch bewundere die Leute! Sie wollen einen Preußen, einen Ketzer in die erste dortige Chirurgenprofessur bringen; es mag wohl Muth dazu gehören, das jetzt in Wien zu wollen." 138 Der Protestant Billroth wird sich in Wien nicht mit der Chirurgie begnügen; im Juli 1871 begibt er sich als Arzt an den Kriegsschauplatz ins Elsaß, von wo er nach Wien schreibt: „Ich verlasse mich auf Moltke und Bismarck. Vor den Oesterreichern fürchten wir uns nicht; laß sie nur immer reden und lache sie innerlich aus. Deutschlands glorreiche Entstehung zu erleben hatte ich nicht gehofft." 139 Billroth befindet sich auch auf einer Einladungsliste,

136 Uschmann: Zoologie in Jena, S. 78. 157 An Ernst Gurlt, 2. 3. 1871. Billroth: Briefe, S. 112. 138 An Wilhelm Lübke, 5. 3. 1867. Billroth: Briefe, S. 66 f. „Doch ich bin nun schon zehn Jahre in Oesterreich, wo ein Nicht-Oesterreicher von Jahr zu Jahr unmöglicher wurde, sodaß ich es immer noch fiir ein Wunder ansehen muß, wie Brücke und ich hierher gekommen sind." Ebd., S. 166 (an Georg Fischer, 19. 11. 1876). 139 An Frau Hofrath Billroth, 30. 8. 1870. Billroth: Briefe, S. 105 f.

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die die deutschnationale Studentenverbindung Silesia, die Wilhelm Scherer als ihren wichtigsten und engsten Alliierten innerhalb der Universität betrachtet, 1875 zusammenstellt, u m die ihr nahestehenden Universitätslehrer und Institutionen zu sichten: neben dem Dichter Hermann Rollett, den Germanisten Heinzel und Schönbach, dem Historiker Lorenz, dem Geologen Sueß und dem Altphilologen Wilhelm v. Härtel, „Griindungsbursch" der Silesia, der später Unterrichtsminister werden sollte.140 Den Abschiedskommers der Silesia zu Ehren Wilhelm Scherers (24. 10. 1872) hatten noch Scherers „Gesinnungsgenossen" Tomaschek (er hatte als Vertreter der Universität Wien an den Straßburger Eröffnungsfeiern teilgenommen und in seiner Festrede die Verbundenheit der österreichischen Universitäten mit den deutschen betont), der Historiker Adalbert Horawitz, der Politiker Menger und Johannes Brahms 141 besucht. Schönbach hatte im Namen der Schüler gesagt: „Es preßt mir das Herz zusammen, wenn ich denke, daß der Mann, der uns Führer und Leiter nicht blos in wissenschaftlichen Dingen, sondern auch in nationaler und sittlicher Richtung gewesen, daß der jetzt aus unserer Mitte scheidet". 142 Scherer war seit Weihnachten 1868 Ehrenmitglied der Silesia, nachdem er heftigen Angriffen durch Presse und Ministerium wegen deutschnationaler Kommersreden ausgesetzt gewesen war. Die Silesia, die noch heute in Wien besteht, versteht sich seit 1868 als „vorgeschobener Posten der nationalliberalen Partei" mit „Bismarckschem Credo" 143 ; an ihrem Grün140 Bei Edmund Bechmann: Die Wiener Akademische Burschenschaft „Silesia". II: Von 1870-1883. Wien 1931, S. 147. Die Liste zeigt deutliche Fehleinschätzungen, die die Dissoziationen des österreichischen Liberalismus in den siebziger Jahren illustrieren können. So hatte Heinzel Scherers Nationalpolitik kaum geteilt; Schönbach wohl, wurde aber später als Grazer Ordinarius österreichisch-konservativ; Billroth hatte 1875 durch eine allgemein als antisemitisch empfundene Bemerkung in einer Schrift über die Universität die Sympathien der „Silesia" ihm gegenüber noch verstärkt, trat aber, als der Antisemitismus zur Massenbewegung geworden war, dem „Verein zur Abwehr des Antisemitismus" bei. Der Geologe Sueß blieb liberal und war ebenfalls an diesem Verein führend beteiligt. Im Fall Harteis, Rolletts und Lorenz' (der aber gleichfalls in seinen politischen Optionen sehr flexibel agierte) trifft die Zuordnung sicher. 141 Brahms, intimer Freund Billroths, hatte zum deutschen Sieg ein „Triumphlied" komponiert. Vgl. Billroth: Briefe, S. 118. 142 Der Scherer-Commers. In: Deutsche Zeitung (Wien), 26. 10. 1872, S. 2 f., S. 2. 143 Vgl. Ferdinand Bilger: Die Wiener Burschenschaft Silesia von 1860 bis 1870 und ihre Bedeutung für die Anfänge der deutschnationalen Bewegung in Osterreich. Heidelberg 1911, S. 49 u. 56.

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dungsfest a m 24. November 1868 n e h m e n Billroth, Lorenz, Scherer u n d Theodor Sickel teil. 144 D e r Historiker Heinrich Brunner, gleichfalls „Gründungsbursch", wird schon Ende 1871 als Professor f ü r Deutsches Recht nach Straßburg berufen, wo er eine hoffnungsvollere Wirkungsstätte im Dienst der Nation erwartet als an d e r Prager Universität. 145 Ottokar Lorenz, ein enger Freund Scherers u n d erster akademischer L e h r e r August Sauers, pflegt seit 1866 Kontakte mit d e r Silesia; 1867 wird i h m von Seiten des Kultusministeriums noch mit der Entlassung gedroht. Als Leopold v. Ranke 1868 W i e n besucht u n d mit Lorenz zusammentrifft, staunt er über das unerwartete Ausmaß von Preußenfreundlichkeit, das i h m hier in akademischen Kreisen entgegenschlägt. 1 4 6 Lorenz, d e r 1861 Ordinarius der „allgemeinen und österreichischen Geschichte" geworden war, wurde vier Jahre später aus politischen Gründen als Leiter des Staatsarchivs verabschiedet; 1871 erscheint sein mit Scherer gemeinsam 1 4 7 verfaßtes Werk Geschichte des Elsasses, das „die Schicksale verlorener Söhne erzähl[t], welche erst nach langen Jahren u n d Irrfahrten zurückkehren ins Vaterhaus, aber so offene u n d glückliche A r m e finden, wie die Westmark des neuen Reiches." 1 4 8 Lorenz, „der Schöpfer der m o d e r n e n wissenschaftlichen Genealogie" (Erich Zöllner), entwickelt später eine historische Theorie auf Grundlage d e r Vererbungslehre („Generationenlehre", im Anschluß an Ranke) mit stark darwinistischer Grundierung 1 4 9 , Scherers berüchtigter „Wellentheorie" der Literaturgeschichte nicht unähnlich; bei

144 Otto Brunner: Das österreichische Institut fiir Geschichtsforschung und seine Stellung in der deutschen Geschichtswissenschaft. In: Mitteilungen des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 52 (1938), S. 585-416, S. 595 f. 145 Vgl. John E. Craig: Scholarship and Nation Building. The Universities of Strasbourg and Alsatian Society 1870-1959. Chicago, London 1984, S. 56. 146 „Ich glaube fast, ich werde Wien ungern verlassen. Nicht ein Wort habe ich gehört, welches Feindseligkeit oder Geringschätzung gegen Preußen verriethe; ich bin fast erstaunt darüber." Ranke an Clara v. Ranke, geb. Graves und die Kinder, 26. 9. 1868. In: Leopold v. Ranke's Sämmtliche Werke. 2. u. 5. Gesammtausgabe. Bd. 55 u. 54: Zur eigenen Lebensgeschichte. Hgg. v. A. Dove. Leipzig 1890, S. 481. 147 Lorenz hatte schon 1862 an Tomascheks Schiller-Buch mitgearbeitet. 148 Lorenz, Scherer: Geschichte des Elsasses, 2. Hbd., S. 261. 149 „Daß die sociale Zuchtwahl im wesentlichen nichts anderes ist, als der historische Proceß der Weltgeschichte, darüber kann wohl kein Zweifel sein". Ottokar Lorenz: Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben kritisch erörtert. Tl. 2: Leopold von Ranke. Die Generationenlehre und der Geschichtsunterricht. Berlin 1891, S. 270.

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Josef Nadler findet sich ein später Reflex auf Lorenz. 150 Auch Heinzel steht längere Zeit unter dem Einfluß der „Wellentheorie" und sieht sich durch Lorenz' Zustimmung bestätigt.151 Es ist von Bedeutung festzustellen, daß den Beteiligten ihre nationalen Ausritte nicht geschadet haben. Als Oscar Schmidt in den Tagen des Deutsch-Französischen Kriegs in der Grazer Tagespost ein wüst antiklerikales Feuilleton veröffentlicht, das nur mühsam deutsch-österreichisch/patriotisch gezügelt ist, folgt drei Tage später eine allerhöchste Gehaltserhöhung (auf 2200 Gulden 152 ); Ende 1868, nur wenige Monate nach seiner Ernennung zum Wiener Ordinarius (die auf Betreiben des damaligen Dekans Lorenz erfolgt war153) erhält Scherer wohl eine Rüge wegen seiner „sehr nationalen Toaste", „die fatales Aufsehen erregt" hätten; dennoch im März 1870 eine Gehaltsverdopplung154 - wenngleich auch sicher davon ausgegangen werden kann, „daß Scherers Zerwürfnisse mit Osterreich [...] in hohem Maße mit seiner überzogenen Lizitationsstrategie in Sachen Besoldung zu tun hatte[n]". 155 Man erwartete demgemäß im Wiener Ministerium, Scherer wolle sich mit seiner nationalen Agitation für eine deutsche Universität empfehlen. Billroth erhält 1869 bereits 4000 fl., fast das Doppelte des Üblichen.156 Diese Befunde sind umso paradoxer, als sich die österreichische Berufungspolitik schon bald nach der Universitätsreform 1848/49 darauf ver-

150 Vgl. Josef Nadler: Zur Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte. Versuche und Anfänge. In: Euphorion 21 (1914), S. 1-63, S. 59. 151 Singer: Heinzel, S. 219 f. 152 Oscar Schmidt: Die Römlinge und der österreichische Patriotismus. In: Tagespost (Graz), 27. 7. 1870. Schmidts vorheriges Gehalt (seit 1860 1890 fl. ohne Vorriickungsrecht) gehörte zu den höchsten der Fakultät. Berghofer: Zoologie in Graz, S. 68. 153 „Ich selbst halte mich ganz still, spreche mit keinem der Betheiligten und halte mich Fragenden gegenüber höchst reservirt, überlasse Alles an Lorenz." Scherer an Müllenhoff, 7. 6. 1868. Briefwechsel, S. 261. 154 Von etwas über 1800 auf 3400 fl., vgl. Scherer an Müllenhoff, 26. 2. 1870. Briefwechsel, S. 372. 155 Karl Müller: Vaterland Preußen - Heimat Osterreich: Wilhelm Scherers Beitrag zur österreichischen Literaturgeschichtsschreibung. In: Vormärz: Wendepunkt und Herausforderung. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Kulturpolitik in Österreich. Hgg. v. H. Schnedl-Bubenicek. Wien, Salzburg 1983, S. 121-144, S. 124. 156 Zu den Universitätsgehältern der Zeit vgl. Karl Lemayer: Die Verwaltung der österreichischen Hochschulen von 1868-1877. Im Auftrage des k. k. Ministers für Cultus und Unterricht. Wien 1878, S. 52 ff.

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stand, Österreicher ausländischen (also dann reichsdeutschen) Bewerbern vorzuziehen. Bereits 1861 verlangte das Ministerium, bei den Verhandlungen zur Nachfolge Weinholds (Graz) Inländer zu bevorzugen157; bei der Berufung Heinzeis (1873) von Graz nach Wien hatte Stremayr Bedenken gegen den erstgereihten Weinhold, weil dieser kein Österreicher sei; Erich Schmidt, später der repräsentative Germanist des deutschen Kaiserreichs in Berlin, wird von Minister Conrad v. Eybesfeld „als halbe[r] Oesterreicher" mit ,,große[r] Anhänglichkeit an Oesterreich" akzeptiert.158 Die widersprüchliche Berufungs- und Aufsichtspraxis der für die Universitäten zuständigen Behörden ist ein Effekt der widersprüchlichen Modernisierung des österreichischen Bildungswesens. Die Folgen der Restauration und des Konkordats in der Bildungspolitik erschienen als Ursache der „Katastrophe von Königgrätz"; die Legende vom preußischen Schulmeister, der 1866 gesiegt habe, spielte noch eine gewichtige Rolle in der Interpretation des Deutsch-Französischen Kriegs; Scherer selbst wies in seinen bildungspolitischen Interventionen mehrfach darauf hin. So war bald eine Situation entstanden, in der Scherer selbstbewußt mit dem Kurator der Universität Straßburg verhandeln und Forderungen nach einem „vergleichsweise allerdings sehr hohen" Gehalt stellen kann. 159 Scherer schwankt vor seinem Weggang aus Österreich, mitten in seinem Enthusiasmus über die französische Kriegserklärung: er möge diesen Staat nicht, ,,[a]ber alle anderen Rücksichten, die ich mir vergegenwärtigen kann, scheinen für Bleiben zu sprechen." 160 Während etwa Ferdinand Kürnberger mit Häme den Abgang eines Gelehrten aus Österreich stets als „Vertreibung" kommentiert 161 , hat man im Gegenteil meist versucht, diesen zu halten. Ging also unter liberalen Prämissen der Anspruch dahin, „die Vertretung der höchsten Probleme" der Wissenschaft in Österreich zu gewährleisten, 157 Vgl. Erich Leitner: Die Neuere deutsche Philologie an der Universität Graz 1851-1954. Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik in Osterreich. Graz 1973, S. 27. 158 Schmidt an Scherer, 16. 8. 1880. Briefwechsel, S. 146. 159 Scherer an Franz v. Roggenbach, 5. 1. 1872. In: W. Scherer, Elias v. Steinmeyer: Briefwechsel 1872-1886. In Verb, mit U. Pretzel hgg. v. H. Brunner u. J. Heibig. Göppingen 1982, S. 311. „Ich würde hier aus einem Wirkungskreise scheiden, dem nächst Berlin und Leipzig für mein Fach kein anderer gleich kommt." Ebd., S. 310. 160 Scherer an Müllenhoff, 16. 7. 1870. Briefwechsel, S. 399. 161 Vgl. Ferdinand Kürnberger: Kinder und Kindermärchen. (Neue Freie Presse, 25. 12. 1866.) In: F. K.: Gesammelte Werke. Hgg. v. O. E. Deutsch. Bd. 1: Siegelringe. Eine Sammlung politischer und kirchlicher Feuilletons. Neue wesentl. verm. Aufl. München,

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mußte man in Kauf nehmen, daß gerade die prestigereichen und weltanschaulich brisanten Forschungsrichtungen in ihren fuhrenden Vertretern bereits auf einem Komplex von Vorentscheidungen beruhten, die mit den politischen Bedingungen des multinationalen Kaiserstaats in Widerspruch standen; zumal gerade von den Wissenschaftlern aufgrund ihrer eigenen standesethischen und ideologischen Traditionen das Akzeptieren der in Osterreich erstmals erreichten Synchronisierung von politischem und ökonomischem Liberalismus 162 nicht ohne weiteres zu erwarten war. So polemisiert Scherer bei aller Anerkennung von Konkurrenz und Kampf als Triebkräften von Nationenbildung, Sprachgeschichte, Literaturgeschichte stets gegen das Marktprinzip, das er als Apotheose des Egoismus wahrnahm: „Der österreichische Staat [...] steht da wie ein noch in Vollzug befindliches Experiment, wodurch das Weltenschicksal die Folgen des Egoismus und die Nothwendigkeit des Gemeingeistes demonstriren will." „Wir aber in Oesterreich, wir liegen auf den Knien und beten an den Gott der materiellen Interessen. Mercurius, der Schutzpatron der Kaufleute und Industrieritter, das ist der Heilige, dem wir Altäre bauen." 163 Scherers Gedanke einer „nationalen Ethik" soll eine wissenschaftliche Beihilfe zur Nationwerdung sein, die erklärt, was man ist; daraus möge ein nationaler Wertekanon folgen, der durch die historische Entwicklung, die ein Fortschreiten zu immer ideelleren Motiven zeige, gedeckt sei. Die Wissenschaften seien in Österreich bloß ihrer „praktischen Verwerthbarkeit" wegen geschätzt. 164 Dieser Egoismus-Komplex, als dessen Alternative die Nation gesetzt wird, ist bei Scherer also auch daher verstehbar, als er die zugleich österreichisch-patriotische und ökonomische Aufbruchsstimmung nach 1866 nicht mitgemacht hat; um 1867 erlebt auch die Arbeit der Silesia eine schwere Krise, die sie Mitglieder an attraktivere, „patriotische" Vereine verlieren läßt. Die so entstehende Bunkerstimmung verstärkt den Zug zum „Idealen" und zum nationalen Pathos, zumal der ökonomische Egoismus der Liberalen mit der ,,nackte[n] Selbstsucht eines aufgeblasenen Nation-

Leipzig 1910, S. 316-320 über Lieben, Curtius, Schleicherund Weinhold. Über Rudolf v. Ihering F. K.: Von den sozialen Wirkungen des großen Wiener Börsensturzes (Gegenwart, 7. 11. 1874), ebd., S. 535-545, bes. S. 535 f. 162 Vgl. Herbert Matis: Sozioökonomische Aspekte. 163 Scherer: Vorträge und Aufsätze, S. 319 u. 318. 164 Scherer: Kleine Schriften, Bd. 1, S. 90.

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chens"165, der Tschechen, zusammengesehen wird. Die „aufgeblasenen Natiönchen" erscheinen als bloße Partikularinteressenten, denen die egoistischen Interessen der „Deutschen" in Osterreich haltlos ausgeliefert sind. Ernst Haeckel formuliert das österreichische Nationalitätenproblem später in einem Brief an den altgewordenen Liberalen Carneri in seiner Terminologie: „Physiologisch ist ja Ihr liebes Österreich sehr interessant, als ein zentripetaler Organismus, der sich aus lauter zentrifugalen Gliedern zusammensetzt!" 166 Der Vergleich der institutionellen Bedingungen von deutscher Philologie und Biologie als der nunmehr politisch brisantesten Naturwissenschaft ist deshalb von besonderem Interesse, da beide Disziplinen etwa gleichzeitig eine entscheidende Phase ihrer Professionalisierung und Institutionalisierung durchlaufen, gerade in Osterreich. Beide Disziplinen befinden sich in Emanzipation; die Germanistik als Scherer-Philologie hatte sich von der klassischen Philologie als dem Modell der deutschen abzusetzen, die Biologie von der Physik und den rein deskriptiven Disziplinen.167 Wenn es Zeichen einer „reifen" Wissenschaft ist, ein einheitliches Set von Methoden und Institutionen etabliert zu haben, das professionell tradiert wird, so galt das gleichermaßen für die deutsche Philologie (für die klassische ohnehin) der sechziger Jahre. Jene Philologen, die aber Scherers Neuorientierung nicht mitmachen, sondern weiterhin „klassische" deutsche Philologie als Editorik betreiben, haben bald das Gefühl, ihre Lebenszeit vertan zu haben. So resümiert Scherers Straßburger Kollege Elias v. Steinmeyer, Schüler Haupts und Müllenhoffs, der von sich sagt, ihm sei „der Gegenstand der Arbeit immer gleichgiltig gewesen" 168 und der sein Leben der Edition der altdeutschen Glossen gewidmet hat, 1918 an seinem 70. Geburtstag: „So fehlt meinem Leben die wahre Harmonie, welche mich mit Befriedigung auf die Vergangenheit zurückschauen ließe, und sehr oft 165 Scherer: Vorträge und Aufsätze, S. 319. 166 Haeckel an Carneri, 20. 12. 1898. In: Bartholomäus v. Carneri: Briefwechsel mit Ernst Haeckel und Friedrich Jodl. Hgg. v. M. Jodl. Leipzig 1922, S. 89. 167 So heißt Haeckels „Generelle Morphologie der Organismen" im Untertitel noch „Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie" (2 Bde., Berlin 1866). 168 An Edward Schröder, 12. 8. 1894. Bei Ulrich Pretzel: Der Germanist und Gelehrte. (Zur Erschließung des Briefnachlasses von Elias von Steinmeyer.) In: Erlanger Tagblatt, 16. 12. 1965, Beil., S. 1 f.

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möchte ich mit dem Dulder Hiob ausrufen: pereat dies, in qua natus sum." 169 Heinzel wieder kommt, an der Niederfränkischen Geschäftssprache arbeitend, auf den merkwürdigen „Gedanken eines philologisch statistischen Bureaus [...], worin dergleichen, aber auch andere Arbeiten aufgestellt würden. [...] Es ist ja wirklich unwürdig, mit welchen Beschäftigungen ich oft die Tage verbringe." 170 Die Allianz mit der nicht ganz so exakten Wissenschaft bot darüber hinaus noch den Vorteil, daß sie, obgleich aus England, insgesamt aus Westeuropa stammend, die Möglichkeit bot, dennoch als gleichsam autochthon verstanden zu werden. Rudolf Virchow reklamiert 1871 den „genetischen Gedanken" als den eigentlich deutschen Gedanken; nach Jutta Kolkenbrock-Netz fungierte ,,[i]n der deutschen Darwinismus-Rezeption [...] das genetische Prinzip als ein national-mythisches Schema, das Darwins Theorie freilich u m ihren eigentlich [wissenschaftsjrevolutionären Gehalt brachte, indem es erlaubte, sie als empirische Bestätigung naturphilosophischer Thesen zu lesen." 171 Gleichermaßen kontrastiert Haeckel der genetischen Methode den bloßen „Gedächtnisskram" der deskriptiven Methoden 172 ; solchen „Gedächtnisskram" läßt Scherers Literaturgeschichte rigoros verschwinden. Dieser Konnex von „deutsch" und „Methode" ermöglicht es Haeckel zugleich, in der Trias „Goethe-Lamarck-Darwin" eine gleichsam trilaterale Großmächtelösung herzustellen, gleichwohl mit immer stärkerer Tendenz zu Goethe. Es ist festzuhalten, daß auch die theoretische Biologie schon vor der geläufigen Wendung zu Rassismus, „Sozialdarwinismus" und Humananthropologie eine Deutung als „deutsche Wissenschaft" erfahren hat. Billroth bedauert (für andere Disziplinen) 1873: „Ich bin ein sehr fanatischer Germane, vielleicht sogar etwas germanischer Chauvinist; doch von einer

169 In: Scherer, Steinmeyer: Briefwechsel, S. 334. 170 Heinzel an Scherer, 6. 4. 1871. Singer: Heinzel, S. 275. „Die Wissenschaft ist gar nicht so schwer, wenn man nur gute Tabellen hat." (Heinzel ebd.) 171 Jutta Kolkenbrock-Netz: Wissenschaft als nationaler Mythos. Anmerkungen zur HaeckelVirchow-Kontroverse auf der 50. Jahresversammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in München (1877). In: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität. Hgg. v. J. Linku. W. Wülfing. Stuttgart 1991, S. 212-236, S. 223. 172 Ernst Haeckel: Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck. Vortrag in der ersten öffentlichen Sitzung der fünfundfünfzigsten Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Eisenach am 18. September 1882. Jena 1882, S. 53.

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selbständigen deutschen Naturwissenschaft, Medicin und Chirurgie können wir doch erst seit sehr kurzer Zeit reden." 173 Konzeptionen „deutscher Physik" und „deutscher Chemie" ließen bis in die 1930er Jahre auf sich warten, die „deutsche Chemie" übrigens gleichfalls in Rekurs auf Goethes Morphologie.174 Für Scherer ist die eigentlich deutsche Wissenschaft nicht trivialerweise die Germanistik, sondern aus systematisch-historischen Erwägungen die Sprachwissenschaft: „Keine andere Wissenschaft darf so sehr als eine eigenthümliche Schöpfung des deutschen Geistes gelten". 175 Die Neubewertung der Naturphilosophie muß Scherer nicht mitmachen, da in seinem Fach schon seinerzeit eine zukunftswirksamere Konkurrenz entstanden ist: ,,[W]ährend sich die meisten deutschen Naturforscher von den Dichtern und Metaphysikern verführen ließen, vorschnell Systeme bauten, an Worte glaubten, der Schule Newtons entliefen", legten, so Scherer, „die deutschen Philologen, Sprachforscher und Historiker den Grund zu einer neuen geschichtlichen und vergleichenden Methode, zu einer neuen Schärfe, Genauigkeit und Vollständigkeit der Beobachtung, zu einer neuen vorsichtigeren und gerechteren Kritik"176; hinreichend Legitimation für gleichberechtigtes Eintreten in die Erneuerung eines gemeinsamen Projekts. Ebenso nahe lag aber die Verlängerung der Ahnenreihe Darwins bis Herder: „Goethe und Herder erfaßten unzweifelhaft einen Theil der Naturanschauung, die für uns heute vorzugsweise an den Namen Darwins geknüpft ist."177 Konnte sich die Naturwissenschaft in ihrer Konstruktion von Einheit immerhin noch auf sogenannte „Naturtatsachen" berufen, löste die SchererGermanistik also das Problem ihrer Legitimation, indem sie als den Gegenstand ihrer Wissenschaft die sich realhistorisch zugleich konstituierende „deutsche Nation" bestimmte und somit schaffen half. Der Prozeß von Her-

173 Billroth an Georg Fischer, 11.1. 1873. Billroth: Briefe, S. 128 f. Billroth verschiebt dennoch seine nationale Pflicht vom Schlachtfeld auf die Universität: ,,[I]ch habe auch hier [Wien] für Deutschlands Wissenschaft zu kämpfen", schreibt er am 4. 1. 1871 an Fischer (ebd., S. 110) über seinen Kriegseinsatz im Elsaß. 174 Vgl. Steffen Richter: Die „Deutsche Physik" u. Martin Bechstedt: „Gestalthafte Atomlehre" - Zur „Deutschen Chemie" im NS-Staat, beide in: Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte des Dritten Reichs. Hgg. v. H. Mehrtens u. S. Richter. Frankfurt/M. 1980, S. 116-141 u. 142-165, bes. 153-160. 175 Scherer: Kleine Schriften, Bd. 1, S. 231. 176 Scherer: Kleine Schriften, Bd. 1, S. 8 (Rede auf Jacob Grimm, 1885). 177 Scherer: Geschichte der Litteratur, S. 532.

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ausbildung des Objekts der Wissenschaft und der Fortschritt der einschlägigen Wissenschaft selbst erscheinen synchronisiert; für den Forscher kann die Beförderung der Entwicklung des Objekts zum ethischen Auftrag werden. Der tendenzielle Universalismus der Naturwissenschaft, als solidarische Macht gesehen, wird benützt, indem aus bürgerlichen Sekundärtugenden, die die Wissenschaftlichkeit der Philologie ausgemacht hatten, universelle Werte werden, die zu Nationalcharakteren hypostasiert sind; so wird aus „Deutschland" die allgemeine Nation.178 Die Naturwissenschaft, zugleich Garant gesellschaftlicher Hoffnungen auf „Fortschritt", nahm dieselbe Begründung dankbar auf, um wieder ihr eigenes Problem der Objektkonstitution zu lösen. In Haeckels Darwin-Propaganda hat der Antiklerikalismus die Funktion, eine konkurrierende Bildungsmacht zu neutralisieren, die durch Beharren auf Transzendenz die Gegenstandskonstitution durch eine Immanenzlösung, die die Zuständigkeit der Wissenschaft ein für allemal besiegelt hätte, vereiteln könnte. Scherers Philologie andererseits hat ähnlich um ihren Gegenstand zu furchten (ein geläufiges Moment des späteren Kulturkampfes gegen den „Ultramontanismus"); aus österreichischer Perspektive erscheint der Gegensatz von prinzipiell universalistischer Kirche und Nation besonders verschärft, als die katholische Kirche wiederum als Zusammenhalt der Dynastie und damit des Vielvölkerstaates insgesamt figuriert, der wieder als nichts anderes als die Negation der deutschen Nation erscheinen muß. Dieses komplexe Verhältnis kettet jedenfalls ideologisch Naturwissenschaft und Philologie aneinander; derselbe Zusammenhang gilt umso mehr für das Verhältnis von Wissenschaft und Nation. Die Gründungsgestalt dieser Nation, Bismarck, begreifen beide als Teil ihrer Wissenschaft: Haeckel ernennt Bismarck in einem scherzhaften Toast für die Verdienste des „tiefblickenden Menschenkenners und Anthropologen, des weitschauenden Geschichtsforschers und Ethnologen, der als praktischer Geschichtsbildner auch 178 So löst Scherer für sich die Aporie, die sich in der nationalpolitischen Publizistik des Deutsch-Französischen Kriegs für die deutsche Seite ergeben hatte. Wie Michael Jeismann zeigt, waren „deutsches Recht", „deutsche Sitte", „deutsche Einheit" „eben partikulare nationale Ziele und Werte, durch die kein universeller Anspruch politisch glaubhaft gemacht werden konnte", ein ernsthaftes Problem im steigenden Legitimationsdruck der europäischen Öffentlichkeit. M . Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918. Stuttgart 1992, S. 275.

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die neue lebensfähige Existenzform für die deutsche Nation geschaffen", zum „ersten und grössten Doktor der Stammesgeschichte" und parallelisiert den Sieger von Königgrätz und den Reichsgründer mit sich selbst als dem Begründer der gleichzeitig entstandenen evolutionistischen Phylogenie179; bei Scherer wird Bismarck in einem Feuilleton der Reichsgründungszeit zum literarischen Autor der Politik und die „Emser Depesche" zum realistischen Kunstwerk.180 Dieses wechselseitige Stützungs- und Abhängigkeitsverhältnis mußte aus der Innenperspektive als allgemeiner Fortschritt bzw. Allianz der fortschrittlichen Kräfte erscheinen, die auf scheinbar verschiedenen Feldern dasselbe Projekt befördern; aus der Außenperspektive als Verschwörung (zu der die clanhafte Besetzungs- und Förderungspolitik einiges beitrug). Mit der gemeinsamen antiklerikalen Basis geht andererseits eine Sakralisierung der Wissenschaft einher, die über das bloße Pathos sogenannter „historischer Momente" hinausgeht. Haeckels monistische Privatreligion wird die gewonnene Einheit des „Weltbildes" gegen die Unbill der Reaktion, auch gegen den Fortschritt der Wissenschaften selbst zu immunisieren versuchen. Scherers sakrale Formulierung des nationalen Enthusiasmus als „sich in unserer Zeit am herrlichsten" enthüllende „beseligende Macht des Glaubens" an „Vaterland, Nation und Staat" nimmt diese Verteidigung bereits in den Gründungsakt: „Willst du dich aufopfern für einen Zweck, an dessen schließliche Verwirklichung du nicht glaubst? Wirst du einem Staate mit Begeisterung dein Leben weihen, der dir verfault scheint und reif zur Auflösung? Wirst du dich einer Wissenschaft, einer Kunst hingeben, deren Schöpfungen dir gleichgiltig vorkommen für die Erweiterung menschlichen Erkennens und menschlichen Empfindens? Du wirst vielmehr nur dann Großes erreichen, wenn dir die innere Weihe nicht fehlt, und damit begnadigt dich allein der Glaube." 181 Der „Glaube" erhält bei Scherer so systematische Qualitäten. Der faule Staat ist Osterreich 182 ; ,,[d]ie deutsche Philologie ist eine Tochter des nationalen Enthusiasmus". 183 179 Arnold Dodel[-Port]: Ernst Haeckel als Erzieher. Gera-Untermhaus [1906], S. 49. 180 Scherer: Kleine Schriften, Bd. 2, S. 215: Bismarck „verhält sich zu den gegebenen politischen Factoren wie ein realistischer Künstler zur Natur", erstm. in: Presse (Wien), 12. 4. 1871. 181 Scherer: Friedrich Schleiermacher, am 3. 9. 1870 in der „Presse". Vorträge und Aufsätze, S. 388. 182 Vgl. Scherer an Müllenhoff, 16. 7. 1870. Briefwechsel, S. 400. 183 Wilhelm Scherer: Wissenschaftliche Pflichten. Aus einer Vorlesung. [Eingerichtet v. E. Schmidt.] In: Euphorion 1 (1894), S. 1.

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Unter den besonderen Bedingungen des österreichischen Liberalismus zwischen 1867 und 1873 ergibt sich für den österreichischen Staat die paradoxe Situation, daß dieselbe Staatsmacht, den Schock von Königgrätz zu verarbeiten suchend, mit der „Wissenschaft" auch zugleich die „Nation" fordert. Das mag der Grund sein für die fast unglaubliche Nachsicht, mit der den deutschnationalen Agitationen Scherers (und Lorenz', Schmidts und Billroths) begegnet wird, der Grund für das außergewöhnliche Engagement, mit dem der Kultusminister Stremayr, seinerzeit der jüngste Abgeordnete der Paulskirche, den wild umstrittenen Haeckel nach Osterreich zu ziehen versucht. Daß Scherer, Oscar Schmidt und Haeckel wenig später nach Straßburg berufen werden, belegt nicht nur deren wissenschaftliche Qualifikation, sondern auch deren nationalpolitische Prominenz. Scherers Reform seiner Wissenschaft gliedert sich so ein in einen umfassenden Aktualisierungsprozeß von Geistes- und Naturwissenschaften; die beiden Bewegungen bleiben vergleichbar, weil in ihnen derselbe Umstrukturierungsbedarf mit außerwissenschaftlichen Mitteln, hier: dem nationalen Diskurs, verkoppelt wird.

N A T U R W I S S E N S C H A F T UND

ÖFFENTLICHKEIT

Ernst Haeckels Österreich-Bezüge sollen im folgenden noch weiter verfolgt werden. 184 Zur Überprüfung des Problemkomplexes von Personalisierung der Wissenschaft und Mystifizierung der Forschelpersönlichkeit als Produkt öffentlicher Wissenschaft eignet sich kaum eine Figur besser als Haeckel. Er genoß den Ruf, nicht nur einer der ersten, sondern auch der kompetenteste Vertreter Darwinscher Wissenschaft zu sein; im Zusammenhang mit seiner späteren „monistischen" Propaganda wurde er zum Darwinisten schlechthin. Zum Österreich-Bezug Haeckels sind reelle institutionelle Kontakte und die propagandistischen Bezüge zu unterscheiden, an denen dann die Struktur der Personalisierung von „Wissenschaft" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgewiesen werden soll. Haeckel verfolgte den Durchsetzungskonflikt des Darwinismus in Österreich mit Interesse. An Oscar Schmidt schreibt er 1867: „Ich hoffe daher auch, daß Sie unsere gemeinsame und erhabene Aufgabe nach eigenen Kräf-

184 Dazu auch Krauße: Ernst Haeckels Beziehungen zu österreichischen Gelehrten.

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ten möglichst fördern und verteidigen werden" 1 8 5 ; seine Ablehnung einer Berufung nach Wien hielt Haeckel nicht davon ab, auf die Berufungspolitik an österreichischen Hochschulen Einfluß zu nehmen. Erhält der Göttinger darwinistische Zoologe Karl Claus (den mit Haeckel eine eher persönlich, nicht primär fachlich motivierte Abneigung verband 186 ) nach Haeckels Ablehnung den Wiener Lehrstuhl für „Zoologie und vergleichende Anatomie" (Nachfolge Rudolf Kner), so erhält Haeckels „Schüler" 187 Berthold Hatschek 1896 die Nachfolge Claus'. Mit Bedauern teilt er Marie Eugenie delle Grazie mit: „Die fragliche Profeßur ist übrigens dieselbe, die ich vor 24 Jahren - nach langem Schwanken! - ausgeschlagen habe. Ich habe es oft bereut. Wie anders würde sich mein Leben und mein akademischer Erfolg gestaltet haben, wenn ich die verlockende Berufung ( - mit der Triester Station! - ) angenommen hätte!" 188 Carneri wieder bedauert nach dem Machtverlust des politischen Liberalismus in Osterreich: „Nur zu gut begreif ich es, daß Sie sich beglückwünschen, Jena nicht aufgegeben zu haben. Welch ein Unterschied zwischen jetzt und der Zeit, in der ein österreichischer Unterrichtsminister Sie nach Wien berufen wollte!" 189 Auf Empfehlung Haeckels geht der nach der Berufung Schmidts an die Reichsuniversität Straßburg vakante Grazer Lehrstuhl an Franz Eilhard Schulze (1873)190; Schulzes Berufung wird an die Errichtung jener „Triester Station", der (meeres-)zoologischen Station in Triest geknüpft, bezüglich derer schon von Karl Vogt und Oscar Schmidt Gespräche mit der Unterrichtsverwaltung geführt worden

185 Haeckel an 0 . Schmidt, 23. 5. 1867. In: E. H. Biographie in Briefen. Zusammengest. u. erl. v. G. Uschmann. Leipzig, Jena, Berlin 1983, S. 104. 186 Dazu am besten Lucille B. Ritvo: Darwin's Influence on Freud. A Tale of Two Sciences. New Häven, London 1990, S. 125-131. 187 In einem Brief Hatscheks an Haeckel, den dieser wieder Marie Eugenie delle Grazie übersendet und der sich in deren Nachlaß erhalten hat, heißt es, er habe „stets als Schüler zu Ihnen [Haeckel] aufgeblickt". „Ich hoffe in Wien etwas von Ihrem Geiste in der Zoologie zur Geltung zu bringen, und ich hoffe auch dass Sie durch meine weitere Thätigkeit mich würdig befinden, zu Ihren Schülern zu zählen." Hatschek an Haeckel, 21. 11. 1896, in Haeckel an delle Grazie, 25. 11. 1896. Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung (i. f. „WStLB" und Inventarnummer) 90.682. Ein direktes Engagement Haeckels für Hatschek soll nicht unterstellt werden. 188 Haeckel an delle Grazie, 25. 11. 1896. WStLB IN 90.682. 189 Carneri an Haeckel, 20. 5. 1897. Carneri, Haeckel, Jodl: Briefwechsel, S. 85. 190 Wurzbach: „F. E. Schulze".

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waren und die schließlich 1875 unter der Leitung Claus' eingerichtet wurde. 191 Als der Privatdozent Paul Kammerer sich noch 1918 an Haeckel wendet, um ihn um Fürsprache für die Verleihung einer Titularprofessur zu bitten, nicht für ihn persönlich, sondern um „der guten Sache unserer naturwissenschaftlichen Forschung und dem zukünftigen Ausbau der monistischen Weltanschauung einen Dienst zu erweisen" 192 , hofft er schon wenige Wochen später berichten zu können, „welchen Erfolg der hochherzige Schritt zeitigen wird, den Sie soeben bei Hofrat Hatschek und dadurch bei der Wiener Fakultät für mich getan haben. Tausend heißen Dank dafür!" 193 Von größerer Bedeutung als solche akademische Kabinettspolitik sind für den darzustellenden Zusammenhang die Beziehungen Haeckels zur österreichischen Presse und Öffentlichkeit. Immer wieder wenden sich Redakteure der liberalen Presse an Haeckel um Mitarbeit. 1895 versucht Hermann Bahr, Haeckel für Aufsätze und Rezensionen in der von ihm geleiteten Rundschauzeitschrift Die Zeit zu gewinnen 194 ; Theodor Hertzka will 1871 als junger Redakteur und Gründer der Pester Montagsblätter („Mein Zweck ist es für Verbreitung rationalistischer Ideen in Ungarn zu wirken und hat mich diese Absicht bei Gründung meines Blattes hauptsächlich geleitet") Haeckels Mitarbeiterschaft erreichen und führt als Referenz eine Zusage Karl Vogts an. 195 Als Hertzka, bereits Redakteur der volkswirtschaftlichen Abteilung der Neuen Freien Presse, wenige Jahre später mit der Redaktion des naturwissenschaftlichen Fachblattes eine neue Machtposition in der Publizistik erreicht, erneuert er seinen Wunsch in der Sprache konspirativer Geheimgesellschaften: ,,[M]eine Absicht dabei ist, den großen Leserkreis 191 Dazu Günther Schefbeck: Die österreichisch-ungarischen Tiefsee-Expeditionen 18901898. Graz 1991, S. 51-54. 192 Kammerer an Haeckel, 27. 3. 1918. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 5165 (i. O. unterstr.). 193 Kammerer an Haeckel, 14. 4. 1918. Emst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 3165. Kammerers Dank kam zu früh. Die Beratungen über die Verleihung des Titels zogen sich über ein Jahr hin und endeten schließlich mit einem negativen Votum. Vgl. hierzu im Detail Albrecht Hirschmüller: Paul Kammerer und die Vererbung erworbener Eigenschaften. In: Medizinhistorisches Journal 26 (1991), S. 26-77, S. 45-51. Kammerer wurde 1926 auf eine sogenannte „Rote Professur" an der Kommunistischen Akademie in Moskau berufen, beging jedoch im September desselben Jahres nach den Fälschungsvorwürfen in „Nature" Selbstmord. 194 Bahr an Haeckel, 8.4., 10. 9., 15.10.1895. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 274. 195 Hertzka an Haeckel, 6. 11. 1871. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 1903/2.

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dieses Fachblattes zu einer energischen Propaganda im Geiste monistischer Weltanschauung zu benützen. Wenn Ihre Zeit es irgend erlaubt, bitte ich Sie im Interesse der Sache, mir hie und da Beiträge aus Ihrer Feder zukommen zu lassen. Dieselben wären nicht nur durch dasjenige, was sie selbst enthalten, von Nutzen, sie wären überdies der Schild, hinter welchem geduckt die dem großen Lesepublikum noch ziemlich anstößige Descendenztheorie ihren Einzug in unser Blatt halten könnte. Vorübergehend wurde derselben allerdings schon früher in der N[euen] F[reien] Presse einiger Raum gegönnt; ich m u ß jedoch gestehen, daß ich die naturphilosophische Nutzanwendung für das wichtigere in einem Tageblatte halte - und diese zu ziehen, fehlte bisher der Mut." 196 Noch zur Jahrhundertwende gilt den Klerikalen die Neue Freie Presse als Zentralorgan des atheistischen Darwinismus. Der Besprechung von Haeckels Welträtseln widmet das Blatt 20 Spalten Text.197 Haeckels Beziehungen zur österreichischen (Wiener) Öffentlichkeit kulminieren in seinen Vorträgen, die er im März 1878 in der Wiener Concordia und im Wissenschaftlichen Klub hält, Zellseelen und Seelenzellen (22. 3.) und Ursprung und Entwicklung der Sinneswerkzeuge (25. 3.). Die Wiener Vorträge sind Teil eines Vortragsprogramms, das Haeckel - wie zuvor die Wissenschaftsmaterialisten - durch dreizehn Städte des deutschen Sprachraums führt, bis nach Triest. Der Concordia-Vortrag, so Haeckel rückblickend, „war der erfolgreichste, den ich in einem größeren Kreise je gehalten habe." 198 Das mag auch damit zusammenhängen, daß Haeckel in Wien in den Formen von Diplomatie und Staatsbesuch empfangen wird, die über die üblichen Huldigungsrituale weit hinausgehen: „Hier wurde ich von meinen Verehrern heute wahrhaft forstlich, empfangen und einlogiert, im Hotel Impérial, 1. Etage (die Möbel vergoldet und mit gelber Seide überzogen, alles andere von Marmorï). Ich wohne mit lauter Prinzen und Fürsten zusammen". 199 Das illustre Publikum wird durch den

196 Hertzka an Haeckel, 14. 7. 1873 [1873?]. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 1903/5. 197 Neue Freie Presse (Wien), 23. 1. u. 7. 2. 1900 (Hugo Spitzer). Dazu Franz Stauracz: Darwinistische „Haeckel"-eien - „Voraussetzungslose" Wissenschaft! Wien 1902, S. 88-90. Zur „Neuen Freien Presse" ebd., pass. 198 Haeckel an delle Grazie, 28. 10. 1896. WStLB IN 90.680. 199 E. Haeckel an A. Haeckel, 21. 5. 1878. In: Konrad Huschke: Ernst und Agnes Haeckel. Ein Briefwechsel. Jena 1950, S. 131.

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Kronprinzen Rudolf verstärkt, dessen Lebensplan aufs engste mit dem österreichischen liberalen Projekt verbunden ist.200 Seiner Ehefrau Agnes teilt Haeckel unter dem 25. März mit, „daß der schwierigste Teil meines Vortrags-Zyklus, der gestern abend in der ,Concordia' gehaltene Vortrag (11/2 Stunde lang, ganz frei), ausgezeichnet gelungen ist und ich lebhaftesten, dreimal wiederholten Beifall erntete. Das Publikum (800 Personen) umfaßte die ganze Crème der Wiener ,Hohen Gesellschaft' bis zum Kronprinzen hinauf (der zum ersten Male einen öffentlichen Vortrag besuchte!). Ich bin mit Huldigungen etc. dermaßen überschüttet worden, daß ich heidenfroh sein werde, wenn ich Wien im Rücken habe. Eben war u. a. eine Studenten-Deputation hier (drei Mann in weißer Halsbinde!)." 201 Für die Situation des Wiener Liberalismus in dieser Periode ist bezeichnend, daß Haeckels Vorträge unmittelbar vor den großen (national-)politischen Auseinandersetzungen auf akademischem Boden stattfinden. Vielleicht zum letzten Mal kann dieselbe Person von beiden großen Studentenverbänden als eine der ihren betrachtet werden. Im Juli 1878 ernennt der deutschnationale Leseverein der deutschen Studenten Wiens Haeckel zum „auswärtigen Mitglied" (neben Georg v. Schönerer), kurz vor seiner Auflösung wegen irredentistischer Positionen. Im Dezember 1879 lädt die Konkurrenz, der patriotische deutschliberale Deutsch-österreichische Leseverein der Wiener Hochschulen Haeckel als Ehrengast nach Wien und glaubt in Haeckel seinen Förderer erkennen zu dürfen. 202 An dieser Stelle läßt sich das Verhältnis von Öffentlichkeit und Naturwissenschaft, wenigstens für die in Frage stehenden Agenden, vorläufig zu-

200 Vgl. Brigitte Hamann: Rudolf. Kronprinz und Rebell. 5. Aufl. München 1991; zu Rudolfs Darwinismus S. 86-111, zu seiner ornithologischen Tätigkeit und seiner Freundschaft mit Alfred Brehm S. 112-134. Vgl. auch einen interessanten darwinisierenden Aufsatz des Fünfzehnjährigen mit dem Titel „Gedanken!" in: Kronprinz Rudolf: Private und politische Schriften. Hgg. v. Brigitte Hamann. 3. Aufl. Wien 1987, S. 392-402. 201 E. Haeckel an A. Haeckel, 23. 3. 1878. In: Huschke: Ernst und Agnes Haeckel, S. 131. 202 Leseverein der deutschen Studenten Wiens an Haeckel, 15. 7. 1878. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 2370/1 und Deutsch-österreichischer Leseverein der Wiener Hochschulen an Haeckel, Dezember 1879. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 1066/1. Der „Deutsch-österreichische Leseverein" wurde 1881/82 von den Deutschnationalen majorisiert und wurde 1882 aufgelöst. Vgl. Franz Gall: Alma Mater Rudolphina 1365-1965. Die Wiener Universität und ihre Studenten. Wien 1965, S. 181 f.

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sammenfassen: Haeckels Wirkung und ihr Produkt, der „Darwinismus", beruht auf einer spezifischen wechselseitigen Instrumentalisierung durch Publikumserwartung und Selbststilisierung. Als Voraussetzung dieses Prozesses muß jedoch die fachliche Konsekration als Naturforscher gelten. Haeckel war auch im wissenschaftlichen Betrieb der legitime Propagandist Darwins; diese Rolle eignete er sich durch Öffentlichkeitsarbeit an, wogegen sein Ruf als „exakter Forscher" eher aus den beschreibenden Monographien (wie zu den Radiolarien und der Auswertung der Challenger-Expedition), weniger aus den systematischen Werken ( Generelle Morphologie), schon gar nicht aus den „naturphilosophischen" und populären Arbeiten hervorging. Seine außerordentliche Professur in Jena erhielt Haeckel nicht trotz oder wegen seiner Darwin-Propaganda, sondern aufgrund einer beschreibenden Monographie über die Radiolarien (Berlin 1862), in der lediglich eine Anmerkung den Anhänger Darwins verriet.203 Ein ähnliches Legitimationsproblem stellte sich bei Darwin selbst, der vor der Publikation seiner Theorie eine Monographie der Rankenfüßer vorlegte. Hinzu kam, daß der Darwinismus im Normalbetrieb der Wissenschaft zunächst relativ wenig Bedeutung hatte. Oscar Schmidts Personalbibliographie enthält wenige Titel über Darwin, viele hingegen zu seinem Fachgebiet, den Kalkschwämmen. Im allgemeinen sind durch den Publikationskontext fachwissenschaftliche Arbeiten einerseits, andererseits Arbeiten, die von Wissenschaftlern verfaßt sind, der Promulgierung Darwins dienen und „Darwin" im Titel führen, einigermaßen genau unterscheidbar: Wissenschaftliche Arbeiten werden in den einschlägigen Fachorganen und in Monographien veröffentlicht, während Darwiniana in der Tagespresse, in Rundschauzeitschriften und als populäre Broschüren erscheinen. „Darwinismus" war solange Naturphilosophie, als er das Geschäft der Beschreibung nicht berührte und systematische Fragen einer experimentellen Entscheidung nicht zugänglich waren (was sich entscheidend erst mit der jungen Genetik zu ändern begann). Als Indizien für die relative Beschränkung darwinistischer Themen auf die außerwissenschaftliche Öffentlichkeit können auch die Lehrbücher gelten, die nach einer Bekehrung zu Darwin nicht verändert werden müssen. Die Grazer Theologiestudenten berufen sich gegen Oscar Schmidts Darwinismus auf dessen eigenes Lehrbuch; noch 1918 weist Oscar Hertwig auf die auffallige Erscheinung hin, „daß die

205 Dazu Erika Krauße: Ernst Haeckel. Leipzig 1984, S. 44 f.

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Lehren Darwin's in den Untersuchungen und in den zusammenfassenden Lehr- und Handbüchern der Physiologie, der Anatomie, der Entwicklungsgeschichte, der Gewebe- und Zellenlehre gar nicht zum Ausdruck und zur Geltung kommen." 204 Darwinistisches Engagement beeinflußte erst auf dem Umweg über die interessierte Öffentlichkeit (im Verein mit der langsamen - Konversion der scientific Community) die Einschätzungen der staatlichen Agenturen, die letztlich durch Berufungen auf Lehrstühle entschieden, welches „Paradigma" denn als das wissenschaftlich am weitesten fortgeschrittene zu gelten habe. Wenn das Verhältnis von „Wissenschaft" und (liberaler) „Öffentlichkeit" ein Verhältnis wechselseitiger Instrumentalisierung ist, dann haben die Naturwissenschaftler mindestens so sehr wie die Intellektuellen und die Zeitungen ein Interesse an einer aggressiven Polarisierung des Feldes der „Weltanschauung". Daraus erklärt sich Haeckels militante Rhetorik, das „ganze große Heerlager der Zoologen und Botaniker, der Paläontologen und Geologen, der Physiologen und Philosophen" sei „in zwei schroff gegenüberstehende Parteien gespalten". Durch Haeckels Kampfruf ,„Entwickelung und Fortschritt!1" gegen die zum guten Teil den Gegnern nur unterstellte Parole ,,„Schöpfimg und Species!'" wird ein Feld erst erzeugt und in einen Konfliktbereich eingeordnet, in dem sich der weitere Fortgang des Kampfes abspielen soll. Die Bedeutung Haeckels für diese Wende spricht ungewollt auch der nicht zuständige Hermann Bahr aus: Nach dem Erscheinen von Darwins Werk blieb das Buch „zunächst in der gelehrten Welt [...]; man merkte nichts. Erst als es [...] in Deutschland unter die jungen Leute geriet, begann seine Wirkung." „Und nun kam, drei Jahre später, jene Stettiner Versammlung und ihr erster Redner war Häckel [sie], jung und schön und hell, und dieser glühende, Jugend ausdampfende, wie der Morgen leuchtende Mensch sprach aus, was Darwin war. Da wußten alle, daß es hier nicht mehr um eine Frage der Gelehrsamkeit ging, sondern um die Menschheit selbst; die bisherige Menschheit war plötzlich in Frage. Und so brach es jetzt überall los, gegen die verruchten Ketzer, die sich vermessen wollten, Gott zu leugnen."205 Gegen den „Darwinismus" hatte Haeckel zunächst drei Gruppen gleichsam natürlicher Feinde ausgemacht: „Daß natürlich die ,Schule' darüber 204 Oscar Hertwig: Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus. Jena 1918, S. 24. 205 Hermann Bahr: Bücher der Natur. In: Die Neue Bundschau 20 (1909), S. 276-283, S. 276.

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[über seine Generelle Morphologie, 1866] sehr entrüstet sein würde, habe ich von vornherein erwartet und mache mir aus ihren boshaften Angriffen so wenig wie aus denjenigen der eigentlichen' Philosophen und der biederen Theologen."206 Im Interesse einer Frontbegradigung mußte Haeckel daran gelegen sein, die Konflikte fortan auf die „biederen Theologen" zu begrenzen. Selbst Sympathisanten Haeckels wie der Grazer Philosoph Hugo Spitzer finden Haeckels Katholikenhaß etwas einseitig.207 In einem Brief an die Schriftstellerin Marie Eugenie delle Grazie schreibt Haeckel vom ,,ewige[n] Kampf zwischen ,Heiligen und Menschen', zwischen jenseitigen' Dualisten und ,diesseitigen' Monisten, - zwischen dem jesuitischen ,Keplerbund' und dem naturalistischen ,Monistenbund'".208 Die Gegnerschaft der katholischen Kirche zum Darwinismus war jedoch keine so natürliche, als die sie die „Darwinisten" darzustellen versuchten. Es gab im Gegenteil immer wieder Versuche zur Synthese „darwinistischer" Theoreme mit der Bibel, wobei sich die Methoden der Textinterpretation als außerordentlich flexibel erwiesen. Doerpinghaus hat in einer Analyse wichtiger katholischer Medien detailliert die Geschichte der defensiven Interpretamente nachgezeichnet, die im Katholizismus entwickelt wurden, um am Tagesdiskurs noch teilnehmen zu können; Vermittlungsstrategien stießen dabei ebenso häufig auf die Grenzen der katholischen Hierarchie wie auf die Polemik der Darwinisten.209 Immerhin jedoch hält etwa Vinzenz Knauer als Gegner Vogts eine Evolution keineswegs für in dogmatischer Hinsicht problematisch (vielfach wurde bei derartigen Vermittlungen auf eine Augustinus-Stelle verwiesen).210 Ebenso kann, andererseits, der Direktor des Wiener Theresianums, Carl-Bartholomäus Heller, zur selben Zeit auf eine Historia revelationis divinae veteris Testamenti von Joseph Danko (Wien 1862) verweisen, in der eine ähnlich flexible Interpretation vertreten wird.211 Solche konzilianten Positionen wurden jedoch im Kulturkampf verdeckt; der Konflikt endet, wie an den Wiener naturforschenden Vereinen zu sehen sein wird, mit dem Rückzug der Kleriker aus der Naturwissenschaft. Dieser Rückzug wieder verengte die biologische Argumenta-

206 207 208 209 210 211

Haeckel an O. Schmidt, 23. 5. 1867. In: E. H. Biographie in Briefen, S. 104. So Stauracz: Darwinistische „Haeckel"-eien, pass. Haeckel an delle Grazie, 2. 2. 1909. WStLB IN 91.105. Doerpinghaus: Darwins Theorie. Knauer: Vogt und sein Auditorium, S. 12. Carl-Bartholomäus Heller: Darwin und der Darwinismus. Wien 1869, S. 15 f.

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tionsbasis der Katholiken soweit, daß ihre Publikationen bis auf weiteres nicht mehr zur Kenntnis genommen werden mußten. Es dauerte bis nach der Jahrhundertwende, daß sich ein katholischer Naturforscher (Erich Wasmann S. J.) auf eine direkte Konfrontation mit Haeckel bzw. seinen Schülern einließ.212 Der einzigartige Publikumserfolg der Evolutionstheorie ist jedoch auch darauf zurückzuführen, daß ihre Hauptwerke, Darwins Origin ofSpecies und The Descent ofMan (1871), einer vor professionellen Phase ihrer Wissenschaft entstammen. Denn die „Darwinsche Revolution" war die letzte „Revolution" in den Naturwissenschaften, deren Urheber nicht in einer professionellen Institution beschäftigt war, sondern als Gentleman-naturalist alter Prägung zurückgezogen seinen Forschungen als Privatgelehrter nachging und deren Hauptwerke in einer Sprache verfaßt waren, die ein durchschnittlich interessierter und gebildeter Zeitgenosse ohne größere Schwierigkeiten im Original zu lesen vermochte. Es gehört zu den Paradoxa des Wissenschaftsbetriebs, daß sich der institutionelle Erfolg (mindestens im deutschen Sprachraum) Werken wie Haeckels systematisierender Genereller Morphologie verdankt, die Darwin unlesbar fand213, während die Popularisierungen wie Haeckels Natürliche Schöpfungsgeschichte, Arnold DodelPorts Neuere Schöpfungsgeschichte, Ludwig Büchners Sechs Vorlesungen über die Darwinsche Theorie in Stillage und Aufbau viel enger an Darwins Original anschließen können. Daß in der qualifizierten Öffentlichkeit der „Darwinismus" als Naturund als Uberbauwissenschaft rezipiert und vertreten wurde, ist jedoch nicht nur ein Effekt der Entwicklungen im politisch-ideologischen Feld. Der unbestreitbare Statuszuwachs der Naturwissenschaften und der Technik im 19. Jahrhundert (jedoch bei anhaltendem schwachen Prestige der Techniker und einem hinhaltenden Widerstand durch die gymnasialen Lehrpläne) hätte nicht notwendigerweise dem Darwinismus einen Vorsprung an Glaubwürdigkeit verschaffen müssen. Denn dieser Statuszuwachs beruhte unmittelbar auf dem Veränderungspotential der Naturwissenschaften, die in das Alltagsleben der einzelnen - und immer mehr einzelner einzugreifen begannen. Wenn Kunstdünger und Eisenbahn die Agrarwirtschaft und den Transport revolutionierten, waren Erkenntnisse der Biologie von grundsätzlich anderem Format. Aufgrund der Theoriestruktur des 212 Doerpinghaus: Darwins Theorie, S. 68-76 u. 125 f. 213 Adrian Desmond u. James Moore: Darwin. München, Leipzig 1992, S. 611.

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Darwinismus, die - wie gesehen - mehr mit der Geschichtswissenschaft als mit der Physik der Epoche zu tun hatte, war Darwinismus Interpretationswissen, das lediglich am Ruhm naturwissenschaftlichen (und technischen) Veränderungswissens partizipierte. Diese Schräglage war von Anfang an ein Problem der darwinistischen Propaganda; Haeckel, der darüber sehr genau Bescheid wußte, versuchte daher, den Darwinismus (und damit die Biologie) als den Uberbau der Industrialisierung zu positionieren: „Wenn man unser Jahrhundert mit Recht das Zeitalter der Naturwissenschaften nennt, wenn man mit Stolz auf die unermeßlich bedeutenden Fortschritte in allen Zweigen derselben blickt, so pflegt man dabei gewöhnlich weniger an die Erweiterung unserer allgemeinen Naturerkenntniß, als vielmehr an die unmittelbar praktischen Erfolge jener Fortschritte zu denken. Mein erwägt dabei die völlige und unendlich folgenreiche Umgestaltung des menschlichen Verkehrs, welche durch das entwickelte Maschinenwesen, durch die Eisenbahnen, Dampfschiffe, Telegraphen und andere Erfindungen der Physik hervorgebracht worden ist. Oder man denkt an den ungeheuren Einfluß, welchen die Chemie in der Heilkunst, in der Landwirtschaft, in allen Künsten und Gewerben gewonnen hat. Wie hoch Sie aber auch diesen Einfluß der neueren Naturwissenschaft auf das praktische Leben anschlagen mögen, so muß derselbe, von einem höheren und allgemeineren Standpunkt aus gewürdigt, doch unbedingt hinter dem ungeheuren Einfluß zurückstehen, welchen die theoretischen Fortschritte der heutigen Naturwissenschaft auf die gesammte Erkenntniß des Menschen, auf seine ganze Weltanschauung und die Vervollkommnung seiner Bildung nothwendig gewinnen werden. Unter diesen theoretischen Fortschritten nimmt aber jedenfalls die von Darwin ausgebildete Theorie bei Weitem den höchsten Rang ein." 2 1 4 Am Gelingen dieser Operation war die liberale Öffentlichkeit entscheidend beteiligt, da ihr in den ideologischen Kämpfen gerade an Interpretationswissen gelegen war, das als umso stärker wirken mußte, je näher es an die unbestreitbaren zivilisatorischen und technischen Errungenschaften der Zeit gerückt werden konnte. Je weniger augenfällig die Resultate des Dar-

214 E. Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft. Berlin 1868, S. 2.

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winismus sein konnten, je folgenloser der Darwinismus war, desto stärker wurde von Professionellen und Laien auch der rein empirische Charakter der Evolutionsbiologie und Darwins Beobachtungen betont, als hätten diese zur Konstitution der Evolutionstheorie nicht seines ihm zugleich attestierten „Genies" bedurft. Im selben Zug verdichtete sich für die Laien Naturwissenschaft im „Darwinismus", der damit von einer problematischen, wenn auch gut belegten Theorie innerhalb einer institutionell schwachen Einzelwissenschaft zur Basis der „naturwissenschaftlichen Weltanschauung" avancierte. Seine rasche Akzeptanz ist in derselben Weise auf seine Ausweitung auf alle denkmöglichen wissenschaftlichen Themen zurückzufuhren; diese Ausweitung wurde von den „Darwinisten" selbst betrieben. Dieser sich selbst beschleunigende Prozeß führte schnell zu einer „darwinistischen" Soziologie, Ethnologie, Linguistik, Kosmologie und Erkenntnistheorie. Die narrativen Potenzen des „Darwinismus" wirkten gegen die „Bouvard-undPecuchität" (Roland Barthes 215 ) des Wissens, was wieder seinen Rang als Metatheorie befestigte. D e m Bewußtsein dieses Wechselspiels ist es zu danken, daß Haeckels Wiener Vorlesungen im Rahmen des Wiener Journalisten- und Schriftstellervereins Concordia stattfinden (im Bösendorfersaal, nach einer AlfredBrehm-Vorlesung, gefolgt von einem Moritz-Lazarus-Abend) und am Festabend der gefeierte Naturforscher der Presse die ihm gewidmeten Ovationen zurückerstattet: „Schon deshalb, weil Wien zu denjenigen Städten zählt, in denen die Lehre der fortschreitenden Entwicklung, für die wir kämpfen, vom Anfang an eine bereitwillige Aufnahme fand und mit offenerem Sinne verstanden wurde, als es namentlich bei uns im deutschen, und speziell in unserem norddeutschen Vaterlande der Fall ist." Dies deshalb, „weil die Wiener Presse sich in höherem Grade vom Anfang an der Entwicklungslehre angenommen hat. Ich habe ganz genau vom Anfang der Darwinschen Bewegung, also vom Jahre 1859 an, die verschiedenen Aeußerungen der Nicht-Fachgelehrten in der Presse verfolgt und erinnere mich sehr wohl, daß verschiedene von den größten Wiener Zeitungen es waren, die zum ersten Male es wagten, die so enorm folgenreiche und für Viele so fürchterliche Lehre, die in ihren Prinzipien die ganze Wissenschaft auf neue Bahnen leitet, zu würdigen, während die deutsche Presse furchtsam hinter dem Berge hielt." 216 215 Roland Barthes: Mythen des Alltags. [1957] 2. Aufl. Frankfurt/M. 1970, S. 122. 216 Neues Wiener Tagblatt, 26. 5. 1878.

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Nicht gering sind auch die Rituale zu veranschlagen, mit denen Haeckel (wie viele andere Forscher auch) von der Concordia bedacht wird. In diesen Ritualen werden nicht Zweifelnde überzeugt, noch weniger bloße Höflichkeiten ausgetauscht, sie signalisieren vielmehr, wer als Teil jenes Sozialzusammenhanges zugelassen ist, der die Kanonisierungen vornimmt. Den nach innen gerichteten Ritualen kommt deswegen nicht weniger Bedeutung zu als den öffentlichen Inszenierungen: „Vizepräsident Lecher dankte für die Concordia und toastirte auf die durch Haeckel vertretene Weltanschauung, worauf der Gefeierte abermals das Wort ergriff u n d auf die Wiener Hochschule toastirte. Nach Haeckel sprachen noch Herr Hofrath v. Hauer auf die ,Concordia', Herr Prof. Sueß auf den Wiener H u m o r u n d dessen Vertreter Weyl, Herr Dr. Jacques auf die Verbindung der Rechts- und Staatswissenschaften mit den Naturwissenschaften und Herr Prof. Benedikt auf Haeckel und die Naturforscher. U m das Amüsement des Abends machten sich das treffliche lustige Quartett des Wiener Männergesangsvereins, der eminente Zithervirtuose Herr Kleibel und der in seinem Genre noch i m m e r unerreichte Prof. H e r m a n n hochverdient." 217 Der Humorist Weyl sendet Haeckel auf dessen Aufforderung die beim Kneipabend vorgetragenen „Bänkelstrofen": „Ihr mich hoch erfreuendes Schreiben werde [ich] lebenslang als unschätzbares Autograf bewahren und mich stets dankbar der übergrossen Güte erinnern, womit ein so außerordentlicher Gelehrter die mikroskopischen Leistungen eines schlichten Hauspoeten der Concordia aufgenommen hat." 218 Aus der Sicht der interessierten Öffentlichkeit verschwindet jedoch dieser wesentliche eigene Anteil an der Kanonisierung. Im 19. Jahrhundert wird die wechselseitige Instrumentalisierung von Wissenschaft und Öffentlichkeit gegen „Gegner" in den Kategorien von großen Individuen, Helden, a fortiori „Geisteshelden" 2 1 9 vorgetragen. Wird in der Welt der Wissen-

217 Neues Wiener Tagblatt, 26. 3. 1878. Hervorhebungen weggelassen. 218 Josef Weyl an Haeckel, 51. 5. 1878. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1. 219 „Führende Geister", später „Geisteshelden" betitelt sich eine von dem Wiener Biographen Anton Bettelheim herausgegebene Reihe von Biographien, für die er Haeckel zur Abfassung des Darwin-Bandes bewegen will, nach Walther von der Vogelweide (A. E. Schönbach), Uhland (E. Schmidt), Shakespeare (A. Brandl), Hölderlin (A. Wilbrandt) u. a. Vgl. Bettelheim an Haeckel, 19. 10. 1890. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 408. Der Band wurde schließlich von Wilhelm Preyer verfaßt.

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schaft der Interpretationsanspruch Haeckels auf den Darwinismus durch Monographien legitimiert, erscheint in der Öffentlichkeit die Beziehung Darwin-Haeckel als genealogische Beglaubigung: Durch die Einladung der Concordia werde es ermöglicht, „die persönliche Bekanntschaft des ausgezeichneten Forschers zu machen, von dem ein Darwin in rückhaltslosester Achtung spricht." 220 Diese Mystifizierung der Forscher ist in doppelter Hinsicht ein Effekt der Strategien der Popularisierung. Erstens liefert die Sprache der Gegner die Kategorien und Topoi zur Thematisierung des Eigenen. So verdankt Haeckels Natürliche Schöpfungsgeschichte ihren Titel der Opposition gegen die biblische; so wird der Naturforscher zum „ I s i s p r i e s t e r " (wie das Stereotyp vom „Schleier der Isis" in der populärwissenschaftlichen Literatur, aber auch in der sympathisierenden Alltagsrede über Naturwissenschaft eine ungeheure Verbreitung erfahrt). Zweitens aber ergibt sich dieser Effekt der Mystifizierung der Forscher auch aus der Struktur von Popularisierung selbst. Denn die Wissenschaftler, wenn sie nicht als toastende Helden auf Banketten erscheinen, sind Agenten des von der Öffentlichkeit mystifizierten Wissens, das von ihnen als Wortspenden in eng definierten Formen zurückgegeben wird. Materiale Wissenschaft, d. h. Material, das zu lernen wäre, muß die ästhetische Form des demonstrativen L e r n e n s haben; Haeckel und Vogt treiben großen Aufwand mit Installationen, die ihre Vortragssäle zugleich in Foren und in naturgeschichtliche Kabinette verwandeln sollen. Demonstratives L e r n e n aber wertet wieder den Lehrer auf. So heißt es im „demokratischen" Neuen Wiener Tagblatt-. „ E s klang wie heller Hornruf vom M u n d e des Redners, der allein mit seiner Erscheinung die Herzen Aller gewann: eine schlanke Gestalt, mit einem prächtigen Denkerkopfe und ein e m Paar Augen darin voll Klugheit und zugleich Munterkeit, denen man es ansieht, wie tief sie den Dingen, die da sind und werden, ins Innere zu blicken verstehen. Haeckel ist ein ausgezeichneter Sprecher, seine hohe Stimme drang klar durch den ganzen Saal, und förderte die Form des Vortrages ungemein dessen Verständlichkeit. Es ging Keiner von dannen, und hätte er von all' d e m vorher nichts gewußt, der sich nicht sagte: Nun habe ich Etwas gelernt." 2 2 1

220 Neues Wiener Tagblatt, 23. 3. 1878. 221 Neues Wiener Tagblatt, 23. 3. 1878.

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Für den „Lehrer" enthält diese Mystifizierung eine hohes Maß an Überforderung, zumal sie in Gegensatz zum Selbstverständnis von Wissenschaft (nicht der Wissenschaftler) stand. Daß der Zoologe Claus in Wien keine überragende Rolle in der Darwin-Vermittlung spielte, lag nicht etwa am mangelnden Interesse, sondern, wie sein enttäuschter Wiener Student Houston Stewart Chamberlain vom Studienjahr 1889/90 berichtet, an seiner mangelnden Rednergabe. „Noch ein drittes Kolleg [neben den Botanikern Julius v. Wiesner und Richard v. Wettstein, W. M.] - und zwar für Hörer aller Fakultäten - belegte ich mit hochgespannten Erwartungen: Claus, der weltbekannte Zoolog - dessen Lehrbuch damals in Frankreich und in England ebenso maßgebende Geltung wie in Deutschland besaß - las einmal die Woche abends über Darwinismus! Beim ersten Vortrag war der Saal, wie bei diesem Titel vorauszusehen, überfüllt; viele mußten stehen; es mögen wohl an dreihundert Jünglinge gewesen sein, die gespannt auf Belehrung und Leitung harrten - eine umso interessantere Versammlung, als man nicht bloß Mediziner, sondern Philosophen, Philologen, Juristen usw. darunter bemerkte, also Menschen, von denen viele gerade hier den bestimmenden Eindruck über Inhalt, Ziel und Methoden der Naturwissenschaften erwarteten: wie hätte ein Karl Vogt in diesem Kreise gewirkt! Beim zweiten Vortrag waren wir sechzig; beim dritten sechs! [...] [I]ch studierte an seinem Vortrag das vollendete Muster der Art, wie man es nicht machen darf." 222 Claus' Mangel an Charisma ist vielfach bezeugt; daß er jedoch Charisma hätte haben sollen, ist nur durch seine exponierte Rolle als Fachvertreter des Darwinismus zu verstehen. Carl Bernhard Brühls Vorlesungen hingegen, die Freud zum Darwinismus brachten225, dürften jenes Maß an affektivem Bedürfnis befriedigt haben, das zur Aktualisierung des Darwinismus in seiner Offentlichkeitsform benötigt wurde. Friedrich Eckstein erinnert sich, daß „Jahre hindurch [...] mein Vater und meine Mutter die von Professor Brühl in der ,Alten Gewehrfabrik' gehaltenen Vorträge über vergleichende Anatomie und die Grundprobleme des Darwinismus besucht [haben] und

222 Houston Stewart Chamberlain: Lebenswege meines Denkens. München 1919, S. 118. Der Hinweis auf den Materialisten Vogt macht den Idealisten Chamberlain hier zu einem unverdächtigen Zeugen. 223 Zu Brühl und Freud als seinen Hörer vgl. die Recherchen von Wilhelm W. Hemecker: Vor Freud. Philosophiegeschichtliche Voraussetzungen der Psychoanalyse. München, Hamden, Wien 1991, S. 87-89.

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[...] wir Kinder an den Sonntagen immer wieder hungrig auf das Mittagessen warten mußten, bis die Eltern, ganz begeistert von den neuen Eindrücken, aus den Briihlschen Kursen heimkehrten." 224 Auch Brühl bringt das Geschäft des Popularisators mit dem des Priesters zusammen. In seinem Eintreten für Volksbildung und für eine Frühform der university extensions bezieht Brühl eine im Materialismusstreit nur scheinbar vermittelnde Position, indem er „alle Religion" für „eine Tochter der Naturforschung" erklärt und schließt, „dass Priesterthum und Naturwissenschaft sich nicht ausschliessende, sondern dass sie sich nothwendig erzeugende Stände sind, nämlich: das Priesterthum als der ideale Ausdruck der Früchte der Naturwissenschaft, nothwendig für diese; die Naturwissenschaft andererseits, als die unentbehrliche materielle Grundlage des Gedankengangs des Priesterthums, nothwendig für dieses."225 (Karl Vogts Auftreten und die hohen Eintrittspreise seiner Vorlesungen rufen hingegen mitunter Widerspruch hervor. 226 ) Am konsequentesten hat wieder Haeckel diesen Weg zu Ende beschritten, als er als Forscher zwei Wendungen vornahm: in die Kunst (Kunstformen der Natur, 1904 2 2 7 ) und in die „monistische" Religion. Der Erfolg des Darwinismus hat daher wenig mit einer Durchsetzung höherer Einsichten

224 Friedrich Eckstein: „Alte unnennbare Tage!" Erinnerungen aus siebzig Lehr- und Wanderjahren. [1936] Wien 1988, S. 20. 225 Carl Bernhard Brühl: Erste unentgeltliche Sonntagsvorlesung im Jahre 1868, geh. im k. k. zootomischen Institute der Wiener Universität am 19. Jänner. Universität und Volksbildung, Priesterthum und Naturwissenschalt. Wien 1868, S. 28. Für Brühls fünften anatomischen Vorlesungszyklus („das Herz und was es leistet") hatten sich nach seinen eigenen Angaben „weit über 700" Zuhörer angemeldet, darunter 260 Frauen. 226 „Professor Vogt hat sich [ . . . ] als Missionar vorgeführt [...]. Wahr ist's, die Priesterschaft läßt sich jeden Schritt theuer bezahlen, wo es nur i m m e r angehen mag, und endlich ist jeder Geschäftsmann vollkommen berechtigt, seine Thätigkeit feil zu bieten, mag die Waare nun kirchlicher Trost oder wissenschaftliche Aufklärung heißen. Doch ein gewisses M a ß von Selbstverleugnung und Uneigennützigkeit mag selbst nicht ohne geschäftlichen Vortheil sein." Dr. G[randjea]n: Vogt in Wien. In: Wanderer (Wien), 8. 12. 1869, S. 1. 227 Zur Naturästhetik und zur Wirkung Haeckels auf den Jugendstil vgl. Erika Krauße: Haeckel: Promorphologie und „evolutionistische" ästhetische Theorie. Konzept und Wirkung. In: Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, S. 347-394. Kurt Bayertz: Die Deszendenz des Schönen. Darwinisierende Ästhetik im Ausgang des 19. Jahrhunderts. In: Fin de siecle. Zu Naturwissenschaft und Literatur der Jahrhundertwende im deutsch-skandinavischen Kontext. Hgg. v. Klaus Bohnen u. a. München 1984, S. 88-110.

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in die Natur der Natur zu tun, sondern mit einer Reihe von Investitionen seines Publikums. In diesem Sinn hat der Theologe Knauer ein analytisch zutreffendes Urteil getroffen, wenn er in seinem Pamphlet gegen Vogts Vorlesungen resümiert: „Ein Mensch, wie Karl Vogt nämlich, wäre ohne diese Gattung Publikum geradezu unmöglich." 228 Knauer hat auch die Mechanismen der Zusammenarbeit mit der liberalen Presse korrekt beschrieben (wenn auch nicht aus Einsicht, sondern aus Antisemitismus).

D A S PUBLIKUM DES DARWINISMUS 1 8 7 6

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E I N E S T I C H P R O B E ZUR SOZIALSTRUKTUR

DER

DARWIN-BEGEISTERUNG

Wenn zur Konstitution der Offentlichkeitsform von Darwinismus die Mitarbeit des Publikums erforderlich war, soll ein Exkurs Gelegenheit bieten, einer abstrakten „liberalen Öffentlichkeit" ein konkreteres Profil zu verleihen. Als „Stichprobe" soll eine Namensliste herangezogen werden, die die Teilnehmer an einer Geburtstagsovation für den greisen Darwin von 1876 enthält. Die „deutsche Ehrengabe zu Darwin's 69. Geburtstage" geht auf eine Privatinitiative des Rechnungsrates Emil Rade aus Münster/Westfalen zurück, „eines schlichten Mannes, der weder Künstler noch Gelehrter, weder Doctor noch Professor, wohl aber begeisterter Anhänger derfreien Forschung ist". 2 2 9 Wie bereits dieser Selbstbeschreibung zu entnehmen ist, steht die „Ehrengabe" im Zeichen des „Kulturkampfes", der zwischen Februar 1875 und Juli 1876 seinen Höhepunkt erreicht; 1875 hatte Pius IX. die preußischen Kirchengesetze für ungültig erklärt, worauf Liberale und Verwaltung scharfe legistische Gegenmaßnahmen setzten. 230

228 Knauer: Vogt und sein Auditorium, S. 49 (i. 0 . gesperrt). Knauer löste mit antisemitischen Invektiven gegen ebendieses Auditorium Entrüstung aus. 229 E. Rade: Charles Darwin und seine deutschen Anhänger im Jahre 1876. Eine Geschichte der deutschen Ehrengabe zu Darwin's 69. Geburtstage. Straßburg 1877, S. 5. Diese Publikation scheint sehr selten zu sein; ein Exemplar hat sich in der Bibliothek des ErnstHaeckel-Hauses Jena erhalten. 230 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaltsgeschichte. Bd. 3: [...] 1849-1914. München 1995, S. 896.

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Rade wendet sich zur Legitimierung seines Unternehmens an Ernst Haeckel als den lautesten und schärfsten Darwinisten, der Rades Plan unterstützt, ein Album mit Photographien und Unterschriften seiner Anhänger an Darwin zu senden. Die Form dieser Gabe ist ein Zitat der ultramontanen Demonstrationsformen; im April 1869 etwa hatte eine Delegation des „Zentralkomitees der Katholischen Vereine Deutschlands" vier Prachtbände mit einer Viertelmillion Unterschriften als Ergebenheitsadresse nach Rom gebracht. 231 „Es ist schon an und für sich recht erfreulich," konstatiert Carl Müller in diesem Sinn in der Zeitschrift Die Natur, „dass ein solches Vorgehen von dem katholischen Münsterlande aus geschieht, und wenn man erwägt, wie viel es sich die Ultramontanen kosten Hessen, u m den römischen Papst durch eine Adresse mit Tausenden von Unterschriften zu erfreuen, so wird man schwerlich etwas dagegen haben können, wenn dem englischen Gegenpapste eine ähnliche Ovation gebracht wird." 232 Die geplante Demonstration der Darwinisten ist auch im Gegenkontext nicht Singulair; holländische Verehrer senden ein ebensolches - umfangreicheres, damit erfolgreicheres - Album an Darwin. 233 Rades Plan soll also eine Art Heerschau der Moderne werden; u m die Repräsentativität seines Albums sicherzustellen, geht er generalstabsmäßig vor: Nach der Einwilligung Haeckels schickt Rade mit 19. Juni 1876 über tausend lithographierte Einladungen zur Teilnahme an deutschsprachige Naturforscher und Schriftsteller ab, die im Ruf des Darwinismus stehen. Er benützt dafür die Bibliographie von Georg Seidlitz, die einen Uberblick über die Darwin-Literatur geliefert hatte 234 ; mehrere Exemplare werden an ca. 80 naturwissenschaftliche Verleger zur Verteilung an ihre Autoren versandt. In einem zweiten Schritt (und nachdem die ersten Bemühungen nur wenig Ergebnisse gezeitigt hatten) wendet er sich an die Militärärzte der preußischen Armee und die naturwissenschaftlichen Vereine; im ganzen wird mit etwa tausend Unterzeichnern gerechnet, zumal inzwischen durch Zeitschriftenbeiträge und Zeitungspolemiken Multiplikatoren im Spiel sind. Re231 Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 393. 232 Bei Rade: Darwin und seine Anhänger, S. 8 f. 233 CCD, Nr. 10831 (A. A. Bemmelen u. H. T. Veth); Darwins Dank Nr. 10841. Ebenso höflich bedankt Darwin sich bei Haeckel und Rade (CCD, Nr. 10847 u. 10849). 234 G. Seidlitz: Die Darwinsche Theorie. Dorpat 1871; später ders.: Zur Darwin-Literatur 1: Die bisherige literarische Bewegung in Deutschland (bis 1875 incl.). In: Kosmos 1 (1877), H. 1, S. 546-558; Zur Darwin-Literatur 2: Die bisherige literarische Bewegung in Deutschland (bis 1876 incl.). In: Kosmos 2 (1878), H. 4, S. 232-246.

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sümierend heißt es, „nach der Verbreitung, welche meine Einladung, mir selber unerwartet, gefunden hat, da dieselbe bis nach Constantinopel und Adrianopel, in die Steierischen [Konrad Deubler] und Schweizerischen Alpen [Arnold Dodel-Port], nach Italien und sogar bis zum Amur gedrungen ist, kann ich getrost annehmen, dass innerhalb Deutschlands Gränzen kein Naturforscher ohne Kenntniss von diesem Unternehmen geblieben ist." 235 Das Ergebnis war dennoch für Rade enttäuschend. Das Album wird schließlich mit 187 Photographien an Darwin gesandt, der unter dem 16. Februar 1877 den Empfang dankend quittiert. Daß die Beteiligung unter den Erwartungen lag, kann auf mehrere Gründe zurückgeführt werden. Rade nennt als mögliche Erklärung die relative Armut des Gelehrtenstandes in Deutschland; mindestens ebenso hoch kann aber auch die Zurückhaltung von Universitätslehrern veranschlagt werden, die sich in der heißesten Phase des Kulturkampfes nicht unnötig exponieren wollten, zumal für Katholiken in der aktuellen Frontstellung eine Demonstration für Darwin einen offenen Bruch der Gruppenloyalität bedeutet hätte. Rade tadelt ferner die Lauheit der deutschen Darwinisten; umgekehrt kann angenommen werden, daß die emphatische Präsentation des Anliegens und das Pathos der „Ehrengabe" mit den Normen der scientific Community konfligierte, die Idealen kühler Objektivität verpflichtet war und keineswegs mehrheitlich die Umgangsformen eines Haeckel billigte, der den Darwinismus und die evolutionistische Biologie als „ecclesia militans" zu organisieren versuchte. So mag für die geringe Resonanz auch das fehlende fachwissenschaftliche Kapital des Urhebers der Aktion, eines dilettierenden Laien verantwortlich sein, der an Referenzen gerade vorbringen konnte, als „Rendant der zoologischen Section des Westfälischen Provincialvereins für Wissenschaft und Kunst" zu fungieren. (Auch Haeckel büßte später an Anerkennung unter den Biologen ein, was er im großen Publikum an Profil gewann.) Die Pathosformeln einer naturwissenschaftlichen Gegenkirche begleiten den „Darwinismus" seit seinem Durchsetzungskonflikt, jedenfalls nicht erst seit den Anfangen der „monistischen" Bewegung (nach 1892, Gründung 1906). In der Form eines allegorischen Thesenblattes geht dieses Pathos in die Gestaltung des Albums ein. Die Passage soll in extenso zitiert werden, da in der Ikonographie des „Darwin-Albums" das komplette Inventar von

235 Rade: Darwin und seine Anhänger, S. 27.

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Sprach- und Bildmetaphern vereinigt ist, wie es den Darwinisten zur Verfügung steht (wenn sie das Feld der engeren Wissenschaft verlassen): „Es ist 50 Cm. hoch und 43 Cm. breit, der Deckel, von dunkelblauem Sammt, mit reichem Beschlag in Silber und Gold; das Mittelschild, silbergefasstes braunes Sammtkissen mit dem Namen Darwin in goldenen Buchstaben, ist mit einem Lorbeerkranz umgeben, der oben die Zahl 1808, das Geburtsjahr Darwin's, unten die Jahreszahl 1877 trägt, die vier Eckschilder in reicher, durchbrochener Arbeit. [...] Das Titelblatt, [...] von Herrn A[rthur] Fitger in minutiöser Feinheit durchgeführt, stellt einen hohen goldenen Bogen dar; auf ihm gelagert zwei Jünglinge mit Stäben in der Hand, an denen je ein Schild und Bänder herabhängen mit den Inschriften: Anpassung, Vererbung, Zuchtwahl, Kampf ums Dasein u. s. w. In der Höhe des Bogens mit kunstvoll ausgeführten Buchstaben: Dem Reformator der Naturgeschichte Charles Darwin; darunter auf einem Steinblock mit der Inschrift: Rerum cognoscere causas, eine schöne weibliche Figur, ein aufgeschlagenes Buch auf den Knieen, als Sinnbild der suchenden und forschenden Wissenschaft, neben ihr ein aufrecht stehender nackter Knabe mit weithin leuchtender Fackel. Rechts und links daneben, ausserhalb des Bogens, zwei finstere weibliche Figuren mit Fledermausflügeln und gefesselt: Mythos und Dogma, über ihnen in goldenen Medaillons Kant und Goethe als die grossen Vorläufer Darwin's. Unter der Mittelgestalt, im Fuss des Bogens befindet sich die Copie des bereits geborstenen und kaum noch erkenntlichen Gemäldes von Michel Angelo in der Sixtina: die Erschaffung Adams. Das Ganze in gold, grün und blauer Farbe, nur die, überwundene Standpuncte bezeichnenden Figuren in grau und braun gehalten."256 Die Teilnahme an der Ehrengabe ist sicher nicht als repräsentativ im statistischen Sinn zu werten, durchaus repräsentativ jedoch in der Authentizität der Emphase. Sie mißt die Bereitschaft zur affektiven Verbindung mit einem personifizierten Konzept von „Fortschritt" und „Entwicklung", demgegenüber die tatsächlichen Inhalte der Lehre zu Akzidenzien herabsinken; anders wäre die ikonographische Spannung zwischen ,zwei Jünglingsgestalten' auf,hohem goldenen Bogen', die zugleich Spruchbänder mit den Mottos „Zuchtwahl" und „Kampf ums Dasein" zu tragen haben, nicht erträglich gewesen.

236 Rade: Darwin und seine Anhänger, S. 29.

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Die Ehrengabe setzt den zu Ehrenden einer Form der Idolatrie aus, die der Geehrte, der historische Darwin, nicht nur aus Bescheidenheit nicht teilte; sie spiegelt auch die Verkehrsform gänzlich anderer als wissenschaftlicher Konflikte auf deren vermeintlichen Helden zurück. So bleibt der merkwürdige Umstand zu beobachten, daß jene Allegoriensprache, mit denen der ,Kampf um die wissenschaftliche Weltanschauung' öffentlich ausgefochten wurde, hier in einem kumulativen Geburtstagswunsch angewandt wird, den nur Darwin selbst zu sehen bekommen sollte. Daher liegt der Wert der Gabe in ihrem Wert für die Gebenden; durch das Unternehmen sollten die „Anhänger" zusammengebracht werden. Zum bescheidenen Erfolg erklärt Rade: „Die gegnerische Presse aber möge bei einem Vergleiche zwischen der Anzahl von Pabstadressenzeichnern und der Zahl der für unser Album eingegangenen Photographien nicht übersehen, dass wir die Blüthe der deutschen Forscher und Denker auf unserer Seite haben". 237 Diese Annahme ist jedoch - über den unmittelbaren Anlaß hinaus - nur dann plausibel, wenn das Feld der „Wissenschaft" zwar bereits hinreichende Differenzierungen erfahren hat, aber die Trennung von Fachleuten und Laien noch nicht so kategorial geworden ist, daß beide Gruppen nicht noch in einer gemeinsamen „Anhängerschaft" versammelt werden könnten. Man darf annehmen, daß - da die Initiative zu einer solchen Sammlung von einem Laien ausging - eine solche Zusammenfassung im Interesse der Laien, aber auch im Interesse der Professionellen gelegen haben muß. Versicherten sich die Dilettanten durch die Mitwirkung der Professionellen ihrer eigenen „Wissenschaftlichkeit" (wenn auch nur der ihrer Weltanschauung'), muß den Professionellen an der Dokumentation ihrer Außenwirkung gelegen haben. So finden sich in der Buchbindersynthese des „Alb u m s " Ernst Haeckel, Alexander Braun und Hermann Helmholtz neben dem Badearzt Wurm (Bad Teinach/Schwarzwald), dem Afrikareisenden Rohlfs (Weimar) und dem Philosophen Eduard v. Hartmann (Berlin). Für die Außenwirkung des Darwinismus ist die Liste der Teilnehmer also umso interessanter, als sie ein Feld emphatischer Wissenschaftsbegeisterung abbildet, das in einer historisch sehr spezifischen Einheit die Koalition von Fachwissenschaft und gebildetem Laientum als „Kämpfer" vorstellt; diese Koalition ist für Proliferation und Durchsetzung des Darwinismus in der Öffentlichkeit grundlegend.

257 Rade: Darwin und seine Anhänger, S. 28.

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Das Korpus der österreichischen Unterzeichner dieser Grußadresse soll im folgenden genauer betrachtet werden. „Österreicher" seien Unterzeichner, die als Wohnort einen Ort im Gebiet der österreichisch-ungarischen Monarchie angegeben haben; da die „deutschen" Anhänger versammelt werden sollten, wurden nur Personen deutscher Muttersprache zur Teilnahme eingeladen. D i e Angaben in Rades Broschüre wurden hierfür, soweit der Rechercheaufwand zu vertreten war, ergänzt. 238 Aus einer Gesamtheit von 150 bzw. 176 (mit einem Gruppenfoto von 26 von Haeckels Jenaer Studenten und Nachsendungen) Unterzeichnern gaben die folgenden 41 einen österreichischen Wohnort an (Schreibung nach Rade, S. 55-40; in dieser Form - mit Einzelwidmungen - sind die Bilder an Darwin abgegangen, korrigierte und ergänzte Angaben in „[]"). Wien: „Blatt 6: Heinrich Wolf [1825-1882], k. k. Bergrath; Dr. Friedlich] Brauer [1852-1904], Professor der Zoologie a. d. Universität, Custos a. d. k. k. Hofcabinet; Dr. Ferdinand] von Hochstetter [1829-1884], Professor [für Geologie und Mineralogie am Polytechnischen Institut] und k. k. Hofrath; Karl B. Heller [1824-1880], Professor a. d. Theresian[ischen]-Akademie; Dr. Emil von Marenzeller [1845-1918], Custos a. d. k. k. zoolog. Hofcabinet; M[atthias] Pablasek [1810-1885], Director d. k. k. Blinden-Erziehungs-Instituts; Fr[anz] Bartch [Bartsch], Ausschussraths d. zool. bot. Gesellschaft; A. Grunow [1826-1914] zu Bendorf [Berndorf] bei Wien." „Blatt 7. Brunner v. Wattenwyl [1825-1914]; Jul. v. Bergenstamm [1858-1898], Ausschussrath d. k. k. zool.-bot. Gesellschaft; Dr. Franz Donen, Geolog - Mit herzlichem Glückauf! J. Nussbaumer, Präses des akad. Vereins der Naturhistoriker; Alois F. Rogenhofer [1851-1897], erster Secretär d. k. k. zool.bot. Gesellschaft; L. H. Jeittelles [d. i. Ludwig Heinrich Jeitteles, 1850-1885], Professor a. d. k. k. Lehrerinnen-Bildungs-Anstalt; Carlos Baron Gagern; Dr. Gerson Wolf [1825-1892], Professor a. d. k. k. Oberrealschule - An Charles Darwin Esqu. / Will man Dich preisen so ist das beste - Schweigen. Dr. Oscar Berg-

258 Benützt wurden neben den gängigen Biographika (ÖBL, ADB, Kürschner, Eisenberg, BJ, Wurzbach) das Hof- und Staatshandbuch, der k. k. Militärschematismus; ferner Mitgliederlisten (Selbstangaben der Berufe) von: Anthropologische Gesellschaft Wien, Verein zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse (Wien) und deren Jahrbücher (Nekrologie), Wissenschaftlicher Klub, Wien, k. k. Zoologisch-botanische Gesellschaft Wien, Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien u. a. Ich danke der Redaktion des ÖBL für die Genehmigung zur Einsichtnahme in ihre Datei.

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gruen, Schriftsteller, Stifter des Wissenschaftlichen Club - Dem Erforscher und Bekenner der Wahrheit, Charles Darwin, zu seinem Geburtsfeste in freudiger Verehrung." „Blatt 8: Francis Rnight of le Monnier [d. i. Franz Ritter v., 1854-1921] Librarian of the Vienna geogr. Society; F. G. Hofmann, Conseiler d'economie [„Wirtschaftsrat"]; Victor Vicomte d'Equevilley [d. i. Esqueviliey], kaiserl. mexican. Major a. D., Gutsbesitzer; Dr. Neumayr [d. i. Melchior Neumayer, 1845-1890], Professor der Palaeontologie a. d. Universität [Wien]; Baron Hoblhoff [d. i. Josef v. Doblhoff-Dier, 1844-1928], Secretary of the scientific Club - A sign of unalterable admiration. Joh. Pichler, Professor a. d. Realschule; Jos. Kaufmann, Mitglied der zoolog.-botan. Gesellschaft; Dr. Heinr. Wilh. Reichardt [1853-1885], Universitäts-Professor und Custos am bot. Hof-Museum; Franz Groeger, Rentner [Rentier]; J[oseph] Hausner, Major - Als Verehrer Darwins." „Blatt 11: Franz Eilhard Schulze [1840-1921], Zoologe in Graz; [...] Barthol. v. Carneri [1821-1909] zu Wildhaus in Steiermark; [...] Stephan Milow (Milnowicz) [d. i. Millenkowitsch, 1856-1915] zu Graz in Steiermark; Conrad Deubler [1814-1884] zu Goisem [Bad Goisern] in Steiermark; [...] Emerich du Mont [1846-?] zu Graz in Steiermark. [...]" „Blatt 19. Dr. [Augustin] Weisbach [1837-1914], Regimentsarzt im k. k. österr.-ung. National-Hospital zu Constantinopel; [...] [D]r. Carl Friedrich Dittrich [1843-1885], Professor am Gymnasium zu Brünn; [•••]" „Blatt 20. Advocat Dr. Jos. Bon. Holzinger [1835-1912?] in Graz; Dem grossen Erforscher wissenschaftlicher Wahrheit in treuer aufrichtiger Verehrung und als Zeichen seiner Dankbarkeit gewidmet von Karl Küffner, in Dioszegh, Ungarn, Pressburger Comitat; [...] Hugo Lanner, suppl. Lehrer am k. k. deutschen Gymnasium zu Brünn; [...] Georg Anton Guldan, aus Hochsumlowitz in Böhmen; Dr. Julius Wiesner [1838-1916], Professor der Pflanzen-Physiologie an der Universität zu Wien; Friedrich Adler [1857-1938], Jurist in Prag - Derselbe hat eine Anzahl seiner Gedichte Charles Darwin gewidmet und zur Mitsendung an den Gefeierten eingesandt. [...] Dr. med. Herrn. Krauss, Assistent am k. k. Zoolog. Hofkabinet zu Wien."

Zunächst ist im Verhältnis zur Gesamtheit der Unterzeichner eine starke Überrepräsentation der Österreicher festzustellen. Verhält sich die Bevölkerung des Deutschen Reiches um diese Zeit (1880) zur deutschen Nationalität in Osterreich (Cisleithanien) wie 5,6 : 1, beträgt dagegen das Verhältnis der „deutschen" zu den „österreichischen" Teilnehmern nur 5,5 : 1. Mit 28 Teilnehmern ist Wien auch der weitaus am stärksten vertretene Standort

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(Berlin: 13, Stuttgart: 10 usf., eine Ausnahme bildet nur Haeckels „Hochburg" Jena: 31, darunter aber 26 seiner Studenten). Als Gründe für diese Uberrepräsentation kommen in Betracht, daß die Polarisierung im „Kulturkampf" in Österreich nicht durch eine innere konfessionelle Spaltung überlagert war; die Bildungseliten standen zum Großteil geschlossen im „liberalen" Lager. Zweitens wurde in Wien durch Marenzeller und DoblhofF die Vereinsinfrastruktur der Zoologisch-botanischen

Gesellschaft

des 1876

neu konstituierten Wissenschaftlichen Klubs mobilisiert. Jedenfalls kann diese Uberrepräsentation die leicht zu belegende Vermutung bereits der Zeitgenossen stützen, daß der Darwinismus gerade in Österreich besonders zahlreiche „Anhänger" fand. Nach ihrer Altersstruktur kann die Gruppe der Unterzeichner wie folgt differenziert werden. Bei 26 von 41 Teilnehmern konnten sichere Geburtsdaten eruiert werden, bei weiteren fünf können sie nach Berufsangaben (z. B. Student, Supplent: unter 31 Jahre) oder ungefähren Pensionierungsjahren239 geschätzt werden. Von diesen 31 Personen waren zum Zeitpunkt der Ovation zwei älter als 60 Jahre, eine jünger als 20 Jahre; zwischen 20 und 30 Jahre alt sechs (19%), zwischen 30 und 40 Jahre zehn (32%), zwischen 40 und 50 Jahre und zwischen 50 und 60 Jahre alt jeweils sechs (19%) Personen. Die Extremwerte entfallen bezeichnenderweise nicht auf professionelle Naturforscher, sondern auf Laien (auf F. Adler als jungen Lyriker und Studenten der Rechte, den „Bauernphilosophen" Deubler und den Direktor des Blindeninstituts Matthias Pablasek). Für statistische Signifikanz ist das Korpus freilich zu klein; dennoch ist das relativ hohe Alter der Gruppe auffallig, was auch auf einen hohen Grad an Etabliertheit der Gruppe schließen läßt; mindestens 22 von 41 „Darwinisten" befanden sich 1876 im Staatsdienst (Bildungswesen, Militär, Verwaltung), z. T. in recht hohen Positionen. Etwa ein Drittel der Unterzeichner ist zudem im noch im Erscheinen begriffenen Osterreichischen Biographischen Lexikon enthalten, wurde also von dessen Redaktion als „bedeutend" eingestuft. Mehr als ein Fünftel der Unterzeichner führt 1876 (niedere) Adelsprädikate; 16 von 41 haben promoviert (39%).

259 Pensionierungsjahre können etwa nach Ordensverleihungen geschätzt werden. Man erhielt im Staatsdienst zur Pensionierung häufig die Eiserne Krone 3. Klasse, wie Bartsch 1898 als pensionierter Hofrat, Joseph Hausner 1894 als Generalmajor, Lanner 1917 als Realschuldirektor und Regierungsrat.

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Nach ihrer institutionellen Verankerung kann die Gruppe der Unterzeichner in „Professionelle" und „Laien" getrennt werden, wobei als „Professionelle" Personen mit professionellem naturwissenschaftlichem Brotberuf verstanden werden, die entweder an den Universitäten oder an Hofinstituten 240 beschäftigt sind; das trifft auf elf Unterzeichner zu. 30 Unterzeichner, also rund drei Viertel der Gesamtheit wären somit (institutionell) als „Laien" zu bezeichnen; davon befinden sich sieben im Schuldienst (Gymnasien, Realschulen, Pädagogium, Blindeninstitut), vier sind Juristen, vier Militärs oder Ex-Militärs, vier „Private". Es ist aber für den Stand der „Biologie" zu diesem Zeitpunkt sehr bezeichnend, daß Laientum keineswegs naturwissenschaftliche Tätigkeit ausschließt. Die einschlägige Forschungstätigkeit der Laien soll mit Hilfe einer (zeitgenössischen) österreichischen Fachgeschichte festgestellt werden, die zum 50. Gründungsjubiläum der Wiener Zoologisch-botanischen Gesellschaft erschien und in verschiedenen Gliederungen ein genaues Bild auch von dieser Laientätigkeit liefert.241 Auch die Arbeiten, die in den Schulprogrammen der Gymnasien erschienen sind, werden in dieser Fachgeschichte bibliographiert, verbunden mit dem Versuch einer Ehrenrettung; im Erscheinungsjahr 1901 ist das Fach hinreichend professionalisiert, sodaß die Schulprogramme bereits als ,forgotten lore' gelten. Acht von 30 „Laien" werden hier mit Arbeiten zitiert: Bergenstamm, Grunow, Heller, Holzinger, Jeitteles, Kaufmann, Lanner, Pichler. An diesen forschenden „Laien" lassen sich einige Typen erkennen, die für die Epoche charakteristisch erscheinen. Die Lehrer Heller, Jeitteles, Lanner und Pichler publizieren vorwiegend in Schulprogrammen, Jeitteles darüber hinaus in regionalen und internationalen Fachorganen der Öffentlichkeit der naturforschenden Vereine (den Verhandlungen des Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse, den Verhandlungen der Zoologisch-botanischen Gesellschaß, aber auch der Zeitschrift für österreichische Realschulen). Der Privatgelehrte Bergenstamm und der Industriechemiker Grunow (an 240 „Professionelle Institutionen" seien (neben den Universitäten) in Wien: k. k. naturhistorisches Hof-Museum; Zoologisches, Mineralogisches, Botanisches, Physikalisch-astronomisches Hof-Cabinet; Geologische Reichsanstalt; Centrai-Anstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus, Polytechnisches Institut. 241 Botanik und Zoologie in Österreich in den Jahren 1850 bis 1900. Hgg. v. d. k. k. zoologisch-botanischen Gesellschaft in Wien, anläßlich der Feier ihres fünfzigjährigen Bestandes. Wien 1901. Zur „Zoologisch-botanischen Gesellschaft" vgl. auch Ludwig v. Lorenz in: Österreichisch-Ungarische Revue N. F. 3 (1887), S. 372-377.

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der „Krupp'schen Metallwaarenfabrik") nehmen beide an der wissenschaftlichen Fachöffentlichkeit im engeren Sinn teil und publizieren in deren Organen; sie wirken an Monographien (wie den Auswertungen der Novara-Expedition) mit und hinterlassen dem Naturhistorischen Museum in Wien umfangreiche Spezialsammlungen. Als Amateure im engeren Sinn wären der Advokat und Journalist Holzinger und der Kassierer Kaufmann zu bezeichnen. Holzinger widmet sich den Flechten und Algen Niederösterreichs und der Steiermark, publiziert für die Zoologisch-botanische Gesellschaft. Kaufmann rückt lediglich einige kleine Beiträge in die Wiener Entomologische Zeitung ein. Als übergreifende Organisationsform von Naturwissenschaft, in der Laien mit Professionellen zusammentreffen, spielen demnach die Vereine eine entscheidende Rolle als Transmissionsriemen zu einer breiteren Öffentlichkeit; da fxir naturforschende Vereine das Koalitionsverbot nicht galt, also schon vor dem Vereinsgesetz von 1867 Vereinsbildung möglich war, scheinen diese Fachgesellschaften auch schon früh zu Agenturen liberaler Geselligkeit geworden zu sein. Die Differenzierungsprozesse in der Professionalisierungsphase der Naturgeschichte lassen sich an der Zoologisch-botanischen Gesellschaft, der wichtigsten facheinschlägigen Institution, ablesen. 242 1851 gegründet, umfaßte sie 1855 bereits 595 Mitglieder, in sehr hoher sozialer und institutionenlogischer Streuung; ein Wiener Kaffeesieder war ebenso Mitglied wie der Innenminister Alexander v. Bach. Obwohl Ärzte, Lehrer und Beamte den Großteil der Mitglieder stellen, finden sich als Sponsoren auch der Wiener Erzbischof Rauscher (Mitglied 1864), später einer der prononciertesten Darwin-Gegner im österreichischen Klerus, und A. v. Rothschild (Mitglied 1864). Unter den Mitgliedern befinden sich der Schriftsteller I. F. Castelli (auch Mitbegründer des Wiener Tierschutzvereins), der konservative Unterrichtsminister Graf Thun wie der bedeutende Lepidopterologe Cajetan Felder, von 1868 bis 1878 liberaler Bürgermeister von Wien, und Eduard Sueß. In den siebziger Jahren ist es mit dieser Einheit unter den „Naturforschern" vorbei; gemäß den wissenschaftlichen Professionalisierungsschüben differenzieren sich die naturwis-

242 Die folgende Skizze nach Angaben bei Nowotny: Entstehung und Entwicklung, S. SO, 59. Zum sozialen Profil der österreichischen Vereine zwischen 1848 und 1867 vgl. Hans Peter Hye: Wiener „Vereinsmeier" um 1850. In: Bürgertum in der Habsburgermonarchie. Bd. 2: „Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit". Hgg. v. H. Stekl u. a. Wien, Köln, Weimar 1992, S. 292-316.

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senschaftlichen Vereine einerseits in Fachgesellschaften, andererseits in Publikumsvereine mit populärem Anspruch. Der Wissenschaftliche Klub (1876) ist eine Gründung unter dem Mantel der Zoologisch-botanischen Gesellschaft. Zugleich zerstört die wissenschaftliche Innovation des Darwinismus und deren liberale Indienstnahme diese Einheit von Naturforschern und verdrängt eine vormals bedeutende Gruppe aus der Zoologisch-botanischen Gesellschaft: War der Anteil an Geistlichen unter den Mitgliedern zuvor beträchtlich (1858 ca. 14,5%), sinkt er erst in den Polarisierungen der siebziger Jahre ab und halbiert sich bis 1889 auf 7%. Marenzeller erhält Rades Einladung zum Darwin-Album als Sekretär der Zoologisch-botanischen Gesellschaft und gibt sie an den Wissenschaftlichen Klub, dessen Gründungsmitglied er ist, weiter 243 ; 21 Mitglieder des Wissenschaftlichen Klubs nehmen teil, nur ein einziger weiterer Verein (der Entomologische Club in Stuttgart) zeigte an der Darwin-Ovation Interesse. Zehn der 41 Unterzeichner sind Doppelmitglieder, vor allem „Professionelle" mit liberalem Profil. Im selben Maß verringert sich die vertikale Mobilität innerhalb des Faches. Nur mehr wenige Autodidakten (nicht-promoviert, soziale Aufsteiger) werden zu Professionellen; die letzte Generation solcher Aufsteiger scheint die des Begründers der Zoologisch-botanischen Gesellschaft, Georg Frauenfeld, gewesen zu sein (Frauenfeld war erst Bauhandwerker, dann Güterverwalter, schließlich Kustos des Zoologischen Hofkabinetts und Teilnehmer an der Novara-Expedition); dasselbe gilt für einen der Darwin-Unterzeichner, den nachmaligen Chefgeologen der Geologischen Reichsanstalt, Heinrich Wolf. Auch die Lehrer an Schulen werden zunehmend aus dem Fachdiskurs verdrängt. Dennoch waren gerade deshalb die Laien für die Professionellen in den Konflikten um Darwin von hervorragender Bedeutung, nicht lediglich umgekehrt. Signifikant ist für diesen Mechanismus die Person des Unterzeichners Konrad Deubler, des „Bauernphilosophen" aus Bad Goisern. Der Autodidakt Deubler, Gastwirt und Bauer, der mit vielen Fachwissenschaftlern (besonders Haeckel) und Popularphilosophen in Briefkontakt trat, war der „Laie" schlechthin, seine Anhängerschaft an Darwin galt als Beleg für das Eindringen der Theorie ins „Volk" (vgl. zu Deubler Kap. 5). Rade zitiert einen Brief Deublers, in dem dieser um Beteiligung am Album bittet und

243 Rade: Darwin und seine Anhänger, S. 15.

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setzt Deublers Devotion gegen die Zurückhaltung vieler Fachgelehrter, sich für Darwin zu exponieren 244 ; Haeckel dankt Deubler für die Ubersendung der Photographie: „Auch für Ihre Photographie ins Darwin-Album danke ich schönstens. Ein Geldbeitrag war übrigens von Ihrer Seite nicht nöthig und ich behalte mir vor, Ihnen die zwei Gulden zu restituiren. Solche Beiträge lassen Sie wohlhabendere Männer bezahlen. Übrigens wird sich Darwin über Ihr Bild besonders freuen: er kennt sie schon aus meinen Briefen,"245 Haeckel benützt Deubler als einen Beweis für den Erfolg seiner Darwin-Propaganda: „Ich muß oft Viel von Ihnen erzählen, so z. B. bei Darwin, den ich im September [1876] bei London besuchte."246 Frauen fehlen vollständig in der Liste der Unterzeichner; in dieser Beziehung ist das Darwin-Album wohl am wenigsten repräsentativ. Denn gerade für Frauen fiel, wie im einzelnen für Minna Kautsky, Marie Eugenie delle Grazie und Bertha v. Suttner zu zeigen sein wird, „Darwinismus" und der Aufbruch der „Ersten Frauenbewegung" zeitlich zusammen. Darwinismus war ein Theoriegebäude, das in seinen Grundzügen auch ohne Fachstudium und höhere Schulbildung zu verstehen war; viele Frauen der liberalen Mittelschichten scheinen sich „Darwin", sei es im Original, sei es via Haeckel oder Populärversionen im Selbststudium angeeignet zu haben. Das Fehlen von Frauen in der Darwin-Ovation mag sich durch ihre geringe Verankerung im Netz der Vereine erklären; programmatisch ausgeschlossen waren sie aus diesen jedenfalls nicht. Daß jedoch „Kampf" und „Anhängerschaft" in diesem Unternehmen als männliche Agenden gedacht waren, geht übrigens schon aus der maskulin-juvenilen Bildersprache der Fortschrittsallegorien auf dem Albumblatt hervor. Möglicherweise handelte es sich auch um einen bewußten Ausschluß aus der Liste der Beiträger; an mangelndem Interesse kann es nicht gelegen haben. Der steirische Philosoph Emmerich DuMont fragte jedenfalls bei Haeckel nach: „Vor kurzer Zeit erhielt ich von meinem Verleger die lithographirte Aufforderung Rade's betreffs der Geburtstagsfeier des großen Darwin; es ist nicht von mir die Rede der jedenfalls entschlossen ist bei dem Unternehmen mitzuhalten; allein auch viele Frauen haben mich gefragt, ob auch

244 Deubler an Haeckel, 26. 6. 1876. Bei Rade: Darwin und seine Anhänger, S. 12 f. 245 Haeckel an Deubler, 30. 6. 1876. In: Konrad Deubler. Tagebücher, Biographie und Briefwechsel des oberösterreichischen Bauernphilosophen. Hgg. v. Arnold Dodel-Port. 2 Tie. Leipzig 1886, Tl. 2, S. 171. 246 Haeckel an Deubler, 20. 11. 1876. In: Konrad Deubler, Tl. 2, S. 174.

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sie sich betheiligen dürfen. Ich selbst mache zwar in diesem Falle zwischen Laien und Frauen keinen Unterschied, doch dürfte die Zahl der Photographien riesig anwachsen, wenn es Frauen, die doch oft nur diesen Weg suchen würden, ihre Eitelkeit unsterblich zu machen, gestattet wäre beizutreten. Fast möchte ich behaupten, daß im Falle der Annahme weiblicher Bilder, diese im Album die Majorität erlangen dürften. Ich bin geradezu aufgefordert worden, Ihnen, geehrter Herr Professor, diese Frage vorzule-

F R E U D S „ K R Ä N K U N G E N " U N D DER EVOLUTIONISTISCHE

ENTHUSIASMUS

„Greifen wir z. B. das Schicksal einer neuen wissenschaftlichen Theorie wie der Darwinschen Evolutionslehre heraus. Sie findet zunächst erbitterte Ablehnung, wird durch Jahrzehnte heftig umstritten, aber es braucht nicht länger als eine Generation, bis sie als großer Fortschritt zur Wahrheit anerkannt wird. Darwin selbst erreicht noch die Ehre eines Grabes oder Kenotaphs in Westminster. Ein solcher Fall läßt uns wenig zu enträtseln. Die neue Wahrheit hat affektive Widerstände wachgerufen, diese lassen sich durch Argumente vertreten, mit denen man die Beweise zu Gunsten der unliebsamen Lehre bestreiten kann, der Kampf der Meinungen nimmt eine gewisse Zeit in Anspruch, von Anfang an gibt es Anhänger und Gegner, die Anzahl und Gewichtigkeit der ersteren nimmt immer zu, bis sie am Ende die Oberhand haben; während der ganzen Zeit des Kampfes ist niemals vergessen worden, um was es sich handelt. Wir verwundern uns kaum, daß der ganze Ablauf eine längere Zeit gebraucht hat, würdigen es wahrscheinlich nicht genug, daß wir es mit einem Vorgang der Massenpsychologie zu tun haben." Sigmund Freud, dessen Werk geradezu als Kompendium darwinistischer Motive gelesen werden müßte, zieht die Analogie dieser wissenschaftsgeschichtlichen Einlassung zum „Seelenleben": „Wir lernen daraus nur, daß es Zeit verbraucht, bis die Verstandesarbeit des Ichs Einwendun-

247 DuMont an Haeckel, 25. 6. 1876. Emst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 1149/1.

Freuds „Kränkungen" und der evolutionistische Enthusiasmus

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gen überwunden hat, die durch starke affektive Beziehungen gehalten werden." 248 Freud spricht hier nicht nur von der Uberwindung seelischer Widerstände. Das grobe Modell: affektive Widerstände - Gegenargumente Kampf der Meinungen - Anhänger und Gegner - Sieg der Anhänger, sofern es wissenschaftsgeschichtliche Relevanz haben soll, impliziert eine „neue Wahrheit", die als „unliebsame Lehre" auftritt, die „starke affektive Beziehungen" verletzt. Sofern Freud hier unter der Maske des Darwinismus von seiner eigenen neuen Wissenschaft, der Psychoanalyse, spricht, läßt sich unschwer wishful thinking diagnostizieren, auch hierbei handle es sich um eine „neue Wahrheit". Noch deutlicher wird das Vorbild des Darwinismus in der berühmten Stelle von den „drei Kränkungen", die die Psychoanalyse als eine der drei fundamentalen wissenschaftlichen Entdeckungen der Neuzeit begreift: „Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen. Die erste, als sie erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus, obwohl schon die alexandrinische Wissenschaft ähnliches verkündet hatte. Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies. Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen unter dem Einfluß von Ch. Darwin, Wallace und ihren Vorgängern nicht ohne das heftigste Sträuben der Zeitgenossen vollzogen. Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht. Daß Freud sich auch hier auf die Darwin-Rezeption als Paradigma verläßt, zeigt schon der Umstand, daß die berühmte Stelle ein Kryptozitat aus

248 Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion: Drei Abhandlungen (1939 [1954-38]). In: S. F.: Studienausgabe. Hgg. v. A. Mitscherlich, A. Richards u. J. Strachey. Bd. 9. 5. Aufl. Frankfurt/M. 1989, S. 455-581, S. 515 f. 249 Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916-17 [1915-17]). In: S. F.: Studienausgabe, Bd. 1, S. 34-445, S. 238 f.

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Haeckels Natürlicher Schöpfungsgeschichte ist.250 Haeckel, mit der Durchsetzung des Darwinismus befaßt, spricht selbstbewußter von den „Irrthümern" des mosaischen Schöpfungsberichts, der nicht buchstäbliche Wahrheit beanspruchen könne, weil „darin zwei große Grundirrthümer behauptet werden, nämlich erstens der geocentrische Irrthum, daß die Erde der feste Mittelpunkt der ganzen Welt sei, um welchen sich Sonne, Mond und Sterne bewegen; und zweitens der anthropocentrischeIrrthum, daß der Mensch das vorbedachte Endziel der irdischen Schöpfung sei, für dessen Dienst die ganze übrige Natur nur geschaffen sei. Der erstere Irrthum wurde durch Kopernikus' Weltsystem im Beginn des sechszehnten [sie], der letztere durch Lamarck's Abstammungslehre im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts vernichtet."251 Man kann davon ausgehen, daß die Stelle den (späteren) Autor von Der Mann Moses und die monotheistische Religion auch aus inhaltlichen Gründen interessiert haben wird; der Vergleich DarwinKopernikus begleitet den Darwinismus von Anfang an: „Ein Protest gegen diese Hypothese an sich ist ebenso thöricht, als seiner Zeit ein Protest gegen das copernikanische Weltsystem", erklärt Oscar Schmidt schon 1865252, Du Bois-Reymond hält 1883 seine Rede auf Darwin und Kopernicus. Freuds frühe Affinität zu Darwin und seine Verbundenheit mit der liberalen Darwin-Euphorie der frühen 1870er Jahre ist gut beschrieben. 253 Ebenso ist seit längerem die von den Freudianern, auch von Freud selbst verbreitete Legende von den übergroßen Widerständen, die der Psychoanalyse gegolten hätten, mindestens relativiert, jene Legende, zu deren Einführung sich Freud auf das Beispiel des Darwinismus bezogen hatte.254 Viel weniger im Bewußtsein verankert ist andererseits der Umstand, daß Freud mit den beiden zitierten Stellen auch eine Legende über die Darwin-Rezeption in Umlauf brachte; denn von einer Theorie, die binnen kürzester Zeit die Öffentlichkeit und die maßgeblichen Medien erreichen und beherrschen konnte, läßt sich wohl nur schwer behaupten, sie sei „unliebsam"

250 Dazu im Detail Ritvo: Darwin's Influence on Freud, S. 22-30. 251 Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 30. 252 Oskar Schmidt: Das Alter der Menschheit. In: 0 . S. u. Franz Unger: Das Alter der Menschheit und das Paradies. Zwei Vorträge. Wien 1866, S. 19. 253 Ritvo: Darwin's Influence on Freud; Hemecker: Vor Freud, S. 75-107. 254 Vgl. v. a. Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. [1970] Vom Autor durchges. 2., verb. Taschenbuchaufl. Zürich 1996.

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gewesen und habe sich nur deshalb durchgesetzt, weil sie eine „neue Wahrheit" gewesen sei. Freuds Resümee, durch seine Zeitzeugenschaft noch schwererwiegend, bildet wenig von den tatsächlichen Energien ab, die sich mit dem „Darwinismus" verbanden. Interesse muß ferner beanspruchen, warum diese Theorie, wenn sie doch als Kränkung zu verstehen sei, überhaupt so bedeutende und lautstarke Anhängerschaft, darunter Freuds eigene, hat hervorrufen können. Die schwierig zu beantwortende Frage wäre in diesem Sinn, wie sich der Enthusiasmus unter den liberalen Bildungsschichten für eine Theorie erklärt, die ein Repertoire an Desillusionierungstheoremen bereitstellt, die gerade gegen die Selbstverständnisse liberaler Weltbilder gerichtet waren (wie übrigens schon der Wissenschaftsmaterialismus frontal gegen die liberale Anthropologie 255 der Zeit stand). Die liberale Grundkategorie der Vernunft konnte durch den Nachweis ihrer Existenz im Tierreich ebensowenig gewinnen wie durch den Nachweis ihrer Deszendenz, die bürgerliche Dialektik von Vernunft- und Liebesehe von den Szenarien der sexuellen Zuchtwahl so wenig wie die immanente Konstruktion von abstrakter Menschenwürde vom Zusammenhang des Lebendigen. Die klerikalen Gegner des Darwinismus ließen keine Gelegenheit verstreichen, auf diesen Widerspruch hinzuweisen und reklamierten so moderne Tugenden wie die „Menschenwürde" für sich.256 Wohl ließ sich das freie Unternehmertum mit dem „Kampf ums Dasein" in Verbindung bringen, dieses Motiv spielt aber in den Reden, Feuilletons und Broschüren zum Darwinismus nur selten eine nennenswerte Rolle und scheint der Feierlichkeit des Gegenstandes unangemessen gewesen zu sein; „Kampf" bezieht sich meistens auf den eigenen Hegemonialkonflikt. Zu-

255 Horst Thome: Autonomes Ich und „Inneres Ausland": Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848-1914). Tubingen 1995, S. 21-47 („Die liberale Anthropologie als Abwehr des Materialismus"), zu Wilhelm Griesinger S. 48-70. 256 Die katholische Opposition gegen Darwin hat auch mitunter hellsichtig Züge des späteren Sozialdarwinismus vorhergesehen, indem etwa aus der Selektionstheorie die Gefahr eugenischer Maßnahmen extrapoliert wurde. Vgl. Joseph Othmar Rauscher: Der Christ und das kranke Kind. [1872] In: J. 0 . R.: Hirtenbriefe, Reden, Zuschriften. Hgg. v. C. Wolfsgruber. N. F. 3. Freiburg/Br. 1889, S. 262-264; zur Problematik der spartanischen Selektion' bei Haeckel dagegen J. Sandmann: Der Bruch mit der humanitären Tradition. Die Biologisierung der Ethik bei Ernst Haeckel und anderen Darwinisten seiner Zeit. Stuttgart, New York 1990, S. 109 ff. Eugenische Extrapolationen sind zu diesem Zeitpunkt aber eher „Gedankenspiele" als Programme.

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dem ist von der Forschung gezeigt worden, daß weder „Manchesterleute" noch „Selfmademen" des Darwinismus bedurften, viel eher sich aus religiösen Bedenken davon häufig absetzten.257 Vor diesem Hintergrund können die Frontstellungen in den „Kulturkämpfen" für das Phänomen verantwortlich gemacht werden, daß der „Darwinismus" eine große und vor allem handlungsrelevante Anhängerschaft zu selektiver Aneignung bringen konnte. Damit eine „Kränkung" als Sieg erscheinen kann, bedarf es einer Eingliederung in einen eristischen Kontext. Zweitens wäre aus dieser Sicht nicht ein ,szientistisches Selbstmißverständnis der Metapsychologie'258 zu diagnostizieren, sondern höchstens eine Fehlinteipretation des Wissenschaftscharakters des Darwinismus durch Freud, viel eher jedoch die faktische und affektive Ubereinstimmung Freuds mit den Effekten der Wissenschaftsvermittlung in der Darwin-Rezeption. Drittens ist daraus abzuleiten, daß die Darwin-Propaganda eines hohen Maßes an Asthetisierung bedurfte, um diese Spannungen auszuhalten. Eine solche Asthetisierung ist in mehreren Richtungen zu beobachten. Einerseits fallen die Praktiken der Darwin-Vermittlung mit den Formen der bürgerlichen Öffentlichkeit selbst zusammen. „Darwin" ist in den Kontext der rhetorischen Selbstdarstellung der Liberalen eingebunden, zu der nicht nur die Redeformen im engeren Sinn gehören, sondern auch die Institutionen öffentlicher Rede: Verein, Festrede, Presse, die „bedeutende Persönlichkeit", die demonstrative Vermittlung von „Wissen" und Bildung, mit der die Mystifizierung von „Wissenschaft" als Leistung des „Forschers" einhergeht, auch wenn sie dem Selbstverständnis von Naturwissenschaft diametral entgegengesetzt ist. Andererseits erfordert ein emphatischer Darwinismus auch Stützungen durch Philosopheme, wobei interessanterweise philosophische Differenzen, wie sie die Schulphilosophie aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen versuchte, gleichgültig wurden. So vermochten „Materialismus" und „Pantheismus" einander wechselseitig zu stützen, ebenso konnten (etwa von Haeckel, aber auch einem großen Teil der Popularisatoren) Restbestände 257 Vgl. Cynthia Eagle Russett: Die Zähmung des Tigers: Der Darwinismus in der amerikanischen Gesellschaft und Gesellschaftslehre. [1976] In: Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin. 4 Bde. Hgg. v. W. Lepenies. Frankfurt/M. 1981, Bd. 5, S. 329-380, bes. S. 340-344. 258 Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/M. 1973, S. 300-332.

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und Motive der Naturphilosophie eingesetzt werden, obwohl das empiristisch-mechanistische Selbstverständnis der Johannes-Müller-Schüler sich gerade gegen die naturphilosophische Spekulation gerichtet hatte. Darüber hinaus ist - bei Haeckel, aber auch bei Freud - eine starke Verankerung der eigenen Theorien und ihrer Rhetorik in der Kunst, besonders der Literatur zu beobachten. 259 Haeckels Konstruktion einer Genealogie des Darwinismus aus dem Geist Goethes geht dabei weit über die historische Funktion der Bildungszitate hinaus. 260 Die Allianz des „Geisteshelden" mit dem „Dichterfürsten" zielt auch auf die Kompensationen, die Goethe gegen den „kimmerischen" Materialismus der französischen Aufklärung gesetzt hatte: eine „herrlich leuchtende Natur" und das auf ihr beruhende teleologische Erzählmodell, wie es im Bildungsroman etabliert wurde. 261 Der historische Ausschluß der Kunst aus der Wissenschaft, wie ihn Goethe als Zeitgenosse dieses Prozesses beklagte, wird von der Wissenschaft in ihrer Zurichtung einer antiteleologischen Theorie wettgemacht. Man sieht, daß für Rekurse auf Haeckel hinsichtlich einer darwinisierenden Schreibweise nicht die Notwendigkeit bestand, einen literarischen Spezialdiskurs zur Fusion von „Literatur" und „Wissenschaft" auszubilden, wenn schon der Darwinismus selbst bei Haeckel als Metatheorie der Naturwissenschaften konzipiert war, die den Bildungsroman der Natur zu sich selbst neu schrieb. Jenseits aller kommunikablen Theoreme ist aber bei den „Darwinisten", nicht anders als zuvor bei den „Materialisten", die Neigung zu beobachten, „pessimistische" Folgerungen schlicht auszublenden und in „optimistische" zu verkehren. Der szientistische Optimismus des 19. Jahr259 „It is perhaps not surprising that the novelists turned to science for confirmation. But the scientists, too, drew upon literary evidence and models, and were aware of the imaginative nature of their enterprise." Gillian Beer: Darwin's Plots. Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot and Nineteenth Century Fiction. London u. a. 1985, S. 91. 260 Wolfgang Frühwald: Büchmann und die Folgen. Zur sozialen Funktion des Bildungszitates in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Tl. 2: Bildungsgüter und Bildungswissen. Hgg. v. R. Koselleck. Stuttgart 1990, S. 197-219. 261 Dazu Alfred Schmidt: Goethes herrlich leuchtende Natur. Philosophische Studie zur deutschen Spätaufklärung. München, Wien 1984; Hans-Jürgen Schings: Agathon - Anton Reiser - Wilhelm Meister. Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman. In: Goethe im Kontext. Kunst und Humanität. Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposion. Hgg. v. W. Wittkowski. Tübingen 1984, S. 42-68.

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hunderte ist so dominant, daß noch die härtesten Desillusionierungen am Ende als Gewinn erscheinen. (Den „harten Wahrheiten" des späteren „Sozialdarwinismus" mangelte diese Fähigkeit zur Positivierung hingegen, sodaß er lange ein „Elitenphänomen" blieb.) Durchaus mit Freud wäre eine Verdrängung für die erstaunliche Intransigenz gegenüber den dunklen Aspekten der eigenen Theorie zu veranschlagen. In der Totengräberszene räsoniert Hamlet über den Schädel Yoricks: „Imperious Caesar, dead and turn'd to clay, / Might stop a hole to keep the wind away: / O! that that earth, which kept the world in awe, / Should patch a wall to expel the winter's flaw." {Hamlet V, 1) Das Zitat, das den Vanitas- bzw. UbisuntTopos, bei Shakespeare ironisch gebrochen, aktualisiert, findet sich wieder in Ludwig Büchners Kraft und Stoff (\855), im Kapitel Unsterblichkeit des Stoffes, als „tiefempfundene[ ] Worte" zur Illustration der „Wahrheit": „Der Stoff ist unsterblich, unvernichtbar, kein Stäubchen im Weltall, noch so klein oder so groß, kann verlorengehen, keines hinzukommen. [...] Diesen ewigen und unaufhaltsamen Kreislauf der kleinsten Stoffteilchen hat der Gelehrte den Stoffwechsel genannt, und die kühne Phantasie des britischen Dichters hat den Stoff, der einst des großen Ccisar Leib bildete, bis zu dem Punkte verfolgt, wo er ein Loch der Wand verklebt." 262 Ernst Haeckel zitiert in seiner Schrift Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft (1892) gleichfalls die Verse und bezieht daraus noch deutlicher tröstliche Wirkungen: „Unsterblichkeit in wissenschaftlichem Sinne ist Erhaltung der Substanz, also dasselbe, was die Physik als Erhaltung der Kraft, die Chemie als Erhaltung des Stoffes definirt. [...] Bei unserem Tode verschwindet nur die individuelle Form, in welcher jene Nervensubstanz gestaltet war, und die persönliche ,Seele', welche deren Arbeit darstellte. Die complicirten chemischen Verbindungen jener Nervenmasse gehen in andere Verbindungen durch Zersetzung über, und die von ihr

262 L . Büchner: Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien in allgemein-verständlicher Darstellung [1855]. In: Vogt, Moleschott, Büchner: Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland. Hgg. u. eingel. v. D. Wittich. 2 Bde. Berlin 1971, 2. Bd., S. 347-516, S. 357 u. 359. 263 Haeckel: Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntnis eines Naturforschers, vorgetragen am 9. October 1892 in Altenburg beim 75jährigen Jubiläum der Naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes. In: E. H.: Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen, Bd. 1, S. 281-344, S. 310 f.

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producirten lebendigen Kräfte werden in andere Bewegungsformen umgesetzt. ,Der große Caesar, todt und Lehm geworden, Verstopft ein Loch jetzt vor dem rauhen Norden; Der Staub, dem einst die ganze Welt gebebt, Vor Wind und Wetter eine Wand verklebt!'" 263

2

„Kampf ums Dasein" und „Venus im Pelz" NATURWISSENSCHAFTLICHE AUFKLÄRUNG UND G R E N Z E N B E I L E O P O L D V.

IHRE

SACHER-MASOCH

D E R NATURFORSCHER ALS J U D E UND

GEISTESHELD

Charles Dickens, ein früher Rezensent von Origin ofSpecies, beglückwünschte Darwin, in „more tolerant times" zu leben, nicht „in the sixteenth Century" und nicht in „Austria, Naples, or Rome". 1 Nach allem, was bisher zur Darwin-Rezeption in Osterreich gesagt wurde, wäre eine Adresse in Osterreich wohl kein großes Unglück gewesen; die hypothetische Frage, was einem Darwin nicht im 16. Jahrhundert, doch im vormärzlichen Galizien widerfahren wäre, hat sich Leopold v. Sacher-Masoch in seiner Erzählung Der Iluj (18772) gestellt. Eine Separatausgabe erschien in Darwins Todesjahr, 1882. Die Erzählung war für den Novellen-Zyklus Staat gedacht, der nach dem ersten Programm von Sacher-Masochs Novellenwerk Das Vermächtniß Kains „das Elend und die Wirtschaft der absoluten Monarchie; die Lügenhaftigkeit des Konstitutionalismus; Rettung durch Demokratie, Vereinigte Staaten von Europa; gemeinsame Gesetzgebung" 3 behandeln sollte. Das „Elend" „der absoluten Monarchie" wird an einem jüdischen Naturforscher vorgeführt, der Darwins Evolutionstheorie vorwegnimmt. Sabatai Benaja, der galizische Darwin, bildet sich autodidaktisch vom Talmudgelehrten („Iluj", der Erleuchtete) zum selbständigen Naturforscher heran, konvertiert zum Christentum, fallt aber einer Intrige der Jesuiten zum Opfer und kann erst, nachdem er in einer Irrenanstalt irreparablen Geistesschaden genommen hat, in der Revolution von 1848 befreit werden. In Sacher-Masochs Werk beginnen „ethnographische" Novellen zum Judentum und Ghettogeschichten ab der Mitte der 1870er Jahre einen immer

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Charles Dickens: Review of „The Origin o f S p e c i e s " . In: All the Year Round, 7. 7. 1860. Zit. nach George Levine: Darwin and the Novelists. Pattems of Science in Victorian Fiction. Chicago, London 1991, S. 128. L. V. Sacher-Masoch: Der Iluj. In: L . v. S.-M.: Der Judenraphael. Geschichten aus Galizien. Hgg. v. A. Opel. Wien, Köln, Graz 1989, S. 294-450 (i. f. „ I " u. Seite). Sacher-Masoch an seinen Bruder Karl, 8. 1. 1869. In: Wanda v. Sacher-Masoch: Meine Lebensbeichte. Memoiren. Berlin 1906, S. 436-439, S. 437.

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festeren Platz einzunehmen und schließen damit an seine ersten literarischen Erfolge mit seinen „slawischen" Novellen an; daneben schreibt er, in den Kontexten literarischer Massenproduktion, an jenem Erzählparadigma weiter, das mit Venus im Pelz (1870) die prägnanteste Ausformung erreicht hatte. Die nach wie vor schmale Forschungsliteratur zu Sacher-Masoch läßt sich gleichfalls in Arbeiten trennen, die u m den „Masochismus"-Komplex kreisen und, verstärkt erst in jüngerer Zeit, solche, die sich mit der jüdischen Thematik befassen. 4 Die Forschung hat den Iluj Sacher-Masochs Texten zur jüdischen Thematik zugeschlagen 5 ; es soll gezeigt werden, daß diese Einordnung fragwürdig ist. Der Iluj wird in einem so hohen Maß von Prätexten organisiert, daß jede Analyse ohne den Versuch einer Rekonstruktion dieser Prätexte unvollständig bleiben muß. Die Integration „naturwissenschaftlichen" Wissens ist dabei bereits an der Textoberfläche der Erzählung sichtbar; doch auch die jüdische Thematik rekurriert auf eine Vorlage. Das Verhältnis zwischen dieser und Sacher-Masochs Iluj ist als Extremform von Intertextualität zu bestimmen, es grenzt ans Plagiat. Der erste, „jüdische" Teil der Erzählung, bis zur Konversion Benajas, beruht auf einer sechs Jahre zuvor erschienenen Erzählung DerIlau. Eine Skizze aus dem galizischen Volksleben6 des galizischen Philosophen und Schriftstellers Isaak Mieses. 7 Mieses' Erzählung spielt ebenso wie Sacher-Masochs Iluj „in der galizischen Stadt L ... [Lemberg]", der bigotte Schwiegervater des Iluj, Reb Blauweiß, heißt bei Sacher-Masoch 4

An neueren Arbeiten vgl. Andrea Wodenegg: Das Bild der Juden Osteuropas. Ein Beitrag zur komparatistischen Imagologie an Textbeispielen von Karl Emil Franzos und Leopold von Sacher-Masoch. Frankfurt/M., Bern, New York 1987; Hans Otto Horch: Der Außenseiter als „Judenraphael". Zu den Judengeschichten Leopolds von Sacher-Masoch. In: Conditio judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. 2. Tl. Hgg. v. H. 0 . H. u. Horst Denkler. Tübingen 1989, S. 258-286; Maria Klanska: Problemfeld Galizien in deutschsprachiger Prosa 1846-1914. Wien, Köln, Weimar 1991; Gabriele v. Glasenapp: Aus der Judengasse. Zur Entstehung und Ausprägung deutschsprachiger Ghettoliteratur im 19. Jahrhundert. Tübingen 1996, S. 239-241.

5

Vgl. KJanska: Problemfeld Galizien, S. 190-192; Horch: Außenseiter als „Judenraphael", S. 278-280; Glasenapp: Aus der Judengasse, S. 259-241. [Isaak Mieses:] Der Ilau. Eine Skizze aus dem galizischen Volksleben. Thorn 1871 (i. f. zit. als „M" u. Seite). Isaak Mieses (1802 Lemberg - 1883 Thorn) trat als Philosoph mit einer Monographie über „Benedict Spinoza und sein Verhältnis zum Kritizismus" in der „Zeitschrift für ex-

6 7

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,Kampf ums Dasein" und „Venus im Pelz"

Leb Silbermann, aus Goldstein wurde Sabataj Benaja aus Maslow. Mieses' positive Figur eines polnischen Grafen, der dem Iluj in seinem Streben nach moderner Bildung behilflich ist, ist bei Sacher-Masoch der Streber Sedlatschek geworden, der von Benajas Häresie profitiert. Bei Mieses konvertiert der Held nicht, wird aber gleichfalls als Redner in die 1848er Revolution verwickelt, emigriert nach Berlin und bildet sich zum Naturforscher aus, der den Schritt Benajas zum Materialismus jedoch vermeidet. Bei Mieses wird die Ehe des Iluj nicht geschieden (obwohl es schon hier zu Verwicklungen mit der polnischen Gräfin kommt), sein Goldstein versöhnt sich mit seiner jüdischen Ehefrau, die sich im Gegenzug moderne Bildung angeeignet hat. Goldstein wird am Ende Güterverwalter des Grafen; sein Ausbruch aus der Sphäre des Talmud glückt. Die Abhängigkeit des Textes von Mieses hat Sacher-Masoch eingeräumt, jedoch als Inspiration gefaßt: er habe Mieses brieflich mitgeteilt, „daß sein ,Ilau'[,] der mehr ein Stück Leben als eine Novelle ist, mich angeregt habe, das gleiche Motiv unter gleichem Titel zu behandeln." 8 Die Ubereinstimmungen zwischen beiden Texten sind besonders im Detail verblüffend. So erwerben beide Gelehrte anatomisches Wissen an Vieh und Geflügel bei einem Verwandten des Schwiegervaters, unter dem Vorwand der praktischen Rabbinerausbildung (M 25,1 320); die jüdischen Ehefrauen beherrschen im Unterschied zu ihren orthodox gesinnten Vätern Deutsch und Polnisch und erledigen deren Geschäftspost (M 10,1315); von einer gebildeten polnischen Gräfin (bei Sacher-Masoch eine Hörerin der Vorlesungen des Iluj) sind beide Ilujim bezaubert (Mieses: „Er kam sich, wie ein versteinerter Prinz aus dem Zaubermährchen vor, dem die Berührung einer Fee, Leben und Seele wiedergab, oder wie der Enoch der jüdischen Sage, der von einem Menschen zum Engel metamorphosirt und in den Himmel neben die Gottheit versetzt wurde." M 32; Sacher-Masoch: „Benaja dagegen kam sich in ihrer Nähe vor wie ein Enoch, welcher der jü-

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akte Philosophie" hervor (1869), als jüdischer Gelehrter mit Schriften zur Kabbala (Zofnatpaneach. Darstelllung und kritische Beleuchtung der jüdischen Geheimlehre. 1862 u. a.). (JL) Auf die enge Beziehung der beiden Texte hat bislang erst Glasenapp in ihrer jüngst erschienenen Monographie verwiesen, ohne jedoch näher auf dieses Verhältnis einzugehen. Ein Brief Sacher-Masoch's über die Juden. In: Das Jüdische Literaturblatt 6 (1877), S. 98 (21. 6.). Mieses sei „von meinen Darstellungen des polnisch-jüdischen Lebens hoch erfreut" gewesen, „und er ist maßgebend, weil er dasselbe genau kennt" (S. 97).

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dischen Sage zufolge aus einem Menschen in einen Engel verwandelt und in den Himmel neben die Gottheit versetzt wird." 1354). Besonders in der Wiedergabe ethnographischer „jüdischer" Details ist Sacher-Masoch nicht das geringste Risiko eingegangen. Sämtliche Passagen, in denen authentisches jüdisches Wissen vermittelt werden soll, sind aus Mieses übernommen. Wo in die Figurenrede des Benaja Talmudzitate integriert sind, stammen sie durchgängig aus der Vorlage. Als Goldsteins Doppelleben durch die orthodoxe Familie seiner Gattin aufgedeckt wird, antwortet er: „Herr Schwiegervater, ich wollte Sie nicht unterbrechen, der Weise, sagen die Talmudisten, fallt nicht in die Rede eines Anderen ein, nun hören Sie auch mich an" (M 44); Sacher-Masoch: „,Der Weise fallt nicht in die Rede eines andern ein', entgegnete Sabatai Benaja; ,nun Sie aber zu Ende sind, will ich reden, und Sie sollen mich anhören. Rechtfertigen will ich mich vor Ihnen, weil Sie der Vater meiner Frau sind [...]'" (I 343). Dasselbe gilt für die Sprüche: „,demjenigen, der uns wahre Bildung beibringt, soll man noch dankbarer sein als Vater und Mutter, denn diese geben uns nur das irdische, vergängliche Leben, jener aber das geistige, ewige.'" (I 332, d. i. M 22) und „,Gott tut kein Wunder, das ohne Erfolg bleiben soll.'" (I 356, d. i. M 23). Desgleichen gibt es bei Sacher-Masoch kaum einen Hebraismus, der nicht schon bei Mieses enthalten ist: „Posche Jisrael" (I 357 ff., M 39); „Chilul Haschem" (I 339 f., M 44), das einzige Mischna-Zitat (1321, d. i. M 45), der jüdische Feiertag Tischab-Aw.9 Doch auch die kritischen Wertungen des orthodoxen Milieus werden bei Sacher-Masoch von Mieses übernommen, zum Teil wörtlich. SacherMasochs Rede von der „jüdischen Aristokratie" der Rechtgläubigen (I 308) 9

Mieses: „daß derselbe auf den 9. des Monats Ab nach jüdischem Kalender fiel, ein Fastund Trauertag ob der Zerstörung Jerusalems. [...] Wie sollte er an diesem l ä g e zur Gräfin gehen, an dem gefastet, getrauert, auf der Erde gesessen zu Hause, keine Schuhe getragen, kein Freund gegrüßt, selbst kein Talmud studirt wird, und nur den Kaufleuten, bei dringenden Geschäften, Nachmittags auszugehen gestattet ist? [...] Er erinnerte sich nämlich, daß mancher Frömmler an diesem Tage, nach dem Friihgottesdienste, die Begräbnißplätze zu besuchen pflegte" (M 56); Sacher-Masoch: „So kam Tischebeaw, der neunte Tag des Monats Ab, heran, ein großer Trauertag für Israel, das an demselben büßend und betend der Zerstörung Jerusalems gedenkt. Ein Tag, wo der fromme Jude keine Speise zu sich nimmt, im zerrissenen Gewand auf der Erde sitzt, keinen Schuh anzieht, keinen Freund grüßt, nicht einmal im Talmud zu lesen wagt, an dem nur Kaufleute bei unaufschiebbaren Geschäften nachmittags ausgehen dürfen. Sabatai Benaja aber erinnerte sich, daß die Frommen an diesem Tage nach dem Friihgottesdienst den Begräbnisplatz besuchen" (I 321 f.).

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„Kampf ums Dasein" und „Venus im Pelz"

stammt aus Mieses' Hau und wird dort von einem Aphorismus Heinrich Heines („aristokrätzig") hergeleitet (M 47); Mieses' Urteil, das Goldstein ausspricht: „Das auf gesundem Menschenverstand, auf Logik oder Empirik basirte Wissen, scheint den an Witz und sophistischen Scharfsinn Gewöhnten zu seicht, die auf richtigen Begriffen von Gott und Moral begründete Frömmigkeit, entspricht nicht dem Ideale derjenigen, die nur in der Ascetik oder im Cynismus die wahre Tugend erblicken. Unsere hiesigen Glaubensgenossen leiden weniger an Mangel an Bildung, sondern bei aller Unwissenheit an Ver- und Ueberbildung" (M 20), findet sich bei Sacher-Masoch komprimiert zu: „Es wäre aber falsch, sie [die Juden] deshalb für ungebildet zu halten. Die galizischen Juden leiden nicht an Unbildung, sondern an Uberbildung. Wie sie die Frömmigkeit in der Asketik suchen, so gelten ihnen nur Scharfsinn, Witz und Sophistik als Tiefe, während ihnen das gesunde Wissen in seiner einfachen Form seicht erscheint." (I 330) Die Differenz der beiden Erzählungen in der jüdischen Thematik entsteht aus den unterschiedlichen Kontexten, in die sie hineingeschrieben sind. Mieses' Hau steht im innerjüdischen Diskussionszusammenhang von Orthodoxie und Aufklärung in der Tradition der maskilischen Ghettothematik, wie sie sich einerseits literarisch bereits auf eine längere Tradition berufen konnte10 und andererseits als reale Problematik jüdische Lebensläufe der Epoche bestimmte.11 Dieses didaktische Genre wendet sich demgemäß zunächst an eine innerjüdische Öffentlichkeit, wie sich auch leicht an der Ubersetzungsgeschichte von Mieses' Hau belegen läßt: Die Erzählung erscheint von Alexander Zederbaum übersetzt im St. Petersburger Westnik auf russisch, im Warschauer Israelita auf polnisch, schließlich in einer hebräischen Übertragung des Lehrers Hillel Rabbinowitz als Separatausgabe.12 Demgegenüber finden Sacher-Masochs Judengeschichten vor allem beim französischen Publikum Beifall; die Contes Juifs, Récits de famille (1888) erscheinen Jahre vor der deutschen Fassung Jüdisches Leben in Wort und Bild (1891). Wenden sich Sacher-Masochs Judengeschichten nach „Westen", ist

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Dazu etwa Gerhard Kurz: Widersprüchliche Lebensbilder aus Galizien. Zu Leo HerzbergFränkels „Polnische Juden". In: Conditio judaica, S. 247-257. Vgl. hierzu Maria Klanskas Untersuchung jüdischer Autobiographien: Aus dem Schtetl in die Welt, 1772-1958. Ostjüdische Autobiographien in deutscher Sprache. Wien, Köln, Weimar 1994, S. 165-199.

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Warschau: Zuckermann 1877 (Lippe).

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Mieses' Erzählung nach „Osten" orientiert. Auch die Handlungsführung zielt bei Mieses auf die Handlungsfelder dieser Tradition, Naturwissenschaft auf pragmatisches Wissen und rationale Landwirtschaft. Sein Iluj wird kein unterdrücktes Genie, sondern gräflicher Verwalter. Im Gegensatz zur komplexen Integration in anderen Texten Sacher-Masochs, besonders in Venus im Pelz (s. u.), liegt im Iluj der „darwinistische" Text an der Textoberfläche. Benajas Weg vom Talmud zur Naturwissenschaft, vom Anwärter auf einen Lehrstuhl für Naturgeschichte zu einem verfemten Opfer der Jesuiten wird von Rechtfeitigungsreden Benajas für seine neue Sicht der Dinge synkopiert, seine letzte Rede ist von seinen Gegnern als Widerruf geplant, wird von ihm jedoch zu einer letzten Apologie genützt. Auf den Triumph vor seinen treuen Studenten folgt seine Uberführung in die Anstalt. „Darwinismus" entsteht hier vor dem Leser, indem die Denkentwicklung von der Orthodoxie zur Häresie an einer Figur nachvollzogen wird. Durch die Transposition in den Vormärz muß jedoch für Benaja der entscheidende intellektuelle Anstoß zur Entwicklung dieses „Proto-Darwinismus" in die romantische Naturphilosophie verlegt werden; zweimal ist in der Erzählung von Lorenz Oken die Rede: „Er wendete den Satz von Oken auf die ganze Natur an und sah überall Entwicklung, nirgends Schöpfung." „,Der Mensch ist entwickelt, nicht erschaffen.'" (I 367 u. 386). Sofern es sich hierbei um eine These zur Genese des darwinistischen Paradigmas handelt, war sie zur Schreibzeit Sacher-Masochs plausibel. Waren in der Spontanrezeption Darwins unter den Fachwissenschaftlern häufig Ressentiments gegen Darwins Evolutionstheorie vor edlem in Deutschland nicht selten, da die Autoren gerade durch die Evolutionstheorie die Überwindung der naturphilosophischen Spekulation durch das physiologische mechanistische Paradigma gefährdet sahen 13 , verkehrten sich in der populären Rezeption diese Befürchtungen rasch ins Gegenteil. Besondere Bedeutung hatte dabei die von Ernst Haeckel angestrebte Integration der Romantik in die Vorgeschichte der Theorie; diese Integration bezog mit dem Markennamen Goethe eine Identifikationsfigur des Bildungsbürgertums in die Ahnenreihe des Paradigmas ein und verstand 13

Owsei Temkin: The Idea of Descent in Post-Romantic German Biology: 1848-1858. In: Forerunners of Darwin: 1745-1859. Ed. by B. Glass, 0 . T. u. W. L. Straus, Jr. Baltimore 1959, S. 323-355.

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durch Rekurs auf Goethes naturphilosophische Schriften Widerstände erfolgreich auszuräumen. 14 Im Fall des Iluj führt jedoch die Verweismarke „Oken" zu der Beobachtung, daß die Erzählung ihren darwinistischen Text vor allen anderen Quellen aus Haeckels Natürlicher Schöpfiingsgeschichte bezogen haben muß. Jener „Satz von Oken" findet sich denn auch wortidentisch bereits bei Haeckel. 15 Benajas Glaubenszweifel beginnen (wissenschaftshistorisch korrekt) mit den Desillusionierungen durch die Geologie: „Die Entdeckungen der Geologie, welche er sich zu eigen gemacht hatte, wiesen die jüdische Schöpfungsgeschichte, welche das Erste Buch Moses gibt, in das Reich des Märchens. Wenn aber ein Teil, ein noch so kleiner Teil, ja nur ein Satz der Lehre, auf welchem der Tempel seines Volkes aufgebaut war, Trug war, wer wollte dann noch die Wahrheit des übrigen behaupten oder gar verbürgen? [...] So stürzte auch Sabatais Glaube in sich zusammen" (I 327), wobei die Konsequenzen aus Haeckels Polemik gegen Moses als „Schöpfungstheoretiker" gezogen werden. 16 Die Einheit der Natur („die Natur, das Leben der verschiedensten Organismen, jener, die man tot nennt, ebensogut wie derjenigen, die man zu den lebenden zählt" [I 378]) kann Sacher-Masochs Benaja gleichfalls entlang Haeckels Diktum, „daß der Gegensatz, welchen man zwischen lebendiger und todter Körperwelt aufstellte, nicht existirt"17, behaupten; Benaja entwirft auch die durch Haeckel popularisierte „Rekapitulationstheorie" (I 386). 18 Wenn Benajas christliche Ehefrau ihn beschwört, „Pius [der Taufname des Konvertiten, W. M.], vermagst du nicht die Periode der Geologie mit den Schöpfiingstagen in der Heiligen Schrift in Einklang zu bringen?

14

15

16 17 18

Zu Goethe und Darwin vgl. Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. 1: 1773-1918. München 1980, S. 187 ff. u. die Übersicht von Manfred Wenzel: Goethe und Darwin - Der Streit um Goethes Stellung zum Darwinismus in der Rezeptionsgeschichte der morphologischen Schriften. In: GoetheJahrbuch 100 (1983), S. 145-158. Ernst Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft. Berlin 1868, S. 79. Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 51. Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 19. Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 253 u. pass.

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Versuch es!" (I 590, Hervorh. W. M.), konnte sich der Leser bereits mit Haeckel über die Vergeblichkeit des Ansinnens beruhigen: „Bekanntlich haben selbst viele Naturforscher noch in unserem Jahrhundert versucht, dieselbe [die „mosaische Schöpfungsgeschichte", W. M.] mit den Ergebnissen der neueren Naturwissenschaft, insbesondere der Geologie, in Einklang zu bringen, und z. B. die sieben Schöpfimgstage des Moses als sieben große geologische Perioden gedeutet. Indessen sind alle diese künstlichen Deutungsversuche so vollkommen verfehlt, daß sie hier keiner Widerlegung bedürfen. Die Bibel ist kein naturwissenschaftliches Werk, sondern eine Geschichts-, Gesetzes- und Religionsurkunde des jüdischen Volkes"19, eine Einsicht, die auch Benaja seinen Zeitgenossen entgegenhält („Eine Offenbarung ist nicht wie ein wissenschaftliches Gebäude", I 527). Die Natur ist des Kampfes ums Dasein nicht enthoben, sondern im Gegenteil die scheinbare Idylle ein Schauplatz des Krieges: „Dort, wo der gequälte Mensch den Frieden sucht, in der Natur, ist dieser Friede am wenigsten zu finden. Dort sieht das Auge des Forschers, und wo das Auge nichts mehr entdeckt, das Mikroskop, den furchtbarsten Kampf eines jeden gegen alle und aller gegen jeden" (I 578), wobei auch hier die Abhängigkeiten von Haeckels Formulierungen im ersten Vortrag der Natürlichen Schöpfungsgeschichte nicht zu übersehen sind: „Wenn Sie das Zusammenleben und die gegenseitigen Beziehungen der Pflanzen und der Thiere (mit Inbegriff des Menschen) näher betrachten, so finden Sie überall und zu jeder Zeit das Gegentheil von jenem gemüthlichen und friedlichen Beisammensein, welches die Güte des Schöpfers den Geschöpfen hätte bereiten müssen, vielmehr finden Sie überall einen schonungslosen, höchst erbitterten Kampf Aller gegen Alle. Nirgends in der Natur, wohin Sie auch Ihre Blicke lenken mögen, ist jener idyllische, von den Dichtern besungene Friede vorhanden, - vielmehr überall Kampf, Streben nach Vernichtung des Nächsten und nach Vernichtung der direkten Gegner." 20 Gegenüber dem Prätext Haeckel ist im Ruj eine starke Konzentration auf die Evolution des Gehirns (I 578 f.) zu beobachten, wobei Benaja die zukunftsgewisse Hoffnung ausspricht, allgemeine Volksbildungsanstrengungen könnten eine Zunahme des Gehirnvolumens zeitigen. Dieses Motiv der liberalen anthropologischen Aufklärung läßt sich dagegen im Kontext der „Wissenschaftsmaterialisten" nachweisen, unter anderem anläßlich der Vor19 20

Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 51; Hervorh. z. T. W. M. Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 16.

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träge Karl Vogts in Graz Anfang 1870.21 Ebenso läßt sich Benajas These, der Verbrecher sei als Kranker zu betrachten und deshalb die Todesstrafe abzulehnen (Benaja seziert Gehirne von Delinquenten, I 366), mit zeitgenössischen Texten des Physiologen Moritz Benedikt belegen, der fiir sich (gegen Cesare Lombroso) die Priorität in der Begründung der Kriminalanthropologie als „Anthropologie der Verbrechen" (1875) beanspruchte.22 Sondergut Sacher-Masochs ist hingegen die von Benaja ausgesprochene Hoffnung auf Rassenmischung, die in enger Parallele zu Carl v. Rokitanskys Hoffnungen auf die Wiener Anthropologische Gesellschaft steht (vgl. Kap. 1); an diesem Punkt ist die Abweichung vom Nationalliberalen Haeckel maximal.23 „Die Vererbung wird um so einseitiger erfolgen," doziert Benaja vor dem Präsidenten, „je geringer die Mischung ist. Völker, welche sich von andern abgeschlossen erhalten, wie die Juden, werden durch Jahrtausende ihren leiblichen und geistigen Typus, ihre besonderen Talente, ihre Denkweise, ihren Glauben bewahren." Hingegen seien die nationalen Verhältnisse in Galizien als physiologisches Reservoir und Laboratorium zu betrachten: „In keinem Staate zeigt die Bevölkerung ein so reiches individuelles Gepräge wie in dem unsern, und in keinem Lande

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23

In der Grazer liberalen Presse sprach nach Vogts letztem Vortrag J. B. Holzinger diese Hoffnung aus: ,,[I]st es richtig, daß das Gehirn des Menschen sich im Lauf historischer Zeit entwickelt hat und zwar entwickelt durch Arbeit, - dann ist ja fürwahr der Mensch ein vervollkommnungsfähiges Wesen und es liegt mehr [oder] minder in unserer Hand, uns zu veredeln, zu verschönern. Ist es wirklich richtig, daß unsere Ahnen weniger Gehirnvolumen hatten, als wir, dann können wir ja auch unseren Kindern mehr Gehirn geben, als wir von den Eltern empfangen haben - und wir werden dieß sicher vermögen, wenn wir uns geistig anstrengen!" J. B. H.: Karl Vogts Schlußvortrag. In: Tagespost (Graz), 12. 2. 1870 (i. 0 . teilw. gesperrt). Das Motiv erscheint schon in Vogts „Physiologischen Briefen". M. Benedikt: Zur Anthropologie der Verbrechen. Vortrag, gehalten in der 2. allgem. Sitzung der 48. Naturforscherversammlung in Graz am 21. 9. 1875. In: M. B.: Zur Psychophysik der Moral und des Rechtes. Zwei Vorträge [...]. Wien 1875, S. 15-38. Vgl. auch Benedikts Autobiographie: Aus meinem Leben. Erinnerungen und Erörterungen. 3 Bde. Wien 1906, S. 313 IT., gegen die Todesstrafe (im Gegensatz zu Lombroso) S. 337. Die Entlastung der Verbrecher findet sich auch etwa bei Ludwig Büchner; bereits 1873 begegnet man dem Topos bei Sacher-Masoch: ,,[W]as wir sittliche Verworfenheit, Laster, Verbrechen nennen", sei „Rohheit, Unwissenheit und Unbildung". S.-M.: Ueber den Werth der Kritik. Erfahrungen und Bemerkungen. Leipzig 1873, S. 30, auch S. 28. Dagegen Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 228.

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dieses Staates in solchem Maße wie in d e m östlichen Galizien, wo seit Jahrhunderten Kleinrussen, Polen, Juden, Deutsche, Moskowiter, Armenier, Tataren, Wallachen, Magyaren u n d Zigeuner nebeneinander leben und sich untereinander vermischen. In einem solchen Volke wird entsprechend d e m Reichtum an individuellen Organismen auch ein Reichtum an den verschiedensten Gaben zu finden sein, u n d diese verschiedenartige Befähigung der einzelnen wird aus dem Volke einen zu edlem befähigten großen Menschen, ein Universalgenie machen, wie es unter Menschen der Erde ein Goethe war, sobald der Staat nur seine Aufgabe erfüllt." (I 380) Die „Aufgabe des Staates" wäre Geistesfreiheit und ein ungegängeltes Bildungswesen; solche Geistesfreiheit wäre Vorbedingung für Aufklärung und, nebenbei, zugleich die Lösung des österreichischen Staatsproblems. In seiner Abschiedsrede an seine Schüler entwickelt Benaja ein universalistisches Bildungsprogramm: „[...] lassen Sie Ihre noch offenen empfänglichen Herzen von keinem Glauben, keinem nationalen Gefühl, keiner Art von Vaterlandsliebe beherrschen, denn das ist jederzeit nur Liebe, die ebensoviel Haß und Verachtung zeugt; entwickeln Sie Ihre Bildung, Ihre Intelligenz unbekümmert u m die traurigen, armseligen Grenzen, welche der Staat Ihrem Wissen zu stecken sucht, und Sie werden sich mehr und mehr nicht als Juden oder Christen, Polen, Russen oder Deutsche fühlen, sondern als Menschen, als Brüder und jeder in seinem kleinen Kreise die großen Ziele der Menschheit erreichen helfen, die Freiheit, die Gleichheit und den Weltfrieden." (1418) Benajas physiologische Aufklärung fügt sich demnach in Sacher-Masochs kosmopolitisches (und großösterreichisches) Projekt ein, Galizien als potentielle multikulturelle Idylle, Osterreich als Vorbild für Europa darzustellen. 24 Im ideologischen Projekt der österreichischen Liberalen befand sich Sacher-Masoch damit deutlich in einer Minderheitsposition. Sie trug ihm als einem „Slawen" einen zweifelhaften Status in der „deutschen" Litera-

24

Dazu John K. Noyés: The Importance of the Historical Perspective in the Works of Leopold von Sacher-Masoch. In: Modern Austrian Literature 26 (1994), H. 2, S. 1-20. Noyes liest Sacher-Masoch vor dem Spannungsfeld von Liberalismus und dem österreichischen Nationalitätenkonflikt, wobei Sacher-Masoch in verschiedenen Kontexten seine Solidarität mit den Unterlegenen gestaltet habe; der „masochistische" Motivkomplex ist bei Noyes eine Verlängerung gesellschaftlicher Spannungen ins Private, das nicht als Rückzugsraum dienen können soll.

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tur ein25, später als einem „Juden" (obwohl Nichtjude) antisemitische Attacken.26 Wenn jedoch Mieses im breiten Strom der jüdischen Orthodoxiekritik steht (sein Ilau geht nach Berlin und beruft sich auf Moses Mendelssohn), so steht Sacher-Masochs Euj im Kontext der Darwin-Aneignung und -Instrumentalisierung der liberalen Öffentlichkeit. Die Transposition „Darwins" in den Vormärz soll dabei den Konflikt zuspitzen und die eigenen Konzepte heroisieren. Der Wissenschaftler als Held, wie ihn SacherMasoch vorführt, verrät dabei eine sehr einfache Konzeptualisierung von Wissenschaft: Der Wissenschaftler (es handelt sich bei Benaja um eine der seltenen Wissenschaftlerfiguren der deutschen Literatur) bringt natürliches Genie und Scharfsinn mit und schreitet von Erkenntnis zu Erkenntnis, wenn er nicht durch die Formationen religiösen Wissens behindert wird. Natur-Wissen tendiere automatisch zur Emanzipation und werde vom autoritären Staat unterdrückt, da es seine Fundamente unterminiere. Naturerkenntnis ist damit sofort folgenreiche Gesellschaftserkenntnis. Wissenschaft ist dem Gutwollenden unmittelbar plausibel, Benajas Studenten verwandeln sich von Skeptikern in begeisterte Anhänger. Strukturell konstruiert Sacher-Masoch seinen Benaja durch eine syntagmatische Integration seiner „darwinistischen" Prätexte: Darwinistische Theoreme und Interpretamente werden zu einem idealtypischen, atheistischen „Bildungsroman" geordnet, wie er den Kämpfen der Liberalen um die ideologische Hegemonie zugrundegelegt wird.27 Die Tendenz der Erzählung Mieses' wird damit verkehrt, weil keine innerreligiöse Aufklärung mehr angestrebt wird. Mieses zielt auf die Integration modernen Wissens, das immer an Leistungswissen rückgekoppelt bleibt; Sacher-Masochs Iluj ist nur soweit ein Beitrag zum Genre der Ghettogeschichte, als er seinen Prätext ausschreibt.28 Judentum als emphatisch

25 26

Vgl. die Polemik mit Hieronymus Lorm 1866, in: Leopold von Sacher-Masoch. Materialien zu Leben und Werk. Hgg. v. Michael Farm. Bonn 1987, S. 352-542. Vgl. Ein Brief Sacher-Masoch's. Auch die Materialien bei Michael Farin: Sacher-Masochs „Jüdisches Leben". E n Dossier. In: Sacher-Masoch: Jüdisches Leben in Wort und Bild. [Reprint der Ausgabe Mannheim 1892] 2. Aufl. Dortmund 1987, S. 553-586.

27

Deshalb kann auch sicher nicht davon gesprochen werden, daß die Biographie Okens als Vorbild zu Benajas Lebensgang gedient habe, wie Glasenapp annimmt. Glasenapp: Aus der Judengasse, S. 240.

28

Wohl nur deshalb ist die Novelle in mehrere Sammlungen aufgenommen worden, so in Gustav Karpeles' Auswahl Sacher-Masoch: Ausgewählte Ghettogeschichten (1918).

Der Naturforscher als Jude und Geistesheld

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besetzbarer Begriff hebt sich durch die Umcodierung der Mieses-Geschichte ebenso auf wie der primäre Angriffspunkt der „jesuitischen Machenschaften", gegen die auch der kulturkämpferische „Volksroman" der Zeit angeht. Schon Wilhelm Goldbaum hat bemerkt, daß der „Iluj" Sacher-Masochs nicht einfach in die Reihe der jüdischen Aufklärer zu stellen ist: Er sei „eigentlich ein doppelter Uriel Acosta, denn nicht blos die Lemberger Juden verfolgen ihn mit tödtlichem Hasse, seitdem er sich von ihnen geschieden hat, sondern auch die christlichen Behörden gehen dem gefahrlichen Neuerer an den Leib, weil er der Universitäts-Jugend liberale Gesinnungen zu infiltriren droht."29 Benaja sei keine „lebenswahre" Figur, er „repräsentirt nur sich selbst, ist nicht typisch, nicht einmal für jene allerdings zumeist auf halbem Wege zusammengebrochenen Märtyrer der Bildung, welche den uralten Staub des Ghettos von den Füßen schüttelnd, einem Ideale nachjagten, dessen Huld erst ihren Nachzüglern zustatten kommen sollte."30 Goldbaum führt dies auf Sacher-Masochs Philosemitismus zurück, der diesen die schlechten Eigenschaften des jüdischen Volkes vergessen ließe; der Liberale Goldbaum (der sich später dem aus liberalem Geist hervorgegangenen zionistischen Projekt Theodor Herzls zuwandte) erkennt also gerade die „liberalen Gesinnungen" Benajas wieder, wogegen es dem Autor nicht darauf ankam, sie den Juden zu unterschieben. Der Iluj ist vielmehr nicht im Kontext der jüdischen Erzählungen Sacher-Masochs zu lesen, sondern vor dem Hintergrund des Durchsetzungskonflikts des „Darwinismus". Kurz nach dem Erscheinen des Iluj kam es zu einer öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Sacher-Masoch und Fabius Mieses, dem Schwiegersohn Isaak Mieses'; dieser hatte den Namen seines Schwiegervaters angenommen, um seine Verbundenheit mit dessen innerjüdischer Aufklärungsvariante zu demonstrieren. Fabius Mieses zieh in einem Privatbrief den Autor des Antisemitismus; in seiner Antwort verteidigt Sacher-Masoch gerade nicht den von Goldbaum unterstellten Philosemitismus, sondern seine Unparteilichkeit und seine UnVersöhnlichkeit gegenüber jeder Form religiöser Orthodoxie in einem atheistisch vorgetragenen Glaubensbekenntnis zu seiner ,modernen Weltanschauung': „Ich negire mit den Naturforschern jede sittliche Weltordnung, mir ist der

29 30

W. Goldbaum: Sacher-Masoch. In: W. G.: Literarische Physiognomieen. Wien, Teschen 1884. Wieder in: Farin: Sacher-Masochs „Jüdisches Leben", S. 360 f. Goldbaum: Sacher-Masoch, S. 361.

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.Kampf ums Dasein" und „Venus im Pelz"

Mensch nicht das Ebenbild Gottes, sondern nur die intelligenteste, und deßhalb grausamste der Bestien, er ist nicht aus einem früheren besseren Dasein in Sünde verfallen, sondern erhebt sich im Gegentheil durch Erkenntniß, Wissenschaft, Kunst und die aus denselben entspringende Moralität mehr und mehr aus d e m thierischen zu einem edeln moralischen Zustande. [...] ich schmeichle keiner Nation, keiner Religion, keinem Stande, und habe deßhalb von deutschen wie von polnischen Fanatikern, von Seite des Adels [w]ie der Geistlichkeit und der Regierungen, von Seite der Socialdemokraten wie der Reaktionäre zahlreiche Gehässigkeiten erfahren." 3 1 Wenn die liberale „Weltanschauung" im HuJ so eng mit d e m Darwinism u s verbunden ist, sollten dessen Spuren auch in der ersten Werkphase Sacher-Masochs nachzuweisen sein. Die Solidarität Sacher-Masochs mit den Weltanschauungs- und Darstellungsformen der Aufklärung sind hierbei ebenso zu berücksichtigen wie der Konnex zu d e m nicht nur für die Sacher-Masoch-Rezeption so dominanten „masochistischen" Motivkomplex.

D I E „FURCHTBARE KONKURRENZ DER UND SACHER-MASOCHS

WISSENSCHAFTEN"

„NATURGESCHICHTE DES

MENSCHEN"

Daß die Novelle, die im 19. Jahrhundert immer mehr ins Zentrum der Gattungspoetik rückte, eine wenn auch problematische Affinitätsbeziehung zur Wissenschaft unterhielt, ist ein Gemeinplatz der Poetik des 19. Jahrhunderts. „Novellistik und Historik einer Epoche erläutern sich gegenseitig" 5 2 , erklärt Wilhelm Heinrich Riehl im Vorwort seiner Kulturgeschichtlichen Novellen. Die Novelle wieder zeigt der poetologischen Reflexion der Zeit zufolge eine Tendenz zum dramatischen Konflikt, „die Schwester des Dram a s " ist die Novelle nach Theodor Storm, „und die strengste Form der Prosadichtung"; sie teilt in dieser Intensivierung wieder Merkmale mit dem wissenschaftlichen Experiment. So erklärt Paul Heyse im Vorwort zu dem

51 52

Ein Brief Sacher-Masoch's, S. 98. Dazu F[abius] Mieses: Antwort auf Sacher-Masoch's Brief. In: Das Jüdische Literaturblatt 6 (1877), S. 101 f. (28. 6.). W. H. Riehl: Kulturgeschichtliche Novellen. [1856] In: Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung. Hgg. v. G. Plumpe. Stuttgart 1985, S. 259.

Sacher-Masochs „Naturgeschichte des Menschen"

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gemeinsam mit Hermann Kurz herausgegebenen Deutschen Novellenschatz: „Wenn der Roman ein Cultur und Gesellschaftsbild im Großen, ein Weltbild im Kleinen entfaltet [...], so hat die Novelle in einem einzigen Kreise einen einzelnen Conflikt, eine sittliche oder Schicksals-Idee oder ein entschieden abgegrenztes Charakterbild darzustellen [...]. Die Geschichte, nicht die Zustände, das Ereigniß, nicht die sich in ihm spiegelnde Weltanschauung, sind hier [in der Novelle] die Hauptsache; denn selbst der tiefste ideelle Gehalt des einzelnen Falles wird wegen seiner Einseitigkeit und Abgetrenntheit - der Isolirung des Experiments, wie die Naturforscher sagen - nur einen relativen Werth behalten, während es in der Breite des Romans möglich wird, eine Lebens- oder Gewissensfrage der Menschheit erschöpfend von allen Seiten zu beleuchten."33 „Mit Vergnügen überlasse ich Ihnen meinen ,Don Juan von Kolomea' für den »Deutschen Novellenschatz'", schreibt ein hochgestimmter Leopold v. Sacher-Masoch 1875 aus Bruck/Mur an Heyse, „doch habe ich nicht das volle Verfügungsrecht da diese Novelle in dem ersten Theile ,Die Liebe' meines ,Vermächtniß Kains' im Verlage von Cotta in Stuttgart erschienen ist."34 Das Geständnis wirft ein scharfes Licht auf die Verwertungsbedingungen ästhetischen Kapitals in der zweiten Jahrhunderthälfte: Die Novelle Don Juan von Kolomea war zunächst 1866 in Westermann 's Jahrbuch der Rlustrirten Deutschen Monatsheße erschienen, dessen gattungsbezeichnender Untertitel Familienbuch mit Sacher-Masochs an sexueller Apathie der Gatten scheiternder Ehegeschichte kontrastiert; dann 1870 im ersten Teil des Vermächtniß Kains, dem ersten Buch eines Novellenzyklus, der auf sechs Teile berechnet war und die Grundprobleme der modernen Welt nicht nur behandeln, sondern gleichfalls einer Lösung hätte zufuhren sollen. Die Novelle erschien dann 1876 in der vierten Serie des Novellenschatzes mit einem leicht distanzierenden Vorwort Heyses, der in Sacher-Masochs französischen Erfolgen die Gefahr einer Verstärkung von Sacher-Masochs „Entfremdung von dem gesunden Geist und Wesen unserer deutschen Dichtung" sieht, sie könnten „ihm in der ,Naturgeschichte des Menschen' nur

33

34

P. Heyse: Einleitung. [In: Deutscher Novellenschatz. Bd. 1. München 1871] Wieder in: Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Hgg. v. K. K. Polheim. Tübingen 1970, S. 141-149, S. 147 f. Sacher-Masoch an Heyse, 14. 10. 1873. In: Leopold v. Sacher-Masoch: Don Juan von Kolomea. Galizische Geschichten. Hgg. u. mit einem Nachw. vers. v. M. Farm. Bonn 1985, S. 197-200, S. 197. Diese Ausgabe wird i. f. zit. als „J" u. Seite.

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für die Nachtseite die Augen" öffnen. 35 Heyses „sittliche oder SchicksalsIdee" und „der tiefste ideelle Gehalt des einzelnen Falles" enthielt demnach noch eine andere, inhaltliche Komponente. Nach seiner Konzeption sollte Das Vermächtniß Kains einen sechsfachen Novellenzyklus bilden; jeder dieser Zyklen sollte wieder aus sechs Novellen bestehen, deren erste fünf jeweils ein spezielles Problem exemplifizieren sollten, dem eine idealtypische Lösung in der sechsten, der Gipfel- oder Lösungsnovelle, gegenübergestellt hätte werden sollen. Als Teile des großen Zyklus waren die beiden ersten erschienen, von denen der erste (1870) die „Liebe der Geschlechter", der zweite (1874) das „Eigentum" behandelte; „Staat", „Krieg", „Arbeit" und „Tod" wären die Themen der anderen Zyklen gewesen. 36 Durch den Umstand, daß viele Novellen die „mittlere Länge" 3 7 quantitativ leicht erreichen, nicht selten überschreiten, stand die Mehrfachverwertimg offen, fast alle Novellen wurden separat publiziert; bezeichnenderweise nicht die „Lösungsnovellen", deren eine, Marzsila oder Das Märchen vom Glück (1870), die Lösung des Geschlechterproblems in einer gelungenen Ehe findet, deren andere, Das Paradies am Dniester, eine Landutopie auf der Grundlage gemeinsamer Arbeit vorstellt. Wenn Heyse von der „Nachtseite der ,Naturgeschichte des Menschen"' spricht, bezieht er sich auf eine Formulierung Ferdinand Kürnbergers, die dessen emphatischer Vorrede zum Don Juan in Westermann ,s Jahrbuch entnommen ist; Heyse druckt sie wieder ab, und Sacher-Masoch wird nicht müde werden, diese Prägung in seine Programmatik aufzunehmen, einmal mit, einmal ohne Quellenangabe. In den Rezensionen, die ihm zuteil werden, wird die Wendung zur selbstverständlichen Chiffre für Sacher-Masochs Unternehmen. Kürnberger: „Ich gestehe, ich komme mir in dieser Rolle [als Vorredner Sacher-Masochs] vor, wie wenn irgend ein Müller oder Jäger von einem Napoleon aufgegriffen wird, um diesem als Wegweiser zu dienen." 38 Kürnberger stellt eine Blutauffrischung der deutschen Literatur durch die (seine) Entdeckung Sacher-Masochs in Aussicht und 55 56

57 58

P. Heyse: [Begleittext ohne Titel.] In: Sacher-Masoch: Don Juan von Kolomea, S. 201 f., S. 202. Sacher-Masoch: Prospekt des Werkes „Das Vermächtniß Kains". An J. G. Cotta, 9. 1. 1870. In: Sacher-Masoch: Don Juan von Kolomea, S. 179 f., S. 179. Ebs. bei Wanda v. Sacher-Masoch: Lebensbeichte, S. 457. Hugo Aust: Novelle. Stuttgart 1990, S. 9 (eine Kategorie Emil Staigers). Ferdinand Kürnberger: Vorrede [zu Sacher-Masoch: Don Juan von Kolomea, 1865], In: Sacher-Masoch: Don Juan von Kolomea, S. 188-194, S. 188.

Sacher-Masochs „Naturgeschichte des Menschen"

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entfaltet eine exotistische Topik zum Widerstreit von Reflexion und Erzählung, Reflexion und Natur, West und Ost: „So wahr ist es, daß der Styl der Natur nicht mehr die innere Nothwendigkeit unserer Literatur ist, sondern bloß ein Schein, ein Experiment, ein Versuch unter anderen Versuchen."39 Der Osten (zuerst Turgenjew, der „Shakespeare der Skizze", dann SacherMasoch) wird mit einer Reihe von Polaritäten eingeführt: „Der Natursinn [...] hatte beim grübelnden Deutschen schon frühzeitig die Neigung, durch das Medium der Reflexion zu gehen, sich zu polarisieren mit dem Gedanken. [...] Die Naturempfindung des Ostens ist uns geradezu unerreichbar"; germanischer Individualismus steht gegen slawischen Gemeinsinn: „Dort empfindet nicht ein Mensch über den andern, sondern er empfindet in dem andern." 40 „Wir sähen einen großen, befruchtenden Strom von Sensualismus gegen das alte, büchergedüngte Deutschland sich in Bewegung setzen", der einem Naturland entströmte, nicht einem „Beamtenland". 41 Schließlich: „Er [der Protagonist der Novelle] erzählt es so naiv, daß er selbst nicht ahnt, welchen tiefen Gehalt er erzählt und eben darum ist seine Geschichte keine Tendenznovelle, sondern ein Stück - Naturgeschichte des Menschen."42 Sacher-Masoch, der Kürnbergers Formulierung von der „Naturgeschichte des Menschen" bereitwillig aufnimmt, deutet den Begriff der „Naturgeschichte" um. 43 „Naturgeschichte" bedeutet bis ins 18. Jahrhundert nichts anderes als die sammelnden, ordnenden Disziplinen der Naturforschung, Botanik, Zoologie, Mineralogie und die „physische Geographie"; ihnen steht die „Philosophie" der Natur als theoretisch-abstrahierende Wissenschaft gegenüber. So nennt Plinius seine Tierkunde eine Naturalis historia, Lamarck seine Evolutionstheorie eine „zoologische Philosophie". Gegen Ende des 18. Jahrhunderts erfolgt fachgeschichtlich eine zunehmende

39 40 41 42 43

Kümberger: Vorrede, S. 190. Kümberger: Vorrede, S. 191. Kümberger: Vorrede, S. 192. Kümberger: Vorrede, S. 194. Dazu Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München, Wien 1976. Dazu auch die kurzen, aber konzisen Beiträge von Andrea Rosemann: Historia Naturalis; Michael Weingarten u. Mathias Gutmann: Taxonomie - Systematik - Naturgeschichte, u. Jürgen Rieß: Naturgeschichte und Entwicklungsdenken. In: Darwin und Darwinismus. Eine Ausstellung zur Kultur- und Naturgeschichte. Hgg. v. B.-M. Baumunk u. J. Rieß. Berlin 1994, S. 20-38 u. 66-73.

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Differenzierung in Naturgeschichte einerseits, wissenschaftliche Taxonomie bzw. Systematik andererseits; das Nebeneinander von Naturgeschichte und Geschichte der Natur, von Linnescher Systematik und genetischer Kette der Lebewesen in der Botanik löst der junge Haeckel, indem er sich zwei verschiedene Herbarien anlegt: „Es waren die von der Schule verbotenen Früchte der Erkenntniss, an denen ich in stillen Mussestunden mein geheimes, kindisches Vergnügen hatte."44 Um 1800 wird der Begriff metaphorisch disponibel, aber statisch-synchron gebraucht. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird der Begriff der „Naturgeschichte" auf die Staaten, die Sprachen und die Kunststile übertragen, die wie Körper, wie Organismen behandelt werden; so beginnt 1851 Riehl seine Naturgeschichte des deutschen Volkes (die empirische volkskundliche Faktensammlung durch Autopsie nennt er eine „gleichsam naturgeschichtlich analytische[ ] Untersuchung unserer öffentlichen Zustände", sein Vorbild ist hierfür der Kosmos Alexander v. Humboldts45); Bogumil Goltz, für Kürnberger „eine Urschrift der Natur", „eine Gesamtausgabe des Lebens"46, läßt 1859 einen Band Zur Charakteristik und Naturgeschichte der Frauen erscheinen. Kürnberger, so geht aus seinem Vorwort zu Sacher-Masoch hervor, meint mit „Naturgeschichte des Menschen" etwas wie „Anthropologie", wie er an anderer Stelle Gottfried Kellers Sieben Legenden „eine neue Entdeckung in der Naturgeschichte der Mythologie"47 nennt. In Sacher-Masochs eigener Verwendung der Kürnbergerschen Attribuierung erhält diese einen Zug ins Biologisch-Entwicklungsgeschichtliche, was durch eine Invokation Darwins gedeckt ist: „Mein ,Vermächtniß Kains' wird erst dann seine volle und allgemeine Geltung haben, wenn die Lehren Schopenhauers und Darwins vollständig gesiegt haben." 48 Demnach heißt es in der Vorrede zum zweiten Teil des Vermächtniß Kains (1874): 44

Emst Haeckel: Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie. 2 Bde., Berlin 1866, Bd. I, S. XVII.

45

Wilhelm Heinrich Riehl: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik. Bd. 1: Land und Leute. Stuttgart, Tübingen 1855, unpag. Vorn F. Kürnberger: Bogumil Goltz [National-Zeitung, 25. 1. 1866]. In: F. K.: Gesammelte Werke. Bd. 2, S. 85-88, S. 86. Kürnberger: Gottfried Kellers „Sieben Legenden" [Montags-Revue, 1. u. 8. 7. 1872]. In: F. K.: Gesammelte Werke. Bd. 2, S. 222-236, S. 222, i. 0 . hervorgeh. Sacher-Masoch: Das Vermächtniß Kains. Novellen. Zweiter Theil: Das Eigenthum. [1874] 2 Bde. 2. Aufl. Bern 1877, Bd. 1, S. 28.

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„Die Poesie soll eine bilderreiche ,Naturgeschichte des Menschen' sein, wo sie dies nicht ist, [...] erfüllt sie ihre sittliche Aufgabe nicht." Und in unmittelbarer Nähe heißt es: „über den [sie] Chaos menschlicher Thorheit, Laster und Leidenschaften muß uns der Dichter das ewige Licht der Wahrheit anzünden, das uns den Weg zeigt, nach vorwärts,"49 In der programmatischen Vorrede zur ersten Ausgabe seiner Zeitschrift Auf der Höhe (1881) wird die Formel erneut verwendet, die naturwissenschaftlichen Beiträge der ersten Bände stammen durchweg von Darwinisten; einer vom zweiten Urheber der Evolutionstheorie, Alfred Rüssel Wallace, ein anderer von einem der bedeutendsten Propagatoren, Karl Vogt. Zwei Beiträge sind Person und Werk Darwins selbst gewidmet. 50 Jene Vorrede zu Sacher-Masochs Zeitschriftenprojekt von 1881 entwirft auch ein Konzept des Verhältnisses von Wissenschaft und Poesie. „Was Inhalt und Form unserer Revue anbelangt, so werden wir nicht nach dem Beispiel Anderer durch die belletristische Haltung der Wissenschaft für die lederne Novellistik zu entschädigen suchen, wir verbannen das schlechte Genre der sogenannten populairwissenschaftlichen Darstellung ebenso, wie die trockene, für weitere Kreise unfruchtbare Wissenschaft." Der Prosadichtung gebühre heute der Platz „als der Führerin der Dichtkunst, an der Seite der Wissenschaft", „deren lichtbringende und befreiende Thätigkeit sie zu unterstützen die Aufgabe hat, indem sie, anstatt der flachen geistlosen Unterhaltung zu dienen, zu den Problemen der Forscher die farbenreichen Bilder malt und so gleichsam eine poetische Naturgeschichte des Menschen liefert." 51 Aus dem Alternativprogramm zur Naturwissenschaft, gleichwohl unter starkem Druck der letzteren, von dem vorher die Rede war, ist die Literatur bei Sacher-Masoch in die Position einer Dienerin gerutscht, deren Aufgabe darin bestehen soll, der naturwissenschaftlichen Aufklärung die Illustrationen beizustellen. 1873 hatte Sacher-Masoch verkündet, es sei „die sittliche Aufgabe der Poesie wie der Wissenschaft Kenntnisse und Wahrheiten zu verbreiten,

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Sacher-Masoch: Vermächtniß Kains, 2. Tl., Bd. 1, S. 56; ebs. Werth der Kritik, S. 50 f. Vogt: Ueber den Ursprung des organischen Lebens. In: Auf der Höhe 1 (1881), S. 56-72; Wallace: Die Permanenz der Continente und Oceane. In: Auf der Höhe 2 (1882), S. 56-51, daneben Beiträge von Hellwald u. a. Die Darwin-Nekrologe von 1882 stammen von Otto Zacharias (Bd. 5, 1882, S. 462-465) und Paolo Mantegazza (Bd. 4, 1882, S. 75-89). Im selben Band erschien Ferdinand v. Saars „Excellenzherr".

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Auf der Höhe 1 (1881), S. IV.

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theils indem sie die von der Wissenschaft aufgespeicherten, für die Massen todten Goldbarren ausmünzt, theils indem sie selbst der Entdeckung neuer Wahrheiten nachgeht im Menschenleben und vor Allem im Menschenherzen."52 In diesem Sinn werde „jeder bedeutende Schriftsteller [...] auch einen neuen eigentümlichen Inhalt und daher neue Ideen und neue sittliche Anschauungen und Gesetze in seinen Werken zu Tage fördern"55, wobei diese Möglichkeit in einem idealistischen Erkenntnis- und Bildungsoptimismus wurzelt: „In dem Maße wie unsere Erkenntniß wächst, verändert sich unsere Moral."5* Das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft, wie es Sacher-Masoch exponiert, steht somit in direktem Gegensatz zur Theorie der programmatischen Realisten; zum Verhältnis von Literatur und Wissenschaft hatte sich der programmatische Realismus - jedenfalls in seiner Theorie - auf Arbeitsteilung und Sonderweg eingerichtet. Die Überschreitung der Grenzen von Wissenschaft, Politik und Literatur, wie sie Romantik und Vormärz in verschiedenen Wendungen konzipierten, sollten im Interesse der Literatur als Kunst rückgängig gemacht werden. In Die Reaktion in der deutschen Poesie schreibt Julian Schmidt 1851: „Die deutsche Poesie ist darum vornehmlich in der Tendenz steckengeblieben, weil sie ihre Grenze überschritten hat. Sie glaubte ihr Gebiet zu erweitern, wenn sie vom Schönen abging [...]. Es hat sich aber gezeigt, daß diese Vermischung [mit dem Gebiet der Wissenschaft] eine unheilvolle war. Die Wissenschaft, soweit sie sich ihrerseits frei davon gehalten, ist mit Riesenschritten weitergedrungen; die Poesie ist aus einer Krankheit in die andere gefallen."55 Bei Friedrich Spielhagen wird der Konkurrenzkampf der Literatur gegen die Wissenschaften am deutlichsten ausgesprochen: „Ja, die Menschheit unserer Tage will aus dem Leben machen, was sich machen läßt, wenn man es recht versteht", und er benennt die Konkurrenzunternehmen um den „tiefen Einblick in die menschliche Natur": „die Rechtswissenschaft mit ihren Hilfswissenschaften, zu welchen auch die historischen Wissenschaften, als Darstellung der Entwickelung der Menschheit bis zu ihrem jetzigen Zu-

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54 55

Sacher-Masoch: Werth der Kritik, S. 50. Sacher-Masoch: Werth der Kritik, S. 26. Vermächtniß Kains, 2. Tl., Bd. 1, S. 32: „Jeder echte Poet wird in seinen Werken neue sittliche Anschauungen und Gesetze zu Tage fördern." Sacher-Masoch: Vermächtniß Kains, 2. Tl., Bd. 1, S. 33. J. Schmidt: Die Reaktion in der deutschen Poesie. [1851] In: Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung. Hgg. v. G. Plumpe. Stuttgart 1985, S. 91-99, S. 99.

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stände, zu rechnen wären", weiters „die Naturwissenschaft; zusammen: die Betrachtung des Menschen in stetigem Bezug auf die socialen und natürlichen Bedingungen seiner Existenz. Und wo bleibt die Kunst? welche Berechtigung hat sie noch, wenn die Arbeit der Menschheit von der Wissenschaft so gründlich gethan wird?" Es seien gerade noch „die Romandichter unter allen Kunstgenossen in der günstigsten Lage, weil eben keine Kunst und kein anderer Zweig der Dichtkunst die furchtbare Konkurrenz der Wissenschaften so gut aushalten kann". Die nahe Verwandtschaft des Romans mit den Erfahrungswissenschaften beruhe „auf der Eigentümlichkeit der epischen Phantasie, den Menschen immer auf dem Hintergrunde der Natur, immer im Zusammenhang mit - in der Abhängigkeit von den Bedingungen der Kultur, d. h. also so zu sehen, wie ihn die moderne Wissenschaft auch sieht".56 Mittlerweile ist in der Forschung das Bewußtsein dafür gewachsen, daß die Blockade, die die realistische Programmatik gegen die Wissenschaft aufgerichtet hatte, individuelle literarische Aneignungen von Wissenschaft durch die Autoren nicht verhindert hat. Eher dürfte die Konzentration auf eine „Theorie" des Realismus der Literaturwissenschaft lange den Blick auf die mannigfachen Formen der Integration von Wissenschaft und Literatur verstellt haben.57 Wenn nach Gerhard Plumpe der „Realismus die funktionale Spezialisierung der Literatur programmatisch erneuert" 58 , war diese Selbstbeschränkung zunächst auch durch den Charakter des Hauptzugs der damaligen Naturwissenschaften, die als eine Profanierung und Prosaisierung der Welt, keinesfalls ihrer „Verklärung", erscheinen mußten, plausibel; der aggressive Reduktionismus der Wissenschaftsmaterialisten schien jeder Form von „Verklärung" den denkbar größten Widerstand entgegenzusetzen. Der „Darwinismus" jedoch, zumal in der von den Liberalen etablierten Fassung, eröffnet neue Sinn- und Darstellungsangebote und kann als Klammer zwischen den getrennten Feldern literarischer, „philosophi36 57

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F. Spielhagen: Das Gebiet des Romans. (1873.) In: F. S.: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. Leipzig 1885, S. 35-63, S. 39-41. Dazu der sehr gute Epocheniiberblick von Wolfgang Rohe: Literatur und Naturwissenschaft. In: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890. Hgg. v. E. Mclnnes u. G. Plumpe. München, Wien 1996, S. 211-241. Gerhard Plumpe: Systemtheorie und Literaturgeschichte. Mit Anmerkungen zum deutschen Realismus im 19. Jahrhundert. In: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Hgg. v. H. U. Gumbrecht u. U. Link-Heer. Frankfurt/M. 1985, S. 251-264, S. 262.

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scher" und einzelwissenschaftlicher Weltaneignung fungieren. Adalbert Stifter, dessen Interesse an Naturwissenschaft deutlich aus seinen Texten hervorgeht, hat Darwins Origin of Speeles besessen59; bei Theodor Storm, Wilhelm Raabe und Theodor Fontane60 wird Darwinismus in verschiedenem Interesse in Erzähltexten benützt. Der Schriftsteller und Fachhistoriker Felix Dahn lobt an Gustav Freytags historischem Romanzyklus Die Ahnen „die schönste Verwerthung der Darwinschen Principien von Individuation, Vererbung, Anpassung und Atavismus."61 Gottfried Keller hatte schon im Grünen Heinrich eine Vielzahl von wissenschaftlichen Diskursen literarisch integriert, darunter physiologische Theoreme der Wissenschaftsmaterialisten, besonders Jakob Moleschotts.62 Die Sinnangebote des Darwinismus hat Keller nicht angenommen, wie seine implizite Polemik im Sinngedicht (1881) zeigt; im Sinngedicht stehen das „Licht" und die Poesie gegen die optischen Experimente des Wissenschaftlers Reinhart. Darwins „allgemeine^] Vertilgungskrieg[ ]" wird dabei in Opposition zu humanen Inseln seiner Suspendierung gesetzt63, die im Zusammenhang mit Kellers „heller", sich auf Feuerbach stützender Immanenzphilosophie stehen. Literarisch bezog sich Sacher-Masochs Realismuskonzept stets auf den Realismus von Gogol und Turgenjew; wenn aber Realismus immer ein Kampfbegriff ist64, so ist die von Sacher-Masoch angestrebte Fusion von darwinistischer Wissenschaft und Weltanschauung mit Literatur eine einsich59

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Stifter besaß die erste deutsche Übersetzung. Vgl. Erwin Streitfeld: Aus Adalbert Stifters Bibliothek. Nach den Bücher- und Handschriftenverzeichnissen in den Verlassenschaftsakten von Adalbert und Amalie Stifter. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1977, S. 105-148, S. 156. Vgl. vor allem Wilhelm Kühlmann: Das Ende der „Verklärung". Bibel-Topik und prädarwinistische Naturreflexion in der Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Schiller-Gesellschaft 50 (1986), S. 417-452; Eberhard Rohse: „Transzendentale Menschenkunde" im Zeichen des Affen. Raabes literarische Antworten auf die Darwinismusdebatte des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1988, S. 168-210. Felix Dahn: Gustav Freytag: Aus einer kleinen Stadt. In: F. D.: Bausteine. Gesammelte kleine Schriften. 5. Rh. Berlin 1882, S. 14-19, S. 15 f. Vgl. Wolfgang Rohe: Roman aus Diskursen. Gottfried Keller: „Der grüne Heinrich" (Erste Fassung; 1854/55). München 1995. Jürgen Rothenberg: Geheimnisvoll schöne Welt. Zu Gottfried Kellers „Sinngedicht" als antidarwinistischer Streitschrift. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 95 (1976), S. 255-290. Vgl. Karl Eibl: Das Realismus-Argument. Zur literaturpolitischen Funktion eines fragwürdigen Begriffs. In: Poetica 15 (1985), S. 514-528.

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tige Strategie im literarischen Feld. Die legitimatorischen Texte Sacher-Masochs sind so stark in polemischen Kontexten verankert, daß der argumentative Gehalt oft schwer von sehr kleinräumigen Literaturfehden zu trennen ist. Anstatt bei Sacher-Masoch deshalb ein begriffliches Defizit zu diagnostizieren, könnte man annehmen, daß es sich hierbei nur um extreme Ausprägungen der epochentypischen eristischen Normalform von Argument gehandelt habe. Im Zusammenhang mit seinem Darwinismus konnte Sacher-Masoch ein literarisches Innovationsprinzip formulieren, das den „Fortschritt" im „fortschrittlichen" Schriftsteller gewährleistet sieht: Angriffe der Kritik sind „[e]in Zeichen, daß ich alle Ursache habe, auf diese Werke [Die geschiedene Frau und Das Vermächtniß Kains, W. M.] stolz zu sein, indem ich in denselben meine ästhetische und sittliche Aufgabe in einer Weise erfüllt habe, wie kein zweiter jetzt lebender Poet." 65 Mit seiner Darwin-Berufung ist Sacher-Masoch in den sechziger und siebziger Jahren kein großes Risiko eingegangen, er hat sich vielmehr in ein Feld legitimer Dissidenz eingeschrieben. Der weltanschauliche „Optimimus", der Sacher-Masochs zweiten Gewährsmann Schopenhauer in einem kulturalistischen Darwinismus aufgehoben erscheinen läßt, gestattet die Prognose, je weiter sich der Mensch von der Natur entferne, „um so mildere Formen nimmt der ursprünglich wilde und blutige Kampf um das Dasein an." 6 6 Diese Fusion der epochentypischen populärphilosophischen Leerformeln ist kein Einzelfall. In einem Nachwort zu seinem darwinisierenden Epos Nächte des Orients erklärt Adolf Friedrich v. Schack gegen die Behauptung, „die Weltanschauung in der ersten Hälfte des Gedichtes sei pessimistisch, in der zweiten optimistisch", es werde mit diesen Worten „ein arger Mißbrauch getrieben": „Man kann nun den Jammer, welcher durch alles Leben und durch die ganze Geschichte bis auf den heutigen Tag geht, erkennen und lebhaft empfinden, ohne deshalb der ersten dieser beiden Lehren zuzustimmen; aber wenn man auf Grund der neuesten Naturwissenschaft annimmt, daß der Mensch, der sich im Laufe von Jahrhunderttausenden aus den untersten Formen des animalischen Lebens emporgerungen, auch noch einer höheren Entwicklung entgegengehe und daß dann, wie das Böse so auch das Leiden auf der Welt sich mindern werde; wenn man gegen das viele

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Sacher-Masoch: Werth der Kritik, S. 32. Sacher-Masoch : Werth der Kritik, S. 30.

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Gute und Schöne, das doch inmitten alles Weltelends schon zutage gekommen ist, das Auge nicht verschließt und in ihm die Keime zu einer noch reicheren Ernte für die Zukunft erblickt, so bekennt man sich dadurch noch nicht zu der Leibnitzschen These, die Voltaire so köstlich verspottet hat." 67 Für die „Liebe" bedeutet „Pessimismus" nichts anderes, als daß - wie im Don Juan von Kolomeam - sich freie Gattenwahl und das bürgerliche Konzept emphatischer Liebe als „Passion" als bloße Masken eines naturgesteuerten Begehrens erweisen; sobald dieses sich durchgesetzt habe, sei es mit der Liebe vorbei. Insofern zielt der meist nach Schopenhauers Modell von der List der Natur („Strategem") gegenüber „Hans und Grete" 69 gestaltete Konflikt auf eine Desillusionierung des romantischen Liebescodes; Desillusionierung bezüglich affektiv besetzter und Affekte steuernder gesellschaftlicher Institutionen heißt im 19. Jahrhundert „Pessimismus". Dieser Pessimismus enthält somit einen kritischen Impuls, der in den meisten Fällen wieder in neuen Illusionen pazifiziert wird. (Der „Pessimismus" dieses Motivs ist allerdings mißverständlich. Bei Schopenhauer wird die Desillusionierung bezüglich der Geschlechtsliebe mit der biologischen Bedeutung der Sache verrechnet: „Das nämlich, was dadurch entschieden wird, ist nichts Geringeres als die Zusammensetzung der nächsten Generation."70 Der Gedanke, daß dies in bestimmter Hinsicht umso schlimmer sein könnte, wird bald nicht mehr geteilt. Darwin zitiert den Satz in Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, um die Wichtigkeit des Themas zu unterstreichen, als er auf die durch soziokulturelle Faktoren suspendierte sexuelle Selektion beim Menschen zu sprechen kommt. 7 1 )

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Schack: Nächte des Orients, Nachwort. In: Die Krokodile. Ein Münchner Dichterkreis. Texte und Dokumente. Hgg. v. J. Mahr. Stuttgart 1987, S. 440-445, S. 442 f. Eine tröstliche Fassung des Motivs präsentiert Wladimir in der „Mondnacht" Olga (J 159). Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Textkritisch bearb. u. hgg. v. W. Frhr. v. Löhneysen. Bd. 2: Die Welt als Wille und Vorstellung II. Frankfurt/M. 1986, S. 682. Zur Schopenhauer-Rezeption jetzt Wolfgang Riedel: „Homo Natura". Literarische Anthropologie um 1900. Berlin, New York 1996. Schopenhauer: Welt als Wille und Vorstellung II, S. 682. Darwin: Abstammung, S. 662. Darwin zitiert sekundär nach einem Artikel „Schopenhauer and Darwinism" im Journal of Anthropology, 1871; der Darwin-Übersetzer J. V. Carus hat die Stelle ins Deutsche rückübersetzt.

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In strategischer Rücksicht jedenfalls ist dieser optimistische Darwinismus, der Darwin selbst, allerdings auf strengerer naturalistischer Grundlage, nicht fremd war, Apologie. Denn: Handeln die Novellen von Ehebruch ( Don Juan von Kolomea, Die Mondnacht), von der „masochistischen" Thematik (Venus im Pelz) und Homosexualität (Die Liebe des Plato), jedenfalls „pikanten" Themen, läßt diese konzeptuelle Rahmenerzählung den Naturalismus der Problemnovellen gleichsam als historischen erscheinen. Die Formwahl des Novellen-Zyklus hat aber auch nicht zu unterschätzende Vorteile: Sie ermöglicht ein Baukastensystem, das bereits fertiggestellte Novellen nach Wahl in einen der Kontexte des „Hauptwerks" einzufügen gestattet. Zum anderen garantiert die weitgehende Eigenständigkeit der Teile ZWEIT nicht das Gelingen des Gesamtwerks, jedenfalls aber die Möglichkeit, eine Sammlung von Perversionen und Konflikten, als bürgerliche Teratologie Naturgeschichte im alten Verständnis, durch einen „idealen" Sinn gedeckt abzusetzen. Das Agonale, das der Novelle als der Ersatzform für das Drama eignet (nach Spielhagen weist „die Novelle sowohl in ihrem Endzweck als in ihrer künstlerischen Oekonomie eine entschiedene Aehnlichkeit mit dem Drama" auf 7 2 ), kann sich, allemal interessanter als „Entwickelung" oder „Lösung", als „Kampf ums Dasein" verstehen und kann so als in das große (illusorische) Konzept integriert präsentiert werden. „Geschichte", „Ereignis", „Einseitigkeit", „Experiment, wie die Naturforscher sagen", diese Kategorien der Heyseschen Novellenlehre können nun bis ins Extrem getrieben werden. Sacher-Masoch sagt einmal mit dem Habitus des Wissenschaftlers, der sein Ergebnis präsentiert: „Der Autor sucht [...] zuerst die Lösung der geschlechtlichen Frage, er sucht sie vergebens in den ersten fünf Novellen seines Cyklus und findet sie in der letzten". 73 Der „wilde Kampf um das Dasein" (Sacher-Masoch) wird als Totalität die Novellen beherrschen dürfen; zum halben Preis. Als Drama, genauer: als Tragödie rückt das Bild, genauer: die Szene vom Kampf ums Dasein die dramatis personae in einen universalen Schuldzusammenhang (das „Vermächtnis Kains") ein, der, indem er sich als Naturzustand herausstellt, nicht nur den Autor, sondern zugleich auch noch die Protagonisten von moralischer Schuld freispricht. 72 75

Spielhagen: Novelle oder Roman? (Gelegentlich der Novellen von Marie v. Olfers.) (1876.) In: Spielhagen: Beiträge zur Theorie und Technik, S. 243-257, S. 246. Sacher-Masoch: Werth der Kritik, S. 47.

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In der Literatur zu Sacher-Masoch ist es üblich geworden, seine Selbstaussagen zu ridikülisieren und seine „Theorie" als Maske des „masochistischen" Komplexes zu lesen. Damit rücken die Texte in ein Schema ein, das der zeitgenössischen Rezeption durchaus fremd war; denn neben den Protesten gegen die „Unsittlichkeit" seiner Novellen von der Liebe bestand von sehen der Kritik durchaus die Bereitschaft, seine literarische Produktion als „Beitrag" zu den „Problemen" der Gegenwart ernst zu nehmen. Friedrich v. Bärenbach - Pseudonym des ungarischen Philosophen Frigyes Medveczky, eines kantianischen Ethikers und „Darwinisten" 7 4 - attestierte Sacher-Masochs Literatur, „die Wege zu weisen zur Erhebung über die gemeine Last und Nothdurft des Lebens, um die Tausende, denen der lange und dornichte Pfad zur Weisheit verschlossen ist, ohne einzudringen in die Schachte des Wissens, rüstig zu machen zum Kampf um den Besitz der Wahrheit und des Lebens." Sacher-Masoch sei zuzutrauen, daß „aus seinem Pessimismus und aus seiner unverhüllten Darstellung der wichtigen Erscheinungen im Kampf ums Dasein die Lösung ernster Fragen hervorgehen [wird] wie die großen Probleme des Denkens aus Hunger und Tod und Liebe, die zwischen ihnen steht, und die vereint das Scepter unserer Welt halten." 75 So wäre schon aus Gründen historischer Angemessenheit der Versuch angezeigt, nicht das masochistische Szenario in immer neuen Varianten aufzufinden, sondern zunächst die durch die Kontexte von SacherMasochs Literatur gesicherte Trennung in ein Sacher-Masochsches „Privatsystem" einerseits, ein gleichsam öffentliches System andererseits aufrechtzuerhalten. 76 Exponierte Symbole wie der Pelz spielen dann in beiden Systemen eine kohärente Rolle. Daß die Venus Pelz trägt, mag auf Sacher-Masochs Vorlieben zurückzuführen sein, in Venus im Pelz ist der Pelz

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Bärenbach (1856-1914), Professor der Philosophie an der Universität Budapest (1882 a. o., 1886 o. Prof.) (D. Geistige Ungarn, OBL). Sein Werk „Herder als Vorgänger Darwins und der modernen Naturphilosophie" (1877) zitierte Haeckel in seinem Vortrag „Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck" (1882) als Beleg für die Abkunft des Darwinismus aus der Naturphilosophie.

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F. v. Bärenbach: Literarisch-kritische Studien über Sacher-Masoch's „Vermächtniß Kains". In: Deutsche Monatsblätter (Bremen) 2 (1879), H. 5, S. 66-86, S. 71. Koschorkes Versuch, den „masochistischen" Gehalt der Texte als epochenspezifisch auszuweisen, wobei deren marktförmige Verwertungen diesen dann hinter das immer blassere Bild einer „inszenierten Perversion" zurückfallen ließen, wäre dann nicht sehr zielluhrend. Albrecht Koschorke: Leopold von Sacher-Masoch. Die Inszenierung einer Perversion. München, Zürich 1988.

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jedenfalls ein starkes Requisit einer komplexen Textstrategie, das nicht auf „Frau mit Fetisch" reduzierbar ist, sondern ein Wechselspiel von Kunst und Natur annonciert. Die „Lehren Schopenhauers und Darwins" bezeichnen das engere Theorie- und Geschichtskonzept Sacher-Masochs. Die Darwin-SchopenhauerSynthese ist dabei ein Zeitphänomen. So schreibt Ferdinand v. Saar an seinen Freund, den Schriftsteller Stefan Milow, über Darwins Abstammung des Menschen: „Merkwürdig ist es, wie nahe Darwin an Schopenhauer streift, wie sich die beiden Lehren gegenseitig beleuchten und ergänzen und traurig ist es, daß Darwin Schopenhauer nicht kennt oder nicht kennen will."77 Darwin hat Schopenhauer aus eigener Lektüre tatsächlich nicht gekannt; Schopenhauers Überlegung, der (unbewußte) Wille schaffe den Organismen die Organe („Das Resultat ist: nach dem Willen jedes Tiers hat sich sein Bau gerichtet."78), hatte mit Darwins Theorieprogramm auch nichts zu tun. Schopenhauer wurde übrigens durch die Programmatiker des Realismus durchweg abgelehnt 79 ; eine Sammelrezension neuerer Schopenhauer-Literatur von Rudolf Haym in den Preußischen Jahrbüchern wendet sich gegen Schopenhauer selbst.80 Umgekehrt nahm Schopenhauer Darwins Theorie wenigstens indirekt zur Kenntnis; er schreibt am 1. März 1860 an Adam v. Doß: „Aus Darwin's Buch [gemeint ist die Entstehung der Arten, W. M.] habe [ich] einen ausführlichen Auszug in den Times gelesen: darnach ist es keineswegs meiner Theorie verwandt, sondern platter Empirismus, der in dieser Sache nicht ausreicht: ist eine Variation der Theorie de la Mark's." 81 Schopenhauers Konjunktur nach 1848 verdankt sich dennoch auch der Verbindung einer plakativen Philosophie mit einer Fülle von naturwissen-

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Saar an Milow, 7. 7. 1871. Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung (i. f. „WStLB" und Inventarnummer) 68.072. Am 29. 10. 1871 zeigt sich Saar von seiner Lektüre enttäuscht, Milow solle sich lieber Haeckels „Natürliche Schöpfungsgeschichte" beschaffen. WStLB IN 68.082. Schopenhauer: Über den Willen in der Natur. Sämtliche Werke III, S. 364. Dazu Georg Jäger: Die Gründerzeit. In: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880. Hgg. v. Max Bucher u. a. Stuttgart 1981, Bd. 1, S. 96-159, S. 120 f. Rfudolf] Haym: Arthur Schopenhauer. [Sammelrez.] In: Preußische Jahrbücher 14 (1864), S. 45-91 u. S. 179-243. Schopenhauer an Doß, 1. 3. 1860. In: Schopenhauers Briefe an Becker u. a.; sowie andere, bisher nicht gesammelte Briefe aus den Jahren 1813 bis 1860. Hgg. v. E. Grisebach. 3., mehrf. berichtigter Abdr. Leipzig 1895, S. 384.

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schaftlichen Realien, die zur Stützung seines Weltsystems herangezogen werden und die den Eindruck erwecken mußten, hier werde mit dem Mikrometer philosophiert. Nach Rudolf Haym bestach manche „der poetischmystische Schimmer, der über einigen Partien dieser Weltanschauung ausgegossen lag; [...] noch Andere endlich sahen hier zuerst einen Weg eröffnet, um die Ergebnisse und Ansprüche der exacten Wissenschaften mit dem metaphysischen Bedürfniß, Naturalismus und Idealismus miteinander auszusöhnen." 82 Dieses Versöhnungsangebot war es, das Darwin und Schopenhauer als optisch ähnlich erscheinen lassen konnte (oder Darwin als Fortsetzung Schopenhauers). Die Ambivalenz der Darwin-SchopenhauerSynthese erleichterte die Versöhnung mit den Konsequenzen der beiden Ansätze. 83 Wenn der pessimistische Gegenwartsbefund aufgehoben werden konnte, so nur durch eine naturalistische Überbietung, die die idealistischen Garantien Schopenhauers in Hochrechnung integrierte. Die Anziehungskraft des Darwinismus lag hier in seinem Zug nach vorne, der zugleich die realhistorischen Voraussetzungen dieses Fortschritts vergessen machte. In diesem Sinn referiert Kürnberger, ein exponierter Revolutionsteilnehmer und Exilant, in einer sympathisierenden Rezension die Perspektiven von Der Fortschritt im Lichte der Lehren Schopenhauers und Darwins des steirischen Privatiers Emmerich DuMont und läßt die realen Agenten des „Fortschritts" in der „fortschrittlichen" Naturgeschichte verschwinden: „Die Gattungen sind perfectibel! Das ist das große Wort der Darwinschen ,Entwickelungstheorie'. [...] [Eines Tages wird] ein anderer Diogenes die Gründer, die Jobbers und den ganzen Adam Smith'schen Utilitarier mit seiner Laterne höchstens noch in so wenigen Exemplaren finden, wie die Cagots in Frankreich und die Trotteln im Pinzgau." 84 Im Kontext dieser Darwin-Schopenhauer-Fusion ist auch Sacher-Masochs „Programm" zu lesen, wenn auch sicher Koschorkes Befund zuzu82 85

Haym: Schopenhauer, S. 46. „Schopenhauer wirkt auf diejenigen, die sich keinem Projekt mit Haut und Haaren verschreiben wollen: weder der Verzweiflungs- noch der Fortschrittskultur. Es waren sehr biedere, fest und zumeist auch mäßig erfolgreich im Leben stehende Menschen, die zu Schopenhauers ersten Anhängern zählten." Rüdiger Safranski: Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie. Eine Biographie. München, Wien 1987, S. 499.

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Die Heimat (Wien) 2 (1877), S. 775 f., S. 775. DuMont übersandte 1876 das Buch als „Achtungsgeschenk" an Kürnberger, der Anfang einer Freundschaitsbeziehung; vgl. Ferdinand Kümbergers Briefe an eine Freundin (1859-1879). Hgg. v. 0 . E. Deutsch. Wien 1907, S. 338 f. u. Anm. S. 439.

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stimmen ist, man könne „Sacher-Masochs Belesenheit überhaupt nur schwer unterschätzen [...]. Sooft er etwa von Schopenhauer spricht, als dessen Geistesgenossen er sich betrachtet, erhebt er sich doch in keinem Fall über das Niveau und den Kenntnisgrad der zeitgenössischen Salonphilosophie." 85 Zu fragen ist deshalb nach dem spezifischen Gebrauch, der bei Sacher-Masoch von „Schopenhauer", insbesondere aber von „Darwin" gemacht wird. „Die Lebensanschauung der großen slawischen Welt im Osten wird freilich auf den ersten Blick für den deutschen Leser etwas Ungewöhnliches haben", schreibt Sacher-Masoch zum Erstdruck der Novelle Mondnacht „statt eines Vorwortes" in einem „Brief [...] an die Herausgeber des ,Salon'" - Ernst Dohm und Julius Rodenberg - , „aber entspricht sie nicht in ihren Grundzügen ganz den Ideen Schopenhauers? Findet man nicht da wie dort denselben gesunden Pessimismus, dieselbe rückhaltlose Anerkennung der Naturgesetze, dasselbe Gefühl der Nothwendigkeit, dieselbe Resignation, dieselbe Strenge des Pflichtgefühls, dieselbe tiefe Natur-, Thierund Menschenliebe?" (J 104) Die hier behauptete Kongruenz des Erzählgegenstandes mit der durch das Erzählwerk zu illustrierenden „Lebensanschauung" korrespondiert mit einem Modell, das zugleich den Novellen des Vermächtniß Kains und der Selbstpositionierung dieser Novellen im literarischen Feld zugrundeliegt. Angesichts der epischen Naivität, die Kürnberger Sacher-Masoch attestierte, hat dieser eine merkwürdig hohe Anzahl von diskursiven und selbstapologetischen Texten publiziert, parallel zu seinen scheinbar „naiven" Novellen (Robert Hamerling, der einer gänzlich anderen literarischen Habitusform anhing, fürchtete, in dessen Broschüre Ueber den Werth der Kritik auch nur genannt zu werden 86 ). Sacher-Masoch benützte - meist polemisch - die Schreibanlässe literarischer Kritiken seines Werkes, um seine Texte mit „wissenschaftlichen" Beglaubigungen zu versehen und innerhalb poetologischer Reflexionen seine Gewährsleute in der zeitgenössischen Diskussion zu nennen.

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Koschorke: Sacher-Masoch, S. 100. Sacher-Masoch beruhigte zwar Hamerling in diesem Punkt, löste dann aber das Versprechen damit ein, daß er ihn in der Broschüre „als Freund" angriff. Sacher-Masoch: Erinnerungen an Robert Hamerling. In: R. H.: Ungedruckte Briefe. Hgg. u. mit einem Vorw. vers. v. J. Böck-Gnadenau. 4. Tl. Wien 1901, S. 110-123, S. 117. Sacher-Masoch: Werth der Kritik, S. 66 f.

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Zugleich wird an Sacher-Masochs Umgang mit zustimmender Kritik deutlich, daß seine Texte einer diskursiven Stützung geradezu bedürfen. Wenn Kürnbergers Kritik (deren strategische Bedeutung für Sacher-Masoch so hoch war, daß er die Topik seiner Selbstbeschreibung aus ihr bezog, in den meisten seiner diskursiven Texte sind Allusionen auf Kürnberger zu finden) auf den Gegensatz „deutsche Reflexion" vs. „slavischer Realismus" abhob, kehrte Sacher-Masoch in der Vorrede zur Mondnacht vor deutschem Publikum Kürnbergers Argument dergestalt um, daß er „nicht allein d[er] Form, de[m] Realismus der Darstellung" seinen Erfolg zuzuschreiben meinte, „sondern gerade de[m] Inhalt, d[er] Weltanschauung, d[en] leitenden Ideen." (J 104) Dieser Umgang mit Kürnbergers kulturkritisch inspiriertem Ansatz wurde durch eine spezifische Konstellation ermöglicht, die in den Texten selbst etabliert wird. Kürnbergers Vorrede zum Don Juan von Kolomea schloß mit dem Satz: „Er [der Protagonist der Novelle] erzählt es so naiv, daß er selbst nicht ahnt, welchen tiefen Gehalt er erzählt u n d eben darum ist seine Geschichte keine Tendenznovelle, sondern ein Stück - Naturgeschichte des Menschen,"87 Dieses Urteil enthält eine eigentümliche Ambivalenz: „seine Geschichte" kann als „narratio" oder als „historia" gelesen werden. Im ersten Fall könnte die Erzählung des „Don Juan" freilich keine „Tendenznovelle" sein, weil die Erzählung des Protagonisten in eine Rahmenerzählung in Ich-Form eingebettet ist, somit die „Novelle" Sacher-Masochs als ganze beurteilt werden müßte; zudem könnte die Erzählweise wohl nicht Anspruch auf den Status eines anthropologischen Belegs erheben. Im zweiten Fall wäre wohl der individuelle Fall des „Don Juan" ein solcher Beleg, als Fall jedoch gleichfalls keine Novelle. Im Gegensatz zu Kürnbergers kulturkritischer Emphase ist es jedoch gerade das Stilprinzip der Novellen in Das Vermächlniß Kains, daß sie das Modell von „naiv" und „sentimentalisch" selbst in der Engführung von Rahmenerzählung u n d „authentischer" Binnenerzählung errichten; die Ich-Figur tritt von außen an die ethnologischen Fälle heran und wird Zeuge einer Erzählung. Auffallig oft reflektieren deshalb die „authentischen Erzähler" den Erzählvorgang selbst, der so mit der Signatur „realistischer" Authentizität ausgestattet wird. „Da hab' ich Ihnen richtig so eine Anekdote erzählt", korrigiert sich der „Don Juan" (J 55). In Mondnacht wird die Kernnovelle von der

87

Kürnberger: Vorrede, S. 194.

Sacher-Masochs „Naturgeschichte des Menschen"

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Somnambulen Olga in Trance erzählt, die sich entschuldigt: „,Ich kann dem Leopold nicht Alles so in der Ordnung erzählen,' fuhr sie fort, ,ich sehe zu viel, die Bilder jagen vorbei wie Wolken im Sturme. [...]"' (J 119 f.); als ihre Geschichte, von Anfang an von ihr selbst in der dritten Person erzählt, an Dynamik gewinnt und deshalb alle oralen Elemente aus dieser sekundären Erzählung verschwinden, heißt es: „Olga erzählte so fließend, ihre Rede hob und senkte sich melodisch wie eine murmelnde Quelle, daß es den Eindruck machte, als würde sie ihre Geschichte mit anmuthigem Tonfall vorlesen, oder habe sie Wort für Wort auswendig gelernt und sage sie nun her. Sie lebte offenbar Alles noch einmal durch, jeder Zug, Ton und Farbe, jede Bewegung stand wie gegenwärtig vor ihr." (J 134 f.) „Ich weiß nicht, ob ich mich gut ausgedrückt habe", sagt die („sentimentalische") Ich-Figur in Der Capitulant, worauf ihr die um ein Lagerfeuer versammelten „Naiven" versichern: „,Vollkommen,' rief der ganze Kreis zuvorkommend. ,Wenn der Herr erlaubt,' nahm der Capitulant das Wort, ,will ich sagen, was ich davon denke, so nach meiner Art, wie ich es verstehe.' ,Mich laßt reden,' schrie der Alte und hob drohend seinen Polster. ,Ihr sprecht immer fort. Laßt mich zuerst reden.' ,Sprich also.' ,Ja, was wollte ich sagen?',Jetzt weiß er nicht, was er sagen will!' ,Also - ' der Alte stak wieder. Wir lachten." (J 98) All diese Umständlichkeiten dienen der Beglaubigung der Figurenrede des Alten, der eine der thesenhaften Positionen von Sacher-Masochs Überlegungen zum Geschlechterverhältnis ausspricht, wie immer gesperrt gedruckt: „Sie [die Frau] kann nicht arbeiten wie der Mann." (J 98) (Der Sperrdruck ist ein sehr sicheres Indiz für jene Stellen, auf die es Sacher-Masoch ankam. Die meisten Sätze, die die „Naiven" im Sperrdruck sprechen, finden sich in seinen „theoretischen", selbstlegitimatorischen Texten als Thesen wieder.) Ebenso sagt die Somnambule zu ihrem Zeugen „Leopold": „,Die Olga hat keine Sünde auf sich als daß sie ein Weib ist und daß sie erzogen wurde wie man ein Weib erzieht, zum Genuß, nicht zur Arbeit, gleich dem Mann. [.••]'" (J 115) „,Der Mann ist [im Gegensatz zur Frau, W. M.] ein Anderer geworden im Lauf der Zeiten,' sprach sie sanft, ,er hat das Thier weit hinter sich gelassen, iind der Mann, der denkt, ersinnt, erfindet, der Künste, Wissenschaften hat, braucht auch ein anderes Weib als jener, der vor Tausenden von Jahren geerntet hat ohne zu säen, und sein Wild erwürgt hat, wie der Wolf", worauf Olga wie zur Selbstkorrektur der Stilhöhe fortfährt: „,Aber ich will ihm eine Geschichte erzählen. [...]"' (J 116) Zur Beglaubigung der Authentizität der unwahrscheinlichen Konstellation bemüht Sacher-Ma-

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,Kampf ums Dasein" und „Venus im Pelz"

soch einen „Brief" an „Emerich Grafen Stadion in Venedig", dieser könne deren faktische Wahrheit bestätigen. 88 Im Capitulanten ist die Ich-Figur „gespannt, ihn [den „Alten"] zu hören; denn unsere Bauern sind, ohne je ein Buch gesehen, einen Federzug gemacht zu haben, geborene Politiker und Philosophen. Es ist orientalische Weisheit in ihnen [...]. Ich erwartete zu hören, was man nicht alle Tage hört und weder in Hegel noch Moleschott liest." (J 72) Der Erzähler wird nicht enttäuscht; dennoch sprechen „unsere Bauern" exakt das, was man vielleicht nicht in Hegel und Moleschott, jedoch in Darwin und Schopenhauer las (oder dort zu lesen erwartete). Die Einheit der Novellen ergibt sich daraus, daß die Naiven dieselben Formeln reproduzieren, wie sie die beobachtende Ich-Figur bereits im typischen Natureingang der Novellen ausgesprochen hat, häufig mit der Formel vom „Kampf ums Dasein". Im Unterschied zum zeittypischen Reflexionsverbot verstand Sacher-Masoch auch das Goethesche „Bilde, Künstler! Rede nicht!" in einem sehr eingeschränkten Sinn; nur wenige Dichter verstünden es, „statt der Rede, das Bild, die Gestalt zu geben und nur diese sind eigentlich Dichter." 89 Das Reflexionsverbot, das nach Kürnberger die deutsche Literatur nur als Lippenbekenntnis verfolge („Sie enthalten sich der Reflexionen nur mit der feinsten und studirtesten Reflexion."90) und das durch Sacher-Masochs Naturgestalten neuen Sinn erhielte, erstreckt sich seinen Beispielen zufolge nur auf Ekphrasis und Stillage, nicht aber auf die grundsätzliche Motivierung von Literatur durch Maximen und Sentenzen (in Venus im Pelz etwa das Goethesche „Hammer oder Amboß"). In seinen poetologischen Ratschlägen „Regeln für Composition" und „Regeln für Darstellung" an die junge Autorin Emilie Mataja (Ps. Emil Marriot) rät Sacher-Masoch, „was Wahrheit und Poesie betrifft meine Schilderungen im Vermächtniß Kains (Judenschänke im Don Juan Schneesturm im Kapitulant - Mondnacht in der Mondnacht) zum Muster" zu nehmen. 91 „Im Capitulanten hat die Schilderung des Schneesturmes den Zweck die richtige Stimmung zu geben, die Natur erscheint so groß und der

88 89

90 91

Dieses Authentizitätssignal führte umgekehrt dazu, daß die literarische Öffentlichkeit auf Stadion aufmerksam wurde (Wurzbach: „Stadion"). Sacher-Masoch an Mataja, [1875]. L. v. Sacher-Masoch: Seiner Herrin Diener. Briefe an Emilie Mataja. Nebst Anhang u. Nachw. hgg. v. M. Farin u. A. Koschorke. München 1987, S. 24. Kürnberger: Vorrede, S. 189. Sacher-Masoch an Mataja, [1875]. Sacher-Masoch: Seiner Herrin Diener, S. 18.

Sacher-Masochs „Naturgeschichte des Menschen"

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Kampf ihrer Elemente so gewaltig, daß der Mensch mit seinem kleinen Schicksal, seinen kleinen Kämpfen und Leiden dagegen verschwindet und zu stummer Resignation gelangt. Das Naturbild motivirt zugleich den Charakter des Helden." 92 Im Natureingang des Capitulanten wird jedoch nach einer „poetischen", abundant metaphorischen „Deskription" stets sofort eine sentenzhafte Reflexion eingeschoben: „man sieht die Natur in ihrer Nacktheit, den Kampf des Daseins" (J 62); die Schlittenfahrt durch den „Schneeocean" wird unterbrochen mit den Sätzen: „Wir glauben nur zu fahren, nichts hinter uns, nichts vor uns, wie wir zu leben glauben. Denn leben wir? Heißt nicht leben, sein? und nicht mehr sein - nie gewesen?" (J 64). Im selben Sinn interpretiert der Erzähler in der Novelle einen Satz des „Alten": „,Ich glaube, er spricht die Wahrheit,' sagte ich.,Alles beugt sich der Notwendigkeit, jedes Lebendige fühlt wie traurig das Dasein und doch kämpft Jedes verzweiflungsvoll darum und der Mensch kämpft mit der Natur, mit dem Menschen und der Mann mit dem Weibe und ihre Liebe ist auch nur ein Kampf um das Dasein. [...]"' (J 97) Aus demselben metaphorischen Repertoire wie der „sentimentalische" Erzähler schöpft auch der „naive" „Capitulant": ^Erlaubt also,' redete wieder der Capitulant. ,Ich habe es aufgegeben, so um das nackte Leben zu kämpfen und zu sündigen wie die Andern, ich bin einmal unterlegen, genug damit. [...]"' (J 98) Die philosophierenden Rezensenten von Sacher-Masochs Texten wie Theodor von der Ammer und Friedrich v. Bärenbach 95 reproduzieren damit lediglich das in den Texten angelegte Verhältnis von „sentimentalisch" und „naiv", wenn sie den „philosophischen" Text der Novellen freilegen und diskursiv diskutieren. Nach Sacher-Masochs Kongruenzfiktion, auf die ihn übrigens Kürnberger gebracht hat94, ist dieser Vorgang nicht unplausibel. „Man nimmt gewöhnlich an," schreibt Sacher-Masoch 1879 in einer autobiographischen Skizze, „daß ich ein Schüler Schopenhauer's bin, 92 93

94

Sacher-Masoch an Mataja, [1875]. Sacher-Masoch: Seiner Herrin Diener, S. 22. Theodor von der Ammer [d. i. Karl v. Perfall]: Robert Hamerling und Sacher-Masoch. Studie. [Das Pantheon, Dresden 1873] Auszüge in: Hamerling: Ungedruckte Briefe 4, S. 91-94; Bärenbach: Literarisch-kritische Studien. „Kürnberger war es vorbehalten, mich auf die Verwandtschaft der von mir entwickelten ,Slavischen Ideen' mit der Philosophie Schopenhauers aufmerksam zu machen." SacherMasoch: Eine Autobiographie. [Deutsche Monatsblätter 1879]. Wieder in: L. v. S.-M.: Souvenirs. Autobiographische Prosa. Mit den Erinnerungen seiner zweiten Frau Hulda Edle von Sacher-Masoch u. einem Nachw. München 1985, S. 68.

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,Kampf ums D a s e i n " und „Venus im Pelz"

während nur von einer Geistesverwandtschaft die Rede sein sollte." Die Geistesverwandtschaft der Slawen mit Schopenhauer erklärt er aus der Buddhismus-Rezeption des „Frankfurter Weisen", die bei den Slawen schon „um viele Jahrhunderte früher" eingetreten sei. „Wenn man unsern Bauer in Galizien sprechen hört, meint man, er müsse Schopenhauer sehr fleißig studirt haben, und doch hat er die Welt als Wille und Vorstellung und die Parerga und Paralipomena gewiß nicht gelesen, weil er überhaupt nicht lesen kann. Aus dieser Anschauung und diesen Instinkten heraus habe ich meine Geschichten geschrieben." 95 Maximen werden bei Sacher-Masoch durch ihre Bestätigung durch die „Naiven" nicht auf den Status ethnologischer Weltweisheit zurückgestuft, sondern affirmiert. Das „ethnographische" Beglaubigungssystem von Das Vermächtniß Kains, das die „Naiven" zur Unterstützung der investierten Sentenzen benützt, kann aber auch in der Gegenrichtung eingesetzt werden. Im „theoretischen" Modus kann Sacher-Masoch „auf der Höhe" (so auch der Titel einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift) der Zeit argumentieren und die Erzählungen von den Rändern der Zivilisation in ein menschheitsgeschichtliches Szenario eingliedern, da die Formeln seiner Erzählungen zugleich aktuelle Selbstverständigungsbegriffe der Zeit sind.

DARWINISTISCHE

SZENARIEN

„Durch nichts aber steht die heutige Naturwissenschaft dem Leben und Treiben unserer Zeit näher," resümiert schon 1863 der Wiener Physiker Reitlinger, „als durch das von Darwin erst kürzlich aufgestellte drakonische Gesetz des ,Kampfes ums Dasein'. Wir leben in einer Zeit, in der es täglich schwerer wird, der rastlosen und maßlosen Concurrenz gegenüber sich zu behaupten. Wie leicht verschwinden heutzutage von der Bühne die Schwachen und Matten im Privat- und Völkerleben. Mit einer Gewaltsamkeit, wie nie, wird er gekämpft, der große ,Kampf ums Dasein', und Jeder von uns hat seine verzehrende Wucht schon empfunden. Die ergreifend düstere Philosophie Schopenhauer's reducirt sich auf theils satyrische, theils elegische Betrachtungen über diesen Kampf ums Dasein. [...] Er findet statt zwischen Mensch und wildem Thier, und zwischen Mensch und Mensch, der dabei

95

Sacher-Masoch: Eine Autobiographie, S. 67 f.

Darwinistische Szenarien

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nur auch zu oft zum wilden Thiere wird. Er wird geführt zwischen Racen, Nationen, Staaten und Individuen. Die Weltgeschichte und das tägliche Leben werden dem Leser Illustrationen in Fülle darbieten." Nach Reitlinger kämpfe auch die Naturwissenschaft diesen Kampf gegen „Gleichgiltigkeit, Irrthum und veraltetes Vorurtheil", doch sie werde siegen. 96 Max Schneiders Deutsches Titelbuch gibt für die Zeit zwischen dem Erscheinungsjahr von Darwins Origin ofSpecies, 1859, und 1914 nicht weniger als 20 Titel an, die die Wendung „Kampf um ..." enthalten; darunter sind Robert Byrs darwinistisch inspirierter Roman Der Kampf um's Dasein, ein „Versuch [...], einen naturwissenschaftlichen Satz, auf den die neueste Schule zum Theil ihre Theorie der Genesis und Weiterentwicklung alles Existirenden gründet, herauszugreifen und auf die menschliche Gesellschaft umzulegen" 97 , Felix Dahns Ein Kampf um Rom, Karl Emil Franzos' Ein Kampf ums Recht, Conrad Albertis naturalistische Romanreihe Ein Kampf ums Dasein und Clara Viebigs Schauspielreihe Der Kampf um den Mann,98 Darwins Werk On the Origin of Species byMeans of Natural Selection war mit dem Untertitel: or the Preservation ofFavouredRaces in the Strugglefor Life 1859 bei John Murray in London erschienen; der Titel der Ubersetzung von Heinrich Georg Bronn lautete Uber die Entstehung der Arten im Thierund Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um's Daseyn (1860 bei Schweizerbart in Stuttgart). Damit war die Prägung der folgenreichen Formel „Kampf ums Dasein" vollzogen.99 Im deutschen Sprachraum waren im Jänner 1860, also nur zwei Monate nach der englischen Erstauflage, zwei Rezensionen erschienen, eine von Bronn selbst im Jahrbuch für Natürliche Mineralogie, eine andere von Oskar Peschel in dessen populärgeographischer Zeitschrift Das Ausland, die sich spätestens unter der Redaktion des Schriftstellers und Kulturgeschichtlers Friedrich v. Hellwald ab 1872 zu einem der wichtigsten

96 97 98 99

E[dmund] R[eitlinge]r: Aus dem grünen Saale. In: Die Presse (Wien), 9. u. 10. 4. 1865. Robert Byr [d. i. Karl Emmerich Robert v. Bayer]: Der Kampf um's Dasein. Roman. 5 Bde. 2. Aull. Jena 1872. Vorrede zur 2. Aufl., S. VII. M. Schneider: Deutsches Titelbuch. Ein Hilfsbuch zum Nachweis von Verfassern deutscher Literaturwerke. 2., verb. u. wesentl. verm. Aufl. Berlin 1927, S. 352 f. Zu Bronn vgl. Walter Baron: Zur Stellung von Heinrich Georg Bronn (1800-1862) in der Geschichte des Evolutionsgedankens. In: Sudhoffs Archiv 45 (1961), S. 97-109.

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darwinistischen Propagandaorgane im deutschen Raum entwickeln sollte und emphatisch für Darwin, David Friedrich Strauß und Ernst Haeckel eintrat. Bronns Darwin-Rezension hebt ganz auf die Schöpfungs-/Entwicklungsproblematik ab und benützt die Formel überhaupt nicht; Peschel hat für „struggle for life" folgendes Repertoire zur Verfügung: „Kampf u m Leben und Tod", „Kampf auf Tod und Leben"; dreimal „Kampf u m das Leben", dann „Krieg der Arten" und „Kampf u m die Existenz". 100 Darwin selbst hat im Titel „struggle for life"; das dritte Kapitel, das den „Kampf ums Dasein" behandelt, ist „struggle for existence" übertitelt. (Die Wendung „survival of the fittest" - bei J. Victor Carus mit „Uberleben des Passendsten" übersetzt - stammt von Herbert Spencer und wird von Darwin erst in spätere Auflagen aufgenommen.) In Haeckels von ihm später so genannter „Jungfernrede" des Darwinismus auf der deutschen Naturforscherversammlung in Stettin 1863 findet sich bereits selbstverständlich „Kampf um das Dasein", einmal „Ringen u m die Existenz". 101 Im systematischen Zusammenhang seiner drei Jahre später erschienenen Generellen Morphologie wird die Wendung problematisiert: „Der Kampf u m das Dasein oder das Ringen u m die Existenz oder die Mitbewerbung u m das Leben (Strugglefor life, am passendsten vielleicht als ,Wettkampf um die Lebens-Bedürfnisse' zu bezeichnen) ist eines der grössten und mächtigsten Naturgesetze, welches die gesammte OrganismenWelt, die Menschen-Welt nicht ausgeschlossen, regiert". 102 Darwin hatte, was strugglefor life anbetraf, m e h r als vorsichtig formuliert: „I should premise that I use the term Struggle for Existence in a large and metaphorical sense, including dependence of one being on another, and including (which is more important) not only the life of the individual, but success in leaving

100 Oskar Peschel: Eine neue Lehre über die Schöpfungsgeschichte der organischen Welt. [1860] Wieder in: Darwin: Uber die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl [...]. Nach der letzten englischen Ausgabe wiederholt durchges. v. J. V. Carus. [Reprint d. 9., unv. Aufl. Stuttgart 1920] Hgg., eingel. u. mit einer Auswahlbibl. vers. v. G. H. Müller. Darmstadt 1992, S. 586*-610*. 101 Haeckel: Ueber die Entwickelungs-Theorie Darwin's. Vortrag, gehalten am 19. September 1865 in der ersten allgemeinen Sitzung der 38. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Stettin. [1863] In: E. H.: Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre. 2., verm. Aufl. Bonn 1902, Bd. 1, S. 1-54, S. 25, 29, 32. 102 Haeckel: Generelle Morphologie, Bd. 2, S. 251 (i. 0. teilw. gesperrt).

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progeny."103 Haeckel hingegen läßt diesen breiten semantischen Spielraum nicht gelten: ,,[S]o wollen wir die betreffende anders lautende Stelle Darwins hier ausdrücklich widerlegen", was er denn auch in einer ausladenden Fußnote unternimmt, mit dem Ergebnis: „Der wirkliche Kampf ums Dasein kann nur ein Wettkampf zwischen verschiedenen Organismen sein, welche um die Erlangung derselben Existenz-Bedürfnisse ringen".104 Darwins Textstrategie besteht nun darin, in der Folge den agonalen Charakter des von ihm entworfenen Naturbildes zunehmend zu relativieren, bis zur harmonischen Schlußvision: „It is interesting to contemplate an entangled bank, clothed with many plants of many kinds, with birds singing on the bushes, with various insects flitting about, and with worms crawling through the damp earth, and to reflect that these elaborately constructed forms, so different from each other, and dependent on each other in so complex a manner, have all been produced by laws acting around us. [...] Thus, from the war of nature, from famine and death, the most exalted object which we are capable of conceiving, namely, the production of the higher animals, directly follows", ein „progress towards perfection".105 Ernst Mayr hat gezählt, daß in Origin of Species das Wort „perfect" und seine Derivationen 123mal erscheinen.106 Am Ende des „struggle for existence"-Kapitels hatte es tatsächlich im Stil einer Theodizee geheißen: „When we reflect on this struggle, we may console ourselves with the full belief, that the war of nature is not incessant, that no fear is felt, that death is generally prompt, and that the vigorous, the healthy, and the happy survive and multiply."107 Darwins Textinteresse in der Ausdehnung der Metapher vom Kampf ums Dasein in der Entstehung der Arten ist es also nicht, das bellum omnium contra omnes allgemein zu machen, wenn es heißt, „a plant on the

105 Darwin: The Origin of Species by Means of Natural Selection or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. [Text der 1. Aufl. 1859] Ed. with an introduction by J. W. Burrow. Harmondsworth 1985, S. 116. 104 Haeckel: Generelle Morphologie, Bd. 2, S. 259 f. 105 Darwin: The Origin of Species, S. 459. 106 Ernst Mayr: The Concept of Finality in Darwin and after Darwin. In: Scientia 77 (1985), S. 97-117, S. 105. 107 Darwin: The Origin of Species, S. 129.

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edge of a desert is said to struggle for life against the drought" 108 , sondern das genaue Gegenteil. Haeckel läßt Darwin diese Argumentation nicht durchgehen und reduziert die Darwinsche Metapher auf das kühle Denotat des Duells; und wenn Darwin sich in der Entstehung der Arten, was den Menschen anbetrifft, auf den Satz beschränkt: „Light will be thrown on the origin of man and his history" 109 , hat Haeckel die „Menschen-Welt" schon integriert. Die formale Verhärtung der Metapher zur Formel einerseits, die Reduktion ihres Bedeutungsspielraums auf den Zweikampf andererseits aktualisieren nun nicht nur für die Fachwissenschaft, wie das das Beispiel Ernst Haeckels hat zeigen sollen, das semantische Feld, das das weitere Schicksal des Darwinismus als Konzept und als Redewendung bestimmen wird. Jede Reinterpretation wird schon auf den originalen Darwin zurückgreifen müssen, eine Anstrengung, die durch die bald einsetzende Popularisierungsliteratur leicht zu vermeiden sein wird. Die Verselbständigung der Metapher war freilich in „Darwins plots" (Gillian Beer) angelegt, denn eine Naturwissenschaftssprache, „die sich einer anthropomorphen oder soziomorphen Metaphorik bedient", hat nach Uwe Pörksen „die Tendenz, in Anthropologie oder Sozialtheorie umzuschlagen." ,,[J]e weniger die Sache bekannt ist, umso mehr gewinnt ein wortgesteuertes Verstehen die Oberhand. Es wird besonders durch metaphorische Termini begünstigt. [...] Die breite und verzerrende Wirkung Darwins hängt [...] unmittelbar mit seiner Begriffsbildung zusammen." 110 In Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus schreibt 1918 der Zoologe Oscar Hertwig: „Wenn [...] in Darwin's Schriften und in der durch ihn beeinflußten [Fach-]Literatur von natürlicher Auslese und natürlicher Zuchtwahl gesprochen wird, so kann dies nur in der Weise geschehen, daß die Natur nach Art eines menschlichen Wesens vorgestellt oder anthropomorphisiert wird. In die nüchterne, sachliche Sprache der Naturwissenschaft wird auch hier wieder eine dichterische Lizenz hineingetragen." 111 Diese „dichterische Lizenz", wie der Naturwissenschaftler in denunziatorischer Absicht formuliert, ist zugleich eine Lizenz für die Dichter.

108 Darwin: The Origin of Species, S. 116. 109 Darwin: The Origin of Spedes, S. 458. 110 Uwe Pörksen: Zur Metaphorik der naturwissenschaftlichen Sprache. Dargestellt am Beispiel Goethes, Darwins und Freuds. In: Neue Rundschau 89 (1978), S. 64-82, S. 79 u. 75. 111 Oscar Hertwig: Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus. Jena 1918, S. 15.

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Darwins irenisches Schlußwort wurde mit einer Theodizee verglichen; Rudolf Gottschall hatte in seiner Rezension das Vermächtniß Kains „Luciferiade", „eine auf den Kopf gestellte Theodicee" genannt. 112 In der Polemik Ueber den Werth der Kritik (1875), deren zentrale Aussagen ein Jahr später wörtlich wiederkehren werden 113 , verkehrt Sacher-Masoch dieses Diktum in sein Gegenteil: ,,[D]a dieser Gedanke [„der fortschreitenden, geistigen und sittlichen Entwicklung und Erhebung des Menschen aus sich selbst heraus, die allmälige Veredlung der Natur selbst durch ihn"] zugleich der deutlich ausgeprägte Grundgedanke meines , Vermächtniß Kains' ist, wer wagt es noch zu behaupten, daß diese novellistische Theodicee nicht ein Werk von eminent ethischer Tendenz und Bedeutung ist?" 114 Gillian Beer hat die textuellen Verfahren der „Darwinian myths" nachgezeichnet, die in Origin of Species ein grundlegend ambivalentes Naturbild etablieren und zugleich in Balance halten sollen. In Anschluß an die Terminologie Northrop Fryes wird zwischen „comic vision" und „tragic vision" unterschieden, „Darwin's theories not only undermined older ordermgs but contained within them opposing stories." 115 Wenn, wie noch im einzelnen zu zeigen sein wird, diese Ambivalenz in der sich auf Darwin berufenden Literatur häufig nach einer der beiden Dimensionen hin vereindeutigt wird (ohne daß sie vollständig zu tilgen wäre), sollen bei Sacher-Masoch stets beide - konträren - „Naturen" Darwins präsent sein und homogenisiert werden. Die „Theorie" Sacher-Masochs faßt diese Fusion in die Form einer zeitlichen Abfolge: „Je näher der Mensch der Natur steht, um so befangener ist er in seinen thierischen Trieben, seinen Leidenschaften, um so grausamer, wenn es dieselben zu befriedigen oder fremdes Glück zu zerstören gilt. Je weiter er sich durch die Kultur von der Natur entfernt, um so mehr wird seine Selbstsucht eingeschränkt, um so mildere Formen nimmt der ursprünglich wilde und blutige Kampf um das Dasein an." 116 Nach seinem „ersten Grundgedanken" ist die Welt „nicht, wie Leibnitz zu beweisen versuchte, die möglichst beste, sondern vielmehr die möglichst schlechteste." 112 Rudolf Gottschall: [Rez. zu: Das Vermächtniß Kain's. Novellen von Sacher-Masoch.] In: Blätter für literarische Unterhaltung (Leipzig), 8. 12. 1870, S. 785-789, S. 785. 113 Im Vorwort zum 2. Teil des „Vermächtniß Kains", 1874. 114 Sacher-Masoch: Werth der Kritik, S. 47, Einschub S. 46. 115 Gillian Beer: Darwin's Plots. Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot and Nineteenth Century Fiction. London u. a. 1985, S. 114. 116 Sacher-Masoch: Werth der Kritik, S. 30.

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„Die Natur und der Mensch sind [...] von Haus aus böse." Dieser Theodizeekritik, die sich auf die „schwarze Aufklärung" des 18. Jahrhunderts berufen kann, korrespondiert die „tragic vision": „In der Luft wie im Wasser und auf der Erde kämpft alles Todte und Lebendige ununterbrochen den Kampf um das Dasein." 117 Der „zweite Grundgedanke" von Das Vermächtniß Kains, der „Gedanke der fortschreitenden, geistigen und sittlichen Entwicklung und Erhebung des Menschen aus sich selbst heraus", ist „comic vision" unter den Bedingungen des liberalen Pathos, ein „großer und erhabener, ein begeisternder" Gedanke. Der literarische Gebrauch der „Theorie" ist bei Sacher-Masoch jedoch um vieles komplexer; an vielen Stellen finden sich beide „visions" untrennbar verwirrt. Sacher-Masoch eröffnet seinen Gesamtzyklus mit dem Prolog Der Wanderer; ein russischer Sektierer entwickelt darin eine schopenhauerisch eingefärbte Predigt der Weltflucht, nach der man am besten dem Kreislauf des Werdens und Vergehens, des Kampfes und des Leids zu entkommen trachte. Die Ausgangssituation des Prologs - eine Jagdpartie eines Vornehmen und dessen Untergebener - ist eine deutüche Übernahme aus Turgenjews Aufzeichnungen eines Jägers, die novellistisch ein breites Sozialpanorama entfalten und in der deutschen Literatur der Zeit Epoche gemacht haben. Mit Blick auf Turgenjew schreibt Paul Heyse 1900 von der „Unsitte, die Handlung durch ein Ubermaß von Naturschilderungen zu ersticken, was gerade in dem knappen Raum, der der Novelle gewährt ist, doppelt fehlerhaft erscheint. [...] Wir finden Mondnächte, Schneelandschaften, Torfheiden mit so liebevoller Umständlichkeit behandelt, daß wir die Menschengeschicke, die sich hier vollziehen, eine Weile völlig aus den Augen verlieren, während doch die Kulissen sich der Handlung bescheiden unterordnen sollen." Ein wenig anders verhalte es sich bei „Turgenjew, selbst in seinem Tagebuch eines Jägers, in dem freilich die Naturstimmungen einen breiten Raum einnehmen, immerhin aber durch die Klarheit und Schärfe des beobachtenden Jägerauges einen großen Reiz erhalten und schließlich doch nur als Hintergrund von menschlichen Erlebnissen erscheinen, die nur aus solchen Naturbedingungen ganz zu verstehen sind." 118 Kulisse kann

117 Sacher-Masoch: Werth der Kritik, S. 45. 118 P. Heyse: Aus der Werkstatt. In: P. H.: Sämtliche Werke. Nachdruck. Rh. 4, hgg. v. M. Bernauer u. N. Miller. Bd. 6: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse. Tl. 2. Hildesheim, Zürich, New York 1995, S. 80.

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Natur bei Sacher-Masoch nicht sein, sie ist vielmehr Akteur. Natur und Gesellschaft stehen bei Sacher-Masoch im Verhältnis der Metonymie, am deutlichsten etwa in der („Lösungs-")Novelle Das Paradies am Dniester, in der der Protagonist Zenon die Ameisen betrachtet, um von ihnen „Arbeit [...], Fleiß, Eintracht und Gleichheit"119 zu lernen. Dieser Effekt steht im Dienst der „Kränkung" Darwins, den Menschen in den Naturzusammenhang rückgebunden zu haben, dies jedoch in einer eindeutig entmystifizierenden Form; so wie Darwin an anderer Stelle zeigt, „daß zwischen dem Menschen und den höheren Säugethieren kein fundamentaler Unterschied in Bezug auf ihre geistigen Fähigkeiten besteht".120 Der Theologe Laurenz Müllner nimmt an Sacher-Masochs Naturschilderungen wahr, daß „Sacher-Masoch seine blendendsten Stileffecte nicht dadurch [erzielt], dass er etwa, wie üblich, der Menschen Thun, Leiden und Treiben durch Naturbilder, sondern viel häufiger der Natur geheimnisvolles Weben, Drängen, Drohen, scheinbares Lieben und Hassen durch analoge Zustände und Äußerungen des Menschengemüthes illustrirt."121 Denselben Effekt lobt wieder Kürnberger an Turgenjew: „Es ist der direkte Gegenpol jenes tausendköpfigen Dichterlings, welcher in jedem Tautropfen sich und sein Liebchen erblickt; welchem, ach! die ,ganze Natur mitjubelt und mitweint', wenn er heute Assessor wird und morgen ein Kind begräbt." 122 Der Natureingang des Wanderer situiert den Erzähler und seinen Begleiter in einem „Urwald, welcher in schweren, dunklen Massen am Fuße unseres Gebirges lagert, und seine Riesenglieder weithin in die Ebene streckt. Der Abend ließ das scheinbar unbegrenzte Gebiet schwarzen jungfräulichen Nadelholzes noch finsterer und schweigender als sonst erscheinen; weithin war keine Stimme eines Lebenden, kein Laut, kein Rauschen eines Wipfels zu vernehmen" (J 7). Die danteske Szenerie des Urwalds, der zunächst 119 Sacher-Masoch: Vermächtniß Kains, 2. Tl., Bd. 2, S. 489. 120 Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen. [Reprint d. 6. Aufl.] 2. Aufl. Wiesbaden 1992, S. 72. 121 Laurenz Müllner: Sacher-Masochs „Vermächtnis Kains". In: L. M.: Literatur- und kunstkritische Studien. Beiträge zur Ästhetik der Dichtkunst und Malerei. Wien, Leipzig 1895, S. 52-43, S. 44. 122 F. Kürnberger: Turgenjew und die slawische Welt [Die Presse, Literaturblatt, 7. 6. 1866]. In: F. K.: Gesammelte Werke. Hgg. v. O. E. Deutsch. Bd. 2: Literarische Herzenssachen. Reflexionen und Kritiken. Neue, wesentl. verm. Aufl. München, Leipzig 1911, S. 98-110, S. 100.

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Fremdheit konnotiert, gewinnt sofort in der Anthropomorphisierung an Nähe: die „Riesenglieder" des Waldes, das schweigende „jungfräuliche Nadelholz" werden im nächsten Absatz näher als unbewegliche, ehrwürdige Fichtenhäupter bestimmt; wird so mit einigem metaphorischen Aufwand die äußere Natur als human gezeichnet, fehlt zugleich nicht die Kehrseite des Lebendigen: „Ein schwerer Geruch feuchter Fäulniß schwebte in den riesigen Nadeln und Halmen". „Manchmal erblickte man eines jener verwitterten grün überzogenen Felsstücke, wie sie an dem Abhänge der Karpathen tief in die Wälder [...] zerstreut sind". Sogar die anorganische Natur scheint von der prokreativen Kraft des Lebens dominiert. Diese geologischen Reste, vom Grünen überzogen, sind dennoch geeignet, das bislang synchron-lebenszyklische Netz humanisierter Natur in einen (natur-)historischen Kontext überzuleiten: sie sind „stumme Zeugen jener halbvergessenen Zeit, wo ein großes Meer seine Fluthen gegen die zackigen Ufer unseres Gebirges trieb, und als sollte es uns an jene feierlich monotonen Schöpfungstage mahnen, erhob sich plötzlich ein starker Wind, und jagte seine unsichtbaren Wellen brausend durch die schweren Wipfel, die zitternden grünen Nadeln, die tausend und tausend Gräser und Kräuter, welche sich demüthig vor ihm neigten." (J 7) „,Kain! Kain!' scholl es uns plötzlich aus dem Dickicht entgegen," nachdem die Jäger einen Adler zur Strecke gebracht haben, „ehern, gewaltig wie die Stimme des Herrn, als er im Paradiese zu den ersten Menschen sprach, oder zu dem Verfluchten, der das ßlut seines Bruders vergossen hatte." (J 8) Der Wanderer („Das ist Einer, der auf der Flucht ist vor dem Leben." [J 9]) expliziert in neuer, diesmal aggressiver Variante die Kehrseite des metaphorischen Anthropomorphisierungsprozesses der Natur: „,Der Mensch ist also nach deiner Einsicht auch nur eine Bestie?' ,Allerdings! die vernünftigste, blutgierigste und grausamste der Bestien. Keine andere ist so erfinderisch ihre Brüder zu berauben, zu knechten, und so ist, wohin du blicken magst, im Menschengeschlechte wie in der Natur der Kampf um das Dasein, das Leben auf Kosten Anderer, Mord, Raub, Diebstahl, Betrug, Sklaverei. Der Mann der Sklave des Weibes, die Eltern ihrer Kinder, der Arme des Reichen, der Bürger seines Staates. [...]'" (J 11) Ohne die Paraphrasen zu zählen, wird dem „Wanderer" in der Folge auf wenigen Druckseiten viermal die fest etablierte Formel vom „Kampf ums Dasein" unterlegt. „Ich blieb allein in tiefer Waldeinsamkeit", fahrt der Erzähler fort, nachdem sich der Wanderer empfohlen hat (J 16), ,,[u]nd jemehr ich in mir gleichsam untergehe, um so mehr wird Alles um mich her lebendig und ge-

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sprächig und greift in meine Seele." (J 17) Die Natur holt den Träumenden aus seinem Schopenhauerschen retiro in den Zusammenhang des Lebendigen, sogar des vermeintlich Toten wieder zurück: „Bäume, Stauden, Halme, ja Stein und Erde strecken ihre Arme nach mir aus. ,Du willst uns entfliehen, Thor? vergebens, du kannst es nicht. [...]'" (J 17) Der scheinbare Widerspruch von Naturverfallenheit und Indifferenz der Natur soll sich in Darwins „Natur" lösen: Die lückenlose Kontinuität von Mensch und Natur, deren Kennzeichen unversöhnlicher Kampf ist, verunmöglicht sowohl das Bild: der Mensch trete der Natur als eine selbständige Macht gegenüber, als auch: er sei in einer diskreten chain ofbeings gleichsam romantisch geborgen. Daß diese Darwinsche Aufklärung nicht verhindert, daß die Natur nun dem Menschen gegenüber als eine selbständige Macht auftreten kann, belegt Sacher-Masochs Konzentration aller dieser Elemente in der Allegorie der Natur als grausamer Mutter. (Dem nicht ganz unähnlich, wird wenig später Friedrich Theodor Vischers Albert Einhart in Auch Einer den Befund, daß auch die „grünen Stellen" Vischers dem ,,Ganze[n] aller Scheußlichkeiten, [...] d[er] ganze[n] wurstgiftige[n] Wurst des Daseins", dem ,,allgemeine[n] Wechselmordsystem" der Natur nicht extraterritorial sind, zu einer vollständigen Dämonologie ausarbeiten. 123 ) Bei Sacher-Masoch heißt es nun weiter: „Und mir war als stände ich der finsteren, schweigenden [!], ewig schaffenden und verschlingenden Göttin gegenüber und sie begann mit mir zu reden" (J 17). Die Resakralisierung der Natur als Gottersatz ist bei Sacher-Masoch häufig; ähnlich trägt der Utopiegründer in der Lösungsnovelle von Eigenthum Züge Buddhas und spricht Christusworte. Natura loquitur: „Ich bin deine Mutter, ewig, unendlich, unveränderlich, wie du selbst durch den Raum begränzt, der Zeit hingegeben bist, sterblich, wandelbar." „Begreife, daß du ein Sklave bist, ein Thier, das im Joche gehen muß" (J 17), heißt es in der Figurenrede der Mutter Natur. So apostrophiert Severin die Photographie der Venus mit dem Spiegel von „Titian", die die Handlung von Venus im Pelzm in Gang setzt: „Hülle dich nur in deinen Despotenpelz, wem gebührt er, wenn nicht dir, grausame Göttin der Schönheit und Liebe!" (V 20) Der „Despotenpelz" bringt so den „Sklaven" und das „Thier" zusammen; im Capitulanten ist es

123 Friedrich Theodor Vischer: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. [1879] Mit einem Nachw. v. 0 . Borst Frankfurt/M. 1987, S. 70 f., dazu Kühlmann: Ende der „Verklärung". 124 Leopold v. Sacher-Masoch: Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus v. Gilles Deleuze. Frankfurt/M. 1980 (i. f. „V" u. Seite).

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die Ebene selbst, die den Pelz umgelegt hat: ,,[D]ie Ebene [lag] vor uns, unermeßlich, unfaßbar, unendlich. Der winterliche Hermelin gab ihr die höchste Majestät." (J 62) Der Fetisch des Pelzes rückt so in einen allgemeinen Naturzusammenhang ein, der sich darwinistisch legitimieren kann. Muß der Wanderer-Prolog den Mensch-Naturzusammenhang mythisch beschreiben, ihn also als unveränderlich darstellen, was durch kein geringeres Kunstmittel als eine allegorische Vision gedeckt ist, reicht das für die „dramatische" Novelle nicht aus. Die Verzeitlichung, die in Sacher-Masochs Programm liegt, wird nun im Rekurs auf eine völlig andere literarische Form, die Bildungsgeschichte, gelöst, die den Weg zur Szenerie des Kampfes zwischen Mann und Frau, zwischen Mann und Frau und Mann ebnet. Der Widerspruch von der im Prolog proklamierten Tiernatur des Menschen und der melioristischen Fortschrittsperspektive hin zur Kultur soll sich erst im Gesamtprojekt des Einzelzyklus lösen; dennoch erfordert die relative Einheit der Einzelnovelle eine vorläufige Aufhebung. Die Bildungsgeschichte vom schwachen zum starken Mann, die Severin von Kusiemski in den gewalthaften Mißhandlungen der Wanda von Dunajew durchzumachen hat, ist in der Kaminatmosphäre des Novellenrahmens von Venus im Pelz schon vergangen und ausgestanden: „Ich mußte lächeln, und wie ich in Gedanken versank, stand plötzlich das schöne Weib in der hermelinbesetzten Samtjacke, die Peitsche in der Hand, vor mir und ich lächelte weiter über das Weib, das ich so wahnsinnig geliebt, die Pelzjacke, die mich einst so sehr entzückt, über die Peitsche, und lächelte endlich über meine Schmerzen und sagte mir: die Kur war grausam, aber radikal, und die Hauptsache ist: ich bin gesund geworden." (V 158) Was hier in den Begriffen von Krankheit und Heilung abgehandelt wird, stellt sich in der organisierenden Metaphorik des Textes als Regression zum Tier dar; als Regression auf eine im Darwinschen Modell historisch „frühere" Stufe. Der Bildungs- und Heilungsgeschichte des Mannes geht ein paradoxer Bildungsgang der starken Frau zu sich selbst voraus, ein prototypisches: „Werde, was du bist": Naturwesen, das sich nicht zufallig mit „Negerinnen" („,Du bist eben, was ich will, ein Mensch, ein Ding, ein Tier Sie klingelte. Die Negerinnen traten ein." V 99) umgibt, die innerhalb der anthropologischen Hypostase des Darwinismus als Chiffre für Historisches dienen. Dasselbe gilt für den „Fürsten": „ein russischer Fürst, welcher durch seine athletische Gestalt, seine schöne Gesichtsbildung, den Luxus seines Auftre-

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tens allgemeines Aufsehen erregte. Die Damen besonders staunten ihn wie ein wildes Tier an, aber er schritt finster, niemand beachtend, von zwei Dienern, einem Neger ganz in roten Atlas gekleidet und einem Tscherkessen in voller blitzender Rüstung begleitet, durch die Alleen." (V 65) (Die für Darwin wilden und kulturlosen Feuerländer, die sich so sehr vom Gentleman-Naturforscher unterscheiden, hatten diesen schon auf seiner Reise auf dem Forschungsschiff Beagle irritiert; noch in der Abstammung des Menschen wird er auf sie zu sprechen kommen. 125 ) Planvoll wird die Regression Wandas zum Raubtier vorbereitet: Wanda wird mit der Farbe Grün eingeführt, die zusammen mit der Metaphorik der Schlingpflanze zeitgenössisch die naturhafte femme fatale annonciert: „Sie hat immer die grünen Jalousien geschlossen und hat einen Balkon, der ganz mit grünen Schlingpflanzen überwachsen ist; ich aber habe dafür [!] unten meine liebe, trauliche Gaisblattlaube, in der ich lese und schreibe und male und singe" (V 19). Zur Schlingpflanze tritt das (Spinnen-)Netz („,[•••] ich habe einen großen, großen Pelz, mit dem ich Sie ganz zudecken kann, ich will Sie darin fangen, wie in einem Netz.'" V 28). Zu Grün tritt Rot: „aus ihren Augen treffen mich zwei diabolische, grüne Strahlen" (V 23), „wie üppig ringelt sich das rote Haar - ja, es ist rot [...], und jetzt treffen mich ihre Augen wie grüne Blitze - ja, sie sind grün, diese Augen" (V 24). Von den Augen („Sie sann nach, ihr Auge bekam etwas Lauerndes, Unheimliches", V 37) gelangt die Novelle über das Pelzattribut zur Katze: „,Eine Frau, die also einen Pelz trägt', rief Wanda, ,ist also nichts anderes als eine große Katze, eine verstärkte elektrische Batterie?'" (V 44), wobei die „Elektrizität" zur „wissenschaftlichen" Rationalisierung des Pelzfetischs durch Severin gehört („Es ist ein physischer Reiz [...]. Die Wissenschaft hat in neuester Zeit eine gewisse Verwandtschaft zwischen Elektrizität und Wärme nachgewiesen, verwandt sind ja jedenfalls ihre Wirkungen auf den menschlichen Organismus." V 44). Darwins Selektionstheorie beruht auf zwei Konzepten, der Selektion insgesamt und auf einem Spezialfall, der sexuellen Zuchtwahl. Der steirische Philosoph Bartholomäus v. Carneri referiert in Sittlichkeit und Darwinismus (1871): „Er [Darwin] findet keinen Grund, die Annahme der aufmerksam-

125 Darwin: Abstammung, S. 700 f. Hans Christoph Buch hat Darwins Begegnung mit den Feuerländern in einer seiner „Nacherzählungen" verarbeitet. H. Ch. B: Jammerschoner. Sieben Nacherzählungen. Frankfurt/M. 1982.

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sten Naturbeobachter abzulehnen, welche alle darin übereinkommen, daß bei Vögeln ordentliche Wettgesänge stattfinden, daß der Felshahn in Guiana [Darwin: Guinea], die Paradiesvögel u. a. sich zusammenschaaren, und vor den als Zuschauer versammelten Weibchen das Gefieder entfalten, ja selbst in theatralischen Stellungen paradiren, und daß die Weibchen schließlich den besten Sänger oder elegantesten Cavalier mit ihrer Gunst belohnen. [...] Das unbestreitbarste Beispiel ist das des Löwen. Die Löwin sieht ruhig den Kämpfen auf Leben und Tod zu, welche die Nebenbuhler sich liefern; und da sie die Gattin des Siegers, folglich des Stärksten und überhaupt Vollendetsten wird, so kann die vorzügliche Erhaltung des ganzen Geschlechts dabei nur gewinnen." 126 Darwin sagt gelegentlich der Vögel: „Die Zeit der Liebe ist die Zeit des Kampfes. [...] Die Gegenwart des Weibchens ist die teterrima belli causa." 127 In die späteren Auflagen von Origin of Species nimmt Darwin eine von dem französischen Entomologen Fabre berichtete Szene auf, in der „die Männchen gewisser Hymenopteren [...] um ein besonderes Weibchen kämpfen, das wie ein scheinbar unbetheiligter Zuschauer des Kampfes daneben sass und sich dann mit dem Sieger zurückzog." 128 Während Darwin, vor allem in The Descent ofMan (1871), auf die geschlechtliche Zuchtwahl in Gestalt der Konkurrenz der Männchen und der Gattenwahl durch die Weibchen abhebt, betont Haeckel schon 1866 in seiner systematisch orientierten Generellen Morphologie der Organismen, daß die Zuchtwahl „von beiden Geschlechtern gegenseitig ausgeübt" werde. 129 Wird in Darwins Origin of Species der Mensch aber generell aus der Reflexion ausgeschlossen, findet Haeckel leicht eine menschliche Analogie zur sexuellen Auswahl in der Natur: „Vom Menschen wurden diese Kämpfe [um die Frau] besonders im Alterthum und Mittelalter ausgeübt, wo zahlreiche Duelle und Turniere von den Rittern ausgeführt wurden, und wo allgemein der Stärkere die Braut heimführte, und durch Vererbung seiner individuellen Körperstärke die Muskelkraft des männlichen Geschlechts

126 Bartholomäus v.] Carneri: Sittlichkeit und Darwinismus. Drei Bücher Ethik. Wien 1871, S. 25 f. 127 Darwin: Abstammung, S. 415. 128 Darwin: Über die Entstehung der Arten, S. 107. 129 Haeckel: Generelle Morphologie, Bd. 2, S. 247.

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häufen und befestigen half."130 Wird Darwin später diese gesteigerte Körperkraft des Mannes in einer kühnen Volte zur historischen Ätiologie der viktorianischen Geschlechterverhältnisse machen131, so zeichnet Haeckel ganz analog zu Sacher-Masochs Auflösung des ersten Zyklus in der Geschichte der geglückten Ehe der Marzella - das idealere Bild, daß „bei den höchst entwickelten Menschen vorzugsweise die psychischen Vorzüge [...] auf die sexuelle Wahl [...] einwirken" und so die „beiderseitigen Vorzüge der beiden sich ergänzenden Geschlechter jenen hohen Grad der Veredelung" erlangen, „welcher in der harmonischen Wechselwirkung der beiden veredelten Geschlechter in der Ehe das höchste Glück des menschlichen Lebens bedingt."132 „Sie will heute offenbar Aufsehen erobern, und das gelingt ihr vollständig. Heute ist sie die Löwin der Cascine" (V 113), sagt Severin von Wanda, die endlich das Mitleid mit ihm aufzugeben beginnt, also anfangt, seinem Erziehungsplan zur „Starken" aus innerem Antrieb Folge zu leisten: „,vielleicht wäre es nie an das Licht getreten, aber du hast es geweckt, entwickelt, und jetzt, wo es zu einem mächtigen Trieb geworden ist, wo es mich ganz erfüllt, wo ich einen Genuß darin finde, wo ich nicht mehr anders kann und will [•• •]"' (V 67). Die völlige Restitution des Naturzustands der sexuellen Zuchtwahl wird gegen Ende der Novelle erreicht: „Da sprengt ein junger Mann auf schlankem wilden Rappen heran; wie er Wanda sieht, pariert er sein Pferd und läßt es im Schritte gehen - schon ist er ganz nahe - er hält und läßt sie vorbei, und jetzt erblickt auch sie ihn - die Löwin den Löwen. Ihre Augen begegnen sich - und wie sie an ihm vorbeijagt, kann sie sich von der magischen Gewalt der seinen nicht losreißen und wendet den Kopf nach ihm. [...] So aufgeregt habe ich meine Löwin noch nie gesehen." (V 113 f.) Schließlich läßt sich Wanda, die „Löwin", von ihrem „Löwen" noch das darwinistische Emblem, das oben nach Carneri zitiert wurde, auslegen: „Während ich ihr den Pelz umgebe, steht er mit gekreuzten Armen neben

130 Haeckel: Generelle Morphologie, Bd. 2, S. 245. 131 Zu dieser Problematik existiert eine umfangreiche Spezialliteratur, zuletzt vgl. etwa Elvira Scheich: Klassifiziert nach Geschlecht. Die Funktionalisierung des Weiblichen für die Genealogie des Lebendigen in Darwins Abstammungslehre. In: Das Geschlecht der Natur. Feministische Beiträge zur Geschichte und Theorie der Naturwissenschaften. Hgg. v. B. Orland u. E. S. Frankfurt/M. 1995, S. 270-288. 132 Haeckel: Generelle Morphologie, Bd. 2, S. 247.

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ihr. Sie aber stützt, als ich ihr auf meinen Knien liegend die Pelzschuhe anziehe, die Hand leicht auf seine Schulter und fragt: ,Wie war das mit der Löwin ?' ,Wenn der Löwe, den sie gewählt, mit dem sie lebt, von einem anderen angegriffen wird', erzählte der Grieche, ,legt sich die Löwin ruhig nieder und sieht dem Kampfe zu, und wenn ihr Gatte unterliegt, sie hilft ihm nicht - sie sieht ihn gleichgültig unter den Klauen des Gegners in seinem Blute enden und folgt dem Sieger, dem Stärkeren, das ist die Natur des Weibes.' Meine Löwin sah mich in diesem Augenblicke rasch und seltsam an. Mich schauerte es, ich weiß nicht warum, und das rote Frühlicht tauchte mich und sie und ihn in Blut." (V 118) Es ist, in Anlehnung an Jürgen Link zu sprechen, gerade kein „Kollektivsymbol", sondern das „Privatsymbol" des Pelzfetischs, das dem Text Sacher-Masochs seine Kohärenz verleiht. Uber den Pelz der starken Frau gelingt es Sacher-Masoch, den Naturzusammenhang herzustellen, der dem darwinistischen Uberbau die Vermittlung mit der Handlungsebene gewährt. Dennoch bleibt es das Darstellungsproblem des Novellenzyklus, daß über die Naturalisierung die „Atavismen" das Übergewicht über die „Entwicklungsethik"133 erhalten müssen. Sacher-Masoch stellt diese Desillusionierungen in einen emanzipatorischen Rahmen (er reklamiert die Schopenhauersche Wahrheit für die Novellen von Das Vermächtniß Kains, in Marzella hingegen hat sich ,,[d]er Mann [...] in der Liebe über die Natur, über den Trieb erhoben und mit sich das Weib" 134 ), der freilich hinter den einzelnen gestalteten Szenarien häufig verschwindet. Schon Bärenbach hat angemerkt, daß die Restitution, damit das Verständnis der „Lehre" unabdingbar die Lektüre in der Reihenfolge des Zyklus voraussetzt, da sie durch die Abgeschlossenheit der Einzelnovellen konterkariert wird. Ein weniger sympathisierender Leser wie Rudolf Gottschall erkennt in den problematischen Novellen nur „alle Misgeburten der Liebe in Spiritus". „Sollen wir durch ein anatomisches Museum sogenannter ,Probleme' speizieren gehen?" 135 Gottschalls Kritik ist dabei nicht durch poetologische Differenzen 133 Laurenz Müllner, liberaler Wiener Theologe, später Philosoph, dem Darwinismus selbst nicht fernstehend, spricht von einer „Evolutionsethik, die ein recht luftiger, aber vorderhand wenig wohnlicher Bau ist. Die Culturgeschichte wie die tägliche Erfahrung bestätigen mit nichten das gleiche Schritthalten der ethischen und der intellectuellen Entwickelung in der Menschheit oder im Einzelmenschen". Müllner: Sacher-Masochs „Vermächtnis Kains", S. 44. 134 Sacher-Masoch: Werth der Kritik, S. 49. 135 Gottschall: [Rez. zu: Das Vermächtniß Kain's], S. 789.

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zu erklären; denn auch nach Gottschall „wollen [wir] aber doch in den Novellen auch aus dem lebenswahren Bild einen Gedanken hervorleuchten sehen, der eine Bedeutung, und sei es eine reformatorische, hat." 136 Ein zeitgenössischer Leser Sacher-Masochs hat unter den Schluß der letzten Novelle, Marzella, ratlos in das Exemplar der Wiener Stadt- und Landesbibliothek geschrieben: „Ist dieses Buch Lehrreich? oder Unsinn?" 1 3 7 Die Frage wird nicht leicht zu beantworten gewesen sein. Daß „dieses Buch" überhaupt als lehrreich hätte rezipiert werden können, ist Sacher-Masochs Konzeption der bürgerlichen Naturgeschichte des Menschen zu danken und seiner naturwissenschaftlichen Aufklärung. Sacher-Masoch hat sich nicht nur von der Wissenschaft einen über den technischen Fortschritt hinausgehenden gesellschaftlichen Zusatznutzen erwartet, sondern in anachronistischer Form auch für die Kunst alle Autonomiepostulate zurückgewiesen: Die Kunst sei nicht „Selbstzweck", sondern habe „eine sittliche Aufgabe, und zwar eine sehr ernste und bedeutungsvolle." 138 In extremer Form stehen in Unus im Pelz Demystifikation und Mystifikation nebeneinander. Selbst der Pelzfetisch wird einer „Erklärung" durch wissenschaftliche Erkenntnisse („Elektrizität") zugeführt („so erkläre ich mir auch die symbolische Bedeutung, welche der Pelz als Attribut der Macht und Schönheit bekam" [V 45], so Severin zu Wanda). Mit wenigen Ausnahmen stammen die Geisteshelden, die sich mit Katzen umgeben, aus der europäischen Aufklärungsepoche, so wie der „aufgeklärte Absolutismus" zumal in Gestalt der „großen Katharina" ein bevorzugter Stoff von Sacher-Masochs historischen Romanen ist: „Daher der hexenhaft wohltätige Einfluß, welchen die Gesellschaft von Katzen auf reizbare geistige Menschen übt und diese langgeschwänzten Grazien [!] der Tierwelt, diese niedlichen, funkensprühenden, elektrischen Batterien zu den Lieblingen eines Mahomed, Kardinal Richelieu, Crebillon, Rousseau, Wieland, gemacht hat." (V 44) „,Ich danke für die gelehrt erotische Abhandlung', sprach Wanda, ,aber Sie haben mir nicht alles gesagt, Sie verbinden noch etwas ganz Apartes mit dem Pelz.'" (V 45) Dieses für Severin nicht zu rationalisierende „ganz Aparte" („daß im Leiden ein seltsamer Reiz für mich hegt", ebd.) wird erst in einer epischen Schwärmerkur nach dem Muster der Auf-

156 Gottschall: [Rez. zu: Das Vermächtniß Kain's], S. 788. 157 Sacher-Masoch: Das Vermächtniß Kains. Novellen. Erster Theil: Die Liebe. 2 Bde. Stuttgart 1870, Bd. 2, S. 527. WStLB Druckschriftenabt. Sign. A 36.655. 158 Sacher-Masoch: Werth der Kritik, S. 29.

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klärungsliteratur 139 aufgehoben; als Einsicht in einen Gewaltzusammenhang, dessen Lösung auf die Zukunft vertagt wird und bis dahin vom genesenen Severin, der seine „hübsche kleine Frau" (V 16) nun seinerseits mit dem Kantschuk traktiert, als patriarchalische Idylle gestaltet werden kann. Sacher-Masochs Novellen enden nicht in Katastrophen, die wie - oder gar als - Naturereignisse über die Protagonisten hereinbrächen, sondern in erstaunlich leb- und aushaltbaren Tableaus. Ebenso bildet sich in Venus im Pelz exemplarisch die Ambivalenz der Integrationen Darwins in die Literatur des 19. Jahrhunderts ab. Sacher-Masoch benützt „Darwin" und „Schopenhauer" als Lieferanten von Desillusionierungstheoremen, so wie er in „Darwin" eine naturgesetzliche Basis von gesellschaftlichem Fortschritt findet, auf der der Kampf als Bewegungsgesetz seiner Epoche nicht geleugnet, sondern integriert wird. Selten konnte jedoch in der Literatur des 19. Jahrhunderts die Spannung produktiv gemacht werden, die aus der Desillusionierung (Kampf u m s Dasein) und der Wiederverzauberung der Welt (Fülle des Lebendigen und naturgewisser Fortschritt) entstand, im Rekurs auf die Evolutionstheorie. Mit „Darwin" wird naturwissenschaftliche Aufklärung getrieben, wie sich ihr die liberale Politik verschrieben hat; mit dieser teilt Sacher-Masoch seine Kompromisse. Hinter jener Aufklärung bleibt hier wie dort i m m e r ein inkommensurabler Rest, der schematisch nicht m e h r gebannt werden kann; dies soll abschließend an der Duell-Szene in Venus im Pelz gezeigt werden. Nach der langen Exposition durch Regression und „Raubtier"-Metaphorik wäre an dieser Stelle in der darwinistischen Topik zwischen Severin und d e m „Griechen" ein „Kampf ums Weib" zu erwarten gewesen, wie er etwa in der Novelle Mondnacht zwischen den einander ebenbürtigen Männern Wladimir und Mihael in einem Pistolenduell gipfelt (J 156). Ein solcher

139 Dazu etwa Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977; auch Verf.: Aporien der Spätaufklärung. Literarischer und sozialer Raum bei Johann Karl Wezel. Diplomarb. Wien 1992; bezüglich Sacher-Masoch geht in diese Richtung Michael T. O'Pecko: Comedy and Didactic in Leopold von Sacher-Masoch's „Venus im Pelz". In: Modem Austrian Literature 25 (1992), H. 2, S. 1-13. O'Pecko sieht in der „Venus im Pelz" eine satirische Novelle in der Nachfolge der Aufklärungsliteratur. Ein Vergleich von Sacher-Masochs Erzählung „Diderot in Petersburg" mit Erzählverfahren Christoph Martin Wielands bei Horst Thome: Funktionen erzählter Erotik. In: L. v. S.-M.: Diderot in Petersburg. Hgg. v. D. Bandhauer. Mit Essays von H. Hinterhäuser, H. T. u. W. Vogl. Wien 1987, S. 67-86.

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Kampf kann in der Konstellation von Venus im Pelz jedoch nicht eintreten, da er zwei Kämpfende voraussetzt, Severin sich jedoch aus freien Stücken bereits verloren gegeben hat. Severins Phantasie hebt vielmehr von Anfang an auf seine Unterwerfung ab; dennoch „verliert" er, nicht, weil er selbst vom „Griechen" gepeitscht wird, sondern weil er damit seine „Herrin" an einen „Nebenbuhler" verliert. Der Protagonist scheitert damit nicht an der naturwüchsigen Feindschaft der Geschlechter, wie es der zu beweisende Satz im Vermächtniß Kains verlangt hätte, sondern er ist als Künstler in ein Spiel verstrickt, das dem Subjekt seiner Phantasie genau deshalb entgleitet, weil es der darwinistischen Normalkonstellation ähnelt. Von Anfang an zielen Severins Bemühungen nicht lediglich auf seine Beherrschung durch Wanda ab, sondern auf den Dritten: „Ja - Sie haben in mir meine Lieblingsphantasie erweckt", sagt Severin zu Wanda: „,Der Sklave eines Weibes, eines schönen Weibes zu sein, das ich liebe, das ich anbete!' ,Und das Sie dafür mißhandelt!' unterbrach mich Wanda lachend. ,Ja, das mich bindet und peitscht, das mir Fußtritte gibt, während es einem andern gehört.'" (V 47) Wandas Erziehung zur grausamen Frau durch Severin glückt, weil sich beide im Kunstarrangement einig sind: „,Sie übertreffen meine Träume.' ,Ja, wir Frauen sind erfinderisch', sprach sie" (ebd.). Durch genau dieses Kunstarrangement jedoch findet sich Severin am Ende vom Subjekt seiner Phantasie zum bloßen Agenten einer anonymen Naturszene herabgestuft; im selben Maß, als Severins androgynes Ideal des Griechen („Wenn er minder feine Hüften hätte, könnte man ihn für ein verkleidetes Weib halten", V 113) als Mann und Raubtier auftritt („und der seltsame Zug um den Mund, die Löwenlippe, welche die Zähne etwas sehen läßt und dem schönen Gesichte momentan etwas Grausames verleiht", ebd.) und die Sphäre der Kunst verläßt, der er zu entstammen scheint. „Nein, mehr, er ist ein Mann, wie ich noch nie einen lebendig gesehen habe", vertraut Severin seinem Tagebuch an, ,,[i]m Belvedere steht er in Marmor gehauen, mit derselben schlanken und doch eisernen Muskulatur, demselben Antlitz, denselben wehenden Locken, und was ihn so eigentümlich schön macht, ist, daß er keinen Bart trägt." (ebd.) Die spielerische, „experimentelle" Unterwerfung unter Natur ist der Ausgangspunkt von Severins Phantasie: „Ich sah in der Sinnlichkeit etwas Heiliges, ja das einzig Heilige, in dem Weibe und seiner Schönheit etwas Göttliches, indem die wichtigste Aufgabe des Daseins: die Fortpflanzung der Gattung vor allem ihr Beruf ist; ich sah im Weibe die Personifikation der Natur, die Isis, und in dem Manne ihren Priester, ihren Sklaven und sah sie

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ihm gegenüber grausam wie die Natur, welche, was ihr gedient hat, von sich stößt" (V 45 f.). Die Formen solcher Grausamkeit sind ebenso wie Severins „Übersinnlichkeit" (nach Goethes Faust) aus literarischer und historischer Lektüre gezogen und werden in Kunstwerken wiedererkannt. Kunst und Sklaverei bedingen einander im antikisierenden Szenario der „Venus" (die Marmorstatue 140 , die Pygmalion-Allusionen [V 20], der deutsche Maler, der „Grieche", die Ideale), das als die künstlerische Verkehrsform des angestrebten Naturverhältnisses zu verstehen ist: „Schöne, freie, heitere und glückliche Menschen, wie es die Griechen waren, sind nur dann möglich, wenn sie Sklaven haben, welche für sie die unpoetischen Geschäfte des täglichen Lebens verrichten und vor allem für sie arbeiten." (V 29) Die mehrfachen Chiasmen zwischen metaphorischer Organisation und propositionalem Gehalt lassen damit ein wesentlich komplexeres Bild von „Natur" und „Kultur" entstehen, als es zeitüblich zu finden war. In der Konstellation Isis/„Natur" vs. Isispriester/Sklave ist der „Mann" die kulturelle und kultische Instanz; in der Konstellation Griechen/Frau/antike Kunst vs. Sklaven/Mann/[Barbaren] hat die kulturelle Instanz die Seiten gewechselt, dem „Mann" kommt hier die Aufgabe zu, „Kultur": Schönheit, Heiterkeit und Freiheit durch Sklavenarbeit erst zu ermöglichen. Ebenso wird in der Kernnovelle Wanda ambig eingeführt, indem sie zugleich mit der Marmorstatue und mit der Pflanzenmetaphorik verknüpft wird; ist ferner Wandas Entwicklung zum Raubtier als atavistische Regression organisiert, weist die metaphorische Brücke: Pflanze - Spinne - Löwin naturgeschichtlich in die entgegengesetzte Richtung. Severins Naturvergottung ist solange ästhetisches Spiel, das eine selbstgewählte Hypostase von Natur imitiert, bis er ein Szenario erdenkt, das selbst eine Naturkonstellation ist, während er es noch für ein künstliches Arrangement hält, für das tableau vivant „Apollo schindet den Marsyas". In diesem Augenblick verfallt Kunst der Natur: „aber Apollo [!] peitschte mir die Poesie heraus" (V 136). Somit wäre Venus im Pelz als Parabel über das Verhältnis von Kunst und Natur zu lesen; nicht der Darwinismus wäre dann die Kostümierung einer privaten Perversion, sondern es scheitert eine künstlerische Phantasie, die die darwinistisch konzipierten Gewaltverhältnisse der Natur „nachstellt", um daraus erotischen und ästhetischen Mehr140 Michiel Sauter: Marmorbilderund Masochismus. Die Venusfiguren in Eichendorffs ,Das Marmorbild' und in Sacher-Masochs ,Venus im Pelz'. In: Neophilologus 75 (1991), S. 118-127.

Darwinistische Szenarien

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wert zu ziehen. Ein ästhetisches Verhältnis zur Natur wird damit ausgeschlossen; am Ende der „Schwärmerkur" ist auch die Poesie des ästhetischen Selbstverhältnisses der Prosa des Alltags gewichen. Das reformatorische Konzept der Novelle, der moralische Satz („Aber die Moral?" [V 138]) wird nicht wie in den ersten Novellen des Zyklus von der Erzählerinstanz und den ihr zugeordneten „Naiven" vertreten, sondern von Wanda und ihrem geheilten Opfer. Der Befund „Hammer oder Amboß" (V 16, 38, 138) wird dabei in historischen Dimensionen zweimal relativiert. Severin resümiert: „Daß das Weib, wie es die Natur geschaffen und wie es der Mann gegenwärtig heranzieht, sein Feind ist und nur seine Sklavin oder seine Despotin sein kann, nie aber seine Gefährtin. Dies wird sie erst dann sein können, wenn sie ihm gleich steht an Rechten, wenn sie ihm ebenbürtig ist durch Bildung und Arbeit." (V 138) Dieser Befund ist ebenso humanistisch gedacht wie paradox formuliert, da es ja gerade Severin selbst war, der sich „das Weib" „herangezogen" hat, hingegen Wanda sich als ,Gefährtin' angeboten hat, mit allen Lizenzen des zeitgenössischen Wunsch- und Schreckbildes der „freien Liebe" (wie etwa einer „Ehe auf Probe" [V 35]); die zentrale Differenz der Novelle zur Aufklärungsliteratur besteht ja gerade im Auseinanderfallen der Heilung des Schwärmers (Severin) und der Pädagogik (Wanda), die hier im Dienst des Atavismus steht. Die „darwinistisch" verbindliche Lehre von weiblichem Atavismus und weiblicher Ungleichzeitigkeit spricht, zweitens, vielmehr Wanda selbst aus, als Warnung: „Das Weib ist eben, trotz allen Fortschritten der Zivilisation, so geblieben, wie es aus der Hand der Natur hervorgegangen ist, es hat den Charakter des Wilden, welcher sich treu und treulos, großmütig und grausam zeigt, je nach der Regung, die ihn gerade beherrscht. [...] Vergiß das nie und fühle dich nie sicher bei dem Weibe, das du liebst." (V 58) Durch das gegenüber den ersten Novellen veränderte Milieu und die Tagebuchfiktion verändert sich jedoch das dort etablierte Erzählmodell: Nicht in der „Natur" des europäischen Ostens werden Wahrheiten der Kultur gefunden und affirmiert, sondern gerade hinter einer dünnen Schicht von Kultur sei Natur aufzufinden, „weckt" man sie. Damit wird aus dem „ethnographischen" Unternehmen eine Experimentalanordnung, die im ästhetischen Selbstverhältnis die Distanz zwischen Natur und Kultur messen soll. Die Ernsthaftigkeit der intendierten naturwissenschaftlichen Aufklärung und des intendierten emanzipatorischen Gehalts von Sacher-Masochs Lite-

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ratur ist hier nicht in Zweifel zu ziehen.141 Es ist daran zu erinnern, daß der liberaldarwinistische Impetus Sacher-Masochs hinsichtlich der Frauenemanzipation, der aus heutiger Perspektive merkwürdig erscheint, durchaus mit dem Selbstbild und den Denkvoraussetzungen der frühen Frauenbewegung übereinstimmte. Die drei Programmatikerinnen des Feminismus der Wiener Jahrhundertwende, die Harriet Anderson in ihrer Studie Vision und Leidenschaft142 herausstellt: Irma v. Troll-Borostyani, Rosa Mayreder und Grete Meisel-Heß, können auch für drei Phasen der liberalen Darwin-Interpretation stehen, von der fortschrittsgewissen über die neuromantische zu einer eugenisch orientierten Phase. Gerade bei Troll-Borostyani finden sich Formulierungen, die ähnlich auch in Sacher-Masochs evolutionistischen Enunziationen stehen könnten; begriffe man Gesellschaft mit den Mitteln des Darwinismus naturanalog, würden gerade nicht gesellschaftliche Verhältnisse petrifiziert, diese wären im Gegenteil steter Evolution unterworfen. 143 Doch zeichnet sich hier ein zentrales Problem dieser naturwissenschaftlichen Aufklärung mit den Mitteln des Darwinismus ab. Aus der vorgeschlagenen Perspektive ist Venus im Pelz eine Künstlernovelle, die ein poetisches Selbstverhältnis durch ihre eigenen Schreibvoraussetzungen scheitern läßt; so bleibt für sie keine Sprache mehr übrig, die für Aufklärung noch zur Verfügung stünde. Die Novelle benützt „Darwin" zugleich als Textideologie („Entwicklungsethik") und als Beschreibungsinstrument (Zuchtwahl); eine Funktionalisierung von Natur als eines ,methodischen Begriffes' (Wolf Lepenies144) ist von hier aus nicht mehr möglich. Damit fallt der fragile Zusammenhang von Evolutions- und Selektionstheorie für eine liberale Instrumentalisierung Darwins auseinander. Sacher-Masoch läßt in der Novelle Kunst an derselben Version von Natur scheitern, die er für eine wechselseitige Erhellung von Literatur und Wissenschaft vorgesehen hatte und innerhalb derer die Literatur der Naturwissenschaft eine anthropologi141 Wie bei Koschorke: Sacher-Masoch. Anders O'Pecko: Comedy and Didactic. 142 H. Anderson: Vision und Leidenschaft. Die Frauenbewegung im Fin de Siècle Wiens. Wien 1994. 145 Vgl. etwa in der neuen Sammlung Irma v. Troll-Borostyani: Ungehalten. Vermächtnis einer Freidenkerin. Hgg. v. C. Gürtler. Salzburg 1994, S. 73 („Die Aufgabe des Staates hinsichtlich der Frauenerziehung. Ein ungehaltener Vortrag" [1892]); S. 103-105 (Frauenstudium); „Der Moralbegriff des Freidenkers" [Vortrag gehalten im Freidenkerverein am 16. 2. 1903, Freilassing 1903], S. 151-158. 144 Wolf Lepenies: Soziologische Anthropologie. Materialien. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1977, S. 111.

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sehe Fallsammlung zur Verfugung hätte stellen sollen. Gegen seine Kritiker reklamierte Sacher-Masoch dieselbe Sprache der liberalen Erwartungen an die Naturwissenschaft, wie sie Severin spricht: Habe er auch in der literarischen Form von der Kritik Anerkennung erhalten, so traf ,,[u]m so heftigerer, nicht selten gehäßiger Tadel und Angriff [...] den Philosophen, der es wagt, die ewige Isis nicht allein wenigen Eingeweihten, sondern aller Welt zu entschleiern, traf die entwickelten Ideen und Prinzipien des sozialen Reformators." 145 Wenn Sacher-Masochs Literatur vor dem Hintergrund der Aufklärungsliteratur zu lesen ist und Venus im Pelz eine Schwärmerkur vorführt, so hat man sich zu vergegenwärtigen, daß schon die Schwärmerkuren der Aufklärung eine doppelte Funktion haben. Einerseits fungieren sie als Selbstkritik des Meliorismus als Phantasma, andererseits dienen sie als Einübung in ein Normalitätsdispositiv, das den kritischen Uberschuß der Phantasie - häufig physiologisch - planiert. Die Themen von „Optimismus" und „Pessimismus", für die in der Aufklärungstradition die Marken Leibniz und Condorcet, andererseits Hobbes, La Mettrie, in der deutschen Literatur auch Johann Karl Wezel stehen können, sind beide im „Darwinismus", wie ihn sich die Epoche zurechtlegte, wiederzufinden, ebenso die Ersetzung von „Gott" durch „Natur" als zentrale Legitimationsinstanz. Sacher-Masochs Probleme bei der ästhetischen Integration Darwins entstehen exakt daraus, daß im „Darwinismus" beide Traditionen zusammengezwungen sind und sich konzeptuell die „Entwicklung", in der Darstellung jedoch die „Selektion" durchsetzt. So führt Venus im Pelz eine Situation vor, in der Kunst und Natur so ineinander verwoben sind, daß dort, wo Natur zu erwarten wäre, Kunst erscheint und umgekehrt: Apollo, mit dem der Künstler Marsyas im Mythos konkurriert, erweist sich als Raubtier. Werden die szenischen und mikronarrativen Angebote des Darwinismus zur Desillusionierung, als „Pessimismus" benützt, kann ihre konzeptuelle Verknüpfung mit dem „Fortschritt" nicht mehr dargestellt werden, sondern nur mehr ein utopischer Endzustand, in dem die „Entwicklung" wie in der Ehegeschichte der Marzella bereits zum Stillstand gekommen ist. Die Dynamisierung der Natur durch den Darwinismus erscheint als Gefahrenpotential, das hinter Gesellschaft immer wieder Natur ausmacht; es

145 Sacher-Masoch: Vermächtniß Kains, 2. Tl., Bd. 1, S. 3 f. Zweite Hervorh. W. M.

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ist der Preis eines Konzepts, das sich von Gesellschaft naturwüchsigen Fortschritt erwartet. Wenn es sich aber damit so verhält, dann liegt die Bedeutung von Venus im Pelz darin, daß sie mit poetischen Mitteln das Problem reflektiert, denn nur in der fönus gestaltet Sacher-Masoch eine Herausforderung der Natur als der Basis seiner eigenen Aufklärungsvariante durch die Kunst. Der hohe Ton des Prologs ist ein weiteres Indiz für diese Spaltung. Die „Natur" vertritt die Stelle Gottes („der finsteren, schweigenden, ewig schaffenden und verschlingenden Göttin") und erscheint in einer Traumvision. Die verschleierte Isis, wie sie als Rationalisierung und alternative Allegorie im Kulturkampf in Stellung gebracht wurde, ist eine ebensolche Allegorie wie die „kalte Mutter" des Wanderer-Prologs. Wenn das so ist, läßt sich hinter den Topoi des Erhabenen, wie sie den Wanderer beherrschen, die epochentypische Verarbeitung des „kimmerischen" Materialismus (Goethe) als ästhetische Kompensation ausmachen. Die Spannung von Sacher-Masochs Realismuskonzept und der Einbettung seiner „realistischen" Erzählungen in den allegorischen Rahmen des Prologs hat bezeichnenderweise die Rezensenten kaum zum Protest gereizt, was darauf hindeutet, daß die Stillage der Verkündigung, die dort angeschlagen wird, als durchaus legitim betrachtet wurde; werden „pessimistische" Wahrheiten verkündet, ist ihnen das denkbar erhabenste Gewand angemessen. So inszeniert Sacher-Masoch auch das Programm des Zyklus als Figurenrede des „Wanderers", also eines „Naiven", und versichert in einer langen Fußnote die Gestalt als „echt nationale Figur der großen slavischen Welt des Ostens" (J 9) ethnographischer Authentizität, wodurch Sacher-Masochs darwinistische Kulturkritik selbst den Rang einer Naturwahrheit erhält. Die tiefe Ambivalenz des darwinistischen Repertoires ist ebenfalls schon im Prolog präsent. Sind die Worte des „Wanderers" als Desillusionierungsrede angelegt, erschließen sich der allein gebliebenen Ich-Figur Welt und Natur auf eine wesentlich andere Weise: „Ich begann die Schöpfung zu begreifen, ich sah wie Tod und Leben nicht so sehr Feinde als freundliche Genossen sind, nicht Gegensätze, die sich aufheben, als vielmehr eines aus dem andern fließend Wandlungen des Daseins. [...] Bäume, Stauden, Halme, ja Stein und Erde strecken ihre Arme nach mir aus. ,Du willst uns entfliehen, Thor? [...] Du bist wie wir und wir sind wie du. [...]"' (J 16 f.) Es sei daran erinnert, daß Ludwig Anzengruber wenig später mit sehr ähnlichen Formulierungen („und da kommt's über mich, wie wann eins zu ein'm andern redt: [...] Du ghörst zu dem alln und dös alls

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ghört zu dir! Es kann dir nix gschehn!" 146 ) pantheistische u n d tröstliche Wirkungen erzielt. Wenn Sacher-Masoch die „Natur" im Wanderer sagen läßt: „Ich bin die Wahrheit, ich bin das Leben" (V 17), zielt das entfremdete Christuswort auf den Aufbau einer paganen Alternative zum Christentum, wie sie Haeckel vorhatte, ebenso wie die Charakterisierung und Selbstbeschreibung der Natur als ,grausame Mutter' diese tröstliche Variante enthält, ohne ihre Rückseite zu unterschlagen. Wenn im 19. Jahrhundert ein epochaler Wandel der Denkformen vom typologischen zum historizistischen Denken zu beobachten ist, dann ist Sacher-Masochs Konzept seines Zyklus an dieser Grenze anzusiedeln. Sacher-Masoch hat wohl für sich die Priorität für eine historisierende Charakterexposition reklamiert: „Ich war der erste", schreibt er 1889 in einem Aufsatz über jüdische Sekten in Galizien, „der [...] den Versuch gemacht hat, den Menschen, seine Art zu denken, zu fühlen, zu handeln, nicht nur psychologisch und physiologisch, sondern durch die Natur zu erklären, in der er geboren ist, in der er aufgewachsen ist, aus der Natur, welche ihn umgibt und von der er auch nur ein Glied ist, wie der Baum und das Tier, und ich habe auch versucht, den Menschen durch die Verhältnisse, die Bedingungen zu erklären, in denen er lebt."147 Sein Novellenzyklus hebt dagegen nicht auf die Entwicklung von Charakteren ab148, sondern auf gleichsam enzyklopädische, „typologische" Vollständigkeit. In den fünf Novellen der „Liebe", in denen die „Regel" dargestellt wird, sei er „geradezu verpflichtet ,seinen Grundgedanken in prismatischen Farben schillern zu lassen,' sonst bliebe die Reihe seiner Bilder lückenhaft." 149 Die Historisierung der Charaktere wird dergestalt integriert, daß Naturgeschichte nicht in der individuellen Psychologie erscheint, sondern in der Phylogenie, die plötzlich „wiedererwachen" kann. Die Charaktere, obwohl als Typen angelegt, erhalten eine „darwinistische" Historizität. Die Allianz von Literatur und Naturwissenschaften, die Sacher-Masoch programmatisch in- und prätendiert hat, hebt deren Arbeitsteilung oft ge-

146 L. Anzengruber: Sämtliche Werke. Unter Mitw. v. K. Anzengruber hgg. v. R. Latzke u. 0 . Rommel. Krit. durchges. Gesamtausgabe in 15 Bdn. Wien 1920-1922, Bd. 4, S. 75. 147 Sacher-Masoch: Die jüdischen Sekten in Galizien. [1889] In: L. v. S.-M.: Der Judenraphael. Geschichten aus Galizien, S. 13-33, S. 23. 148 Hierher gehört auch Thomés Beobachtung, daß Sacher-Masoch nicht an der Entwicklung von „runden" Charakteren gelegen ist, Thomé: Funktionen erzählter Erotik. 149 Sacher-Masoch: Werth der Kritik, S. 48.

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,Kampf ums Dasein" und „Venus im Pelz"

nug nur durch bloße Evokation von Wissenschaft durch Termini wie den „Kampf ums Dasein" auf, die dem Wissenden genügen müssen und d e m Autor eine unklare Beweislast ersparen. Das evolutive bildungs- und institutionenoptimistische Konzept kann schließlich nur durch bloße Didaxe eingelöst werden; in den „Lösungsnovellen" wird vornehmlich doziert. Wenn Sacher-Masoch in eine Resakralisierung der herrschaftslos gewordenen Natur, die nun für die Schicksale der einzelnen verantwortlich zeichnen soll, verfallt, nimmt er eine der weiteren Entwicklungen vorweg: die monistische Bewegung, die nicht viel später unter der Führung Ernst Haeckels eine stark kirchlich organisierte Immanenzreligion predigen wird, die gleichermaßen Züge von Aufklärung und Obskurantismus tragen wird. Sacher-Masochs Versuch, lange vor dem programmatischen Naturalismus die literarische Prosa der Naturwissenschaft an die Seite zu stellen, hat seine letzte Ironie wohl darin, daß er schließlich selbst zum lehrreichen' Novellenhelden wurde: in d e m ungleich wirkmächtigeren Novellenwerk der Psychopathologia sexualis des Grazer Psychiaters Krafft-Ebing.

5

Die „sozialen Triebe" D A R W I N BEI M I N N A U N D K A R L KAUTSKY

Unter dem Titel Was und wie soll der Arbeiter lesen? unternahm der Oesterreichische Arbeiter-Kalender 1884 eine Funktionsbestimmung der Arbeiterlektüre: Sie solle „ein Mittel sein, ihn in seinem schweren ökonomischen und politischen Kampfe zu stärken, sie soll ihm Klarheit verschaffen, aber auch Mut und Begeisterung. Die Lektüre des Arbeiters soll nicht bloß einseitig auf Entwicklung seines Verstandes gerichtet sein, sondern ebenso auch auf Entwicklung seines Charakters. Das wird leider nur zu oft übersehen. Die Lektüre soll Begeisterung für die Ideale, Haß und Verachtung gegen die Niedertracht und Feigheit und Opfermut und Heldensinn entwickeln." 1 Empfohlen wurden die „sozialistischen" Klassiker Heine, Freiligrath und Herwegh; George Sand, Erckmann-Chatrian und Dickens, Georg Büchner und Minna Kautsky, letztere mit Romanen aus der sozialistischen Unterhaltungszeitschrift Die Neue Welt, die „das Beste" bringe, „was von unserem Standpunkte aus auf dem Gebiet des Romanes geleistet wird." Größere Überraschung als dieser schmale Kanon könnten heute die Empfehlungen hervorrufen aus jener „Literatur, die in erster Linie bestimmt ist, auf den Verstand einzuwirken, teils durch Darlegung der bestehenden Zustände, teils durch Aufklärung über die notwendigen Ziele der Arbeiterbewegung, teils endlich durch Auseinandersetzung von Verhältnissen, die in indirektem Zusammenhange mit unseren Tendenzen stehen": „Zu den letzteren sind zu zählen die historischen und Darwinschen Schriften. Der Darwinismus hängt mit den sozialpolitischen Fragen der Neuzeit so eng zusammen, daß Jeder, der sich mit den letzteren beschäftigt, auch ersteren kennen muß." Arnold Dodel-Ports Neuere Schöpfungsgeschichte (1875) und Ernst Haeckels Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868) sollen gelesen werden, „wenngleich Haeckel nicht den Mut hat, die äußersten Konsequenzen zu ziehen". „Wer es kann, der soll es nicht versäumen, die Werke Darwin's, die in guten Uebersetzungen vorliegen, selbst zu studiren,

1

Anonym: Was und wie soll der Arbeiter lesen? In: Oesterreichischer Arbeiter-Kalender für das Jahr 1884. Redigirt v. E. T. Doleschall. Wien 1884, S. 91-97, S. 92.

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Die „sozialen Triebe"

namentlich seine ,Entstehung der Arten' und ,Abstammung des Menschen'." 2 Minna Kautsky zur Charakterbildung, Darwin für den Verstand, Karl Kautskys darwinistisch inspirierte Frühschrift Der Einfluß der Volksvermehrung auf den Fortschritt der Gesellschaft (Wien 1880) und die junge theoretische Zeitschrift Die Neue Zeit - diese Lektüreliste des Arbeiter-Kalenders ist paradigmatisch für eine ideologische Strömung in der deutschen und österreichischen Arbeiterbewegung, der nachgesagt wurde, Geisteswelten und kollektive Mentalitäten der Parteien in einem Ausmaß geprägt zu haben, das der programmatische Marxismus nie erreichte; nach wie vor steht der Evolutionismus unter dem Verdikt der Geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins. 3 D e r aus mechanischen Entwicklungsvorstellungen resultierende „revolutionäre Attentismus" (Dieter Groh), die politikneutrale Geschichtsphilosophie mit ihrem Verfehlen der Marxschen Innovationen 4 ist als „Kautskyanismus" (Karl Korsch 5 ) häufig Gegenstand der Kritik gewesen. Bedenkt man jedoch, daß der Hinweis auf „die äußersten Konsequenzen", die Ernst Haeckel zu ziehen nicht den Mut habe, sich auf Haeckels Beteuerung gegen einen Vorhalt Rudolf Virchows bezieht, der Darwinismus sei - wenn er denn überhaupt eine politische Dimension habe - aristokratisch und keineswegs geeignet, die sozialistische Propaganda zu unterstützen und dies den Arbeiter-Kalender nicht hindert, ihn auf seine Leseliste zu setzen und Karl Kautsky nicht gehindert hat, Haeckel 1882 zum Doktorvater seiner urgeschichtlichen Dissertationsschrift zu wählen 6 , so kann mit rascher Kritik nicht viel erreicht sein. 2 3

4

Anonym: Was und wie soll der Arbeiter lesen?, S. 94. Zum Zusammenhang der „Thesen" mit dem darwinistischen Evolutionismus in der II. Internationale vgl. Ralf Konersmann: Erstarrte Unruhe. Walter Benjamins Begriff der Geschichte. Frankfurt/M. 1991, S. 128-149. Rudolf Walther: „... aber nach der Sündflut kommen wir und nur wir." „Zusammenbruchstheorie", Marxismus und politisches Defizit in der SPD, 1890-1914. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1981.

5

Karl Korsch: Die materialistische Geschichtsauffassung. Eine Auseinandersetzung mit Karl Kautsky. Leipzig 1929. Als Ausgangspunkt der neueren Diskussion Erich Matthias: Kautsky und der Kautskyanismus. Die Funktion der Ideologie in der deutschen Sozialdemokratie vor dem ersten Weltkriege. In: Marxismus-Studien. 2. Folge. Hgg. v. I. Fetscher. Tübingen 1957, S. 151-197.

6

Karl Kautsky: Erinnerungen und Erörterungen. Hgg. v. B. Kautsky. s'Gravenhage 1960 (i. f. zit. als: „KK-AB" u. S.), S. 518-521.

Darwin bei Minna und Karl Kautsky

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Dagegen bietet sich an den frühen Romanen Minna Kautskys die Gelegenheit, eine Reihe von Konstellationen zu untersuchen, die gewissermaßen an einem Ursprung des Phänomens stehen; Minna Kautsky als eine der prononciertesten - und schenkt man den Zeitgenossen Glauben, auch der beliebtesten - sozialistischen Schriftstellerinnen der Zeit und ihr Sohn Karl als zentraler Theoretiker nicht nur der deutschen Partei, zugleich der prominenteste Vertreter des nachher sogenannten „Darwinomarxismus" teilen dieselbe intellektuell-politische Sozialisation durch den Darwinismus und stehen in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit dieser Orientierung nicht nur an Wegmarken sozialistischer Literatur und Theorie, sondern auch der politischen Differenzierung des österreichischen Parteiwesens. 7 Karl Kautskys ideologische Entwicklung stand in engem Zusammenhang mit der Phase des euphorischen Liberalismus in Osterreich nach 1866. Kautsky, der nach der Ubersiedlung von Prag nach Wien das Akademische Gymnasium besuchte, wurde schon in der Schule mit d e m Darwinismus konfrontiert; einer der liberalen Lehrer nach 1871, der Urgeschichtler Woldrich, habe es verstanden, „die von ihm gelehrten Naturwissenschaften durch eingeschmuggelte darwinistische Konterbande zu beleben." (KK-AB 181 f.) Darwinismus war in der Frontstellung der Liberalen zur Kirche zunächst eine Provokation der Klerikalen, die in die Defensive geraten waren : „Aber die liberale Presse wenigstens bemühte sich eifrig, unkirchliches Denken zu fördern. In dieser Beziehung konnte ich damals mit dem Strome schwimmen. Und auf diesem Gebiet fand ich treffliche Führer, die mir auf dem des Sozialismus fehlten." (KK-AB 212) Mit seiner Mutter Minna entwickelte sich bald eine Lehr- und Lerngemeinschaft 8 im Zeichen Darwins: „Seit der Verheiratung meiner Schwester konzentrierte meine Mutter ihre geistigen Interessen auf mich, machte sie

7

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Allgemein zur Darwin-Rezeption in der Arbeiterbewegung vgl. Hans-Josef Steinberg: Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie der Partei vor dem I. Weltkrieg. 5., erw. Aufl. Berlin, Bonn 1979; Alfred Kelly: The Descent of Darwin. The Popularization of Darwinism in Germany, 1860-1914. Chapel Hill 1981, S. 123-141. Ein Reflex dieses Verhältnisses findet sich in den Figuren von Mutter und Konrad Ebner in „Helene" (Roman in drei Büchern. Stuttgart 1894, i. f. zit. als „H" u. S.), mit Details aus beider Biographie: Konrad überzeugt die Mutter vom Sozialismus, er wird von dem siechen, aber reichen Klassenverräter Max Gebhart zum Studium bei Marx und Engels

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Die „sozialen Triebe"

meine Entwicklung mit. Zu Weihnachten 1874 verehrte mir mein Schwager Roth Haeckels ,Natürliche Schöpfungsgeschichte'. Wirbeide, meine Mutter und ich, stürzten uns auf diese Lektüre." (KK-AB 172) Zu dieser Episode und dem Leseerlebnis der Darwin-Lektüre vermerkte Minna Kautsky in ihrem Tagebuch unter dem 25. Dezember 1874 (Karl hatte im Juli 1874 maturiert): „Ja wir sind fortgeschritten und wir werden fortschreiten und keine Religion kann das Herz des Menschen mit freudigerer Hoffnung erfüllen, als diese erhabene Anschauung. Und keine Religion hat dem Menschen je ein solches Gefühl sittlicher Würde verlieh[en,] seine geistigen Fähigkeiten so gestärkt und erhoben, eine so edle Sympathie für die Allgemeinheit geweckt, zugleich mit der demüthigsten Ergebung unter die unvermeidlichen Naturgesetze, wie diese neue Lehre." 9 Auch Karl Kautsky beschreibt in seiner Autobiographie seine intellektuelle Entwicklung vom Zweifel am Glauben hin zu Darwin, den Wissenschaftsmaterialisten und Feuerbach; Marx folgt erst Anfang der achtziger Jahre. Die aus Darwin bezogene „edle Sympathie für die Allgemeinheit", zusammen mit der Emotion, die er dem Fall der Pariser Commune entgegengebrachte, genügten, um den jungen Kautsky in die österreichische Sozialdemokratie zu führen. Bereits eine der nächsten Eintragungen in Minnas Tagebuch lautet: „Karl's socialdemokratische Ansichten werden immer lebendiger, er denkt sich als Apostel und Mitkämpfer der Volksparthei; Er ist voll Begeisterung und innerster Uneigennützigkeit[,] voll Uberzeugung. Ich fühle und denke wie er; ich habe vieleicht [sie] mit großen Antheil an dieser Richtung, die mir für jeden denkenden Menschen, der ein Herz in der Brust hat und der das Elend, das Unrecht, die Willkür der Macht, denen seine Mitmenschen ausgesetzt sind, lebhaft mit empfindet, so natürlich erscheint." 10 „Darwin" war für Minna Kautsky darüber hinaus von besonderer Prägekraft, als der Darwinismus für die gewesene Schauspielerin nach familiärer Entlastung zugleich den ersten Kontakt mit der Wissenschaft (und mit dem emotionalen Aufbruch, den im 19. Jahrhundert „Wissenschaft" konnotierte) bedeutete. In einem Lebenslauf erinnert sie diese

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nach London geschickt (H 140) wie Karl Kautsky vom kranken Fabrikantensohn Heinrich Spiegier (vgl. Friedrich Engels' Briefwechsel mit Karl Kautsky. 2. Ausg. Hgg. u. bearb. v. B. Kautsky. Wien 1955, S. 166). Es enthält aber auch „Wunschbilder": Konrad ist im Roman ein glänzender Redner, erleidet Gefängnishaft und ähnliches. Tagebuch Minna Kautsky, 25[.] December [1874]. Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis Amsterdam (i. f. „IISG"). Kautsky-Familiennachlaß 2006. Tagebuch Minna Kautsky, 12[.] Jänner [1]875. IISG Kautsky-Familiennachlaß 2006.

Darwin bei Minna und Karl Kautsky

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Periode: „Damals war es der Darwinismus, der Alle, die in ihrem Denken dafür vorbereitet waren, wie eine Offenbarung berührt und für eine neue Weltanschauung begeisterte. [...] Wir verfolgten die wissenschaftliche Begründung dieser neuen Lehre mit einer Wonne und Begeisterung, die unser Leben erfüllte. Mein Sohn Karl, voll geistiger Initiative, wurde mein Führer, mein Lehrer, mein Freund. Es war eine schöne Zeit für mich angebrochen. Zum ersten mal wendete ich mich höheren Problemen zu und gewann weiteren Ausblick in das Leben der Gesammtheit." 1 1 Mit dieser Hinwendung zum Sozialismus über Darwin stand die Familie Kautsky nicht allein. Die bescheidene Bibliothek des Wanderarbeiters Wenzel Holek besteht in der Hauptsache aus den Wissenschaftsmaterialisten Karl Vogt und Ludwig Büchner (der auch Karl Kautsky im Atheismus bestärkte [KK-AB 213]) 12 , im Wiener Arbeiterbildungsverein wird 1878 über Darwinismus vorgetragen 13 , Artikel zu „Darwinismus und Sozialdemokratie" sind fester Bestandteil der sozialdemokratischen Medien. So gehören Fortschritt, Religionsersatz und natürliche Sympathie - eine Stimmungslage, die der Germanist Oskar Walzel am Beispiel seiner Mutter als „materialistischen Idealismus" beobachtete 1 4 - in den siebziger Jahren noch zu einem emotionalen Komplex, den Liberalismus und Sozialdemokratie teilen. Es ist dieselbe Stimmungslage, die auch den Jenenser Nationalliberalen Haeckel von einer „wahren, vernunftgemäßen Naturreligion" im Gegensatz zur „dogmatischen, mythologischen Kirchenreligion" sprechen läßt, zu der eine evolutionistische Ethik gehöre, die auf den sozialen Instinkten der Tiere aufbauen könne. 15 Mit diesem antiklerikalen Alternativkonzept, das Haeckel 1877 auf der 50. Ver11

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M. Kautsky an Adele Gerhard u. Helene Simon, Berlin, in Beantwortung eines Fragebogens zur Berufstätigkeit der Frau. [Entwurfeines Lebenslaufs.] Berlin, 23. 10. 1899. IISG Kautsky-Familiennachlaß 1631. Wenzel Holek: Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters. Mit einem Vw. hgg. v. P. Göhre. Jena 1909, S. 324. Klausjürgen Miersch: Die Arbeiterpresse der Jahre 1869 bis 1889 als Kampfmittel der österreichischen Sozialdemokratie. Wien 1969, S. 124. Oskar Walzel: Wachstum und Wandel. Lebenserinnerungen. Aus dem Nachlaß hgg. v. C. Enders. Berlin 1956, S. 299: „Meine Mutter ist mir ein Musterbild des materialistischen Idealismus. Der Materialismus schenkte ihrer Seele starken Auftrieb. [...] Sie war Autodidaktin, aber erfüllt von [dem] dringenden Wunsche, sich Klarheit zu schaffen und nicht nur zu wiederholen, was andere ihr gesagt hatten." Ernst Haeckel: Ueber die heutige Entwickelungslehre im Verhältnisse zur Gesammtwissenschaft. [1877] In: E. H.: Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre. 2 Bde. 2., verm. Aufl. Bonn 1902, Bd. 2, S. 119-146, S. 138.

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Die „sozialen Triebe"

Sammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in München vortrug, war allerdings bereits das Ende jener fragilen Einheit markiert; die Attacke Virchows auf die angeblich sozialistische Tendenz des Darwinismus rief neben der erwähnten Reaktion Haeckels 16 eine Welle von Stellungnahmen hervor. Im Wiener Parteiorgan Der Sozialist (1877-1879), an dem Kautsky maßgeblich beteiligt ist, spielt diese Kontroverse eine hervorragende Rolle und gibt auch Anlaß zu einem klärenden Artikel Kautskys.17 Für die Sozialisten blieb diese darwinistische Sozialisation nicht folgenlos. Zum Tod von Karl Marx notiert Minna Kautsky in ihr Tagebuch: „Karl Marx ist am 14. März Nachmittags 3 Uhr gestorben. Ein unersetzlicher Verlust für die Partei und die Wissenschaft[.] Wie Karl Darwin die Gesetze der organischen Entwicklung in d[er] Natur erkannt hat, so hat Marx die Gesetze des Gesellschafts-Organismus erkannt und die Notwendigkeit seiner weiteren Entwicklung. Beide gewaltige Denker, die Träger einer neuen Weltanschauung, werden wohl erst in der Zukunft ganz und voll gewürdigt werden." 1 8 D e r Tagebucheintrag ist, wie ersichtlich, eine kürzende Paraphrase der Einleitung von Friedrich Engels' Londoner Grabrede auf Marx vom 17. März 188319, aber mit signifikanten Veränderungen. Spricht Engels von dem Verlust für „das streitbare europäische und amerikanische Proletariat" und „die historische Wissenschaft", wird bei Kautsky daraus „Partei" und „Wissenschaft"; ist bei Engels in der berühmten Analogisierung mit Darwin 20 davon die Rede, daß Marx „das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte" entdeckt habe wie Darwin „das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur", hat nach Minna Kautsky Darwin mehr: „die Ge16

Haeckel: Freie Wissenschaft und freie Lehre. Eine Entgegnung auf Rudolf Virchow's Münchener Rede über „Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat". [1878] E. H.: Gemeinverständliche Vortrage und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre, Bd. 2, S. 199-323, darin S. 280-288: Descendenz-Theorie und Social-Demokratie. Zu den Positionen in der zeitgenössischen Diskussion Ludwig Woltmann: Die Darwinsche Theorie und der Sozialismus. Ein Beitrag zur Naturgeschichte der menschlichen Gesellschaft. Düsseldorf 1899, S. 32-176.

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K. Kautsky: Darwinismus und Sozialismus. In: Der Sozialist (Wien), 24. u. 27. 4. 1879. Zum „Sozialist" vgl. Miersch: Arbeiterpresse, S. 118 ff. und die inhaltsanalytische Arbeit v. Brigitte Perfahl: Marx oder Lassalle? Zur ideologischen Position der österreichischen Arbeiterbewegung 1869-1889. Wien 1982, S. 175-188. Tagebuch Minna Kautsky, 26. März [1883]. IISG Kautsky-Familiennachlaß 2008. Karl Marx u. Friedrich Engels: Werke. Bd. 19. Berlin 1962, S. 335-337. Vgl. Henrietta Trent Band: Why Engels Linked Marx and Darwin at Marx's Graveside. In: Michigan Academician 23 (1991), H. 3, S. 285-294. Der Beziehung zwischen Marx

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setze der organischen Entwicklung in der Natur" erkannt, sodaß Marx gleichsam als Vollender Darwins „die Gesetze des Gesellschafts-Organism u s " darlegt. Wird Engels von Marx dann vor allem als Revolutionär gewürdigt, hebt Minna Kautsky auf die „weitere Entwicklung" dieses „Gesellschafts-Organismus" ab; deren „Notwendigkeit" korrespondiert den ,unvermeidlichen Naturgesetzen', die sie anläßlich ihrer Darwin-Lektüre anrief. Beide werden zu Trägern einer neuen Weltanschauung. Wenn man auch annehmen kann, daß das deutsche „Sozialistengesetz" die belletristische Autorin Kautsky zu manchen Kompromissen gezwungen haben wird, um das Erscheinen ihrer Publikationsorgane, im besonderen der Neuen Welt, nicht zu gefährden, kann „Darwin" und das semantische Feld des Darwinismus also nicht als Chiffre betrachtet werden; im Gegenteil war für Minna Kautsky - wie zunächst auch für ihren Sohn Karl - der Darwinismus die Einführung in eine neue Weltsicht, nach deren Modi (und Schablonen) sich ihre weitere intellektuelle „Entwicklung" formte. Das Sozialisationsschema zum Sozialismus, das Minna und Karl Kautsky durchlaufen, hat Minna Kautsky auch an einer Figur erkannt, die in ihrer bloßen Existenz die Möglichkeit von Volksaufklärung durch Wissenschaft zu bestätigen schien: am Bad Goiserner Autodidakten und „Bauernphilosophen" Konrad Deubler. „Nachdem ihm Feuerbach die Entstehung der Religionen in natürlicher Weise erklärt, war er auf die natürliche Schöpfiingsgeschichte Darwins vollständig vorbereitet. [...] Von nun an stand sein Seelenleben in vollem Einklang mit den wirklichen Dingen und Erscheinungen der Außenwelt, und so gelangte er zu jener innern Harmonie, zu jenem reinen Frieden, zu jener Milde, die einzig und allein die ungetrübte Freude am Dasein ermöglicht. Vom Standpunkte dieser materialistischen

und Darwin hat eine kleine Forschungsindustrie hervorgerufen; insgesamt betont Groh mit Recht die vornehmlich taktische Funktion der Berufung auf Darwin. Dieter Groh: Marx, Engels und Darwin: Naturgesetzliche Entwicklung oder Revolution? Zum Problem der Einheit von Theorie und Praxis. [1967] In: Der Darwinismus. Die Geschichte einer Theorie. Hgg. v. G. Altner. Darmstadt 1981, S. 216-241. Einen Überblick über die Detailfrage, ob Marx eine Ausgabe des „Kapital" Darwin zu widmen beabsichtigte und ob dies von diesem abgelehnt worden sei (Marx beabsichtigte nicht, und Darwin lehnte die Widmung einer Schrift Edward Avelings ab) bei Gerhard H. Müller: Darwin, Marx, Aveling - Briefe und Spekulationen. Eine bibliographische Betrachtung. In: Karl Marx - Philosophie, Wissenschaft, Politik. Köln 1983, S. 149-159.

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Weltanschauung, zu der er nun herangereift, der Lehre einer fortschreitenden Entwicklung ausgehend, gelangte er zum Sozialismus." 21 Deublers Bedeutung lag zum einen in seinem spektakulären Lebensweg: Wegen des bloßen Besitzes von „staatsgefahrlichen" Büchern war der oberösterreichische Gastwirt Deubler in die Räder der neoabsolutistischen Unterdrückungsmaschinerie geraten und schließlich zu zweijähriger Kerkerhaft am Brünner Spielberg verurteilt worden; andere Gefährten Deublers aus dem traditionell protestantischen Salzkammergut erlitten ähnliche Schicksale. Zum anderen lag die Besonderheit Deublers darin, daß er mit seinen jeweiligen „Heiligen" 22 , deren Schriften er durcharbeitete, nach Möglichkeit in persönlichen Kontakt zu treten versuchte. So hat Feuerbach Deubler die Entstehung der Religionen tatsächlich persönlich „erklärt", ind e m er 1867 bei Deubler einen längeren Sommeraufenthalt in Goisern verbrachte. Dieses „philosophische Idyll", so der Feuerbach-Herausgeber Karl Grün, wurde von Deubler nach dem Tod Feuerbachs mit der Annäherung an Ernst Haeckel fortgesetzt, mit dem ihn dann gleichfalls eine langjährige Freundschaft verband. Deublers Kontakte mit der Welt der Gelehrten, der Schriftsteller u n d der Freigeister, von denen eine weitläufige Korrespondenz mit Karl Vogt, Ludwig Büchner, Friedrich v. Hellwald, Ludwig Anzengruber, Peter Rosegger und anderen zeugt, waren ihrer Struktur nach asymmetrisch. In der Regel näherte sich Deubler den Autoren seiner Lektüre brieflich mit einer kurzen Darlegung seiner Biographie, unter Betonung seines Autodidaktentums und Entschuldigungen seiner mangelhaften Orthographie, u n d versicherte sie seiner Wertschätzung; die Empfänger dieser Botschaften reagierten meist enthusiastisch, hatte doch mit einem Schlag ihr anonymes Publikum ein Gesicht erhalten, und das in unerwarteten sozialen Strata. Die häufigen Besuche, die Deubler in Goisern erhielt, wurden auch durch den Umstand erleichtert, daß Deubler wohl fern der kulturellen Zentren in einem Gebirgswinkel zu Hause war, dieser Gebirgswinkel aber zu den Hauptorten der Sommerfrische der Monarchie zählte u n d so ein Besuch bei dem „monistischen Philosophen im Bauernkittel"

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Minna Kautsky: Konrad Deubler. In: Die Neue Zeit 4 (1886), S. 465-474, S. 472. So bezeichnete Deubler selbst den von ihm verehrten Autorenkanon, in je nach Adressaten wechselnder Zusammensetzung: Feuerbach und Vogt (Dodel-Port: Deubler [vgl. folg. Fußn.], Tl. 2, S. 32); Christian Radenhausen, Ludwig und Anselm Feuerbach sowie Gustav Struve (Tl. 2, S. 70); Haeckel (Tl. 2, S. 158) u. a.

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(Dodel-Port) leicht mit d e m Ferienbetrieb zu vereinbaren war. Auf diese Weise gelangte auch Minna Kautsky, die ihre Sommerfrische in St. Gilgen/Wolfgangsee verbrachte, in Kontakt mit Deubler. Die Gemeinde von Deublers Verehrern, durch dessen Sympathien zu einer imaginären Einheit zusammengebracht, geriet erst nach Deublers Tod in einen Streit um dessen Person und ideologische Positionen; er entzündete sich an der Zusammenstellung von Dokumenten, Briefen und der Biographie Deublers durch den Züricher Botaniker Arnold Dodel-Port. 2 3 So attackiert Minna Kautsky in ihrem Nekrolog auf Deubler einen der vielen Deubler-Artikel Peter Roseggers, in dem dieser dessen Materialismus in Abrede gestellt hatte. 24 Hingegen habe wieder Dodel-Port (der selbst als Darwinist d e m Sozialismus nahestand) Deublers sozialistische Neigungen verschwiegen: „Ich habe mit Konrad Deubler in seinen letzten Lebensjahren wiederholt verkehrt und ihn als einen begeisterten Sozialisten kennen gelernt. Der Schlaue wußte wohl, weshalb er diese Thatsache geheim hielt und so betrieb er auch die Propaganda für diese Ideen mit äußerster Vorsicht und fast nur mündlich." 2 5 Tatsächlich hatte Dodel-Port auch Deublers Korrespondenz von sozialistischen Spuren gereinigt 26 ; in einer privaten Briefantwort an Kautsky bestätigte er jedoch die Existenz einer sozialistischen Geheimbibliothek im Nachlaß Deublers sowie dessen Gesinnungen. 2 7

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Konrad Deubler. Tagebücher, Biographie und Briefwechsel des oberösterreichischen Bauernphilosophen. Hgg. v. A. Dodel-Port. 2 Tie. Leipzig 1886. Zu Deubler jetzt auch Franz Speta: Oberösterreicher und Ernst Haeckel. In: Welträtsel und Lebenswunder. Ernst Haeckel - Werk, Wirkung, Folgen. Red. Erna Aescht u. a. Linz 1998, S. 415-474, mit neuen Dokumenten aus dem Deubler-Haeckel-Briefwechsel. „Wie leicht Deubler mißverstanden werden konnte, da er eben nur Gesinnungsgenossen gegenüber sein Innerstes, sein ganzes Denken und Fühlen enthüllte, bezeugt z. B. die Auffassung, welche der ausgezeichnete österreichische Dichter, der tüchtige Psychologe Rosegger sich über ihn zurechtgelegt. Er zeigt sich überrascht, daß ihn Dodel-Port als festgeschlossenen Materialisten bezeichnet". M. Kautsky: Deubler, S. 473. M. Kautsky: Deubler, S. 472. So fehlt in der Korrespondenz mit Haeckel [!] ein Brief über den Philosophen Albrecht Rau, der es verabsäumt hätte, „sich in der Schatzkammer Sozialdemokratischer Werke ersten Ranges umzusehen". Dieser Brief, heute im Ernst-Haeckel-Haus Jena, wurde von Haeckels Mitarbeiter Heinrich Schmidt in dessen Nachlaß entdeckt und am 19. 9. 1928 in der Wiener „Arbeiter-Zeitung" veröffentlicht. „Ganz besonders hat mich ergötzt, daß Sie das Kind beim rechten Namen, - Deubler einen ,Socialdemokraten' nannten. Diesen Punkt durfte ich aus mehrfachen Gründen nicht

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In ihrem Aufsatz bediente sich Minna Kautsky zur Verdeutlichung der exemplarischen Stellung Deublers eines Vergleichs mit dem Kunstwerk, der dessen ideologische Entwicklung ins Historisch-Paradigmatische verlängert: „Es ist die Aufgabe der Kunst, in einer einzelnen Erscheinung das Allgemeine zu veranschaulichen. Man versucht die Ideen und den Entwickelungsgang einer ganzen Epoche in einem Individuum zusammen zu fassen, und der Romanheld ist fertig. Aber auch im Leben tauchen Persönlichkeiten auf, in denen sich eine lange Reihe der gesellschaftlichen Umwandlungen verkörpert. Ihre Jugend zeigt sie gleichsam noch im Urzustände, in naiven, urwüchsigen Anschauungen befangen, aber es sind Kraftmenschen, die so rüstig vorwärts schreiten, daß sie, den ungünstigsten Verhältnissen zum Trotz, sich denen zugesellen, die als Geistespioniere ihrer Zeit voraneilen. Ein solches Beispiel der Umwandlung aus dem Alten in das Neue, gleichsam aus sich selbst heraus, ist der Lebens- und Entwickelungsgang Konrad Deubler's." 2 8 Schon 1877 hatte der Feuerbach-Herausgeber Wilhelm Bolin seinem Freund Anzengruber die Dramatisierung von Deublers Leben nahegelegt 29 ; nach Deublers Tod werden Stimmen nach einem „Volksbuch" laut.50 Dodel-

in der Weise betonen, wie ich es gern gethan hätte. [...] Es ist also Alles hier beisammen: Schriften von Lassalle, Bebel, Liebknecht, Most, Zimmermann, Heinzen Kudlich - Feuerbach etc. etc. kunterbunt, wie all das in den Geheimfachern beisammen lag. Uebrigens war er ja seinerzeit auch auf A r b e i t e r z e i t u n g e n abonnirt. - Den ,Socialdemokrat' durfte ich ihm nicht senden, weil er die Polizei fürchtete; dagegen hörte er sehr sehr gerne von mir darüber erzählen." A. Dodel-Port an M . Kautsky, Zürich, 13. 10. 1886. IISG KautskyFamiliennachlaß 1635. 28

Minna Kautsky: Konrad Deubler, S . 465.

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„ D e r M a n n steht einzig in seiner Art da, für den m u ß sein L e b e n sprechen, jeder Zug, den man dichterisch anfügt, verreißt das Bild in seiner Gänze. Wenn m a n ihn veranlassen könnte, seine Erlebnisse selbst niederzuschreiben, das wäre ein hoher Gewinn. Auch was der Mensch in sein eigenes Leben nachträglich in der Erinnerung hineindichtet, ist i m m e r noch er selbst." Anzengruber an Bolin, 31. 12. 1877. In: L u d w i g Anzengruber: Briefe. Mit neuen Beiträgen zu seiner Biographie hgg. v. A. Bettelheim. 2 Bde. Stuttgart, Berlin 1902, Bd. 1, S. 332 f. Bereits 1868 trug sich der Redakteur der Leipziger „Gartenlaube" mit d e m Gedanken einer Dramatisierung von Deublers L e b e n , Dodel-Port: Deubler, Tl. 1, S. 197-201.

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Friedrich Schlögl: Von einer getilgten Buch-Schuld. Eine bibliographische Anzeige. In: Deutsche Zeitung (Wien), 29. 9. 1886, S. 1. Nach Schlögls Plan hätte das „Volksbuch", „für seine [Deublers] Standesgenossen bestimmt", den ,„Weise[n] im Lodenrock'" zum

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Port verteidigte die esoterische Form seiner Deubleriana-Edition mit der Intention, Legendenbildungen zuvorzukommen. 31 Deubler, noch zu Lebzeiten vielleicht einer der meistbeschriebenen „kleinen Leute" und bereits dergestalt eine mehr liktionale als reale Figur (was schon im künstlichen Rollenarrangement mit seinen „Heiligen" angelegt war), wäre so einer poetischen Verdopplung anheimgefallen. Minna Kautskys Instrumentalisierang der Deubler-Figur ist anders gelagert: Die Volkstümlichkeit Deublers macht ihn insofern zu einer historischen Figur, als sich in ihm die Tendenzen der Epoche verkörpern sollten. Die Metaphernsprache Kautskys ist dabei wörtlich zu nehmen: Deublers „Entwickelungsgang" ergebe sich durch „Umwandlung" aus dem „Urzustände", „aus dem Alten" „in das Neue". Die Textmarken „das Alte" und „das Neue" verweisen zugleich auf Minna Kautskys Roman Die Alten und die Neuen, der 1884 in Fortsetzungen in der Neuen Welt erschienen war (Buchfassung 1885).32 (Dodel-Port, einer der eifrigsten populärwissenschaftlich-darwinistischen Beiträger der Neuen Welt, hatte ihr Publikum bereits 1880 in einem großen Deubler-Essay mit diesem bekanntgemacht. 33 ) Kautsky hatte Deubler, der schon ihr Revolutionsdrama Madame Roland (1878) und ihre erste Erzählung Ein Proletarierkind (1876) gelesen hatte, im August 1878 kontaktiert und einen Besuch mit Karl in Aussicht gestellt, u m sich „über die fortschrittliche Bewegung [zu] unterrichten, welche u m das Jahr 1848 und nachher in diesen hier umliegenden

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Gegenstand gehabt: „der Bauer vom Primesberg - der Mensch Deubler". Dodel-Ports „Deubler" wird ironisiert. „Aber da ist gerade Schlfögl] & S[ueti], dieses ,Dioskuren'-Paar Schuld daran. Die hatten es gut im Sinne, dem Helden Verschiedenes anzudichten u. ihn feuilletonistischgevat[t]erhalt zurechtzuschneidern auf Kosten der Wahrheit. Zu solchen Dichterwerken mochte ich nicht Hand bieten u. so kam es denn, wie es eben kam - , im Interesse der Wahrheit. Das ,Volksbuch' wird auch noch kommen; aber erst wollte ich die historischen, authentischen Quellen bekanntgeben, um allen Legenden-Dichtem den Riegel zu schieben." Dodel-Port an M. Kautsky, 13. 10. 1886. Zum „Volksbuch" vgl. auch Anzengruber: Briefe, Bd. 2, S. 224-226. M[inna] Kautsky: Die Alten und die Neuen. Roman. 2 Bde. Leipzig 1885 (i. f. zit. als: „AN" u.S.). Bruno Geiser, der Redakteur der Zeitschrift, sandte Deubler die Nummern der „Neuen Welt" (5. Jg., 1880) mit den Deubler-Abhandlungen von Dodel-Port (Dodel-Port: Deubler Tl. 2, S. 299). Zur „Neuen Welt" vgl. Kristina Zerges: Sozialdemokratische Presse und Literatur. Empirische Untersuchung zur Literaturvermittlung in der sozialdemokratischen Presse 1876 bis 1933. Stuttgart 1982, S. 34 ff. u. pass.

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Gebirgsthälern sich kund gethan, u n d zugleich über die Art der Unterdrückung derselben. [...] Ich habe gehört, daß hier ein Denunciantenwesen Platz gegriffen, das dem jetzigen in Deutschland ähnlich war. [...] Ich möchte einige Episoden daraus kennen lernen, u m sie zu einem Roman zu verwenden." 3 4 Das Gegenwartsinteresse - die Bedrohung durch das deutsche „Sozialistengesetz" - verknüpft sich so mit d e m historischen Interesse an der Revolution von 1848; Deublers Kontakte mit den Proponenten des lokalen Arbeiterbildungs- und Arbeiterkonsumvereins machten ihn zu einer jener Figuren, die 1848 mit der Sozialdemokratie verbinden. 35 Der „Romanheld", in dem „die Ideen und de[r] Entwickelungsgang einer ganzen Epoche in einem Individuum" zusammengefaßt wären, ist Deubler nicht geworden. Für ihren Roman stellte Kautsky neben der Autopsie in den Bergwerken breite Literaturrecherchen über die Arbeits- und Lebensbedingungen der Salzarbeiter im Salzkammergut ein und publizierte darüber auch in der von ihrem Sohn herausgegebenen theoretischen Zeitschrift Die Neue Zeit (auch Deubler spielt hier eine Rolle) 36 ; Stellen aus dieser Untersuchung sind wörtlich in den Roman eingegangen. Jene Episode, die zu Deublers Verfolgung geführt hatte, erscheint wenig verändert im Rom a n : Durch einen Artikel M. G. Saphirs im Wiener Humorist (1850) auf Deubler aufmerksam geworden, hatte sich die Erzherzogin Sophie persönlich in dessen Abwesenheit zu Deubler begeben, u m seinen Bücherschrank zu inspizieren, und war dort auf Shakespeare gestoßen; Nachforschungen bei seinem Buchhändler förderten Rechnungen für d'Holbach, Feuerbach, Thomas Paine und Benjamin Franklin zutage, was schließlich 1853 zu Hausdurchsuchung, Verhaftung und Anklage wegen Hochverrats und Reli-

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M. Kautsky an Deubler, Hallstatt 6. 8. 1878. Dodel-Port: Deubler, Tl. 2, S. 254. Vgl. Helmut Konrad: Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich. Wien 1981, zu Deubler s. Reg.; ders.: Religiöser und sozialer Protest. Die frühe österreichische Arbeiterbewegung und die Religionsgemeinschaften. In: Politik und Gesellschaft im alten und neuen Österreich. Festschrift f. Rudolf Neck zum 60. Geburtstag. Hgg. v. I. Ackerl, W. Hummelberger u. H. Mommsen. Bd. 1. Wien 1981, S. 195-215; ders.: Deutsch-Österreich: Gebremste Klassenbildung und importierte Arbeiterbewegung im Vielvölkerstaat. In: Europäische Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert: Deutschland, Osterreich, England und Frankreich im Vergleich. Mit Beitr. v. J. Breuilly u. a. hgg. v. J. Kocka. Göttingen 1985, S. 106-128. Zum Besuch bei Deubler vgl. KK-AB 525.

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Wilhelm Wiener [d. i. Minna Kautsky]: Staatsarbeiter und Hausindustrie im Salzkammergut. In: Die Neue Zeit 5 (1885), S. 22-28 u. 74-85, zu Deubler S. 74 ff.

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gionsstörung führte. 37 Im Roman perlustrieren die Gräfin Dönhof und der Jesuit Cölestin auf der Suche nach der verbotenen sozialpolitischen Broschüre Arnold Lefebres den Bücherschrank des jungen Salzarbeiters Georg Hofer; dessen Bibliothek ist das Erbe des verstorbenen Gelehrten Marr, Mentor des jungen Lefebre und Vater der religionslos erzogenen Elsa, für die sich zugleich Lefebres Vater, der liberale Abgeordnete Baron Reinthal, Arnold Lefebre selbst, sein Freund Georg Hofer und der Jesuit interessieren. Cölestin und die Gräfin stoßen bei Georg auf den literarisch-politischen Kanon der frühen Arbeiterbewegung: auf Goethe, Lessing, Schiller, Börne, Lassalles Arbeiterlesebuch und schließlich Darwins Entstehung der Arten?9, „,Darwin,' murmelte er [Cölestin], und seine Augen überflogen die Zeilen, die wie glühende Lettern ihm entgegenbrannten. ,Darwin! hier ist der Schlüssel zu allem. Das ist das neue Evangelium, das sie uns entfremdet, das alles untergräbt, was bisher als Offenbarung die Welt erklärt und uns in ihr. - Ihre Vorstellungen sind nicht die meinen, hat sie [Elsa] gesagt [vgl. AN I, 172, W. M.]; sie hat Recht, es sind total veränderte. Sie haben eine andere Poesie, einen andern Idealismus, eine andere Begeisterung - sie entgöttern alles und sezen an deren Stelle ein unerbittliches Naturgesez, die Notwendigkeit. Es ist ein furchtbares, ein äzendes Gift in alledem, das weiter frißt, weiter, weiter!'" (AN I, 189) Es ist Darwin, nicht Lassalle oder ein anderer sozialistischer Autor, in dem der Pater die Hauptgefahrdung seiner Macht erblickt und damit dem sozialdemokratischen Lesepublikum des Romans nachhaltig empfiehlt. Ein „neues Evangelium" bringt eine „andere Poesie", einen „andern Idealismus", eine „andere Begeisterung" hervor; die darwinistische „Poesie" steht im Roman in Opposition zu der des Katholizismus: „dieser Kultus war ja das einzige, was einen Funken Poesie in das arme freudlose Leben dieser Menschen brachte", heißt es von den Einwohnern von Amsee, die sich zu einem Prozessionszug ordnen, „das einzige, das ihre Phantasie erregte, das sie, für Stunden wenigstens, der Not, dem Jammer ihres Daseins entriß. Es befriedigte doch, wenn auch in der unvollkommensten Weise, das ideale, das künstlerische Bedürfen, das angeborene Lustbedürfen dieser Men37 38

Dodel-Port: Deubler, Tl. 1, S. 119 ff. Der österreichische Arbeiter-Kalender stellte 1883 „Aphorismen" aus Gutzkow, Seume, Börne, Goethe und Haeckel zusammen. Arbeiter-Kalender für das Jahr 1883. Hgg. v. J. Bardorf. Wien 1882, S. 73 f.

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sehen." (AN II, 31) Der Roman unternimmt nun nichts weniger, als im Gewand der Poesie dieses „angeborene Lustbedürfen" in alternativer Weise zu befriedigen und dies an einzelnen Figuren vorzuführen. Denn die religiöse Empfindung sei nicht angeboren, hält Elsa den Bekehrungsversuchen Cölestins entgegen (AN I, 173), sie habe über sie keine Macht (AN I, 172; I, 182; II, 90). Es ist symptomatisch, daß Kautsky aus dem Leben Deublers gerade jene Partie verarbeitet hat, in der es um Bücher ging; der Bildungsoptimismus des Romans, dessen Möglichkeit in Deubler selbst bestätigt war, ist denn auch unübersehbar. Zunächst ist es das Lektüreverbot in den Unterkünften (eine Realie, die auch in Kautskys Staatsarbeiter-Kuisatz hervorgehoben wird), das die Arbeiter bewegt, dann die Durchsuchung ihrer Unterkünfte nach der verbotenen Broschüre, die beinahe einen Aufstand verursacht. 39 Der Staat als Eigentümer der Hallstätter Salinen tritt als Störer einer naturgemäßen Entwicklung auf, die die Elite der Salzarbeiter, unterstützt durch die Intellektuellen Lefebre und Marr, durchmacht, weniger als Gegner; als Störer einer wissenschaftsinduzierten Individualentwicklung, die der Absage an die hegemonialen ideologischen Mächte bedarf, um von „jener innern Harmonie", „jenem reinen Frieden", „jener Milde, die einzig und allein die ungetrübte Freude am Dasein ermöglicht", zum Sozialismus zu gelangen. Diese Entwicklung ist jedoch gerade keine notwendige, und der Roman hat deshalb Mühe, dieses Set von Weltanschauungstugenden, deren Abkunft aus dem liberalen Antiklerikalismus nicht zu leugnen ist, als „sozialistisch" zu beglaubigen, zumal das Wort „Sozialdemokratie" im Roman nicht fallt. In Die Alten und die Neuen werden vielmehr die mit der Sozialdemokratie konkurrierenden politischen Richtungen planvoll delegitimiert. Mit dem Katholizismus als Ideologie gelingt das problemlos; Elsa ist gegen den Mystizismus, den Cölestin und die Gräfin aufbieten, gefeit, und der Pater wird in die Liebeshandlung um Elsa integriert. Das „äzende Gift" der neuen Weltanschauung erweist sich als in der menschlichen Natur verankert: „Aufstöhnend griff er nach seinem Herzen, als wäre auch ihm bereits etwas von diesem Gifte eingeimpft, als säße es ihm im Blute und alles Wehren sei vergeblich, denn auch er war Untertan diesem Naturgesez" (AN I, 189), in diesem Fall seiner Liebe zu Elsa (von Elsa heißt es: „Sie glaubt 39

Vgl. die sich daran entzündende - kurzatmige - Kritik von Gerald Stieg u. Bernd Witte: Abriß einer Geschichte der deutschen Arbeiterliteratur. Stuttgart 1973, S. 55.

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nicht, weil sie nicht glauben muß, aber lieben muß sie, das ist ein Naturgesez, und lieben wird sie." AN I, 173). Der politische Katholizismus in Gestalt des Grafen Falkenau versucht Arnold auf seine Seite zu ziehen und ihn für die konservative „Sozialreform" zu gewinnen (AN II, 111), indem er auf den gemeinsamen Gegner Liberalismus verweist, und, als Arnold ablehnt, ihn durch Verfolgung auszuschalten. In einer Szene im Wiener Parlament läßt Kautsky einen Abgeordneten „Biedermann", der Züge Georg v. Schönerers trägt, sein Programm als blanken Unsinn vortragen (AN II, 9-11). Schon diese Aufteilung divergierender politischer Optionen weist auf eine allegorisch-didaktische Unterströmung des Romans, bei allem „Realismus" dieser Optionen für die Politik der ersten Hälfte der achtziger Jahre: So war die christliche Sozialreform tatsächlich ein Versuch des konservativen Regimes Taaffe, die krisengeschüttelte Arbeiterbewegung zu integrieren, abgestützt durch Pläne zu einem Sozialistengesetz in Anlehnung an das im Deutschen Reich. 40 Protagonisten dieser Politik sind in Kautskys Roman kenntlich, wie etwa Kardinal Schwarzenberg („ein hoher geistlicher Würdenträger" [11,12 ff.]) und Prinz Alois v. Liechtenstein (Prinz Sturm), der sich von der „Eminenz" die christliche Reform der liberalen Volksschulgesetze soufflieren läßt.41 Das allegorische Konzept42 hingegen wird deutlich an der Behandlung -

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Vgl. Kurt Ebert: Die Anfange der modernen Sozialpolitik in Österreich. Die Taaffesche Sozialgesetzgebung für die Arbeiter im Rahmen der Gewerbeordnungsreform (1879-1885). Wien 1975. Vgl. Ludwig Brägel: Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie. Bd. 3. Wien 1925, S. 216-225; Helmut Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs. Bd. 4. Wien 1986, S. 119-125. Den Bruch mit der realistischen Charakterzeichnung, die an Arnold und Elsa die schattierenden Zwischentöne vermissen läßt, hat auch Julie Zadek als ungewollte Verwandtschaft mit den sauberen Helden der bürgerlichen Konsumliteratur mißverstanden: „Weshalb die Verfasserin, deren großes realistisches Talent sich auch in diesem Romane wieder aufs Glänzendste zeigt, bei der Zeichnung dieser beiden Figuren so verfahren ist, ist schwer zu verstehen. Leicht möglich, daß ihre warme Begeisterung für die Ideen, als deren vornehmste Träger die beiden erscheinen, der Autorin die Unbefangenheit des Blickes geraubt hat." J. Zadek: Die Alten und die Neuen von Minna Kautsky. In: Die Neue Zeit 2 (1884), S. 558-544, S. 540. Anders die Montags-Revue (Wien), 1. 12. 1884, S. 6: „M. Kautsky wirft große gesellschaftliche Probleme auf, für deren Behandlung und Vorführung sie Experimental-Menschen vor uns hinsetzt". Zur Allegorie vgl. u. a. Klaus-Michael Bogdal: Zwischen Alltag und Utopie. Arbeiterliteratur als Diskurs des 19. Jahrhunderts. Opladen 1991.

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und Ausschaltung - des Liberalismus: Arnold (der Sozialismus) ist ein illegitimer Sohn des libertinistischen Baron Reinthal (Liberalismus) und der von Reinthal betrogenen Bürgerlichen Marie Lefebre, die nach dem Bruch des Eheversprechens Selbstmord beging. Die neue vage Lehre, die Marr und in seiner Nachfolge Arnold vertreten und die sich am ehesten als naturwissenschaftliche Soziologie bezeichnen ließe, beruft sich gegen den politischen Katholizismus auf die „fortschreitende Entwicklung des Menschengeschlechtes"; das „Anwachsen der Armut" „kann und wird allein durch die empirische Wissenschaft" beseitigt werden (AN II, 113). „Bild u n g " und „Wissen", „die exakte Forschung, wo die Natur, das Leben selbst zu uns redet", müßten an die Stelle des Glaubens treten (ebd.). Mit Reinthal hingegen könnte Arnold gerade auf dieser darwinistischen Basis einig werden: „Lebt in uns beiden nicht das gleiche Streben nach Wahrheit und wissenschaftlicher Erkenntnis?" „Du weißt es wohl, daß, wie in der ganzen Natur, es auch im Völkerleben ein ewiges Gesez der fortschreitenden Entwicklung gibt, und dieser Werdeprozeß der Menschheit läßt sich nicht eindämmen und nicht zurückhalten" (AN II, 69 u. 71; ähnlich I, 152). Dieses „Gesetz", das sich auf ein von Haeckel in der Natürlichen Schöpfimgsgeschichte (und schon früher) postuliertes Gesetz „des Fortschritts ( P r o g r e s s u s ) oder der Vervollkommnung ( T e l e o s i s ) " 4 3 berufen könnte, verursache die „Emanzipation der unteren Stände", diese „manifestirt sich in dem heißen Bildungsdrange derselben und in der Erkenntnis, wie wenig bisher dafür geschehen ist"; die Forderung nach Verkürzung der Arbeitszeit sei, so Arnold, im Kern die Forderung nach Zeit zum Lernen (AN II, 71). U m nun die liberale Abkunft des eigenen Paradigmas zu tilgen, tritt Reinthal Arnold nicht nur mit Argumenten politischer Opportunität entgegen, sondern wird auch von der Romanhandlung desavouiert, indem sich Arnold wenig später Reinthals persönliche Verfehlung an seiner Mutter enthüllt; erst diese Entdeckung macht ihn vom Theoretiker zum Teilnehmer: „Von diesem Augenblick ist er losgelöst von allen Beziehungen, die bisher an die vornehme Welt ihn noch gefesselt, losgerissen von allen Banden, die

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Emst Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft. Berlin 1868, S. 224.

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ihn an den Vater geknüpft, jezt gehört er voll und ganz jenen Enterbten an, jenen Rechtlosen [...]. Jezt ist er ein Proletarier wie sie." (AN II, 105) Der Roman Die Alten und die Neuen trägt also Züge eines Diskussionsund Ideenromans, eines politischen Schlüsselromans 44 und, bezüglich der fundierten Darstellung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Salinenarbeiter, einer Sozialreportage. Zugleich zeichnen sich hinter der Handlungsführung allegorische Züge ab, die in der „freien Liebe" Arnolds und des Naturkindes Elsa gipfeln, womit die Liebeshandlung abgeschlossen wird; Elsa wird - nach dem Tod Arnolds - ein Sohn geboren, der das Werk seines Vaters fortsetzen wird. Der „Darwinismus" in Die Alten und die Neuen beschränkt sich jedoch nicht auf die ideologischen Aussagen der Protagonisten, sondern ist auch in die Mikrostruktur der sprachlichen Gestaltung eingegangen. Ingrid Cella zitiert - inspiriert durch einen Hinweis Karl Kautskys, die „Genossen" hätten die Autorin „als die ,rote Marlitt'" bezeichnet - zu der Verführungsszene Elsa-Cölestin eine Parallelstelle aus Eugenie Marlitts Roman Die zweite Frau (1874) und leitet aus den in der Tat erstaunlichen Ubereinstimmungen ein „Versagen auf dem Gebiet der adäquaten Gestaltung" ab und verortet Kautsky so unter Rekurs auf die Tradition der sozialistischen Realismus-Diskussion. 45 Ein näherer Blick auf die sprachliche Gestaltung emotionaler Affekte im Roman kann jedoch zeigen, daß gerade die narrative Mikrostruktur Elemente enthält, die der bürgerlichen Unterhaltungsliteratur fremd sind und die ihren Ursprung nicht zuletzt in Darwin haben. Auffällig oft finden sich an den Tonstellen des Romans Einschlüsse aus dem naturwissenschaftlich-physiologischen Diskurs. So regnet es im Roman nicht schlicht, sondern: „Die Regen menge dieses Frühjahrs war ganz abnorm" (AN I, 177; Hervorh. auch i. f. W. M.), kein stilistischer Lapsus, sondern Vorverweis auf die „Naturkatastrophe des Bergsturzes und in Opposition zu den apokalyptischen Prophezeiungen des lokalen Priesters. Georgs „Brust hob sich unter einem tieferen Atemzug, unter einem stärkeren Herzschlag, aber kein Muskel verriet sonst eine

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„Mehr als eine der episodischen Gestalten des Romans ist von so frappanter Porträtähnlichkeit, daß es selbst den der wiener Gesellschaft Fernstehenden nicht schwer wird, das Original zu erkennen." Zadek: Die Alten und die Neuen, S. 543. Ingrid Cella: Die Genossen nannten sie die „rote Marlitt". Minna Kautsky und die Problematik des sozialen Romans, aufgezeigt an: „Die Alten und die Neuen". In: Osterreich in Geschichte und Literatur 25 (1981), S. 16-29, S. 25.

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Bewegung" (AN I, 167), ,,[e]r stand regungslos, aber jede Muskel [sie] bebte an seinem Körper." (AN II, 92). Cölestin: „Einen Augenblick schien das blasse, bartlose Gesicht des jungen Paters durch eine nervöse Kontraktion verzerrt, dann hob er den Kopf noch höher" (AN I, 172). Elsa und Arnold gehen nebeneinander: „Beider Schritt war elastisch; die jungen Glieder zeigten sich voll Kraft, und die Gleichartigkeit ihrer Bewegung, der genau geregelte Schritt brachte bei beiden die gleichen Muskeln und Organe in Tätigkeit. Ihre Glieder bogen und streckten sich und ihre Lungen atmeten in gleichen Intervallen, ihr Herz klopfte in gleichen Schlägen. Sie fühlten diese Uebereinstimmung, sie belebte sie, erfüllte sie mit physischem und seelischem Wohlbehagen." (AN II, 123) Helene hört Musik, eine „Lisztsche Rhapsodie": „Das Motiv ging aufwärts in Sequenzen weiter, sich in der Wiederholung zum leidenschaftlichsten Ausdruck steigernd. Helene zeigte sich davon beeinflußt, sie sprach nicht mehr mit den Lippen, sie hörte zu; aber ihr Atem wurde heftiger, ihr schöner Körper hatte nervöse Vibrationen und die vollen Schultern zuckten, als ob sie dem Kleide entsteigen wollten. Jezt warf sie wie in Extase den Kopf gegen den schneeigen Nacken zurück und schloß die Augen. Elsa sah dies alles, und ihre Pulse klopften. In dieser Atmosphäre der Lüsternheit, der Frivolität, die ihr Blut erhizte, war ihr ein neuer Sinn erstanden. Sie begriff mit einemmale diese kokette Sinnlichkeit, sie erriet, was sie bezweckte." (AN 1,110) Die körperliche Reaktion Helenes ist in Darwins Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren (1872) belegt; die „wunderbare Kraft" der Musik sei Rückerinnerung an die sexuelle Zuchtwahl unserer „frühen Urerzeuger". Die durch sie hervorgerufenen Empfindungen verursachen einen ,,eigenthümliche[n] Zug oder leichte[n] Schauer, welcher bei vielen Personen den Rücken und die Gliedmaassen hinabfährt, wenn sie durch Musik mächtig ergriffen werden", und machen „die Muskeln erzittern".^ In der Abstammung des Menschen wird der erotischen Macht der Musik ein eigener Abschnitt gewidmet. 47 Die simple Feststellung „Lachen und Weinen, ein und dieselbe Reflexbewegung, sie liegen so nahe beieinan-

46 47

Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren. [1872] 2., durchges. Aufl. Stuttgart 1874, S. 221 f. Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen. [Reprint d. 6. Aufl.] 2. Aufl. Wiesbaden 1992, S. 640-648.

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der" (AN I, 164) wird durch den Beleg bei Darwin 48 von einer Allerweltssentenz zu einer physiologisch-psychologischen Wahrheit. Wirkt bei Marlitt die „energische Beredsamkeit" des Jesuiten „halb abstoßend, halb magnetisch"' 0 als Klischee auf die Protagonistin, ist die Liebe von Arnold und Elsa Teil eines naturumspannenden physikobiologischen Phänomens: „In diesem Augenblick hatten sich ihre Hände gefunden und umschlossen - wie wenn zwei verschiedene Pole sich berühren, durchzuckte es sie - der elektrische Strom ging von dem einen Körper in den andern über" (AN II, 125), wie das auch in der zeitgenössischen populärdarwinistischen Literatur zu finden ist. 50 Ebenso hat die „freie Liebe" Arnolds und Elsas ihr natürlich-naturhaftes Analogon in der Natur; an einem Beispiel aus der sich herausbildenden Exempla-Tradition der sexuellen Zuchtwahl (mit der die Leuchtkraft der Käfer erklärt wurde): „Jezt schwirrte ein glühender Funke vorüber, einen Augenblick schien er in der Luft zu stehen, dann veränderte er die Richtung und kam wieder zurück. Es war ein Leuchtkäfer, der seinen lautlosen aber feurigen Hochzeitstanz tanzte. Im Grase lag die Braut, ein Demant funkelt nicht herrlicher, bald hat er sie gefunden. Also auch in diesem niedern Tier erhöhte Phosphoreszenz, erhöhte Nerventätigkeit, und die Liebe der höchste Ausdruck in der Natur, das Hohelied der Schöpfung, Gott selbst" (AN I, 124 f.). 51 Dieses Amalgam von Wissenschaft und romantischer Naturphilosophie, wie es bereits in der Passage von der elektrischen Wirkung der Liebe angeklungen war, grenzt verdächtig nahe an eine neuromantische Naturvergottung, wie sie u m die Jahrhundertwende - etwa bei Wilhelm Bölsche, Ernst Haeckel, dem Gros der Populärwissenschaftler, aber auch bei vielen

48 49 50

Darwin: Gemüthsbewegungen, S. 210 f. Zit. bei Cella: „Rote Marlitt", S. 25. Vgl. z. B. Ludwig Büchner: Liebe und Liebesleben in der Thierwelt. Berlin 1879, S. 11: „Die positive Elektricität sucht die negative'1-, Büchner zitiert ebd., S. 9 einen langen Passus aus der höchst erfolgreichen Schrift „Physiologie der Liebe" von Paolo Mantegazza (1877): „Der positiv-elektrische Körper sucht den negativ-elektrischen, die Säure sucht die Basis, und in solchen Verbindungen, die sich unter einer starken Entwicklung von Licht, Wärme und Elektricität bilden, entstehen neue Körper, treten neue Gleichgewichte ein. Es scheint, daß die Natur darin ihre Kräfte erneuert und so neu verjüngt sich zu neuen Bildungen, zu neuer Liebesthätigkeit anschickt."

51

Vgl. ebs.: „Die ganze Natur ist nur ein einziger Liebes-Hymnus." Mantegazza, zit. bei Büchner: Liebe, S. 8.

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literarischen Autoren virulent war. 52 In der Ökonomie von Kautskys Roman hat es jedoch kritische Funktion, zur Etablierung eines weißen Gegenmythos zur katholischen Religion. Pate steht weniger ein heruntergekommener Idealismus als Ludwig Feuerbach: Als sie getauft werden soll, sagt Elsa: „Ich glaube ja an die Kraft des Wassers, aber es ist eine natürliche Kraft und wenn ich nun an seine übernatürliche nicht glaubte, nicht glauben könnte?" (AN I, 142 f.) Die Debatte u m das Naheverhältnis von Sozialdemokratie u n d Darwinismus veranlaßte den jungen Karl Kautsky zu einer Neubestimmung dieser Beziehung. Gegen eine Broschüre Darwinismus und Socialdemokratie53 von Oscar Schmidt, dem ehemaligen Grazer Ordinarius für Zoologie und einem der ersten prononcierten Anhänger des Darwinismus im Osterreich der sechziger Jahre, legte Kautsky in einer Antipolemik im Wiener Parteiorgan Der Sozialist den Akzent auf die ideologiekritischen Funktionen Darwins 5 4 : Zum einen sei mit d e m Nachweis des natürlichen Ursprungs der organischen Welt der „Hinweis auf die göttliche Autorität, mit welcher man alle sozialen Ungerechtigkeiten zu rechtfertigen versuchte", hinfällig geworden; zum anderen sei das von Darwin herangezogene Prinzip der stetigen Entwicklung antikonservativ: es setze das Bessere an die Stelle des Alten. Somit sei ein Konservatismus obsolet, „der alles Bestehende mit dem falschen Schimmer eines ehrwürdigen Alters" umgebe. Marx und andere hätten dieses Prinzip auf die Sozialwissenschaften übertragen (!). Für die „Detailforderungen" des Sozialismus hingegen sei die Ökonomie zuständig. Diese eher restriktive Position, 1890 in einem wichtigen Beitrag im Oesterreichischen Arbeiter-Kalender im Kern wiederholt, besteht auf der Arbeitsteilung zwischen den Wissenschaften; sie richtet

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54

Dazu Walter Gebhardt: „Der Zusammenhang der Dinge". Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1984, bes. zu Haeckel und Bölsche. Darwinismus und Socialdemokratie. Ein Vortrag, gehalten bei der 51. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Cassel. Bonn 1878. Schmidt bezog sich vor allem auf Leopold Jacobys „Die Idee der Entwicklung" (1874) und, nur kursorisch, auf Engels' „Anti-Dühring". Gegen Schmidt erschien auch S. Podolinsky: Sozialismus und Darwinismus. Eine Antwort auf Oskar Schmidt's Darwinismus und Sozialdemokratie. Aus dem Serbischen übers, v. M. N. Budapest 1879. Darwinismus und Sozialismus. In: Der Sozialist. Zentral-Organ der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Oesterreichs (Wien), 24. u. 27. 4. 1879.

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sich - im polemischen Z u s a m m e n h a n g der Diskussion - gegen die von den Darwinisten erhobenen Ansprüche auf eine Natur u n d Gesellschaft umfassende Metatheorie, wie sie in Schmidts Debattenbeitrag angeklungen war. Diese Arbeitsteilung („Entwicklung durch die Production und Entwicklung durch den Kampf ums Dasein sind also zwei ganz verschiedene Begriffe" 55 ) hatte ihren strategischen Sinn in der Abwehr von Ansprüchen, Gesellschaftsbilder nach d e m Vorbild des „Kampfes ums Dasein" zu entwerfen. Schwächte Kautsky seinen eigenen Standpunkt von 1875 damit ab („Die Gesellschaftswissenschaft betrachtete ich nur als ein besonderes Gebiet der Naturwissenschaft"), gab er den Gedanken der Einheitlichkeit von Natur und Gesellschaft nie ganz auf: „Die Trennung der Wissenschaft in Geistes- und Naturwissenschaften, von denen jede ganz unabhängig sein soll von der andern, habe ich stets abgelehnt" (KK-AB 365). So gab sich Kautsky auch Anfang der achtziger Jahre nicht mit der bloßen Unzuständigkeit der Biologie für die menschliche Geschichte zufrieden, sondern entwickelte gegen eine Politik aus dem Geist des „Kampfes ums Dasein" ein eigenes Modell, das in spezifischer Weise die Gesellschafts- an die Naturgeschichte anschloß: Aus den Bemerkungen Darwins zum Ursprung der Moral aus den sozialen Instinkten 56 der „gesellschaftlich lebenden Tiere" leitete Kautsky eine historische Theorie ab, gemäß der mit fortschreitender Entwicklung die intraspezifische Aggression einer natürlichen Solidarität weiche. Somit war die Ethik „materialistisch" erklärt und jenes Problem gelöst, das der landläufigen Verwechslung von philosophischem und „moralischem" Materialismus stets Nahrung gab. D e r kommunistische „Urmensch" lebe daher mit seiner natürlich-instinkthaften Ausstattung in Einklang; mit der Entwicklung des Privateigentums beginne wohl die eigentliche Geschichte des Menschen, diese gehe aber mit einer Unterdrückung jener „sozialen Instinkte" (die bei Kautsky zu „sozialen Trieben" werden) einher. Die Neue Zeit eröffnet ihr Redakteur Kautsky mit Abhandlungen über Die sozialen Triebe in der Tier- und Menschenwelt, die entsprechend in d e m Passus gipfeln, man habe in d e m „anziehende[n] Bild der Vergangenheit" des Naturmenschen „nur de[n] Spiegel einer besseren Zu-

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K. Kautsky: Sozialismus und Darwinismus. In: Oesterreichischer Arbeiter-Kalender für das Jahr 1890. Brünn 1890, S. 49-54, S. 53. Darwin: Abstammung des Menschen, S. 106-138.

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kunft" vor sich. 57 Die Weltgeschichte ist diesem Modell zufolge eine „abnorme Episode" 5 8 ; bei den ökonomischen Auseinandersetzungen der Gegenwart könne es sich also nicht um einen naturnotwendigen „Kampf ums Dasein" handeln, dieser sei vielmehr in der prähistorischen Arbeit an den sozialen Trieben aufgehoben 59 , „Gesellschaft" selbst sei die „vornehmste, ja fast einzige Waffe im Kampfe um's Dasein". 6 0 Diese spezifische Adaption Darwins läßt genügend Raum für den eigentlichen „historischen Materialismus" der Geschichte der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse; sie umgeht den von den „bürgerlichen" Darwinisten - nicht zuletzt gegen den Sozialismus - immer stärker betonten „Kampf ums Dasein" in der Menschenwelt und entgeht damit den schwarzen Folgerungen des sogenannten „Sozialdarwinismus", ohne auf den „hellen" Evolutionismus verzichten zu müssen. Sie hat darüber hinaus ihre paradoxe Pointe in der Delegitimierung der bestehenden Verhältnisse als „unnatürliche"; besserer Gebrauch war theoretisch von Darwin nicht zu machen. An diesem Konzept hat Karl Kautsky - mit Modifikationen - zeitlebens festgehalten. Als sich Kautsky, in den zwanziger Jahren nach Wien zurückgekehrt, um sein Charakterbild in der sozialistischen Ideengeschichte zu sorgen beginnt, druckt er in seiner theoretischen Summe Die materialistische Geschichtsauffassung diese dann schon bald 50 Jahre alten Arbeiten nach; mit Petr A. Kropotkins Werk Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, ebenfalls gegen Herbert Spencer und Thomas Henry Huxley gerichtet, fuhrt er eine Art Prioritätsstreit.61 Wie sehr bei Minna Kautsky die „ideologiekritischen" Funktionen Darwins, wie sie Karl Kautsky entwickelt, als zentrale Ideologeme in den Ro-

57

K. Kautsky: Die sozialen Triebe in der Tierwelt. In: Die Neue Zeit 1 (1885), S. 20-27 u. 67-73; Die sozialen Triebe in der Menschenwelt. In: Ebd. 2 (1884), S. 15-19, 49-59 u. 118-125 (Zit. S. 125). Kautsky versuchte erfolglos, Engels für einen Darwin-Nekrolog im ersten Jahrgang der Zeitschrift zu gewinnen (vgl. Engels' Briefwechsel mit Kautsky, S. 66 u. 69); diese Aufgabe übernahm dann Dodel-Port.

58 59

K. Kautsky: Die materialistische Geschichtsauffassung. 2 Bde. Berlin 1927, Bd. 2, S. 843. Vgl. die noch unsichere Terminologie bei den Auseinandersetzungen in Tier- und Menschenwelt und die langsame Herausbildung dieses Modells in den Arbeiten für das Züricher Exilorgan „Sozialdemokrat". Kautsky: Die urwüchsige Form des Kampfes um's Dasein; Der Ständestaat und Klassenstaat; Klassenkampf und Sozialismus. In: Der Sozialdemokrat, 15., 22. u. 29. 9. 1881.

60 61

K. Kautsky: Die sozialen Triebe in der Tierwelt, S. 27. K. Kautsky: Materialistische Geschichtsauffassung, Bd. 1, S. 254 ff; KK-AB 581.

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man Die Alten und die Neuen eingegangen sind, wurde oben gezeigt. Doch auch das Konzept der „sozialen Triebe" spielt eine kaum zu überschätzende Rolle, die zum Verständnis der Romane und ihres ideologischen Gehalts nicht außer acht gelassen werden darf. So steht der Russisch-Türkische Krieg in Minna Kautskys Roman Helene (1894), der die Zeit des Sozialistengesetzes und den „Wydener Kongreß" behandelt, unter dem Zeichen des „Kampfes ums Dasein": „Sie waren in jenen wilden primitiven Kampf ums Dasein getrieben, den die Bestie führt" (H 237), bei den Verwundeten jedoch herrscht ein „Gefühl, daß es, unbekümmert um Religion und Nation Etwas gäbe, das Menschen mit Menschen verbindet" (H 241). Getreu der These Karl Kautskys, der „Kampf ums Dasein" habe sich bei den höheren Tieren und den Menschen in die interspezifische Dimension zurückgezogen und herrsche nun noch zwischen den Nationen, wie er früher zwischen Stämmen geherrscht habe und werde einem Internationalismus weichen, ist dieser Kampf als Krieg ein „primitiver" 62 ; bei den Opfern setzt sich die natürliche Solidarität durch. Die geschichtsphilosophische Spekulation von der ursprünglichen Solidarität innerhalb

d e s S t a m m e s ist in Die Alten

und die Neuen

d i e B a s i s f ü r die

historischen Verweise auf die keltische Urbevölkerung des Salzkammergutes (die durch die Hallstätter Rnochenfunde [AN II, 42 f.] ohnehin Gegenstand großen zeitgenössischen Interesses war): Georg Hofer trägt keltische Gesichtszüge (AN I, 22, vgl. auch I, 4 f.), und wie bei Karl Kautsky die entfernte Vergangenheit „Spiegel einer besseren Zukunft" ist, entdeckt Professor Marr an Arnold „etwas von dem Gemeinsinn, den unsere heidnischen Altvordern dereinst besessen haben und der nun zugleich mit einer neuen Weltanschauung wieder auftaucht." (AN I, 37 f.) ,,[D]er Mensch ist nun einmal so gemacht", heißt es nach der geglückten Rettung aus einer Brandkatastrophe vom applaudierenden Publikum in der Erzählung Der Pariser Garten (1891), „daß die Leiden anderer ihn miterschüttern, seine Nervenzellen affizieren, so daß die Wohlfahrt aller, die Gleichheit, die Brüderlichkeit ganz und gar seinem wahren, seinem inner-

62

Ahnlich ist in Kautskys Bericht über eine Wiener Ausstellung über einen Gemäldezyklus Wassilij Wereschtschagins zum Russisch-Tiirkischen Krieg, dessen Tableaus deutlich Vorbilder einzelner Szenen in „Helene" gewesen sind, von der „Brutalität des Siegers, d[er] freudetrunkene[n] Roheit des zur Bestie umgewandelten Menschen" die Rede. Wilhelm Wiener [d. i. Minna Kautsky]: Wassili Wereschagin. In: Die Neue Zeit 4 (1886), S. 27-36, S. 29.

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sten Wesen entsprechen." 6 3 In genau diesem Sinn ist es die spontane Solidarität als freigelegter „sozialer Trieb", die in Die Alten und die Neuen nach dem Bergsturz die verfeindeten Parteien zur Hilfe vereint: „ E i n Sinn und ein Gedanke beherrschte sie, ein Gefiihl erregte ihre Nerven und zwang sie zu gemeinsamem Handeln. Hier offenbarte sich wieder der Urinstinkt der Menschheit, das natürliche Gesez, das als Bewußtsein der Gattung auftritt. Und dieses große soziale Gefiihl der Zusammengehörigkeit aller, der Solidarität, trat auch hier, diesem allgemeinen Schmerz gegenüber, in sein erhaltendes, erhebendes und ewiges Recht." (AN II, 148) Mit diesem Bild wird zugleich das Szenario des Duells zweier Männer um die Frau, das zu den härtesten Applikationen der „sexuellen Zuchtwahl" in der Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts gehört, entschärft; der polizeilich gesuchte Arnold und Cölestin stehen einander mit Pistolen gegenüber, als der Plattenberg zusammenbricht, alles eilt zur Rettung. Bei den Hilfsmaßnahmen kommen demgemäß sowohl Cölestin als auch Arnold ums Leben. Dieser Romanschluß befriedigte nicht. Die Autorin lasse ihren Helden sterben „in einem Augenblicke, wo es ein künstlerisches Unvermögen ist, ihn sterben zu lassen, da eben ein Konflikt zwiefacher Art über ihn hereinbricht, der seinen Austrag heischt", schrieb der Rezensent der Frankfurter Zeitung64; die Berliner Volkszeitung sah darin ein „Abbrechen mitten in der Entwickelung". 6 5 Nicht anders teilt ihr Albert Last, Inhaber der größten Wiener Leihbibliothek, mit: „Wenn ich noch etwas einzuwenden hätte so ist das der tragische Schluß. Der Tod des Helden ist keine Nothwendigkeit, vor ihm lag noch ein wirkensvolles Leben offen, um so mehr als eine starke Seele ihm zur Seite stand. Eine Schuld gab es hier nicht zu sühnen." 6 6 Friedrich Engels, gleichfalls unter Verkennung des allegorischen Gehalts der Figuren: „Dieser [Arnold] ist in der Tat doch gar zu brav, und wenn er schließlich beim Bergsturz umkommt, so kann man das mit der poetischen Gerechtigkeit nur vereinigen, indem man etwa sagt: er war zu gut für diese Welt." 67 Schließlich kritisierte auch Paul Heyse die mangelnde Motivierung

63 64 65 66 67

M. Kautsky: Der Pariser Garten und anderes. Berlin 1915, S. 241. Nicht datierter Zeitungsausschnitt. IISG Kautsky-Familiennachlaß 2061. Volkszeitung (Berlin), 25. 10. 1884. Albert Last an M. Kautsky, Wien, 10. 8. 1884. IISG Kautsky-Familiennachlaß 1641. Marx u. Engels: Werke. Bd. 56, S. 595. „Bei Elsa ist noch eine gewisse Individualisierung, aber bei Arnold geht die Person noch mehr in das Prinzip auf."

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von Arnolds Tod; in einem Antwortbrief gab Minna Kautsky endlich der Kritik recht: „Die tragische Stimmung, die mir bei der Arbeit erstand, hatte für mich ihre Wonnen und ihre Poesie, ich glaubte sie in die Darstellung übertragen zu können. An eine Lösung unsrer heutigen verwickelten Gesellschaftszustände konnte ich nicht denken, und ebenso stand es bei mir von vorneherein fest, daß Arnold nicht als Sieger daraus hervorgehen könne." Doch: „Nicht, daß ich keine Lösung da bringe, ,wo kein Prophet sie voraussagen kann', ist zu tadeln, und nicht, daß Arnold zu Grunde geht, sondern, daß er, der im Kampfe gegen die Gesellschaft sich befindet, durch ein plötzlich hereinbrechendes Naturereigniß zu Grunde geht. Darin liegt das Unkünstlerische und Unbefriedigende."68 Den gewaltsamen Tod des sozialpolitischen Pioniers stellt bereits in den ersten Kapiteln des Romans Marr in Aussicht, „diese neue Weltanschauung wird, wie alle neuen Ideen ihre Märtyrer haben" (AN I, 38). Mit einer solchen ,,tragische[n] Stimmung" rechtfertigt auch der späte Kautsky - der ja zunächst ebenfalls eine Schriftstellerkarriere angestrebt hatte - den pessimistischen Zug seiner Manuskript gebliebenen frühen Romane: „Angesichts der Niedertracht und Gewalttätigkeit der Gegner konnte ich mir unsern Sieg anders als durch eine blutige Revolution nicht vorstellen. So hatte ich schon gedacht, ehe ich zur Partei kam, und ich lernte in dieser Beziehung nicht anders denken, als ich ihr beitrat. Die Genossen dachten alle ebenso." (KK-AB 297) Zudem erfüllen beide - über den Umweg des Märtyrertums der Helden - das Bilderverbot der frühen Sozialdemokratie, das den Sozialismus als konkrete Utopie ausschloß.69 Soweit der Roman gegen die Wohlgeformtheitsregeln der realistischen Schreibweise des 19. Jahrhunderts verstößt, deren Minimalerfordernis die durchgängige Motivierung der Handlung gewesen sein mochte, tut sich am Romanschluß im Tod Arnolds eine echte Textlücke auf, in Anlehnung an die Terminologie des Russischen Formalismus ein „Minus-prijom". 70 Diese Lücke schließt sich, stellt man den allegorischen, also nicht lediglich den

68 69

M. Kautsky an Paul Heyse, Wien, 4. 2. 1885. IISG Kautsky-Familiennachlaß 1631. Dazu Antoon Berentsen: Vom Urnebel zum Zukunftsstaat: Zum Problem der Popularisierung der Naturwissenschaften in der deutschen Literatur (1880-1910). Berlin 1986, S. 250-265.

70

Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. 2. Aufl. München 1986, S. 144-147 u. pass. Vgl. auch Bogdal: Alltag und Utopie, S. 122 ff. („Bürgerlicher Realismus und proletarischer Idealismus").

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Schreibregeln des Realismus gehorchenden Charakter des Plots bzw. seine allegorische Dimension in Rechnung: Arnold (der Sozialismus) stirbt in menschheitlicher Aufopferung und wird in seinem Sohn wiedergeboren. Das „Opfer" Arnold wird so zugleich mythisiert und negiert; mythisiert, indem der Held im Kampf gegen die Natur fallt (die neue Weltanschauung würde nach Arnold „die also verbündete Menschheit den Kampf aufnehmen [...] [und] gegen die zerstörenden Naturgewalten" führen lassen, „indem sie ihre Geseze erforscht, sie paralisirt und so den Fluch in Segen wandelt" [AN I, 38]) und dadurch das Opfer in eine größere Perspektive einrückt; negiert, als es auf die empirische Person Arnolds nicht ankommt. Der „Pessimismus", der angesichts des Standes der Parteiangelegenheiten in Österreich in dieser Periode durchaus angebracht gewesen sein mag, drängt nach dieser Ersetzung; als allegorische Gestalt kann Arnold nicht untergehen. 71 Es ist signifikant, daß Minna Kautsky Heyse gegenüber diese Lücke lediglich als ästhetischen Fehler zugegeben hat, während es sich doch hier um den zentralen politischen Fehler gehandelt haben müßte: daß an einer wichtigen Tonstelle des Romans Natur und Gesellschaft verwechselt würden. In der Perspektive der geschichtsphilosophischen Spekulation der „sozialen Triebe" ist der Roman jedoch abgeschlossen. Wenn ein Ausgriff auf die befreite Gesellschaft unter den Bedingungen der Gegenwart nicht zu leisten ist, erscheint doch in jenen Szenen der Solidarität, die Minna Kautsky zu gestalten nicht müde wurde, ein Vor-Schein des Endes der Geschichte; wissenschaftlich beglaubigt nicht zuletzt durch die Arbeiten des Sohnes Karl, deren Erkenntnismodus in die Schreibweise des Romans als darwinistisch-physiologische Beschreibungskategorien eingegangen sind. Für die Schreibgegenwart Kautskys und ihr Publikum der sektoralen sozialistischen Teilöffentlichkeit sollten diese Szenen „Enthusiasmus" produzieren, indem der sozialistische Kampf durch eine vorgängige Menschlichkeit als diese selbst erscheinen sollte. Der politischen Didaxe dienen die Schlüsselpassagen im Parlamentscouloir, in denen die Interessenlagen und die Strategien der Feinde des Sozialismus offengelegt werden; in den pathetischen Szenen der Solidarität kann der Klassengegner Cölestin in die Versöhnung einbezogen werden. „Wissenschaft" und ihr Derivat „Bildung" ist also auf mehreren

71

Zum Zusammenhang von praktischer Ohnmacht' unter dem Sozialistengesetz und einem „Entwicklungsdenken", „in welchem dem Geschichtsprozeß die revolutionierende Kraft zugeschrieben wurde" vgl. Detlef Lehnert: Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei 1848-1983. Frankfurt/M. 1983, S. 70.

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Ebenen der eigentliche Inhalt von Kautskys Roman; das wechselseitige Stützungsverhältnis von Form und Inhalt eröffnet der „Wissenschaft" im Gewand der Poesie die Weiterung zur „Weltanschauung". Nicht von ungefähr hat Minna Kautsky den Beruf des Tendenzschriftstellers in ähnlichen Worten beschrieben, wie sie sich im Roman auf die Vorkämpfer der neuen Weltanschauung beziehen: „Aber je größer und bedeutender die Neuerer, um so empfindlicher und feindseliger haben sich die alten angegriffenen Gewalten ihnen gegenüber verhalten. Solche Dichter hat man ehedem verfolgt, verbannt, gekreuzigt und verbrannt [...]. Aber ihr Einfluß auf die Gemüther der Menschen bleibt heute wie damals ein ungeheurer, ein unberechenbarer, und der große umformende geistige Prozeß, der durch die sich stets ändernden materiellen Verhältnisse eingeleitet wird, erhält durch sie künstlerische und dauernde Gestalt." 72 Doch „Wissenschaft", wie sie im Roman erscheint, ist von einer empirischen, methodisch fundierten, falsifizierbaren, akkumulativ fortschreitenden Wissenschaft, wie sie dem Selbstbild der Natur-, und zunehmend auch der Geisteswissenschaften der Epoche entsprochen hätte, weit entfernt; „Wissenschaft" ist bei Kautsky semantisch in einer Weise überdehnt, daß die Inhalte der Wissenschaft Marrs ebenso unbestimmt bleiben können wie die Forderungen der Broschüre Arnolds. In der Durchsetzungsphase des Darwinismus, die Minna und Karl Kautsky in ihrem Wissenschaftsverständnis prägte, wurden die Termini „Deszendenzund Selektionstheorie", „Naturwissenschaft" und schließlich „Wissenschaft" gegeneinander austauschbar, solange man es mit „Gegnern" zu tun hatte. Von daher erklärt sich auch die religiös inspirierte autobiographische Sprechweise, wenn die Proselyten des Darwinismus auf diesen selbst zu sprechen kommen. Wenn Minna Kautsky und ihre Romanfiguren eine „Offenbarung" erleben, geschah dasselbe auch an Karl Kautsky: „Diese Erkenntnis wirkte auf mich wie eine Offenbarung." (KK-AB 214) Dementsprechend ist „Bildung", wie sie in Kautskys Roman die Arbeiterklasse anstrebt, nicht der Erwerb formaler Techniken, deren kontrollierter Einsatz dann „Wissenschaft" ausmachte, sondern vielmehr ein Modus des Teilhaftigwerdens an „Wissenschaft". Dieser spezifisch sozialistisch getönte Enthusiasmus entsteht - nun in Opposition zum Liberalismus, wie das aus dem Streitgespräch Arnold/Reinthal hervorgeht - aus einer coincidentia oppositorum, die die sozialen Codierungen der Epoche 72

Minna Kautsky: „Schnee" von Alexander Kielland. In: Die Neue Zeit 7 (1889), S. 205-216, S. 205 f.

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Die „sozialen Triebe"

aufhebt und die auch den Goiserner Müller und Gastwirt Deubler zum „Bauernphilosophen" avancieren ließ.73 So hat der junge Karl Renner, selbst aus dem Landproletariat, von „unten" kommend, sein sozialistisches Erweckungserlebnis in der Wiener Universitätsbibliothek bei der Lektüre von Lassalles Rede Die Wissenschaß und die Arbeiter, in der wohl von diesem Prozeß, dieser „Allianz [...] dieser beiden entgegengesetzten Pole der Gesellschaft"74, nicht aber von besonderen wissenschaftlichen Inhalten die Rede ist: „Ein unbeschreiblicher Enthusiasmus ergriff mich. Der scharfe Denker packte mich, der feurige Redner, der kühne Streiter, der hohe Geist, der gerade das zur großen Bestimmung der Zeit erklärte, auszufuhren, was finstere Jahrhunderte nicht einmal zu denken für möglich gehalten haben, die Wissenschaft in das Volk zu bringen! [...] War ich nicht selbst aus den Tiefen des Volkes gekommen, in dunklem Drange den Weg zur Wissenschaft suchend und Schritt für Schritt ertastend? Und hier scholl der Ruf von oben, von der Höhe der gesamten Bildung der Zeit, mir entgegen, um mich emporzuheben, um mich zum Höchsten zu ermutigen, damit ich dieses Höchste doch wieder denen unten bringe, von denen ich ausgegangen. Die Wissenschaft und das Volk, die Wissenschaft und die Arbeiter! Welch hinreißende, welch bezwingende, welch überwältigende Idee!"75 Wie in Die Alten und die Neuen Arnold eine Tischlerlehre absolviert hat, wird der Bauernsohn Stefan in Minna Kautskys erstem großen Roman Stefan vom Grillenhof76 Schüler und Assistent eines prominenten Darwinisten, des Gelehrten Professor Wüst. Adelheid Popp erinnert noch 1913 von die-

73

Der ehemalige Schneiderlehrling Rosegger, mit diesen Mechanismen vertraut und sie selbst benützend, hat in seinem Deubler-Nekrolog ein solches Quidproquo zugespitzt formuliert: „Wir erkannten uns bald, ich merkte hinter seiner Bauernjoppe rasch den hochherzigen Philosophen, er hinter meinem Stadtrock den Bauer." Rosegger: Der Bauernphilosoph. Eine Sondergestalt aus den Alpen. In: Deutsche Wochenschrift (Wien), 6. 4. 1884. Deubler selbst erwarb erst 1857 eine Nebenerwerbslandwirtschaft in Lassern bei Goisern, 1864 ein kleines Anwesen auf dem Primesberg (Dodel-Port: Deubler, Tl. 1, S. 179, 191, 321).

74

Ferdinand Lassalle: Die Wissenschaft und die Arbeiter. [1863] In: F. L.: Ausgewählte Reden und Schriften. Hgg. u. mit einem Nachw. vers. v. H. J. Friedend. Berlin 1991, S. 173-218, S. 194.

75 76

Karl Renner: An der Wende zweier Zeiten. Lebenserinnerungen. Wien 1946, S. 217. Minna Kautsky: Stefan vom Grillenhof. Roman. 2 Tie. Leipzig 1881.

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sem Roman, „der damals in parteigenössischen Kreisen berühmt und beliebt war", er habe „das erschütternde Schicksal eines hochbegabten jungen Mannes, der als Sohn eines Bauern nach den höchsten Wissensschätzen strebte", enthalten 77 ; in einer vielgelesenen Broschüre Moses oder Darwin? forderte Dodel-Port für die Volksschulen die Ersetzung der Religion durch den Darwinismus. 78 Der Darwinismus (in seiner damaligen Ausgestaltung) kam solchem Enthusiasmus in seiner Form entgegen: als historische Theorie, die auf die historische Interpretation von Phänomenen eingewiesen war, in der also auch fachbiologische Laien durchaus mitzusprechen imstande waren; als universale Theorie, die ihren epochalen Erfolg aus ihrer Expansion in andere Bereiche des Wissens bezog; als aktuelle und aktualisierbare Theorie mit flexiblen Deutungsmustern höchstens als ganze widerlegbar; Widerlegungsversuche standen von vornherein im Verdacht, auf außerwissenschaftliche Theoreme rekurrieren zu müssen, die Wissenschaftlichkeit überhaupt gefährdet hätten (Kreationismus). In dieser Hinsicht ist Karl Kautsky dem Darwinismus zeitlebens verbunden geblieben, weniger in den Inhalten seiner frühen Darwin-Marx-Synthesen, sondern - in seiner Arbeit an der Ausgestaltung des Marxismus zur Weltanschauung dem Theorietyp des Darwinismus. 7 9 Unter seiner „historische[n] Begabung" verstand Kautsky „die Neigung, alle Erscheinungen, mit denen man bekannt wird, in ihrem Werden zu verfolgen und dadurch zu begreifen.

77

Adelheid Popp: Minna Kautsky. In: Der K a m p f (Wien) 6 (1915), S. 235 f.

78

A. Dodel-Port: M o s e s oder Darwin? Eine Schulfrage. Zürich 1889; die Schrift wurde (zusammen mit anderen Arbeiten Dodel-Ports, auch einem Text über Deubler) in die „Internationale Bibliothek" des Stuttgarter Parteiverlages Dietz aufgenommen, in der auch die meisten Arbeiten Karl Kautskys erschienen (Bd. 1 war Avelings „ D i e D a r w i n s c h e Theorie"). Die Selektionstheorie wird von Dodel-Port mit dem Argument entschärft, das Volk sei durch die unnatürlichen Klassenschranken von d e m Prozeß der Auslese der Besten ausgeschlossen, was der Gesellschaft langfristig zum Schaden gereiche. Ebs. bereits Friedrich Albert Lange: Die Arbeiterfrage. Ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft. [1865] 4. Aufl. Winterthur 1879, S. 48 ff. Ähnlich auch bei M . Kautsky: Stefan vom Grillenhof, Bd. 1, S. 86.

79

Ähnlich Steinberg: Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie: „Was für d e n jungen Kautsky der Darwinismus war, das blieb ihm während der Jahre, in denen er als ,Chefideologe' der Partei galt, der M a r x i s m u s ; nämlich Weltanschauung, Lebenslehre, Glaubensgewißheit." (S. 77) Zu diesem Problem - ohne Hinweis auf Darwin - vgl. die Analyse der divergierenden Wissenschaftskonzepte der Kombattanten im Revisionismusstreit bei T h o m a s Meyer: Karl Kautsky im Revisionismusstreit und sein Verhältnis zu Eduard Bernstein. In: M a r x i s m u s und D e m o k r a t i e . Karl Kautskys B e d e u t u n g in der sozialisti-

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Die „sozialen Triebe"

Diese Neigung beherrscht mich nicht nur Erscheinungen der menschlichen Gesellschaft, sondern auch der Natur gegenüber. Alle Dinge versuche ich in ihrer Entwicklung zu erfassen" (KK-AB 175); gewinnen sollte „immer die Puppe, die man ,historischen Materialismus' nennt."80 Hat Kautsky auch ,,[d]ie Historisierung der Kategorien der politischen Ökonomie bei Marx [...] als Ausgangs- und Angelpunkt einer Geschichte des Kapitalismus mißverstanden, die Strukturgeschichte des Kapitalismus mit einer deskriptiv-narrativen Geschichte verwechselt"81, so vermochte er doch damit die emphatischen Valeurs der siebziger Jahre in das 20. Jahrhundert hinüberzuretten und beizutragen, noch 1930 den Funktionär der Sozialistischen Arbeiterjugend Joseph Buttinger zu befähigen, in St. Veit an der

80

81

sehen Arbeiterbewegung. Hgg. v. J. Rojahn, T. Schelz u. H.-J. Steinberg. Frankfurt, New York 1992, S. 57-71. Die - im übrigen ja lediglich ideengeschichtliche - Frage nach der Kontinuität darwinistischen Denkens bei Kautsky muß zwar hier nicht entschieden werden, gehört aber zu den großen Streitfragen der einschlägigen Forschung; einen Überblick über die neueren Positionen bietet im selben Band Reinhold Hünlich: Gab es einen Kautskyanismus in der Epoche der II. Internationale?, S. 46-56. Die Schaffung von Distanz zwischen Kautsky und Darwin dient meist der Ehrenrettung Kautskys. Vgl. Walther: Sündflut, bes. S. 95-100 (Diskontinuität) gegen Hans-Josef Steinberg: Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie (differenzierte Kontinuität). Walther muß allerdings i. b. auf die Autobiographie und „Die materialistische Geschichtsauffassung" Kautsky „gleichsam vor sich selbst verteidigen" (S. 97). Die Textbelege Walthers zeigen aber nichts anderes, als daß Kautsky an seiner eigenen Position festgehalten hat, die Kämpfe in der Gesellschaft seien kein „Kampf ums Dasein", sondern ein neues Element in der Geschichte, somit aber eben auch kein Beleg für eine „Wandlung" oder eine „Abkehr". Wer wie Walther (S. 99) aus dem Beitrag aus dem Arbeiter-Kalender 1890 zitiert, Sozialismus und Darwinismus hätten „miteinander nichts zu thun", übersieht die Kontinuität zu den Arbeiten über den „socialen Trieb", wenn es ebd. heißt: „Eine Gesellschaftsform, in der die natürliche Zuchtwahl des Kampfes ums Dasein nicht auf ein Minimum beschränkt wäre, gibt es nicht" (S. 52); auf dem Feld des Darwinismus empfiehlt Kautsky das „planmäßige Eingreifen des Menschen", ein Vorverweis auf Kautskys „rassenhygienische" Überlegungen. Dazu und insg. vgl. Heinz-Georg Marten: Sozialbiologismus. Biologische Grundpositionen der politischen Ideengeschichte. Frankfurt, New York 1983, S. 86-107; S. 295 f. (Anm. 101) (Kontinuität). Die Kontinuitätsthese impliziert nicht notwendig ein Urteil über ein naturalistisches Marx-Verständnis Kautskys, noch weniger über seine politische Praxis ; zudem ist Kautskys „Darwinismus" sicher kein Beispiel für fatalistische und deterministische Aneignungen von (Natur-)Wissenschaft. Walter Benjamin: Uber den Begriff der Geschichte, [posth. 1942] In: W. B.: Gesammelte Schriften. Hgg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhausen Frankfurt/M. 1991. Bd. 1, Tl. 2, S. 691-704, S. 693. Walther: Sündflut, S. 87 f.

Darwin bei Minna und Karl Kautsky

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Glan einen selbstverfaßten Vortragszyklus Vom Urnebel zum Zukunftsstaat abzuhalten.82 Lag in der Revisionismusdebatte um 1900 für Kautsky - im Einverständnis u. a. mit Victor Adler und August Bebel - nicht das geringste Argument gegen Bernstein darin begründet, dieser ersticke den revolutionären „Enthusiasmus" 83 , findet er in der Materialistischen Geschichtsauffassung, in der unbeirrt die biologischen und ethnologischen Quellen der frühen Arbeiten zu den „sozialen Trieben" weiterzitiert werden, wieder zurück zu der Einheit von Wissenschaft und Emotion, von der er ausgegangen war: „Die wissenschaftliche Erkenntnis kann Begeisterung nicht erzeugen, wohl aber kann sie die aus den seelischen Bedürfnissen hervorgehende Begeisterung hell auflodern lassen oder ersticken, je nachdem sie deren Ziele als erreichbar zeigt oder das Gegenteil nachweist."84 Aus der naturgeschichtlichen Universalperspektive ergeben sich Ausblicke auf Kategorien wie „Aufstieg zur Freiheit", „zur Sittlichkeit", „zur Humanität", „zu Gesundheit und Kraft", „zu Glück und Zufriedenheit".85 Wenn in der organisierten Arbeiterschaft der naturwissenschaftliche Evolutionismus „ein Ausbrechen der sozialen Unterschichten aus traditionalen Weltdeutungsmustern" begünstigte und die „Siegeszuversicht der sozialistischen Arbeiterbewegung, die Überzeugung vom gesetzmäßig verlaufenden gesellschaftlichen Fortschrittsprozeß naturwissenschaftlich' zu untermauern und gegen Kritik abzusichern" imstande war86, gelang die Übertragung des Kredits auf Wissenschaftlichkeit von Darwin auf die sozialistische Theorie umso leichter, als man in einem sozialdemokratisch interpretierten Darwin einen Zeugen hatte, der in der liberalen Öffentlichkeit volle Anerkennung besaß (was von Lassalle, Marx und Engels nicht be-

82 83 84 85 86

Joseph Buttinger: Ortswechsel. Die Geschichte meiner Jugend. Frankfurt 1979, S. 118. Vgl. Meyer: Revisionismusstreit, S. 60; Karl Kautsky: Bernstein und das Sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik. Stuttgart 1899, bes. S. 4. K. Kautsky: Materialistische Geschichtsauffassung, Bd. 2, S. 845. Kapitelüberschriften aus dem letzten Buch der „Materialistischen Geschichtsauffassung", Dritter Abschnitt: „Das Ziel des geschichtlichen Prozesses". Dieter Langewiesche: Arbeiterbildung in Deutschland und Osterreich. Konzeption, Praxis und Funktionen. In: Arbeiter im Industrialisierungsprozeß. Herkunft, Lage und Verhalten. Hgg. v. W. Conze u. U. Engelhardt. Stuttgart 1979, S. 439-464, S. 452. Vgl. ders.: Zur Freizeit des Arbeiters. Bildungsbestrebungen und Freizeitgestaltung österreichischer Arbeiter im Kaiserreich und in der Ersten Republik. Stuttgart 1979.

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Die „sozialen Triebe"

hauptet werden konnte). D e m „Parteiintellektuellen" 87 Kautsky, dem „Gelehrten" außerhalb der bürgerlichen Wissenschaftsinstitutionen, bot der Evolutionismus ein formales Paradigma von Wissenschaft, innerhalb dessen das Paradigma durch neue Fakten im ganzen nicht zu erschüttern war. Der Schriftstellerin Minna Kautsky bot er die Zuversicht, daß alle Ebenen des Romans - Physiognomik, Naturdeskription, Plot, Zeitsatire - einander gegenseitig zu stützen imstande wären. Wenn „Kampf" selbst ein atavistisches Phänomen war, konnten die Figuren zu allegorischen Stellvertretern entleert werden, deren Zug ins Menschheitlich-Allgemeine den Agitationseffekt nicht dementieren konnte, sondern verstärkte. Das in die Subjekte gesetzte Vertrauen, das den Roman Die Alten und die Neuen speist: die Teilnahme an den richtigen Zeittendenzen werde von selbst zum Sozialismus führen, hat Minna Kautsky aus ihrer eigenen ideologischen Entwicklung abgezogen, unterstützt durch scheinbar exemplarische Riographien wie die Karl Kautskys und Konrad Deublers. Aus solcher „Einsicht in die Notwendigkeit", die - mit darwinistischen Denkmitteln Individualbiographie und historische Tendenz vermittelte, ergab sich paradoxerweise eine emphatische Resetzung von voluntaristischer „Parteinahme", was Minna Kautsky zu einer Reihe von persönlichen Fehleinschätzungen führte. Durch ihre Publikationen in Parteiorganen im literarischen Feld selbstmarginalisiert 88 , neigte die Außenseiterin zu einer Uberbewertung des liberalen Tendenzromans, in dessen Kontinuität sie ihre eigene sozialdemokratische Arbeit wahrnahm: Malwida v. Meysenbug, die Verfasserin der Memoiren einer Idealistin, betrachtete sie ebenso zu den „Neuen" gehörig 8 9 wie Paul Heyse (aufgrund seines gewiß nicht sozialistischen Zeitromans Die Kinder der Welt won 1872), dem sie „gleiche Gesinnung" un-

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88

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Ingrid Gilcher-Holtey: Das Mandat des Intellektuellen. Karl Kautsky und die Sozialdemokratie. Berlin 1986. Verschiedene Typen des Theoretikers in der Arbeiterbewegung vergleicht Gilcher-Holtey in: Intellektuelle in der sozialistischen Arbeiterbewegung: Karl Kautsky, Heinrich Braun und Robert Michels. In: Marxismus und Demokratie, S. 375-590. Auch Dodel-Port war in seiner Disziplin Außenseiter und institutionell marginalisiert. Dieter Mollenhauer: Die Haeckel-Rezeption durch die Botanik. In: Medizinhistorisches Journal 15 (1980), S. 505-336, S. 314. Dazu genauer Verf.: Zwischen Minna Kautsky und Hermann Bahr: Literarische Intelligenz und österreichische Arbeiterbewegung vor Hainfeld. In: Literarisches Leben in Österreich, 1848-1890. Hgg. v. K. Amann u. a. Wien, Köln, Weimar 1999. Meysenbug gelangte so zu einer Publikation in Karl Kautskys Theorieorgan: M. v. M.: Richard Wagner. In: Die Neue Zeit 1 (1885), S. 507-518.

Darwin bei Minna und Karl Kautsky

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terstellte und die Lektüre von Engels' Ursprung der Familie empfahl 9 0 ; Marie v. Ebner-Eschenbach nannte sie einen „Kämpfer". 9 1 So wenig aber nun die Adressaten die Zumutungen von Kautskys eigener Parteinahme für die „Partei" auf sich zu nehmen bereit waren, so wenig sollte sich das historische Modell des notwendigen Übergangs bewahrheiten. Zugleich verhärtete sich auch ein bedeutendes Segment des „weltanschaulichen" Darwinismus von einer liberalen säkularistischen Theodizee zu einer antiliberalen Legitimationsideologie. Eine Literatur, die so sehr der Kohärenz der „Zeittendenzen" vertraute, daß sie sich nicht nur im Inhalt, sondern auch in ihrer Struktur auf sie verließ, war diesem Prozeß schutzlos ausgeliefert. So kehrten sich die ideologischen und emotiven Entstehungsbedingungen ihrer Romane mit deren Zerfall gegen diese Literatur selbst; Minna Kautsky bezahlte dieses Vertrauen mit einem weitgehenden Ausschluß aus der Literaturgeschichte.

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„Sie haben in Ihren ,Kindern der Welt', dieser herrlichsten und gedankenvollsten Schöpfung der Gegenwart, das Muster gegeben, wie man die hohen fortschrittlichen Ideen einer neuen Weltanschauung und damit eine Summe von Aufklärung und Bildung im Rahmen des Romans, in schöner künstlerischer Form dem Publikum vermitteln kann, und wenn dem Meister mein Werk in manchem auch stümperhaft erscheinen mag, die gleiche Gesinnung, Emst und Charakter wird er darin nicht vermissen". M. Kautsky an Paul Heyse, o. D. IISG Kautsky-Familiennachlaß 1631. Uber Engels: M. Kautsky an Heyse, 4. 2. 1885.

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Minna Kautsky: Das Gemeindekind [M. v. Ebner-Eschenbach]. In: Die Neue Zeit 6 (1888), S. 403-416, S. 416. Zu Marie v. Ebner-Eschenbachs sozialen Positionen und den Beziehungen der österreichischen Sozialdemokratie zu ihr vgl. Karlheinz Rossbacher: Literatur und Liberalismus. Zur Kultur der Ringstraßenzeit in Wien. Wien 1992, S. 257-284.

4

Erbhof und Erbgut

VOM „ M E I N E I D B A U E R N " DARWIN BEI

ZUM

„STERNSTEINHOF":

ANZENGRUBER

Seit Friedrich Sengle in Ludwig Anzengrubers Sternsteinhof,,das Bild eines primitiven, über Leichen gehenden Bauerntums als ein Bild der Welt" erblickte und den Roman in eine Perversionsgeschichte der literarischen Idylle von Salomon Geßner hin zu „Blut und B o d e n " einrückte 1 , ist diesem Urteil oft widersprochen worden. 2 Insofern Anzengrubers Literatur jedoch an der „vitalistischen Ideologie des späteren 19. Jahrhunderts" 3 tatsächlich teilhatte, gereichte ihr das zeitgenössisch nicht nur zum Nachteil. Nicht eine „pervertierte Art von Idyllik, Bodenständigkeit und Provinziaüsmus" 4 wurde an Anzengruber wahrgenommen, vielmehr wurde der Autor - wenn auch leicht verspätet - als Pionier der avanciertesten Literaturströmung des „Naturalismus" verortet. In den ersten drei Jahren ihres Bestehens (1889-1891) brachte ja auch die Freie Bühne als Programminstitution der „Berliner Moderne" neben Henrik Ibsens Gespenstern, Gerhart Hauptmann, den Goncourts, Zola und Holz/Schlaf Das vierte Gebot (2. 3. 1890, auf Vermittlung Erich Schmidts) und den Doppelselbstmord zur Aufführung (neben einem Einakter von Marie v. Ebner-Eschenbach), die Freie Volksbühne dazu noch den 1871 uraufgeführten Pfarrer von Kirchfeld, die Neue Freie Volksbühne zwischen 1893 und 1895 Der Meineidbauer, Das vierte Gebot, Die Kreuzelschreiber und Der G'wissenswurm.5 Als Otto Brahm 1891 nach der zweiten Spielzeit der Freien Bühne Bilanz zieht, beruft er sich auf „das Vorgehen eines unserer ersten modernen Dichter, des kraftvollsten Erzählers und Dramatikers" Ludwig Anzengruber, 1 2

3 4 5

Friedrich Sengle: Formen des idyllischen Menschenbildes. In: F. S.: Arbeiten zur deutschen Literatur 1750-1850. Stuttgart 1965, S. 212-231, S. 230. Hubert Lengauer: Anzengrubers realistische Kunst. In: Osterreich in Geschichte und Literatur 21 (1977), S. 386-404; Rainer Baasner: Anzengrubers „Sternsteinhof". In: Zeitschrift für deutsche Philologie 102 (1983), S. 564-583; Karlheinz Rossbacher: Literatur und Liberalismus. Zur Kultur der Ringstraßenzeit in Wien. Wien 1992. Sengle: Formen des idyllischen Menschenbildes, S. 230. Sengle: Formen des idyllischen Menschenbildes, S. 230. Günther Mahal: Naturalismus. 2. Aufl. München 1990, S. 37-39.

Vom „Meineidbauern" zum „Sternsteinhof": Darwin bei Anzengruber

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der in den Vorreden zu den Doifgängen (1879) „mit der ganzen schlagenden Treffsicherheit des Genies, Wesen und Art des Naturalismus in kurzen Zügen gekennzeichnet" habe. 6 Nach dem Wiener Kritiker und Schriftsteller Müller-Guttenbrunn darf sich der Dichter des Vierten Gebots „berühmen, als Dramatiker der erste gewesen zu sein, der sich zu jenem naturwissenschaftlichen Glauben bekannt, dessen Apostel Ibsen geworden ist." 7 Anzengrubers naturwissenschaftlichen Glauben' leitet Müller-Guttenbrunn aus einer Passage im Vierten Gebot ab, in der die „Theorie von den Sünden der Väter" literarischen Ausdruck gefunden habe. Mindestens so sehr wie einem (nicht näher bestimmten) „Sozialrealismus" scheint die nachträgliche Zuordnung Anzengrubers zum „Naturalismus" einer gewissen Ubereinstimmung im Motivbestand geschuldet zu sein. Wenn bei Anzengruber von einem naturwissenschaftlichen Glauben' in größerer Perspektive gesprochen werden kann - wofür es gute Indizien gibt - , datiert dieser aus der Periode des euphorischen Liberalismus in Osterreich. Seit dem Ende der 1860er Jahre unterstützte Anzengruber als Volksstückautor mit seiner literarischen Produktion diese breite Aufbruchs- und Offnungsbewegung; sein Werk und seine Karriere spiegeln die Konjunkturen (und die schließliche Rezession) des (Deutsch-)Liberalismus als politischer Hegemonialmacht. In diesem Zusammenhang sollen im folgenden die Problematisierungen der genuin liberalen Thematiken von Legalität/Legitimität und des Eigentums an jenem Punkt untersucht werden, an dem sie zusammentreffen. Die Legitimität von Besitz ist ein eher unauffälliges, aber kontinuierliches Thema in Anzengrubers Literatur; Der Meineidbauer und Der Sternsteinhof (den Karlheinz Rossbacher einen „Gesellschaftsroman" der Gründerzeit genannt hat 8 ) tragen zwei Varianten dieses Verhältnisses vor. Da sich in Österreich die Sozialdemokratie Ende der sechziger Jahre fast zugleich mit dem Industriekapitalismus (bzw. der zuvor beispiellosen Akkumulationsperiode vor dem „Schwarzen Freitag" 1875) befestigt, ist die 6

7

8

Otto Brahm: Der Naturalismus und das Theater. [Westermanns Monatshefte, Juli 1891] In: Dramaturgische Schriften des 19. Jahrhunderts. Hgg. v. Klaus Hammer. Berlin 1987. Bd. 2, S. 952-944; über Anzengruber S. 956 f., S. 956. Adam Müller-Guttenbrunn: „Gespenster". Familiendrama von Henrik Ibsen. Im Wiener Deutschen Volkstheater zum erstenmal aufgeführt am 21. November 1890. [Deutsche Zeitung (Wien), 25. 11. 1890] In: A. M.-G.: Feuilletons. Erschienen in der Wiener „Deutschen Zeitung" 1886 bis 1892. Bearb. u. eingel. v. N. Britz. Tl. 2 (1889 bis 1892). Wien 1978, S. 484-494, S. 484. Rossbacher: Literatur und Liberalismus, S. 502.

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Erbhof und Erbgut

Kategorie des Eigentums in der liberalen Reflexion der Zeit immer schon gefährdet. Der Darwinismus als eine der wichtigsten Komponenten säkularer Aufklärungs- und Kampfideologien des österreichischen Liberalismus trifft dabei auf die schematisierende Schreibweise, die Anzengruber im Dienst der Volksaufklärung entwickelt hat; in der grundlegenden liberal-bürgerlichen Operation der Reduktion gesellschaftlicher Konfliktlinien auf individuelle Szenarien, wie sie sich auch in Anzengrubers Literaturbauern verkörpern, machen sich dabei Potentiale des darwinistischen Paradigmas geltend, die etwa denen der sozialistischen Romane Minna Kautskys diametral entgegengesetzt scheinen. Dennoch bewahrt Anzengruber „Aufklärung" bis ans Ende; die Verfahrensweisen und Problematiken des Sternsteinhofs stiften hingegen eine Tradition, an deren Ende aus der Frage nach dem legitimen Erben in Franz Nabls Roman Der Odhof die Frage nach der „Lebensberechtigung" geworden ist. Die Polysemie von „Vererbung" als Ubertragen von Besitz und Forterben von Charaktereigenschaften tendiert im darwinistischen Kontext zur Konvergenz: Der Vorsprung der Besitzenden an „Vitalität" ist nicht die Folge, sondern die Ursache ihres Besitzes.9 Ein alternativer Umgang mit naturwissenschaftlichen Diskurspartikeln soll abschließend bei Peter Rosegger, anfangs mit seinem Freund Anzengruber durchaus mit demselben Projekt befaßt, untersucht werden. In den achtziger Jahren setzt in Anzengrubers Gedankenwelt eine immer stärkere Naturalisierung ein. Soweit die Aphorismen - von Otto Rommel nicht unproblematisch teils als „Aphorismen", teils als „Pläne", „Skizzen" und „Fragmente" herausgegebene Zettel mit Notizen aus dem Nachlaß darüber Aufschluß geben, nehmen die bereits eingespielten darwinistischen Szenen und Plotangebote darin einen dominanten Platz ein. Immer wieder reduziert sich menschliches Sozialleben zu Bildern aus der Tierwelt: „Ihr seht zwei Tiere sich entgegentreten, beide betrachten sich mißtrauisch. Sie sehen beide, daß sich verkehren läßt, keines tut dem andern was. Um Fraß raufen sie sich, um Weibchen ... Es kostet wohl auch im hitzigen Kampfe ein Beest [sie] des andern Blut und Fleisch, und findet 9

Zum „Sozialdarwinismus" als Kampftheorie gegen die Sozialdemokratie vgl. Peter Weingart, Jürgen Kroll und Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und der Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt/M. 1992, S. 125-129.

Vom „Meineidbauern" zum „Sternsteinhof": Darwin bei Anzengruber

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es Geschmack daran und kann es den Gegner bewältigen, so frißt es ihn auch auf. Dieses Ausforschen, Zurückhalten, Kräfte-Messen und Gebrauchen ist der ganze Inhalt des menschlichen Moralgesetzes."10 Im Faustschlag (1877), einem Drama zur „sozialen Frage", wird in der Darstellung der Konflikte der Konstituierungsperiode der österreichischen Sozialdemokratie für die gemäßigte Fraktion der Oberwinder-Gruppe votiert; in einem patriarchalischen Schlußtableau werden die „Braven" zur reinmenschlichen Klassenharmonie versammelt, der Anarchist Leopold Kammauf (der für die „radikale" Fraktion um Andreas Scheu, im besonderen für Johann Most steht) erscheint als Karikatur.11 Der zu Unrecht gedemütigte Werkführer Bergauer darf am Schluß sagen: „Jedem das Seine, doch jedem etwas, daß nicht tausend Keime verkümmern und verkrümmen, daß jeder werden mag, was an ihm liegt, und man von den Hütten neidlos nach euren Palästen ausblicke."12 Dieses Aufblicken von den „Hütten" zu den „Palästen" wird später als neiderfülltes die Handlung des Bauernromans Der Sternsteinhof in Gang setzen. In einem dramatischen Skizzenentwurf Vor der Revolution, möglicherweise aus Anzengrubers Todesjahr 188913, sagt der Proletarier jedoch: „Begreif's, die gutgezogenen, artigen Herren wehren sich. Sie werden wild, wie der Hund, dem man den Knochen entzieht. Ihn zu halten, zu fressen, ist sein Recht, ihm denselben zu nehmen, das der andern, sobald sie stärker als er."14 Gut illustriert der Entwurf Der Urmensch, humoristisch-satirische Novellette Anzengrubers dramatisch-reduktive Phantasie, die den „Kampf ums Dasein", die sexuelle Zuchtwahl und die Evolution der Moral folgendermaßen bebildert: „Der Wilde fahrt im Boote. Ein anderer begegnet ihm, er schlägt ihn mit dem Ruder über den Kopf, der fallt ins Wasser und ersauft. Spaß! Er hat dessen Kanoe gewonnen. Weiter, gebleichte Knochen. Ein hübsches Weib, das er einem andern abjagt und später ein anderer ihm etc.

10

Ludwig Anzengruber: Sämtliche Werke. Unter Mitw. v. K. Anzengruber hgg. v. R. Latzke u. O. Rommel. Krit. durchges. Gesamtausgabe in 15 Bdn. Wien 1920-1922. (I. f. SW, Band u. Seite). Anzengruber SW VIII, S. 113.

11

Zur Parteigeschichte vgl. Herbert Steiner: Die Arbeiterbewegung Österreichs 1867-1889. Beiträge zu ihrer Geschichte von der Gründung des Wiener Arbeiterbildungsvereines bis zum Einigungsparteitag in Hainfeld. Wien 1964. Anzengruber SW VI, S. 88. Nach Datierungen Rommels, Anzengruber SW VIII, S. 337. Anzengruber SW I, S. 481 f., S. 482.

12 13 14

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Erbhof und Erbgut

Sehr komisch alles, was uns heutzutage empören würde, sehr d u m m alles, was ihm ernst ist." 15 In einer - allerdings von Rommel ex post geordneten - Reihe von Fragmenten aus verschiedenen Werkperioden scheint der Plan einer Serie von Fabeln auf, die das „Tierreich als bürgerliche Gesellschaft" (Marx) schildern und dabei zu sehr eingängigen Formulierungen finden: Ameisenliteratur. Weltgeschichte - gegenseitiges Fressen. [...] Ameisen. Zwei Ameisenzüge treffen aufeinander. Die Bestien brauchten sich nur aus dem Wege zu gehen, aber sie fallen einander an und bekämpfen sich bis zur Vernichtung.16 Insofern es sich hier u m fabelartige Entwürfe handelt, gehören sie durchaus der volksaufklärerischen Tradition des 18. Jahrhunderts an 17 , zumal die satirische Stoßrichtung zuweilen durchsichtig erhalten geblieben ist: Insektenbuch. Wanzen. Es ist eine Art. Wir stammen wohl von einer Gattung Urwanzen ab und es haben sich unter klimatologischen Einflüssen Abarten ergeben. Wir haben einen besonderen Geruch - es ist das eine Nationaleigentümlichkeit, der Gestank, und wir sind übereingekommen, darauf stolz sein zu müssen.18 Im Kontext der trivialisierten Tierfabel des 19. Jahrhunderts, die in die Populärwissenschaft eingewandert ist, ist die Differenz zu Anzengrubers Einfallen schlagend. Die populärwissenschaftliche Literatur der Epoche hat gerade die Insekten in den Dienst eines Darstellungsinteresses gestellt, das die darwinistische Klammer zwischen Mensch und Tier durch eine Aufwertung des Tieres verstärkt. Sofern sie demokratisch grundiert ist, wie bei Ludwig Büchner, demonstriert sie die „menschlichen" Eigenschaften der Tiere und widmet sich gerne den Lichtseiten der Natur: Paradigmatisch sind Büchners Aus dem Geistesleben der Thiere oder Staaten und Thaten der Kleinen (1876), Liebe und Liebes-Leben in der Thierwelt (1879), Werke, denen die Verlagshandlungen dann positive Pressestimmen sowohl der klein-

15 Anzengruber S W I, S. 426. 16 Anzengruber SW I, S. 396. 17 Vgl. ähnlich Gert Ueding über Wilhelm Busch (Wilhelm Busch. Das 19. Jahrhundert en miniature. [1977] Frankfurt/M. 1986, S. 99-155: „Büschs Tierleben"). 18 Anzengruber S W I, S. 398.

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bürgerlichen Familienblätter ( Gartenlaube ) sowie von Roseggers Heimgarten als auch der großen liberalen Presse ( Neue Freie Presse) und von Freidenkerorganen voranstellen können. Den Fabelplänen kontrastiert eine fortschreitend stärkere Faszination Anzengrubers an der sexuellen Zuchtwahl und den eigenen Phantasien zur Lebensreform im eigentlichsten Sinn:

Die Rasse ist doch Tatsache! Darwin. Von einer liederlichen Familie läßt sich wenigstens kein sittlich veranlagter Sprosse erwarten und das Sprichwort: ,Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme' hat einige Gültigkeit. Dazu kommt noch, daß das üble Beispiel, die Nachsicht, die an anderen keinen bösen, schädlichen Trieb einschränkt, dem man selbst nicht gewachsen war, geeignet ist, selbst das Gute zu verderben. Es ist die Gefühlsduselei, die im Verbrecher den Menschen und [in] der Gefallenen die Verführte gelten läßt, zwar human, aber ohne Einschränkung ist sie gefährlicher als die grobe Anschauung, die im Verbrecher eine Bestie und in der Gefallenen eine Verlorene sieht, das Mitleid für übel angebracht hält und die Berührung für befleckend. 19

Oder: „Die Mädchen und Frauen müssen herangezogen werden zur Auswahl der Männer, mit welchen das Geschlecht fortzupflanzen ist, und zur Ausscheidung jener, die das Verbrechen, Krankheiten etc. weiter verpflanzen würden. - Ehe das nicht geschieht, ist alle Verbesserungsidee der Welt Utopie. Erst das Material, dann die Arbeit! Soll das dem Zufall überlassenbleiben!! Das Bedeutendste! Mittel zur Verhütung des Schwängerns!" 2 0 Ohne Zweifel ist die Befassung mit eugenischen Plänen im Zusammenhang von Anzengrubers zunehmender Gemütsverfinsterung zu sehen 2 1 ; die Faszination der Szenarien der sexuellen Zuchtwahl kann wohl auch nicht von Anzengrubers Ehekrise abgelöst werden. Für die Form der Fabel bei Anzengruber bedeutet das aber, daß nicht - wie in der Fabeltradition - der Menschheit lediglich der „Spiegel vorgehalten" werden soll, sondern daß

19 20 21

Anzengruber SW VIII, S. 137 (Nr. 461). Anzengruber SW VIII, S. 157 (Nr. 526). Vgl. zu Anzengrubers Verbalradikalismus Rossbacher: Literatur und Liberalismus, S. 289-291.

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Bildspender und Bildempfanger wesentliche Züge teilen, daher nicht in metaphorischem, sondern in metonymischem Verhältnis stehen: Die Prozesse, die an der Tierwelt beobachtet werden, sind keine Transposition des Gesellschaftlichen, sondern im wesentlichen dasselbe. Die Analogie der Naturreiche (und die Analogie als Erkenntnismittel der Naturwissenschaft) wird zur Identität planiert. Diesen „Monismus" hatte Anzengrubers Figur des „Steinklopferhanns" der siebziger Jahre aus Feuerbach bezogen 22 , als glückhafte Diesseitserfahrung („Es kann dir nix gschehn!" 23 ); derselbe Monismus nimmt nach Anzengrubers Karriereknick durch das absehbare Scheitern der „Volksaufklärung" eine Wendung ins tatsächlich Pessimistische: ,,[D]as Leben ist eine brutale Tatsache."24 Balanciert wird diese Wendung durch ein bei Anzengruber neues, instrumentalistisches Verhältnis zu Naturtatsachen wie der Vererbung („Erst das Material, dann die Arbeit! Soll das dem Zufall überlassen bleiben!!"); signifikanterweise sind es dieselben, mit denen der zeitgenössische „Naturalismus" mit wenigen Ausnahmen deterministische, d. i. resignative Effekte erzeugt. Gegen einen neureligiösen Monismus hingegen zeigte sich Anzengruber immun. Als der Haeckel-Anhänger Dodel-Port einen Partezettel übermittelt, der seine verstorbene Tochter „zur Allmutter Natur zurückkehren" läßt, kritisiert der Dichter den Botaniker: „Ja, wer ist denn diese Allmutter? Das ist ja wieder so 'ne Allvater-Vermummerei [...]. Wie tief wir noch in Phrasen drinstecken und in Personifikationen von Zuständen, Undingen etc., die wir immer noch für leibhaftig sich aufspielen und uns von ihnen mitspielen lassen!"25 Literarisch bedeutet das angesprochene wechselseitige Verhältnis von Natur und Gesellschaft zugleich die Lizenz zu einem gleichnishaften Verfahren, von dem aus gesehen es unwesentlich wird, welcher Aspekt, welcher Lebenskreis thematisiert wird. Offengelegt und legitimiert wird dieses Verfahren - das ja Anzengrubers „Realismus"-Konzept in der Plauderei als

22

Dazu Otto Rommel: Ludwig Anzengrubers Weltanschauung. In: Anzengruber SW XV/3, S. 415 fiF. u. ders.: Die Philosophie des Steinklopferhans. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 33 (1919), S. 19-25, 90-100. 23 Anzengruber SW IV, S. 73. 24 Anzengruber SW VIII, S. 73 (Nr. 247). 25 Anzengruber an Wilhelm Bolin, 19. 8. 1886. Anzengruber: Briefe. Mit neuen Beiträgen zu seiner Biographie hgg. v. Anton Bettelheim. 2 Bde. Stuttgart, Berlin 1902, Bd. 2, S. 225 f.

Vom „Meineidbauern" zum „Sternsteinhof": Darwin bei Anzengruber

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Vorrede nicht widerspricht - im „Nachwort" der Erzählerstimme des Sternsteinhofs, worauf noch zurückzukommen sein wird. Wenn der Polysemie von „Vererbung" nachgegangen werden soll, ist zunächst der Stand der Wissenschaften von der Vererbung zu beachten. Es ist ein merkwürdiges Phänomen, daß sich als eine der Chiffren für den Darwinismus der Terminus „Vererbungslehre" etabliert hat; denn das Thema der Vererbung hat mit dem Kern der Darwinschen Theorie nur beiläufig zu tun. Es ist im übrigen ein Charakteristikum der Literatur zum „Naturalismus", daß in den seltensten Fällen wissenschaftliche Quellen der dargestellten „Vererbungsphänomene" aufgewiesen werden können; die Forschung beschränkt sich zumeist auf die allgemeinsten Phrasen vom „Einfluß der Naturwissenschaft" und „der Lehren Darwins". Hinweise auf den philosophischen Höhenkamm der Epoche (wie Taine und Comte) sind nur wenig hilfreich, da diese Literatur nicht im Bewußtsein der Epoche verankert war. Das anschaulichste Kompendium von „Vererbungsfallen" müssen für die zeitgenössischen Autoren Ibsens Dramen selbst gewesen sein (Alkoholismus und ererbte Syphilis), es ist daher auch kein Zufall, daß für den programmatischen „Naturalismus" die Durchsetzung und Kanonisierung Ibsens ein zentrales Anliegen war. Mit Einschränkungen gilt dasselbe auch für Zola, dessen Rougon-Macquart eine Enzyklopädie der Erbkrankheiten zur Verfügung stellten. Zolas Referenzautoren Prosper Lucas, Letourneau und Claude Bernard 2 6 dürften im deutschen Sprachraum jedenfalls nicht zum kulturellen Wissensbestand gehört haben. Hier muß eher mit den digest-zrtigen Zusammenfassungen des „Forschungsstandes" bei Ludwig Büchner gerechnet werden - und es ist signifikant, daß es noch die alten Vermittlerfiguren der 1850er Jahre sind, die sich unterwegs zu Spezialisten für den Fortschritt gemacht haben. Gerade Müller-Guttenbrunn erinnert sich anläßlich des Vierten Gebots an Büchners Vererbungsvorträge. Die Wirkung Haeckels kann bescheidener veranschlagt werden (allerdings fand sich schon in Haeckels „Jungfernrede" von 1863 ein kurzer Exkurs zur Vererbung). Natürlich sind auch die trivialisierten Verlautbarungen (Tageszeitungen) des medikalisierten Sozialdiskurses in Rechnung zu stellen. Aber gerade der liberale Lamarckist Büchner breitet in seinen Vorlesungen über die

26

Günter Schmidt: Die literarische Rezeption des Darwinismus. Das Problem der Vererbung bei fimile Zola und im Drama des deutschen Naturalismus. Berlin 1974, S. 86-90 u. S. 114.

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Vererbung, mit denen er durch die Lande gezogen ist, ein Pandämonium von Vererblichkeiten aus, die eine geradezu magische Weltsicht perpetuieren und als „wissenschaftskonform" erscheinen lassen. Denn in der vorparadigmatischen Genetik sind es vorwiegend ,hearsay and old wives' tales' (Peter J. Bowler 27 ), die als spektakuläre Fälle gesammelt werden: Ein „Stachelschwein-Mensch" aus d e m 18. Jahrhundert, dessen Körper von spitzen Hornschuppen bedeckt gewesen sein soll, steht neben reellen Form e n wie der Vererbung von Polydaktylie und Hämophilie, neben (bereits weniger reellen) Erzählungen von der Vererbung besonderer Talente und der als Tatsache tradierten „ansteckenden Vererbung" (die auch Darwin für erwiesen hielt): daß nicht nur der leibliche Vater seine Eigenschaften vererben könne, sondern auch ein früherer Gefahrte der Mutter. 2 8 Diese Ansammlung von Kuriositäten bezog ihre Langlebigkeit aus der Unmöglichkeit einer experimentellen Klärung der Sachverhalte; die experimentell verfahrende Physiologie der Zeit war individualisierend an der Zelle interessiert und bot nur wenig Anknüpfungspunkte für den Darwinismus, auch nicht für die Vererbung. 29 Das einstweilen angelegte Archiv von Vererbungsfallen geriet so zu einer Novellensammlung, einem Archiv „unerhörter Begebenheiten", deren Glaubwürdigkeit vor allem vom Autor, d. i. vom Berichterstatter abhing. Das Additive dieses Verfahrens - verstärkt durch populärwissenschaftliche Aufrisse - erhöhte zugleich die Wucht des Phänomens, also die „Macht der Vererbung" (ein Titel von Ludwig Büchner); zumal dieselben Autoren zunächst interessiert sein mußten, überhaupt erst ein Feld freizulegen, das die individuelle Verfaßtheit eines Organismus immanentistisch auf seine leiblichen Eltern und die Deszendenz beschränkte und

27 28

29

Peter J. Bowler: The Mendellan Revolution. The emergence of hereditarian concepts in modern science and society. Baltimore 1989, S. 24 f. Ludwig Büchner: Die Macht der Vererbung und ihr Einfluss auf den moralischen und geistigen Fortschritt der Menschheit. Leipzig 1882, S. 20 u. 15-17; die meisten Beispiele schon bei Büchner: Physiologische Erbschaften. [1862] In: L. B.: Aus Natur und Wissenschaft. Studien, Kritiken, Abhandlungen. 3. verm. u. verb. Aufl. Leipzig 1874, S. 374^395. Ansteckende Vererbung bei Darwin: Das Variiren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. [1868] 2 Bde. 3., nach d. 2. engl, berichtigte Ausgabe. Stuttgart 1878, Bd. 2, S. 397 u. ö. (das nachmals berühmte Quagga des Lord Morton war für Darwins Pangenesis-Hypothese von Bedeutung). Georges Canguilhem: Zur Geschichte der Wissenschaften vom Leben seit Darwin. [1971] In: G. C.: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Ges. Aufsätze. Hgg. v. W. Lepenies. Frankfurt/M. 1979, S. 134-153.

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auf übernatürliche Einwirkung verzichtete. Büchners Wiener Vorlesungen mußten 1872 auf männliches Publikum beschränkt werden, da der Aufweis der Macht der Vererbung zunächst mit einer Darlegung der Beschaffenheit der menschlichen Genitalien eingeleitet wurde. 30 Auch Darwins und Lucas' Vererbungslehren sind solche Fallsammlungen (bei Darwin zusammen mit einer Theorie, an die bereits die zeitgenössischen Fachkollegen nicht glauben wollten). „Vererbung" ist zwar eine zentrale Dimensionen auch im Darwinismus des 19. Jahrhunderts, doch die dunkelste. Zwischen der „Selektionstheorie" und der „Deszendenztheorie" steht „Vererbung" als erklärungsbedürftiger Mechanismus, der aber zunächst als Tatsache außer Streit ist und zum Alltagswissen (besonders dem von traditionellen Gesellschaften) gehört. Methodisch wird der Modus der Vererbung erst dann zum Herzstück einer Evolutionstheorie, als mit Weismanns Keimplasma-Theorie die Scheidung in „Lamarckismus" und „Darwinismus" etabliert wird (eine Trennung, die Darwin bekanntlich selbst nicht streng vornahm; sofern er von der Vererbung erworbener Eigenschaften überzeugt war, wäre er als „Lamarckist" zu bezeichnen). Darüber hinaus war für das Gros der evolutionistischen Biologen die Vererbung erworbener Eigenschaften ebenfalls eine Tatsache, die nur teils schwerer, teils leichter gewichtet wurde. Haeckel war bis an sein Lebensende von der Vereinbarkeit von „Lamarck" und „Darwin" überzeugt und sprach von der Trias Goethe-Lamarck-Darwin. Jedenfalls gehörte es mindestens bis in die achtziger Jahre nicht zum Kanon des „Darwinismus", eine Hypothese zum Vorgang der Vererbung haben zu müssen; es genügte ja, daß sich Variationen überhaupt vererbten, um sich als Innovationen erhalten zu können, sofern sie nicht einer Form der Selektion zum Opfer fielen. Dessenungeachtet hatte das „Vererbungsproblem" in der kollektiven Phantasie stets wenigstens folkloristisch seinen Platz. Für die Intellektuellen erhielt es dann besondere Virulenz, als es in den Degenerationsdiskurs 30

Die Wiener Vorlesungen Büchners, die von Müller-Guttenbrunn als Quelle des „Schmutzflecks" im „Vierten Gebot" gedeutet wurden, fanden am 18., 20. und 21. 3. 1872 mit großem Erfolg im Kleinen Musikvereinssaal statt („Die Sonne und ihr Einfluß auf das Leben", „Die Entstehung des Menschen im Zusammenhange mit der Entwickelungs-Theorie", „Physiologie und Philosophie der Vererbung [nur für Herren]"). Vgl. Neue Freie Presse (Wien), 16. 3. 1872, S. 7; 19. 3., S. 6; 21. 3., S. 6; 22. 3., S. 7: die Vererbung, so Büchner, habe großen Einfluß auf den Fortschritt des menschlichen Geschlechts. Mit einem Abschiedsbankett im Grand Hotel endete Büchners Besuch in Wien.

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eingesetzt wurde, dessen wissenschaftliche Etablierung ja älter als Darwins Theorie ist (vgl. auch Kap. 5). Als in den achtziger Jahren - europaweit der Liberalismus in eine Krise geriet, sank auch die Rate an Ideologemen, in denen sich „Fortschritt" in jeder - in intellektueller, individueller, zivilisatorischer, technologischer, ökonomischer - Hinsicht auf eine evolutionistische Perspektive verließ. Auch der „Fortschritts"diskurs ist nicht genuin darwinistisch - „Anpassung" galt für Adaption an jedes Milieu und garantierte keine „Höherentwicklung"; dennoch ist bei Darwin selbst mitunter dieser Eindruck spürbar.31 Andererseits ist mit der Perspektive der „Höherentwicklung" („Fortschritt") untrennbar die Gefahr der „Degeneration" („Dekadenz" bzw. „Rückschlag") verbunden. Wenn für den Menschen die „natürliche Selektion", die invisible hand des Darwinismus, aufgrund der Netze der moralischen, ethischen und rechtlichen Normen zunächst ausgeschaltet ist, gilt für die Menschheit der Sonderfall der „künstlichen Selektion", der planmäßigen Züchtung; an ihr entwickelte Darwin sein Modell. Bereits Darwin hegte jedoch die Befürchtung, beim Menschen könnte die Suspendierung der natürlichen Selektion zur Degeneration führen, wie aus einer Stelle in The Descent ofMan (1871) hervorgeht: „Der Mensch prüft mit scrupulöser Sorgfalt den Charakter und den Stammbaum seiner Pferde, Rinder und Hunde, ehe er sie paart. Wenn er aber zu seiner eigenen Heirath kommt, nimmt er sich selten oder niemals solche Mühe. [...] Wie jedes andere Thier ist auch der Mensch ohne Zweifel auf seinen gegenwärtigen hohen Zustand durch einen Kampf um die Existenz in Folge seiner rapiden Vervielfältigung gelangt, und wenn er noch höher fortschreiten soll, so muß er einem heftigen Kampfe ausgesetzt bleiben. Im andern Falle würde er in Indolenz versinken". 32 Auch bei Haeckel findet sich schon früh der Hinweis auf notwendige eugenische Maßnahmen. Aus der Innensicht der Theorie ist freilich die Degenerationsfiircht ein Folgeproblem der Evolutionshoffnung - und demgemäß ebenso „undarwinistisch" wie jene. Interventionistische Eingriffe - Eugenik - in das biologische Schicksal der

31 52

Vgl. u. a. Bowler: Mendelian Revolution, S. 46 ff. Darwin: Die Abstammung des Menschen. [Reprint d. 6. Aufl.] 2. Aufl. Wiesbaden 1992, S. 699 f. Obgleich diese Passage am Ende der „Abstammung des Menschen" häufig als Beleg für den „sozialdarwinistischen" und tendenziell eugenischen Charakter bereits der Darwinschen Theorie selbst zitiert wird, besteht hierzu wenig Evidenz. Eher ist an dieser Stelle die Rationalisierung viktorianischer Techniken des Selbstumgangs bemerkenswert, die mehr als Hintergrund der Theorie sichtbar werden, als daß sie in dieser ihren Ursprung hätten.

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Menschheit sind jedenfalls ein Teilaspekt, wie sie ein Teilaspekt der Unheilsgeschichte in den Nationalsozialismus sind; zeitgenössisch ist andererseits zu beobachten, daß Wissenschaft und Alltagsbewußtsein im Degenerationsphänomen nicht so sehr gesellschaftliche Probleme naturalisieren, als sie vielmehr natürliche Prozesse (bzw. deren Vorahnungen und Extrapolationen) sozialisieren und moralisieren. Beide Phänomene sind freilich voneinander nicht zu trennen. „Eugenik" ist nicht Gegenstand dieser Arbeit; doch es muß interessieren, daß mit einem Mal ethische Probleme auf die Individuen zukommen, mit denen zuvor nicht zu rechnen war. So befaßt sich Literatur zeittypisch auch nicht mit Eugenik, sondern mit den moralischen Folgen einer neuen Verantwortung und mit dieser Erweiterung des moralischen Feldes überhaupt. In dieser Perspektive kann im „Naturalismus", der meistens über den in seinen Texten angeblich vorwaltenden „Positivismus" („Milieudrama" usw.) charakterisiert wird, die Entdeckung eines neuen Handlungsraumes gesehen werden, von dem allerdings noch nicht feststeht, in welcher Dimension das Problem und in welcher Richtung dessen technizistische Lösung erwartet werden muß. Im „Naturalismus" ist verdächtig oft vom Tragischen die Rede, also einer Sphäre, die den ethischen Konflikt eben nicht ausschaltet, sondern ihn extrem dehnt.33 „Schuldlos schuldig" ist der tragische Held im „Naturalismus", weil „Vererbung" eine determinierende Instanz ist, in die nicht mehr einzugreifen ist; Oswald Alving in Henrik Ibsens Gespenstern (1881) hat sein Schicksal nicht in der Hand. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, daß die moralische Lösung, die dem tragischen Helden verwehrt ist, in der Vätergeneration liegen müßte. Bereits der alte Theodor Fontane hat erkannt, daß der Naturalismus nicht den Komplex „Schuld" auflöst, sondern ihn erweitert, und das mit Mitteln, die zu den ,überwundenen' zählen: in den Gespenstern decke sich die „Erbkrankheit als Kind der Sünde [...] mehr mit den christlichen An-

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34

Noch 1926 betitelt sich eine sozialistische Broschüre „Glück und Tragik der Vererbung" (von Ernst Mühlbach, Jena), macht fur den tragischen Aspekt allerdings die kapitalistische Gesellschaftsordnung verantwortlich. Zu „Vererbung" im „Naturalismus" vgl. immer noch Harold G. Carlson: The Heredity Motif in the German Drama. In: The Germanic Review 11 (1936), S. 184-195; ders.: The Heredity Motif in Germanic Prose Fiction. In: Ebd. 12 (1937), S. 185-195 und ders.: Criticisms of Heredity as a Literary Motif. With special reference to the newspapers and periodicals from 1880-1900. In: Ebd. 14(1939), S. 165-182. Theodor Fontane: Ibsen: Gespenster. [1889] In: Th. F.: Sämtliche Werke. Hgg. v. W. Keitel. 3. Abt., Bd. 2. München 1969, S. 810.

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schauungen, als daß es denselben widerspricht"34 (V. Gordon Childe hat die Degeneration das „wissenschaftliche Gegenstück zum Sündenfall" genannt35); es handle sich um „die Lehre von der Heimsuchung oder ,der Väter Sünde der Kinder Fluch'. Mir scheint aber die Bibel diese heikle Frage mit ihrem bis ,ins vierte' und [nicht] bis ,ins tausendste' Glied nicht bloß trostreicher, sondern auch nachweisbar wahrer entschieden zu haben. Wo wären wir, wenn es anders läge!" „Rätselhaft für uns (auch noch trotz Darwin [!]), aber Rätsel oder nicht, die Tatsachen zeugen."36 Moralität bezieht sich also nicht mehr nur auf die eigene Generation, sondern nun auch auf die nächste (bzw. die vorige); nur insofern sich die naturalistische Generation (aus Gründen, die mehr der Literatursoziologie als der Ideengeschichte zugänglich sein müßten) als Generation der Söhne versteht, bleiben ihre Helden „schuldlos schuldig". Emil Reich, der 1892 in Wien die erste Universitätsvorlesung über Ibsen gehalten hat, sieht in Oswald Alving „das Bild seiner ganzen Generation von Dekadenten, die nie mehr etwas leisten werden, die das Erbe der Väter tragen müssen, bis sie darüber zusammenbrechen, die sich nach der Sonne sehnen, ohne sie erhaschen zu können."37 So ergibt sich für den „Naturalismus" ein Amalgam aus Tragödie38, die den Willen des einzelnen paralysiert, weil er das Leben eines anderen auszuagieren hat („Sind mir Hände und Füße gebunden? Bin ich in der Geburt für immer verdammt? Vererbung? Giebt es nicht einen WillenP"59), und Wissenschaft, die den neuen moralischen Handlungsraum analysiert und ihn möglicherweise einem technischen Handeln erschließt; für den Darwinismus ein neues Kurzwort: „Darwins Vererbungstheorie. Sie sind - die

55

V. Gordon Childe: Die Evolutionstheorie in der Ethnographie. [1951] In: Der Darwinismus. Die Geschichte einer Theorie. Hgg. v. Günter Altner. Darmstadt 1981, S. 303-317, S. 313 f. Eine Skizze der einschlägigen medizinischen Degenerationstheorien und ihre religiös-moralischen Ursprünge (bzw. Folgen) bei Eric T. Carlson: Medicine and Degeneration: Theory and Praxis. In: Degeneration. The Dark Side of Progress. Ed. by J. E. Chamberlin and S. L. Gilman. New York 1985, S. 1 2 1 - 1 4 4 .

36 37

Fontane: Ibsen: Die Wildente. [1888] Sämtliche Werke, 3. Abt., Bd. 2, S. 775. Emil Reich: Henrik Ibsens Dramen. Sechzehn Vorlesungen. Dresden, Leipzig 1894, S. 149 f. Richard M. Meyer charakterisiert die „moderne" Epoche des Dramas als das „Drama des Darwinismus". R. M. M.: Der Darwinismus im Drama. (Zum 100. Geburtstage Charles Darwins, 12. Februar 1909.) In: Bühne und Welt 1908/09, S. 448-451, S. 449.

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Karl Bleibtreu: Lord Byron. [Lord Byrons letzte Liebe. Drama in 5 Akten. Seine Tochter. Drama in 5 Akten.] Leipzig 1886, S. 189.

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Tochter Ihres Vaters." 40 Die Konfliktlösung von Gerhart Hauptmanns Alfred Loth (Vor Sonnenaufgang), auf die Ehe mit einer Belasteten zu verzichten, ist brutal, aber durchaus im Sinn der Handlungsmöglichkeiten nach dem Stand der Dinge; nicht von ungefähr war das Vorbild für die Figur des Loth, Alfred Ploetz 41 , dann einer der zentralen Protagonisten der deutschen Rassenhygiene. Die Wendung „Darwins Vererbungstheorie" meint allerdings nicht, was sie zu sagen scheint: Darwins eigene Vererbungstheorie der „Pangenesis", der zufolge „Keimchen", Substanzpartikel aller Organe, im Körper flottierten und sich schließlich in den Gonaden sammelten; eine (übrigens lamarckistische) Theorie, bei der Darwin selbst nicht ganz wohl war und die in der Fachwelt kaum Nachfolger fand. Die Wendung hat vielfachen semantischen Überschuß. Sinnvoll wäre die Formel „Darwins Deszendenztheorie" (die Bleibtreu im Vorwort des Dramas verwendet), dann wäre aber die Tochter nicht lediglich die ihres Vaters, sondern letztlich die eines Affen; als „Darwins Vererbungstheorie" bedeutet die Formel die Vererbung geistiger Eigenschaften, einen Fall, den auch Darwin behandelt, der aber nur dadurch beklemmend wirkt, als diese Vererbung so total scheint, daß die Tochter keine Individualität entwickeln kann, und dadurch ihr Handlungsspielraum eingeengt wird. Daß sich dieser Bühnendeterminismus auf Darwin berufen kann, ist nur der Vermittlung durch den Degenerationsdiskurs zu danken, der mit Darwin konkulturell ist. Tatsächlich hatte ja der Status des Darwinismus als Naturwissenschaft cm den Leistungen handlungserweiternder Naturwissenschaften parasitiert; die „Fakten" der Wissenschaft, die nach geltenden wissenschaftstheoretischen Normen bereitzustellen gewesen wären, waren eben nicht „sicher". (Das ermöglicht es sogar dem Literaturkritiker, rhetorisch schrittweise die Geltung dieser „Fakten" zurückzunehmen: „das Gesetz oder vielmehr [...] die Theorie, die Hypothese von der Vererbung". 42 ) Diesen „Geburtsfehler" seiner Theorie hat Darwin selbst durchaus gesehen. 43 Unter diesen Bedingun40 41 42 43

Bleibtreu: Lord Byron, S. 189. Dazu Schmidt: Die literarische Rezeption des Darwinismus, S. 149 f. u. 166; vgl. auch Weingart, Kroll u. Bayertz: Rasse, Blut und Gene, S. 61 f. u. Reg. Müller-Guttenbrunn: „Gespenster", S. 484. Vgl. David L. Hull: Die Rezeption von Darwins Evolutionstheorie bei britischen Wissenschaftsphilosophen des 19. Jahrhunderts. In: Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert. Hgg., eingel. u. mit einer Auswahlbibl. vers. v. E.-M. Engels. Frankfurt/M. 1995, S. 67-104.

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gen kann Literatur einen Raum für ein Probehandeln unter Experimentalbedingungen zur Verfügung stellen, wie das Zola mit seiner Formulierung vom „Experimentairoman" intendierte. 44 Wenn also „Vererbung" im „Naturalismus" eine implizite Schuldzuweisung an die „Väter" bei gleichzeitiger Exkulpation der Söhne ermöglicht, liegen die Dinge bei Anzengrubers Viertem Gebot anders. Das Stück ist oft als „naturalistisch" avant la lettre verstanden worden. Das Vierte Gebot ist dennoch geradezu der locus classicus der Schuldzuweisung an die Väter; die Schlußworte „so sag's auch von der Kanzel den Eltern, daß s' darnach sein sollen"45 werden aber dem Mörder Martin in den Mund gelegt, der mit seiner Tat eigentlich sich bzw. seine Eltern gerächt hat: Der Klavierlehrer Frey, später der militärische Vorgesetzte Martins, wird erschossen, als er, von Martin erpreßt, ausruft: „Sie sind wirklich, wie es sich von einem Menschen erwarten läßt, dessen Vater ein Säufer und dessen Mutter eine Kupplerin ist!"46 Mithin läuft auch das ganze Drama in der Generation der Söhne ab. Die Schuld der Eltern besteht im Vierten Gebot einerseits in den desolaten Verhältnissen bei Martins Vater Schalanter - der Dramenentwurf kristallisierte sich an der Schalanter-Familie47-, andererseits im - von der Kirche in Gestalt Eduard Schöns zunächst sanktionierten - Befehl Hutterers, Hedwig möge den reichen Stolzenthaler heiraten. Die „Vererbungssünde" liegt in der Sohnesgeneration, das Opfer ist ein nicht lebensfähiger Enkel, mit dem der Großvater durch die Tochter bestraft wird. „Sie haben es gesehen, das kleine, arme Ding! Man sagte mir, sein Vater habe zuviel gelebt, als daß für das Kind etwas überbliebe; es wird hinsiechen, wochen-, vielleicht monatelang, aber es wird nicht fortkommen." (II, 5) Man scheint dieses Vererbungsmotiv im Vierten Gebot überhaupt erst nachträglich wahrgenommen zu haben, als mit den Gespenstern schon eine extreme Ausformung des gleichen Themas vorlag48: „Der kleine Schmutzfleck aus dem ,Vierten Gebot' ist in der dramatischen Literatur unserer Tage allmählich größer geworden, bis er sich in den ,Gespenstern' Ibsens zu einem 44 Vgl. aber zu den Transformationen der Methodologie Bernards durch ihre Integration in den ästhetischen Diskurs Jutta Kolkenbrock-Netz: Fabrikation - Experiment - Schöpfung. Strategien ästhetischer Legitimation im Naturalismus. Heidelberg 1981, S. 195-217. 45 AnzengruberSWV, S.255. 46 AnzengruberSWV, S. 219. 47 Anzengruber an Eduard Dorn, 12. 8. 1877. Anzengruber: Briefe, 1, S. 320. 48 Zu den Parallelen zwischen „Viertem Gebot" und den „Gespenstern" auch Reich: Henrik Ibsens Dramen, S. 139.

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großen dreiaktigen Drama erweiterte, in welchem die naturwissenschaftlich noch lange nicht beglaubigte Theorie von den Sünden der Väter bereits als ein starres Dogma auftritt." (Adam Müller-Guttenbrunn49) Die „Sünde der Väter" ist - was Müller-Guttenbrunn entgeht - eine andere und mit der „Vererbungshandlung" nur indirekt verbunden. Die „Vererbungssünde" der Väter liegt bei den Söhnen, die „Sünde der Väter" der Familie Hutterer liegt in der Forderung patriarchalischen Gehorsams, der aus Prestigegründen die Tochter dem Roué anvertraut; in den Gespenstern ist der Vater selbst der Roué. Die „Vererbungssünde" ist hier tatsächlich nur Ornament, da ein Teil der „Vererbungsschuld" Stolzenthaler trifft, der sich möglicherweise bei Schalanters Tochter (oder in deren Milieu) infiziert hat. Jedenfalls unterminiert die vererbte Krankheit gerade Stolzenthalers Vaterrolle und damit die des patriarchalen Eheherrn: „Auf was pochen Sie nur? Was wollen - was können Sie einem Weibe sein? Sie, der Sie geschaffen sind, jedes elend zu machen ! Selbst wenn Sie sich eines vom Schmutze der Straße auflesen, kann es Ihnen nicht dankbar sein. (Sie faßt ihn an der Hand und wendet ihn einen Schritt gegen die Wiege.) An der Wiege des Kindes, - das dort hinsiecht und vergeht, statt zu gedeihen - sage ich Ihnen, so läßt sich kein Weib um sein Mutterglück betrügen! Das trägt keine, die ärmste, die elendeste nicht, nicht um alles Geld!" 50 Dieser Befund deckt sich mit dem oben angedeuteten praktizistischen Zugang Anzengrubers zur Vererbungsproblematik. In den Entwürfen erscheint einmal die Perspektive des „schuldlos Kranken" : Ererbte Leiden.

Charakterschilderung.

Entsetzliches Gefühl, die Anlage einer Geistes- oder anderen Krankheit m i t auf die Welt gebracht zu haben!! 5 1

aber auch die der „Schuldigen" (ca. 1889): Die Ehe. Z w e i kranke L e u t e heiraten. D a s Kind krank, elend, der stete M a h n e r an ihren

49 50 51

Müller-Guttenbrunn: „Gespenster", S. 484. Anzengruber SW V, S. 203 f. Anzengruber SW I, S. 506 (Nr. 404).

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taumelnden Egoismus, ihnen - wie sie selbst gegenseitig sich - ein Gegenstand des Abscheus, denn eines gibt dem andern die Selbstsucht schuld. (Die Liebe soll opfermütig, sie soll es bis zur Entsagung sein! Auch für die Kommenden denken.)52 Daß also trotz allen „Rätsels" (Büchner) der Vererbung auch hier noch Handlungsmöglichkeiten bestehen, hat verhindert, daß das Vererbungsmotiv im Vierten Gebot zur Achse des Stückes geworden ist. Ahnlich hat das Karl Bleibtreu gesehen, der 1903 Anzengruber über Ibsen stellt: „Am Schluß von Anzengrubers ,Viertem Gebot', das aus dem Alltagsschmutz das Gold echter Lebenstragik heraufwühlt, reißen förmlich die Kerkerwände der Misère ein und ahnungsvoll dämmert ein Höheres."53 Daß das Dämmernde jedoch nicht immer ein Höheres im idealen, sehr wohl aber im sozialtopographischen Sinn sein könnte, hat Anzengruber im Sternsteinhof gezeigt. Eine Kurzfassung des Romans hat Anzengruber Vinzenz Chiavacci gegenüber gegeben: „Unten sitzt a arme Dirn, oben steht der reiche Hof. Die Dirn will 'naufkommen. Das is die ganze G'schicht".54 Nicht weniger kurz ist ein Novellenkern, der als Zusammenfassung eines Erzählstranges des Sternsteinhofs gelten kann und den Anzengruber wohl nicht ohne innere Beteiligung in seinem Todesjahr niedergeschrieben hat: „Novelle. Zwei, die sich für den Fall des erkrankten (kränklichen) Ehegesponsen schon vorgesehen haben."55 Die Spannung zwischen dem frühen und dem späten Anzengruber läßt sich ermessen, vergleicht man zwei Darstellungen desselben Problems in einem sozialen Raum, in dem es mehr zu vererben gibt als die Syphilis. Das Volksstück Der Meineidbauer (1871) war Anzengrubers zweiter Bühnenerfolg; Der Sternsteinhof ( 1884, Buchausgabe 1885) sein letztes Romanwerk.56 In Anzengrubers literarischer Produktion hat die Wahl des Bauernmilieus, wie das ,Nachwort' des Erzählers im Sternsteinhof ausführt (vgl.

52 53 54 55 56

Anzengruber S W I , S. 506 (Nr. 403). Karl Bleibtreu: Die Verrohung der Literatur. E n Beitrag zur Haupt- und Sudermännerei. [1903] In: Dramaturgische Schriften des 19. Jahrhunderts, Bd. 2, S. 885-892, S. 885. Anton Bettelheim: Neue Gänge mit Ludwig Anzengruber. Wien, Prag, Leipzig 1919, S. 291. Anzengruber S W I, S. 445 (Nr. 252, 1889). Der Sternsteinhof. Hgg. v. R. Latzke. Anzengruber SW, Bd. X (I. f. „S" u. Seite).

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unten), die Funktion einer didaktischen Reduktion komplexer Verhältnisse auf einfachere; wenn es um Fragen der Legitimität von Besitz geht, ist diese Wahl doppelt plausibel, da die Übertragung von bäuerlichem Besitz auf die nächste Generation eine logische Krise im bäuerlichen Wirtschaftsleben mit sich bringt. So ist die Hofübergabe eines der wichtigsten Motive der mit dem Ländlichen befaßten Literatur gerade des „bürgerlichen Zeitalters". 57 Eine besondere Form der Krise wird im Meineidbauern dargestellt. Eine Skizze der Dramenhandlung soll unter dem Gesichtspunkt des Erbgangs des Hofbesitzes erfolgen. Da der „Kreuzweghofbauer" Jakob Ferner „ohne Testament" verstorben ist und sein Verhältnis mit Vroni Burger, dem zwei Kinder, Jakob (II.) und Vroni (II.), entstammen, nicht legitimiert hat, übernimmt sein Bruder Matthias Ferner den Hof. Dessen erstgeborener Sohn Franz wird in die Stadt geschickt und soll - dem Wunsch des bigotten Vaters folgend - Geistlicher werden; seine Tochter Kreszentia soll mit dem Erben des benachbarten Adamshofes, Toni, verheiratet und die Güter fusioniert werden. Jakobs natürliche Tochter Vroni (II.) dient dort als Magd und wird von Toni umworben, verläßt aber den Hof, als ihr die Pläne des Kreuzweghofbauern bekannt werden. Ihr Bruder Jakob (II.) ist - um den Hof gebracht - Vagabund geworden, kehrt aber zum Sterben in die Heimat zurück; im Gebetbuch seines Vaters Jakob (I.), das er als einziges Erbteil bewahrt hat, findet sich ein Brief Matthias' an Jakob, der den Empfang eines Testaments bestätigt, das die Familie begünstigt. Matthias hat also das Testament beseitigt und vor Gericht einen Meineid geleistet; Vroni (II.) kann Matthias mit diesem Beweisstück entlarven. Indessen verweigert sich Franz den Plänen seines Vaters; als Kind war er Zeuge der Vernichtung des Testaments und will nun den Hof übernehmen (anstatt Geistlicher zu werden, hat er die Landwirtschaftsschule besucht). Als Vroni (II.) ihre Ansprüche geltend macht, versichert sie Franz ihrer Hilfe gegen Matthias; als dieser versucht, den Brief an sich zu bringen, schießt er

57

Zur Hofübergabe als Motiv der Trivialliteratur vgl. Friedbert Aspetsberger: Das literarische Leben der Bauern. Zur Belebung des Erbhofgedankens in Salzburg. In: F. A.: Der Historismus und die Folgen. Studien zur Literatur in unserem Jahrhundert. Frankfurt/M. 1987, S. 317-538. Zu den programmierten Konflikten in den Familien vgl. Reinhard Sieder: Sozialgeschichte der Familie. Frankfurt/M. 1987, S. 65-72 und Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur. Materialien zu den sozioökonomischen Bedingungen von Familienformen. Hgg. v. H. Rosenbaum. Frankfurt/M. 1978.

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auf seinen Sohn, verfehlt ihn jedoch und wird vom Schlag getroffen. Franz heiratet Vroni, die aus Vertrauen zu Franz den Brief vernichtet hat; Toni heiratet Kreszentia. In der zeitüblichen Rechtsterminologie 58 handelt es sich also dem Anschein nach zunächst um einen Erbfall „ab intestato": Liegt kein Testament vor, übernimmt der nächste Familienangehörige den Hof. Da keine Ehe zustande kam, ist dies der Bruder, der im Fall einer Eheschließung von Jakob und Vroni (I.) mit seinen Kindern Franz und Kreszentia 59 „weichender Erbe" geworden wäre und den Hof hätte verlassen müssen. Um dies zu verhindern, hat Matthias einen schweren Rechtsbruch auf sich geladen, worauf er sich immer tiefer in ländliche Volksfrömmigkeit und Volksaberglauben verstrickt; die Priesterschaft des Sohnes soll die Tat sühnen. Dieser Bruch bäuerlicher Traditionen (der Erstgeborene wird willkürlich zum „weichenden Erben" gemacht, wogegen das Schicksal des geistlichen Nichterben gewöhnlich den Zweitgeborenen trifft) wird von Matthias Ferner in Kauf genommen, zumal der Hof ja immer noch - wenigstens in Tochterlinie vererbt werden könnte; durch Kreszentia würde der Erbbesitz sogar noch vergrößert. Im Kontext der bäuerlichen Normenwelt, wie sie das Drama präsentiert, wäre mit dem väterlich oktroyierten Hofverzicht von Franz die Usurpation getilgt, der Besitz bliebe dennoch gemehrt in der Familie. Die Handlung des Dramas geht jedoch andere Wege. Moralisch und juristisch ist die „arme Dirn" Vroni (II.) in Nachfolge ihrer ums Erbe gebrachten Mutter Vroni (I.) die rechtmäßige Erbin. Die ausgleichende Gerechtigkeit des Dramatikers räumt den zum zweitenmal zum Verbrecher gewordenen Matthias Ferner in einer Hamlet-Pui\e\he (Szene bei der „Baumahm") beiseite und stiftet eine Liebesheirat zwischen der rechtmäßigen Erbin und dem Sohn des Usurpators. Damit wird also erstens die „arme Dirn" ins Recht gesetzt (juristisch: das Unrecht des Meineids de facto beseitigt, daher das Testament, d. i. die freie Verfügung über den Erbgang, gültig; soziologisch: die Aufstiegsleistung der Mutter vollendet). Zweitens verbleibt der Hof in der legitimen Familie, wenn auch über die Zwi-

58

59

Vgl. Wilhelm Brauneder: Die Entwicklung des bäuerlichen Erbrechtes; Gerhard Jagschitz: Erbhof und Politik. Beide in: Die Ehre Erbhof. Analyse einer jungen Tradition. Hgg. v. A. Dworsky u. H. Schider. Salzburg 1980, S. 55-66 u. 69-76; ebs. Helmuth Feigl: Bäuerliches Erbrecht und Erbgewohnheiten in Niederösterreich. In: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich N. F. 37 (1967), S. 161-183. „daß s' fort von Vaters Haus und in hart Arbeit müssen" Anzengruber SW III, S. 57.

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schenstufe der Usurpation; sie wird durch „Liebe" verziehen, somit wird der Kampf ums Recht im Wissen um seine Möglichkeit ausgesetzt (Vroni verbrennt den Schein). Aus dieser Perspektive ist am Ende des Meineidbauern alles Recht wiederhergestellt; lediglich eine Frau ist übergangen worden, da sie aber derselben Generation angehört, ist die Ubergabe hinsichtlich der Generationen intakt. Durch die Regie des Dramas wird also gegen die Leistung einer starken („trutzigen") Frau, die durch deren freiwilligen Verzicht auf Legalität noch gesteigert erscheinen könnte, die patriarchalische Erbfolge perfekt restituiert; und paradoxerweise perfekter, als das bei Gelingen des verbrecherischen Planes des Matthias Ferner der Fall gewesen wäre. Denn nun bleibt der Hof lege und natura „Ferner", also in der Vaterlinie; da aber Matthias' Plan den Sohn (als Geistlichen) enterbt hätte, wäre der Kreuzweghof (in Tochterlinie: Kreszentia) mit dem Adamshof fusioniert worden. Im Resultat der Wirren der Dramenhandlung ist diese Ordnung aber auch besser restituiert, als es der „rechtmäßige" Gang der Dinge vermocht hätte. Denn hätte Matthias nicht das Testament verschwinden lassen, hätte Vroni (II.) den Hof übernommen (den Tod des Bruders Jakob [II.] vorausgesetzt, der im Drama durch die Usurpation motiviert wird), dieser wäre lege „Burger" geworden, also rechtlich und materiell in Tochterlinie gefallen; aber auch Jakob Burger hätte den Namen der Mutter getragen. Durch die Heirat, mit der das Stück schließt, erhält Vroni durch Franz Ferner den Namen ihres leiblichen Vaters, damit den der androzentrisch-patriarchalischen Ordnung; der Muttername „Burger" verschwindet. Diese Beobachtungen lagen den Zeitgenossen jedoch fern. Viel eher vermochte - neben dem Thema des bigotten Verbrechers - das soziale Problem der „weichenden Erben", also der legitimen Enterbten, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Daß zudem der Lösung durch Liebesheirat von Cousin und Cousine etwas Mißliches anhaftet - Franz war ja zunächst entschlossen, im Wissen um die Usurpation in diese einzutreten und den Vater zur Hofubergabe zu erpressen -, hat Friedrich Schlögl bemerkt, was zu einer schweren Verstimmung mit Anzengruber geführt hat. Unter dem 25. November 1871 beklagt sich Anzengruber bei dem gemeinsamen Freund Peter Rosegger: „ Franz der einfache schlichte, nur durch die eigenthümlichen Schuld-Verhältnisse verschrobene Charakter - der das Elend der Nachkommen der Schuldbewußten repräsentirt, ist ihm [Schlögl] ein wirklicher Schuft, der am Schlüsse bloß darum gesund wird und aufathmet, nicht weil eine corrupte und corrumpirende Vergangenheit im Zauber der Liebe ver-

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lischt, sondern weil er nun doch - den Kreuzweghof behält!" 60 Auch den Charakter des enterbten Jakob (II.) kritisiert Schlögl: ,,[D]er Jacob, der als Zuchthäusler kommt, hat ihn [Schlögl] verletzt - der sollte Wildschütz oder Brandleger aus Rache sein - Nicht faßte er den rührenden Gedanken, den dieser arme wild verkommene Sohn des Volkes in sich trägt - den Verderb Unschuldiger durch fremde Gewissenlosigkeit, der Gedanke (: so verderbt er ist :) an die Heimath und die Seinen führt ihn seinen letzten Leidensgang".61 Schlögl hat demnach die milieuprägende Wirkung fremder Schuld, die doch einen Charakter nicht vollständig verderben könne, nicht akzeptiert. Die Stoßrichtung des Stückes war dennoch eine vollständig andere. Der Meineidbauer folgte Anzengrubers Sensationserfolg Der Pfarrer von Kirchfeld (1870) als antiklerikales Tendenzstück nach; Gegenstand der Kritik waren die bäuerlichen Auffassungen von Religion, die im Stück einen Verbrecher nicht nur einen Handel mit Gott anfangen lassen, sondern ihn auch noch vor den Augen der dörflichen Welt rechtfertigen. Es ist die Überwindung dieser dörflichen ideologischen Welt, die nach dem Tod des Verbrechers mit diesem untergeht und nicht bloß die individuelle Lösung einer Erbstreitigkeit prätendiert, sondern utopischen Uberschuß freisetzt. „Gesinde vom Adams- und Kreuzweghof und Bauern von Ottenschlag" treten zu einem Schlußtableau mit Anleihen an Wilhelm Teil hinzu, Vroni „schmiegt sich an Franz": „Franz, wann d' wieder frisch bist, gehst doch mit mir in die Berg, und von der höchst Spitz wolln wir nausjuchzen ins Land: Aus is's und vorbei is's, da sein neue Leut und die Welt fangt erst an!" 62 Gegen den Vorschlag von Anzengrubers Freund und zeitweiligem Mäzen, dem Philosophen Wilhelm Bolin, den Schluß zu verändern, beharrte Anzengruber noch 1880 auf dem völligen Bruch mit der „alten Welt": ,,[G]anz tritt das neue Geschlecht in seine, wie es fühlt, lange vorenthaltenen Rechte, und mit frohem Ausblick, ja, mit einem halben Jubelschrei an die Zukunft kann nunmehr das Stück, wie es sein ethischer Gehalt erfordert, schließen." 63

60 61 62

Peter Rosegger, Ludwig Anzengruber: Briefwechsel 1871-1889. Hgg. v. K. Fliedl u. K. Wagner unter Mitarb. v. W. Michler u. C. Seefranz. Wien, Köln, Weimar 1995, S. 42. Rosegger, Anzengruber: Briefwechsel, S. 42. Anzengruber SW III, S. 99.

65

Anzengruber an die „Hamburger Freunde", 26. 11. 1880. Zit. in: E. Castle: Einleitung

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Plot und Personeninventar des Meineidbauern zeigen starke Überein64 stimmungen mit dem „Dorf-Roman" Der Sternsteinhof, der 1884 in der von Anzengruber herausgegebenen Zeitschrift Die Heimat erschien. Beide Texte fuhren dominante Frauen (Vroni [II.] bzw. Helene Zinshofer) vor, die konsequent ihre Ansprüche verteidigen und durchsetzen; beide sind „arme Dirnen", die einen sozialen Aufstieg durchmachen, der mit dem „Besitz" des „Hofes" zum Abschluß kommt; beiden begegnen auf ihrem Weg nach oben triebhafte, aber schwache junge Männer, die in beiden Texten nicht nur die soziale Position des künftigen Hoferben besetzen, sondern auch noch denselben Rufnamen tragen („Toni"). Während die künftigen Erben sich Erbe und Heirat mit der Aufsteigerin in den Kopf gesetzt haben, werden ihre Bemühungen durch die dominanten Schwiegerväter bzw. Hofinhaber (zunächst) vereitelt, sodaß sich die Konfliktlinie zwischen Erbe und Erblasser (Adamshofer / Kreuzweghofer vs. Toni / Franz; SternsteinhofBauer / Toni) auf die zwischen Erblasser und Aufsteigerin (Adamshofer bzw. Kreuzweghofer / Vroni [II.]; Sternsteinhof-Bauer / Helene) verschiebt. Im Gegensatz zum Meineidbauern, wo die namensstiftende Titelfigur im Mittelpunkt der Handlung stehen sollte, konzentriert sich im Sternsteinhof die Handlung auf den Hof als Besitzstand, wie gleichfalls der Titel signalisiert. Die zentrale Differenz zwischen beiden Texten besteht aber in dem Umstand, daß es sich beim Meineidbauern um einen Kriminalfall handelt, während der Kampf um den Sternsteinhof vollständig jenseits der juristischen Sphäre abläuft. Im Meineidbauern stützen rechtliche Institutionen den Aufweis moralischen Unrechts. Folgt Vroni archaischen Traditionen, indem sie dem Bauern die Feindschaft ansagt („dir ins Gsicht z' sagn, daß's aus is mitn Landfrieden zwischen uns zwei"65), sind für sie dennoch Recht und Rechtsinstitutionen prinzipiell kongruent. Damit sie Recht erhält („unser Recht muß uns gleich werdn"), wird sie das Gericht aufsuchen: „Die nächste Sonn sieht mich bereits aufn Weg nach der Kreisstadt."66 Das

64 65 66

des Herausgebers [zum „Meineidbauer"]. Anzengrubers Werke. Gesamtausgabe nach den Handschriften in 20 Tin. Mit Lebensabriß, Einleitungen und Anm. hgg. v. E. Castle. Leipzig (1921), Tl. 2, S. 106-108, S. 108 (i. f. „WW", Tl., Seite). So der Titel in der Buchausgabe; die Zeitschriftenfassung trug die Gattungsbezeichnung „Eine Dorfgeschichte". Anzengruber S W III, S. 61. Anzengruber S W III, S. 61.

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Überschreiten der Grenzen der bäuerlichen Welt verletzt für Vroni nicht die Grenze eines semantischen Feldes67, was auf Anzengrubers Solidarität mit den legislativen Projekten des österreichischen Hochliberalismus zurückzuführen ist: Mag das Recht auch nicht die höchste Sphäre einer immanenten Lebensordnung sein, so wird es doch immerhin nicht negiert, sondern in einer höheren emphatischen Liebesordnung transzendiert. Das Liebes-/Ehe-Paar steht metonymisch für diese neue Ordnung. Dem Sternsteinhofbauern gegenüber hilft Helene das schriftliche Eheversprechen Tonis wenig: „Dreister werdend, fuhr die Dirne fort: ,Alls Vertrauen hab ich zu dir. Schau, was ich schriftlich von ihm hab ,'s hat kein Gültigkeit', schaltete der Alte ein. [...] Er zerriß das Blatt in kleine Stücke, die auf die Diele niederstoben." (S 148 f.)68 Das Zerreißen des Briefes wird auch vom Erzähler nicht weiter verfolgt. Demgemäß existiert im Sternsteinhof zwar sehr wohl eine sozial-symbolische Topographie, deren Grenzen (wie den Bach, der die Zinshofersche Hütte zusätzlich zur vertikalen Distanz vom Sternsteinhof trennt) Toni nach unten und Helene nach oben überschreiten; für die bäuerliche Welt des Romans im ganzen gibt es aber nur zweimal ein „Außen", das jedesmal den Tod des Protagonisten vorausdeutet bzw. ankündigt. 69 Im Meineidbauern wird die juristische Handlung am Ende transzendiert in einer neuen Liebesordnung, in der Besitz, Recht und Aufklärung zusammenfallen. Wenn im Sternsteinhof der Weg zum Gericht ausgeschlossen wird, muß die Legitimität des Besitzes anders hergestellt werden als durch eine durch Legalität abgestützte Moralität. Der josephinische Pfarrer Reitler scheidet jedenfalls als moralische Instanz aus; was den Dörflern das Fatum, ist ihm gegen seinen rigoristischen Kaplan Sederl (eine häufige Paarung in der zeitgenössischen Literatur) „Gnad' und weise[ ] Voraussicht":

67 68

Nach Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. 2. Aufl. München 1986, S. 552. Verfehlt ist die Deutung von Baasner: „Auf diesem Hintergrund bekommt die häufige Betonung des geschriebenen Rechts im Roman ihren tieferen Sinn als Ablösung des sonst in der traditionellen Dorfwelt öfter anzutreffenden Faustrechts und der Absprache auf Treu und Glauben - welche ja im ersten Teil, dem ,romantischen', auch durchaus noch Verwendung finden." (Baasner: Anzengrubers „Sternsteinhof", S. 585.)

69

Muckerl wird vom Juden (der einzigen Figur, die von außen in die Topographie des Romans eindringt, aber auch wieder verschwindet) in die Stadt gebracht, wobei sich seine unheilbare Krankheit herausstellt; Toni wird zum Militär eingezogen, beim zweiten Mal bleibt er verschollen.

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,,[D]en zwein hat er wohl in seiner Erbarmnis a Verbrechen erspart" (S 520). D i e bäuerlichen Sozialumwelten der Texte sind so disponiert, daß von ihnen eine befriedigende Legitimierung nicht erwartet werden kann; die sozialen Normen der Dorfgesellschaft von Zwischenbühel ( Sternsteinhof) sind so flexibel, daß sie die jeweils entstandene Situation nach einiger Gewöhnung akzeptieren lassen: „Welchen Wandlungen die Volksstimmung unterliege, das zeigte sich auch in Zwischenbühel gegenüber den Geschehnissen auf d e m Sternsteinhofe" ( S 316), ,,[d]a aber weder das eingewohnte Denken noch das ursprüngliche, widerwillige Gefühl über die Konflikte hinweghelfen, so formuliert sich die Anklage, wenn der Fall ein erschütternder, an die letzte Adresse, an das Schicksal, streben aber die Dinge wieder mit dem Alltäglichen sich ins Gleichgewicht zu setzen, so sucht die M e n g e mit aller Spitzfindigkeit nach d e m , dessen Anstoß den ärgerlichen Verlauf verursachte" (S 317). Indem die auktoriale Erzählerstimme die oralen Redeformen der Dorfbevölkerung ironisch aufnimmt („Ja, ja, an dem, wie 's kommen und gangen" [S 318]), verdichtet sich die soziale Umwelt der Hauptfiguren des R o m a n s zu einer Ibsenschen ,kompakten Majorität', mit der in Hinsicht auf Legitimität nicht zu rechnen ist: „Auf solche Weise fand sich der meisten Denken und Meinen mit dem, was geschehen war und nun geschehen würde, zurecht" (S 318). Aus demselben Grund muß jedoch die Interpretation, der Schluß des R o m a n s deute ins Utopische und etabliere in Helene das Bild des „Neuen Menschen" 7 0 , hinfallig werden; in der Sphäre des Romans ist von der Dorfbevölkerung, die am E n d e nun tatsächlich den sozialen Aufstieg der zur Großbäuerin gewordenen Helene sanktioniert, nichts mehr zu erwarten. Ibsens Drama Ein Volksfeind (1882) legitimiert den Kampf gegen die ,kompakte Majorität', indem der bürgerliche Intellektuelle als politischer Einzelkämpfer heroisiert wird. Doktor Stockmann selbst darf der „kompakten liberalen Majorität", eine Formel, die gerade unter den Naturalisten und der sozialistischen Linksopposition Karriere machen wird 7 1 , eine unangenehme Naturwahrheit sagen: „Bei Gott, mein Lieber, wir sind Tiere!

70

So Baasner: Anzengrubers „SternsteinhoP; dagegen auch Rossbacher: Literatur und Li-

71

Vgl. Herbert Scherer: Bürgerlich-oppositionelle Literaten und sozialdemokratische Ar-

beralismus, S. 515, Anm. 245. beiterbewegung nach 1890. Die „ F r i e d r i c h s h a g e n e r " und ihr Einfluß auf die sozialdemokratische Kulturpolitik. Stuttgart 1974, S. 99-104.

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[...] Vornehme Tiere gibt es aber nur wenige unter uns. Glaubt mir, die Differenz zwischen Pudelmenschen und Kötermenschen ist riesig."72 „Wahrheit", somit Legitimität, wird im Volksfeind hergestellt, indem alle anderen Protagonisten aufgrund der Verfolgung ihrer Partikularinteressen durch Verschweigen dieser Wahrheit ins Unrecht gesetzt sind. Es ist bemerkenswert, wie sehr sich Ibsens Drama dabei auf die darwinistische Motivwelt verläßt: Doktor Stockmann-. [...] ich stelle mir vor, Sie machen Jagd auf mich, - Sie hetzen mich, - Sie versuchen mich zu würgen, wie der Hund den Hasen würgt! Hovstad: Das ist Naturgesetz; jedes Tier will überleben. Aslaksen: Man sucht sein Fressen, wo man es findet, verstehen Sie. Doktor Stockmann: Suchen Sie es draußen in der Gosse; Saust durchs Zimmer. Tod und Teufel, jetzt soll sich zeigen, wer das stärkste Tier von uns dreien ist.75

Am Ende des Volksfeinds schlägt der „Kampf ums Dasein" in den Kult des Individuums um, in Stockmanns „große[r] Entdeckung": „Die Sache ist die, der stärkste Mann der Welt ist der, der ganz allein steht." 74 So stützt Ibsen Stockmanns Legitimation durch Berufung auf einen Darwinismus ab, der die Konsequenzen zieht; im Stück hat diese Entwicklung die zusätzliche Pointe, daß Stockmann, als Mediziner die legitime Instanz für eine solche Nutzanwendung, mit seiner „Entdeckung" eine andere Variante von Darwin ins Spiel bringt, als er sie bei den Liberalen ja voraussetzen kann: Doktor Stockmann: [...] Das Lächerliche an der Sache ist nur, daß Redakteur Hovstad ganz meiner Meinung ist, was die Vierbeiner anbelangt Hovstad: Jawohl, lassen Sie die bleiben, was sie sind. Doktor Stockmann: Gut, gut; sobald ich das Gesetz aber auf die Zweibeiner anwende, schreit Herr Hovstad halt [.. ,]. 75

Da aber Stockmann in der Sache recht hat, die kompakte Majorität unrecht, erscheint sein „Sozialaristokratismus" (Alexander Tille) gerechtfertigt. Wer 72 73 74 75

Henrik Ibsen: Gespenster. Ein Volksfeind. Neu übers, u. hgg. v. H. Gimmler. Nördlingen 1989, S. 182. Ibsen: Ein Volksfeind, S. 206 f. Ibsen: Ein Volksfeind, S. 211 f. Ibsen: Ein Volksfeind, S. 182.

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„hat" aber „recht", wenn „die Dirn" „'naufkommen" will? Wenn, wie Bolin bemerkt hat, Helenes Sieg „gleichsam vorherbestimmt[ ]" 76 ist, liegt das in der Logik von Erzählung und Lektüre an der Exposition der Figuren. Bereits im ersten Fünftel des Romans sind alle Hauptfiguren in detaillierten, nahezu physiognomischen Personenbeschreibungen festgelegt, und damit ist - unter Voraussetzung der Konstanz der Charaktere - auch bereits der Ausgang der Geschichte fixiert. Die Physiognomik zählt (wie die „Melancholie", die Dekadenz und die Evolution) zu jenen Themen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die in der zweiten Hälfte des 19. ihre Renaissance erleben; die Kontinuitäten gerieten dabei freilich aus dem Blick. Die Neuauflage der alten Faszinosa erfolgt nun im Rahmen eines befestigten Wissenschaftssystems, als Ethologie, Psychopathologie und endlich paradigmenfahig gewordene Naturgeschichte. Sie haben freilich nur scheinbar ihren ideologischen und phantasmagorischen Ursprung hinter sich gelassen; ihre Popularität und Virulenz belegen das Gegenteil. So kann etwa Cesare Lombrosos Physiognomik des „atavistischen" Verbrechers für die Literatur der Zeit vorausgesetzt werden. Im Roman Seine Gottheit (1896) der dem Naturalismus zugerechneten Wiener Autorin Emilie Mataja/Emil Marriot verdichtet sich die unzähmbare Sinnlichkeit des Protagonisten (nicht anders als bei Johann Caspar Lavater) in seinem Gesicht: „,Findest du nicht auch, daß ich einem Affen ähnlich sehe?' - ,Einem Affen nicht,' erwiderte er trocken. ,Aber einem Verbrecher. [...] Deine Stirn ist zu niedrig und erscheint dadurch, daß dein Haar zu tief hereingewachsen ist, noch niedriger. [...] Dein Mund ist hübsch und wohlgebildet, aber er ist groß und verrät eine unbändige Sinnlichkeit. [...] Die edlen Partieen im menschlichen Gesichte treten bei dir zurück. Der untere Theil, wie Nase, Mund und Kinn, in welchen alle Leidenschaften, auch die niedrigen, sich ausdrücken, treten aufdringlich hervor ... und dieselbe Beobachtung will man an Verbrecherphysiognomieen gemacht haben. [...]"' 77 Bram Stokers Dracula ([Dracula, 1897) trägt die physiognomischen Stigmata Lombrosos (und „Nordaus"), aus denen Van Heising und Mina Harkner seine geistigen Deformationen deduzieren, um

76 77

Wilhelm Bolin: Anzeng ruber's neuer Dorfroman. In: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben (Berlin) 29 (1886), Nr. 10, S. 154 f., S. 154. Emil Marriot [d. i. Emilie Mataja]: Seine Gottheit. Roman. Berlin 1896, S. 154 f.

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ihn zu überwinden. In Wien war unter den Medizinern der Zweiten Wiener Schule die Galische Phrenologie, die Radikalisierung der Physiognomik, noch ein Faktor, mit dem gerechnet wurde: Moritz Benedikt, einer der Begründer der Kriminalanthropologie, hat sich wiederholt auf Gall berufen. 78 Darwins Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei den Menschen und den Tieren (1872) hat die Physiognomik zum Teil rehabilitiert und eine rege Diskussion in Gang gebracht. 79 Marie v. Ebner-Eschenbach las die Gemüthsbewegungen mit ebenso großem Interesse wie Minna Kautsky und Hugo v. Hofmannsthal und erprobte Darwins Befunde an den Kleinkindern ihrer Umgebung. 80 Insgesamt kann gesagt werden, daß die Ersetzung von Rechtslegitimationen durch Natur literarisch am plausibelsten dann erreicht wird, wenn die literarischen Verfahrensweisen (wie hier die physiognomische Personencharakteristik) aus einer konkulturellen Praxis vorausgesetzt werden können. (Zugleich könnte die nachträgliche „Kriminalisierung" des Sternsteinhof-Personals in der Rezeption des Romans auf diesen Komplex hindeuten.) Es ist dennoch bemerkenswert, wie stark bei Anzengruber gerade die Gesichtszüge der Protagonisten fokussiert werden. Anzengrubers Physiognomik ist relational; die Bedeutung der „Zeichen" von Vitalität liegt darin, daß sie einigen Protagonisten verliehen, anderen verweigert werden. Helene: „Es war ein vollbäckiges Kindergesicht mit gesundem Rot auf der kaum merklich braun angehauchten Haut, umrahmt von reichen Flechten schwarzen Haares mit bläulichem Schimmer. Die Stirne war frei, wölbte sich oben etwas vor, das gerade Näschen zeigte einen fein modellierten Rücken und zierliche Nüstern, die brennend roten Lippen waren voll, die obere schien ein klein wenig aufgeworfen, die untere bißchen [sie] eingekniffen, unter dichten Augenbrauen und zwischen schwer befransten 78 79 80

Erna Lesky: Die Wiener Medizinische Schule im 19. Jahrhundert. Graz, Köln 1965, S. 392. Vgl. eine Samiiielrezension: B. D.: Moderne Physiognomik I—II. In: Neue Freie Presse (Wien), 26. u. 27.4. 1888, S. 1-3. M. v. Ebner-Eschenbach: Kritische Texte und Deutungen. Hgg. v. K. K. Polheim u. N. Gabriel. Tagebücher III. Krit. hgg. u. komm. v. K. K. P. u. N. G. unter Mitw. v. M. Jagsch u. C. Pias. Tübingen 1993, S. 222 u. 225 f. (Juni 1882); ein undat. Exzerpt EbnerEschenbachs S. 285. Dazu auch Jost Hermand: Gehätschelt und gefressen: Das Tier in den Händen der Menschen. In: Natur und Natürlichkeit: Stationen des Grünen in der deutschen Literatur. Hgg. v. R. Grimm u. J. H. Königstein/Ts. 1981, S. 55-76.

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Lidern funkelten ein Paar graue Augen mit merkwürdig großen, dunklen Sternen." (S 6) Der Herrgottschnitzer Muckerl Kleebinder, Helenes „Zwischen-Ehegatte" 81 , ist hingegen mit den Stigmata des Degenerierten geschlagen, die ihn für die Rolle des Dorfkünstlers prädestinieren: „Er hatte ja alle Morgen beim Kämmen sein Bild im Spiegel vor sich und wußte, wie er aussah mit seinem braunen, borstigen Haarschopf über der breiten Stirne, der knolligen Nase darunter, den schmalen Lippen, den fahlen, eingesunkenen Wangen; nichts war auffallend an ihm als die großen schwarzen Augen, und die waren nicht schön, denn sie traten zu stark aus den Höhlen." (S 6) Der dergestalt eingeführte Muckerl hat dann auch mit der Schwindsucht eine einschlägige Künstlerkarriere vor sich; sein Meisterwerk, die von der Matzner Sepherl bestellte „Muttergottesin", entsteht denn auch aus der Allianz mit der vitalen Schönheit Helenes (S 164). Jene Sepherl gehört - schon ihre Volksfrömmigkeit weist darauf hin - deutlich in die Nähe des Herrgottschnitzers: „Sepherl war eine mannbare Dirne, mittelgroß, mehr sehnig als voll gebaut, was, wie die Rauheit ihrer Hände, von früher, harter Arbeit herrühren mochte; sie hatte ein rundes, gutmütiges Gesicht, das Schönste in selbem waren große, frische, blaue Augen, die sie oft, wie wundernd, weit aufriß, und daher rührte wohl die dünne, in der Mitte gebrochene Falte, die ober den Brauen von einer Schläfe zur andern lief. Ihr Mund war klein, wie im Wachstum zurückgeblieben, und nahm sich, geschlossen, die blutroten Lippen in tiefe Winkel verlaufend, wie der eines Kindes aus, das dem Weinen nahe ist." (S 24) Als Muckerl die Züge Helenes aus der Marienstatue tilgt und sie durch die Sepherls ersetzt, m u ß er sein Kunstwerk zerstören, das nun auch Ähnlichkeit mit seiner eigenen Physiognomie annimmt: „Er hatte den zarten Bug der Nase und den feinen Schwung der Nüstern ins Rundliche verschnitzelt" (S 166). D e r Sternsteinhofbauer hingegen gehört in die Reihe der vitalen Charaktere: „Der Sternsteinhofbauer war, trotz er mit etwas vorgebeugten Schultern ging und saß, einen halben Kopf größer wie sein Bub, auch hatte er einen beträchtlichen Leibesumfang, und auf einem Stiernacken trug er den großen Kopf mit der niederen, breiten Stirne. Uber den Hängebacken blinzten kleine, graue, bewegliche Augen, beschattet von dichten Brauen,

81

Rudolf Latzke: Anzengruber als Erzähler. In: Anzengruber SW XV/1, S. 409-725, S. 579.

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braun wie das kurz geschorene Haar und der Backenbart, welcher vom oberen Rande der Ohren bis zu deren Läppchen reichte, eine knollige Nase ragte über einen Mund mit dicken, wulstigen Lippen, zwischen denen er den Atem schnaufend einsog und die Laute dröhnend hervorstieß." (S 61) Er begeht dennoch den Fehler, seinem Sohn aus Standesriicksichten Sali, die Tochter des Käsbiermartel, aufzuzwingen, der selbst schon aus der Perspektive der Biopolitik Reichtum mit verräterischen Symptomen von Degeneration (übrigens auch „jüdischen" Zügen) verbindet: „Es war das ein langer, dürrer Mensch mit eingesunkener Brust, hohlen Wangen und tiefliegenden, unter buschigen Brauen hervorblitzenden, dunklen Augen, zwischen denen scharf eine Hakennase vorragte, die Lippen hielt er zusammengekniffen, wenn er sie öffnete und sprach, so sah es aus, als ob er seine Rede vorab auf ihren Geschmack prüfe." (S 90) Dementsprechend seine Tochter: „Die Dirne war hoch aufgeschossen, so daß sie trotz einer gewissen Fülle etwas derbknochig aussah. Die schwarzbraunen, dickhaarigen Scheitel, die starken, geschwungenen Brauen und die gebogene Nase glücklicherweise nur ein schwaches Abbild der väterlichen - verliehen ihrem länglichen Gesichte den Ausdruck der Willensstärke, der aber durch die fast schüchternen Blicke ihrer dunkeln, in einem unbestimmten bläulichen Glänze schwimmenden Augen wieder wett gemacht wurde." (S 91) Toni, der Erbe des Sternsteinhofes, erhält keine detaillierte Physiognomik, was der ambivalenten Rolle zuzuschreiben ist, die er nach dem Plot zu spielen hat. In der Vitalitätsskala des Personals steht er unter seinem Vater; als er von den Soldaten zurückkehrt, bemerkt der Vater zudem, „das Gesicht des Burschen, fahl und welk, mit blauen Ringen um die Augen, sähe nicht nur übernächtig so aus" (S 218), womit es sich dem des Muckerl nähert, wenn auch aus anderen Gründen. Dennoch steht Toni, wenigstens zu Beginn des Romans, über Muckerl; die erste Wirtshausrauferei ist nur die Folie einer jener Duellszenen, die als „Kampf ums Weib" die sexuelle Zuchtwahl anthropomorphisieren, wenngleich hier der Kampf schnell entschieden ist: „da stürzte der Toni dazwischen. ,Den laßts mir', schrie er, ,das is mein Mann!' Nach kurzem Ringen ward der Kleebinder Muckerl in eine Ecke geschleudert" (S 121). Da durch sexuelle Zuchtwahl der Kampf zweier Männchen nicht nur darüber entscheidet, wer das Weibchen begattet, sondern wer überhaupt zur Fortpflanzung zugelassen wird, entsteht der künftige Hoferbe nach Helene und Toni bereits unmittelbar nach dem „Duell", noch bevor der Hof an die werdende Elterngeneration übergeben ist; während Muckerl verletzt von Sepherl ins Elternhaus gebracht wird, erhält

Vom „Meineidbauern" zum „StemsteinhoP': Darwin bei Anzengruber

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der Sieger Toni bei Helene den Zuschlag: „,Heut spieln wir alles gegen alles, halt auch du 'n Einsatz.'" (S 131) Damit auch nach der Heirat von Helene und Muckerl kein Zweifel aufkommen kann, es handle sich bei dem „nach dem Namen des Mannes seiner Mutter" (S 215) getauften Johann Nepomuk um Muckerls leiblichen Sohn, wird wieder das Personensignalement eingesetzt: „das Weib des Herrgottimachers mit dem derben, pausbäckigen Buben auf dem Arme" (S 253). Selbst der Drang nach dem Sternsteinhof vererbt sich: „Einmal streckte das Kind nach dem Gefunkel auf der Höhe die Armchen aus, sie sah es überrascht an. ,Weißt du auch, wo d'hinghörst? [...]"' (S216) Der Konnex von sexueller Zuchtwahl und Prokreation im Sternsteinhof dürfte in dieser Engführung in der Literatur des 19. Jahrhunderts, die ja nicht arm an „Kämpfen ums Weib" ist, beispiellos sein. Diese Engführung gehorcht aber vor allem deshalb einer gewissen Logik, weil im Sternsteinhof der ja ein Roman um sozialen Aufstieg und Besitz ist, die einerseits der juristischen, andererseits der biologischen Sphäre entstammenden Begriffe von Vererbung und „Vererbung" zur Deckung gebracht werden. Die juristische Dimension, die Anzengrubers Bauerndrama Der Meineidbauer in Gang gesetzt hatte, wird dabei in der biologischen zum Verschwinden gebracht. Das (,biologische') Vererbungsmotiv aus dem Vierten Gebot, dort marginal, wird im Sternsteinhof wieder aufgenommen. Es dient hier nun immerhin dazu, den legitimen Sohn Tonis aus der Ehe mit Sali beiseitezuschaffen; dieser wäre ja sonst anstelle des Sohnes von Toni u n d Helene legitimer Erbe des Hofes und könnte somit Helenes Aufstieg vereiteln. Schon die Beschreibung Salis läßt vermuten, daß sie in Hinsicht auf Vitalität mit Helene nicht konkurrieren wird können. Anstelle eines Hoferben bringt sie „ein winziges, mißfarbiges W ü r m c h e n " (S 253) zur Welt. Während Toni sein Verhältnis mit Helene weiterführt, gibt er seiner Frau die Schuld an der Degeneration des Kindes, durch dessen Geburt noch dazu die Mutter hinweggerafft werden wird: „Drei Viertelstunden später lag oben in der dunkeln Stube, deren verhangene Fenster Licht und Luft ausschlössen, ein gar schwaches, zartes, gelbsüchtiges Kind und ein sieches Weib." (S 252) „Der Bauer überhäufte die Bäuerin mit kränkenden Vorwürfen über ihr ungesundes Wesen, von dem sie wohl gewußt haben werde, aber es ihm verheimlicht hätte, und als sie mit tränenden Augen auf die Wiege hinwies, kehrte er derselben, das Kind verschimpfierend, den Rücken". (S 257)

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Bei Salis Geste, mit der sie auf das Kind weist, handelt es sich um ein Selbstzitat Anzengrubers. Im Vierten Gebot führt Hedwig den Stolzenthaler an die Wiege des schwächlichen Säuglings, um ihm die Schuld am Familienelend zuzuweisen; Hedwigs Vorwurf verfallt im Sternsteinhof zur stummen Anklage Salis, die folgenlos bleibt und vom Erzähler übergangen wird. Die ,blauen Ringe' um Tonis Augen deuten dennoch auf dieselbe „Schuld" („zuviel gelebt") wie bei Stolzenthaler, der ja gleichfalls ein verkommener Erbe ist; im Roman sind sie Vorausdeutung auf das ungewisse Schicksal Tonis, der als Soldat im Bosnienfeldzug verschollen bleibt. Daß Toni keine physische Beschreibung gewidmet wird, liegt also daran, daß er als einziger ein ererbter starker, aber durch Verfehlung degenerierender Charakter ist, was ihm nicht am Gesicht abgelesen werden könnte. Diese „harte" Vererbungsthematik im Sternsteinhof ist bei Anzengruber neu. Bereits zum Meineidbauern könnte man zwar - parallel zu den Erbgängen in bezug auf den Kreuzweghof - ein solches Schema aufstellen: In der Familie Burger vererbt sich das Sem „trutzig" von der Burgerlies über Vroni I. auf Vroni II.; Franz erkennt sie an ihrer ,Trutzigkeit' als Tochter ihrer Mutter; in der Höllerer-Familie, die den Adamshof innehat, ist der Vater Andreas ebenso „schwach" wie sein Sohn Toni. Dagegen hat Anzengruber (gegen Schlögl) auf der Milieubedingtheit der „Schlechtigkeit" von Jakob und Franz bestanden. Im Schandfleck, Anzengrubers erstem „Dorf-Roman", besteht die Handlungsführung auf der individuellen Charakteristik; ist der natürliche Vater Lenis der Müller, so gestaltet sich zwischen dem „guten" Kind und dem „braven" (sozialen) Vater ein versöhnliches Verhältnis, ein Umstand, den Latzke als Herausgeber der Werkausgabe scherzhaft moniert: „Langsam wird der Alte diesem Kinde Vater. Natürliche Abneigung wandelt sich in rauhe Strenge, diese in mildere, als die Gegenwirkung des unschuldigen, gut gearteten - wo bleibt die Vererbungslehre? - , folgsamen Kindes eintritt". 82 Im selben Brief, in dem Anzengruber Bolin für dessen zustimmende Rezension des Sternsteinhofs dankt, fällt Anzengrubers vielzitiertes, auf den ersten Blick paradoxes Diktum: „Das Ländliche mag ich nicht. Ich habe keine Ursache mehr es zu kultivieren. Es erwachen in jenen Kreisen politische, eigentlich mehr soziale Fragen, und die Poesie hat an deren Lösung keinen

82

Latzke: Anzengruber als Erzähler, S. 551.

Vom „Meineidbauern" zum „Sternsteinhof": Darwin bei Anzengruber

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Anteil." 83 In der Tat ist der Sternsteinhof ein Roman, der jenseits der kurrenten Debatten um den Bauernstand und das Uberleben bäuerlicher Wirtschaftsbetriebe im Zeitalter von Kapitalisierung und Welthandel (Getreideimporte) steht. Vielmehr bewegt den Roman der Konnex von Durchsetzungskraft des „Stärkeren" und Degeneration der „Schwächeren"; der Roman agiert damit im Schema der liberalen Ökonomie, die Besitz an Durchsetzungskraft bindet. Daß diese Handlung ausgerechnet im Bauernstand angesiedelt wird, ist zum einen Anzengrubers didaktischer Reduktionsstrategie zu danken, allgemeine Problematiken für die städtischen Mittel- und Unterschichten im ländlichen Milieu abzuhandeln. 84 Zum anderen bietet gerade der Bauernstand - so idealtypisch gesehen, wie er bei Anzengruber eben erscheint - ein Sozialmodell, in dem Besitz an Tätigkeit und Status an Besitz gebunden ist (was im Roman dem Künstler Muckerl zusetzt: „im Orte wohlgelitten, in besonderer Achtung stand er nicht, kam ihm ja auch gar nicht zu. Körperkraft, Arbeitstüchtigkeit, erwirtschaftetes, auch überkommenes Geld wertet der Bauer frischweg", S 33). Das Mittel der Übertragung von Besitz ist Vererbung; im Gegensatz zum frei flottierenden Kapital ist bäuerlicher Besitz dazu aber - im Idealfall, unter Ausblendung von Güterschlächterei und Bauernlegen - auch genealogisch verankert, sodaß also individuelle Tüchtigkeit gleichsam in doppelter Weise „vererbt" wird. Wenn nun aber die Geschichte eines individuellen Aufstiegs geschrieben werden soll, muß dieser idealtypische Transpositionsvorgang von Besitz wenigstens zeitweilig durchbrochen werden. Für das Individuum können Willenskraft und Leistung nicht genügen; um also nicht das Modell als ganzes zu gefährden, muß in die „Vererbung" eingegriffen werden und auf somatischer Ebene ein „Erbe" sichergestellt sein, das die Genealogie von Besitz neu begründet und die individuelle Willensleistung bewahrt und perpetuiert. Dies umso mehr, als „Aufklärung" bzw. „Volksaufklärung" für Anzengrubers Didaktik nicht von der individuellen Leistung eines aufklärenden Individuums zu trennen sind. Anzengrubers Sonderlingsgestalten, wie der Steinklopferhanns in Die Kreuzelschreiber (1872) und in den Märchen vom Steinklopferhanns (entstanden 1873/74), übernehmen immer stärker diese Rolle des Volksaufklärers, indem sie kraft eines desillusionierenden Schick-

83 84

Anzengruber an Bolin, 26. 5. 1886. Anzengruber: Briefe, 2, S. 222. Vgl. dazu Lengauer: Anzengrubers realistische Kunst.

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salsweges und ihrer Außenseiterrolle in der dörflichen Gesellschaft deren Normen in Frage stellen können, ohne deswegen von außerhalb kommen zu müssen. 8 5 Es war diese Konstellation, die Anzengruber am Beginn seiner schriftstellerischen Karriere für sich selbst entworfen hatte: „Wenn wir, die wir uns emporgerungen aus eigener Kraft, über die Masse, heraus aus dem Volk, [...] zurückblicken auf den Weg, den wir mühvoll steilauf geklettert in die freiere Luft, zurück auf alle die tausend Zurückgebliebenen, da erfaßt uns eine Wehmuth, [...] so oft wir bei einer Wegkrümmung das Thal zu Gesicht kriegen, so thun wir, wie uns eben um's Herz ist, lustig hinabjuchzen ,Kimmt 'rauf, do geht der Weg!' oder weinend zuwinken - o wie oft unverstanden!" 8 6 Im Sternsteinhof präfiguriert das Scheitern des Muckerl das Scheitern des Projekts. Hier wird der Künstler in das Spiel u m Prokreation und Besitz hineingezogen und bleibt ökonomisch ebenso erfolglos wie in anderer Hinsicht unfruchtbar. Gerade der Künstler Muckerl ist diejenige Figur, die es als einzige mit einer marktfÖrmigen Ökonomie zu tun bekommt, indem Muckerl auf Anregung eines jüdischen Agenten einer „Gesellschaft für religiösen Hausrat" für den Markt zu produzieren beginnt. Früh schon wurde festgestellt, daß Anzengrubers Bauern nicht arbeiten; ein möglicher Kauf des Hofes - die einfachste und verbreitete zeitgenössische Form, sich ländlichen Besitzstand anzueignen - ist in dieser archaischen, geldlosen Bauernwelt von Besitz und Status ebenso ausgeschlossen wie die Abfindung Helenes durch die Geldscheine des Sternsteinhofbauern, die sie ihm vor die Füße wirft. Der Kampf u m den Hof wird nicht mit ökonomischen Mitteln geführt, obgleich es gerade der Liberalismus war, der 1868 nicht nur den Einfluß der Kirche begrenzte (was Anzengruber emphatisch begrüßte und in seinen frühen D r a m e n verfocht), sondern auch die Beschränkungen des freien Güterverkehrs für Bauernhöfe für den Erbfall „ab intestato" aufhob. Durch die Erleichterung von Realteilungen und von Teilveräußerungen der bäuerlichen Betriebe durch die Erbengemeinschaft sollte die Kapitalisierung der Landwirtschaft vorangetrieben werden. Zud e m war der „Darwinismus" als die modernste antiklerikale Theorie zu-

85

Auch Karlheinz Rossbacher: Ludwig Anzengruber: „Die Märchen des Steinklopferhanns" (1875/79). Poesie der Dissonanz als Weg zur Volksaufklärung. In: Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen. Hgg. v. H. Denkler. Stuttgart 1980, S. 231-245.

86

Anzengruber an Rosegger, 11.2. 1871. Rosegger, Anzengruber: Briefwechsel, S. 23.

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gleich ein ideologischer Schnittpunkt mit dem Wirtschaftsliberalismus; die Neue Freie Presse wünschte schon 1868 mit Berufung auf Darwin einen Nationalökonomen Ein die Spitze des Unterrichtsministeriums, „der mit gediegener wirthschaftlicher Bildung die umfassendsten naturwissenschaftlichen Kenntnisse vereint". 87 Diese Prozesse spielen bei Anzengruber keine Rolle - um den Preis, daß sich der Realismus immer weiter von der „dargestellten Realität" entfernt; der Sternsteinhof ist kein Wirtschaftsbetrieb, sondern eine mythische Einheit88, die errungen, ererbt oder verloren werden kann. Hierher gehört, daß ein Vorbild für den SternsteinhofzweiïeWos Alphonse Daudets Roman Fromont jeune et Risler aîné (1874) gewesen sein muß, der seit 1876 in mehreren Ubersetzungen im deutschen Sprachraum bekannt war und als eines der meistverbreiteten und repräsentativsten Werke des französischen Naturalismus galt.89 Eine dramatisierte Fassung war zeitgenössisch ein Erfolgsstück des Burgtheaters. Die Abhängigkeit des Sternsteinhofs von Daudet, die von mehreren Rezensenten erkannt worden war und dann in Vergessenheit geraten sein dürfte90, ist eindrucksvoll, da gerade der oft hervorgehobene Blick nach oben (von der letzten Hütte des Dorfes auf den Sternsteinhof) aus Daudets Roman entlehnt ist. Schon bei Daudet strukturieren die Blicke der kleinen Sidonie Chèbe den Roman 91 , sind aber nicht auf einen Bauernhof, sondern auf die benachbarte Tapetenfabrik gerichtet. Da die erwachsene Sidonie den jungen Fabrikserben Fromont nicht heiraten kann, nimmt 87

„Darwin ist National-Oekonom im Gebiete der Naturwissenschaft. [...] Denn die Hauptaufgaben der Naturwissenschaft sind ja, die Technik und noch viel mehr die Oekonomik der Natur zu erforschen, denn auch in der Natur wirken die Gesetze der Concurrenz und der Ersparung, der Verdrängung und Ersetzung, der Production und Consumtion." Anonym: Volkswirthschaftlicher Unterricht. In: Neue Freie Presse (Wien), 5. 9. 1868, S. 1 f.

88 89

Rossbacher: Literatur und Liberalismus, S. 309 f. Robert Habs: Vorwort. In: Alphonse Daudet: Fromont jun. & Risler sen. Pariser Sittenbild. Leipzig [1882], S. 5-7. Rezeptionsdokumente dazu in: Quellen zur Rezeption des englischen und französischen Romans in Deutschland und Osterreich im 19. Jahrhundert. Hgg. v. N. Bachleitner. Tübingen 1990, S. 253 ff. Bolin: Anzengruber's neuer Dorfroman, S. 154; J[akob] J[ulius] David: Anzengruber. Berlin, Leipzig o. J., S. 55. Nach Müller-Guttenbrunn nimmt es Helen „an leichtfertiger Durchtriebenheit mit jeder Pariser Romanheldin auf[ ]". Müller-Guttenbrunn: „Der Sternsteinhof". [Deutsche Zeitung, 8. 7. 1886] In: A. M.-G.: Feuilletons, Tl. 1, S. 51-57, S. 52.

90

91

Daudet: Fromont jun., S. 21, S. 77 f.

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sie den wenig attraktiven ältlichen, beflissenen, kapitalarmen und darüber hinaus noch aus der Schweiz stammenden Teilhaber, den Ingenieur und Kunstgewerbler Risler, zum Gatten, beginnt mit Fromont, einer „mark- und haltlose [n] Natur"92, ein Verhältnis und richtet ihn und die Fabrik beinahe zugrunde, bis Risler aufgeklärt wird, Sidonie verstößt und die Sanierung des Unternehmens übernimmt. Während Daudets Roman für Unternehmertum als soziale Verpflichtung eintritt und Sidonie als Tingeltangelsängerin enden läßt, wobei sie als sinnlicher Weibsteufel auch noch einen versuchten und einen geglückten Selbstmord (Risler) verschuldet, übernimmt bei Anzengruber die vergleichbare Frauengestalt Helene den Hof. Dieser knappe Vergleich der beiden Romane läßt ermessen, wie „realistisch" (vor allem hinsichtlich der Ökonomie der Fabrik) Daudets Fromont gegenüber dem Sternsteinhofangelegt ist, aber auch: wie konventionell. Welche Veränderungen im Liberalismus vorgegangen sind, daß der liberale „Realismus" in ein Werk wie den Sternsteinhof münden konnte, kann ein weiterer Vergleich mit Berthold Auerbachs Lehnhold (1854) illustrieren. 93 Auf Auerbach hat sich Anzengruber verschiedentlich als sein literarisches Vorbild bezogen94; die Verbundenheit mit dem politischen Liberalismus teilen die beiden Autoren ebenso wie ihren Pantheismus. 95 Auch im Lehnhold geht es um das Motiv der Hofvererbung; dem Roman steht allerdings das physiologische Vererbungsmotiv noch nicht zur Verfügung. So stehen sich im Furchenbauer und seinem Sohn Alban zwei unversöhnliche Prinzipien gegenüber. Alban, der durch die Teilnahme an der Revolution von 1848 politisiert wird, tritt für das Prinzip der „Gerechtigkeit" ein, somit für die Erbteilung des Hofes unter den Geschwistern; der Furchenbauer, in archaischen Traditionen befangen, für das Höferecht, die ungeteilte Ubergabe an einen männlichen Erben (selbst um den Preis der religiösen Sünde, seinen zahlreichen Nachkommen deshalb den Tod gewünscht zu haben). In

92 95 94

95

Daudet: Fromont jun., S. 93. Berthold Auerbach: Der Lehnhold. Eine Schwarzwälder Dorfgeschichte. [1854] Stuttgart, Berlin o. J. (I. f. als „L" u. Seite.) Anzengruber S W VIII, S. 245 („Ich und Auerbach"); s. auch Anzengruber an Julius Duboc, 50. 10. 1876. Anzengruber: Briefe, 1, S. 290 f. („Die aufklärerische Tendenz der von mir hochgehaltenen Auerbach'schen Dorfgeschichten [...]"). Vgl. Jürgen Hein: Nachwort. In: Berthold Auerbach: Schwarzwälder Dorfgeschichten. Ausw. u. Nachw. v. J. H. Stuttgart 1984, S. 287-310, S. 298 f.

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diesem Kampf der Welt der Väter und ihrer heidnischen Rituale96 mit den Idealen von Gleichheit und Gerechtigkeit gehen schließlich beide Protagonisten zugrunde; der Hof fallt - da alle Kombattanten am Ende des Romans zu Tode gebracht sind - in Tochterlinie und Liebesheirat an den Knecht Dominik; der soziale Aufsteiger wird freilich den Hof unter seinen eigenen Erben teilen, wie er Alban an dessen Totenbett verspricht. Bei aller Abstraktion und aller Idealität der Konflikte im Lehnhold teilt der Roman noch die kraftvollen Synthesen des individualistischen Liberalismus, ohne Verzicht auf die Sozialität der Revolution: „Vor dem politisch-revolutionären Hintergrund der Jahre 1848/49 kann er [Auerbach] im Lehnhold endlich den sozialen Ausgleich thematisieren, und zwar als die veredelnde Wirkung eines freien politischen Lebens." 97 Dennoch: Politisch ist hier die Freiheit des Eigentums die Bedingung für die freie Verfügung über den Besitz, nicht aus Neid, Besitzgier oder Furcht vor Benachteiligung, sondern für Edelmut, Freigiebigkeit und private Barmherzigkeit. Zudem führt - ähnlich wie der Meineidbauer - der Lehnhold in der Generation der Söhne den Diskurs des Herzens, den zunächst die Mutter vertritt, mit dem der „Gerechtigkeit" zusammen, der durch das „Gericht" institutionell beglaubigt scheint. Will Alban gegen den Widerstand des Vaters, dem die juristischen Institutionen fremd sind, die Erbteilung erzwingen („Es gibt noch eine Gerechtigkeit. Die Gerichte sollen entscheiden. Das Gut muß und muß geteilt werden." [L 127]), wendet er sich doch, dem Tod nahe, wieder nach innen und vertraut auf eine subjektive „Gerechtigkeit", die in der Liebesheirat mit der Schwester abgesichert ist und auf das „Gericht" verzichten kann (so wie Vroni im Meineidbauern das Beweisstück verbrennt): „Ich will nichts mehr vom Gericht. ... Familiensache. ... Ich glaub' dir ... und wenn du Kinder bekommst, sei gerecht. Gerechtigkeit. ... Wo ist dein Bruder? ... Gerechtigkeit ..." (L 147)98 Dominik bringt die Sache glücklich zum Ende. Im Sternsteinhof erhält wie im Lehnhold der soziale Aufsteiger den Hof; doch die innengeleiteten Tugenden des individualistischen Liberalismus

96 Alban durchbricht das Ritual des „Feldumgangs" und wird deshalb vom Vater enterbt. 97 Werner Hahl: Gesellschaftlicher Konservatismus und literarischer Realismus. Das Modell einer deutschen Sozialverfassung in den Dorfgeschichten. In: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880. Mit einer Einf. [...] hgg. v. M. Bucheru. a. Bd. 1. Stuttgart 1981, S. 48-95, S. 81. 98 Das angespielte Bibelwort erscheint schon L 29 in der Ansprache eines Offiziers; durch die Hofubergabe würde der Bruder zum Knecht gemacht (Kain und Abel).

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sind verschwunden und physiologisch verhärtet. So sehr es sich bei ihnen u m Abstraktionen gehandelt hat, ist der Lehnhold doch stärker den ökonomischen Prämissen des Liberalismus, wie er sich nach 1848 durchsetzt (die „Bauernbefreiung" mit der individuellen Verfügungsgewalt über den Besitz macht die Romanhandlung überhaupt erst möglich), verhaftet als der Sternsteinhof. Die - wenngleich als Sozialmodell illusorische - individuelle „Gerechtigkeit" kann im Lehnhold auf die „Gerichte" verzichten, weil sie deren Prinzip idealtypisch und ohne die Tücken des realen Rechtslebens 99 realisiert. Im Sternsteinhof sind die „Gerichte" bereits vorgängig ausgeschlossen, weil der Ausgang der Handlung bereits von vornherein sanktioniert ist, indem der Erfolg und das „Recht" zur Deckung gebracht sind: „nicht anders, wie wenn das, was ihr [Helene] nun geworden, ihr Rechtens zukäme" (S 327). Der höhere Abstraktionsgrad des Sternsteinhofs rettet den Roman allerdings auch vor Rekursen auf die Synthesemittel des Frühliberalismus, wie sie Auerbach benützt; und damit vor einem Rückfall in Ideologie. Anzengruber rekurriert zur Darstellung dieser „Wahrheit" auf die härtesten zeitgenössischen Theoreme, so die darwinistische Konkordanz von Evolution und Ethik. Die Zeitgenossen bestätigten diese im literarischen Gewand wohl eher als in diskursiver Darstellung: Das belegen die Attribuierungen aus dem Fundus des Erhabenen, damit Gewaltförmigen : „großartig" (Saar 100 ), „wildgewaltig[ ]" (Rosegger 101 ), „das Ergeifende und Gewaltige" (Müller-Guttenbrunn 1 0 2 ). Deshalb müßte die Naturalisierung noch nicht ideologische Volte sein. Doch bleibt als Folgeproblem von Anzengrubers Abstraktionsstrategie, daß im bäuerlichen Milieu für eine Frau durch „Leistung" nichts zu erreichen ist (jedenfalls nicht in der Reduktionsform des Bäuerlichen, wie sie sich für das städtische Publikum als plausibel erweisen sollte). Sozialer Aufstieg von Frauen ist nicht durch Treue und agrarische Leistungen, wie sie Auerbachs Knecht Dominik durch seinen Preisgewinn auf der landwirtschaftlichen Ausstellung dokumentiert, zu gewährleisten; umso größerer Druck liegt auf den Aufstiegs„tugenden", die das erfolgreiche Individuum „von Natur aus" mitzubringen hat. Zur Lösung dieses Problems literari-

99 Die Rechtslage spricht gegen Alban (L 140). 100 Saar an Anzengruber, 26. 2. 1886. Bei Castle: Einleitung des Herausgebers [zum „Sternsteinhof"], W W 12, S. 3-8, S. 8. 101 Rosegger an Anzengruber, 51. 5. 1887. Rosegger, Anzengruber: Briefwechsel, S. 162. 102 Miiller-Guttenbrurm: „Der Sternsteinhof', S. 57.

Vom „Meineidbauem" zum „Sternsteinhof": Darwin bei Anzengruber

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scher Motivierung bietet sich der darwinistische Bildfundus an, der für Frauen mit ihrer privilegierten Position in der sexuellen Zuchtwahl 103 (bei Sacher-Masoch als Wunsch- und Angstbild präsent) ein Analogon zur konventionellen Vernunft- bzw. Geldehe enthält; der desillusionierende Effekt des Sternsteinhofs liegt ja nicht zuletzt in der Abweisung der Liebesehe. Aber auch die Vernunft- bzw. Geldehe hat konservative Wirkungen, da sie Besitz perpetuiert und für Aufsteiger keinen Raum läßt. Im Meineidbauern erhöht Liebe den legitimen Anspruch Vronis. Im Statuskampf des Sternsteinhofs wird an ihrer Stelle eine neue „Kapitalsorte" (P. Bourdieu) eingeführt: Vitalität. Diese erscheint als „Wille" bzw. als unhinterfragbare Disposition; sie ist aber auch das Kapital, das Helene in die Bauernweit mitbringt und das sich als härtere Währung erweisen soll als bäuerlicher Besitz. Daß Helene ihr eigenstes somatisches Kapital am Ende in Besitz konvertieren kann, liegt daran, daß der Roman mit dieser „Vitalität" die konventionellen Kapitalsorten von Status und Besitz mühelos unterläuft. Helenes Vernunftehen sind für die Gatten Liebesehen; im Fortgang des Romans wird diese Differenz bedeutungslos. Es wäre jedoch irreführend, anzunehmen, daß „Vererbung" nur den Fundus der „Degeneration" speist. Ganz im Gegenteil läuft eine starke Strömung im Darwinismus weiter, die die Vererbung in einem ungebrochenen Fortschrittskonzept unterbringt. Die Vererbung erworbener Eigenschaften, nicht die Auslese, ist hier der zentrale Mechanismus, der zur Perfektibilität des Menschengeschlechts führt; ein populärer Zeuge ist Büchners bereits mehrfach herangezogene Schrift. Auch Anzengruber hat in diese Richtung Überlegungen angestellt (so erklärt sich Helenes pausbäckiger Knabe): „Schlechte Eigenschaften vererben leichter, das heißt: gute sind erweckte, vom Individuum gewonnene, ihm aufgedrängte durch Zeit und durch Umstände, schlechte - egoistisch pointierte sind Anlage des gesamten mensch-

105 „Nehmen wir das Edle und Gute in bezug auf das Wohlverhalten des Geschlechtes, so finden wir, daß sich mit dem, was wir Wohlverhalten nennen, auch sogleich das von der Natur als Prämie bewilligte Wohlbefinden einstellt: Gesundheit, Geistes- und Leibeskräftigkeit etc., etc. Endlich Reinheit und Schönheit der Rassen begleiten die geläuterten Gefühle. Es wird also unbedingt einmal der Mensch zu einer vollkommen sittlichen Stufe gelangen." (Anzengruber SW VIII, S. 117.) „Die Frauenerziehung ist daher das Wichtigste - vom ethischen und hygienischen Standpunkte! - Sie führt zu einer Zuchtwahl." (Anzengruber SW VIII, S. 163, „Frauenfrage".)

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liehen Geschlechtes." 104 Anzengruber verfügt somit über sämtliche Ausprägungen des Darwinschen Modells, die zeitgenössisch in Diskussion stehen. Im Sternsteinhof grenzen Anzengrubers literarische Verfahren hart an die Theoreme des entwickelten „Sozialdarwinismus". Daudet hat Darwin als den Vater einer „neuen Gattung von Raubthieren" verstanden, „die die famose Erfindung des Kampfes um's Dasein ausbeuten, um damit jede Schurkerei wissenschaftlich zu rechtfertigen". 105 Hingegen gilt den (wenigen) Rezensenten des Sternsteinhofs der Roman als Triumph des Realismus, gerade wegen seiner rigorosen Applikation „Darwins". Bolins Rezension fuhrt das aus: „Die weibliche Hauptfigur des Romans, ein wahres Prachtexemplar für den biologischen Proceß der geschlechtlichen Auslese, ist ein wunderbar durchgeführter Charakter, so sehr ihr auch all' die Lieblichkeit abgeht, welche die Hauptgestalt im ersten Dorfroman des Autors [im Schandfleck, W. M.] auszeichnete." 106 Das tut aber der „realistischen" Gestaltungskategorie der Lebenswahrheit keinen Abbruch: „Im Uebrigen hat der Roman eine Menge mehr oder minder bedeutender Nebengestalten, alle prächtig gezeichnet und von der nämlichen Lebenswahrheit wie die beiden Hauptfiguren." 1 0 7 Auch eine andere Zentralkategorie des programmatischen Realismus, der Humor 108 , wird gelobt: „Außer durch seinen Gegenstand und die meisterhafte Ausführung fesselt es ganz besonders durch den Humor beim Darstellen, der allerdings zeitweis ein wenig pessimistisch angehaucht ist, und nicht minder durch den Reiz des von den handelnden Personen gebrauchten Dialekts, der von gediegenen gutdeutschen Ausdrücken und Redewendungen strotzt, um welche unsere gebildete Alltagssprache jene Länder wohl beneiden könnte." 109 Insgesamt scheint der „Standpunkt", der in „Darwin" gefunden wird, dem realistischen Kunstcharakter des Werks nicht nur nicht abträglich, sondern diesen geradezu hervorzurufen: „Dieser [der Dichter, W. M.] hat für seine Erzählung einen Standpunkt gewählt, der den heutigen Anschauun104 Anzengruber SW VIII, S. 116. 105 Zit. nach u. vgl. Pablo [d. i. Paul Lafargue]: Der Darwinismus auf der französischen Bühne. In: Die Neue Zeit (Stuttgart) 8 (1890), S. 184-189, S. 184; zugleich ein interessantes Dokument zur Durchsetzung des Darwinismus in Frankreich. 106 Bolin: Anzengruber's neuer Dorfroman, S. 154. 107 Bolin: Anzengruber's neuer Dorfroman, S. 155. 108 Wolfgang Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft. Studien zur Erzählkunst des poetischen Realismus. München 1965. 109 Bolin: Anzengruber's neuer Dorfroman, S. 155.

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gen über Welt und Leben in genauester Weise entspricht. Kein Anderer ist es, als der durch das Losungswort vom Kampfe u m s Dasein gekennzeichnete. Aber weil seine Gestalten von unverkennbarer Naturtreue und die Beziehungen zwischen ihnen auch genau so gehalten und entwickelt sind, wird man gerade durch die Wahrhaftigkeit der Darstellung unwiderstehlich gefesselt. Bei allem Realismus in diesem wohlberechtigten Sinn ist das Ganze so tief durchdacht, so sinnig angelegt und so prächtig durchgeführt, daß der Gesammteindruck [...] ein durch und durch künstlerischer verbleibt." 1 1 0 Ein privater Brief Bolins an Anzengruber, dessen Formulierungen zum Teil wörtlich in die Rezension eingehen, bestätigt diese Lesart: Daß die Gestalten „naturgetreu [sind], sieht man ihnen sofort an, und namentlich bekundet die Hauptfigur, ob absichtlich oder unwillkürlich, einen imponierenden Zug von jener Natürlichkeit, der sie zum Typus der Obsiegenden im Kampfe u m s Dasein stempelt. Durch diese packende Wahrheit der Darstellung fesselt sie unwiderstehlich und wird man dadurch auch von lebhaftem Interesse für das Ganze erfüllt." 1 1 1 Ahnlich hat Adam Müller-Guttenbrunn diesen Zusammenhang gesehen: „In dieser Entwicklung der Verhältnisse ist ein Stück Leben aufgerollt, wie es abgeklärter und unmittelbarer kaum gedacht werden kann. Nicht mit dem Sieg der Tugend und d e m Untergang des Lasters endigt diese Geschichte, sondern mit dem einfachen Abschluß, den das Leben selbst solchen Kämpfen gibt. Ein eiserner Wille und die Treue gegen sich selbst, die kraftvolle und kluge Betätigung einer überquellenden gesunden Selbstsucht sind die beste Ausrüstung für den Kampf ums Dasein, und wo sie sich, wie in Helens Charakter, vereinigt finden, da ist der Triumph über alle zweifellos, und man stirbt hochbetagt und hochgeehrt, sogar beweint von seinen Mitmenschen." Müller-Guttenbrunn zieht das künstlerische Fazit: „Ein Buch wie dieses kann nicht untergehen. Späte Geschlechter werden es noch dereinst als eines der vorzüglichsten Werke deutscher Erzählungskunst preisen." 1 1 2 Es ist wohl die (darwinistische) Tiefenstruktur des Sternsteinhofs, die Ferdinand v. Saar, der Darwin mit Schopenhauer zusammengelesen hat, im Auge hat, wenn er an Anzengruber schreibt: „Denn wie wäre es möglich, das Leben noch tiefer zu fassen, als es hier schon geschehen ist!" 1 1 3

110 111 112 113

Bolin: Anzengruber's neuer Dorfroman, S. 154. Bolin an Anzengruber, 20. 7. 1884. Zit. nach Castle: Einleitung, WW 12, S. 3-8, S. 6. Müller-Guttenbrunn: „Der Sternsteinhof", S. 56 f. Saar an Anzengruber, 26. 2. 1886. Bei Castle: Einleitung, S. 8.

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Bolin antwortet auf den Roman nicht im Sinn des programmatischen „bürgerlichen Realismus" und seiner Dichotomie von Literatur und Wissenschaft, sondern im Sinn einer Subsidiaritätsfunktion der „Wissenschaft" für die Literatur. Der Roman kann demnach ein Bild der Welt sein, weil, nicht obwohl er sich auf einen ,Realismus' beziehen kann, der aus den Erfahrungswissenschaften bezogen ist. Die Vermengung von Wissenschaft und Literatur sei wenigstens dann legitim, wenn literarisch wissenschaftliches Weltanschauungspotential zur literarischen Anschauung gebracht wird, das im gemeinsamen Dritten der „Realität" ein Analogon hat („Standpunkt [...], der den heutigen Anschauungen über Welt und Leben in genauester Weise entspricht"). Für eine Allianz von Literatur und Naturwissenschaft bedurfte es des „Naturalismus" nicht. Nicht einverstanden zeigte sich Bolin hingegen mit dem „Nachwort" des Erzählers im Sternsteinhof (S 369 f.), das mit einer Leseradresse beginnt und dadurch die erzählte Gegenwart in Richtung der erzählenden Gegenwart der pragmatischen Kommunikation Autor-Leser durchbricht. Bolin, der auch im Zuge der von ihm über Mittelsmänner veranlaßten (und mäzenatisch ermöglichten) Umarbeitung des Schandflecks sehr konkrete ästhetische und romantechnische Vorstellungen geäußert hatte (mit denen sich Anzengruber keineswegs immer einverstanden erklärte 114 ), riet, die Nachrede einfach zu streichen. 115 Anzengruber reagierte gereizt: „Was den Sternsteinhof anlangt, schätze ich Ihre Gründe, d. h. den Anlaß, den Sie zu denselben haben, den Anteil an meiner Produktion; da aber das Nachwort nichts weniger sein soll - auch nicht ist - als eine Entschuldigung, da sie ironisch gemeint ist, so lasse ich selbe stehen." 116 Der weiterhin ratlose Bolin nimmt Anzengrubers eigene Formulierung von der,Ironie' des Nachworts in seine Rezension auf.117 Daß Anzengruber auf diesem Nachwort beharrt, verweist auf das - „ironische" Zitat einer Genreform, die zum Zeitpunkt des Erscheinens des Romans längst in die besseren Kinderstuben verwiesen ist, der Fabel und ihrer emblematischen Struktur. Das Nachwort verweigert das fabula docet. Die Struktur dieses „Nachworts" soll zunächst näher betrachtet werden.

114 Vgl. dazu detailliert Bettelheim: Die Umarbeitung des „Schandfleck". In: Anzengruber: Briefe, 2, S. 338-357. 115 Bolin an Anzengruber, 20. 7. 1884. Bei Castle: Einleitung, S. 6. 116 Anzengruber an Bolin, 27. 9. 1884. Anzengruber: Briefe, 2, S. 196 f. 117 Bolin: Anzengruber's neuer Dorfroman, S. 154 („die ironische Bemerkung").

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„Der Leser hat eine Frage frei", beginnt das ,Nachwort' mit einer Leserapostrophe, ,,[w]arum erzählt man solche Geschichten, die nur aufweisen, ,wie es im Leben zugeht?' Allerdings gibt das ein unfruchtbares Wissen, da es nichts an den Vorgängen ändern lehrt und, was es lehrt, doch nie, selbst von den Wissenden nicht, mit dem Handeln in Einklang zu bringen versucht wird". So bliebe alles beim Alten, „und eine neue Geschichte kann nur dartun: daß, was vorging, noch vorgeht." Das Nachwort etabliert also eine pragmatische Situation, die einen Leser evoziert, der nach einer Lehre überhaupt erst fragt; für die Geschichten und Romane, wie sie in dem von Anzengruber geleiteten Organ Die Heimat abgedruckt sind, kann das nicht ohne weiteres erwartet werden. Als bürgerliches Familienblatt steht das Unternehmen vielmehr in Konkurrenz zur Gartenlaube, von der sich die Leser bzw. Leserinnen kaum praktische oder moralische Belehrung im engeren Sinn erwartet haben dürften; eher „Erbauung" und „Zerstreuung".118 Mit diesem Nachwort wird allererst ein Bedürfnis nach fruchtbarem Wissen' bzw. „Veränderungswissen" etabliert, das eher die projektierte Leserschaft der Volkskalender gegen einen Autor mobilisiert hätte; in den von Rosegger herausgegebenen Volkskalender Das neue Jahr rückte Anzengruber seine philosophisch-allegorischen Märchen vom Steinklopferhanns ein. Das eben geweckte Bedürfnis wird auch sogleich enttäuscht: Volksaufklärung sei nicht zu erwarten. Es schließt sich eine Digression an („Übrigens"), die eine Apologie des Bauernkostüms des Romans leisten soll; sie besteht aus einer Polemik gegen die „spekulative[ ] Absicht, einer mehr und mehr in die Mode kommenden Richtung" und einer poetologischen Apologie, die die Milieuwahl des Romans als Verfahrensweise offenlegt: „weil der eingeschränkte Wirkungskreis des ländlichen Lebens die Charaktere weniger in ihrer Natürlichkeit und Ursprünglichkeit beeinflußt", werde das „Gewand" „für die handelnden Personen aus Loden" zugeschnitten und weil „der Aufweis: wie Charaktere unter dem Einflüsse der Geschicke werden oder verderben oder sich gegen diesen und sich und andern das Fatum setzen - klarer zu erbringen ist an einem Mechanismus, der gleichsam am Tage liegt, als an einem, den ein doppeltes Gehäuse umschließt und Verschnörkelungen und ein krauses Zifferblatt umgeben; wie denn auch in den ältesten, einfachen, wirksamsten Geschichten die Helden und Fürsten Herdenzüchter und Großgrundbesitzer waren und Sauhirten ihre Hausminister und Kanzler." (S 370)

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Zum Zeitschriftenkontext vgl. Lengauer: Anzengrubers realistische Kunst.

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Der Roman also soll in der homerischen Maske der Bauern „aufweisen", „wie Charaktere werden oder verderben". Die Metapher vom Uhrwerk zitiert zum einen die Maschinenmetapher heran, die die Anthropologie des 18. Jahrhunderts beherrschte, nicht die im 19. Jahrhundert dominierende ,organische Auffassung' 119 von Natur, Gesellschaft und Kunst („lebendiges Kunstwerk"). In deren Kontext sind auch Bolins „Natur" und „Natürlichkeit" zu lesen, die die Bestätigung des Kunstcharakters gegenüber d e m ,Konstruierten', ,Maschinenmäßigen' leisten sollen; im Märchen Aus der Spielzeugwelt (1882) erklären sich mechanische Gebrauchsgegenstände für beseelt. 120 Zum anderen weist der sachlich-distanzierte, ,mechanische' Zugang des Autors (wie er sich in der Leseranrede zu Wort meldet) gegenüber seinen Erzählgegenständen auf eine Implikation der naturwissenschaftlichen Dimension des Romans zurück. Der Roman ohne „Moral" (fabula docet) „weist auf", „,wie es im Leben zugeht'"; er erbringt einen „Aufweis" über das Wie? des Werdens der Charaktere. Emile Zola hat 1879 in seinen Studien zum „Experimentairoman" 121 dem literarischen Autor die Funktionen von „Beobachter" und „Experimentator" zugewiesen; der „Beobachter" „setzt den Ausgangspunkt fest und stellt den festen Grund und Boden her, auf dem die Personen aufmarschieren und die Erscheinungen sich entwickeln können. Dann erscheint der Experimentator und bringt das Experiment zur Durchführung, d. h. er gibt den Personen ihre Bewegung in einer besonderen Handlung, u m darin zu zeigen, dass die Aufeinanderfolge der Tatsachen dabei eine solche ist, wie sie der zur Untersuchung stehende Determinismus der Erscheinungen ist." 122 Nicht u m das „Warum" gehe es, sondern u m das „Wie", wie auch Claude Bernard fordere. 123 Die mechanistische instrumenteile Vernunft und damit die Moral dieses Vorgehens ist

119 Vgl. dazu mit Blick auf Zola Hans Ulrich Gumbrecht: Zola im historischen Kontext. Für eine neue Lektüre des Rougon-Macquart-Zyklus. München 1978. 120 Anzengruber SW XIV, S. 144-161. 121 Eine Ubersetzung erfolgte erst spät (1904), Auszüge erschienen jedoch schon am 29. 10. 1880 in der „Wiener Allgemeinen Zeitung"; eine Besprechung von Theophil Zolling erschien am 7. und 8. 10. 1881 in der „Neuen Freien Presse". Dazu Karl Zieger: Die Aufnahme der Werke von Emile Zola durch die österreichische Literaturkritik der Jahrhundertwende. Bern, Frankfurt/M., New York 1986, S. 68 f. u. S. 73-78. 122 firmle Zola: Der Experimentairoman. Eine Studie. Leipzig 1904. Zit. nach: Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880-1900. Hgg. v. M. Brauneck u. Ch. Müller. Stuttgart 1987, S. 87-97, S. 89. 123 Zola: Der Experimentairoman, S. 92.

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Gesellschaftsbeherrschung in Analogie zur Naturbeherrschung, es sind die „naturalistischen Werke, die mit dem Menschen experimentieren, die die menschliche Maschine Stück um Stück zerlegen und wieder aufbauen, um sie unter d e m Einfluss der Lebensweise funktionieren zu lassen. Wenn die Zeiten fortgeschritten sein werden, wenn man die Gesetze hat, handelt es sich n u r m e h r darum, auf die Individuen und die Milieus einzuwirken, wenn man zum besten sozialen Zustand kommen will." 124 Hinter Anzengrubers „Wissen", das die „Wissenden" nicht mit dem Handeln in Einklang zu bringen versuchen, liegt derselbe instrumentalistische Impuls wie bei Zola; hier ist an Anzengrubers Zuchtwahlüberlegungen zu denken. „Ironisch" darf also lediglich die Apologie des Bauernkostüms genannt werden, nicht die des Verfahrens. Das fabula docet, das der Text verweigert, soll im Exemplarischen der Erzählung aufgehoben sein; das Verfahren entschädigt für die „Lösung". Die Differenz zu Zola besteht weniger in den poetologischen Prämissen als in der Durchführung; während Zola „Realität" aneignet durch einen legendären empirischen Rechercheaufwand, der auch in der Tagespresse ungeteilte Zustimmung findet, hebt Anzengrubers „Realismus" im Sternsteinhof auf die Archetypik der Situationen (den „Mechanismus") ab und steht damit stärker in den Traditionen der idealtypischen anthropologischen Reduktionen des 18. Jahrhunderts, wie sie sich etwa in den „Robinsonaden" manifestierten. Das deutet eher auf eine graduelle als auf eine prinzipielle Differenz zur Aufklärungsliteratur. Wie sich zeigt, legt gerade das 19. Jahrhundert gleichen Wert auf solche Zuspitzungen 125 , und der trivialisierte, aber auch der wissenschaftliche Darwinismus hat diesen Bildfundus wesentlich bereichert. Nur sollten sich die archetypischen Situationen literarisch so einbetten, als wüchsen sie aus der „Realität" heraus; der räsonierende Erzählerkommentar sei zu vermeiden. Die Anzengruber oft attestierte szenische Phantasie hat denselben Bildfundus und dasselbe Strukturierungsprinzip zur Basis, wie sich das sehr klar in den Ent-

124 Zola: Der Experimentairoman, S. 93. 125 In diesem Sinn hat Marx im „Kapital" (1867) ironisch angemerkt, daß „die politische Ökonomie Robinsonaden liebt". Karl Marx u. Friedrich Engels: Werke. Hgg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1962, Bd. 23, S. 90. Dieser Gedanke hat Marx lange beschäftigt; schon die Einleitung zu den „Grundrissen" (1857) beginnt mit einer Darlegung des notwendigen ideologischen Scheins der ökonomischen Robinsonade. Marx u. Engels: Werke, Bd. 42, S. 19.

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würfen, Fragmenten und „Aphorismen" 126 zeigt; aber auch unter den Bedingungen der schärfsten Naturalisierung bringt Anzengruber nicht deren pragmatische Einbettung zum Verschwinden. Damit ist aber auch Bolins Problem mit dem Sternsteinhof bezeichnet. Denn in diesem wird der didaktische Impuls gleichsam verraten; Zola hat den Stammbaum, der den sowohl systematisch als auch zeitlich vorgängigen Nukleus des RougonMacquart-Zyklus bildete, dementsprechend erst im letzten Roman Docteur Pascal (eines der liebsten Bücher des Darwinisten Freud) offengelegt und diese Offenlegung narrativ durch einen Analytiker organisiert, der selbst romanhaft agiert. Anzengruber hingegen hat nicht auf die didaktischen Signale der Tradition der Aufklärung verzichtet, auch um den Preis des Anachronismus, da didaktische Formen wie das „Märchen" und die „Fabel" (das ,Nachwort', das ja keinen Titel trägt, wäre dann besser als Epimythion bezeichnet) zeitgenössisch wie der Robinson bereits dem Verdikt des Infantilen anheimgefallen waren. Anachronistisch wirkten auch bald seine Tendenzstücke. Züge modernisierter Fabel finden sich auch im Schandfleck}21 Die Kontinuität von Tier und Mensch darf der gänzlich unphilosophische alte Bauer Reindorfer aussprechen: „Viel weiter als das liebe Vieh hat es der Mensch auch nicht gebracht" (SF 147). In der Inzestfrage, die den ersten Teil des Schandfleck dominiert, sind gleichermaßen die Tiere Vorbild des Verhaltens, um Erbschäden zu verhüten: „Und man kann doch Geschwister nicht zusammengeben, selbst beim Tier tut das kein gut, der Stamm geht zurück, wie jeder Züchter weiß, und daher ist wohl dem Menschen die Scheu davor gekommen, denn was wider den Zweck geht, das schreckt ihn" (SF 147). Dem Bauern, der im Selbstgespräch Eheproblem und Inzesttabu erörtert, illustriert sich auf seinem Spaziergang eine Metapher, die er selbst gebraucht hat („jetzt sitzen alle, die mitgesponnen und nicht mitgesponnen haben, im Netz", SF 148): „Er stand eben vor einem Aste, an dem ein Spinnennetz zerflatterte, in dessen Mitte die Eignerin mit einer eingedrungenen Spinne erbittert kämpfte. ,Das kneipt und zwackt sich unter einander nach seiner Art.'" Als er kurz darauf dieselbe Stelle passiert, hängt das Spinnen-

126 Problematisch an der Ordnung der Nachlaßfragmente in der Gesamtausgabe ist nicht so sehr die Einteilung in Rubriken wie „Leben ohne Gott" als die Trennung in diese verschiedenen formalen Kategorien. Die Fragmente zeigen Motive und die Form des Denkens Anzengrubers, nicht halbfertige Denkinhalte. 127 Der Schandfleck. Hgg. v. R. Latzke. Anzengruber SW Di (I. f. „SF" u. S.).

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netz „leer und verlassen" da: „,Schau, da war keine stark genug, die andere aufzufressen. Beide liegen wohl da unten im Kraut elendiglich zerbissen. Geschieht euch recht! Fangt Mücken, wie euer Geschäft ist, und haltet Fried untereinander. Daß sich dazu nicht Vieh noch Mensch verstehen mag!" (SF 149) Diese narrativ aufgelöste Tierfabel bildet auch den Kern des 1878 entstandenen, 1882 mit dem Untertitel „Eine Fabel" überschriebenen Gedichtes Die Spinnen und die Fliegen128, das der Episode aus dem Schandfleck eine malthusianische Grundierung und in einemfabula docet eine antireligiöse Pointe verleiht. Doch im Schandfleck wird die „Stimme des Bluts" und die Perspektive des Züchters im Dienst „menschlicher" Tugenden zurückgenommen. Will sich der Müller bei seiner natürlichen Tochter Magdalena durch ebendiese Vaterschaft empfehlen („,So magst du reden, wo doch in weiter Welt selbst das Tier - das Tier - das eigene Blut anerkennt?!'" [SF 322]), erhält er von Magdalena, die für den alten Reindorfer als den besseren Vater votiert, eine Abfuhr: „,Beruf dich nicht darauf, Müller. Was auch die Leute schwätzen von verwandtem Blut, das ordentlich aufsieden müßt, wenn sich Kind und Eltern, auch ungekannt, zusammenfinden, es ist doch nur gefabelt, aber für allzeit wahr bleibt Dankbarkeit und Lieb [...]"' (SF 322 f.). Im Sternsteinhof ist dieser Unterschied eingeebnet. Wo die Menschen selbst schon als die Tiere der Fabel exponiert sind, bedarf es keiner Tiere als Bild- oder Gleichnisspender mehr; es gibt auch - für eine „Dorfgeschichte" bemerkenswert nahezu keine Tiere in der Welt des Romans. Nach dem Tod des Herrgottschnitzers Muckerl wird jedoch ohne Erzählübergang dessen vegetative, leidende Existenz in ein Bild gebracht: „Das Käferchen, das im warmen Sonnenschein über den rieselnden Sand dahingelaufen, vor dem sprühenden Regen sich unter duftigem Laubwerk verkrochen, mit seinesgleichen sich geneckt und gezerrt hatte, krampfte plötzlich die Füße zusammen und fiel vom halb erkletterten Halme zur Erde." (S 307) Ein Detailrealismus, über den der Roman sonst nicht verfügt, findet sich nur in den Personenbeschreibungen; Helenes Blicke (Kap. I, XIV, XXI) gliedern den Roman nicht nach „Märchenanschauung" und „Realismus"129, sondern in Exposition und Durchführung. Der Mangel an „Realismus" (auch etwa gegenüber Zolas Romanpraxis), den Anzengruber - durchaus solidarisch mit Zolas Programm - erkauft, be128 Anzengruber SW I, S. 119-121 u. Kommentar S. 580. 129 So Baasner: Anzengrubers „Stornsteinhof'.

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wahrt ihn jedenfalls in einer solchen Durchkältung vor Schollen- und Heimatkunstideologie; auch vor einer Mythologie des „Lebens" aus der „Erde", von der Zolas eigener Bauernroman La Terre (1887) nicht frei ist, und vor einer Gesundungsideologie, die die gesunde Scholle der Degeneration stiftenden Großstadt gegenüberstellt, wie das Max Nordaus Entartung tut. Die Verfahrensweisen des Sternsteinhofs setzten in der österreichischen Literatur eine „literarische Reihe" in Gang, an der sich einige Verschiebungen und Verhärtungen von Anzengrubers Engführung von Legitimität und Natur ,im Lodengewand' beobachten lassen.

V E R H Ä R T U N G E N IM K A M P F U M DAS DAVID, KRANEWITTER, SCHÖNHERR,

ERBGUT: NABL

Jakob Julius David hat in einem Nekrologessay (1902) an Emile Zola einen Realismus gelobt, der für David auf Darwin beruhte: ,,[E]s war höchst wichtig für ihn, daß seine Zeit mit der von Darwins unermeßlicher Wirksamkeit zusammenfiel. Darwinistisch ist der eine Grundgedanke seines [...] Lebenswerkes, der ,Rougon-Macquart'. Allenthalben ist er bestrebt, den Einfluß der Vererbung in den Geschicken dieser Familie unter d e m zweiten Kaiserreich aufzuzeigen." 130 Aus der zeitlichen Distanz sowohl zum ästhetischen Skandalon als auch zur wissenschaftlichen Innovation Darwins fallen für David also „Vererbung" u n d „Darwinismus" bereits zusammen; der Realismus Zolas und seine Absicherung durch Quellenstudien wird bei David als Milieustudium thematisiert: „Dieses nennt man das Studium des Milieus, der Gesamtbedingungen. Neben der Vererbung ist es das zweite, moderne Fatum, das unsere Weisen viel zu früh aus der Weltordnung beseitigen wollten. Auch davor gibt es kein Entrinnen; es fallt uns immer wieder hinterrücks an, so gut wie der andere Fluch der Vererbung, mit dessen Walten sich unsere Erziehungslehre bis jetzt viel zu wenig beschäftigt hat; so guten Grund sie hätte, sich recht eingehend darum zu bekümmern." 1 3 1 Die Identifikation Davids mit diesem Modell ist hoch; bereits in seiner Dis-

130 J. J. David: Emil Zola (1902). In: J. J. David: Essays. München, Leipzig 1909, S. 48-58, S. 49. 151 David: Emil Zola, S. 53.

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sertationsschrift zur Pädagogik Pestalozzis kündigt sich seine Befassung mit den „positivistischen" Grundthemen an. Am Beispiel Ibsens, dem 1906 ein deutlich distanzierterer Essay gewidmet ist, wird dieses Interesse sehr deutlich artikuliert: Der „Determinismus", „der an sich stark und für die Zukunft wohl noch in steigendem Grad sich in der Dichtung aussprechen wird" (eine Prognose von 1906!), sei nicht an Ibsen gebunden: „Den muß sich jeder als eigene Weltanschauung entdecken, dem der Gang der Dinge nicht ganz verhohlen bleibt, der davor nicht völlig verzagen, der sich mit dem Leben auch nur abfinden können will. Wer aber hegte noch groß Hoffnung, weiter zu gelangen?" 132 Dieser resignative Determinismus ist denkbar weit vom aggressiven nationalliberalen Fortschrittsdeterminismus eines Wilhelm Scherer entfernt (bei dessen Schülern Richard Heinzel und Erich Schmidt David in Wien Germanistik studiert hatte). Derselbe Determinismus läßt David auch Anzengrubers Sternsteinhof, und im besonderen das Nachwort, emphatisch bejahen; indem Anzengruber zeige, wie es in der Welt zugehe, beziehe er Stellung auf der Seite des „Objektiven": „Darin liegt der Unterschied zwischen dem Subjektiven, der die Welt nach sich und seinen Wünschen modeln möchte und alsdann mault, wenn die Dinge und seine Vorstellungen von ihnen so gar nicht stimmen wollen; dem Weltverbesserer, der in der Regel ein verlorenes Tun auf sich nimmt; dem Objektiven, der sich mit ruhigen Blicken dieses Weltwirrwesen beguckt, das ihn nun einmal nicht mehr zu irren vermag, und das er mit sicherer Hand vorzeichnet, soweit es ihm des Vermerkens wert erscheint".133 Die Kräfte der Vererbung werden auch bei Anzengrubers Charakter und seiner literarischen Persönlichkeit aufgefunden. Anzengrubers Eltern, sein „Stammbaum", werden mit an Josef Nadlers Literaturgeschichte (und an dessen Behandlung Anzengrubers) gemahnenden Formulierungen als Determinanten gefaßt: „Blutströme von solcher Mächtigkeit und Reinheit vermögen, auch ohne dass man der Vererbungstheorie [!] zu grosses Gewicht zugesteht, ein dichterisches Schaffen wohl zu bestimmen." 134 „Es war eine Arbeitskraft in ihm, nur zu erklären aus unverbrauchten Nerven des Abkömmlings eines kraftvollen Menschenschlages."135 (Für Freud, dessen Vorliebe für den Naturalismus bekannt ist und der auch Anzengruber 132 133 134 135

David: David: David: David:

Henrik Ibsen (1906). In: David: Essays, S. 18-39, S. 29 f. Anzengruber, S. 56. Anzengruber, S. 11. Anzengruber, S. 49.

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schätzte136, zählte der aus Mähren zugewanderte jüdische Assimilant David zu seinen wenigen literarischen Bekanntschaften 137 ; auch auf die posthume Werkausgabe hat Freud subskribiert.) Die ,ruhige Objektivität', die David an Anzengruber zugleich gegen eine moralisierende und eine spekulative Dorfliteratur stellt, bestimmt auch Davids literarische Arbeiten, in denen „Vererbung" und „Milieu" in einer Weise ernst genommen werden wie selten in der Literatur der Epoche. Unablässig werden - zumal in den frühen Arbeiten Davids - die Umstände reflektiert, die die Charaktere formieren, aus denen sich die Handlung ergibt. Ein für die Verflechtungen von Vererbungsthematik und Hofübergabe signifikantes Erzähl werk ist Davids erster Roman Das Höferecht (1890). 158 Wie der Sternsteinhof zeichnet der Roman die Schicksale einer ländlichen Aufsteigerin. Auch Fanny Bermann, die Tochter eines jüdischen Mautpächters, führt ihr Ausbruch aus der ebenfalls räumlich abgesonderten Hütte des „allerärmsten Menschen" (H 119) Lazar Bermann über den Hof des „reichste[n] Mann[es] des Ortes" (H 119). Jakob Lohner, Großbauer, Gemeindevorstand und „Erbrichter" von Kunzendorf („Er fühlte sich keinem Adeligen unebenbürtig" [H 119 f.]) handelt bäuerlichen Rechtstraditionen gemäß, wenn er den Erstgeborenen Georg als Hoferben aufbaut und dessen Bruder Gustav studieren läßt; beide sind aus Kindertagen Vertraute des armen jüdischen Mädchens. Die ökonomische Rivalität der Brüder erhält eine erotische Dimension, als beide Herangewachsenen Fanny umwerben; Fanny wählt jedoch, als sie sich von Georg bestochen glaubt und sein Heiratsversprechen als Vorspiegelung entlarvt, den weichenden Erben Gustav und folgt ihm nach Wien, wo sie ihn jedoch schließlich verläßt und Mätresse des lungenkranken, aber reichen Lebemannes v. Eck wird. Gustav kehrt als Knecht an den Hof zurück, den indessen Georg übernommen hat; die Demütigungen durch den Bruder gipfeln in einer Duellszene beim Erntefest. Gustav erschlägt Georg und stellt sich am Ende dem Gericht. Die Konstellation des Sternsteinhofs wird somit in Davids Erstling durch das Motiv der „feindlichen Brüder" angereichert. Gustav und Georg werden deutlich voneinander abgesetzt; Georg ist der Unterlegene: „Ueber-

156 Dazu etwa Rossbacher: Literatur und Liberalismus, s. Reg. 137 Zum Verhältnis Freud-David vgl. Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt/M. 1988, S. 133-155. 138 J. J. David: Gesammelte Werke. Hgg. v. Ernst Heilborn u. Erich Schmidt. Bd. 1: Gedichte. Das Höferecht. München, Leipzig 1908 (i. f. „H" u. Seite).

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haupt, nicht bloß die höhere Bildung Gustavs ärgerte ihn, auch an Gewandtheit und Stärke war der Jüngere bevorzugt." Und in erlebter Rede Georgs: „Dies war ein Unrecht; wie durfte Gustav vor dem Erbsohne, dem von allem von Rechtswegen das größere Ausmaß gebührte, etwas voraus haben wollen?" (H 134) Das Erstgeburtsrecht, wie Georg („Er war kein eigentlich schlechter Mensch." H 135) es auffaßt, müßte sich demnach auch auf Körper- und Geisteserbe erstrecken; daß es das nicht tut, setzt die Handlung in Gang: „Wenn sich die Brüder zuweilen in halb scherzhaftem Ringkampfe maßen, dann empfand es die Mutter und auch Fanny fühlte es klar, wie der geringfügigste Anlaß den alten Kinderstreit in todesgrimmen Haß verwandeln konnte. Keineswegs konnte es hier so werden, wie es sonst wohl Brauch der Landschaft war; nach dem Tode der Eltern konnte Gustav nicht mehr auf dem Hofe bleiben. Zum Knechte, und das war seine Stellung von Rechtswegen, taugte der nicht, der den mindesten Uebergriff des Aelteren mit solcher Entschiedenheit zurückwies, so wenig als Georg der Mann dazu war, sein Erstgeburtrecht nicht zu mißbrauchen." (H 134 f.) Auch Fannys Aufstiegsgeschichte wird über den Bruderkampf mit der Haupthandlung verbunden: „Fanny sah mit einer Art grimmiger Freude das Unheil, das sich im glücklichsten Hause des Dorfes bereitete, ahnte von vornherein trübe Tage und ernsten Bruderzwist." (H 135) Durch ihre Wahl Gustavs hat sie jedoch keine Vorteile im Kampf um den Hof zu gewärtigen. Ihr Aufstiegswunsch wird aus der Misere des Elternhauses hergeleitet: „Und der Stachel der Armut senkte sich tief in ihr Herz mit dem Entschlüsse, ihrer ledig zu werden - um jeden Preis." (H 118) Uber die Abstammungs- und Milieuthematik motiviert der Roman auch die Doppelung zwischen Land- und Stadthandlung - eine kompositorische Schwierigkeit der Epoche, an der auch Anzengruber mit der ersten Fassung des Schandßecks gescheitert war. Denn wie beide sozialen Räume unterschiedlichen Normengefügen und damit auch Erfolgsbedingungen für die Romanfiguren gehorchen, so gelten auch für Gustav und Fanny andere Durchsetzungsbedingungen. Daß Fanny in der amoralischen Stadt Wien reüssieren kann, ist ihrem Judentum zu danken; Georgs Angebote in der Landwirtschaft sind nicht attraktiv, weil die Jüdin wohl Besitz zu schätzen, aber die Normenwelt der Bauern nicht zu verstehen vermag: „Freilich mußte dem heimlosen Sprossen des schweifenden Geschlechtes dies ebenso unfaßlich erscheinen, wie die ganze festgefugte und zwingende Sitte eines Stammes, der seit Jahrhunderten auf der Scholle sitzt und mit ihr verwachsen ist." (H 135 f.)

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Demgemäß muß Gustav, der wohl in der Studentenkorporation mit seinen treudeutschen Tugenden Erfolg hat, doch an Fannys Untreue verzweifelt, in Wien scheitern: „Ein Mensch, der sich an Schlagworten begeistern konnte und dann für sie drein ging, wie ein Stier - ungestüm, gefahrlich durch seine Kraft, aber ungelenk und leicht zu blenden. Er war ein feiner Beobachter, jener späte Gast, von dem Fanny dies gehört hatte." (H 184) Jener späte Gast, ein verkommener Journalist, lehrt Fanny auch das Bewegungsgesetz des Kapitals, das die Wiener Karrieren entscheidet: „,[...] Sie wollen sich doch auch verkaufen? [...] Hier ist Markt, also der richtige Ort; nur zögern Sie nicht zu lange, denn die Ware ist nicht so selten in Wien.'" (H 188) Fannys Erfolg auf diesem Markt wird wohl von Gustav nicht gebilligt („,Dirne!'", H 206), aber von der erlebten Rede Gustavs, die Bilanz über sein Versagen zieht, nicht angezweifelt: „An der Seite Friedrichs v. Eck saß Fanny; ihr Auge schweifte stolz und im Bewußtsein erreichten Strebens leuchtend über das Gewimmel der Fußgänger, und auch über den blassen Mann, der die Hand ingrimm- und schmerzvoll auf die Brust preßte." (H 207) Der Blick Fannys über den ,degenerierten', todgeweihten Aristokraten und die Masse korrespondiert der Szene, in der sie Wien zum ersten Mal betritt: „Eine Menschenwoge umfaßte Fanny; das drängte, stieß und schob. [...] Die Weltstadt war erwacht, und ihr tobendes Leben befing sie schier betäubend." (H 162 f.) Die Rollen sind nun vertauscht. Die Differenz zum Sternsteinhof, in dem das Glücken von Helenes Aufstieg mit ähnlichen Formulierungen konstatiert wird, liegt vor allem in der schismatischen Struktur des Romans, für den die Aufsteigerin in einer anderen Sphäre Erfolg haben kann als in der, die Gustav (der nicht anders als Toni als Werkzeug mißbraucht wird) eigentümlich ist. Dieses Schisma in den Rechts- und Erfolgssphären von Stadt und Land beherrscht bereits die Exposition des Romans: „Einen letzten Hügel erstieg die Landstraße hart vor dem Dorfe; dann senkte sie sich gemach herab in ein tiefes Tal, das sich fast endlos dahinzog. Wohin immer das Auge sah, war Grün; nur die Straße selber zog sich durch das Gelände, schier einer grauen Riesenschlange vergleichbar. Die Häuser zogen sich, als ob sie ihre Annäherung fürchten müßten, scheu auf sich zurück" (H 109). Dennoch ist die bäuerliche Sphäre von der Landstraße (die nach Wien führt) nicht bedroht. Die Straße wird Fanny, der Tochter des Mautpächters und Schrankenwärters, dem „Sprossen des schweifenden Geschlechtes", zugeordnet: „Die einförmig graue Landstraße hatte in ihr immer von neuem das Sehnen nach Wien und seinen Wundern entzündet - bald sollte

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sie die sehen." (H 158) Die beiden Welten von Stadt und Land werden durch die Straße nicht verbunden, sondern getrennt. Die Umbenennung von Fanny in Das Höferecht reflektiert dieses Schisma; das durchgängige Stilmittel der erlebten Rede (im Gegensatz zur kalmierenden Präsenz des auktorialen Erzählers im Sternsteinhof) beläßt den Figuren ihr Eigenrecht und trennt sie zugleich soweit voneinander, daß der Effekt des „Tragischen" - als der Kollision zweier gleichwertiger, aber einander ausschließender Rechtsansprüche - entstehen kann. Gustavs Rechtsanspruch muß demnach in der bäuerlichen Sphäre abgemacht werden, in der das Gesetz der Bodenständigkeit gilt, das auch seinen Charakter bestimmt. Der Weg, der Gustav nun in die Herkunftswelt zurückführt, führt auch in den Autoritätsbereich des Bruders: „der Entschluß war in ihm gereift, heimzukehren und das schwerste Kreuz auf sich zu nehmen: das Joch eines Bruders, den er von frühester Kindheit an gehaßt, mit dem er in allem rivalisiert: siegreich um die Liebe der Eltern und eines Mädchens, für immer unglücklich im Kampfe ums Dasein." (H 206) Das darwinistische Signal offenbart nun einen Widerstreit von individueller Eignung (der „legitime Erbe" wäre aufgrund seiner Eigenschaften Gustav) und bäuerlich-ökonomischer Normsetzimg: Georg ist der „legale Erbe", da der Erbrichter „ab intestato" verstorben ist („Noch am Tage des Leichenbegängnisses waren die Brüder in Streit geraten. Ohne letztwillige Verfügung war der Schulze aus dem Leben geschieden; es bedurfte auch wohl seines Bedünkens keiner solchen. Aber darauf gestützt, weigerte Georg dem Bruder jeden Anteil am Erbe." H 198). Der Erbgang hat die ökonomische Vernunft für sich; vom verstorbenen Vater heißt es: „Er war ein Mann; ihm ziemte es, das Allgemeine im Auge zu halten; er durfte vor allem den Segen des ,Höferechtes' betrachten, jenes uralten Brauches, durch den die Bauern der Landschaft seit undenklichen Zeiten adelig auf ihrem Grunde saßen, wenn in den umliegenden Gegenden jede zweite Generation im Besitze wechselte, so allmählich das ganze Land in Armut und Dienstbarkeit versank und sich auf den Trümmern freier Bauerngemeinden endloser Latifundienbesitz erhob." (H 200) Die Mutter vertritt - wie im Lehnhold - den Diskurs des Herzens. Es stellt sich heraus, daß die Legalität jedoch nicht auf Seiten des Höferechts steht. Georg: ,„Wenn es dir nicht recht ist, geh hin und fordere vor Gericht Erbteilung. Man wird sie dir bewilligen; aber alle Welt wird es auch wissen, welch ein Lump Gustav Lohner ist. Noch ist es keinem eingefallen, Ein dem rütteln zu wollen, was seit ewiger Zeit feststeht, an der Unteilbarkeit unserer Gründe. [...]"' (H

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198 f.) Das Höferecht ist also bloßes Gewohnheitsrecht und durch das „Gericht" revidierbar; der Gang zum Gericht ist aber durch die Dorfgesellschaft ausgeschlossen. Im Unterschied zum Meineidbauem und zum Lehnhold ist das „Gericht" im Höferecht jedoch nicht durch eine innengeleitete Gerechtigkeit aufgehoben, sondern der Erbgang und die Sitte der Väter wird von Gustav akzeptiert. „Warum er erblos sein müsse? Ob er nicht so gut Kind seiner Eltern wäre als Georg? ,Darf nur einer erben, dann darf auch nur einer leben.'" (H 199) Die Rechtshandlung im Höferecht wird dadurch verschärft, daß der Streit um den Hof in der Familie des Dorfschulzen abläuft. Das Duell der Brüder - auf eine Ohrfeige hin wird Georg von Gustav erschlagen - löst den Konflikt, der im Zeichen des „Kampfes ums Dasein" steht; erst dann tritt im Roman die Sphäre der Gerichte auf den Plan: „,Der Erbrichter von Kunzendorf stellt sich dem Gericht.'" (H 227) „Gerechtigkeit" wird am Schluß des Romans übercodiert; zum rechtlichen Begriff tritt noch ein religiös-moralischer, in der „Kain"-Allusion: ,„Wir haben Sünde auf Sünde gehäuft, Mutter! Und du allein warst die Reine, du allein hast gehandelt, wie es Gott begehrt und sein Gesetz.'" (H 225 f.) Erst dadurch wird dem Roman ein Weg ins Moralische geöffnet, der ihn aus der Sphäre der Affekte befreit; der „Kampf ums Dasein" ist abgeschlossen. Mit dem Kain-Motiv werden schließlich die beiden Handlungsstränge wieder zusammengenommen. In der Kollektivsymbolik der Epoche wird Ahasver (David hat Erich Schmidt gegenüber von seinem Fanny-Roman als von der ,ewigen Jüdin' gesprochen139) mit Kain identifiziert1'10; die Fanny-Handlung mündet in die Handlung der feindlichen Brüder. Für die Titeländerung von Fanny zu Höferecht ist noch eine andere Ursache zu veranschlagen. Unter dem Titel „Höferecht" wurde in den 1880er Jahren die bäuerliche Erbfolge diskutiert; durch das Höferecht sollte die liberale Agrargesetzgebung von 1868 revidiert werden. Ein Entwurf „eines Gesetzes, betreffend die Einführung besonderer Erbtheilungsvorschriften für landwirtschaftliche Besitzungen mittlerer Größe" war bereits

139 Erich Schmidt: Vorwort. In: David: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. V-XXIII, S. XIV. 140 Robert Hamerling reklamiert als „kühne Neuerung" für sein Epos „Ahasver in Rom", die Ahasvergestalt „mit dem ersten Menschenkinde, mit dem Erstgebor'nen der Erschaffenen, mit Kain" identifiziert zu haben. Epilog an die Kritiker. (Zur zweiten Auflage.) [1867] In: R. H.: Ahasver in Rom. Eine Dichtung in sechs Gesängen. 18. Aufl. Hamburg 1890, S. 251-279, S.257.

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mit 11. März 1884, ein zweites Mal am 19. Februar 1886 vom konservativen Ackerbauminister Graf Falkenhayn im Abgeordnetenhaus des Reichsrates eingebracht worden; die zweite Lesung des Gesetzes eröffnete im November 1888 eine ungewöhnlich langwierige und heftige Diskussion, die mit der schließlichen Annahme des Gesetzes endete. Motiviert durch „die Wahrnehmung des Sinkens des Wohlstandes im Bauernstande" (Falkenhayn) 141 , fallt der defensive Charakter an dieser Aktion, „diesem schüchternen Schritte"142, auf; es handelte sich lediglich um ein „fakultatives Anerbenrecht" „ab intestato", das individuelle Erbrecht wurde also nicht angetastet; zweitens war das Gesetz lediglich ein Rahmengesetz, das die einzelnen Landtage ermächtigte, gleichlautende Gesetze zu erlassen, eine Empfehlung, der höchst unterschiedlich nachgekommen wurde. Die Bedeutung der Angelegenheit lag eher darin, daß die Agrarfrage überhaupt im Reichsrat verhandelt wurde; dem Entwurf war eine langwierige Befragung der einzelnen Bezirksbehörden vorausgegangen, im Laufe derer sich unter anderem herausgestellt hatte, daß in den Alpenländern das liberale Erbrecht der Freiteilbarkeit gar nicht exekutiert, sondern durch frühe Hofübergabe umgangen wurde. 143 Zudem wurde kaum bestritten, daß es sich bei dem verhandelten Problem um einen Sonderfall handelte: „Die Intestaterbfolge ist [...] sowohl nach dem Ziffernmaterial, als nach den Aussagen der Behörden und der Richter die seltenste Ausnahme bei dem Erbgange des Bauernstandes".144 Den Diskutanten war bewußt, daß mit der Gesetzesmaterie sich also wenig verändern würde. Die „ideologische Subventionierung der Anerben" (Aspetsberger im Anschluß an Adorno145) sollte also ideologisch - rechtlich - vorangetrieben werden. Von ökonomischen Folgen dergestalt weitgehend entlastet, entspann sich in der parlamentarischen Diskussion vielmehr ein Abtausch der ideologischen Positionen. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Position der Deutsch-

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Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrathes in den Jahren 1888 und 1889. X. Session. Bd. 8, 252. bis 292. Sitzung. Wien 1889. 258. Sitzung, 9. 11. 1888 fT. (S. 9505 ff.), S. 9512. 142 Falkenhayn in: Stenographische Protokolle, S. 9514. 143 „Es wird in den Alpenländem - es ist das für einen Minister sehr schwer zu sagen, aber ich muß es doch aussprechen - Gott sei Dank das Gesetz wo möglich umgangen". Falkenhayn in: Stenographische Protokolle, S. 9513. 144 Otto Polak in: Stenographische Protokolle, S. 9518. 145 Aspetsberger: Das literarische Leben der Bauern, S. 324 u. 326.

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nationalen, die für den Entwurf der Konservativen stimmten. Die Konservativen sahen in der „Zerbröckelung dieses Standes, eines der Grundfesten unseres Staatswesens"146 die staatliche und sittliche Ordnung gefährdet, für die Deutschnationalen stand mehr auf dem Spiel: „Ein bäuerliches Gut ist, ich möchte sagen, eine kleine Welt für sich, ein Stück Wirtschaft und nationales Leben und Volksthum im kleinen." 147 Aus dieser Mikrokosmostheorie leitet sich für die Schönerer-Fraktion der Anspruch her, nach eingesessenem Recht („Wir aber sind ein arbeitendes arisches Volk"148) die Agrarfrage zu beurteilen, nicht nach dem römischen Recht, das die „Vertreter der capitalistischen Interessen" bevorzugten. Die Denunziation des römischen Rechts zugunsten eines „germanischen" war bereits eine Denkvoraussetzung des deutschen Nationalliberalismus 149 ; hier wird aber sehr deutlich radikalisiert das Kapital mit dem Großgrundbesitz, dieser wieder mit dem Judentum („Verjudung") identifiziert. 150 (In Wilhelm v. Polenz' Roman Der Büttnerbauer wird dieser Gegensatz romanhaft verarbeitet. Auch Polenz bewegte sich im Umkreis der Berliner „naturalistischen" Literaturrevolte.) Es ist die Seßhaftigkeit des „arischen" Bauern, die den Fortbestand der Nation sichert: „Die Bauernfamiüe ist auch der heilige Herd für die Erhaltung der deutschen, wie auch jeder anderen Volkssprache und der Eigenart und des Volksthumes überhaupt." 151 Die Metonymie von Hof und Volk, die gleichermaßen gegen Liberalismus, Sozialismus und Judentum zu verteidigen seien152, macht die juristische Frage des bäuerlichen Erbrechts anschließbar für den Degenerationsdiskurs. Türks Beispiel für die Degeneration der Bauern bei Überhandnehmen des jüdischen Großgrundbesitzes ist Galizien: „Die Bauern in Galizien schleichen gedrückt ohne Selbstgefühl

146 Falkenhayn in: Stenographische Protokolle, S. 9512. 147 Karl Türk in: Stenographische Protokolle, S. 9525. Die Hauptmotive der Parlamentsrede Türks sind bereits in einer Rede Georg v. Schönerers (auf der 7. Vollversammlung des Deutschnationalen Vereins, 26. 3. 1884) versammelt. Abgedr. in: Unverfälschte Deutsche Worte, 16. 4. 1884, S. 2-6. 148 Karl Türk in: Stenographische Protokolle, S. 9525. 149 Hierzu und zur differenzierten Verarbeitung bei Karl Leberecht Immermann vgl. Hahl: Gesellschaftlicher Konservatismus, S. 83-88. Auch ders.: [Rez. zu] Peter Zimmermann: Der Bauernroman. Antifeudalismus - Konservativismus - Faschismus. Stuttgart 1975. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 2 (1977), S. 255-240. 150 Türk in: Stenographische Protokolle, S. 9530. 151 Türk in: Stenographische Protokolle, S. 9527. 152 Türk in: Stenographische Protokolle, S. 9529.

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und Bewußtsein einher, in ihren Knochen und in ihrem Marke stecken zwei Dinge: Die Auswucherung durch das Judenthum und die Verderbnis durch den überhandgenommenen Branntweingenuß. [...] Das galizische Volk ist thatsächlich von Apathie, von einer Art Stumpfsinn und willenloser Resignation befallen." 153 Sind damit die Folgen (wenn auch in dieser Argumentation mittelbar) der Ent-Erbung der „arischen" Bauern degenerative Erscheinungen, zieht wenig später Alfred Loth {Vor Sonnenaufgang) - mit ähnlichen Fragen konfrontiert - die Konsequenzen, indem er somatisches und juristisches Erbe zur Deckung bringt: ,,[M]eine Vorfahren sind alle gesunde, kernige und, wie ich weiß, äußerst mäßige Menschen gewesen. Jede Bewegung, die ich mache, jede Strapaze, die ich überstehe, jeder Atemzug gleichsam führt mir zu Gemüt, was ich ihnen verdanke [...] ich bin absolut fest entschlossen, die Erbschaß, die ich gemacht habe, ganz, ungeschmälert auf meine Nachkommen zu bringen."154 Der Exsozialist und „Sozialdarwinist" Ludwig Woltmann stellt 1903 in seiner Politischen Anthropologie fest: „Man kann sagen, daß im großen und ganzen eine historische Parallelität zwischen physiologischer und rechtlicher Vererbung besteht." 155 In Davids Höferecht gäbe es auf einer pragmatischen Ebene aus der Sicht des Romans zwei Lösungen, die man die „humanistisch-liberale" und die „ökonomisch-liberale" nennen könnte. Eine humanistisch-liberale Lösung bringt die Mutter in ihren Selbstvorwürfen ins Spiel: „Wer war denn Schuld daran, wenn Georg so wurde, wie er war? Warum war sie nicht den ersten Regungen seines Egoismus und seiner Roheit mit Entschiedenheit entgegengetreten, statt zu warten, bis sie, gewaltig überwuchernd, ihm alles entfremdeten? Sie hatte unmütterlich gehandelt; statt ihn erziehend zu bessern zu suchen, hatte sie sich von seinen Fehlern abstoßen lassen und ihr ganzes Herz dem anderen zugewendet. [...] Aber auch gegen Gustav hatte sie gefehlt [...]. Aber Schwäche einer Mutter ist Sünde, und zwar die allerärgste. Wer fragt nach den Motiven, wenn das Resultat so erschrecklich gen Himmel schreit?" (H 219 f.)

155 Türk in: Stenographische Protokolle, S. 9531. 154 Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke. Centenarausgabe. Hgg. v. H.-E. Hass. Bd. 1. Frankfurt/M., Berlin 1966, S. 35. 155 Ludwig Woltmann: Politische Anthropologie. Eine Untersuchung über den Einfluss der Descendenztheorie auf die Lehre von der politischen Entwicklung der Völker. Eisenach, Leipzig 1903, S. 184 (i. O. teilw. gesperrt).

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Wohl handelt es sich wieder um perspektivierte Rede; aber durch die Akzentuierung am Ende des Romans erhält die Passage die Autorität eines Resümees. Es geht hier also um jene Rolle der Erziehung, die David im Zola-Essay betont. Im Roman Das Blut wird durch die fehlschlagende, überstrenge Erziehung das „Blut" der Mutter in der Tochter wieder rege: ,,[D]as Blut Therese Wagners regte sich in ihr, ein Wildbach, den man nicht abgeleitet noch gebändigt, nur gestaut und erzürnt hatte. Nun hob er sich in seinen Dämmen und grollte übermächtig nach einem Ausweg". 156 Eine zweite Lösung, die ökonomisch-liberale, wäre die Suspendierung des Höferechts und läge damit auf der konzeptuellen Linie des Lehnhold. Dennoch wird im Roman die ökonomische Sinnhaftigkeit des individuellen Unglücks des weichenden Erben nicht dementiert. Dazu ist die liberale Ökonomie durch die Verknüpfung von „Wien" mit „Markt", der junge Frauen zu Mätressen degradiere, desavouiert; hierher gehört Fannys Einverständnis mit ihrer Situation. In der Opposition Seßhaft-Nichtseßhaft ist das „schweifende Geschlecht" deutlich unterprivilegiert. Somit übernimmt David - aus der Sicht der Diskussion um das Höferecht - die Argumentation der Deutschnationalen. Die Argumentation, das liberale Kapital trenne den Bauern von der Scholle und sei mit „jüdisch" identifizierbar, das in der Unheilsgeschichte des Themas im Faschismus noch Karriere machen wird, belastet die Fanny-Handlung. Sie ist zugleich Teil des Degenerationsdiskurses. In Dos Blut konstatiert die Erzählerstimme: „Denn nichts ist schwerer zu erschüttern, als ein Bauerngewese, das gesund und makellos auf dem Erbe der Ahnen ruht; nichts leichter und unheilbarer, als eines, dessen Wurzeln angefault sind. Die Erde selbst bebt unter solch einem; wer möchte da entkommen und wohin sich flüchten?" 157 David selbst läßt sich 1890 taufen; anläßlich Theodor Herzls Tod bezieht er zum Zionismus die typische assimilatorische Position, die Zukunft der Bewegung liege in der Beschränkung auf die „Evakuierung des europäischen Ostens"; den ostjüdischen Massen müsse „irgendwo ein Raum geschaffen werden, wo sie seßhaft werden", „damit ihre stets erneuten Wanderungen und Austreibungen nicht immer wieder den Unwillen breiter Volksmassen gegen ihre Brüder wachrufen, die im Westen heimisch geworden und zu einer höheren und freieren Gesittung gediehen sind." 158 156 David: Gesammelte Werke 2, S. 517. 1 5 7 David: Gesammelte Werke 2, S. 344. 158 David: Theodor Herzl (1904). In: David: Essays, S. 159-168, S. 167.

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Die politische Biographie Victor Adlers (der möglicherweise in Davids Wien-Roman Am Wege sterben in der Figur des jüdischen Armenarztes Siebenschein porträtiert ist), der sich nach der Einfügung des „Judenpunktes" in das von ihm selbst mitverfaßte Linzer Programm von Schönerer trennte, legte diesem und seinem Kreis eine ähnliche Argumentation für den Sozialismus nahe: Da der Kapitalismus durch die Depossedierung des Proletariats die Nationalitäten zur Wanderung und damit zur Trennung von der Scholle verdamme, sei er zu bekämpfen. 159 Die Opposition von Seßhaftigkeit und Heimatlosigkeit, wie sie von den Antisemiten mobilisiert wurde, setzt sich auch für Adler selbst in das psychobiographische Problem des „Erben" um. Sein reiches väterliches Erbe investiert er ä fonds perdu in die Arbeiter-Zeitung und wird zugleich von lebenslanger Degenerationsfurcht belastet 160 ; die selbstgewählte Rolle als „Arzt der Bewegung" 1 6 1 und seine Antialkoholkampagnen sind sein individueller Ausweg. Auch Zola ließ sich von einem Spezialisten für Degeneration untersuchen. 162 Davids forcierte Assimilation an das „Deutschtum" und seine Thematisierung der jüdischen Thematik in der Opposition „seßhaft"-„schweifend" läßt hier vergessen, daß die Parteinahme für das „Deutsche" zugleich eine Parteinahme im Nationalitätenkonflikt gegen die tschechische Bevölkerung Mährens war. Wenn die Deutschnationalen vom „gesunden Bauernstand" als Garantie für das „Volksthum" sprechen, geschieht das vor dem Hintergrund der Nationalitätenstatistik und dem Streit um den „nationalen Besitzstand". Sicherung und Weitergabe des bäuerlichen Eigentums, wie sie 159 Hans Mommsen: Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat. Bd. 1: Das Ringen um die supranationale Integration der zisleithanischen Arbeiterbewegung (1867-1907). Wien 1963, S. 117 f. 160 Rudolf G. Ardelt: Friedrich Adler. Probleme einer Persönlichkeitsentwicklung um die Jahrhundertwende. Wien 1984. 161 Dazu Wolfgang Maderthaner und Siegfried Mattl: Victor Adler (1852-1918). In: Klassiker des Sozialismus. Hgg. v. W. Euchner. 2 Bde. München 1991, Bd. 1, S. 218-232. 162 Zola „even permitted himself to be examined by a specialist in degeneration". Stephen Brush: The Temperature of History. Phases of Science and Culture in the 19th Century. New York 1978, S. 105. Arthur MacDonald: Emile Zola, A Psycho-Physical Study. In: Open Court 12 (1898), S. 467-494. Es ist hierbei auffällig, daß die „harten" Theorien sehr häufig aus der Defensive heraus entwickelt werden. Darwin, selbst einer inzestuösen Familie entstammend, hatte im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Vererbung Bedenken bei der Wahl seiner Gattin; Alfred Rüssel Wallace hatte die entscheidende Intuition vom „Kampf ums Dasein" und der Verknüpfung von Evolution und Malthusianismus während eines Malariaanfalls auf den Molukken.

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sich bei David als Tragödie abspielt, diente der Befestigung der „Sprachgrenze" und wurde von den Nationalen zu einem Hauptschauplatz des nationalen Kampfes hochstilisiert. Die Mobilisierung großer, vor allem tschechischer Bevölkerungsteile durch die Industrialisierung Böhmens und Mährens schien diese „Grenze" zu gefährden; sie wird bei David durch die Ortlosigkeit der Jüdin vertreten. 163 Auch die Diskussion u m den „nationalen Besitzstand" wurde in darwinistischer Terminologie geführt. Gegenüber der tschechischen erreichte die deutsche Geburtenrate nur den halben Wert, was von Gesellschaftsbiologen und Sozialstatistikern als Alarmzeichen gewertet wurde. Der deutschnationale Sozialdemokrat Ludo Moritz Hartm a n n hingegen hielt unter Berufung auf österreichische Botaniker die Sprachgrenze für eine natürliche, somit die Nationalität für eine Anpassungserscheinung. 164 In Ferdinand v. Saars Novelle Die Troglodytin (1887) wird die mährische Industrialisierung zur Ursache von Degeneration erklärt: „Die zahlreichen und ausgebreiteten herrschaftlichen Industrien hatten nämlich eine Arbeiterbevölkerung, gewissermaßen ein ländliches Proletariat geschaffen," erklärt der Erzähler, der Forstmeister Pernett, „das die Gegend in weitem Umkreise bewohnte und von der Hand in den M u n d lebte; bäuerliche Ansassen gab es nur wenige." 165 Als Förster mit der Hegung der Natur befaßt, wird Pernett beinahe zum Opfer der erotischen Nachstellungen der Maruschka Kratochwil, selbst „Natur" auf der untersten Stufe der sozialen Leiter des Dorfes und in der topographisch-symbolischen Ordnung der Novelle an der äußersten Peripherie beheimatet, in einem Verschlag über einer feuchten Erdgrube („Troglodyten" 166 ). Das Lumpenproletariat ist in dieser simplen Ordnung nicht d e m Dorf und nicht d e m Feld zugeordnet, sondern dem Wald. Die Troglodytin ist eine Novelle über die Degeneration; die degenerierten Kratochwils sind dem Alkohol verfallen u n d „arbeits165 Zur Nationalitätenproblematik bei David auch Karl-Markus Gauß: Jakob Julius David oder Er starb am Wege. In: K.-M. G.: Tinte ist bitter. Literarische Porträts aus Barbaropa. 2. Aull. Klagenfurt, Salzburg 1992, S. 149-159. 164 L. M. Hartiiiann: Die Nation als politischer Faktor. Referat am Zweiten Deutschen Soziologentag 1912. Wieder in: Aufklärerund Organisator. Der Wissenschaftler, Volksbildner und Politiker L. M. H. Hgg. v. W. Filla, M. Judy u. U. Knittler-Lux. Wien 1992, S. 135-152, hier S. 40. 165 Saar: Die Troglodytin. In: F. v. S.: Sämtliche Werke in 12 Bdn. Mit einer Biogr. d. Dichters v. A. Bettelheim hgg. v. J. Minor. Leipzig [1908], Bd. 9, S. 117-160, S. 122. 166 Saar: Die Troglodytin, S. 125.

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scheu": „Es sind nun einmal degenerierende Menschen," sagt unwidersprochen der Adjunkt, „denen die Arbeitsscheu im Blute steckt. [...] Das scheint, wie gesagt, auf rein physischen Gesetzen zu beruhen, die selbst dem äußeren Zwange spotten." 167 Die Troglodytin rekurriert in Personenregie und symbolischer Topographie auf eine Nebenhandlung in Emile Zolas Bauernroman La Terre; Olympe („la Trouille"), die hypersexuelle Tochter des verwahrlosten Hyacinthe Fouan („Jésus-Christ"), dürfte das Vorbild fur Maruschka abgegeben haben. 168 Zu den Entarteten der Novelle gehört auch noch der schwachsinnige Sohn des Bürgermeisters, mit dem sich Maruschka abgibt, als sie der Förster zurückweist. Daß „Degeneration" sich nicht auf die Unterschichten beschränkt, macht für Saar das Faszinosum dieses Komplexes aus : „Ruhlos wandeln sie auf Erden, / Schon als Embryos belastet", so Saar in dem späten Gedicht Die Entarteten, „Und in Purpur und in Lumpen / Tragen ihres Daseins Fluch sie." 1 6 9 Hingegen ist in der Troglodytin das gemeinsame Merkmal der Entarteten, seien sie Abkömmlinge von Bürgermeistern oder von Lumpenproletariern: daß sie Tschechen sind. Der Bürgermeister ist „das Haupt der slawischen Partei", „die in ihrer natürlichen Mehrzahl nach und nach eine gewisse Machtstellung erlangt hatte." Maruschka wird vom Adjunkten „trotz ihrer Verwahrlosung, ihrer breiten Backenknochen und ihrer etwas platten Nase" als „eine Schönheit, eine echt slawische Schönheit" beschrieben. 170 Bei Saar wird die Olympe-Handlung in den Bereich des Tragischen überführt; Maruschkas Lebensgang zwischen Sexualität, Zuchthaus und Arbeitsanstalt schillert zwischen Milieu- und physiologischer Determinierung. Maruschka muß „echter Leidenschaft" fähig sein, damit sie auf den („deutschen") Förster eine von diesem nur mühsam bezähmte Attraktion überhaupt erst ausüben kann und damit sie, zweitens, eine Art echten Rechtsanspruch auf diesen erheben kann. Dadurch wird aus der Kette der Katastrophen, die aus dieser Abweisung entsteht, mehr als ein pathologi167 Saar: Die Troglodytin, S. 140. 168 Zur Datierung: Saar berichtete Bettelheim, die Novelle sei 1887 erschienen, während er Stefan Milow gegenüber als Entstehungszeit 1887/88 angab (nach Minors Vorwort zur „Troglodytin", S. 119); im September 1887 brachte die Wiener Presse die ersten Rezensionen von „La Terre". „La Terre" war ab 29. 5. 1887 im „Gil Blas" in Fortsetzungen erschienen. 169 Saar: Sämtliche Werke 2, S. 177. 170 Saar: Die Troglodytin, S. 128 u. 143.

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scher Fall. Die Novelle nimmt dafür die darwinistische Urszene der sexuellen Zuchtwahl durch die Frau in Anspruch und nobilitiert sie durch Anleihen an die Motivwelt des Realismus (der Förster beobachtet Maruschka am Wasser, die Szene zitiert Kellers Grünen Heinrich). Damit ist die pathologische („entartete") Frau Platzhalterin für ein darwinistisches Szenario geworden; ihre Pathologie bewahrt den Förster vor dem Vollzug der weiblichen Zuchtwahl, er kann „ein schönes, sanftes Mädchen, die Tochter eines benachbarten Försters" zur Gattin nehmen. Maruschka vertritt demnach zugleich die Normalität der Natur und ihren besonderen Fall als „unerhörte Begebenheit", wie sie die Novellentheorie fordert, indem sie in dreifacher Hinsicht marginalisiert wird: als „Entartete", als Angehörige des Lumpenproletariats und als Tschechin. Diese Marginalisierung erlaubt das erotische Spiel (Maruschka wird am Ende zur Brandstifterin), und sie erlaubt, den Widerstand des Försters in den gängigen kulturellen Uberformungen der Epoche sich artikulieren zu lassen. Diese Marginalisierung macht Maruschka zur beweglichen Figur171, wie Davids Fanny. In den fachjuristischen Diskurs dürfte der Doppelsinn von „Vererbung" als einem juristischen und einem physiologischen Phänomen erst spät, vermutlich überhaupt erst im Nationalsozialismus (der als erste juristische Reform signifikanterweise das Erbrecht veränderte 172 ), eingedrungen sein. Noch 1903 bedauert Woltmann, die Rechtsreformen „im Sinne naturwissenschaftlicher und biologischer Gesichtspunkte" zählten „unter den Juristen selbst nur wenige Anhänger."173 Viel eher ging der Synthesewunsch von den Biologen und den literarischen Autoren aus174; denn „Vererbung" ist in der Naturwissenschaft eine 171 Nach Lotman: Struktur literarischer Texte, S. 338. 172 Vgl. Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus. Ausgew. Quellen zu den wichtigsten Gesetzen und Projekten aus den Ministerialakten. Eingel. u. hgg. v. W. Schubert. Paderborn u. a. 1993, Einleitung. Es ist für die Dialektik der Vererbungsforschung bemerkenswert, daß sich die erste rassistisch orientierte Gesetzgebung - die Einwanderungsgesetze der Vereinigten Staaten - auf die Ergebnisse der avanciertesten Forschergruppen der Genetik berufen konnte. 173 Woltmann: Politische Anthropologie, S. 244. Woltmann nennt als Ausnahme A. Bozi: Die natürlichen Grundlagen des Strafrechts (1901) und einige kleinere Schriften. 174 Der Wiener Historiker Ottokar Lorenz lobt de Lapouges gesellschaftswissenschaftliche Arbeiten und dessen Versuch, „das Erbrecht biologisch zu erklären", als Wegmarken zu

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juristisch-ökonomische Metapher. Wenn im Bauernroman, soweit er den „Schollenkomplex" (Peter Zimmermann) aktualisiert, die Beziehung von „Blut" und „Boden" „von einer juristischen zu einer natürlichen Bindung umstilisiert wird" 175 , bezeichnet diese Beziehung ja auch den Prozeß der Metaphernbildung in der Biologie. Erst durch den Darwinismus werden biologische „Gesetze" schlagwortfahig: vom „Gesetz der Entwicklung", vom „Gesetz vom Kampf ums Dasein" ist die Rede. Nicht weniger aber auch vom „Gesetz der Vererbung" bzw. den „Vererbungsgesetzen", die die prekärste Angelegenheit bilden, nicht nur, weil nach allgemeiner Übereinkunft die „Vererbungsgesetze" erst mit Mendel (bzw. seiner Wiederentdeckung) das Stadium der Spekulation verlassen, sondern weil gerade in diesem Bereich deshalb die gesetzgeberische Tätigkeit der Naturwissenschaftler besonders rege war. Darwin ist - im Gegensatz zu Francis Galton (Typical laws ofheredity, 1877) - mit dem Gesetzesbegriff vorsichtig umgegangen. Im fünften Kapitel der Origin ofSpecies, das „Laws of Variation" überschrieben ist, werden wohl allgemeine Regeln angegeben, im „Summary" bekennt der Autor aber, ,,[o]ur ignorance of the laws of Variation is profound." 1 7 6 Die „Gesetze" werden im Text selbst als „propositions" 177 , „expression" 178 adressiert, der nomothetische Zug abgeschwächt: „I suspect,

seinem eigenen Projekt einer Generationenhistorik: Es „dürfte eine biologische Erörterung über Fragen des Rechts oder der Politik leicht den Eindruck eines bloß geistreichen Spiels machen, wenn dabei nicht der thatsächliche Vererbungsproceß in den Generationen zur Anschauung gebracht wird." Lorenz: Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben kritisch erörtert. 2. Tl.: Leopold von Ranke. Die Generationenlehre und der Geschichtsunterricht. Berlin 1891, S. 268 f. Vollends dann Lorenz: Lehrbuch der gesammten wissenschaftlichen Genealogie. Stammbaum und Ahnentafel in ihrer geschichtlichen, sociologischen und naturwissenschaftlichen Bedeutung. Berlin 1898. Unter dem Eindruck des Weltkriegs kritisiert der Hallenser Zoologe V. Haecker 1917 Erb- und Namensrecht aus biologischer Perspektive, unter Berufung aufWeismann und Lorenz; Erbgut („Erbmasse") würde von beiden Geschlechtern gleichmäßig übertragen (V. H.: Die Erblichkeit im Maiinesstamm und der vaterrechtliche Familienbegriff. Jena 1917). 175 Peter Zimmermann: Der Bauernroman. Antifeudalismus - Konservativismus - Faschismus. Stuttgart 1975, S. 250, Anm. 247. 176 Charles Darwin: The Origin of Species by Means of Natural Selection or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. Ed. with an introduction by J. W. Burrow. Harmondsworth 1985, S. 202. 177 Darwin: The Origin ofSpecies, S. 195. 178 Darwin: The Origin ofSpecies, S. 182.

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also, that some of the cases [...] may be merged under a more general principle"179, ,,[i]t seems to be a rule".180 Auch Haeckel bekennt in der Generellen Morphologie (1866), ,,[w]enn wir trotzdem hier den Versuch machen, die wichtigsten Gesetze der Vererbung und der Anpassung vorläufig zu formuliren, so wollen wir damit nur eine neue Anregung zur weiteren Gesetzes-Erforschung, keineswegs aber eine vollständige Reihe von feststehenden Gesetzen geben." 181 Die Einschränkung, die Forschung habe eigentlich noch gar nicht recht begonnen, hindert Haeckel nicht, neun „Gesetze der Vererbung" zu erlassen. In der Folgezeit (ungeachtet, daß Haeckels „Gesetze" sich entweder als trivial oder falsch erweisen) setzt sich - mit dem Topos, man wüßte noch zuwenig über den Gegenstand - die (natürlich nicht auf Haeckel beschränkte) Rede von einer Gesetzmäßigkeit der Vererbung durch, in der Form von „Vererbungsgesetz" oder, signifikanter, der „Macht der Vererbung". Diese Legislation in unbekanntem Gebiet hat einen angebbaren Sinn. Haeckel, der der physiologisch-mechanistischen Gruppe der Johannes-Müller-SchüIer entstammt (Mechanisteneid), unternimmt in der Generellen Morphologie die vollständige Neustrukturierung der Biologie, deren Architektonik dem Vorbild der Physik (deren „Gesetze" bislang einzig Anspruch auf Naturgesetzlichkeit erheben konnten) genügen können soll; insofern steht die Rede vom „Gesetz" im Etablierungskonflikt als Wissenschaft.182 Je unsicherer aber das Terrain, desto schneller zeigt sich die Metaphorizität und Problematik der Terminologie; bei Virchow, bei dem die Zelle zum Bild eines organizistisch gedachten Staatswesens wird 185 (analog der Metonymik reduktiver Sozialmodelle, wie sie im Verhältnis Hof - Staat Bauernroman und Degenerationsdiskurs entwerfen), findet sich auch die „homonyme Verwendung des Wortes ,Gesetz'" 184 als Naturgesetz und Gesetz 179 Darwin: The Origin of Species, S. 186. 180 Darwin: The Origin of Species, S. 187. 181 Haeckel: Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie. 2 Bde., Berlin 1866, Bd. 2, S. 177. 182 Vgl. auch Ernst Mayr: T h e Growth of Biological Thought. Diversity, Evolution and Inheritance. Cambridge, London 1982, S. 37-43. 183 Dazu auch Pietro Corsi u. Paul J. Weindling: Darwinism in Germany, France and Italy. In: The Darwinian Heritage. Ed. by D. Kohn. Princeton, New Jersey, S. 683-729. 184 Jutta Kolkenbrock-Netz: Wissenschaft als nationaler Mythos. Anmerkungen zur HaeckelVirchow-Kontroverse auf der 50. Jahresversammlung deutscher Naturforscher und Arzte

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des Staates: ein Metaphorisierungsprozeß, in der Zytologie hier erkenntnisleitend und -produktiv, der riickübertragen aber nun mit der Autorität der Naturwissenschaft das investierte Sozialmodell mit Rendite ausstattet.185 Weniger vorsichtig als Virchow, hat Haeckel gleich den ganzen „Fortschritt" mit Naturgesetzlichkeit ausgestattet: „Denn dieser Fortschritt ist ein Naturgesetz, welches keine menschliche Gewalt, weder Tyrannen-Waffen noch Priester-Flüche, jemals dauernd zu unterdrücken vermögen." 1 8 6 In dieser nationalliberalen Formulierung der Reichsfeinde der Wissenschaft wird zugleich ein Definitionsansprach angemeldet, der mit nomothetischer Kraft Politik unter sich zu subsumieren gedenkt. Die gleichsam gefahrlose Tätigkeit, „Gesetze" im Reich der Natur zu erlassen, diente auch dazu, eine ungeheure Fülle von Erscheinungen, indem sie wahrheitsföhig wurden, dem Zufall zu entreißen und zu bannen. Wenn die Natur, Berufungsinstanz mindestens seit der Aufklärung, selbst dynamisch wird, ist ihre Bannung durch Gesetze die einleuchtende Folge. Zweifellos sind „Fortschritt" und „Dekadenz" aufeinander bezogene Phänomene. 1 8 7 In der Rezeptionsgeschichte des Sternsteinhofs zersetzen sich gleichsam immer stärker die Synthesen, die in Anzengrubers immer noch „hellem" Darwinismus geborgen waren. Anzengrubers Fortschrittsskepsis, wie sie in Jaggemaut zum Ausdruck kommt 188 , ist immer noch gegengelagert in „hellen" Varianten des Syndroms: „Welche sozialen Umwälzungen werden die Ideen Darwins, verfolgt und geläutert, heranzwingen? Ein Blick

in München (1877). In: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität. Hgg. v. J . Link u. W. Wülfing. Stuttgart 1991, S. 212-236, S. 226 185 Vgl. die frühe Kritik Engels' an den Darwinisten: Diese übertragen die zuvor in der Natur erkannten Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft „aus der organischen Natur wieder in die Geschichte", um dort „ihre Gültigkeit als ewige Gesetze der menschlichen Gesellschaft" zu beweisen. An Lavrov, 12.-17. 11. 1875. Marx u. Engels: Werke, Bd. 35, S. 169 ff.; ähnlich in den „Notizen und Fragmenten zur Dialektik der Natur", Bd. 20, S. 565. 186

Ernst Haeckel: Ueber die Entwickelungstheorie Darwin's. Vortrag, gehalten am 19. September 1863 in der ersten allgemeinen Sitzung der 38. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Stettin. In: E. H.: Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre. 2 Bde. 2., verm. Aufl. Bonn 1902, Bd. 1, S. 1-34, S. 30.

187 Vgl. die Beiträge in: Fortschrittsglaube und Dekadenzbewußtsein im Europa des 19. Jahrhunderts: Literatur - Kunst - Kulturgeschichte. Hgg. v. W. Drost. Heidelberg 1986. 188

Vgl. Rossbacher: Literatur und Liberalismus, S. 234-237.

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ist uns in eine verheißungsreiche Zukunft gestattet". 189 Wird aber dieser ,Optimismus' nicht mehr unbefragt geteilt, kann die Formel von der „Macht der Vererbung" von Büchners fortschrittsgewissem Optimismus in eine Topik der Gefahren umschlagen, wie sie das Vererbungsmotiv im „Naturalismus" entfaltete. Schon am Beginn der neueren Vererbungsforschung steht bei Benedict Augustin Morel mit dem „Gesetz der doppelten Fertilisation" (beide Eltern übertragen Erbgut, damit auch negatives Potential) eine Verdopplung der Gefahren, im „Gesetz der Progressivität" (in den Folgegenerationen addiert sich die erbliche Belastung) besteht die Aussicht auf historische Dimensionen individueller Verfehlungen. Den „Gesetzen" der Vererbung sind fortan die Strafsanktionen beigegeben. 190 Unter dem Einfluß Anzengrubers wie unter dem des Münchner Naturalismus Michael Georg Conrads steht Franz Kranewitters Tiroler Bauerndrama Um Haus und Hof Tragödie in vier Aufzügen (Uraufführung Innsbruck 1895, Erstdruck 1899). Der Motivkreis von Hofübergabe und Erbe verengt sich zunehmend. Um Haus und Hof kann geradezu als ein Anzengruber-Pastiche betrachtet werden; der Konnex zum Sternsteinhof wurde bereits beschrieben.191 Lena Lotter will vom Armenhaus auf den erhöht gelegenen Klotzenhof und benützt dazu den zweitgeborenen schwachen Sohn Hies des Bauern Klotz; ihr Bruder, Alkoholiker und Zuchthäusler, will an dem Unrecht, das die beiden begehen (Klotz verweigert die Hofübergabe und wird dazu von Hies auf Betreiben Lenas mit Gewalt genötigt), als Erpresser teilhaben. Nach der Übergabe wird der Bauer von Lena vertrieben; als der Erstgeborene Franz überraschend zurückkehrt und sein Recht einfordert, wird er von Hies, von Lena angestiftet, erschlagen. Als der Pfarrer zwischen den Bauersleuten und dem alten Klotz Frieden stiften will, bricht Hies zusammen und gesteht; um dem Zuchthaus zu entgehen, stürzt sich Lena in einen Brunnen.

189 Anzengruber S W XV/5, 23 f. 190 Weingart, Kroll u. Bayertz: Rasse, Blut und Gene, S. 47-50. 191 Vgl. Eugen Thurnher: Einführung. In: Franz Kranewitter: Fall und Ereignis. Ausgewählte Dramen. Innsbruck 1980, S. 7-17, S. 9 f. Bes. auch Johann Holzner: Franz Kranewitter (1860-1938). Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. Innsbruck 1985, S. 57-62. Die Beurteilung Anzengrubers, er intendiere „die Beruhigung des Lesers" (S. 61), ist jedoch sicher nicht zu halten.

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Die Ausgangskonstellation gleicht der im Sternsteinhof bis ins Detail: Lena (!) ist im Dorf als Armenhäuslerin stigmatisiert, ihr Aufstiegswille ist naturhaft-unhinterfragbar: „Es ist eppes in mier, des schreit au' und bamt si' und steigt mier siede'd hoaß ins G'sicht. So wahr i leb', wenn mi sitz'n laß'st, wenn i nit Bäurin wear auf'n Klotz'hof, i bring' di um und mi." (1,7; 454192) Als Lena und Hies wie Helene und Toni den Vater zur Ubergabe bewegen wollen, kommt es zu einer großen Abrechnung, in der zwei starke Charaktere aufeinandertreffen. Aber auch andere Anzengruber-Motive sind präsent. Der verlorene Sohn Franz (!) kehrt überraschend aus der Stadt auf den Hof zurück und will ihn übernehmen (473); wie Vroni ist Franz durch eine Unrechtstat enterbt und will die Gerichte anrufen (Meineidbauer). Der Bauer Zaggier, der zu früh übergeben hat, wird von seiner leiblichen Tochter gedemütigt und von seiner Ziehtochter Marie aufgenommen (Schandfleck). Neu ist die Figur des Alkoholikers (ein Motiv, das bei Anzengruber keine wesentliche Rolle spielt) Lotter, dem Anzengruber-Wahrheiten in den Mund gelegt werden: Er entlarvt das Christentum der unrechten Bauern als Heuchelei (478); als er glaubt, Lena mit dem Mord erpressen zu können, erhält er Gelegenheit zu einer Anzengruberschen Scheltrede: „Nur immer brav, die Wollust, di zu meine Füeß' z'hab'n, wie an dertret'nen Wurm, der si' im Stab windet, i gab sie nit um tausend Guld'n. Wie oft hast mi' beschimpft, voll Hoachmuet abig'schaugt auf mi." (489), die aus dem Meineidbauer stammt, wo Vroni den alten Ferner abfertigt, als sie ihn in ihrer Gewalt weiß (II, 4). Neben der Lotter-Gestalt ist auch das Kain-Motiv hinzugekommen (485). Die Schuldhandlung ist gegenüber den Ubernahmen aus Anzengruber neu montiert: Betrifft das erste Verbrechen ein juristisches Schriftstück und ist es nur insoweit verbrecherisch, als dieses unter Zwang zustande kommt, muß hier ein Mord begangen werden, um es zu verbergen. Trachtet der Kreuzweghofbauer im Meineidbauern seinem Sohn nach dem Leben, ist es in Um Haus und Hofder Bruder. Dennoch ist bei Anzengruber die Schuldfrage, bis sie im Sternsteinhofnaturalisiert eskamotiert ist, für gewöhnlich eindeutig; Kranewitters Figuren hingegen stehen in einem universalen Schuldzusammenhang, der jeweils durch die Demütigungen durch andere bzw. im Fall des Hies durch Schwäche und Anstiftung durch Lena motiviert ist. Jede Figur erhält eine 192 In: Franz Kranewitter: Gesammelte Werke. Hgg. v. d. Adolf-Pichier-Gemeinde in Innsbruck. Mit einem Vorw. v. H. Lederer. Graz u. a. 1933, S. 443-494.

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Verteidigungs- und Scheltrede, in der sie die Notwendigkeit und gewissermaßen die Rechtfertigung ihrer Handlungen legitimieren darf: Lotter stahl aus Not und wird im Zuchthaus traumatisiert (446); Lena erleidet als Arme mannigfache Demütigungen durch die Gemeinde (ihre Mutter mußte Nachstellungen durch den Ortsvorstand erfahren) und will sie durch ehrliche Arbeit auf dem Hof kompensieren (463), aber auch Franz hat gedarbt (480); Klotz hat die Ratio auf seiner Seite, die ihm das Schicksal Zagglers erspart (468). Der durch ihre Universalisierung umsichtig relativierten Schuld steht aber auf der anderen Seite ein Verbrechensüberhang gegenüber, der sich an die Figur der Lena kettet. Ihr wird die milde Erzählerregie des Sternsteinhofs versagt, die die möglichen Opfer eines Verbrechens durch Schwindsucht, Kindbett und Syphilis beiseiteräumt; die Figur der Lena hat auch die Zeitgenossen am stärksten verstört. (Man fürchtete auch für den Fremdenverkehr. 195 ) Es ist nicht der Alkoholiker Lotter, von dem die Verbrechensserie ausgeht (in einer wilden Prosaskizze Schnaps hat Kranewitter eine alkoholinduzierte Familientragödie geschildert 194 ), sondern dessen nüchterne Schwester Lena bzw. ihr „Wille"; der Zentralkonflikt ist die im Vergleich zum Verhältnis Toni-Helene (Sternsteinhof) radikalisierte Knechtung des Hies durch Lena, die als „Starke" den Willen des „Schwachen" dominiert: „Gewalt" {Hies: [...] Was soll i anfangen, was soll i mach'n. I siech koan' Mitt'I. Lena: Aber i siech oan's, des über alles hinhilft, des z'letzt no an ied'n überbleibt, die G'walt!" [458]), für die Lena plädiert, entstammt ihrem eigenen Charakter und ihrer Macht über den schwachen Mann: „Hies: [...] Schaug mi nit so an. Weib, du bist fürchterlich. Du hast a G'walt." (483) Die „Tat", die im Sternsteinhof erwogen wird, ist für Lena adäquate Problemlösung: „Es gibt nur oans, die Tat." (481), und diese „Tat" ist „G'walt". Durch den Wechsel in die Hochsprache („Du bist fürchterlich", „die Tat"), die sonst - partiell bei Franz, vollständig beim Pfarrer 195 die Distanz zur naturalistischen Bauernwelt anzeigt, wird ein Genrewechsel angedeutet; er soll das Bauerndrama in die Höhenluft der Tragödie erheben (Lena nennt Hies hier einen „Feigling" [481], sonst einen „Tapper"

193 „[...] wenn du jetzt, wie dir ein ,Fremdenverkehrler' vorwirft, in deinem Drama ,Um Haus und Hof 1 eine Tirolerin zu einer Art ,Lady Macbeth' erniedrigst?" Kranewitter: Aus meinem Leben [1932], In: F. K.: Gesammelte Werke S. 11-45, S. 37. 194 Kranewitter: Schnaps. Eine ländliche Tragödie. [Innsbrucker Nachrichten, 13. 3. 1896] In: Holzner: Kranewitter, S. 65-67. 195 Vgl. Holzner: Kranewitter, S. 59 f.

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[459]), wie es die Gattungsbezeichnung des Dramas erwarten läßt. Das aus dem o/ubernommene Motiv der ländlichen Aufsteigerin tendiert unter verschärften „naturalistischen" Bedingungen zur Gewalt. Der Vorsprung an Emanzipatorik des geglückten Aufstiegs (sowohl als Unterschichtir'Au als auch als Unterschicht/ra«) geht verloren; das Eindrängen in die Genealogie der naturalistischen Großbauernwelt hat als Preis das Verbrechen. In der 1907 entstandenen Komödie Erde von Karl Schönherr, die einen bereits burgtheaterfähigen Bauernnaturalismus auf die Bühne brachte, übergibt der Bauer nicht; der Erbe Hannes („Schwerfallig, abgearbeitet, Mitte der Vierzig vorüber. Seine Schläfen sind bereits angegraut, der Gesichtsausdruck und das Gehaben dumpf und stumpf.") degeneriert darüber. Als der alte Grutz („Ein Siebziger. In seiner Gestalt mit dem bartlosen, scharfgeschnittenen Gesicht und den funkelnden Augen steckt etwas Ewiges, Unverwüstliches, Humorvolles" 196 ) in einer Demonstration seiner noch immer großen Körperkräfte einen Hufschlag vor die Brust erhält, scheint sein Tod besiegelt. Sein Gesundheitszustand steht in einem direkten Verhältnis zu seiner Beziehung zur titelgebenden „Erde": Vom Arzt, der sich auf das Konstatieren beschränkt, wird eine Waage verordnet, die das stetige Abnehmen seines Gewichtes dokumentiert; im selben Ausmaß steigen die Erwartungen des Erben. Der neue Antäus Grutz hingegen bemißt seine Lebenskraft am „Boden", ob er ihn noch „trage". Die Krisis seiner Krankheit ist mit der Vision eines Roggenfeldes verbunden („Uber mier die Sonn, brennheiß auf mich nieder; durch und durch hat sie mich gscheint. Und unter mier der Erdbodn gedampft" 197 ), die Arbeit nimmt er mit Bildern auf, die der sexuellen Metaphorik von La Terre (in deutscher Ubersetzung inzestuös-verharmlosend als Mutter Erde erschienen) nicht nachsteht: „Frühjahr ist! Den Pflueg eingspannt und reißt mier Erd und Acker auf: der Bodn will sein Samen, die Sunn scheint schon bruetig!" 198 Vollständig in der Opposition von „stark" und „schwach" verharrt der Roman Der Odhof (1910/11) von Franz Nabl. 199 „Stärke" ist hier ganz auf

196 Karl Schönherr: Erde. Komödie in drei Akten. Mit einem Nachw. v. V. K. Chiavacci. Stuttgart 1990, S. 13. 197 Schönherr: Erde, S. 45 f. 198 Schönherr: Erde, S. 53. 199 Franz Nabl: Ausgewählte Werke in vier Bänden. Odhof. Bilder aus den Kreisen der Familie Arlet. Wien: Kremayr u. Scheriau [1954] (I. f. „ Ö " u. Seite). Zu Nabl vgl. jetzt

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den Vater übergegangen: Johannes Arlet läßt seinen Sohn Heinz auf dem Odhof heranwachsen, Heinz zerbricht als „schwache" Natur am Vater und begeht Selbstmord. Dieser Schlußpunkt des Familiendramas kristallisiert sich an der „Hofübergabe", als Heinz erkennt, daß ihn die Übernahme des Anwesens für immer an den Gewaltbereich des Vaters ketten würde; zu befreien vermag er sich nicht. Im Ödhof ist aus Anzengrubers Befragung der Legitimität von Besitz ein psychologisches Kammerspiel geworden, im Einzugsbereich des Expressionismus. Nabl hat sich auf Anzengruber (und David), insbesondere den Sternsteinhof berufen.200 Bei Nabl hat der Starke an diesem Ort kein genealogisches Interesse. Arlet, erfolgreicher Unternehmer in „Börse" und „Industrie" ( 0 53), zieht sich nach dem Tod seiner Frau auf einen entlegenen Bergbauernhof zurück, dessen Bewirtschaftung aber kein Thema des Romans ist und erst von Bedeutung wird, als sich Heinz durch Arlets Investitionen ökonomisch prädisponiert findet. „Natur" ist durchgängig Spiegel der Charaktere. Arlets Entschluß, die Stadt zu verlassen, motiviert der Roman mit Arlets aphoristischen Notizen („was er sich im Laufe der Zeit auf die Fragen des Lebens zur Antwort gegeben hatte", 0 125) von „körperlicher Freiheit", in denen er sich als vitaler Landeigner imaginiert: „Auf der Erde muß der Mensch stehen, und die Erde, auf der er steht, muß sein eigen sein, darf ihm von keinem zweiten streitig gemacht werden." (O 122) Arlet, der mit Holz handelt, sind die „Bäume" zugeordnet: „Ich werde mich hier mit allen meinen Gewohnheiten und mit meinem ganzen Wesen einwurzeln!" „Ich betrachte mich als einen Baum, der in einen neuen Boden verpflanzt wird", stellt sich Arlet den Dorfhonoratioren vor (O 116). In Arlets idealem Gut soll ein Wald sein, „und zwar ein Wald von Tannen- und Fichtenbäumen. Denn nur diese sind die Bäume eines einzigen, starken Willens, der zu einem einzigen, stolzgeraden Stamme aufschießt, indessen alles Laubholz und auch die Föhre sich zu hohler Krone verästelt, wie von hundert eitlen Launen und Schwächen auseinandergetrieben." ( 0 125) Diese phallische Phantasie verweist auf ein ödipales Dreieck, das bei Nabl zugunsten des Vaters aufgelöst

Brigitte Noelle: Franz Nabl - Vom Wiener Romancier zur steirischen Integrationsfigur. Monographische Studie unter besonderer Berücksichtigung seiner Rezeption. Phil. Diss. Wien 1995. 200 F. Nabl: Deutsches Drama und deutsche Erzählung 1900-1950. Sechs Vorlesungen, gehalten in den Ferialhochschulkursen der Universität Graz 1934. In: Studium Generale 24 (1971), S. 1271-1333.

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wird. In der Naturmetaphorik des Romans ist dem Sohn Heinz die Blume zugeordnet ( 0 142-144), wie schon Arlets jüngeren Geschwistern Heinrich und Therese: „Und er drückte sie nieder, so wie früher als Kinder, er erstickte alles, was für sie aufblühen wollte. Und wenn sie darüber klagten, verlachte er sie, oder noch lieber zertrat er eine Blüte, die auf seinem eigenen Wege stand, und schob sie ihnen verächtlich zu. Was alle anderen schwächt, was sie vergehen läßt an Einsamkeit und Freudlosigkeit, ihn selbst machte es groß und stark - das Morden der Lebensblüte." ( 0 14 f.) Die tote Mutter wird im ödipalen Szenario ersetzt durch die Wirtschafterin Fuchstaler, die zur Geliebten des Vaters wird; der Konflikt kommt zur Austragung, als Fuchstaler dem Sohn gewährt, was des Vaters ist. Jene tote Mutter Maria (!) teilte mit den übrigen Angehörigen der Familie Arlet das Schicksal der Unterdrückung durch Johannes; Johannes Arlets Bruder Heinrich empfindet sich demgemäß als den wahren Vater von Heinz, wie bereits das Namenssignalement andeutet. Der Zentralkonflikt der bürgerlichen Familientriade wird damit bei Nabl über Naturmetaphorik in die Opposition stark vs. schwach transformiert. Arlet gegenüber erscheint jedoch das gesamte restliche Romanpersonal als „degeneriert", Reste der Vererbungsthematik sind bewahrt: So hat Heinz „einen ähnlichen, ererbten Keim" ( 0 123) zur „köiperlichen Freiheit" in sich wie Johannes, eignet sich freilich nicht zur Jagd wie dieser (O 142); Heinz' Schwäche wegen zieht Johannes sogar seine Vaterschaft in Zweifel ( 0 537), da sich doch Willensund Körperkraft vererben („natürliche Veranlagung", 0 187). Durch diese Isolierung Arlets fokussiert der Roman weniger das Drama des Heranwachsenden als die Gestalt und die Willensmythologie Arlets. Diese Willensmythologie, die in der Rede von der „Lebensberechtigung" gipfelt, verleugnet nicht ihre Abkunft aus dem Unternehmerbild des klassischen Wirtschaftsliberalismus. Johannes ist Selfmademan, ein erfolgreicher Geschäftsmann, der unter den beschränkten Entfaltungsmöglichkeiten Österreichs seine Fähigkeiten in der Natur ausagiert, wo „Natur" und seine Unternehmernatur zur Deckung kommen („Der Mann hat nach Amerika gehört! An die New Yorker Börse! Er könnt heut ein Carnegie sein!", so der Grundstücksmakler, 0 33). Die finale Auseinandersetzung mit Heinrich, die sich am Schicksal Heinz' entzündet hat, läßt „Lebensberechtigung" aus dem „Willen" entstehen, der sich wieder mit ökonomischem Erfolg verbindet. Während Heinrich sein Erbteil vertan hat, war Johannes erfolgreich: „Es gibt kein Glück und kein Unglück. Ich hab einfach gewollt. Aus meinem Innersten heraus. Und du nicht. Das ist der ganze Unterschied." Aus dieser

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Perspektive ist für Johannes dann „das Geld im letzten Grunde eigentlich wertlos" (Ö 524). Ein grandliberales Thema des Romans ist auch Arlets Atheismus. Durch die Magd Drasda wird der glaubenslos erzogene Heinz ein Opfer der Evangelisierungsbemühungen eines eifrigen Kaplans; Johannes droht ihm mit der „Hundspeitsche" ( 0 390) und läßt sich und Heinz als „konfessionslos" erklären. Dieser Atheismus hat eine doppelte Genealogie. Zum einen steht er noch i m m e r unter d e m Vorzeichen der Feuerbachschen Diesseitsphilosophie: Weintrinken ist für Arlet „Gottesdienst", „heilige Handlung", die Weinflasche ist „das Allerheiligste, das Heiligste von allem. Wer nicht geweiht ist, der soll es nicht anrühren ..." (O 317). Zum anderen scheint in der Behandlung von Religiösem auch Nietzsches Religionskritik durch. Religion ist den „Schwachen" zugeordnet (deshalb könnte Heinz ihr verfallen) ; als der ödipale Konflikt ausgetragen wird - Johannes schlägt seinen Sohn nach der Abreise der Fuchstaler zu Boden - , wird Heinz mit Christus assoziiert: „Heinz Arlet aber blieb liegen, so wie er gefallen war. Mit dem Gesicht und der Brust auf der feuchten Erde, die Arme beinahe in Kreuzesform vom Körper weggestreckt. Und so lag er, die Finger ins Gras gekrallt, regungslos wohl eine Stunde lang." (O 453) Dieses Changieren zwischen „Natur", wie sie auf „Heimatkunst" deutete, und einem Säkularismus, der auf „Liberalismus" verwies, spiegelte sich in der gespaltenen Spontanrezeption wider, die den Roman weltanschaulich nicht zu verorten wußte 201 ; die Rezeption durch den Nationalsozialismus vereindeutigte - nicht ohne Zutun Nabls 202 - Arlet zum verwurzelten Kraftmenschen (nicht gegen den Roman). Dagegen ist in der Figur Arlets eine gleichsam letzte Extrapolation der liberalen Anthropologie sichtbar, die Individualismus (und Besitzindividualismus) z u m „großen Individuum" aufbläht. 2 0 3 Unter Rekurs auf die literarischen Angebote des Darwinismus hatte Anzengruber im Stemstein201 Karlheinz Rossbacher: Franz Nabls Roman „Ödhof" in den ersten Rezensionen. In: Studien zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts in Österreich. FS Alfred Doppler. Hgg. v. J. Holzner u. a. Innsbruck 1981, S. 107-119. 202 Vgl. Klaus Amann: Franz Nabl - Politischer Dichter wider Willen? Ein Kapitel Rezeptions - und Wirkungsgeschichte. In: Uber Franz Nabl. Aufsätze, Essays, Reden. Hgg. v. K. Bartsch, G. Melzer u. J. Strutz. Graz, Wien, Köln 1980, S. 115-142 und Noelle: Franz Nabl. 205 Zu einer parallelen Konstellation schon im österreichischen Liberalismus des 19. Jahrhundert (Bismarck-Kult und heroischer Individualismus) vgl. Hubert Lengauer: Asthe-

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hof die Frage nach der Legitimität von Besitz resignativ mit seiner Faktizität beantwortet, noch im Dienst einer Selbstaufklärung des Liberalismus in der Krise seiner politischen Hegemonie. Unter Rekurs auf die literarischen Gestaltungsformen des Sternsteinhofs und einen „Sozialdarwinismus", der von Wissenschaft nichts mehr benötigt, radikalisiert Nabl im Ödhof diese resignierte Konfusion von Macht und normativer Geltung204 zum normensetzenden Willen des großen Individuums, gegen die kleinen Individuen: „Man beschäftigt sich nur mit dem einzelnen. Alles dreht sich um den einzelnen, und dabei soll die Welt eine Gesamtheit bilden. Und das Ende wird sein, daß es nur mehr Führer geben wird und niemanden, der sich führen lassen will." ( 0 429) Die Passage ist freilich Figurenrede eines „Schwachen" (des alternden Professors, des Vaters von Heinz' Hofmeister), doch für Arlet liegt Willenskraft und Vitalität in der Selbstachtung des Starken: „Das ist das Wichtigste, Heinrich. Wer das nicht hat, dieses Gefühl der Lebensberechtigung vor sich selbst, der muß früher oder später zugrunde gehen. Geistig und körperlich. Da hilft kein Gott ... Geben kann man dieses Gefühl natürlich keinem Menschen. Das muß er aus sich selbst heraus haben. Aber dafür kann es ihm auch niemand wegnehmen." ( 0 524) Auch Heinz, einzige alternative Identifikationsfigur des Romans, macht sich vor seinem Selbstmord diese Anschauung zu eigen ( 0 529). War das Verhältnis von Rechtsnorm und Legitimation noch Anzengrubers Problem, ist der rechtliche Diskurs im Ödhof \n der Metaphorizität des Selbstverhältnisses des Starken bewahrt und zugleich negiert. Er erscheint wieder als individualisierte, scheinbar gewissensethische Hohlform von Moralität; doch kann ein Selbstverhältnis auf Moralität („Berechtigung") keinen Anspruch machen, die Strafsanktion bei Verstoß gegen diese neue ,Norm' stammt signiflkanterweise aus dem Degenerationsdiskurs („zugrunde gehen"). Die gegenseitige Bezogenheit von Stärke und Schwäche läßt die Vitalität des seines Opfers beraubten Arlet leerlaufen, durch eine mutwillig herbeigeführte Verletzung bringt sich Arlet auch schnell zu Tode. So wie sich die bürgerliche Kleinfamilie im Ödhofin der „Natur" zum Drama der Indivitik und liberale Opposition. Zur Rollenproblematik des Schriftstellers in der österreichischen Literatur um 1848. Wien, Köln 1989, S. 24-29. 204 Vgl. Jürgen Habermas: Eintritt in die Postmoderne: Nietzsche als Drehscheibe. In: J. H.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1985, S. 104-129.

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duation weitet, verewigt der Roman dieses Drama zu einem impliziten Sozialmodell, in dem „Stärke" nur durch „Schwache" zu haben ist.

A U S W E G E AUS DEM

DARWINISMUS:

R O S E G G E R S „JAKOB DER

LETZTE"

Peter Roseggers Urteil über den Sternsteinhof ist ambivalent ausgefallen: „Ich habe an Ihrem wildgewaltigen ,Sternsteinhof einen ganzen Tag lesen müssen, bis spät in die Nacht hinein, und wäre dann gern dafür bezahlt gewesen. Ein grandioses Seelengemälde, abgesehen von dem Meisterhaften, oft Wunderbaren in Einzelnem, Nebensächlichen. [...] Aber der Schluß wird die wenigsten Leser befriedigen. Für meine Person ist in dem Werke das Angenehme zu sorgfaltig vermieden; selbst das Wasser, das durch Zwischenbüheln rinnt, stinkt. - Nun Sie haben Ihr Prinzip." 205 Sind die bis hier behandelten Werke als Nachfolgewerke zum Sternsteinhof zu lesen, so hat Rosegger in Jakob der Letzte (1886/88) gewissermaßen eine Spiegelgeschichte zum Sternsteinhof gegeben. 206 Schreibt Anzengruber die Geschichte eines problematischen sozialen Aufstiegs, so handelt es sich bei Jakob Steinreuter um den letzten Bauern der nach und nach abgesiedelten Gemeinde Altenmoos, die der Verwaldung und der Jagd weichen muß. Viel näher als die anderen diskutierten Texte steht Jakob der Letzte an der bäuerlichen Sozialgeschichte. 207 Hat Anzengruber seinem Dorfroman ein Nachwort nachgestellt, schickt Rosegger seinem Bauernroman ein Vorwort voraus, in dem ein prodesse über das delectare gestellt wird: das Buch solle „ein Bild geben von dem Untergange des Bauerntums in unsern Alpen." (J 5) Stellt Anzengruber an dieser Stelle seine fiktionalen Bauern in einen anthropologischen Kontext, verbindet Rosegger durch das Vorwort seine fiktionalen Bauern kulturkritisch mit den Dilemmata des realen Bauernstandes. Dennoch: Bei Rosegger wird „aus einem einschneidenden ökonomischen Wandel [...] ein mo-

205 Rosegger an Anzengruber, 31. 3. 1887. Rosegger, Anzengruber: Briefwechsel, S. 162. 206 Jakob der Letzte. Eine Waldbauemgeschichte aus unseren Tagen. Leipzig 1928 (= Roseggers Werke, Gedenkausgabe). I. f. „J" u. Seite. 207 Zum sozialhistorischen Kontext und zur Interpretation vgl. detailliert Karl Wagner: Die literarische Öffentlichkeit der Provinzliteratur. Der Volksschriftsteller Peter Rosegger. Tubingen 1991, S. 260-296.

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raiisches Problem gemacht." 208 Zur Plausibilisierung dieser Moralisierung greift der Roman auf Techniken zurück, die die Verbindung des Bauerntums mit der Scholle naturalisieren; damit soll der Abfall von dieser als Abfall von einem ordo naturalis fundiert werden, wobei dieser im Vorwort als „verhältnismäßige Aufklärung" 209 exponiert wird. Von Interesse ist an dieser Stelle Roseggers Auseinandersetzung mit Zolas Bauernroman La Terre. In seiner Zeitschrift Heimgarten findet sich eine in eine Brieffiktion eingebettete Auseinandersetzung mit Zola, die - wenig abseits von der Hauptlinie der zeitgenössischen Rezeption, aber in schärferer Formulierung - dem Autor Anerkennung erweist, jedoch dem „Naturalismus" (verstanden als exzessiver Bemühung der Nachtseiten der Menschennatur) eine Absage erteilt: „Zola ist in seinem Können ein Genie, in seinem Wollen ein Lump. Die Schilderungen und Charakterzeichnungen jenes Werkes sind von größter Meisterschaft, aber der Mann schildert fast ausnahmslos nur das Häßliche, Schlechte, Niederträchtige. Und überall liegt die Absicht klar zu Tage, Alles, was uns Menschen und unserer Cultur heilig ist, in den ekelhaftesten Koth zu stampfen. Die Rechtschaffenheit unterliegt immer, der Schuft und der Schurke bringt's zu Hab und Achtung und zieht singend durch die Welt. So mag es ausnahmsweise vorkommen, aber im Allgemeinen ist diese Auffassung eine freche Lüge." 2 1 0 (In diesem Sinn wird auch Roseggers Absage an den Schluß des Stemsteinhofs zu verstehen sein.) Doch Rosegger fahrt fort: „Wer naturalistisch sein will, muß es mit der Natur halten; die Natur aber zeigt, daß das Gesunde und Tüchtige siegt, das Faule unterliegen muß." Diese Passage hingegen wäre keine unzutreffende Beschreibung von Zolas Romanprojekt der Rougon-Macquart, dessen „Naturgeschichte einer Familie" ja gerade den somatischen Niedergang dieser Familie in seinen letzten Verästelungen beschreibt. „Zola ist in dieser Beziehung kein Naturalist, sondern ein Phantast, der allerdings mit naturalistischem Kothe seine Gestalten malt." Roseggers Versuch, den Naturalismus durch Berufung auf „Natur" „naturalistisch" zu überbieten, hat unübersehbar teil an einer Zola-Kritik, wie

208 Wagner: Die literarische Öffentlichkeit, S. 270. 209 Gerhard Sauder: „Verhältnismäßige Aufklärung". Zur bürgerlichen Ideologie am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 9 (1974), S. 102-126; Wagner: Die literarische Öffentlichkeit, S. 266 f. 210 R. [d. i. Peter Rosegger] : Lahmer Winter. Epistel eines Unmuthigen [Zu Emile Zola: La Terre. Paris 1888], In: Heimgarten (Graz) 15 (1889), S. 546-550, S. 548.

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sie Max Nordau bereits in den Paradoxen leistete. Nordau überantwortete - wie in gleichlautenden Formulierungen auch Sacher-Masoch - die Autoren des Naturalismus demselben Pathologieverdacht, den diese ihren Figuren gegenüber äußerten.211 Nordau, der zunächst großes Interesse an Zolas Romanprojekt zeigte, da es mit den eigenen - nicht zuletzt darwinistischen - Denkvoraussetzungen seiner Kulturkritik übereinstimmte212 (Nordau war von den Frühnaturalisten begeisterte Zustimmung entgegengebracht worden 213 ), forderte schließlich als Projekt zur Gesundung der Literatur die Verbringung der durch die Großstadt degenerierten Autoren aufs Land: „Ich sehe kein Heil für die Durchseuchung der Leserphantasie mit belletristischen Zersetzungsstoffen, es sei denn, man entschlösse sich von Staatswegen, allen Roman- und Theaterdichtern den Aufenthalt in Großstädten zu verbieten und sie in friedliche Dörfer unter robuste Landleute zu verbannen, oder man überredete die Berufsschriftsteller, statt seltener Ausnahmsfälle statistisch festgestellte Massen-Thatsachen, statt geistiger Pathologie geistige Physiologie unter das Volk zu bringen und statt des Buches vom kranken das Buch vom gesunden Menschen zu schreiben."214 Roseggers Bücher sind Bücher vom gesunden Menschen bzw. von der Gesundung des Menschen; der Jakob ein Buch vom gesunden Menschen unter den Bedingungen der Krankheit. (Nordaus Vorschlag vom Landaufenthalt des Intellektuellen, der zu dessen Gesundung führen müsse, hat Rosegger in der Fabel des Erdsegen, 1898, aufgenommen.) Die sichtlich darwinisierende Formulierung („daß das Gesunde und Tüchtige siegt, das Faule unterliegen muß") ist umso überraschender, als sich Rosegger - von starkem anfänglichen Interesse ausgehend - in der Erzählung Ein Jünger

211

Max Nordau: Paradoxe. Kap. „Inhalt der poetischen Literatur". 2. Aufl. Leipzig 1885, S. 258-272; Leopold v. Sacher-Masoch : Die naturalistische Epidemie. Nach persönlichen Eindrücken. [Die Gegenwart, 1889] Wieder in: Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880-1900. Hgg. v. M. Brauneck u. C. Müller. Stuttgart 1987, S. 375-380, S. 378 f. 212 Vgl. Max Nordau: Zolas Rougon-Macquart-Cyklus. In: Das Magazin für die Literatur des In- und Auslandes 51 (1882), S. 20 f. Allg. Rolf Sältzer: Entwicklungslinien der deutschen Zola-Rezeption von den Anfangen bis zum Tode des Autors. Bern u a. 1989, S. 92 ff. 213 Nordaus „Die conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit" erreichten noch im Erscheinungsjahr 1883 die vierte Auflage; Arno Holz war ein begeisterter Leser Nordaus. Dazu Helmut Scheuer: Arno Holz im literarischen Leben des ausgehenden 19. Jahrhunderts (1883-1896). Eine biographische Studie. München 1971, S. 42. 214

Nordau: Paradoxe, S. 272.

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Darwin's (1882) literarisch von Darwin in dessen Todesjahr heftig distanziert hatte.215 In dieser Erzählung wird ein junger Mensch, der die Naturwissenschaften studiert, an seinem Glauben irre, verfallt in seiner Geistesnot auf den Plan, an erster Adresse um Rat einzukommen und schreibt dem greisen Darwin einen Brief, in dem dieser nach seinem Verhältnis zu Gott befragt wird. Darwins Antwort fallt nach dem Verständnis des Studenten negativ aus und stürzt diesen in Depression und Krankheit („Statt schlecht zu werden, wurde ich krank." 216 ). Geheilt wird er durch tätiges Engagement in einer Naturkatastrophe, als er an der Rettung eines Rindes aus den Fluten der Rienz mitwirkt. Die reichlich unwahrscheinliche Fabel der Erzählung ist gerade in jenem Punkt, der am merkwürdigsten scheint, realistisch. Die Erzählung benützt die Fiktion eines Briefes, der an Rosegger als den Herausgeber des Heimgarten 217 gerichtet ist, mit Beziehung auf Roseggers zuvor in Fortsetzungen abgedruckten Roman Der Gottsucher. Ein Jünger Darwin's bewegt sich also im fiktional-pragmatischen Binnenraum von „Heimgärtner" und Publikum. Der Brief, den der neue Gottsucher an Darwin schreibt, ist jedoch wörtliches Zitat eines echten Briefes, den der junge Nikolai Alexandrowitsch Mengden 218 , ein Student Haeckels in Jena und später russischer Diplomat, 1879 an Darwin gerichtet hatte219; der Brief wurde in Darwins Todesjahr bekannt. Roseggers Quelle ist nicht genau zu eruieren; Darwins Antwort an Mengden war jedenfalls von Haeckel in seinem Vortrag auf der Naturforscherversammlung von 1882, Die Naturanschauung

von Darwin,

Goethe

und Lamarck, in extenso - selbstverständlich zustimmend - zitiert worden.220

215 216 217 218

219

[Peter Rosegger:] Ein Jünger Darwin's. Erzählung aus jüngstvergangenen Tagen. In: Heimgarten 7 (1882/83), S. 92-100. Rosegger: Ein Jünger Darwin's, S. 96. Der Text ist mit „E. K. H . " gezeichnet; Rosegger hat ihn jedoch in die Gesamtausgabe seiner Werke aufgenommen. Zu Mengden (Frankfurt/M. 1862 - Coburg 1915) s. Genealogisches Handbuch des Adels. Hgg. v. Deutschen Adelsarchiv. Bd. 69. Hauptbearb. W. v. Hueck. Rh. A, Bd. 11. Limburg/Lahn 1979, S. 237. Vgl. A Calendar of the Correspondence of Charles Darwin, 1821-1882. Ed. by F. Burkhardt and S. Smith. New York, London 1985, S. 510, Nr. 12088. ErstveröfTentlicht wurde das Schreiben in der „Palt Mall Gazette" vom 23. 9. 1882, S. 2.

220 Ernst Haeckel: Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck. Vortrag in der ersten öffentlichen Sitzung der 55. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte zu

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Roseggers Zitiertechnik verrät ein zwiespältiges Interesse an Naturwissenschaft und ihren scheinbaren Folgen. Dieses Interesse ist symptomatisch für den Zwiespalt, in den sich ein antimaterialistischer, wissenschaftsfeindlicher Biologismus (nur scheinbar ein Oxymoron) begibt. 221 Ein solcher wissenschaftsfeindlicher Biologismus wird die Bewegung der „Heimatkunst" tragen, in der nicht zuletzt viele ehemalige „Naturalisten" als halbe - aber eben nur halbe - Apostaten zu finden sind. 222 D e r Topos vom „Buch der Natur", mit dem man sich zuerst der Intelligibilität der Natur versicherte, wird verkehrt in den gegen die Bücher gerichteten Verdacht, sie entfernten den Leser von dieser. Auf ein Bild gebracht ist dieser Sachverhalt in einer Szene in Ludwig Ganghofers Roman Der Hohe Schein (1904), in der der Protagonist im Zuge seiner „Gesundung" auf einer Gebirgswanderung den buchstäblichen Ballast von Haeckels voluminösen Welträtseln wegwirft. „Wissenschaft" wird gegenüber der mit ihrer Hilfe gewonnenen „Weltanschauung" - die ja der „Heimatkunst" nicht fremd ist - als bloßes Akzidens abgewertet und aus dem ideologischen Ensemble der Werke getilgt. In derselben Richtung liegt Roseggers spätere Argumentation gegen Darwin und den Materialismus. Im Ewigen Licht (1897) läßt er einen Professor einen Vortrag über Darwin halten; sein Publikum versteht ihn zwar nicht, doch ein Arbeiter beginnt die Konsequenzen zu ziehen. Rosegger hat keinen Unterschied zwischen d e m philosophischen und dem landläufigen Begriff von Materialismus gemacht, der darunter Egoismus u n d Geldgier begreift. Diese Episode kontrastiert mit einer Erinnerung an die Bekanntschaft des jungen Rosegger mit einem Wiener Dr. Rudiban, der versucht, Eisenach am 18. September 1882. Jena 1882, S. 47 f. Der Vortrag erschien zunächst nach dem Stenogramm in verschiedenen Zeitungen, dann in gekürzter Form im Oktober-Heft der „Deutschen Rundschau". Die selbständige Broschüre, um Anmerkungen, ein Vorund Nachwort erweitert, datiert die Nachschrift auf den „10. October 1882". Roseggers „Jünger Darwin's" erschien im November-Heft; der Brief bei Rosegger: Ein Jünger Darwin's, S. 95 f. zitiert wörtlich Haeckel: Naturanschauung, S. 48; lediglich das Datum (5. 6. 1879) ist bei Rosegger verändert zu „5. November 1880". Vgl. auch Aveling an Haeckel, 6. 10. 1882. In: Haeckel: Die Naturanschauung, S. 63. 221 Karlheinz Rossbacher: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende. Stuttgart 1975 u. ders.: Provinzkunst. A Countermovement to Viennese Culture. In: Focus on Vienna 1900. Change and Continuity in Literature, Music, Art, and Intellectual Histoiy. Ed. by E. Nielsen. München 1982, S. 12-22. 222 Zu diesem Komplex bei Clara Viebig vgl. Barbara Krauß-Theim: Naturalismus und Heimatkunst bei Clara Viebig. Darwinistisch-evolutionäre Naturvorstellungen und ihre ästhetischen Reaktionsformen. Frankfurt/M. u. a. 1992.

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ihm Gott auszureden: „Einstweilen aber stellte er sich doch damit zufrieden, daß ich wenigstens dem Darwinismus nicht widersprach, wozu ich freilich gar keinen Anlaß hatte, weil hinter demselben Alles noch Platz findet, was nach meiner Meinung bisher den Werth und die Weihe der Welt ausgemacht hat." 223 Materialismus sei etwas für die Reichen; Rudibans „Materialismus" sei in Wahrheit Idealismus gewesen, weil er ein herzensguter Mensch gewesen sei. Wenngleich Rosegger mit dieser Vermengung von „Materialismus" und Materialismus, gegen die zeitgenössisch Philosophen, Wissenschaftler und Materialisten einen aussichtslosen Kampf führen, in das weltanschauliche Arsenal der Klerikalen greift, ist seine behauptete Toleranz Darwin gegenüber dennoch glaubwürdig. So war ein darwinistischer Deismus zeitgenössisch zu haben; die Liberalen bedienten sich dieses Amalgams in der antiklerikalen Landagitation: „Es kommt nur auf den guten Willen an, die Wissenschaft mit dem Glauben zu versöhnen", heißt es in einer frühen Nummer des liberalen Grazer Dorfboten, „mit dem Schimpfen über Affendoctoren, Affenprofessoren und Affenlehrer, so wie's der Sonntagsbote und das Volksblatt thun, wird aber gar nichts genützt. Glaubt man denn, die Wissenschaft lasse sich wegschimpfen?" 224 So dürfte sich Rosegger mit der Evolution abgefunden haben225, nicht aber mit den „weltanschaulichen" Folgen einer materialistischen, antiteleologischen Theorie (was allerdings keine seltene Erscheinung war und Darwin selbst zu schaffen machte). Hinter dem Darwinismus findet sich zugleich

223 224

P. K. Rosegger: Was Materialisten für schlimme Leute sind. Eine Erfahrung. In: Deutsche Wochenschrift (Wien), 19. 12. 1886. Auch in: Heimgarten 10 (1885/86), S. 353 ff. Anonym: Der Affenprofessor. In: Der Dorfbote. Zeitschrift für Wahrheit, Bildung und Aufklärung. Hgg. v. steiermärkischen Volksbildungsverein (Graz), 15. 8. 1871, S. 6 f. Der Artikel bezieht sich vermutlich auf die Nachwehen von Vogts Grazer Auftritten vom Februar 1870 (vgl. Kap. 1). Zugleich ist die angestrengt volkstümliche' Schreibweise des Blattes ein Beleg für das „Diskursproblem der Liberalen" (Rossbacher: Literatur und Liberalismus, S. 192-203).

225 „ D a sichs nicht mehr leugnen läßt, daß wir selbst zu den lieben Thieren gehören (wodurch der Mensch ja nicht erniedrigt, sondern das Thier erhöht wird), so machen wir auch etwas Gemeinschaft mit denselben; und gleichwohl wir es uns noch immer nicht recht gefallen lassen, mit dem Gimpel, mit dem Esel, mit dem Affen analogisirt zu werden, so zeigen wir doch schon viel mehr Verständniß, Interesse und Herz für die Thiere, als das sonst der Fall war." Die Poesie müsse den ,,graue[n] Theorien" (genannt werden Darwin, Haeckel, Vogt, L. Büchner) „immer mit Beispielen von des Lebens goldnem Baume aushelfen." H. Maiser [d. i. Peter Rosegger]: [Rez. zu Aglaja v. Enderes: Federzeichnungen aus der Thierwelt.] In: Heimgarten 2 (1877/78), S. 315 f.

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ein Antiklerikalismus, den die Amtskirche Rosegger zeitlebens nachgetragen hat. Viel öfter aber hat Rosegger in den Streit u m den Materialismus gar nicht eingegriffen, sondern ihn umgangen. Wie schon die „Lösung" der psychosomatischen Problematik, die der Briefschreiber in Ein Jünger Darwin's erfahrt, andeutet, hat Rosegger das Problem zu Lasten der Wissenschaft gelöst. In der Erzählung Religiöse Entwicklungsphasen wendet sich ein Jugendlicher, durch die divergierenden Aussagen von Religionsund Naturgeschichtslehrer zum Darwinismus bestärkt, von der Religion ab, wird aber vom Frühling, der in der bei Rosegger häufigen Auferstehungsmetaphorik hereinbricht, wieder bekehrt und votiert für eine (behutsame) Reform des katholischen Religionsunterrichts. 226 Diesen didaktischen Einlassungen, die ein fingiertes bekennendes, geläutertes Subjekt von seiner Rettung erzählen lassen, entspricht die predigthafte Kulturkritik, die auf Herausgeber- und Autobiographiefiktion verzichten kann, da sie in der Rollenprosa des „Heimgärtners" auf die selbstgeschaffene Kunstfigur Rosegger rekurrieren kann, die wieder durch die eigene Biographie abgestützt ist. So schließt Rosegger unter Umgehung der Naturwissenschaft unvermittelt von den Zeitläuften auf die Natur, indem Wissenschaft selbst d e m Odium des Ungesunden verfallt: „Ich aber sage [!], zu viel denken ist ungesund und grüblerisch denken ist unsittlich. [...] Das zu viele Denken ist eine Krankheit, eine Entartung [!], es geht vor sich auf Kosten des Empfindens und des Handelns. Es macht kalt, es macht träge, es macht muthlos. Naturgemäß handeln ist besser, als naturwissenschaftlich denken." 2 2 7 Roseggers Gesundungsideologie ist die trivialisierte Fassung der Lösung Nordaus. Bekämpft Nordau die „Entartungen" der Einbildungskraft als später Nachfahre der physiologisch motivierten „Schwärmerkuren" des 18. Jahrhunderts als pathologisch zum Wahn verfremdete Phantasie, benützt Rosegger die Ätiologie der Melancholie („grüblerisch", „kalt", „träge", „muthlos"), um sie als Resultat einer vorgeblich wissenschaftlich entfremdeten Kultur zu denunzieren. Gehören bei Nordau „Natur" und „Naturwissenschaft" untrennbar zueinander, geraten sie bei Rosegger in Opposition: „Ich bin mit den führenden Geistern unserer Zeit ganz unzufrieden. Sie lehren nicht leben, sie lehren nur denken; Eins müssen wir noch lernen: das von ihnen Gelernte wieder zu vergessen. Unsere treue Mutter ist die 226

Rosegger: Religiöse Entwicklungsphasen. In: Heimgarten 4 (1879/80), S. 565-572, bes. S. 570. 227 P. K. Rosegger: Sonntag. Eine Festbetrachtung. In: Deutsche Zeitung (Wien), 25. 5. 1890.

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Erdscholle, aus ihr sprießt das Brot und der Idealismus."228 Mehrmals hat Rosegger Naturforscherfiguren dargestellt, die sich der Berg- und Bauernwelt weniger aus botanischem als aus erotischem Interesse an den Mägden nähern, nur um von diesen genasfuhrt zu werden. 229 Rosegger hat auch nicht ungeschickt die divergierenden Interessen und Interpretationen der zeitgenössischen Naturwissenschaft benutzt, um die Gelehrtenrepublik als ,,polnische[n] Reichstag"250 zu denunzieren. In Von dem Hochmuth der Kathederweisheit aus den Bergpredigten läßt er ,„Berufene' und Unberufene durcheinander" laufen, „und Jeder reitet seinen gelehrten Esel": „,Die heutigen Republiken sind Maskeraden. Der Adel muß vermöge des Gesetzes der Fähigkeitsvererbung vollkommener sein, als der Pöbel.',Der Adel muß durch die enge Begrenzung seiner Zuchtwahl degeneriren. Er ist ein Ueberbleibsel des Mittelalters, brutal nach unten und knechtisch nach oben. Gleiches Recht für Alle!',Ungleichheit ist ein Naturgesetz. Die Erblichkeit des Vorranges ist begründet.' ,Verstaatlichung aller Güter!' schreit der Socialdemokrat." 251 Im Gefolge der Haeckel-Virchow-Kontroverse, in der Haeckel vom ehemaligen Grazer Zoologen Oscar Schmidt unterstützt wurde, werden alle diese fingierten Wortmeldungen tatsächlich gefallen sein; es wäre nicht schwierig, selbst zu diesen extremen Verkürzungen Belege beizubringen. Wurden im wissenschaftlichen Feld in einem Durchsetzungskonflikt sehr schnell Konsequenzen gezogen, machten divergente politische Strömungen sich diese Konsequenzen zunutze; Rosegger leitet daraus eine Rolle als informiertes Weltkind ab, das dem bunten Treiben verständnislos beiwohnt

228 229

Rosegger: Sonntag. Naturforscher auf der Alm. In: Das neue Jahr (Wien) 7 (1879), S. 109-121, mit einem Erzahleingang, der sich auf die Deutsche Naturforscherversammlung in Graz, 18.-24. 9. 1875, bezieht; weiters: Der Botaniker in der Almhütte. In: P. R.: Allerhand Leute. Leipzig 1887, S. 348-588. Ahnlich die Gruppe der undankbaren verunglückten Höhlenforscher in „Das Ewige Licht". In den Erzählungen des mit Rosegger bekannten Geologen und Schriftstellers Adolf Pichler ist hingegen der Naturforscher die Ich-Figur.

230 Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Die Insel. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1788. Mit einem Nachw. v. S. Sudhof. Heidelberg 1966, S. 47. Stolberg wendet sich satirisch gegen Klopstocks „Gelehrtenrepublik". 231

Rosegger: Bergpredigten. Gehalten auf der Höhe der Zeit unter freiem Himmel und Schimpf und Spott unseren Feinden den Schwächen, Lastern und Irrthümern der Cultur gewidmet. 2. Aufl. Wien, Pest, Leipzig 1888, S. 64f. („Von dem Hochmuth ..." erschien nach eigener Angabe Roseggers erstm. in: Deutsche Zeitung, Wien, 25. 12. 1884).

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und aus der privilegierten Position dieser Verständnislosigkeit auf Kosten der Wissenschaft als ganzer die substantiellen Fragen nach der „Weisheit" zu stellen befugt ist. Rosegger hat dennoch die Angebote des Darwinismus gerne aufgegriffen (im Jakob taucht auch die Formel vom „Kampf ums Dasein" auf und wird dem Pfarrer [!] zugeordnet [J 253]), sie jedoch in einen konservativen Rahmen eingefügt. „Kampf ums Dasein" ist daher auch die die Rezeption bestimmende Kategorie. 232 Der höhere Sättigungsgrad an gesellschaftlicher Realität ist zugleich dafür verantwortlich zu machen, daß der Roman, wenn es tatsächlich um Natur geht, nur die Natur zur Verfügung hat. Der Bauernstand, wenn seine Bedrohung gezeigt und zugleich mit ihm - aus welchen Gründen auch immer - sympathisiert werden soll, kann nicht unter dem Zeichen des „Kampfes ums Dasein" stehen, weil dessen Ergebnis eine neu legitimierte Machtposition wäre. Berufung auf Natur ist zum Schreibzeitpunkt eine bereits historische Form gesellschaftlicher Beglaubigung; doch unter den Prämissen der Historisierung der Natur in einer Evolutionstheorie entsteht für konservative Ideologeme ein Darstellungsproblem. Die Konfusion von Evolution und Ethik löst Rosegger einseitig zugunsten von Moral. So bezieht Jakob Steinreuter moralische Überlegenheit, die unter vorwaltenden Bedingungen seinen Untergang begründet, aus seinem „Festhalten" an der Scholle und der „Treue" zu seiner Generationenkette; die Davonziehenden wirtschaften aber gleichfalls ab. Der Bauer ist Verführungen ausgesetzt (denen z. B. der Guldeisner und der Knatschelbauer verfallen); gibt er ihnen nach, wird er „untreu". Jene „Treue" ist eigentlich nicht mehr als das Festhalten an einem Berufsstand mit seiner Sozialsphäre und seinem Normensystem, beschreibbar als „moral economy" (E. P. Thompson 233 ). Solche „Treue" reicht als Handlung eines realistischen Romans nicht aus, der ja „ein Bild geben [soll] von dem Untergange des Bauerntums in unsern Alpen". Einerseits muß der Roman Jakobs Festhalten an der Scholle als ökonomisch-rationale Wahl dar-

232 Vgl. bei Wagner: Die literarische Öffentlichkeit, S. 294 f., etwa bei Z. K. Lecher und Moritz Necker. Lecher vergleicht - wie Anzengruber - die Modernisierung mit dem indischen Jaggemaut-Kult. 233

„Moral economy" („sittliche Ökonomie") ist bei Thompson das Konzept „eines volkstümlichen Konsens darüber, was auf dem Markt, in der Mühle, in der Backstube usf. legitim und was illegitim sei. Dieser Konsens wiederum beruhte auf einer in sich geschlossenen, traditionsbestimmten Auffassung von sozialen Normen und Verpflichtungen

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legen. Am Ende des Romans ist der Waldmeister erschossen, die Ausgewanderten sind verdorben, der Kampelherr bankrott. Die Abgewanderten haben auch Jakobs Existenz gefährdet; Jakob „behält" am Ende „recht", wie sogar der geistig verwirrte und abgewirtschaftete Guldeisner zugesteht. Zum anderen muß für die Tugend der „Treue" - eine mindestens zweiwertige Relation - ein Gegenüber eingesetzt werden. Die Tugend der „Treue" wird somit zu einem Schlüsselbegriff des Romans. 234 „Treue" bezieht sich einerseits - wie in der Alltagssprache - auf die soziale Sphäre des Steinreuterhofes: „Der Jakob sah auf Fleiß und Treue, überbürdete keinen mit Arbeit, duldete aber auch keinen Müßiggang." (J 148) und der engeren und weiteren Heimat: „Es gehen Häuserschächer um, und ihr verkauft den Boden, auf dem ihr steht. Nachbarn! Wenn sich die Welt zerstört, so fangt es an. Die Menschen werden zuerst treulos gegen die Heimat, treulos gegen die Vorfahren, treulos gegen das Vaterland. Sie werden treulos gegen die guten alten Sitten, gegen den Nächsten, gegen das Weib und gegen das Kind." (J 139) Andererseits aber wird „Treue" animistisch ausgeweitet auf „Erde". Der flüchtige Sohn, der die Generationenkette der Steinreuter fortfuhren sollte, ist „treulos" nicht nur dem leiblichen Vater gegenüber: „Oft stand der körperlich so schön gewesene Knabe wie eine Mißgeburt vor ihm. Der trotzige Junge, d e m der Zug aller Jakob Steinreuter, die Anhänglichkeit an Eltern und Heimatserde so ganz und gar mangelte, der das Vaterhaus mißachten und treulos verlassen konnte - war das wirklich ein Altenmooser Kind, war es kein Wechselbalg gewesen? [...] Der rechte, echte, feste und treue Mensch m u ß irgendwo wurzeln, nicht anders wie ein Baum, ein Kornhalm." (J 111) Mit der zeitlosen Mutter Erde korrespondiert diese Generationenkette („Dieser Heilige war der Schutzpatron des Hauses. Jakobs Vater hatte Ja-

und von den angemessenen wirtschaftlichen Funktionen mehrerer Glieder innerhalb des Gemeinwesens." E. P. T.: Die ,sittliche Ökonomie' der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert. In: Wahrnehmungsformen und Protestverhalten. Studien zur Lage der Unterschichten im 18. und 19. Jahrhundert. Mit Beitr. v. E. P. T. u. a. hgg. v. D. Puls. Frankfurt/M. 1979, S. 13-80, S. 16. 234 Zur „Treue" in der österreichischen Literatur der Epoche vgl. Karlheinz Rossbacher: Marie von Ebner-Eschenbach. Zum Verhältnis von Literatur und Sozialgeschichte, am Beispiel von „Krambambuli". In: Österreich in Geschichte und Literatur 24 (1980), H. 2, S. 87-106.

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kob geheißen, und dessen Vater hatte auch Jakob geheißen, und so der Großvater u n d der Urgroßvater, u n d jeder Hausvater auf d e m Reuthofe hatte Jakob geheißen", J 29), der gegenüber der junge Jakob ein Ausreißer ist. Die Bauern „wurzeln" auf der Erde, da Altenmoos nicht nur den Lebenden zum Erwerb dient, sondern auch die Toten beherbergt. In der dem Jakobus geweihten Hauskapelle, in der die Leichenbretter der Ahnen stehen, „war die Statue und der Name ein besonderes Band, das sich von Geschlecht zu Geschlecht herabflocht u n d jeden Jakob Steinreuter enge mit seinen Vorfahren und seiner Scholle verknüpfte" (J 30). Das Erbhofmotiv nimmt in einem Roman, der so konsequent die Menschen an den Boden bindet („flicht", „knüpft"), von selbst eine genetische Färbung an. Daß der Jackerl „treulos" wird, obgleich doch das genealogische Band nicht nur die Personen aneinander, sondern auch an den Ort bindet (,„Wenn er Kinder tat' haben, der Guldeisner, rechtmäßige Kinder, er wäre festgenagelt an sein Haus und Grund.' So der Jakob." [J 58]) und das „Blut" eine nicht nur metaphorische, sondern auch motivierende Rolle spielt 235 , kann n u r im Rekurs auf die Unwägbarkeiten der „Vererbung" („Mißgeburt", „Wechselbalg") motiviert werden. Mit einer pseudogenetischen Erklärung greift der Erzähler ein: „Der Bauer zu Altenmoos konnte freilich keine Vorstellung davon haben, daß auch das Geschlecht der Steinreuter seinen Anteil hat ein dem Geschicke des ewigen Juden, daß auch dieses Geschlecht seinen friedlosen Weltpilger gebären muß, und daß solcher Sprößling u m so ungebärdiger seine weiten Wege suchen muß, je enger und fester sich der Kreis dieser Familie gehalten hatte. Wenn ein Geschlecht sehr einseitig ist, so steht in ihm plötzlich ein Mitglied auf, das nach der entgegengesetzten Seite ausartet [!]." (J 112) D e r sich hier andeutende Generationenkonflikt, der im zeitgenössischen Bauernroman die Handlung vorantreibt, wird im Fortgang der Handlung planiert, indem Jackerl als Pionier in Amerika die Arbeit des ersten Steinreuters wiederholt und damit einen neuen Anfang innerhalb einer alten Kontinuität setzt. D e r Verweis auf den „ewigen J u d e n " ist hier nicht antisemitisch; umso signifikanter, daß das Ahasver-Motiv sofort ak-

233 „Weit und breit ist dieser Hof bekannt und geachtet als erbgesessen und ehrenfest! Das Guldeisnerblut war' ein frischer Brunnen, draußen tat' er in Sand verrinnen." (J 64) „Im Blut liegt's, heim hat's ihn zogen", sagt Jakob über seinen Zweitgeborenen, den Deserteur Friedel (J 297).

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tualisiert wird, auch wenn es keinen systematischen Ort in der Ideologie des Romans hat. Durch das metaphorische Netz, mit dem der Bauer an die Erde gebunden wird, begibt sich der Roman auch der Möglichkeit, „realistisch" zu sein; das Problem deckt nur einen schmalen Bereich der zeitgenössischen Diskussion ab (der Bauer muß der Jagd weichen, ähnlich wie im Ewigen Licht der Tourismus überbewertet wird; eine gewisse Rolle spielen im Roman die Getreideimporte). Die kohärenteste Rede über die ökonomischen Zusammenhänge der Agrarkrise (so auch die Erbteilung) wird dem Antagonisten Jakobs, dem Waldmeister, in den Mund gelegt, als er diesen von der Scholle vertreiben will (J 79 f.). So viel auch im Roman gebetet wird, so deutlich zeichnen sich Züge einer paganistischen Naturreligion ab. Als Jakobs Frau Maria stirbt, zieht sich Jakob in die Kapelle zurück, doch nicht zum Gebet, sondern zur Pflege eines Ahnenkultes: „Der Jakob blieb aufrecht wie ein Stamm. Später erst ging er hinaus in die Kapelle, und gleichsam, als wollte er es an der geheiligten Stelle seinen Vorfahren sagen, was über ihn gekommen, weinte er sich dort stille aus." (J 234) Als der Guldeisner seinen Hof dem Kampelherrn übergibt, winken ihm ,,[h]och vom Bergesrücken herab [...] die alten Tannen und Lärchen seines Waldes", dann spricht die „Stimme der Vorfahren, die im Grabe schliefen." (J 97) So bezieht sich auch das Attribut „heilig" auf die Erde (vgl. die Kapitelüberschrift „Das heilige Kornfeld") : „er liebte seine Felder, an ihnen hing sein Herz und ihre Bearbeitung war ihm ein Gottesdienst" (J 283). Die christliche Todsünde des Selbstmordes wäre für Jakob ein angemessener Ausweg, wenn das „Blut" ein Verharren auf der Scholle nicht zuließe: „Davonlaufen! - Es hat ihm das Leben gekostet! - Wenn er sich's freiwillig genommen hätte! Wenn er in der Heimat sterben wollte, weil er, vom bösen Zauber gehetzt, in der Heimat nicht leben konnte! - Die Tat wäre eines Jakob Steinreuter würdig. Gott schütze uns!" (J 111) Vollends paganistisch wird agiert, als sogar der Pfarrer zum Verkaufen rät und versucht, die Verhältnisse zurechtzurücken: „Nein, Freund, der Mensch gehört zu Menschen. Es ist vermessen, die kalte Erdscholle mehr zu lieben, als die Lebensgenossen" (J 251), hingegen bald darauf im Selbstgespräch Jakobs aus der „kalten Erde" wieder die „treue Erde" wird: „In Gottes Namen, Jakob, wenn es sein muß, willig magst du dich anvertrauen der treuen Erde. Vielleicht stehst auch du wieder auf und findest in Altenmoos eine bessere Zeit." (J 288) und dergestalt nicht auf die Auferstehung des

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Fleisches vertraut wird, sondern auf eine Wiederkehr nach Altenmoos.236 Im „heiligen Kornfeld" wird über die zyklische „Auferstehung des Samenkorns" in der „Mutter Erde" „in heiligen Betrachtungen" (J 284) meditiert, ohne daß die direkt erzählte Passage lediglich als Innensicht Jakobs plausibel wäre. Der Jahreslauf in einer sakralisierten Natur wird hypostasiert zu einem impliziten zyklischen Geschichtsmythos, in dem kein Raum bleibt für die ökonomischen Veränderungen in der Welt draußen, die den Bauern zum Abstiften zwängen. (Die Gegen-, also Außenwelt, soweit von ihr in Jakob der Letzte die Rede ist, gehorcht eher der Fortuna als einer ökonomischen Logik oder gar dem zeitgenössisch apostrophierten „Fortschritt": Der Kampelherr wird reich und wieder arm, ohne daß man so genau wüßte, wie.) Es muß ein zentrales literarisches Darstellungsproblem der Epoche gewesen sein, daß die konzeptuelle Überlastung der „Natur" (für vollständig divergente Zwecke) sehr wohl die naturhafte Metaphorisierung ökonomischer und sozialer Sachverhalte zugelassen hat, daß dieses Verfahren aber dann an eine Grenze stößt, wenn Natur selbst thematisiert wird. Zola hat in Au Bonheur des Domes (1883) konsequent das Wachstum eines Kaufhauses als organischen Prozeß dargestellt (ähnlich deutet die Keimmetaphorik in Germinal [1885] auf die sich formierende Arbeiterklasse). Der Konzentrationsprozeß des Pariser Handelskapitals, der zum Absterben der Kleinhändler und des Alten Handwerks führt, ist im Roman ein „Kampf ums Dasein", aus dem eine neue Organisationsform, das Großkaufhaus als sozialer Organismus, entsteht, der eine neue Form der Klassenharmonie erst möglich macht.237 Diesen Zusammenhang läßt Zola die Romanfigur Denise erkennen: „Diese Nacht konnte Denise nicht schlafen. Es war ihr, als sei sie wieder klein und breche in ihrem Garten zu Valognes in Tränen aus bei dem Anblick, wie die Grasmücken die Spinnen auffressen, die ihrerseits wieder die Fliegen verzehren. War dieser Tod notwendig, der die 236 Hier verbergen sich wohl Motive fernöstlicher Gedankenwelt („ewige Wiederkehr"), wie sie in der Gründerzeit, vermittelt durch die Schopenhauer-Renaissance, verbreitet waren. Dahin deuten auch die paradoxal-synthetischen Formulierungen, mit denen Rosegger den patriarchalischen Bauern sakralisiert: „Er ist immer der Säemann und der Erntende zugleich. Der Aufrechte aber der Kopfgeneigte." (J 15) 237 Dazu ausf. Peter Müller: Die Bedeutung der Wissenschalt im Denken Zolas und ihr Einfluß auf die Entfaltung einer originellen Weltsicht in seinen Romanen. In: Französische Literatur in Einzeldarstellungen. Hgg. v. P. Brockmeier u. H. W. Wetzel. Bd. 2. Stuttgart 1982, S. 209-244, bes. S. 222-229.

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Überlebenden nährt? Dieser Kampf um das Leben, der auf der Werkstätte der ewigen Verwüstung neue Wesen entstehen läßt?"238 Zolas Bauernroman La Terre hingegen brachte nicht nur durch die beispiellose Drastik der Ausführung ein neues Element in den Zyklus, sondern auch durch das vollständige Fehlen einer historischen Perspektive in der Welt dieses Romans. Ein Indiz dafür ist die mangelhafte Integration des Romanpersonals in die Vererbungskontinuität des Gesamtprojekts, was von der zeitgenössischen Kritik auch wahrgenommen wurde.239 Nicht einmal das vom Plot her naheliegende Verfahren, den Erbstreit mit der für Zolas Romanprojekt konstitutiven Vererbungsthematik zu motivieren, kann explizit ausgespielt werden; denn wenn die Menschen des Romanpersonals zu eng in den Naturprozeß eingelagert werden, fehlt jene semantische Distanz, die metaphorische Übertragung erst ermöglicht.240 Demgemäß stehen auch die Menschen von La Terre in einem Verbrechenszusammenhang, der sich als bloße „Natur" ausweist und daher auch von keiner juristischen Instanz geahndet werden kann; die mangelnde Kindesliebe (Vatermord) wird überlagert durch das erotisch-naturwüchsige Verhältnis zu und mit der „Erde"; der Außenstehende verläßt die Ebene der Beauce am Ende, bindungslos. Diesen Effekt hat sich Rosegger zunutze gemacht, indem er jenes Darstellungsproblem in ein affirmatives, konservatives Modell verkehrt hat. Zolas Figur Denise bebildert mit einer Kindheitserinnerung den tatsächlichen Verlauf der Geschäfte, der dadurch den Schein eines Naturprozesses annimmt; in bezug auf Ökonomie ist die Bildspenderin Natur ein explanans. So bildet - ,Monismus' vorausgesetzt - die Metapher vom Kampf ums Dasein im Naturvergleich eine Metaebene; Bildspender (darwinistisch ver-

238

Emile Zola: Zum Paradies der Damen. Berlin, Wien 1924, S. 484. (Der Text dieser Ausgabe folgt der ersten deutschen Ubersetzung von Armin Schwarz, die im Erscheinungsjahr der französischen Erstausgabe 1883 im Budapester Grimm-Verlag erschien.)

239

„Daß die Erblichkeit der Eigenschaften seiner Helden ein litterarischer Schwindel ist, das werden nun selbst Zola's Fanatiker nicht leugnen können. In ,La Terre' wird der Zusammenhang buchstäblich nur noch durch den Namen festgehalten; Jean Macquart erscheint hereditär höchstens durch Langweiligkeit belastet." Fritz Mauthner: „La Terre" von Zola. In: Die Nation 5 (1887/88), S. 135-138, S. 137.

240 Diese semantische Distanz hat Nelson Goodman (in der Sprache des 19. Jahrhunderts) so formuliert: „Die Metapher ist eine Affaire zwischen einem Prädikat mit Vergangenheit und einem Objekt, das sich unter Protest hingibt." Zit. nach Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 1982, S. 23.

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standener Naturprozeß) und Bildempfänger (Untergang des Kleingewerbes) stehen im Verhältnis von explanans und explanandum\ unter der Voraussetzung, man akzeptiere eine naturalistische, darwinistische Soziologie (zeitgenössisch plausibel), handelt es sich also weniger um einen Akt der Legitimation durch Natur als um eine explanatorische Metapher, die „aufklärt". Roseggers Metaphern stehen jedoch nicht im Dienst eines Interesses, einen ökonomischen oder sozialen Prozeß durchschaubar zu machen; sie sehen explanatorischen Metaphern lediglich ähnlich. In den Schriften des Waldschulmeisters (1874) findet sich eine Szene, die sich wie eine Kontrafaktur zum „heiligen Kornfeld" aus dem Jakob liest. 241 Unter dem Titel Urwaldfrieden findet Andreas Erdmann (!), den es nach Irrfahrten in einen abgelegenen Gebirgswinkel, den er als Schulmeister zivilisieren wird, verschlagen hat, Frieden in der Natur: „Ich genese. Das macht die frische, urtümliche Schöpfung, die mich umwebt." (W 68) Die „Mutter E r d e " begreift ihn in einen umfassenden Naturzusammenhang ein: „Ein Netz von Wurzeln umgibt mich, teils saugt es aus der Erde seinen Bäumen die Muttermilch, teils sucht es den Moosboden und den Andreas Erdmann darauf mit sich zu verflechten. Ich ruhe sanft auf den Armen des Netzes - auf Mutterarmen." (W 69) Solcherart naturalisiert, erblickt Erdmann in mannigfachen weiteren Naturalisierungen den Makro- im Mikrokosmos: „Ob es denn wahr ist, daß sich derselbe eine rote Faden fortspinnt durch alle Geschlechter des Menschen- und Tierreiches bis hinab zum allerkleinsten Wesen? Ob denn alles nach dem einen und selben Gesetze geht, was der König Salomon getan auf seinem goldenen Throne, und was die träge sich wälzende Raupe tut unter dem Stein? Das möcht' ich wohl wissen." (W 71) Daß es „wahr" ist, zeigt der Fortgang des Kapitels, als der Protagonist ein längeres Zwiegespräch mit einem Reh anknüpft; das Differenzkriterium zwischen beiden ist lediglich der Verstand, dessen der pantheistische Lehrer quitt sein will: „uns werden die süßen Freuden des Herzens von der Härte und Erbarmungslosigkeit des Verstandes und auch der Vorurteile vergällt." (W 76) Die „Gelehrsamkeit" hindere die Menschen, die Einheit der Natur wahrzunehmen: „Oder sie machen die grauen Augen der Gelehrtheit auf und sagen: Der da gehört in diese Klasse, oder in diese - als wie wenn die hundertjährigen Tannen und Eichen lauter Schulbuben wären. Mir ist

241

Peter Rosegger: Lebens-Beschreibung und Die Schriften des Waldschulmeisters. Hgg. u. mit einem Nachw. v. K. Wagner. Salzburg, Wien 1993. (I. f. zit. als „W" und Seite.)

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es schon recht im Walde." (W 68 f.) Hinter dieser quietistischen Szenerie, in der die Hummeln läuten (W 71), die „Vöglein im Geäste [...] auch ihr Kunstwerk stellen" wollen (ebd.), der Wald träumt und „miteinander die Bäume" sprechen (W 70), darf man jedoch Kryptozitate aus einem Text vermuten, dessen Stoßrichtung der „Heimgärtner" Rosegger in mannigfachen Kontexten zurückgewiesen hat. Vermutlich unter dem Einfluß des Grazer materialistischen Philosophen und Zeitungsherausgebers 242 Svoboda, seines „Entdeckers" und Mentors, liest Rosegger 1870 begeistert Ludwig Büchners Kraß und Stoff und empfiehlt das Werk seinem Freund Brunlechner: „Wenn Du das bisher nicht gelesen hast, so beschwöre ich Dich, lies es; es ist so unendlich wichtig [...]. Du wirst mir dafür, daß ich Dich darauf aufmerksam gemacht habe, zehn Dankbriefe schreiben." 243 Am Ende des Kapitels Die Thierseele stand dort zu l e s e n : „ D i e N a t u r kennt keine Grenzen, sondern nur der

systematisirende

Verstand des Menschen [Hervorh. W. M.]. Deßwegen hat auch der Mensch kein Recht, sich über die organische Welt vornehm hinauszusetzen als Wesen verschiedener und höherer Art anzusehen; im Gegentheil soll er den festen und unzerreißbaren

Faden [Hervorh. W. M . ] erkennen, der ihn an die

Natur selber kettet; mit Allem, was lebt und blüht, theilt er gleichen Ursprung und gleiches Ende." 2 4 4 Die „Kunstwerke der Vögel" gehören bei Büchner in die Beispielreihe zur Widerlegung der Instinkttheorie mit dem Interesse, den kategorialen Unterschied zwischen Mensch und Tier (Verstand vs. Instinkt) gradualistisch einzuebnen. Auch als Herausgeber seiner Familienzeitschrift Heimgarten hat Rosegger noch Texte von Ludwig Büchner und anderen Materialisten abgedruckt, sich mitunter in Rezensionen noch im selben Heft davon distanziert; ein Auszug Nächstenliebe

bei den Thieren aus Büchners Liebe und Liebesleben

in

der Thierwelt wird nachgedruckt, das ausgebeutete Werk in der Rezension gelobt, obwohl man „mit demselben [...] nicht in allen Punkten einverstanden zu sein" vermöge. 245 Doch auch Rosegger selbst hat Tiergeschichten im

242

Von Zeitungslektüre wird abgeraten: „vor Zeitungsblättern hüte dich, die sind giftig" (W

243

R o s e g g e r an Brunlechner, 1 . 1 1 . 1870. In ewiger Deinheit. Briefe v. P. R. an einen Ju-

244

L u d w i g Büchner: Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien. In allgemein-

245

Heimgarten 4 (1879/80), S. 204-211 (Büchner); ebd., S. 235 (Rezension).

76). gendfreund. Einf. u. verb. Text v. Ch. Anderle. Wien 1990, S. 124; auch S. 128. verständlicher Darstellung. 10. Aufl. Leipzig 1869, S. 258 f.

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Stil der Populärwissenschaftler in sein Blatt gerückt, die an Texte Büchners, Vogts und anderer manchmal mehr als erinnern; in einer Skizze Zur Liebestragik im Leben der Thiere erzählt Rosegger eine Schwalbengeschichte, die ihm „ein Schullehrer im Salzathale" berichtet habe, sie findet sich freilich mehr als 20 Jahre zuvor schon bei Büchner („die bekannte Anekdote"). 246 Auf seiten der Populärwissenschaftler waren diese Tiergeschichten - im Gegensatz zu expositorisch-philosophierenden Texten wie Kraft und Stoff wahrheitsfahige Beispielsammlungen in literarischer Einkleidung, geschrieben, um ein klein- bis bildungsbürgerliches Publikum am Fortschritt der Wissenschaften teilhaben zu lassen. Zugleich sollten sie auch in Richtung der Fachwissenschaften Übersichten für junge Disziplinen bereitstellen, die noch über keine institutionelle Verankerung verfügten (wie in diesem Fall der „Tier-Psychologie"). Anfang der achtziger Jahre waren solche Feuilletons „Aus der Wissenschaft" fester Bestandteil der Familienzeitschriften; stilistisch und hinsichtlich der moralischen Normen kamen die professionellen Autoren der Schreibhöhe der Zeitschriften weitgehend entgegen. 247 (Der wissenschaftliche Charakter der Belege litt jedoch daran, daß die Beobachtungen in den meisten Fällen unsystematisch gewonnen waren, wodurch der Name des Berichtenden erhöhte Bedeutung gewann; in Roseggers „Schullehrer aus dem Salzathale" ist ein Reflex davon zu finden.) Jedenfalls hat Rosegger in seinen Tiergeschichten das flottierende Diskursmaterial zur Charakteristik der Tiere neu gruppiert und in symptomatischer Weise eingebaut. In Waldspinnlein's Schlauheit 248 setzt er das erzählende Ich wieder in den Wald: „Von dieser einsamen Perspective aus betrachtet, ist die Welt nahezu schön, sind die Leute nahezu gut. [...] [M]an

246

Rosegger: Zur Liebestragik im Leben der Thiere. In: Heimgarten 6 (1881/82), S. 145-147, S. 147. Unter dem Titel „Zur Liebestragik der Vögel" wieder in P. R.: Meine Ferien. Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 280-284, S. 284; L. Büchner: Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien in allgemein-verständlicher Darstellung [1855], In: Vogt, Moleschott, Büchner: Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland. Hgg. u. eingel. v. D. Wittich. 2 Bde. Berlin 1971, Bd. 2, S. 347-516, S. 494.

247

Z. B.: „Durch Sittenlosigkeit zeichnet sich, wenn auch glücklicherweise als seltene Ausnahme, die Ehe des Kukuks aus, von dessen koketter Frau Gemahlin bereits berichtet wurde, daß sie sich oft mehreren Liebhabern rasch hintereinander ergebe. [...] Dennoch hat man auch Fälle von Gattentreue bei dem verliebten Gauch beobachtet." L. Büchner: Liebe und Liebes-Leben in der Thierwelt. Berlin 1879, S. 82.

248

Heimgarten 5 (1880/81), S. 63-65. Wieder als: Das Waldspinnlein. In: Rosegger: Meine Ferien, S. 271-275.

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empfindet Alles so still und mild und heilig - nur mit den Augen des Herzens muß man ausschauen und nicht mit denen der Vernunft."240 Die Ameisen als Mörder („Im stillen Walde kann man eben allerhand sehen, natürlich, wenn man die Augen aufmacht." 250 ) schließt: „So geht das Spiel im Kreise der Natur; wir Menschen stehen nicht außerhalb desselben." 251 Trotz dieser Nutzanwendungen sind diese Bilder aus der Tierwelt, soweit sie mit dem Stoff der Materialisten umgehen, gleichsam Geschichten zum halben Preis. Bei Büchner steht der Aufweis der genealogischen Beziehung von Mensch und Tier (sowie seine Behandlung der Vererbung) im Dienst eines Progreßmodells: Da keine Transzendenz die Natur nach „Klassen" geordnet hat, so wirken die Kräfte, die die Mannigfaltigkeit der Natur hervorgebracht haben, noch weiter. (Diese Ableitung ist nicht genuin darwinistisch, doch innerhalb der progressionistischen Darwin-Rezeption eine zeitgenössisch legitime Position.) Rosegger erzielt mit demselben Material meditative Statik. Im Waldschulmeister ist der „rote Faden" Büchners Teil eines ausgedehnten Metaphernfeldes: Ein „Netz von Wurzeln" (W 69) soll Erdmann mit dem „Moosboden" „verflechten", die Rede ist vom „wilden Astgeflechte der Lärche" (W 69), von der ,,merkwürdige[n] Webematte" des ,,bunte[n], wunderbare[n] Flechtwerk[s] des Moosbodens", vom ,,ewige[n] Gewebe der Schöpfung" (W 70); ,,[d]ie Vöglein im Geäste wollen auch ihr Kunstwerk stellen; sie flechten, wo das Reisig am dichtesten ist, aus Halmen und Zweigen ein Wiegenkörbchen" (ebd.). Dieselbe Metaphernreihe, mit darwinistischen Diskurspartikeln versetzt („immer aus Niedrigem dem Hohen zu", J 286), soll in Jakob der Letzte die Legitimität des Bauern an seinem Ort zu erweisen; am Bauernstand exemplifiziert, ist die „Verwurzelung" von selbst konservativ. Die Vorgänge auf der Handlungsebene werden durch diese konsequent durchgehaltene Metaphorik unterlaufen; die „Verwurzelung" bildet den zweiten, eigentlichen (Nicht-)Handlungsstrang, der durch keine Vorfalle auf der Handlungsebene erschüttert werden kann. Die bäuerliche „moral economy", das retrospektiv glückverheißende Normensystem des Bauernstands, das ja als einziges über den individuellen Fall des Jakob Steinreuter hinaus Interesse beanspruchen kann, kann so das Altenmooser Bauernsterben überleben-, Normen sind in einer Weise an die Scholle gebunden worden (wie die Treue-als249 Rosegger: Meine Ferien, S. 271. 250 Rosegger: Meine Ferien, S. 276-279, S. 276. 251 Rosegger: Meine Ferien, S. 279.

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bäuerliche-Solidarität in die Treue-zur-Erde verwandelt wurde), daß sie noch bestehen, als alle Bauern abgesiedelt sind. „Bäuerliche" Normen bedürfen so empirischer Bauern nicht mehr, ihre Konstruktion zielt auf Roseggers aktuelles Leserpublikum. Rosegger entwickelt damit gleichsam entlang der Biologie seiner Zeit ein Verfahren, durch das eine Figur gegen alle Logik der Handlungsfiihrung recht behalten kann. Er rekurriert gerade nicht auf ein vordarwinistisches („konservatives", „statisches") Naturmodell, sondern baut das modernere Bezugssystem (mit seinen Koordinaten Genealogie, Vererbung, Degeneration) so weit um, bis es konservative Funktionen erfüllen kann. Im „bäuerlichen Krisenroman" (Peter Zimmermann) muß die Frage von „stark" und „schwach", wie sie die Romane der Sternsteinhof- Tradition beherrscht, nicht thematisiert werden, da die Weichenden nicht die weichenden Erben sind, sondern die enterbten Legitimen. Der am meisten „realistische" Roman unter der hier untersuchten Literatur vom Bauern muß jedoch (wie die anderen) das Interesse haben, gegenüber einer bloß juristischen Legalität (die auf Seiten der modernen Verhältnisse steht, Jakob Steinreuter muß ins Gefängnis, als er sein „Recht" auf Selbsterhaltung durch Wilderei einlösen will) moralische Legitimität aufzubauen. Im Unterschied zu jenen Romanen, die Moral naturalisieren, moralisiert jedoch Rosegger Natur. In diesem Sinn entwirft Jakob der hetzte als Spiegelroman zum Sternsteinhof ein Alternativmodell zur „naturalistischen Reihe". Das Beispiel Roseggers zeigt damit, daß eine - relativ neue - textuelle Strategie nur dann „funktioniert" (dann aber problemlos), wenn ein neues Naturkonzept bereits soweit durchgesetzt ist, daß seine einzelnen Bestandteile frei verfügbar geworden sind. Diese Strategie arbeitet dann als konservative ebenso effizient, auch wenn sie als progressive eingeführt worden war.

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Degeneration, Identität und Teleologie in der „Wiener Moderne" Z u L E O P O L D V. A N D R I A N U N D R I C H A R D

BEER-HOFMANN

Wenn über das künstlerisch-intellektuelle Milieu im „Wien der Jahrhundertwende" eine generalisierende Aussage zu treffen möglich ist, dann wohl wenigstens die, daß in diesem Milieu Wissenschaft und Kunst einander nicht ausschlössen. Diese Kultur neigte vielmehr zu einer Amalgamierung beider, in mannigfachen biographischen und thematischen Verflechtungen wurden Synthesen gesucht. Aus Interesse am Entstehungskontext der Psychoanalyse wurden von der Forschung hierzu zahlreiche Beobachtungen gemacht 1 ; Edward Timms hat in einer bekannten Graphik einander schneidende „Kreise" auf ein Bild zu bringen versucht.2 Weniger Beachtung haben die Biologen gefunden, die ebenfalls zu dieser Kultur gehören. Vorwegnehmend ist dazu mit Paul Kammerer und Hans Leo Przibram auf zwei heute nahezu vergessene Figuren hinzuweisen. Der neolamarckistische Experimentalist Paul Kammerer, Sozialdemokrat und Mitglied des österreichischen Monistenbundes, führt in der populären Bibliographie seiner monistischen Broschüren Acht Gesängefiir eine Singstimme mit Klavierbegleitung an. Bei einem Besuch bei Gustav und Alma Mahler erwarten beide von Kammerer Aufschlüsse über Zoologie, während der Biologe über Musik sprechen möchte. Alma Mahler arbeitet später einige Zeit in der Biologischen Versuchsanstalt als Assistentin an Versuchen zur Vererbung erworbener Eigenschaften, sinnigerweise an der Gottesanbeterin (Mantis europaea)? Auch zu den Axolotl-Versuchen der Biologischen Versuchsanstalt führt 1

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Mit Blick auf die Literatur u. a. Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt/M. 1988; Horst Thome: Arthur Schnitzlers Anfänge und die Grundlagenkrise der Medizin. In: Arthur Schnitzler: Medizinische Schriften. Zusammengest. u. mit einem Nachw. vers. v. H. T. Wien, Darmstadt 1988, S. 11-59. Edward Timms: Karl Kraus, Apocalyptic Satyrist. Culture and Catastrophe in Habsburg Vienna. New Häven, London 1986, S. 8. Auch abgebildet in Ernst Hanisch: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994, S. 249. Alma Mahler-Werfel: Mein Leben. Frankfurt/M. 1990, S. 53-55.

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Degeneration, Identität und Teleologie in der „Wiener Moderne"

Kammerer sie, es handelt sich um Versuche zur Regeneration der Sehkraft im selben experimentellen Kontext.4 Kammerers Lehrer, der experimentelle Morphologe und der Begründer der Biologischen Versuchsanstalt im Prater, Hans Leo Przibram5, stellt in der Sezession aus, ornamentaler Buchschmuck unter Verwendung organischer Formen wird nach seinen Entwürfen in den Jugendstilzeitschriften Ver Sacrum und Studio abgedruckt. Die Autoren des sogenannten „Jungen Wien" wieder bewegen sich in einem Milieu, in dem Naturwissenschaften, mindestens jedoch Naturwissenschaftler eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Leopold v. Andrians Hauslehrer, der Germanist Oskar Walzel, berichtet von der Atmosphäre im Haus Andrian: „Auch die Gäste des Hauses entsprachen zum guten Teil den wissenschaftlichen Neigungen Baron [Ferdinand v.] Andrians. Als Vorsitzender der Wiener Anthropologischen Gesellschaft [...] stand Andrian mit ausgezeichneten Gelehrten in enger Fühlung. Nach einer Tagung der Gesellschaft kehrte Rudolf Virchow mit seinen Damen bei uns ein." 6 Der Hochadel trifft bei dem Anthropologen Andrian auf die Wissenschaft. „Seine [Leopolds] Schwester, etwas älter als er, war ganz anders, hatte sich ihre kindliche Unmittelbarkeit erhalten [...]. Wissensdurstig bestürmte sie Ältere mit Fragen [...] nach dem Wesen des Lebens." Eine enge Freundin der Schwester leitet später das Bakteriologische Institut in Bonn. 7

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„Dort wurden Axolotl an Licht und Fressen gewöhnt, und diese blinden Tiere bekamen ihr Augenlicht wieder. Als ich, nach Hause gekommen, Oskar Kokoschka dieses Ergebnis mitteilte, sagte er: ,Und was sehen sie dann? ... Den Paul Kammerer!'" Mahler-Werfel: Mein Leben, S. 54. Es handelt sich wohl um die von Kammerer 1913 veröffentlichten Versuche „Nachweis normaler Funktion beim herangewachsenen Lichtauge des Proteus", in: Pfliigers Archiv für die gesamte Physiologie des Menschen und der Tiere 153 (1913), S. 430-440. Zu Kammerer vgl. Arthur Koestler: Der Krötenküsser. Der Fall des Biologen P. K. Wien, München, Zürich 1972 und Albrecht Hirschmüller: Paul Kammerer und die Vererbung erworbener Eigenschaften. In: Medizinhistorisches Journal 26 (1991), S. 26-77. Przibram (1874 Wien - 1944 KZ Theresienstadt), Sohn eines Fabrikanten und böhmischen Landtagsabgeordneten, habilitierte sich 1903 in Wien für Zoologie unter besonderer Berücksichtigung der experimentellen Morphologie. Przibram erwarb 1902 das Vivarium im Prater und etablierte dort eine experimentelle Forschungsstation. Als sein Hauptwerk gilt die „Experimental-Zoologie" (Wien 1907-1930). Oskar Walzel: Wachstum und Wandel. Lebenserinnerungen. Aus d. Nachlaß hgg. v. C. Enders. Berlin 1956, S. 44 f. Walzel: Wachstum und Wandel, S. 47.

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Im lockeren Freundeskreis Jung-Wien kursieren die Schriften von Cesare Lombroso und Richard Krafft-Ebing 8 ; der Bezug der Jung-Wiener Literatur zur Erkenntnistheorie Ernst Machs ist, trotz schmaler Faktenlage, in der Forschung bereits zum Klischee erstarrt. Die Lyrismen zum „unrettbaren Ich" in der Wien-um-1900-Industrie akzeptieren wohl bereits den Umstand, daß sich Mach vom „unrettbaren Ich" in milder aufklärerischer Absicht keine Katastrophe, auch keine „Krise", sondern Aufklärung erwartet hat; fast immer wird jedoch übersehen, daß Machs Erkenntnistheorie darwinistische Grundlagen hat, nicht anders als Krafft-Ebings (und Lombrosos) Psychopathologie u n d Hermann Meynerts Gehirnforschung. Adolf Loos' Attacke auf das Ornament ist nicht weniger evolutionistisch grundiert als Freuds Tiefenpsychologie und dessen kulturkritisches Spätwerk, das ohne Darwin bzw. Lamarck nicht zu denken ist. Freud wurde noch als Schüler in einer der gutbesuchten öffentlichen Vorlesungen des Zootomen Carl Bernhard Brühl für den Darwinismus gewonnen und beschloß, Naturwissenschaften zu studieren; ähnliches wird von dem neolamarckistischen Botaniker Richard v. Wettstein berichtet. 9 Fast alle zeitgenössischen österreichischen Philosophen reagieren (meist zustimmend) auf Darwins Theorie: Hugo Spitzer 10 und Wilhelm Jerusalem (bei dem Leopold v. Andrian an der Wiener Universität Vorlesungen hörte), Friedrich Jodl und Franz Brentano, „Gottesgläubiger, Theolog und Darwinianer und ein verdammt gescheiter, ja genialer Kerl" (S. Freud 11 ). Hugo v. Hofmannsthal hat Mach, Jodl und Brentano gehört. Die reflexhaft eingespielte Assoziationskette von Mach über Erkenntnisund Ich-Krise zur „Moderne" ist umso weniger berechtigt, da Mach wohl rezipiert wurde, jedoch n u r wenige Dokumente über Form, Qualität und auch über die Textbasis dieser Rezeption vorliegen. Erhard Oeser hat aus

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Dagmar Lorenz: Wiener Moderne. Stuttgart, Weimar 1995, S. 89. Sigmund Freud: „Selbstdarstellung". Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse. Hgg. u. eingel. v. I. Grubrich-Simitis. Frankfurt/M. 1989, S. 41; Bruno Enderes: Richard Wettstein Ritter von Westersheim. In: NÖB 8, S. 11-26, S. 13. Als Wilhelm Rullmann Haeckel für eine Zuschrift zu einem Geburtstagsalbum für Bartholomäus v. Carneri dankt, nennt er Spitzer ,,eine[n] Ihrer waermsten Anhaenger". Grazer Concordia (Rullmann) an Haeckel, 3. 11. 1901. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 608/1. Freud an Eduard Silberstein, 7. 3. 1875. Zit. nach Ronald W. Clark: Sigmund Freud. Leben und Werk. Frankfurt/M. 1985, S. 49.

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Machs Populären Vorlesungen (einer ihrer Leser war Richard Beer-Hofmann 1 2 ) eine Punktation abgeleitet, die dort die Ursprünge der „evolutionären Erkenntnistheorie", wie sie später die Wiener Konrad-LorenzSchule ausgestaltete, erkennen läßt, vom biologischen Ursprung der Begriffe zur Naturalisierung der Kantischen Kategorien (die Kategorien seien „auf die von unseren Vorfahren meistgeübten Denkneigungen und Denkstimmungen zurückzuführen" 13 ); Erkenntnisschwächen seien Anpassungsmängel und „vererbte Vorurteile". 14 Wie aus den letzten Zitaten ersichtlich, hatte dieser Darwinismus eine deutlich „lamarckistische" Schlagseite, wobei diese lamarckistische Färbung entweder eine unbefragte oder aber eine programmatische war, wie sie der starke Wiener Neolamarckismus (Wettstein, Kammerer, Kassowitz) vertrat. 15 Wird auch die Verbindung von Mach und Jung-Wien eher als in der „Ich-Krise" der „Moderne" verankert bestimmt denn als ein Verhältnis direkter Intertextualität, so läge es doch näher, zunächst eine gemeinsame Basis im Darwinismus anzunehmen. „Denn Darwin selbst hatte unter den Wissenschaftlern der österreichischen Monarchie große Bewunderer. [...] Sowohl an der Philosophischen Fakultät, die damals noch die naturwissenschaftlichen Fächer umfaßte, als auch an der Medizinischen Fakultät [an der Arthur Schnitzler u. a. studierten, W. M.] hatte Darwin begeisterte Anhänger." 16 Es erscheint als besonders merkwürdig, daß gerade Hermann Bahrs

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Richard Beer-Hofmann an Hugo v. Hofmannsthal, 5. 8. 1898. H. v. H., R. B.-H.: Briefwechsel. Hgg. v. E. Weber. Frankfurt/M. 1972, S. 81. Ernst Mach: Werden Vorstellungen, Gedanken vererbt? In: E. M.: Populärwissenschaftliche Vorlesungen. Mit einer Einl. v. A. Hohenester u. einem Vorw. v. F. Herneck. Neudruck d. 5. Aufl. Leipzig 1923. Wien, Köln, Graz 1987, S. 464-482, S. 467. Zu Ludwig Boltzmanns Darwinismus vgl. auch Engelbert Broda: Ludwig Boltzmann als evolutionistischer Philosoph. In: E. B.: Wissenschaft, Verantwortung, Frieden. Ausgewählte Schriften. Hgg. v. P. Broda u. a. Wien 1983, S. 88-100. Auch Kurt Rudolf Fischer: Ornament und Askese in der Philosophie. In: Ornament und Askese im Zeitgeist des Wien der Jahrhundertwende. Hgg. v. A. Pfabigan. Wien 1985, S. 261-274, bes. S. 270.

14

Erhard Oeser: Die naturalistische Neubegründung der Erkenntnistheorie durch Mach und Boltzmann im Wien der Jahrhundertwende. In: Die Wiener Jahrhundertwende. Hgg. v. J. Nautz u. R. Vahrenkamp. Wien, Köln, Graz 1993, S. 228-240.

13

Zu Machs Ablehnung des „Neodarwinismus" August Weismanns zugunsten der Vererbung erworbener Eigenschaften vgl. auch E. M.: Einige vergleichende tier- und menschenpsychologische Skizzen. [1916] In: E. M.: Populäre Vorlesungen, S. 613-628. Oeser: Neubegriindung, S. 232.

16

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293

Aufnahme der Machschen Formel vom „unrettbaren Ich"17 den Konnex zur „Moderne" stiften soll, bedenkt man, daß derselbe Bahr zur Schreibzeit des Artikels bereits „Osterreich" und die „Provinz" entdeckt hatte, was ihn für einen emphatischen Moderne-Diskurs bereits verloren erscheinen lassen müßte. Bei aller gebotenen Skepsis gegenüber Bahrs Positionierungen läßt sich selbst bei ihm eine Reihe von Belegen anführen, die auf eine lebenslange, selbstverständliche Befassung und Identifikation mit dem Darwinismus hindeutet (bis alles - spät - nach seiner katholischen Wendung widerrufen wird). So hat Bahr etwa als Herausgeber der Zeitschrift Die Zeit wiederholt versucht, Haeckel als Mitarbeiter zu gewinnen. 18 Bahr war Mitglied des Deutschen Monistenbundes, noch bevor sich eine österreichische Landesgruppe konstituierte.19 Auch die relative Erfolglosigkeit des Neokantianismus in Osterreich dürfte dazu beigetragen haben, ein tieferes Schisma von Geistes- und Naturwissenschaften zu verhindern. Durchaus repräsentativ scheint hierfür eine briefliche Äußerung des Philosophen und Freidenkers Friedrich Jodl, als er Haeckel für die ihm zuteil gewordene Widmung der Volksausgabe der Welträtsel dankt: „Auch ich bin der Meinung, daß die Zukunft unserer wissenschaftlichen Cultur auf dem engsten Bunde der Naturwissenschaft mit der Geisteswissenschaft beruht, u. daß Philosophie als Weltanschauung nichts anderes sein kann als die begriffliche Synthese der jeweils gewonnenen Gesammterkenntniß." 20 Man sollte demnach für die Literatur der Wiener Jahrhundertwende eine gewisse Vertrautheit mit darwinistischen Denkmotiven aus erster Hand 17

18 19

20

Bahr: Das unrettbare Ich. [1904] Wieder in: Hermann Bahr: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887-1904. Ausgew., eingel. u. erläutert v. G. Wunberg. Stuttgart u. a. 1968, S. 183-192. Unter diesem Titel auch eine Rezension Bahrs zu Mach (Neues Wiener Tagblatt, 10. 4. 1903). Bahr an Haeckel, 8. 4., 10. 9., 15. 10. 1895. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A-Abt. 1, Nr. 274. Ingrid Belke: Die sozialreformerischen Ideen von Josef Popper-Lynkeus (1838-1921) im Zusammenhang mit allgemeinen Reformbestrebungen des Wiener Bürgertums um die Jahrhundertwende. Tübingen 1978, S. 43. Jodl an Haeckel, 2. 5. 1903. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 3097. Den gesamten Neukantianismus verdächtigt Jodl ,,gewisse[r] theologische[r] Hintergedanken"; ,,[d]iese ganze Trennung der intelligiblen u. der erfahrbaren Welt ist nur ein asylum Deorum, die ins Nirgendheim, ins Bodenlose versinken, wenn es nur ein Sein u. eine Welt gibt, die Natur, das Diesseits." Zu Jodl bes. Georg Gimpl: Prometiden [!] versus Brentanoiden. Friedrich Jodl und die „Osterreichische Philosophie" u. Juha Manninen:

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voraussetzen können, ehe man eine zu intensive Nietzsche-Rezeption oder gar einen „zeitüblichen ,Monismus'" (der ja dazu ohnehin wahlweise dem Metaphysik- oder dem Biologismus-Vorwurf unterliegt) in Betracht zieht. Auch philosophische Kontextualisierungen sollten mit Vorsicht vorgenomm e n werden. 2 1 Hugo v. Hofmannsthal liest 1895 Ernst Haeckel („Jetzt freu ich mich sehr auf den Häckel." 22 ) in einem Exemplar, das er von Beer-Hofmann borgt: „Ich les Ihren Häckel, viel Browning, und den Triumph des Todes von d'Annunzio. Und im Kopf geht das Alles fortwährend durcheinander, das macht aber gar nichts weil es lauter wahre Bücher sind", wie er Beer-Hofmann bereits wenig später mitteilt, wobei ihm die Lektüre durchaus zusagt: „Den Häckel find ich blos im Ton viel platter, viel weniger magistral, als ich erwartet hätte. Sonst ist er mir natürlich sehr wertvoll." 25 Als Leopold v. Andrian sich einige Zeit später zur unterstützenden Behandlung seiner Hypochondrie (die er von Schnitzler diagnostizieren läßt) „irgend welche naturwissenschaftliche Bücher, chemische oder medicinische, oder botanische oder zoologische [...], Bücher aus denen unsere Stellung in der Natur, unser Zusammenhang mit allen Dingen klar wird, und vor allem die vielen Kräfte und vielen Möglichkeiten die in der Natur sind" 24 , wünscht, antwortet Hofmannsthal: ,,[D]as wissenschaftliche Buch ist sehr schwer zu finden, obwohl oder gerade da ich genau weiß was Du meinst; schreibe umgehend ob Du die ,natürliche Schöpfungsgeschichte' von Haeckel zunächst willst." 25 Doch Hofmannsthal „kann nichts von Darwin auftreiben weder bei Ver-

21

22 23 24 25

Materialismus in der Weltanschauung und Idealismus im Handeln. Die Teilung der Vernunft bei Friedrich Jodl - Dokumente aus dem Jodl-Bolinschen Nachlaß. Beide in: Verdrängter Humanismus - Verzögerte Aufklärung. Bd. 3. Hgg. v. M. Benedikt u. R. Knoll. Klausen-Leopoldsdorf u. a. 1995, S. 825-837 u. S. 839-847. Auch Paul Kammerer berief sich auf Jodl. „Paul gewinnt also ,Realität', indem er das mit der Metapher der ,blöde[n] Augen' nunmehr negativ bestimmte ,naive' Sehen überwindet. In gewisser Weise vermittelt er dabei Mach und Schopenhauer mit Kant, weil er erkennt, daß ,Realität' nicht in direkter Unmittelbarkeit gegeben ist". Stefan Scherer: Richard Beer-Hofmann und die Wiener Moderne. Tübingen 1993, S. 213. Scherers Arbeit ist dennoch die bislang differenzierteste und ausführlichste Arbeit zu R. Beer-Hofmann. Hofmannsthal an Beer-Hofmann, 5. 6. 1895. Briefwechsel, S. 51. Hofmannsthal an Beer-Hofmann, 16. 6. 1895. Briefwechsel, S. 54 f. Andrian an Hofmannsthal, 10. 10. 1897. H. v. H., L. A.: Briefwechsel. Hgg. v. W. H. Perl. Frankfurt/M. 1968, S. 92. Hofmannsthal an Andrian, 15. 10. 1897. Briefwechsel, S. 93.

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wandten, noch Schnitzler oder dessen Bruder; [ich] habe Kietaibl sagen lassen, daß er Dirs eventuell sofort schicken soll. Bekommst aber alles leicht und nicht sehr teuer in Baden. Besonders schön ,Reise on board the Beagle' (an Bord des ,Spürhund') ferner Ausdruck der Leidenschaften bei den Tieren." 26 Auf die Funktion des humanistischen Gymnasiums im Prozeß der Selbstreproduktion der Bildungseliten und auf seine Bedeutung fur die Vermittlung der Antike ist von der Forschung im Interesse der Kontextualisierung klassischen Bildungsgutes in den Texten Jung-Wiens hingewiesen worden. 27 Dazu ist mindestens zu bemerken, daß das österreichische Gymnasium zwar ohne Zweifel seinen Schwerpunkt in den alten Sprachen hatte, im Unterschied zum Deutschen Reich (etwa Preußen oder Bayern) aber in der Stundentafel zugleich hohen Wert auf die Realienfacher legte. Naturgeschichte (Zoologie) wurde im Wiener Akademischen Gymnasium u. a. von dem professionellen Urgeschichtler und Anthropologen Johann Nepomuk Woldrich unterrichtet, einem korrespondierenden Mitglied der Pariser Société d'Anthropologie. Nach dem Zeugnis von Karl Kautsky verstand es Woldrich schon in den frühen 1870er Jahren, „die von ihm gelehrten Naturwissenschaften durch eingeschmuggelte darwinistische Konterbande zu beleben."28 Es läßt sich anhand der Jahresberichte des Akademischen Gymnasiums (unter dessen Schülern sich auch Schnitzler und Hofmannsthal befanden) leicht nachweisen, daß Richard Beer-Hofmann in der sechsten Klasse, in der das Fach Zoologie nach dem österreichischen Lehrplan unterrichtet wurde, Schüler Woldrichs war.29 Mit dem Darwinismus kann also schon in der Schulsozialisation der Jung-Wiener gerechnet werden; handelt

26 27

Hofmaimsthal an Andrian, 20. 10. 1897. Briefwechsel, S. 95. Wendelin Schmidt-Dengler: Decadence and Antiquity: The Educational Preconditions of Jung Wien. In: Focus on Vienna 1900. Change and Continuity in Literature, Music, Art, and Intellectual Histoiy. Ed. by E. Nielsen. München 1982, S. 32-45.

28

Karl Kautsky: Erinnerungen und Erörterungen. Hgg. v. B. Kautsky. s'Gravenhage 1960, S. 181 f. Jahres-Bericht über das k. k. akademische Gymnasium in Wien für das Schuljahr 1880/81. VerölT. v. Dir. Karl Schmidt. Wien 1881, S. 66. Woldrich erhielt im selben Jahr (4. 12. 1881) die Goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft. Schnitzler, nach BeerHofmann Schüler derselben Anstalt, hat Woldrich allerdings als wenig ansprechenden Pädagogen geschildert („Ein schwacher Lehrer und dabei ein durchaus unleidliches Subjekt"). A. Schnitzler: Jugend in Wien. Eine Autobiographie. Hgg. v. Th. Nicki u. H. Schnitzler. Mit einem Nachw. v. F. Torberg. Frankfurt/M. 1992, S. 41.

29

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es sich bei ihnen in Summe u m eine Generation von poetae docti, so sollte ihnen doch auch ein weiterer als der humanistische Bildungsbegriff unterstellt werden dürfen. Stellt man diese kursorische Skizze in Rechnung, scheint es legitim, anstatt der Diskussion von „Asthetizismus", Ich- und Wahrnehmungskrise der Verankerung dieser Literatur im darwinistischen Diskursgefüge nachzugehen. Mindestens auf motivischer Ebene (aber auch darüber hinaus) rückt dann die Literatur der Wiener Jahrhundertwende näher an die zeitgenössische Literatur von Anzengruber, Kautsky, delle Grazie und Suttner, indem sie auf ähnliche Fragestellungen nicht vollständig divergente Antworten gibt, jedoch aber sehr spezifische. Aus dieser Perspektive wären dann auch die beliebten Fragestellungen nach der Zugehörigkeit einzelner Autoren zu einer wie auch immer bestimmten „Moderne" obsolet. 30 In jüngerer Zeit ist die Einsicht gewachsen, daß es bezüglich der Literatengruppe Jung-Wien nicht nur keine programmatische Einheit gab, die sie sehr im Unterschied etwa zum Berliner und Münchner Naturalismus - konstituiert hätte, nicht einmal konstitutive programmatische Divergenzen, sondern (sieht man von Hermann Bahrs Verlautbarungen ab) überhaupt keine Programme (Gotthart Wunberg hat in dieser Hinsicht schon früh von der „Gruppe, die keine war" gesprochen); und daß die unter „Jung-Wien" rubrizierten Autoren auch in soziologischer Rücksicht keineswegs einheitlich zu bewerten sind (wie etwa Felix Saltens Beispiel zeigt), da auch ihre Stellung zu Brotberuf und Literaturbetrieb durchaus unterschiedlich war. Man ist im selben Zug vorsichtiger geworden, luziden Textanalysen vulgärsoziologische Gemeinplätze zur Lage der (immer desorientierten') Bourgeoisie in einem (immer,sterbenden') historischen Staatsgebilde anzuheften. Daß das Sterben einer Kultur kreative Kräfte auslöst, ist ein Motiv aus dem Degenerationsdiskurs des 19. Jahrhunderts und sollte in der Forschung nur als Gegenstand, nicht aber als Analyseinstrument Platz haben. Es bietet sich demnach an, die ohnehin imaginäre Einheit der Gruppe für unsere Zwecke aufzuheben (wenngleich man sich damit des praktikablen Verfahrens begibt,

30

„Hofmannsthal und Schnitzler sind daher letztlich modern, während Dörmann bloßer Epigone einer Tradition der Dekadenz ist." (Lorenz: Wiener Moderne, S. 77) Kein einziges Kriterium hält einer näheren Nachfrage stand. Wenn Schnitzlers „Leutnant Gustl" (1900) modern zu nennen ist, sind dann „Der Weg ins Freie" (1908) und „Professor Bernhardi" (1912) „Rückfälle"?

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Interpretationsprobleme durch interpretatorische Lösungen für andere Autoren der Gruppe zu klären, als ergiebig erwiesen sich hier Hofmannsthals und Bahrs Essays). Zwischen den Texten Der Garten der Erkenntnis (1895) von Leopold v. Andrian und Der Tod Georgs (1900) von Richard Beer-Hofmann gibt es eine hohe Anzahl von Gemeinsamkeiten; es erscheint daher sinnvoll, beide Texte einer kontrastierenden Analyse zu unterziehen.31 Beide Texte wurden zu „Schlüsseltexten" des Jungen Wien bzw. der „Wiener Moderne" gezählt. Beide Texte verhandeln das epochentypische Thema des „Narziß", der sich in selbstgewählter sozialer Isolation auf die Suche nach Authentizität, nach „Erkenntnis", dem „Leben" begibt. Beide Texte partizipieren dabei am Bildfundus ästhetizistischer Literatur, ohne des „Künstlers" als Protagonisten zu bedürfen. Beide Texte folgen einem rudimentären biographischen Schema, das bei Andrian von Geburt und Tod Erwins umschlossen wird; Beer-Hofmanns Paul erfahrt die, wie der Text andeutet, entscheidende Wende („Unverhüllt, aus nicht lügenden Augen, sah eine Erkenntnis ihn an." [TG 125]), die fortan sein Leben bestimmen würde, in den Erlebnissen einer kurzen Zeitspanne. „Erfüllte Biographie" ist jedoch als Thema in Rückblenden und Reflexionen präsent. Beiden Texten ist schließlich das Verfahren personalen Erzählens gemeinsam (wenn auch bei Andrian nicht lückenlos durchgeführt) und ein gegenüber dem gängigen realistischen Erzählmodell verändertes Verhältnis von „Erzählzeit" und „erzählter Zeit". In beiden Texten kommt der mehrfachen Repetition von Syntagmen und kurzen Erzählsequenzen organisierende Funktion zu, was bei Beer-Hofmann als „Leitmotivtechnik" gedeutet wurde. An einigen Stellen kann gezeigt werden, daß sich Beer-Hofmanns Tod Georgs als „Antwort" auf den Garten der Erkenntnis lesen läßt. Andrians Erwin, so der Garten der Erkenntnis, „war wie ein Jüngling in der Höhle, in der sich alle Schätze der Welt zu verschiedenfarbigen Erden verzaubert befinden; das eine Wort, das sie verwandelt, wird ihm ein gottesfurchtiger Greis sagen; aber er darf in der Höhle nur wenige Augenblicke bleiben, und weil er das Wort nicht weiß, so weiß er nicht, mit welchen Erden er sich beladen soll [•• •]" (GE 30). Dieses Tausend-und-eine-Nacht-Motiv wird von 31

Andrian wird zitiert nach Leopold Andrian: Der Garten der Erkenntnis. Mit einem Nachw. v. Iris Paetzke. Zürich 1990 ( „ G E " u. Seite); Beer-Hofmann wird zitiert nach Richard Beer-Hofmann: Der Tod Georgs. Hgg. u. mit einem Nachw. v. A. Allkemper. Paderborn 1994 („TG" u. Seite).

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Beer-Hofmann aufgenommen und auf Georg übertragen; angeschlossen werden hier dazu die Schlüsselbegriffe des Gartens der Erkenntnis: „Wie Kostbarkeiten in verschütteten Schatzhäusern geflohener Könige, hatte es lange geruht, bis Georgs Worte es gehoben. Vorher hatte es wenig bedeutet: ein Duft in der Nacht, das Verhallen einer Stimme, Wasser, das verrann, und ein Schatten um Mittag. Mutter - Jugend - Liebe - Erkenntnis hieß es jetzt, und war genug, ein ganzes Leben reich zu erfüllen." (TG 80) Wenn weiters Andrians Erwin im Schloßpark von Schönbrunn „den unsagbaren Reiz einer Statue" fühlt, „auf der sich zwei Frauen umschlungen hielten" (GE 33), so verlegt Beer-Hofmann die Schlüsselszene, in der Paul „Erkenntnis" zuteil wird, gleichfalls nach Schönbrunn, vor einen Brunnen, „aus dessen Mitte eine steinerne fischgeschwänzte Frau sich hob" (TG 112). Beide Texte verhandeln schließlich, neben einer „Kritik des Asthetizismus", noch andere, „zweite Themen". Im Fall Andrians liegt ein „hidden plot" vor, der die Beziehungslosigkeit und -problematik des Homosexuellen verarbeitet; Beer-Hofmanns Figur Paul präsentiert sich ein Ausweg aus einer zeittypischen Konstellation in der (nicht-religiösen) „Konversion" zum Judentum. Dieses Judentum wird aber ebensowenig explizit im Text genannt wie bei Andrian das eigentliche „Problem" der Homosexualität unter den Bedingungen der „Adoleszenzkrise" (Ursula Renner 32 ). Die „zweiten Themen" sind in beiden Texten durch eine Chiffren- und Allegoriensprache präsent; wie die sich umschlingenden Frauen bei Andrian auf das Problem Erwins verweisen, deutet die „fischgeschwänzte Frau" Beer-Hofmanns auf die Mittel des Evolutionismus, mit denen der Text Pauls Problem zu lösen versucht. Chiffrentechnik, hidden plots und die gegenseitige Bezogenheit deuten auf ein Tertium comparationis. Es dürfte kein Zufall sein, daß gerade die beiden prominentesten „Asthetizismus"-Texte des Jungen Wien in ihren „zweiten Themen" wohl differieren, daß diese Themen dennoch in der Perspektive ihrer Epoche in engem Zusammenhang stehen. 33 Juden und

32 53

Ursula Renner: Leopold Andrians „Garten der Erkenntnis". Literarisches Paradigma einer Identitätskrise in Wien um 1900. Frankfurt/M., Bern 1981. Hinweise auf die Zusammenhänge der Diskurse vom „Juden" und vom „Homosexuellen" bei Thomas Sparr: Die Erfindung des Homosexuellen. Ein Motiv der Wissenschaft und Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Nachmärz. Der Ursprung der Moderne in einer nachrevolutionären Konstellation. Hgg. v. Th. Koebner u. S. Weigel. Opladen 1996, S. 256-272.

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Homosexuelle gelten dieser als mit den Stigmata der „Degeneration" geschlagen; mit den „Zeichen" im Sinn der Diagnostik verweisen sie auch auf einen überindividuellen historischen Prozeß. Beiden „zweiten Themen" ist gemeinsam, daß sie in engem Bezug zu den realhistorischen Problematiken nicht nur ihrer Epoche, sondern auch der Autoren ihrer Texte stehen, wobei für beide Autoren ein vitales Interesse an einer sowohl textuell-imaginären als auch realen „Lösung" bzw. Bearbeitung angenommen werden kann. Mit der Bewertung der Dekadenzliteratur (der kulturellen Rückseite der „Degeneration"34) als eines „ästhetischen Widerstandes" (Gert Mattenklott) gegen die Deformationen durch ihre Trägergesellschaft ist man in der Forschung zum Jungen Wien stets vorsichtig gewesen, da die „widerständigen" Elemente zu wenig erkennbar waren. Seine Autoren wairden als Integrierte, nicht als Apokalyptiker beschrieben; wo kein Bruch mit den herrschenden Normen und Umgangsformen zu diagnostizieren war, wurde auf Introversion der Ästhetizismus-Problematik als Ich-Krise erkannt, diese von dort aus wieder als epochentypisch. Einzuwenden ist zum einen, daß das Trägermilieu der Jung-Wiener Literatur nicht soziologisch eindeutig, aber doch ex negativo in seinen Werthaltungen einigermaßen bestimmt abgegrenzt werden kann: liberal, wobei den Aristokratisierungsbemühungen des höheren Bürgertums Verbürgerlichungstendenzen der mittleren Aristokratie (mitunter auch der allerhöchsten, wie im Herrscherhaus) entgegenkamen, tendenziell antiklerikal, österreichisch-patriotisch mit (deutsch-)nationalen Sympathien, oft jüdischer Herkunft, doch assimiliert, in erotischer Perspektive tolerant, doch diskret bis zur Verdrängung. Diese vielbeschriebenen Werthaltungen bargen in der spezifischen Situation der Jahrhundertwende und der quantitativen Beschränktheit des Milieus ein hohes Maß an Dissidenzmöglichkeiten, aber auch an Gefahren unfreiwilliger Dissidenz. „Sozialer Tod", wie ihn Mario Erdheim an Sigmund Freud beschrieben hat55, war schnell erreicht. Selbst die aus der Außensicht am stärksten hegemonialen ideologischen Projekte wurden schnell zur Abweichung. Die Anbiederung an die Staatsreligion (wie Bahrs, Andrians und Hofmannsthals später Katholizismus), der nationale Chauvinismus der nach wie vor herrschenden Nationalität (wie der Deutschnationalismus Georg v. Schönerers, aber zunächst auch Wilhelm Scherers, Victor Adlers, Engelbert Per34 55

Dazu Wolfdietrich Rasch: Die literarische Décadence um 1900. München 1986, pass. Mario Erdheim: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß. 3. Aufl. Frankfurt/M. 1990, S. 75 f. u. pass.

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nerstorfers), der emphatische Antisemitismus (Otto Weiningers) sowie der emphatische Zionismus sowohl Theodor Herzls als auch seiner eigenen kulturalistischen Dissidenten brachten die Protagonisten schnell jenseits eines informellen, aber strengen sozialen Zusammenhangs. (Zugleich wurden die sozialen Sanktionierungen nach Rollen differenziert, was ihre Folgen deutlich milderte. Freud blieb Universitätslehrer, aber seine Lehre wurde nicht anerkannt; Herzl blieb Redakteur der Neuen Freien Presse, doch über sein zionistisches Projekt wurde nicht berichtet.) Zum anderen ist zum „ästhetischen Widerstand" zu bemerken, daß im Rahmen des Dekadenzdiskurses für die Subjekte dieses Diskurses dessen Nachtseite, die Degenerationsthematik, nicht suspendiert ist. So entsteht nach der Schematik der Epoche - aus Verfall wohl Kunst, der Autor der ästhetizistischen Dekadenz wäre nach der ästhetischen Affirmation der Degeneration dennoch mit seiner eigenen „Degeneration" (wäre er davon betroffen) allein. Ähnlich hat Thomas Mann in den Buddenbrooks, die als Roman des Verfalls einer Familie angelegt sind, aus dem durchaus physiologisch motivierten Abstieg als letzten Erben den Künstler Hanno hervorgehen lassen und den ästhetischen Mehrwert der Degeneration emphatisch bejaht, denselben Hanno Buddenbrook aber vom Aufweis der Homosexualität freizuhalten versucht, obwohl die textuellen Hinweise überdeutlich sind und gerade weil dies ein „geheimes" Lebensthema seines Autors berührt hätte. 36 Vorwegnehmend kann gesagt werden, daß BeerHofmann die Affirmation des Judentums unter Rekurs auf naturwissenschaftliche Mittel vornehmen wird, die gerade dem Degenerationsdiskurs steuern sollten. Auch der zeitgenössische Widerstand gegen Max Nordaus Entartung (mit ihrer Widmung an Cesare Lombroso) wird darauf zurückzuführen sein, daß Nordau diesen Zusammenhang von Dekadenz und Degeneration mitleidlos aufdeckt, indem er ihn auf die literarischen Autoren selbst anwendet. Insofern der „Ästhet" tatsächlich nur die Maske des „Degenerierten" ist, behält der Mediziner Nordau mit seiner Diagnose in gewissem Sinn (aber auch nur in diesem Sinn) recht.

36

„Mit dem Aufspüren des Homosexuellen sind Sie zu leicht bei der Hand. Ich gebe alles Mögliche zu, aber das Verhältnis zwischen Hanno und Kai ist völlig frei davon", so Thomas Mann 1953 an den (Ost-)Berliner Dissertanten Harald Kohtz („Das Problem der Dekadenz im Werk Thomas Manns", Phil. Diss. Humboldt-Univ. Berlin 1953). In: Th. Mann: Selbstkommentare: „Buddenbrooks". Hgg. v. H. Wysling unter Mitw. v. M. EichFischer. Frankfurt/M. 1989, S. 133.

Degeneration und Homosexualität: Andrians „Garten der Erkenntnis"

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Daher müssen durchaus Differenzen in den Ausgangspositionen der verschiedenen Autoren in einem so wissenschaftsgesättigten kulturellen Feld wie d e m der Jahrhundertwende veranschlagt werden; vorauszusetzen ist, daß „Degeneration" zum kulturellen Wissensbestand gehört und geglaubt wird. Eine Befragung der im Unterschied zu den Proklamationen des gemeineuropäischen Naturalismus so unwissenschaftlich auftretenden Texte auf ihren Zusammenhang mit Naturwissenschaft bedeutet keinen Verzicht auf eine sozialgeschichtliche Lektüre; diese scheint im Gegenteil erst dann möglich, w e n n auf der Einheit des kulturellen Wissens beharrt wird, da sich dessen „naturwissenschaftliche" Komponente ebenso in Wechselwirkung mit der „Kultur" der Jahrhundertwende formiert. An den „weichen" Wissenschaften wie der Psychopathologie und der Psychoanalyse hat m a n auch schnell dieselben Strategien ausfindig gemacht, wie sie d e r Literatur zugesprochen wurden; es gibt aber keinen Grund, sich darauf zu beschränken.

DEGENERATION UND

HOMOSEXUALITÄT:

A N D R I A N S „ G A R T E N DER

ERKENNTNIS"

Hugo v. Hofmannsthal ist im Degenerationsszenario ein wenig Gefährdeter; zugleich beutet gerade Hofmannsthal diesen Diskurs (mindestens in seinen Essays) am stärksten aus. Die berühmte Einleitung zum Essay über D'Annunzio (1893) - „als hätten uns unsere Väter, die Zeitgenossen des jüngeren Offenbach, und unsere Großväter, die Zeitgenossen Leopardis, und alle die unzähligen Generationen vor ihnen, als hätten sie uns, den Spätgeborenen, nur zwei Dinge hinterlassen: hübsche Möbel und überfeine Nerven" 5 7 - ist ambig, indem sie als Apercu, das mit der Vererbungsthematik doppelten Scherz treibt, eine ebenso gedoppelte Lesart anbietet. Daß Vererbung von Besitz und Vererbung im Sinn von somatischem „Erbgut" eine geläufige Assoziation der Epoche war, wurde mit den daraus erwachsenden Aporien im vorigen Kapitel darzustellen versucht. In der Konfrontation von „Möbeln" und „Nerven" erscheint in zwei Lesarten jedes der beiden Elemente einmal metaphorisch, einmal wörtlich, nie jedoch beide zugleich. 57

H. v. Hofmannsthal: Gabriele d'Annunzio (1). [1893] In: H. v. H.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa 1. Frankfurt/M. 1950, S. 170-183, S. 170.

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Solche Ironie stand dem „Gefährdeten" nicht zu Gebote. So kommt es zwischen Hofmannsthal und seinen Freunden Andrian und Beer-Hofmann immer gerade dann zu einer schweren Verstimmung, als er an deren persönliche Problematiken rührt. Als er Beer-Hofmanns emphatisches Judentum (viel später) unbedacht als nationalen Chauvinismus denunziert, antwortet dieser mit einer langen, erregten Epistel; als Hofmannsthal nach dem Abschluß des Gartens der Erkenntnis Andrian an dessen früheren Gefährten Erwin [!] Slamecka erinnert („daß Du so hart und bös gegen das Verlorene bist, wie den Erwin, der Dir doch früher das obere Leben war"38), reagiert Andrian mit dem Vorwurf, Hofmannsthals ganzes Gehaben sei nicht echt-. „Damals bist Du mir allerdings wie ein geschäftiger, künstlicher, geschickter kleiner Affe vorgekommen [...]. Ich appuyiere auf diesem Punkt, weil er mit dem, glaub ich, zusammenhängt, was Du mir vorwirfst. Nämlich ich glaube aufrichtig zu sein und ich glaube, daß Du manchmal schminkst, daß bei Dir Wollen und Erkennen durcheinandergeht, die größte denkbare Unreinlichkeit der Seele!" ,,[D]enn was Du Härte gegen das Verlorene und zu williges Unterwerfen an das Gegenwärtige nennst, scheint mir mit der großartigen Nichtigkeit der menschlichen Dinge, ihrer absoluten Perversion [Hervorh. W. M.] zusammenzuhängen und ebenso zum Leben zu gehören wie der Tod — Ich bitte Dich, nimm Dich vor dem Künstlichen in Acht [...]. Und damit Du Dich nicht überhebst und das für eine momentane Subjectivität von mir hältst: ich protestiere deswegen so laut, weil ich finde, daß Du dem Menschlichen durch Dein Stylisieren das größte Raffinement nimmst (ich finde, daß Du grob stylisierst) - verstehst Du?? - " 59 Im Zusammenhang mit dem Garten der Erkenntnis hatte Andrian schon zuvor zwischen sich und Hofmannsthal eine existentielle Grenze gezogen: „Du mußt noch viel mehr Mitleid mit mir haben, wenn Du bedenkst, daß ich der Allereinsamste und Allerunglücklichste deswegen bin, weil ich per anticipationem durch die hastige Vermischung zweier sehr avancierter Racen mitten im zweiten Reich als Mensch des dritten Reiches geworden bin. - Deswegen verstehen Dich die Leute wenig, mich gar nicht-, und das kränkt mich wieder". 40 Wenngleich sich die Rede vom „dritten Reich" auf

38 39 40

Hofmannsthal an Andrian, [Juli 1895]. Briefwechsel, S. 51. Andrian an Hofmannsthal, 25. 7. 1895. Briefwechsel, S. 52 f. Andrian an Hofmannsthal, 23. 3. 1895. Briefwechsel, S. 44 f.

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einen literarischen Text beziehen dürfte (Ibsens Kaiser und Galiläer), ist Andrians „Vermischung zweier sehr avancierter Racen" nichts weniger als eine Metapher. Andrian hat, wie Ursula Renner bei der Auswertung seines Nachlasses bemerkt hat, zeitlebens Spekulationen über seine Familiengeschichte angestellt und versucht, sich - sich selbst gegenüber - als Produkt dieser historischen Individualgeschichte zu erklären. 1895 notiert er, er fühle sich „identisch mit [s]einem Großvater"41, dem jüdischen Komponisten Giacomo Meyerbeer, dem Vater seiner Mutter; väterlicherseits sei die Familie (Andrian-Werburg) stets auf dem absteigenden Ast gewesen, erkennt Andrian : „die körperliche die Willensseite war nicht genügend entwickelt bei meinen drei väterlichen Ascendenten [...] Der Vater schon zu schwach zum Officier". 42 Zur Schreibzeit des Gartens der Erkenntnis notiert sich der 19jährige: „Ich weiß auch daß zu dieser Zeit [als Kind] eine Art undefinirbares, leises, aber unendlich sicheres Gefühl in mir Wurzeln zu schlagen begann, daß wir (meine Familie und ich) unrettbar dem Untergang geweiht sind [•••]"; er würde (wie der Offizier in der Erzählung, GE 13) an Schwindsucht sterben, ,,[j]etzt weiß ich, daß es keine Krankheiten braucht, um die Racen ihrem Untergang entgegenzuführen".43 Im Alter stellt er sich wieder, rückblickend seinen „Fall" betrachtend, als entarteten Spätling dar: „[...] außerdem: ein Ausnahmsfall, ein singulärer Fall, ein monströses Mischproduct, zweier alter ausgelebter u. untereinander heterogener Rassen, interessant für den Betroffenen aber kaum für die Anderen."44 Andrian verließ sich bei seiner Selbstdiagnose also sehr deutlich auf die Entartungslehre der Zeit. Ohne Zweifel waren diese Elemente Teil der Motivwelt der zeitgenössischen Dekadenzliteratur, von Bourget bis Huysmans. 45 Doch Andrian hat diese Diagnosen nicht Romanfiguren, sondern sich selbst gegenüber angestellt (wie Bourget und Huysmans); alle Zitate stammen aus privaten, z. T. höchst privaten Aufzeichnungen. Darüber hin41 42 45 44 45

Deutsches Literaturarchiv Marbach/Neckar (i. f. DLA), Nachlaß Andrian, Nr. 184: „Früher, jetzt, einstmals. Versuch einer Selbsterziehung" [1895], S. 102. DLA, N L Andrian, Nr. 184 [1895], S. 110 f. DLA, N L Andrian, Nr. 52: Tagebuch, 17. 2.-21. 4. 1894, S. 69. DLA, N L Andrian, Nr. 189: „Verschiedenes. Hofmannsthal", Feb. - 28. 3. 1948, S. 50 f. „[...] heute habe ich wieder ein sogenanntes raffiniertes Buch angefangen: ä rebours von Huysmans und bin erstaunt wie unraffiniert, plump, äußerlich und styllos es ist (obwohl eigentlich die Idee in einem guten Buch zu verwenden wäre); ich heiße nichts, aber diese Andern heißen ebensowenig." Andrian an Hofmannsthal, 4. 5. 1896. Briefwechsel, S. 62.

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aus ist bekannt, daß Andrian schon in der Jugend mit Krafft-Ebings Sexualpathologie vertraut war.46 Krafft-Ebing, „im deutschen Sprachraum der bedeutendste Entartungstheoretiker" 47 , hat die „Degeneration" in einen evolutionistischen Kontext eingebettet und die von Magnan und Morel übernommenen Motive auf positivistischer, nicht mehr auf religiöser oder moralischer Grundlage reformuliert. Unter seinem besonderen Fall, wie er Andrian interessiert haben wird, konnte er nachlesen: „Degenerationszeichen" bzw. „Entartungszeichen" seien in bezug auf die „angeborene conträre Sexualempfindung": 1. Abnorm frühes und starkes Geschlechtsleben 2. „Die geistige Liebe dieser Menschen ist vielfach eine schwärmerisch exaltirte, wie auch ihr Geschlechtstrieb sich mit besonderer, selbst zwingender Schärfe in ihrem Bewusstsein geltend macht." 3. Anderweitige funktionelle, auch anatomische Entartungszeichen 4. Neurosen, unterhalten durch Masturbation oder Abstinenz: Hysterie, Neurasthenie, Epilepsie usf., Gefühle „magnetischer" Durchströmung des Körpers 5. Psychische Anomalien: dichterische Hochbegabung bei intellektuell schlechter Begabung oder originärer Verschrobenheit; Irrsein, moralischer Schwachsinn 6. Familiäre Belastung oder Entwicklungshemmung. 48

Alle diese „Zeichen" sind auf der Grundlage einer evolutionistischen Schematik entwickelt, die die Vergangenheit in der Gegenwart sichtbar werden läßt. Es ist auch von Bedeutung, daß sämtliche Abweichungen und Perversionen Krafft-Ebings erst vor der Folie eines normalistischen Begriffes von robuster Gesundheit erscheinen. Das vielbeschworene „Ich-Bewußtsein" und die Depersonalisierungskrise (G. Wunberg über Hofmannsthal) hat bei Krafft-Ebing eine sehr klar umrissene Adresse: „Zu den festesten Bestandt e i l e n des Ichbewusstseins nach Erreichung der geschlechtlichen Vollentwicklung gehört das Bewusstsein, eine bestimmte geschlechtliche Persönlichkeit zu repräsentiren und das Bedürfniss derselben, während der Zeit

46

Dazu Renner: Andrians „Garten", S. 50.

47

Annemarie Wettley u. W. Leibbrand: Von der „Psychopathologia sexualis" zur Sexualwissenschaft. Stuttgart 1959, S. 5 5 - 6 5 , hier S. 55. Neuerdings auch Gisela Steinlechner: Fallgeschichten. Krafft-Ebing, Panizza, Freud, Tausk. Wien 1995.

48

Nach Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis. 8., verb. u. teilw. verm. Aufl. Stuttgart 1893, S. 225 f.

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physiologischer Vorgänge [...] in dem Generationsapparat, im Sinne dieser besonderen geschlechtlichen Persönlichkeit sexuelle Akte zu vollbringen, die bewusst oder unbewusst auf eine Erhaltung der Gattung abzielen."49 Andrian hat - nach dem Abschluß seiner Novelle, aber eben auch bereits davor - den Weg einer physiologischen Selbstaufklärung eingeschlagen. In diesem Zusammenhang möchte Andrian von Hofmannsthal Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus ausleihen50 und „Bücher aus denen unsere Stellung in der Natur, unser Zusammenhang mit allen Dingen klar wird", zu welchem Unternehmen Hofmannsthal Darwin und Haeckel empfiehlt. Private Ahnenforschung ist kein Sondergut der „Degenerierten". Die Evolutionstheorie (bzw. was man darunter verstand) wurde sehr schnell und in breiten bürgerlichen Kreisen persönlich genommen, wie aus einigen Autobiographien der Epoche hervorgeht. Wenn die Autoren Reflexionen zur Gattung der Autobiographie anstellen, fällt schnell der Name Darwins: „Wie jedermann, der nicht blind durch das Leben geht, habe auch ich mich darum bekümmert, woher ich stamme", berichtet der Ökonom und spätere österreichische Bundespräsident Michael Hainisch: „Dieser Wunsch wurde, als ich das berühmte Werk Darwins über die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl gelesen hatte, noch lebhafter." 51 Auch Karl Kautskys Autobiographie diskutiert die darwinistische Motivierung von Familienstammbäumen, rückt jedoch - in den dreißiger Jahren - angesichts des „heute grassierenden Rassenblödsinns" davon ab.52 Hinter diesem Parallelprogramm zum aristokratischen Stammbaum stünde demnach eine relativ neue bürgerliche halbwissenschaftliche Praxis; nichts anderes findet sich in den Fallgeschichten Krafft-Ebings, die in der individuellen Anamnese die überindividuelle Phylogenie des Patienten als „perverse" Genealogie vermerken.

49 50

Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis, S. 186. „Kannst Du mir Albert Langes Geschichte des Materialismus leihen, so schick mir dieses Buch, bitte Dich auch." Andrian an Hofmannsthal, 25. 1. 1896. Briefwechsel, S. 58. Hofmarmsthal antwortet: „Lieber Poldy, meine ,Geschichte des Materialismus' kann ich Dir nicht schicken, weil ich sie mir selber zum Arbeiten ausgeliehen hab." 6. 2. 1896. Ebd., S. 59.

51

Michael Hainisch: 75 Jahre aus bewegter Zeit. Lebenserinnerungen eines österreichischen Staatsmannes. Bearb. v. F. Weissensteiner. Wien, Köln, Graz 1978, S. 48. Kautsky: Erinnerungen und Erörterungen, S. 29.

52

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Die Übereinstimmungen von Rrafft-Ebings Schema und Andrians Leben (die Furcht, an Schwindsucht zu erkranken, seine Hypochondrien, die Furcht vor dem Wahnsinn, mit der er Arthur Schnitzler beschäftigte) und gewissen Charakterzügen Erwins im Garten der Erkenntnis sind so deutlich, daß man meinen könnte, Andrian habe sich nicht nur seine ,Leiden' und seine ,Sonderexistenz' innerhalb der zeitgenössischen Medikalisierung des Homosexuellen erklärt, sondern beide (und dazu noch sein literarisches Werk) regelrecht danach gestaltet.53 Wie Erwins Freund Clemens, „neugierig, verdorben wie ein Gassenbub und fast pathetisch unschuldig", „schwarze[ ] Ringe um seine Augen" (GE 24) trägt54, ist Erwin ein „schwärmerischer", leicht als „Hysteriker" erkennbarer desorientierter Aristokrat aus alter Familie, der von Pollutionen („die Gestalten der Morgenträume, die uns nicht berühren und durch die wir dennoch sündigen" [GE 42]) und Masturbationsphantasien geplagt wird (GE 43 f.). Hierher gehört auch die von Andrian problematisierte einfache Prokreation, die den einzelnen in die große evolutionäre Geschichts- „Erzählung" einbetten sollte. Krafft-Ebing definiert „Perversion" als das Gegenteil einer solchen Verankerung in der Generationenkette: „Als pervers muss - bei gebotener Gelegenheit zu naturgemässer geschlechtlicher Befriedigung - jede 55

54

Ursula Renner hat Andrian mit den Mitteln der Entwicklungspsychologie von Erik H. Erikson analysiert, hat aber diesen Aspekt - daß sich Andrian und seine Figuren verhalten, als wären sie Fälle Kraflt-Ebings - nicht wahrgenommen (mit Ausnahme einer kurzen Spekulation zu Andrians Lombroso-Lektüre, Renner: Andrians „Garten", S. 61 f.). „Es geht [...] um die ,objektive' Seite der Subjektivität und umgekehrt, d. h. um den Diskurs. Die empirischen Subjektivitäten werden durch Diskurse (und vor allem Interdiskurse) per Applikation ^Identifikation') konstituiert." Jürgen Link: Zehn Jahre kultuRRevolution - oder die Bilanz eines „aktualhistorischen" Konzepts. In: kultuRRevolution 28 (1993), S. 2-11, S. 8. Ein gutes Beispiel ist Krafft-Ebings „psychische Anomalie" des Homosexuellen: künstlerische Hochbegabung bei intellektueller Schwäche und Tendenz zu moralischem Schwachsinn. Natürlich ist die Beschreibung leicht als Rationalisierung des zeitgenössischen Künstlerbildes zu entlarven. Im medizinischen Werk hingegen hat das Stereotyp eine neue, andere Autorität gewonnen; man denke sich Andrian als Leser Kraflt-Ebings. Andrian hat sich zeitlebens seines „peccatum" (bei Renner, S. 157) wegen moralische Selbstvorwürfe gemacht, aber nicht zu sehr. Um so stolzer kann Andrian auf seine Künstlerschaft rekurrieren, als „Heiland" (!) (Andrian an Hofmannsthal, 23. 3. 1895. Briefwechsel, S. 44). Ähnlich wird sich Oscar Wilde so betragen haben, wie es das viktorianische Zeitalter von einem Homosexuellen erwartete. Zur „Symptomatik" der Onanie vgl. Ludger Lütkehaus: „ 0 Wollust, o Hölle". Die Onanie - Stationen einer Inquisition. Frankfurt/M. 1992; zur Verbindung Onanie - Homosexualität S. 39 f. u. 51.

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Aeusserung des Geschlechtstriebs erklärt werden, die nicht den Zwecken der Natur, i. e. der Fortpflanzung entspricht"55 und leitet die sozialen Triebe aus der ,normalen' Sexualität ab: „Die Fortpflanzung des Menschengeschlechts ist nicht dem Zufall oder der Laune der Individuen anheimgegeben, sondern durch einen Naturtrieb gewährleistet, der allgewaltig, übermächtig nach Erfüllung verlangt. In der Befriedigung dieses Naturdrangs ergeben sich nicht nur Sinnengenuss und Quellen körperlichen Wohlbefindens, sondern auch höhere Gefühle der Genugthuung, die eigene, vergängliche Existenz durch Vererbung geistiger und körperlicher Eigenschaften in neuen Wesen über Zeit und Raum hinaus fortzusetzen."56 Homosexualität ist bei Kraflt-Ebing nicht (wie bei Lombroso) ein Atavismus, dennoch verspätet: ,,[J]e undeutlicher sich die psychischen und physischen Geschlechtscharaktere bei einem Individuum darstellen[,] umso tiefer steht dasselbe unter der durch ungezählte Jahrtausende hindurch erfolgten Züchtung zur heutigen Stufe vollkommener homologer Monosexualität."57 Auch Autoren, die wie Iwan Bloch das Entartungsparadigma in bezug auf die Homosexualität nicht teilen, betonen diesen Aspekt: „Aber vom Standpunkte der Kultur und der Fortpflanzung ist die Homosexualität eine sinn- und zwecklose dysteleologische Erscheinung, wie manches andere ,Naturprodukt', z. B. der menschliche Blinddarm. [...] Die größten geistigen Werte verdanken wir Hetero- nicht Homosexuellen. Uebrigens verbürgt erst die Fortpflanzung die Erhaltung und Dauer neuer geistiger Werte. [...] Die mono- und homosexuellen, dauernd auf das eigene Ich [!] oder das eigene Geschlecht beschränkten Instinkte sind also ihrem tiefsten Wesen nach dysteleologisch und antievolutionistisch. [...] Uebrigens haben die meisten Homosexuellen ein tiefes Gefühl dieser Sinn- und Zwecklosigkeit ihrer Empfindungsweise, dem sie oft einen traurigen und herzergreifenden Ausdruck geben. Gerade bei edlen, geistig bedeutenden Homosexuellen, wirklichen Kulturträgern, tritt dieses Gefühl der Inkongruenz von Homosexualität und Leben am meisten hervor."58

55 56 57 58

Kraflt-Ebing: Psychopathia sexualis, S. 56. Krafit-Ebing: Psychopathia sexualis, S. 1. Richard v. Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis. [Nachdruck d. 14. Aufl. 1912, hgg. v. A. Fuchs.] Mit Beiträgen v. G. Bataille u. a. München 1993, S. 266. Iwan Bloch: Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur. 7.-9., um einen Anh. verm. Stereotyp-Aufl. Berlin 1909, S. 591 f. I. O. mehrere Hervorh.

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Gleichsam im Gegenzug notiert sich Andrian 1893: „die Frau ist i m m e r für mich am interessantesten, wenn ich denke, sie kann keine Kinder m e h r bekommen" 5 9 und 1894: „die Menschen, die sich nicht fortpflanzen werden [...] ein Fortschritt der Erkenntnis". 6 0 Die trotzige Notiz verweist auf Andrians Selbststilisierung als Mensch des „dritten Reiches"; Stolz und Panik sind Teile desselben Syndroms. Denn all das hat Andrian nicht gehindert, am Ende seines Lebens nicht nur eine sexuelle „Normalexistenz" durch eine Heirat zu versuchen; er begibt sich dazu noch auf die Suche nach ein e m Erben, d e m - durch Adoption - die Reste des Erbteils der Familie zufallen sollen, ohne daß damit der Erbe noch Andrians unglückliche Disposition zu tragen hätte. 61 Die Nähe von Andrians Garten der Erkenntnis zu diesen Diskursen kann an dem opaken Textsegment von den „Froschzwillingen" gezeigt werden. Erwin langweilt sich in Bozen, wo er drei Jahre studiert, da er sich die Erfüllung ,,eine[s] seltsamen Drang[s] nach Unruhe, halb Neugier nach Entdeckungen, halb Lust, das, was er sonst wollte, zu verneinen" (GE 18) (gemeint ist die angestrebte Priesterschaft), von den Vergnügungen Wiens erwartet, „in den Opernbällen, in den Sofiensälen, im Ronacher und im Orpheum und im Zirkus und in den Fiakern" (GE 18, diese Sequenz auch 17 und 22). „Es freute ihn nichts mehr in Bozen als die langen Spaziergänge mit einem alten Priester, der Physiker war und ihm aus seinem Leben erzählte und von seiner Wissenschaft sprach. Diese schien dem Erwin zwar bedeutungslos, aber dennoch hörte er auf die Erzählung von den Magneten, vom Wechsel der Farben und von der Anziehung der Stoffe, so, wie er als Kind auf die Erzählung von Zauberern hörte, da er schon wußte, daß es keine Zauberer gab. Etwas wie ein Zauberer schien ihm der alte Priester, in dessen Macht es stand, durch Einwirkung auf das Laich der Tiere zwei Frösche für ihr Leben unzertrennbar zu verbinden." (GE 19) Dieses Detail von den lebenslang verbundenen Fröschen wird gegen Ende der Erzählung wieder aufgenommen, als sich Erwin mit der Mutter, von der er die „Lö-

59

60 61

DLA, NL Andrian, Nr. 46: „Ideen zu künftigen Arbeiten", beg. 9.11. 1895, S. 64; Renner bezieht die Tagebuchpassage auf die Sängerin im „Garten der Erkenntnis": „sie war alt und dennoch war sie wie ein Mädchen." (GE 16) Renner: Andrians „Garten", S. 101. DLA, NL Andrian, Nr. 47: „Das Buch der Weltanschauung", beg. 5. 11. 1894, S. 25. Andrian versuchte um 1950, den Grafen Hugo Belcredi zu adoptieren, Belcredi hätte den Namen Andrian annehmen müssen. Renner: Andrians „Garten", S. 57.

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sung des Geheimnisses" erwartet, in philosophischer Manier über das Leben verständigt: ,,,Nein', sagte er [Erwin], ,ich glaube, das Geheimnis liegt darin: Wir sind allein, wir und unser Leben, und unsere Seele schafft unser Leben, aber unsere Seele ist nicht in uns allein.' An einem Schauder empfanden beide, daß er die Wahrheit gesagt hatte; und beide fühlten sich verknüpft; aber schmerzlich, dumpf und grundlos, so wie sich jene Tiere verknüpft fühlen müssen, von denen der alte Priester dem Erwin gesprochen hatte, die durch die Künste des Chemikers stündlich aneinander gebunden leben." (GE 50 f.) Die Verbindung mit der Mutter wird also in ein chemisch-physikalischbiologisches Bild gefaßt. Im Tagebuch vermerkt Andrian hierzu: „die Frosch-Gesch[ichte] hatte V[erfasser] damals in der Zeitung gelesen - sollte irgendwie zur Vorbereitung [...] seiner Lebensauffassung' [eingefügt: Lebenstheorie] [dienen] [...]. Unentbehrlich für den Gedanken der Verkettung mit den Eltern[,] der Mutter".62 Ursula Renner kommentiert: „Die Verkettung' versteht Andrian selbst zunächst, im Sinn der im 19. Jahrhundert geläufigen Darwinistischen Abstammungslehre, als ähnliche psychische Struktur aufgrund der spezifischen erbgenetischen Voraussetzungen. Im weiteren Verlauf der Erzählung wird aber deutlich, daß die Fatalität der Verkettung [...] eine der Ursachen ist für die Konflikte und die die Identitätsbildung hemmenden Faktoren, die auf der fiktiven Ebene [...] im Gewände einer Suche nach d e m ,Leben' erscheinen." 63 Zunächst ist zu bemerken, daß der „Froschgeschichte" von Andrian in bezug auf das „Leben", d e m Zentralbegriff der Erzählung, systematischer Wert zugesprochen wird; „Leben" verliert damit etwas von der Unbestimmtheit, in der die Erzählung den Lebensbegriff planmäßig beläßt. Der Kommentar Renners liest hinter der Behandlung des Motivs den „hidden plot" der Adoleszenzkrise, der aber nicht d e m des Romans und seines Autors entspricht, sondern der heutigen Entwicklungspsychologie; für unsere Lektüre ist eine solche Deutung irrelevant. Immerhin ist „Vererbung" - in welchem Sinn auch i m m e r - hier nicht nur semantisch als Bedrohung gefaßt („Verkettung"), sondern soll das Individuum auch damit an die Vorfahren binden; im Degenerationsdiskurs droht von ihnen Gefahr, u m s o m e h r Gefahr, je länger sich die Kette der Nicht-Normalen ziehen läßt, da

62 65

DLA, N L Andrian, Nr. 7087: „Garten der Erkenntnis" (1924), S. 71. Renner: Andrians „Garten", S. 106.

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sich die Belastung addiere. Andrian hat hierzu seine Forschungen Eingestellt. Es läßt sich zudem feststellen, was Andrian in der Zeitung gelesen haben muß. Ende der 1880er Jahre begab sich eine Gruppe von Haeckel-Schülern auf eigene Wege, um die Embryologie auf neue Grundlagen zu stellen. Ihr Verhältnis zur morphologischen Phylogenie, wie sie Haeckel betrieb, war dabei durchaus indifferent; ihr Ziel war die experimentelle Erforschung der ersten Keimentwicklungen der Ontogenese. Die Methoden sollten dabei denen der Physik und der Chemie angeglichen werden (bei Andrian ist der „Priester" einmal Physiker [GE 19], einmal Chemiker [GE 51]). Durch Isolation von Elementen und kausale Deutungen, durch das Experiment verifiziert, sollte Licht in die Individualentwicklung gebracht werden, wo man bislang auf Teratologie angewiesen gewesen war. Die neue Richtung wurde von Wilhelm Roux (von 1889 bis 1895 Ordinarius in Innsbruck) „Entwicklungsmechanik" benannt, man einigte sich später auf „Entwicklungsphysiologie". Die experimentelle Arbeit brachte absichtliche Mißbildungen hervor, halbe Seeigel, verkümmerte Frösche. Im ersten Jahrgang des Archivs fiir Entwicklungsmechanik (1894/95) veröffentlichte Oscar Schultze seine Versuche an Fröschen 64 : Durch physikalische Einwirkung hatte er aus einem Ei zwei Individuen gewonnen, wenngleich deutlich kleinere. Strittig war die Deutung dieser Experimente, je nachdem man als Ergebnis neue Ganzheiten (wie Hans Driesch) oder Halbbildungen (wie Wilhelm Roux) erhielt. 65 Aus der Betonung der Ganzheiten entwickelte der Entwicklungsphysiologe Driesch eine neovitalistische Naturphilosophie, die durch ihre Annahme teleologischer Kräfte den positivistischen Grundkonsens verließ, eine frühe Vorwegnahme einer Systemtheorie des Lebendigen. Der Versuch Schultzes erbrachte zwei „identische" Individuen, echte Zwillinge aus gemeinsamer Abkunft; wo nun zwei sind, hätte nur einer wachsen sollen. In Andrians Version („durch Einwirkung auf das Laich der Tiere zwei Frösche für ihr Leben unzertrennbar zu verbinden") ist der Prozeß umgekehrt; er setzt zwei Individuen voraus, die gleichsam im nachhin-

64

0 . Schultze: Die künstliche Erzeugung von Doppelbildungen bei Froschlarven mit Hilfe abnormer Gravitationswirkung. In: Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen 1 (1894/95), S. 269-305. Der Aufsatz trägt den Vermerk „Eingegangen am 26. Oktober 1894", das betreffende Heft wurde am 11. 12. 1894 ausgegeben.

65

Die widersprüchlichen Ergebnisse wurden später durch Hans Spemann einer Synthese zugeführt.

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ein „verbunden" werden, in der zweiten Fassung des Bildes („durch die Künste des Chemikers stündlich aneinander gebunden") noch mehr. Die erste Fassung enthält in dieser Perspektive eine Katachrese und einen logischen Widerspruch: Wie könnten zwei Einzelindividuen durch Einwirkung auf das ihnen gemeinsame logische und geschichtliche Prius („Laich") „verbunden" werden? Zusammen mit der Selbstaussage der Tagebücher sind die Frösche also dreimal vorhanden: als entwicklungsphysiologische Versuchsergebnisse; als Beispiele zum Zusammenhang von Eltern und Kind; schließlich, in der Bilderökonomie der Erzählung, als symbolische Tiere, die auf eine Identifikation zweier Figuren als prekäre Identität verweisen („schmerzlich, dumpf und grundlos"), indem die Innenperspektive der Versuchstiere eingenommen wird („wie sich jene Tiere verknüpft fühlen müssen"). In dieser Form gehören die „Frösche", indem sie auf Mutter und Sohn verweisen, in die Reihe der Bilder problematischer Identität und Zweiheit: wie Clemens und Erwin („eine Liebe ihrer selbst oder eine Liebe zueinander oder eine Liebe zu allem, was sie geliebt hatten" [GE 26], „einen Augenblick standen sie sich gegenüber in ihrer unfruchtbaren Schönheit, von der sie einander nichts geben konnten" [GE 27]); wie die gleichfalls Homosexualität signalisierende Statue im Schönbrunner Park, „auf der sich zwei Frauen umschlungen hielten" (GE 33), in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Erinnerung an Clemens (GE 34); wie der Jüngling und das Mädchen in Venedig, „sie glichen einander und waren vielleicht Geschwister" (GE 53); wie endlich die erste Duellphantasie, in der zwei allegorische Ritter im „Kampf der Kirche gegen die Welt" aufeinandertreffen unter dem „Vorwand für die beiden großen ebenbürtigen Gegner, einander gegenüber zu stehen, die fremde Herrlichkeit zu bewundern und an der fremden Größe der eigenen gewahr zu werden" (GE 11). Mit Ausnahme des Paars in Venedig („Bei seiner Abreise erinnerte er sich ihrer und wußte, daß sie für ihn bedeutsam waren, und er wäre fast umgekehrt; aber er kannte ihren Namen nicht." [GE 53]) handelt es sich jedoch u m Figuren desselben Geschlechts; dasselbe m u ß von den Tieren in Schultzes Versuch vorausgesetzt werden. Die Passage ist zugleich dadurch ausgezeichnet, daß sie die einzige ist, in der einer Aussage (zumal einer „Erkenntnis") „Wahrheit" (GE 50) zugebilligt wird in einem Text, der mit Kategorien wie „Geheimnis", „Erfüllung", „Offenbarung" und „Wunder" freigiebig umgeht. Eine ähnliche Formulierung fällt nur m e h r im Zusammenhang mit Sexualität: ,,[S]eine Seele genoß die Erinnerung an die Lust seines Leibes und gestand, daß es der

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wahrhaftigste Drang des Menschen sei, seinen Leib an den Leib eines andern Menschen zu pressen" (GE 43 f., Hervorh. W. M.). So wie hier „Wahrheit" an Sexualität gekoppelt ist, ist bei „Erkenntnis" stets auch an die Konnotationen des Begriffs in der Sprache der Bibel zu denken. In den Antworten Erwins im Gespräch mit der Mutter fällt auch - verdächtig nahe an der „Froschgeschichte" - der Begriff vom „Erbteil": „,wäre es wie du sagst', antwortete er" auf die Vermutung der Mutter, „[wir] können [...] [das Geheimnis des Lebens] nicht lösen, weil das Leben zu reich, zu vielfältig, zu unendlich ist" (GE 49 f.), ,„so hätten wir ja Hoffnung, es aus seinem Reichtum heraus zu verstehen; es ist so grauenhaft einfach für unser alleiniges Erbteil, und das einzige Wunder darin ist unser Schicksal.' Dann sagten sie beide, daß sie dieses Schicksal nicht verstünden." (GE 50) In der Engführung von „Reichtum" und „Erbteil" ist wieder die Polysemie von „Erben" benützt, doch von einem materiellen Erbe (immerhin eines „Fürsten") erfahrt man in der ganzen Erzählung nichts. Das „Leben" ist demnach das einzige „Erbteil" und verweist daher als einzige in Frage stehende Dimension auf die Eltern zurück, zumal „Erbteil" in fast naturalistischer Manier mit dem „Schicksal" verknüpft wird. 66 (In der zweiten „These" der Mutter, das Leben sei durch die anderen determiniert, fallt auch das Wort „Eltern".) Im Anschluß an das „Gespräch" ist die Rede vom ,,väterliche[n] Erbteil seiner Seele", das der Jüngling (Erwin) „lang in den Königreichen der Fremde gesucht hatte", wobei aber der Satz alogisch und inkonsequent schließt: „und jetzt in unser aller Vaterland kam und durch die Welt zog, um in ihrer Mannigfaltigkeit seine Stelle zu finden." (GE 52) Die „Identität" mit der Mutter wird bereits am Textanfang angedeutet: „Aber der Erwin hatte ihre Hände und ihre Stimme" (GE 7 f.), für die Mutter Ursache, Erwin ins Konvikt zu stecken; die Sequenz wird vor dem „Gespräch" wiederholt, als es heißt: „Manchmal, wenn sich ihre Seele so fruchtlos abmühte, erschien sie auch dem Erwin lebend; aber das war wieder ein anderes Leben, und das erschreckte ihn, und es machte ihn unsicher und ängstlich, daß dabei ihre Stimme [...] der seinen glich. Denn er hatte ihre Stimme und ihre Hände." (GE 49) Vom Vater („ein Fürst") erfährt man bloß, er sei der Mutter unähnlich gewesen (GE 7); erst im Tod

66

Es ist ein durchgängiges Gestaltungsmuster des Textes, daß eine Szene in der ihr folgenden Szene bzw. durch den assoziativen Anschluß eine Deutung erfahrt, z. B. die Szene der Statuen im Park und die Clemens-Handlung (GE 53 f.), die Frösche und die Mutter (GE 19) u. a.

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rückt der sonst durchgehend „der Erwin" genannte Protagonist in die Geschlechterrolle des Vaters ein: „So starb der Fürst, ohne erkannt zu haben." (GE 58) Es wäre also verfrüht, die „Mutterbindung" Erwins als Verhinderung einer (vorgeblich „normalen") Identitätsbildung mit der (vorgeblich „normalen") Individualentwicklung zu verrechnen, wie das die Literaturpsychologie nicht lassen kann. Es geht im Text denn auch gar nicht um Geschlechter-„Rollen", sondern um einen Kampf, den „weibliche" und „männliche" „Seelenanteile" im Individuum austragen, wie das die zeitgenössische evolutionäre Sexualtheorie als Deutungsmuster der Homosexualität vorgeschlagen hat: Im Sinn der Rekapitulationsthese habe ,,[a]uch das Einzelwesen" die Entwicklungsreihe von einer „ursprünglich vorhandenen bisexualen" Veranlagung zu absolvieren, „es ist ursprünglich bisexual, aber im Kampf der männlichen und weiblichen Streitkräfte wird die eine besiegt und es entwickelt sich, dem Typus der heutigen Evolution entsprechend, ein monosexuales Individuum." 6 7 Einen solchen Kampf der weiblichen und männlichen Streitkräfte in der Seele hat Adolf Wilbrandt in einer merkwürdigen Erzählung, Fridolin's heimliche Ehe (1875), vorgeführt. 6 8 Durch eine Entwicklungsstörung k o m m e es zu einer „Verletzung von Naturgesetzen", die „anthropologisch und klinisch als eine degenerative Erscheinung anzusprechen" sei. 69 Der Ausgang der Rekapitulation liegt demnach wohl im Einzelwesen, ist aber von vornherein determiniert. So ist der Degenerationsdiskurs im Text Andrians - als das real Angstmachende und Determinierende - zugleich präsent und verhüllt. Für sein „Geheimnis" bedient sich der Text eines Verfahrens der Transposition realistischer Szenarien in imaginäre, von Handlungsträgern aus der Alltagswelt und der Subkultur der Homosexuellen der Jahrhundertwende in symbolische Instanzen. Wie Stefan Georges Lyrik an die „Brüder", darunter Andrian selbst, gerichtet ist, werden im Garten der Erkenntnis Them e n der „Eigenen" im Gewand der symbolischen Praktiken der Jahrhun67

So Krafft-Ebings referierendes Zitat von Chevaliers „Inversion sexuelle" (Paris 1893). Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis [1912], S. 262.

68

Adolf Wilbrandt: Fridolin's heimliche Ehe. Nach Erinnerungen und Mittheilungen erzählt. Wien 1875; das Werk erlebte 1907 eine vierte Auflage (Stuttgart, Berlin: Cotta). Zu dieser Thematik bei Freud, der frühen Psychoanalyse und Weininger auch Peter Heller: A Quarrel over Bisexuality. In: The Turn of the Century. German Literature and Art, 1890-1915. Ed. by G. Chappie and H. H. Schulte. Bonn 1981, S. 87-115.

69

Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis [1912], S. 265.

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dertwende-Literatur verhandelt. Diese Praktiken erweisen sich als so dominant, daß sie auch für die Forschung simple Realien bis heute verdeckt zu haben scheinen. An der Achse der Erzählung schließt Erwin in einem „niedrigen Haus" in der „Vorstadt" Bekanntschaft mit einem „Fremden", in dessen „niedrige[m] Gesicht [...] Sanftmut und Bosheit [war], Furchtsamkeit und Drohung und das ganze Leben, aber wie im Leben zugleich; denn es änderte sich nicht, wenn er sprach, nur sein Körper wand sich wie unter einer inneren Bewegung, die ihn überwältigte." (GE 37) An „einem getrennten Tisch in der Ecke beim Kruzifix" sitzen „bosnische Soldaten", im Gastzimmer, „dessen Luft blau vom Rauch und schwer vom Atem der vielen Menschen war, sprach beinahe gleichgültig, fast traurig, ein junger, magerer, geschminkter Mensch mit scheuen Augen, im Frack mit gebranntem Haar, die jubelnden Lieder der Schrammein." (GE 36) Erwin begibt sich mit dem Fremden auf einen Spaziergang, doch „er bekam Angst und wandte sich gegen die Stadt zu. Der Fremde bettelte ihn um ein Almosen an." (GE 38) Wie so viele Motive und Sequenzen im Text erscheint auch der Fremde mehrfach; bei der zweiten Begegnung heißt es, es sei der Fremde, „mit dem er [Erwin] im Frühling sehnsüchtig nach Erkenntnis gegangen war"; der „Fremde" sieht nun „ärmlicher aus, und die scheue Ruhe in seinem Blick war drohender." (GE 44 f.) Auch die Stadt „verwirrte ihn jetzt und drohte ihm." Die dritte Begegnung enthüllt den „Fremden" als Erwins „Feind, der ihn von seiner Geburt an gesucht und ihn in der Trunkenheit des Frühlings gefunden hatte und ihn seitdem verfolgte" (GE 55). Diese Begegnung und die von ihr ausgelöste „häßliche, ratlose Furcht vor dem Tod" läßt Erwin auf den Tod erkranken. Die sexuelle Aufladung des Textes ist so deutlich, daß man über den Charakter des „niedrigen Hauses" nicht im Zweifel sein kann. Am „Fremden" und an seinem Milieu zeigt sich jedoch gut Andrians Technik der „Camouflage". 70

70

„Camouflage" nach Heinrich Detering: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann. Göttingen 1995. Michael Maar hat Deterings Modell der literarischen Camouflage so zusammengefaßt: „Wer A sagen will, aber nur B sagen darf, muß entweder verstummen oder aber B so sagen, daß alle, die es angeht, das A heraushören können, ohne daß die andern daran Anstoß nehmen." M. Maar: Unterm Rotlicht oder: Nase und Krug. Aus Anlaß der großen Camouflage-Studie Heinrich Deterings. In: Merkur 50 (1996), S. 63-69, S. 63.

Degeneration und Homosexualität: Andrians „Garten der Erkenntnis"

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Es ist nicht sinnvoll, den „Fremden" umstandslos als Allegorie seiner Fremdheit, als „dissoziiertes Ich" oder als ,,personifizierte[n] Ausdruck der wachsenden inneren Spannung [...], als Projektion" 71 zu deuten. Es hieße den Camouflage-Strategien des Textes zu weit zu folgen, schlösse man eine wörtliche, „realistische" Lesart des Textes als unangemessen aus. Gerade die Szenerie des Vorstadtlokals nämlich und die rätselhafte Gestalt des Fremden sind denn zunächst nicht der personalen Erzählhaltung des Textes geschuldet, sodaß erst aus der Innenperspektive der Erwin-Figur „ein grotesk verfremdetes Bild des Vorstadtlokals" entstünde, „in dem die sinnliche Atmosphäre in Bedrohung umschlägt und die Szenerie sich ins Maskenhafte verzerrt." 72 Dagegen bietet ein Bericht des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld, Die Homosexualität in Wien (1901), mit dem Air des Ethnographen einen guten Überblick über die Orte der Wiener Homosexuellen. 73 Hirschfeld, geführt von einem „Baron X " , „der einem alten österreichischen Geschlecht entstammt, sehr intelligent, und mit den einschlägigen Verhältnissen in allen Schichten der Gesellschaft wohl vertraut", berichtet von ,,eine[r] Kneipe, welche hauptsächlich dem Verkehr zwischen Soldaten und Homosexuellen gewidmet ist; ein sehr versteckt liegendes, enges, schmutziges, förmlich abschreckendes Lokal; auf dem Tische lagen Nahrungsmittel, [...] von welchen die Gäste sich Stücke auswählten, die in der Küche, deren Qualm und Geruch den ganzen kleinen Raum erfüllte, zubereitet wurden. Hier sah man in trautem Verein Herren der besseren Gesellschaft und junge Landesvertheidiger von Tirol bis Bosnien [!], welche die ansehnlichen Mengen von Nahrungsmitteln, die man ihnen darbot, mit erstaunlichem Appetit verzehrten." 74 Soldaten deshalb, da „sehr viele [Wiener „Urninge"] den Vorzug Soldaten geben, da diese verhältnismässig am ungefährlichsten' seien. So finden sich in der That auf allen ,Strichen' auch Soldaten der verschiedenen Wiener Regimenter, welche sich [...] eine Nebeneinnahme verschaffen." Soldaten erscheinen im Garten der Erkenntnis nach der Szene im Vorstadt-Wirtshaus immer nur in unmittelbarer textuel-

71

Renner: Andrians „ G a r t e n " , S. 183.

72

Paetzke: Nachwort, G E 67.

73

M a g n u s Hirschfeld: D i e Homosexualität in Wien. In: Wiener Klinische Rundschau 15

74

Hirschfeld: Homosexualität in Wien, S. 789.

(1901), S. 788-790.

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ler Nähe zum „Fremden". 7 5 Als Erwin nach der zweiten Begegnung die Stadt unheimlich zu werden beginnt (die Stadt sei mit Musik „wie mit einem trügerischen Gift durchtränkt, das einen schläfrig und wehrlos machen sollte") und ihn „die Augen der Menschen" „erschreckten": „alle richteten sich auf ihn", wird er ,,[n]ur einmal vor seiner Abreise" zur Mutter „stark ergriffen; [...] durch den Bahnhof fuhr ein Zug, aus dessen Fenstern junge Burschen herausschauten, die einrückten; ihre blassen Gesichter glänzten und sie sangen und hatten lichtes Laub auf ihren blauen Deutschmeisterkappen." (GE 45 f.) Vor Erwins Tod, der durch die dritte Begegnung annonciert wird, erscheinen dieselben Soldaten in einer Traumvision in Erwins Biographie transformiert: „da kam unter großem Lärm ein Zug in die Halle gefahren, aus dessen Fenstern viele Menschen schauten; sie hatten die Gesichter derer, die reisen, ihre Farbe war weiß und ihre Augen leuchteten, aber unter ihren Augen lag Kohlenstaub. Es waren viele, sehr viele, und alle waren unter ihnen, die er gekannt hatte, nur die Frauen nicht [...]. Und mit einem Mal riefen ihn alle bei seinem Namen". (GE 57 f.) Ungefährlich sind die Soldaten deshalb, da im Gegensatz zu diesen Kleinunternehmern ihrer selbst die „mit Recht so berüchtigten Chanteure", Erpresser, „diese Hyänen der Richtstatt, welche die unglückseligen Opfer ihrer Lockungen in unersättlicher Gier auspressen und aussaugen", gewerbsmäßig und bandenfÖrmig tätig waren. Wenn daher der „Fremde" Erwin u m ein Almosen bittet, ist zunächst nicht mit C. G. Jung in einem „traditionellen religiös-mythologischen Motiv" eine „Besänftigung des Unterirdischen, Abwendung der Gefahren und die Uberwindung des Todes durch ein Opfer" 76 zu sehen, sondern eine gewöhnliche Erpressung, wie sie jedoch - d e m Zeugnis Hirschfelds und Krafft-Ebings zufolge - für eine große Zahl von Selbstmorden in besseren Kreisen verantwortlich war. 77 „Sozialen Tod" und im Zusammenhang damit „Ehrenselbstmorde" zu verhindern, w u r d e zu einem zentralen Anliegen der Arbeit des Gerichtsgutachters KrafFt-Ebing. Im Verein mit seiner Degenerationstheorie, der zu-

75

76 77

Die Stelle in der Wien-Sequenz GE 32 f. ist eine Vorausdeutung auf die Vorstadt-Szene; hier fallt auch die Formulierung von den „ernsten tragischefn] Bosnierfn]" (GE 32), die dort wieder aufgenommen wird. Renner: Andrians „Garten", S. 159. Allg. dazu Bloch: Sexualleben, S. 575-581. Eine Erpressung wird auch geschildert in Otto Julius Bierbaum: Prinz Kuckuk. Leben, Thaten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings. In einem (freien) Zeitroman. München, Leipzig 1906 f.

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folge der Degenerierte ein Schuldlos-Schuldiger sei, war der Blutzoll der Erpressung für Krafft-Ebing die Motivation, für die Abschaffung des Paragraphen 129 einzutreten. 78 Für diesen Einsatz dankt ihm der Aktivist Hirschfeld mit einer Eloge auf die Psychopathia sexualis, „diese[m] Werk, welches mehr Menschen vom Selbstmorde gerettet hat, als irgend ein zweites Buch der Wissenschaft, welches tausenden Selbstachtung, Selbstvertrauen und Lebensmuth und hunderten von Eltern die Kinder wiedergegeben hat, an denen sie irre geworden waren." 7 9 Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß der Garten der Erkenntnis zur Zeit des aufsehenerregenden Oscar Wilde-Prozesses entstand. 8 0 Andrian hat an Wildes Literatur auch wohl m e h r interessiert als der Ästhetizismus: „Hast Du etwas vom Dichter Oscar Wilde gelesen? Der ist auch merkwürdig" 81 , fragt er bei Hofmannsthal an, „immer dieselbe fixe Idee; I'm very low und sehr gemein auch; mir wird das grade jetzt klar, weil ich eben die ganze so wunderbare Verteidigung Wilde's und seine freche Keckheit in einem hier [Berlin] gekauften Buch bewundert habe." 82 Andrians Literatur geht in einem Baedeker für einschlägig Interessierte freilich nicht auf. Bemerkenswert ist jedoch die Verrätselungstechnik des Textes: Denn der „Fremde" wird tatsächlich von seiner realen Bedeutung gelöst 83 und in ein mythisches Szenario eingeschrieben, indem er dreimal erscheint (wie Erwin ,,[a]m dritten Tag" krank wird [GE 56] 84 ), den Tod bringt bzw. vorausdeutet und schließlich zum Lebensproblem hypostasiert 78 79 80 81 82 83

84

Krafft-Ebing: Der Conträrsexuale vor dem Strafrichter. Leipzig, Wien 1894, 2. Aufl. 1895. Hirschfeld: Homosexualität in Wien, S. 790. Auch Hirschfelds eigene Kampagnen zur Abschaffung des deutschen § 175 wurden mit der Erpressung legitimiert. Zum Prozeß vgl. Richard Ellman: Oscar Wilde. Harmondsworth 1988, S. 409-449. Andrian an Hofmannsthal, „diesen Charsamstag 1894". Briefwechsel, S. 29. Andrian an Hofmannsthal, 27. 5. 1896. Briefwechsel, S. 61. Obwohl die Prostituierten („enge Gassen, in deren Torwegen Mädchen standen") und der „Fremde" immerhin mit demselben Attribut „schmeichelnd" versehen sind („Jede Farbe an ihren Sommerkleidern leuchtete einzeln und schmeichelnd im milden Grau." [GE 35], „schien sein Körper in seltsam schmeichelnder und demiuiger Dankbarkeit kleiner zu werden" [GE 37]). Wenn der „Garten der Erkenntnis" die Geschichte einer „Passion" ist, korrespondiert das mit dem Selbstverständnis Andrians, eine Monstrosität als Vermischung zweier „Racen" und „ein Heiland oder der Bote eines Heilands" zu sein (Andrian an Hofmannsthal, 23. 3. 1895. Briefwechsel, S. 44). & mag eine unstatthafte Anmerkung sein, daß die homosexuellen Prostituierten zeitgenössisch „petits jesus" genannt wurden (Hirschfeld: Homosexualität in Wien, S. 789; Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis, pass.).

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wird, als er über die Zweikampfmetapher sowohl die Einheit des Textes einlösen als auch in dieser Spannung von „Leben" und „Tod" eine Gültigkeit beanspruchen können soll, die ihm ohne diese textuelle Verarbeitung nicht zugestanden wäre: „Aber das war nicht der Kampf des Lebens, den seine Kindheit erwartete, schön durch das Gefühl des Kampfes, da uns ja doch der Kampf nur den schönen Sieg geben kann oder das noch viel schönere Besiegtsein [!]; bei diesem Zweikampf fühlte er nur die häßliche, ratlose Furcht vor dem Tod, welcher das Ende des Kampfes ist." (GE 56) Die adversative (denotative) Bedeutung des Satzes wird durch die Reihe der Oppositionen: Tod-Leben, schön-häßlich, Kindheit-Tod, Sieg-Furcht dementiert und zu einer höheren Einheit transponiert, die der Rolle des „Fremden" im Plot nicht angemessen ist. Der „Fremde" wird zur Allegorie hypostasiert, indem er mit der kindlichen personifizierenden Phantasie Erwins von den ,tapfersten Helden des Morgenlands und des Abendlands' (GE 11) parallelisiert wird. Gleichsam über den unglücklichen Lebensgang Erwins legt Andrian eine Textschicht, die scheinbar über das ,Phänomen des Lebens' spekuliert und damit dem Leben Erwins Kohärenz verleiht, obwohl, besser: indem ihm „Erkenntnis" verweigert wird („So starb der Fürst, ohne erkannt zu haben."). Die (neben „Leben") zentralen Begriffe des Textes: „Geheimnis", „Erfüllung", „Offenbarung", „Erkenntnis" und „Wunder", gewinnen erst dadurch an Profil, daß sie sich d e m Protagonisten verschließen. Dennoch handelt es sich hierbei nicht einfachhin u m Mystifikationen. Der ganze Text ist durchzogen von Metaphern von einer Sprache, die nur dadurch existiert, daß sie Erwin unverständlich bleibt. ,,[D]ie Dinge der äußeren Welt hatten ihm den Wert, den sie im Traume haben", heißt es vom ,,zwölfte[n] Jahr" Erwins, „sie waren Worte einer Sprache, welche zufällig die seine war, aber erst durch seinen Willen erhielten sie Bedeutung, Stellung und Farbe". Den Worten, „das Einzige, was er an ihnen [den Kameraden] zu verstehen glaubte", „legte er zu große Wichtigkeit bei und sie verwirrten ihn vollends; denn sie wechselten leichthin gesprochen; und ebenso wechselnd bedeutungsvoll und unverständlich waren ihm seine neuen Kameraden." (GE 8 f.) In der Begegnung mit seinem Freund Philipp „erfuhr der Erwin Worte, die er nicht gekannt, und die Bedeutung anderer Worte, die er nicht verstanden hatte; oder eigentlich erfuhr er nur, daß es eine Reihe von Geheimnissen gab, auch in dem, was ihm geheimnislos gewesen w a r " (GE 17). Er spricht die „kraftlosen" Verse Bourgets, „deren Inhalt mit ihm nichts zu schaffen hatte, aber deren Klang ihn bewegte", doch in ihnen liegt ihm

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„das Versprechen aller Hoheit und aller Niedrigkeit", „die er früher getrennt gesucht hatte" (GE 26). Die Stadt Wien verspricht ihm semantisches Potential: „Denn was immer zu Wien gehörte, empfand er jetzt als bedeutsam; die Wesen und Dinge hatten jedes einen Sinn für sich und eine andere Beziehung zu ihm; er fühlte sie jetzt nur dumpf, aber er wußte, daß sie ihm nach der Erleuchtung klar und kostbar werden würden" (GE 30). „Alles hatte seine sinnreiche Schönheit" (GE 31). Erwin versagt sich die physiognomische Methode, „aus den Zügen, Gebärden und Worten der Menschen ihr Leben zu entnehmen. [...] das kam ihm wie eine Gottlosigkeit vor, wie die Versuchung, ein übernatürliches Geheimnis auf natürlichem Wege zu ergründen." (GE 33) Das „Geheimnis des Lebens" besteht letztlich, wie der Text selbst nahelegt in den planvollen Frustrationen seines Protagonisten, der in die bloßen Dinge des Lebens seinen eigenen Metatext hineinliest, darin, daß das „Leben" zum „Geheimnis" und zum Text erklärt werden muß, damit es für einen ambitionierten Leser wie den Fürsten „Bedeutung" erhält. Die Stufenreihe an Erkenntnis, die Erwin durchmacht und die für die Erzählung das Schema des Entwicklungsromans heranzitiert (der Zeitgenosse Julius Pap hat den Garten der Erkenntnis als Extremform des Bildungsromans erkannt 85 ), müßte so in der „Erkenntnis" eines Schematismus gipfeln, der Bedeutungen sucht, die über sich selbst hinausweisen sollen. Diese „Erkenntnis" wird dem Protagonisten erspart, weil sie die Aufdeckung der doppelten semiotischen und narrativen Strategie des Textes selbst gewesen wäre. Im Gegensatz zu den meisten Erzähltexten der Epoche erzeugt der Garten der Erkenntnis nicht künstliche Tiefe, sondern eine künstliche Oberfläche. Diese Oberfläche soll den degenerativen Text verschwinden lassen; in der paradoxen Konstellation der Textebenen bei Andrian bedarf sie seiner jedoch. Erst im Verdecken entsteht eine Textfläche, die „Schönheit" im 83

Julius Pap: Leopold Andrian, „Der Garten der Erkenntnis". In: Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Hgg. v. G. Wunberg unter Mitarb. v. J. J. Braakenburg. Stuttgart 1981, S. 380-382, S. 381. Eine Schlüsselstelle für die Verweigerung der Teleologie sowohl von Erzählung überhaupt als auch von „geglückter Biographie" ist im „Garten der Erkenntnis" jene Rückblende, in der Erwins Mutter dem kranken Sohn anbietet, „wenn er etwas aus der Mitte des Buches lieber habe wie den Anfang, so solle er sich nicht fürchten, es zu sagen, so wolle sie ihm auch aus der Mitte vorlesen. [...] Man hatte ihm immer gesagt, es sei ein Fehler, die Bücher nicht von Anfang zu lesen. Jetzt aber war es, als fände er diesen feinen Fehler in ihr, aber seltsam, wie eine Tugend" (GE47).

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Degeneration, Identität und Teleologie in der „Wiener Moderne"

selben Maß prätendiert wie auch erst ermöglicht: „Klang" von Versen, ohne „Inhalt", „Worte einer Sprache", die nicht Kommunikation gewährleisten soll, sondern „Bedeutung, Stellung und Farbe".86

„ U N S E R E M B L U T AUS G E S C H I C K E N D E R V O R F A H R E N V E R E R B T " : NEOLAMARCKISMUS UND JUDENTUM IN RICHARD B E E R - H O F M A N N S „ D E R T O D

GEORGS"

Während jedoch - bei aller „Entwicklung", die sich an seinem Helden abzeichnet - Andrians Erwin stirbt, „ohne erkannt zu haben", läßt BeerHofmann Paul eine Entdeckung machen, die ihn aus den labyrinthischen Windungen seiner Reflexionen herausführt.87 Der Text kann grob in verschiedene Teile gegliedert werden 88 : Die längsten Erzählstrecken machen ein Traum, die Reflexionen Pauls während der Eisenbahnfahrt mit dem Sarg des plötzlich verstorbenen Georg und schließlich ein Spaziergang im herbstlichen Schloßpark von Schönbrunn aus, wo Paul eine Erkenntnis zuteil wird, die seiner Biographie und seiner Reflexion fortan Halt verleihen soll. Der „Traum", der fast das ganze zweite Kapitel einnimmt, zerfallt in die Vision einer sakralen Orgie im Tempel des historischen Hierapolis, in der zweiten „Szene" des Traums wird der Tod einer Frau beschrieben, der Paul 86

Scott Wilson hat in Anschluß an Jonathan Goldberg auf eine ähnliche Konstellation bei Oscar Wilde hingewiesen: „Schönheit" und Selbststilisierung werden erst dadurch ermöglicht, daß das „offene Geheimnis" wieder als Geheimnis präsentiert wird; das macht Wilde als Ikone „homosexueller Identität" aber zu einer prekären Stiftungsfigur. „The endlessly deferred revelation of the open secret, it could be argued, structures, moreover, the reception and mythologization of his life, imprisonment and death; his death being precisely the point where the secret is finally sealed as an authentic truth. Death, in the form of martyrdom, can legitimate the secret, harden it into a truth, into the terminus of all that desire its disclosure. Or, on the other hand, death can reveal that the sphinx had no secret." Wilson: Cultural Materialism. Theory and Practice. Oxford, Cambridge/ Mass. 1995, S. 240. Zum Zusammenhang von homosexueller Identität, Autobiographie und Pathographie Klaus Müller: Aber in meinem Herzen sprach eine Stimme so laut. Homosexuelle Autobiographien und medizinische Pathographien im neunzehnten Jahrhundert. Berlin 1991.

87

Für wertvolle Hinweise zum Themenkreis Judentum-Zionismus danke ich Herlinde Aichner, Wien. Eine Rekonstruktion bei Scherer: Beer-Hofmann, S. 317 f.

88

Neolamarckismus und Judentum in Beer-Hofmanns „Der Tod Georgs"

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abends in Gmunden begegnet war, ein „Tagesrest". Die Reflexionen über Altern, Sterben und Tod verbinden die Traumszene mit d e m „tatsächlichen" Ereignis von Georgs plötzlichem Sterben, durch das nicht bloß die vielversprechende Karriere des Arztes und Universitätslehrers abgeschnitten wird, sondern auch die Möglichkeit einer „erfüllten" Biographie im Dienst des Lebens. D i e Forschung hat sich denn auch meist auf jenen Punkt konzentriert, der die Erwartungen einer ästhetizistischen L ö s u n g einer impressionistischen Weltsicht gerade nicht einlöste, da er die Erwartungen an die Literatur des Jungen Wien als einer ästhetizistischen Literatur nicht erfüllte 8 9 ; diese Enttäuschung wurde dem Text selbst vorgeworfen. Die meisten vorliegenden Interpretationen widmen sich demgemäß den ersten Teilen der Erzählung, anhand derer eine vorgeblich ästhetizistische Position noch einmal aus d e m Text herausgelesen wird; die sozialhistorische Interpretation befaßte sich ausführlich, wenn auch in geschichtsphilosophischer Schematik, mit einem - gleichfalls aus d e m Text gezogenen - „Gesellschaftszustand", der sich in der Wiener Literatur abbilde. D a aber die prominenten Texte Schnitzlers, Andrians und eben BeerHofmanns diesen Typus wohl darstellen, jedoch nur, u m ihn zu kritisieren, wurde die „ L ö s u n g " , die Beer-Hofmann d e m „impressionistischen Prob l e m " angedeihen lasse, selbst kritisiert. D e r Roman sei gescheitert, da Pauls Problem „intern" nicht zu lösen sei 9 0 ; der Text falle am Schluß hinter die erreichte ästhetische Modernität wieder zurück. 91 Letztere Kritik impliziert einen doppelten Begriff von „ M o d e r n e " : In „philosophischer" Hinsicht bedeute Modernität, daß sich Auswege in traditionelle Sicherheiten, wie sie etwa Ethnizität und Religion anböten, den Subjekten zu versagen hätten; in ästhetischer Hinsicht die Abwehr historischer Stilmittel, wohingegen der Tod Georgs am Ende auf ebendiese zurückgreife. 92 Vermengt sind beide Aspekte in einem Urteil wie diesem: „ D a s spezifisch beliebige ,historistische' - Zitat ist damit durch das wörtlich zu nehmende biblische

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90 91 92

Eine Kritik dieses Ansatzes bei Konstanze Fliedl: Gedächtniskunst. Erinnerung als Poetik bei Richard Beer-Hofmann. In: Richard Beer-Hofmann (1866-1945). Studien zu seinem Werk. Hgg. v. N. O. Eke u. G. Helmes. Würzburg 1993, S. 116-127, S. 116 f. Hartmut Scheible: Nachwort. In: R. B.-H.: Der Tod Georgs. Stuttgart 1980, S. 120-160. Scherer: Beer-Hofmann, pass. Besonders schwerwiegend wirkt sich der abstrakte Modernebegriff aus bei Iris Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne. Tübingen 1992.

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Degeneration, Identität und Teleologie in der „Wiener Moderne"

Zitat abgelöst worden. Mit der Hinwendung zur Bibel und ihrer Schrift gewordenen ,Autorität' vollzieht Beer-Hofmann in gewisser Weise auch eine Rückkehr zur rhetorischen Regelpoetik" 9 3 , wobei Beer-Hofmanns Judentum mit Religion identifiziert wird (wie es die Allusionen an Sprache und Bildlichkeit der Bibel nahezulegen scheinen): „Am Schluß jedoch werden sie ,voluntaristisch' aufgehoben durch das Bekenntnis zur Religion." 9 4 Was „ästhetische Moderne" sein soll, wird dabei von Ulf Eisele bezogen. 95 Der Verortungsdrang in bezug auf eine wie immer bestimmte „ M o d e r n e " erzeugt dabei schematische Formulierungen („Zwischen Tradition und Moderne - Zur Struktur des ,Tods Georgs' an der Wende zum modernen Roman" 9 6 ). Gerne befleißigen sich die Benutzer des Modernebegriffs einer moralischen und einer geschichtsphilosophischen („fällt zurück") Diktion. Schon zum angeblichen „Ästhetizismus", dessen untaugliche Selbstkritik der Text sei, finden sich im Text kaum Belege, weshalb dann auch die - in seinem Fall außerordentlich spärlichen - biographischen Zeugnisse zu BeerHofmann herangezogen werden, mag es sich auch um Karikaturen wie jene in Karl Kraus' Demolirter Literatur handeln. Daß der Text in Religion ausweiche, scheint dabei eine These zu sein, die den Text retten soll; versteht man nämlich Beer-Hofmanns Judentum nicht als Religion, sondern als „rassischen Begriff", drehe sich demnach der Text um immanente Bezüge von „ L e b e n " , wie sie dem „Jugendstil" unterstellt werden, droht der Faschismusvorwurf: „Von der angestrebten Lebenstotalität ist nichts geblieben als eine von den Menschen abgelöste blinde Dynamik, die nun in den Dienst desselben Prozesses gestellt werden kann, der die Verdinglichung, gegen den [sie] der Jugendstil anzukämpfen versuchte, erst hervorgebracht hatte. Auch die Menschen in Beer-Hofmanns Roman sind von d e m Peitschenhieb dieser Dynamik getroffen; so sehr, daß es ihnen als ,Verbrechen' erscheint, ein Alter zu erreichen, in dem sie die Fähigkeit verloren haben, an dieser Dynamik, durch die allein ihr Dasein legitimiert war, mitzuwirken. Nur noch ein geringer Schritt ist es von der Verherrlichung dieser ab95 94

Scherer: Beer-Hofmann, S. 281. Scherer: Beer-Hofmann, S. 325. Ahnlich Paetzke: Erzählen, S. 87: „Hinwendung zum jüdischen Glauben". „Der narzißtische Ästhet, der jegliche verbindenden Werte in Frage stellt und sich von der Realität wie von sich selbst entfremdet, wandelt sich zum Gläubigen".

95

Scherer: Beer-Hofmann, S. 322, nach Ulf Eisele: Die Struktur des modernen Romans. Tübingen 1984. Scherer: Beer-Hofmann, S. 309 ff.

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strakten Dynamik zu der Forderung, daß unproduktives Leben zu vernichten sei." 97 Zur Vermeidung dieser Untiefen soll hier versucht werden, den Gehalt des Textes innerhalb der zeitgenössischen Denkmöglichkeiten zu verorten. Was den „Bruch" betrifft, konnten sich die Interpretationen auf das Zeugnis Schnitzlers berufen, es werde am Ende der Erzählung „die Orgel" gewechselt: „Im vierten Kapitel steckt übrigens irgend wo ein frecher Schwindel - das dürfte Ihnen nicht unbekannt sein. Sie setzen sich sozusagen plötzlich an eine andre Orgel, die auch herrlich klingt - aber das beweist nichts."98 Hingegen soll hier gegen einen „Bruch" auf Kontinuität und Konsequenz des Textes plädiert werden. Der Text bezieht seine Kohärenz aus seiner „Leitmotivtechnik"; indem die Leitmotive die Textbewegung mitmachen, werden sie im Fortgang der Erzählung mit Bedeutungen angereichert, die mit dem „Erkenntnisfortgang" Pauls konvergieren. An zwei dieser Leitmotive soll das kurz gezeigt werden. Vor der Traumvision der Tempelszene heißt es: „In anderer Menschen Gedächtnis lag das Wissen von diesen Dingen wie das Korn in trockenen Speichern; wie in tiefgepflügtes feuchtes Erdreich war es in ihn gefallen und sog, aufwuchernd, alle Kraft aus ihm." (TG 26). Leitet diese Passage den Tempeltraum ein, markiert ihre fast wörtliche Wiederholung das Ende der ersten Traumsequenz: „Denn wenn in Anderen das Wissen wie Korn in trockenen Speichern lag - in ihn war es wie in tiefgepflügtes feuchtes Erdreich gefallen; aufwuchernd sog es alle Kraft aus ihm." (TG 41) Die Passage demonstriert eine Bewußtseinslage, in der sich „totes" Bildungswissen visionär verselbständigt und den Inhaber dieses Wissens „verstrickt": ein „Netz", „alle Freiheit ihm nehmend", „Alles war mit Allem unlösbar verknotet, Gewesenes stand neben ihm aufrecht wie Lebendiges, und er lebte wie in dumpfen menschenüberfüllten Räumen." (TG 42) „Gedächtnis" als Speicher fungiert als Wunderkammer, als , Schatzhaus' (TG 80). Der Vergleich vom „tiefgepflügte[n] feuchte[n] Erdreich" - hier durchaus negativ besetzt - leitet weiter zur Bildreihe zur Vergegenwärtigung von Individualgeschichte im „Gesicht". „Eigensinnig", wird von Pauls ,historistischer' Aneignung von Geschichte gesagt, „folgte er den Spuren aller Dinge nach 97

Scheible: Literarischer Jugendstil in Wien. Eine Einführung. München, Zürich 1984, S. 147.

98

Schnitzler an Beer-Hofmann, 2. 3. 1900. A. S., R. B.-H.: Briefwechsel 1891-1951. Hgg. v. K. Fliedl. Wien, Zürich 1992, S. 144.

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rückwärts, bis ihre Wege mit den Wegen alles Lebens unlöslich sich verschlangen. Nichts sah er ahnenlos, und das Ebengeborene schien ihm greisenhaft verzerrt und beladen mit der Last von Erinnerungen, und sich schleppend mit Ketten die es an Gewesenes schmiedeten." (TG 42) „Gedächtnis" wird zu „Erinnerung", aus den „Ketten" wird das „Netz", „greisenhaft" weist auf die „Gesichter"-Sequenz, die jene „Erde" neu deutet: „Tief durchfurcht war ihr Gesicht. Wie gepflügt und i m m e r wieder überpflügt von einem langen Leben. Denn die Taten und das Leiden und die Gedanken vieler tausend Tage hatten rastlos ihre Spuren in dieses Feld gegraben." (TG 49) Bezieht sich die Stelle auf die „Alte", die im Traum Pauls Ehefrau zu pflegen hat, wird die Metapher in der Folge - mit Unterbrechung durch lange Textstrecken - universalisiert. Zunächst hätte der Arzt Georg als Physiognom in den Gesichtern seiner Patienten gelesen: „Wie die Augen der Künstler an allen Dingen tasten und die Form u m ihr Schicksal fragen - woher sie geworden und wohin sie wird - so hätten seine Augen voll Frage auf leidenden Menschen geruht. Ehe ihre Lippen sich öffneten u m zu klagen, klagten die schmerzlichen Linien u m M u n d und Augen" (TG 74). Wieder später „sah Paul altersverzerrte Gesichter sich reihen. Aber nicht m e h r Masken", denn sie stehen bereits für das „,Alter'" (TG 97) selbst: „Tief durchfurchte Gesichter; gepflügt, und i m m e r wieder überpflügt, von einem langen Leben. Taten, Leiden und Gedanken vieler tausend Tage, hatten rastlos ihre Spuren hier eingegraben." (TG 97) Indem aus der „Alten" die „Alten" geworden sind, schließlich das „Alter", ist weniger einer unstatthaften Allegorisierung Raum gegeben worden, als vielmehr die Metapher der „Erde" als Gedächtnis - weit entfernt von „Blut-und-Boden"Monismus - für eine schließliche Spezifikation freigeworden; Gedächtnis wird somit letztlich nicht als „Erde" stillgestellt, wie die in seiner Umgebung stets zu findende Keimmetaphorik nahelegen könnte, sondern mit Geschichte angereichert. Denn die „Alten" mit ihren „Leiden" (derentwillen sie Georg als Arzt aufsuchen würden) sind Vorausdeutung auf das jüdische Volk, mit dem sie in zweierlei Hinsicht verbunden werden, negativ: „Wie Wurzeln eines absterbenden Baumes verdorrt sich aus der Erde recken, ästelte sich, freiliegend, u m ihre magern Arme ein blaues Netz knolliger Adern. [...] Träg stotternd rann in verkalkenden Adern ein müdes Blut, sich entfärbend, und bereit zum Zerfall" (TG 99) und positiv, indem die Alten und Sterbenden mit der Apposition „bespieen mit aller Schmach" (TG 102) belegt werden, die schließlich als Chiffre der jüdischen Geschichte aufgelöst wird. Die Reihe hat ihr Telos in Pauls „Vorfahren, die irrend, den

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Staub aller Heerstraßen in Haar und Bart, zerfetzt, bespieen mit aller Schmach, wanderten" (TG 133). Das „Blut" hat eine ähnliche Textgeschichte („rinnen", „Netz") wie die Reihe Gedächtnis-Erde-Furchen-Alte und ist - da im „Blut" der Text die Lösung seines „Problems" präsentiert („Aber, was diese Abendstunde ihm gegeben, blieb; immer in ihm und nur in ihm; dem Blut in seinen Adern nicht bloß vergleichbar - sein Blut selbst, das zu ihm geredet hatte; und darauf zu horchen hatte diese Stunde gelehrt." [TG 132 f.]) - mehrfach nachgezeichnet worden." Der Text kann also nur von seinem Ende her adäquat gelesen werden; am Ende werden die scheinbar losen Motivketten zusammengenommen und sollen die Stimmigkeit der Lösung bereits vorher garantiert haben. Schon der flüchtige Leser Bahr hat in seiner Rezension bemerkt, es gebe an mancher Stelle „vier Bilder auf einen Blick".100 In der Terminologie des „mittleren" Roland Barthes hieße das, der Text enthalte ein Ubergewicht der „Indizien" gegenüber den „Funktionen", die den Erzählfortgang garantieren. 101 Das Konstruktionsprinzip (und die Raffinesse) des Textes ist jedoch gerade ein Ubergang von „Indizien" zu „Funktionen"; neben der dünnen Handlungsebene, die ein letztliches „Erkennen" Pauls tatsächlich nur ungenügend motivieren könnte, vollzieht sich die eigentliche „Erkenntnis" in den Verschiebungen und (Neu-)Kombinationen der Bilder, Motive und Vergleiche; diese Verschiebungen und Neucodierungen bilden demnach die eigentliche „Handlung" des Textes. Hartmut Scheible diagnostiziert, der Text scheitere, da die „Selbstkritik des Ästheten"102 in der Immanenz der Impressionen nicht zu plausibilisieren sei, da „die Selbstkritik des Ästheten, die eine Kritik der Stimmung ist, [...] ihrerseits aus einer Stimmung heraus [geschieht]". „Seine [Beer-Hofmanns] Absicht ist es, Paul zu einer neuen Gewißheit, die keine der bloßen Stimmung ist, gelangen zu lassen, ohne die monologische Erzähltechnik aufzugeben."103 Diese Kritik ist freilich nur dann plausibel, wenn man vor-

99 100

Vgl. Scherer: Beer-Hofmann, S. 229 ff. Hermann Bahr: Der Tod Georgs. [1901] Wieder in: Das Junge Wien. Osterreichische Literatur- und Kunstkritik, 1887-1902. Ausgew., eingel. u. hgg. v. G. Wunberg. 2 Bde. Tübingen 1976, Bd. 2, S. 1056-1041, S. 1039.

101

Vgl. Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: R. B.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/M. 1988, S. 102-143, hierS. 1 1 1 - 1 1 6 . Scheible: Nachwort, S. 153. Scheible: Nachwort, S. 153 f.

102 103

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aussetzt, daß es im Tod Georgs um die Bewältigung einer als zeittypisch ausgegebenen Bewußtseins-, Wahrnehmungs- und damit Sinnkrise geht und demzufolge der Text mit „Erkenntnistheorie" zu tun hat. Sie läßt außer acht, daß die textuellen Elemente durch das Textende immer schon geordnet sind; und läßt damit zusammenhängend außer acht, daß die „Selbstkritik" (sofern man davon sprechen kann) nicht erst mit dem vierten Kapitel beginnt. Die Fixierung auf „Wahrnehmung" und ihre (sprachliche) Bannung, Stillstellung und Bewältigung durch den „Ästheten" und die Hochschätzung der personalen Erzählhaltung schließt die Möglichkeit der Beobachtung aus, daß von allem Anfang an der Bewußtseinsstrom Pauls nicht die höchste Instanz sein muß. Gerade unterhalb dieses Bewußtseinsstroms m u ß vom Beginn der Erzählung an eine Instanz am Werk sein, die m e h r weiß als die Reflektorfigur Paul; man sollte dem Text so weit folgen, daß man annimmt, es sei tatsächlich die „Stimme des Blutes", die sich im Tod Georgs Gehör verschafft. D e r Text ist darüber sehr deutlich: „dem Blut in seinen Adern nicht bloß vergleichbar- sein Blut selbst, das zu ihm geredet hatte; und darauf zu horchen, hatte diese Stunde gelehrt" (TG 132 f., Hervorh. W. M.). An der Tonstelle der Erzählung, die mit „Zeichen" sehr kalkuliert umgeht, wird die Metaphorisierung zurückgenommen. Dieselbe Kritik, die Scheible an d e m scheinbaren Wechsel von „Stimm u n g " in „Gewißheit" vorbringt, hat Hugo v. Hofmannsthal bereits an ein e m früheren Erzähltext Beer-Hofmanns, der Novelle Das Kind (1893) angebracht 104 ; auch in diesem Text „spricht" die „Stimme des Blutes". „Ich habe in den letzten Tagen aufmerksam über ,das Kind' nachgedacht", schreibt Hofmannsthal an Beer-Hofmann, „[njachträglich erscheint mir Schwarzkopfs Vorschlag, alles ä partir der Heiligenkreuzigercapitel wegzulassen, nicht m e h r gar so empörend u n d unsinnig. Nämlich bis dahin, wo er in Tränen ausbricht ist, d e m Motto aufs schönste entsprechend, alles ,Druck der spielenden Luft', Verkettung von Stimmungen. In den 2 letzten Kapiteln nimmt Erwägung, philosophische Erkenntnis die Führung. Nicht, daß er die Nichtigkeit des Individuums im Haushalt der natürlichen Natur einsieht, sollte in Paul die Befreiung herbeiführen, sondern wieder eine Reihe von Zufallen, Luftwellen, die auseinanderwerfen, was die früheren 104

Zum „Kind" vgl. Günter Helmes: „Beer-Hofmanns ,Kind' ist ein prächtiger, gesunder Bengel". Schönheit und Sinn in Richard Beer-Hofmanns „Novellen". In: Richard BeerHofmann (1866-1945). Studien zu seinem Werk, S. 57-85.

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zusammengeweht haben. Jetzt haben die beiden letzten Kapitel wirklich etwas Angeklebtes. Ich sage Ihnen das alles nur, um Ihnen einen Weg anzudeuten, falls Ihnen das Verwischen der Zola-spuren auf dem einmal betretenen sehr schwer fiele. Die 4 oder 5 feststehenden Capitel haben eine so exemplarische Ökonomie, daß mir daran liegt, diese seltene Eigenschaft, auf die man sich in Deutschland wirklich etwas einbilden kann, dem Ganzen erhalten zu sehen." 105 Zola-Spuren zu beseitigen war möglicherweise nur Hofmannsthals Interesse; für unsere Überlegungen zu Beer-Hofmann ist das ein wichtiger Hinweis. In Das Kind findet der Dandy Paul zu einer („monistischen") Vision vom Zusammenhang der Natur in Prokreation und Evolution, als das von ihm gezeugte Kind, von d e m er sich distanziert, bei Pflegeeltern zu Tode gebracht wird; die „Stimme des Blutes" spricht auch hier, jedoch noch ohne historische und kollektive Dimension. Die Arbeit am Tod Georgs nimmt Beer-Hofmann 1893 - unter dem noch ironischen Titel Der Götterliebling- unmittelbar nach dem Erscheinen der Novelle auf. 106 Die Annahme, es sei die „Stimme des Blutes", die erst über das Metaphernnetz, dann selbst zu Paul „spricht", ist freilich nur dann plausibel, wenn nachzuweisen ist, es handle sich dabei u m m e h r als eine - bereits zeitgenössisch blasse - Metapher. Daneben ist der Widerspruch auszuräumen, daß die „Stimme des Blutes" mit „Konversion", „Transzendenz" und einer „Wendung zur Religion" 107 höchstens Katachresen erzeugt. Man hat mit Recht festgestellt, daß - neben den Traum-Passagen, in denen Paul „seiner Frau" die Gewißheiten ihres Kinderglaubens nimmt, dies jedoch vom Text als Brutalität ausgelegt wird (TG 22 f., 58) 108 - noch die Schlußapotheose des Judentums Züge elementarer Religionskritik enthält („schuldlos Sünden sich erdichtend und ihre Qualen , Strafe' nennend, nur daß ihr Gott ein Unbezweifelter, Gerechter, bleibe", TG 133). Der Widerspruch löst sich auf, wenn man voraussetzt, daß die Bibel-Allusionen lediglich als Chiffren

105 Hofmannsthal an Beer-Hofmann, 15. 7. 1895. Briefwechsel, S. 24 f. 106 Beer-Hofmann: Daten. Mitget. v. E. Weber. In: Modern Austrian Literature 17 (1984), H. 2, S. 13-42, S. 20; Schnitzler, Beer-Hofmann: Briefwechsel, S. 49 f. 107 Scheible: Nachwort, S. 156 f.; ähnlich Scherer: Beer-Hofmann, S. 308. 108 Mit Sicherheit ist die Stelle aus Jens Peter Jacobsens „Niels Lyhne" entlehnt, vgl. J. P. J.: Niels Lyhne. Roman. Aus d. Dänischen v. Marie v. Borch. Mit Dokumenten [...] hgg. v. K. Bohnen. Stuttgart 1984, S. 205-207 (Niels und Gerda). Der Atheismus des Romans war ein wichtiger Aspekt der Niels Lyhne-Rezeption im deutschsprachigen Raum, vgl.

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des Judentums fungieren sollen, wie sie noch lange der säkulare Zionismus benützte 109 und demgemäß von einer „Konversion" des Protagonisten keine Rede sein kann. Denn die „Gerechtigkeit", wie sie der Text am Ende anruft, erscheint zuerst im Zusammenhang einer dem Stifterschen „Sanften Gesetz" angenäherten Naturgesetzlichkeit (TG 127), wie sie schon bei Stifter einen immanentistischen Positivismus m e h r als nur berührte; zweitens dient „Gerechtigkeit" - in Verbindung mit „Gott" - vor allem dazu, Juden von Christen zu trennen, ohne das aussprechen zu müssen. Das Volk, von dessen „Blut" Paul „war", ruft „in Leiden nicht zum barmherzigen Gott", sondern „zu Gott dem Gerechten" (TG 133). Gerade um dieses „Blut" geht es auch, und nicht u m die Teilhabe an diesem Prozeß, wenn - zeitüblich eine Entwicklung des Gottesbegriffs durch die Sublimierung von Götzen in Begriffe angenommen wird: „Und langsam ihren Gott von Opfern und Räucherungen lösend, hoben sie ihn hoch über ihre Häupter, bis er, kein Kampfesgott von Hirten m e h r - ein Wahrer allen Rechtes - über vergänglichen Sonnen und Welten, unsichtbar, Allem leuchtend, stand. / Und von ihrem Blute war auch er." (TG 133 f.) Was nun jene „Stimme des Blutes" betrifft, muß zur Analyse ein historisches Modell herangezogen werden, das heute jeden Kredit verloren hat, zeitgenössisch jedoch von hoher Bedeutung und Verbreitung war und das als ideologische Matrix die Stichworte, wie sie bei Beer-Hofmann fallen, mitbenützt. Mit den Schriften August Weismanns beginnt sich ab 1883 (Über die Vererbung) die Situation in der theoretischen Biologie entscheidend zu verändern. Bisher hatte sich die große Konfliktlinie zwischen Anerkennung und Ablehnung des darwinistischen Paradigmas von Evolution und Selektion, Immanenz u n d tierischer Deszendenz des Menschen bewegt; mit der Durchsetzung des „Darwinismus" in Fachkreisen begann (jedenfalls der ofKlaus Bohnen: Nachwort. In: Ebd., S. 56-67, S. 61 f. Auch der Traum vom Sterben der „Frau" Pauls weist sehr starke Ubereinstimmungen mit dem Sterben von Gerda und Niels' Sohn auf. Zu Jacobsens Darwinismus und die Rezeption in Wien (Schnitzler, Andrian u. a.) vgl. u. a. Bengt Algot Sorensen: J. P. J. München 1991, S. 27-33 u. 124-126. Zur Niels Lyhne-Rezeption in der angedeuteten Perspektive auch Peter Brückner: Sigmund Freuds Privatlektüre. Köln 1975, S. 45-53, S. 53: „Der Dichter Jacobsen und der Forscher Freud [...] haben auch ihren milden Lamarckismus gemeinsam." 109 Dazu Jacques Le Rider: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität. Wien 1990, S. 375-408: Richard Beer-Hofmann und der „Kulturzionismus" (Kap. 14).

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fene) Widerstand gegen die Theorie und ihre Implikationen abzuebben. Umso heftiger setzte dagegen eine Diskussion über die Grundlagen der Vererbung und die Modi der Evolution im ganzen ein. In der interessierten Öffentlichkeit dokumentierte sich die zunehmende Akzeptanz Darwins in der Verallgemeinerung von dessen schon von Beginn an „weicher" Terminologie - wie dem „Kampf ums Dasein" - zur Floskel, die zugleich immer mehr an systematischem Gehalt verlor und zu einer Phrase für die Härten des Lebens herabsank. Weismanns „Neo-Darwinismus" schloß die Vererbung erworbener Eigenschaften dezidiert aus und polarisierte damit das Feld der Biologen. Internalistisch gesehen, bewegte man sich hier bis zur Wiederentdeckung der Mendelschen Protogenetik auf dem unsicheren Terrain der Spekulation, zumal auch die spärlichen experimentellen Befunde verschiedene Interpretationen zuließen. Externalistisch betrachtet, sammelte sich im Widerstand gegen den Neodarwinismus Weismanns eine bunte Opposition divergierender Richtungen, die jeweils bestimmte Implikationen dieser neuen, „harten" selektionistischen Position nicht akzeptierten. Indem Weismann den modernen und nach der „evolutionären Synthesis" auch noch heute gültigen „Darwinismus" vertrat, zerfiel die Front der „Darwinisten", die an den Namen Darwins verschiedene Erwartungen geknüpft hatten. „Darwinistisch" waren jedoch die meisten Positionen insofern, als sie sich jeweils mit gewissem Recht auf Darwin berufen konnten; eher ging es um Prägen von Gewichtungen und Wertungen. Der Zufall, den Weismann als blinden Motor der Evolution hervorhob, war akzeptiert, jedoch konnte auch eine Form der Gerichtetheit in den Innovationen der Natur eine Rolle spielen, sei es eine immanente, sei es eine transzendente teleologische Kraft; der „Kampf ums Dasein" wurde als Tatsache betrachtet, ob er jedoch der alleinige Auslesefaktor sei, war strittig; daß im Leben des Individuums erworbene Eigenschaften vererbt werden konnten, wurde bis Weismann mindestens nicht ausgeschlossen. Auf Darwin selbst konnten sich beide Positionen berufen. Darwin war Lamarckist mindestens in dem Sinn, daß er der Vererbung erworbener Eigenschaften stets einen gewissen Stellenwert zubilligte; nach dem offensichtlichen Scheitern seiner „Pangenesistheorie" war weiter Raum für Theoretisierungen zur Vererbung geöffnet, ohne sich deshalb vom „Darwinismus" lösen zu müssen.110 Eher hatten die Gegner Weis110

Wettstein befand auf der 74. Naturforscherversammlung (Karlsbad 1902), es sei zwischen beiden Standpunkten eine immer stärkere Annäherung bemerkbar, „indem immer mehr

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manns die Plausibilität für sich, zumal die Vererbung erworbener Eigenschaften als Angelegenheit alltäglicher Erfahrung galt und in Ernst Haeckel ein legitimer Erbe Charles Darwins bereitstand, der in Nachfolge der Pangenesistheorie eine ähnliche Spekulation verfocht. Gerade für die Öffentlichkeit jenseits der Fachgrenzen war Haeckels Status als Kulturkämpfer und „Fortschrittsmann", den er sich im Durchsetzungskonflikt des „Darwinismus" erworben hatte, von großer Bedeutung; im selben Zuge jedoch, wie Haeckels „Monismus" Formen einer organisierten antiklerikalen Privatreligion annahm, sah die klerikale Opposition gegen den Evolutionismus neue Chancen. Mit dem starken Terraingewinn antiliberaler Strömungen um die Jahrhundertwende lebte auch die alte Form des Widerstandes gegen die „Affentheorie" auf, zumal die Unstimmigkeiten und Flügelkämpfe im darwinistischen Lager als „Tod des Darwinismus" überhaupt darstellbar waren. Die semantischen Grenzen zwischen Neo-Darwinisten und Neo-Lamarckisten (als der bedeutendsten Strömung im immer noch heterogenen Feld der Weismann-Gegner) sind schwer zu ziehen. Die Grenze verlief nicht nach der Achse experimentell vs. spekulativ: Beide Strömungen besaßen wichtige Experimentalisten wie Roux einerseits, Kammerer und Driesch andererseits; nicht nach der Achse positivistisch-immanent-materialistisch vs. transzendent-idealistisch: Unter den Neolamarckisten befand sich der Sozialist Kammerer ebenso wie der Liberale mit deutschnationalen Sympathien Richard v. Wettstein und der Vitalist Driesch. Obwohl der Neolamarckismus im angloamerikanischen Sprachraum wegen seiner angeblichen Affinität zum Rassismus eine notorisch schlechte Presse hat 111 , gilt

die Anschauung Anhänger findet, dass es überhaupt nicht möglich ist, alle Vorgänge der Formneubildung auf dieselbe Art zu erklären, dass lamarckistische und darwinistische Anschauungen sich nicht ausschliessen, sondern nebeneinander ihre Berechtigung haben. [...] Ich selbst bin von der Gültigkeit beider Lehren vollkommen überzeugt". [I. O. teilw. gesperrt.] Wettstein: Der Neo-Lamarckismus und seine Beziehungen zum Darwinismus. Vortrag, gehalten in der allgemeinen Sitzung der 74. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Karlsbad am 26. September 1902, mit Anm. u. Zusätzen hgg. Jena 1903, S. 8. 111

An biologiegeschichtlicher Literatur vgl. etwa Stephen Jay Gould: Ontogeny and Phytogeny. Cambridge/Mass., London 1977; Peter J. Bowler: The Eclipse of Darwinism. AntiDarwinian Evolution Theories in the Decades around 1900. Baltimore, London 1983. Zur Literaturgeschichte des Komplexes bes. Peter Morton: The Vital Science. Biology and the Literary Imagination 1860-1900. London 1984; Laura C. Otis: The Memory of

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diese Verbindung für den deutschen Sprachraum nur sehr bedingt; gerade die später wirkmächtigen „Gesellschaftsbiologen" (Ploetz, Schallmayer u. a.) entschieden sich für Weismann, während (mindestens in Osterreich) etwa mit Paul Kammerer, Richard Goldscheid und Bertha v. Suttner der Neolamarckismus eine starke Verankerung im linksliberalen Milieu im weiteren Sinn hatte.112 Eine nicht unwichtige Scheidung zwischen beiden Ansätzen kann vielleicht mit „hart" vs. „weich" umschrieben werden, in Hinblick auf Duktus, Anschließbarkeit an andere Diskurse und auch poetische Attraktivität. Der Neolamarckismus hatte - etwa in der Fassung von Haeckels „Monismus" einen entschiedenen Vorsprung in bezug auf Poetizität; als Weismann-Anhänger unter einschlägig interessierten literarischen Autoren ist gerade nur Thomas Hardy bekannt, der wohl nachgewiesener Leser Weismanns war, die Ansichten über den darwinistischen Gehalt des Werkes divergieren jedoch. Hingegen sah sich Samuel Butler durch den „Weismannism" veranlaßt, die Grenzen des literarischen Feldes zu überschreiten und - wissenschaftsgeschichtlich aussichtslose - Pamphlets zu publizieren.115 Dieser „poetische Vorsprung" wird sofort plausibel, vergegenwärtigt man sich die Problemfelder der biologischen Debatte. Diskutiert wurden vor allem die Vererbung erworbener Eigenschaften, die Rolle der Materialität des Gedächtnisses und - in der Embryologie - der Konnex von Ontogenie und the Race. Organic Memory in the Works of Emile Zola, Thomas Mann, Miguel de Unamuno, Sigmund Freud and Thomas Hardy. Ann Arbor/Michigan 1992. In Nachfolge von Daniel Gasman: The Scientific Origins of National Socialism. Social Darwinism in Ernst Haeckel and the Monist League. London 1971, werden häufig „rassistische" Passagen aus dem Werk Haeckels zitiert (die freilich Gemeingut der Epoche waren), Haeckel mit dem Lamarckismus identifiziert usf. Eine differenzierte ,Verteidigung' des Haeckelschen Monismus und des Neolamarckismus aus DDR-marxistischer Perspektive bei Reinhard Mocek: Wissenschaft in der geistigen Auseinandersetzung der Zeit. Emst Haeckel. In: R. M.: Neugier und Nutzen. Fragen an die Wissenschaftsgeschichte. Köln 1988, S. 164-198. 112

Bowler ist zuzustimmen, daß die Stilisierung einzelner Lamarckisten (wie etwa Kammerer) zu Märtyrern, die einer Phalanx erbitterter „Darwinisten" gegenübergestanden wären, eine Konstruktion ist; Lamarckismus war eine durchaus mehrheitsfähige Position (Bowler: Non-Darwinian Revolution, S. 18 f.). Diese wissenschaftsgeschichtlich korrekte Feststellung enthebt jedoch keineswegs der speziellen Analyse, in welchen Formen und in welchen Milieus an der ja eigentlich „älteren" Darwin-Fassung festgehalten wurde.

113

Zu Butler und Hardy vgl. Morton: The Vital Science, S. 149 IT., zu Hardy auch Otis: Memory of the Race.

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Phylogenie. Die Embryologie war von vitaler Bedeutung, da für die Neolamarckisten die Frage zu klären war, wie die Erfahrungen des Individuums in den Bestand der Gattung übergehen könnten; in Haeckels „Biogenetischem Grundgesetz" schien eine mögliche Lösung zu liegen, da - wenn das Individuum in seiner Keimesentwicklung die Gattungsgeschichte „rekapituliert" - noch Raum für die letzte Stufe an Innovation bleibt. Diese Lösung des Problems des „organischen Gedächtnisses" hat Samuel Butler - nicht anders als Emile Zola - für seine Romane benützt, unter Berufung auf einen Wiener Vortrag des Mediziners Ewald Hering, Uber das Gedächtniss als eine allgemeine Function der organisirten Materie (1870): „Das b e w u ß t e

Gedächtniß des Menschen verlischt mit dem Tode, aber das unbewußte Gedächtniß der Natur ist treu und unaustilgbar, und wem es gelang, ihr die Spuren seines Wirkens aufzudrücken, dessen gedenkt sie für immer."114 Auf denselben Text Herings hat sich Haeckel115 für seine Vererbungstheorie berufen: „Wellen" sollten die Erfahrungen des Körpers in das (nachmalige) Weismannsche Keimplasma einschreiben, das somit nicht von den somatischen Zellen distinkt geschieden wäre (nach Weismanns gegen die Vererbung erworbener Eigenschaften gerichteter Theorie). Damit ist das Individuum in seine Abstammungsgemeinschaft integriert und teilt deren Erfahrungen; seine eigenen Errungenschaften verbessern (oder verschlechtern) das Kollektiv der Nachfolgenden. Durch eigene Arbeit kann so das Individuum Geschichtsmächtigkeit erreichen; zugleich sind in seinem somatischen „Gedächtnis" die gleichsam privaten und immateriellen Erfahrungen seiner Abstammungsgemeinschaft „gespeichert". Der Erbe erbt somit nicht bloß zufallige Mutationen oder (leicht zu gefährdende, aber nicht zu verbessernde) Erbanlagen, sondern auch das immaterielle Gedächtnis seiner Ahnen, während Weismanns Keimplasmatheorie die Gefahrdungen eines ursprünglichen Bestandes fokussiert; ein später Nachfolger dieser Theorie ist das Konzept vom „egoistischen Gen". Wenn auch der

114

Vortrag, gehalten in der feierlichen Sitzung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften am 30. Mai 1870. Wien 1870, S. 26. Herings Vortrag wird auch von Ernst Mach in den „Populären Vorlesungen" mehrfach zustimmend zitiert, z. B. S. 255, 564, 613.

115

Haeckel: Ueber die Wellenzeugung der Lebenstheilchen oder die Perigenesis der Plastidule. Vortrag, gehalten am 19. November 1875 in der medicinisch-naturwissenschaftlichen Gesellschaft zu Jena. In: E. H.: Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre. 2 Bde. 2., verm. Aufl. Bonn 1902, Bd. 2, S. 31-97.

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Neolamarckismus seinen Gegnern gegenüber einen Vorsprung an Poetizität hatte, kann das nicht bedeuten, er sei weniger „wissenschaftlich", gar „ideologischer" gewesen; eine naturwissenschaftliche Position, wenn sie im (zumal internationalen) Fachdiskurs und in den fachwissenschaftlichen Institutionen verankert ist, hat nicht deshalb schon ein Defizit an „Wissenschaftlichkeit", nur weil sich ein konkurrierendes Modell später durchgesetzt hat. Nur im lamarckistischen Kontext ist verständlich, daß ein Individuum Formen von Geschichte ausagieren kann, die es nicht selbst erworben hat. An einer Stelle im Tod Georgs heißt es demgemäß: „Unlöslich war ein Jeder mit allem Früheren verflochten. Gedanken vieler Toter, wie durch Zauber in Worte gebannt, lebten noch und waren Herrscher über ihn; Taten eines Helden bargen sich in einem Namen - einem Kind gegeben, war er Verheißung und Last zugleich; schmachvolle Geschicke durften nicht in Vergessenheit sich flüchten und mußten als Gleichnis auf unseren Lippen leben; Schauer die wir nicht begriffen, rührten an uns; unserem Blut aus Geschicken der Vorfahren vererbt, waren sie von längst verendeten Stürmen die letzte Welle an entfernten ruhigen Küsten; eine Frucht die uns labte, konnte in fremde Schicksale uns verstricken" (TG 127, Hervorh. W. M.). Wenn so die ,Geschicke' der Vorfahren „unserem Blut" „vererbt" werden, macht sich im „Blut" eine kollektive Geschichte geltend, die durch „Vergessen" aus dem Individuum nicht zu tilgen ist. (Daß Beer-Hofmann mit diesen Konzepten vertraut war, geht auch aus den Zeugnissen der intensiven Beobachtungen hervor, die er an seinen Hunden anstellte. Im späten Lied an den Hund Ardon - da er noch lebte [1938] heißt es: „Der Sommer ward, du wuchsest, in dir wachte / Weisheit der Ahnen auf - ein Erbe, dir bestellt - : / Es warnte, hemmte, trieb dich, wies dir, wie man / erschaut, erlauscht, erriecht gefahrerfüllte Welt. / / Uralte Bräuche übtest du - nicht wissend, welch / verborgner Sinn in ihnen waltend sei [...] Wir gleichen uns, mein Hund". 116 ) Der Inhalt des Textes wird am Ende raffend zusammengefaßt zu drei Dimensionen von Pauls Leben. Das „Leben seiner Tage" präsentiert Geheimnisse: „Viele Tage ersehnte er sich", „Und immer um ihn: Die Weite der Welt und ihre Fülle und sein Wissen davon. Rings um ihn Leben-Atmendes: Mensch und Tier und Sprießendes und Gestein - Alles gleich rät-

116 Richard Beer-Hofmann: Gesammelte Werke. Frankfurt/M. 1963, S. 668-671, S. 669 f.

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selvoll und stumm und Nichts von sich verratend. Und Aller Geschicke von weither wallend, gierig zu einander den Weg zu finden und, in ruhlosem Wogen flüchtig einander vermählt, vergängliche Lust und nicht ewig lebende Schmerzen wie versickernden Schaum ein den Strand schleudernd und in dies Alles - er - mitten hineingeworfen, mit bereiten Sinnen sich darin badend, ganz darein getaucht, geschüttelt von den Schauern des Erkennens u n d denen des Nichtverstehens!" (TG 129) Eine zweite Dimension, der Traum, ist dadurch ausgezeichnet, daß der Träumende wie ein Kunstwerk eine Welt schafft, die ihren eigenen Regeln (und nur ihnen) gehorcht: „Der träumte, schuf eine Welt und setzte in sie, nur was für ihn bedeutete; von ihm gesteckt, waren die Grenzen ihrer Himmel und ihrer Erden, allwissend war er in ihr, und Alles wußte von ihm", wobei an die beiden Sequenzen des Traumkapitels zu denken ist. Eine dritte Dimension von Leben steht zu den ersteren, die sich beide auf Reflexionsstufen des Textes beziehen (Überwältigung und Sinnerfahrung durch Sinnstiftung in selbstgeschaffenen Szenarien), im Verhältnis der Bedingung: „Aber so sehr über das Leben seiner Tage und seiner Nächte erhöht, wie Musik über einsame Töne, war ein drittes Leben - das seiner Ahnungen; schwerlos über d e n beiden Leben schwebend, u n d doch wieder in sie eingesprengt wie edles Erz in schlichtes Gestein; in Träumen manchmal nahend, u n d stark genug aus Alltäglichem zu reden; wie f r e m d e H ä n d e von außen an ihn rührend, und in ihm pochend wie sein eigenes Blut." (TG 130) In diesem „dritten Leben" ist daher ein kollektives „phylogenetisches" Unbewußtes zu erkennen, das sich vom Bildungswissen, das die Tempelszene in Gang setzt 117 , abhebt; d e n n dieses „Blut" u n d die „ H ä n d e " bilden d e n Schluß der Erzählung: „Aber durch alle Müdigkeit hindurch empfand Paul, Ruhe u n d Sicherheit. Als läge eine starke Hand beruhigend und ihn leitend auf seiner Rechten; als fühle er ihren starken Pulsschlag. Aber was er fühlte, w a r n u r das Schlagen seines eigenen Bluts." (TG 136) So bergen die Schlußsätze keineswegs ein Ironiesignal, das etwa die gefundene „Sicherheit" noch einmal relativierte; es handelt sich u m genau dasselbe kollek-

117 Bei Scherer wird die Tempelszene mit Freuds Konzept von den „Kinderstadien der Menschheit" (das von Haeckel inspiriert ist) als „Rekapitulation" gedeutet. Wie Le Rider bemerkt, jedoch psychoanalytisch interpretiert, hat Beer-Hofmann die Tempelprostitution mit Kanaan zusammengebracht; sie erschiene dann aber innerhalb der Analogien des „Lamarckismus" als Kinderstadium des Judentums. Le Rider: Ende der Illusion, S. 390 u. die Anm. in Beer-Hofmann: Gesammelte Werke, S. 882.

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tive „phylogenetisch"-historische Unbewußte, wie es Sigmund Freud als Urszene, Urhorde und Vatermord seiner Kulturkritik unterlegte, nur durch die Erfahrungen des Weltkriegs veranlaßt - in pessimistischer Wendung (sein neues darwinistisch-lamarckistisches Interesse läßt sich auf 1917 datieren 118 ). Mit dem zunehmenden Prestigeverlust des Lamarckismus unter Biologen sahen Freuds Schüler in diesen Konzepten die ( n a t u r w i s senschaftliche Reputation der Psychoanalyse gefährdet 119 , während Freud, „biologist of the m i n d " (Frank J. Sulloway 120 ), noch in den dreißiger Jahren selbstbewußt auf Lamarck beharrte: „Die Psychoanalyse kann sich nicht den Meinungen der Biologen anpassen - wir müssen unseren eigenen Weg gehen." 121 Versucht man den Tod Georgs vor der Folie der Theoretisierungen der lamarckistischen Biologie zu lesen, können also einige Interpretationsprobleme einer Lösung zugeführt werden. Es gibt hingegen keine Indizien dafür, daß Beer-Hofmann mit seiner Erzählung in einer biologischen Fachdebatte Position bezöge; „Lamarckismus" und Darwinismus (im Sinn der „Lehre Darwins") waren für die „Lamarckisten" keine Widersprüche, sondern eine Einheit und eine Frage der Nuancierungen, im Rahmen von Konzepten, die bis zum Auftreten der Weismann-Anhänger auch keine Fronten erzeugt hatten. Die Anschließbarkeit der lamarckistischen Konzepte (Vererbung erworbener Eigenschaften, Rekapitulation, organisches Gedächtnis) an die modernen Diskurse von der Nation ist offensichtlich. Neben ihrer (m. E. übertriebenen) Bedeutung für einen hegemonialen Nationalismus ist jedoch ihre Rolle für defensive, „oppositionelle" Diskurse unterbelichtet geblieben. Die erste literarische Manifestation von Beer-Hofmanns emphatischem Judentum ist sein Gedicht Schlafliedfiir Miriam (entstanden 1897), in dem die Stichworte von Der Tod Georgs in der letzten Strophe des dichotomisch angelegten Gedichts aufscheinen; heißt es in der zweiten und dritten Strophe: „Keiner kann keinem Gefahrte hier sein - " bzw. „Keiner kann keinem ein

118 Lucille B. Ritvo: Darwin's Influence on Freud. A Tale of Two Sciences. New Haven, London 1990, S. 55-59. 119 Vgl. Clark: Freud, S. 430 f. 120 F. J. Sulloway: Freud: Biologist of the Mind. New York 1979. 121 Clark: Freud, S. 450 f. Freud war mit Beer-Hofmann bekannt und schätzte besonders „Jaakobs Traum"; Freud sandte ihm am 10. 7. 1956 einen ähnlichen Brief wie den bekannten „Doppelgängerbrief" an Schnitzler. Scherer: Beer-Hofmann, S. 354 f.

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Erbe hier sein", werden „Gefahrte" und „Erbe" in der letzten Strophe im „Blut" zusammengenommen: Schläfst du Mirjam? - Mirjam mein Kind, Ufer nur sind wir, und tief in uns rinnt Blut von Gewes'nen - zu Kommenden rollt's; Blut unsrer Väter, voll Unruh und Stolz. In uns sind alle; wer fühlt sich allein? Du bist ihr Leben - ihr Leben ist dein, Mirjam mein Leben - mein Kind schlaf ein.122 Es sei darauf hingewiesen (wenn auch ein direkter Zusammenhang nicht zu belegen sein wird), daß die eher unübliche Wendung vom „rollenden Blut" nicht lange davor - nach d e m Zeugnis Arthur Schnitzlers - in einem Text auftaucht, der das akademisch-bürgerliche, assimilierte Judentum Wiens stark beunruhigte: in d e m sogenannten „Waidhofener Beschluß", in d e m die deutschnationalen österreichischen Studentenkorporationen Juden für satisfaktionsunfahig erklärten und ihnen damit die Gegenwehr auf demselben Terrain der „Ehre" verschlossen. „Jeder Sohn einer jüdischen Mutter, jeder Mensch, in dessen Adern jüdisches Blut rollt, ist von Geburt aus ehrlos, jeder feineren Regung bar. [...] Einen Juden kann man nicht beleidigen, ein Jude kann daher keine Genugtuung für erlittene Beleidigungen verlangen." 123 D e r „Beschluß" wurde am 11. März 1896 verlautbart; zwei Tage später kommt es zu jenem bekannten Briefwechsel zwischen Theodor Herzl und Beer-Hofmann, in d e m dieser mit Bezug auf den Judenstaat (1896) antwortet: „Endlich wieder ein Mensch der sein Judentum, nicht wie eine Last oder ein Unglück resignirt trägt, sondern stolz ist, mit, der le-

122 Zit. mit der Origmalinterpunktion nach Schnitzler, Beer-Hofmann: Briefwechsel, S. 118 f. (15. 6. 1898). Beer-Hofmann hat Schnitzlers Ersetzung der Bindestriche durch Kommata zugestimmt. Ebd., S. 120. In diesem Antwortbrief berichtet Beer-Hofmann von seiner Lektüre von Machs Vorlesungen, in denen das Blut als Träger des Gedächtnisses in Betracht gezogen wird. 123 Schnitzler: Jugend in Wien, S. 152. Die Herausgeber der Autobiographie haben Schnitzlers Quelle nicht festzustellen vermocht; Schnitzler spricht hingegen vom „Wortlaut", vgl. ebd. u. Kommentar, S. 352. Daß der erfolgreiche Duellant Beer-Hofmann (vgl. R. B.-H.: Daten, S. 19) in Kenntnis des Textes war, kann angenommen werden.

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gitime Erbe uralter vornehmer Cultur zu sein". 124 1901 sendet Beer-Hofmann den Tod Georgs an Herzl. 125 Jener studentische Beschluß, ebenso wie die stets zunehmende antisemitische Agitation der Deutschnationalen und der Christlichsozialen, war zwar offen rassistisch, keineswegs aber „darwinistisch" im integralen Sinn; man berief sich vielmehr auf einen vorwissenschaftlich-romantischen Rassenbegriff (wie den Gobineaus). Selbst Houston Stewart Chamberlain, immerhin professioneller Biologe, wendet sich in den Grundlagen des XIX. Jahrhunderts (1899), die seinem Wiener Lehrer, dem Pflanzenphysiologen Julius v. Wiesner, gewidmet sind, von einem naturwissenschaftlichen Rassenbegriff ab und der Geschichte zu, „weil wir, um die Lehren der Geschichte zu deuten und um, im Zusammenhang hiermit, unsere Gegenwart zu begreifen, gar nicht nach verborgenen Ursprüngen und Ursachen zu forschen brauchen. [...] Was klar vor Aller Augen liegt, genügt schon, wenn nicht für die Wissenschaft, so doch für das Leben." 126 „Rasse" ist bei Chamberlain letztlich durch ein Gefühl verbürgt: „Unmittelbar überzeugend wie nichts anderes ist der Besitz von ,Rasse' im eigenen Bewusstsein. Wer einer ausgesprochenen, reinen Rasse angehört, empfindet es täglich." 127 Obwohl die Grundlagen die darwinistische Theoriesprache ausbeuten, verblaßt sie dort

124

125

Beer-Hofmarm an Herzl, 13. 3. 1896. In: Jeffrey B. Berlin: The Unpublished Letters of Richard Beer-Hofmann to Hermann Bahr (with the unpublished letters betweeen BeerHofmann and Theodor Herzl). In: Identity and Ethos. A Festschrift for Sol Liptzin on the Occasion of His 85th Birthday. Ed. by M. H. Gelber. New York, Bern, Frankfurt/M. 1986, S. 121-144, S. 135. Berlin: The Unpublished Letters, S. 135. Beim „Blut" könnte weiters an das Wiederaufleben der „Ritualmordlegenden" am Ende des Jahrhunderts gedacht werden, die mindestens den für den Antisemitismus sehr sensiblen Adoptivvater Beer-Hofmanns, Alois Hofmann, beschäftigten; unter d e m 18. 9. 1899 teilt er Richard den Ausgang des Hilsner-Prozesses mit: „Die antisemitischen] Blätter: D[eutsches] V[olksblatt], Dfeutsche] Z[ei]t[un]g u. D. Vaterland jubeln weil angeblich jetzt festgestellt ist, dass die Juden Christenblut brauchen. Natürlich wird m a n die Sache nicht auf sich beruhen lassen, u. sie wird noch aufgeklärt werden müssen." A. H. an R. B.-H., 18. 9. 1899. Typogr. Abschr. Leo Baeck Institute New York, Coll. R. B.-H., box 3, folder 15, S. [84].

126

Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts. 1. Hälfte. Ungek. Volksausgabe. München 1933, S. 317 (Kap. „Das Völkerchaos"). Vgl. auch Peter Stuiber: „Was euch nicht angehört, müsset ihr meiden". Houston Stewart Chamberlain als Wegbereiter des Nationalsozialismus. In: Das jüdische Echo 44 (1995), S. 87-95.

127

Chamberlain: Grundlagen 1, S. 320.

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zu alltagspraktischen Metaphern, wie sie aus der Tierzucht geläufig sind; in seiner Autobiographie lehnt Chamberlain explizit den Darwinismus als „ D o g m a " ab, zugunsten einer idealistischen Naturphilosophie mit dem Kronzeugen Goethe. 1 2 8 Im Gegenteil dürfte der Lamarckismus gerade für defensiv-oppositionelle Strömungen attraktiv gewesen sein, da er nicht bloß Geschichte im Individuum sichtbar macht, sondern auch zur Zukunft hin öffnet (bei BeerHofmann hat Geschichte immer einen in beide Richtungen deutenden Zeitvektor: „von Gewes'nen - zu Kommenden" 1 2 9 ). Paul Kammerer hat das in einem Broschürentitel aphoristisch unter Benützung einer Wendung von Richard Goldscheid zugespitzt: Sind wir Sklaven der Vergangenheit oder Werkmeister der Zukunft? Seine Argumentation zeigt, welche Attraktivität das Paradigma gerade für Kollektive hatte, die als „entartet" bzw. „degeneriert" galten. Der Sozialist Kammerer wendet sich gegen das (sich neodarwinistisch legitimierende) Argument der Gesellschaftsbiologen, der „Sozialdarwinisten", das Proletariat sei in der Gesellschaftsordnung an der rechten Stelle situiert, da die Momentaufnahme sozialer Stratifikation im direkten Verhältnis zur „Gesundheit" der Betroffenen stehe. Kammerers Arbeit steht im Dienst einer Rassenhygiene, der die „Entarteten" Objekte einer (künftigen) Biopolitik sind; durch sozialhygienische Maßnahmen sollen die Lebensbedingungen des Proletariats verbessert werden, im lamarckistischen Erbgang würden diese Verbesserungen der „Rasse", d. i. der körperlichen Beschaffenheit des Kollektivs, zugute kommen und wären nicht an Einzelindividuen verschwendet. Kammerer beruft sich auf die ,,[u]niversellste[n] Geister unserer Zeit, Hering, Haeckel, Mach, S e m o n " , die „den Vererbungsprozeß in der Tat Gedächtnisprozessen gleichgesetzt" hätten; ,,[w]enn erworbene Eigenschaften sich je vererbt haben, so könnten wir uns zielbewusst zweckmässige Eigenschaften und Fähigkeiten aneignen, um uns und unsere Nachkommen einerseits erblich von der Degenerationsgefahr zu entlasten, andererseits zu i m m e r noch höheren Leistungen vorzubereiten. Wenn erworbene Eigenschaften sich nicht vererben, so sind wir d e m Zufallswalten der Naturzüchtung [d. i. „natural selection", W. M.] ausgeliefert, die denn auch nirgends ermangelt hat, zu überlegener Höhe emporgekom-

128 129

Chamberlain: Lebenswege meines Denkens. München 1919, S. 159. „Gleichgiltiges, das er sonst übersah, hatten seine Gedanken umklammert, und daran emporwuchernd, schlugen sie nach rückwärts Wurzeln in Vergangenes, und rankten zu Kommendem weit in die Zukunft." (TG 107)

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mene Lebensformen hernach um so sicherer in Dekadenz und Aussterben hinabzuschleudern." 130 Diese Elemente beherrschen die Vorstellungswelt der österreichischen Sozialdemokratie, von der Antialkoholbewegung der Jahrhundertwende bis zu den Sozialprogrammen des „Roten Wien" der Zwischenkriegszeit.131 Kammerer nahm auch Kropotkins Überlegungen zur Symbiose und zur „gegenseitigen Hilfe" wieder auf.132 Kammerer vermutet hinter dem Neodarwinismus (nicht bei Weismann, doch bei Uexküll) demgemäß eine reaktionäre („klerikale") Verschwörung, die die Syntheseversuche von Darwin und dem neuentdeckten Mendelismus zu einer biologischen Restauration fordarwinistischer Verhältnisse benütze. Die Ablehnung des Lamarckismus impliziere letztlich die Konstanz der Artcharaktere (!); Zukunft sei damit zugunsten einer Legitimation der bestehenden Verhältnisse verschlossen. Genau dieses neolamarckistische Argument benützt unter Berufung auf Kammerers Salamander-Experimente, Hering und Semon, gegen Chamberlain und Weismann 133 - einer der bedeutendsten jüdischen Rassetheoretiker134, der Wiener Ignaz Zollschan, zur Abwehr des rassistischen Antisemitismus und der jüdischen Entartung im zionistischen Zentralorgan Die Welt: ,,[D]as Gesetz von der Nichtvererbbarkeit erworbener

130 Paul Kammerer: Sind wir Sklaven der Vergangenheit oder Werkmeister der Zukunft? Anpassung, Vererbung, Rassenhygiene in dualistischer und monistischer Betrachtungsweise. Wien, Leipzig 1915, S. 24 f. 131 Dazu Doris Byer: Rassenhygiene und Wohlfahrtspflege. Zur Entstehung eines sozialdemokratischen Machtdispositivs in Osterreich bis 1934. Frankfurt/M. u. a. 1988. Siegfried MatÜ: Politik gegen den Tod: Der Stellenwert von Kunst und Kultur in der frühen sozialdemokratischen Bewegung. Eine Skizze. In: Die Bewegung. Hundert Jahre Sozialdemokratie in Österreich. Hg. v. E. Fröschl, M. Mesner u. H. Zoitl. Wien 1990, S. 53-75. 132 Vgl. Kammerer: Allgemeine Symbiose und Kampf ums Dasein als gleichberechtigte Triebkräfte der Evolution. In: Verhandlungen der zoologisch-botanischen Gesellschaft Wien 59 (1909), S. (113)-(117). Dass. in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 6 (1909), S. 585-608. 133 Ignaz Zollschan: Das Rassenproblem unter besonderer Berücksichtigung der theoretischen Grundlagen der jüdischen Rassenfrage. Wien, Leipzig 1910, S. 221 IT., S. 237 f. 134 Zu diesem Problemkreis s. jetzt John M. Efron: Defenders of the Race. Jewish Doctors and Race Science in fin-de-siecle Europe. New Häven, London 1994; zu Zollschan 153-166. Auch Walter Zwi Bacharach: Ignaz Zollschans „Rassentheorie". In: Jüdische Integration und Identität in Deutschland und Österreich 1848-1918. Hgg. v. W. Grab. Tel Aviv 1984, S. 179-190, Diskussion S. 190-197, und George L. Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa. Frankfurt/M. 1990.

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Eigenschaften, das Gesetz von der absoluten Konstanz der Artcharaktere [!] kann heute als gefallen betrachtet werden. Eine spezifische Wesensverschiedenheit der einzelnen Rassen etwa in dem Sinne, daß alle hervorragenden Franzosen durch Esprit, alle hervorragenden Deutschen als Dichter und Denker sich auszeichnen müßten, daß [...] [die] spezifische Fähigkeit [...] der heutigen Juden etwa Handelstalent, Familiensinn, die Fähigkeit sozial zersetzend zu wirken, gewesen sei, eine solche spezifische Wesensverschiedenheit der einzelnen Rassen gibt es nicht und hat es nicht gegeben."155 Dagegen sei nicht die „Begabungsqualität", sondern die „Begabungsquote" ein Charakteristikum der Einzelrasse; die hochgezüchtete jüdische Rasse sei zu bewahren, doch in der Diaspora dem Untergang geweiht; der Zionismus könne die Rasse noch retten. Für den Antisemitismus macht Zollschan den „Neodarwinismus" verantwortlich.136 Andererseits hatten die jüdischen Begründer der „Völkerpsychologie" Lazarus und Steinthal peinlich genau versucht, ihren Begriff des „Volksgeistes" trotz etlicher semantischer Anleihen bei Physiologie und Darwinismus mit assimilatorischer Absicht in idealistischer Schwebe zu halten; ein materialistisches Substrat von „Volksgeist" hätte zwischen „Juden" und „Deutschen" einen für „deutsche Juden" nicht überwindbaren Graben gezogen. Nach dem Aufbrechen offener antisemitischer Agitation war solche Vorsicht unangemessen. 137 Die „Entartung" der Juden war in der Phantasie der Epoche ein so feststehendes Faktum, daß dies im einzelnen nicht belegt werden muß. 138 Das Modell von „Entartung" und „Degeneration" war in besonderem Maß anschlußfahig, weil es keine bestimmte Methode der Argumentation und der

155 Ignaz Zollschan: Rassenproblem und Judenfrage. Vortrag, gehalten am 14. August [1911] zu Basel. In: Die Welt. Zentralorgan der zionistischen Bewegung (Köln) 15 (1911), Nr. 34 (25. 8.), S. 896-900, S. 899. Der Vortrag wurde im Rahmen des 10. Zionisten-Kongresses gehalten. Die Ubersetzung von Zollschans „Rassenproblem" ins Englische wurde unterstützt (s. ebd., Nr. 33, S. 876). 136 „Damit ist die Naturnotwendigkeit der Vererbungsfähigkeit und der ewigen Konstanz der Begabungsqualität jeder Rasse gegeben und das ist der Boden, dem die gegenwärtigen Rassentheorien entsprossen." Zollschan: Rassenproblem, S. 235. 137 Otis: Memory of the Race. 138 Z. B. Sander L. Gilman: Jewish Self-Hatred. Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews. Baltimore, London 1986, S. 286-308; ders.: Der jüdische Körper. Eine FußNote. In: S. L. G.: Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur. [...] Reinbek 1992, S. 181-204. Gute Belege auch bei Klaus Hödl: Sind Ju-

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Diagnose implizierte; der Augenschein schien zu genügen, ob man Selbstmordrate, Geisteskrankheit oder körperliche „Mißbildung" betrachtete. Jede dieser alltagspraktisch anstellbaren Beobachtungen verstärkte das Paradigma, argumentierte man nun religiös (Sündenfall), säkular, kulturellhistorisch (Untergang Roms), medizinisch oder anthropologisch; zur Plausibilisierung bedurfte es keineswegs des Darwinismus (wie diesen auch der „Fortschritt" als Hoffnungskonzept nicht benötigte). „Juden" waren Gegenstände (auch Akteure) aller dieser Argumentationen. Den ostjüdischen Massen war die „Degeneration" gleichsam ins Gesicht geschrieben und wurde an körperlichen Merkmalen festgemacht (oft genug durch tatsächliche Mangelerscheinungen belegt) 139 ; das assimilierte Judentum der westlichen Metropolen, zumal Intellektuelle und Künstler, hatte teil am Syndrom der „Nervosität". Victor Adler, nach seinem Selbstverständnis der „Arzt" der sozialistischen Bewegung, führte die Katastrophen in seiner Familie seine Schwester, seine Mutter und seine Ehefrau litten zeitweilig an Geisteskrankheiten - auf die jüdische Entartung zurück. 140 Beer-Hofmann mußte sich von seinem Adoptivvater Alois sagen lassen, „dass Deine Logik, Deine Philosofie, Deine Lebens- & Handlungsweise krankhaft sind. Wie willst Du bei diesen Anschauungen, Menschen- u. Naturschilderungen liefern, die nicht krankhaft sind?" 141

139

den „verweiblicht und feige"? Zionistische Reaktionen auf antisemitische Stereotype. In: Das jüdische Echo 43 (1994), S. 124-129, neuerdings ders.: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle. Wien 1997. Zeitgenössisch: Richard Krafft-Ebing: Nervosität und neurasthenische Zustände. Wien 1895; Martin Engländer: Die auffallend häufigen Krankheitserscheinungen der jüdischen Rasse. Wien 1902. Der Arzt Mandelstamm deutete am 2. Zionistenkongreß die gemeinschaftlichen Lebensbedingungen und -bedrohungen der Ostjuden als Beweis für ihren Status als „Nation", mehr als einer bloßen Konfession: „Sie haben durch Jahrhunderte eine gemeinsame Vergangenheit durchlebt - im Ghetto; sie haben eine gemeinschaftliche Gegenwart - im Ghetto, und eine gemeinsame Zukunft erwartet sie - eine totale körperliche, moralische und geistige Degeneration, falls nicht irgendwie Wandel geschaffen werden sollte." Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des 2. Zionisten-Congresses, gehalten zu Basel vom 28. bis 31. August 1898. Wien 1898, S. 79.

140

Rudolf G. Ardelt: Friedrich Adler. Probleme einer Persönlichkeitsentwicklung um die Jahrhundertwende. Wien 1984, S. 43 f.

141

Alois Hofmann an Richard Beer-Hofmann, [1894]. Typogr. Abschr. Leo Baeck Institute New York, Coll. R. B.-H., box 3, folder 15, S. [56]. Dieser und der bereits zit. Brief wurden von Beer-Hofmann auf dem zit. Konvolut von 1944 als ,,[b]esonders bezeichnend" markiert.

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Auffällig oft jedoch findet sich zur Abwehr des Antisemitismus eine Allusion auf L a m a r c k , bei T h e o d o r G o m p e r z nicht anders als bei F r e u d u n d Emil Zuckerkandl. 1 4 2 G o m p e r z argumentierte dabei - wenn auch in assimilatorischem, nicht-zionistischem Interesse - durchaus ähnlich w i e w e n i g nature-nurture-Debatte später Zollschan. In den Begriffen der späteren standen die Lamarckisten auf der Seite von „nurture". 1 4 3 Abwehr und Geg e n m a ß n a h m e n w u r d e n jedoch unter der Voraussetzung des Degenerationsparadigmas getroffen. F ü r Beer-Hofmanns Synthese aus biblischer Traditionsallusion u n d „ R a s s e " ist bezeichnend, daß er Herzl g e g e n ü b e r als „,erste Einrichtung"' vorschlägt: „eine große medizinische Fakultät, zu der ganz Asien strömen wird, u n d wo zugleich die Sanierung des Orients vorbereitet wird. D a n n hat er [Beer-Hofmann] einen monumentalen Brunnenentwurf: M o s e s , Wasser aus d e m Felsen schlagend." 1 4 4 L a m a r c k i s m u s eröffnet also einen W e g aus d e r „ D e g e n e r a t i o n " ; BeerHofmann eröffnet mit seiner Hilfe einen Weg aus der Vergangenheit, indem die jüdische Geschichte als Geschichte von Helden u n d L e i d e n d e n vorgestellt wird. Pauls W e g zur „ E r k e n n t n i s " ist zugleich die Geschichte einer Heilung, so w i e die ,„Krankheit z u m Tode' [...] auch die verborgene Dimension einer Krankengeschichte des assimilierten u n d säkularisierten jüdischen Geistes [hat], d e s s e n Rettung nur durch eine Rückkehr zu den kul-

142 Auch Steven Beller: Wien und die Juden 1867-1938. Wien, Köln, Weimar 1993, S. 154; aber nicht - wie Beller meint - gegen „Darwin" gerichtet, sondern gegen Weismann. In diesem Sinn auch Th. Gomperz an seinen Sohn, den Philosophen Heinrich Gomperz, 26. 6. 1902: „Es interessirt dich wohl, daß auch Zuckerkandl [...], mit dem ich neulich ein langes Gespräch hatte, gleich Kassowitz und Wettstein mehr Lamarquist als Darwinist ist. Weismann's These von der Nicht-Vererbung erworbener Eigenschaften erklärt er für total unhaltbar und durch die augenfälligsten Thatsachen widerlegt ... Auf meine Frage, wie denn W. eine so grundlose Behauptung aufstellen konnte, erwiderte er mit dem Ausruf: Weismann (dessen jüdischen Ursprung ich nicht kannte) ist ein Talmudist, d. h. ein Dialektiker wie (Samuel) Stricker es war, dessen Institut Zuckerkandl scherzend eine Advokaturs-Kanzelei genannt hat..." Theodor Gomperz: Ein Gelehrtenleben im Bürgertum der Franz-Josefs-Zeit. Auswahl seiner Briefe und Aufzeichnungen, 1869-1912, erl. u. zu einer Darstellung seines Lebens verknüpft v. H. Gomperz. Hgg. v. R. A. Kann. Wien 1974, S. 356 f. 143 Zur Verbindung von „Sozialdarwinismus" und dem „Ultradarwinismus" Weismanns schon Hertwig: Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus. Jena 1918, S.51. 144 Theodor Herzl: Tagebücher 1895-1904. 3 Bde. Berlin 1922 f., Bd. 1, S. 364 (9. 4. 1896).

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turellen Wurzeln des Judentums möglich sei." 145 Nicht zufallig ist Georg Arzt; an ihm imaginiert sich Paul eine geglückte, erfüllte Biographie („Und Paul dachte, wie Georgs Leben geworden wäre." [TG 73]), der im Kampf gegen Krankheit, Alter und Tod Naturteleologie zu Hilfe zu kommen scheint („Denn nur um seinetwillen, damit er [Georg als Arzt] helfen könne, schien Alles da zu sein. Um geheimer, heilender Säfte willen, die in ihnen kreisten, wuchsen Pflanzen" [TG 81]). Erst der Tod des Arztes verweist auf die im Sinn des Textes höhere Teleologie des Kollektivs: „Um Georgs Tod hatten quälend seine Gedanken sich gerankt und, ohne seinen Willen, war für ihn daraus etwas erwachsen, was seinem Leben Zuversicht gab. Er mochte den Gedanken nicht zu Ende denken; aber wußte er denn, für wen er selbst leben mußte und für wen zu sterben ihm wiederum bestimmt war?" 146 (TG 135) Dieser Ausweg aus Pauls Narzißmus („in Allem hatte er nur sich gesucht und sich nur in Allem gefunden" [TG 124]) befreit ihn aus einer Haltung, wie sie nicht nur für einen mythologischen oder tiefenpsychologischen „Narzißmus" charakteristisch ist, sondern wie sie von Nordau auch für den Degenerierten als typische Symptomatik beschrieben worden war: „Zu der Emotivität und Suggestibilität kommt eine bei gesunden Menschen niemals auch nur entfernt in diesem Maße zu beobachtende Selbstverliebtheit. Sein eigenes Ich steht riesengroß vor dem innern Auge des Hysterikers und füllt seinen geistigen Gesichtskreis so vollständig aus, daß es ihm die ganze übrige Welterscheinung verdeckt."147 Nordau erhielt nach dem Erscheinen der Entartung häufig Post von „degenerierten" Juden.14« Ein letztes Indiz für diese Synthese ist der enge Zusammenhang, in dem für Beer-Hofmann Prokreation, Künstlerschaft und Judentum stehen. So

145 Le Rider: Ende der Illusion, S. 589. 146 Scherer versteht diese Passage als notwendig offene Frage, da ,,[a]uch das Blut ihm [Paul] keine Auskunft über die Bedeutung seines Lebens für die Zukunft" gibt, Scherer: Beer-Hofmann, S. 508. 147 Max Nordau: Entartung. 2 Bde. Berlin 1892, Bd. 1, S. 42 f. 148 So wie die „Homosexuellen" Krafft-Ebing, dürften auch die „Degenerierten" Nordau eher als Befreier wahrgenommen haben denn als Gegner (obwohl es der „Entartung" an Gegnerschaft nicht mangelte). Die freilich apologetische Nordau-Biographie von Anna und Maxa Nordau berichtet: „Throughout his residence in Paris the home of Max Nordau was the Mecca of friends and admirers. The latter came from all corners of the world to pay homage to the leader of thought and the holder of the keys to a new world. With

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wie im Tod Georgs „Jude" nicht ausgesprochen wird 149 , sondern nur über die Chiffrensprache der Bibelallusionen bei gleichzeitiger religiöser Entmystifikation präsent ist, so sind im Schlaflied die „Väter" erst durch den biblisch aufgeladenen Namen „Mirjam" eindeutig bestimmt, damit ist das metonymische Verhältnis der Vater-Tochter-Beziehung zum „Volk" aktualisiert (wie das in den apodiktischen Allsätzen in Strophe 2 und 3: „Keiner kann keinem ..." schon angelegt ist). Nun war aber „Mirjam" eben auch der Name, den Beer-Hofmann seiner eigenen Tochter gegeben hatte; von dieser Vaterschaft hat er sich viel erwartet. „Ich glaube manchmal," teilt er Hofmannsthal mit, „daß jetzt die letzten Türen ins Schloß gefallen sind, durch die Unreines und Häßliches in mein Leben hätte dringen können. Und ich glaube daß jetzt schwer Lügenhaftes und Erkünsteltes Macht über mich gewinnen könnte. Bei allem Bisherigen konnte noch manchmal ein Mißtrauen aufkommen: Was ist wahres Empfinden, und wieviel Selbstbelügen und wieviel Stimmung und wieviel Einfluß von fremden Worten und Gedanken Anderer? Jetzt aber scheint es mir als hätte ich ein unveränderliches und sicheres Maß geschenkt bekommen das mich abhält Leeres und Gleichgiltiges für voll und wichtig zu nehmen." Denn das VaterKind-Verhältnis sei „nicht irgend eine Beziehung des Lebens, es ist ja das Leben selbst; im ,von Anderen stammen und Andere zeugen' lebt ja das Leben." 150 Dieses Privatverhältnis steht jetzt ebenso unter dem Vorzeichen eines bestimmten Kollektivs, die ostentative Namensgebung für seine Töchter Mirjam und Naemah nicht anders als der Verweiszusammenhang von Paul und seiner Ahnenkette: „Taten eines Helden bargen sich in einem Namen - einem Kind gegeben, war er Verheißung und Last zugleich" (TG

the appearance of Regeneration' this pilgrimage was enhanced by the addition of all sorts of people suffering from difficulties of adjustment. Nordau became the prophet, the teacher, the saint and confidante of the most bizarre collection of people anywhere within the radius of two continents." A. u. M. Nordau: Max Nordau. A Biography. New York 1943, S. 102. Nordau hat übrigens den Antisemitismus selbst auf Hysterie zurückgeführt: „Die deutsche Hysterie gibt sich im Antisemitismus kund, dieser gefahrlichsten Form des Verfolgungswahnsinns, in welcher der sich für verfolgt Haltende zum wilden, jedes Verbrechens fähigen Verfolger wird (,persécuté persécuteur' der französischen Irrenheilkunde)." Entartung, Bd. 1, S. 325. 149 Mindestens der Kritiker Alfred Gold hat in seiner Rezension das jüdische Thema nicht bemerkt. Alfred Gold: Aesthetik des Sterbens. [Die Zeit, 24. 2. 1900] In: Das Junge Wien, Bd. 2, S. 1078-1082. 150 Beer-Hofmann an Hofmannsthal, 25. 9. 1897. Briefwechsel, S. 70 f.

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127). 151 Andrian hatte aus der Diagnose seines besonderen Falles' seine Künstlerschaft („poeta sum" 152 ) als heilungs- und heilbedürftiger „Heiland"153 abgeleitet; Beer-Hofmann, selbst unter Schaffenskrisen und Nerven' leidend 154 , erweiterte die privat, poetisch und historisch abgesicherte Affirmation seiner,Sonderart' zur Prophetie. 155 Daß denn auch der Schlußsatz von Der Tod Georgs in einer sehr bestimmten Hinsicht ambivalent ist - daß dort, wo die „Bewußtseinsstufe" des Kollektivs aus der Sicht des Texts bereits erreicht sein soll, am Ende „nur das Schlagen seines eigenen Bluts" fühlbar wird -, ist der grundlegenden Ambivalenz des lamarckistischen Denkrepertoires geschuldet, die sich aus der extensiven Benützung der Analogie als Verfahren ergibt; die Makro/Mikrokosmos-Analogie ist ein wesentlicher Aspekt davon. Wo Analogie die Einheit der Welt verbürgt, scheint immer im Individuum das Kollektiv

151 „Diese Absicht des Zurückgreifens auf eine stolze Vergangenheit", schreibt Nordau in seinem Aufsatz „Muskeljudentum" (1900), „findet in dem Namen, den der jüdische Turnverein in Berlin gewählt hat, einen starken Ausdruck. ,Bar Kochba' war ein Held, der keine Niederlage kennen wollte. [...] Unsere neuen Muskeljuden haben noch nicht die Heldenhaftigkeit der Vorfahren wiedererlangt, die sich massenhaft in die Arena drängten, um an den Kampfspielen teilzunehmen und sich mit den geschulten hellenischen Athleten und den kraftvollen nordischen Barbaren zu messen." (Hier ist an BeerHofmanns Rede von den „Taten eines Helden" zu denken.) Nordau: Zionistische Schriften. Hgg. v. Zionistischen Aktionskomitee. Köln, Leipzig 1909, S. 380 f. In seiner Rede auf dem 5. Zionistischen Kongreß (Basel 1901) hatte Nordau eine jüdische Statistik gefordert und Vorschläge gemacht, „um den physischen Verfall unserer Rasse aufzuhalten". Ebd., S. 131. 152 DLA, NL Andrian, Nr. 7087 (1924), S. 114. 153 Andrian an Hofmannsthal, 23. 3. 1895. Briefwechsel, S. 44. 154 Esther Nies Eistun: Richard Beer-Hofmann. His Life and Work. London 1983, S. 8. Beer-Hofmanns Rezensent Gold benützt - ohne Antisemitismus - ausgiebig die Symptomatik der Dekadenz/Degeneration: Beer-Hofmann sei „der moderne Wiener Typus, der Aesthetiker seiner Gruppe! Denn sie alle werden, wie er, von einem scharfen, zersetzenden Verstand, einem jüdischen Verstand, beherrscht [...]. Eigentliche Phantasie, Empfindung ist ihnen allen ja nicht die Hauptsache. Aber die Sentimentalität, die ihnen im Blute liegt [!], wissen sie zu verwerten". Gold: Aesthetik des Sterbens, S. 1082. 155 Zu Schnitzler sagt Beer-Hoimann, „eigentlich sei er kein Dichter. Er hätte, so schiene es ihm, eine Aufgabe zu erfüllen. Sei dies getan, so höre er auf zu schreiben. Behutsam, vorsichtig fragte Schnitzler weiter - denn da kamen Worte wie ,Gnade', ,Erwähltsein': ,Fühlen Sie sich als einen Erwählten?' - ,Sonst könnte ich nicht leben', war die sehr aufschlußreiche Antwort." Olga Schnitzler: Spiegelbild der Freundschaft. Salzburg 1962, S. 150.

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auf (und umgekehrt), in der Gegenwart Geschichte (und umgekehrt). Dieses Denkmittel (nicht nur) der zweiten Jahrhunderthälfte muß nicht auf romantische Philosopheme zurückgeführt werden; die Analogie ist nicht nur eines der grundlegenden Erkenntnisverfahren überhaupt, sondern auch Teil der Positivierungsstrategie der Naturwissenschaft, die übernatürliche Agenturen aus dem Rechtfertigungszusammenhang von Theorien auszuschließen trachtet. (Deshalb stützte auch Wilhelm Scherer seine Hoffnungen auf eine einheitliche Natur- und Geisteswissenschaft auf die Analogie.) Andererseits bieten die Verweissysteme der Analogie auch immer die Möglichkeit, Probleme, die auf einer Ebene entstanden sind, auf einer anderen zu lösen; das mag hinter Schnitzlers Verdacht auf einen „frechen Schwindel" in der Konstraktion von Beer-Hofmanns Erzählung stehen. Um das Verweissystem, auf das es Beer-Hofmann ankam, gegen solche Voluntarismen zu immunisieren, bietet der Text ein Verfahren auf, das den gängigen Bewußtwerdungs-, Bildungs- und Erweckungsgeschichten gegenüber fundamental verschieden ist. Das Verfahren der nachträglichen Verwandlung von Sachverhalten in „Zeichen" und „Indizien", wie sie etwa der Detektivroman benützt, ist im Tod Georgs in eine Sprache überfuhrt, die immer schon die poetische Sprache des Textes selbst gewesen ist; die personale Erzählhaltung präsentiert die „Lösung" als aus dem Metapherninventar der Figur selbst hervorgegangene, weil immer schon die „Stimme des Blutes" gesprochen hat. Im Unterschied zu Andrians Verwendung von „Geheimnis" und „Bedeutung", wie sie der Camouflage dienen, geht in Beer-Hofmanns Der Tod Georgs der Protagonist als Detektiv und Deuter seiner eigenen „Sprache" durch den Text. An dieser Stelle ist noch einmal auf den Einwand Scheibles im Anschluß an Schnitzler zurückzukommen, die Motivierung des „Wandels" des „Ästheten" scheitere notwendig, sofern sie aus einem weiteren kontingenten Sinneseindruck entstehe. Der Vorwurf besagt demnach in Kürze, daß es dem Text nicht gelinge, eine Instanz aufzubauen, von der aus „Zufall" als sei es erzähltechnische, sei es lebenspraktische - Notwendigkeit erscheint; in Zusammenhang damit steht der Vorwurf an Beer-Hofmann, er restituiere in „Religion" eine „überwundene" Wissensformation, die sich mit dem Irrationalismus 156 einer monistischen Lebensideologie paare. Es wurde versucht zu zeigen, daß dem nicht so ist; und daß sich jener Irrationalismus 156 Paetzke: Erzählen, S. 89 f.: „einen rational nicht faßbaren Sinn suggerieren", „Irrationalismus", merkwürdige Vorwürfe an Literatur.

Neolamarckismus und Judentum in Beer-Hofmanns „Der Tod Georgs"

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durch biologische Positionen legitimieren könnte, die - per Definition nicht irrational, sondern zur Schreibzeit wissenschaftlicher state of the art sind. Andererseits war aber gerade das Problem des Zufalls ein Motor der fachwissenschaftlichen Debatte der Zeit; die vielbeschworene „Krisis des Darwinismus", wie sie auch im Wien der Jahrhundertwende diskutiert und eingeräumt wurde 157 , war exakt eine solche Unsicherheit u m die Interpretation der Evolutionsfaktoren. Bei mindestens zweideutigem Experimentalbefund war demnach der Streit der konkurrierenden Modelle auch nach zeitgenössischen Maßstäben ein Streit um „große" Konzepte, Theoretisierungen, Ideologien. In Ferdinand v. Saars Novelle Leutnant Burda (1887) interpretiert der Protagonist willkürliche („zufallige") Handlungen einer Prinzessin als Zeichen ihres Wunsches nach einer heimlichen Liebesbeziehung; „Zufalle" werden in seinem „Liebessystem" konsequent als motivierte Zeichen gedeutet. Dieses System ist von so hoher Kohärenz, daß selbst der Ich-Erzähler, der als Reflektorfigur das Realitätsprinzip verkörpern soll, an seiner Skepsis irre wird. Erst nach der Katastrophe - Burda stirbt an den Folgen eines von ihm selbst als Märtyrer seiner Liebe mutwillig herbeigeführten Duells - stellt sich die Aufdeckung des Wahnsystems ein; der Sterbende wird in seiner Täuschung noch gnädig bestärkt. Der Ich-Erzähler, der den einzelnen Zufallen nachrecherchiert, hat jedoch als Maßstab für Wirklichkeit nur die Wahrscheinlichkeit für sich, die gegen eine derartige Mesalliance spricht; diese Wahrscheinlichkeit erscheint als „gesunde Vernunft". Demnach tragen Burdas Interpretationen Züge des Wahnsinns; als lediglich u m seinen Titel gebrachter Aristokrat aus jahrhundertealtem Geschlecht ist er ein Kandidat für die Symptomatik der Degeneration, seine Interpretation nichts als eine idéefixe. Zugleich kann Leutnant Burda als Spiegelgeschichte zu Gottfried Kellers Novelle Kleider machen Leute (1873) gelesen werden, einer Geschichte der Fehlinterpretation von Zeichen, von Kleidung, Habitusformen, selbst von Hausschildern als Indizien für den Protagonisten, er sei in ein „moralisches Utopien" geraten. Diese Fehldeutungen sind für beide Seiten, die Goldacher und den „Hochstapler" Wenzel Strapinski, gleich ruinös. Bei Keller ist die Dichotomie von „Sein" und „Schein" in der demystifikatorischen

157 Vgl. Vorträge und Besprechungen über die Krisis des Darwinismus. (Kassowitz, v. Wettstein, Hatschek, v. Ehrenfels, Breuer.) [...] Wien 1902.

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Degeneration, Identität und Teleologie in der „Wiener Moderne"

Antitheologie Ludwig Feuerbachs aufgehoben. 1 5 8 Kann bei Keller noch alles zum guten Ende kommen, indem die Protagonisten ihre „hermeneutische Einfalt" überwinden, wird bei dem darwinistisch belehrten Autor Saar die Fülle jener merkwürdigen Begebenheiten, wie sie Burda widerfahren, in ein pathologisches Syndrom eingefügt, um sie zu entschärfen; der wahnhaften Zeichendeutung, wie sie Burda zur narrativen Geschichte seines eigenen Liebesromans synthetisiert, steht die beunruhigte Diagnostik des IchErzählers gegenüber, der diese interpretatorische Tätigkeit seines Freundes mit Beobachtungen zu dessen körperlicher und seelischer Gesundheit in eine Krankengeschichte überführt und damit in einen neuen narrativen Zusammenhang stellt. Diese neue Meta-Erzählung verarbeitet die hermeneutische Aktivität des „Kranken", Burdas „emplotment" von Zufallen, nicht mehr als Inhalt, sondern nur mehr als Symptom. Damit wird aber auch die Distanz zwischen Saar und Beer-Hofmanns Der Tod Georgs geringer, als die gängige unterschiedliche literaturhistorische Rubrizierung in „Spätrealismus" einerseits, „Moderne" andererseits erwarten ließe. Denn Beer-Hofmanns Prosa ist aus dieser Perspektive nur das einfache Gegenteil von Saars naturwissenschaftlich-medizinischer Aufklärung. Sollte konsequente personale Erzählweise ein Differenzkriterium von „literarischer Moderne" sein, so wäre sie bei Saar schon in der Reflektorfigur aufzufinden; das Fehlen einer solchen Instanz ist bei Beer-Hofmann die Bedingung für die Hypostase einer Narrativik des „Blutes". Ordnet bei Saar der Hysteriker die Zufalle zu einem Roman, so ordnet bei Beer-Hofmann eine historisch-materiale „Natur" unter Wahrheitsbedingungen die kontingente Fülle der „Impressionen" zu einem narrativen Kontinuum, das hinter der bloß subjektiven Einheit des Bewußtseinsstroms „Erkenntnis" auffinden läßt. Die implizite Selbstkritik, die Beer-Hofmanns Text etabliert, enthält damit auch eine Selbstkritik seiner eigenen Strategien. Die Auflösung der („impressionistischen") Kontingenz erfolgt durch Selbstreflexion: Zufalle sind Fehlinterpretationen, sofern sie der eigenen Sprache mißtrauen. „Wirklichkeit" ist hier nicht herzustellen, indem - wie bei Keller - Signifikanten mit Signifikaten verrechnet werden können (und der Fehler der Protagonisten darin besteht, dies nicht zu tun), sondern „Wirklichkeit" ist der Prozeß der Signifikation selbst; die Metaphern sind bereits „Wahrheit", in maxima158

Mark Lehrer: Intellektuelle Aporie und literarische Originalität. Wissenschaftsgeschichtliche Studien zum deutschen Realismus: Keller, Raabe und Fontane. New York u. a. 1991, S. 36 ff.

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ler Entfernung von Nietzsches Vernunftkritik, für die „Wahrheit" nur ein „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen" 1 5 9 ist. Daß das „Unbewußte" eine Sprache ist, ist Pauls Entdeckung; es ist nach einem Begriff von S. L. Gilman - „the hidden language of the jews". Darwinismus, zumal in seiner neolamarckistischen Fassung, war potentiell narrative Geschichtsschreibung, mit einem Set von Verknüpfungsregeln, „Gesetzen". Die Rolle des Zufalls schien diese Narration zu bedrohen, obwohl der Zufall bereits im Kern des Konzepts als Motor der Geschichte arbeitete, u m Variationen erst hervorzubringen. 160 Wenn es Darwins fundamentale Innovation gewesen war, die Teleologie aus der Wissenschaft verbannt zu haben, wurde gerade sie zur Jahrhundertwende in Literatur wie in Wissenschaft in immer neuen Wendungen neu integriert. Die Bedrohungen des intellektuellen Sozialmilieus im Wien der Jahrhundertw e n d e ließ die einzelnen in sehr spezifischen Modellierungen auf das lamarckistische Modell rekurrieren; die Biologen nicht anders als die Schriftsteller. D e r Zufall konnte dabei den Rang eines Lebensthemas erhalten. Wie S i g m u n d Freud, der als Maturant von Zahlenphantasien geplagt wurde 1 6 1 , in einem hermeneutischen Großunternehmen scheinbaren Zufällen wie sprachlichen Fehlleistungen Notwendigkeiten unterschob, ruinierte Paul K a m m e r e r seine wissenschaftliche Reputation durch Studien zum „Gesetz der Serie" 1 6 2 , die noch hinter den kuriosesten Koinzidenzen

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Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. In: F. N.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbdn. Hgg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari Bd. 1.2., durchges. Aufl. München, Berlin, New York 1988, S. 873-890, S. 880. Charles Sanders Peirce hat diese Verdrängung schon früh beobachtet: „Folgendes ist mir immer ungewöhnlich vorgekommen: Wenn wir einem Evolutionisten, gehöre er nun zu den Spencerianern, zu den Darwinisten oder zu irgendeiner anderen Schule, die Frage stellen, worin die Kräfte bestehen, welche die Evolution hervorgebracht haben, dann erwähnt er verschiedene bestimmte Tatsachen und Gesetze, aber er erwähnt nicht ein einziges Mal den Zufall als eine der dabei wirksamen Kräfte. Dagegen scheint mir der Zufall die einzige wesentliche Kraft zu sein, von welcher der ganze Vorgang abhängt." Peirce: Entwurf und Zufall. [1884] In: C. S. P.: Naturordnung und Zeiclienprozeß. Schriften über Semiotik und Naturphilosophie. Mit einem Vorw. v. I. Prigogine. Hgg. u. eingel. v. H. Pape. Frankfurt/M. 1991, S. 113-125, S. 119. Dazu Erdheim: Gesellschaftliche Produktion, S. 84 f. P. Kammerer: Das Gesetz der Serie. Eine Lehre von den Wiederholungen im Lebensund im Weltgeschehen. Stuttgart, Berlin 1919. Das Erscheinen des Werkes verhinderte Kammerers Ernennung zum Extraordinarius, vgl. die Dokumente bei Hirschmüller: Kammerer, S. 49 f.

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Degeneration, Identität und Teleologie in der „Wiener Moderne"

des Alltags „Serien", Regularitäten, auszumachen versuchten, um den Zufall zu bannen. In seiner Schrift Das Unheimliche (1919) nimmt Freud auf Kammerers Versuch Bezug, gelänge es, solche Gesetze aufzufinden, so müßte dadurch „der Eindruck des Unheimlichen aufgehoben werden". 163 Die diskutierten literarischen Texte thematisieren diese Bedrohungen als „impressionistische" Kontingenz, die einen kohärenten „Lebenstext" und das klassische Identitätsmodell einer „runden" Biographie gefährdet. Der Degenerationsdiskurs, zu dessen Opfern ihre Autoren und ihre Figuren gehören, verdoppelt (und legitimiert) dabei die realhistorische Gefahr; in seiner narrativen Organisation als einer Erzählung vom Verfall enthält er jedoch auch die Mittel eines literarischen Widerstandes. Andrian erhält dabei „Degeneration" als Prätext, indem er einen „doppelten" Text für ein literarisches und ein gemeintes Publikum schreibt; der ästhetische Mehrwert, der aus der literarischen Präsentation des Degenerationssyndroms bezogen wird, restituiert damit wenigstens eine scheiternde Biographie in schöner Form. Bei Beer-Hofmann erscheint ein biographisches Modell selbst als Uberwindung von Kontingenz; der Lamarckismus als das Antidot des Degenerationsdiskurses stellt die Mittel für einen Lebenstext bereit, der nicht mehr nur literarisch formuliert werden müßte.

163

Sigmund Freud: Das Unheimliche (1919). In: Studienausgabe. Hgg. v. A. Mitscherlich, A. Richards u. J. Strachey. Bd. 4. 5. Aufl. Frankfurt/M. 1989, S. 241-274, S. 261. Der Hinweis auf diese Stelle bei Hirschmüller: Kammerer, S. 50. Auch der Kammerer-Biograph Arthur Koestler, der selbst dem Neolamarckismus anhing, veröffentlichte eine Studie über Zufall und Notwendigkeit. Auch Koestler: Kammerer, S. 163-173.

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Aschanti ANTHROPOLOGIE UND

EXOTISMUS

DER JAHRHUNDERTWENDE BEI THEODOR H E R Z L PETER

UND

ALTENBERG

In der Wiener Alltagssprache haben sich bis heute die Wörter „Aschanti" für „Erdnuß" und „Aschantineger" für „Afrikaner" gehalten; in der von der Wiener Firma Heller hergestellten Schokoladensorte „Negerbrot" (die auch heute noch so heißt) sind „Aschantinüsse" enthalten. Das Wörterbuch der bairischen Mundarten in Osterreich der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften gibt dennoch mit Sicherheit eine falsche Ätiologie an, wenn „Aschanti" mit „afrikanisches Negervolk" erklärt wird, „bei der Wiener Weltausstellung 1875 den Wienern bekannt geworden, daher für einen Menschen mit dunkler, brauner Hautfarbe". 1 Für die Weltausstellung läßt sich kein Aufenthalt nachweisen. Im „Wiener Thiergarten" am Praterschüttel wird jedoch 1896 die ethnologische Ausstellung Die afrikanische Goldküste und ihre Bewohner eröffnet, mit dem Kurztitel Aschanti (10. Juli bis 19. Oktober 1896). Ein afrikanisches Dorf wird nachgestellt, mit totem und lebendem Inventar; erst 70, dann 120 Schwarze jeden Alters, darunter ganze Familien, gehen vor den Augen eines zahlenden Publikums Alltagsverrichtungen nach, kochen, stellen Schmuck für den Verkauf an das Publikum her und führen zu festgelegten Zeiten rituelle Tänze und Kampfspiele vor.2 Die Aschanti, die mehrheitlich aus der Gegend um Akkra/Guinea (heute Ghana) stammen, werden durch den französischen Kolonialisten Bouvier, „der im Laufe der letzten zwölf Jahre an der Küste Guineas bis tief in das Innere des Landes hinein zahlreiche Handelsniederlassungen gründete", engagiert 3 ; Bouvier agiert als „Impresario" (auch ein Victor Bamberger wird 1

Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich. Hgg. im Auftrag d. Österr. Akademie der Wissenschaften v. E. Kranzmayer unter Mitw. v. V. Dollmayr u. a. Bd. 1. Wien, Köln, Graz 1970, S. 588.

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Inseratenwerbung (mehrfach verändert): „Zum 1. Male in Wien: Grosse ethnographische Schaustellung / Ashanti-Dorf. / Eingeborene Männer, Frauen und Kinder, Industrie, Schule, nationale Spiele, Kriegstänze und Gefechte." In: Arbeiter-Zeitung (Wien), 17. 7. 1896, S. 8. (Aschanti-Neger in Wien.) In: Neues Wiener Tagblatt, 11.7. 1896, S. 5.

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Aschanti

in den Quellen genannt 4 ) bzw. als „Geschäftsleiter" der Truppe, ein anderer französischer Kolonialunternehmer, Gravier, übernimmt den Transport. Gravier, „der im Aschantilande ausgedehnte Ländereien besitzt und mit den dortigen Erzeugnissen einen schwunghaften Handel nach Europa betreibt, rüstet in jedem Jahre größere Aschantikarawanen aus, die den Zweck haben, uns Bleichgesichtern das Leben und Treiben und die Art des braunen Volkes, das in den letzten zwei Decennien wiederholt von sich sprechen machte, vorzuführen. Einen dieser Aschantizüge hat Gravier auch nach Wien dirigirt, und zwischen den alten Baumstämmen des Thiergartens kann man nun in aller Gemüthlichkeit ein gutes Stück afrikanischen Lebens kennen lernen." 5 Bei den Ausgestellten handelt es sich (jedenfalls der Form nach) um Rechtssubjekte; als es infolge einer Handgreiflichkeit zwischen der Gattin des Häuptlings und einer Besucherin zu einer aufsehenerregenden Gerichtsverhandlung kommt, wird der Häuptling Kuaku vom Richter mit Handschlag vereidigt. 6 Wie die Geschäftsgebarung mit den Ausstellungsobjekten ausgesehen haben könnte, kann in Analogie zu den Gebarungen in der gleichzeitig in Ber(einer Abteilung der großen Berliner lin stattfindenden Kolonialausstellung Gewerbeaussteilung 1896), die 104 „Eingeborene" aus den verschiedenen deutschen Kolonien ausstellte, hergeleitet werden. 7 Die Farbigen, die in einer ganz ähnlichen Installation dem Publikum präsentiert wurden, unterzeichneten im Heimatland einen Kontrakt, der sie verpflichtete, den Anordnungen der Geschäftsleitung Folge zu leisten; im Gegenzug bot das Management Transport mit Schiff (Deckklasse) und Bahn (4. Klasse), Verpflegung8, Unterkunft (die aus den Hütten des Ausstellungsgeländes be-

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Gerichtssaal. Die Gattin des Aschanti-Häuptlings vor dem Bezirksgerichte. In: Neues Wiener Tagblatt (Abend), 15. 10. 1896, S. 2. Bamberger agiert als Dolmetscher in einem Gerichtsprozeß; die Angeklagte (s. u.) spricht in der „Aschantisprache" (ebd.), der Häuptling übersetzt ins Englische, Bamberger ins Deutsche. Im Aschantidorf. (Exotische Gäste im Wiener Thiergarten.) In: Neues Wiener Tagblatt, 16. 7. 1896. S. 3. Gerichtssaal. Die Gattin des Aschanti-Häuptlings vor dem Bezirksgerichte. In: Neues Wiener Tagblatt (Abend), 13. 10. 1896, S. 2; (Die Gattin des Aschanti-Häuptlings.) In: Neues Wiener Tagblatt (Abend), 15. 10. 1896. Deutschland und seine Kolonien im Jahre 1896. Amtlicher Bericht über die erste deutsche Kolonial-Ausstellung. Hgg. v. d. Arbeitsausschuß der Deutschen Kolonial-Ausstellung Graf v. Schweinitz, C. v. Beck, F. Imberg. Red. G. Meinecke. Berlin 1897. Frühstück: Tee und Zucker, 2 Schrippen; Mittag: 1 /4 kg Reis oder !/2 kg Kartoffeln; '/4

Anthropologie und Exotismus bei Herzl und Altenberg

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stand), Bekleidung (Unterzeug, Wolldecke, Strandschuhe, Lodenjoppe und -hose) und einen zahlenmäßig nicht ausgewiesenen „Lohn". 9 Ferner wurde den „Eingeborenen" die Möglichkeit geboten, in der Ausstellung hergestelltes Kunsthandwerk an das Publikum zu verkaufen 10 ; die Höhe dieser Gewinne ist nicht abzuschätzen, sie werden wohl bescheiden gewesen sein. Obwohl die deutsche Ausstellung 1896 nicht in erster Linie profitorientiert war, sondern die Leistungsbilanz der ersten Phase des deutschen Kolonialismus zeigen sollte u n d daher repräsentativ und aufwendig ausgestattet war, ist eine Abschätzung des Mehrwerts, der aus der Menschenschau gezogen wurde, möglich. So betrugen - nach der detaillierten Rechnungslegung der Ausstellungsleitung - die Ausgaben (für die oben angeführten Posten) für „Eingeborene" 107.336,41 Mark; an Einnahmen aus Eintrittsgeldern, die im wesentlichen den „Eingeborenen" zu verdanken waren, wurden 545.767,36 Mark erzielt; die Ausstellung, zu der auch eine KolonialIndustrie-Ausstellung, eine Art Waren- und Maschinenmesse, gehörte, schloß mit einem Uberschuß von 69.318,79 Mark 1 1 ab - keine Selbstverständlichkeit für eine repräsentative Großausstellung, wenn man an die Weltausstellungen (besonders die Wiener) denkt. Die Wiener Aschanti-Schau bestand aus 30 Männern, 18 Frauen und 20 Kindern, die etwa 12 bis 14 Hütten bewohnten, „die um einen freieren Platz im Kreise aufgeführt wurden". 1 2 War das Ereignis selbst für Wien keine Neuheit - ,,[e]s zeigten sich in Wien ja schon häufig interessante Vertretungen fremder Völker, Indianer, Eskimos, Singhalesen, Matabeles und Andere" 1 3 - , war dennoch der Publikumsandrang enorm. Bereits die Ankunft der Truppe am 10. Juli 1896 an der Weißgerberlände fand mehr als 2.000 Zuschauer: „Die Polizeiorgane konnten nur mit Mühe die Ordnung aufrechterhalten und der Landungsplatz mußte mit provisorischen Gittern

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kg Hammel- oder Rindfleisch; Abend: Reis oder Kartoffeln, Fisch oder Ei; 1 Flasche Bier; nachts: Tee mit Zucker. Deutschland und seine Kolonien, S. 44 f. Deutschland und seine Kolonien, S. 26 f. Von den Wiener Aschantis heißt es, sie hätten bei einer Lotterie „glänzende Geschäfte" gemacht. Eine aschantische Lotterie. In: Neue Freie Presse (Wien), 18. 10. 1896, S. 8. Deutschland und seine Kolonien, S. 355 f. Im Aschantidorf. In: Neues Wiener Tagblatt, 16. 7. 1896, S. 3. R[obert] F[ranceschini]: Das Aschanti-Fieber. In: Neues Wiener Tagblatt, 7. 10. 1896, S. 1-3, S. 1. Vgl. Gerda Barth: Echte und falsche Exoten in Wien. In: Österreichisches Circus- und Clown-Museum: Fremde Völker - fremde Tiere. [Ausstellungskatalog.] Wien 1987, S. 2-7.

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Aschanti

abgesperrt werden." 1 4 Am Nachmittag des ersten Tags der Ausstellung wurden bereits 15.000 zahlende Gäste gezählt 15 , im Monat Juli 106.000 zahlende Besucher, die Billetts wurden nun auch in Trafiken feilgehalten. 16 Trotz Schlechtwetter hatte der Tiergarten Mitte August an zwei Feiertagen 28.474 Besucher; eine weitere Aschantitruppe, die zu einer Extrafeierlichkeit anläßlich des Kaisergeburtstags aus Budapest nach Wien gekommen war, wurde der Wiener Ausstellung eingegliedert. 17 Als sich gegen Ende der Ausstellung an einem Sonntag 30.000 Zuschauer im engen Gelände drängten, kam es zu Handgreiflichkeiten zwischen Besuchern und Ausgestellten. 18 Im folgenden Jahr war dieselbe Truppe, nun auf 120 Personen angewachsen, wieder im Tiergarten zu sehen; ,,[d]ie Bewohner der Goldküste, die zu seltener Popularität gelangten Aschanti, haben ihr altes Stammpublicum um sich und ihre Zelte versammelt und stehen bereits mit demselben in vertraulichem Contact." 19 „Das Wort,Aschanti' ist ja in Wien ein völliges Modeschlagwort geworden", resümiert Robert Franceschini, Wissenschaftsfeuilletonist des Neuen Wiener Tagblatts, unter d e m Titel Das Aschanti-Fieber den Erfolg der Menschenschau: „Es ist, als ob m a n in Wien nur m e h r wenige andere Interessen fände, welche wichtiger wären, als ein Besuch in d e m Negerdorfe, welches sich malerisch zerstreut auf d e m Territorium des Thiergartens ausbreitet. Seitdem die schwarze Karawane aus Budapest hieher gewandert, gibt es in den öffentlichen Localen Wiens u n d bei den Straßenbegegnungen fast nur die eine stereotype Frage: ,Waren Sie bei den Aschantis?' und es findet sich kaum eine Gesellschaft zusammen, ohne daß über kurz oder lang das Aschantidorf der Gegenstand des Gespräches würde. Das Publicum erweist der Sache eine geradezu fieberhafte Aufmerksamkeit, und wie die Leute bei Schützen- und Sängerfesten glücklich sind, wenn sie einem Schützen oder Sänger die H a n d drücken können, so freuen sie sich jetzt, mit Negern an einem Tische zu sitzen oder die schwarze Jugend auf den A r m e n herumzutragen. Selbst Bruderschaften w e r d e n getrunken, Freundschaften geschlossen u n d sogar an Versuchen galanter Annäherung

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(Aschanti-Neger in Wien). In: Neues Wiener Tagblatt, 11.7. 1896, S. 5. (Aschantidorf im Wiener Thiergarten.) In: Neues Wiener Tagblatt, 13. 7. 1896, S. 4. Neues Wiener Tagblatt, 9. 8. 1896, S. 6. (Aschanti-Dorf im Wiener Thiergarten.) In: Neues Wiener Tagblatt, 25. 8. 1896, S. 25. (Zwischenfälle im Aschantidorf.) In: Neues Wiener Tagblatt, 12. 10. 1896, S. 3. (Ein neuer Circus im Thiergarten.) In: Neues Wiener Tagblatt, 27. 4. 1897, S. 6.

Anthropologie und Exotismus bei Herzl und Altenberg

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an die Schönen aus dem Goldlande fehlt es seitens einiger europäischer Enthusiasten nicht."20 Franceschinis implizite Hinweise auf den Sozialcharakter des Publikums („Leute", „Schützen- oder Sängerfest[e]", „öffentliche Locale") trügen; zu den Besuchern zählen ebenso die habituellen Praterbesucher der Unterschichten wie auch der Thronfolger Franz Ferdinand21 und die literarischen Exponenten der „Wiener Moderne". Jener Besucher, der die Aschanti am stärksten „vertextet" hat, Peter Altenberg in seiner Skizzenreihe Ashantee (189722), lernt ,,[d]urch einen Zufall (er hatte schon seinen Koffer gepackt und wollte am nächsten Morgen ins Salzkammergut) [...] die Ashantee kennen. Am selben Abend packte er seinen Koffer aus und büeb in Wien! Bei ihnen verbringt er im Sommer jeden Tag und die halbe Nacht, jeder Ashantee kennt ,Sir Peter'. Im Winter schreibt er Briefe nach Afrika." 23 Richard Beer-Hofmann wird von Altenberg in die Ausstellung (zur Reprise 1897) geführt24; in sein Tagebuch notiert Arthur Schnitzler unter dem 17. 9. 1896: „Mit [Felix] Saiten Aschantis (dort Peter Altenberg) -", 2 5 Der Feuilletonredakteur der Neuen Freien Presse, Theodor Herzl, besucht die Ausstellung sowohl 1896 als auch 1897.26 Mit gewisser Wahrscheinlichkeit ist es eine der Aschantitruppen der Herren Bouvier und Gravier, die Rainer Maria Rilke 1902/03 im Pariser Jardin d'Acclimatation zu sehen bekommt und denen er das Gedicht Die Aschanti widmet.

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R. F[ranceschini]: Das Aschanti-Fieber, S. 1-3, S. 1. Neue Freie Presse (Wien), 11. 10. 1896, S. 7. Altenberg wird zitiert nach: Peter Altenberg: Gesammelte Werke in 5 Bdn. Bd. 1: Expeditionen in den Alltag. Gesammelte Skizzen 1895-1898. Bd. 2: Extrakte des Lebens. Gesammelte Skizzen 1 8 9 8 - 1 9 1 9 . Hgg. v. W. J. Schweiger. Wien, Frankfurt/M. 1987 (i. f. als AW, Bd. u. S.).

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Stefan Großmann: Wiener Köpfe. 2. Peter Altenberg. [Die Zeit, Wien, 12. 2. 1898] In: Das Junge Wien. Osterreichische Literatur- und Kunstkritik 1887-1902. Ausgewählt, eingel. u. hgg. v. G. Wunberg. Bd. 2, Tübingen 1976, S. 822-824, S. 824. Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann: Briefwechsel 1 8 9 1 - 1 9 5 1 . Hgg. v. K. Fliedl. Wien, Zürich 1992, S. 106.

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Arthur Schnitzler: Tagebuch 1893-1902. Unter Mitw. v. P. M. Braunwarth hgg. v. d. Komm. f. literarische Gebrauchsformen d. Osterr. Akademie d. Wissenschaften. Wien 1989, S. 218 (17.9. 1896). Theodor Herzl: Der Wurstelprater. In: Neue Freie Presse (Wien), 20. 9. 1896, S. 1-3, bes. S. 3; Theodor Herzl: Der Menschengarten. [1897] In: Th. H.: Feuilletons. Vorrede v. R. Auernheimer. 2. Aufl. 2 Bde. Berlin [1911], Bd. 1, S. 152-158.

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Aschanti

Das sich um das Ereignis anlagernde Textmaterial ist dispers; Zeitungstexte (das Neue Wiener Tagblatt berichtet in der Lokalrubrik eine Zeitlang täglich über Neuigkeiten aus dem Aschantidorf), literarische Texte, Feuilletons, Lyrik. Die zuständige Wissenschaft, Ethnologie bzw. Anthropologie, zwei Disziplinen, die sich gerade erst in Trennung befinden und meist noch unter demselben organisatorischen Dach zusammengefaßt sind (in Deutschland und Osterreich in den Gesellschaften für Anthropologie, Ethnographie und Urgeschichte), scheint sich der Wiener Aschanti nicht systematisch angenommen zu haben, was eher eine Ausnahme als die Regel darstellt; es war durchaus üblich, die in Menschenschauen Ausgestellten anthropometrisch zu vermessen und ethnologisch zu bestimmen. Rudolf Virchow hat mehrere solcher Messungen veröffentlicht. Anthropologische Untersuchungen dieser Art wurden wieder von den Unternehmern der Völkerschauen als Echtheitszertifikate verwendet, da immer wieder berechtigte Zweifel an der Authentizität der Exoten aufgekommen waren. Eine 1895 im Wiener Thiergarten gezeigte „Matabele"-Truppe führte Empfehlungen deutscher Anthropologen mit sich, die auf die interessanten Rassemerkmale der „Matabele" hinwiesen und als Prospekte im Publikum verteilt wurden, das dergestalt seinen Bildungstrieb hätte sättigen sollen. Der „Matabele-Häuptling" decouvrierte sich später selbst als Kohlenhändler aus Kairo.27 Diese Zweifel an der Echtheit der Exoten und eine gewisse Komplizenschaft der Wissenschaft am Geschäft begleiten die Geschichte ausgestellter Fremder. 28 Seit dem 18. Jahrhundert sind für Wien Schaustellungen von Fremden belegt; bereits 1833 wird in Wien ein „Afrikaner von der kriegerischen Nation der Ashantees" gezeigt, für den mit Plakaten und illustrierten Inseraten in der Wiener Zeitung geworben wird. Dennoch handelt es

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R. Ffranceschini]: Das Aschanti-Fieber, S. 2. Die Institution der „Völkerschau" ist ein einigermaßen vergessenes Kapitel des Exotismus. Hinweise auf die Geschichte des Ausstellungsbetriebs bei Sybille BenninghofT-Lühl: Die Ausstellung der Kolonisierten: Völkerschauen von 1874-1932. In: Andenken an den Kolonialismus. Eine Ausstellung des Völkerkundlichen Instituts der Universität Tübingen. Hgg. v. V. Harms in Zusammenarb. mit K. Barthel u. a. Tübingen 1984, S. 52-65; Stefan Goldmann: Wilde in Europa. Aspekte und Orte ihrer Zurschaustellung. In: Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalische Beziehung. Mit Beitr. v. U. Bitterli u. a. hgg. v. Th. Theye. Reinbek 1985, S. 243-269; Gabriele Eißenberger: Menschliche ,Exoten' in Zoologischen Gärten: Völkerschauen im 19. und 20. Jahrhundert. In: kultuRRevolution 32/33 (1995), S. 112-120.

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sich bei diesen frühen Menschenschauen um einen gänzlich anderen Typ von Sensation. Die bloße Schaulust am Fremden nimmt das Ausstellungsobjekt als Kuriosität oder Laune der Natur zur Kenntnis und hat nur soweit ein Interesse an der Authentizität des Objekts, als sie nicht um ihr Geld betrogen sein will; demgemäß führt die Tradition dieser frühen Schaustellungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einerseits in zirzensische Formen, andererseits in Abnormitätenschauen, Freak Shows. Zum Zirkus unterhält die Völkerschau eine Beziehung durch die Vorstellungen, die Teil des Programms waren, die Gefechte und „künstlerischen Darbietungen", zumeist Tanz, Gesang und Akrobatik; der Zirkus ist als Institution selbst Ergebnis einer sozialen „Bedeutungsverschlechterung" und leitet sich von akrobatischen Pferdedarbietungen mit aristokratischem Publikum her.29 Es ist kein Zufall, daß im Prater, einem Vergnügungspark von europäischem Ruf, diese unterschiedlichen Institutionalisierungen in räumlicher Nachbarschaft zusammentreffen. Neben dem Zirkus findet sich „Präuscher's Panoptikum", eine Monstrositätenschau in der Tradition der barocken Wunderkammer, in dem Wachspräparate ausgestellt sind; andere Praterbuden wie die „Apollo-Schau" zeigen die „böhmischen Zwillinge", den dicksten Mann der Welt und ähnliches mehr.30 Der Reiz jener Variante von Völkerschau, die dem Zirkus nahesteht, liegt in artistischen Darbietungen wie dem „Messertanz" der „Samoaner"; das exotische Kostüm ist hier nur Zusatzattraktion. Die Völkerschau vom Typ der Aschantipräsentation unterhält hingegen eine institutionelle Beziehung zum Zoo. Durch die Welle der Zoogründungen51, die Mitte des 19. Jahrhunderts Europa erfaßt und jeder Metropole ihren Tiergarten verschafft, wird die alte monarchisch-aristokratische Menagerie abgelöst. Es sind nun bürgerliche Konsortien, die das nötige Kapital aufbringen. Mit den veränderten Besitz-

29

Vgl. Ernst Günther u. Dietmar Winkler: Zirkusgeschichte. Ein Abriß der Geschichte des deutschen Zirkus. Berlin 1986.

30

Vgl. hierzu Hans Pemmer u. Nini Lackner: Der Prater. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neu bearb. v. G. Düriegl u. L. Sackmauer. Wien, München 1974, bes. S. 289. Auch: Das Pratermuseum. 62 Stichwörter zur Geschichte des Praters. Text u. Red. v. U. Storch. Wien 1993, pass.

31

Vgl. dazu Friedrich Knauer: Zur Gründung eines Großen zoologischen Gartens in Wien. Vorschläge und Anregungen. Wien 1891, bes. S. 9 - 2 9 („Thiergärten von einst bis heute") u. S. 5 7 - 6 5 („Die Geldbeschaffung bei Gründung anderer Thiergärten", mit detaillierten Angaben zur ökonomischen Struktur).

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Verhältnissen geht auch eine veränderte Funktionsbestimmung der Institution Zoo einher: „Völlig sollte gebrochen werden mit d e m alten Menagerieprinzip und seinem Jahrmarktszug (der auch alten Hofmenagerien angehaftet hatte), seinen paar zufalligen marktschreierisch übertriebenen Sensationen für müßige Gaffer. Der Zoologische Garten sollte einen dauernden, ruhigen Ort zur Tierkenntnis geben. [...] D e r Schule, dem Volk sollte ein großes Anschauungsmaterial hier gleichsam als lebendiges Lehrbuch vereint sein" (Wilhelm Bölsche 32 ). Nicht zuletzt dank der AschantiAusstellung reiht sich der Wiener Tiergarten „schon seit Monatsfrist den größten continentalen Etablissements ähnlicher Art würdig an und sorgt in gleichem Maße für die Belehrung und Unterhaltung der exclusiven Kreise sowohl, als auch der breitesten Volksschichten." 33 Ebenso pädagogisch begründet das Budapester Konsortium seine Gründung: daß „der dortige Aufenthalt der Bürger mit einer Vergnügung edler Art, d e m Liebgewinnen der Naturgeschichte, bereichert wäre". 3 4 Dennoch soll bereits in der Planung eines neuen Zoos auf „sinnliche Anforderungen" des Publikums Rücksicht genommen werden; Friedrich Knauer, der Direktor des Wiener Vivariums, denkt bei seinen Vorschlägen für den neuen Wiener Tiergarten 1891 an „die Errichtung einer Restauration und Meierei, die Abhaltung von Concerten, die Einführung von Kinderspielplätzen, Ponyreitschulen u. dgl. m e h r " , auch an die „zeitweilige Vorführung ethnologischer Schaustellungen", an „zeitweise Acquirirung besonders seltener, auffallender Thiere", u m „für eine lebhafte Reclame der Zeitungen Anlaß zu geben". 35 Die Dialektik von Verwertungsinteresse und „Bildung" in der bürgerlichen Institution Zoo wird als List ausgegeben: „Es ist hier schlecht am Platze, von Entweihung, Blasphemirung der Wissenschaft zu sprechen, wenn m a n zu Gunsten des Ganzen auch mit der Neugierde der großen Menge rechnet; der Satz vom Mittel zum guten Zwecke ist hier m e h r als anderswo am Platze; es gilt, soviel als möglich zur Frequenz des Thiergartens beizutragen; durch die damit erzielte Prosperität des Unternehmens ist die Möglichkeit

52 55 34

35

Wilhelm Bölsche: Aus Urtagen der Tierwelt. Stunden im Zoologischen Garten. Dresden 1922, S. 16 f. (Der Wiener Thiergarten). In: Neues Wiener Tagblatt, 15. 9. 1896, S. 29. Zit. nach Walter Fiedler: Städtische Tiergärten des 19. Jahrhunderts und Ausblick auf das 20. Jahrhundert (Carl Hagenbecks neue Ideen). In: Tiergarten Schönbrurm: Geschichte und Aufgaben. Hgg. v. W. F. Wien 1976, S. 67-89, S. 77. Knauer: Zur Gründung, S. 57 u. 55 (i. Orig. teilw. gesperrt).

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gegeben, das Ganze auf jene Stufe zu bringen, wie sie dem idealen Thiergartenbesucher vorschwebt." 36 Mit „Naturgeschichte" ist jetzt schon nicht mehr ein Wissen über die Vielfalt der drei Reiche der Natur, das Lexikon der Linneschen historia naturalis gemeint, sondern die dynamisierte, dramatische Neufassung der historischen Entwicklung. Das Kind belehrt man im Zoologischen Garten, „die bunten Gestalten seiner Erinnerung zum grossen gesetzmäßigen Drama der Natur zusammenzustellen." So begründet der Zoologiedozent Gustav Jäger sein Engagement zur Gründung eines Wiener Akklimatisationsgartens am Praterschüttel (1865). Jäger, der erste, der in Österreich für den Darwinismus eingetreten ist, bringt in dieser Verständigung über den neuen Tiergarten noch ein zweites, vorsichtiges Argument für Darwin unter: „Der Mensch, der so gerne als Herr der Schöpfung sich fühlend, mit souveränem Stolze auf Alles herabsieht, was fliegt und kriecht, wird bald von diesem Wahne und seinen schlimmen Folgen geheilt sein, wenn er herabsteigt zu dem Thiere und sich die Mühe nimmt, oder richtiger gesagt, das Vergnügen macht, sein Thun und Treiben zu betrachten." 37 „Belehrung und Unterhaltung" wird hingegen die gleichsam offizielle Begründung für den neuen Tiergarten sein. 38 Die eigentliche Verwertungschance des Tiergartens war die Akklimatisation neuer Arten; das Institut ging jedoch bald ein. Im Lauf der achtziger Jahre wurden verschiedentlich Initiativen zur Wiederbelebung des Tiergartens unternommen, denen aber gleichfalls kein besonderer Erfolg beschieden war. Als 1896 die Aschanti Teile des Areals beziehen, fungiert als Direktor bereits der Konkursverwalter Richard Goldmann. Als sich die Akklimatisation, die als Hoffnungsgeschäft galt, nicht durchsetzte, bestand für die privaten Betreiber der Zwang, mit Formen der Animation wenigstens das Publikum zu halten und sich gegen die bestehenden Hofmenagerien (Schönbrunn) zu behaupten; zur selben Zeit unter gleichen Umständen wie der Wiener Tiergarten gegründet, hatte der Pariser Jardin

36 37

Knauer: Zur Gründung, S. 36. Gustav Jäger: Ueber Acclimatisation und zoologische Gärten. Vortrag, gehalten am 17. März 1862. In: Schriften des Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien 2 (1861/62), S. 389-403, S. 401 u. 402. Der Text entspricht im wesentlichen Jägers Einleitung zu: G. J.: Kurzer Führer durch den neueröffneten Wiener Thiergarten am Schüttel. Wien 1863.

38

Vgl. Der zoologische Garten in Wien. In: Österreichische Wochenschrift (Wien) 1 (1863), S. 694 f. mit Angaben über Direktorium und Betreiber.

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d'Acclimatisation im Bois de Boulogne39 (1860) gegen den Jardin des Plantes zu konkurrieren und begann ebenfalls das Geschäft mit Fremdvölkerschauen, die in den alten aristokratischen Menagerien nur schwer zu denken sind. Mme. Blatin in Marcel Prousts Recherche trifft hier auf einen Singhalesen. Der Garten besteht bis heute als Vergnügungspark fort. Als erster hatte Carl Hagenbeck die Rezession im Tiergeschäft in den siebziger Jahren genützt, um den neuen Typ der Fremdvölkerschau einzuführen, „eine Völkerausstellung im großen Stile, mit dem nötigen ethnographischen und zoologischen Drum und Dran." 40 Durch die Kontextualisierung im Zoo - und nicht am Jahrmarkt, in einer Menschenschauanstalt (wie ein BuschmannPaar, das 1819/20 in einer Hütte in der Wiener Jägerzeile ausgestellt war41), in der Hofoper (wie der jonglierende Inder Beauleau aus Madras, ab 181942) oder im Etablissement Sperl (wie „Azteken, Buschmänner und Korana" 185643) - beginnen die Ausgestellten einen anthropologisch zweideutigen Charakter anzunehmen. Der „Schaustellungsplatz für ethnologische Trupps" im Wiener Tiergarten befindet sich hinter den Käfigen zweier Menschenaffen, die als „Maya" und „Tschakerl" eine gewisse lokale Berühmtheit erlangt haben und die Wahrzeichen des Zoos vorstellen, exerzierenden Rhesusaffen und den Aquarien und Terrarien; dahinter folgen die Papageien.44 Bei Hagenbeck selbst erweist sich die letztliche Identität von Tier und Wildem in deren gleicher Subsumtion unter das Geschäft. Das sentimentale, „persönliche" Verhältnis, das Hagenbeck zu seinen Tieren aufbaut, unterscheidet sich in nichts von der paternalistischen Betreuung seiner „Wilden". Die „artgerechte" Tierhaltung, die Hagenbeck in die internationale Zoohaltung einführt, ist logisches Produkt des industriellen Charakters seines Geschäfts: Das „Tierparadies" in Stellingen bei Hamburg, das noch heute besteht, ist nichts als eine verbesserte Lagerstätte seines lebenden Kapitals. Die „artgerechte Tierhaltung" ist nicht Ergebnis einer humanistischen Gesinnung, sondern Mittel, die Mortalitätsrate seiner Tiere zu vermindern und die Qualität seiner Dressuren für den internationalen Zir59 40 41 42 43 44

Vgl. Fiedler: Städtische Tiergärten, S. 67 f. Carl Hagenbeck: Von Tieren und Menschen. Erlebnisse und Erfahrungen. Leipzig 1928, S. 54. Barth: Echte und falsche Exoten, S. 3. Barth: Echte und falsche Exoten, S. 3. Barth: Echte und falsche Exoten, S. 6. Führer durch die Schaustellungen des Wiener Thiergartens (k. k. Prater, am Schüttel) und des Wiener Vivariums (k. k. Prater, Hauptallee 1). Wien 1895, S. 3.

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kusbetrieb, die sich nur bei jungen und zoogeborenen Tieren erzielen läßt, zu steigern. Uber seine berühmte Singhalesentruppe schreibt Hagenbeck: „Mit diesem Transport befand sich wohl die interessanteste Ausstellung in meinen Händen, die ich bis dahin je gehabt hatte. Sie bestand aus 67 Menschen, 25 Elefanten, von ganz jungen Exemplaren bis zu den größten Arbeitselefanten, und einer ganzen Anzahl von Rindern verschiedener Art." 45 Als er Eskimos vorführt: „Nicht nur mit der Uberführung dieser neuen Karawane hatten wir Glück gehabt, sondern auch in der Auswahl der Typen." 4 6 Aus Afrika kommt „ein hochinteressantes anthropologisch-zoologisches Bild aus dem Sudan". 47 Der zweideutige Charakter der Exoten im Zoo trifft zusammen mit einer vollständig veränderten Situation in der Anthropologie, die Darwins fundamentale wissenschaftliche Innovation, die Auflösung des starren ArtenbegrifFs, aufgenommen hat. In dem Maß, in dem der Ubergang vom Menschenaffen zum Menschen zu einem Kontinuum wird, werden die Grenzen, die den Menschen zum Menschen machen, fließend. Der Begriff „Mensch" selbst wird ambig, so bei Ernst Haeckel: „Wie ich bereits in meinen Vorträgen ,über die Entstehung und den Stammbaum des Menschengeschlechts' ausführte, kann man die verschiedenen sogenannten ,Rassen' des Menschengeschlechts mit eben so vielem Rechte als ,gute Arten oder Species' einsehen, wie viele Thierformen oder Pflanzenformen, welche allgemein als ,gute Species' einer Gattung gelten." 48 Das „Huxley'sche Gesetz" fand die „psychologischen Unterschiede zwischen dem Menschen und den Menschenaffen [...] geringer als die entsprechenden Unterschiede zwischen den Menschenaffen und den niedrigsten Affen". Haeckel erweitert jenes Gesetz 1898 am Zoologenkongreß in Cambridge, indem er auf die „außerordentlichen Unterschiede des Seelenlebens innerhalb des Menschengeschlechts" verweist: „Da sehen wir hoch oben einen Goethe und Shakespeare, einen 45 46 47 48

Hagenbeck: Von Tieren und Menschen, S. 56. Hagenbeck: Von Tieren und Menschen, S. 51. Hagenbeck: Von Tieren und Menschen, S. 50. Ernst Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft. Berlin 1868, S. 512. Das Selbstzitat in E. H.: Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre. 2 Bde. 2., verm. Aufl. Bonn 1902, Bd. 1, S. 103 u. pass.

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Darwin und Lamarck, einen Spinoza und Aristoteles - und damit vergleichen wir nun tief unten [auf der Stufenleiter, W. M.] einen Wedda und Akka, einen Australneger und Dravida, einen Buschmann und Patagonier! Der gewaltige Abstand im Seelenleben jener höchsten und dieser niedersten Vertreter des Menschengeschlechts ist weit größer als derjenige zwischen den letzteren und den Menschenaffen." 49 Das ist ein Systemzwang des darwinistischen Paradigmas, das mit einer gewissen Logik zu Kolonialismus und Imperialismus in ein legitimatorisches Verhältnis geriet. Virchow, der sich dem Darwinismus - jedenfalls öffentlich - nicht angeschlossen hat, beharrte dagegen immer auf einer ungeteilten „Menschlichkeit" der Menschen, so der australischen Aborigines, die Anwartschaft auf das „Missing link" hatten: „Immer bleiben sie Menschen in unserem Sinne und nächste Anverwandte von uns." 50 Virchow war auch Gegner des deutschen Kolonialismus. Durch Anthropometrie wird nicht die bloße Andersartigkeit des Exoten klassifiziert, sondern der Abstand gemessen, der ihn einerseits vom Tierreich, andererseits vom Menschen, d. i. vom Europäer, trennt.51 „Wie weit entfernt sich der Neger vom Affen?" fragt bereits Ludwig Büchner als Anhänger einer prädarwinistischen Entwicklungslehre und verknüpft noch darüber hinaus das menschliche Sozialschicksal mit seinem Ort in der Naturgeschichte: „Man muß in gewisse niedere Kreise der menschlichen Gesellschaft geblickt und mit ihnen verkehrt haben, um zu begreifen, daß die geistige Stufenleiter vom Tier zum Menschen keine unterbrochene ist." 52 Die Frage, wie weit sich der „Neger" vom Affen entferne, ist im Setting der Aschanti-Ausstellung bereits beantwortet: nur wenige Meter. Der Prater („Wiese") ist einer jener Orte der Wiener Stadttopographie, an denen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die heftigsten symbo49

50 51 52

Haeckel: Ueber unsere gegenwärtige Kenntniß vom Ursprung des Menschen. Vortrag, gehalten am 26. August 1898 auf dem vierten Internationalen Zoologen-Congreß in Cambridge. In: E. H.: Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen, Bd. 1, S. 345-420, S. 363. Zit. nach Manfred Vasold: Rudolf Virchow. Der große Arzt und Politiker. Frankfurt/M. 1990, S. 309. Vgl. Stephen Jay Gould: Der falsch vermessene Mensch. Frankfurt/M. 1988. L. Büchner: Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien in allgemein-verständlicher Darstellung. [1855] In: Vogt, Moleschott, Büchner: Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland. Hgg. u. eingel. v. D. Wittich. Berlin 1971, 2. Bd., S. 347-516, S. 494.

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lischen Kämpfe sozialer Territorialisierung ausgefochten werden. Ursprünglich in Klosterbesitz, dann in aristokratischen Privatbesitz übergehend, zuletzt im Besitz des Hofes als kaiserliches Jagdrevier, wird das Territorium im 18. Jahrhundert von Joseph II. dem Publikum zugänglich gemacht; der „Wurstelprater" zum Haupt-Ort der Vergnügungen der Mittel* und Unterschichten. Das Areal des Praters, zu dieser Zeit noch weitgehend Brache und Grünland, segmentiert sich sozial, bis in der Gründerzeit die Hauptallee eröffnet wird (1867). Der Prater zwischen Wurstelprater und Lusthaus wird 1866 auf kaiserliche Entschließung zum Ort der Wiener Weltausstellung 1873 bestimmt. Im selben Zug wird auch der Wurstelprater zum Volksprater reguliert und modernisiert; unfern davon entsteht die Rotunde als zentraler Bau der Weltausstellung und Monument bourgeoiser Kapitalmacht.53 Als der Prater sich sozial durch die Weltausstellung liberalprivat umcodiert, entsteht in unmittelbarer Nähe die Pferderennbahn des „Turf" in der Freudenau, die zum Rückzugsort der Hocharistokratie wird. Ein Feuilleton Theodor Herzls, Von Tieren und Menschen (1898), reorganisiert die Sozialgeschichte des Ortes mit Blick auf die Pferde naturgeschichtlich-lamarckistisch, um von der Dreiklassenwelt der Tribüne zur Aristokratie des Typus der Pferde zurückzukommen, über den „Rasse" und „Leistung" entschieden. Von anderer Seite macht die symbolisch sensible Politik der neuformierten Sozialdemokratie seit dem 1. Mai 1890 der aristokratischen „ersten Gesellschaft" mit proletarischen Massenaufmärschen die Hauptallee, die „Nobel-Allee" (Th. Herzl54), streitig und codiert so das Herzstück des „Nobelpraters" neu. Daneben bleiben die Vergnügungslokale des Volkspraters Naherholungsgebiet des Kleinbürgertums; Minna Kautskys Erzählung Ein Maifesttag (1907) beschreibt den Zusammenstoß der Volksversammlungen der Sozialdemokraten am 1. Mai 1896 mit kleinbürgerlichen Anhängern des christlich-sozialen Lagers des Antisemiten Karl Lueger. Innerhalb dieses symbolisch-territorialen Kampffeldes wird die Aschanti-Ausstellung plaziert. Mit Emotion wird die Szenerie, innerhalb derer Altenberg in der Ausstellung agiert, von Richard Beer-Hofmann seinem Freund Arthur Schnitzler 53 54

Vgl. Jutta Pemsel: Die Wiener Weltausstellung von 1873. Das gründerzeitliche Wien am Wendepunkt. Wien, Köln 1989. Th. Herzl: Juli-Sonntag im Prater. [1899] In: Th. H.: Feuilletons, S. 135-143, S. 135, bes. auch S. 141.

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dargestellt. Beer-Hofmann spricht von der „Verlogenheit und Niedrigkeit dieses Packs": „Altenberg hat mir - ich bat ihn nicht darum - im Tiergarten durch einige Stunden Gesellschaft geleistet. Von dem plumpem [!] Comödiespielen dieses armseeligen Schmierencomödianten können Sie sich kaum einen Begriff machen. Er lehnt verzückt an irgend einer Umfriedung und starrt auf irgend einen Schwarzen oder Schwarze und wartet daß ihn ein zufällig Vorübergehender ( - er ist natürlich nur am Nachmittag in den Besuchsstunden dort wo er gesehen wird - ) aus seiner Verzückung reiße. Dabei ist er blind für den wirklichen Reiz dieser dunkeln Menschen. Er kann nur lügen."55 Beer-Hofmann stellt Altenbergs Aschanti-Begeisterung als „Comödie" dar, als inszeniert für „Vorübergehende"; danach verdoppelt Altenberg die Ausstellung, indem er sich selbst als Schauobjekt in das Setting integriert. Nach Beer-Hofmann hat diese Angleichung den Preis, „den wirklichen Reiz" der Schwarzen nicht zu „sehen". Dennoch zweifelt auch er nicht daran, daß es einen „wirklichen Reiz" gebe, den die Afrikaner in dieser reichlich depravierten Installation ausüben könnten und der durch distanzierende Betrachtung erfahren werden könne; da sich BeerHofmann über die Qualität des „Reizes" nicht ausspricht, soll darüber nicht spekuliert werden. Wenigstens kann gesagt werden, daß die Installation selbst für Beer-Hofmann nicht fragwürdig ist, sondern die „comödienhafte" Anverwandlung an sie durch den Dichter Altenberg. Welches Personal Altenberg als Publikum seiner eigenen „Comödie" im Auge hatte, geht aus einigen Selbstzeugnissen hervor. Er sei als „Führer durch Aschantee", so schreibt er an Hugo Salus, „von einer ganzen Anzahl Damen" in Anspruch genommen. „Wie oft schon habe ich mir auf diese Weise ganz unschuldig gute Beziehungen zerstört, indem in Aschantee eine ganze Reihe von Menschen gleichzeitig meine Gesellschaft für sich forderten." Altenberg schiebt sein gesellschaftliches Mißgeschick auf seine „Neigung zu einem Aschantee-Mädchen", wodurch er „dort höchst unfrei und schwer belastet und preoccupirt" sei.56 Ebenso unterscheiden sich die Helden und Heldinnen der Ashantee-Skizzen vom Personal seiner anderen literarischen Produktion. Hat Altenbergs erster Erzählband Wie ich es sehe vor allem die Sommerfrische des Salzkammergutes zum Lokal (Skizzenreihe See-Ufer) und bewegt sich demgemäß - bei aller Abstraktion - das Personal 55 56

Richard Beer-Hofmann an Arthur Schnitzler, 20. 5. 1897. Briefwechsel, S. 106. In: Peter Altenberg. Leben und Werk in Texten und Bildern. Hgg. v. H. Ch. Kosler. München 1981, S. 80.

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in den Kreisen von Großbürgertum u n d Aristokratie, gilt das mutatis mutandis auch für den Rest des B a n d e s Ashantee, der mit der „Novelle" Paulina u n d der Skizzenreihe Unefemme est un état de notre âme gefüllt wird. S o k o m m t es über die W i d m u n g d e s Buches, „ M e i n e n schwarzen Freundinnen, den unvergeßlichen ,Paradies-Menschen' Akolé, Akôshia, Tiöko, D j ô j ô , N a h - B a d û h " 5 7 , zu e i n e m Mißverständnis mit s e i n e m Verleger S a m u e l Fischer: „Ich kann doch nicht u. will nicht ein Buch diesen schwarzen Mädchen widmen, zumal da die einzelnen Sachen in d e m Buche a n d e r e n hochstehenden D a m e n g e w i d m e t s i n d " 5 8 , darunter Bertha Eckstein-Diener (Ps. Sir Galahad), der späteren Gattin Friedrich Ecksteins. Ungeachtet der Textideologie von Ashantee kann insgesamt die neue gedoppelte Ideologie der Institution Zoo von prodesse u n d delectare, Pädagogik u n d Divertissement für die g e m i n d e r t e Schwellenangst d e r liberalen B o u r g e o i s i e g e g e n ü b e r d i e s e m Ort verantwortlich g e m a c h t w e r d e n . A m Anfang von Ashantee läßt Altenberg in der Skizze Der Hofmeister einen Hofmeister die pädagogische Dimension des Zoos realisieren und sein Wissen in d e r Naturgeschichte gegen die falschen Anschauungen des Massenpublik u m s setzen: In einem kleinen Käfige bei dem schwitzenden Schweizerhäuschen saßen zwei Aguti, Dasyprocta Aguti. Der Käfig-Boden war bedeckt mit Semmelstücken und Zuckerstücken. Ein junger Hofmeister, mit einem Knaben und einem Mädchen, sagte: „Bornirte Menschen. Obst fressen sie nur! Du wirst gleich sehen." Er gab ihnen eine kleine Pfirsich. Die Aguti setzten sich auf die Hinterbeine und aßen wie Eichkätzchen. Das junge Mädchen war ganz warm vor Verehrung und spürte es, wie alle Umstehenden den Hofmeister ebenso verehrten oder ähnlich. „Erinnere mich, Fortunatina, morgen werde ich dir ,Brehm' vorlesen [...]" (AW I, 2 5 2 ) .

D i e S z e n e wiederholt sich mit B ä r e n u n d mit den Aschanti: „ , M a c h e nur nicht gleich solche A b g r ü n d e zwischen u n s u n d ihnen [den Aschanti, W.

57 58

AW I, S. 359. Altenberg an S. Fischer, [Frühjahr 1897]. In: Samuel und Hedwig Fischer: Briefwechsel mit Autoren. Hgg. v. D. Rodewald u. C. Fiedler. Mit einer Einf. v. B. Zeller. Frankfurt/M. 1989, S. 389.

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M.]. Für die, f ü r die. Was bedeutet es?! Glaubst du, weil das d u m m e Volk sich über sie stellt, sie behandelt wie exotische Tiere?!'" (AWI, 234) Wie ich es sehe enthält eine Zooszene 5 9 , die das Tier gegen seine Betrachter recht behalten läßt: Die Biberratte trägt im Ganzen nicht viel zur Unterhaltung bei. Aber man erwartet sich unablässig etwas Besonderes von diesem Tiere. Das ist das Besondere an ihm. Man steht stundenlange vor dem kleinen Bassin. Man möchte ihm etwas durch Warten abtrotzen! (AW I, 224) In einer anderen Ashantee-Skizze (Klein-Ella) agiert „Herr Peter" selbst als pädagogische Figur, die ein M ä d c h e n in d e n Tiergarten führt. Hingegen läßt Altenberg die Unterschicht-Besucher die Aschanti in einem Dialog als Gleichgestellte adressieren: „Was glaubt sie eigentlich, dieses Mohrl?! Eine Ehre sollen w i r uns machen, ihren Schmarrn zu kaufen?! [...] Unsere Verkäuferinnen w ü r d e n ein schlechtes Geschäft machen. M u ß t freundlich sein, Schatzerl, tut dir ja niemand was. Frieren tut sie, der arme Hascher. No, no, no, no, n u r nicht gleich a u f b e g e h r e n ! Was bist du zu Hause?! Eine Gnädige?! Du wirst es noch billiger geben." (AW I, 250) Direkt mit den Unterschichten sieht der Feuilletonist Herzl die Aschanti zusammen in einem Text, d e r das Ich im Spätsommer durch das proletarische Vergnügungsviertel Wurstelprater schickt und die Aschanti als weltgeschichtliches Lumpenproletariat vorführt: „Drüben im Thiergarten ein Negerdorf mit seiner nackten Armuth, mit eintönig singenden u n d wild tanzenden M ä n n e r n , schläfrig kauernden Weibern und neugeborenen Kindern, die auch schon ganz schwarz sind [!]. u60 Seine Anwesenheit in dieser Zone rechtfertigt Herzl auch in d e m ein Jahr später erschienenen Feuilleton Der Menschengarten (1897), d e r wieder die Aschanti thematisiert, mit d e m nicht zeituntypischen Blick des Ethnologen d e r eigenen Stadt, d e r das Phänomen kulturphilosophisch einordnet und somit ebenfalls pädagogisch wendet. „Kinder und einfaltige Leute gehen mit einer rechten Lust in Tiergärten", beginnt d e r Text u n d realisiert sofort das evolutionistische Schema: „Dies- und jenseits der Gitterstäbe blicken freie und eingefangene Stücke der 59 60

Erstm. in: Kunst 1 (1903/04). Die Skizze wurde von Altenberg in die vierte Auflage (1904) von „Wie ich es sehe" übernommen. Theodor Herzl: Wurstelprater, S. 3.

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Natur einander scheu in die verwandten Augen. Die hüben und die drüben sind Stationen derselben wundersamen Entwicklung, von der wir nicht Anfang noch Ende zu sehen vermögen." 61 Hier soll aber zunächst nur der soziale Subtext interessieren, der dem Tiergartenspaziergang unterlegt wird und der am Verhältnis von Tier und Zoopersonal offengelegt wird: „Bursche und Mägde, die roh aussehen und gewiß nicht gebildet sind, weil sie sonst als Hofmeister und Gouvernanten zu den Kindern wohlhabender Menschen gingen; Bursche und Mägde mühen sich mit unverdrossener Liebe um die Tiere ab. Woher es kommen mag?" Eine Sozialperspektive, die in Gebildete und Ungebildete, in Tierwärter und Hofmeister zu differenzieren vermag, findet eine tiefere Korrespondenz zwischen Tier und Ungebildetem in einer naturhaft-vorzivilisatorischen Affinität der beiden: „Die Tiere sind vielleicht der Dankbarkeit fähig, die man unter den Menschen so schwer findet." Der naiv kulturkritische Topos erfährt eine Wendung zum blanken Zynismus, als die Wärterin der Schimpansin Maya in den Blick gerät. Die Schimpansin bedarf einer Gesellschafterin (somit dem Kind ähnlich: „Maya darf nie allein gelassen werden, sonst weint sie wie ein kleines Kind [•••]")> diese wieder, „ein ganz klug blickendes Weib, scheint die beständige Gemeinschaft des Lebens mit der Affin nicht als eine Qual zu empfinden": „Die arme Äffin hat nur dieses Weib auf der Welt, und das arme Weib vielleicht nur diese Affin. [...] Auf dieser etwas melancholischen Grundlage beruht die Liebe der beiden Wesen im Käfig zueinander, als ob sie von der gleichen Art wären." 62 Ein Feuilleton Herzls über einen Juli-Sonntag im Prater (1899) beschreibt in ähnlichen Begriffen ein Volksfest: „Für fünf Kreuzer ein Tanz mit allem, was dazu gehört. Das sind nicht die artigen, gedämpften Drehungen der Salons. Da ist noch Kampf und Leidenschaft, Werbung und Niederlage in den stummen Dramen", wobei der Akzent auf dem „Noch" liegt. Die tanzenden „Bauern und Bäuerinnen, in die Stadt verschlagen, als Dienstmädchen und Soldaten verkleidet", verkörpern dem Feuilletonchef der Neuen Freien Presse eine Stufe im Zivilisationsprozeß 63 , die man selbst längst hinter sich gelassen hat, die

61 62 63

Herzl: Menschengarten, S. 152. Herzl: Menschengarten. S. 155 f. Der genetische Aspekt von Norbert Elias' Zivilisationstheorie hat seine Wurzeln in den Evolutionstheorien des 19. Jahrhunderts, vgl. Johan Goudsblom: Zum Hintergrund der Zivilisationstheorie von Norbert Elias : Das Verhältnis zu Huizinga, Weber und Freud. In : Macht und Zivilisation. Materialien zu Norbert Elias' Zivilisationstheorie. 2 Bde., Bd. 2. Hgg. v. P. Gleichmarm, J. G. u. H. Körte. Frankfurt/M. 1984, S. 129-147, bes. S. 138 f.

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jene aber nicht so bald erreichen werden können: „Das aber hat einen fernen Zweck: in zwanzig Jahren wird man wieder Stubenmädchen und Soldaten brauchen." 64 In unmittelbarer Nähe, in der panoramatischen Institution des Tiergartens, die die Naturgeschichte auf engstem Raum im Zeitraffer präsentiert, trifft Herzl auf ähnliche Gestalten: „Tapir und Kamele, die Füchse, die großartigen Elefanten, die eitlen Papageien, die grollenden Bären in der Grube, der Dachs, die luftige Volière voll bunter Schreihälse, und was sonst noch in den Garten gegen Morgen kreucht und fleucht, ein jegliches nach seiner Art - wir sehen es nicht mehr. Der Mensch ist da vor uns im Garten aufgetaucht." Die biblische Motivik, in der sich der Beginn des Textes bewegt, wird bald von einem anderen Diskurs, der darwinistischen Geschichtserzählung, überlagert und ergänzt: „Es sind Menschen der Urzeit, wenn sie auch mit uns zugleich über die Erde wandeln. Alles ist i m m e r da. Echte Urzeitmenschen, kenntlich an ihrer Einfalt und Grausamkeit, an ihrer Wildheit, die nur Angst ist, an ihrem Werkzeug, ihrer kindlichen Kunst und ihrem Glauben. Sie stehen erst am Anfang unserer Geschichte, und an ihnen sehen wir, wo wir doch schon halten, wie viel wir schon wissen vom Guten und vom Bösen." 65 „Kindheit" und „Grausamkeit", in der liberalen Mainstream-Ideologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts einander ausschließende Attribuierungen, sind in Herzls Feuilleton versöhnt in einer Amalgamierung von religiöser Schöpfungsgeschichte u n d liberaler Aufklärungsgeschichte: „Wildheit" entspringe voraufgeklärter „Angst". Dennoch - und nun wird in der Deskription der Ausgestellten wieder der Diskurs gewechselt - vermag der darwinistisch belehrte Blick die Inszenierung durch physiognomische Analyse zu durchschauen: „Es sind Kerle wie aus Bronze gegossen, hart und sehnig, mit mächtigen Kinnladen, wulstigen Lippen, schwarze Wolle auf d e m Schädel. Und mancher hat sichtlich seinen Beruf verfehlt, wenn er den Kindern der Weißen harmlos gezeigt wird." Denn : „Er ist dazu aufgelegt, in die Dörfer anderer Negerstämme einzufallen, zu sengen und zu morden in roheren Formen des Daseinskampfes, als wir sie kennen." Vollends fallt ein sentimentales Bild von Mutter und Säugling der Naturalisierung anheim: „Und wenn sich die weiche, kleine Wange

64 65

Herzl: Juli-Sonntag im Prater, S. 142. Vgl. auch Felix Saiten: Wurstelprater. Wien, Leipzig 1911, Kap. „Fünf-Kreuzertanz", mit analogem Vokabular. Herzl: Menschengarten, S. 156. Die Passage enthält ein Kryptozitat aus Toblers Fragment „Die Natur", das Haeckel der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" voranstellte (vgl. Kap. 1).

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an d e m Rücken reibt, so ist das dem armen Muttertier [!] wohl die lauterste Wonne des Lebens. [...] Denn das ist eine Maya vom Fleische und Blute der Pflegerin." 6 6 Der souveräne Stolz, den Gustav Jäger mit seiner Zoogründung dem Menschen austreiben wollte, ist immun gegen die Relativierung durch die Begegnung mit der Natur; die Relativierung ist ohnmächtig gegen die naturalistische Unterfütterung einer spontanen Geschichtsphilosophie der Zivilisierten. Herzls darwinistische Physiognomik, die gegen die Doxa der Besuchermassen an der Wildheit und Gefährlichkeit der Ausgestellten festhält, wird durch andere professionelle Betrachter von Wilden bestätigt. D e m aus Wien stammenden Berliner Anthropologen Felix v. Luschan 67 wird im selben Jahr in der Berliner Kolonialausstellung die Aufgabe übertragen, die Ausgestellten zu vermessen. Seine Beschreibung der Kolonisierten zerfallt zeitüblich in eine physische Klassifikation und eine ethnographische Beschreibung, also in „quantitative" („Physische Anthropologie") und „qualitative" Analyse („Ethnographie"). Als Bindeglied wird den Einzelbeschreibungen der Afrikaner eine kurze Charakteristik ihrer Gemütseigenschaften nachgestellt, die lediglich auf dem Eindruck beruhen kann, den die Gemessenen während der Messung auf die Messenden gemacht haben; sie stützt die physische Analyse. Der Dualla-Mann „Martin" aus Kamerun (Luschans Katalognummer 76) wird eingeschätzt als „Richtiger ,Hosen-Nigger'; seine psychischen Eigenschaften entsprechen vollkommen dem Bilde, das man sich nach seiner schlechten Stirne und seinen mächtig entwickelten Fresswerkzeugen von ihm machen kann." 6 8 Widerstandslose Bereitschaft zur wissenschaftlichen ,Mitarbeit' hat die Beschreibung „Beschränkt, gutmütig, höflich" (Nr. 85, „Gaiga Bell", Kamerun) zur Folge 69 , während Widerstand mit d e m Vermerk „Verweigert die Messung; dummdreister Bursche, der richtige Hosen-Nigger!" 70 geahndet wird. Wird Wissenschaft von den Ausgestellten mit ihrer marktfÖrmigen Kehrseite in der Ausstellung 66 67

68 69 70

Herzl: Menschengarten, S. 157. Zu Luschan jetzt Marion Melk-Koch: Zwei Österreicher nehmen Einfluß auf die Ethnologie in Deutschland: Felix von Luschan und Richard Thurnwald. In: Kulturwissenschaft im Vielvölkerstaat. Zur Geschichte der Ethnologie und verwandter Gebiete in Osterreich, ca. 1780 bis 1918. Hgg. v. B. Rupp-Eisenreich u. J. Stagl. Wien, Köln, Weimar 1995, S. 132-140. Luschan: Völkerkunde. In: Deutschland und seine Kolonien, S. 205-269 u. Tafeln, S. 217. Luschan: Völkerkunde, S. 219. Luschan: Völkerkunde, S. 220; Nr. 90, „August"/Ewane, Kamerun.

370

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verwechselt, versuchen also die Objekte der Schaulust, sich selbst als Subjekte und „Künstler" in den Prozeß ihrer eigenen Vermarktung einzumengen, findet das gleichfalls Eingang in den anthropologischen Bericht: Nr. 82 ,,[h]at Visitekarte mit dem Namen Toby John, verlangt von mir, dass ich ihm gegen Bezahlung 6 Dutzend photographische Porträts mache, und scheint auch sonst recht beschränkt zu sein." 71 Die ganze Distanz zur aufklärerischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts mag man ermessen, vergleicht man mit dieser evolutionistisch verhärteten Beobachtungssituation den Besuch des Tahitianers Aotourou 1769/70 in Paris: „Während Bougainville Aotourou durch die Stadt führte und ihn bei Hof vorstellte, bemühten sich die namhaftesten Gelehrten um eine Unterredung mit ihm. Der Naturforscher La Condamine und Pereire, ein durch seine Forschungen über die Taubstummheit bekanntgewordener Dolmetscher des Königs, untersuchten in mehreren Sitzungen die Sprachorgane, den Geruchssinn und das gestische Ausdrucksvermögen des Südseeinsulaners, unterwarfen seine Auffassungsgabe und sein Kombinationsvermögen verschiedenen Tests und ließen sich dabei von Bougainville über die Sprache und die Sitten Tahitis unterrichten. Gemeinsam mit Aotourou besuchte Bougainville Buffon im Jardin du Roi [Jardin des Plantes, W. M.] und stellte ihn in den großen Salons d'Alembert, de Brosses, Helvetius und d'Holbach vor." 72 Altenbergs Skizzenreihe Ashantee73 enthält in der Erstausgabe, die im Frühjahr 1897 bei S. Fischer als zweiter Band der Collection Fischer erscheint, 33 Prosaskizzen; in der zweiten Ausgabe (innerhalb der vierten Auflage von Wie

71 72 73

Luschan: Völkerkunde, S. 218. Karl Heinz Kohl: Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation. Frankfurt/M. 1986, S. 225. Hervorh. W. M. Zu „Ashantee" vgl. Andrew Barker: „Unforgettable People from Paradise!": Peter Altenberg and the Ashanti Visit to Vienna of 1896-97. In: Research in African Literatures 22 (1991), H. 2, S. 57-70; Ian Foster: Altenberg's African Spectacle: „Ashantee" in Context. In: Theatre and Performance in Austria. From Mozart to Jelinek. Ed. by R. Robertson and E. Timms. Edinburgh 1995, S. 39-60. Der entlegen erschienene Aufsatz Barkers wurde wie andere seiner Arbeiten jüngst aufgenommen in A. B.: Telegrams from the Soul: Peter Altenberg and the Culture of fin-de-siecle Vienna. Columbia 1996 (S. 63-74), damit kann auch für andere Aufsätze Barkers auf diese Publikation verwiesen werden. Beide Arbeiten wurden mir erst nach Abschluß des Kapitels bekannt, weshalb gewisse Überschneidungen bei der alltagsgeschichtlichen Rekonstruktion leider unvermeidlich sind. Als Verf. den Aschanti-Aufenthalt in Wien zu recherchieren begann, durfte er das

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371

ich es sehe, 1904) sind dem Text weitere fünf Skizzen eingefügt. Die Skizzen geben einen panoramatischen Uberblick über „Peter Altenbergs" Begegnungen mit den Aschanti, seine erotischen „Occupationen" und die Institutionen des Aschanti-Dorfs im Prater; sie setzen ein mit einem Auszug aus Meyers Conversations-Lexikon über die Aschanti und enden mit einer Szene nach dem Abzug der Truppe im Spätherbst. Die Jahreszeit, zwischen Hochsommer und Spätherbst, ist deutlich. Historische Ereignisse außerhalb des Aschanti-Dorfs werden nicht angespielt; dennoch hat Altenberg seine Skizzen als aktuell verstanden. Seinem Verleger gegenüber ist er ängstlich darauf bedacht, Exemplare des Buches nach Stockholm schicken zu lassen, da die Truppe dort ihren nächsten Aufenthalt nehmen würde. 74 Das Erscheinen des Buches fallt mit der Reprise der Ausstellung 1897 in Wien zusammen. Im Gegensatz zu Altenbergs erstem Prosaband ist also der Erzählgegenstand „konkret" lokalisierbar, so enthält der Text über 40 Eigennamen von ausgestellten Afrikanern und eine Vielzahl von Wörtern der Odji-Sprache, wobei vorausgesetzt werden kann, daß ein Teil der Aschanti den Besuchern namentlich bekannt war. Altenbergs Namen sind mindestens zum Teil authentisch, fünf Namen können aus Zeitungsberichten verifiziert werden. 75 Namen von Weißen werden entweder nach dem Muster von Wie ich es sehe gekürzt („Frln. D.", „Monsieur R. de B."), durch Funktionsbezeichnungen ersetzt („Kellner", „Clerk") oder sind Ich-Figuren Altenbergs („ich", „Peter A.", „Sir", „Sir Peter", „Peter", „P. A.", „Herr Peter", „Mister Peter"). Inhaltlich zerfallen die Skizzen in mehrere Kategorien: Skizzen, die der „Liebeshandlung" („P. A."/„ich" und Tioko bzw. Nah-Baduh) zuzuordnen sind; Skizzen, die „Informationen" liefern (Der Hofmeister, Physiologisches, Ehebruch, Prügel, Mitgift, Erbfolge, Ritterlichkeit) und Skizzen, die einen „cultural clash", meist auf dem Feld der Erotik, inszenieren (L'homme mediocre, Complications, Akole, Kultur, Der Hofmeister, Gespräch). Besonders die dritte Kategorie ist für die Formierung der Ich-Rolle im Text bedeutsam.

74 75

Thema noch für ein entlegenes halten. Während der Fahnenkorrektur erreichte mich Marilyn Scott: A Zoo Story: Peter Altenberg's „Ashantee" (1897). In: Modern Austrian Literature 50 (1997), H. 2, S. 48-64. Es ist auffallig, daß diese kleine „Ashantee"-Literatur gänzlich dem angelsächsischen Sprachraum entstammt. Altenberg an S. Fischer, [Spätherbst 1897]. In: Samuel und Hedwig Fischer: Briefwechsel mit Autoren, S. 390. Kuaku, Bodje, Jaboley Domei, Mensah, Monambo und Nothei. Die Schreibung der Namen ist selbst bei Altenberg nicht kohärent durchgehalten und wird im folgenden in referierender Rede vereinheitlicht.

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Aschanti

Durch einen solchen „culturel clash", meist interveniert hier die IchFigur, werden nun systematisch alle Gruppen ausgeschlossen, die nicht ein den Aschanti entsprechendes Verhalten an den Tag legen; die Sprachregie leistet ein übriges. Der Sozialcharakter der „weißen" Personen ist durch ihren Soziolekt deutlich festgelegt: Oberschicht und Aristokratie sprechen deutsch mit französischen Brocken ( D e r K u s s , Complications), französisch sprechen Personen, die mit der Ausstellungsleitung zu tun haben („Clerk" in Der Hofmeister, Souper; die Speisekarte in Souper); eine Komplizenschaft ist angedeutet. Mit den Aschanti spricht die Ich-Figur Englisch ( P a r a d i e s , Der Abend, Le Cœur, Der Tag des Abschiedes), lernt von ihnen Odji ( Einmaleins), während die Aschanti-Kinder Englisch lernen (The school)-, Vertreter der Unterschicht sprechen ein dialektal gefärbtes Wienerisch Akole). Es zeigt sich, daß es sich bei den „ausgeschlossenen" Gruppen um Groß(Der Kuß, Kultur) wie Kleinbürgertum ( Akolé ), Aristokratie ( C o m p l i c a t i ons), Männer als Liebhaber ( Physiologisches, Uhomme mediocre) und Männer als Väter ( The school) handelt, u m Publikum, das sich nicht um die Aschanti bekümmert {Akole), und Publikum, das sich u m eine Beziehung bemüht {Kultur). Übrig bleiben lediglich die Ich-Figur und Altenbergs „kleine Mädchen" ( K l e i n - E l l a , Fortunatina in Der Hofmeister, Der Neger). Altenberg und seine Personae sind die einzigen, die mit den Aschanti ohne Kulturkonflikt und mit gelungener Erotik interagieren; er ist der einzige, der Informationen von den Aschanti über sich selbst bekommt; der einzige, der sich ohne Interessen für sie interessiert. „P. A . " ist auch (mit Ausnahme des Tiergartendirektors, der in zwei Skizzen erscheint) der einzige Weiße, der mehr als einmal auftritt und so die Einheit der Skizzenreihe stiftet. Die „kleinen Mädchen" konkurrieren mit der Ich-Figur weder in erotischer Beziehung noch als definitionsmächtige Semantisierungsinstanzen. Sie gehören nach der Ideologie des Revolutionärs in Wie ich es sehe (und anderer Texte) in prästabilierter Harmonie zu den Mächten des „Lebens", denen immer schon zugefallen ist, was sich „der M a n n " im U m w e g über historische Stufen erst wieder erwerben muß; sie sind daher dem Objektbereich der Anstrengungen und Verstrickungen der Ich-Figur zugeordnet. Die „ausgeschlossenen" Gruppen gehören zu jenen, die sehen und doch nicht sehen, das härteste Verdikt des „Impressionismus", und demgemäß als unqualifizierte Beobachter dastehen. Den Status des qualifizierten Beobachters und Deuters behält sich die Ich-Figur/„P. A."/Altenberg selbst vor. Es ist signifikant, daß Altenberg gerade jene Ereignisse im Aschanti-Dorf aus den Ashantee-Skizzen ausschließt, die zu den massenwirksamsten Sen-

373

Anthropologie und Exotismus bei HerzI und Altenberg

sationen der Ausstellung gehörten. Die Zeitungen berichten detailliert über den Tod und das Begräbnis des Schmieds John Ahadji und sein rituelles Begräbnis 76 , eine Taufzeremonie 77 , das Fest im Prater zum Geburtstag des Kaisers 78 , ebenso das „Programm" der Kriegstänze 79 ; die Gerichtsverhandlung und Auftritte, die die Aschanti in der Öffentlichkeit absolvieren. 80 Der Auszug der Aschanti am Ende der Ausstellung wird gleichsam privatisiert, indem er auf eine Szene zwischen „Peter" und Nah-Baduh am Waggonfenster zugespitzt wird; immerhin müssen mehrere tausend Schaulustige im Hintergrund gestanden sein. 81 Altenbergs Text solidarisiert sich mit den Ausgestellten gegen die „Zeitungen", die der Komplizenschaft mit der Unternehmensleitung bezichtigt werden, indem in Anverwandlung an die „Opfer" die Erzählerstimme Odji-Brocken übernimmt: Ein kalter September-Abend. [...] Aber in den Zeitungen steht: „Unsere schwarzen Fremdlinge im Tiergarten haben nichts von ihrer Laune eingebüßt. Die Unternehmung ist nach wie vor bemüht, dem Publikum ." Der Wind erzeugt in den Eschen Schüttelfrost 263 f.)

. Brübrü, man fröstelt. (AW 1,

Jene Position des „privilegierten Beobachters" erwirbt sich Altenberg über die Skizze Der Hofmeister. Der Hofmeister exponiert den Doppelcharakter des Zoos als Bildungsinstitution (pädagogisches Setting) und kommerzielles Unternehmen, indem er die pädagogische Instanz gegenüber dem Publikum recht behalten läßt. Das Publikum, das den kapitalistischen Cha-

76

77 78 79 80

81

Neuigkeits-Welt-Blatt (Wien), 11. 10. 1896 (Bild); (Das Aschantidorf in Trauer.) In: Neues Wiener Tagblatt, 5. 10. 1896, S. 4; Tod eines Aschantinegers. In: Arbeiter-Zeitung (Wien), 5. u. 6. 10. 1896, S. 5; (Die Todtenfeier des Aschanti-Waffenschmiedes.) In: Neues Wiener Tagblatt, 6. 10. 1896, S. 7. (Tauffest im Aschantidorf.) In: Neues Wiener Tagblatt, 30. 8. 1896, S. 4; Eine Aschanti„Taufe". In: Arbeiter-Zeitung (Wien), 30. 8. 1896, S. 4. Illustriertes Wiener Extrablatt, 20. 8. 1896, S. 1 (Bild). E. d'Al.: Auf friedlichen Kriegspfaden. (Die Kriegsspiele der Aschanti im Thiergarten.) In: Neues Wiener Tagblatt, 20. 7. 1896, S. 1 f. Belegt sind etwa Auftritte der Aschanti am Naschmarkt (vgl. Neue Freie Presse, 17. 7. 1896, S. 7), im Carl-Theater (vgl. Neue Freie Presse, 14. 10. 1896, S. 7) und in der Hofoper (vgl. Neues Wiener Tagblatt, 22. 8. 1896, S. 5). (Der Auszug der Aschantis.) In: Neues Wiener Tagblatt, 20. 10. 1896, S. 7.

Aschanti

374

rakter der U n t e r n e h m u n g aktualisiert, wird also in die Nähe der Unternehm u n g selbst gerückt. „Das Publikum" unterbricht ü b e r Vermittlung des „Clerks" d e n intimen Austausch von „Peter" u n d Aköschia („Sie raucht, lächelt milde, möchte gar nicht aufstehen, u m den Fetisch-Priester-Tanz mitzumachen, welcher u m 10 U h r d e m geehrten Publikum vorgeführt wird." [AW I, 243]), in der zitierten „Zeitungs"passage stehen „ U n t e r n e h m u n g " u n d „Publikum" in falscher Vereinnahmung gegen ,,[u]nsere schwarzen Fremdlinge". Auch die „pädagogische" D i m e n s i o n erfahrt eine Verschiebung. K o m m t es in der Hofmeister-Skizze zu einer durch den Hofmeister d e r mit Altenberg/Engländers Attributen Spazierstock 82 u n d Zwicker ausgestattet ist - induzierten Begegnung zwischen seiner Schülerin Fortunatina (!) u n d d e m Aschantimädchen Tioko, die die als „natürlich" supponierte Korrespondenz zwischen d e n beiden herstellt (wogegen die Analyse des Knaben Oscar: „,Tioko ist eine Interessierte, ganz einfach.'" [AW I, 235] v o m „ L ' h o m m e mediocre" w i e d e r a u f g e n o m m e n wird), folgt als nächste Skizze ein Dialog zwischen Tioko u n d einer als „Sir" u n d „ H e r r " angesprochenen Figur (Gespräch); The school reflektiert unpersönlich, in Einmaleins erscheint ein „Ich" (auch in Der Kuss), in d e r achten Skizze (Kultur) spricht schließlich „Peter A.". In Einmaleins kehrt sich die pädagogische Situation u m : „Ich lerne fleißig: ekö 1/ enyo 2 [•••]"; damit „ich" „soufflieren" kann, ,,[w]enn bibi Akole geprüft wird" (AW I, 240), m u ß er sich Auskunft von einer „Negerin" holen, e i n e m native Speaker. In Der Kuss interveniert „ich" („Auf m e i n e m Schöße saß bibi Akole [...]", [AW I, 244]) in e i n e m interkulturellen Zusammenstoß; in der Skizze Kultur, in der ein Diner „bei Frau H . " beschrieb e n wird, zu d e m zwei schwarze M ä d c h e n geladen sind, erscheint „Peter A." bereits als Interpret d e r Schwarzen f ü r die Weißen, d e r die Haltungen u n d Handlungen der Gäste deutet: Die beiden Akole aßen wie englische Damen vom Hofe der Königin. „Sehr viel Einbildung, diese Paradies-Menschen — ", sagte Frln. D. „Jawohl!" erwiderte Peter A. Fräulein D. errötete. [...] Peter: „Neger sind Kinder. Wer versteht diese?! Wie die süße stumme Natur sind Neger. [...]" (AW I, 245)

82

Vgl. Altenberg: Der Spazierstock. [1909] AW II, 173 f.

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575

Bei aller erotischen Verstrickung, die dem „ich" bzw. „Peter A." widerfährt, kann leicht übersehen werden, daß Altenberg für sich eine Rolle arrogiert, die mit dem Seelentröster unverstandener Frauen in Wie ich es sehe wenig zu tun hat. Altenbergs Ich-Figur in Ashantee agiert vielmehr als planvoll handelnder Ethnologe, der in der Skizzenreihe die Ergebnisse einer teilnehmenden Beobachtung mitteilt. (Anthropologische und ethnologische Forschungsreisen, vornehmlich nach Afrika, werden bereits seit den 1870er Jahren unternommen.83) Die Auskunftspersonen werden auf die Probe gestellt, damit ihr Wertsystem in Erfahrung gebracht werden kann: Paradies. „Was möchtest du a m liebsten von d e r Welt, T i o k o ? ! " „ G r e e n bills cutted, Sir

. " (Geschliffene g r ü n e Glasperlen).

„Und?!" „ A n d lila bills cutted, Sir

."

„Und?!" „ A n d nothing, Sir — . " (AW I, 246)

Dialoge nehmen die Form des Interviews an, besonders in der zweiten Textfassung: Mitgift. „Wie ist es bei euch mit der Mitgift, S a m s o n A d u k u e ü ? " „ D e r M a n n , der ein M ä d c h e n heiraten möchte, oh Herr, bezahlt natürlich

den

Eltern einen Preis, u m das M ä d c h e n zu b e k o m m e n ! "

„Natürlich!.]"

(AW I, 261)

Charakterisierende Beschreibungen werden gegeben (Die Hütten [Abends.J), auch der Institutionen des Dorfes ( T h e school); wie auch immer sympathisierend und ästhetisierend verdreht, bleibt in der Struktur auch der anthropologische Blick auf die Schwarzen in Altenbergs Text erhalten: „Aköschia: Slawischer Gesichts-Typus. Madonna von Hynais, böhmischfranzösisch. Kollier von tausend hellbraunen und dunkelbraunen Perlchen.

83

Vgl. I. Schwidetzky: Geschichte der Anthropologie. In: Anthropologie. Handbuch der vergleichenden Biologie des Menschen. Hgg. v. R. Knußmann in Verb, mit I. S. u. a. 5 Bde. Stuttgart, New York 1988, Bd. 1, Tl. 1, S. 47-126, S. 97.

576

Aschanti

Ohrgehänge aus Gold-Filigran. Tadelloser Körperbau. Haut wie Seide." (AW I, 242) Tatsächlich hat Altenberg selbst seine literarische Tätigkeit oft mit Bildern aus d e m naturwissenschaftlichen Diskurs (ein Teil dessen die biologisch dominierte Anthropologie der Zeit war) charakterisiert; der Vergleich seiner literarischen Produktion mit „Extracten" aus dem „Liebig-Tiegel" gehört in dieses Feld. 84 Egon Friedell bemerkt: „Er verhält sich zu allen bisherigen Frauenpsychologen wie der wissenschaftliche Naturforscher zum mythologischen Erklärer der Natur." 8 5 Max Messer, ein Bekannter Schnitzlers und Altenbergs, benützt in seiner Ashantee-Rezension das Bild des reisenden Ethnologen: „Wie ein durch unbekannte Erdtheile Reisender durchforscht er die Gebiete der menschlichen Psyche, vor allem das dunkle räthselvolle Reich der Frauenseele" 8 6 , u n d bringt so - durchaus im Sinn Altenbergs - die „Frau" mit Afrika („unbekannte Erdtheile"/„das dunkle räthselvolle Reich") zusammen. Die Ashantee-Skizzen beginnen mit einem Lexikon-Auszug, der geographische, ethnographische und historische Fakten beibringt; Literaturangaben charakterisieren den Text als „wissenschaftlich". D e r Hofmeister besorgt seinem Schützling Brehm, die Aguti werden mit d e m lateinischen Klassifikationsnamen genannt. Die Aschanti selbst heißen titelgebend Ashantee, was ihrer korrekten englischen Bezeichnung entsprach u n d ihrem Namen in der ethnologischen Literatur. Uberall sonst taucht im Wiener Ereignis die Form „Aschanti" oder - anfangs - „Ashanti" auf, „Ashantee" nie. (Die Londoner Nationalbibliothek, zu deren Sammlungsgebiet der englische Afrika-Kolonialismus gehörte, hat Ashantee als erstes von Altenbergs Büchern angekauft.) Gerade die Textmarke Brehm im Hofmeister soll nicht nur bildungsbürgerliche Populärwissenschaft pädagogisch präsent machen, sondern verweist auf den „systematischen" Ort von Altenbergs Prosa. D e r Darwinist und spätere Zoodirektor Alfred Brehm, der in Wien nicht nur Vorträge gehalten, sondern auch eine enge Verbindung zum liberalen Kronprinzen Rudolf 8 7 gepflegt hat, hat als erster die zoologische Systematik in eine Tier-

84 85 86 87

Altenberg: Selbstbiographie. [1899] In: Das Junge Wien. Bd. 2, S. 961 f. Egon Friedell: Peter Altenberg. In: E. F.: Ist die Erde bewohnt? Theater, Feuilleton, Essay, Aphorismus, Erzählung. Hgg. v. R. Lehmann. Berlin 1990, S. 146-173, S. 171. Max Messer: Peter Altenberg und sein neues Buch „Ashantee". [Wiener Rundschau, 1. 6. 1897] In: Das Junge Wien. Bd. 2, S. 722-725, S. 725. Vgl. Brigitte Hamann: Rudolf: Kronprinz, und Rebell. 3. Aufl. München 1991, S. 112-134.

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377

psychologie überführt, die das lebende Tier in seinen Umweltbeziehungen darstellt; das Säugetier rückt in eine Beziehung zum Menschen, indem es Aspekte seiner Seelentätigkeiten teilt. 88 Die refrainartige Wiederholung „Fortunatina und die Löwin" zielt also gleichermaßen auf das Dargestellte wie auf Altenbergs Darstellungsinteresse einer Psychologie am lebenden, agierenden Objekt. Wenn der Hofmeister Fortunatina Brehm-Lektüre verspricht, zeigt Fortunatinas Reflexion, daß sie mit den Darstellungsmitteln Brehms bereits vertraut ist; als der Hofmeister gegenüber einem Brehmschen Löwenjäger allzusehr abfällt, führt er das Mädchen weiter zu den Aschanti. Gegen Albert Königsberg mobilisiert im Revolutionär die unwissende Familie Gefühle: „Sie fühlten sich solidarisch mit dem Familienleben der verheirateten Schwester, sie empfanden selbst theoretische Erörterungen, welche wie Naturwissenschaft klangen, als eine Verletzung, eine Störung desselben. Sie dachten: ,Die Wissenschaft des Menschen, wozu?!'" (AW I, 96) In Ich liebe dich verlangt „ S i e " eine populärwissenschaftliche Didaktik, die nicht gegen die Naturwissenschaft gerichtet ist, sondern die LehrerSchüler-Dichotomie in einem emphatischen Zusammenhang aufhebt: „Lehre mich Botanik. Aber nicht wie in der Jugend, wie viele Staubgefäße jede Blume hat, wie sie lateinisch heißt, wo man sie findet. Lehre mich das Tiefe, wie sie wird und stirbt und niemals aufbegehrt und wieder wird [...]." (AW I, 127 f.) In Genie und „homme médiocre" (aus d e m Revolutionärin Wie ich es sehe) behält der nicht sprechende junge Pasteur gegen „Professor M . " recht, der moniert, daß Pasteur nicht durch „streng logische[ ] Forschungen" zu „diesem allerdings richtigen und überraschenden Resultate gelangt" sein könne und vielleicht „ein Philosoph [ . . . ] , ein Dichter" sei, aber kein „Mann der Wissenschaft" (AW I, 121). Philosoph, Genie, Dichter und Wissenschaftler sind bei Altenberg keine unvereinbaren Rollen. In der Mikrostruktur der Prosaskizzen ist dieses didaktische Schema bewahrt; was Burkhard Spinnen als emblematische Struktur von Altenbergs Prosa aufgewiesen hat, kann durchaus als didaktische Form verstanden werden. 89 Denn häufig haben Altenbergs Skizzen - wenn sie nicht einsinnig et-

88

Vgl. Erhard Oeser: „Brehms Tierleben" wissenschaftstheoretisch betrachtet. In: Mitteilungen der österreichischen Gesellschaft für Geschichte der Naturwissenschaften 6 (1986), S. 73-77.

89

Spinnens Darstellungsinteresse geht zwar im Gegenteil dahin, zu zeigen, wie sich bei Altenberg eine allegorische Form im Sinn Walter Benjamins einstellt, Altenberg „zer-

378

Aschanti

was zu proklamieren haben, wie im lebensreformerischen Prodromos - die Struktur von Bild und Kommentar, von Fehlverhalten und Richtigstellung, von Konflikt (A versteht B nicht) und Vermittlung, wobei der intervenierende Dritte meist Altenbergs Ich-Figur ist; von Konflikt, scheinbarer Niederlage und tatsächlichem Rechtbehalten des Unterlegenen, eine Figuration, die mittels Altenbergs Leitmotiv-Technik hergestellt wird. So hat der Beobachterstatus, den Altenberg einnimmt, innerhalb seines in Wie ich es sehe ausgebreiteten evolutionären Szenarios auch einen gewissen systematischen Sinn: Der Prophet ist der vorwärts gewandte Naturhistoriker. Bei Altenberg ist das „sehende" Individuum „Vorläufer" für alle und deshalb vor dem Objekt einsam. Das Selbstbekenntnis zum „Sehen" sollte nicht aus diesem Schema gelöst werden (Skizze Individualität). Die in der AltenbergLiteratur eingebürgerte Dichotomie von einer Schreibweise, die Altenberg als Dichter ausweise, und den Inhalten, die lediglich zum Anekdotenschatz um Altenbergs Person gehörten, hat bereits Karl Kraus aphoristisch inauguriert: „Er ist ein Seher, wenn er sieht, aber er ist bloß ein Rufer, wenn er ein Seher ist." 90 Diese Trennung reißt aber auch ein grundlegendes Konzept auseinander, auf dem (mindestens) Altenbergs frühere Prosa aufruht, daß nämlich „Seher" und „Seher" keine bloßen Äquivokationen sind. Die „Künstler-Seele" ist der „einzig hindernislose[] Organismus", durch den das „Leben" hindurchgehen soll, und „gesund, reich, voll und unbetrogen um sich selbst und seine Fülle, als Drama, als Komödie wieder heraus" gelangt. „Erd-Geruch!" (AW II, 78); diese Künstler-Seele, ein „Kraft- und Saft- strotzende[r] Ur-Organismus", bereichert das „Leben" mit seinen „Welten-Kräften", „und während es, eintretend, ein für sich ereignendes Ein-

90

schlägt" so „die literarischen Produkte realistischen Erzählens, d. h. die Literatur des 19. Jahrhunderts!" (S. 154). Jedoch ist auch die Didaxe eine Form, die nicht einfachhin mit der realistischen Literatur des „19. Jahrhunderts" identifiziert werden kann; zweitens ist ja gerade das Emblem eine didaktische Form par excellence; drittens muß man das Interesse Spinnens nicht teilen, Altenberg als „modernen" Autor vorzustellen; viertens gilt Spinnens Interpretation eingestandenermaßen eigentlich nur für „Wie ich es sehe", und hier im besonderen für „See-Ufer"; schließlich ereignen sich die textuellen Prozesse „hinter dem Rücken" des Autors. Im übrigen teilt Spinnen mit dem Gros der AltenbergLiteratur den Ansatz, Altenbergs Proklamationen geringzuachten. Burkhard Spinnen: Schriftbilder. Studien zu einer Geschichte emblematischer Kurzprosa. Münster 1991. Kap. 4: Impressionistische Emblematik: Peter Altenbergs Prosaskizzen, S. 107-174. Karl Kraus: Peter Altenberg. [1909] In: K. K.: Schriften. Hgg. v. Ch. Wagenknecht. Bd. 2: Die chinesische Mauer. Frankfurt/M. 1987, S. 187-190, S. 189.

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zel-Sein darstellte, wird es, austretend, zugleich mit seinem Einzel-Sein ein Gesamt-Ereignis, ein Vorbildnis fur alle, alle Seelen." (AW II, 78 f.) Dieses gelegentlich Hauptmanns Fuhrmann Henschel ausgesprochene „impressionistische" Manifest, das auch Altenbergs eigene Arbeitsweise vorstellen soll, fahrt fort: „Dieses für-Alle-Werden eines Einzel-Ereignisses, welches sich dennoch in nichts, in nichts verändert hat, ist das Mysterium und die Tat des modernen Dichters. Indem er bescheiden und selbstlos dem unscheinbaren Ereignisse des Tages lauscht, hört er die Zukunft, die Vergangenheiten leise mitsingen. Der moderne Dichter verzichtet gleichsam auf seinen eigenen Geist, seine eigene Seele ! Die Natur gibt ihm dafiir die ihrige. Als Belohnung, daß er sie nicht fälschte." (AW II, 79) Der Text, der tatsächlich als Rezension erschienen ist91, korrespondiert mit einem vielzitierten selbstexplanatorischen Text, der Skizze Individualität \on 1903/04 92, der die richtige Betonung seines ersten Buchtitels zum Thema macht. „Wie ich es sehe" sei zu sprechen, da Individualität nichts anderes sein dürfe als ein „Erster, ein Vorläufer in irgend einer organischen Entwicklung des Menschlichen überhaupt, die aber auf dem naturgemäßen Wege der möglichen Entwicklungfiir 1 alle Menschen liegt!" „Der Dichter ist nie der ,Einzige . Dann wäre er wertlos, ein Seelen-Freak! Er ist der ,Erste1. [...] Wahre Individualität ist, das im voraus allein zu sein, was später alle, alle werden müssen!" Der Einzige, oder, näher an Altenbergs Sicht durch die Zeitgenossen, ein „Original", ist „eine armseelige Spielerei des Schicksals mit einem Individuum", als „[falsche Individualität" „ein zufälliges Spiel der Natur", „wie ein weißes Reh oder ein Kalb mit zwei Köpfen. Wem nützte es denn?!? Es gehörte in ein Kuriositäten-Kabinett der Menschheit!" (AW II, 94 f.) Gerade Altenbergs Beispiele reihen sich bruchlos in sein evolutionistisches Geschichtsbild ein. Der Albinismus („ein weißes Reh") galt als sinnlose, dysfunktionale Aberration, sein Erbgang war zeitgenössisch nicht zu entschlüsseln; ein „Kalb mit zwei Köpfen" verwies auf eine Störung in der Embryogenese, in der älteren Terminologie Etienne Serres' ein „monstre par excès"93, das vorhandene Anlagen ebenso dysfunktional bloß verdoppelte, jedenfalls

91 92 93

Fuhrmann Henschel. In: Extrapost (Wien), 23. 1. 1899, anläßlich der Erstaufführung im Burgtheater. Später in „Was der Tag mir zuträgt" aufgenommen. Die Skizze erschien zuerst im ersten Jahrgang der Zeitschrift „Kunst" (Wien) und wurde von Altenberg in „Prodromos" aufgenommen. Dazu Stephen Jay Gould: Ontogeny and Phylogeny. Cambridge/Mass., London 1977, S. 51.

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keine „Höherentwicklung", bedeutete, umso weniger zuließ. Beide Formen zählt Haeckel zur „monströsen Abänderung". 94 Das evolutionistische Szenario war den Zeitgenossen ohne weiteres geläufig, wie schon das Beispiel der Feuilletons Herzls zeigt. Max Messer verdeutlicht in seiner Rezension diesen Hintergrund mit Zitaten aus Altenbergs erstem Band; „Jünglinge und Frauen" verstünden Altenbergs Bücher als „gleichsam von einer späteren Zeit herab uns gegeben", während „der Mann in der grausamen Sphäre des Bewussten mühsam, irrend u n d voll Qualen kaum die Anfänge der Menschheitsentwicklung vom Thiermenschen zum Gottmenschen erarbeitet hat". 95 Messers Interpretation, Altenberg rufe „uns nicht zu: Werdet wie sie [.. .]! Die Jahrtausende, die uns zu dem machten, was wir sind, kann unser Wille nicht unwirksam machen", träfe sich mit Wolf Lepenies' Befund zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts, die „Wilden" würden „geschätzt, weil ihr Leben die Folie zur Kritik unserer eigenen Gesellschaft" liefere, der „Naturzustand" Rousseaus sei ein „methodischer Begriff'. 9 6 Messer: „Wir können in dieses frühere Stadium der Menschheit nicht zurückkehren, aber wir können die Quellen seiner Stärke, seiner Friedlichkeit, seines ruhevollen Glückes aufsuchen und wie Kranke an Heilwässern uns in ihnen laben, aufrichten, kräftigen." 97 Insofern ist Altenbergs Text tatsächlich ein später Erbe der Konzepte der „guten Wilden" der Aufklärung, mit deren Texten er auch die didaktische Emphase teilt. Die Unterschiede sind dennoch festzuhalten: Am Ende des 19. Jahrhunderts kann sich Kulturkritik mit „Wilden" nicht mehr auf einen ungeteilten Menschheitsbegriff verlassen. Der Kulturfortschritt der Zivilisierten, der selbst in der schwärzesten Aufklärungsanthropologie den Unzivilisierten mindestens offenstand, wenn nicht aufgezwungen wurde, war nicht in einem somatischen Substrat von „Fortschritt" begründet. Zweitens standen die Anthropologen der Aufklärung mit ihrer wie ethnozentrisch auch immer agierenden Wissenschaft in einem bürgerlich-universalistischen Emanzipationskontext, der Ende des 19. Jahrhunderts bestenfalls als Imperialismus erhalten ist und auch die literarischen Autoren nicht mehr umfaßt, auch nicht außerhalb der „Wiener Moderne". Drittens schließlich ist die Form des Kulturen-

94 95 96 97

Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte. [...] 6., verb. Aufl. Berlin 1875, S. 205. Messer: Altenberg und sein neues Buch „Ashantee", S. 725. Wolf Lepenies: Soziologische Anthropologie. Materialien. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1977, S. 99 u. 111. Messer: Altenberg und sein neues Buch „Ashantee", S. 722.

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Vergleichs in der Konkretion der Völkerschau bereits so stark in die dominanten gesellschaftlichen Formationen eingelassen, daß alternative Konzepte von Kulturkritik, die die eigene Kultur tatsächlich verfremdet zu treffen vermöchten, an ihrem Beispiel kaum zu denken sind. Auf den ersten Blick scheint merkwürdig, daß Altenbergs Geschichtskonzept, das er in anderen Kontexten bereitwillig expliziert, gerade in den Ashontee-Skizzen ausgeklammert scheint. Nur über Brücken werden evolutionistische Modelle heranzitiert. So verweist der Vergleich: „Neger sind Kinder" auf das „Biogenetische Grundgesetz", daß die Ontogenese die Phylogenese wiederhole, also die individualgeschichtliche Entwicklungsstufe eine bereits überholte Lebensstufe in der Naturgeschichte repräsentiere. Die Skizze Der Neger präsentiert ,,[e]in kleines wundervolles einäugiges blondes Mädchen", das „einen riesigen Neger überall mit sich" schleppt, im Zirkus: „Da sitzen sie beisammen in der Loge des Zirkus. Etwas Magnetisches, eine Welt-Sympathie, die Kondensatoren aufgestapelter Liebesströme der Natur: die Seele des Kindes, das Rückenmark des Wilden!" (AW I, 249) Der Konnex von „Negern" und Kindern wird gleichfalls explizit ausgesprochen: „Neger sind Kinder. Wer versteht diese?! Wie die süße stumme Natur sind Neger. Dich bringen sie zum Tönen, während sie selbst musiklos sind." (AW I, 245) Im ganzen nehmen die Aschanti in Ashantee die Position ein, die der „Frau" bzw. a fortiori dem „Mädchen" in Altenbergs frühen Skizzen zugewiesen wird. Altenbergs Natur- und Geschichtsbild ist nicht eigentlich darwinistisch, da es die mechanische Kontingenz von Entwicklung theo-teleologisch absichert und so die Kontinuität von Natur- und Weltgeschichte herstellt: „Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff wissen die Rose!" (AW I, 100) Diese Teleologie ist dennoch keineswegs antidarwinistisch, sondern ein Effekt des älteren liberalen Progreßmodells. Im Gegenteil dürfte die neoteleologische Adaption „Darwins" bis zur Jahrhundertwende eher die Regel als die Ausnahme gebildet haben; bis zu Weismanns Keimplasma-Theorie auch im fachwissenschaftlichen Diskurs, im kollektiven Bildrepertoire der Epoche vielleicht bis heute. Die Teleologie behindert aber nicht die gleichzeitige Aufnahme und Verarbeitung der anderen Bilder und Szenen von Darwins Evolutionsphantasie, wie den „Kampf ums Dasein". Sie erleichtert gleichwohl das Changieren zwischen Naturwissenschaft und religiöser Phantasie und Bildlichkeit, wie das bei Herzl bereits gezeigt wurde; ähnlich verdient bei Altenberg in dieser Beziehung das Wortfeld „Paradies" Beachtung.

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Bei Altenberg sind die Afrikaner „Paradies-Menschen" (AW I, 245) mit „Paradieses-Augen", den „sanftesten Augen von der Welt" (AW I, 238) und leben im „Feenreich". An seine Freundin Holitscher schreibt Altenberg: „So war es im Paradiese. Nackte, wunderbar gewachsene, freie Menschen mit Frieden. Ich lerne viel dort. Bei den Ärmsten ist das Himmelreich. [...] Elende Tiere der Cultur, ich verstehe es, daß ihr diese ,Menschen' nicht als Euresgleichen ansehet!!" 98 Besonders am Beginn des Textes werden die Aschanti als „sanft" eingeführt, wörtlich mindestens vierzehnmal. „Fortunatina fühlte: ,Alle sind sanft, Tioko, die arme Löwin, der Hofmeister. Wie im Paradiese ist es eigentlich, wo Menschen und wilde Tiere "' (AW I, 235). „Diese erbebte vor Paradieses-Freude." (AW I, 236) „Paradies" ist - im evolutionistischen Kontext - kein unbelastetes Wort. In der Konkurrenz um kulturelle Hegemonie mit den Kirchen werden von der „Wissenschaft" geradezu planmäßig Termini der religiösen Semantik für den eigenen Bereich reklamiert; als Belege können Titel wie Natürliche Schöpfungsgeschichte (Haeckel) und Neuere Schöpfungsgeschichte (DodelPort) dienen. Ein „Paradies" gibt es auch bei Haeckel. Haeckel bezeichnet damit die hypothetische - Urheimat des monophyletisch gedachten Menschengeschlechts, „Lemurien" 9 9 , an der die Aschanti als „Guinea-Neger", die in Haeckels systematischer Phylogenie den vierten Platz einnehmen (nach Papuas, Hottentotten und Kaffern, die „Mittelländer" haben den höchsten Rang 12), verdächtig nahe liegen. Übrigens haben auch Altenbergs Aschanti Sinn für ihren Platz in der Welt: Als Tioko das Setting der Ausstellung als Täuschung für das Publikum entlarvt, läßt Altenberg sie sagen: ,„Wilde müssen wir vorstellen, Herr, Afrikaner. Ganz närrisch ist es. In Afrika könnten wir so nicht sein [nackt, W. M.]. Alle würden lachen. Wie ,men of the bush', ja, diese. In solchen Hütten wohnt niemand. Für dogs ist es bei uns, gbe. Quite foolish." (AW I, 237) Bei Haeckel haben die „Buschmänner" als „Hottentotten" Rang zwei, Homo hottentottus. Im Sinn dieser Klassifikation werden die Aschanti im Vorspann der Ashantee-Skizzen aus Meyers Conversations-Lexikon als „echte, kraushaarige Neger" verortet. Ein Aspekt der Evolutionslehre ist bei Altenberg dennoch vollständig ausgespart: der „Kampf ums Dasein". Gerade dieses Motiv wäre nahegelegen 98 99

Altenberg an Annie Holitscher, 11.8. 1896. In: Altenberg. Leben und Werk, S. 164 f., S. 165. Vgl. Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte. 6. Aufl., S. 619 u. Tafel XV.

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bei der Ausstellung eines Volks, das durchaus Schlagzeilen gemacht hatte; die Aschanti waren ja gerade kein „geschichtsloses" Volk, sondern hatten ihre autochthonen Institutionen bis 1896, dem Jahr der endgültigen Überwindung, durchaus erfolgreich gegen die britische Kolonialmacht verteidigt; die blutigen Aschantikriege waren Auslöser für andere koloniale Befreiungsversuche. Der Name Goldküste, den Altenberg im unechten Reim „Goldküste, Westküste" poetisiert (AW I, 231; 247: „Westküste, Goldküste"), verweist auf eine lange Kolonialgeschichte, besonders eine des Sklavenhandels. Im Kriegerischen, das der gutinformierte Redakteur Herzl in der Physiognomie der Aschanti als Zeichen der „roheren Formen des Daseinskampfes" wahrnimmt, wird diese Geschichte noch in der offensichtlichen Uberwindung und Pazifizierung durch die Ausstellung erinnert; zum anderen war auch die Ausstellung selbst auf diese Erinnerungen und dieses Vorwissen des Publikums angewiesen, indem sie den Krieg in die pädagogische Inszenierung einbezog und in „Kriegsspielen" vorführte: „Freilich, gar so wild geht's bei den Aschantigefechten im Thiergarten nicht zu, wie in den seligen Original-Aschantikriegen, immerhin gewinnt der Zuschauer den Eindruck, daß es durchaus nicht rathsam wäre, mit den Kriegern aus Aschanti ernstlich anzubinden. Sie zeigen auch auf den friedlichen Wiener Kriegspfaden, daß sie im Kriegshandwerke gar wohl geübt sind und daß sie in Folge ihrer Agilität, ihrer Listen und ihrer außerordentlichen Ruhe höchst gefahrliche Widersacher im Ernstfalle sein müssen." 100 Für den zeitgenössischen Wiener Musikethnologen Richard Wallaschek sind die Kriegsgesänge der Aschanti ein Mittel im „Kampf ums Dasein": „Die Negerweiber an der Goldküste Afrikas tanzen zu Hause einen Fetischtanz, der in der Nachahmung eines wirklichen Krieges besteht, um dadurch ihren abwesenden Männern Kraft und Mut einzuflößen." 101 Der Fetischtanz, der gleichfalls zu den Darbietungen im Tiergarten gehörte, wird bei Altenberg erotisch gedeutet. 102 Im kolonialistisch-rassistischen Diskurs endlich sind 100

101

E. d'Al.: Auf friedlichen Kriegspfaden, S. 1. „[Tjn den entferntesten Weinschänken erzählen die Leute, hinter ihren Gläsern sitzend, allerlei Schnurriges [...] ganz besonders über die Gefechte, die sie allabendlich liefern." Ebd.

Wallaschek beruft sich hier auf E. B. Tylors Anthropologie. Richard Wallaschek: Chortanz, Kriegstanz und natürliche Auslese. [1895/1903] In: Der Darwinismus. Die Geschichte einer Theorie. Hgg. v. G. Altner. Darmstadt 1981, S. 318-329. 102 Sander L. Gilman: Peter Altenberg's Black Children. In: S. L. G.: Sexuality. An Illustrated History. Representing the Sexual in Medicine and Culture from the Middle Ages to the Age of AIDS. NewYorku. a. 1989, S. 273-281.

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der „Kampf ums Dasein" und seine Applikationen („Platz an der Sonne", „Volk ohne Raum") als Phrasen omnipräsent und werden von der Evolutionsbiologie mit Argumenten beliefert: „So hat die mittelländische Species [!], und innerhalb derselben die indogermanische Rasse, vermöge ihrer höheren Gehirnentwickelung alle übrigen Rassen und Arten [!] im Kampfe ums Dasein überflügelt, und spannt schon jetzt das Netz ihrer Herrschaft über die ganze Erdkugel aus." (Haeckel 103 ) Die Bildwelt des Kampfes, die die Diskurse über Wilde und deren Ungleichzeitigkeit dominiert, wird in Ashantee peinlich gemieden, nicht einmal dementiert. Dementiert wird vielmehr eine im zeitgenössischen Diskurs angrenzende Sphäre, die Sphäre von Geld und Warentausch. Einerseits handelt es sich hierbei zweifellos um einen Systemzwang Altenbergs. Indem Altenberg im didaktischen Inhalt und der didaktischen Struktur seiner Skizzen den Doppelcharakter der Menschenschau als pädagogische und ökonomische Veranstaltung einseitig auflöst, müssen die Ausgestellten, um als Denkbilder fungieren zu können, aus der ökonomischen Sphäre ausgeschlossen werden; ökonomische Tätigkeit der Schwarzen erschiene sonst als Komplizenschaft. Als Akolé ihre Ware feilbietet, tut sie das als schlechte Verkäuferin und verzichtet lieber auf Geld, als eine Demütigung hinzunehmen (,„Bènjo, bènjo !' (Geh' zum Teufel, packe dich.)" [AW I, 250]); was der Text als Demütigung präsentiert, besteht lediglich darin, daß Akolé von ihren Kunden auf ihre ökonomische Rolle verwiesen wird:,„Nicht einmal ansehen möchte sie uns, während sie unser Geld nimmt [...] Unsere Verkäuferinnen würden ein schlechtes Geschäft machen. Mußt freundlich sein, Schatzerl [...].'" (AW I, 250) Als bibi Akolé ihr Geld zählt, muß es „wundervoll" sein: „Auf meinem Schöße saß bibi Akolé und zählte ihr Geld, welches in drei Portemonnaies wundervoll verteilt war, in jedem Fache 25 Kreuzer, Geschenke von Bewunderern." (AW I, 244) Geld oder Waren erscheinen bei den Aschanti immer als Gabe, nie als Tausch, so die Geschenke P. A . ' s an T i o k o (Paradies)

u n d N a h - B a d u h {Prinzessin

in Grün).

Als d e r

„Homme médiocre" sich nach der sexuellen Verfügbarkeit der Mädchen erkundigt, erteilt ihm die Ich-Figur die Lehre: „,Warum beschenkt man sie?!' / ,Weil sie schön und sanft sind.'" (AW I, 258) Das verweist auf einen zweiten Kontext, von dem die Afrikaner, besonders die Frauen, befreit werden müssen und der zweifellos zum alltäglichen Vorwissen der Besucher gehört,

105

Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte. 6. Aufl., S. 618.

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etwa dem Erotismus der „Neger" und der Prostitution. Sander L. Gilman hat auf die im späten neunzehnten Jahrhundert allgegenwärtige wechselseitige Substitution der Stereotypen von Schwarzen und Prostituierten hingewiesen; beide Gruppen waren denselben medizinischen und wissenschaftlichen Praxen ausgesetzt, insbesondere der Anthropometrie. 104 Stellen Herzls Feuilletons gewissermaßen die Normalposition dar, die auch in den spontanen Wertungen der Einzelwissenschaften zu finden sind, betreiben Altenbergs Interventionen eine systematische Umwertung der zeitgenössischen Attribuierungen den Schwarzen gegenüber. Altenbergs Text nimmt die konträre „diskursive Position" (Jürgen Link 105 ) ein. - Die anthropologische Opposition menschlich vs. noch-nicht-menschlich bzw. ur- oder vormenschlich, wie sie in Haeckels Stufenreihe erscheint, aktualisiert Herzl als „Stationen derselben wundersamen Entwicklung", „Menschen der Urzeit", während bei Altenberg die Kontinuität bewahrt wird: „,Glaubst du, weil das d u m m e Volk sich über sie stellt, sie behandelt wie exotische Tiere?! Warum?! Weil ihre Epidermis dunkle Pigment-Zellen enthält?!'" (AWI, 234) - Die ästhetisch-physiognomische Wertung der Anthropologie wird bei Altenberg verkehrt. Als „Peter" abends in Tiokos Hütte tritt, „duftet" es „nach edlen reinen jungen Leibern" (AW I, 248). Altenbergs Text ist mit Haeckels Anthropologie wohl in der Berührungsqualität der Haut der Schwarzen einig (,„diese wunderbare glatte kühle Haut'" [AW I, 235], „Haut wie Seide" [AW I, 242]), nicht aber in der Wertung; Haeckel sagt von den „echten Negern": „Die Haut ist sammetartig anzufühlen, und durch eine eigenthümliche übelriechende Ausdünstung ausgezeichnet." 106 - Sexualpathologisch gilt die Opposition hypertroph (Schwarze) vs. normal (Weiße) und hängt mit d e m Diskurs über die hypersexuelle Frau als Prostituierte zusammen, selbst bei Herzl - abgeschwächt - erhalten, unter Rekurs auf den - biblischen - Schöpfungsbericht: „Neben dieser zarten zwölfjährigen eine andere, siebzehnjährig, schon aufgeblüht. Deren schrä-

104

Sander L. Gilman: Hottentottin und Prostituierte. Zu einer Ikonographie der sexualisierten Frau. In: S. L. G.: Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur. Reinbek 1992, S. 119-154.

105

Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in d e r Kollektivsymbolik. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hgg. v. J. Fohrmann u. H. Müller. Frankfurt/M. 1988, S. 284-510, S. 290. Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte. 6. Aufl., S. 609.

106

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ger Blick verrät, daß sie schon Zwiesprache mit der Schlange im Garten [!] hatte, und sie weiß von dem lustigen [!] Baume, der klug macht."107 Bei Altenberg erscheint schwarze Sexualität als Ausdruck von Liebe, während die europäischen Männer im „L'homme mediocre" repräsentiert sind. Die scheinbar harmlose Frage der Skizze Physiologisches (!): „Können Negerinnen erröten?!", die eher der Sphäre der Herrenwitze zu entstammen scheint, wird von Altenberg emphatisch bejaht: „Negerinnen können erröten. Wie kupferfarbig werden sie, gleichsam heller. Zum Beispiel wenn du ihre Hände küßt, dich wie ein Kavalier benimmst." (AW I, 252) Dieselbe Frage beschäftigt - fachwissenschaftlich - schon Darwin, der sie gleichfalls bejaht 108 ; zwei Jahre vor der Aschanti-Ausstellung dementiert jedoch Havelock Ellis das Erröten der „Wilden" und der „Verbrecher" mit dem Interesse, den „Verbrecher" als Atavismus zu klassifizieren und ihn mit dem „Wilden" evolutionistisch „gleichzeitig" zu machen; beiden fehle die Schamempfindung, die eine spätere evolutionäre Errungenschaft sei.109 - Während die „Neger" in Hinsicht auf soziale Stratifikation als „arm" erscheinen (Herzl: „ein Negerdorf mit seiner nackten Armuth"), sind sie bei Altenberg reich: „Königliche Geschenke machen sie uns, wir danken wie Bettler." (AW I, 258) Alle diese Qualitäten, so der Text Altenbergs, waren nur durch die teilnehmende Beobachtung zu „sehen", die so „neues Wissen" hervorgebracht hat. Insofern nun die neuen Attribuierungen lediglich die Umwertung der negativen und positiven Positionen betreffen, bringen sie natürlich nichts Neues. Im System dieser Oppositionen zeichnen sich aber in Ashantee bedeutende Verschiebungen in den Kategorien selbst ab. Die als Skalen bzw. zeitliche Verläufe oder historische Prozesse darstellbaren Oppositionen bleiben bei Altenberg nicht fest, sondern überschneiden einander und werden in einer neuen Opposition aufgelöst, die in den bisherigen Gegensatzpaaren keinen Sinn ergibt: Aristokratie vs. Unterworfene. Auf der ästhetisch-physiognomischen Achse wird die Beschreibung

107 108

Herzl: Menschengarten, S. 158. Kap. „Das Erröthen bei den verschiedenen Menschenrassen" in Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren. [1872] 2., sorgf. durchges. Aufl. Stuttgart 1874, S. 5 1 6 - 3 5 5 .

109

Gould: Der falsch vermessene Mensch, S. 132; Havelock Ellis: Verbrecher und Verbrechen. Berlin 1894. Ausführlich dazu Cynthia Eagle Russett: Sexual Science. The Victorian Construction of Womanhood. London, Cambridge/Mass. 1989, S. 66-77.

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der Körperlichkeit nicht nur in ästhetischen Kategorien, sondern in sozialen bzw. Machtkategorien beantwortet; so ist von der „Aristokratie der Gelenke" (AWI, 235) die Rede. Umgekehrt befinden sich die Hütten der Eingeborenen bei Herzl auf der Achse „arm" vs. „reich" und haben ihre Position im evolutionären Kulturfortschritt. Altenberg benützt die Antithese von Hütte und Palast, die spätestens seit Georg Büchners Hessischem Landboten die „soziale Frage", also einen „arm"-„reich"-Gegensatz annonciert, um einen Ubergang zu einer ästhetischen Wahrnehmung zu gewinnen: „Die Hütte des Goldschmiedes Nöthei Palast der Schönheit, Paradies des Friedens", während im Absatz davor sich die Hütte des eigentlichen Aristokraten, des Aschantihäuptlings (Kuaku), in dieser Hinsicht disqualifiziert hat: „An drei Haken der Wand hängen drei Taschenuhren, eine goldene, eine silberne, eine aus Nickel. [...] In einem kleinen offenen Koffer befindet sich eine weiße Flanellhose." (AW I, 241) Auf die implizite Frage nach „Armut" wird demnach mit der Proklamation von „Schönheit" geantwortet. Die Bildreihe „Palast-König-Königin" hat nicht nur die erwartbare Funktion, eine Differenz von Wesen und Erscheinung aufzudecken (scheinbar ... - in Wahrheit...), sondern erhält im narrativen Zusammenhang eine zusätzliche Dimension. In der Skizze Der Tag des Abschiedes wird zunächst wieder die Opposition arm-reich in der bisher schärfsten Form eingesetzt, als wäre sie der einzige Hinderungsgrund, daß „Ich", „Sir Peter", „P. A.", Peter Altenberg und Richard Engländer zusammen mit Nah-Baduh nach Afrika emigrieren bzw. zurückkehren: ,„Poor ... no Afrika! Rieh ... Afrika!' (Du gehst nicht mit mir nach Afrika, weil du arm bist. Wenn du reich wärest, gingest du mit mir!)" (AW I, 269) Hier ist es der Weiße, der in der Logik des Textes eigentlich (ökonomisch) Reiche, der hinter der eigentlich (ökonomisch) armen, in Wahrheit aber reichen schwarzen Frau zurückbleibt, der der ökonomisch Arme geworden ist; wieder weicht der Text in die Bilderwelt des Aristokratischen aus: Wie eine Königin des Lebens stand sie da in ihrer braunen nackten Schönheit: „Wenn du reich wärest, gingest du mit, bis nach Afrika!" Davon leben die Königinnen! Vom Siege!! Vom Hauch des Sieges!! Er ginge mit mir bis Afrika! (AW I, 269)

Die Bildlichkeit der „Königin" legt hier offen, daß sie in der Opposition Macht-Unterworfener steht; es ist dies die einzige Opposition des Textes

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und seiner Kontexte, die keinen „evolutionären" Sinn hat und in keinem Entwicklungskontinuum steht. Als einzige Stelle des Textes entwirft sie im „Sieg" der „Königin" ein explizites Modell von Kampf und Uberwindung, nicht aufgefangen durch ein „Paradies des Friedens" wie an der Hütte des Goldschmieds. Dennoch hat die Konstellation, die szenisch dualisiert wird (Nah-Baduh / Peter, Vienna / Afrika, Sieger-Königin / Unterworfener), im darwinistischen Plot einen Ort: im „Kampf ums Dasein", im Spezialfall der „sexuellen Zuchtwahl". Denn die Abschiedsszene zwischen beiden ist das Ergebnis einer Dreierkonstellation, in der P. A. gegen den Schwarzen Noe Salomon Dowoonnáh unterlegen ist. Folgerichtig hebt die letzte der Ashantee-Skizzen, Spätherbst-Abend, ein Dialog von Tiergartendirektor und Tiergartenwächter über einen „Herrn", der „in eine der Hütten im oberen Dorfe getreten" sei, „herausgekommen und [...] langsam weggegangen aus dem Garten" (AW I, 270), wieder auf die ökonomische Verwertung der Aschanti als Ware im Vergnügungsbetrieb ab und signalisiert, daß sie von Publikum und Direktor in einer Sphäre mißverstanden worden seien, die ihnen äußerlich geblieben sei: „Übrigens", läßt Altenberg den Direktor sagen, „die Hütten werden morgen abgebrochen —. Wir brauchen Platz für die Seiltänzergesellschaft und den Ballon captif." (AW I, 270) Der Tiergarten, der während des Aschantiaufenthalts mit „Garten Eden", mit „Paradies" konnotiert war, wird wieder zum Vergnügungspark, der Tiergartendirektor zum bloßen Zirkusdirektor mit Verwertungsinteresse. Es ist die Dialektik von Altenbergs ethnologischer Position, daß diese Unterdrückungsbedingungen - etwa die Verweigerung von witterungsangepaßter Kleidung durch das Management - zuallererst Altenbergs ethnographisches Interesse hervorrufen („Akóschia lächelt . / Ihre Toga gleitet herab. / In ihrer Herrlichkeit sitzt sie da! [...] Akóschia erhebt sich, vergräbt ihren blühenden Leib in der lila Toga, sargt ihn ein, geht ." [AW I, 242 f.]) und sein erotisches Interesse in Gang setzen. Dieses Interesse aber wieder ist es - wie sehr die kulturphilosophische Motivierung auch nur zum Kaschieren dienen mag - , das Altenberg erst wirklich zum teilnehmenden Beobachter macht. Wird von Tioko die Nacktheit zur bloßen Maskerade erklärt, scheut sich die Erzählerstimme nicht, den moralistisch gegen die Ausstellung gewendeten Befund schon im voraus zu dementieren durch die Formulierung von Tiokos „wunderbaren hellbraunen Brüste[n], welche sonst in Freiheit und in Schönheit lebten, wie Gott sie geschaffen", die den Körper der Schwarzen in erotischem Interesse fragmentiert und die Frag-

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mente animistisch belebt, „dem edlen Männer-Auge ein Bild der Weltvollkommenheiten gebend, ein Ideal an Kraft und Blüte." (AW I, 236) Wären die Aschanti nicht in warenfÖrmiger Organisierung anwesend, wären sie ja auch gar nicht anwesend. Schon in Altenbergs „Theorie" sind die Nichtdekadenten, Vor-Schein einer evolutionistisch mit dem „Leben" versöhnten Kultur, Frauen, Kinder, Mädchen, ohne Stimme; als „Wissende" werden sie vom Erzähler als Denkbilder vorgestellt und müssen sich nicht aussprechen, sondern dürfen recht behalten. Sie könnten sich, andererseits, auch gar nicht aussprechen, da sie vorreflexive Bilder des Besseren sind und demzufolge ihres Interpreten bedürfen, der etwa ihr Verstummen nicht als Niederlage bekräftigt, sondern in der Form und dem Akt der Darstellung erst zum Sieg macht. So liegt das Sozialmodell, das Altenberg propagiert, nicht in der Darstellung, noch weniger (implizit) in der Kritik der dargestellten „Kultur", sondern in der Beziehung zwischen der Erzählerstimme und ihren Figuren, die in einem notwendigen Zusammenhang aufeinander verwiesen sind. Wo diese Erzählerstimme personalisiert als P. A., als „Leuchtender und Lichtbringer" (Max Messer), in die Welt der Skizzen eintritt, entsteht erhöhter Legitimationsbedarf für die Figur, der im Rekurs auf die reale Randlage der Kunstfigur Altenberg gelöst wird. Das Exotische der realen Wiener Kunstfigur P. A. steht so unter dem Druck der Literaturproduktion Richard Engländers. Das verleiht den Skizzen autobiographische Plausibilität, mit dem Problem, ein Massenereignis wie die Aschanti-Ausstellung „privatisieren" zu müssen, mit der Tendenz zum ausschließenden Aristokratismus („dem edlen Männer-Auge"). Der aristokratische Habitus, der den Protagonisten der „Wiener Moderne" nicht fremd war (Andrian, Hofmannsthal, Beer-Hofmann), zeigt sich auch hier, im Gewand des Freaks, der Mühe hat, sich vom „Freak" abzugrenzen; er präsentiert sich nicht als Irrläufer, sondern als Vorläufer der Evolution.110 Die Individualisierung der Schwarzen, die Altenberg mit großem Aufwand betreibt, hat demgegenüber nur wenig Gewicht; als sie ihre Zelte abbrechen, fallen sie als Individuen Altenbergs Didaktik zum Opfer, die „Individualität" für den Künstler reserviert. Und spätestens in der Warenform des Buches ist sie gänzlich ausgelöscht: Zeigt auch das Titelbild der S. Fischer110

Zugleich ein Beleg für die Aporien der ritualisierten Rollen der Kaffeehausinsassen vor dem Publikum. Vgl. Helmut Kreuzer: Die Boheme. Stuttgart 1968, S. 203 ff.

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Ausgabe von Ashantee zwei schwarze Frauen, so macht es der in der rechten unteren Ecke erkennbare Namenszug „Frisch" - der Berliner Photographier- und Reproduktionsanstalt Albert Frisch - unwahrscheinlich, daß es sich bei den Abgebildeten um Aschanti-Frauen aus Wien handelt. (Dieselbe Firma war gleichzeitig mit der Dokumentation der Berliner Kolonialausstellung befaßt.) Auch fur seine Person entgeht Altenberg der Dialektik der Menschenschau nicht, wenn er in einem Privatbrief an seine Vertraute Anna Holitscher die Basis der Pädagogik und der Akkulturation in der Ökonomie sieht. Bevor der Brief mit der Formel von den ,,elende[n] Tiere[n] der Cultur" schließt und die Evolutionsgeschichte aktualisiert, schmiedet Altenberg rousseauistische Pläne einer Erziehung außerhalb der verhärteten Formen jener „Cultur": „Aber meine geliebte kleine schwarze Freundin [„Tioko", W. M.] bringt mich in Welten, wo es keine Leiden gibt, sondern nur seeliges Genießen. Wenn ich sie bei mir behalten könnte, sie kaufen, sie erziehen außerhalb der Convention, in ihrer süßen Wildheit, ihrer Grazie." 111 Im exzentrischen Leben Altenbergs erscheint seine Freundschaft mit den Aschanti als der vielleicht am meisten exzentrische Zug; mehr jedenfalls als seine Schwärmereien für die „kleinen Mädchen" und seine stadtstreicherhafte Lebensführung. Auch in Felix Mitterers Drehbuch zu seinem Altenberg-Porträt Der Narr von Wien (1982) nehmen die Aschanti-Episoden eine zentrale Stelle ein, die wieder die Beziehung zwischen dem Einen und den Mädchen fokussieren. Altenberg wird mit den Mädchen beim Nacktbaden im Heustadelwasser gezeigt, er nimmt sie ins Café Central mit; präludiert wird dies mit dem Vorzeigen einer Postkarte, die im Drehbuch mit „Ideal meiner erotischen Träume" beschrieben ist.112 (Es dürfte sich um die mehrfach reproduzierte Karte 113 Jeune Égyptienne handeln, Altenbergs Bildunterschrift lautet allerdings: „Ideal meiner exotischen Träume!!! Peter Altenberg".) Dennoch ist Altenberg gerade hier vielleicht am wenigsten „Original"; im Psychohaushalt der Großstadt müssen die Aschanti Epoche gemacht haben. Was Altenberg in Ashantee privatisiert, ist in Wahrheit ein Großereignis gewesen, was schon die Übernahme von „Aschanti" in den Wiener Sprachge111 Altenberg an Anni Holitscher, 11.8. 1896. In: Altenberg. Leben und Werk, S. 164. 112 Felix Mitterer: Der Narr von Wien. Aus dem Leben des Dichters Peter Altenberg. Ein Drehbuch. Salzburg, Wien 1982, S. 32 u. 28. 113 So auch in: Altenberg. Leben und Werk, S. 81.

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brauch illustriert. Die Besucher der Ausstellung kamen immer wieder und nahmen Anteil an dem „Dorfleben" der Austeilung. Mitunter kommt es zu Zusammenstößen, als sich etwa in der Schule die Besucher in die Maßnahmen des Lehrers einmengen und zugunsten der geprügelten Aschanti-Kinder Partei ergreifen; eine Szene, wie sie ähnlich auch Altenberg (mit „ich" als Akteur) beschreibt (Einmaleins). Der Wiener Paprikafabrikant Schlesinger, der für seine Produkte mit eingesendeten Gedichten werben läßt, die auf seine Kosten und mit Angabe des Verfassers in Zeitungen abgedruckt werden, eine Praktik, die häufig den Spott Karl Kraus' auf sich gezogen hat, benützt den Paprikaverbrauch der Aschanti (vgl. Altenbergs Paprika) für seine Firma.114 Die Schaulust des Publikums macht auch vor Zeremonien privaten Charakters nicht halt. Das Tauffest des Mädchens Byio wird ein Massenereignis, „trotzdem es eigentlich intimen Charakter trägt".115 Größere Zusammenstöße scheinen sich nicht ereignet zu haben, solches wird von der Berliner Kolonialausstellung berichtet.116 Als die Aschanti Ende Oktober ausziehen, kommt es zu Szenen mit dem Publikum: „Vor dem Thore stürzten gutgekleidete Damen auf die Männer und küßten sie ab." „Unter - Hochrufen und Tücherschwenken der Menge fuhr der Wagenzug zur Westbahn [...]." 117 Im folgenden Jahr wird der Kontakt wieder aufgenommen: „Viele von den schwarzen Gästen haben sich sogar einige Brocken deutsch angeeignet und nicht selten entspinnt sich zwischen den Besuchern oder vielmehr den Besucherinnen und den Aschantinegern ein komischer Dialog."118 Das Publikum dürfte zwischen den verschiedenen Darbietungsformen von Fremden recht genau unterschieden haben. Der „herzliche" Umgang der Wiener mit den Aschanti erstreckte sich nicht auch auf eine „egyptische Ausstellung und Beduinen-Lager", einer Veranstaltung Hagenbecks nachempfunden, oder eine Hagenbeck-Truppe, die als Attraktion ein gemischt „ethnographisch"-akrobatisches Programm vorführte. 119 „Im Gegensatz zu 114 Jac. Eigenseder, k. k. Postamtsdiener: Dem Paprika-Schlesinger gewidmet. („P bin net vom Aschanti-Land, / Bin net aus Afrika; / Doch kauf ich mir beim Schlesinger / Auch stets den Paprika!") In: Neues Wiener Tagblatt, 25. 8. 1896, S. 16. 115 (Tauffest im Aschantidorf.) In: Neues Wiener Tagblatt, 30. 8. 1896, S. 4. 116 (Eine Schlägerei mit Negern.) In: Neues Wiener Tagblatt, 29. 9. 1896, S. 4. 117 (Der Auszug der Aschantis.) In: Neues Wiener Tagblatt, 20. 10. 1896, S. 7. 118 (Ein neuer Circus im Thiergarten.) In: Neues Wiener Tagblatt, 27. 4. 1897, S. 4. 119 „ 1. Ankunft einer Karawane. 2. Kameelwettrennen. 3. Ueberfall einer Handelskarawane. 4. Der Ritt ums Leben. 5. Sclavenraub. 6. Ein Paschafest. 7. Grosse Reiter-Fantasie.11 Inserat, z. B. Neues Wiener Tagblatt, 18. 4. 1897, S. 56.

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den sichtlich genügsamen Aschanti verrathen die Beduinen einen regen Geschäftsgeist, auch verschmähen sie es nicht, die Vorübergehenden u m ein Trinkgeld anzusprechen. Ueberhaupt sind sie von der Kultur beleckt." 120 Eine Samoanertruppe, die im Mai 1897 in Wien gastiert, hatte in Berlin durch Liebesaffaren auf sich aufmerksam gemacht und wird von den Zeitungen in die Nähe des Varietés gerückt; der „Berliner Roman" der Samoanerinnen werfe „sehr interessante Streiflichter auf das Ausstellungsgeschäft mit ,Wilden', zum mindesten, wie es in Berlin practicirt wird." 1 2 1 Die Aschanti dagegen dürften vom Publikum als „authentisch" wahrgenommen worden sein u n d müssen eine Aura exotistischer Erotik verbreitet haben, die noch Magnus Hirschfeld in seiner Sittengeschichte des Weltkrieges erinnert. 122 Diese erotische Aura betraf bei weitem nicht n u r Besucher vom Schlag Altenbergs. Hermine Schandl, eine „Cassierin" des dem Ausstellungsplatz benachbarten Prater-Vergnügungsparks „Venedig in Wien", Schauplatz einiger anderer Skizzen Peter Altenbergs und bevorzugtes Ziel der erotischen Streifzüge Arthur Schnitzlers und seines Kreises, war von der Frau des Häuptlings geohrfeigt worden und klagte die Schwarze auf Verdienstentgang wegen dreitägiger Berufsunfahigkeit. Die Kassierin Schandl gibt an, vorgehabt zu haben, einen Schankburschen „auf die glänzende, sammtweiche Haut der Häuptlingsgattin" aufmerksam zu machen; der Schankbursche Wessely sagt aus, Schandl sei „sehr neugierig gewesen und habe das Tuch der Negerin in die Höhe gehoben, u m den Körper betasten zu können." 1 2 3 Ein anderer Afrikaner gerät in Zorn und verabreicht einem Wiener „mit südlicher Lebhaftigkeit" eine Ohrfeige, „als ein Ehepaar einen der Aschanti-

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Bei den fremden Völkern im Prater. In: Arbeiter-Zeitung (Wien), 25. 4. 1897. Über einen betrunkenen und „excedirenden" „Beduinen" vgl. Wiener Zeitung (Abend), 17. 5. 1897, S. 7. 121 Samoanische Romane. (Hinter den Coulissen einer,wilden' Truppe.) In: Neues Wiener Tagblatt, 21. 5. 1897, S. 6. Zu den akrobatischen Darbietungen der Samoaner vgl. Neues Wiener Tagblatt, 22. 5. 1897, S. 6 f. 122 Sittengeschichte des Weltkrieges. Hgg. v. M. Hirschfeld. Bearb. v. A. Gaspar. Mit Beiträgen v. F. S. Krauss u. a. Leipzig, Wien 1930, S. 123 u. 125. Zitiert werden hier Schriften von G. Vorberg und Wilhelm Stekel (Gefangenenliebe. In: Prager Tagblatt, 9. 12. 1915), die das Wiener ,Aschanti-Fieber' kommentieren. 123

Gerichtssaal. Die Gattin des Aschanti-Häuptlings vor dem Bezirksgerichte. In: Neues Wiener Tagblatt (Abend), 13. 10. 1896, S. 2; Die Gattin des Aschanti-Häuptlings. In: Neues Wiener Tagblatt (Abend), 15. 10. 1896.

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neger mit Zwicken und anderen Liebkosungen überhäufte." 124 Einige Monate nach dem Ende der Ausstellung erscheinen in den Zeitungen Meldungen, eine Wienerin habe schwarze Kinder zur Welt gebracht, was dem Volkssänger und Stegreifspieler Karl Rötzer, einer Praterinstitution, Gelegenheit zu einer erfolgreichen Posse Die Aschantikinder gibt, in der ein Weinhändler Grund zu haben meint, an der Treue seiner Gattin während einer seiner Geschäftsreisen zu zweifeln: „Jetzt bekommen gar die Wiener Frauen aschantische Kinder! Nun ja, ich habe es ja gesagt, mit dem verfluchten Tiergarten im Prater kommt nichts Gutes heraus."125 Der Strumpfwirker Zwickerl hat sich, ohne es zu merken, Tinte ins Gesicht geschmiert und wird vom Weinreisenden Xandl als „aschantischer Nebenbuhler" identifiziert. Als sich alles aufklärt, wird Zwickerl ein Spiegel vorgehalten, er hält das Spiegelbild für den Aschanti: „Geht's hört's auf, dös bin i jo gar net!" 126 Das Neuigkeüs- Weltblatt bringt die Szene illustriert. Der pädagogische Effekt gegenüber den „zivilisierten" Besuchern, dem die Menschenschau ihre Legitimation verdankt, wird in der Installation selbst gespiegelt. Die „Schule" für die „Aschantikinder", die einen zentralen Anziehungspunkt der Ausstellung ausmachte, reproduziert diesen pädagogischen Effekt für die „Wilden"; der scheinbare Widerspruch, daß den „Zivilisierten" die „Wilden" vorgerückt werden, wie sie sich zivilisieren, scheint den Reiz nicht vermindert, sondern eher noch gesteigert zu haben. Die „Akkulturation" der Aschanti war für die Besucher sinnlich wahrzunehmen. Die Wirkungen der „Kultur" auf die Aschanti sind zunächst negativ: Die Männer sitzen in der Schenke „und trinken Wein und Branntwein. Das ist die erste, fürchterlichste Gabe der Kultur." Die größeren Kinder, so sieht es Theodor Herzl, „sind mit beiden bloßen Füßen mitten in die Zivilisation hineingesprungen, von der sie zunächst die Näschereien und später vielleicht nur die Laster begreifen werden." 127 Das Bild der trinkenden Aschanti taucht auch in der Leipziger Illustrirten Zeitung auf, die den Wiener Aschanti einen großen Bildbeitrag widmet: Ein Bier trinkendes Kind und drei rauchende und hustende Jungen werden mit der Bildunterschrift

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(Zwischenfälle im Aschantidorf.) In: Neues Wiener Tagblatt, 12. 10. 1896, S. 5. Karl Rötzer: Die Aschantikinder. Sensationelle Lach-Posse. Wien [1906], S. 10. Rötzer: Aschantikinder, S. 15. Herzl: Menschengarten, S. 157.

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„Beginn europäischer Civilisation" versehen. 128 Weniger streng als der Feuilletonist verfahrt der anonyme Berichterstatter im Lokalteil der Neuen Freien Presse, wenn sich beim Auszug der Aschanti die Männer nach „Wiener Mode", mit weißer Hemdbrust und Krawatte kostümieren: „Die Männer zeigten hiebei bedeutende culturelle Fortschritte, die der Wiener Aufenthalt gezeitigt hatte." 129 Genau diese Wirkungen hatte Herzl einen Monat zuvor jedoch vorausgesehen; der Beschreibung der Armut der Afrikaner von 1896 folgt die Prognose: „Und das Erstaunlichste ist, daß sie in ein paar Wochen wieder in ihrem dunklen Welttheile sein können; nur werden sie dort vielleicht Kleider nach Wiener Mode tragen und ein bischen mit unserer Cultur prahlen." 130 Die zeitgeraffte Akkulturation der Aschanti wird sogar sprichwörtlich für die Dialektik der Aufklärung. „Heute, im Zeitalter des Dampfes und der Elektricität", sagt der Vorsitzende Arthur G. v. Suttner in der Generalversammlung des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, „sehen wir, wie die Bestie im Menschen frisch auflebt und die Wildheit in erschreckendem Maße zunimmt. Die Samoaner und Aschantis europäisiren sich und die Europäer afrikanisiren sich. (Heiterkeit und Zustimmung.)" 151 In einer Zeit, in der die scheinbar natürliche Verbindung von Fortschritt und Humanität zerfällt und dem liberalen Blick das Leben nicht mehr „in großartiger Einfachheit" daliegt (Arthur Schnitzler132), muß die massenhafte Identifikation von Wienern mit Afrikanern als Irritation und kollektive Regression erscheinen, zumal eben jene Massen einmal militärisch als „Arbeiterheere", einmal als antisemitischer Mob drohen. 133 Hier liegt der Grund, warum Herzls normalistische Position den Tiergarten wieder als moralische Anstalt zu reetablieren versucht und die evolutionistische Didaxe an einem Gegenstand, dessen sich die Massen bemächtigt haben, neu herstellt und einordnet; in der Beschreibung der „mächtigen Kinnladen" der Schwarzen ist die Angst 128 129 130 131

Die Aschanti im wiener Thiergarten. In: Illustrirte Zeitung (Leipzig), 5. 8. 1897, S. 190-193, S. 193.

Der Abschied der Aschantis. In: Neue Freie Presse, 20. 10. 1896, S. 7. Herzl: Der Wurstelprater, S. 3. Verein zur Abwehr des Antisemitismus. In: Neues Wiener Tagblatt (Abend), 4. 6. 1897, S. 4. 132 Arthur Schnitzler: Jugend in Wien. Eine Autobiographie. Hgg. v. Th. Nicki u. H. Schnitzler. Mit einem Nachw. v. F. Torberg. Frankfurt/M. 1992, S. 319. 133 Zum Verhältnis Schwarze/Juden im Kontext der „Ashantee"-Skizzen vgl. die detaillierte sexualhistorische Analyse bei Gilman: Peter Altenberg's Black Children, bes. S. 281.

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vor gewaltfÖrmiger Regression nicht zu überhören. Wenig anders dürfte es sich mit Altenbergs didaktischer Ashantee-Prosa verhalten, verändert durch eine „Moderne"; in deren didaktischem Konzept es freilich liegt, das rechte „Sehen" gegen die sensationalistische Schaulust134 einerseits, gegen die stillgestellte, automatisierte Wahrnehmung im Museum 135 andererseits zu bewahren. Über das weitere Schicksal der Aschanti gibt es keine Nachrichten. Die Irritation, die heute von den Menschenschauen, die bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts abgehalten wurden, ausgeht: daß Menschen ausgestellt wurden, war jenseits zeitgenössischer Wahrnehmung. Wo diese Irritation bei Altenberg aufscheint, wird sie Opfer der Textstrategien. Die sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung, die zeitgleich zum Aschanti-Aufenthalt eine Kampagne gegen die Unternehmer des benachbarten „Venedig in Wien" führt 136 , berichtet im selben Duktus über die Ausstellung wie die anderen Blätter auch; als Lohnabhängige oder Kleinunternehmer ihrer selbst („Künstler") hat sie die Aschanti nicht wahrgenommen. Auch Felix Saiten, mittlerweile durch seine Tiergeschichten berühmt geworden, hat an Hagenbecks Völkerschauen nichts auszusetzen gefunden: „Schlechte Zeiten kommen, aber ihn bringen sie auf den Gedanken, exotische Menschen herbeizuschaffen, ihr Leben, ihre Sitten, ihre merkwürdige Besonderheit der zivilisierten Welt zu zeigen." 137

134 Zur proletarischen „Schaulust" vgl. Klaus-Michael Bogdal: Zwischen Alltag und Utopie. Aibeiterliteratur als Diskurs des 19. Jahrhunderts. Opladen 1991, S. 43. 135 Zum historischen Zusammenhang von Zoo, Museum und Imperialismus vgl. John Berger: Warum sehen wir Tiere an? In: J. B.: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens. Berlin 1991, S. 12-35, bes. S. 28 f. 136 Ausbeuterisches aus „Venedig in Wien". In: Arbeiter-Zeitung (Wien), 5. 8. 1896, S. 4 und 6. 8. 1896, S. 4. 137 Felix Saiten: Der alte Hagenbeck. In: F. S.: Gestalten und Erscheinungen. Essays. Berlin 1913, S. 298-305, S. 303.

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Anders als bei den einigermaßen homogenen Milieus, die die bis hier dargestellte Literatur trugen, versammelt sich am Ausgangspunkt von Marie Eugenie delle Grazies literarischer Produktion eine gemischte Gesellschaft. Die Autorin ist das Mündel Laurenz Müllners, eines Wiener Ordinarius der katholischen Theologie, der als Ironiker charakterisiert wird; er läßt sich nach einer Fakultätsintrige gegen seine Befassung mit dem Darwinismus in Rom Rechtgläubigkeit bestätigen, um darauf die Fakultät zu wechseln und Philosophieprofessor an derselben Universität zu werden. Müllner veröffentlicht Beitrcige zur Ästhetik der Dichtkunst und Malerei (1895), die ihn als Verehrer von Sacher-Masoch ausweisen. 1 Der alternde deutschliberale Abgeordnete und Grundbesitzer Bartholomäus v. Carneri verfaßt außerordentlich erfolgreiche und verbreitete ethische Schriften, die den Darwinismus in eine eudämonistische Ethik transformieren sollen; der Germanist und Sozialdarwinist Alexander Tille hingegen veröffentlicht neben Schriften über den deutschen Weihnachtsbaum und die Faustsage eine durchaus anders geartete sozialdarwinistische Ethik ( Volksdienst. Von einem Sozialaristokraten, 1893; Von Darwin bis Nietzsche, 1895), um dann Sekretär eines Industriellenverbandes zu werden. Der nachmalige Theosoph Rudolf Steiner, der als Germanist an der Edition von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften für die „Weimarer Ausgabe" mitarbeitet, entwirft im Wiener Theologen- und Schriftstellerzirkel um delle Grazie die Grundlinien seiner „Philosophie der Freiheit", die er den Diskussionen mit dieser Autorin zu verdanken meint. In der literarischen Gesellschaft Iduna finden sich neben einigen der Genannten noch der nationale Epiker Fercher v. Steinwand (Ps. für Johann Kleinfercher), als dessen Mäzen der antidarwinistische Anatom Joseph Hyrtl wirkt, der Publizist und Literat Fritz Lemmermayer, der neben dem Roman Der Alchymist scharfe Beiträge im sozialdemokratischen Theorieorgan Die Neue Zeit verfaßt, schließlich der Germanentümler Guido List. 1

Laurenz Müllner: Literatur- und kunstkritische Studien. Beiträge zur Ästhetik der Dichtkunst und Malerei. Wien, Leipzig 1895.

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Die Autorin selbst vollführt einen wohl beispiellosen ideologischen und thematischen Mäander durch die Sinnangebote ihrer Epoche: Als Siebzehnjährige läßt sie ihren ersten Gedichtband, mit achtzehn ein deutschnationales Hermann-Epos drucken, um sich für die nächsten zehn Jahre einem tausendseitigen historischen Epos, Robespierre (1894), zuzuwenden, ein naturalistisches Bergmannsdrama, Schlagende Wetter (1899), in ZolaNachfolge am Wiener Deutschen Volkstheater (auch an der Berliner Neuen Freien Volksbühne 2 ) auffuhren zu lassen und in einem allegorischen Einakter um die Jahrhundertwende, Moralische Walpurgisnacht (1896), Arbeiter mit roten Fahnen über die Bühne zu schicken. Ihr großer Zeitroman Heilige und Menschen erscheint 1908 im Feuilleton der Neuen Freien Presse; als drei Jahre später ihr theologischer Mentor stirbt, erlebt sie 1912 am Eucharistischen Kongreß in Wien ihr Emmaus und wendet sich von der „modernen Weltanschauung" ab, um hinfort christliche Romane zu verfassen. Sie verliert damit nicht nur ihren Verlag Breitkopf und Härtel, sondern auch die Zustimmung der liberalen Presse und der Literaturgeschichte; als sie 1931 stirbt, werden ihr von beiden keine Nachrufe gewidmet.3 „Ich hab' eine Lade in meinem Schreibtisch, eine große, tiefe Lade. Wenn ich diese öffne, wird mir immer ganz ehrfürchtig zu Mute. Hochaufgeschichtet liegen darin die Briefe, die mir im Laufe eines Jahrzehnts zwei der bedeutendsten Menschen dieser Zeit geschrieben: der Philosoph B. v. Carneri und Ernst Häckel, der große Jubilar dieses Tages"4, beginnt delle Grazie ein Feuilleton zu Ernst Haeckels 50. Doktorjubiläum. Unter Haeckels Verbindungen zu literarischen Autoren ist die zu delle Grazie sicher eine der engsten, von ihr zeugt ein mehr als 15jähriger Briefwechsel.5 An delle Gra2 3

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Vgl. Die Kunst dem Volke. Vereinsschrift der Neuen freien Volksbühne. Hgg. v. Bruno Wille. Jan. 1903. Aufführungen 11., 18. u. 25. 1. 1903. Eduard Castle, Charlotte Günthersberger: [M. E. delle Grazie.] In: Geschichte der deutschen Literatur in Österreich-Ungarn im Zeitalter Franz Josephs I. Ein Handbuch unter Mitw. hervorr. Fachgenossen hgg. v. E. C. Bd. 2: 1 8 9 0 - 1 9 1 8 . Wien 1937, S. 1583-1585 u. 1940-1944, S. 1943 f. Delle Grazie: Erinnerungen an Ernst Häckel. Zu seinem goldenen Doktorjubiläum. In: Neue Freie Presse (Wien), 7. 3. 1907, S. 8. Allg. zu delle Grazie vgl. Maria Mayer-Flaschberger: Marie Eugenie Delle Grazie. Eine österreichische Dichterin der Jahrhundertwende. Studien zu ihrer mittleren Schaffensperiode. München 1984. Der Briefwechsel wird in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek (Haeckel) und im Ernst-Haeckel-Haus Jena (delle Grazie) aufbewahrt.

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zies Werk können die Beziehungen von Literatur und Darwinismus an einem Segment der Literatur der „anderen Jahrhundertwende" dargestellt werden; die „Heimatkunst" war nicht die einzige zeitgenössische Alternative zur „Wiener Moderne". Eine nahezu vergessene „dritte" Literatur der Jahrhundertwende verbindet „Weltanschauung" mit Handlungsorientierung, ihre Autoren entwickeln sehr spezifische Rollenprojekte und Habitusformen. Ausgangspunkt möge der Befund sein, daß die genannten Protagonisten durchaus differenter ideologischer Projekte ihre „Weltanschauung" in den Werken delle Grazie wiederzufinden vermochten, von der Reformtheologie über den Monismus bis hin zum Sozialdarwinismus eines Alexander Tille, der eine imperialistische Eugenik propagiert. Haeckels Briefwechsel mit delle Grazie ist über weite Strecken eine Dreierkorrespondenz mit Carneri; Carneri ist es auch, der Haeckel auf die Autorin aufmerksam macht. „Die Verfasserin ist eine Ihrer glühendsten Verehrerinnen", teilt er am 12. März 1894 seinem Freund Haeckel zu einer Erzählung delle Grazies mit, „und mit Ihrer Schöpfungsgeschichte, die sie immer auf ihrem Schreibtisch hat, buchstäblich aufgewachsen. Sie haben entscheidend an ihrer Erziehung teilgenommen und sind Mitursache an der Kühnheit ihres Gedankenganges, der da ein Buch geschaffen hat, nicht eben für Mädchen, wie man noch vor wenig Jahren gesagt hätte. Allein das Allgemeinmenschliche dran wird Sie, wie mich, überwältigen ... In Kürze beendet sie ein Epos in zwanzig Gesängen, das die französische Revolution behandelt." 6 Die „Schöpfungsgeschichte", von der bei Carneri in signifikanter Verkürzung die Rede ist, ist Haeckels Natürliche Schöpfungsgeschichte von 1868, noch 1912 in zwölfter Auflage erschienen; das Werk führt die Konkurrenz zum biblischen Schöpfungsbericht bereits programmatisch im Titel. Schon in ihrem ersten Brief an Haeckel bekennt delle Grazie „die mächtigen und herrlichen Anregungen, die ich Ihrer ,Natürlichen] Schöpfungsgeschichte]' verdanke". 7 Die Autorin beherrscht in der Folge die Korrespondenz. Beide Briefpartner beteuern einander ihre Ergriffenheit durch das Epos; Carneri benützt seine Rezensionen in der Neuen Freien Presse für wichtige Positionsbestimmungen im politischen Feld; Haeckel wieder trägt sich nach Aufforderung

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Carneri an Haeckel, 12. 3. 1894. Bartholomäus von Carneri's Briefwechsel mit Ernst Haeckel und Friedrich Jodl. Hgg. v. M. Jodl. Leipzig 1922, S. 70. Delle Grazie an Haeckel, 11.8. 1894. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 1618, 1.

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durch die Autorin 8 selbst mit dem Gedanken an eine Rezension des Epos in der ihm nahestehenden Zukunft von Maximilian Harden und weist Alexander Tille, der zu Hardens Hausautoren gehört, auf das Epos hin, worauf dieser gleichfalls eine kurze Korrespondenz mit der Autorin eröffnet.

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In diesen interessierten Kreisen wurde das Epos Robespierre als ein Weltanschauungsdokument gelesen, mit dem sich die Dichterin an die Front der ideologischen Zeitfragen zu setzen schien. „Je mehr ich mich in Ihren ,Robespierre' hineinlese, desto mehr bewundere ich die Höhe Ihres historischen Standpunktes und die Weite Ihrer anthropologischen Perspective", lobt Haeckel 9 und gratuliert delle Grazie zu „Ihrer ganz außerordentlichen dichterischen Schaffens-Kraft und zu Ihrer männlichen monistischen Weltanschauung". 10 Als Haeckel 1896 Salzburg besucht, führt er ein Zusammentreffen herbei aus dem „Wunsch, die Dichterin kennen zu lernen, welche den Ideen unserer modernen monistischen Weltanschauung einen so geistvollen und formvollendeten Ausdruck in ihren epischen Dichtungen zu geben verstanden hat." 11 18 Jahre später bestätigt die Autorin, als sie zu Haeckels 80. Geburtstag ein Erinnerungsbild für einen Sammelband der monistischen Haeckel-Gemeinde liefert und hierfür ihre private Korrespondenz benützt, selbst diese Sicht der Dinge: „Dorthin [nach Salzburg] kam am 3. September 1896 Haeckel [...], um mit mir über eine Dichtung zu sprechen, die eine künstlerische Versinnbildlichung der modernen naturwissenschaftlichen Entwicklungsideen an einer der größten Weltbewegungen der Neuzeit versucht hatte." 12 Haeckel an Carneri: „Die Dichterin, die

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Haeckel an delle Grazie, 2. 3. 1895. Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung (i. f. „WStLB" und Inventamummer) 90.665: Er habe keine Zeit und lese seit fünf Wochen taglich im „Robespierre". Er plane das Werk jedoch gemeinsam mit Arthur Fitgers „Fahrendem Volk" zu besprechen. Haeckel an delle Grazie, 2. 6. 1895, WStLB IN 90.667: Er habe zwei Versuche zur erwünschten Rezension gemacht, aber: „Angesichts Ihrer Werke sehe ich erst recht, wie Viel mir zum Künstler fehlt!"

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Haeckel an delle Grazie, 22. 3. 1895. WStLB IN 90.666. Haeckel an delle Grazie, 17. 6. 1895. WStLB IN 90.668. Haeckel an delle Grazie, 30. 8. 1896. WStLB IN 90.674. Delle Grazie: Ernst Haeckel der Mensch. In: Was wir Ernst Haeckel verdanken. Ein Buch der Verehrung und Dankbarkeit. Im Auftr. d. deutschen Monistenbundes hgg. v.

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sich als meine Schülerin betrachtet, wünscht, daß ich ebenfalls eine Kritik des großartigen, unsere Weltanschauung in so wunderbarer Form verherrlichenden Epos (etwa in der,Zukunft') schreiben möchte." 13 Tille, der an der Universität Glasgow lehrt, spricht sie als „Weltanschauungskämpferin" an, nennt sich selbst einen „ehrlichen Arbeiter[ ] auf diesen Feldern" und wünscht Gedichte der Autorin in einer von ihm herausgegebenen Lyrikanthologie abzudrucken14; ein halbes Jahr später, nach der Lektüre des Werks: „Ich habe inzwischen gelernt was im einzelnen Ihre Weltanschauung ist - aus Ihrem Robespierre. Sie sind ein ganzer Kerl [...]. Also Sie sind ein ganzes Prachtmädchen! Sie können was von innen heraus aus einer einheitlichen Anschauungswelt, wo andere in ihren Skizzenbüchern hundert Einzelheiten zusammentragen." 15 Carneri benützt die Gelegenheit einer Besprechung der dritten Auflage von delle Grazies Gedichten, „Dr. Tille, dem ich ein Exemplar davon sende, öffentlich zu sagen, inwieweit ich imstande wäre, mich ihm zu nähern." 16 Ebenfalls an Haeckel berichtet Carneri über seine Besprechung des Epos: „Mein Robespierre ist im gestrigen Morgenblatt der,Neuen Freien Presse' erschienen ... Wie man mir schreibt, hat das kleine Ding in Wien großes Aufsehen gemacht. Schon die Art der Veröffentlichung war ungewöhnlich. Derlei bleibt oft Wochen, Monate liegen und erscheint in der Regel ohne Datum. Dieses wurde diesmal beigesetzt, um zu zeigen, daß die Sache gleich gebracht worden ist. Ich habe nämlich der Geschichte einen politischen Anstrich gegeben" 17 und gegen die klerikale Berufungspolitik der Wiener Unterrichtsbehörden protestiert. In diesem engen Bezugsfeld von Literatur, Wissenschaft und Politik überrascht es nicht, daß „Weltanschauungsliteratur" direkt geplant wird, wie ja auch - gegen alle literaturhistorischen Ausdifferenzierungstheoreme - um die Jahrhundertwende eine starke Repragmatisierung von Literatur zu beobachten ist. So schlägt der Ethiker Friedrich Jodl dem nebenher dichtenden Ethiker und Politiker Carneri, der ihm Proben seiner Uberset-

13 14 15 16 17

Heinrich Schmidt, Jena. 2 Bde. Leipzig 1914, Bd. 2, S. 309-316, S. 310 (Hervorh. W. M.). Vgl. zu diesem Salzburg-Aufenthalt auch Haeckel an Agnes Haeckel, 9. 9. 1896. In: Konrad Huschke: Ernst und Agnes Haeckel. Ein Briefwechsel. Jena 1950, S. 178 f. Haeckel an Carneri, 17. 6. 1895. Briefwechsel, S. 74. Tille an delle Grazie, 29. 1. 1896. WStLB IN 86.844. Tille an delle Grazie, 24. 7. 1897. WStLB IN 86.846. Carneri an Haeckel, 26. 1. 1896. Briefwechsel, S. 78. Carneri an Haeckel, 2. 3. 1895. Briefwechsel, S. 73.

Weltanschauungsliteratur

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zung von Dantes Göttlicher Komödie geschickt hat, 1892 ernsthaft vor, im Dienst einer verwandten „Weltanschauung" poetisch tätig zu werden: „Was uns fehlt und unsere möglichen Erfolge hemmt, ist, wie mir oft scheint, eine freidenkerische Literatur in Deutschland, welche volle Kühnheit und Klarheit des Gedankens mit Schwung und Idealität der Gesinnung verbindet. Der freie Gedanke erscheint den Leuten dürr und trostlos", er plane eine Anthologie und rechne auf Carneri. 18 Dieser teilt den Befund („Um auch, wenn es schief geht, in der ,entgötterten Natur' uns ruhig zu fühlen, bedürfen wir einer noch viel zu seltenen Bildung des Gemütes wie des Denkens." 19 ), verweigert allerdings die Teilnahme. Alexander Tille wieder kommt - nachdem er ihre „Weltanschauung" festgestellt hat - delle Grazie „mit einer ganz bescheidenen Bitte. Sie sollen [...] einen großen Weltanschauungsroman schreiben", und er hat sogleich mögliche Sujets zur Auswahl: „Sie wissen schon, solch ein Naturforscher, der sich in eine Orthodoxe verliebt; ein Ethiker, der gegen seine neue sittliche Uberzeugung eine schwindsüchtige heiratet [...] Abtrünnige vom alten und vom neuen Glauben [...]. Kinder [...] gegen die alte Weltanschauung. Erwachsene [als] Weltanschauungstyrannen. Ethische und Soziale Konflikte und derlei Kleinigkeiten mehr. Sie sind doch die einzige, die es könnte. Beweis: Sie haben den Robespierre geschrieben. Und Sie können ja auch so schöne Prosa schreiben." 20 Obwohl Tille die Autorin immer wieder an den „Weltanschauungsrom a n " erinnert, hat sie ihn nicht geschrieben. Tilles Position war ja schon in seinen naturalistischen Themenvorschlägen zum Ausdruck gekommen; die Thesen, die er in seinen „weltanschaulich"-philosophisch-ethischen Schriften ausbreitet, beruhen im wesentlichen auf d e m Gedanken, „der Menschheit höchstes Gut" liege „in der Höherentwicklung der Gattung Mensch" 2 1 , ein Ziel, das durch harte Selektion der Lebensuntüchtigen erreicht werden sollte; der „Ethiker", dessen „sittliche Uberzeugung" darin bestünde, die Schwindsüchtige nicht zu heiraten, befände sich auf dem Standpunkt von Tilles „Zukunftsmenschen". Ethik sei „Lebenswissen-

18 19 20 21

Jodl an Carneri, 29. 3. 1892. Briefwechsel, S. 106. Carneri an Jodl, 4. 4. 1892. Briefwechsel, S. 107. Tille an delle Grazie, 24. 7. 1897. WStLB IN 86.846. Alexander Tille: Von Darwin bis Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik. Leipzig 1895, S. 104.

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Marie Eugenie delle Grazie und Emst Haeckel

schaft". 22 Als die Dichterin, immer noch unter Verkennung der Positionen, ihm ihre sozialistische Walpurgisnacht übersendet, reagiert Tille unangenehm berührt: „Uber Ihre Walpurgisnacht habe ich mein graues Haupt geschüttelt."25 Die Korrespondenz bricht bald ab. Wie sieht ein Werk aus und in welche Situation ist es hineingeschrieben, das so verschiedene Vorverständnisse zu solchen Mißverständnissen bündelt? Als Carneri, bei aller Euphorie über die „geniale Dichterin", für Haeckel im Dienst der Verbreitung des Werkes Grundlinien einer Rezension entwirft, legt er Haeckel gegenüber Wert auf die Feststellung, die Tendenz des Werkes liege in seiner Tendenzlosigkeit: „Ich kann mir's so leicht vorstellen, daß Sie teils kaum die Zeit finden, teils überhaupt schwer dran geh'n, ein Epos zu besprechen; aber die Hoffnung geb' ich doch noch nicht ganz auf [...] Das Überwältigende an dem Gedicht liegt darin, daß der Autor nach keiner Richtung Partei ergreift: es ist rein die Weltgeschichte selbst, die sich erzählt. Noch einige Worte von Ihnen und die zweite Auflage ist gesichert." 24 Haeckel wieder berichtet der Autorin von seinen Schwierigkeiten mit der Rezension: „Es fallt mir unglaublich schwer, meinen Empfindungen über ein Kunstwerk [...] Ausdruck zu geben! [...] Angesichts Ihrer Werke sehe ich erst recht, wie Viel mir zum Künstler fehlt!" 25 In der Tat liegt der ästhetische Wert des Epos in seiner komplexen Textur, mithin seine Verwandtschaft mit der „Entwicklungslehre" auf einer gemeinsamen, „tieferen" textuellen Ebene als in ideologischen Postulaten.

D A R W I N IM E P O S :

„ROBESPIERRE"

Das 1894 erschienene Blankversepos Robespierre behandelt den historischen Zeitabschnitt von der Einberufung der Generalstände bis zur Hinrichtung Robespierres. Die französische Revolution war im österreichischen Liberalismus und Spätliberalismus wiederholt literarisches Thema geworden, bei Marie v. Ebner-Eschenbach, Ferdinand v. Saar, Robert Hamerling, schließlich in Arthur Schnitzlers Der grüne Kakadu.2e Seit Büchners Dan22 23 24 25 26

Tille: Von Darwin bis Nietzsche, S. 131. Tille an delle Grazie, 24. 7. 1897. WStLB IN 86.846 Carneri an Haeckel, 18. 11. 1895. Briefwechsel, S. 77. Haeckel an delle Grazie, 2. 6. 1895. WStLB IN 90.667. Vgl. Gerhard P. Knapp: Der Mythos des Schreckens. Maxirailien Robespierre als Motiv

Darwin im Epos: „Robespierre"

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tons Tod war die bevorzugte Form das Drama, das vornehmlich in Wechselrede der Helden und der „großen Männer" der Revolutionsepoche Geschichtstheorie und das Verhältnis von Individuum und den Massen ausbreitete. Die Gattung Epos, seit Hegel geschichtsphilosophisch verdächtig, war zunehmend zur bürgerlichen Freizeitform verkommen, als Sujets setzten sich Ritterromantik und Satire durch (J. V. v. Scheffel: Der Trompeter von Säckingen; 0 . v. Redwitz: Amaranth). Wenn zur Gestaltung heroischer Sujets die Gattung nicht mehr geeignet erschien, bedurfte ihre Repathetisierung einer besonderen Begründung. Diese Begründung wird von delle Grazie in einem methodischen Aufsatz nach der Publikation des Epos nachgeliefert. 27 Im evolutionären Sinn wird die Trias der Goetheschen „Naturformen" als „Typen" historisiert und evolutionistisch interpretiert: die Gattungspoetik könne von der Erkenntnis der Historizität der Naturformen nicht unberührt bleiben. Diese Operation ermöglicht, Kunst und Geschichte historisch, jedoch immer noch naturalistisch zu deuten: die Normen der Kunst seien die der organischen Schöpfung, Starrheit gebe es nur bei Strafe des Untergangs. Ist hiermit die Seite der Deszendenz argumentiert, wird der Selektionsmechanismus zum Kriterium der literarischen Qualität. Ein Kunstwerk müsse selbst beweisen, daß es sich auf der Höhe der literarischen, natürlichen und gesellschaftlichen Entwicklung befinde: „In dem Momente aber, wo ein Kunstwerk als Produkt seiner Zeit auch ihre Luft zu atmen beginnt, hat es sich als ein ihr durchaus angepaßter Organismus zu erweisen." 28 Ferdinand Kürnberger hat gegen den als Rhapsoden seiner eigenen Epen durch Europa und Amerika ziehenden Zeitgenossen Wilhelm Jordan eingewendet, daß - bei allem zugestandenen Talent - „er [nicht] mit einem homerischen Talent auch ein Homer sein und den Deutschen ein Nationalepos schenken kann." Jordan hatte - unter starker Benützung „sozialdarwinistischer" Züchtungsmotive, was ihn aus der Sicht Tilles zu

in der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. In: Schreckensmythen - Hoffnungsbilder. Die Französische Revolution in der deutschen Literatur. Hgg. v. H. Zimmermann. Frankfurt/M. 1989, S. 174-221 ; Peter Horwath: The Literary Treatment of the French Revolution: A Mirror Reflecting the Changing Nature of Austrian Liberalism (1862-1899). In: Modern Austrian Literature 6 (1973, H. 1-2, S. 26-40. 27

Delle Grazie: Das Epos. [Neue Freie Presse, 10. u. 11. 7. 1895] Wieder in: D. G.: Dichter und Dichtkunst. Vorträge, Erinnerungen, Studien. Leipzig 1904, S. 150-169.

28

Delle Grazie: Das Epos, S. 152.

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einem Vorläufer Nietzsches und seiner selbst macht 29 - stabreimend das Nibelungenlied zu verbessern gesucht und damit in der Sicht Kürnbergers nicht mehr geliefert als publikumswirksame Anachronismen: „Die Eltern des Epos sind ein lebhafter, aber literarisch noch unbemittelter Geschichtsdrang, verbunden mit einem poetischen und kunstbildenden Schönheitsdrang. Unmöglich aber kann nun der Vater in dem einen und die Mutter in dem andern Jahrtausend stehen." 30 Diesem gattungstheoretischen Einwand kann entgangen werden, indem auf das nationale Sujet und auf die Hoffnungen zur Einheit der Nation verzichtet wird - nichts anderes war die Intention Jordans, der sein „dankbares" Publikum bei „Vorleser-Tournüre, [in] gasstrahlende[n] Sälefn]" (Kürnberger) zum Mitdichten und zum Korrigieren seiner Stabreime aufforderte und sich davon die Herstellung einer genuin epischen Produktionsatmosphäre und ferner einen Beitrag zur Einigung der Nation versprach. Für delle Grazie ist diese historisierende Nationalpoesie Regression: „So hob das echte Epos bisher nicht die Geschichte als solche, wohl aber jede große Weltzeit mit ewigen Armen aus dem Meer der Vergangenheit. Was es über die Geschichte und seine minderwertigen, nur im Tage atmenden Geschwister, den Roman und die Novelle, stellt, ist gerade diese natürliche Auslese: gewaltigen Marksteinen gleich bezeichnet es die Wendepunkte auf dem Entwicklungsgange der Menschheit. Sein Held ist ein ewiger: der größte, schönste und wahrste zugleich - das Leben! Und so wenig dieses auf seinem Schaffensgange zweimal in dieselben Spuren tritt, so wenig kann das Epos immer den gleichen Gesetzen der Gestaltung folgen." So könne auch ein Volk nicht seine Vergangenheit der Form nach in neuen Nationalepopöen wiederholen: „Wie seine Urgeschichte, läßt es die Urformen seiner Künste hinter sich." Mit dem Austausch von Geschichte durch „Leben" wird wohl dieser zeittypisch grassierende - Begriff immer noch ungehörig konnotiert und über Gebühr belastet, immerhin jedoch wird dem „Leben" ein einigermaßen präziser systematischer Ort zugewiesen. Bereits am Beginn des Auf-

29 50

Tille: Von Darwin bis Nietzsche, S. 154 ff. F. Kürnberger: Der Rhapsode Jordan. [1870] In: F. K.: Gesammelte Werke. Hgg. v. 0 . E. Deutsch. Bd. 2: Literarische Herzenssachen. Reflexionen und Kritiken. Neue, wesentl. verm. Aufl. München, Leipzig 1911, S. 66-85, S. 68 u. 79.

Darwin im Epos: „ R o b e s p i e r r e "

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satzes wird die Dichotomie Kunst/Natur monistisch-historisch in den Überbegriff „Leben" aufgelöst: „Ist die Kunst im letzten und höchsten Sinne doch nicht mehr und nicht weniger als fortwirkendes Leben!" 31 Damit ist noch nicht bewiesen, welche Perioden nun tatsächlich als „große Weltzeiten" eposwürdig sind; sicher aber ist es nun eine Anforderung geworden, den historischen Ort dieser „großen Weltzeiten" mitanzugeben. Noch selten habe sie ein Stoff so besessen, vertraut delle Grazie Haeckel an: „Und Individualitäten wie diejenigen, die ich in diesem Epos nachschaffen durfte, werden mir nie wieder begegnen. Es war immer meine Uberzeugung, daß das eigentliche Ende des Mittelalters erst mit der französischen Revolution hereingebrochen sei. Sie ist der große historische Trennungsgesang der Gattung, die sich in ihren Rechten und ihrer Aufgabe zum erstenmale selbst begreift. Und in welchen Individuen differenzirt sie sich da! Ich bin überzeugt, daß mir mit diesem Stoff die geistigen Formeln gegeben waren, innerhalb derer sich immer wieder der Kosmos unserer Cultur erneuern wird." 32 Damit ist der symbolische Zug des „modernen Epos" gesetzt, da die Formen selbst ephemer, die „Ideen", parallel zu naturhistorischen Errungenschaften, das Durchgesetzte und Vererbte sind; ferner ergibt sich eine metonymische Struktur, die das historische Sujet so als historische Fabel (und damit als Fabel der Geschichtsereignisse) organisieren soll, daß es mit der Gesamtfabel der organischen Entwicklung übereinstimmt: „Zwischen Handlung und Handlung wird nicht mehr ein willkürlicher Abgrund, sondern die natürliche Spirale liegen, in der das Leben des Einzelnen wie der Gattung sich weiter bewegt." 33 Das wieder kann nur dann glücken, wenn diese „natürliche Spirale", die die Einheit der Handlung wie die Einheit der Welt demonstrieren und abbilden soll, mit Kunstmitteln motiviert wird, die die historisch gewordenen Erkenntniswerkzeuge benützen: „Dieser [der moderne] Epiker wird Psycholog, Soziolog und Ethiker sein, gerade so gut und noch mehr als die Romanziers." Formal möge die flexible Handhabung des Verses einen neuen Realismus verbürgen, der an die Stelle der alten Handlungsfixierung im alten Epos tritt:

51

Delle Grazie: D a s Epos, S. 165 f., 156. Zu solchen Fusionen in den „darwinistischen Ästhetiken" des Naturalismus vgl. Jutta Kolkenbrock-Netz: Fabrikation - Experiment Schöpfung. Strategien ästhetischer Legitimation im Naturalismus. Heidelberg 1981.

52

Delle Grazie an Haeckel, 50. 12. 1894. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 1618, 3.

33

Delle Grazie: Das Epos, S. 169.

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„Seine Technik selbst wird zeigen, daß der Vers kein Feind der Lebenswahrheit [...] ist". 34 Der moderne Epiker, „Psycholog, Soziolog und Ethiker", entzieht sich dadurch auch der Alleinzuständigkeit von Ästhetik und Tageskritik für die Bewertung seiner Literatur. Die Bitte nach einer Rezension durch Haeckel motiviert die Autorin durch den Wunsch, den „wissenschaftlichen" Gehalt des Werkes aus erster Hand bestätigt zu erhalten, denn es sei gerade seiner Verbindung zur Naturwissenschaft wegen heftig angegriffen worden: ,,[D]en größten Wert aber legte ich darauf, daß von Ihnen autoritativ die Bedeutung meines ,Robespierre' für die künstlerische Gestaltung der naturwissenschaftlichen Weltanschauung bekundet würde." 55 Haeckels Besprechung könne sich lediglich auf den achten, besonders aber auf den zwölften Gesang des Ersten Teils beziehen und etwa den Titel ,,[D]ie Poesie der modernen Naturwissenschaft" tragen 36 , ein Vorschlag, der deutlich Wilhelm Bölsches Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik (1887) heranzitiert, jedoch in Umkehrung. Die „Psychologie" hat schon Robert Hamerling für sein Epos Ahasver in Rom (1865) reklamiert, gegen den Einwand, es handle sich um eine „allegorische" Dichtung. 37 Hamerling geht es zunächst darum, „Allegorie" mit dem Verweis auf die immer schon symbolisierende Struktur von Wahrnehmung zu universalisieren, im Interesse, von der diskreditierten „Allegorie" zum zeitgenössisch höher bewerteten Symbolbegriff überzuleiten: „Aber für eine mit realem Leben erfüllte dichterische Figur ist die innewohnende ,Bedeutung' kein Vampyr, der ihr das Blut aussaugt. Existirt überhaupt etwas, das nichts ,bedeutet?'" Es sei im Gegenteil die Intention seines Epos gewesen, die „von Haus aus allegorische und abstrakte [Ahasver-]Sage zum ersten mal mit realem Leben zu durchdringen"; er habe sie deshalb mit dem Nero-Stoff verschmolzen und sein „vornehmstes Bestreben darauf [gerichtet], diesen Stoff zu einem einheitlichen, gegliederten Ganzen zu gestal-

34 35 36 37

Delle Grazie: Das Epos, S. 169. Delle Grazie an Haeckel, 10.6. 1895. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 1618, 8. Delle Grazie an Haeckel, 16.2. 1895. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 1618,5. Robert Hamerling: Epilog an die Kritiker. (Zur zweiten Auflage.) [1867] In: R. H.: Werke. Volksausgabe in 4 Bdn. Ausgew. u. hgg. v. M. M. Rabenlechner. Hamburg [1900], Bd. 1, S. 204-225, S. 210 f.

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ten." 3 8 Der „Psycholog" habe zunächst aus der Summe der von Nero überlieferten Greuel „den inneren leitenden Faden" zu finden, dann „alle diese Einzelheiten auch äußerlich in einen solchen Zusammenhang zu bringen, daß sie als notwendige Momente einer fortschreitenden einheitlichen Handlung erscheinen." 5 9 Wie aus d e m von Hamerling herangezogenen poetologischen Vokabular hervorgeht, verbirgt sich hinter der Apologie eine implizite Legitimation des Epos als Gattung („Wär's noch vergönnt, ein Heldenlied zu singen? / O fürchtet nichts!" beginnt der erste Gesang), die dieselben Funktionen wahrzunehmen imstande sei, wie das für die zeitgenössisch legitimen Formen gelte: „runde", konsistente Charaktere in „psychologisch" einsichtiger Komplexität, die ein organisches Kunstwerk zu tragen vermögen. Es ist daher konsequent, daß Hamerling in seinem zeitund literatursatirischen Epos Homunkulus (1887) den Wissenschaftsmaterialismus zur Vorlage für die „seelenlose" Gegenwart benützt: Homunkulus ist ein Produkt der chemischen Retorte, der „ungezeugt", mithin „seelenlos" durch die verschiedenen Projekte der Gegenwart geführt wird und diese damit auf den Begriff bringt. Am Ende kreist Homunkulus in schlechter Unendlichkeit als „Ahasver des Weltraums" „in des Himmels ew'gen Fernen", ,,[i]n der ehernen Gesetze, / [i]n des Stoffs, der Kräfte Wirbel". 40 Das Epos, das neben einer Persiflage des Hartmannschen Pessimismus (9. Gesang: „Sein oder Nichtsein") auch eine breite Darwinismus- und Literatursatire (5. Gesang: „Literarische Walpurgisnacht", 7. Gesang: „Die Affenschule") enthält, wendet sich auf mehreren Ebenen mit den Mitteln der Kunst gegen eine Dequalifizierung des Dichterberufs durch Materialismus und die modernen Formen von Naturwissenschaft: durch die implizite Berufung auf Goethe („Homunkulus", „Literarische Walpurgisnacht"), besonders aber durch die Berufung auf die zeitgenössisch plausible metaphorische Überhöhung ästhetischer Produktivität durch „Fruchtbarkeit" und „Zeugung", wie sie ja auch hinter der Formel vom „organischen Kunstwerk" steht. Rudolf Steiner, dem selbst an einer antimaterialistischen, sich auf Goethe berufenden Metaphysik gelegen war, hat genau diesen Komplex

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59 40

Hamerling: Epilog an die Kritiker, S. 211. In der Einzelausgabe lautet der letzte Passus: „zu einem einheitlichen, organisch gegliederten Ganzen zu gestalten". Hamerling: Ahasver in Rom. Eine Dichtung in sechs Gesängen. Mit einem Epilog an die Kritiker. 18. Aufl. Hamburg 1890, S. 262. Hamerling: Epilog an die Kritiker, S. 212. Hamerling: Homunkulus. In: Werke, Bd. 2, S. 264. Hervorh. W. M.

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aktualisiert, wenn er Hamerling in einer Rezension gegen die „unfruchtbare Persönlichkeit" der Kritiker in Schutz nimmt und die „produktive geistige Arbeit des wahren Schriftstellers" herausstellt.41 „Auch in dem Hause delle Grazies", berichtet Steiner in seiner Autobiographie, „in dem man vorher in restloser Bewunderung Hamerlings lebte, wurde man bedenklich, als dieses Epos erschien."42 Die „restlose Bewunderung" für die früheren Werke Hamerlings kann so groß nicht gewesen sein; in der Eposschrift delle Grazies wird Hamerling für seine Verstechnik, „seine Sprache und Darstellungsweise", aber gerade nicht für seine „Psychologie" gelobt. Im Gegenteil sei es Hamerling „durchaus nicht um einen Konflikt neuer Ideen mit alten Formen zu tun, wie den Modernen, sondern um den Konflikt von Ideen wie ,Lebenslust und Todessehnsucht', ,Güte und Schönheit' usw., die in dieser Fassung das moderne Denken nicht mehr beschäftigen." 43 Die Dissonanz zwischen Technik und Komposition bei Hamerling hätten seine Nachfolger „ganz nach der psychologischen Seite der Gestaltung" hin aufzulösen. Hamerlings polemische Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft favorisiert die konventionelle „Natur, die heil'ge, / Die geheimnisvolle Mutter". 44 Delle Grazie hingegen hegt „eine tiefe persönliche Antipathie gegen Goethe" und ist in der Literatur Shakespeare „und den neueren aus der leidensvollen Schwere des Lebens, oder den naturalistischen Verirrungen der Menschennatur geborenen Dichtern zugewendet", Dostojewski und Sacher-Masoch.45 „Psychologie" in historischer Absicht bedeutet für Hamerling nicht die Zuhilfenahme einer Einzelwissenschaft, sondern die homogenisierende Adaptierung biographischer Uberlieferung an poetologische Normen. Delle Grazies Formel von „Psycholog, Soziolog und Ethiker" steht nicht nur in Abgrenzung gegen Hamerling, sondern im Dienst der Gattungslegitimation gegen die „moderne[ ] Blüte des Romans" bei den „großen Russen und Franzosen". Ebenfalls sind hier nicht Einzelwissenschaften, gar positivisti41

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Rudolf Steiner: [Rez. zu: Hamerling: Homunkulus. Modernes Epos in 10 Gesängen.] [erstm. in Deutsche Wochenschrift 6, 1888, Nr. 16 f.] Wieder in: R. S.: Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884-1902. Dornach 1971, S. 145-155, S. 151. Steiner verteidigt Hamerling gegen den Vorwurf des Antisemitismus. R. Steiner: Mein Lebensgang. Eine nicht vollendete Autobiographie, mit einem Nachw. hgg. v. M. Steiner 1925. Dornach 1983, S. 105. Delle Grazie: Das Epos, S. 165. Hamerling: Homunkulus, S. 264. Steiner: Mein Lebensgang, S. 94.

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sehe, gemeint, denn die darwinisierende Ästhetik der Eposschrift geht schließlich in einen zweideutigen Idealismus über: das Ewige an einer „bestimmten Zeit" seien „nicht die Menschen", „sondern nur die Ideen, durch welche sie gelebt. Die Kreaturen nehmen ihre Zeit in den Auflösungsprozeß des Friedhofs hinab, die Idee aber bleibt zurück als ihr leuchtender Astralkörper!" Die neue Epik werde sich an „diejenigen [wenden], welche wieder großen Symbolen entgegenträumen." Der Epiker „aber wird mit dem, was bei ihnen [den Romanciers] Ballast war, Fangball spielen in zeitbeschwingten lebenglutenden Versen und gewaltigen Symbolen!" 46 Da die nach dem Abschluß des Robespierre in der Neuen Freien Presse publizierte Schrift wohl als Selbstkommentar zum Epos gelesen werden kann, interessiert die Funktion dieser Elemente im Werk. Der Ausweis des Epos als Naturform wirkt dabei als Apologie f ü r die Repathetisierung einer Literatur, die sich historischer Gegenstände annimmt. Dazu übernimmt „Darwinism u s " die Funktion einer kommentierenden Metaebene, die über den historischen Text gelegt wird. Die Verweisstruktur von Fabel und Gesamtfabel in delle Grazies Robespierre haben die Zeitgenossen schnell erkannt. Karl Bienenstein, der das Epos für das naturalistische Zentralorgan Die Gesellschaß bespricht, identifiziert sie als das „Biogenetische Grundgesetz": „Woran so die Menschheit krankt, daran krankt auch [...] der einzelne, auch Robespierre." 47 Der „darwinistische" Text ist vor allem in jenen Passagen zu erwarten, von denen delle Grazie annimmt, Haeckel werde ihn dort wiedererkennen; gerade der achte und der zwölfte Gesang sind zugleich dadurch gekennzeichnet, daß in ihnen der historische Handlungszusammenhang überschritten wird. 48 In die historische Konstellation fuhrt delle Grazie die symbolische Frauengestalt Lea ein, die ihr Leben auf Friedhöfen verbringt und in bedeutsamen Momenten mit Robespierre zusammentrifft, u m ihn von der Vergeblichkeit seines Tuns zu überzeugen. Lea vertritt in Wechselreden mit Robespierre einen agonalen Naturbegriff, der stark an Schopenhauer erinnern mußte: „das Leben [...], [d]as zäh im endlosen Sich-Wiederholen" ist, ,,[e]s legte auf die Lippen mir dies Wort!" (R I, 31) Aus dieser trüben Le-

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Delle Grazie: Das Epos, S. 168 f. Karl Bienenstein: M. E. delle Grazie und ihr Epos „Robespierre". In: Die Gesellschaft 1895, H. 2, S. 591-600, S. 595. Delle Grazie: Robespierre. Ein modernes Epos. 2., vielfach verb. Aufl. 2 Tie. Leipzig 1903 (i. f. zit. als „R", Band u. Seite).

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benserfahrung leitet Lea eine dem liberalen Progreßstandpunkt diametral entgegengesetzte Weltauffassung ab, in der Leiden aus der Individuation entsteht: ,„Wer seid Ihr?' Eigen lächelt sie:,Nicht mehr, / Als eine Welle jenes Stroms [...] Denn gemein wird jedes Schicksal / Zuletzt und eine Welle jedes Sein [• • •]•'" (R I, 32 f.) D e m korrespondiert in der Metaphorik des Prologs, der den Machthabern der Gegenwart ein „Habt acht!" zuruft, Geschichte selbst: „Dein Auf und Ab, o Blutmeer der Geschichte!", das an Gestalten gezeigt werden solle, die „fremd dem Sinn geworden, ob auch eines / Jahrhunderts Flut erst drüber weggerollt." (R I, VI) Robespierre gegenüber, der vom tugendhaften Revolutionär zum jakobinischen Terroristen wird, behält Lea recht, da Robespierre, an die Macht gelangt, jenes Blutmeer notwendig gegen seine Intentionen zu füllen beginnt. Dieses pessimistische Geschichtsbild, das die Weltgeschichte als periodisch neu in Betrieb genommene Schlachtbank vorstellt, ist nicht Sondergut der Autorin, ein großer Teil der Revolutionsliteratur des 19. Jahrhunderts lebt davon. Moralisiert wird Geschichte durch das Konzept einer universalen Schuld, die aus dem „Kampf ums Dasein" entstünde und solange unproblematisch bliebe, als sie in festen ideologischen Formen von Herrschaft und Religion gebannt ist. Von Schopenhauer inauguriert ist die von Lea vertretene „pessimistische" Rede von der List der Natur im achten Gesang „Im Reich des Todes", einer der ausgewiesenen Schlüsselstellen: „Natur, die Heuchlerin, schafft jeden Wahn, / Der ehern uns an dieses Dasein schmiedet, / Und ihr zur Posse, liebt, gebärt, erzeugt / Und ringt das Menschenvölklein endlos weiter. / Methode stinkt aus allem, was sie treibt, / Und nur im Zweck allein liegt ihr Bewußtsein." ( R I , 281) Die Rede von der „heuchelnde[n] Betrügerin Natur" (RI, 268), die sich gegen die rousseauistische Naturrechtsphilosophie Robespierres wendet, ist Ideologiekritik im allereigentlichsten Sinn: „wisse: nur wer Idealen dient, / Beugt knechtisch sich im Innern den Idolen!" (RI, 270) Jener Zweck der Natur ist Selbsterhaltung: „Der gleiche Kunstgriff gab der Weltgeschichte / Die Helden und Erlöser - Götter, Menschen / Und Bienen - pah, was fragt Natur, wie sie / Bestehn - sie wünscht ja nur, daß sie bestehen!" ( R I , 269) „Ideale" sind hier die List der Natur, die das Dasein in Gang hält, „der Geist im Hebel, / Der Witz im Mechanismus und die Mystik / Im rücksichtslosen Walten plumper Kraft!" (R I, 264) In der Topik des Darwinismus wird in diesem „Pessimismus" das Vorwalten des „Kampfes ums Dasein" allegorisch überhöht: Sind die Götter Natur, erscheint die Natur als Göttin. Die Strategie, eine allegorisch ge-

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dachte Natur primär zu setzen, hat delle Grazie auch in dem von mehreren Rezensenten erwähnten Gedicht Um Mitternacht benützt. Natur, „das lockende Ungeheuer", „Medusa und Sphinx zugleich", erscheint hier auf einem Triumphwagen, den ,,[w]ir alle" ziehen; die „Ideale" schweben als Lockmittel vor den Ziehenden, brechen sie erschöpft zusammen, „ruft sie ihr grausames: ,Evoe!' und lenkt / Zermalmend über tausend Opfer hinweg / Die ehernen Speichen ihrer Biga!" 49 Sofern die Anzengruber-Kennerin und -Verehrerin delle Grazie 50 mit dem Gedicht einen Kommentar zu Anzengrubers Jaggernaut-Skizze liefert, ist an der Substitution der Göttin „Freiheit! Fortschritt! Entwicklung!" durch „Natur" selbst die Inflexibilisierung der Allegorie als Zeichenträger abzulesen. Dennoch lehrt, wie der Rezensent Carneri ausführt, „dieses Epos in erschütternder Weise", wie gefahrlich es wohl sei, „von falschen Voraussetzungen auszugehen", „aber auch, daß, wann das Maß voll ist, die Umkehr nicht ausbleibt. Immer wieder hat sich der Mensch zu helfen gewußt, und darum gibt es auch einen Fortschritt". In der Tat gibt es selbst in diesem Geschichtspanorama ein optimistisches Fenster; auf dieses Fenster hat sich die Spontanrezeption auch konzentriert. Menschenzwecke mögen Naturzwecke sein, doch die Natur hat eine Tendenz. Delle Grazie hat Haeckel, dem sie die Lektüre des ganzen Werkes nicht zumuten will, besonders auf den zwölften Gesang verwiesen, „nicht etwa, weil er [dieser Gesang, W. M.] meine Art und Weise in diesem Epos besonders beleuchten könnte, denn gerade dieser ist nur Episode - sondern weil ich in ihm die Weltanschauung dichterisch verklärt habe, für die Sie mit so glänzendem Erfolge gekämpft, die uns Beiden so theuer ist!" 51 Exakt die Achse des Werks, den zwölften von 24 Gesängen, bilden „Die Mysterien der Menschheit", in denen der abgefallene Mönch Claude Fauchet 52 in den Jakobinerklub aufgenommen werden soll. Diese Aufnahme-

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M. E. delle Grazie: Gedichte. 4., sehr verm. Aufl. Leipzig 1902, S. 137. Delle Grazie: Ludwig Anzengruber. Zum 60. Geburtstage des Dichters. In: D. G.: Dichter und Dichtkunst, S. 50-71. Delle Grazie an Haeckel, 30. 12. 1894. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt.l, Nr. 1618, 3. Der historische Abbé Fauchet (1744-1793) war einer der Gründer des urchristlich und rousseauistisch inspirierten „Cercle social", publizierte 1791 eine eigentumskritische Schrift „De l'esprit des religions" und wurde mit den Girondisten hingerichtet.

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Zeremonie trägt die Züge eines freimaurerischen Initiationsrituals, das den Initianden auf seine Würdigkeit prüft; wie im masonischen Geheimbund soll das Ritual den Prüfling zur Selbsterkenntnis führen. Dieses „Erkenne dich selbst" übernimmt im Epos die Funktion einer gesamthistorischen Standortbestimmung der revolutionären Gegenwart und zeigt dem Priester in einer Vision nicht n u r seine eigene Individualgeschichte, sondern auch gleich die Stammesgeschichte, eingelagert in die Weltgeschichte als der Geschichte der Erde und des Lebens insgesamt. Der Priester wird tief in einen unterirdischen Saal geführt, in dem ihm Christus und Prometheus als die „ew'gen Feinde" der Menschheit vorgeführt werden: „Wer keinem Gott getrotzt, hätt' keinen Rächer / Geschaffen, wer die Himmel nicht gestürmt, / Wär' vor der Hölle nie ein Sklav' geworden, / Wer nie sich wider die Natur empört, / War' nie vor einem Kreuz im Staub gelegen." ( R I , 480) Die Vision propagiert Erbarmen, „Nur wer sich schwach weiß, kann Erbarmen fühlen, / Nur wer Erbarmen atmet, kann verzeihn"; „zu jeder Gottheit führt / Ein Blutpfad, doch zum Priestertum des Menschen / Ein sonniger, der sich Erbarmen nennt." (RI, 481) Als neue Vision taucht das Meer auf, in dem sich ,,[d]es Daseins höchstes W u n d e r " ( R I , 482) vollzieht und sich Tang als erstes Lebewesen bildet; „beschämt gedenkt / Der Priester der Sechstausend' seiner Bibel...." (RI, 483). Dann treten Ein- und Mehrzeller auf, „ein Werdetraum der jungen Schöpfung" (RI, 485), ein Urwald mit Farnbäumen. „Mit einem Male aber wallt das Meer / Wie kochend auf - d e m Sturm entgegen peitscht / Ein ungeheures Etwas seine Fluten" und macht der idyllischen Szenerie ein jähes Ende; ein Kampf zwischen Geschöpfen „rätselhaft nach Stamm und Art, / Halb Fisch, halb Lurch, ein junges Schöpfungsrätsel" (R I, 487 f.), Sauriern, wird vorgeführt. Unter dem Knall eines Vulkans blüht - eine Erdepoche weiter - die Vegetation wieder auf, „und entsetzt / Gewahrt der Mann hier alle Ungeheuer, / Die einst das Kind ins Fabelland geträumt" (R I, 492). Das Aussterben der Saurier bereitet der nächsten agonalen Epoche ein Ende, als „Erschöpfung / Und Hunger ihrer blinden Unvernunft / Das erste ,Halt!' gebeut." ( R I , 493) ,,[D]a rauscht und rasselt es / Im Laubdach einer dunklen Sykomore" und ein Riesenaffe tritt auf, zu d e m sich Affin und Affenkind gesellen und zu einem lebenden Bild erstarren: „Wie schützend steht der riesige Gefährte / Vor ihr, mit finstern Blicken unverwandt / Zum Gipfel des Vulkans hinüberstarrend, / Der allgemach erlischt. Sie aber reicht / D e m Kind die milchgeschwellte Brust und schaukelt / Das Zappelnde auf weichen Knieen ein - / Ein zärtlich-wehmutsvoller Ton ent-

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flieht / Dem bleichen Mund, und plötzlich rieselt Träne / Um Trän' ihr sachte in den Schoß hinab. . . . " ( R I , 495). Problemlos sind die Stationen dieses Zeitraffers in Haeckels Natürlicher Schöpfungsgeschichte nachzuvollziehen. Wie dort liefert die Szene noch die Verlängerung in die historische Zeit; der Priester, der die Affen verspottet, sieht sich in den „Götzendienst" Babylons und dann in ein von seinen eigenen Berufsgenossen veranstaltetes mittelalterliches Autodafé versetzt. Die Vision endet mit der Läuterung des Mönches, der seinen Gott gegen die Natur eingetauscht hat: „Aufatmet / Er wie erlöst, nun seine Himmel leer": „Ein Klümpchen Schleim und doch von gleicher Kraft / Beseelt, wie über ihm des Himmels Sterne; / Als Blume fühlt er sich im Abendhauch / Erzittern und als Riesenvogel hoch / Im Äther schweben, unter sich die Erde." (R I, 518) Die Szene der Läuterung endet im Kirchenschiff des Jakobinerklosters, in dem sich ein säkularisierter Gottesdienst begibt. Die Zeitreise, an deren Ende Fauchets Himmel leer sind und der Initiand „Erbarmen" als Lösung des Welträtsels akzeptiert hat, hat ihre Prätexte; der wichtigste unter ihnen ist zweifellos Haeckels Schöpfungsgeschichte. Der Affenmensch, der dem Priester als Bild anthropologischer Demut vorgerückt wird, ist das „Missing link", das Haeckel als Pithecanthropus vorhergesagt hatte und das als „Java-Mensch" 1891 von Eugen Dubois gefunden wurde. Auf einem Ölbild, das der Salzburger Maler Gabriel Max Haeckel zum 60. Geburtstag gewidmet hat, wird genau die von delle Grazie ausgebreitete Szene der Mütterlichkeit und der tierischen Familiarität gestaltet; das Bild, das von Haeckel in seinem Jenaer Arbeitszimmer aufgehängt wurde, wurde von einem Münchner Kunstverlag als Kunstpostkarte verbreitet. 53 Max, im Besitz einer vergleichend-anatomischen Sammlung zur „Entwicklungs-Reihe" der Affen, sei, so Haeckel, durch eigene Studien und durch die Natürliche Schöpfungsgeschichte „aus den Tiefen des Mysticismus zum Lichte des Monismus empor gestiegen." 54 Der Titel des Bildes - „Pithecanthropus alalus", der von Haeckel vorgeschlagene zoologische Name des „sprachlosen Affenmenschen" - ist bei delle Grazie im „zärtlich-wehmutsvollen Ton" der Affin präsent. Die Parallelen sind so frappant, daß an ein direktes Zitat gedacht werden könnte; selbst die Träne der Affin ist zu sehen. Die Übereinstimmung ergibt sich aber auch schon daher, daß sowohl Bild als auch epische Genre55 54

Eine solche Postkarte des Kunstverlags Hanfstaengl im Nachlaß delle Grazies, WStLB, zu IN 87.199. Haeckel an delle Grazie, 27. 9. 1896. WStLB IN 90.679.

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szene die christliche Ikonographie der Heiligen Familie zitieren, die als Urbild von Erbarmen und Menschlichkeit bis heute die Bilderwelt beherrscht. Nicht von ungefähr hat Haeckel in mehreren Vorträgen die Menschlichkeit dieses Wesens aus der Vorhersage von weiblichen Brustdrüsen abhängig gemacht: „Hier liegt die physiologische Quelle jener höchsten Form der Mutterliebe, welche einen so bedeutungsvollen Einfluß auf das Familienleben der verschiedenen Säugethiere, wie auf die Cultur und das höhere Seelenleben des Menschen ausgeübt hat. Von ihr singt der Dichter Chamisso mit Recht: ,Nur eine Mutter, die da liebt [...].' Wenn die Madonna uns als das erhabenste und reinste Urbild dieser menschlichen Mutterliebe erscheint, so erblicken wir andererseits in der,Affenliebe', in der übertriebenen Zärtlichkeit der Affenmütter, das Gegenstück eines und desselben mütterlichen Instinctes." 55 Wenn der sprachlose Affenmensch als Bild der säkulären Demut der Hybris der christlichen Inquisition entgegengesetzt wird, so wird ein darwinistischer Topos aus der Zeit der institutionellen Kämpfe heranzitiert: Thomas Henry Huxley hatte 1860 in einer Debatte dem Bischof Samuel Wilberforce entgegnet, er stamme lieber von einem Affen ab als von Menschen, die wider besseres Wissen eine wissenschaftliche Diskussion ins Lächerliche zögen. 56 (Ebenso soll Anton v. Auersperg [Anastasius Grün] gesagt haben: „Ich find' nicht, daß ich dem Affen eine Schand' mach'." 57 ) „Eigenthümlich ist es mir mit der Photographie nach dem Max'schen Bilde ergangen", erklärt delle Grazie in einem Brief an Haeckel diese merkwürdige Übereinstimmung: „Als ich dieselbe erblickte, glaubt' ich, eine Illustration zu einer Episode aus dem 12. Gesang meines ,Robespierre' (,Die Mysterien der Menschheit') vor mir zu haben. Wär' ich gläubig, würd' ich das mystisch finden. So weiß ich, daß das einzige große Mysterium dieses Jahrhunderts, dem wir Alle dienen, der Gedanke ist, der in leuchtender Schönheit bald hier bald dort aufblitzt, wie ein elektrischer Funke. Und gewisse Gedanken haben ja die geistige Atmosphäre dieses Jahrhunderts zu neuen Schöpfungen geschwängert." 58 Das

55

E. Haeckel: Ueber unsere gegenwärtige Kenntniß vom Ursprung des Menschen. Vortrag, gehalten am 26. August 1898 auf dem vierten Internationalen Zoologen-Congreß in Cambridge. In: E. H.: Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre. 2., verm. Aufl. Bd. 1. Bonn 1902, S. 345-420, S. 377 f.

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Vgl. dazu Adrian Desmond u. James Moore: Darwin. München, Leipzig 1992, S. 557-564. Bartholomäus v.] Carneri: Robespierre. In: Neue Freie Presse (Wien), 1. 3. 1895, S. 1 f , S. 2. Delle Grazie an Haeckel, 5. 10. 1894. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 1618, 2.

57 58

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„Mysterium des Jahrhunderts" ist jedoch nichts als die gemeinsame Verbundenheit gegenüber derselben Bilderwelt. Der Kampf der Saurier im Wasser ist gleichfalls ikonographisches Zitat; das 19. Jahrhundert hat sich Saurier kaum je anders als kämpfend vorgestellt, wobei es sich in den meisten Fällen um den Kampf eines Ichthyo- gegen einen Plesiosaurus handelt, also eines krokodilartigen Sauriers gegen einen seeschlangenähnlichen. Schon in Gotthilf Heinrich Schuberts Naturgeschichte des Mineralienreiches stehen die beiden einander feindlich gegenüber, ab der Jahrhundertmitte in den Illustrationen des Geologen Henry de la Beche 59 und denen des Zeichners Benjamin Waterhouse Hawkins, der für die Wiedereröffnung des Ciystal Palace in Sydenham unter Anleitung des Paläontologen Richard Owen 1853 seinen Dinosaurier-Park gestaltet. Die weitere Karriere dieses Bildes ist die Allegorie des „Kampfes ums Dasein", so bei Charles Knight. 60 Der französische Illustrator Riou hat diese Gigantomachie zur Titelillustration eines zeitgenössischen Romanwerks gemacht, das gleichfalls eine Zeitreise gestaltet, die in eine unterirdische Welt führt und dort in Meer und Land die Schöpfungsgeschichte abschreitet, mit kämpfenden Sauriern, Urwäldern und fossilen Menschen: Jules Vernes Voyage au centre de la Terre (Paris: Hetzel) von 1864.61 Der Roman läßt Axel Lidenbrock am Seil seines ihn knechtenden Onkels, des Geologieprofessors, und anhand eines alten Manuskripts in eine Unterwelt vordringen, in der die Zeit zum Raum wird und wenigstens fiktional eine anthropologische Kontroverse gelöst 59

60

61

Vgl. etwa die Titelillustration zu Charles Darwin: The Origin of Species by Means of Natural Selection or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. Ed. with an introduction by J. W. Burrow. Harmondsworth 1985, nach Henry de la Beches „Düna Antiquior". In Sydenham fand am 31. 12. 1853 in einer Iguanodon-Attrappe Hawkins' das bekannte Dinner britischer Geologen, Paläontologen und Biologen statt; ein Reflex davon findet sich im Natureingang von Sacher-Masochs Novelle „Der Capitulant": „Man begreift, wie das Eis eine Welt begraben hält, wie man aufhört zu leben ohne zu sterben, ohne zu verwesen. Ungeheure Elephanten, riesige Mammuths liegen darin unversehrt aufgespeichert für die Suppentöpfe fleißiger Gelehrter. Man erinnert sich an vorweltliche Diners und lacht." Leopold v. Sacher-Masoch: Don Juan von Kolomea. Galizische Geschichten. Hgg. u. mit einem Nachw. vers. v. M. Farin. Bonn 1985, S. 65. Zu Hawkins (1807-1889) und Knight (1874-1953) vgl. Darwin und Darwinismus. Eine Ausstellung zur Kultur- und Naturgeschichte. Hgg. v. B.-M. Baumunk u. J. Rieß. Berlin 1994, S. 102-104 u. 158. Zeitgenössisch etwa Julius [!] Verne: Reise nach dem Mittelpunkt der Erde. Wien, Pest, Leipzig 1874, III. vor dem Beginn des ersten Kap., ebs. S. 184 („Ein Riesenzweikampf").

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werden kann. Dem Trick des Romans, Zeit gleichsam gefroren vorzuführen und somit in der Abwärtsbewegung durch die geologischen Schichten eine Rückwärtsbewegung in der Naturgeschichte sinnlich plausibel zu machen, korrespondiert eine Traumvision Axels auf dem „Urmeer", in der dieser ungebändigt vom wissenschaftlichen Kommentartext des Professors die Zeitreise Fauchets in umgekehrter Richtung vollzieht: „Jahrhunderte vergehen wie Tage! Ich schreite im Geist die ganze Erdgeschichte zurück. Die Pflanzen verschwinden [...]. [...] [Ich] fühle mich wie emporgehoben in Planetenräume. Mein Körper verflüchtigt sich und vermischt sich wie ein Atom mit jenen gewaltigen Dämpfen, die im Unendlichen ihre glühende Kreisbahn ziehen." 62 Nach der zweiten Geburt durch den Vulkanausbruch, der die Forscher wieder an die Oberfläche zurückbringt, wird der Professor menschlich gereift und Axel heiratsfähig sein. 63 Ernst Haeckel haben gerade die „Mysterien der Menschheit" „natürlich besonders interessirt" 64 , wie er an die Autorin schreibt. Im Kult des Jakobinerklosters, der die Demutsreligion des Menschen vorführt, nachdem sich für das Individuum durch das existentielle Bildungserlebnis der eigenen Naturgeschichte die Himmel leeren, mußte für Haeckel, der zwei Jahre vor der Fertigstellung des Epos den „Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft" ausgerufen hatte, die eigene Position erscheinen. Hat für Axel Lidenbrock lediglich die eigene soziale Pubertät ein Ende, so verweist der Gang des Priesters Fauchet zu den Müttern auf ein immanent-heilsgeschichtliches Telos, das die Tragödie der Revolution zur Zukunft hin öffnet. In der Tat bilden Prolog, „Mysterien" und das Ende des Epos die Klammer, innerhalb der sich eine agonale Natur in der Kultur katastrophal auslebt. Am Ende versteht nicht so sehr der Moralist Robespierre, dessen „Kult des höchsten Wesens" in seiner Selbstfeier die Massen um ihren Ausdruck und mithin Robespierre ums Leben bringt, sondern der Zyniker St. Just, wie es weitergehen kann. Den Schluß von Lenaus Albigenser-Epos zitierend, heißt es von St. Just: „Andre werden kommen / Und stärker sein." (R II, 528) „Dann lächelt er, und lächelnd winkt den Freund [Robespierre] er / Zu sich empor, wie einer, dem nachfolgen / Nicht sterben, sondern wiederkommen heißt." (R II, 531) 62 63 64

Jules Verne: Reise zum Mittelpunkt der Erde. Zürich 1976, S. 274 f. Vgl. die psychoanalytische Interpretation bei Friedrich Wolfzettel: Jules Verne. Eine Einfuhrung. München, Zürich 1988, S. 68-81. Haeckel an delle Grazie, 2. 6. 1895. WStLB IN 90.667.

Darwin im Epos: „Robespierre"

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U m die antiklerikale Dimension der Dichtung benützen zu können - es ist nicht zufällig der Exmönch, d e m die Schöpfungsgeschichte vorgeführt wird, obwohl er im weiteren Verlauf der Handlung keine besondere Rolle m e h r zu spielen hat - , scheint es u m die Jahrhundertwende in Österreich u n d Deutschland schon genügt zu haben, auf die Affen hinzuweisen. So schreibt Carneri an Haeckel über seine Rezension: „Ich habe nämlich der Geschichte einen politischen Anstrich gegeben. Durch die ,Mysterien der Menschheit' bin ich auf Sie, durch Sie auf die Affen und durch die Affen auf mich selbst g e k o m m e n ; d e n n m i r ist die ,schwarze Note' zuteil gew o r d e n . Beim letzten Pairsschub ist meine Berufung in's Herrenhaus ernstlich zur Sprache g e k o m m e n , u n d meine philosophischen Schriften verwehrten mir den Eintritt. Ich lache mich bucklig darüber; denn praktisch könnt' ich die Stelle nicht m e h r verwerten und ich käme mir unter jenen h o h e n Herren wirklich wie ein ausgestopfter Äff vor. Aber ich konnte die Gelegenheit nicht versäumen, einen festsitzenden Hieb zu führen." 6 5 Hierbei handelt es sich jedoch u m eine Vereindeutigung durch Carneri, der das Epos als eindimensionale Entwicklungsgeschichte liest; die Vision in den „Mysterien d e r Menschheit" hat dagegen vielfachen symbolischen Uberschuß und spricht von der Last der Individuation. Der den Christus folternde Torquemada aus d e m historistischen Panorama erklärt sich selbst als die Nachtseite des Gottesbegriffs: „Ich w e r d ' mit jed e m Gott geboren / Und hab' noch jedem Gott der Welt gedient!" (R I, 514) u n d gehört daher in die Feuerbachsche Religionskritik des Epos, die sich nicht einsinnig in den Tageskampf gegen den österreichischen Katholizismus einreihen ließ. Haeckel wieder scheint nicht bewußt geworden zu sein, daß delle Grazies Epos in Summe ein gänzlich anderes Naturbild etablierte als jenes, an dessen Aufbau Haeckel gerade arbeitete. Die monistische Privatreligion tendiert zu einem teleologischen „Glauben", der „Gott" durch die „Gott-Natur" ersetzen soll. Eine Stelle in einem Privatbrief delle Grazies an Haeckel läßt sich als sanfte Kritik an der monistischen Teleologie verstehen: „Die Natur lieb' ich, wie sie ist. Ihre höchste Schönheit kann zugleich zerstören; und über Wahrheit und Güte hab' ich so meine eigenen Gedanken. Aber es versteht sich von selbst, daß man einer Zeit, die zum großen Theil an Symbolen hängt, wenigstens vergöttlichte Begriffe lassen muß. Für mich spricht

65

Carneri an Haeckel, 2. 3. 1895. Briefwechsel, S. 73.

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die Natur immer wie der Jehovah des alten Testamentes: ,Ich bin ich!' - das ist Majestät. Alles Andere tragen wir in sie hinein, als Wunsch. Wir ewigen Dichter, Menschen genannt!" 66 Das Gattungsparadigma des Epos ist die „Queste" eines epischen „Helden", zwischen Auszug und Heimkehr. Im Epos des 19. Jahrhunderts erfährt dieses Schema Transpositionen. Zum einen wird als „Held" das „Volk" gesetzt, eine Uberbietung, wie sie Hermann Lingg, Wilhelm Jordan u n d ähnlich der historische Roman etwa Felix Dahns betreiben. Eine parallele Entwicklung fuhrt dagegen durch die Rücknahme der heroischen Form zu einer „Verkleinerung", wie sie sich seit d e m 18. Jahrhundert angekündigt hat, und übersetzt die hohe Form in eine romantisierende bürgerliche Gebrauchsform, die als „Butzenscheibenlyrik" die Polemik der meisten Ästhetiker auf sich gezogen hat. Mit diesen Operationen geht die Dequalifizierung des epischen Helden einher, ohne daß dadurch aber die Gattungsparadigmen aufgehoben wären. So ist etwa in Adolf Friedrich v. Schacks darwinisierendem Epos Nächte des Orients (1874) das Moment der Reise bewahrt, doch als imaginäre Zeitreise gestaltet: D e r „Held", ein „Ich", flüchtet vor d e m Ennui und der zu erwartenden Reaktion durch das I. Vatikanische Konzil in den Orient; in einer Reihe von Opiumvisionen werden ihm die exotischen Fluchtwelten vergangener Geschichtsepochen vergällt, indem er sich jeweils als Opfer von Schreckensszenen im „Kampf ums Dasein" wiederfindet. Das Epos, eine mit historistischen Gestaltungsmitteln ausgeführte Historismuskritik, versöhnt den Zeitreisenden mit seiner eigenen Gegenwart im Telos der deutschen Nationalgeschichte, der Reichsgründung, die zu befestigen er sich am Ende des Werkes aufmacht. Die Zeitreise im Robespierre ist sehr ähnlich angelegt und arbeitet ebenso mit der kollektiven historischen Phantasie der Epoche, wenn sie nach der Menschwerdung des Affen die historischen Stationen Babylon (Semiramis), Israel (Abraham), Alexandria (Hypatia) und das Spanien der Inquisition (Torquemada) abschreitet. Bezeichnenderweise hat delle Grazie gerade von diesem Gesang, der so deutlich mit den historistischen Szenarien und Verfahren der Zeit gesättigt ist, erklärt, sie hätte ihn „direkt im Traum empfangen" und in romantischer Manier das „Eigentlichste am Wesen meiner Kunst" als ihr selbst „rätselhaft" erklärt. 67 Jedoch ist die Vision Fauchets im 66 67

Delle Grazie an Haeckel, 5. 10. 1894. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 1618, 2. Delle Grazie: Mein Lebensweg. In: D. G.: Dichterund Dichtkunst, S. 73.

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Robespierre vom Helden Robespierre abgelöst und betrifft damit den „Helden" nicht; sie ist daher als Metaerzählung zu lesen, nicht anders als Leas Zwiegespräch mit Robespierre. Die „Lehren" bzw. Thesen beider Stellen sind so „tief" angelegt, daß sie in der historischen Situation ohne Nutzen bleiben müssen. Es kann dem „Idealisten" Robespierre nicht helfen, daß Lea die „Ideale" als „Idole" entlarvt; Fauchet bleibt eine Randfigur. Durch die Metaerzählung wird das politische Geschehen als Naturgeschehen dargestellt; diese „ideologiekritische" Figur geht jedoch zunächst nicht auf Kosten von Ideologiekritik im engeren Sinn. Die Einsicht, daß die Protagonisten der Revolution Agenten gesellschaftlicher Klassen sind, wird durch die Annahme, die Revolution sei gleichsam ein Manöver der „Natur", nicht überdeckt. Im Kontext der Revolutionsdichtungen der Epoche ist Robespierre geradezu singulär im Bewußtsein der sozialen Triebkräfte der Revolution. 68 Galten Robespierre und die Jakobiner als Schreckbilder des 19. Jahrhunderts, wurde gewöhnlich von den Liberalen als positives Gegenstück die Gironde aufgebaut, auch - mit weiteren Vorkehrungen - von Marie v. Ebner-Eschenbach. 69 Das revolutionäre „Volk" erscheint im 19. Jahrhundert allgemein als Mob und wird mit Naturmetaphern verbunden. Bei delle Grazie hat die vorgängige Naturalisierung paradoxerweise eher den Effekt, den Pöbel zu „entschuldigen"; das „Volk" bzw. die „Masse" kann ebenso wie die historischen Agenten von einer bestimmten Schuld freigesprochen werden, da der Schuldzusammenhang auf Natur selbst übergegangen ist. So liegen zwar deutliche Sympathien bei den Girondisten, die Gironde wird aber am Ende für das Scheitern der Revolution verantwortlich gemacht (R II, 468); die Repräsentation des „Pöbels" ist durch die offenkundige Bemühung gekennzeichnet, durch Individualisierung dem „Volk" Gesichter zu verleihen (Grumeau, Louison). Ist Hamerlings Danton und Robespierre auf Robespierre als Führergestalt ausgerichtet, wobei das Volk „nur ornamentale oder teichoskopische Funktion besitzt" 70 , kommentiert das Volk bei delle Grazie das Verhältnis von sozialer und politischer Befreiung (R II, 467 f.). Eine

68 69

70

So Knapp: Der Mythos des Schreckens und Horwath: The Literary Treatment of the French Revolution. Vgl. Ingrid Spork: Manon Roland - „Königin der Gironde" und „Genius Frankreichs". Dramatische Bearbeitungen eines Frauenschicksals in der Französischen Revolution von Minna Kautsky und Marie von Ebner-Eschenbach. In: Minna Kautsky: Beiträge zum literarischen Werk. Hgg. v. S. Riesenfellner u. I. S. Wien 1996, S. 79-94. Knapp: Der Mythos des Schreckens, S. 198.

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Grenze der sympathisierenden Darstellung von „Volk" in dem durchaus nicht prüden Werk zeichnet sich an der häufigen Verknüpfung von revolutionärer Gewalt und sexueller Transgression ab. Häufigkeit und Drastik orgiastischer Szenen nehmen dabei analog zu der sich steigernden Gewalt der revolutionären Wirren stetig zu (R II, 124; 17. Gesang: Die Korybanten der Freiheit, bes. 207, 212 f.; 252 f.; 380 ff.). In den Ausschweifungen, die signifikant häufig mit Profanierungen (Notre-Dame) zusammengehen, ,,[v] ermischen wahllos Stand und Alter sich", ,,[d]a paart nicht Jugend sich / Der Jugend, Kraft der Schönheit: die verirrten / Instinkte schließen einen eklen Bund!" (R II, 584 f.) Hier fehlen poetische Vorkehrungen, der soziale Subtext kann sich als „Angst vor Vermischung" durchsetzen. Robespierre soll ein „moderner", komplexer Held sein, nicht der vormoderne „epische Held", der besessen habe: „eine Nomenklatur von Leidenschaften und die Macht sie auszutoben; sein Schwert oder ein Ideal, sein Volk oder einen Gedanken, für den er stritt, litt und fiel. Mit einem Worte immer eine Pose und das dazu gehörige Kostüm: viel Pathos, weite Gesten und den Lärm der offenen Szene." 71 In delle Grazies Eposschrift werden in einer signifikanten Fehlleistung Protagonist und Gattung vertauscht, wenn vom „epischen Helden" auf den „von ihm kaum beachtete[n] Halbbruder, de[n] Roman" übergegangen wird und in der Folge vom modernen „Epiker" die Rede ist; der moderne epische Held werde „aus der Summe einer Persönlichkeit heraus handeln, die für das eigene Bewußtsein eine Eins, im Konflikte mit dem Leben jedoch eine Vielfache ist."72 Die angestrebte Komplexität steht aber in Widerspruch zu den Darstellungsbedingungen dieser „Vielfachen": Die Depotenzierung des Helden bedarf umso stärkerer Genrebilder, hier: der Gewalt, als Kulisse: „[...] und auflebt gleich darauf, unheimlich / Vom Flackerglanze hochgesteckter Fackeln / Erhellt, noch schauriger das wüste Bild. / Ein Wandeldiorama aus der Hölle / Nun scheint's, mit seinen Greueln, seinen haß- / Verzerrten Fratzen, seiner spukhaft jäh / Abwechselnden Gruppierung aller Laster." (R II, 252, Hervorh. auch i. f. W. M.) Die „Mysterien der Menschheit" führen einen Schüler vor, vor dem sich ein natur- und welthistorisches Panorama entrollt, in das er nicht eingreifen, sondern das er nur in passiver Anteilnahme kommentieren kann: „Der scheue Blick des Priesters aber schweift" (R I, 498), „da reißt ein Wirbelwind / Das Bild hinweg" (R I, 496), „Gebannt und kaum noch atmend 71 72

Delle Grazie: Das Epos, S. 167. Delle Grazie: Das Epos, S. 169.

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lauscht der Priester" (RI, 495); „Es ist ein Bild - so furchtbar schön und seltsam, / So überwältigend und fremd zugleich, / So schwermutvoll und dennoch lebenpulsend, / Daß bang dem Schauenden der Atem stockt." (R I, 487) Deutlich genug wird im dritten Gesang des Epos die Erzählung eines Straßenmusikanten von den Leiden der Proletarier zur optischen Darbietung: „So ringt aus dem Gesang der Bettelgeige / Gespenstisch Bild um Bild sich los. 's ist wie / Ein Wandeldiorama, das Entferntes / Und Fremdes seltsam aneinanderfügt / Zu schemenhaftem Reigen." (R I, 79) Dennoch hat delle Grazie mehr Wirkung von ihrem Epos erwartet, als ihm zuteil wurde. Als sie August Bebel einige ihrer Bücher übersendet, erkundigt sie sich in aller Form, warum sie in der deutschen Arbeiterpresse nicht rezensiert würde, worauf Bebel diplomatisch antwortet, der harte Tageskampf lasse derzeit eine intensive Befassung mit ,,dichterische[n] Genüße[n]" nicht zu. 73 Unter dem 20. Juli 1890 antwortet delle Grazie Minna Kautsky mit einer Zusage zur Mitarbeit an der Neuen Zeit, indem sie den Erstabdruck des Robespierre vorschlägt; die Setzkästen der Fortsetzungen könnten dann für eine Lieferungsausgabe für Arbeiter benützt werden. 74 Tatsächlich dürfte der Agitationswert bescheiden gewesen sein: Die Akademiker Carneri, Haeckel und Tille benötigen für die Lektüre jeweils einige Wochen. Es ist daher mit einem von der Autorin intendierten Wirkungsraum des Epos zu rechnen, der sich mit dem von der Rezeption realisierten überschneidet, jedoch nicht deckt. Die realisierten Potentiale des Textes zeigen eine Gemeinsamkeit: Sie werden in sozialen Milieus aktualisiert, die dem Epos einen jeweils verschiedenen manifesten Gehalt unterschieben, einen latenten Gehalt jedoch korrekt rezipieren. Es handelt sich hierbei um die sozialen Träger von Intellektuellenpolitik, die sich in heroischen Formen wiederzuerkennen vermögen. (In dieser Richtung dürfte auch die Nietzsche-Verehrung delle Grazies zu verorten sein. 75 ) So schreibt Carneri: „Immer wieder hat der Mensch sich zu helfen gewußt, und darum gibt es einen Fortschritt, der freilich fast immer nur die Form und kaum 73 74

75

Bebel an delle Grazie, 25. 4. 1897. WStLB IN 89.373. Delle Grazie an Minna Kautsky, Wien, 20. 7. 1890. IISG Kautsky-Familiennachlaß 1638. Minna Kautsky hatte eine Woche zuvor, unter Bezug auf eine (wohl private) Vorlesung aus dem Epos, delle Grazie Beiträge für die „Neue Zeit" vorgeschlagen, sie würde sie dann an ihren Sohn Karl als Redakteur weiterleiten. M. Kautsky an delle Grazie, 13. 7. 1890. WStLB IN 90.584. Vgl. das Gedicht: Vogel Rokh. (Friedrich Nietzsche zu eigen.) In: Delle Grazie: Gedichte, S. 241 f.

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merklich den Inhalt betrifft, weil es in der Natur der Sache liegt, daß der ethisch Hocherhobene jederzeit ebenso selten sein wird als herrlich." 76 Der gänzlich anders gesinnte Rudolf Steiner erkennt: „Die Regionen, in denen delle Grazie wandelt, sind es, durch die hindurchgehen muß, der zu den Höhen des Lebens dringen will. Nur die teuer erkaufte Erkenntnis [...] hat Wert. Delle Grazies Dichtungen zeigen den Preis, den jeder Erkennende einsetzen muß." 7 7 Wenn nach Gerhard P. Knapp der Umstand, ,,[d]aß das gelungene Werk es zu hohen Auflagenziffern und einer beachtlichen Verbreitung bringen konnte", „das Vorhandensein ernstzunehmender progressiver Strömungen auch im Bildungsbürgertum der Gründerzeit" belegt, bedarf der richtige Befund entschieden einer Differenzierung. 78

M O N I S M U S ALS

BILDUNGSUNTERNEHMEN

Wenn in Robespierre der „Darwinismus" die Rolle eines ,Masterplots' hat, ohne noch näher für die erzählten Begebenheiten verantwortlich zu sein, sind die Angebote, die die Entwicklungslehre für Geschichtsabläufe und Erzählmodelle bereitstellte, in einem Roman von 1908 (Buchfassung 1909) besonders effizient ausgenützt, in dem m. W. einzigen Roman, der den prominenten Darwinisten Haeckel selbst auftreten läßt: Heilige und Menschen. 19 Der Roman zeichnet die Bildungsgeschichte des italienischen Mädchens Alba Chietti, das in einem römischen päpstlichen Internat mit seiner Freundin Elena an ihrer beider Berufung zur Nonne zu zweifeln beginnt; während Elena, die sich in Flavio, den Bruder der Protagonistin, verliebt, bei einem Fluchtversuch ums Leben kommt, gelingt es dieser, aus dem Internat zu entkommen. Bei der Flucht hilft ein Freund ihres Onkels Bartolo, der sich schließlich als der deutsche Gelehrte Haeckel zu erkennen gibt; dessen Schriften hatten den ersten Bruch in Albas katholischer Erziehung herbeigeführt. Es stellt sich heraus, daß die Mutter durch Albas Weg ins Kloster das ungeliebte Kind, das die Frucht einer außerehelichen Liebesaffare gewesen war, zum Verschwinden zu bringen und zugleich sich von dieser Sündenlast zu befreien versucht hatte. Am Ende

76 77 78 79

Carneri: Robespierre, S. 2. R. Steiner: Marie Eugenie delle Grazie, [erstm. in: Magazin für Literatur 69, 1900, Nr. 37 f.] Wieder in: Steiner: Gesammelte Aufsätze, S. 69- 91, S. 73. Knapp: Mythos des Schreckens, S. 201. Delle Grazie: Heilige und Menschen. Roman. Leipzig 1909 (i. f. „ H M " u. S.).

Monismus als Bildungsunteraehmen

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jedoch kann sie das Kind und ihre eigene Vergangenheit anerkennen; die Tochter ist dem Leben zurückgegeben; durch die Lehren Haeckels steht dieser das „Leben" nicht nur als Option für ihre Zukunft offen, sondern ist ihr auch als Gott-Natur zur Verehrung aufgegeben. Von der Bigotterie ihrer Umgebung und dem oktroyierten Kirchenglauben ihrer Kindheit ist die Protagonistin für immer befreit. So simpel dieser Plot ideologisch auch gebaut sein mag, so raffiniert benützt der Roman naturwissenschaftliche Themen und historische Abläufe, um beide zu einem kohärenten System zu verknüpfen. Der Roman setzt mit einer mißglückten Biologiestunde ein, in der Alba, nach den Eidechsen befragt, mit Wissen nicht aus dem Lehrbuch, sondern aus einem Buch mit dem Titel Natürliche Schöpfungsgeschichte aufwartet. Dieses behandelt die Eidechsen als Übergangsformen zwischen Lurchen und Schlangen (HM 17 f.); zur Strafe für diese Provokation hat Alba fünfmal das erste Kapitel der Genesis abzuschreiben (HM 21). So wird bereits auf den ersten Seiten des Romans das Thema der Legitimität zweier Geschichtserzählungen eingeführt, das den weiteren Romanverlauf in Gang hält: „Das erste Kapitel der Genesis fiel ihr ein, das sie auch einmal auswendig gelernt, noch heute Wort für Wort kannte wie den Inhalt jenes Kapitels von den Reptilien. War es denn möglich, daß sie den Abgrund nicht gesehn, der die beiden Bücher trennte?" (HM 19 f.) Gerade von den Eidechsen glaubt Alba viel zu wissen: „Der Palazzo ihres Vaters in Bastia stammte noch aus dem Mittelalter. Die gewaltigen Mauern, die ihn wie eine Festung umgaben, bargen zwischen ihrem zerborstenen Gestein die Schlupfwinkel unzählbarer Eidechsen, die dort rastlos aus- und einliefen [...] Stundenlang war sie oft vor solch einer Mauer gelegen und hatte ihnen zugeschaut." (HM 5 f.) Als die Lehrerin die Relevanz der Fossilien bestreitet, denkt Alba an die pompejanischen Ausgrabungen, die auch nicht weniger real seien (HM 15). In den Roman wird eine Fülle von Realien montiert, die einerseits dem Agitationsrepertoire der Monisten entstammen, andererseits der privaten Korrespondenz der Autorin mit Haeckel. Haeckel besuchte 1904 den Internationalen Freidenker-Kongreß in Rom und nahm an Sektionssitzungen teil, die das Thema „Kirche - Schule" behandelten. Einer der Höhepunkte war ein ,,[g]roßes gemeinsames Frühstück (über 2.000 Personen) in den Ruinen der Kaiserpaläste (Palatino)", in dessen Verlauf Haeckel „feierlich zum Gegenpapst" ausgerufen wird. 80 Die im Roman geschilderte „Jugendweihe" 80

Haeckel an die Verwandten, 1904. In: Ernst Haeckel. Biographie in Briefen. Zusammengest. u. eri. v. G. Uschmann. Leipzig, Jena, Berlin 1985, S. 284.

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(HM 153-200) rekurriert auf zeitgenössische antireligiöse Rituale der Freidenker-Bewegung, die die Konfirmation ersetzen sollten. 81 Nach einem ersten Gespräch Albas mit dem Ernst Haeckel des Romans spielt ihr dieser ein Exemplar der Natürlichen Schöpfungsgeschichte zum Selbststudium zu mitsamt einem Kästchen mit mikroskopischen Planktonpräparaten (HM 192 u. 206 f.); die Autorin hatte ein solches Kästchen mit Post vom 28. Oktober 1896 von Ernst Haeckel in Jena erhalten. 82 (Es handelte sich hierbei um Abschnitzel von Haeckels Radiolarien-Monographie aus den Funden der „Challenger"-Tiefsee-Expedition, die vom Jenaer Zoologischen Institut für 100 Mark feilgehalten wurden. 83 ) Ein Jahr später erhält delle Grazie die neunte Auflage der Natürlichen Schöpfungsgeschichte aus Jena, in der ihre Dichtungen in einer Anmerkung gewürdigt werden. 84 Wenn Albas freidenkerischer Onkel Bartolo seinem bigotten Bruder „Jehovas gesammelte Werke" zur Lektüre anempfiehlt (HM 95), könnte man das für eine Mystifikation halten, hätte nicht Haeckel delle Grazie (und ihrem theologischen Mentor Müllner) gerade dieses Buch nahegelegt, ein Pamphlet des britischen Theologen Stewart Ross.85 Weitreichender als der so hergestellte - und oft auch nur private - Bezug zur unmittelbaren Gegenwart ist die Organisation von Geschichte innerhalb jenes Verweismodells, das Bienenstein schon im Robespierre aufgefunden hatte. Haeckels eigentliche wissenschaftliche Innovation, die bereits 1866 dem Inhalt, wenig später schon dem Namen nach eingeführt wird, war eine Verknüpfung der bis dahin weitgehend getrennten Disziplinen der Embryologie und der allgemeinen Naturgeschichte, insbesondere der verglei81

82 83

84 85

Zu den österreichischen Freidenkern vgl. Franz Sertl: Die Freidenkerbewegung in Österreich im zwanzigsten Jahrhundert. Wien 1995. Auch Gerhard Steger: Rote Fahne, schwarzes Kreuz. Die Haltung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs zu Religion, Christentum und Kirchen. Von Hainfeld bis 1954. Wien, Köln, Graz 1987, S. 223-265. Haeckel an delle Grazie, 28. 10. 1896. WStLB IN 90.680. Im Nachlaß delle Grazies hat sich unter der Sign. WStLB IN 87.199 der Beitext erhalten, mit durchgestrichenem Preis. Haeckels Geschenk an delle Grazie enthielt dazu noch Korallen vom Sinai und aus Ceylon. Haeckel an delle Grazie, 20. 12. 1897. WStLB IN 90.688. Haeckel an delle Grazie, 30. 4. 1898. WStLB IN 90.689. Saladin [d. i. Stewart Ross]: Jehovas Gesammelte Werke. Eine kritische Untersuchung des christlichen Religionsgebäudes auf Grund der Bibelforschung. Leipzig 1896. Das Buch wird auch in Haeckels „Welträtseln" empfohlen. Zur selben Zeit liest Haeckel ,,[m]it großem Vergnügen" die „Gestalten des Glaubens" des Grazer Philosophen Adalbert Svoboda.

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chenden Anatomie. Was Haeckel das „Biogenetische Grandgesetz" nannte, war die Beobachtung, daß ein Lebewesen innerhalb seiner Embryonalentwicklung Merkmale von gänzlich anderen Lebewesen rudimentär ausbildet; in der Darwinschen Dynamisierang der Naturgeschichte bedeutete das nichts weniger, als daß das Individuum „ältere" Stadien durchläuft. Wenn also, so die Formulierung, die Ontogenie, die Individualentwicklung, eine abgekürzte Rekapitulation der Phylogenie, der Stammesentwicklung, war, so bedeutete das, daß der einzelne, bevor er auf die Höhe seiner Zeit gelange, historische Perioden als notwendige Phasen seines eigenen Bildungsganges wiederhole. Anachronismen werden in diesem Verweissystem zu Archaismen, in der Fachterminologie zu Atavismen. Vogt, Haeckel, Büchner und viele andere haben diesen Konnex vor allem dazu benützt, den Kampf mit konkurrierenden Bildungsmächten, besonders den Kirchen, als Kampf gegen Atavismen zu naturalisieren, dessen natürlicher Ausgang so von vornherein verbürgt war. Das Modell erwies sich als ebenso aggressiv wie leistungsstark; von d e m Herbartianer Thuiskon Ziller wurde es nach seiner Kulturstufentheorie in Schulpädagogik und in die ästhetische Erziehung eingeführt, entwicklungsgerechte Deutschlesebücher wurden danach eingerichtet. 86 D e r Feuerbach-Herausgeber Karl Grün wendete sich an Haeckel um einen Hofmeister aus dessen Schule. 87 In delle Grazies Roman verbürgt dieses Modell die Einheit von Weltgeschichte, Natur und Figuren. Für Flavio sprechen die Mönche „aus den Totenschädeln versunkener Geschlechter" ( H M 395); wenn sich Alba unter Anleitung Haeckels als des Vertreters der modernen Wissenschaft zur avanciertesten Weltsicht bilden läßt, erhält sie erst auf dieser Höhe wieder Fühlung mit dem „Leben", das im Mittelalter des väterlichen Palazzo sistiert war. Rom, die „ewige Stadt", als Nebeneinander verschiedener Geschichtsepochen, erhält die Funktion, ein Geschichtspanorama bereitzustellen, das die einzelnen Handlungsteile sinnvoll selektieren. In der unbedarften Draufsicht durch Albas Onkel Bartolo geht alles durcheinander, „Gegenwart und Vergangenheit in einem Bilde": „Die Schattenmassen der Ruinen stie-

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Zu Ziller und zur Pädagogik der Rekapitulation vgl. Stephen Jay Gould: Ontogeny and Phylogeny. Cambridge/Mass., London 1977, S. 147-155. Zillers Konzept der „kulturhistorischen Stufen" verband Herbarts „Formalstufen" und Haeckels Rekapitulationstheorie. Vgl. Horst Joachim Frank: Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945. München 1975, S. 338 f. u. 355-358. Grün an Haeckel, 30. 4. 1871. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 1644.

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gen wie der schweigende Chor einer Tragödie aus der Tiefe. Die grauen Türme der kriegslustigen Barone des Mittelalters standen gleich versteinerten Riesen da. In schweigender Majestät thronte die Kuppel der Peterskirche über all' den Mauern und Dächern ... [...] In der Ferne sah man die roten Lichter eines Eisenbahnzuges vorüberfliegen, daneben wuchsen die Aquädukte der ,Marcia' empor. [...] Ernst und schweigend stand am Horizont das Gebirge...." (HM 168) Erst dem drei Seiten später noch als „Signore Miller" auftretenden Deutschen, der sich dann als Professor Haeckel zu erkennen gibt, eröffnet sich der rechte historisierende Blick, der die Steine zum Sprechen bringt, signifikanterweise wieder in Gestalt der Abfolge historischer Szenerien. Er berichtet vom Versuch, eine Aquarellaufnahme des römischen Panoramas zu machen, ,,[w]ie ich es in meinen freien Stunden zu tun liebe, wo ein Stück Natur oder Geschichte mich lockt. [...] Aber glauben Sie, daß es mir möglich war? Dieses Rom [...] sprach plötzlich mit tausend Zungen zu mir. Das Forum füllte sich mit leuchtenden Marmorhallen, vom Kolosseum schlug es wie das Getos einer Brandung an mein Ohr. [...] Vom Palatin her drang der Lärm eines neronischen Bacchanals. [...] Und während hier oben noch alles lebt und gleißt und wie trunken dahintaumelt, versammelt sich da unten schon die stille, blasse Gemeinde der ersten Christen, schlug das Leben nach einem anderen Strand seine Brücke hinüber. [...] Ein geheimnisvoller Schritt weiter auf der dunklen Linie, die wir Entwicklung heißen." (HM 172 f., Hervorh. W. M.) Wie im Epos wird auch hier die „Lösung" fast exakt an der Achse des Romans gegeben. In diese Geschichtserzählung sollen nun die Orte des Romans eingetragen werden, damit sie ihren evolutionistischen Sinn erhalten. So läßt der übrigens psychoanalytisch belehrte Roman88 im Hof des Salesianerinnenklosters die Ruinen eines antiken Tempels stehen; eine halluzinierende Schwester sinkt immer an diesen Ruinen als Braut Christi in Verzückung, so lange, bis die frömmste Schwester den sexuellen Subtext ihrer Visionen entschlüsseln kann. Elena Ziani hat eine archetypische, sinnlich-pubertäre Bindung an die Antike und kann mit Sicherheit einen versunkenen Venusaltar lokalisieren, der sich am Sommergrundstück der Chiettis in Sorrent befindet; just an dem Ort, an dem „sie mich ins Leben gerufen" haben, der also in ihrer privaten Ontogenie die herausragende

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So unterläuft Prospero eine „Fehlleistung", als er „Fische" und „Eidechsen" verwechselt ( H M 98; ähnlich 115).

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Rolle spielt. Hier wird auch ihre Phylogenie, ihre Abstammung geklärt, ,,[a]ls vollzöge sich da etwas Heiliges, das Menschen und Dinge und Vergangenheit und Gegenwart zu einem geheimnisvollen Kreis schloß und weit über die Alltäglichkeit hinaushob." (HM 215) Die nächtliche „Jugendweihe" als theatralische Inszenierung der Roma aeterna im Antikenpark am Gianicolo bringt für Alba die Begegnung mit Haeckel; dorthin flüchtet sie, als sie aus dem Kloster entweicht. Als sich Alba am Ende des Romans darauf besinnt, daß sie keine „päpstliche" Chietti, sondern - nach ihrer Mutter - eine venezianische „della Gioja" ist und von ihrer Mutter ihre wahre Genealogie erfahrt: daß ihr natürlicher Vater „im Kampfe der Geister [...] in erster Reihe gestanden" (HM 414) war, steht ihr die Welt neu offen; was als Generations- und Pubertätskonflikt begonnen hat, endet in der - autobiographisch durchsichtigen - naturalistischen Auflösung der richtigen Abstammung der „Alba della Gioja", die zur Erkenntnis gelangt, das Leben dürfe die Ruinen nicht fürchten (HM 385, 406). Die Schulszenen, die in delle Grazies Roman gegen die befreiende Kraft des Monismus in der leibhaftigen Gestalt Haeckels gesetzt werden, sind vor dem Hintergrund des Kampfes der Darwinisten um die Sozialisationsinstitutionen zu lesen. Wie bereits bemerkt, war den Naturwissenschaften im österreichischen Gymnasium - im Vergleich zum deutschen89 - relativ breiter Raum gewidmet. „Die Naturgeschichte", vergleicht 1907 ein Absolvent des Wiener Schottengymnasiums der 1880er Jahre, „ist in den Gymnasien des benachbarten Bayern als Kinderspielzeug, mit dem sich der humanistisch Gebildete nicht abzugeben braucht, in das Untergymnasium verbannt. [...] So ist die Pflege der Naturwissenschaften bei ihrer heutigen ungeheuren Wichtigkeit, bei der Schulung, die das sonst so vernachlässigte Auge durch sie erlangt, ein Hauptvorzug unseres österreichischen Gymnasiums und bewirkt, daß bei uns trotz der kürzeren Lehrzeit von acht Jahren eine größere Bil-

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Zur Situation im Deutschen Reich vgl. Alfred Kelly: The Descent of Darwin. The Popularization of Darwinism in Germany, 1860-1914. Chapel Hill 1981, davor detailliert Philipp Depdolla: Hermann Müller-Lippstadt (1829-1885) und die Entwicklung des biologischen Unterrichts. In: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 54 (1941), S. 2 6 4 - 5 5 4 . Depdollas Arbeit ist jedoch wegen des Erscheinungsjahres mit Reserve zu lesen.

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dungssumme überliefert und ein höheres und allgemeineres Lehrziel erreicht wird." 90 Während die Institutionalisierung des Darwinismus an den Universitäten in den siebziger Jahren relativ problemlos und rasch vor sich ging, galt das nicht auch für die Integration Darwins in den Lehrplan des höheren Schulwesens. Im Lehrplan und in den Instructionen von 1884, seit dem Organisazions-Entwurfvon 1849 die erste verbindliche Neuveröffentlichung der Rahmenlehrpläne, wurde zwar (unter dem konservativen Minister Conrad v. Eybesfeld) ein außerordentlich konzilianter Ton angeschlagen, der Darwinismus als Lehrgegenstand blieb jedoch ausgeschlossen: „Wiewohl bei der gegenwärtigen Sachlage die Descendenzlehre (Selectionstheorie) als solche in die Schule nicht gehört, so dürfen doch sichergestellte und den Schülern begreifliche Thatsachen [...] als erklärende Factoren geeignetenorts mit der nöthigen Vorsicht in die Betrachtung einbezogen werden, denn die Absolventen des Gymnasiums sollen dem naturwissenschaftlichen Ideenkreise der Gegenwart nicht ganz fremd und unvorbereitet gegenüber stehen." 91 Eine ähnliche Position wurde auch von Pädagogen eingenommen, die mit der darwinistischen Sättigung des Gegenwartsdiskurses rechneten; damit die Schüler nicht auf den „Darwinismus" hereinfielen, möge der Darwinismus im Obergymnasium erläutert werden. 92 Im Fachorgan, der Zeitschriftfiir die österreichischen Gymnasien, wurden jedoch auch immer wieder zustimmende Voten für eine Aufnahme Darwins in das Lehrprogramm abgegeben. 93 Bereits 1872 war im Schulbücherverlag

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91

Maximilian Liebenwein: Nachwort des Zeichners. Ein Stück Entwicklungsgeschichte. In: Festgabe zum 100jährigen Jubiläum des Schottengymnasiums. Gewidmet v. ehemaligen Schottenschülern. Wien 1907, S. 581-406, S. 382. Instructionen für den Unterricht an den Gymnasien in Österreich. Einzige, vom k. k. Ministerium für Cultus und Unterricht autorisierte Ausgabe. Wien 1884, S. 247. Als „Tatsachen" werden genannt: „offenbare Homo- und Analogien, unzweifelhafte Anpassungen, Umstände, die zur Verbreitung der Thiere und Pflanzen beitragen, Concurrenz der letzteren unter einander, Mitwirkung der Insecten zur Übertragung des Blütenstaubes".

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Durch eine feste Begründung des Unterrichts ( „[...] alles dies nur soweit es wirklich auf wissenschaftlichem Wege bisher bestimmt nachgewiesen wurde, mit Weglassung aller weiteren über die wissenschaftliche Forschung hinausreichenden Folgerungen") werde der Schüler „auch späterhin vor Irrwegen bewahrt bleiben, auf welche er durch manche der massenhaft verbreiteten über ,Darwinismus' handelnden Schriften verlockt werden könnte." Carl Schwippel: Zu den neuen Instructionen für den naturwissenschaftlichen Unterricht. In: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien [i. f. „ZföG"] 57 (1886), Supplement, S. 126-155, S. 128 f.

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Der Lehrer Franz Noe fordert den Unterricht in Naturgeschichte auch für die beiden letz-

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Tempsky in Wien eine als Leitfaden für Naturgeschichtslehrer an Mittelschulen konzipierte Allgemeine Erdkunde von Hann, Hochstetter und Alois Pokorny erschienen, in der der als konservativer Systematiker bekannte Pokorny - von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren Autor der meistverbreiteten Schulnaturgeschichten - eine darwinistische „Biologie" lieferte. 94 Ungeachtet des Lehrplans wird die Präsenz Darwins in der Schulrealität zunächst von der Person des Lehrers abgehangen sein. Autobiographische Schulerinnerungen berichten immer wieder von „darwinistische [n] Konterbande [n]" (Karl Kautsky zum Wiener Akademischen Gymnasium, u m 1870)95; schon in den fünfziger Jahren, noch vor Darwin, wurde Ernst Mach im öffentlichen Piaristengymnasium in Kremsier (Mähren) mit der Evolutionstheorie Lamarcks und der Kant-Laplaceschen Kosmogonie bekannt. 9 6 Nach dem Zeugnis Karl Renners hatte man sich

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ten Gymnasialklassen und „die Grundbegriffe der modernen, wissenschaftlich fest begründeten Entwicklungslehre, als da sind: Variieren der Arten, Vererbung, natürliche Zuchtwahl, Kampf ums Dasein, an einigen anregenden Beispielen". F. Noe: Bemerkungen über den zoologischen Unterricht am Gymnasium. In: ZföG 40 (1889), S. 829-836, S. 832. Schon früh wird die im Verhältnis zu Deutschland höhere Stundenzahl der Realienfächer und der Naturgeschichte heftig verteidigt, vgl. Mathias Wretschko: Ueber die Reform des naturwissenschaftlichen Unterrichtes an Mittelschulen. In: ZföG 20 (1869), S. 636-654. Der Historiker Emanuel Haimak, der Direktor des Wiener Städtischen Pädagogiums, argumentiert mit Darwin für das Studium der Alten Geschichte. E. Hannak: Der zweite deutsche Historikertag in Leipzig. In: ZföG 45 (1894), S. 1129-1143, S. 1131 f. Dazu Karl Cornelius Rothe: Vorlesungen über allgemeine Methodik des Naturgeschichtsunterrichtes. 1. H. München 1913, S. 27-34 (zu Pokorny), bes. S. 32-34. Auf dieses Werk Pokornys beruft sich noch 1914 Paul Kammerer in einer Defensio seiner eigenen „Allgemeinen Lebenslehre", einer Biologie für Mädchenlyzeen. P. K.: Zwei Jahre „Allgemeine Lebenslehre". In: Cottage-Lyzeum verbunden mit einer Zweiklassigen reform-realgymnasialen Fortbildungsschule. [Wien] Schuljahr 1913/14.

95

Karl Kautsky: Erinnerungen und Erörterungen. Hgg. v. B. Kautsky. s'Gravenhage 1960, S. 182. Der Universitätslehrer Norbert Herz berichtet 1908 auf einer Enquete der Zoologisch-botanischen Gesellschaft, schon Anfang der siebziger Jahre „ [i]n den Oberklassen an der Realschule einer größeren Stadt" „von der Deszendenztheorie, die damals populär zu werden begann" gehört zu haben. Vgl. Der naturwissenschaftliche Unterricht an den österreichischen Mittelschulen. Bericht über die von der k. k. zool.-bot. Ges. in Wien veranstalteten Diskussionsabende und über die hiebei beschlossenen Reformvorschläge. Hgg. v. R. v. Wettstein. Wien 1908, S. 47.

96

Bei Friedrich Stadler: Ernst Mach - Zu Leben, Werk und Wirkung. In: E. M. - Werk und Wirkung. Hgg. v. Rudolf Haller u. F. S. Wien 1988, S. 11-63, S. 17.

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am Nikolsburger Gymnasium (an d e m auch der Philosoph Wilhelm Jerusalem unterrichtete) in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre mit der Koexistenz von darwinistischem Naturgeschichts- u n d katholischem Religionsunterricht bereits abgefunden. W e n n Renners L e h r e r Franz Zelenka „auf Darwin zu sprechen kam - in d e r fünften u n d sechsten Klasse - , w e n n er uns die Entwicklung der organischen Welt in ihren Millionenjahren stetiger Variation u n d Auslese durch den Kampf u m s Dasein u n d die Zuchtwahl vorführte, durchrieselte alle Schüler, die eindrucksfähig waren, Schauer u m Schauer." 9 7 Insgesamt berichtet Renner von einem hohen M a ß an Liberalität im Gymnasium: „In meiner Zeit wirkte überdies der freie Geist günstig, in d e m unterrichtet wurde - obwohl das Unterrichtsministerium an reaktionären Einwirkungen es nicht fehlen ließ. Vor allem w a r Direktor Kraßnigg ein aufrechter, menschlich denkender, duldsamer u n d gerechter M a n n u n d legte zum Beispiel Zelenka nichst [sie] in den Weg, w e n n er uns die Darwinsche Entwicklungslehre, d e m L e h r e r der philosophischen Propädeutik nichts, w e n n er uns m o d e r n e Psychologie vortrug, die Existenz einer Seele als unbewiesen u n d problematisch hinstellte und das Hohelied von Kant sang. Unser guter Pater Paul wußte das, w a r aber viel zu anständig, u m zu denunzieren, und bemühte sich redlich, in den Religionsstunden der oberen Klassen das kirchliche Dogma dagegen durchzusetzen. U n d er behielt bei einem Teil d e r Schüler geradeso recht, wie die anderen Lehrer bei einem anderen Teil." 98 Der Maler Maximilian Liebenwein w u r d e im W i e n e r religiös geführten Schottengymnasium zur selben Zeit, 1884/85, sogar von einem geistlichen Naturgeschichtler, Pater Stephan Karl Fellner 99 , in die Geheimnisse und „Wunder" evolutionistischer Naturlehre eingeführt: „Von den schwächern Schülern streng den vorgeschriebenen Lehrstoff fordernd, ist er mit uns andern, die Interesse zeigten, oft über diese Grenze hinausgegangen u n d vollendete n u n mit der Zoologie u n d d e r Anatomie des Menschen das stolze Gebäude, das er i m Vorjahr begonnen. Alles auf vergleichende Anatomie gründend, n a h m er oft, u m die Reihe der Wesen zu schließen, die Paläontologie zu Hilfe, ließ uns tiefe Blicke in die Entwicklungsgeschichte tun,

97 98 99

Karl Renner: An der Wende zweier Zeiten. Lebenserinnerungen. Wien 1946, S. 150. Renner: An der Wende zweier Zeiten, S. 152 f. Fellner (1848-1904) war seit 1877 Professor für Naturgeschichte am Schottengymnasium, unterrichtete Mitglieder des kaiserlichen Hauses, war Landesschulrat und Wiener Gemeinderat und wurde 1901 zum Prior des Wiener Schottenstiftes ernannt (BJ).

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und vor uns taten sich die Wunder des biogenetischen Grundgesetzes auf, die W u n d e r der Anpassung u n d der Mimicry." 100 In dieser Frage sind es nicht so sehr die Fachbiologen, die auf die Integration der Deszendenztheorie in den Mittelschulunterricht drängen, als daß ein Teil der Praktiker diese Integration schon vorweggenommen hätte. 101 Als Ursache für diesen Umstand kann vermutet werden, daß die katholische Kirche das höhere Schulwesen, a fortiori die Universitäten weitgehend aufgegeben hatte, sich auf dieser Ebene des Bildungssystems in naturwissenschaftlichen Fragen in der Defensive befand und der Status der theologischen Fakultät als einer Agentur der Wissenschaft immer stärker in Zweifel gezogen wurde. 102 Ein Durchsetzungskonflikt war für die „Darwinisten" hier nicht m e h r zu leisten. Viel schärfere Auseinandersetzungen fanden in jenen Sektoren statt, die weit genug vom wissenschaftlichen System entfernt waren, u m mit dessen relativer Autonomie nicht rechnen zu müssen, dafür näher am politischen System lagen u n d deshalb im restaurativen Klima des Jahrhundertendes stärkerem Zugriff durch Klerus und konservative Parteien ausgesetzt waren. Im Streit u m die Volksschule, wie er u m die Jahrhundertwende geführt wurde, war auch der Einsatz wesentlich höher; mochten die Bildungsschichten und die liberale Öffentlichkeit mit ihrem Elitendiskurs für den Katholizismus verloren sein, ging nun der Kampf u m die ideologische Hegemonie über die Volksschule in der Phase der immer schnelleren Ausweitung der wahlberechtigten Gruppen u m zukünftige Wähler. Ein Schlüsseldatum in dieser Auseinandersetzung ist das Jahr 1897, als in ein e r Periode maximaler Instabilität des konstitutionellen Regierungssystems (auch die „Badeni-Krise" ging in der „Cillier Affare" auf das Schulwesen zurück) Karl Lueger als Bürgermeister von Wien bestätigt w u r d e u n d die W i e n e r Lehrerschaft auf christlich-sozialen Kurs zu bringen be-

100 101

Liebenwein: Nachwort des Zeichners, S. 396. Der Ordinarius Hatschek hebt 1908 hervor, „daß er es für diskutabel, ja sogar für zweifelhalt hält, ob diese Lehre schon an der Mittelschule vorgetragen werden solle; vielleicht genügen kurze Hinweise auf dieselbe." Der naturwissenschaftliche Unterricht, S. 24; dagegen die Universitätsdozenten Werner und Herz, ebd., S. 42 f. u. 48, auch R. Goldscheid, S. 47, und o. Prof. Abel, S. 50.

102

Zu Graz vgl. Maximilian Liebmann: Die theologische Fakultät im Spannungsfeld von Universität, Kirche und Staat von 1827 bis zur Gegenwart. In: Tradition und Herausforderung. 400 Jahre Universität Graz. Hgg. v. K. Freisitzer u. a. Graz 1985, S. 156-185.

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gann. 103 Aus der unermüdlichen publizistischen Tätigkeit des Schulseelsorgers Franz Stauracz, der sich der Darwinismusabwehr und der Denunziation von „Materialisten" unter den niederösterreichischen Lehrern widmete, läßt sich ein gutes Bild von den weltanschaulichen Auseinandersetzungen dieser Periode gewinnen. 104 Stauracz' Strategie folgte dabei bewährten Mustern der Apologetik: einzelne Äußerungen von Naturforschern gegeneinander auszuspielen (so etwa Virchow gegen Haeckel), das Ausmaß der Gefahr verschwörungstheoretisch aufzubauen und die verderblichen Folgen des Materialismus auszumalen. Es ist kein Zufall, daß Hyrtls bereits vergessene Rektoratsrede gegen den Materialismus von 1864 erst in den Christlich-pädagogischen Blättern105 von 1894 wieder abgedruckt und gerade 1897 von der katholischen Leo-Gesellschaß (gegründet 1891) unter dem Titel Die Materialistische Weltanschauung unserer Zeit wieder aufgelegt wurde (in Anbetracht des ungewissen Schicksals der Erstausgabe wohl zum ersten Mal). 106 Darwinistische Artikel aus liberalen Lehrerzeitschriften wurden von konservativen Abgeordneten im Abge-

103 Helmut Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs. Bd. 4: Von 1848 bis zum Ende der Monarchie. Wien 1986, S. 80 f. Als Beteiligter berichtet Otto Glöckel: Ausgewählte Schriften und Reden. Hgg. v. O. Achs. Wien 1985, S. 42-45. 104 Franz Stauracz: Der Schlachtengewinner Dittes und sein Generalstab oder Ein Jammerbild österreichischer Schulzustände. 2., verm. u. verb. Aufl. Wien 1889; ders.: Darwinismus und Schule. Ein Wort an das Volk, seine Lehrer und an die gesetzgebenden Factoren. Wien 1897; ders.: Darwinistische „Haeckel"-eien - „Voraussetzungslose" Wissenschaft! Wien 1902; ders.: Des Darwinismus Glück und Ende. Wien 1903. Stauracz (1855-1918) gründete für Junglehrer eine Marianische Kongregation bei St. Augustin/Wien und war ein früher Aktivist der christlich-sozialen Bewegung mit einem besonderen Naheverhältnis zu Karl Lueger. Stauracz gehörte auch zu den ersten Teilnehmern der „Enten-Abende", des Arbeitskreises um den Moraltheologen Franz Martin Schindler. Vgl. Franz Loidl: Msgr. Franz Xaver Stauracz (1855/1918). Jugend und Lehrerseelsorger, apologetischer und politischer Publizist. Sonderabdr. aus „Beiträge zur Wiener Diözesangeschichte", Juli 1962. 105 Diese Zeitschrift brachte es in vier Jahren auf 30 antidarwinistische Beiträge. Stauracz: Darwinismus und Schule, S. 17. 106 Die Materialistische Weltanschauung unserer Zeit. Inaugurationsrede v. Professor Hyrtl. [1864] Mit einem Vorworte v. H. Lammasch. Wien, Leipzig [1897]; zuvor bereits in: Christlich-pädagogische Blätter 1894, Nr. 15-18. Die bereits gedruckte erste Auflage soll auf Anweisung Hyrtls fast zur Gänze vernichtet worden sein (nach Lammasch). Zur „Leo-Gesellschaft" Engelbrecht: Geschichte des Bildungswesens, S. 359.

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ordnetenhaus vorgetragen 1 0 7 ; ein Volksschullehrer in Obritz/Oberhollabrunn, der im Unterricht gesagt haben soll, „die Welt sei von sich selbst entstanden" und „der Mensch stamme vom Affen ab", wurde vom Ortspfarrer bei den Bezirksbehörden denunziert (der Lehrer w u r d e von der Verwaltung geschützt, der Pfarrer „wegen beleidigender Schreibweise" in seiner Eingabe zu einer Geldstrafe verurteilt). 108 Seit Anfang der achtziger Jahre forderten Volks- und Bürgerschullehrer die Lehre des Darwinismus im Unterricht, bald auch u n t e r Berufung auf Arnold Dodel-Ports Broschüre Moses oder Darwin? Eine Schulfrage (1889), die in fünf Jahren fünf Auflagen erlebte. 109 Die Offensive der österreichischen Klerikalen gegen den Darwinismus der Lehrer steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Kampf u m die Revision der liberalen Schulgesetze von 1869, der seit einem ersten Erfolg 1883 ständig intensiviert wurde und aufgrund der politischen Konjunkturen auch Aussicht auf Erfolg zu haben schien. Angesichts dieser antiliberalen Gegenoffensive gegen das Herzstück der Errungenschaften des österreichischen Liberalismus mußte in den Bildungsschichten der Eindruck entstehen, man sei wieder auf die Situation der 1860er Jahre verwiesen; längst gewonnene Schlachten müßten erneut geschlagen werden, nur unter ungünstigeren Bedingungen. Der resignative Ton in Carneris späten Briefen zeugt von dieser Stimmung. Die Dialektik von darwinistischem Etablierungskonflikt und dem der liberalen Öffentlichkeit ist um die Jahrhundertwende geschwunden (nicht die ideologischen Formen dieser Dialektik); in einem Nachruf auf den verstorbenen Karl Vogt trauert das Neue Wiener Tagblatt 1895 in einem Rückblick auf die heroische Phase des Liberalismus mit ihrem Enthusiasmus für den kämpferischen Materialismus der Vogt, Büchner u n d Moleschott: „Wo sind diese Zeiten? Wo ist die Begeisterung der Jungen für diese Dinge hingekommen, wie wir sie einstens an uns erlebten?" 1 1 0 Unter diesen Prämissen lag für die Protagonisten des „Geisteskampfes" der Zusammenschluß in sektenhaften Partikularorganisationen nahe. Die Konstellation der österreichischen Spätaufklärung, wie sie Fried-

107

Auf die Anfrage des Abg. Mathias Kaltenegger antwortet der konservative Minister Gautsch (5. 11. 1891), dazu Stauracz: Darwinismus und Schule, S. 17 u. 23.

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Stauracz: Darwinismus und Schule, S. 17 ff. Stauracz: Darwinismus und Schule, S. 12 f. R[obert] F[ranceschini]: Der Alte von Genf. - Carl Vogt, gestorben am 5. Mai 1895. In: Neues Wiener Tagblatt, 6. 5. 1895.

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rieh Stadler beschrieben hat, ist hier vorgebildet. 111 Der „Darwinismus" fungierte als Klammer dieser Vereinigungen. Der Schule hatte Haeckel in Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft {1892) einen hervorragenden Platz zugewiesen: „Die Schule des zwanzigsten Jahrhunderts, auf diesem festen Grunde neu erblühend, wird nicht allein die wundervollen Wahrheiten der Weltentwickelung der aufwachsenden Jugend zu entschleiern haben, sondern auch die unerschöpflichen Schätze der Schönheiten, die überall in derselben verborgen liegen." 112 Die Schrift steht in engem Zusammenhang mit Haeckels Opposition zu den reaktionären Vorlagen zum Volksschulgesetz im preußischen Abgeordnetenhaus (Jänner 1892), gegen die er in einer Reihe von Artikeln angegangen war. 113 1907, im Jahr vor Erscheinen von Heilige und Menschen, kam es zu einer neuen Eskalation im Streit um Haeckels Welträthsel (1899114) und den 1906 gegründeten Deutschen Monistenbund, als der Kieler Botaniker Johannes Reinke im preußischen Herrenhaus ein Einschreiten gegen den Monistenbund forderte, da dieser das Bildungswesen gefährde. Reinke trat paradoxerweise für die Wiedereinführung des biologischen Unterrichts in der Oberstufe ein; der Biologieunterricht in den oberen Klassen der höheren Lehranstalten war in Preußen im Gefolge der Diskussionen um die sogenannte „Müller-Lippstadt"-Affare 1882 abgeschafft worden. Allgemein wurden die katholischen („ultramontanen") Proteste gegen den darwinistischen Lehrer Hermann Müller verantwortlich gemacht, der am Lippstädter Gymnasium die Evolution vorgetragen hatte. Max Dreyers Schuldrama Der Probekandidat (1900) verarbeitet die Affare, wobei einige Handlungsele-

111

Vgl. Friedrich Stadler: Spätaufklärung und Sozialdemokratie in Wien 1918-1958. Soziologisches und Ideologisches zur Spätaufklärung in Österreich. In: Aufbruch und Untergang. Osterreichische Kultur zwischen 1918 und 1938. Hgg. v. F. Kadmoska. Wien, München, Zürich 1981, S. 441-473. 112 Haeckel: Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntnis eines Naturforschers, vorgetragen am 9. October 1892 in Altenburg beim 75jährigen Jubiläum der Naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes. In: E. H.: Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre. 2 Bde. 2., verm. Aufl. Bonn 1902, Bd. 1, S. 281-344, S. 526. 113 114

Haeckel: Die Weltanschauung des neuen Curses. [1892] In: E. H.: Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen, Bd. 2, S. 327-344. Vgl. hierzu die (tendenziöse) Dokumentation von Heinrich Schmidt: Der Kampf um die „Welträtsel". Ernst Haeckel, die „Welträtsel" und die Kritik. Bonn 1900.

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mente an Sacher-Masochs Iluj wohl mehr als erinnern. 1907 wird der evangelische Keplerbund als religiöse Gegenorganisation zum Monistenbund gegründet. Für „die Gabe Ihres hochinteressanten Romans ,Heilige und Menschen'" dankt Haeckel delle Grazie, „und ganz besonders für die hohe Auszeichnung, die Sie mir als Repräsentanten der modernen Wissenschaft [...] erwiesen haben. Daß die ganze Tendenz Ihres antiklerikalen Romans mir hoch sympathisch ist, brauche ich Ihnen nicht erst zu versichern; aber auch Ihre künstlerische Darstellung der römischen Charakter-Figuren [...] hat meinen lebhaften Beifall! - Bravissima! [...] Der ewige Kampf zwischen ,Heiligen und Menschen', zwischen jenseitigen' Dualisten und ,diesseitigen' Monisten, - zwischen dem jesuitischen ,Keplerbund' und dem naturalistischen ,Monistenbund', - wütet jetzt sehr heftig, wie Sie aus der Beilage: ,Fälschungen der Wissenschaft' ersehen." 115 Auffallig ist die Bildungszentriertheit auch von delle Grazies Plots. Die Naturgeschichtsstunde in der Schule des Internats setzt die Handlung in Heilige und Menschen in Gang, der fiktionale Haeckel doziert die „Gott-Natur", wie delle Grazie den realen Haeckel nicht nur scherzhaft ihren „Schulmeister" nennt, was wieder dieser gerne aufgreift. Nicht anders teilen die „Anhänger" Haeckels und die Monisten in einer Festschrift mit, „was sie Ernst Haeckel verdanken", so der Titel. Ein Richard Rahner, aus Gaggenau in Baden: „O ja, Haeckel ist mein wirklicher Erlöser geworden, denn er hatte mich, als ich 15 Jahre alt war und die Obertertia des Gymnasiums Rastatt besuchte, aus einem anderthalbjährigen Verzweiflungszustande, der mich fast zu Tode peinigte, gerettet und aus einem lebensmüden, kaum den Kinderschuhen entwachsenen Gymnasiasten, einen frohen, glücklichen jungen Menschen gemacht." 116 Julius Römer aus Kronstadt in Siebenbürgen,

115

Haeckel an delle Grazie, 2. 2. 1909. WStLB IN 91.105. Den Dank verbindet Haeckel mit einer sehr pragmatischen Bitte für sein Projekt eines „Phyletischen Museums" in Jena, das der Propaganda für die Entwicklungslehre dienen soll: „Wenn Sie in Wien einen reichen Maecen finden können, der 10.000 Mk stiftet, wird sein Name auf der Ehrentafel [...] verewigt!" In das „Phyletische Museum" wurden Haeckels Honorare aus den „Welträthseln" investiert, die Grundsteinlegung erfolgte am 28. 8. 1907 (Goethes Geburtstag), der Bau wurde am 50. 7. 1908 der Universität Jena übergeben. Als „Fälschungen der Wissenschaft" liegt dem Brief ein Sonderdruck eines Haeckel-Artikels in der Berliner „Volkszeitung" (29. 12. 1908) bei, in dem die erneuten Fälschungsvorwürfe gegen seine Schemata zur Embryonalentwicklung zurückgewiesen werden.

116

Was wir Ernst Haeckel verdanken, Bd. 1, S. 357 (Richard Rahner: Ernst Haeckel - mein Erlöser und Erzieher).

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Student in Jena: „Vor dichtgefülltem Auditorium hielt der im schlichten Turnergewande in der Vorlesung erscheinende Forscher mit dem jugendfrischen Antlitz und den blitzenden Augen jene Vorträge, aus denen später ,Die natürliche Schöpfungsgeschichte' geworden ist. [Der Studierende aus dem fernen Karpathenlande] hatte [...] in der Entwicklungslehre den ruhigen Hafen im Wogen der Gefühle und Gedanken gefunden!" 117 Immer sind es Bildungs erlebnisse, die Weltanschauungen radikal verändern, in Biographien eingreifen, neue Ausbildungsgänge einschlagen lassen: „Ich ließ mir sofort Haeckels Buch kommen," berichtet der von seiner religiösen Erziehung in Kremsmünster beeinträchtigte nachmalige Geheimrat und Biologe Carl Rabl, „und mit dem Studium desselben entschied sich mein ganzes wissenschaftliches Leben." 118 Friedrich Glatz, der Vorsitzende der Salzburger Haeckel-Gemeinde, aus Wien: „Als ich mich das erstemal durch die Welträtsel durcharbeitete, war ich von einem ganz neuen Glücksgefühl beseelt." 119 N. Leon, Jassy, Rumänien, als er als Student Haeckels Natürliche Schöpfungsgeschichte in die Hand bekommt: „Es waren die herrlichsten, die einleuchtendsten Vorlesungen, die ich je gelesen hatte! Sie begeisterten mich dermaßen, daß ich mir die Koffer bereit machte und nach Jena fuhr, wo ich mich als stud. med. et rer. nat. immatrikulieren ließ."120 Dieser Bildungsfixiertheit kam die narrative Struktur von Haeckels Arbeiten entgegen. Wilhelm Bölsche, der sich als literarischer Autor, Ästhetiker und naturwissenschaftlicher Schriftsteller eingehend mit Darstellungsfragen von popularisierender Literatur befaßt und noch zu dessen Lebzeiten Haeckels erste Biographie herausbringt, hat das bald bemerkt: „Humboldt hatte in dem ,Naturgemälde' seines ersten Kosmos-Bandes seiner Zeit die natürliche Welt als großes Panorama gewissermaßen für einen Blick hinzustellen versucht. [...] [Haeckels] Naturpanorama steht nicht starr da, sondern es entwickelt sich vor dem Beschauer, - vom formlosen Urnebel bis zum denkenden Menschen. Das gab zugleich auch rein äußerlich der Darstellung einen ungeheuren Vorsprung. [...] Der feine Zauber liegt einfach in der Anordnung der Tatsachen, die plötzlich eine logische Kette bilden anstatt eines regellosen Chaos. Auch wenn alle Grundideen des Buches falsch

117 Was wir Ernst Haeckel verdanken, Bd. 1, S. 380. 118 Was wir Ernst Haeckel verdanken, Bd. 2, S. 1. 119 Was wir Ernst Haeckel verdanken, Bd. 2, S. 64 (Friedrich Glatz: Was hat Ernst Haeckel dem schon religiös Aufgeklärten gebracht?). 120 Was wir Ernst Haeckel verdanken, Bd. 2, S. 73 (N. Leon: Mein Meister Haeckel).

M o n i s m u s als B i l d u n g s u n t e m e h m e n

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wären, so müßte man es als eines der dialektisch geschicktesten Werke aller Zeiten bezeichnen. D e r Kern dieses Geschickten steckte aber wesentlich in der Art, wie die Tatsachen-Gruppierung die philosophische Entwickelung, die d e m Buche als Gedanken zu Grunde lag, gleichzeitig mitgab." 1 2 1 In dieser Charakterisierung der Form Haeckelschen Schreibens läßt sich zugleich eine gute Formel für die „Mysterien der Menschheit" delle Grazies erkennen. Diese Darstellungsform, die Haeckel auch in seinen weiteren weltanschaulichen Bestsellern beibehalten hat, ist auch tatsächlich Sondergut seiner Biologie. Darwin verfahrt etwa in der Entstehung der Arten konventioneller, aber auch klassisch-wissenschaftlich: Der Forschungsbericht wird getrennt und vorangestellt, die einzelnen Kapitel postulieren Thesen, die im Zusammenhang belegt werden; eingeschoben sind Kapitel, die Einwände behandeln und widerlegen. D i e Fusion der Entwicklungsgeschichte der Natur und einer didaktisch vermittelten „ L e h r e " weist auf die Struktur des „öffentlichen Darwinism u s " , wie ihn Haeckel vertrat; das Modell leistet dabei als private Anschauungsform dieselben Dienste. An Carneri schreibt Haeckel unter dem Eindruck seiner Lektüre des Robespierre-. „ S i e muß ein ganz außerordentliches Exemplar der seltenen Spezies: Homo sapiens sein! Wenn Ihnen das Schreiben nicht so schwer würde, möchte ich Sie fast bitten, mir einiges über die Entwicklungsgeschichte dieses wunderbaren Menschenkindes mitzuteilen ,.." 1 2 2 Die Haeckelsche Regie der Fabel seiner Schöpfungsgeschichte planiert also in systematischer Hinsicht die wissenschaftliche Metaebene des Räsonnements über die Dinge zu einem Kontinuum, das er wohl mit Recht „monistisch" nennen konnte. Ein polemischer Effekt der Auflösung der „Theorie" als einer von der Geschichtserzählung getrennten Textsorte liegt auch darin, daß sich der klerikale Gegner, der dem „falschen" Geschichtsbild anhängt, unlauter in die Gesellschaft von Naturphilosophen versetzt sieht. D a man nicht gut Gott als Autor der Genesis akzeptieren konnte, wird Moses als ehrbarer, doch längst überholter Autor dargestellt. Allen Ernstes enthält das Register der Natürlichen Schöpfungsgeschichte „Cuvier's Schöpfungsgeschichte", „Goethe's Entwickelungslehre", „Lamarck's Abstammungslehre", „Lyell's Schöpfungsgeschichte" und „Moses' Schöpfungsgeschichte", die im 121

Wilhelm Bölsche: Ernst Haeckel. E n Lebensbild. Volksausgabe. Berlin, Leipzig o. J., S.

122

Haeckel an Carneri, 20. 2. 1895. Briefwechsel, S. 72.

195 f.

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Text nicht ungerecht behandelt werden soll: „Zwei große und wichtige Grundgedanken der natürlichen Entwickelungstheorie treten uns in dieser Schöpfungshypothese des Moses mit überraschender Klarheit und Einfachheit entgegen, der Gedanke der Sonderung oder Differenzirung, und der Gedanke der fortschreitenden Entwickelung oder Vervollkommnung."123 Der Effekt ist jedenfalls ein didaktischer. Das „Biogenetische Grundgesetz", das das Individuum mit der Gattungsentwicklung so verkoppelt, daß es verurteilt wird, alles selbst durchzumachen, was die Gesellschaft oder die Gattung schon hinter sich hat, ist hier praktisch geworden, indem der Initiand auf dem Weg zur Lösung der Welträtsel eine zweite Entwicklungsreihe hinter sich zu bringen hat, die von der Forschung bereits überwunden ist. Das individuelle Erwachsenenalter soll im Dienst der Zukunft diese Stufe erreicht haben; nicht von ungefähr entzündete sich der schärfste Kulturkampf der Darwinisten gegen Ende des 19. Jahrhunderts an der Frage, ob der Darwinismus in den Schulen gelehrt werden solle; nicht von ungefähr thematisieren die Ergriffenen ihr Erweckungserlebnis zum Monismus durch Haeckels Buch auch als Generationskonflikt. Als 1909, im Erscheinungsjahr der Buchfassung von Heilige und Menschen, die Münchner Zeitschrift Jugend eine Darwin-Jubiläumsnummer herausbringt, rückt Haeckel eine Grußadresse ein, in der es heißt: „Die heranwachsende Jugend des deutschen Volkes, geschaart um das Banner der Entwicklungslehre, und befreit von dem Drucke des traditionellen Wunderglaubens, wird nach dem Vorgang von Goethe in dem Kultus der reinen , Gott-Natur1 ihr erhabenstes und beglückendstes Ziel finden."124 Die immer stärkere Tendenz Haeckels zu religiösen Formeln kann nicht lediglich seinem vorgerückten Alter zugeschrieben werden. Eher ist für diese Entwicklung die konzeptuelle Uberforderung der Rolle des Wissenschaftlers zu veranschlagen, wie sie aus dem Zusammenspiel mit der liberalen Öffentlichkeit entstanden war (vgl. Kap. 1): Nahmen die Protagoni-

123 Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft. Berlin 1868, S. 30. 124 E. Haeckel: Darwin und die Jugend. [Grußadresse.] In: Jugend (München), H. 6, 1909, unpag.

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sten der Wissenschaft die Öffentlichkeit in Anspruch, u m ihrer Wissenschaft durch Beihilfe aus einem anderen Feld zur Durchsetzung zu verhelfen, setzten sie sich damit zugleich den Bedürfnissen dieser Öffentlichkeit aus. In gewissem Sinn w u r d e Haeckel so zum Opfer der eigenen Strategien, auch als Wissenschaftler: Die Solidaritätsadresse, die Haeckel 1909 von 46 Zoologen u n d Anatomen gegen Fälschungsvorwürfe durch kirchliche Gruppen erhielt, enthielt die sehr ambivalente Formulierung, „daß sie [die Unterzeichner] zwar die von Haeckel in einigen Fällen geübte Art des Schematisierens nicht gutheißen, daß sie aber im Interesse der Wissenschaft u n d d e r Freiheit d e r Lehre den [...] gegen Haeckel geführten Kampf aufs Schärfste verurteilen". 125 Bei delle Grazie tritt Haeckel als Deus ex machina auf; Haeckel erscheint nicht als „exakter" Wissenschaftler, sondern als Autor eines Buches, als Forscher, der Naturwissenschaft u n d Kunst (Malerei) zu vereinigen vermag. D e r Haeckel des Romans ist kein Experimentator u n d Physiologe, schon gar kein Vivisektor, sondern interpretierender, vergleichender Morphologe. D e r Wissenschaftler-Typ, den Haeckel hier verkörpert, entfernt sich weit von den Stereotypen vom Wissenschaftler im 19. Jahrhundert. 1 2 6 Die Dichotomie von morphologisch-systematischer u n d physiologisch-experimenteller Richtung in der zeitgenössischen Biologie stellt sich in diesem Zusammenhang nicht als arbeitsteiliges Unternehmen dar, sondern als mögliche Alternativen von Naturforschung; für die Öffentlichkeit, auch für die literarische Verarbeitung von Darwinismus ist die morphologisch-systematische Position von höherem Wert. Schon Minna Kautsky stellt in Stefan vom Grillenhof den interpretierend-philosophierenden Professor Wüst als Darwinisten einem Physiologen gegenüber, der den Invaliden Stefan zu pharmakologischen Experimenten mißbraucht. Wissenschaftsintern führte Haeckel einen programmatisch gedachten, wenngleich aussichtslosen Streit gegen d e n Kieler Physiologen Victor Hensen u n d dessen mathematisch-quantitative Planktonzählmethode. 1 2 7 So wie die spezifische Positionierung und Konzeptualisierung der Natur-

125 Zit. nach Erika Krauße: Ernst Haeckel. Leipzig 1984, S. 116. Dazu auch Dietrich v. Engelhardt: Polemik und Kontroversen um Haeckel. In: Medizinhistorisches Journal 15 (1980), S. 284-504, S. 288 f. 126 Vgl. Roslynn D. Haynes: From Faust to Strangelove. Representations of the Scientist in Western Literature. Baltimore, London 1994. 127 Dazu Krauße: Haeckel, S. 101 f.

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forschung bei Haeckel ihn die Fortschritte der eigenen Disziplin übersehen lassen, dürfte diese Fassung von „Darwinismus" eine Voraussetzung für ihre Integration in einen „weltanschaulichen" Roman vom Schlag von Heilige und Menschen sein. Dieses Wissenschaftsverständnis ist bei Haeckel auch die Voraussetzung seiner Auftritte vor großem Publikum. Der Darwinist interpretiert die Fülle der Naturformen, indem er sie zu Elementen einer Erzählung verarbeitet; auch die Schemata in Haeckels Büchern werden von einem Zeitvektor beherrscht. Eine Installation zu einem seiner letzten großen Vorträge, 1907 im Jenaer Volkshaus, zeigt eine grotesk überladene, doch konsequente Inszenierung dieses Modells. 128 Die Jugendstilarchitektur des Saales und die Bestuhlung korrespondieren dabei den organischen Formen der aufgebauten Präparate, Skelette, Schemata, Stammbäume und Bilder, deren Anordnung wieder die Konturen des dreifachen Tonnengewölbes wiederholt. Das Rednerpult bildet das exakte Zentrum von Bühne und Aufstellung; die Installation wird durch implizite Vektoren, Pfeile, „Entwicklungslinien" organisiert, die der Vortragende ziehen wird. Die von der Natur erwartete Ästhetik war dabei für Haeckel von so hoher Bedeutung, daß er sie nicht nur als monistisches Bildungsziel postulierte, sondern auch für die Schemata zur Explikation seines „Biogenetischen Grundgesetzes" voraussetzte. Derentwegen mit dem Vorwurf der Fälschung konfrontiert, antwortete Haeckel, er halte „einfache schematische Figuren für weit brauchbarer und lehrreicher [...], als möglichst naturgetreue und sorgfaltigst ausgebildete". 129 Im ganzen ist der Rekurs auf Ästhetik ein dominanter Bestandteil der „monistischen Naturreligion", als deren „drei Hauptgebiete" Haeckel ,,[d]ie monistische Natuiforschung als Erkenntniß des Wahren, die monistische Ethik als Erziehung zum Guten, die monistische Aesthetik als Pflege des Schönen" namhaft macht. „Das Wahre, das Gute und das Schöne, das sind die drei hehren Gottheiten, vor denen wir anbetend unser Knie beugen [...]. [...] dieser naturwahren Trinität des Monismus wird das herannahende zwanzigste Jahrhundert seine Altäre bauen!" 130 Die „Naturreligion", als deren Hohepriester der Naturforscher

128 Abb. in: Ernst-Haeckel-Haus der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Braunschweig 1990, S. 98 f. 129 Haeckel: Ziele und Wege der heutigen Entwickelungsgeschichte. 1875, S. 38. Zit. nach Krauße: Haeckel, S. 91. 150 Haeckel: Der Monismus, S. 326 f.

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kraft seines Amtes auftreten können soll, verlangt jedoch Retuschen am darwinistischen Naturbild. 131 So wird gegen ,,[d]ie schöne Dichtung von ,Gottes Güte und Weisheit in der Natur'" der Kampf ums Dasein gestellt, wobei ,,[d]er wüthende Interessenkampf in der menschlichen Gesellschaft [...] n u r ein schwaches Bild des unaufhörlichen und grausamen Existenzkampfes [ist], der in der ganzen lebendigen Welt herrscht" 152 ; hinter dieser Pflichtübung wird jedoch eine irenische Natur sichtbar, die Verwandtschaft mit der alten Naturteleologie zeigt und die eine monistische Priesterschaft lohnt: ,,[Ü]berall öffnet uns die Gott-Natur eine unerschöpfliche Quelle ästhetischer Genüsse. Blind und stumpf ist bisher der weitaus größte Theil der Menschheit durch diese herrliche irdische Wunderwelt gewandelt; eine kranke und unnatürliche Theologie hat ihr dieselbe als ,Jammerthal' verleidet. Jetzt gilt es, d e m mächtig fortschreitenden Menschengeiste endlich die Augen zu öffnen; es gilt ihm zu zeigen, daß die wahre Naturerkenntniß nicht allein seinem grübelnden Verstände, sondern auch seinem sehnenden Gemüthe volle Befriedigung und unversiegliche Nahrung zuführt." 153 „Die wissenschaftlichen Glaubenssätze sind eben vernunftgemäß", resümiert Carneri in seiner zustimmenden Rezension von Haeckels Manifest. 134 Im Roman delle Grazies stehen alle Felder der monistischen „Lehre" auf der Seite der „Natur"; das härteste Verdikt, das gegen die Klostergesellschaft gerichtet werden kann, ist demnach „Du - Unnatur, du!" (HM 326) Durch dieses Arrangement steht - ganz im Sinn Haeckels - „Natur" im Zeichen der „Befreiung"; der antithetische Titel erfahrt dabei eine chiastische Umkehrung: „Heilig" sind am Ende die Natur und jene „Menschen", die sich ihr anvertrauen. So geht der Roman mit der Attribuierung von „Heiligkeit" nicht sparsam um („der heilige Strom des Lebens!" [HM 208]; „Wo die Natur sich in großen, urgeborenen Empfindungen ausatmete, wo sie rein und schön dastand, wie am ersten Tage, dort war auch Gott!" [HM 397]; „Er [Haeckel], dessen Lehre ihr Glaube war, saß vor ihr und sie mußte ihm Rede stehen 151 Zu den gegensätzlichen ästhetischen Verarbeitungen von Darwinismus und Naturwissenschaft bei Nietzsche und Haeckel vgl. Kurt Bayertz: Biology and Beauty: Science and Aesthetics in Fin-de-siecle Germany. In: Fin de siecle. Ed. by M. Teich and R. Porter. Cambridge u. a. 1990, S. 278-295. 132 Haeckel: Der Monismus, S. 521. 133 Haeckel: Der Monismus, S. 526. 154 B. Carneri: Glaubensbekenntniß eines Naturforschers. [Zu Haeckel: Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Bonn 1892.] In: Neue Freie Presse (Wien), 51.5. 1895, S. 4.

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über ihre Abtrünnigkeit." [HM 402]). Konnte im Epos delle Grazies Ich-Figur Lea dem Robespierre den „Marionetten-Ruhm" (R I, 281) von Gnaden der „Natur" vorrücken - Zitat aus Georg Büchners Dantons Tod (1855) hat sich in Heilige und Menschen die Metapher verkehrt: Pantheistisch und ungezügelt teleologisch arbeitet sich das „Leben" „einem künftigen Gott entgegen[ ]", Natur ist nach delle Grazies „Haeckel" ,,[d]er Gott, der am letzten Tage ruht und vor unseren Augen noch heute die Welt erschafft. Sie immer herrlicher, immer weiter, immer größer macht. Alles in allem ist, aber nicht einer außer allem. Nur im ersten Fall sind wir seine Geschöpfe, im letzten seine - Puppen. Was scheint Ihnen würdiger?" (HM 191) In größerem Kontext stellen sich die gezeigten Effekte als späte Produkte des Liberalismus in Deutschland und Osterreich dar. Ihren Bildungsoptimismus haben die Beteiligten auch immer wieder praktisch werden lassen. Für die Eröffnung des „Volksheims", des Vorläufers der Wiener Volkshochschule, hat delle Grazie einen poetischen Prolog verfaßt, der das liberal-reformistische Motto „Durch Bildung zur Freiheit" variiert 135 ; im selben Verein finden sich neben delle Grazie Saar und Ebner-Eschenbach, die Philosophen Emil Reich, Ernst Mach und Friedrich Jodl; die Naturwissenschaftler Eduard Sueß und Richard Wettstein, Julius Tandler, dazu Karl Seitz, Engelbert Pernerstorfer und Ludo M. Hartmann, Michael Hainisch und Rosa Mayreder als Proponenten, ein who is who von Fabiern, Sozialdemokraten und Feministinnen. 136 Mit Marie Lang, Emma Eckstein, Emilie Mataja und Berta Zuckerkandl zählte delle Grazie zu den Begründerinnen des Wiener Frauenclubs (1900).137 Vereine, die meistens eine Art volksbildnerischer Aktivität entfalten, sind insgesamt die prominenteste Organisationsform der Liberalen nach dem Zerfall der liberalen Parteien und nach der kurzen, doch intensiven politischen Hegemonie jedenfalls in Österreich; so sind es auch immer dieselben Perso135 136

137

Delle Grazie: Volksheim. (Prolog zur Eröffnung des ,Volksheim' in Wien.) In: D. G.: Gedichte, S. 227-230. Aufruf zur Gründung eines Volksheims. Wien 1900. Zum „Volksheim" Engelbrecht: Geschichte des Bildungswesens, S. 552 f.; Wilhelm Filla: Ludo Moritz Hartmann: Wissenschaftler in der Volksbildung. In: Aufklärer und Organisator. Der Wissenschaftler, Volksbildner und Politiker L. M. H. Hgg. v. W. Filla, M. Judy u. U. Knittler-Lux. Wien 1992, S. 67-100. Harriet Anderson: Vision und Leidenschaft. Die Frauenbewegung im Fin d e Siecle Wiens. Wien 1994, S. 171.

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nen, die als weltanschauliche Honoratioren für Proponentenkomitees und Vereinsgründungen zur Verfügung stehen. So ist etwa Carneri nicht nur Gründungsmitglied von Haeckels deutschem Monistenbund, sondern auch in Jodls Ethischer Gesellschaß aktiv, ebenso wie im Verein zur Abwehr des Antisemitismus und in der Friedensgesellschaft der Bertha v. Suttner; Haeckel wieder hat die Ethische Gesellschaß und die Freidenkerbünde gefördert und seinen Lebensabend der Organisation des Monistenbundes gewidmet. Der Monistenbund war dabei gleichsam als Dachorganisation dieser Bemühungen konzipiert, in ihm würden, wie Haeckel in den 30 Thesen zur Organisation des Monismus (1904) schreibt, „nicht nur alle Freidenkerund alle Anhänger der monistischen Philosophie Aufnahme finden, sondern auch alle ,freien Gemeinden, ethischen Gesellschaften, freireligiösen Gemeinschaften' usw., welche als Richtschnur ihres Denkens und Handelns allein die reine Vernunft anerkennen, nicht aber den Glauben an traditionelle Dogmen und angebliche Offenbarungen". 138 (In Salzburg und Linz bestanden schon vor der Gründung des Monistenbundes „Haeckelgemeinden". 139 ) Die optische Einheit, die schon ganz verschiedene Optionen in der Bewunderung für delle Grazies Epos zusammengebracht hat - und das nicht unter primär ästhethischer, sondern gerade „weltanschaulicher" Würdigung - , diese optische Einheit hat ihre Basis im gemeinsamen, alten Gegner des Liberalismus: der Kirche. Carneri listet in seiner Rezension der Gedichte delle Grazies die alten Feinde des Liberalismus auf, die ihn selbst in der brutalen, manchesterlichen Biopolitik eines Alexander Tille noch einen möglichen Verbündeten seiner eigenen weichen, eudämonistischen Ethik erblicken lassen: ,,[M]an braucht nur Alexander Tille's von reinster Begeisterung glühende Schriften zu lesen, um die Raschheit zu begreifen, mit welcher der Nietzsche-Cultus immer weitere Kreise zieht. Ein richtiger Instinct liegt dieser Bewegung zu Grunde. Es ist das Individuum, das durch die Ent-

138 Zit. nach Krauße: Haeckel, S. 113. 139 Der Salzburger Freidenkerverein benannte sich 1904 auf „Haeckel-Gemeinde" um, vgl. Haeckel-Gemeinde Salzburg an E. Haeckel, 17. 5. 1904. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Best. A, Abt. 1, Nr. 1729 u. andere Korrespondenzstücke unter dieser Signatur. Am 14. Juni 1904 hielt der Verein eine Konrad-Deubler-Feier ab, am 19. Juni wurde eine Fahrt nach Goisern unternommen. Vgl. auch Curt Spiecker an Haeckel, o. D. Best. A, Abt. 1, Nr. 1376, mit der Bitte um Zustimmung zur Umbenennung; Spiecker beruft sich auf die Mitgliedschaft Carneris und Irma v. Troll-Borostyanis. Zu Haeckels 70. Geburtstag gratuliert auch eine Linzer Haeckelgemeinde.

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wicklungslehre zum Bewußtsein seiner Bedeutung gelangt [!], sich auflehnt gegen die Mächte, die mit dem Untergang ihm drohen. Und schießt auch diese Bewegung über's Ziel, so ist sie darum doch nicht minder werthvoll als Reaction gegen den Collectivismus, in den die Ultra-Socialisten alles Individuelle ersäufen möchten, gegen die modernen Ultramontanen, die den Socialismus dadurch besiegen wollen, daß sie das Individuum wieder in die Ketten des Aberglaubens schlagen, gegen den Schopenhauer'schen Pessimismus, der [...] schließlich einen ,Feminismus' anbahnen würde, welcher der Anfang vom Ende wäre. Zur Züchtung der,Blonden Bestie' wird es freilich nicht kommen und so wenig zu einer Aufhebung aller Sittlichkeit, als zu einer Abschaffung der Humanität, sollen anders die Menschen sich vertragen; allein die krankhafte Humanität wird aufhören, und eine gesunde Moral wird platzgreifen zum Gedeihen des Individuums und damit zum Heil des großen Ganzen. [...] Die Tiefe der Lebensanschauung ist der Schlüssel zu den Dichtungen delle Grazie's, und aus innerster Ueberzeugung sagen wir: ihrer ist die Zukunft." 140 Die neue Frontstellung zur Sozialdemokratie hat auch den darwinistischen Forschern selbst zu schaffen gemacht. Auf Virchows Vorhaltungen, der Darwinismus werde von den Sozialisten benützt, antwortet Haeckel, die Entwicklungslehre sei ihrer Struktur nach aristokratisch, ebenso der politisierende Meeresbiologe Oscar Schmidt. Das ist umso bemerkenswerter, als sich der genealogische Inhalt der Evolutionstheorie, wenn schon überhaupt gegen eine soziale Schicht, dann gegen den Adel gerichtet haben mußte. Denn wenn man seine Legitimation aus einer Genealogie bezog, die im besten Fall auf Karl den Großen zurückführte, konnte diese Legitimation nicht unangetatstet bleiben, wenn dieser durch den Pithecanthropus alalus ersetzt wird. Haeckel selbst hatte in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte die Zuchtwahlpolitik der herrschenden Adelsgeschlechter als Modellfall für fortschreitenden Kretinismus ausgebreitet.141 Ebenso setzt Tille auf eine biologisch abgesicherte Leistungsethik, die den Adel delegitimiert und eugenisch neu begründet. Nicht zu überse-

140 141

B. Carneri: Gedichte von M. E. delle Grazie [3. Aufl. 1896], In: Neue Freie Presse (Wien), 23. 1. 1896, S. 1 f., S. 2. Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 138-140. „Gerade in regierenden Familien sind Geisteskrankheiten in ungewöhnlichem Maße erblich. [...] Diese Erscheinung wird uns kaum mehr wundern, wenn wir bedenken, welchen Nachtheil sich diese privilegirten Kasten selbst durch ihre unnatürliche einseitige Erziehung und durch ihre künstliche Absperrung von der übrigen Menschheit zufügen." S. 139.

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hen ist jedoch der Graben, der die „weichen" Darwinismen der „Lamarckisten" delle Grazie, Carneri, Haeckel und auch Sigmund Freud vom prononcierten „Weismannismus"/„Neodarwinismus" eines Tille trennt 142 ; das pädagogische Modell bedarf auch biologischer Stützungen, die garantieren, daß Gelerntes nicht verloren geht. Der Darwinismus stellte für den Liberalismus eine historisierende Paradigmatik bereit, die den Antiklerikalismus wahren konnte, ohne das Individuum aufgeben zu müssen; in der Verkopplung von Ontogenie und Phylogenie, von individueller Biographie und der Geschichte der Gattung war ein Synchronisationsmodell zuhanden, das den alten Geschichtsoptimismus noch immer „naturhaft" gewährleistete. Hatte der Robespierre in der phylogenetischen Vision des Priesters Fauchet auf eine Kreatürlichkeit abgehoben, die die bürgerliche Tugend des „Erbarmens" im Bild der Familie und der Mutterliebe als Handlungsoption bis zur Vollendung des Menschengeschlechts favorisiert, war dies durch ein schopenhauerisches Naturbild des Daseinskampfes gegengelagert, von dessen Wirkung Rudolf Steiner berichtet: „Szenen von hohem dichterischem Schwung, aber in pessimistischem Grundton, von farbenreichem Naturalismus; das Leben von seinen erschütterndsten Seiten gemalt." 1 4 3 In Heilige und Menschen wird innerhalb einer didaktischen Struktur die optimistische monistische Vision des Lebens im Zusammenhang von Einzelwesen, Natur und Geschichte forciert, das nur die „Ruinen", wie es im Roman heißt, zu überwinden hat. Gerade aber die allgemeinste Option, das „Leben", wird für diejenigen, die bis zu dieser Erkenntnis geführt werden, abgesichert durch wahrere individuelle Genealogien als die, unter denen sie im sozialen Leben zu leiden hatten; als Nachkommen von Herrschern und Intellektuellen und Freiheitskämpfern. Wenn der teleologisch narrativierte „Darwinismus" eine Schwundstufe bzw. ein Substitut des Progreßmodells, einer selbstbewußten liberalen Geschichtsphilosophie geworden war, lassen sich an delle Grazies Geschichts-

142

Zur Ablehnung des Neolamarckismus Tille: Von Darwin bis Nietzsche, S. 116 f.: „Wenn Galtons und Weismanns Theorien von der Nichterblichkeit erworbener Eigenschaften sich als völlig allgemein richtig erweisen sollten, dann fällt Herbert Spencers gesammte Ethik in Stücke. [...] Der beherrschende Faktor alles organischen Fortschritts ist die Auslese. Die Vererbung erworbener Eigenschaften spielt daneben eine minimale Rolle, obgleich sie, wenn auch sehr eingeschränkt, vorhanden ist."

145

Steiner: Mein Lebensgang, S. 92.

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Marie Eugenie delle Grazie und Ernst Haeckel

entwürfen und ihrer Verarbeitung der Haeckel-Version Darwins die Kosten dieses Verfahrens ablesen. „Geschichte" nimmt die Form einer Abfolge panoramatischer Tableaus an; die Nachtseite der Natur, die als Bildspenderin von Ideologiekritik fungibel war, wird zunehmend ausgeblendet. Das Erkenntnissubjekt von Wissenschaft tendiert zu einer mit ästhetischem Aufwand hergestellten Version vom Aufklärer als Verkündiger. Der Aristokratismus ist eine Metapher für diese Neuorientierung. Die Mißverständnisse und aus heutiger Sicht reichlich unwahrscheinlichen ideologischen Konstellationen, in die delle Grazies Literatur geraten ist, sind dabei auch ein Beleg, ein wie ambivalentes Zeichen „Darwin" um die und nach der Jahrhundertwende geworden war. „Darwinismus" wurde als Zeichen dabei leicht wiedererkannt; dieser Erkennungseffekt war besonders dominant in handlungsorientierten Milieus. Die Ziele dieser Handlungsorientierung sind jedoch unterschiedlicher kaum denkbar. Die Defensive und die relative Schwäche des Spätliberalismus wird von den Beteiligten - teils öffentlich, teils privat - im darwinistisch-evolutionistischen Kontext gerne naturalistisch kompensiert. Delle Grazie hat die „korrekte" (d. h. szientistisch-bildungsoptimistische) Fassung Darwins realisiert, die die Darwinisten selbst als textuelle Darstellungsform benützen. Erkenntnis und Bildungserlebnis reichen jedoch inhaltlich im Roman nicht aus. Delle Grazie hat sich eine Imaginationswelt geschaffen, in der auch das gleichsam private Ich im „Geisteskampf' Stützungen erfahrt. Die „symbolische" Gestalt der Lea im Epos trägt autobiographische Züge, auf die Haeckel, sich nach delle Grazies Biographie erkundigend, von Carneri hingewiesen wird; die „Alba della Gioja" des Romans rekapituliert die eigene biographische Beziehung ihrer Autorin zum Naturforscher, mit wörtlichen Briefzitaten Haeckels, die in den Roman montiert sind. Das genealogische Geschichts- und Erzählmodell eröffnet einen Projektionsraum, der dem realgeschichtlich in die Defensive geratenen Ich mehr an Sicherheiten bietet als das Modell der Bildung, die auch noch mit eingeschlossen werden kann. Haeckel hat sich gern als direkter Nachfahre der vertriebenen Salzburger Protestanten bekannt, wie delle Grazie in ihrer Hommage an Haeckel berichtet: Von dem „herrlichen Bild" der Vollmondnacht auf dem Mönchsberg „in tiefster Seele ergriffen, erzählte uns [ihr und dem Theologen Müllner] Haeckel, daß auch er hier eigentlich eine Art Heimatsrecht habe, da Salzburg die ,Urheimat' seines Geschlechtes war". 144 Delle Grazie hat in ei144

Delle Grazie: Ernst Haeckel der Mensch, S. 312.

Monismus als Bildungsunternehmen

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nem Gedicht mit dem Titel /c/z145 höher angesetzt. Es beginnt mit liberalem Befreiungs- und Wahrheitspathos: „In eure Schranken soll ich brav mich fugen, / Mich finden zahm in eure stumpfen Lügen" und läßt, auf ihre italienische Herkunft anspielend, das lyrische Ich in einer Allmachtsphantasie eine Ebene zwischen individueller Biographie und Stammesgeschichte finden, von der aus gesagt werden kann: „Sucht andre euch, die matt'rem Blut entsprossen, / Wie ihr, der Lüg' und Sklaverei Genossen". Eine Ebene, auf der letztlich die Identität von Intellektuellen und Weltgeschichte in ein und derselben Person genealogisch und aristokratisch gewährleistet ist: Araber, Gallier, Römer und Barbaren, Und der Normannen sturmgebräunte Scharen, Der Trotz des Nordens und des Südens Glut Begegnen brünstig sich in meinem Blut, Und Ahnen nenn' ich sie, die Herrscher waren, Und schnellt ihr Kind auch nur des Liedes Pfeil, Er trifft und klingt und bringt mir Ruhm und Heil, Und ihren Kranz trag' ich in meinen Haaren!

145

Delle Grazie: Gedichte, S. 69-71, S. 70 f.

8

Krieg und Frieden PAZIFISTISCHE UND

MILITÄRISCHE

D A R W I N I S M E N B E I B E R T H A V. S U T T N E R F R A N Z C O N R A D V.

UND

HÖTZENDORF

Abschließend sollen zwei österreichische Darwinisten des späten 19. Jahrhunderts einander gegenübergestellt werden: Bertha v. Suttner und Franz Conrad v. Hötzendorf. Etablierte sich die Berufsschriftstellerin Suttner als eine der prominentesten Figuren der internationalen Friedensbewegung der Jahrhundertwende, so war Conrad als Generalstabschef der österreichisch-ungarischen Armee in den Tagen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs einer der Köpfe der „Kriegspartei", die zur „Entscheidung" drängte. Ausgangspunkt möge die Irritation über den Sachverhalt sein, daß sich Pazifisten und Militärs um die Jahrhundertwende im Darwinismus derselben Basisideologie bedienten. Die historische Analyse hat, wenn sie es mit einer solchen Konstellation wie der von Suttner und Conrad zu tun hat und wenn sie über geistesgeschichtliche Gemeinplätze hinauskommen will, mit einiger Genauigkeit die institutionellen Orte zu bestimmen, von denen aus gesprochen wird. Daher soll mit Anmerkungen zur Ideologiegeschichte des österreichischen Militärs begonnen werden, um die sozialen Prozesse zu skizzieren, die den „Darwinismus" in diese Institution einführten. Die Basis der argumentativen Nähe, wie sie sich in der Engführung von Pazifisten und Militaristen zeigt, soll aus der Ähnlichkeit des sozialen Substrats entwickelt werden; diese Nähe erzeugt eine ähnliche Konkurrenz um die legitime Form der Darwin-Aneignung, wie sie schon zwischen Liberalismus und Sozialdemokratie zu beobachten war. An Bertha v. Suttners Roman Die Waffen nieder! ist dann zu zeigen, welche Homogenisierungsleistungen ein pazifistischer Darwinismus übernehmen konnte; in heutiger Lektüre, die das bürgerlich-progressive darwinistische Modell des 19. Jahrhunderts nicht teilt, müssen auch die textuellen Einheiten und Plausibilitäten, auf denen der Roman beruht, zerfallen, selbst die Organisationsformen des Pazifismus in der Suttnerschen Version sind Effekte des Darwinschen Modells. Wie dieses selbst mit einigen elementaren Denkformen des „bürgerlichen Jahrhunderts" zusammenhängt, sollen abschließende Überlegungen andeuten.

Darwinismen bei Suttner und Conrad v. Hötzendorf

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Von den Texten Bertha v. Suttners1 sollen vor allem der Roman Die Waffen nieder! und das von ihr redigierte gleichnamige Organ der österreichischen Friedensbewegung (1895-1899) diskutiert werden. Textgrundlage zu Conrad sind Abschnitte aus seiner siebenbändigen Autobiographie Aus meiner Dienstzeit2, die aus dem Nachlaß herausgegebenen Persönlichen Aufzeichnungen} in der allerdings deutlich apologetischen Redaktion von Kurt Peball, die Jugendbiographie Mein Anfang4 und zwei militärtechnische Broschüren um 1900, Infanteristische Fragen und die Erscheinungen des Boerenkrieges (Wien 1903) und Die Gefechtsausbildung der Infanterie (Wien 1900).5 Der Quellenwert der Texte Conrads wird für den darzustellenden Zusammenhang durch zwei Umstände beeinträchtigt. So bringt Conrads politische Autobiographie seiner „Dienstzeit" wohl in hohem Ausmaß Quellenbelege und Aktenstücke aus der Zeit vor dem Krieg, ist aber - ebenso wie der Band Mein Anfang, der den Bosnienfeldzug 1878/79 beschreibt erst zu Beginn der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts zusammengestellt worden. Die übliche Teleologie der autobiographischen Form wird im Fall Conrads durch die Funktion noch weit überboten, die Aus meiner Dienstzeit

1

2 3 4 5

WN... Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte. Hgg. u. mit einem Nachwort v. S. u. H. Bock. Berlin 1990. MK ... Martha's Kinder. Roman. Eine neue Folge von „Die Waffen nieder!". Berlin o. J.; SuG ... Stimmen und Gestalten. Leipzig 1907.; IS ... Inventarium einer Seele. 4. Aufl. Dresden 1904. Zur Biographie Suttners sehr materialreich Brigitte Hamann: Bertha v. Suttner. Ein Leben für den Frieden. 3. Aufl. München, Zürich 1991. Zu „Die Waffen nieder!" vgl. die Arbeit von Edelgard Biedermann: Erzählen als Kriegskunst. Die Waffen nieder! von Bertha von Suttner. Studien zu Umfeld und Erzählstrukturen des Textes. Stockholm 1995, die lediglich erzähltechnische Interessen verfolgt, jedoch auch einen umfassenden Uberblick über die Rezeption des Romans bietet. Zur Bibliographie vgl. Bertha v. Suttner - Eine Bibliographie. Zusammengest. v. G. Lindenstruth. Gießen 1993. Feldmarschall Conrad: Aus meiner Dienstzeit 1906-1918. Wien u. a. 1921 ff. Conrad v. Hötzendorf: Private Aufzeichnungen. Erste Veröffentlichungen aus den Papieren des k.u.k. Generalstabs-Chefs. Bearb. u. hgg. v. K. Peball. Wien, München 1977. Feldmarschall Conrad: Mein Anfang. Kriegserinnerungen aus der Jugendzeit 1878-1882. Mit Faksimiles nach Karten und Handzeichnungen des Feldmarschalls. Berlin 1925. Zur verwickelten Text- und Nachlaßgeschichte vgl. Peter Broucek: Uber den Schriftennachlaß des Feldmarschalls Franz Conrad v. Hötzendorf im Kriegsarchiv. In: Mitteilungen des Osterreichischen Staatsarchivs 43 (1993), FS Peball, S. 156-167 u. ders.: Der Nachlaß Feldmarschall Conrads und das Kriegsarchiv. In: Mitteilungen des Osterreichischen Staatsarchivs 28 (1975), FS Goldinger, S. 164-182. „Aus meiner Dienstzeit" war eine „getarnte" Aktenedition des Kriegsarchivs und wurde von dessen Direktion gelenkt; die verbindenden Texte stammen jedenfalls von Conrad selbst.

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zugedacht war. Die Autobiographie sollte die Apologie eines unvermeidlichen Krieges leisten, die „Kriegsschulddebatte" zugunsten Österreichs und vor allem Deutschlands klären und nicht zuletzt die eigene Rolle im Vorkrieg und beim Kriegsausbruch wenn nicht relativieren, so doch wenigstens plausibel machen. Von daher erscheint Conrads durchgängige Infragestellung der Geschichtsmächtigkeit der „großen M ä n n e r " von vornherein in trübem Licht. Zur Kriegsschuldfrage schreibt Conrad in seinen Aphorism e n : „Mir ist es nicht faßbar, wie die Menschen von einer,Schuld' (Schuld im Sinne der Gesetzesübertretung) am Kriege sprechen können. Dieser ist doch nur das Resultat einer ganz natürlichen, im alles beherrschenden Daseinstrieb gelegenen Entwicklung. Jenes Triebes, der niemandem als Schuld angerechnet werden kann, weil er ja d e m ganzen Weltall, sowohl der organischen als anorganischen Natur zu eigen ist, einen unaufhaltsamen Wechsel der Erscheinungen zur naturgemäßen Folge habend. Es läßt sich also nur von den Ursachen des Weltkrieges sprechen, nie aber von einer Schuld an diesem. Am wenigsten begreife ich letzteres von Frankreichs Seite." 6 Allerdings schreibt Conrad auch nach einer Fehlentwicklung Anfang 1915 in einem Privatbrief, „daß die Thätigkeit eines Einzelnen von verschwindendster Bedeutung ist" 7 , wenig später, nach Erfolgen an der Ostfront 1915: „Sie sehen also, daß in einem so enormen Unternehmen, wie es ein m o d e r n e r Krieg ist, tausendfache Kräfte mitwirken für den Erfolg und daß der Einzelne geradezu einen Diebstahl begehen würde, wenn er sich das Verdienst allein zuwenden wollte." 8 Zum anderen wird in der Autobiographie der militärische und politische Diskurs von einem neuen überlagert, der in der Ideologie der k. u. k. Offiziere möglicherweise angelegt war, doch aus verständlichen Gründen nicht aktualisiert wurde. In Conrads nachträglichen Reflexionen verbinden sich bereits Elemente wie ein militanter Antisemitismus mit der „Dolchstoßlegende" und der Schuldzuweisung an die „Heimatfront" zu einem Deutschnationalismus, der als durchaus protofaschistisch bezeichnet werden m u ß und zumal in seinem düsteren Antihumanismus Züge der Gebrauchsideologie des Nationalsozialismus vorwegnimmt: „Menschen - ein Mückentanz, den der Hauch des Abend-

6 7

8

Conrad: Private Aufzeichnungen, S. 160. Conrad an Louis Philipp Friedmann, 18. 3. 1915. In: Johann Christoph Allmayer-Beck: Conrad von Hötzendorf als Briefschreiber. In: Mitteilungen des Osterreichischen Staatsarchivs 25 (1972), FS Mikoletzky, S. 483-491, S. 488. Conrad an Friedmann, 6. 7. 1915. In: Allmayer-Beck: Conrad als Briefschreiber, S. 489.

Darwinismen bei Suttner und Conrad v. Hötzendorf

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windes dahinjagt."9 Auch der Gefreite Hitler hat an diesem Syndrom teil; die Biographien vieler österreichischer Offiziere zeigen nach dem Weltkrieg deutliche Affinitäten zu den faschistischen Bewegungen in Osterreich, Italien, Ungarn und Deutschland.10 Als Gegenprobe werden daher einschlägige Beiträge aus der Osterreichischen Militärischen Zeitschrift herangezogen, der prominentesten militärwissenschaftlichen Zeitschrift der Monarchie, die nicht immer mit finanzieller Unterstützung, stets jedoch mit Billigung durch Generalstab und Kriegsministerium redigiert wurde.11 Wenn das Jahr 1848 die wichtigste historische Zäsur für das österreichische Bildungswesen darstellt, so erfolgt der schärfste Einschnitt für die Institution Militär nach der Niederlage von Königgrätz.12 Nach 1866 wird die allgemeine Wehrpflicht eingeführt; unter den liberalen Kriegsministern v. Kuhn und v. John wird eine Modernisierungsperiode eingeleitet, sowohl in technischer als auch in ideologischer Hinsicht. Die Offiziersausbildung wird modernisiert. Gleichzeitig versucht die Armee, die städtischen Bildungsschichten mit der Einführung des Freiwilligenjahrs einzubinden; dazu wird der Stand des Reserveoffiziers etabliert, der dem Bildungsbürgertum vorbehalten bleibt.13 Angehörige dieses neuen Ranges sind viele Autoren des „Jungen Wien", darunter Hermann Bahr und Arthur Schnitzler. Nur ein kleiner Anteil dieser Reserveoffiziere wechselt jedoch in die Laufbahn des

9 10

Conrad: Private Aufzeichnungen, S. 64. Vgl. dazu jetzt Peter Melichar: Die Kämpfe merkwürdig Untoter. K. u. k. Offiziere in der Ersten Republik. In: Osterreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 9 (1998), H. 1, S. 5 1 - 8 4 .

11

[Karl] Zitterhofer: Streffleurs Militärische Zeitschrift 1808-1908. Eine Geschichte dieser Zeitschrift anlässlich ihres 100jährigen Bestehens mit einem Generalregister [...]. Wien 1908; Peter Broucek: Das Kriegspressequartier und die literarischen Gruppen im Kriegsarchiv 1914-1918. In: Österreich und der Große Krieg. Die andere Seite der Geschichte. Hgg. v. K. Amann u. H. Lengauer. Wien 1989, S. 132-139.

12

Zur Organisations- und Sozialgeschichte des Militärs vgl. Istvän Deäk: Der k. (u.) k. Offizier 1848-1918. Wien, Köln, Weimar 1991; Johann Christoph Allmayer-Beck: Die bewaffnete Macht in Staat und Gesellschaft. In: Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Hgg. v. A. Wandruszka u. P. Urbanitsch. Bd. 5: Die bewaffnete Macht. Wien 1987, S. 1-141. Zur Strategiegeschichte der österreichischen Armee vgl. Manfried Rauchensteiner: Zum „operativen Denken" in Österreich 1814-1914. In: Österreichische Militärische Zeitschrift 1974, S. 121-127, 2 0 7 - 2 1 1 , 285-291, 379-384, 473-478; 1975, S. 4 6 - 5 3 (über Conrad).

13

Deäk: Der k. (u.) k. Offizier, S. 70-86, 109.

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Berufsoffiziers. 1 4 Dennoch geht der Anteil des Adels am Offizierskorps im Lauf der Zeit deutlich zurück 1 5 ; zugleich wird der Generalstab zur „obersten Planungs- und Organisationsbehörde der Streitkräfte", in den achtziger Jahren wird der Generalstabschef zum inoffiziellen Oberbefehlshaber. „Unter Beck machte der Generalstab Militärpolitik, und unter Conrad begann er auch Außen- und Innenpolitik zu machen." 1 6 Diese Veränderungen waren nicht immer auffällig, aber folgenreich; sie wurden durch die gewandelte innenpolitische Situation erzwungen, aber auch durch die immer schneller einsetzenden Innovationen der Militärtechnik, die eine erste Riistungsspirale in Gang setzten. Nicht nur waren nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht mehr „Zivilisten" als je zuvor mit der militärischen Seite der Staates in Berührung gekommen; auch die leitenden Kader der Armee hatten mit jenen der vorhergehenden Epoche nicht mehr viel gemeinsam. Eine auffällige Erscheinung der neuen Ära sind die „denkenden Generäle und Generalstäbler", die publizieren und zum Teil in politischen Fragen (unter sorgfältigem Pseudonym) intervenieren; auch die Anzahl der Memoirenwerke von Offizieren steigt an. 17 Im selben Ausmaß dürfte übrigens die Attraktivität des Militärs als literarisches T h e m a zurückgehen, in der Militärischen Zeitschriß wird über dieses Phänomen häufig Klage geführt. 1 8 Die aristokratischen Militärs in den Novellen Ferdinand v. Saars sind zumeist Ungleichzeitige, nicht nur als Aristokraten, sondern gerade auch als Militärs. Im Einklang mit den technischen Innovationszyklen nimmt in einer auch statistisch nachweisbaren Weise im Denken der Generalstäbler Ende der achtziger bis Ende der neunziger Jahre, dann wieder in den Jahren vor dem

14 15 16

17

18

Deàk: Der k. (u.) k. Offizier, S. 109. Deàk: Der k. (u.) k. Offizier, S. 196, 198. Deik: Der k. (u.) k. Offizier, S. 136. Eine geraffte Skizze der Machtzunahme des Generalstabschefs und Conrads bei Broucek: Uber den Schriftennachlaß, S. 139 f.; ausführlich Walter Wagner: Die k. (u.) k. Armee - Gliederung und Aufgabenstellung. In: Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. 5, S. 142-635, S. 373 ff. Vgl. Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau. 2 Bde. Eingel. u. hgg. v. P. Broucek. Wien, Köln, Graz 1980-1983, Bd. 1, Einl. S. 15-17; Deik: Der k. (u.) k. Offizier, S. 257-268. Vgl. z. B. Béla Kuderna: Leier und Schwert. In: Osterreichische Militärische Zeitschrift (Wien) 33 (1892), Tl. 2, S. 59-62. Zum Militär in der österreichischen Literatur der Zeit vgl. Ian Foster: The Image of the Habsburg Army in Austrian Prose Fiction 1888 to 1914. Bern usw. 1991 (zu Torresani, Saar, Suttner, Schnitzler u. a.).

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Krieg ein neues Thema militärwissenschaftlicher Reflexion immer breiteren Raum ein: die „Moral der Truppe". Die Befassung mit der „Moral der Truppe" war keineswegs deutsches oder österreichisches Sondergut. Alle europäischen Armeen verfuhren ähnlich, „indem sie auf die Technisierung ihres Berufes mit der Betonung jener Seite des Gewerbes reagierten, deren Kontrolle zweifellos in die engere Kompetenz militärischer Führung fiel, und das war eben die Betonung des Willens. Ihn erhoben sie tendenziell von einer notwendigen zu einer hinreichenden Bedingung militärischen Erfolges." 19 Man findet gleichlautende Formulierungen bei Conrad („Keine Führung, keine Bewaffnung, keine Schießfertigkeit sind imstande, das Fehlen solchen Geistes und die Folgen solchen Gegensatzes wettzumachen." 20 ) u n d bei Colmar v. d. Goltz ebenso wie bei den französischen Generälen Langlois und Ferdinand Foch, auf den die Gleichung „Sieg = Wille" zurückgeht. Sie teilen auch das Bewußtsein, daß mit der Betonung der „Moral der Truppe" eine Dequalifizierung der eigenen Rolle einhergeht; so erklärt Conrad in einem Privatbrief, „[...] jetzt verkriecht sich alles unter die (pardon) Unterröcke der verehrlichen Madame Suttner!, bis die gelbe Race der verweichlichten weißen den Kopf vor die Füße legen wird. Der kriegerische, offensive Geist war das ganze Geheimnis der japanischen Siege [von 1905, W. M.]; nur Laien suchen dasselbe in der Führung, der Taktik und sonstigen Dingen." 21 Dazu kommt eine zweite Entwicklung, an deren Ende in den Jahren vor d e m Ersten Weltkrieg die vollausgebildete Denkform eines „Militärdarwinismus" steht, ebenfalls eine internationale Erscheinung, ebenso international wie die Argumentationstopik der antimilitaristischen Pazifisten. Seit der „levée en masse" der französischen Revolutionsarmee und den Erfolgen der Napoleonischen Kriege begann sich die Erkenntnis durchzusetzen,

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20 21

Dieter Storz: Die Schlacht der Zukunft. Die Vorbereitungen der Armeen Deutschlands und Frankreichs auf den Landkrieg des 20. Jahrhunderts. In: Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. Im Auftrag d. Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hgg. v. W. Michalka. München, Zürich 1994, S. 252-278, S. 259. F. C[onrad] v. H[ötzendorfj: Infanteristische Fragen und die Erscheinungen des Boerenkrieges. Wien 1903, S. 101. Conrad an Walburga v. Sonnleithner, 25. 7. 1907. In: Kurt Peball: Briefe an eine Freundin. Zu den Briefen des Feldmarschalls Conrad von Hötzendorf an Frau Walburga von Sonnleithner während der Jahre 1905 bis 1918. In: Mitteilungen des Osterreichischen Staatsarchivs 25 (1972), FS Mikoletzky, S. 492-503, S. 499.

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daß mit motivierten Heeren, die gleichsam für Eigenes kämpfen und sich mit den politischen Imperativen der staatlichen Politik identifizieren, mehr zu leisten ist als mit den durch die herkömmlichen Rekrutierungsverfahren zustande gekommenen Truppen. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht war eine alte Forderung der demokratischen Linken, was im Osterreich der 1860er Jahre zunächst zu einem Zögern im hocharistokratisch dominierten Offizierskorps führte. Regierungsrat Orges spitzte 1868 in der Militärischen Zeitschriß den Zusammenhang aphoristisch zu: „Will man den Staat democratisiren, so muss sich die Nation militarisiren" 22 , wobei diese Formel in beide Richtungen gelesen werden kann. Es ist eine der bittersten Ironien der Geschichte des 19. Jahrhunderts, daß der Weltkrieg in seiner Intensität und seiner Dauer nur von in bestimmtem Ausmaß selbstbestimmten Heeren geführt werden konnte; von der Dauer des Krieges waren die militärischen Führungskader selbst am meisten überrascht. Es war eine unausgesprochene Übereinkunft der Generalstäbe aller europäischen Staaten, daß unter den vorwaltenden technischen Bedingungen die modernen Volksarmeen nur kurz zum Kampf motiviert werden könnten, danach wäre ein Krieg wegen der Gefahr einer Revolution nicht mehr zu verantworten. Das strategische Denken wurde in der zweiten Jahrhunderthälfte deshalb auf den „Kult der Offensive" umgestellt. (Die Militärs unterschätzten damit den Wert der eigenen Ideologie, die - nach Althusser - , indem sie die einzelnen als Subjekte anruft, sie sich aus freien Stücken fremden Zwecken aussetzen läßt.23) Auch in dieser Hinsicht „schwächstes Glied", zog sich das aus damaliger Perspektive ,rückständige' Rußland als erste Nation durch Revolution aus dem Weltkrieg zurück. Modris Eksteins hat die kulturell differenzierten, in der Substanz aber identischen Diskurse der „Pflicht" in diesem „bürgerlichen" Krieg analysiert, wie sie sich hinter und an allen Fronten fanden, nicht nur in den Durchhalteparolen der Offiziere, sondern gerade auch in den Feldpostbriefen der Frontsoldaten. 24 „Ich setzte [...] an Stelle des ,Ehr-

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Hermann v. Orges: Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Allgemeinen Wehrpflicht. In: Österreichische Militärische Zeitschrift 9 (1868), Tl. 4, S. 292-314, S. 514. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg, Berlin 1977, S. 142-145. Modris Eksteins: Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg. Reinbek 1990.

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geizes' die ,Pflicht', meine Lebensrichtung wurde der Aktivismus", berichtet der General Conrad von seiner Persönlichkeitsentwicklung. 25 Gustav Ratzenhofer, der als einer der Begründer der Soziologie gilt, Militärarchivar und Militärschriftsteller in Wien, schließlich als Feldmarschallleutnant im Generalsrang pensioniert, hat denselben Zusammenhang in darwinisierender Terminologie, wie sie auch seine Soziologie durchzieht, um 1880 dargestellt (zu dieser Zeit Hauptmann im Generalstab). Aus der Beobachtung, die Opfer des Krieges stünden für den einzelnen „in keinem Verhältnisse" zu seinem Gewinn, leitet Ratzenhofer „tiefere Beweggründe, um im Kampfe auszuharren", ab: „1. Die aus dem Gesellschaftstriebe hervorgehende Aufopferungsfähigkeit für das Ansehen und Wohl der Gemeinschaft" und „2. Die Kampfeslust und der Ehrgeiz, welche aus dem Streben Einzelner, ihre Mitmenschen in dem Kampfe um's Dasein zu überragen und zu beherrschen, hervorgeht." 26 „Höher entwickelte Staatswesen reichen mit der Kampfeslust und dem Ehrgeize für den Krieg nicht aus, sie fordern die zähere, aber verlässlichere Aufopferungsfähigkeit; diese ist die sittliche Blüthe des Wehrpflicht-Systems." „Die allgemeine Wehrpflicht ist die Quelle des militärischen Pflichtbewusstseins, und kein anderes System vermag dieses in den Massen so naturgemäss hervorzurufen." 27 Diese Ausführungen, die mindestens den Vorzug der Deutlichkeit haben, sind erläuterungsbedürftig. Der Aufsatz Die kriegerischen Eigenschaften der modernen Heere erschien im Organ der Militär-wissenschaftlichen Vereine-, diese Vereine, ebenfalls nach Königgrätz ins Leben gerufen, sollten der höheren, modernen Bildung der Berufsoffiziere zunächst in Wien, dann auch in den Garnisonen dienen. Der Autor Ratzenhofer ist selbst nicht nur ein Beleg für die Geburt der Soziologie aus dem Geist des Darwinismus und des Militärs, sondern auch für die Verbürgerlichung der Führungskader: Der Sohn eines Wiener Uhrmachers trat zunächst ins väterliche Handwerk ein und durchlief nach einer Auszeichnung 1866 die bereits modernisierte Ausbildungslaufbahn der Wiener Kriegsschule (1868-70). (Ebenso: Conrad v. Hötzendorf, der in der historio- und hagiographischen

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Conrad: Mein Anfang, S. 164. Ratzenhofer: Die kriegerischen Eigenschaften der modernen Heere. In: Organ der Militär-wissenschaftlichen Vereine 21 (1880), S. 555-358, S. 353. Ratzenhofer: Die kriegerischen Eigenschaften, S. 354 u. 356. Ausführlich Ratzenhofer: Die Staatswehr. Wissenschaftliche Untersuchung der öffentlichen Wehrangelegenheiten. Stuttgart 1881.

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Literatur meist als „ G r a f apostrophiert wird, war Militär in zweiter Generation, in dritter Generation Angehöriger des niederen Dienstadels, sein Großvater war Taaffescher Wirtschaftsrat, seine Mutter stammte als Tochter eines Zimmermalers aus kleinbürgerlichem Milieu. Erst als Generalstabschef erhielt Conrad den Freiherrntitel, die Erhebung in den Grafenstand erfolgte als Kompensation für seine Kommandoenthebung 1918, eine der letzten Aktionen Kaiser Karls.) Ratzenhofers Aufsatz präludiert die zunehmende Konjunktur der DisZeitschrift der kurse um die „Moral der Truppe", die in der Militärischen Rubrik Bildungswesen zugeschlagen werden und die älteren Beiträge zu den militärischen Vorbildern ablösen, im besonderen zu den Lehren des Erzherzog Carl, des „Siegers von Aspern". Der Modernitätszuwachs im militärischen Denken läßt sich an der Substitution der großen Feldherren durch die Befassung mit den Befindlichkeiten der Massen ablesen; Kriegskunst wird Kriegswissenschaft. Zudem muß dem Aufsatz gewissermaßen subjektive Ehrlichkeit zugute gehalten werden, der aus heutiger Perspektive sichtbare Zynismus kann für die Schreibzeit nicht vorausgesetzt werden. Viel eher irritiert an der Terminologie deren Genealogie aus dem gleichsam „hellen", optimistischen und fortschrittsliberalen Diskurs, der in den sechziger Jahren zu einer ersten Konjunktur gekommen ist. Ratzenhofer steht innerhalb des demokratischen progressiven Optimismus, wenn er von der „sittlichen Blüthe" des Wehrpflichtsystems spricht; das Militär als „Schule der Nation" verstand sich nicht als Drillanstalt, sondern buchstäblich als „Kulturfaktor". Ebenso kann die Annahme, die Geschichtsentwicklung zeige eine Abschwächung der aggressiven, eine Zunahme der solidarischen Strebungen der Organismen, als Gemeingut der liberalen darwinistischen Geisteswelt gelten und findet sich in dieser Form - wenngleich mit anderer Nutzanwendung - ebenso im Pazifismus Bertha v. Suttners wie im Marxismus Karl Kautskys. Überraschen könnte weiters die grundsätzlich positivistische Denkhaltung des Textes, der immerhin im institutionellen Herz eines Staates situiert ist, der sich als dynastische katholische Großmacht verstand und einige Jahre vor Erscheinen des Vortrags noch zugunsten des Kirchenstaates gegen die italienische Nation zu intervenieren plante. Ein näherer Blick in die Tätigkeit der militärwissenschaftlichen Vereine und der Bildungsinstitutionen des Militärs nach 1866 zeigt aber geradezu die Omnipräsenz von moderner Wissenschaft. 1866 wird verkündet, es gebe „keine Antipathie zwischen Feder und Degen", das Studium sei „für den Offlcier an

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und für sich der beste Gefährte, der treueste Freund und mächtigste Gön28 ner zugleich!" Die Kriegsschule integrierte im Nachziehverhältnis Disziplinen wie Kulturgeschichte (ab 1870), „Naturwissenschaften" (ab 1868), Geographie und Geologie, übrigens auch Deutsche Literaturgeschichte.29 Die militärwissenschaftlichen Vereine werden das Ihre zur Verbreitung des Darwinismus in wissenschaftsfremden Milieus geleistet haben. In Kaschau, Sarajewo und Ljubljana werden um 1880 Vorlesungen zur Evolutionstheorie abgehalten, Vortragende sind Militärs und Zivilisten.30 Mitte der siebziger Jahre erschienen im Rezensionsteil der Zeitschrift zwei Besprechungen von Neuerscheinungen Darwins, die gänzlich aus dem Arsenal des antiklerikalen liberalen Kampfdiskurses schöpfen: „Verrottete Ansichten und eingewurzelte Vorurtheile verschwinden, an ihre Stelle treten auf Forschung basirte neue Anschauungen und auf Experimente gegründete Schlussfolgerungen"31 heißt es da, „der lebhafte Kampf, welcher in den letzten Jahren um die Entwicklungslehre entbrannt ist", müsse „früher oder später nothwendig mit ihrer allgemeinen Anerkennung endigen".32 „Darum müssen auch die Leuchten der Naturwissenschaft (z. B. Kopernicus, Kepler, Newton, Darwin u. A.), welche um den geistigen Fortschritt der Menschheit die allergrössten Verdienste besitzen, auf das Höchste verehrt werden."33 Ratzenhofers Argumentation ist demnach keine vereinzelte; ein Hauptmann im Generalstab wendete sich im liberalen Wiener Wissenschaftlichen Klub 1880 mit Darwin gegen die angeblich in Osterreich besonders verbreiteten Thesen Henry Thomas Buddes, der Krieg sei

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Htr.: Degen und Feder. In: Österreichische Militärische Zeitschrift 6 (1866), Tl. 2, S. 4 1 - 4 8 , S. 46 f. Die k. u. k. Kriegsschule 1852-1902. Hgg. v. Kommando d. k. u. k. Kriegsschule. Wien 1905. Deutsche Literaturgeschichte wurde zwischenl862 und 1882 unterrichtet. Vgl. die Vorlesungsübersichten in der „Vereins-Correspondenz" im Organ der Militär-wissenschaftlichen Vereine 16 (1878), S. 21 (Ljubljana, Oberstlieutenant Barrault); 22 (1881), S. 25 (Kaschau, Ober-Stabsarzt Bock); 22 (1881), S. 40 (Linz, Prof. Rupp); 50 (1885), S. 14 (Sarajewo, Oberstlieutenant Bancalari). Die Aufzählung ist nicht vollständig. Hss.: [Rez. zu Darwin: Insectenfressende Pflanzen. Stuttgart 1876]. In: Organ der Militär-wissenschaftlichen Vereine 15 (1876), S. LIII f. Ebd., S. LIV. A.: [Rez. zu Darwin: Reise eines Naturforschers um die Welt. Stuttgart 1875]. In: Organ der Militär-wissenschaftlichen Vereine 12 (1876), S. XLVIII f.

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ein atavistisches Phänomen geworden, die Militärische Zeitschrift druckte den Vortrag ab. 3 4 Demnach scheint die These vertretbar, es habe sich beim „militärischen D a r w i n i s m u s " nicht u m eine vor d e m Weltkrieg entwickelte Ultima ratio der Generalstäbe zur Integration der Bildungsschichten gehandelt. Vielm e h r dürfte der Darwinismus im militärischen Denken seit d e m Greifen der liberalen Reformen - mindestens in Österreich - ein Argumentationsangebot für denkende Militärs abgegeben haben, in enger Ubereinstimm u n g mit den Konjunkturen und den Färbungen des Darwinismus in der außermilitärischen Öffentlichkeit. Eng jedenfalls ist diese Entwicklung mit der Verbürgerlichung des Offizierskorps und insbesondere der technisch-intellektuellen Elite des Generalstabs verbunden. Als weiterer Beleg m ö g e eine sich über mehrere Monate hinziehende Sammelrezension in der Militärischen Zeitschrift gelten, in der zur Verbesserung des „Geistes der Truppe" die Lektüre folgender Titel anempfohlen wird: Samuel Smiles' Seif Help, die Bibel des viktorianischen Kleinunternehmers, und Der moderne Mensch. Versuche über Lebensführung (1891) des liberalen steirischen Philosophen, Politikers und Kriegsgegners Bartholomäus v. Carneri, eine eudämonistische Ethik auf darwinistischer Grundlage. Carneri war z u d e m einer der engsten Vertrauten und Berater Bertha v. Suttners. 3 5 34

55

Alexander Kirchhammer: Henry Thomas Buckle's Anschauung vom Kriege und die Grundlinien der Wehrfrage. Vortrag, gehalten im „wissenschaftlichen Club" zu Wien am 18. Dec[ember] 1879. In: Österreichische Militärische Zeitschrift 21 (1880), Tl. 1-2, S. 49-71. Franz Rieger [Major]: Uber den Wert und die Pflege der moralischen Kraft. In: Osterreichische Militärische Zeitschrift 33 (1892), Tl. 1, S. 1-20; 33 (1892), Tl. 2, S. 71-84; 36 (1895), Tl. 4, S. 34-45. Carneri hatte schon in seiner ersten einschlägigen Publikation, „Sittlichkeit und Darwinismus" (1871), gegen den Deutsch-Französischen Krieg Protest eingelegt, auch bereits nach dem deutschen Erfolg: „Während der Drucklegung dieses Buches ist ein riesiger Krieg ausgebrochen, der mit der Raschheit, die unsere Zeit kennzeichnet, Früchte trägt, welche für die Sache der Civilisation unschätzbar sein können. [...] Wie herrlich aber die Früchte auch sein mögen, welche die Hand der Gewalt darbietet, immer bleiben sie Gaben von zweifelhaftem Werth. [...] Die Civilisation ist und bleibt, in der That, zur Hälfte erlogen, so lang Kriege zwischen civilisierten Völkern nicht zu den Unmöglichkeiten gehören. [...] [D]er Erfolg des blutigen Ringens [wird] zunächst eine Steigerung des Militarismus sein. [...] Die Freiheit ist heute bedrohter, denn je zuvor, und da tritt an die Wissenschaft mit doppeltem Ernst die Aufgabe heran, auf dem Felde friedlicher Arbeit, dem einzigen, dem die Menschheit dauernde Wohlthaten verdankt, die Fortentwicklung und Verbreitung der großen sittlichen Ideen zu wirken." Vorrede, S. IV f. (datiert mit 30. 9. 1870).

459

Darwinismen bei Suttner und Conrad v. Hötzendorf

Der Darwinismus der Militärs war eine bürgerlich-liberale Binnenangelegenheit. Nicht zufallig war es mit Rudolf Steinmetz, dem Begründer der niederländischen Soziologie, ein Vertreter des traditionell starken, hegemonialen holländischen Liberalismus, der den Militaristen um und nach der Jahrhundertwende die wichtigste Munition lieferte.36 Besonders seine (deutsch verfaßten) Schriften Der Krieg als soziologisches Problem,

A m s t e r d a m 1899, u n d Die Philosophie

des Krieges,

1907, werden fortan weitertradiert, in der Osterreichischen Zeitschrift37

nicht a n d e r s als i m Archiv für Rassen-

und

Leipzig

Militärischen

Gesellschaftsbiolo-

gie 38 und den zahlreichen imperialistischen Broschüren. (Zum Imperialismus hat der Zeitgenosse Rudolf Hilferding schon festgehalten, er sei nur der Erbe des Liberalismus: „So entsteht die Ideologie des Imperialismus als Ueberwindung der alten liberalen Ideale. Sie spottet deren Naivität." 39 ) Auch in politischer Hinsicht sind pazifistischer und militaristischer Darwinismus der liberalen Bourgeoisie zuzuordnen. Das Ausmaß der Geistfeindlichkeit in der Hocharistokratie kann nicht zuletzt den Werken und den Biographien von Bertha v. Suttner(-Kinsky) und Marie v. Ebner-Eschenbach abgelesen werden, besonders Suttner wurde als liberale Standesverräterin 36

37

38

39

Dazu Henk te Velde: Neutralismus und kriegerische Tugenden. Liberale Gedanken zu Armee und Krieg in den Niederlanden, 1870-1914. In: Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien. Hgg. v. M. van der Linden u. G. Mergner unter Mitarb. v. H. de Lange. Berlin 1991, S. 113-124, S. 121 f. Te Velde nennt das Auftreten dieses „für niederländische Begriffe außerordentlichen Sozialdarwinismus" einen ,,merkwürdige[n] Irrtum", belegt aber im selben Zuge die positive Rezeption durch den holländischen Liberalismus. Vgl. A. Plundrich [Oberleutnant]: Aus der Wissenschaft vom Kriege. Eine Entgegnung auf die Friedensidee. Vortrag [...] im Militärwissenschaftlichen Verein zu Görz. In: Osterreichische Militärische Zeitschrift 51 (1910), Tl. 2, S. 1343-1361. Plundrich beruft sich ausdrücklich auf Steinmetz. W[ilhelm] Schallmayer: [Rez. zu R. Steinmetz: Die Philosophie des Krieges.] In: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 5 (1908), S. 434-439. Zur Biologie des Krieges vgl. Paul Crook: Darwinism, War and Histoiy. The Debate over the Biology of War from the „Origin of Species" to the First World War. Cambridge: Cambridge UP 1994. „Aber an Stelle der verblichenen Ideale des Bürgertums setzt der Imperialismus diese Auflösung aller Illusionen nur, um selbst eine neue und grössere zu erwecken. Er ist nüchtern bei der Abwägung des realen Widerstreits kapitalistischer Interessengruppen und er begreift die ganze Politik als Geschäft miteinander kämpfender, aber auch miteinander sich vereinigender kapitalistischer Syndikate. Aber er wird hinreissend und berauschend, wenn er sein eigenes Ideal enthüllt." Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus. [1909] Wien 1927, S. 428 f.

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in nicht nur familiäre Kleinkriege verwickelt. Funktion und Abkunft des Darwinismus in der Sozialdemokratie wurden bereits diskutiert. Der organisierte Deutschnationalismus, politisch bald eher marginal, hat sich u m Theorie ebensowenig bekümmert wie die „christlichsoziale" Massenbewegung; der rabiate Antisemitismus beider kommt ohne Berufungen auf Naturwissenschaft und Darwinismus aus. Der Schönerer-Antisemitismus rekurrierte auf Gobineau und ein romantisches Rassenkonzept; die darwinistische Phraseologie verblaßt im „Nationalitäten-" und „Rassenkampf" zu formelhaften Gemeinplätzen, wenn auch bei manchen Intellektuellen im Umkreis der Bewegung der Ubergang von der liberalen zur imperialistischen Darwin-Variante vollzogen wird. Im Lueger-Antisemitismus war Darwin schon aus programmatischem Katholizismus ausgeschlossen. Prinz Alois Liechtenstein, der sich als Antisemit ebenso hervorgetan hat wie als Kämpfer gegen den Darwinismus 4 0 , gab schon 1894 die Parole aus: „Kauft nicht bei Juden!" Suttner, die „Judenbertha", antwortete darauf mit der darwinistischen Zuchtwahllosung: „Liebt nicht bei Antisemiten!" „In unserer Hand [der der Frauen, W. M.] liegt das Mittel der Zuchtwahl: diejenigen, die wir auszeichnen, müssen sich zu unseren Zielen bekennen." 4 1 Die kleinbürgerlichen Antisemiten in Marthas Kinder erregen physischen Ekel („schön hat ein Geschlecht zu sein, das glücklich zu werden verdient m e h r noch: u m glücklich werden zu können ...", MK 197), nicht wie den Antisemiten die Juden. Es handelt sich hier nicht u m polemische Umkehrungen von Stereotypen und Topoi, sondern u m schlichte Konsequenzen des darwinistischen Modells. Die antimilitaristische Argumentation bediente sich derselben Topik wie die der denkenden Militärs. Der Militarismus sah sich im Pazifismus ja nicht 40

41

Vgl. Alois Prinz v. Liechtenstein: Darwinismus. Wien 1901. Die Wiener Stadt- und Landesbibliothek besitzt ein Widmungsexemplar an Karl Lueger (Sig. A 68.917) mit dem handschriftlichen Vermerk: „Vortrag gehalten im Vereine der Lehrer und Schulfreunde (Wien, April 1901)". Verein zur Abwehr des Antisemitismus. [Zur 4. Generalversammlung.] In: Freies Blatt. Organ zur Abwehr des Antisemitismus, 27. 5. 1894, S. 2 f. Suttner antwortet hier auf einen Toast des Mediziners Nothnagel auf die Frauen und die ,,[a]ngeborene Güte ihres Herzenswesens" mit der Feststellung, Frauen seien im Gegenteil „die wüthendsten Militär- und Kriegsfreundinnen", Liechtensteins antisemitische Aufforderung sei massenhaft befolgt worden. „Zuchtwahl" wird hier als politisches Mittel gegen bürgerliche Frauenverklärung gesetzt.

Darwinismen bei Suttner und Conrad v. Hölzendorf

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mit einer urchristlichen Erneuerungsbewegung konfrontiert, wie sie in Rußland zur selben Zeit Tolstoi propagierte, sondern mit einem „wissenschaftlichen Pazifismus" auf evolutionistischer Grundlage. Das galt in besonderem Ausmaß für Österreich, wo sich der „helle" Positivismus besonders lange gehalten hat; das intellektuelle Milieu war bis in das Wien der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts gegen Neuromantik und Irrationalismus relativ i m m u n (wohl u m den Preis einer besonders atavistischen Gegnerschaft). Es ist kein Zufall, daß der Terminus „wissenschaftlicher Pazifismus" vom Wiener Suttner-Mitarbeiter Alfred Hermann Fried vertreten wurde, „Pazifismus" als Analogiebildung zu Feminismus und Sozialismus, beide „wissenschaftlich", also positivistisch bzw. evolutionistisch fundierte Bewegungen (hier wäre an Karl Kautsky und Rosa Mayreder zu denken): ^Pazifist' - merken Sie den Ausdruck u n d adoptieren Sie ihn! Genug mit den Friedensfreunden und mit der Friedensbewegung. Pazifismus heißt es fortan - ebenbürtig den übrigen ,ismen' Sozialismus, Feminismus etc." 42 Die christlich-ethische Variante der Friedensbewegung fand in Osterreich nur wenig Resonanz. Auch Bertha v. Suttner selbst verstand sich als „wissenschaftliche" Pazifistin, gegen alle Vorwürfe des Sentimentalismus. Die Nähe zur Gedankenwelt ihrer Gegner wird von den Pazifisten auch mit Unruhe wahrgenommen. 4 3 In Frieds Handbuch des Pazifismus werden unter Berufung auf den pazifistischen Soziologen Nowikow, der als erster den Begriff „Sozialdarwinismus" benützt, und den Anarchisten Kropotkin die militärischen Darwinisten als „Sozialdarwinisten" zum Hauptfeind erklärt („Sozialdarwinismus" ist also ein polemischer Abwehrbegriff der Vertreter eines älteren, optimistischeren, „sozialeren" Darwinismus, nicht seiner prinzipiellen Gegner). „Die Macht dieses Irrtums", so Fried, „bildet heute das Haupthindernis des vernünftigen Handelns. Er beruht auf einer stümperhaften Verallgemeinerung der Lehren, die uns im vergangenen Jahrhundert auf d e m Gebiete der Naturerkenntnis zuteil wurden. Es scheint, daß die Menschheit zur Erfassung der ganzen Bedeutung der Tat Darwins noch nicht reif war. [...] Diese große Irrlehre, die das Kulturleben der Menschheit nach den Gesetzen des Tierischen [!] regeln will [...], hat in den letzten Jahrzehnten ungeheuer an Ausdehnung gewonnen. Sie hat

42 45

Suttner an Fried, 23. 8. 1901. Zit. nach Hamann: Suttner, S. 265. Schon im „Maschinenalter" verteidigt Suttner den pazifistischen gegen den militaristischen Darwinismus. Jemand [d. i. Suttner]: Das Maschinenalter. Zukunftsvorlesungen über unsere Zeit. 2., durchges. Aufl. Zürich 1891, S. 19.

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die Menschen veranlaßt, die ganze Weltgeschichte von diesem falschen Gesichtspunkte aus aufzufassen und zu lehren. [...] Der soziale Darwinismus ist es, der die in unserer Zeit der entwickelten Technik so widerspruchsvolle Erscheinung des , bewaffneten Friedens' und des unbegrenzten Rüstungswettbewerbs hervorrief." 44 Moritz Adler, einer der Hauptbeiträger von Suttners Zeitschrift Die Waffen nieder!, zeiht 1897 ebendort die „Kriegssophisten" im Generalstab ,,pseudodarwinistische[r] Uebergriffe". 45 (Die Fachwissenschaft hat sich mit dem Thema Krieg und Frieden eher gelassen auseinandergesetzt. Wenn die Pazifisten den Biologen Ernst Haeckel gegen den Biologen Otto Ammon ausspielen - Bertha v. Suttner hat Haeckel wie andere Prominente strategisch eingesetzt 46 - , handelt es sich bei diesen um Prominente, die die Grenzen der Fachöffentlichkeit überschreiten.) Selektionistische Argumentationen ließen sich bereits in Bertha v. Suttners schon stark pazifistisch orientierten Zukunftsvorlesungen Das Maschinenalter finden. Der Krieg „verhindert die weitere Entfaltung und zerstört die bisher erlangten Früchte der Kultur und was (immer nach dem neu gewonnenen ethischen Grundsatz) der Gipfel seiner Unmoralität ist: er kehrt das vorzüglichste Mittel der natürlichen Entwicklung - die Auslese durch Uberlebung des besseren und Stärkeren - in das gerade Gegenteil um; er liest die Besten aus für den Tod, nämlich die Jungen, Starken, Tüchtigen, und den Alten, Schwachen und Krüppeln überläßt er die Fortpflanzung ihrer Undichtigkeit. Kurz, die umgekehrte natürliche Zuchtwahl die künstliche Degeneration. Ein von den Menschen von heute an den Menschen von morgen begangener Riesenfrevel. Zugleich der Höhepunkt der Unvernunft." 47 Das pazifistische Argument wendet sich also keineswegs gegen die Selektion; aus

44

A. H. Fried: Handbuch der Friedensbewegung. 2., gänzl. umgearb. u. erw. Aufl. Berlin, Leipzig 1911, S. 42 f., 45, 46.

45

Moritz Adler: Kriegsapotheose und Darwinismus. In: Die Waffen nieder! 6 (1897), S. 241-246. Adlers Artikel richtet sich gegen die Broschüre des Generals v. Reichenau: Einfluss der Kultur auf Krieg und Kriegsriistung. Berlin 1897, ferner gegen die Generäle Moltke, Albert v. Boguslawski (Der Krieg in seiner wahren Bedeutung für Staat und Volk. Berlin 1892) und Dragomirow sowie gegen den Rassebiologen Otto Ammon als „wichtigsten Vertreter dieses soziologischen Pseudodarwinismus"; als eigene Gewährsmänner nennt Adler Gumplowicz (!) und Haeckel, „den begeisterten und begeisternden Vorkämpfer im Lager der Friedensfreunde" (S. 244).

46

Vgl. Suttner an Haeckel, 27. 10. 1891 u. 7. 1. 1892. Ernst-Haeckel-Haus Jena, Korr. Suttner-Haeckel, Nr. 1 u. 5. Suttner: Maschinenalter, S. 254.

47

Darwinismen bei Su Une r und Conrad v. Hötzendorf

463

der „Entwicklungsethik", einer Verantwortungsethik unter Einschluß zukünftiger Generationen, ergibt sich vielmehr eine biologisch-technische Klugheitsregel. Mit diesem Rekurs auf die „Unvernunft" ist der eigentliche moralische Skandal darwinisierender Denkweisen: daß nicht der siegen möge, der recht hat, sondern der Sieger recht hat, weil er siegt, suspendiert (nicht anders als in der Metaphorik vom „Wettkampf der Staaten", wie sie die Militärs benützen). Für Suttner ist Krieg „unnatürlich", zumal sich auch der (moralische) Standard des Natürlichen nach dem evolutionär erreichten, natürlichen Standard richtet. Der Krieg habe seine zivilisatorische Wirkung verloren. Im militärischen Darwinismus wird gerade dem Krieg zivilisatorische Funktion zugeschrieben; der „Wettkampf der Nationen" - eine grundbürgerlich-liberale Denkfigur in der Periode des Imperialismus - ist hier in der Form des Krieges „der gewaltigste Förderer des Fortschrittes", der „die staatlichen Organismen nach ihrer Constitution, Structur und Lebensweise prüft, das Schlechte verwirft und das Gute fördert".48 Zudem zeichne sich eine „Humanisierung des Krieges" ab, „die - dank den Fortschritten der Technik - bedeutend entwickelten Feuerwaffen machen die Schläge allerdings blutig aber kurz und die Humanität drängt auf rasche Beendigung des einmal unabwendbaren Krieges, sowie sie die gänzliche Vernichtung des Besiegten so nicht gestattet, wie ehedem." 49 Im Grundargument: der Einheit von Natur und Gesellschaft und deren gleicher Unterworfenheit unter „Kampf ums Dasein" und Entwicklung, sind sich beide Seiten vollständig einig (in der Nobelpreisrede spricht Suttner von der „Entdeckung des Evolutionsgesetzes, unter dessen Herrschaft alles Leben - das geologische wie das soziale - steht" 50 ); die Differenz liegt einzig im Ausschluß des Krieges als Mittel. Die Devise „Kampf, nicht Krieg" war von Suttner bis Fried ein wichtiger Diskussionsbestandteil; die Substanz der Gegnerschaft lag in der Frage der Mittel. Hatte die militaristische Version den Vorzug einer gewissen Plausibilität, hätte jedoch andererseits argumentiert werden müssen, warum nun der einzelne, ein Organismus wie der Staat, im Interesse des großen Organismus seinen eigenen dreingeben sollte. Für die Militärs war gerade das jedenfalls kein logisches,

48 49 50

Kirchhammer: Buckle's Anschauung vom Kriege, S. 69 f. Mavro Spicer: Der Militarismus im Reiche der Poesie. In: Osterreichische Militärische Zeitschrift 57 (1896), Tl. 5, S. 252-269, S. 252. Suttner: Die Entwicklung der Friedensbewegung. Vortrag, gehalten vor dem Nobel-Comité des Storthing zu Christiania am 18. April 1906. In: SuG, S. 87-95, S. 88.

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sondern ein praktisches Problem. Immerhin läßt sich sagen, daß „Darwinismus" noch in diesem Stadium ein „integraler" Darwinismus war; er zerfiel nicht vollständig in eine selektionistische und eine evolutionistische Linie, sondern beide Aspekte blieben auf beiden Seiten präsent. Alle theoretischen Anstrengungen und Auslassungen des Militärs, wie sie in Broschüren, Zeitschriften und Fachwerken zu finden sind, sind allerdings entweder streng „nach innen", an die eigene Institution gerichtet oder, gegebenenfalls, an eine qualifizierte bürgerliche Bildungsschicht mit engen Grenzen. Die personelle Basis der Armee, die Soldaten aus bildungsfernen Schichten, die deren M a s s e ausmachten, w u r d e weiterhin mit den alten Formen der politischen Symbolik verpflichtet. Zumal sich in der Habsburgermonarchie ein massenhafter Nationalismus für den offiziellen Patriotism u s verbot, dominierten weiterhin Dynastie, Religion und L a n d e s - bzw. Staatspatriotismus. In der Ikonographie der Kriegspropaganda des Ersten Weltkriegs erscheint das ,Völkerduell u m s D a s e i n ' als Geraufe kriegspielender Kinder. 5 1 Auch die Schule vertraut für den Krieg auf den „alten" heroischen Enthusiasmus der Befreiungskriege; stark repräsentiert ist in den Lesebüchern der Epoche die Lyrik Theodor Körners, der in einer nicht untypischen interpretatio austriaca zum österreichischen Dichter avancierte. 52 Im ganzen scheint eine Allianz von Krieg und Literatur in einer „modern e n " Form erst unmittelbar vor d e m Weltkrieg erreicht zu werden, als in „Expressionismus" 5 3 und „Futurismus" aktivistische Fraktionen der literarischen M o d e r n e entstehen, die bei allem programmatischen Irrationalismus keineswegs auf die Waffen der Wissenschaft, insbesondere der Biologie, zu verzichten gedenken und sich aus den Inventaren von Darwinismus und Degenerationsdiskurs bedienen. 5 4 Bis dahin ist die Verbindung mit der

51 52 53

54

Vgl. z. B. das Bilderbuch: Wir spielen Weltkrieg. Wien o. J. Abb. z. B. in Österreich und der Große Krieg, S. 180. S. Thomas Winkelbauer: Krieg in Deutsch-Lesebüchern der Habsburgermonarchie (1880-1918). In: Österreich und der Große Krieg, S. 37-47. Vgl. Robert Müller: Apologie des Krieges. [Der Ruf, 1912] In: R. M.: Werkausgabe in Einzelbdn. Hgg. v. G. Helmes. Kritische Schriften I. Mit einem Anhang hgg. v. G. H. und J. Berners. Paderborn 1993, S. 45-49. Ulrich Schulz-Buschhaus: Zwei Diskurse der literarischen Kriegführung: Marinetti und D'Annunzio (mit einer Anmerkung zu Hugo von Hofmannsthal). In: Österreich und der Große Krieg, S. 60-66.

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Literatur - aus Gründen der „Moral der Truppe" wünschenswert - für die Militärs lediglich ein Projekt. 1892 klagt ein Hauptmann Béla Kuderna, die soldatische Poesie liege brach, und fordert „ein belletristisches Soldatenblatt"; die Poesie sei nötig für das Erziehungswerk am Soldaten. 55 „Moltke hat Tausend, die ,Wacht am Rhein' aber Zehntausend geschlagen!" verkündet ein Mavro Spicer 1896, auch der Militarismus habe Ideale. 56 Aber bereits um die Jahrhundertwende fordert der k. u. k. Oberstlieutenant-Auditor (Militärjurist) Emil Dangelmaier deutlich aus der Defensive die Möglichkeit der Strafverfolgung gegen Zivilpersonen, die zur Insubordination aufforderten, wie sie im Deutschen Reich bestand 57 ; man beklagt sich 1902, man gelange immer nur mit Affaren in die Tagespresse.58 Im Gegenteil fanden sich die Schriftsteller oft im pazifistischen Lager. Um die Jahrhundertwende standen immerhin mit Jaroslav Vrchlicky und Mór Jókai die repräsentativen Figuren der tschechischen und der ungarischen Literatur dem Pazifismus nahe. 59 In Suttners Roman Die Waffen nieder! werden die Motive des militärischen Darwinismus (das zivilisatorische und hygienische Moment des Krieges, seine anthropologische Qualität und „Ewigkeit", seine schließliche Humanisierung und der Wettkampf der Staaten) Figuren in sozialen Schichten bzw. Funktionen in den Mund gelegt, die auf keinen Fall darwinistische Argumente benützen könnten: dem Vater der Heldin Martha Dotzky, einem pensionierten General der Radetzky-Generation, adeligen Damen, Pfarrern, einem österreichischen Minister. Darwin wird so von dieser Variante des Darwinismus freigehalten; dieses Verfahren erleichtert nicht nur die „Widerlegung" der „Argumente", die sich somit bereits zur guten Hälfte durch ihre Träger desavouieren, es verschleiert auch den polemischen Zusammenhang von pazifistischem und militärischem Darwinismus. Als in einem Streitgespräch mit Marthas Ehemann Friedrich Tilling, dem positiven Helden, der österreichische Minister mit dem Militärdarwinis-

55

Kuderna: Leier und Schwert, S. 62.

56

Spicer: Militarismus im Reiche der Poesie, S. 261.

57

Emil Dangelmaier: Abwehr gegen für den Geist des Heeres schädliche Ideen. In: Oster-

58

Anonym: Wehrmacht und Presse. In: Organ der Militär-wissenschaftlichen Vereine 64

59

Hamann: Suttner, S. 187, 189.

reichische Militärische Zeitschrift 40 (1899), Tl. 1, S. 37-45. (1902), S. 108-122.

466

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mus argumentiert00, wird Tillings eigene evolutionistische Argumentation abgebrochen, er empfiehlt nun die völkerrechtliche Maßnahme des S chiedsger ichts. Im Gegensatz hierzu präsentiert der 1890 erschienene Roman als Textideologie eine vollständig ungebrochene Version von Evolutionismus, die den Fortschrittsoptimismus der siebziger Jahre weitertradiert. Vererbung und Atavismus, Anpassung und „Kampf ums Dasein" sind die bevorzugten Bildspender des Romans. Das zugrundeliegende Geschichtskonzept einer naturgemäßen und naturwüchsigen zivilisatorischen Entwicklung zu immer höheren Formen ist dabei mit der individuellen Erkenntnisgeschichte der Heldin verkoppelt, nicht jedoch mit dem Weltlauf. Der Plot bringt Martha Dotzky mit sämtlichen größeren europäischen Auseinandersetzungen in Kontakt; von Solferino über den dänischen Krieg und Königgrätz bis hin zum Deutsch-Französischen Krieg und die Pariser Commune wird der Roman durch die Kriegsereignisse (ihre Jahreszahlen bilden die Kapitelüberschriften: 1859, 1864, 1866, 1871) synkopiert und gegliedert. Die Katastrophengeschichte dieser zwölf Jahre wird historisch mit dem Erscheinen von Darwins Entstehung der Arten, 1859, verrechnet (WN 43), nach dem Frieden von Villafranca ist zwar ein Krieg verloren, aber auch die Uberzeugung gewonnen, „daß die Welt einer neuen Erkenntnisphase entgegengeht" (WN 276). Schlachtenglück und Niederlage sinken der epochalen Neuerung der Evolutionstheorie gegenüber zur bloßen Doxa herab. Das Vertrauen auf die historische Rolle eines Buches inmitten anderer Bücher, darunter besonders Buckle und Büchner, ist ein Charakteristikum des Romans. „Wie haben in meiner Jugend Darwin und Buckle auf mich gewirkt, und vor kurzem noch Tolstoi", erinnert sich die altgewordene Martha, ,,[w]eil ja Bücher mir als etwas noch ganz anderes sich offenbaren, denn als wissenschaftliche und literarische Erscheinungen: Fackeln sind sie mir, ganze, dunkle Gebiete plötzlich erhellende Fackeln. Und die sie schwingen: ganze Menschen, mit ganz lichterfüllten Seelen ..." (MK 81). Im darwinistischen Konzept, mit der Prämisse der Einheit der Welt, sind

60

„Sagen Sie mir ein Mittel, den Krieg abzuschaffen, so wäre es allerdings ganz gut. Nachdem das aber nicht möglich ist, so muß doch jede Nation trachten, sich darauf so gut als möglich vorzubereiten, um sich in dem unausweichlichen Kampf ums Dasein (so heißt ja das Schlagwort des jetzt so modernen Darwin, nicht wahr?) die größte Gewinnchance zu sichern." (WN 327)

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auch Ideen61 und „soziale Organismen" dem „Kampf ums Dasein" und der Entwicklung unterworfen: „Ideen sind Kraft, daher ebenso keimfähig und unvertilgbar wie StofF" (MK 195), heißt es in der Fortsetzung, dem 1902 erschienenen Roman Marthas Kinder. Dort wird auch Marthas Sohn Rudolf Dotzky, der ihr Friedenswerk weiterführen soll, gerade über seine Bibliothek exponiert, die den ganzen linksliberalen Bildungskanon enthält: Spencer, Carneri, Darwin, Haeckel, Marx, Mill und andere (MK 36). Die Beschreibung hat Marie-Thérèse Kerschbaumer ein „Glanzstück des Naturalismus" genannt, das „den Bildungskanon des aufgeklärten Bürgertums (und der Autorin)" vorstelle. 62 Auch Tilling, Marthas Ehemann und unglücklicher Militär, ist von der materiellen Macht der Ideen überzeugt; er plant, die Armee, die er ebenfalls als Organismus auffaßt, durch eine biologische Ideenpolitik mit der Kraft der Friedensbewegung zur Strecke zu bringen : „Dieselbe [die Armee] ist ein Organismus und als solcher lebensentfaltungs- und selbsterhaltungskräftig. Gegenwärtig steht dieser Organismus gerade in seiner Blüte, und wie du siehst - das allgemeine Wehrsystem soll ja auch in andern Ländern eingeführt werden -, ist er eben im Begriffe, sich mächtig auszubreiten. [...] [ I ]ch kämpfe dagegen, indem ich für ein anderes, noch ganz schwach aufkeimendes Lebensgebilde eintrete, welches, indem es an Kraft und Ausdehnung zunimmt, das andere verdrängen soll. Daß ich in solchen naturwissenschaftlichen Metaphern spreche - daran bist du ursprünglich schuld, Martha. Du warst es, welche mich zuerst verleitete, die Werke der modernen Naturforscher zu studieren. Dadurch ist mir die Einsicht aufgegangen, daß auch die Erscheinungen des sozialen Lebens nur dann in ihrer Entstehung verstanden und in ihrem künftigen Verlauf vorausgesehen werden können, wenn man sie als unter dem Einfluß ewiger Gesetze stehend auffaßt. Davon haben die meisten Politiker und hohen Würdenträger keinen blauen Dunst - das löbliche Militär schon gar nicht." (WN 534 f.) Tilling kann nicht wissen, daß Conrad im Frühjahr 1918 notieren

61

62

Eine gängige Vorstellung der „doppelten Evolution"; noch Jacques Monod spekuliert über die „Evolution der Ideen", die „einige der Eigenschaften von Organismen behalten" hätten. J. M. : Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. [1970] 9. Aufl. München 1991, S. 145 f. M.-Th. Kerschbaumer: Bertha von Suttner. In: Osterreichische Porträts. Leben und Werk bedeutender Persönlichkeiten von Maria Theresia bis Ingeborg Bachmann. Hgg. v. J. Jung. Salzburg, Wien 1985, S. 362-378, S. 373. Zur Bedeutung der „Bibliothek" fiir Suttner vgl. auch IS 127-130.

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wird: „Im Übrigen ist dieser Krieg eine Evolution auf organischem Gebiet, wie es auf anorganischem die geologischen Kataklysmen waren - eine Epoche im Werden und Vergehen des Alls." 63 Tillings „Metaphern" verleihen immerhin der Sphäre des „Krieges", indem sie sie in der eigenen Analysesprache formulieren, ontologischen Status, einig mit Conrads Notat; die Ontologisierung des Krieges ist gerade eine Konsequenz der Verwissenschaftlichung und Professionalisierung des Kriegswesens und ein Indikator für den politischen Machtgewinn der Militärs. 64 Jene materielle Macht der Ideen sollte auch für den Roman selbst gelten, der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, innerhalb von sechs Jahren vierzehn deutsche Auflagen erlebte und beim Erscheinen der deutschsprachigen Volksausgabe (1896) in England und Amerika unter d e m Titel Lay Down Your Arms! bereits eine halbe Million Exemplare abgesetzt hatte. 65 „Da ich mich dem Schriftstellerberuf gewidmet hatte, schien es mir klar, daß ich auf dem Gebiete der Literatur das Geeignetste würde wirken können", schreibt Suttner selbst über die Genese ihres Romans: „Ursprünglich beschloß ich, eine kleine Erzählung zu schreiben, von einer jungen Frau, die ihren inniggeliebten Gatten auf dem Schlachtfelde verloren und die dadurch auf den Gedanken der Verurteilung des Krieges gekommen war, so allmählich, wie ich selbst. Bei mir beruhte diese Uberzeugung freilich blos auf der Theorie, während meine Heldin durch eigene Erlebnisse und Erfahrungen zu dieser Ansicht bekehrt werden sollte." 66 Was als poetische Biographie, als Bewußtwerdungs- und Bildungsgeschichte, geplant war, stellt sich im fertiggestellten Roman wesentlich komplexer dar. Die Waffen nieder! ist eine fiktive Autobiographie, wobei sich die Ich-Erzählerin auf um-

65 64

Conrad an Friedmann, 5. 3. 1918. In: Allmayer-Beck: Conrad als Briefschreiber, S. 491. Hans-Ulrich Wehler: Vom „Absoluten" zum „Totalen" Krieg oder: Von Clausewitz zu Ludendorff. In: Krisenherde des Kaiserreichs 1871-1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte. 2., Überarb. u. erw. Aufl. Göttingen 1979, S. 89-116; ebs. die Skizzen bei Jehuda L. Wallach: Kriegstheorien. Ihre Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1972. Zu den Kriegsallegorien in der bildenden Kunst vgl. Siegmar Holsten: Allegorische Darstellungen des Krieges 1870-1918. Ikonologische und ideologiekritische Studien. München 1976.

65

Adalbert v. Hanstein: Das jüngste Deutschland. Zwei Jahrzehnte miterlebter Literaturgeschichte. 2., unveränd. Abdr. Leipzig 1901, S. 108, Hamann: Suttner, S. 340.

66

Suttner: W i e ich dazu kam „Die Waffen nieder!" zu schreiben. In: SuG, S. 105-112, S. 106.

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fangreiches, nicht weniger fiktives Tagebuchmaterial stützt, das teils wörtlich zitierend, teils reflektierend-erzählend vom erreichten Standpunkt der späteren Aktivistin der Friedensbewegung aus präsentiert wird. Durch diese Nachträglichkeit der Erzählung erhält der Roman die Möglichkeit, die „Entwicklung" der Heldin und Tillings durchgängig zu kommentieren und den Status der jeweiligen Erzählgegenwart in bezug auf das Ziel dieser „Entwicklung" einzuordnen. Der appellative Charakter des Textes, den schon das Rufzeichen des Titels indiziert, m a g es erfordert haben, daß der Roman, der doch vom Krieg handelt, als Konfession einer Frau gestaltet wird. Suttners bisherige expositorisch-philosophische Texte Inventarium einer Seele und Das Maschinenölter waren nach der Sprecherfigur „männliche" Texte; die Mehrzahl der Rezensenten und der L e s e r hatte unter d e m Pseudonym „ J e m a n d " Max Nordau vermutet. 6 7 War also die Pseudonymität der „theoretischen", „männlichen" Texte ein Erfordernis zur Ermöglichung von Rezeption überhaupt, stellte sich dieses Problem für den pazifistischen Roman nicht. Der Roman setzt mit Tagebuch, Brief und d e m Gespräch im Familienkreis auf die Formen sowohl weiblicher Erfahrung als auch massenhafter literarischer Praxis von Frauen und zielt auf eine Umfunktionierung des „sentimentalen" Frauenromans in ein Medium ab, das sinnlich Erkenntnisse als Mimesis an fremde bzw. eigene Erfahrung sowohl gestalten als auch hervorrufen sollte, in höherem Ausmaß, als das durch expositorische Texte möglich zu sein schien. D a s Konzept scheint jedenfalls aufgegangen zu sein. Dazu kommt, daß sich Suttner nicht zuletzt als Mitarbeiterin an Michael Georg Conrads naturalistischer Programmzeitschrift Die Gesellschaft als unter einem Authentizitätsgebot stehend betrachtete, das von realistischer Autorschaft die Vertrautheit mit d e m dargestellten Milieu verlangte. Begnügten sich die zumeist studentischen deutschen Naturalisten mit den Spelunken ihrer billigen Wohngegenden, u m deren Personal als Proletariat abzuschildern 6 8 , wählte Suttner das hocharistokratische Milieu ihrer eigenen Herkunftswelt zur Folie ihrer Protagonisten. Daraus ergibt sich als Folgeproblem, wie in diese Gesellschaft, die sich im Roman zumeist auf böhmischen Gütern aufhält, der Krieg zu bringen ist. Genau deshalb hält der Krieg in den verschiedensten Formen in den Ro67

Suttner: Maschinenalter, S. 8 (Vorrede zur zweiten Auflage).

68

Vgl. Klaus-Michael B o g d a l : „Schaurige Bilder". Der Arbeiter i m Blick des Bürgers a m Beispiel des Naturalismus. Frankfurt/M. 1978.

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man Einzug: durch die Teilnahme der Gatten der Martha Dotzky an den verschiedenen Feldzügen (1859 wird Arno Dotzky getötet, Tilling wird bei Königgrätz verwundet), die Preußen schleppen die Cholera in das Gut von Marthas Eltern ein, die halbe Familie wird hinweggerafft. Als Tilling seinen Abschied nimmt und, bereits Friedensaktivist, mit Martha in Paris lebt, bricht der Krieg von 1870 aus, Tilling wird von Pariser Kommunarden als vermeintlicher deutscher Spion erschossen. Die wichtigsten Passagen, die die Greuel des Krieges zum Inhalt haben, können jedoch nicht direkt erzählt werden, sondern sind in Briefen der jeweiligen Ehegatten von der Front enthalten. Werden wohl die Kriegserfahrungen ihrer Männer mit Krisen der Gesundheit Marthas synchronisiert, mit Nervenleiden und Wochenbett, bleiben der Protagonistin doch nur wenige authentische Erfahrungen des Krieges möglich. Der einzige Kontakt mit Schlachtfeldern ergibt sich für Martha, als sie sich auf der Suche nach dem verwundeten Tilling in einem Sanitätskorps nach Königgrätz begibt, dort aber kollabiert und rasch nach Hause transportiert wird. Was der Roman als Exempel von Gattenliebe motiviert, gleicht eher einer der Recherchefahrten der sprichwörtlichen naturalistischen Reporter wie Emile Zola. Durch die Einschränkungen der Frauenrolle kann zwar die Heldin ihre Männer und große Teile ihrer Familie überleben, ihre Kriegserfahrung bleibt jedoch sekundär. Diese Diskrepanz reproduziert die Spaltung in eine diskursiv vorgetragene Ideologiekritik und einen „naturalistisch" inspirierten Darstellungsmodus, wie sie Suttner im Verhältnis von eigener Autorschaft und ihrer Protagonistin in der geplanten Erzählung formuliert hat: „Bei mir beruhte diese Uberzeugung freilich blos auf der Theorie, während meine Heldin durch eigene Erlebnisse und Erfahrungen zu dieser Ansicht bekehrt werden sollte."69 Zur Tilgung dieser Spaltung wird eine Reihe von Authentizitätssignalen eingesetzt, die - durchaus im naturalistischen Sinn - die Trennung von Faktizität und Fiktion tendenziell aufheben sollen: Zeitungen werden bibliographisch zitiert, reale Personen treten auf (in Paris hat die Protagonistin ein Gespräch mit Renan), authentische Quellen, darunter Denkschriften von Medizinern, werden angeführt. Auf der Seite der „Theorie" stehen die Auseinandersetzungen der Protagonistin mit der Kriegsideologie, die allerdings - wie gesehen - nicht auf jene Ausformungen abzielt, die der eigenen Position ähnlich gewesen

69

Suttner: W i e ich dazu kam „Die Waffen nieder!" zu schreiben, S. 106.

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wären, sondern auf die patriotischen Enunziationen des Zeitungsdiskurses und die Oberflächensprache der großen Diplomatie. Martha studiert anhand von Zeitungen und historischen Werken die Geschichte des dänischen Konflikts, das Ergebnis ist - wie nicht anders zu erwarten - die Unhaltbarkeit aller „Argumente" und historischen Ansprüche. Dasselbe Verfahren hatte Suttner bei den Recherchen zum Roman eingesetzt: „Oberflächliche Informationen genügten mir nicht mehr, und ich begann sachliche und anerkannte Autoritäten auf diesem Gebiete zu studieren, Berichte über die Feldzüge von 1859, 1864, 1866, 1870-71, die Memoiren verschiedener Feldherren zu lesen, Aufzeichnungen von Chirurgen, Militärärzten und der Gesellschaft des ,roten Kreuzes' zu prüfen, Bibliotheken und Archive zu durchstöbern, ebenso die diplomatischen Depeschen, welche während jenen Zeitepochen zwischen den betreffenden Armeen gewechselt worden waren. Mit solchen Quellen versehen, konnte ich daran gehen, mein Buch auf historischer Grundlage aufzubauen und seine Handlung zu entwickeln, deren Leitgedanke die eifrige Bekämpfung des Krieges war. [...] Ich war gewappnet!" 7 0 Die Abhängigkeit von der Sprache der Zeitungen und der Diplomatie ist somit hoch. Tillings briefliche Berichte aus Königgrätz werden von der Erzählerin mit einer Polemik gegen die Zeitungen eingeleitet: „Bis zur Stunde habe ich diese Andenken aufbewahrt. Das sind keine sorgfältig stilisierten Kriegsberichte, wie sie Zeitungskorrespondenten ihren Redaktionen oder Kriegsschriftsteller ihren Verlegern bieten, keine mit Aufwand strategischer Fachkenntnisse entworfene Gefechtsskizzen". (WN 216 f.) Gegen die Zeitungen werden im Roman die langfristigen Medien liberaler Wahrheit gesetzt: „Vor und nach meiner Krankheit hatte ich zwar wie immer viel gelesen: Tag- und Wochenblätter, Revuen und Bücher, aber die Leitartikel der Zeitungen waren unbeachtet geblieben [...]", deren „innerund außerpolitische [r] Klatsch" (WN 178) wird erst wieder beachtet und analysiert, als Kriegsgefahr droht. All das hat zum Ergebnis, daß der Diskurs des Krieges in einem romaninternen Modell von Wahrheit und Lüge eigentlich überhaupt keine Wahrheit, damit in gewisser Hinsicht auch keine Wirklichkeit hat und in der Manier der Aufklärung als Priestertrug entlarvt werden kann. Kriegsursachen geraten damit vollständig aus dem Blickfeld dieser mit viel Aufwand als Erkenntnisprozeß der Protagonistin in Szene gesetzten Ideologiekritik;

70

Suttner: Wie ich dazu kam „Die Waffen nieder!" zu schreiben, S. 106.

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dieser Kritik halten sie nicht stand, „die aufgedeckte Wirklichkeit ist frevelhaft, ist schamlos ... Nur die Phrase, die durch tausendfältige Wiederholung sanktionierte Phrase, ist,anständig'. [...] mir klingt es wie gesprochener Totschlag. " (WN 209) Die Kritik der Phrase, die der Roman in verschiedenen Zusammenhängen vorführt: als Kritik der Phrasen des Generals, der Phrasen der Zeitungen, der Phrasen der Briefe an Soldatenfrauen (WN 213), führt damit zu einer starken Uberbewertung der legitimatorischen Diskurse; mit dem Aufweis von Widersprüchen, wie er an einer zirkulären „Argumentation" des Generals vorgeführt wird, scheint der Krieg gebannt. Es ist nicht überraschend, daß gerade Max Nordau für den Autor des Maschinenalters gehalten wurde; Suttner besuchte ihn in Paris, um mit ihm über seine Schrift Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit zu sprechen. 71 Nordau steht auch am Beginn der intellektuellen Biographie einiger Naturalisten. Gegen die „Lüge" der Phrase werden die Autoritäten der Wissenschaft mobilisiert, im Roman nicht anders als in der späteren Praxis der pazifistischen Bewegung; eine sinnvolle und gebräuchliche Methode in der Evokationskultur des späten Jahrhunderts, in der der Name schon Programm ist und auch die ersten Unterschriftenlisten der Solidarität der Intellektuellen auftauchen. Als zur Dreyfus-Affare im Jänner 1898 eine Unterschriftenliste für Zola aufgelegt wird, schreibt Suttner in der Rubrik „Stand": „Verfasserin] d. Waffen nieder". 72 Suttners Zeitschrift führt eine stehende Rubrik „Für den Krieg" - „Gegen den Krieg", die ähnliche Referenzen enthält. Tendiert also das „Argument" zur Evokation von Autoritäten, erstreckt sich das Modell von Wahrheit und Lüge in moralischem Sinne auch auf den Modus des „Darstellens". Die Kriegslüge, so der Roman, sei nur wirksam, da die Wirklichkeit des Krieges nicht wahrheitsgemäß dargestellt werde. Tillings Briefe und der Bericht des Regimentsarztes, die das Maximum der Grausamkeiten enthalten, die der Roman aufbietet, leben vom Kontrast zwischen der „Realität" und der eingespielten Ikonographie des Krieges, wie sie im Bild der siegreichen Reiterattacke als Lesebuchillustration und als populärer Wanddruck verbreitet war. Doch die Präsentation von Bildern des Schreckens ist gleichfalls nicht ohne Ambivalenz. Denn zweifellos hat auch 71 72

Hamann: Suttner, S. 115. Vgl. die Abbildung bei Karl Zieger: Emile Zola zwischen Verehrung und Verachtung. Dreyfus-Affare und Zola-Rezeption in Osterreich. In: Österreich und der Große Krieg, S. 31-57, S. 33.

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der Krieg seine Ästhetik; über sie entscheidet lediglich der Standort des Betrachters, wie auch Tilling zugibt (die Stelle ist übrigens aus Tolstois Krieg und Frieden mindestens entlehnt): „Auf einem Hügel oben, in einer Gruppe von Generälen und hohen Offizieren [zu denen auch Tilling als , Oberstlieutenant' gehören müßte, W. M.], mit einem Feldstecher am Auge: das ist die an ästhetischen Eindrücken ergiebigste Situation in einem Kriege. Das wissen auch die Herren Schlachtenmaler und Zeitungsillustratoren. [...] Das Bild ist großartig und genügend entfernt, um wie ein wirkliches Gemälde zu wirken, ohne die Einzel-, Schrecken- und Ekelhaftigkeiten der Wirklichkeit: kein fließendes Blut, kein Sterberöcheln - nichts als erhaben prächtige Linien- und Farbeneffekte." (WN 218 f.) Sicher bewährt sich Suttners „Naturalismus" in den folgenden Kriegsszenen am besten. Schon früh setzten die Pazifisten auch auf die „ästhetische Abschreckung" durch Kriegsphotographie. 73 Doch unterliegt reine Beschreibung einer grundlegenden moralischen Indifferenz, wie sich gut am Beispiel des russischen realistischen Malers Wassilij Wereschtschagin 74 zeigen läßt. Wereschtschagin nahm selbst als Schlachtenmaler an mehreren Militärexpeditionen teil, seine Bilder vom RussischTürkischen Krieg erlangten durch eine Serie von Wanderausstellungen in den europäischen Metropolen Berühmtheit. Die Wiener Ausstellungen wurden vom Publikum gestürmt. Wereschtschagins photorealistische Bilder von den Greueln des Krieges (das bekannteste zeigt unter dem Titel „Apotheose des Krieges" eine Schädelpyramide) wurden allgemein als antimilitaristisch gewertet - Suttner sprach von ,,seine[r] Abschreckungskampagne gegen den Krieg" 75 - , selbst Kaiser Wilhelm soll sich beeindruckt gezeigt haben. In Marthas Kinder hängen Bilder Wereschtschagins in Rudolfs Bibliothek. Suttner stand mit Wereschtschagin in Briefverkehr und druckte zwei kleinere Beiträge des Malers in ihrer Zeitschrift ab. Doch bei aller Kriegsfeindschaft sind gerade diese Artikel durchaus ambivalent: „Ich gestehe," so Weresch-

75

74 75

„Jetzt ist es an der Zeit, die Gräuel des Krieges nach der Natur aufzunehmen. - Momentphotographen, Cynematographen [sie], heran! Aufs Schlachtfeld!" Richard Wilhelm Kaika: Neue Kriegsbilder. In: Die Waffen nieder! 6 (1897), S. 173 f., S. 173. Allg. vgl. Eugen Zabel: Wereschtschagin. Bielefeld, Leipzig 1900. Suttner: Wassilj Wereschtschagin. In: SuG, S. 115-120, S. 119. In Suttners Zeitschrift finden sich häufig Zeugnisse schwärmerischer Wereschtschagin-Verehrung, darunter ein Gedicht von Pauline Schanz, „An W. Wereschagin" („O riefst Du ein Pfingsten der Menschheit heran!") und ein Sonett „Wereschagin" von Paul Peuker. In: Die Waffen nieder! 2 (1893), S. 361 u. 5 (1896), S. 216.

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tschagin in Die Waffen nieder!, „dass mir unter allen Mitteln und Arten der Abkürzung und Unterbrechung des menschlichen Lebens und des Lebens überhaupt noch am ehesten der Krieg, welcher die grösste Aehnlichkeit mit einem regelmässig organisirten Sport zeigt, zusagt. [...] Bei weitem weniger interessant und anziehend, wenn man sich so ausdrücken darf, ist die Tödtung infolge eines Gerichtsurtheiles, wobei weder ein Risico noch eine Gefahr, noch Aufregung vorhanden ist; wenn das Schlachtfeld Entsetzen erregt, so flösst die Richtstätte Ekel ein!" 76 Artikuliert der „Wirklichkeitsmaler" (Ludwig Hevesi77) schon selbst den Krieg in den Topoi des ästhetisch Erhabenen, so fallt es einem Autor der Militärischen Zeitschrift leicht, Wereschtschagin für die reine Kunst zu reklamieren. In Der Militarismus im Reiche der Poesie heißt es, ,,[w]ahrscheinlich wäre der Meister selber am meisten erstaunt, wollten ihn die Freunde der großen Friedensidee als einen der Ihrigen, als einen ihrer beredtesten Apostel in Anspruch nehmen. [...] Ihn leitet dieselbe künstlerische Inspiration, die beispielsweise einen Makart mit unwiderstehlicher Gewalt in den Bann des ewig Weiblichen zog. Ihn interessiert lediglich die Farbe[,] die durchsichtige Luft, die Stimmung, die über dem Ganzen liegt."78 Conrad sieht die Wereschtschagin-Ausstellung im Wiener Künstlerhaus und notiert begeistert: „Es war eine Sensation. Und mit Recht! Der wahre Maler des Krieges war endlich erstanden! Der wahre! [...] [E]r hatte auch nichts von jenen weichlichen Naturen, die den Krieg als Sünde, als Verbrechen aufzufassen pflegen. Er stand dem Kriege wahr und ehrlich gegenüber, er erfaßte ihn als das wa[s] der Krieg ist und malte ihn so. Darin liegt der überwältigende Reiz und der hohe bleibende Wert seiner Bilder."79 Es ist kein Zufall, daß sich in historischen Dimensionen aus der Perspektive des Frontkämpfers nicht der Pazifismus, sondern der Mythos des Frontsoldaten ableitete, wie sowohl die militaristischen als auch die pazifistischen literarischen Verarbeitungen des Weltkriegs zeigen.80 Wenn die „Wahrheit" des Krieges in der Perspektive des Kämpfers liegt und die des Gene-

76 77 78 79 80

W. Wereschagin: Aus den Erinnerungen eines Schlachtenmalers. In: Die Wallen nieder! 2(1893), S. 249-252, S. 251. L. H[eves]i: Eine neue Wereschagin-Ausstellung. In: Fremden-Blatt (Wien), 27. 10. 1885, S. 11 f. Spicer: Militarismus im Reiche der Poesie, S. 265. Conrad: Private Aufzeichnungen, S. 294. Herfried Münkler: Schlachtbeschreibung: Der Krieg in Wahrnehmung und Erinnerung. Uber „Kriegsberichterstattung". In: H. M.: Gewalt und Ordnung. Das Bild des Krieges

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ralstabs „Lüge" ist, so werden die Einzelnen aus jedem Zusammenhang genommen. Tolstoi hat - in der angesprochenen Stelle, der Beschreibung der Schlacht von Borodino - eine komplexe, multiperspektivische Darstellungsform angestrebt und nicht der „Frontperspektive" einseitig Wahrheit zugesprochen und konnte so eine vereindeutigende Moralisierung vermeiden, ohne jede Glorifizierung des Krieges. Ein Indiz für diese Ambivalenz ist in Suttners Roman die „Uberdetermination" der Greuel des Krieges. Das ganze Arsenal der Schreckbilder der Epoche wird mobilisiert, auch wenn sie mit dem Krieg nicht unmittelbar in Zusammenhang stehen: Entmannungen (WN 267), das Lebendig-begraben-Werden (WN 240) und die Leiden der stummen Kreatur. Leidende Tiere, vor allem Hunde und Pferde, spielen eine nicht geringere Rolle als leidende Menschen. 81 Das konzeptuelle Zentralproblem von Suttners Roman wäre demnach darin zu sehen, daß die beiden Verfahren von Aussagen und Darstellen, von evolutionistischer Argumentation und Wissenschaftsevokation einerseits und naturalistischer Deskription andererseits, in keinem wesentlichen Zusammenhang stehen. Denn die „Entwicklung", mit der im Roman argumentiert wird, gegen die der Krieg ein „Rückschlag" sein soll, zeichnet sich in der Realität, so weit sie mit der historischen übereinstimmen soll, nicht ab. D e r Evolutionismus, der doch die Wahrheit des Ganzen verbürgen sollte, bliebe auf das „Sagen" beschränkt.

81

im politischen Denken. Frankfurt/M. 1992, S. 176-207, S. 192. Ähnlich Bernd Hüppauf: Kriegsfotografie. In: Der Erste Weltkrieg, S. 875-909. Die Rolle der Hunde (neben der der Pferde) im vorliegenden Roman ist im Rahmen einer Gefühlsgeschichte des 19. Jahrhunderts von besonderem Interesse, da die Hunde als Haustiere zum bürgerlichen Innenbereich gehören, somit Residuen von (domestizierter) Natur im bürgerlichen Haus bilden und - in Anbetracht der schwindenden Rolle, die Tiere als Nutztiere zu spielen hatten - entsprechender Sentimentalisierung anheimfallen. Nach Darwins Schrift „The Expression of the Emotions in Man and Animals" (1872), in deren Mittelpunkt Darwins eigener Hund stand, waren Hunde (gegebenenfalls Pferde) für darwinistisch inspirierte Gemüter bevorzugte Objekte der Beobachtung der Kontinuitäten von Mensch und Tier. Die Rolle des Pinschers Puxl in der Kriegserzählung Tillings müßte anders als obszöne Episode gewertet werden. Daß das Thema der Gewalt gegen Tiere im 19. Jahrhundert politisch nicht neutral ist, sondern ein Effekt bürgerlicher Klassenangst, hat Maurice Agulhon an der französischen Tierschutzbewegung gezeigt. M. Agulhon: Das Blut der Tiere. Das Problem des Tierschutzes im Frankreich des 19. Jahrhunderts. In: M. A.: Der vagabundierende Blick. Für ein neues Verständnis politischer Geschichtsschreibung. Frankfurt/M. 1995, S. 154-199.

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Deshalb rekurriert der Roman auf eine individuelle Bildungs- oder Erweckungsgeschichte; die appellative Textschicht des Romans zielt auf eine individualistische Lösung der politischen Ausgangsfrage. So vollzieht sich die einzige reelle Entwicklung, die sich in einem Roman, der so stark von der „Entwicklungslehre" abhängt, abzeichnet, in den Protagonisten selbst: sofern sie sich der „Friedensidee" zuwenden. Die Tagebuchführung Marthas in den „roten Heften" protokolliert diese individuelle Entwicklung und bewahrt sie auf; die Entwicklung der Friedensidee wird in gesonderter Form von Martha und Tilling dokumentiert: „Wir haben uns damals ein eigenes Büchelchen angelegt - wir nannten es ,Friedensyorofo/ro//' - , in welches sämtliche, auf diesen Gegenstand Bezug habende Urkunden, Notizen, Artikel und so weiter abschriftlich eingetragen wurden. Auch die Geschichte der Friedensidee, soweit wir von derselben Kenntnis erlangten, haben wir da zu Protokoll gebracht. Daneben die Aussprüche verschiedener Philosophen, Dichter, Juristen und Schriftsteller über ,Krieg und Frieden'. Es war bald zu einem stattlichen Bändchen herangewachsen, und im Lauf der Zeit - ich habe diese Buchführung bis auf den heutigen Tag fortgesetzt - sind sogar mehrere Bändchen daraus geworden." (WN 336, Hervorh. W. M.) Hinter der sprachlichen Form zeichnet sich deutlich die bürokratische Sprache der bürgerlichen Organisationsform des Vereins ab. 82 Der Verein ist gerade die Ersatzform für eine politische Gliederung in Parteien im Zeitalter der entstehenden Massenparteien; die Reste der liberalen österreichischen Intelligenz organisieren sich nach dem Ende des liberalen Honoratiorenparlaments und dem Verlust der politischen Hegemonie nach 1882 im Verein, der zudem den Raum bot, demokratisch-parlamentarische Umgangsformen „privat" erproben zu können. In Suttners Roman Vordem Gewittererklärt Albrecht Bisthurn der Heldin Ludmilla Goth, er sei Mitglied der „österreichischen Gesellschaft der Friedensfreunde" und erhält zur Antwort: „Wieder eine Gesellschaft? Wollen Sie mich vielleicht auch werben? Es ist ja, als wäre seit einiger Zeit alles um mich herum verschworen, Vereine zu bilden und die Welt umzugestalten." 83

82

Zu den Organisationsformen des linksliberalen Bürgertums vgl. Ingrid Belke: Die sozialreformerischen Ideen von Josef Popper-Lynkeus (1838-1921) im Zusammenhang mit allgemeinen Reformbestrebungen des Wiener Bürgertums u m die Jahrhundertwende. Tübingen 1978, bes. S. 27-39 (Pazifismus).

83

Suttner: Vor d e m Gewitter. Roman. Wien 1894, S. 195.

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Diese neu entstehenden Vereine mit politischer Funktion sind zwar notwendig partikularen Zwecken verpflichtet; da sie nicht nach der Staatsmacht greifen, erwächst ihnen durch die Konzentration auf wenige Anliegen die Möglichkeit, als tendenziell internationale Bewegungen quer zu den, zumal in Österreich, national fragmentierten politischen Lagern Karriere zu machen. Gerade das Wien der Jahrhundertwende war deshalb in dieser Beziehung außerordentlich produktiv: Vom Pazifismus bis zum Zionismus wurde eine Reihe von solchen linksbürgerlichen Ersatzpolitiken etabliert, oft mit einem gespannten Naheverhältnis zur Sozialdemokratie, fast immer mit einem gewissen evolutionistischen Hintergrund. Die Waffen nieder! war die erste pazifistische Zeitschrift des deutschen Sprachraums; die deutsche Friedensgesellschaft in Berlin wurde von Wien aus organisiert. Suttner hat sich von der Organisationsform des Vereins, die sie am Deutschen Schriftsteller-Kongreß 1885 in Berlin kennenlernte, für die „Entwicklung" der Menschheit viel erwartet: „Es beschlich sie [Maria] ein bisher unbekanntes Gefühl, ein Gefühl, das in der Zukunftsmenschheit immer tiefere und umfassendere Dimensionen anzunehmen bestimmt ist, nämlich das Bewußtsein der Solidarität. Das ist ein Bewußtsein, welches den Menschen noch um eine Stufe höher führt, als das erfüllte Gebot: ,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst,', denn für die richtige Solidarität ist der Nächste von vornherein mit Selbst identisch. Daß die Interessen aller zugleich die Interessen des einzelnen sind - und umgekehrt - das gibt jedem einzelnen ein so kräftiges Existenzgefühl, als wäre er das Ganze; er vermag sein Ich nicht mehr von der Gesamtheit zu trennen, da diese - wie das Wort,Verein' bezeichnet - eins, daher überhaupt unzertrennbar ist." 84 Wenn Die Waffen nieder! Verwandtschaft mit der Form des Bildungsromans zeigt, so handelt es sich bei der Fortsetzung Marthas Kinder nicht nur um eine Fortschreibung, sondern um eine Extremform des BildungsromanSchemas, um einen literarischen Leitfaden für Jungfunktionäre einer „idealen Sache". So rät die Mutter dem Sohn, er möge sich auf die Friedenspropaganda konzentrieren, denn: ,,[D]a hättest Du Gleichgesinnte bestärken und auch nach außen hin besser wirken können, auf einem bestimmten Gebiet. Das Allumfassende verliert sich ins Weite: qui trop embrasse, mal etreint." (MK 179) Ein „bestimmtes Gebiet" zu wählen erwies sich als pragmatische Notwendigkeit in einem subkulturellen Feld, das eine nicht zu große Anzahl 84

Suttner: Schriftsteller-Roman. Dresden [1907], S. 228 f.; dieselbe Stelle auch in Ich-Form in Suttner: Memoiren. Stuttgart, Leipzig 1909, S. 167.

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von Personen für immer neue Anliegen zu mobilisieren versuchte. Die Agenden des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus übertrug Suttner kurzerhand auf ihren Ehemann Gundaccar; einem Anliegen der bürgerlichen Feministin Hainisch konnte nicht entsprochen werden: „Also nicht aus Prüderie tu ich nicht mit bei der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten - aber weil sie eben so wichtig [...] wie Dutzend andere Dinge sind: Mutterschutz Kinderschutz Ehereform Antialkohol Tuberkulose Volksheim u.s.w. u.s.w. Nein, ich kann das nicht alles anpacken." 8 5 Dennoch genügte das Bewußtsein, daß andere - wenn auch auf verschiedenen Wegen - nicht weniger im Dienst idealer Anliegen „kämpften". Gerade die partikularistische Organisation in Einzelvereinen ließ die Illusion entstehen, allerorts regten sich die Reformkräfte: „Die Ethische Gesellschaft, das einige Christentum, die Friedensbewegung, die Sozialdemokratie: alles das will ernst - wenn auch auf etwas verschiedenen Wegen, demselben Ziele entgegen und es wird!" S6 Aus der Sicht der darwinistischen Basisideologie des R o m a n s besteht zwischen Individual- und historischer Geschichte kein Widerspruch, sondern ein Verhältnis der Synchronisation; Individuen leben auf „selber Stufe" mit der Geschichte. Ein Kollektiv aus Individuen, wie es der Verein ist, scheint sich hier anzubieten; daher die Texte im Text, das „Friedensprotokoll" und die „roten Hefte", die denselben Prozeß einmal auf historischer, einmal auf individueller Basis beschreiben und festhalten sollen. Zweitens war es - neben d e m darwinistischen Evolutions- und Fortschrittskonzept ein gemeinsamer BegrifF von „Mitleid", der die divergierenden Kräfte zusammenhielt, der an den Opfern - allen möglichen Opfern - eine defensive Solidarität erprobte. Verbürgte der Darwinismus die vorgängige Einheit des Lebendigen, war die daraus abgeleitete Zuständigkeit für die L e i d e n der seufzenden Kreatur im „Mitleid" als der defensiv-aktivistischen Komponente dieses Syndroms aufgehoben. D i e „Mitleidsromane" Suttners, die von ihren Gegnern auch sofort der Gattung des sentimentalen Frauenromans zugeschlagen wurden, demonstrieren die große Flexibilität dieses Konzepts. Steht auch zunehmend die Kriegsbekämpfung im Vordergrund von Suttners Literatur, können in Marthas Kinder ohne große Verluste an Textkohärenz auch Duellbekämpfung und Anti-Antisemitismus, in Schach

85 86

Suttner an Marianne Hainisch, 14. 3. 1907. Wiener Stadt- und Landesbibliothek, IN 123.733. Suttner an Egidy, o. D. In: Heinz Herz: Alleingang wider die Mächtigen. Ein Bild vom Leben und Kämpfen Moritz von Egidys. Leipzig 1970, S. 289 f., S. 290.

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der Qual! (!) Antivivisektionismus, Tierschutz und vieles mehr aufgenommen werden 87 , da die Texte auf einer unterhalb der Handlungsebene liegenden einheitsstiftenden Tiefenschicht aufruhen. Im Fall Suttners ist weniger darüber zu spekulieren, wie sich der „Tendenzroman" zur Literatur des Asthetizismus verhält; interessanter ist die umgekehrte Beobachtung, daß die (links-)bürgerlichen Ersatzpolitiken nicht ohne Literatur auskommen. So wie die „Monisten" mit literarischer Anthologie und Tendenzwerken sich Gehör zu verschaffen suchen (vgl. Kap. 7), läßt sich die Renaissance der klassischen Utopie als literarischer Gattung nur im Zusammenhang mit der Zerstreuung bürgerlicher Zukunftsprojekte erklären.88 Von Theodor Hertzkas Freiland bis Theodor Herzls Altneuland restituiert sich nach 1890 eine bereits obsolet geglaubte Gattung; neu ist ein pragmatisch-technizistischer Zug, der die Gattungstradition einerseits in die Richtung eines konkreten Plans (schnell werden Vereine gegründet, die die „Pläne" Hertzkas, Herzls, Popper-Lynkeus' „realisieren" sollen89), andererseits zur Science Fiction hin öffnet. Die meisten dieser Gattungsinnovationen basieren auf dem „Darwinismus"; H. G. Wells' Romane90 nicht anders als die Science Fiction Max Haushofers und Kurd Laßwitz', bei Hertzka, der einst in der Neuen Freien Presse einen evolutionistischen Brückenkopf errichten wollte, nicht anders als bei Herzl, der im Judenstaat (1896) die Entstehung der Staaten aus dem „Kampf ums Dasein" ableitet, als er gewahr wird, daß die jüdische „Mimikry" an die Gesellschaft bedroht ist.91

87

D a s Vivisektionskapitel erschien als Vorabdruck in M . G . Conrads „Gesellschaft". „ J e des L e i d soll und muß sich in Klage Luft machen - vor allen das Mitleid. Nur so k o m m t es zu seinem Recht, das Recht nämlich: aufzuhören." D i e Gesellschaft 15 (1897), Tl. 4, S. 555-370, S. 370.

88

„ D a bürgerlich alles schlechter wird, hört auch hier der Traum nicht auf. Aber halbwegs frisch ist er eben nur dann, wenn er sich in einer G r u p p e und für sie nachträglich anmeldet. Wird ein M o r g e n d a g e g e n im Ganzen ausgemalt, so wird das spätbürgerlich meist Betrug [ . . . ] . " E m s t Bloch: Werkausgabe. B d . 5: D a s Prinzip H o f f n u n g . Frankf u r t / M . 1985, S. 714.

89 90

Belke: Popper-Lynkeus, S. 197-258. Dazu H e r m a n n Josef Schnackertz: Darwinismus und literarischer Diskurs. Der Dialog mit der Evolutionsbiologie in der englischen und amerikanischen Literatur. München 1992, S. 9 6 - 1 3 5 („Imaginäre Evolutionsmodelle in d e n Wissenschaftsromanzen von H. G . Wells").

91

Der Antisemitismus sei, so der „vorzionistische" Herzl, „eine d e m Judencharakter nützliche Bewegung. [...] Es wird die Darwinsche Mimikry eintreten. Die J u d e n werden sich

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Doch schlägt in dieser Phase der Gattungsentwicklung die Wunschutopie bald in die Warnutopie u m ; Suttner hat in ihre Broschüre Die Barbarisierung der Luft seitenlange Zitate aus Wells' The War in the Air (1909) montiert. Dazu tritt in steigender Anzahl die neue Gattung der „Szenarien", die sich literarisch mit künftigen Kriegsfallen befassen und den Ersten Weltkrieg mehr oder minder genau voraussagen; im österreichischen Generalstab werden nach preußischem Vorbild seit den 1870er Jahren „Kriegsspiele" veranstaltet, die die Bewegungen des Gegners antizipieren sollen. 92 Diese Szenarien hatten ebenfalls Anteil an der Ontologisierung des Krieges, indem der Krieg schon vorgängig als das notwendige und unausweichliche Mittel gesetzt wurde und damit seinen Charakter als Mittel der Politik zunehmend einbüßte. 93 Denselben Effekt haben auch - gegen ihren Willen die nicht-kriegspropagandistischen Personifikationen (Georg Heym 1911: „Aufgestanden ist er, welcher lange s c h l i e f ) ; Schreckbild und Kalkül sind eng verwandt. Vor diesem Umschlagen scheint Suttners Roman umso sicherer, als die in Die Waffen nieder! eingesetzten Textsorten weiblicher Intimität ihr inhaltliches Analogon in der Institution Familie haben; einer Institution, die nicht nur zeitgenössisch als die befriedete „grüne Stelle" schlechthin galt, sondern in der zugleich in einem sehr spezifischen Verständnis Geschichte als Genealogie und Gefühl als Sentiment zusammenfallen. „Familie" ist neben d e m „Verein" - der zweite Nexus zwischen Privatheit u n d Öffentlichkeit, Individualität und Evolutionsgeschichte in Suttners Roman. So wird auch die Kontinuität zwischen den beiden Bänden von Die Waffen nieder! und den Generationen in diesen Romanen durch physische und geistige Verwandtschaft hergestellt: „Dein Vater ist tot aber sein Werk lebt fort: wir drei: Rudolf, Du und ich sind dessen Erben und Hüter. Kein Schatten darf

92

93

anpassen." Alex Bein: Theodor Herzl. Biographie. Wien 1934, S. 173. Im „Judenstaat" heißt es: „Der Staat entsteht durch den Daseinskampf eines Volkes." Herzl: Der Judenstaat. Versuch einer m o d e r n e n Lösung der Judenfrage. Zürich 1988, S. 93. Wagner: Die k. (u.) k. Armee - Gliederung und Aufgabenstellung, S. 377 u. ö.; auch Conrad: Dienstzeit I, S. 326 u. ö. („Kriegsspiel"). Einige literarische Szenarien interpretiert Jost DülfTer: Kriegserwartung und Kriegsbild in Deutschland vor 1914. In: Der Erste Weltkrieg, S. 778-798. Ein (dort nicht berücksichtigtes) österreichisches Szenario ist „Unser letzter K a m p f (1906) des Generalstabshauptmanns Hugo Kerchnawe (dazu Allmayer-Beck: Die bewaffnete Macht, S. 135). Diese Entwicklung im militärischen Denken von Clausewitz zu Moltke und Schlieffen gut bei Wallach: Kriegstheorien.

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auf die Ehre unseres Namens fallen" (MK 105), erklärt Martha ihrer Tochter. Das „geistige Erbe" ist im evolutionistischen Kontext keine Metapher: Suttner folgt einer zur Schreibzeit des Romans verbreiteten Vorstellung im Darwinismus, wenn sie die Vererbung individuell erworbener Eigenschaften voraussetzt. Individualgeschichte ist damit nicht isoliert, Vererbung fungiert als zugleich physisches und psychisches Gedächtnis. Bezieht Beer-Hofmann aus der Vererbung erworbener Eigenschaften national-jüdische Identität, errichtet Suttner mit denselben Mitteln einen bürgerlichen Gesinnungsadel. In einer solchen individualistischen Mikrogeschichte wird Genealogie durch Erziehung beglaubigt. Oft erscheint Gedächtnis als gefrorene, räumliche Geschichte und hängt so direkt mit den komplexen „Aufschreibesystemen" des Romans zusammen. Durch einen aus bereits publizierten Schriften Suttners zusammengestellten Sammelband „soll [...] einem Teil meiner Erinnerungs- und Erlebnis-Schätze eine Art Aufbewahrungs-Kästlein gezimmert werden, das ich jederzeit öffnen kann, um die durch die Zeit etwas verblaßten Eindrücke wieder zu beleben, die von Zeitgenossen und Zeitereignissen mir eingeprägt worden sind." 94 Im Sinn des Protokolls als „Buchführung" schreibt Suttner: „Die Erblichkeit erscheint mir als die große Verwertungsmethode, mittels welcher die Natur alles Gewordene und alles Geschehene aufstapelt, und zu immer höheren Kapitalien ansammelt, was scheinbar durch die Flucht der Zeit verweht worden ist." (IS 80) „Die Erblichkeit ist die treue Uberlieferin aller zurückgelegten Wege, aller erkämpften Siege, aller erklommenen Höhen." (IS 81) Krieg erscheint von daher als Spezialfall der Vererbung: als Rückschlag, als Atavismus. Sorgt die Vererbung als kollektives sowie individuelles Gedächtnis dafür, daß dem Individuum nichts verlorengeht, ist der Krieg eine anomale Regression hinter den Stand des Erreichten: Tilling erkennt, „daß der Schlachteneifer nichts Übermenschliches, sondern - Untermenschliches ist; keine mystische Offenbarung aus dem Reiche Luzifers, sondern eine Reminiszenz aus dem Reiche der Tierheit - ein Wiedererwachen der Bestialität." (WN 148); Krieg ist „ein Rückschlag [so auch als Fachterminus, W. M.] in die Wildheit", „eine Verneinung der Kultur" (WN 244). Besonders irritiert sind die Pazifisten des Romans vom „Schlachteneifer", einem Phänomen, das auch Ratzenhofer als Kennzeichen vorzivilisatorischer Gesellschaften bewertete: Krieg sei wie

94

Suttner: Vorwort. In: SuG, S. [ I ].

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Löwenjagd, doch: „Wenn uns Kulturmenschen im Kriege mitunter noch dieselbe Lust durchrieselt, so ist dies eine anregende Reminiszenz." (WN 280). Allerdings hat der „zum Töten ausholende Krieger [...] allemal aufgehört, ,menschlich' zu sein. Was in ihm geweckt und gewaltsam aufgestachelt worden, ist ja eben die Wildheit." (WN 368 f.) Wieder gilt: Sofern der Krieg hinter das erreichte historisch-naturgeschichtliche Niveau zurückfallt, hat er keine höhere Realität als die Menschen mit Stacheln, Schuppen und Löwenmähnen, die die zeitgenössischen Freak Shows bevölkern. Es ist nur konsequent, daß die Abweichungen von einem naturhaft garantierten evolutionistischen Fortschritts-„Prinzip" ebenfalls naturhaft konzeptualisiert sind, wobei „Atavismus" eine zwar rätselhafte, dennoch kontingente „Erinnerung" an die Vorfahren bezeichnet. Der Begriff „Atavismus" dringt u m dieselbe Zeit in die Sprache der liberalen Mittelschichten ein und kommt im Kampf gegen den Antisemitismus häufig zum Einsatz. 95 Die Militärs hingegen bewundern am Burenkrieg in ähnlichen Interpretamenten gerade die urwüchsige Kraft der Buren und haben „moralisches Heimweh" „nach dem Jugendalter des eigenen Volkes" (Colmar v. d. Goltz 96 ); die „Nervenstärke [der Buren], in der Rasse gelegen, durch die eigenartige Lebensweise gestählt und durch einen, jedem einzelnen klaren Existenzkampf herausgefordert bietet eine Grundlage für die Kampftüchtigkeit, wie sie in europäischen Volksheeren nicht als durchwegs vorhanden angenommen werden kann, so daß bei diesen durch eine ganz spezielle sorgfältige Erziehung und Ausbildung, sowie durch strenge Disziplin, soweit als eben möglich ein Ersatz dafür gesucht werden muß." 9 7 Dennoch bleibt die Frage, wie sich dieser Optimismus an den Kriegskatastrophen der im Roman berichteten Epoche bewährt. „Wenn ihr so fest an den Fortschritt glaubt", fragt der pensionierte General mit Recht, „warum dann euer häufiges Klagen über Reaktion, über Rückfall in die Barbarei?" Ist schon das einsinnig lineare Modell von Geschichte als Fortschritt eine extreme Verzerrung von Darwins Vorstellungen zur Evolution als dem „great Tree of Life, which [...] Covers the surface with its ever branching and

95 96 97

Vgl. etwa bei Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5: [...] 1849-1914. München 1995, S. 1065. Colmar Frhr. v. d. Goltz: „Moralisches Heimweh". [Deutsche Revue, 1905] Zit. nach Storz: Schlacht der Zukunft, S. 268. F. Cfonrad] v. Hfötzendorf): Infanteristische Fragen, S. 30.

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beautiful ramifications"98, antwortet Tilling mit einem Rekurs auf ein wohl neuzeitliches, keinesfalls aber Darwin-kompatibles Geschichtsmodell: ,„Weil', Friedrich zog einen Bleistift aus der Tasche und zeichnete auf ein Blatt Papier eine Spirale, ,weil der Gang der Zivilisation so beschaffen ist wie dieses...'" (WN 187), das mehr an Giambattista Vicos corso-ricorso erinnert als etwa an Comtes Stadienlehre. In dieser Katachrese der „Spirale"99, die den garantierten linearen Fortschritt-als-Aufstieg in Kurven zwingt, um ihn zu retten, zeichnet sich wieder ein neues konzeptuelles Problem eines Romans ab, der naturalistisches Martyrium und naturhaften Optimismus zusammensehen will. 100 Der realhistorische Zusammenhang, daß derselbe Prozeß der Zivilisation, der den Fortschrittsbegriff plausibel gemacht, ihn aber vor allem erst hervorgebracht hat, den Krieg nicht nur nicht aufhebt, sondern ihn in immer neuen und größeren Katastrophen universalisiert, soll zum Verschwinden gebracht werden. Wissen und wissensgeleitetes Handeln sollen in keinem Widerspruch zu einem von selbst ablaufenden Geschehen stehen, sondern als Einsicht in die Notwendigkeit mit ihm in Einklang sein, ohne daß ,Fortschritt' durch Handeln erst hervorgebracht werden müßte. Explizit hat sich diesem Schulfall der Dialektik der Aufklärung und den „Atavismen" des Krieges erst Sigmund Freud gestellt, wie Suttner (und Conrad) Zeuge und Teilnehmer an der liberalen Darwin-Euphorie der 1870er Jahre,

98

Darwin: The Origin of Species by Means of Natural Selection or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. Ed. with an introduction by J. W. Burrow. Harmondsworth 1985, S. 172. Vgl. dazu Howard E. Gruber: Darwin's „Tree of Nature" and Other Images of Wide Scope. In: Aesthetics in Science. Hgg. v. J. Wechsler. Boston, Basel 1988, S. 121-140. 99 Ebs. in MK 126. Auch Paul Kammerer verfällt auf den Gedanken der „Spirale", als er versucht, seine Spekulationen über das „Gesetz der Serie" mit seinem lamarckistischen Fortschrittsbegriff zu versöhnen: „So gleicht der Fortschritt des realen Geschehens weder einem Kreisen noch einem Pendeln; und in seiner graphischen Darstellung nicht so sehr einer zweidimensionalen Wellen- als einer dreidimensionalen Schraubenlinie. [...] rückkehrend und dabei doch vorwärts rückend." Kammerer: Das Gesetz der Serie. Eine Lehre von den Wiederholungen im Lebens- und im Weltgeschehen. Stuttgart, Berlin 1919, S. 454. 100 Die Spirale ist die „Kompromißmetapher" am Übergang von zyklischen („Kreislauf") zu linearen Geschichts- und Naturgeschichtsfigurationen, wie er im späten 18. Jahrhundert zu beobachten ist. Vgl. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München, Wien 1976, S. 27 f. Im späten 19. Jahrhundert kann die Spirale in einem so wissenschaftseuphorischen Kontext nur eine defensive Metapher sein.

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signifikanterweise mit ähnlichen darwinistisch-evolutionistischen Denkmitteln und unter Rekurs auf die Funktionen des Gedächtnisses einer kollektiven Urvergangenheit, mit „lamarckistischem" Einschlag. Wenn Suttners Roman am Ende in die historische Gegenwart ausgreift das letzte Kapitel ist „1889" überschrieben - , so findet er das Telos individueller Erfahrung der Protagonisten in den beginnenden Vereinsaktivitäten der Friedensbewegung. Zugleich bedeutet das Romanende den Zusammenschluß von individueller Erfahrung und Geschichte, damit den Erwerb von Geschichtsmächtigkeit für das liberale Subjekt. (Auch Das Maschinenalter stellt den Ubergang zur Zukunftsgesellschaft durch den Friedensverein Hodgson Pratts vor.) Wenn im Verein der einzelne „sein Ich nicht mehr von der Gesamtheit zu trennen [vermag], da diese [...] eins, daher überhaupt unzertrennbar ist", gilt es zunächst den einzelnen aus den ,falschen' Kollektivsubjekten der Epoche zu befreien und zu isolieren, um ihn neu organisierbar zu machen. Im Roman wird dies etwa dadurch erreicht, daß die tatsächliche Familie gegen die eingebildete Familie der Nation gesetzt wird: Tilling und sein preußischer Schwager Tessow stehen vor Königgrätz auf verschiedenen Seiten der Front, wo doch im dänischen Feldzug die familiären Bande gemeinsamer Nationalität als „Waffenbrüderschaft" beschworen worden waren. Das Denken in Kollektivsubjekten selbst, zu denen sich die einzelnen im Verhältnis der Metonymie sahen, stand jedenfalls nicht in Frage. Die materiale Grundlage dieser rhetorischen Denkfigur ist ein durchgängiges Analogieprinzip, das beliebige disparate Bereiche von Welt unter dieselben Regeln setzt. Die Regelgleichheit, die zwischen Individuum und Gesellschaft herrschen soll, ist ein Ergebnis jener Identität von Natur und Gesellschaft, die die Prämisse positivistischer, insbesondere darwinistischer Geisteswelt bildete, vorgestellt als Identität von Idee und Materie: Zu ihren Kardinalsätzen zählt Suttner den ,,Glaube[n] an die Analogie - um nicht zu sagen Identität - der die ideelle und materielle Welt beherrschenden Gesetze." (IS 371) Conrad v. Hötzendorf berichtet in ähnlichen Worten: „Ich hatte schon vor der bosnischen Krise als junger Offizier in Kaschau [zwischen 1876 und 1878, W. M.] Werke von Schopenhauer und Darwin gelesen, die dabei gewonnenen Erkenntnisse auf die historische Entwicklung der Menschheit übertragen und so die Einheitlichkeit im ganzen Weltgeschehen erfaßt und wie dieses sich unserem Begriffsvermögen darstellt. [...] Im späteren Laufe des Lebens bauten sich diese Uberzeugungen durch Erfahrung und Lektüre zu voller Reife aus." 101 101

Conrad: Private Aufzeichnungen, S. 317.

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Diese Unterstellung der Universalität der Regeln und solche Reduktionen auf elementare personifizierende Szenarien, „Urszenen", lassen sich durch die meisten Anliegen der Friedensbewegung hindurch verfolgen. Die Duellfrage (die Agitation gegen das Duell hatte u m 1897 einen ersten Höhepunkt, Mitglieder der Friedensgesellschaften waren verpflichtet, Duellforderungen auszuschlagen) gewann deshalb so große Bedeutung für den Pazifismus, weil sie in Analogie zu den Rechtsstreitigkeiten der Völker und Staaten gesetzt werden konnte: Wäre es möglich, die „atavistischen" Reste von nur informell regulierter Gewalt in der Gesellschaft durch die Einschaltung von Gerichten zu lösen, müßten ebenso die Konflikte der Nationen durch internationale „Schiedsgerichte" geregelt werden können. „Schon Manchen war es klar, daß zwischen Nationen dasselbe Verhältnis Platz greifen könne und solle, welches zwischen Individuen durch Gesetz und Sitte vorgeschrieben war". 102 In einer kleinen Erzählung Suttners sagt die Gattin eines Duellanten: „Zweikampf der Völker und Krieg zwischen Zweien: es ist dasselbe ruchlose Princip ,.." 103 Mitte 1915 reimt Anton Wildgans, in gegenteiliger Absicht: „Wir kämpfen die Urform der Männerschlacht, / Wir eisernen Würfel der Strategie, / Wir, Mann gegen Mann, wir Infantrie!" 104 Bestritten wurde von den Duellbekämpfern nicht, daß hinter Duellen in der bürgerlichen Gesellschaft reelle Differenzen stünden; sie sollten nur nicht mit Schuß- und Stichwaffen ausgetragen werden. Das metonymische Prinzip solcher Strategien kommt gut in einem trockenen Kommentar Suttners zu einem Duell des Neffen des Königs von Italien mit dem Prinzen Heinrich v. Orléans zum Ausdruck: „Diesmal aber ließ man die Völker zu Hause und nur die beiden Prinzen kreuzten die Degen. Das ist jedenfalls ein Fortschritt." 105

102 Suttner: Maschinenalter, S. 17. Der Zusammenhang Duell/Krieg und Gericht/Schiedsgericht spielt in einer Reihe von Schriften der Anti-Duell-Kampagne eine besondere Rolle; vgl. u. a. auch Stanislaus R. v. Korwin-Dzbanski: Krieg und Duell. Wien 1907. Dazu Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München 1995, S. 242-264 und weitere Literaturangaben S. 392 (Anm. 82). 103 Suttner: Gott verzeihe ihr ... In: Die Waffen nieder! 6 (1897), S. 89-92, S. 91. 104 Zit. bei Albert Berger: Lyrische Zurüstung der ,Osterreich'-Idee: Anton Wildgans und Hugo von Hofmannsthal. In: Osterreich und der Große Krieg, S. 144-152, S. 150. 105 Suttner: Der Kampf um die Vermeidung des Weltkriegs. Randglossen aus zwei Jahrzehnten zu den Zeitereignissen vor der Katastrophe. Hgg. v. A. H. Fried. Zürich 1917. Bd. 1, S. 410 (15. 8. 1897).

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In der Duell-Debatte finden sich nur sehr wenige Darwin-Allusionen, obwohl sie doch nach der ubiquitären duellhaften Zuspitzung des „Daseinskampfes" gerade hier zu erwarten gewesen wären. Das Duell als Metapher ist erfolgreicher als die Metapher vom Daseinskampf in den Diskursen über das Duell. Dies dürfte damit zusammenhängen, daß die Duellkultur des 19. Jahrhunderts eine Imitation bzw. eine „herabgesunkene" Form einer Adelspraxis ist und somit in der Duelldebatte die implizite Opposition „adelig" vs. „bürgerlich" eine bedeutende Rolle spielt. In Suttners Roman wird die Wendung von den „Edelmenschen" (vs. „Edelleute", d. h. feudaler Adel) gerade in einer Debatte über das Duell ins Spiel gebracht (WN 120). Näher als Darwin steht d e m Duell der Rassendiskurs, der - nach Benedict Anderson - ein aristokratischer Diskurs ist (wenn auch zumeist von Bürgerlichen getragen). 106 Von daher ist es konsequent, daß die sogenannten Waidhofener Beschlüsse (1896), die Juden die Satisfaktionsfahigkeit absprachen, eine wichtige Wegmarke des Antisemitismus in Österreich waren. Die österreichische Armee sah dadurch ihre Integrationsfähigkeit bedroht und erkannte deutschnationalen Studenten, die Duellforderungen von Juden ausschlugen, die (Reserve-) Offiziersränge ab. 107 Die Rüstungsspirale erklärt sich Suttner im Roman nach einem ebenso reduktiven alter-ego-Schema („Österreich erklärt", „Preußen erwidert"); dieser „zweistimmige Wechselgesang" erfreut sich noch in neueren pazifistischen Anthologien als „Erklärung" des Wettrüstens großer Popularität: „Meine Rüstung ist die defensive, / Deine Rüstung ist die offensive, / Ich muß rüsten, weil du rüstest, / Weil du rüstest, rüste ich, / Also rüsten wir, / Rüsten wir nur i m m e r zu." (WN 192) In einer Kontrafaktur des Rousseauschen Ursprungsmythos der bürgerlichen Gesellschaft sieht Suttner selbst das Bündnis aus d e m Krieg entspringen; zu beachten ist die rhetorische Organisation der folgenden Passage: „Zuerst, im Urzustand, Kampf jedes Einzelnen gegen jeden Einzelnen; dann Familie gegen Familie; - Stamm gegen Stamm; - Burg gegen Burg; Stadt gegen Stadt; Provinz gegen Provinz; endlich n u r noch Reich gegen Reich. Die erste Verbündung hat begonnen, als einmal zwei Menschen miteinander ausgingen, einen gemeinsamen Feind zu bekämpfen u n d die Beute unter sich zu teilen. Von da an

106 107

B. Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. [1983] 2. Aufl. Frankfurt/M., New York 1993, S. 150. Deik: Der k. (u.) k. Offizier, S. 163 f.

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hat der Verbündungsgeist immer größere Kreise geschlossen". 1 0 8 Nicht Solidarität entsteht, vielmehr werden die Ur-Individuen zu Kollektiven aufgebläht, die sich noch immer nicht anders betragen als es von den Ur-Individuen postuliert worden war. Freuds späte phylogenetische Gebrauchsmythologie gehört ebenso wie Gumplowicz' und Ratzenhofers postulierte Nullpunkte der Sozialgeschichte 109 zur selben Form der metonymischen Reduktionsphantasie; auch der Erfolg von Haeckels „Biogenetischem Grundgesetz", das das alte Lebensaltergleichnis in der Embryologie aktualisiert, lebt von der rhetorischen Plausibilität der Verbindung von Analogie und Metonymie. Die „Ideologiekritik" als Kritik der Phrase in Suttners Roman, beglaubigt durch die Quellenstudien der Autorin, kann plausibel die „Kriegslüge" entschleiern und trifft auch, sofern sie mit „authentischen" Texten kritisch verfährt, eine gesellschaftliche Wahrheit. Es ist dem Roman sinnvollerweise nicht anzulasten, daß dies nur eine halbe Wahrheit ist; jedoch ist zu bemerken, daß der liberale Tendenzroman seine Kritik nur deshalb plausibel vortragen kann, weil er sich auf die rhetorischen und institutionellen Organisationsformen bürgerlicher Wahrheit und Selbstidentifikation schon vorgängig in einem hohen Ausmaß verlassen hat. Dieser Abhängigkeit verdankt der Roman die Möglichkeit seiner Wirkung und seiner geschlossenen literarischen Oberfläche. (An dem - historischen - Erfolg des Romans ist mindestens abzulesen, daß „Darwinismus" im Pazifismus keine Rezeptionsverhinderung darstellte.) Für die heutige Rezeption gilt diese Geschlossenheit nicht mehr. Die darwinisierenden Passagen sind aus modernen Anthologien zu Suttner und zum Pazifismus getilgt; aufgenommen sind Textstellen entweder aus „Gesprächen" oder aber aus Greuelszenen. Die spezifische Einheit des Romans ist damit verloren. 110

108

Suttner: Maschinenalter, S. 17 f.

109

Gumplowicz hat bereits in seiner frühen Schrift „ R a s s e und Staat" (1875) eine solche UrSzene (zwei „primitive R a s s e n " streiten u m ein Stück Territorium, „und die erste Stunde der Geschichte schlägt!") breit ausgestaltet, sie aber als methodische Fiktion relativiert: „ E s gibt wissenschaftliche Wahrheiten, die sich nur durch Fiktionen darstellen lassen". Gumplowicz' Soziologie ist im Kern g e g e n sämtliche rhetorischen und theoretischen Grundlagen des optimistischen Evolutionismus gerichtet: Fortschritt sei „Ethnozentrism u s " , der Naturprozeß der Geschichte sei ein ewiger Kreislauf. L . G . : Der Rassenkampf. [1885] Mit einem Vorw. v. G . S a l o m o n . Neudruck d. Ausgabe Innsbruck 1926. Aalen 1973, S. 381 (i. 0 . gesp.) u. 340.

110

So etwa in: Kämpferin für den Frieden: Bertha von Suttner. Eine Ausw., hgg. u. eingel. v.

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Die Benützung darwinistischer Wissenschaft als eine solche Klammer des Textes ist dabei dialektisch zu sehen: Sofern Darwinismus wirklichkeits- und daher wahrheitsrelevant Konstitutionsprobleme des Textes löst, ist diese Operation nur möglich auf der Basis der vorgängigen „Literarizität" der Darwinschen Argumentation. Der säkulare Erfolg des Darwinismus läßt sich wie gesehen - dadurch erklären, daß diese Form von Wissenschaft qualitative, „proto-narrative" Elemente zu enthalten schien, agonale Szenen, Verlaufsmodelle und Verknüpfungslogiken (Entwicklung oder Untergang aus dem Konflikt). Der strukturelle und statistische, nicht individualistische Charakter von Darwins Metaphern konnte erst im 20. Jahrhundert fruchtbar gemacht werden; die individuelle Zuspitzung war nicht nur eine Vulgarisierung durch die nicht-fachliche Öffentlichkeit, sondern gehörte wesentlich zur Heuristik der wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse selbst und stand auch Darwins Metaphern Pate. Diese narrativen Erzählkerne waren deshalb ohne Schwierigkeiten anschließbar an die zentralen bürgerlichen Diskurse, wie dem von der Nation, vom Individuum, von der Familie, vom Recht und vom Erben, da sie die eigenen Institutionen verhandelten und da sie in diesen Institutionalisierungen ihre Basis hatten. Es ist die Ironie des bürgerlichen Pazifismus, daß er mit denselben Ideologemen eine subversive Strategie gegen die Staatsapparate versuchte, als diese Ideologeme schon längst zur materialen Ideologie ebendieser Apparate geworden waren. Die Besonderheit der Denkmittel von Analogie und Metonymie am Ende des 19. Jahrhunderts liegt jedoch in ihrem spezifischen Bezug zur Zeit. Eine Konsequenz evolutionärer Geschichtsbilder ist die Vorstellung, wer den rechtverstandenen Zeittendenzen folge, befinde sich damit auch immer am Gipfel der Evolution (was der hellsichtige Soziologe Gumplowicz als die Täuschung des „Akrochronismus" bezeichnet hat 111 ). Suttner entwickelt in Inventarium einer Seele den Gedanken einer „Zeitgenossenschaft", die das ausmachen könne, was bislang die Staatsbürgerschaft gewesen sei, an die Stelle der Heimatliebe trete dann eine „Aktualitätspassion": „Ich liebe meine Zeitgenossen - wie man etwa seine Landsleute

111

G. Brinker-Gabler. Frankfurt/M. 1982, S. 1 5 1 - 1 6 1 ; B. v. S.: Die Waffen nieder! Ausgewählte Texte. Hgg. v. K. Maimhardtu. W. Schwambom. Köln 1978, S. 127-155. Ludwig Gumplowicz: Sociale Sinnestäuschungen. [Neue Deutsche Rundschau, 1895] Wieder in: L. G. oder Die Gesellschaft als Natur. Hgg. v. E. Brix. Wien, Köln, Graz 1986, S. 1 2 6 - 1 4 1 , S. 127.

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liebt. Nicht nur der Raum - auch die Zeit, in der wir geboren sind, bildet eine Heimat. In der Zeit wurzeln auch wie an der Scholle die tausend Sitten, Gewohnheiten, Sprechweisen, die uns so vertraut und lieb sind, und d a r u m fühle ich mich unter den Büchern meiner Zeitgenossen ebenso wohl und heimisch, wie ich mich in Gesellschaft meiner Landsleute fühle, die meinen Dialekt reden, die in meiner Gegend zu Hause sind [...]. Auch so geht's mir mit meinen lebenden Autoren. Auch sie sind aus meiner Zeitgegend; auch sie atmen die Luft des Heute; sie sprechen den Jargon des Tages [...]. Die großen Toten sind doch m e h r oder minder vornehme Fremde [...]." (IS 158 f.) Evolutionistische Zeit ist gerade keine leere, homogene, sondern erfüllte, synkopierte Zeit, eben „Fortschritt"; sie wird in den Kategorien „noch nicht" und „nicht m e h r " gemessen. In Inventarium einer Seele erfindet Suttner einen Dämon, der ein „Chronomikroskop" bereitstellt, das Zeit dehnen und raffen soll. Geschichte solle, wie sie in einem offenen Brief an den Politiker Emil Steinbach schreibt, zur „Historiotechnik" werden, „eine bewusste, thätige Verwendung der vorhandenen Kräfte zur Erreichung der möglichen Wohlfahrtsziele, zur Vermeidung der - wenn man nichts thut sicher eintretenden Katastrophen." 112 Es ist eine der Aporien jeder evolutionistischen Geschichtskonzeption, daß sie ein gutes Verhältnis zur Geschichte hat, jedoch ein prekäres Verhältnis zum Handeln. Dieses Voluntarismusproblem ist wohl am deutlichsten in der sozialistischen Politik der II. Internationale zum Ausdruck g e k o m m e n : Wer handelt, stört die historische Entwicklung; w e r nicht handelt, läßt Katastrophen geschehen. N u n m e h r kam alles auf den rechten Zeitpunkt an. Dieselbe Motivation steht, nicht ohne eine gewisse Logik, hinter d e m „Präventivkriegs"-Konzept Conrads, oder jedenfalls: wie er es sich erklärt hat: „Zu glauben, daß die historische Entwicklung stille stehen werde, n u r u m die Integrität der österreichisch-ungarischen Monarchie nicht anzutasten, war ein großer Irrtum ( D e m Kampf u m s Dasein w a r nicht auszuweichen, es blieb uns, ihn zu führen). D e n gegen sie gerichteten fortdauernden Kräften, war durch nachgiebiges Zurückweichen nicht zu entgehen, d e m Kampf u m s Dasein nicht zu entrinnen, es blieb

112

Suttner: Offener Brief an Dr. Emil Steinbach. In: Die Waffen nieder! 8 (1899), S. 198-200, S. 199.

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bloß die Wahl, für ihn das Schwert zu schärfen [...] oder lethargisch abzuwarten". 1 1 3 Der Temporalisierung des Raumes, wie sie bei Suttner zu beobachten ist, korrespondiert im militärischen Denken eine zunehmende Befassung mit „bewegten lebendigen Massen"; die alte Logik des Territorialgewinns verschiebt sich zu einem Denken in Kraft- und Zeitkategorien. Innerhalb der statischen Agonalität der Großmächtepolitik erscheint, vermittelt durch die analogisch-metonymischen Angebote des narrativen Darwin-Paradigmas, die Möglichkeit, solche Organismen, wie es die Staaten seien, könnten auch überhaupt verschwinden; für die Militärs verwandelt sich Taktik, durch Politik vermittelt, in Kairologie: „Nur ein Volk, das seiner eigenen Kraft vertraut, diese in einer schlagbereiten Wehrmacht zu verkörpern weiß und entschlossen ist, sie im richtigen Momente zu gebrauchen, vermag im Kampf ums Dasein zu bestehen. Von einem Staate gilt das gleiche." 114 „Die Anerkennung des Kampfes ums Dasein als Grundprinzip alles irdischen Geschehens ist die einzige reelle und vernünftige Grundlage jedweder Politik. Nur durch Kampf ist Erhaltung und Gedeihen möglich. Sich für diesen Kampf möglichste Chancen zu sichern und ihn im günstigen Moment mit Ausdauer und Entschlossenheit zuführen, ist das Um und Auf politischer Weisheit. Wer den sich auftürmenden Gefahren blind gegenübersteht, oder wer sie erkennt, aber zu indolent ist, sich gegen sie zu wappnen und so unentschlossen ist, geeigneten Moments den Hieb zufuhren, der verdient sein Los." 1 1 5 Was man Imperialismus 116 nenne, sei in Wahrheit ein überzeitliches, naturhaftes Phänomen, so Conrad: „Die einer Nation, einem Staat, einer Rasse innewohnende Kraft drängt zur Entfaltung auf allen Gebieten im friedlichen Schaffen, im Erweitern der Wirtschaftssphäre, im Vergrößern des Territoriums, im Ansammeln kultureller und materieller Güter, im Heben des Wohlstandes." 117 Die gewundene Formulierung von Nation, Staat und Rasse hebt sich deutlich vom militärdarwinistischen Imperialismus im Deutschen Reich ab. Dort herrschte - ebenso wie in den einschlägigen Beiträgen im Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie -

113 114 115 116 117

Conrad: Private Aufzeichnungen, Conrad: Private Aufzeichnungen, Conrad: Private Aufzeichnungen, Zum „Imperialismus" Conrads Macht, S. 134 f. Conrad: Dienstzeit IV, S. 129.

S. 204. S. 136, Hervorh. W. M. S. 148. die Diskussion bei Allmayer-Beck: Die bewaffnete

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eine unbefragte Identifizierung von Gemeinwesen, Nationalstaaten und Rassen mit endogamen Zuchtverbänden vor; Conrads Imperialismus im Dienst der multiethnischen Monarchie 118 hat eine deutlich defensive Note: Als Analogon zum „nationalen Einheitsstaat" postuliert Conrad nachträglich der aus dem Zusammenschluß den ,,(polyglotte[n]) Interessenstaat"119, mehrerer kleinerer Nationen zur Wahrung ihrer vitalen Interessen entstanden sei, der aber ebenso zu agieren vermöge wie der Nationalstaat (wenn er auch im Inneren einer weiteren Konfliktlinie ausgesetzt sei). Hilferdings klassische Formulierung des imperialistischen Blicks enthält viele Motive, die Conrad an sich selbst entdeckt. „Der Imperialist", so Hilferding, „will nichts für sich; er ist aber auch kein Illusionist und Träumer, der das unentwirrbare Gewirr der Rassen auf allen Entwicklungsstufen und mit allen Entwicklungsmöglichkeiten statt als farbenprächtige Wirklichkeit in den blutleeren Begriff der Menschheit auflöst. Mit harten klaren Augen bückt er auf das Gemenge der Völker und erblickt über ihnen allen die eigene Nation. Sie ist wirklich, sie lebt in dem mächtigen, immer mächtiger und grösser werdenden Staate und ihrer Erhöhung gilt all sein Streben." 120 Von seinem ersten Kriegseinsatz im Bosnienfeldzug berichtet Conrad: „Dieser Anblick [von Geköpften] ließ mich völlig kalt und ich sah, daß ich über jene Härte verfügte, die in meinem Berufe unerläßlich ist: eine Härte, nicht dem Mangel an Gemüt oder an Teilnahme, sondern der Uberzeugung von der Unerbittlichkeit des Kampfes ums Dasein, des mit ihm innig verbundenen unaufhaltsamen historischen Geschehens und der daraus für den einzelnen erwachsenden Pflichten entspringend." 121 Es ist nicht überraschend, daß Conrad nach dem Zusammenbruch der Monarchie Überlegungen zur Verschmelzbarkeit der Österreicher zu einer „Nation" angestellt und diese Möglichkeit retrospektiv verneint hat. 122 Es ist weiters bemerkenswert, daß Conrad, wenn er in „Essays" dem Kaiser berichtet, wohl die potentiellen Feindstaaten auf ihr mögliches Angriffspotential abtastet, immer aber nur

118

„ S o sehr ich auch die mannigfachen Kräfte kannte, welche seit langem im Inneren und von außen auf den Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie hindrängten, hatte ich doch die Erhaltung

Österreich-Ungarns

erhofft und - von Jugend auf Soldat - die ganze

Arbeit meines Lebens in den Dienst dieser Idee gestellt." Conrad: Dienstzeit I, S. 28. 119

Conrad: Dienstzeit I, S. 14.

120

Hilferding: Finanzkapital, S. 428 f.

121

Conrad: Mein Anfang, S. 26 f.

122

Conrad: Dienstzeit I, S. 329 (Anm.).

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mit dem ihm eigenen bürgerlichen Rigorismus den Krieg bzw. den Präventivschlag empfiehlt. Nie rekurriert er auf die alten aristokratischen, gänzlich unbürgerlichen Herrschaftstechniken der Habsburger wie des Arrangements und des gezielten Einsatzes von Brutalität und Milde; immerhin steht ja Conrad im Dienst eines Dynasten als des obersten Kriegsherrn. Man könnte einwenden, daß Krieg eben Conrads Geschäft gewesen sei. Doch hat sich gerade Conrad als „Sehender", der u m die Gesetze von Natur und Menschenwelt Bescheid wisse, die Rolle des Politikers arrogiert und geriet mit den hocharistokratischen politischen Ministern des Staates in Dauerkonflikte. So befassen sich Conrads „Essays" als Lageberichte obstinat mit dem „günstigen Moment" des Losschlagens. Pointiert gesagt, wird d e m „langen" 19. Jahrhundert am Ende die Zeit knapp. 123 U m 1909, als Conrads Pläne für einen Präventivkrieg gegen Italien bekannt und von der chauvinistischen Presse begrüßt werden, reagiert die bereits körperlich geschwächte Suttner mit einer Unterschriftenaktion für einen präventiven Frieden mit Italien, unter den Unterzeichnern sind Ernst Mach, Friedrich Jodl, Arthur Schnitzler, Balduin Groller und Herm a n n Bahr. 124 Suttner fallt mit steigender Kriegsgefahr auf ein Modell zurück, das bereits in ihrem wichtigsten Roman eine Rolle spielt und das nichts anderes als die Rückseite des metonymisch-analogen Verhältnisses von einzelnem und Kollektiv ist: die große Persönlichkeit, die den Frieden machen wird. Ihr letztes literarisches Werk Der Menschheit Hochgedanken hat die Form des ,utopischen' Zukunftsromans, in dem ein Milliardär (gedacht war an den Philanthropen Andrew Carnegie 125 ) eine neue platonische Akademie als transzendentalen Friedensverein einberuft.

123 Vgl. über Kriegsvorbereitung und den zunehmenden Fatalismus Wolfgang J. Mommsen: Der Topos vom unvermeidlichen Krieg. Außenpolitik und öffentliche Meinung im Deutschen Reich im letzten Jahrzehnt vor 1914. In: Bereit zum Krieg, S. 194-224. 124 Hamann: Suttner, S. 475. 125 Der Spencer-Anhänger Carnegie gilt als einer der wenigen „echten" Verfechter des amerikanischen Sozialdarwinismus. Dazu Joseph Frazier Wall: Andrew Carnegie. [1970] Pittsburgh, Oxford 1989.

Schluß Die zeitgeschichtliche Konstellation der Einführung des „Darwinismus" in den 1860er Jahren hat seine Geschichte bis zum Ersten Weltkrieg entscheidend präformiert. Darwinismus war von Anfang an mehr als die Rezeption von Darwins Werk, „Darwinismus" entstand erst in einem dichten Wechselspiel von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Was in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive als natürlicher Durchsetzungskonflikt einer naturwissenschaftlichen Theorie erscheinen mag, stellt sich bei genauerem Hinsehen als Konstitutionsphase eines ideologischen Komplexes dar, dessen exoterisch-öffentliche Form nicht von seiner esoterisch-fachinternen zu trennen ist. In der Theoriestruktur des Darwinismus, wie er im 19. Jahrhundert auftrat, lag schon die Tendenz zur Expansion in andere Formationen gesellschaftlichen Wissens; seine wissenschaftstheoretisch „weiche" Konzeption ermöglichte das Entstehen einer Plausibilisierungsspirale, die durch das Auftreten „öffentlicher Wissenschaftler" wie Ernst Haeckel vorangetrieben wurde. Die besondere Stellung der Theorie an der Grenze des naturwissenschaftlichen und des kulturwissenschaftlichen Diskurses war die Bedingung der Möglichkeit ihrer Universalisierung. Diese Prozesse ereigneten sich vor d e m Hintergrund von Kulturkampf, der deutschen Reichsgriindung 1871 und der besonderen österreichischen Situation der endlich durchgesetzten liberalen Hegemonie; die Revolution von 1848 bildete hier stets die Folie der Ereignisse. In der Literatur bildete sich eine teils implizite, oft auch explizite Verschiebung des politischen Impulses in einen naturwissenschaftlichen heraus, der Naturwissenschaftler als Figur und eine Verwissenschaftlichung der Erzählinstanzen lösten die agitatorischen Sprecherrollen der Vormärzliteratur ab. Durch die konfliktuelle Etablierung darwinistischer Wissenschaft rückte diese so nahe an die zeitgenössischen Diskurse, daß sie mit Projekten literarischer Aufklärung gleichursprünglich erschien. Die Literatur bediente sich der mikronarrativen Elemente, die die Theorie Darwins selbst enthielt, und behob so das Defizit, das durch die Verdrängung des Revolutionsdiskurses entstanden war. I m m e r wieder ließ sich so in modernisierter Form an die historisch gewordene Aufklärungsliteratur des 18. Jahrhunderts anknüpfen; die Kompromisse dieser Vorgangsweise lassen sich an den ästhetischen Brüchen zeigen, die aus den Werken nicht zu tilgen waren.

494

Darwinismus und Literatur

Der Hinweis auf diese verschüttete Tradition naturwissenschaftlicher Aufklärung sollte nicht den Darwinismus des 19. Jahrhunderts als aktualisierbares Konzept retten. Doch zeigt die Vielfalt seiner in der Literatur historisch realisierten Anschlußmöglichkeiten, daß der Ausgang von Unternehmungen, die sich mit dem Darwinismus einließen, keineswegs von vornherein feststand. Die Koalitionen, die die Literatur mit dem Darwinismus einging, ohne ihre relative Autonomie aufgeben zu müssen, reichen vom Bauernroman bis zur sozialistischen, monistischen, pazifistischen Weltanschauungsliteratur, selbst die vorgeblich auf literarische Autonomie eingestellte „Wiener Moderne" hat teil an diesem Phänomen. Als sich die literarischen Synthesen, mit denen der Hochliberalismus die Spannung von Ökonomie und Moralität negierte, zunehmend als brüchig erwiesen, wurde die darwinistische Vererbungsproblematik eingesetzt; wirkt der Darwinismus hier als Mittel zur Bestärkung hegemonialer Positionen, konnten umgekehrt sehr ähnliche Motive zur Stützung sehr privater Identitätskonstruktionen benützt werden, wie sich an Andrian und Beer-Hofmann gezeigt hat. Naturwissenschaftliche Aufklärung mit den Mitteln der Literatur blieb insgesamt jedoch ein prekäres Unternehmen; mit dem zunehmenden Zerfall der Ausgangskonstellation des österreichischen Darwinismus im Hochliberalismus wurden stets deutlicher die Nahtstellen der alten optimistischen Einheitsstiftungen sichtbar. Der Weltkrieg, den zu erleben Bertha v. Suttner erspart geblieben ist, beendet das „lange" 19. Jahrhundert. Der Krieg markiert nicht nur das Ende der „Welt von Gestern" (Stefan Zweig) und ihrer vermeintlichen Sicherheiten, wie sie eine nostalgische Autobiographik zu perpetuieren trachtete, auch die Einheit von „Fortschritt", Evolution und Wissenschaftsgewißheit geht auf lange Zeit verloren. „Entwicklung" ist kein „Zauberwort" (Ernst Haeckel) mehr. Soweit sich jene Sicherheiten auf Darwin verließen, wären neben ihnen bereits auch ihre Bedrohungen zu sehen gewesen. Auch jene Konstellation, die den „Darwinismus" geformt hat, gelangt an ihr spätes Ende. Die Trennung von Wissenschaft und Laientum ist längst abgeschlossen; der Fortgang der Naturwissenschaft ist dem emphatischen Zusammenhang von Publikum und Wissenschaft abträglich und nur mehr in seinen Resultaten rezipierbar. Der zunehmenden Abstraktheit des Forschungsbetriebes in den Naturwissenschaften korrespondiert dabei ein immer stärker technizistischer Zugriff der Gesellschaft auf seine Ergebnisse. Die literarischen Integrationen Darwins können von diesen Entwicklungen nicht unberührt blei-

Schluß

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ben. Mit dem Zerfall der „darwinistischen" Ausgangskonstellation scheinen die darwinistischen Themen stärker als zuvor disponibel zu werden; die Ambivalenzen des Darwinschen Paradigmas, wie sie diese Arbeit zu beschreiben unternommen hat, können nun ins Extrem getrieben werden. Im zweiten Kriegsjahr, 1915, erscheinen zwei sehr unterschiedliche Texte, die beide auf die literarische Reihe österreichischer Darwin-Verarbeitungen bezogen sind. Wie Robert Müllers Roman Tropen mehrfach auf Peter Altenbergs Ashantee-Skizzen anspielt, so verweisen Namenssignalement und Tiermetaphorik von Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung, entstanden 1912, mit Gregor Samsa auf Severins Dienernamen in Leopold v. Sacher-Masochs Venus im Pelz. Der darwinistische Einschlag beider Texte ist leicht erkenntlich; Müllers Tropen, hinter denen als Prätext Joseph Conrads Heart of Darkness sichtbar wird, rekurrieren zudem auf eine darwinistisch eingefarbte Vorlage. Beide Texte changieren dabei zwischen hoher Metaphorizität und hoher Konkretion. Müllers Tropen sind ein Vexierbild von Reisebericht und Nerventragödie, Müllers Begriff von „Rasse" hat zugleich sehr reelle und sehr spiritualistische Konnotationen. Die „physiologische Aufklärung", die Müllers Roman vertritt, kann zugleich als Endpunkt jener Variante naturwissenschaftlicher Aufklärung gelesen werden, die eine der heimlichen Konstanten in der darwinistisch inspirierten Literatur des 19. Jahrhunderts gewesen war. Kafkas Verfahren des Wörtlichnehmens von Metaphern kollidiert in Die Verwandlung und anderen Texten nicht nur mit der scheinbar realistischen Schreibweise, sondern auch mit der Gestaltung seiner „Tiere" nach Brehms Thierleben. Beide Texte verhandeln Regression in naturgeschichtlichen Dimensionen. Hatte Darwin das Tierreich nach dem Muster der bürgerlichen Gesellschaft dargestellt, so verlegen Müller und Kafka die bürgerliche Gesellschaft ins Tierreich zurück. Sehr bald war das Thema der Regression dabei nicht mehr nur das abstrakte Schreckbild als die Rückseite des Fortschritts, wie es das 19. Jahrhundert gekannt hatte. Es wurde vor dem Hintergrund der Zeitereignisse zunehmend plausibel.

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Personenregister

A Abel, Othenio 451 Acosta, Uriel 119 Adler, Friedrich 94-95 Adler, Moritz 462 Adler, Victor 195, 254, 299, 341 Adorno, Theodor W. 15,251 Agulhon, Maurice 475 Ahadji, John 575 Aichner, Herlinde 26, 320 Alberti, Conrad 141 Alembert, Jean le Rond d' 570 Altenberg, Peter (d. i. Richard Engländer) 15,24,555-595,495 Althusser, Louis 454 Ammer, Theodor v. d. (d. i. Karl v. Perfall) 139 Ammon, Otto 462 Anderson, Benedict 486 Anderson, Harriet 160 Andrian, Leopold v. 25,25,290-291, 294, 297-299, 501-321, 545-346, 550, 589 Andrian, Ferdinand v. 290 Anzengruber, Ludwig 13, 21, 23, 162, 172, 174, 198-270, 278, 296, 411 Aotourou Poutaveri 570 Aristoteles 562 Aspetsberger, Friedbert 251 Auerbach, Berthold 252-254, 250 Auersperg, Anton Alexander Graf (Ps. Anastasius Grün) 42, 414 Augustinus 80 Aveling, Edward 171, 195

B Bach, Alexander v. 97 Bacherl, Franz 41 Baer, Karl Ernst v. 54 Bahr, Hermann 75, 79, 292-295, 296-297, 299, 325, 451, 492 Bamberger, Victor 551 Bärenbach, Friedrich v. (d. i. Frigyes Medveczky) 152, 139, 154 Barker, Andrew 370 Barthes, Roland 83, 325 Bartsch, Karl 46 Bartsch, Franz 93, 95 Bayertz, Kurt 15 Beauleau 560 Bebel, August 174, 195, 421 Beck, Friedrich Graf 452 Beer, Gillian 25, 144-145 Beer-Hofmann, Richard 20, 25-24, 292, 294-295, 297-298, 500, 502, 520-550, 555, 565-564, 589, 481 Belcredi, Hugo Graf 508 Beller, Steven 542 Benedikt, Moritz 84, 116, 224 Benjamin, Walter 166, 377 Bergenstamm, Julius v. 93, 96 Berggruen, Oscar 94 Bernard, Claude 205, 212, 240 Bernstein, Eduard 195 Bettelheim, Anton 84, 257 Bibo, Claudia 10 Bienenstein, Karl 409, 424 Billroth, Theodor 49, 62-64, 65, 69, 75 Bismarck, Fürst Otto v. 45, 47, 62, 64, 71-72, 268

550 Bleibtreu, Karl 214 Bloch, Iwan 307 Boeckh, August 59 Boguslawski, Albert v. 461 Bolin, Wilhelm 174,218,222,228, 236-257, 240, 242 Boltzmann, Ludwig 292 Bopp, Franz 54 Bougainville, Louis Antoine de 370 Bourdieu, Pierre 17, 52, 235 Bourget, Paul 303, 318 Bouvier 351, 355 Bowler, Peter J. 11,206,331 Bölsche, Wilhelm 183-184, 358, 406, 436 Börne, Ludwig 177 Brahm, Otto 198 Brehms, Johannes 63 Brandl, Alois 84 Brandtner, Andreas 26 Bratranek, Franz Thomas 59 Brauer, Friedrich 93 Braun, Alexander 92 Brehm, Alfred 77, 83, 376-377, 495 Brentano, Franz 291 Bronn, Heinrich Georg 141-142 Brosses, Charles de 370 Browning, Robert 294 Bruck, Oliver 26 Brücke, Ernst 45, 60, 62 Brühl, Carl Bernhard 60, 86-87, 291 Brunlechner, August 285 Brunner, Heinrich 64 Brunner, Sebastian 29, 38 Brunner v. Wattenwyl, Karl Friedrich 93 Buch, Hans Christoph 151 Büchner, Georg 165, 387, 402, 442 Büchner, Ludwig 34, 38, 81, 106, 116, 169, 172, 183, 202, 205-207, 214, 235, 262, 275, 285-287, 362, 425, 433, 466 Buckle, Henry Thomas 45, 457, 466

Personenregister Buffon, Georges 370 Busch, Wilhelm 202 Butler, Samuel 331-332 Buttinger, Joseph 194 Byr, Robert (d. i. Karl Emmerich Robert v. Bayer) 141 C Carl, Ehg. v. Österreich 456 Carnegie, Andrew 267, 492 Cameri, Bartholomäus v. 59, 68, 74, 94, 152-153, 291, 396-402, 411, 417, 421, 433, 437, 441, 443, 445-446, 458, 467 Carus, Julius Viktor 130 Castelli, Ignaz Franz 97 Cella, Ingrid 181 Chamberlain, Houston Stewart 86, 337-339 Chamisso, Adelbert v. (d. i. Louis Charles Adelaide de Chamisso de Boncourt) 414 Chatrian, Alexandre 165 Chevalier, J. 313 Chiavacci, Vinzenz 214 Childe, V. Gordon 210 Claus, Karl 74-75, 86 Clausewitz, Karl v. 480 Comte, Auguste 205, 483 Condorcet, Marie Jean Antoine 161 Conrad v. Eybesfeld, Siegmund 66, 428 Conrad v. Hötzendorf, Franz 24, 452, 448-492 Conrad, Joseph 495 Conrad, Michael Georg 262, 469, 477 Crebillon, Claude Prosper Jolyot de 155 Curtius, Ernst 67 Cuvier, Georges 54, 437

551

Personenregister D D'Annunzio, Gabriele 294, 301 Dahn, Felix 128, 141,418 Dangelmaier, Emil 465 Danko, Joseph 80 Dante Alighieri 401 Daudet, Alphonse 251-232,236 David, Benno v. 59 David, Jakob Julius 244-256, 258, 266 Delle Grazie, Marie Eugenie 13, 24, 74, 80, 99, 296, 396-447 Detering, Heinrich 314 Deubler, Konrad 90, 94-95, 98-99, 171-176, 178, 192-193, 196, 442 Dickens, Charles 108, 165 Dilthey, Wilhelm 44 Diogenes 134 Dittrich, Carl Friedrich 94 Doblhoff-Dier, Josef v. 94 Dodel-Port, Arnold 81,90, 165, 173, 175, 186, 193, 196, 204, 382, 433 Doerpinghaus, Hermann Josef 80 Dohm, Ernst 135 Donen, Franz 93 Doß, Adamv. 133 Dostojewski, Fedor Michailowitsch 408 Dörmann, Felix 296 Dragomirow, Michail Iwanowitsch 462 Dreyer, Max 434 Dreyfus, Alfred 472 Driesch, Hans 310, 330 Droysen, Johann Gustav 45 Du Bois-Reymond, Emil 35, 45, 102 Dubois, Eugen 413 DuMont, Emmerich 94, 99, 134 E Ebner-Eschenbach, Marie v. 197-198, 224, 402, 419, 442, 459 Eckstein, Emma 442

Eckstein, Friedrich 86, 365 Eckstein-Diener, Bertha 365 Eisele, Ulf 322 Ekstein, Modris 454 Elias, Norbert 366 Ellis, Havelock 386 Engels, Friedrich 167, 170-171, 184, 186, 188, 195, 197, 261 Erckmann, Emile 165 Erdheim, Mario 299 Erikson, Erik H. 306 Esqueviliey, Victor d' 94 F Fabre, Jean-Henri 152 Falkenhayn, Julius Graf 250 Fauchet, Claude 411 Felder, Cajetan 97 Fellner, Stephan Karl 430 Feuerbach, Anselm 172 Feuerbach, Ludwig 128, 168, 171-172, 174, 176, 184, 204, 268, 348, 417, 425 Fischer, Samuel 365 Fitger, Arthur 91, 399 Fliedl, Konstanze 26 Foch, Ferdinand 453 Fontane, Theodor 128, 209 Franceschini, Robert 354-355 Franklin, Benjamin 176 Franz Ferdinand, Ehg. v. Österreich-Este 355 Franzos, Karl Emil 141 Frauenfeld, Georg 98 Freiligrath, Ferdinand 165 Freud, Sigmund 9, 60, 86, 100-106, 242, 245-246, 291, 299-300, 313, 328, 332, 334-335, 342, 349-350, 445, 483, 487 Freytag, Gustav 51, 128 Fried, Alfred Hermann 461,463 Friedjung, Heinrich 48

552

Personenregister

Frisch, Albert 390 Frye, Northrop 145 Fuchs, Albert 14

Grimm, Jacob 52, 54, 59 Groeger, Franz 94 Groh, Dieter 166, 171 Groller, Balduin (d. i. Adalbert Gold-

G Gagern, Carlos v. 93 Gall, Franz Josef 223 Galton, Francis 259, 445 Ganghofer, Ludwig 74 Gautsch v. Frankenthurn, Paul 433 Geiser, Bruno 175 George, Stefan 48, 313 Geßner, Salomon 198 Gilman, Sander L. 349,385 Glasenapp, Gabriele v. 110,118 Glatz, Friedrich 436 Gobineau, Joseph Arthur Comte de 337, 460

scheider) 492 Grün, Karl 172,425 Grunow, Albert 93, 96 Guldan, Georg Anton 94 Gumplowicz, Ludwig 462, 487-488 Gutzkow, Karl 177

Goethe, Johann Wolfgang v. 47, 50, 60, 69-70, 105, 113-114, 138, 158, 162, 177, 207, 338, 361, 396, 407-408, 437-438 Gogol, Nikolai 128 Gold, Alfred 344, 345 Goldbaum, Wilhelm 119 Goldberg, Jonathan 320 Goldmann, Richard 359 Goldscheid, Richard 331,338,430 Goltz, Bogumil 124 Goltz, Colmar v. d. 453, 482 Goluchowski, Agenor Graf v. 33 Gomperz, Theodor 58, 341-342 Gomperz, Heinrich 342 Goncourt, Edmond 198 Goncourt, Jules 198 Goodman, Nelson 283 Gottschall, Rudolf 145, 154-155 Gravier 352, 355 Griesinger, Wilhelm 103 Grillparzer, Franz 44, 47, 51

H Haeckel, Agnes 77 Haeckel, Ernst 9-11, 13, 19, 21, 25, 27, 29, 33-34, 40, 43, 45, 54-55, 59-62, 68-69, 71-85, 87, 89-90, 92, 94-95, 98-99, 102, 104-106, 113-116, 124, 133, 142-144, 152-153, 163-166, 168-170, 172-173, 177, 180, 183-184, 204-205, 207-208, 260-261, 273-275, 277, 291, 293-294, 305, 310, 330-332, 338, 361, 380, 382, 384-385, 396-400, 402, 405-406, 409, 411, 413-414, 416-417, 421-427, 432, 434-446, 462, 467, 487, 493-494 Haecker, Valtentin 259 Hagenbeck, Carl 360-361, 391, 395 Hainisch, Marianne 478 Hainisch, Michael 305, 442 Hamerling, Robert 135, 246, 250, 402, 406-408, 419 Hann, Julius 429 Hannak, Emanuel 429 Harden, Maximilian 399 Hardy, Thomas 331 Härtel, Wilhelm v. 63 Hartmann, Eduard v. 36, 92 Hartmann, Ludo Moritz 256, 442 Hatschek, Berthold 74-75, 430 Hauer, Franz v. 84

553

Personenregister Haupt, Moriz 68, 45

Hofmannsthal, Hugo v. 224, 291,

Hauptmann, Gerhart 198, 211, 255, 379

294-297, 299, 301-302, 304-305, 317,

Haushofer, Max 479

326, 389

Hausner, Joseph 94-95

Hohenwart, Karl Sigmund Graf 62

Hawkins, Benjamin Waterhouse 415

Holbach, Paul Thiiy d' 176, 370

Haym, Rudolf 133-134

Holek, Wenzel 169

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 54, 138,

Holitscher, Anna 382, 390

403

Holtei, Karl v. 59

Heine, Heinrich 112, 165

Holz, Arno 198,272

Heinzel, Richard 48, 57-58, 61, 63,

Holzinger, Joseph B. 38, 94, 96-97, 116

65-66, 69, 245

Homer 403

Heinzen, Carl 174

Horawitz, Adalbert 63

Helfert, Joseph Alexander v. 32

Hölderlin, Friedrich 84

Heller, Carl-Bartholomäus 80, 93, 96

Humboldt, Alexander v. 124, 436

Heller v. Hellwald, Friedrich 58, 125,

Huxley, Aldous 361

142, 172

Huxley, Thomas Heniy 186, 414

Helmholtz, Hermann 45, 92

Huysmans, Joris-Karl 303

Helvetius, Claude-Adrien 370

Hynais, Vojtech 375

Hensen, Victor 439

Hyrtl, Joseph 32, 34-36, 396, 432

Herbart, Johann Friedrich 424 Herder, Johann Gottfried 70

I/J

Hering, Ewald 332, 338-359

Ibsen, Henrik 198-199,205,209-210,

Hertwig, Oscar 144

212, 214, 221-222, 244, 303

Hertzka, Theodor 75, 479

Ihering, Rudolf v. 67

Herwegh, Georg 165

Jacobsen, Jens Peter 327-328

Herz, Norbert 429-430

Jacoby, Leopold 184

Herzl, Theodor 119, 254, 300, 337, 342,

Jäger, Gustav 32-33, 359, 369

355, 363, 366-368, 380-381, 383, 385-

Jeismann, Michael 71

386, 394, 479

Jeitteles, Ludwig Heinrich 93, 96

Hevesi, Ludwig 474

Jerusalem, Wilhelm 291,430

Heym, Georg 480

Jodl, Friedrich 291, 293-294, 400,

Heyse, Paul 121-122, 131, 146, 188, 190

442-443, 492

Hilferding, Rudolf 459, 491

John, Franz v. 451

Hirschfeld, Magnus 315-317, 592

Jökai, Mör 465

His, Wilhelm 49

Jordan, Wilhelm 40-41,405,418

Hitler, Adolf 451

Joseph II., römisch-deutscher Kaiser 363

Hobbes, Thomas 161

Jung, Carl Gustav 316

Hochstetter, Ferdinand v. 93, 429 Hofmann, Alois 337, 341 Hofmann, F. G. 94

554 K Kafka, Franz 495 Kaiser, Max 26 Kaiser, Dagmar 10 Kaltenegger, Mathias 432 Kammerer, Paul 11,75,289-290,292, 294, 530-331, 338-339, 349-350, 429, 483 Kant, Immanuel 292, 294 Karl, Franz Joseph, Kaiser v. Österreich, König v. Ungarn 456 Kassowitz, Max 292, 342 Katharina, Kaiserin v. Rußland 155 Kaufmann, Josef 94, 96-97 Kautsky, Karl 22, 165-197, 295, 305, 429, 461 Kautsky, Minna 22, 25, 99, 165-197, 200, 224, 296, 363, 421, 439 Keller, Gottfried 124, 128, 258, 347-348 Kempen, Johann Franz v. 32 Kepler, Johannes 457 Kerchnawe, Hugo 480 Kerschbaumer, Marie-Thérèse 467 Kietaibl 295 Kfanska, Maria 112 Kleibel 84 Klopstock, Friedrich Gottlieb 277 Knapp, Gerhard P. 422 Knauer, Friedrich 358 Knauer, Vinzenz 40, 80, 88 Kner, Rudolf 74 Knight, Charles 415 Koestler, Arthur 350 Kohtz, Harald 300 Kokoschka, Oskar 290 Kolk, Rainer 46 Kolkenbrock-Netz, Jutta 69 Kopernikus, Nikolaus 101-102, 457 Korsch, Karl 166 Koschorke, Albrecht 132,135

Personenregister Körner, Theodor 464 Krafit-Ebing, Richard 164,291,304-307, 313, 316-317, 343 Kranewitter, Franz 262-264 Kraßnigg, Johann 430 Kraus, Karl 378, 391 Rrauße, Erika 25 Krauss, Hermann 94 Krauß-Theim, Barbara 10 Kropotkin, Petr A. Fürst 186, 339, 461 Kuderna, Béla 465 Kudlich, Hans 174 Küffner, Karl 94 Kuhn v. Kuhnenfeld, Franz 451 Kuhn, Thomas S. 15 Kürnberger, Ferdinand 41-42, 66, 122, 124, 134-136, 138-139, 147, 403-404 Kurz, Hermann 121 L La Beche, Henry de 414-415 Lachmann, Carl 45, 59 La Condamine, Charles Marie de 370 Lamarck, Jean-Baptiste de 60, 69, 102, 124, 207, 291, 335, 342, 362, 429, 437 La Mettrie, Julien Offray de 161 Lammasch, Heinrich 432 Lang, Marie 442 Langlois, Hippolite 453 Lanner, Hugo 94-96 Lapouge, Georges Vacher de 258 Lassalle, Ferdinand 174, 177, 192, 195 Last, Albert 188 Laßwitz, Kurd 479 Latzke, Rudolf 228 Lavater, Johann Caspar 223 Lazarus, Moritz 83, 340 Lecher, Zacharias Konrad 84, 278 Leibniz, Gottfried Wilhelm v. 130,146, 161

555

Personenregister Lemmermayer, Fritz 396 Le Monnier, Franz v. 94 Lenau, Nikolaus (d. i. Nikolaus Franz Niembsch v. Strehlenau) 42, 416 Leon, N. 436 Leopardi, Giacomo 301 Lepenies, Wolf 160, 380 Le Rider, Jacques 334 Lessing, Gotthold Ephraim 44, 50, 177 Letourneau, Charles 205 Lewinsky, Joseph 40 Lieben, Adolf 67 Liebenwein, Maximilian 430 Liebig, Justus 45, 376 Liebknecht, Karl 174 Liechtenstein, Prinz Alois v. 179, 460 Lingg, Hermann 418 Link, Jürgen 17, 154, 385 Linné, Carl v. 53, 359 List, Guido 396 Liszt, Franz 182 Lombroso, Cesare 116,223,291,300, 306-307 Loos, Adolf 291 Lorenz, Konrad 292 Lorenz, Ottokar 47, 63-65, 73, 258 Lorm, Hieronymus (d. i. Heinrich Landesmann) 35, 118 Lucas, Prosper 205, 207 Lueger, Karl 363, 431-432, 459-460 Luschan, Felix v. 369 Lyell, Charles 437 M Maar, Michael 314 Mach, Ernst 292-294, 332, 336, 338, 429, 442, 492 Magnan, Valentin 304 Mahler, Gustav 289 Mahler-Werfel, Alma 289

Mahomed 155 Makart, Hans 474 Malthus, Thomas Robert 57 Mandelstamm, Emanuel 341 Mann, Thomas 299-300 Mantegazza, Paolo 125, 183 Marenzeller, Emil v. 93, 95, 98 Marlitt, Eugenie 181, 183 Marx, Karl 167-168, 170-171, 193, 195, 202, 241, 467 Mataja, Emilie (Ps. Emil Marriot) 138, 223, 442 Mattenklott, Gert 299 Max, Gabriel 413 Mayr, Ernst 28, 143 Mayreder, Rosa 160, 442, 461 Meisel-Heß, Grete 160 Meißner, Alfred 35 Mendel, Gregor 38, 259, 329 Mendelssohn, Moses 118 Mengden, Nikolai Alexandrowitsch 273 Menger, Max 58, 63 Messer, Max 376, 380, 389 Meyer, Richard M. 210 Meyerbeer, Giacomo 303 Meynert, Hermann 291 Meysenbug, Malwida v. 196 Mieses, Fabius 119 Mieses, Isaak 109-113,118-119 Mill, John Stuart 467 Milow, Stefan (d. i. Stefan v. Millenkowitsch) 94, 133, 257 Mitterer, Felix 390 Moleschott, Jakob 38, 128, 138, 433 Moltke, Hellmuth Graf 62, 462, 465, 480 Monod, Jacques 465 Morel, Benedict Atigustin 262, 304 Morton, Lord 206 Moses 42, 114, 437

556 Most, Johann 174,201 Much, Matthäus 58 Much, Rudolf 58 Mühlbach, Ernst 209 MüUenhoff, Karl 45-47, 49, 68 Müller, Carl 89 Müller, Hermann 454 Müller, Johannes 45, 59, 105, 260 Müller, Robert 495 Müller-Guttenbrunn, Adam 199, 205-207,213, 251,234, 237 Müllner, Laurenz 147, 154, 396, 424, 446 N Nabl, Franz 200, 265-270 Nadler, Josef 65, 245 Napoleon I. Bonaparte 122 Necker, Moritz 278 Nero 406 Neumayer, Melchior 94 Newton, Isaac 70, 457 Nietzsche, Friedrich 268, 294, 349, 404, 421, 440, 443 Noe, Franz 428 Nordau, Anna 343 Nordau, Max 223, 244, 272, 276, 300, 343-345, 469, 472 Nordau, Maxa 343 Nothnagel, Hermann 460 Nowikow, Jakob 461 Noyes, John K. 117 Nussbaumer, J. 93 O O'Pecko, Michael T. 156 Oberwinder, Heinrich 201 Oeser, Erhard 291 Oken, Lorenz 113-114, 118 Orges, Hermann v. 454 Orléans, Heinrich v. 485 Owen, Richard 415

Personenregister P Pablasek, Matthias 93, 95 Paine, Thomas 176 Pap, Julius 319 Pasteur, Louis 377 Peball, Kurt 449 Peirce, Charles Sanders 349 Pelzeln, August v. 33 Pereire, Giacobbo Rodriguez 370 Pernerstorfer, Engelbert 299, 442 Peschel, Oskar 49, 141-142 Pestalozzi, Johann Heinrich 244 Peuker, Paul 473 Pfeiffer, Franz 46 Pichler, Johann 94, 96 Pichler, Adolf 277 Pius IX., Papst 88 Plinius d. Altere, Caius 123 Ploetz, Alfred 211, 331 Plumpe, Gerhard 127 Plundrich, A. 459 Pokorny, Alois 429 Polak, Otto 251 Polenz, Wilhelm v. 252 Popp, Adelheid 192 Popper-Lynkeus, Josef 479 Pörksen, Uwe 144 Pratt, Hodgson 484 Preyer, Wilhelm 84 Proust, Marcel 360 Przibram, Hans Leo 289-290 Q Quatrefages de Breau, Jean Louis Armand de 34 Quetelet, Lambert Adolphe Jacques 34 R Raabe, Wilhelm 128 Rabbinowitz, Hillel 112

557

Personenregister Rabl, Carl 436 Rade, Emil 88-90, 98-99 Radenhausen, Christian 172 Rädl, Emanuel 28 Rahner, Richard 435 Ranke, Leopold v. 64 Ratzenhofer, Gustav 455-457, 481, 487 Rau, Albrecht 175 Rauscher, Joseph Othmar v. 38, 97 Redwitz, Oskar v. 405 Reich, Emil 210, 442 Reichardt, Heinrich Wilhelm 94 Reichenau, Ernst v. 462 Reinke, Johannes 434 Reitlinger, Edmund 140-141 Renan, Ernest 470 Renner, Karl 192, 429-450 Renner, Ursula 298, 303, 306, 509 Richelieu, Armand Jean de Plessis 155 Riehl, Wilhelm Heinrich 120, 124 Rilke, Rainer Maria 355 Riou, Edouard 415 Rodenberg, Julius 135 Rogenhofer, Alois F. 93 Rohlfs, Gerhard Friedrich 92 Rokitansky, Carlv. 58, 116 Rollett, Hermann 42, 63 Rommel, Otto 200, 202 Rosegger, Peter 172-173, 192, 200, 203, 217, 234, 239, 270-288 Ross, Stewart 424 Rossbacher, Karlheinz 199 Roth, Franz 168 Rothschild, Anselm v. 97 Rousseau, Jean-Jacques 155,580,486 Roux, Wilhelm 310,330 Rötzer, Karl 393 Rudolf, Franz Karl Josef, Ehg. v. Österreich, Kronzprinz 77, 376 Rullmann, Wilhelm 291

S Saar, Ferdinand v. 13, 25, 125, 133, 234, 237, 257, 347-548, 402, 442, 452 Sacher-Masoch, Leopold v. 13,18, 21-22, 108-164, 235, 271, 396, 408, 415, 435, 495 Saiten, Felix 296, 355, 395 Salus, Hugo 564 Sand, George 165 Saphir, Moritz Gottlieb 176 Sauer, August 64 Schack, Adolf Friedrich v. 129, 418 Schallmayer, Wilhelm 331 Schandl, Hermine 392 Schanz, Pauline 473 Scheffel, Joseph Victor v. 403 Scheible, Hartmut 325, 546 Scherer, Stefan 534, 345 Scherer, Wilhelm 21,42,43-73,246, 299, 546 Scheu, Andreas 201 Schiller, Friedrich 64, 177, 218 Schindler, Franz Martin 452 Schlaf, Johannes 198 Schlegel, Friedrich 54 Schleicher, August 56-57, 67 Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel 44 Schlesinger, Friedrich 391 Schließen, Alfred v. 480 Schlögl, Friedrich 174-175, 217-218, 228 Schmerling, Anton v. 35 Schmidt, Erich 50, 59-61, 66, 84, 198, 245, 250 Schmidt, Heinrich 175 Schmidt, Julian 126 Schmidt, Oscar (Eduard) 56-58, 50, 59-62, 65, 73, 75, 78, 102, 184, 277, 444 Schneider, Max 141

558 Schnitzler, Arthur 292, 294-296, 306, 321, 323, 335-336, 345-346, 364, 376, 392, 394, 402, 451, 492 Schopenhauer, Arthur 125, 129-130, 133-135, 138-140, 149, 154, 156, 237, 280, 282, 294, 409-410, 484 Schönbach, Anton E. 53, 63, 84 Schönerer, Georg v. 77, 179, 252, 255, 299, 460 Schönherr, Karl 265 Schubert, Gotthilf Heinrich 415 Schultze, Oscar 310 Schulze, Franz Eilhard 74, 94 Schwarzenberg, Friedrich (Johann Josef Cölestin) 179 Schwarzkopf, Gustav 326 Seefranz, Catrin 26 Seidlitz, Georg 89 Seitz, Karl 442 Semon, Richard 338-339 Sengle, Friedrich 198 Serres, Etienne 379 Seume, Johann Gottfried 177 Shakespeare, William 84, 106, 123, 176, 216, 361, 408 Sickel, Theodor 64 Slamecka, Erwin 302 Smiles, Samuel 458 Smith, Adam 134 Sonnleitner, Johann 26 Sophie, Ehgn. v. Österreich 176 Spemann, Hans 310 Spencer, Herbert 142, 186, 444, 467, 491 Spicer, Mavro 465 Spiecker, Curt 443 Spiegier, Heinrich 168 Spielhagen, Friedrich 126, 131 Spinnen, Burkhard 377-378 Spinoza, Baruch 362 Spitzer, Daniel 41

Personenregister Spitzer, Hugo 80, 291 Stadion, Emmerich Graf 138 Stadler, Friedrich 24, 434 Stauracz, Franz 432 Steenstrup, Johann J. Smith 34 Steinbach, Emil 489 Steiner, Rudolf 396, 408, 422, 445 Steinmetz, Rudolf 459 Steinmeyer, Elias v. 68 Steinthal, Heymann 340 Steinwand, Fercher v. (d. i. Johann Kleinfercher) 396 Stekel, Wilhelm 392 Stifter, Adalbert 127-128, 328 Stoker, Bram 223 Stolberg, Friedrich Leopold Graf 277 Storni, Theodor 120, 128 Strauß, David Friedrich 142 Stremayr, Karl v. 59, 61-62, 66 Stricker, Samuel 342 Struve, Gustav 172 Sueß, Eduard 32-33, 58, 61, 63, 84, 97, 442 Sueti, Friedrich 175 Sulloway, Frank J. 335 Suttner, Arthin- Gundaccar v. 394, 478 Suttner, Bertha v. 13, 24, 31, 99, 296, 331, 443, 448-492 Svoboda, Adalbert 285, 424 T Taaffe, Eduard Graf 179 Taine, Hippolyte 205 Tandler, Julius 442 Te Velde, Henk 458 Thome, Horst 163 Thompson, Edward P. 278 Thun, Leo Graf 97 Tille, Alexander 222, 396, 399, 400-403, 421, 443-445

559

Personenregister Timms, Edward 289

Weinhold, Karl 59, 67

Tobler, Georg Christoph 60, 568

Weininger, Otto 500,515

Tolstoi, Lew N. 461,466,475,475

Weisbach, Augustin 94

Tomaschek, Karl 59, 65-64

Weismann, August 207, 259, 292,

Troll-Borostyäni, Irma v. 160, 443

528-552, 555, 559, 541-542, 581, 444

Turgenjew, Iwan 125, 128, 146-147

Wells, Herbert George 479-480

Türk, Karl 252

Wereschtschagin, Wassilij 187,475-474

Tylor, Edward Burnett 585

Wessely, Wilhelm 392 Wettstein, Richard v. 86, 291, 328, 350, 342, 442

U Uexküll, Jakob v. 359

Weyl, Josef 84

Uhland, Ludwig 84

Wezel, Johann Karl 161

Unger, Franz 58-59, 45, 53

Wieland, Christoph Martin 155-156 Wiesner, Julius v. 86, 94, 337

V

Wilberforce, Samuel 414

Verne, Jules 415

Wilbrandt, Adolf 84, 315

Vico, Giambattista 485

Wilde, Oscar 306, 517, 520

Viebig, Clara 141

Wildgans, Anton 485

Virchow, Rudolf 58, 69, 166, 170,

Wilhelm II., deutscher Kaiser 475

260-261, 277, 290, 556, 562, 452, 444

Wilson, Scott 520

Vischer, Friedrich Theodor 149

Williams, Raymond 17

Vogt, Karl 12, 34-35, 58-45, 80, 74-75,

Woldrich, Johann Nepomuk 167, 295

85-88, 116, 125, 169, 172, 275, 285,

Wolf, Gereon 95

425, 455

Wolf, Heinrich 95, 98

Voltaire (d. i. François-Marie Arouet) 150 Vorberg, Gaston 592

Woltmann, Ludwig 255, 258 Wunberg, Gotthart 296, 504 Wurzbach v. Tannenberg, Constant 58

Vrchlicky, Jaroslav 465

Wyss, Ulrich 47

W

Z

Wagner, Adolph 49

Zacharias, Otto 125

Wagner, Karl 26

Zadek, Julie 179

Wagner, Rudolph 54-55

Zederbaum, Alexander 112

Wallace, Alfred Rüssel 101, 125,255

Zelenka, Franz 450

Wallaschek, Richard 385

Ziller, Thuiskon 425

Walther von der Vogelweide 51, 84

Zimmermann, Peter 258, 288

Walther, Rudolf 194

Zimmermann, Ludwig Richard 174

Walzel, Oskar 169, 290

Zintzen, Christiane 26

Wasmann, Erich 81 Weingart, Peter 15

560 Zola, Emile 198, 205, 212, 238, 240-244, 254-255, 257, 265, 271-272, 282-283, 327, 332, 397, 470 Zolling, Theophil 240 Zollschan, Ignaz 339-340 Zöllner, Erich 64 Zuckerkandl, Berta 442 Zuckerkandl, Emil 342 Zweig, Stefan 494 Nicht aufgenommen wurden Namen in bibliographischen Nachweisen und Charles Darwin

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