Corona – Rechtspolitik im zweiten Jahr [1 ed.] 9783428587476, 9783428187478

In diesen Wochen bereitet sich Deutschland auf einen neuen Corona-Herbst und -Winter vor. Recht und Politik hat in einem

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Corona – Rechtspolitik im zweiten Jahr [1 ed.]
 9783428587476, 9783428187478

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Recht und Politik

Beiheft 10

Zeitschrift für deutsche und europäische Rechtspolitik

Corona – Rechtspolitik im zweiten Jahr Herausgegeben von Hans Peter Bull, Robert Chr. van Ooyen und Hendrik Wassermann

Duncker & Humblot · Berlin

Corona – Rechtspolitik im zweiten Jahr

Recht und Politik Zeitschrift für deutsche und europäische Rechtspolitik

Begründet von Dr. jur. h. c. Rudolf Wassermann (1925–2008) Redaktion: Hendrik Wassermann (verantwortlich) Heiko Holste Robert Chr. van Ooyen

Beiheft 10

Corona – Rechtspolitik im zweiten Jahr

Herausgegeben von Hans Peter Bull Robert Chr. van Ooyen Hendrik Wassermann

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI Books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 2567-0603 ISBN 978-3-428-18747-8 (Print) ISBN 978-3-428-58747-6 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Corona und der Herbst 2022

In diesen Wochen bereitet sich Deutschland auf einen neuen Corona-Herbst und -Winter vor. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat bereits im Frühjahr 2022 weitreichende Maßnahmen angekündigt, und es ist davon auszugehen, dass es auch in diesem Jahr wieder zu Grundrechtseinschränkungen kommen wird. Recht und Politik hat in den vergangenen beiden von Corona geprägten Jahren die staatlichen Maßnahmen rechtspolitisch aufmerksam begleitet und frühzeitig zu weitreichenden staatlichen Grundrechtseingriffen kritisch Stellung bezogen. Im Rahmen unserer Berichterstattung mussten wir feststellen, dass das 1. Corona-Jahr anfänglich von einem weitgehenden Versagen parlamentarischer und rechtsstaatlicher „checks and balances“ geprägt war, die in einer freiheitlichen Demokratie, die ihren Bürgerinnen und Bürgern grundlegende Gleichheits- und Freiheitsrechte garantiert, in der DNA von Politik, Justiz, Medien und Gesellschaft implementiert sein sollten. Stattdessen wurden weitreichende Grundrechtseinschränkungen in Kraft gesetzt, von Juristen und Juristinnen erarbeitet, deren rechtsstaatliche Sensibilität und rechtspolitische Prägung außerhalb jeden Zweifels stehen sollte. Liberale Juristen und Politologen erhoben gegen diesen „Rundumschlag“ ihre Stimmen, zu einem Gutteil in dieser Zeitschrift. Und auch im vergangenen Jahr setzten sich die massiven Grundrechtseingriffe fort. Grund genug für Recht und Politik, das zweite Corona-Jahr rechtspolitisch Revue passieren zu lassen. Im Gegensatz zum ersten Corona-Jahr mehrten sich 2020/21 die kritischen Stimmen in Justiz und Parlamenten, die eine übergriffige Exekutive an ihre rechtsstaatlichen Grenzen erinnerten. Wenn dies auch nicht immer erfolgreich und gelegentlich zu zaghaft war, bleibt doch festzuhalten, dass die liberalen Stimmen, die angesichts stellenweise willkürlich festgelegter Inzidenzen, großzügig bemessener Bedarfe der Exekutiven und einer „4.“ Gewalt, die ausgerechnet bei den öffentlichrechtlichen Medien allzu unkritisch Zahlen des Robert-Koch-Instituts übernahm und abweichende Meinungen negierte, an Boden gewannen.

Recht und Politik, Beiheft 10 (2022), 5 – 6

Duncker & Humblot, Berlin

Vorwort

Herbst und Winter 2022/23 im dritten Corona-Jahr stehen vor der Tür. Die Herausgeber wünschen der Exekutive Augenmaß und Selbstkritik, den Parlamenten Rückgrat und Selbstvertrauen, der Justiz Selbstsicherheit und Besinnung auf ihre ureigenste Rolle als rechtsstaatlicher Entscheider. Hamburg und Berlin, im Herbst 2022 Hans Peter Bull, Robert Chr. van Ooyen, Hendrik Wassermann

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Recht und Politik, Beiheft 10

Inhalt Die Parlamente sind zurück – von wo? Wolfgang Zeh Freiheitsbegriff, Staatsverständnis und politische Ethik im Wandel. Das Beispiel der Diskussion über eine gesetzliche Impfpflicht Hans Peter Bull

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Impfpflichten nach der Karlsruher Entscheidung zur Nachweispflicht (§ 20a IfSchG) Johannes Lichdi

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Allgemeine Impfpflicht: Chronik einer Absage Yannik Hofmann

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Demokratie perdu? Fünf verfassungsrechtliche Anmerkungen zur gegenwärtigen Corona-Krise Anna-Bettina Kaiser

71

Die COVID-19-Pandemie – experimentelles Handeln unter Ungewissheitsbedingungen. Rechtliche und rechtspolitische Herausforderungen Karl-Heinz Ladeur

80

Bundesnotbremse – das Bundesverfassungsgericht bleibt „etatistisch“: Neue Grundrechte, weniger Freiheit und eine „Kontrollinszenierung“? Martin H. W. Möllers und Robert Chr. van Ooyen

100

Beweislastumkehr und Verfassungsrecht. Zum Homeoffice-Angebot des Arbeitgebers in der Pandemie Anna Leisner-Egensperger

116

Datenschutz in Zeiten der Coronabekämpfung – zum Umgang mit dem Impfstatus Felix Hermonies

135

Keine Frage eines Privilegs – zum Umgang mit Geimpften Johannes Fechner

141

Handlungsfähigkeit des Föderalismus in der Pandemie. Überlegungen zur Kompetenzverteilung anlässlich der ,Bundesnotbremse‘ Nathalie Behnke

146

Notstandsföderalismus. Ausgewählte verfassungsrechtliche Regelungen der Bundesländer im Notstandsfall Matthias Lemke

158

Eine verfassungskonforme (Impf‐)Schererei: Zur Einführung des französischen Impfpasses im Konkreten und dem Rechtsprechungsparadox des Verfassungsrats im Allgemeinen Sarah Geiger

168

Krisendemokratie. Österreichbericht Tamara Ehs

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Mehr Europa? Kriterien für eine Kompetenzübertragung auf die Europäische Union am Beispiel der Gesundheitspolitik und der COVID 19-Pandemie Christian Calliess

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Autorinnen und Autoren

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Recht und Politik, Beiheft 10

Die Parlamente sind zurück – von wo? Von Wolfgang Zeh

I. Vom Ausnahmezustand zum Gesetzesvorbehalt Nach zwei Jahren Pandemie, Pandemiepolitik und Pandemieverwaltung hat der Bundesgesetzgeber das Infektionsschutzgesetz (IfSG) zum fünften Mal novelliert, in der aktuellen Version nunmehr unter Einbeziehung der Landesparlamente1. Damit bietet sich eine Zwischenbilanz der Rolle an, welche die Parlamente in der staatlichen Auseinandersetzung mit der pandemischen Covid-19-Erkrankung gespielt haben. Sie waren in der Phase anfänglicher Panik nicht in Erscheinung getreten, von der Öffentlichkeit aber auch nicht vermisst worden. Man fühlte sich im Belagerungszustand, die Rede war von einem „Krieg“ gegen die Pandemie, monatelang begannen die abendlichen Fernsehnachrichten mit einem überdimensionierten gelbroten Bildnis des stachelbewehrten „Virus“. Aller Augen waren auf die Exekutive gerichtet, die sich mit kraftvollem Handeln zu profilieren suchte und von der das, bei achtzigprozentiger Zustimmung zu den exekutiven Maßnahmen in Meinungsumfragen, offensichtlich auch erwartet wurde. Das hat sich geändert, in der breiten Öffentlichkeit spätestens dann, als das Ausmaß der Einschränkungen von Beruf, Gewerbe, Schulbesuch, Kultur, Bewegungsfreiheit und weiterer Betätigungsrechte allgemein bewusst geworden war. Frühere Einwendungen gegen die „Stunde der Exekutive“ hatten noch mit der Unterstellung zu rechnen, wer jetzt Zweifel äußere, nehme den Tod unzähliger Mitmenschen in Kauf. In der verfassungsrechtlichen Fachdebatte setzte eine intensive Diskussion ein um die Rechtfertigung der administrativen Maßnahmen, um ihre Abwägung mit den Grundrechten, um 1

Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und anderer Vorschriften vom 18. März 2022, BGBl. I Nr. 10 v. 18. 03. 2022, mit Neufassung von § 28 a Abs. 8, der das „Parlament des betroffenen Landes“ unter bestimmten Voraussetzungen zu der Feststellung ermächtigt, dass über die in Absatz 7 verbliebenen Maßnahmen hinaus weitere Schutzvorkehrungen für eine Gebietskörperschaft erforderlich sind. Im Folgenden steht der Bundestag im Mittelpunkt der Betrachtung, zumal die Landesparlamente erst mit der jüngsten Novellierung in die vorgesehene Regelungsbefugnis einrücken. Sie können daher nicht „zurück“ sein, sondern sind nun qua Bundesrecht stärker präsent. Die Normsetzung für die Landesebene geschah bisher durch Verordnungsermächtigung an die Regierungen (Art. 80 Abs. 1 GG), ohne dass die Landesparlamente sich dazu entschlossen haben, die Regelungsbefugnis im Wege des Art. 80 Abs. 4 GG an sich zu ziehen.

Recht und Politik, Beiheft 10 (2022), 9 – 25

Duncker & Humblot, Berlin

Wolfgang Zeh

ihre Erforderlichkeit und Angemessenheit sowie um grundsätzliche Fragen von Rechtsstaat, Gewaltenteilung und die demokratische Legitimation staatlichen Handelns. Dabei richtete sich der Blick, ein anfangs vergeblich suchender Blick, auf die Rolle der Parlamente, zunächst in der verfassungsrechtlichen Debatte und dann auch im Bundestag2. Die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte und seit langem regelmäßig bestätigte „Wesentlichkeitstheorie“, der zufolge die für die Bürger bedeutenden staatlichen Entscheidungen vom Parlament (selbst) getroffen werden müssen, insbesondere damit eine öffentliche Debatte unter Einbeziehung aller politischen Kräfte gewährleistet ist3, wurde schließlich zum Leitmotiv einer allgemeinen Forderung nach parlamentarischer Befassung mit der Pandemiepolitik. Die Beurteilung der exekutiven Pandemiepolitik war in dem Maße differenzierter, in der Folge aber auch kritischer und teilweise aggressiver geworden, als die von der Bundesregierung aufgrund virologischer Beratung vorgegebenen, von der Konferenz der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin ausgehandelten und von den Verwaltungen der Länder umgesetzten Maßnahmen nicht mehr ohne weiteres einleuchteten. Von einer Übernahme der wesentlichen Regelungsaufgaben durch den Bundestag wurden systematische Ordnung, verbindliche Orientierung und rechtsstaatliche Klarstellung erhofft.

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Für einen Überblick über die sehr umfangreich gewordene Fachdiskussion wird verwiesen auf die in den Jahren 2020, 2021 und 2022 erschienenen jeweils vier Hefte der Zeitschrift Recht und Politik (RuP), die in einem regelmäßigen „Schwerpunkt Corona-Pandemie“ die Debatte, die Gesetzgebung und die Rechtsprechung in jeweils mehreren Beiträgen begleiteten und kommentierten, Anfang 2021 nochmals zusammengefasst und erweitert in einem „Beiheft 7: Corona und Grundgesetz“. Zur anfänglichen Abwesenheit der Parlamente vgl. z. B. Möllers, Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei Freiheitsbeschränkungen infolge der Coronavirus SARS CoV-2 Pandemie, RuP Beiheft 7, S. 86 ff., S. 107: „Der Deutsche Bundestag und die Länderparlamente fallen….als Kontrollinstanzen aus…“, sowie Lepsius, Grundrechtsschutz in der Corona-Pandemie, ebd. S. 40 ff., S. 46: „Durch Covid-19 ist in der Bundesrepublik seit März 2020 eine Parallelrechtsordnung entstanden“. Nachdem im Bundestag wachsendes Unwohlsein über seine Rolle aufgetreten war (vgl. z. B. der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU Brinkhaus, „So geht das nicht“, Spiegel online v. 23. 04. 2020), wandte Bundestagspräsident Schäuble sich an die Fraktionen mit der Klarstellung, der Gesetzgeber habe wesentliche Entscheidungen selbst zu treffen und sie nicht der Verwaltung zu überlassen (zit. in Handelsblatt v. 21. 10. 2020, Onlineausgabe). Vgl. z. B. BVerfGE 49, 89; 77, 170; 98, 218, und erneut 150, 1, darin Rn. 192 ff.: „In der Ordnung des Grundgesetzes trifft die grundlegenden Entscheidungen das vom Volk gewählte Parlament … Damit soll gewährleistet werden, dass Entscheidungen von besonderer Tragweite aus einem Verfahren hervorgehen, das … die Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären …. und das die Beteiligung der parlamentarischen Opposition gewährleistet“. Recht und Politik, Beiheft 10

Die Parlamente sind zurück – von wo?

II. Zur gesellschaftlichen Bedeutung der Parlamentarisierung Mit den dann schnell aufeinander folgenden Fortschreibungen des Infektionsschutzgesetzes, der (Selbst)Ermächtigung des Bundestages zur Feststellung (und gegebenenfalls Aufhebung) einer pandemischen Lage „von nationaler Tragweite“ in § 5 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG nebst dem Kriterienkatalog in § 28a IfSG, und nicht zuletzt mit den massiven haushaltsgesetzlichen Vorkehrungen zur Bewältigung der Pandemiefolgen hat das Parlament wichtige Schritte vollzogen, um seine verfassungssystematische Rolle in der Normsetzung zurückzugewinnen. Mit der jüngsten Novellierung gilt das auch für die Parlamentsbeteiligung in den Bundesländern – sogleich von Landesregierungen als umständlich und überflüssig kritisiert – für den Fall, dass in einer Gebietskörperschaft die virologisch definierten Kennzahlen und die Belastung des Gesundheitswesens trotz den in § 28a Abs. 7 IfSG nunmehr reduzierten Vorkehrungen außergewöhnlich ansteigen („Hotspot“) und daher zusätzliche Maßnahmen – allgemeine Masken- und Abstandspflicht , Impf-, Genesungs- und Testnachweispflicht – ergriffen werden sollen. Dies setzt dann eine entsprechende Feststellung durch das Parlament des Landes voraus, die nach drei Monaten außer Kraft tritt, wenn das Landesparlament sie nicht wiederholt bzw. erneuert4. Der gesetzgeberische Aktivismus hat indessen nichts daran ändern können, dass die anfangs breite Akzeptanz der Pandemiepolitik im Publikum abgenommen hat und dass das allerorts vermisste „Vertrauen“ in die staatliche Handlungskompetenz und in die Krisenfestigkeit der repräsentativen Demokratie nicht gewachsen ist. Dafür kann es viele Ursachen geben, auch solche, die nicht in der Pandemie und ihrer politischadministrativen Bearbeitung liegen oder die ihr vorausliegen. Zu untersuchen sind sie indessen darauf, ob die Art und Weise der parlamentarischen Aufgabenwahrnehmung einen Zusammenhang mit ihnen aufweist. Die Frage ist, ob es mit der Gesetzgebungstätigkeit sein Bewenden haben kann, wenn der parlamentarische Beitrag zur Bewältigung der Pandemie und ihrer Folgen in Rede steht. Ist die parlamentarische Herangehensweise etwa mit ursächlich, oder anders gefragt, warum hat sie so wenig ändern können an einer so noch nicht erlebten Entfremdung zwischen Personen und sozialen Schichten voneinander sowie zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Diskursen im Verlauf der Pandemie? Ist die Aufgabe des Parlaments in dieser Lage ganz verstanden und wahrgenommen worden? Die Frage ist nicht beschränkt auf die aktuelle 4

Die Novellierungen folgten einander mit hoher Frequenz: die erste am 27. 03. 2020 (BGBl. I Nr. 14, S. 587), die nächste am 22. 05. 2020 (BGBl. I Nr. 23, S. 1018), die dritte am 18. 11. 2020 (BGBl. I Nr. 52, S. 2397), die vierte im darauffolgenden Jahr am 22. 04. 2021 (BGBl. I S. 802), und schließlich die bisher letzte am 18. 03. 2022 (BGBl. I Nr. 10, S. 466). Man kann darin eine jedenfalls „nachholende Parlamentarisierung und normative Einhegung der Pandemiemaßnahmen“ sehen, so Mahlmann, Demokratie im Notstand? Rechtliche und epistemische Bedingungen der Krisenresistenz der Demokratie, in: Sondertagung 2021 der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, VVDStRL 80, S. 69 ff., 90; bis dahin habe es an einer „selbstbewussten Behauptung der eigenen Rechte durch die Parlamente … nicht immer, aber immer wieder gefehlt“.

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Bewältigung der Krise. Sie betrifft auch ihre Nach- und Folgewirkung für Grundbedingungen des Zusammenlebens in der repräsentativen Demokratie5.

III. Rechtsnormen als gesellschaftspolitische Therapie? Der Blick auf die fachwissenschaftlichen und die von Verbänden geprägten Debatten einerseits und auf die parlamentarischen Aktivitäten andererseits zeigt bei allen Unterschieden etwas Gemeinsames: die weit überwiegende Beschäftigung mit der administrativen Umsetzbarkeit von Gesetzen und untergesetzlichen Rechtsvorschriften. Die Fachdebatte folgt dem, was an Vorschriften geplant, erlassen und administrativ daraus gemacht wurde, sowie der diesbezüglichen Rechtsprechung. Nach den ersten exekutiven Maßnahmen hatte zwar bald die Frage eingesetzt, wo der parlamentarische Gesetzgeber bleibe, wenn es um tiefgehende und umfassende Einschränkungen von Grund- und Freiheitsrechten gehe – eine sehr berechtigte Frage, nur kommt es darauf an, auf welchen Gebrauch des Gesetzgebungsrechts sie abhebt und welche gesellschaftlichen Ziele sie ihm setzen möchte. Ging und geht es immer nur um „Krisenmanagement“ für Staat und Verwaltung oder auch um die repräsentative Verständigung der pluralistischen Gesellschaft über die Forderungen, die eine ungewisse und verstörende Lage an sie gerichtet hat?6 Nachdem der Bundesgesetzgeber tätig geworden war, verlagerte die Debatte sich auf das Wie der Vorschriften, etwa ob die Ermächtigungsbedingungen nach Art. 80 GG korrekt angewandt wurden, ob die in den Gesetzen verwendeten Begriffe hinreichend bestimmt waren für die Steuerung der Länderexekutiven, ob die tatbestandliche Anknüpfung an virologische Daten allein sachgerecht war, ob der Gesetzgeber die Maßstäbe für die Abwägung von Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit genauer vorgeben sollte, und vieles andere mehr, das hier nicht mehr referiert werden muss7. Das alles war und ist querschnitthaft durchzogen von den verfassungsrechtlichen Streitund Zweifelsfragen um die Rechtfertigung der Grundrechtseinschränkungen. Reflektiert wird ferner, wiederum mit jenen verbunden, die umfangreiche Rechtsprechung 5

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Ein Beispiel extrem negativer Erwartungen für das von der Pandemiepolitik ausgelöste Staatsverständnis in der Zukunft bietet Agamben, An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik, Wien 2021, z. B. S. 38 ff., 87 ff., 130 ff. und passim. Es ist insoweit bezeichnend, dass die in der IfSG-Novelle vom 18. März 2022 vorgesehene Zuständigkeit der Landesparlamente von exekutiver Seite alsbald mit dem Tenor kritisiert wurde, jetzt brauche es auch noch die umständliche Mitwirkung von 16 Landtagen, wenn man weitere Beschränkungsmaßnahmen wieder einführen müsse. Wegen der (neuen) Rolle der Landesparlamente soll aber noch hingewiesen werden auf die informative und zugleich kritische Darstellung von ausnahmerechtlichen Verfassungsbestimmungen in den Bundesländern, die bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit von CoronaMaßnahmen dort zugrunde gelegt werden könnten, bei Lemke, Notstandsföderalismus. Ausgewählte verfassungsrechtliche Regelungen der Bundesländer im Notstandsfall, RuP 1/2021, S. 16 ff.; die vermisste Präsenz der Parlamente liege nicht an „übermächtig gewordenen Regierungen“, sondern an ihrer „Selbstentmachtung“ und „Selbstverzwergung“. Recht und Politik, Beiheft 10

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der Verwaltungsgerichte und die nicht so umfangreiche des Bundesverfassungsgerichts. Neben kritischen Stimmen zur Konzeption der Coronapolitik im Ganzen finden sich detaillierte Auseinandersetzungen mit einzelnen Vorschriften auf einzelnen Feldern in ihren Auswirkungen etwa auf den Schulbetrieb, die gewerbliche Wirtschaft, den Kultursektor u. a.m. Die äußerst umfangreichen, vielschichtigen und informativen Stellungnahmen knüpfen regelmäßig an Zwecksetzung und Tauglichkeit der betreffenden Regelungen an. Sie befassen sich vielfach mit der Wirkungsweise der Normen, auch mit ihren Unzulänglichkeiten, Unterschieden im Vollzug und Nebenwirkungen. Kritische Beurteilungen reichen in die Probleme der Zweck-Mittel-Relation und der mehr oder weniger überzeugenden Abwägung hinein, bleiben dabei aber in der Regel fokussiert auf die erlassenen Vorschriften. Das ist keineswegs falsch oder unangemessen, in gewissem Maße wohl unumgänglich. Es bedeutet aber auch, dass die Behandlung um den administrativen Gehalt und seine Wirkungen kreist. Der Korridor dessen, womit man sich auseinandersetzt, ist weithin vorbestimmt von der Bandbreite, in der der Gesetz- oder Verordnungsgeber sich bewegt hat. Dadurch scheint ein Denken in grundlegenden Alternativen zu den erlassenen Vorschriften seltener nahezuliegen, und schon gar nicht eines, das parlamentarische Aktivitäten außerhalb oder zusätzlich zur Normsetzung in Betracht ziehen könnte. Die Erfahrungen mit den gesellschaftlichen Reaktionen auf die Pandemiepolitik zeigen jedoch, dass von der juristischen und normsetzenden Bearbeitung allein nicht alles das erwartet werden konnte, was von ihr erhofft und ihr zugeschrieben wurde. Die Tatsache, dass der Gesetzgeber in der pandemischen Krisenlage zur eigenen Rechtssetzung zurückgefunden hat, wird als solche begrüßt, ohne dass Ergebnisse und Inhalte der Gesetzgebung deshalb besonders positiv kommentiert würden8. Es gilt als befriedigend, dass das Parlament jedenfalls seine Domäne wieder an sich gezogen hat, nachdem sie vorübergehend von der Exekutive besetzt war, und dass die wesentlichen Vorgaben für die Exekutive wieder im Wege der Gesetzgebung vom Parlament kommen. Insofern scheint das Parlament aus seiner vorübergehenden „Beurlaubung“ zurück zu sein. Um der verfassungsrechtlichen Realität des parlamentarischen Regierungssystems willen muss hier freilich eingeschoben werden, dass die Abwesenheit sich nur – was allerdings bedeutsam ist – auf die öffentliche Wahrnehmung bezieht. Die Parlamente in Gestalt wichtiger Mitglieder waren immer präsent (zumal Regierungsmitglieder in der Regel zugleich gewählte Abgeordnete sind und bleiben). Das durch die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten veranlasste Vorgehen fand politisch nicht im luft8

Als Beispiele für tiefgehende Einwände gegen gesetzgeberische Konzepte und Einzelregelungen trotz grundsätzlicher Billigung der parlamentarischen Übernahme vgl. etwa Ladeur, Die COVID-19-Pandemie – experimentelles Handeln unter Ungewissheitsbedingungen, RuP 2/ 2021, S. 144 ff., und Lichdi, Das Gesetz zur „Bundes-Notbremse“ in der Corona-Pandemie, ebd. S. 169 ff.

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leeren Raum statt, sondern war informell rückgekoppelt mit maßgeblichen parlamentarischen Akteuren, wenn auch nur teilweise. In der Wirklichkeit steht die vom Parlament hervorgebrachte Regierung, zumal in so schwerwiegenden Entscheidungen, im Kontakt mit der sie tragenden Parlamentsmehrheit. Die Bevölkerung hat das durchaus gespürt oder vorausgesetzt; das Vorgehen in der Coronapolitik wurde pauschal „der Koalition“ zugeschrieben. Was fehlte war jedoch der öffentlich wahrnehmbare und nachvollziehbare Diskurs im Parlament, bei dem die Mitwirkung der Opposition essentiell ist, weil eben die informelle koalitionsinterne Abstimmung, ebenso wie die mit den Landesregierungen, eine öffentlich beglaubigte demokratische Legitimation in inhaltlicher Hinsicht nicht ersetzen kann9.

IV. Schranken der Normwirkung in der Krise Die Parlamente sind also zurück oder nun angekommen in der Öffentlichkeit, ihrem angestammten Wirkungsfeld (Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG: „Der Bundestag verhandelt öffentlich.“). Sie sind aus der Nichtöffentlichkeit zurück, aber woher sind sie geistigpolitisch gekommen? Nach der wieder aufgenommenen Arbeitsweise zu urteilen sind sie zurück mit dem seit langem gewohnten Selbstverständnis. Es wurde im Bundestag intensiv getagt, debattiert und legiferiert. Der Bundestag ist augenscheinlich wieder in seinem Element, sich verstehend und sich bemühend als das „besondere Organ der Gesetzgebung“ (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), also auf bekanntem Terrain. Dabei begegnet er einem Problem, vor dem die Gesetzgebung zwar immer steht, das in der Pandemie jedoch in bisher nicht gekannter Weise gesellschaftspolitisch prekär geworden ist. Es handelt sich um die Wirkungssicherheit von Rechtsnormen. Sie basieren notwendigerweise auf der Annahme, die konzipierten Vorschriften würden in einer bestimmten Weise verstanden, befolgt und angewandt werden, sodass die angekündigten segensreichen Wirkungen – aus der Sicht der Opposition eher die verhängnisvollen Folgen – eintreten werden. Die Realität ist jedoch regelmäßig geprägt von unerwarteten Nebenwirkungen, Widerständen von Bürgern und Organisationen, Vollzugsdefiziten, neuen Auslegungen in Gerichtsurteilen, widersprüchlichen Zweckbestimmungen in den Normen und vielen weiteren Einflussfaktoren, sodass eine spätere Evaluierung – wenn sie denn stattfindet – regelmäßig mehr oder weniger beträchtliche Unterschiede zwischen Zielsetzung und Ergebnis aufweist10.

9 Zum politisch-inhaltlichen Gehalt der parlamentarischen Repräsentation als dialektischer Prozess zwischen Repräsentierten und Repräsentanten vgl. Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. 2, § 34, bes. Rn. 34. 10 Zur Bedeutung zahlreicher bedingender Einflussfaktoren in Gesellschaft, Verbänden, Medien und Verwaltungen auf die Wirkungsweise und Wirkungschance von Gesetzen vgl. Zeh, Wille und Wirkung der Gesetze, Heidelberg 1984, oder, mit Schwerpunkt auf der Bedeutung der Gesetzesmaterialien, Sehl, Was will der Gesetzgeber?, Baden-Baden 2019. 14

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Das Besondere und Schwierige für den gesetzgeberischen Umgang mit der Pandemie liegt darin, dass es sich hier nicht um das gewohnte Wirkungsfeld und Einflussgefüge handelt. In der „normalen“ Gesetzgebung ist die nur relative, mit den Gesetzeszielen nicht vollständig übereinstimmende Wirksamkeit wohl oder übel „eingepreist“, sie wird in Kauf genommen, ist manchmal auch willkommen. Im Aufeinandertreffen von Norm und Wirklichkeit spielen bekannte Akteure, Interessen und Verhaltensweisen ihre fördernde oder behindernde Rolle, der Umgang mit Behörden, Verbänden, Einsprüchen und Partizipationsformen ist routiniert. Man geht relativ schmerzfrei davon aus, dass ein gewisses Maß an Unsicherheit immer bleibt und dass sich erst später zeigen wird, welchen Erfolg die Normsetzung tatsächlich bringt, ohne dass ein Wirkungsdefizit sogleich den katastrophalen Fehlschlag bedeutet. In der Pandemie ist das anders: Die Wirksamkeit der gesetzlich veranlassten Maßnahmen wird unbedingt, dringend und sofort begehrt, und andererseits ist das Feld der wirkungsbeeinflussenden Faktoren nicht gut bekannt und schwer berechenbar.

V. Verdrängte Unsicherheit Die begrenzte Gestaltungsmacht entspricht an sich der grundlegenden Erkenntnis, dass Politik – auch Politik durch Gesetzgebung – ihre letzte Rechtfertigung eben darin findet, dass unter Unsicherheit entschieden werden muss. Wäre es anders, könnte man sich Parlamente, Politiker und schließlich auch Wahlen sparen, weil ja die hinreichende fachliche Durchdringung und wissenschaftliche Erforschung der Probleme schließlich die „richtige“ Lösung erbringen würde. Die Erkenntnis des Entscheidungszwangs trotz verbleibender Unsicherheit ist zwar nicht in der Fachdebatte, aber in der staatlichen Darstellung der Pandemiepolitik gänzlich unwillkommen und geradezu tabuisiert. Die auf der Hand liegende Beobachtung, dass alle politisch-administrative „Machbarkeit“ und „Steuerungsfähigkeit“ in einer Pandemie noch weiter außer Reichweite liegt als sonst, wurde stillschweigend verdrängt. Die politischen und parlamentarischen Akteure haben nie ausgesprochen, dass sie unter oft schwerer Entscheidungs- und Gewissensnot tiefe Eingriffe in das Leben ihrer Mitbürger vornehmen müssen, ohne die Folgen voll zu überblicken. Sie geben sich vielmehr wohlinformiert und als vom Nutzen vorgesehener Maßnahmen überzeugt, indem sie auf medizinische und virologische Beratung verweisen und diese als wesentliche und unbestreitbare Grundlage der Entscheidungen präsentieren. Damit wird auf eine öffentliche Mentalität Rücksicht genommen, die Kontroversen und Unsicherheiten schon ohnehin schwer erträgt – gerade auch, wenn sie im parlamentarischen Diskurs offengelegt werden -, aber nun in der Pandemie sich vollends an die Hoffnung klammert, es möchten sichere und wirksame Rezepte verordnet werden. „Folgt der Wissenschaft!“ ist nicht nur gegenüber der Klimapolitik eine beliebte Parole zur Abwehr der Interessenkonflikte – in der Pandemie dann auch der Abwägungskonflikte. Damit wird die verfassungsrechtliche Prüfung der Angemessenheit von Rechtsvorschriften verdrängt durch die Feststellung ihrer Vereinbarkeit mit medizinisch-technischen Normen.

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In der Pandemiegesetzgebung hat die allseitige Bezugnahme auf wissenschaftliche Darlegungen nicht dazu beigetragen, dass die ohnehin gegebene Einschränkung der Wirkungssicherheit rechtlicher Normen gemildert worden wäre. Vor allem aber ist durch sie verdeckt worden, dass in einer Lage neuer und unsicherer Handlungsbedingungen die Anforderungen an die öffentlich wahrnehmbare parlamentarische Willensbildung nicht geringer, sondern größer werden. Gerade wenn und weil das gesellschaftliche Feld, in dem parlamentarische Aktivitäten wirken sollen, schwer einzuschätzen ist, kommt es noch mehr als gewöhnlich darauf an, dass das Parlament öffentlich und repräsentativ die Verständigung mit der Gesellschaft sucht, was warum eigentlich geschehen soll und darf. Nur eine grundsätzliche Debatte kann die Chance eröffnen, die Mitwirkungsbereitschaft der Bevölkerung zu gewinnen, auf die Vorschriften in einem unerprobten Wirkungsfeld besonders angewiesen sind. Rechtsnormen ohne Abstützung in sozialen Normen gleichen einem Schuss ins Dunkle. Wenn es soziale Normen für unbekannte Verhaltensbedingungen (noch) nicht gibt, sind die Anforderungen an eine allgemein nachvollziehbare Begründung rechtlicher Normen höher als bei der routinierten Novellierung geläufiger Rechtsbeziehungen. In dieser Lage kann das Parlament die Zielsetzung und die Abwägung von Rechtsvorschriften nicht an die Fachwelt auslagern, sondern muss sich politisch über sie verständigen. Die wissenschaftliche Sachkunde bezieht sich auf ihr jeweiliges Wissensgebiet, für gesellschaftspolitische Folgen ist sie weder kompetent noch legitimiert. Unterblieben ist aber nicht nur eine frühe und grundlegende Orientierung der Bevölkerung durch die Volksvertretung darüber, was in der Pandemie auf sie zukommen würde und wie ungewiss die Lage sich auch für die Politik darstellte. Infolge der anfänglichen Hinnahme der exekutiven Problembearbeitung durch Befehle und Sanktionsankündigungen geriet auch die dann einsetzende parlamentarische Normsetzung in das Fahrwasser der administrativen Krisenreaktion. Vor die Verordnungen wurden Gesetze gestellt, mit denen jene rechtsstaatlich abgesichert und legitimiert wurden. Das dahinterstehende Denken in den Kategorien von Vorschrift und Vollzug blieb dasselbe. Die Betroffenen hatten kaum Möglichkeiten, anderes zu sehen als einen Staat, der über ihre Grund- und Freiheitsrechte fast vollständig verfügte und ihnen je nach virologischer Aktualität mehr oder weniger davon „zurückgeben“ oder aber „die Zügel wieder anziehen“ wollte. Der Gebrauch der Grundrechte schien unter staatlichem Erlaubnisvorbehalt zu stehen. Prompt wurden Erleichterungen der Verhaltenseinschränkungen für Geimpfte als „Privilegien“ diskutiert11. An der zunehmend bezweifelten Ziel- und Erfolgssicherheit der Vorschriften hat sich so nichts geändert. Stattdessen wuchsen auch die Zweifel an der Tauglichkeit der medizinisch-virologischen und gesundheitspolitischen Annahmen, eine logische Folge 11 Zu dieser Diskussion vgl. z. B. Mangold, Relationale Freiheit. Grundrechte in der Pandemie, VVDStRL 80, S. 7 ff.: „Die … Debatte um sogenannte Privilegien für Geimpfte ist aus grundrechtlicher Sicht verfehlt, weil sie das grundrechtliche Verteilungsprinzip auf den Kopf stellt“, S. 25; ausführlich Fechner, Keine Frage eines Privilegs – zum Umgang mit Geimpften, RuP 2/2021, S. 164 ff. m.w.N. 16

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dessen, dass die Politik sich wesentlich auf sie bezogen hatte, um die Behauptung ihrer Steuerungsfähigkeit aufrecht zu erhalten.

VI. Anforderungen an das Parlament in der Krise Die Parlamente sind nicht nur nicht zurück aus dem exekutivisch eingeleiteten ZweckMittel- Denken, das zuvörderst die administrative Anwendbarkeit und Vollzugseignung der Maßnahmen im Auge hat anstelle der verfassungsrechtlichen Zweck-Mittel-Relation zwischen Grundrechten und staatlichem Handeln. Sie sind auch nicht zurück aus der Außensteuerung der Pandemiepolitik durch „die Wissenschaft“. Insoweit ist lediglich eine gewisse Differenzierung dadurch versucht worden, dass auf Bundesebene die Zusammensetzung der Beratungseinrichtungen um unterschiedliche Fachvertreter und Fachbereiche erweitert wurde, um von einer Abwägung unter mehreren wissenschaftlichen Positionen sprechen zu können. Damit stellt sich die Frage, was durch die Rückholung der Normsetzung ins Parlament erreicht wurde und erreicht werden konnte. Ihr Nutzen konnte ja nicht darin liegen, dass dadurch „bessere“ Entscheidungen im fachlich-administrativen Sinne herbeigeführt würden. Die der Sache selbst, den ungewöhnlichen Herausforderungen der pandemischen Lage, geschuldete Unsicherheit der politischen Optionen ist geblieben. Der Grund für die Vorzugswürdigkeit der parlamentarischen Befassung mit den wesentlichen Richtungsvorgaben für die Pandemiepolitik muss ein anderer sein. Der verfassungssystematische Grund, rechtsstaatliche Ordnung, Gesetzesvorbehalt, Zuständigkeit des Parlaments für das Wesentliche der staatlichen Entscheidungen usw. ist unbestritten und hinreichend erörtert. Er stellt einen über das jeweilige Regelungsgebiet hinausweisenden Eigenwert dar, dem selbstverständlich nicht die Erwägung entgegengehalten werden kann, das Parlament werde auch keine besseren Vorschriften erfinden können als die Verwaltung. Erwogen werden könnte umgekehrt, ob der parlamentarische Prozess nicht doch „bessere“ Normen hervorbringe, weil in ihm mehr unterschiedliche Blickwinkel, Meinungen und Interessen berücksichtigt werden als in einer spezialisierten Verwaltung. Sachgerecht wird letzten Endes eine sinnvolle Aufteilung und Abstimmung der Regelungsaufgaben zwischen Parlament und Administration sein, die beidem gerecht wird, der grund- und freiheitsrechtlichen Sorgfalt ebenso wie der administrativen Anwendbarkeit12. Der eigentliche Grund für die Zuordnung der maßgeblichen Vorschriften zur parlamentarischen Normsetzung ist nicht so sehr im Produkt als vielmehr im Verfahren zu suchen. Darauf hat auch das BVerfG im Rahmen seiner „Wesentlichkeits“-Recht12 Dazu Rixen, Verwaltungsrecht der vulnerablen Gesellschaft, VVDStRL 80, S. 37 ff., der es für unausweichlich erklärt, dass zur effektiven Bewältigung einer multidimensionalen Pandemie ein weitreichender „Funktionsvorbehalt“ der Verwaltung anzuerkennen sei (S. 57); jedoch könne die „parlamentsgesetzliche Vorsteuerung“ durch eine „parlamentarische Nach- bzw. Begleitsteuerung“ ergänzt werden (S. 66). Recht und Politik, Beiheft 10

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sprechung regelmäßig hingewiesen. Die Exekutive kommt zu ihren Normsetzungen nicht in öffentlicher Verhandlung, allenfalls gelegentlich im Rahmen öffentlicher Anhörungen von Bürgern und Verbänden bei abgrenzbaren Projekten. In gesamtstaatlichen Angelegenheiten kann die Legitimation exekutiver Entscheidungen so nicht hervorgebracht werden. Sie ist vielmehr angewiesen auf die repräsentative, für den gesellschaftlichen Diskurs beispielgebende öffentliche Beratung von Pro und Contra im Parlament. Sie allein kann günstigstenfalls bewirken, dass getroffene und dann auf Verwaltungsvorschriften heruntergebrochene Entscheidungen verstanden und nachvollzogen werden – selbst ohne allseitige Überzeugung von ihrer inhaltlichen Richtigkeit. Es ist das Verfahren, das zählt: Die Bereitschaft aller parlamentarischen Kräfte, sich dem Thema, der Öffentlichkeit und der Auseinandersetzung zu stellen, die Probleme in allen Dimensionen zu durchdenken und zu diskutieren, und dann politisch zu verantworten und ernst zu nehmen, was den Bürgern auferlegt und zugemutet werden soll. Dieser seiner Verantwortung kann das Parlament nicht damit gerecht werden, dass von Fachvertretern aus virologischen und klinischen Daten abgeleitete Handlungsvorschläge den wesentlichen Ausgangspunkt der Diskussion bilden, von dem aus dann nur noch beraten werden muss, wie sie wirksam in Rechtsnormen zu übertragen sind. Das Ob und das Wieviel von pandemiebezogenen Maßnahmen kann auf diese Weise nicht politisch-repräsentativ gerechtfertigt werden. Das Parlament beschränkt sich so auf eine Art Moderatorenfunktion zwischen der fachwissenschaftlichen Datenkonstellation und den daraus ableitbaren exekutiven Konsequenzen. Die mangelnde Legitimationskraft der fachlichen Äußerungen wird dadurch rückübertragen auf die parlamentarische Willensbildung. Ein aus der Sicht der Betroffenen verbleibender Zweifel an der Überzeugungskraft fachwissenschaftlicher Daten delegitimiert dann zugleich die gesetzgeberisch darauf gestützten Vorschriften. Es ist kein Zufall, dass der aggressive Teil der Gegnerschaft gegen die Coronapolitik – sog. Corona-Leugner, Querdenker usw. – unfehlbar die virologische und gesundheitspolitische Rechtfertigung mit angreift und sie als einseitig, politisch gesteuert, manipuliert u. dgl. denunziert. Es führt kein Weg daran vorbei, dass die Aufgabe der Parlamente tiefer reicht als bis zur Hervorbringung administrativ brauchbarer Vorschriften. Wenn sie nun zurück sind oder, als Landesparlamente, eingetroffen sind am hergebrachten Standort und in der gesetzgeberischen Routine aus vorpandemischen Zeiten, so genügt das ihrem repräsentativen und integrativen Daseinszweck nicht mehr vollständig. Er ist von der Pandemie nicht verändert, aber doch neu vor Augen geführt worden. Notwendig im wörtlichen Sinne ist – und wäre von Anfang an gewesen – die Erkenntnis, dass die Alleinstellung des Parlaments nicht in der Zuständigkeit für die Gesetzgebung aufgeht, so wichtig diese auch ist und bleibt. Der Bundestag führt im Grundgesetz die Bezeichnung „Organ der Gesetzgebung“, eine begriffliche Anknüpfung an die Funktion, die der Volksvertretung im Konstitutionalismus eingeräumt worden war. Der Reichstag war eines von mehreren Organen, zwischen denen die staatlichen Entscheidungs- und Handlungsbefugnisse – die bis heute so genannten „Gewalten“ – geteilt sein sollten.

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VII. Verfassungsrechtliche Kommunikationspflicht des Parlaments Die überkommene „Gewaltenteilung“ entspricht bekanntlich der Verfassungslage nach dem Grundgesetz nicht mehr. Zusätzlich zur Gesetzgebung, an der die vom Parlament hervorgebrachte Regierung maßgeblich beteiligt ist, kommt dem Bundestag im parlamentarischen Regierungssystem eine zentrale Vermittlungsaufgabe zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Willensbildung zu, die kein „Organ“ kraft eines ihm reservierten Teils der „Staatsgewalt“ erfüllen kann. Schon in der Verfassungsdiskussion für die Weimarer Republik hatten Überlegungen dazu eingesetzt, wie die neue Stellung des Reichstags im Verhältnis zum Volk – damals noch neben und dann in Konkurrenz zum Reichspräsidenten – zutreffend verstanden und definiert werden solle13. Mit dem Grundgesetz ist der Bundestag in die seinerzeit staatstheoretisch schon erfasste Funktion eingerückt. Sie besteht darin, zwischen der republikanischen, egalitären und pluralistischen Gesellschaft einerseits und dem Handeln des Staates andererseits so zu vermitteln, dass dieses als Resultante jener gelten kann – der in der Gesellschaft wirkenden Auffassungen, Überzeugungen, Wertvorstellungen, Hoffnungen und Interessen als ein politisch-geistiges Produkt, welches diese Gesamtheit ausmacht und kennzeichnet. Die Methode dazu ist „government by discussion“: Dem Parlament obliegt querschnittsartig durch alle seine organschaftlichen Aufgaben hindurch das, was als Veröffentlichungsfunktion, Kommunikationsfunktion, Vermittlungsfunktion, Reagibilität, Responsivität, Transparenz u. a.m. bezeichnet wird14. Die „klassischen“ Parlamentsaufgaben, gerade auch die Gesetzgebung, beziehen ihre Legitimation – über die institutionelle „Legitimationskette“ von allgemeinen Wahlen, Regierungsbildung, parlamentarischen Zuständigkeiten usw. hinaus – erst durch den Gehalt an Repräsentativität im materiellen Sinne, der ihnen von jenen Querschnittsfunktionen aus zuwächst.

13 Hierzu umfassend, mit reichem Dokumentenmaterial nebst tiefgehender Darstellung der wichtigsten Autoren, Denkschulen und Akteure der Verfassungsentwicklung, Kühne, Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung. Grundlagen und anfängliche Geltung, Düsseldorf 2018, s. bes. auch Abschnitt I B., Dimensionen des Volks- und Demokratieverständnisses in Weimar, S. 179 – 296. 14 Es handelt sich nicht um eine abgegrenzte Funktion neben den anderen, sondern um ein methodisches Element aller Parlamentsfunktionen. Zur Bedeutung der „Legitimation durch Kommunikation“ vgl. z. B. Oberreuter, Republikanische Demokratie. Der Verfassungsstaat im Wandel, Baden-Baden 2012, und Ismayr, Der Deutsche Bundestag, Wiesbaden 2012, S. 40 ff., 82 ff. Zur Entstehungsgeschichte des kommunikativen Verständnisses parlamentarischer Funktionen aufschlussreich die von dem englischen Journalisten Walter Bagehot schon 1867 vorgelegte Studie The English Constitution, die eine „informing function“ und eine „teaching function“ des Unterhauses anführt, damals hochmodern, heute insofern überholt, als die von oben nach unten oder von innen nach außen gedachte Information der Öffentlichkeit durch das Parlament den Repräsentationserfordernissen nicht (mehr) genügt; es kommt auf den iterativen Prozess an, auf die permanenten Feed-back-Schleifen zwischen gesellschaftlicher und staatlicher Willensbildung. Recht und Politik, Beiheft 10

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In der Konsequenz müssen die Anforderungen an die parlamentarischen Kommunikationsfunktionen in dem Maße zunehmen, in dem vertraute Argumentationsfiguren und erprobte Instrumente zum Umgang mit einer politischen Krisenlage nicht, noch nicht, oder aber nicht mehr zur Verfügung stehen. So war und ist es in der CoronaKrise. In ihrem anfänglichen Auftreten, in den sofort sich stellenden Herausforderungen und in den ersten Auswirkungen war eine unbekannte Lage gegeben. Statt sie alsbald und an oberster Stelle auf die Tagesordnung zu setzen und zu debattieren, ist das Parlament verstummt. Als die Schockstarre nachließ, war es gewissermaßen zu spät für politische Führung von vorn. Die Exekutive hatte übernommen, nun galt es, das entstandene Gefüge oder auch Gewirr untergesetzlicher Vorschriften rechtsstaatlich zu ordnen und zu legitimieren. Eine vorausliegende Richtungsbestimmung einschließlich der Maßstabsbestimmung für den Umgang mit den Grund- und Freiheitsrechten der Bürger schien damit überholt. Sie wurde allenfalls noch angemahnt bei der Diskussion einzelner Vorschriften. Ist es realistisch zu fordern, die Parlamentarier hätten weniger schockiert und früher zu einer richtungsweisenden Grundlagendebatte in der Lage sein müssen als andere Bürger? Dies vielleicht nicht, aber im weiteren Verlauf wäre eine Besinnung auf die eigentliche repräsentative Funktion und eine Art Emanzipation vom administrativ geprägten Vollzugsdenken vorstellbar gewesen. Der unterschiedliche parlamentarische Umgang mit den Themen der öffentlichen Diskussionen fällt doch auf. Während die medizinisch-virologischen Äußerungen umstandslos parlamentarisch adoptiert wurde, blieb der zugleich intensiv geführte verfassungsrechtliche Diskurs ohne nachhaltige Aufnahme. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Belastungen, Verständnisschwierigkeiten und Zweifeln der Bürger fand nicht hinreichend statt. In der Folgezeit beschränkte sich die Reaktion auf die wachsende öffentliche Unzufriedenheit im Wesentlichen darauf, dass vor der „Unterwanderung“ von Protesten durch extremistische, ideologisch verbohrte oder esoterisch verirrte Teilnehmer gewarnt wurde, von denen man sich fernhalten möge. Es wurde der Auseinandersetzung eher ausgewichen, offenbar in der Sorge, die vorgesehenen Maßnahmen würden dadurch in ihrer Befolgung und Wirkung beeinträchtigt. Natürlich ist das Gegenteil eingetreten: Die ausbleibende inhaltliche Antwort auf die Einwände, die eben nicht von vornherein durch systemfeindlichen „Widerstand“, sondern durch existenziell getroffene und verängstigte Bürger und von Anfang an durch tiefgehende verfassungsrechtliche Bedenken geprägt waren, hat zu abnehmender Folgebereitschaft beigetragen.

VIII. Das Parlament: redend oder handelnd? Die Gründe für diese relative Verschlossenheit finden sich auch darin, dass das Parlament in über siebzig erfolgreichen Jahren das Gesetz, nach dem es angetreten, ein Stück weit aus dem Auge verloren hat. Es handelt sich dabei um eine wohl unvermeidliche, aber in diesem Punkt nicht begrüßenswerte Folge des parlamentarischen Regierungssystems. Indem es die Parlamentsmehrheit mit der von ihr ins Amt gebrachten und dort

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zu unterstützenden Regierung zu einer politischen Handlungs- und Erfolgsgemeinschaft verbindet, werden die Verhaltensmaximen des Regierens von den Abgeordneten internalisiert. Dieser Effekt wirkt sich übrigens auch bei Abgeordneten der Minderheit aus, weil auch die Opposition als „Regierung im Wartestand“ darzustellen sucht, dass sie die Regierung mindestens ebenso gut führen kann. Weil man sich in der jeweiligen Parlamentsmehrheit schicksalhaft auf den Erfolg der „eigenen“ Regierung angewiesen sieht – die nächsten Wahlen sind von Anfang an in Sichtweite –, gilt es für jedermann, immer und überall zu „handeln“, Probleme zu „lösen“, die Dinge „unter Kontrolle“ und „in den Griff“ zu bekommen. Das prägt eine Herangehensweise und einen Erörterungsstil, der zur Unsicherheit der pandemischen Lage nicht wirklich passen konnte. Wenn in dieser Situation die „Kontrolle“ und der „Griff“ nicht glaubhaft funktionieren und die Erlösung fern liegt, können sich Zweifel an der eigenen Rolle einstellen. Es waren auch gewählte Politiker, die sich besorgt zu fragen begannen, ob der parlamentarische Diskussionsprozess nicht vielleicht zu umständlich, langwierig und für das Publikum verwirrend sei, verglichen mit dem schnellen, rigorosen und scheinbar erfolgreichen Zugriff in autoritären Systemen. Die Devise „handeln, nicht reden!“ war nicht nur aus Medien und Bevölkerung zu vernehmen. Die dahinterstehende Tendenz zur Unterwerfung unter die Exekutive tritt aktuell wieder in Erscheinung, wenn die neue Zuständigkeit der Landesparlamente nach § 28 a Abs. 8 IfSG als umständlich und unnötig kritisiert wird. Freilich erschiene es geradezu abwegig, vom Parlament etwa zu verlangen, es möge der umgekehrten Maxime folgen: „Wir handeln nicht, wir reden!“. Aber warum erscheint das so? Es liegt daran, dass in einer von weit her kommenden Fixierung auf den exekutiv gedachten Staat die Dichotomie von Reden und Handeln das politische Denken in einer Weise geprägt hat, die den Bedingungen eines demokratisch-freiheitlichen Gemeinwesens nicht voll entspricht. In Wahrheit besteht das Handeln in relativ gewaltfreien politischen Verhältnissen in hohem Maße aus Worten. Ein Regierungsprogramm zu Beginn der Wahlperiode, Regierungserklärungen mit Parlamentsdebatten, Ankündigungen in öffentlichen Verlautbarungen, Erläuterungen in Pressemitteilungen und Pressekonferenzen, Verkündungen neuer Vorschriften im Bundesgesetzblatt bis hin zum Text von Gesetzen und Verordnungen selbst – alles besteht aus Worten und aus öffentlichen Sprechakten15. Natürlich steht etwas dahinter, nämlich die Möglichkeit der staatlichen Durchsetzung mit mehr oder weniger gewaltsamen Mitteln, vom Bußgeld über den „unmittelbaren Zwang“ durch die Polizei bis zur strafrechtlichen 15 Die Forderung des Direktors in Goethes Faust I, Vorspiel auf dem Theater, „Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehn!“ wird missverstanden, wenn sie, wie üblich, gegen das Reden im Parlament gewendet wird; die Taten, nach denen der Direktor verlangt, bestehen ja ihrerseits aus Worten, nämlich in der Aufführung des Stücks im Sprechtheater. Der Satz ist so zu verstehen, dass man von den Vorüberlegungen zum Eigentlichen, zu den Dialogen des Theaterstücks, kommen solle. Es lässt sich darin allenfalls eine Parallele zu dem Verhältnis zwischen allgemeinen öffentlichen Meinungsbekundungen und dem eigentlichen repräsentativen Dialog im Parlament entdecken. Recht und Politik, Beiheft 10

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Sanktion. Das bleibt jedoch latent. Die staatliche Einwirkung auf das soziale und individuelle Verhalten kann auf „Taten“ im Sinne handfester Durchsetzung des Gebotenen weithin verzichten, weil es von vornherein befolgt wird – dies jedoch nur, wenn und Sinn und Zweck der Vorschriften nicht unverständlich oder sachwidrig erscheinen. Für politische Gestaltungsziele bedeutet das, dass es auf Worte existenziell ankommt. Es ist das Reden, mit dem in der freiheitlichen Demokratie gehandelt wird. Mit ihm müssen Sinn und Zweck des Gewollten formuliert, erklärt und plausibel gemacht werden, um die Nachvollziehbarkeit und am Ende die Geltungsüberzeugung für erforderliche Normen zu erlangen. Das kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Staat als ein demokratischer an sein Ende käme. Vor diesem Hintergrund ist es abwegig zu behaupten, dass in der parlamentarischen Debatte „nur geredet“ werde, während andere „handelten“. Vielmehr ist es der verantwortungsvolle politisch-öffentliche Diskurs selbst, der über die Akzeptanz und die Legitimität staatlicher Aktivitäten, gerade auch des Verwaltungshandelns, und damit letzten Endes über seine Durchsetzbarkeit entscheidet. Welchen Anteil das Parlament daran hat, bestimmt es selbst. Insbesondere bestimmt es selbst, welchen Rang seine Beiträge einnehmen und an welcher Stelle – diskursprägend oder nachvollziehend – sie wirken. Möglicherweise hat der Bundestag in der ersten Phase der Pandemie von einer grundlegenden Orientierungsdebatte abgesehen, die noch ohne „Vorlagen“ der Regierung und bei nur geringen fachlichen Kenntnissen hätte stattfinden müssen, weil er befürchtete, er werde von Medien und Öffentlichkeit mit der Parole „nicht reden, handeln!“ angegriffen. Es bleibt spekulativ, ob das so geschehen wäre oder ob es nicht möglich war, gerade durch eine nicht verlegene, sondern offensive Diskussion der Unübersichtlichkeit der Lage ein besseres Verständnis für die Schwierigkeiten staatlicher Entscheidungen zu erreichen, als es mit dem späteren Eingreifen des Parlaments noch möglich war. Im Nachhinein spricht einiges dafür, dass besser auf die – parlamentarisch auch ausdrücklich einzufordernde – Mitwirkungsbereitschaft der Bürger gesetzt worden wäre als auf exekutive Befehle. Mindestens hätte die Botschaft ausgesandt werden können, dass die schwerwiegenden Konsequenzen für Bürger- und Freiheitsrechte gesehen wurden.

IX. Einige Folgerungen Derzeit scheint die Lage sich zu entspannen, wenn auch noch zur „Vorsicht“ aufgerufen wird. Vorsichtig zu sein soll insoweit heißen, dass einige administrativen Einschränkungen noch aufrecht zu erhalten oder mindestens in Reserve zu halten seien. Demgemäß sind auch die Kriterienkataloge und Bedingungen für die entsprechenden Maßnahmen noch nicht aufgehoben, sondern nur ausgedünnt und in der Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern anders aufgeteilt worden. Jedenfalls scheint die Arbeit der Parlamente im Wesentlichen erledigt. Sie ist es jedoch nicht, oder allenfalls für die unmittelbar auf Beschränkungsmaßnahmen bezogene Gesetzgebungsarbeit. Die Pandemiepolitik enthält Lernpotentiale für 22

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den Umgang mit außergewöhnlichen und weitreichenden staatlichen Aufgaben und damit auch für das Parlament. Die hoffentlich dem Ende zugehende Krise hat auf einige Aspekte der politischen und der verfassungsrechtlichen Grundlagen aufmerksam gemacht, die in näherer Zukunft untersucht und erörtert werden müssen. Das soll nicht heißen, dass die Parlamente von nun an die Aufgabe hätten, erforderliche staats- und verfassungsrechtliche Grundsatzdiskussionen zur Gänze selbst zu führen. Aber eine Anstoß- und Unterstützungsrolle in dieser Richtung kann ihnen doch zugemutet werden oder sollten sie sich zumuten. Vor allem wäre es wünschenswert, dass der Bundestag eine umfassende Bilanz der bisherigen Pandemiepolitik zieht. Damit sollte nicht gewartet werden, bis die gesundheitlichen Belastungen etwa spurlos verschwunden sind, zumal das möglicherweise nicht geschehen wird. Eine Zwischenbilanz genügt. Sie könnte, als „freie“ Aussprache ohne irgendwelche Regierungsvorschläge und ohne Beschlussziele, Analysen und Urteile zum Umgang mit der Pandemie, zu Erfolgen und Defiziten, Fehleinschätzungen und verbleibenden Erfordernissen zusammenführen16. Damit könnte auch zur Deeskalation der teilweise heftigen Diskussionen beigetragen, insbesondere auch den Protesten der „Straße“ ein Stück weit die imaginierte Gegnerschaft entzogen werden. Der weit überwiegenden Mehrheit der öffentlich schweigenden Bürger wäre ein Dank für ihre Geduld abzustatten und ein vernünftiges, ihre Nöte würdigendes Urteil über die Ereignisse anzubieten. Dazu würde eine eindeutige Klarstellung gehören, dass der Staat nicht Besitzer ihrer Grundrechte ist oder gewesen ist und sie daher nicht „zurückgeben“ kann, sondern sich aus ihnen wo immer möglich zurückziehen wird. Eine solche Bilanz muss zugleich ein Versprechen umfassen. Es bestünde in der Versicherung, dass die in der Pandemie für notwendig gehaltenen Einschränkungen von Grund- und Freiheitsrechten nicht nur soweit irgend vertretbar beendet werden, sondern auch für keine anderen Ziele und Zwecke auf sie zurückgegriffen wird. An den parlamentarischen Kräften liegt es, glaubhaft zu machen, dass sie die Regierung, wer immer sie führt, in diesem Punkt einer verfassungsrechtlich äußerst sensiblen Kontrolle auf Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit zukünftiger Regelungen unterwerfen werden. Die Exekutive kann das, selbst wenn sie dazu bereit wäre, aus institutionellen Gründen nicht glaubhaft versprechen. Damit muss verhindert werden, dass sich infolge

16 Wenn es aufgrund jahrzehntelanger Verhandlungspraxis des Bundestages heutzutage sonderbar erscheinen sollte, aus eigenem Entschluss eine Grundlagendiskussion ohne Beschlussziel und ohne „Vorlagen“ (meist der Regierung) zu führen, mag an die so gehandhabte und ausdrücklich so bezeichnete „Verfassungsdebatte“ des Bundestages von 1972 erinnert werden: Sie war in einer auf andere Weise unruhigen gesellschaftlichen Situation anberaumt worden, nachdem die Auseinandersetzungen um die „Notstandsverfassung“ in der (ersten) Großen Koalition zur „außerparlamentarischen Opposition“ (APO) beigetragen und das Bedürfnis geweckt hatten, sich nach gut 20 Jahren Grundgesetz wieder einmal über seine Bedeutung zu verständigen. Nach nunmehr 50 weiteren Jahren dürfte ein solcher Gedanke eigentlich nicht abwegig erscheinen. Recht und Politik, Beiheft 10

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der Pandemiemaßnahmen ein „parakonstitutionelles Notstandsrecht“ bildet17 und die darauf beschränkten Ermächtigungsgrundlagen sich „auf Dauer in das Recht des Normalzustands einnisten“18. Die Forderung liegt offensichtlich nicht sehr fern, „bewährte“ Instrumente wie Reisebeschränkungen, Gewerbeuntersagungen und anderweitige Betätigungsverbote auch für andere, ebenfalls wichtige Anliegen einzusetzen, z. B. zur Reduktion von Treibhausgasen und Feinstaub oder zur Energieeinsparung. Die verbreitete Floskel, nach der Pandemie sei nichts mehr wie zuvor, darf nicht als Blankoscheck für jeweils gerade zweckmäßig erscheinende Eingriffe in Grundrechte dienen. Auch die „Klimaschutzentscheidung“ des BVerfG19 mit ihrer Entgrenzung des Rechtfertigungserfordernisses für staatliche Freiheitseingriffe sollte nicht dafür ausgenutzt werden, für in Zukunft nicht ausschließbare Gefahren für Leben und Gesundheit prophylaktisch schon einmal das Arsenal aus der Coronapolitik bereitzuhalten. Zur „Erholung“ von der Pandemie im politisch-geistigen Sinne kommt Weiteres in Betracht. Wo steht geschrieben, dass der Bundestag sich mit den rechtspolitischen, rechtsphilosophischen und demokratietheoretischen Überlegungen nicht befassen könne, die in der Pandemiediskussion entwickelt worden sind20? Sicher gehört das nicht zum täglichen Betrieb einer Gesetzgebungsmaschine. Die Pandemie hat aber sichtbar gemacht, dass den politisch-ethischen Grundlagen des Zusammenlebens im demokratischen Staat erhöhte Aufmerksamkeit zugewandt werden muss. Die in den Gesellschaftswissenschaften als epistemisch bezeichnete, unausgesprochene Gemeinsam17 So Ipsen, Notstandsverfassung und Corona-Virus, RuP Beiheft 7 (2021), S. 25 ff., 39, der die diesbezügliche Kontrolle am Maßstab der Verhältnismäßigkeit aber vor allem von den Gerichten erwartet; ferner könne die Befristung der Eingriffsmöglichkeiten „eine Sicherung gegen Missbrauch bilden“. 18 So Kaiser, Demokratie perdu? Fünf verfassungsrechtliche Anmerkungen zur gegenwärtigen Corona-Krise, RuP 1/2021, S. 7 ff., 10; es werde „wichtig sein, darauf zu achten, dass sich gegenwärtige Ausnahmeregelungen … nicht dauerhaft einnisten und verstetigen“, S. 15. 19 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats v. 24. März 2021, 1 BvR 2656/18; interessanterweise ist die Entscheidung ungeachtet ihrer sowohl verfassungsjuristischen als auch politischen Tragweite ohne öffentliche mündliche Verhandlung ergangen; zur Darstellung und Einschätzung vgl. die Beiträge von Möllers, Gawron, Gärditz und Eisentraut, alle in RuP 3/2021, S. 284 bis 319, jeweils m.w.N. 20 So wird z. B. gefordert, den eher impliziten und latenten Gehalt der Grundrechte als eine auch relationale Dimension wie in dem Auffangrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG zu konzipieren, um die Angewiesenheit der Grundrechtsausübung auf soziale Beziehungen fassbar zu machen, vgl. Mangold, Relationale Freiheit. Grundrechte in der Pandemie, VVDStRL 80, S. 7 ff.; eine grundsätzlich neu vermessene und auf Resilienz ausgerichtete öffentliche Verwaltung wird konzipiert von Rixen, Verwaltungsrecht der vulnerablen Gesellschaft, ebd. S. 37 ff.; Mahlmann, Demokratie im Notstand? Rechtliche und epistemische Bedingungen der Krisenresistenz der Demokratie, ebd. S. 69 ff. (mit besonders reichhaltigen demokratietheoretischen und philosophischen Nachweisen), warnt davor, dass „auch das leise Werk des allmählich ins Orientierungslose taumelnden Zweifels am Sinn der Demokratie selbst freie Menschen Unfreiheit wählen lassen (kann)“, weshalb alles darauf ankomme, dass die Akteure selbst von der Rechtfertigungsfähigkeit der anspruchsvollen Kultur der Demokratie überzeugt sind, S. 97. 24

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keit in der Erkenntnis von wahr und falsch, von wirklichen und behaupteten Tatsachen versteht sich nicht von selbst. Sie ist ein Erzeugnis gesellschaftlicher Kommunikation von höchster kultureller Bedeutung, und als solches bildet sie den Raum verbindlicher Begründungen, innerhalb derer sich die Menschen orientieren und verhalten. Falls die verbreitete Befürchtung zutrifft, dass in der Pandemie gemeinsame Überzeugungen über Werte, Voraussetzungen und Fähigkeiten der Demokratie brüchig geworden sind, müssen diese Überzeugungen in grundlegender Weise wieder angesprochen und gestärkt werden. Hier liegt eine Aufgabe, die das Parlament nicht selbst und als solches traktieren kann, deren Wahrnehmung es aber fördern und propagieren und dem es auch eine institutionelle Basis im parlamentarischen Umfeld verschaffen kann. Wenn es möglich und angezeigt war, einen Ethikrat einzurichten, spricht nichts dagegen, ein derartiges Gremium damit zu beauftragen, den Voraussetzungen der Rechtfertigungsfähigkeit der Demokratie wieder einmal auf den Grund zu gehen. Wenn es wie selbstverständlich ein Beratungsgremium von medizinischen und virologischen Sachverständigen gibt, lässt sich auch eines denken, das mit verfassungs- und staatsrechtlichen sowie politik- und sozialwissenschaftlichen Fachvertretern besetzt wäre und solche Themen „über den Tag hinaus“ diskutieren würde, zu denen der Bundestag im Drang der unaufhörlichen Regelungsforderungen keinen Zugang findet. Das Gremium könnte sich auch zu gemeinsamen Gesprächen mit Abgeordneten verbinden, um dann im Stil oder auch direkt in der Gestalt einer Enquete-Kommission des Bundestages (§ 56 GOBT) gemeinsam Erkenntnisse, Zwischenergebnisse der Diskussion u. ä. zu formulieren. Solche könnten, wie bei Enqueteberichten üblich, als Bundestagsdrucksache veröffentlicht werden. Mit Initiativen in dieser Richtung würde dazu beigetragen, dass am Ende doch nicht ein verunsicherter, sondern ein demokratisch gestärkter Zeitgeist aus der Pandemie hervorgehen könnte.

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Freiheitsbegriff, Staatsverständnis und politische Ethik im Wandel* Das Beispiel der Diskussion über eine gesetzliche Impfpflicht Von Hans Peter Bull

I. Impfung – Hoffnung oder Horror? Als Anfang des Jahres 2020 das Corona-Virus auftauchte und sich weltweit verbreitete, verfügten Regierungen aller Art die soziale Isolierung großer Teile der Bevölkerung. In China wurden ganze Städte abgesperrt, andere Länder richteten mit moderner Informationstechnik eine effektive Kontaktverfolgung ein und setzten strenge QuarantäneAnordnungen durch. Aber die Hoffnungen auf eine wirklich wirksame Infektionsabwehr richteten sich darauf, dass ein Impfstoff entwickelt und alle Menschen geimpft würden. Als es schließlich – früher als erwartet – die ersten Impfstoffe gab, organisierten die Verwaltungen die Einrichtung riesiger Impfzentren. Millionen Menschen strömten dorthin, wetteiferten um die Termine und ertrugen die Nebenwirkungen der Impfungen ohne Murren. Doch nach einigen Monaten höchst erfolgreicher Impfkampagnen flaute das Interesse ab. Aus den Tiefen des Internets kamen Meldungen, die Impfungen seien in Wahrheit äußerst gefährlich und die Aufforderung der Politik, sich den Piks in den Arm geben zu lassen, sei in Wahrheit das Signal zur Unterwerfung der Individuen unter eine „Gesundheits-Diktatur“, die den Menschen „die Freiheit“ nehmen wolle. Die Bereitschaft zur Impfung nahm – auch wegen günstiger Entwicklung der Infektionszahlen im Sommer 2021 – so stark ab, dass die großen Einrichtungen zur Massenimpfung geschlossen wurden; Werbekampagnen und Aktionen zur Impfung „vor Ort“, insbesondere in benachteiligten Quartieren, sollten die Lücke zwischen tatsächlicher und notwendiger Impfquote („Herdenimmunität“) schließen, aber das ist nicht gelungen, so dass die neue, ansteckendere Virusvariante Omikron sich breit machen konnte und neue Einschränkungen für die große Mehrheit der Bevölkerung erforderlich wurden. Nur für Personen, die in Einrichtungen oder Unternehmen des Gesundheitswesens, Altenheimen oder ambulanten Pflegediensten tätig sind, wurde Ende des Jahres 2021 eine Impfpflicht beschlossen.1 * 1

Zuerst in: RuP 1/2022, S. 32 – 57. § 20 a Infektionsschutzgesetz (IfSG) i. d. F. v. 10. 12. 2021, BGBl. I S. 5162.

Recht und Politik, Beiheft 10 (2022), 26 – 51

Duncker & Humblot, Berlin

Freiheitsbegriff, Staatsverständnis und politische Ethik im Wandel

Wie konnte das geschehen? Haben Regierungen und Behörden die Gefahr übersehen, sind sie zu passiv geblieben? In der öffentlichen Diskussion sind die handelnden Politiker heftig kritisiert worden – ob zu Recht, soll im Folgenden unter verfassungsrechtlichen (II.) und staatstheoretischen Aspekten (III.) und im Lichte einer politischpraktischen Ethik (IV.) erörtert werden.

II. Zur rechtlichen Bewertung des Staatshandelns in der Pandemie 1. Staatsaufgabe Gesundheitssicherung Dass der Staat die Aufgabe hat, Gefahren für die Gesundheit der ihm angehörigen Menschen abzuwehren und auch vorbeugend Schutz gegen die Ausbreitung gefährlicher Viren zu gewähren, ist unumstritten. Diese Aufgabe ist sowohl aus dem objektiven Verfassungsrecht wie aus den Grundrechten abzuleiten; gerade die Schutzpflicht gegenüber dem Einzelnen ist von der Verfassungsgerichtsbarkeit betont worden.2 Zwar bleibt auch bei entsprechenden Bemühungen der Behörden ein „allgemeines Lebensrisiko“,3 gegen das der Staat niemanden versichern kann, aber die Grundthese, dass der Staat das Leben und die Gesundheit der Menschen schützen muss, wird von niemandem bezweifelt. Damit sind aber auch die zu diesem Zweck notwendigen Maßnahmen gerechtfertigt – mag ihre Ausgestaltung im Einzelnen auch dem Gesetzgeber vorbehalten und durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip beschränkt sein. Was der Staat in einer Pandemie zu tun hat, fällt unter die Staatsaufgabe „Sicherung der Existenzgrundlagen“, in einem noch weiteren Sinne unter die Begründung staatlicher Resilienz gegen krisenhafte Störung des Zusammenlebens.4 Damit sind eine ganze Reihe von Einzelaufgaben angesprochen – von der Gesundheitsvorsorge über die akute Krankenversorgung bis zur Sicherung der Infrastruktur des Gesundheitswesens,5 also auch der hinreichenden Ausstattung der Krankenhäuser und Arztpraxen. Wie jede staatliche Maßnahme, stößt auch die Gesundheitsvor- und -fürsorge auf rechtliche Grenzen verschiedener Art. Was im Interesse des einen geschieht, kann den anderen schädigen, und oft sind die entgegenstehenden Interessen ebenfalls durch Grundrechte geschützt. Über die genaue Abgrenzung dessen, was dem Staat geboten oder zumindest erlaubt ist, von dem konkret verfassungsrechtlich unzulässigen Staatshandeln muss gestritten werden; es gibt dazu kein allgemein gültiges Patentrezept. 2

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Näheres dazu bei Bull, Staatsmacht gegen Naturgewalt: Wieviel Sicherheit schuldet der Staat den Menschen angesichts der Pandemie?, in: Hans-Jürgen Lange (Hrsg.), Sicherheit in der Corona-Krise, 2022 (i.E.). Dazu im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie Reinhard Merkel, Rechtsethische Grundsatzfragen in der Gesetzgebung, ZRP 2020, S. 162 (165). Dazu Stephan Rixen, Verwaltungsrecht der vulnerablen Gesellschaft, in: VVDStRL 80 (2021), S. 37 ff. Diesen Aspekt betonen auch Gerhard Igl und Felix Welti, Gesundheitsrecht, 3. Aufl. München 2018, S. 28 ff., 34 ff.

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Hans Peter Bull

Zahlreiche Maßnahmen der Corona-Abwehr sind von Betroffenen vor Verwaltungsgerichten und dem BVerfG angefochten worden. Die notwendige Abwägung hat das BVerfG im November 2021 in Grundsatzbeschlüssen letztlich so vorgenommen, dass individuelle Rechte der Bürger in den meisten behandelten Fällen hinter dem öffentlichen Interesse an der Infektionsabwehr zurücktreten mussten.6 Die Gerichte wiederum sind zum Teil heftig kritisiert worden, weil sie der Exekutive zu viel Spielraum gelassen und viele fragwürdige Abwägungen nicht hinterfragt hätten.7 Umgekehrt werden Regierungen und Behörden kritisiert, wenn die angeordneten oder empfohlenen Maßnahmen erfolglos bleiben. So werden „die Politiker“ nicht selten dafür verantwortlich gemacht, dass eine erhebliche Zahl von Menschen sich nicht impfen lässt – dann wird den Abgeordneten und Behörden unzureichende Werbung vorgeworfen. Die Staatsaufgabe Gesundheitsfürsorge enthält aber keine Erfolgsgarantie, auch nicht was die Impfquote angeht. 2. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer allgemeinen Impfpflicht Dass es zur Infektionsabwehr erforderlich sein könnte, eine allgemeine Impfpflicht anzuordnen, ist bis November 2021 nur ganz selten einmal diskutiert worden. Während des Wahlkampfes zur Bundestagswahl am 26. September 2021 versprachen alle Spitzenkandidaten, es werde keine allgemeine Impfpflicht geben. Gründe für diese Position wurden nicht angegeben und auch von Interviewern nicht erfragt; nur gelegentlich meinten Kandidaten, man wolle kein „verfassungsrechtliches Risiko“ eingehen. Insbesondere Politiker der FDP vertraten die Ansicht, eine gesetzliche Pflicht, sich impfen zu lassen, verstoße gegen das Recht auf körperliche Integrität, das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folge. Die Zögerlichkeit der Entscheider ist schwer nachvollziehbar. Ein rechtswidriger Grundrechtsverstoß ist nicht schon dann gegeben, wenn auf oder in einen menschlichen Körper eingewirkt wird. Der Stich in den Arm und die Verabreichung des Impfstoffs erfüllen zwar den Tatbestand der Körperverletzung, sind aber trotzdem verfassungskonform. Jedes Grundrecht hat Schranken, die teils aus dem Verfassungstext, teils aus den dort vorbehaltenen anderen Verfassungsnormen oder Gesetzen und teils aus dem Gesamtzusammenhang der von der Verfassung geschützten Rechtsgüter abzuleiten sind. In das Recht auf körperliche Unversehrtheit, wie es in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG statuiert ist, darf „auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden“ – so ausdrücklich Satz 3 dieser Vorschrift. Von diesem Gesetzesvorbehalt darf der Gesetzgeber nur Gebrauch machen, wenn dies nach einer Abwägung der betroffenen 6 7

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BVerfG, Beschlüsse v. 19. 11. 2021 („Bundesnotbremse I und II“ – betr. Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sowie Schulschließungen). Vgl. etwa Heribert Prantl, Mutlose Richter, in: Süddeutsche Zeitung v. 04./.05. 12. 2021, S. 6. Ebenso verschiedene Äußerungen bei den 50. Bitburger Gesprächen am 13./14. 01. 2022 zum Thema „Die Handlungsfähigkeit des demokratischen Verfassungsstaats in Krisenzeiten“, insbes. von Oliver Lepsius und Uwe Volkmann. Recht und Politik, Beiheft 10

Freiheitsbegriff, Staatsverständnis und politische Ethik im Wandel

Rechtsgüter und Interessen notwendig und angemessen ist, und Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG schreibt vor, dass ein solches Gesetz „allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten“ muss und dass es das einzuschränkende Grundrecht „unter Angabe des Artikels nennen“ muss.8 „In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden“ (Art. 19 Abs. 2 GG). Damit ist klargestellt, dass nicht die Exekutive solche Eingriffe erlauben darf, sondern nur der Gesetzgeber, und dass willkürliche Maßnahmen nicht verfassungskonform sein können. Die Abwägung fällt im Fall der Corona-Impfung eindeutig aus.9 Das eine Impfpflicht anordnende Gesetz gilt allgemein: Jedem Einzelnen wird zugemutet, den kurzen Schmerz und die eventuellen, in aller Regel geringfügigen und vorübergehenden Nebenwirkungen zu ertragen, damit die weitere Ausbreitung des Virus mit ihren schweren Folgen für die Vielzahl möglicher Betroffener und für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems verhindert oder zumindest erschwert wird. Wenn möglichst viele Menschen (und nicht nur die Angehörigen von Heil- und Pflegeberufen i.S.v. § 20a IfSG) geimpft sind, erkranken sie selbst und viele andere mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht oder nur leicht. Damit sinkt die Gefahr, dass noch mehr Menschen an Covid-19 sterben. Ärzte und Krankenhäuser werden von der enormen Belastung durch die Pflege der Schwerkranken entlastet. Wenn die Pandemie durch umfassende Impfungen letztlich besiegt oder zumindest auf ein erträgliches Risikoniveau zurückgedrängt wird, können alle Kontaktbeschränkungen, Berufsausübungsverbote, Betriebsschließungen und Verhaltensvorschriften aufgehoben werden. Die geringfügige Einschränkung der körperlichen Integrität macht es also möglich, dass viele andere Freiheiten – eigene und fremde – wieder aufleben. Nach allem, was die einschlägigen Wissenschaftler bekunden, ist die Impfung das wirksamste Mittel gegen Ansteckung, auch wenn sie keine hundertprozentige Sicherheit vermittelt. „Absolute“ Sicherheit gibt es ohnehin nicht. Die zu erwartenden Nebenwirkungen sind eindeutig schwächer und weniger wahrscheinlich als die Folgen einer Ansteckung, und Ungeimpfte tragen ein wesentlich höheres Risiko, sich zu infizieren, als die vollständig Geimpften. In der öffentlichen Diskussion haben freilich Meldungen über angeblich schwere Neben- und Nachwirkungen der Impfung (bzw. der verschiedenen Impfstoffe) die Erfolgsberichte zeitweise überlagert. Nachrichten über unerwartete, von den Experten oder der Politik übersehene oder verschwiegene Zusammenhänge sind immer besonders interessant, und so werden selbst Behauptungen, die längst widerlegt sind, noch lange verbreitet und von vielen für richtig gehalten. Manche der insbesondere im Internet gestreuten Geschichten über die Wirkungsweise der neuartigen Impfstoffe sind offensichtlich falsch und wurden öffentlich korrigiert, manche Gerüchte (etwa über weltweite Verschwörungen obskurer Mächte gegen die Völker) sind so abenteuerlich, dass die Wissenschaft sich damit gar nicht ernsthaft befassen kann. In ihrer Angst um die eigene Gesundheit denken 8 9

Beispiele für die Beachtung des Zitiergebots: § 20 Abs. 14 und § 21 Satz 2 IfSG. S. schon Bull, Her mit der Impfpflicht! FAZ v. 04. 11. 2021, S. 8.

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Impfgegner nicht einmal an ihr um ein Vielfaches höheres Risiko, an Covid-19 zu erkranken, und erst recht nicht daran, dass sie eine moralische Pflicht zur Solidarität haben könnten. 3. Rechtspflicht oder „nur“ Ethik? Manche Mitmenschen erkennen zwar eine ethische Pflicht an, sich impfen zu lassen, beharren aber darauf, dass dies keine Rechtspflicht sei, dass vielmehr das Recht der Selbstbestimmung fortgelte. Ob und unter welchen Umständen es demgegenüber eine allgemeine Pflicht zur Solidarität gibt, ist umstritten.10 Ein Teil der Impfskeptiker hat sich sogar impfen lassen, aber darauf bestanden, dass dies eine freiwillige Entscheidung sei; der Staat dürfe niemanden dazu nötigen. Man behauptet also eine Freiheit, sich gegen die eigene Einsicht in die Notwendigkeit zu entscheiden. Was ist das anderes als die Gleichsetzung von Freiheit und Willkür? Wird hier die Freiheit zur Fremd- und Selbstbeschädigung als Ausfluss eigener Klugheit verstanden? Ein solches Freiheitsverständnis kann nur Verwirrung stiften; der Widerspruch zwischen Handeln und Bewerten ist zu groß. Eine gesetzliche Impfpflicht stellt die Rechts- und Pflichtenlage klar. Sie bekräftigt das moralisch und sozialethisch Gebotene in allgemeingültiger, verbindlicher Form, dadurch kann sie Rechtsbewusstsein und Pflichtgefühl begründen. Sie macht es den Skeptikern oder Nachlässigen unmöglich, sich damit herauszureden, dass es „keine Impfpflicht gebe“, und macht auf längere Sicht – wenn sie von den meisten Menschen befolgt wird – die indirekte Impfpflicht „durch die Hintertür“ überflüssig, die durch Maßnahmen wie die Öffnung von Läden und Restaurants nur für Geimpfte und Genesene („2 G“) und die Pflicht zu ständig neuen Tests nun schon seit längerer Zeit durchgesetzt wird. 4. Durchsetzbarkeit als Voraussetzung einer Impfpflicht? Impfpflicht heißt nicht Impfzwang, also nicht die Anwendung körperlicher Gewalt zur Durchsetzung von Impfungen. Der Gesetzgeber kann darauf vertrauen, dass ein großer Teil der Verpflichteten sich an die Vorschriften halten wird. Voraussetzung ist selbstverständlich, dass hinreichend Impftermine für alle zur Verfügung stehen. Wer sich weigert, muss allerdings mit Zwangsmaßnahmen rechnen; das Verwaltungsvollstreckungsrecht11 sieht dazu Zwangsgelder und hilfsweise (wenn das Zwangsgeld „nicht zum Ziel führt“ oder „untunlich“ ist) auch „unmittelbaren Zwang“ vor. Das Zwangsmittel ist „möglichst so zu bestimmen, dass der Betroffene und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigt werden“.12 Darüber hinaus besteht weitgehend Einigkeit 10 Ausführungen dazu in: Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der CoronaKrise. Ad-hoc-Empfehlung. Berlin, 27. März 2020, insbes. S. 5. 11 Für Bundesbehörden: Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz v. 27. 04. 1953 §§ 6 ff.; für die Landesbehörden gelten ähnliche Vorschriften des Landesrechts. 12 § 9 Abs. 2 Satz 2 VwVG (Bund). 30

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darüber, dass Impfgegner nicht mit körperlicher Gewalt in eine Impfstation und vor die Spritze gebracht werden dürfen – diese Vorstellung widerspräche dem Gebot, auch dem Rechtsbrecher Respekt zu zollen und seine Menschenwürde zu wahren. Das Verwaltungsvollstreckungsrecht ist überdies wenig geeignet, Rechtspflichten gegen eine große Zahl von Menschen durchzusetzen, die sich gleichzeitig verweigern; es enthält prozessuale Hürden, die die Arbeit der Behörde erschweren.13 Die Zwangsmittel müssen schriftlich angedroht und nach Fristablauf ausdrücklich festgesetzt werden, und schon die Androhung kann gerichtlich angefochten werden – so vergeht viel Zeit, und es kann lange gestritten werden. Praktischer ist es, wenn der Gesetzgeber spezielle Bußgeldvorschriften erlässt. Wenn eine gesetzliche Impfpflicht mit einer derartigen Vorschrift verbunden wird, kann die Verwaltung auf Verstöße ziemlich schnell reagieren. Es empfiehlt sich also, in einem Impfgesetz die Modalitäten der Durchsetzung ausdrücklich zu regeln. Dass es trotz solcher Vorkehrungen nicht einfach sein dürfte, die Befolgung einer allgemeinen Impfpflicht zu überwachen, trifft zwar zu, aber schon zur Klarstellung der Pflichtenlage kann und wird die gesetzliche Anordnung viel bewirken. Eine gesetzliche Regelung würde auch die entscheidende Legitimation für weitere Maßnahmen enthalten, die von der Exekutive verfügt werden und die indirekt dasselbe Ergebnis bewirken sollen – wie eben die Kontaktbeschränkungen und Sperren nach den Mustern „2 G“ oder „3 G“ (Öffnung für Geimpfte, Genesene und Getestete). Wie notwendig eine gesetzliche Regelung ist, wird deutlich, wenn man sich vorstellt, das BVerfG käme auf eine Verfassungsbeschwerde eines von der G 2-Regelung betroffenen Restaurant- oder Hotelbetreibers hin zu dem Schluss, die Impfpflicht sei ein milderes Mittel zur Bekämpfung der Pandemie als manche der geltenden Kontaktbeschränkungen und Kontrollauflagen und dass diese daher unverhältnismäßig und verfassungswidrig seien. Tatsächlich wäre eine solche Abwägung überzeugender als die geltenden pauschalen Regelungen. 5. Modalitäten einer gesetzlichen Impfpflicht Um einen Eingriff in die körperliche Identität zu rechtfertigen, ist ein förmliches Gesetz erforderlich. Ein Impfgesetz, das den Einzelnen Pflichten auferlegt, muss also vom Parlament beschlossen werden. Eine Rechtsverordnung oder eine andere Form von untergesetzlichem Recht reicht nicht aus. Damit ist auch sichergestellt, dass das Parlament über die Problematik debattiert. Der Deutsche Bundestag hat mehrfach bewiesen, dass er in einer Krise sehr schnell beschließen kann. Selbstverständlich muss ein Impfgesetz auch den Anforderungen der Normenklarheit (Bestimmtheit) und Verhältnismäßigkeit gerecht werden, die für jedes Gesetz gelten. Dazu gehört u. a., dass etwaige Ausnahmen von der Impfpflicht (z. B. aus medizinischen Gründen aufgrund ärztlicher Bescheinigungen) so genau wie möglich und kontrol13 Vgl. insbesondere §§ 13, 14 und 18 VwVG (Bund). Recht und Politik, Beiheft 10

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lierbar formuliert werden. Regelungsbedürftig wäre ferner, unter welchen Voraussetzungen die Impfung wiederholt werden muss. Angesichts der Ungewissheiten über die Entwicklung des Virus dürfen die Anforderungen hier aber nicht hochgeschraubt werden; es genügt eine Umschreibung der künftigen Situation, in der eine Wiederholung erforderlich erscheint, und möglicherweise eine prozessuale Voraussetzung (z. B. das Vorliegen mehrerer dann aktueller wissenschaftlicher Gutachten über das Ausmaß der Infektionsgefahr). Als notwendige Infrastruktur für die Durchsetzung einer allgemeinen Impfpflicht wird auch die Einrichtung eines zentralen Impfregisters14 oder die Pflicht zum Mitführen und Vorzeigen der Impfbescheinigungen (in elektronischer oder Papierform) zu erörtern sein. Zumindest gegen den zweiten Ansatz könnte nicht angeführt werden, „der Datenschutz“ stehe entgegen; denn das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ soll die Betroffenen nicht davor „schützen“, durch den Nachweis der Impfung ihre Freiheit z. B. zum Restaurantbesuch wieder herzustellen. Wie zu 4. bereits bemerkt, dürfte es auch nötig sein, Vorsorge für Konflikte bei der Durchsetzung zu treffen. Zu einer zuverlässigen Rechtsgrundlage gehören überdies Anordnungen über die Zuständigkeit für die verschiedenen Maßnahmen; das Verhältnis zwischen Bund und Ländern und zwischen den Ländern muss für die konkrete Aufgabe der Pandemiebekämpfung möglicherweise überprüft und modifiziert werden. Unter welchen Voraussetzungen Entschädigung wegen etwaiger Impfschäden beansprucht werden kann, ist schon jetzt geregelt.15 6. Was sagen das EU-Recht und der Europarat? a) Europäische Union Auch die Europäische Union beschäftigt sich mit der Pandemiebekämpfung. Sie hat in einer frühen Phase der Impfstoffherstellung die Bestellung und Verteilung von Impfstoffen organisiert, freilich nicht durchgängig zur Zufriedenheit der Mitgliedstaaten. Die Kompetenzen der EU auf dem Gebiet des Gesundheitswesens sind nach Art. 168 AEUV vielfältig, letztlich aber auf Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung nationaler Politik beschränkt.16 Nach Art. 168 AEUV „ergänzt“ die Tätigkeit der Union die Politik der Mitgliedstaaten bei der Verfolgung der Ziele, die sich jede Gesundheitspolitik stellen muss, darunter auch „die Bekämpfung der weit verbreiteten 14 Das Robert-Koch-Institut unterhält bereits ein „elektronisches Melde- und Informationssystem“, freilich nur für anonymisierte Daten (§ 14 InfSG). 15 §§ 2 Nr. 11, 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG. Die Regelung beruht auf dem gewohnheitsrechtlich geltenden allgemeinen Aufopferungsgrundsatz, vgl. Papier/Shirvani, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Kommentar, Stand April 2020, Art. 34 Rn. 56. S. a. BGHZ 9, 83 und 215, 335. 16 S. a. Art. 2 Abs. 5 Unterabsatz 1 und Art. 6 AEUV. Die Gesetzgebungskompetenz der EU nach Art. 168 Abs. 4 ist ausdrücklich als Ausnahme von Art. 2 Abs. 5 und Art. 6 Buchstabe a bezeichnet. Grundsätzlich zur Gesundheitspolitik der EU: Andreas Th. Müller, Europa und die Pandemie: Zuständigkeitsdefizite und Kooperationszwänge, VVDStRL 80 (2021), S. 105 ff. 32

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schweren Krankheiten“. Europäische Gesetzgebung soll sich mit „Maßnahmen zur Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Arzneimittel und Medizinprodukte“ befassen17, und „das Europäische Parlament und der Rat können […] auch Fördermaßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit […] erlassen“.18 Diese Maßnahmen „dürfen keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten beinhalten“;19der AEUV betont vielmehr „die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung“.20 Über die Zulassung der Impfstoffe durch die Europäische Arzneimittel-Agentur übt die EU Einfluss auf die Pandemieabwehr in den Mitgliedstaaten aus. Die Agentur ist aufgrund einer früheren Fassung des EU-Vertrages gegründet worden; ihre Tätigkeit fällt in den Rahmen des Art. 168 Abs. 4 Buchstabe c AEUV.21 b) Europarat Im Zusammenhang mit den Verhandlungen der EU über einen Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention ist bemerkt worden, dass der Europarat am 27. Januar 2021 eine Resolution verabschiedet hat, in der die Parlamentarische Versammlung die Mitgliedstaaten und die Europäische Union „nachdrücklich“ auffordert, „dafür zu sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger darüber aufgeklärt sind, dass die Impfung NICHT verpflichtend ist und niemand politisch, sozial oder anderweitig unter Druck gesetzt wird, sich impfen zu lassen, wenn er oder sie dies nicht möchte“, sowie „dafür zu sorgen, dass Personen, die nicht geimpft sind, weil dies aufgrund möglicher Gesundheitsrisiken nicht möglich ist oder die betreffende Person dies nicht möchte, nicht diskriminiert werden“.22 Eine Gruppe von Abgeordneten des Europäischen Parlaments hat dazu eine Anfrage an die Kommission gerichtet, wie die EU diese Entschließung umgesetzt habe und ob diese Resolution im Widerspruch zur Einführung einer Impfpflicht für Beamte der EU stehe.23 In der zitierten Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, die sich ausführlich mit den Problemen der Covid-19-Impfstoffe befasst und u. a. für deren gerechte Verteilung und Anwendung wirbt, wird für die Ablehnung einer Impfpflicht keine Begründung angegeben. Es wird nicht gesagt, aus welcher Bestimmung der EMRK eine so entschiedene Absage hergeleitet werden soll. Erklärbar ist diese Position 17 Art. 168 Abs. 4 Buchstabe c AEUV. Die Buchstaben a und b dieses Absatzes betreffen die Standards „für Organe und Substanzen menschlichen Ursprungs sowie Blut und Blutderivate“ und „Maßnahmen in den Bereichen Veterinärwesen und Pflanzenschutz“. 18 Art. 168 Abs. 5 AEUV. 19 Art. 2 Abs. 5 Unterabsatz 2 und Art. 168 Abs. 5 (Satzanfang) AEUV. 20 Art. 168 Abs. 7 Satz 1 AEUV. 21 Dazu Müller (Fn. 16), S. 114 Fn. 52. 22 Resolution 2361 (2021), https://pace.coe.int/en/files/29004, Nummer 7.3.1. 23 Anfrage zur schriftlichen Beantwortung an die Kommission E- 04802/2021 (Art. 138 der Geschäftsordnung). Recht und Politik, Beiheft 10

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wohl nur aus der Situation Anfang des Jahres 2021, als die Impfungen europaweit gerade begonnen hatten. Die Zahl derer, die keine Impfung „wünschten“, dürfte seinerzeit sehr gering und für den Erfolg der Impfkampagnen unerheblich gewesen sein. So meinte man es sich wohl leisten zu können, die Freiheit der Bürger zu willkürlicher Entscheidung zu bekräftigen: Wer es „nicht möchte“, soll nicht verpflichtet sein. Man darf vermuten, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarates ihre Meinung inzwischen ebenso geändert hat wie die früheren Gegner einer Impfpflicht in Deutschland. Man hat vermutlich auch gar nicht bedacht, wie stark eine solche Entschließung – wäre sie denn verbindlich – die Gesetzgebungskompetenz der Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann. Eine solche Bindung besteht aber nicht, und sie kann erst recht nicht im Wege der Pflichtenübernahme bei einem Beitritt der EU zur EMRK entstehen.24

III. Wandlungen im Staatsverständnis In der Auseinandersetzung um eine Impfpflicht gegen das Corona-Virus sind Wandlungen des allgemeinen Verständnisses von Politik und Staat manifest geworden, die offenbar auf längerfristigen Entwicklungen des politischen Bewusstseins beruhen. In das überkommene Verständnis von Aufgaben und Arbeitsweise des Staates sind neue, z. T. irritierende Elemente eingeflossen, die der näheren Untersuchung bedürfen. Hier seien zunächst die staatstheoretischen Grundsatzfragen angesprochen; im folgenden Abschnitt werden Folgerungen für die praktische politische Ethik behandelt. 1. Der Freiheitsbegriff: Tendenz zur Willkür oder zur Verantwortlichkeit? Oberstes Gebot für alles staatliche Handeln ist es, die Menschenwürde zu achten und zu schützen (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG). „Darum“ – also um die Würde des Menschen unantastbar zu bewahren, „bekennt sich“ das Grundgesetz zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“ (Art. 1 Abs. 2 GG), und die Grundrechte des Kataloges in Art. 2 ff. GG binden alle staatlichen Organe (Art. 1 Abs. 3 GG). Rechtliche Reflektionen über die Freiheit der Menschen beginnen daher stets bei den im GG festgeschriebenen Grundrechten, und auch in der staatstheoretischen Betrachtung herrscht diese Tendenz: Die Freiheit des Individuums zu verwirklichen ist das höchste Ziel staatlichen Handelns. Dass diese Freiheit nicht unbegrenzt gelten kann, dass vielmehr die Freiheitsrechte anderer und das Allgemeininteresse das Individuum daran hindern können, willkürlich das zu tun, was er oder sie gerade will, ist zwar eine Trivialität, wird aber in der öffentlichen Diskussion um den Freiheitsbegriff vernachlässigt. Manche Äußerungen zur Impfpflicht lassen darauf schließen, dass subjektive Freiheiten als schrankenlos und 24 Die Resolution schließt übrigens mit einem Appell an die nationalen Parlamente als „cornerstone institutions of democracy“ ihre Rolle u. a. bei der Gesetzgebung auch in der Pandemie wahrzunehmen (a.a.O. Nr. 8). 34

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absolut wahrgenommen werden. Wenn etwa gesagt wird, „mit der Verfassung“ könne man „nicht verhandeln“,25 so klingt das wie ein pauschales Bestreiten jeder Gegenposition zur individuellen Freiheit des jeweils Handelnden – eine Ansicht, die spätestens dann als Irrtum erkannt werden müsste, wenn ein Dritter sich ebenfalls auf ein Grundrecht beruft: Dann muss geprüft – und also z. B. vor Gericht auch darüber „verhandelt“ – werden, wie weit die Rechtssphäre des einen und die des anderen reicht. Die Freiheit des Individuums kann im Staat des Grundgesetzes nicht über die Grenzen hinausgehen, die in eben diesem Grundgesetz bestimmt sind. Sie ergeben sich einerseits schon aus dem Wortlaut der diese statuierenden Normen, andererseits aus ausdrücklich bestimmten Vorbehalten (im Haupt- und Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG: „die Rechte anderer“ und „die verfassungsmäßige Ordnung“). Und selbst solche Grundrechte, die im Text der Verfassung nicht ausdrücklich eingeschränkt sind – wie die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses (Art. 4 Abs. 1 GG) – werden durch „verfassungsimmanente Schranken“ relativiert; das BVerfG nennt hier ausdrücklich „kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte“.26 Es gibt also doch ziemlich viel Raum für „Verhandlungen“ (mit dem Verfassungsgericht) über das richtige Verständnis der Grundrechte. Das Grundgesetz unterscheidet nicht zwischen „Freiheit wovon“ und „Freiheit wozu“. Die Grundrechte sind „in erster Linie“ Abwehrrechte gegen Beschränkungen der individuellen Rechte,27 später ist ihnen auch die Funktion zugesprochen worden, Rechte auf staatlichen Schutz zu begründen.28 Es liegt auf der Hand, dass dadurch die Abwehrfunktion, die einem Teil der Grundrechtsträger zugute kommt, zugunsten des „geschützten“ Teils der Grundrechtsinhaber geschwächt wird. Die Rechtsprechung des BVerfG stellt eine behutsame Modifikation der grundgesetzlichen Normen dar; sie ist allgemein akzeptiert worden. Das Grundgesetz kennt keine „Grundpflichten“.29 Sie wären aber durchaus denkbar, und spezielle Pflichten hat auch das Grundgesetz anerkannt – man lese Art. 12 Abs. 2 25 Wolfgang Kubicki, Die erdrückte Freiheit. Wie ein Virus unseren Rechtsstaat aushebelt, Frankfurt/Main 2021, S. 9. Nach Presseberichten haben Kubicki und andere FDP-Politiker sich immer wieder – mit unterschiedlichen, aber überwiegend taktischen Begründungen gegen eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen und die Beratungen des Bundestages hinausgezögert, vgl. u.v.a. die Berichte von Henrike Rossbach und Nico Fried in der Süddeutschen Zeitung v. 18./19. 12. 2021 sowie vom 05./06. und 07. 01. 2022. 26 Vgl. etwa BVerfGE 28, 243 (261); 30, 173 (193) (Mephisto); 41, 29 (50) (Religionsfreiheit) sowie Horst Dreier, in: ders., Grundgesetz. Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Vorb. vor Art. 1, Rn. 139 f.; Matthias Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG. Kommentar, Stand Januar 2021, Art. 1 Abs. 3, Rn. 44. 27 Vgl. u. a. BVerfGE 7, 198 (204) (Lüth-Urteil); dazu Dreier (Fn. 26), Vorb. vor Art. 1 GG, Rn. 84 ff. 28 BVerfGE 39, 1 (1. Urt. zum Schwangerschaftsabbruch); 46, 160 (Schleyer-Entführung); 49, 89 (Kalkar), 56, 54 (Schutz vor Fluglärm); vgl. Dreier (Fn. 26), Rn. 101 mit Fn. 491. 29 Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt hat sich zusammen mit anderen Elder Statesmen mehrfach für eine internationale „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“ eingesetzt (so Recht und Politik, Beiheft 10

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und Art. 12 a, aber auch Art. 6 Abs. 2 und Art. 5 Abs. 3 Satz 2 GG. Gegner einer gesetzlichen Impfpflicht behaupten jedoch, eine solche Pflicht dürfe allenfalls dann erwogen werden, wenn alle Mittel der Überzeugung, des Anreizes oder der sonstigen Motivation zu „freiwilliger“ Entscheidung erschöpft wären oder versagt hätten. Sie stellen sich also vor, dass letztlich die meisten Menschen überzeugt (oder soll man sagen: überredet?) werden können und dann die Zustände, die sonst durch Gesetz geschaffen werden, ohne Tätigwerden staatlicher Organe hergestellt werden können. Diese Argumentation müsste folgerichtig auch bei anderen Pflichten gelten, die bisher durch Gesetz begründet werden (z. B. bei der allgemeinen Steuerpflicht!). Widerstand gegen gesetzliche Anordnungen beruht aber vielfach – und jedenfalls bei der Impfpflicht – nicht auf einer rationalen Abwägung des Pro und Contra der geforderten Verhaltensweise, sondern entsteht ohne solche Erörterung, spontan, er ist im Kern emotional durch generelle Staatsskepsis geleitet. Allein schon der durch die endlose Wiederholung der Argumente entstehende Zeitverbrauch ist in einer Pandemie kaum zu verantworten, zumal wenn nicht zu erwarten ist, dass die Minderheit sich der eindeutigen Mehrheitsentscheidung beugt.30 Dass der freiheitliche Charakter des Gemeinwesens schon dann verloren gehe, wenn der Gesetzgeber handelt, statt auf freiwillige Handlungen der Bürger zu warten, ist noch nie behauptet worden. Allenfalls könnte behauptet werden, dass es ein milderes Mittel darstelle und daher durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip geboten sei, auf Freiwilligkeit zu setzen. Aber dieses Warten auf die Einsicht einer Minderheit ist kein geeignetes Mittel zu dem legitimen Zweck. Die verfassungsmäßigen Befugnisse der staatlichen Organe bestehen auch dann, wenn die damit verfolgten Ziele auch ohne deren Einsatz erreicht werden könnten. Der Charakter eines Staates als „freiheitlich“ oder „autoritär“ aber ergibt sich erst aus der Gesamtbetrachtung der Rechte, die dem Einzelnen vorbehalten sind, im Verhältnis zu der Gesamtbelastung dieser Rechte durch Pflichten und Obliegenheiten. Auf Demonstrationen von Corona-Leugnern wird demgegenüber verlangt, der Staat solle alle Einschränkungen der individuellen Freiheit unterlassen. Das bedeutet die vollständige Ablehnung jedes staatlichen Eingriffs in das Pandemie-Geschehen (in der Hoffnung, eine „unsichtbare Hand“ werde das Geschehen zum allgemeinen Vorteil hinlenken, so wie man es in der Wirtschaftspolitik vom unbeschränkten Markt erwartet hat) und damit im Grunde die Forderung, willkürliches Handeln als Freiheitsausübung anzuerkennen. Würde dies von der Mehrheit akzeptiert, wären die Folgen dramatisch: Die wohlabgewogene Grundrechtslehre hätte ausgedient, die Tendenz zur Unberechenbarkeit der Verfassungsauslegung würde gestärkt.

auch der Titel seiner Schrift, München 1998). Zum Thema s.a. Torsten Schmidt, Grundpflichten, Baden-Baden 1999. 30 So auch Klaus Ferdinand Gärditz, Die Bequemlichkeit endloser Abwägungsschleifen, FAZ v. 13. 01. 2022. 36

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So weit ist es noch nicht, und es wird vermutlich nicht dazu kommen, dass der Staat denen ausgeliefert wird, die ihn abschaffen wollen.31 Aber der Widerstreit zwischen ungebremstem Freiheitsverlangen und einer solidarischen rechtsstaatlichen Gemeinschaft wird bestehen bleiben. Für eine relevante Zahl von Mitbürgern geht es darum, sich auf jeden Fall die erreichten Vorteile zu sichern und notwendige Opfer für die Allgemeinheit zu verweigern. Die allgemeine Beschwörung des Individuums als Ausgangspunkt politischer und rechtlicher Debatten stärkt die Position dieser Kräfte in der öffentlichen Auseinandersetzung. Dies zu bemerken, heißt nicht, einem Kollektivismus das Wort zu reden, wie er in totalitären Staaten geherrscht hat oder herrscht. Es gelten selbstverständlich nicht Parolen wie: „Du bist nichts, dein Volk ist alles“, wohl aber könnten und sollten kommunitaristische Ideen und Verantwortungslehren32 berücksichtigt werden, um unsolidarischem Freiheitsdenken entgegenzutreten. Gegen ein Überwiegen der „Kollektiv“-Positionen wird sich im Staat des Grundgesetzes die „schiefe Schlachtordnung“ auswirken, die bei der Anrufung der Gerichte besteht. Die Richter müssen sich zu der konkreten Wirkung der in Anspruch genommenen Grundrechte äußern. Gegen das jeweilige Grundrecht gerichtete Interessen werden erst im zweiten Schritt der Prüfung vorgebracht – entweder von Dritten, die durch die beanspruchte Freiheitsausübung beeinträchtigt werden, oder von Vertretern der Allgemeinheit, die deren Interessen zur Geltung bringen. In der letzten Instanz ist die Geltendmachung von Allgemeininteressen allenfalls mittelbar möglich; denn zur Verfassungsbeschwerde beim BVerfG sind nur Personen befugt, die behaupten, in ihren Rechten verletzt zu sein, nicht aber Behörden (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). 2. Die Erwartungen an den Staat Das Freiheitsverständnis der Corona-Protestanten steht in einem auffallenden Widerspruch zu der sonst in der Gesellschaft dominierenden Tendenz, immer mehr Leistungen vom Staat zu erwarten. Nach vorherrschender Ansicht soll der Staat nicht nur Freiheit gewährleisten und soziale Sicherheit organisieren, sondern auch Gefahren für die gewohnte Lebensgestaltung abwehren. Er soll zu einer Rundum-VersicherungsAnstalt werden, die auch alle neu entstehenden oder auftauchenden Risiken abdeckt, für die es keine privaten Versicherungsangebote gibt. Angesichts einer weltweiten Pandemie, gegen deren Ausbreitung es zunächst keine wirksamen Mittel gab, ist der Ruf nach staatlichem Handeln begründet. Es fällt aber auf, dass die traditionelle liberale Gegenstrategie – der Appell an die eigenen Kräfte des Individuums – immer schwächer wird. (Die „Querdenker“, die dem Staat jede Einmischung verwehren wollen, bilden 31 Besorgniserregend ist jedoch die Entwicklung in den USA, wo eine der beiden größten politischen Kräfte, nämlich die Republikanische Partei, im Parlament durch die strikte Blockade aller Vorlagen der anderen Seite kontinuierlich an der Demontage der staatlichen Ordnung arbeitet. 32 Ein Überblick: Günter Rieger, Kommunitarismus, in: Dieter Nohlen/Florian Grotz (Hrsg.), Kleines Lexikon der Politik, 6. Aufl. München 2015, S. 328 f. S. a. Winfried Brugger, Kommunitarismus als Verfassungstheorie des Grundgesetzes, AöR 123 (1998), S. 337 – 374. Recht und Politik, Beiheft 10

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trotz einiger eindrucksvoller Demonstrationen nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung; „liberal“ sind sie nicht.) Trotz teilweise heftiger Kritik an Versäumnissen der Politik wird dem Staat fast Allmacht unterstellt. Die konkreten Adressaten dieser Forderungen, die zuständigen Fachpolitiker und ihre Behörden, kommen der Erwartung, der Staat werde „es schon richten“, in fragwürdiger Weise entgegen; sie treten jedenfalls dem Eindruck nicht hinreichend entgegen, sie seien tatsächlich zur Bewältigung schwerster Aufgaben in der Lage. Während von den Kirchen und Religionsgemeinschaften immer weniger Leistungen für die Allgemeinheit erwartet werden, richten sich auf den Staat auch Hoffnungen auf immaterielle Hilfe in Notlagen. Manche Hilferufe klingen wie das Flehen um psychischen Beistand. Für die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse ist der Staat aber der falsche Adressat. Er kann allenfalls kulturelle Einrichtungen wie Theater und Opern, Musik, bildende Kunst und Literatur fördern (und er tut das mit Subventionen für die Kulturwirtschaft, nicht für die Kunst als solche oder gar für die Seelsorge). 3. Respekt für alle Positionen? In Teilen der Bevölkerung herrschen große Ängste – vor dem Virus, vor Krankheit und Tod durch Infektion mit Corona, aber auch vor dem Geimpftwerden.33 Ein Teil der radikalen Kritiker steigert sich infolge dieser Ängste in eine generelle Ablehnung der Corona-Politik und einen fatalistischen Trotz gegenüber allen politischen Versuchen hinein, die Pandemie zu begrenzen. Ein anderer Teil der „Anti-Corona-Demonstranten“ verbindet seine Kritik an der Politik mit Fragen an die Verantwortlichen, die an medizinische Bedenken gegen Impfstoffe anknüpfen und die Wirksamkeit und Ungefährlichkeit der Impfungen bestreiten. Zugleich wird beklagt, dass Impfgegner „kriminalisiert“ würden. Gefordert wird „Respekt für alle“, also sowohl für diejenigen, die gegen das Impfen sind, als auch für andere, die strengere Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus fordern. Während manche sich auch gewalttätig gegen die Ordnungskräfte wenden, appellieren wieder andere an alle Beteiligten, „einander zuzuhören“ und die Sorgen und Nöte „ernst zu nehmen“. Von der Politik wird immer mehr Information über die naturwissenschaftlichen und sozialen Zusammenhänge der Pandemie gefordert, je länger für die Impfung geworben wird; gleichzeitig werden immer neue Theorien über die Wirkungsweise der Impfstoffe und andererseits über die Situation der nicht Geimpften aufgestellt, etwa dass der Staat mehr für die „natürliche“ Lebensweise und gesunde Ernährung werben, die Bekämpfung der Pandemie aber dem Schicksal überlassen solle. Friedfertige Demonstranten fordern, „wieder eine echte solidarische Gemeinschaft“ zu werden und „eine gemeinsame gesamtgesellschaftliche Lösung heraus aus der Krise zu finden“.34 33 Repräsentativ etwa das Interview der Berliner Zeitung vom 17. 12. 2021 mit den Anmelderinnen einer von der zuständigen Behörde verbotenen Demonstration, Nicole Reese und Miriam Stein (https://berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/harte-bandagen … ). 34 Nicole Reese, a.a.O. (Fn. 33). 38

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Wie das gelingen soll, wenn alle auf ihrer Meinung beharren und sich eben nicht zum solidarischen Schutz der jeweils anderen bekennen, ist unerfindlich. Gewiss ist Respekt auch vor Menschen geboten, die von der Mehrheit für falsch informiert oder eigensinnig gehalten werden, und es entspricht politischer Klugheit, existentielle Ängste der Menschen ernst zu nehmen, wenn man mit ihnen kommunizieren will. Aber „ernst nehmen“ kann nicht bedeuten, für falsch gehaltene Ansichten zu übernehmen – im Gegenteil: Respekt und Klugheit gebieten, den anderen zu verdeutlichen, dass man ihre Meinung nicht teilt, und die Gründe dafür darzulegen. Gerade auch im Widerspruch kann gezeigt werden, dass man eine Meinung ernst nimmt, und umgekehrt ist es ein Zeichen von Geringschätzung, wenn man anderen von vornherein die Fähigkeit zur Korrektur ihrer Ansichten abspricht. Tatsächlich hat die Politik mit großem Einsatz versucht, die Sorgen der Menschen durch Informationen und Argumente zu entkräften oder zumindest zu relativieren. Dabei sind gewiss nicht immer nur sanfte Formulierungen benutzt worden, aber es ist keine „Kriminalisierung“ der „Sündenböcke“, wenn der Verstoß gegen eine gesetzliche Pflicht mit einem Bußgeld geahndet wird. Für die Demokratietheorie stellen sich durch die starke Emotionalisierung der Diskussion einige neue Fragen – oder alte Fragen in neuem Kontext. 4. Das Idealbild von Demokratie a) Repräsentation oder Spiegelbildlichkeit? Fragwürdiges Freiheitsdenken und Emotionalisierung haben Auswirkungen auf die Idee von Demokratie, die eine Gesellschaft verfolgt. Wer da meint, die staatlichen Entscheidungen müssten sämtlich so abgewogen sein, dass alle Gruppen der Gesellschaft einschließlich grundsätzlicher Staatsverleugner ihnen zustimmen können, liefert das Gemeinwesen eben diesen Gegnern aus. Das Streben, auf jede Behauptung einer gesellschaftlichen Gruppe einzugehen, auch wenn es bereits als unbegründet zurückgewiesen worden ist und die Mehrheit zu einer Entscheidung bereit ist, würde zu einer unendlichen Diskussion ohne abschließende Entscheidung führen. Es ist unmöglich, allen Bewohnern eines Staates die Gründe staatlicher Entscheidungen vollständig und leicht verständlich zu vermitteln, und bei so komplexen Themen wie der Pandemiebekämpfung und der Vielfalt der dazu publizierten Studien aus mehreren wissenschaftlichen Disziplinen können nicht einmal die gesellschaftlichen Meinungsführer und Multiplikatoren vollkommen überzeugt werden; stets werden Informationslücken, ungenaue Einschätzungen und entsprechende Beurteilungsdivergenzen bestehen bleiben. In dieser Situation muss sich die Repräsentation des Volkes durch seine gewählten Vertreter und die von diesen berufenen Beamten bewähren. Sie sind in der Pflicht, die staatlichen Entscheidungen und Maßnahmen so sorgfältig wie irgend möglich vorzubereiten, und dazu gehört auch, alle Stimmen aus der Gesellschaft zu beachten und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Für die Erarbeitung verbindlicher Beschlüsse gelten Recht und Politik, Beiheft 10

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prozessuale Regeln, die darauf angelegt sind, aus der zunächst unüberschaubaren Menge an Meinungen und Positionen Entscheidungsvorschläge vorzubereiten und Entscheidungen zu ermöglichen. Insbesondere durch die Abfolge verschiedener Schritte – von der Ideensammlung über breit angelegte, strukturierte Diskussionen bis zur Bildung einer gemeinsamen Position – und durch die Verteilung der Zuständigkeiten auf verschiedene Stellen sind Vollständigkeit und Sorgfalt des Willensbildungsprozesses wenn nicht garantiert, so doch als Ziele festgelegt und erreichbar. Regelmäßig wird gegen die Form der Repräsentation, die auf der Grundlage des Grundgesetzes praktiziert wird, der Einwand erhoben, sie sei in Wahrheit nicht „repräsentativ“, weil nur ein Teil des Volkes seine Vertreter in die Parlamente entsende. Wahlrecht und gesellschaftliche Machtverhältnisse verhinderten, dass die Volksvertretung die Zusammensetzung des Volkes widerspiegele. Tatsächlich werden regelmäßig mehr Männer als Frauen und mehr Menschen mit Hochschuldiplomen als weniger gut ausgebildete Arbeitnehmer in den Bundestag gewählt, und die Zusammensetzung der Parlamente entspricht auch nach vielen anderen Kriterien (Lebensalter, Berufe, Zugehörigkeit zum öffentlichen Dienst, Künstler, Unternehmer, Bauern usw.) nicht der Statistik der vorhandenen Bevölkerung. Eine Verteilung der Abgeordnetensitze nach diesen Kriterien wäre nur durch entsprechende Quotenregeln möglich, die von den Statistischen Ämtern festzulegen wären und den Wählern keine Auswahlmöglichkeit mehr ließen. Kein demokratischer Staat kennt eine so verstandene Repräsentativität.35 Eine Verteilung der Mandate auf große Blöcke schichtgebundener Abgeordneter ist im Ständestaat versucht worden, der gerade keine Demokratie heutiger Vorstellung darstellte. Die Vorfestlegung der Sitzverhältnisse auf bestimmte Gruppen wäre auch nicht sinnvoll; denn ihre demokratietheoretischen Voraussetzungen stimmen nicht. Wer sie fordert, tut dies, weil er die (oder: einige) Ergebnisse repräsentativer Demokratie für ungerecht hält, insbesondere weil die Reichen und Mächtigen ihre Interessen meist besser durchsetzen könnten als die Unterprivilegierten; man glaubt, die Erfahrung der Unterprivilegierung befähige zur richtigen Interessenvertretung für das eigene Geschlecht oder die eigene Schicht, Berufsgruppe usw. Es spricht aber nichts dafür, dass dem so sei. Der soziale Fortschritt ist in der Geschichte nicht durch eine veränderte Zusammensetzung der Parlamente erreicht worden, sondern durch Veränderungen in der Gesellschaft und deren Auswirkungen auf die im Parlament betriebene Politik.36 35 „Verwechseln wir Repräsentation nicht mit Repräsentativität“, so der Alterspräsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Schäuble, in seiner auch sonst beachtenswerten Ansprache zur Eröffnung des neugewählten Bundestages, Protokoll der 1. Sitzung am 26. 10. 2021, S. 5 A ff. (6 C). Grundsätzliche Aussagen zur Parität in den Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte zum Thüringer und zum brandenburgischen Paritätsgesetz: ThürVerfGH, DÖV 2020, 945 und BVerfG, B.v. 6. 12. 2021, 2 BvR 1470/20; LVerfG Brandenburg, NJW 2020, 3579. Zum Bundestagswahlrecht: BVerfGE 156, 224 mit beachtenswerten Ausführungen zum Repräsentationsbegriff (S. 246 ff. Rn. 65 ff.). 36 Beispielhaft für den Perspektivenwechsel: Ute Daniel, Postheroische Demokratiegeschichte, Hamburg 2020. 40

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Oft haben dabei gerade Angehörige der herrschenden (Ober‐)Schicht die Entwicklung vorangetrieben; man denke an Ideengeber und Gründer der Arbeiterparteien wie Karl Marx, Friedrich Engels oder Ferdinand Lassalle. b) Mehrheit und Minderheit Das Dilemma, dass nicht alle im Volk vertretenen Positionen in den Entscheidungen des Staates berücksichtigt werden können, ist alles andere als neu. Um Entscheidungen herbeizuführen, sind förmliche Abstimmungen erforderlich, bei denen das Mehrheitsprinzip gilt. Freilich ist in unzähligen Fällen gegen Mehrheitsbeschlüsse angegangen worden, und nicht selten ist es einer unterlegenen Minderheit gelungen, die Mehrheitsentscheidung wieder rückgängig zu machen – entweder durch erneute Abstimmung oder durch Anrufung des Volkes zu direkt-demokratischen Entscheidungen. Die Überwältigung der Mehrheit durch die Minderheit soll aber im Verfassungsstaat nur die Ausnahme sein; als Regelfall muss für parlamentarische Entscheidungen eine gewisse Bestandskraft gelten, so dass eine Wiederaufnahme der Beratung erst nach Ablauf der Legislaturperiode in Betracht kommt. Mit dem Festhalten an einer geordneten und verbindlichen Verfahrensweise wird der Minderheit kein Unrecht angetan; sie wird vielmehr auf den Termin verwiesen, an dem die Karten neu gemischt werden, nämlich die Neuwahl des Parlaments.37 Manche behaupten für Entscheidungen, die die Menschen besonders stark bewegen, einen erhöhten Konsensbedarf und halten deshalb in solchen Fällen die Anwendung des Mehrheitsprinzips für falsch („undemokratisch“). Aber „Bewegungsthemen“ sind nicht so eindeutig zu identifizieren, dass man eine so wichtige prozessuale Besonderheit daran anknüpfen könnte. Man könnte allenfalls erwägen, für besonders weittragende und/ oder irreversible Entscheidungen, die über die Legislaturperiode hinauswirken, Einstimmigkeit der Betroffenen oder zumindest qualifizierte Mehrheiten zu verlangen; Verfassungsänderungen sind solch ein besonderer Fall (Art. 79 Abs. 2 GG). Aber aus dem Grundgesetz folgt keine entsprechende allgemeine Regel, und auch sonst gibt es dafür keine überzeugende Begründung. Vollständiger Konsens ist in keinem Volk erreichbar; bei dieser Modalität würde der Staat entscheidungsunfähig. Die „Vertretung“ des Volkes durch die gewählten Abgeordneten dient gerade dem Zweck, sonst schwer oder gar nicht entscheidbare Probleme einer Lösung näherzubringen. Eine Revision ist, wie gesagt, nach Ablauf der Amtsperiode der Abgeordneten möglich,38 und manchmal erweisen sich selbst vermeintlich irreversible Beschlüsse als änderbar oder jedenfalls in ihren Folgen beeinflussbar.

37 In diesem Sinne auch Reiner Schmidt, Impfpflicht: Keine Angst vor Spaltung, F.A.Z. Einspruch, v. 07. 12. 2021. Vgl. a. Ralf Poscher, Ohne Anspruch auf Wahrheit – Was anstatt der Impfpflicht wirklich spaltet, FAZ v. 02. 12. 2021. 38 Reiner Schmidt (Fn. 37) weist auch darauf hin, dass die ständige Vernachlässigung des Mehrheitswillens verantwortungslos wäre, weil sie das grundlegende Versprechen eines gewaltlosen möglichen Machtwechsels verletzen würde. Recht und Politik, Beiheft 10

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Minderheitenschutz bedeutet demgegenüber, dass die essentiellen Interessen einer überstimmten Gruppe gewahrt werden müssen, insbesondere die in der Verfassung ausdrücklich vorgesehenen Minderheitsrechte und die Chance, ihrerseits bei der nächsten Wahl zur Mehrheit zu werden. Den Unterlegenen steht auch das Recht zu, sich – ggf. zusammen mit gesellschaftlichen Gruppen – der Instrumente direkter Demokratie zu bedienen, die in den Landesverfassungen vorgesehen sind. Sie haben allerdings keinen Anspruch darauf, dass diese Instrumente auch in das Grundgesetz aufgenommen werden. c) Kommunikation zwischen Staat und Öffentlichkeit Es entspricht dem heutigen Demokratieverständnis, von den gewählten Politikern und den ausführenden Organen immer mehr Informationen und vor allem Antworten auf Fragen zu fordern, die zur Lösung anstehen. Diese Forderung ist berechtigt und als Basis des nötigen Vertrauens in die Politik unverzichtbar. In Krisenzeiten, bei Unsicherheit der Entwicklung, schuldet die Politik den Bürgern besonders genaue, zuverlässige und nachvollziehbare Unterrichtung in verständlicher Form, auch zur Korrektur der dann rasant anwachsenden Flut von Gerüchten und Fehleinschätzungen. Bloße Information reicht nicht; notwendig ist auch die Bewertung der mitgeteilten Daten – z. B. über Inzidenzen –, die stets auch den Vergleich mit früher oder anderswo erhobenen Daten ermöglichen sollte. Die Erörterungen, die einem Beschluss vorausgehen, müssen in verständlicher Form veröffentlicht werden. Tatsächlich bemühen sich alle staatlichen Stellen seit langem, ihre Arbeit über das förmlich in Gesetzen Geforderte hinaus transparent zu machen. Im Internet finden sich Informationsmengen von früher unbekanntem Ausmaß, insbesondere zuverlässige wissenschaftliche Quellen, und Informationsfreiheitsgesetze ermöglichen es auch dem nicht in einem Verein oder Verband organisierten Bürger, sich zusätzlich aus dem Informationsbestand der Behörden Klarheit auch über komplizierte Zusammenhänge zu verschaffen. Der Staat muss viel liefern, aber einiges müssen sich die Bürger abholen, und manches können sie sich in Ausübung ihrer Informationsfreiheit selbst beschaffen. So gesehen, ist es eine Unsitte, dass regelmäßig zuerst und oft ausschließlich „die Politiker“ kritisiert werden, wenn ein Teil der Bürger sich irrational verhält. Auch die Medien „tragen eine Verantwortung für die Bewältigung der ,Kommunikationskrise‘ in der Gesellschaft“.39 Sie sollen nicht Öffentlichkeitsarbeit für die Regierung betreiben, sondern „den gesellschaftlichen Diskurs restrukturieren und so die Orientierungsfähigkeit jedes Teilnehmers wiederherstellen“.40

39 Thomas Darnstädt, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung und Verantwortung der Medien in Krisenzeiten, Thesenpapier für die 50. Bitburger Gespräche (s. oben Fn. 7). 40 Darnstädt, ebd. (vorige Fn.). 42

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d) Die Rolle der Parlamente Die vehementen Forderungen nach Kommunikation und Diskussion, die neuerdings vor allem auf Internetportalen und in sozialen Netzwerken erhoben werden, fordern nicht nur Regierungen und Verwaltung, sondern wesentlich auch die Parlamente heraus. Diese sind nicht nur „Legislative“ im Sinne der Drei-Gewalten-Lehre, ihre Funktion ist nicht nur der verbindliche Beschluss von Rechtsnormen, die Kreation und Kontrolle der Regierungen sowie die Feststellung des Staatshaushalts. Sie sind vielmehr die Orte, an denen über gemeinsame Angelegenheiten nachgedacht, geredet und mehrheitlich entschieden wird. Wolfgang Zeh hat eindrucksvoll herausgearbeitet, dass das Parlament die Demokratie verwirklicht, indem es „government by discussion“ betreibt:41 „Im Zentrum der ,discussion‘ steht der Bundestag. Er allein ,verhandelt öffentlich‘ (Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG), nicht das Kabinett und nicht die Verfassungsgerichte, die ihr Urteil und dessen Begründung vertraulich beraten. Das ,verhandeln‘ bezieht sich auf die Plenarsitzungen , aber die legitimierende ,discussion‘ findet nicht nur dort statt. Es wäre missverständlich anzunehmen, es genüge die Beobachtung und Bewertung des in einer Plenarsitzung dargebotenen Pro und Contra der Beratungsgegenstände durch die Öffentlichkeit. Zwar kann die Öffentlichkeit einer parlamentarischen Debatte Anhaltspunkte und Hinweise für die eigene Meinungsbildung entnehmen, aber der vom Parlament teils angestoßene, teils aufgenommene und verarbeitete Diskurs ist umfassender. Er bezieht Medien, Verbände, Interessen, Wissenschaft in unzähligen gesellschaftlichen Organisationsformen ein, er findet überall und immer statt, vor, während und nach der Willensbildung des Staates und seinen […] Entscheidungen. Erst daraus ergibt sich – über den von den Parlamentswahlen ausgehenden formellen und gestuften Legitimierungsprozess der staatlichen Organe hinaus – die parlamentarische Repräsentation im demokratisch materiellen Sinne.“42 Über weite Phasen der Pandemie-Politik hin hat der „umfassende Diskurs“ im Parlament gefehlt.43 In den zahllosen Talkshows im Fernsehen wurden dem Publikum zwar einige prominente Akteure vorgestellt und manchmal dazu veranlasst, ihre Einsichten, Meinungen und Absichten offenzulegen. Diese Veranstaltungen konnten parlamentarische Debatten nicht ersetzen,44 zumal es offenbar zum Konzept der Moderatorinnen 41 Zeh, Pandemie und Parlamentarismus, RuP Beiheft 7, S. 11 – 24 (15 f.). 42 Zeh, a.a.O. (Fn. 41) unter Berufung auf Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 1987, § 30. Rn. 22. S.a. ders., Demokratie und Repräsentation. Zur Kritik der heutigen Demokratiediskussion, Hannover 1983, auch in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, Frankfurt/Main 1991, S. 379 ff. (391 f., 396 ff.). 43 Kritik an der Passivität des Bundestages auch bei Horst Dreier, Rechtsstaat, Föderalismus und Demokratie in der Corona-Pandemie, DÖV 2021, 221 (241). 44 Scharf kritisch gegenüber der Kommunikationsform Talkshow schon Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 34, Rn. 43 f. Recht und Politik, Beiheft 10

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gehörte, gerade kein gemeinsames oder mehrheitliches Ergebnis anzuzielen, sondern die Versäumnisse und Fehler der beteiligten Politiker herauszuarbeiten.45 Aber mangelhaft (nach den Maßstäben demokratischer Debatten- und Entscheidungskultur) verliefen auch die Beratungen und Veröffentlichungen jener Konferenz, die auf der Seite der Exekutive an die Stelle des Bundestages und der Landtage getreten ist – der Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder. Die Auswertung der wissenschaftlichen Studien, die Formulierung der Entscheidungsgegenstände und die Detailberatung über die einzelnen Maßnahmen auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes fanden hinter verschlossenen Türen statt und wurden der Öffentlichkeit in kurzen Statements – oft unter großem Zeitdruck – vermittelt: als Ergebnisse ohne die „öffentliche Begründung, Erläuterung und Rechtfertigung, das heißt die Lieferung von Überlegungen und Argumenten, die Betroffene sich zu eigen machen können“.46 Das Verfahren des Parlaments wird durch die Geschäftsordnung strukturiert und dadurch auf Mehrheitsentscheidungen hin ausgerichtet. Die Verhandlungen im Plenum werden von Ausschüssen vorbereitet (§ 54 GO BT). Im Einzelnen richtet sich die Beratungsweise nach der Art der Vorlage (§§ 75, 78 GO BT). Politische Vorhaben und Vorschläge müssen in die Form einer solchen Vorlage gebracht werden – in der Regel in die eines Gesetzentwurfs; die Gesetzentwürfe wiederum werden in den meisten Fällen von den Ministerien erarbeitet, und zwar aus dem guten Grund, dass diese den größten Teil des politisch relevanten Sachwissens sammeln und auswerten und auch zur Heranziehung externen Sachverstands besonders gut gerüstet sind. Die Öffentlichkeit und auch die Abgeordneten selbst erwarten von der Regierung, dass sie ihr über die Legislaturperioden hin gesammeltes Wissen und ihre Erfahrungen nutzt, um Entscheidungen des Bundestages zu erleichtern. Nur ausnahmsweise werden Gesetzentwürfe von Mitgliedern des Bundestages vorgelegt (§ 76 GO BT). Wenn Regierungsfraktionen – wie im Fall der allgemeinen Impfpflicht – beschließen, es solle keinen Regierungsentwurf geben, sondern nur unterschiedliche Anträge verschiedener Gruppen von Abgeordneten, wirkt dies wie ein Zurückweichen vor internen Kritikern, also ein Zeichen der Schwäche. Die Regierung hat eine Führungsfunktion; sie soll eine begründete Position einnehmen, die dann von anderen Beteiligten des demokratischen Prozesses kritisiert, modifiziert oder abgelehnt werden kann. Selbst wenn die Ministerien den Urhebern von Gruppenanträgen ihr Expertenwissen und Formulierungshilfen vermitteln, dürfte die parlamentarische Behandlung von Gruppenanträgen aufwendiger und langsamer vor sich gehen als die Beschlussfassung über Regierungsvorlagen. Entscheidungen über Pandemieabwehr müssen schnell fallen, und das Parlament ist dazu fähig; es hat dies z. B. bei der „Bundesnotbremse“ gezeigt.47 45 S. a. Bull, Die Krise der Medien und das Dilemma der Medienkritik, RuP 2020, 441 (447) m.N. 46 Zeh, a.a.O. (Fn. 41), S. 17. 47 Viertes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite v. 22. 04. 2021, BGBl I S. 802. Der Gesetzentwurf der damaligen Regierungsfrak44

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Indem die Regierungsfraktionen ihr Vorgehen damit rechtfertigen, bei der Impfpflicht handle es sich um eine Gewissensentscheidung, bei der es keinen „Fraktionszwang“ geben dürfe, begeben sie sich auf einen riskanten Weg. Die Abgeordneten sollen bei allen Abstimmungen nur ihrem Gewissen folgen (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG), und einen Zwang zur Befolgung der Fraktionsbeschlüsse gibt es bei keinem Thema der parlamentarischen Agenda. Wohl aber sollen die Abgeordneten Fraktionsdisziplin üben, also nur aus gewichtigen Gründen von der Fraktionslinie abweichen; denn die entspricht im Zweifel dem Programm der Partei, dessen Realisierung die Abgeordneten ihren Wählern versprochen haben. Wer anderes verkündet, verschleiert die Verhältnisse und fördert eine sachlich nicht gerechtfertigte Kritik an der parlamentarischen Praxis. e) Wissenschaftliche Politikberatung: Hilfe oder Störfaktor? Während der Corona-Pandemie ist das Interesse an wissenschaftlicher Beratung der Politik stark angewachsen. Virologische und epidemiologische Expertise waren und sind überaus bedeutsam für die Einschätzung der Lage und zur Vorbereitung staatlicher Abwehrmaßnahmen, für viele Beobachter zu bedeutsam. Sozialwissenschaftliche Beratung scheint demgegenüber zu kurz zu kommen, obwohl auch sie nicht außer Acht bleiben darf, wenn die zu treffenden Maßnahmen geeignet und zielgerecht wirksam sein sollen.48 In den Äußerungen wissenschaftlicher Akademien, die in der CoronaKrise herangezogen wurden, sind teilweise auch sozialwissenschaftliche und sozialethische Themen mitbehandelt. Der interdisziplinär zusammengesetzte Deutsche Ethikrat hat mehrfach Empfehlungen zu einschlägigen Fragen veröffentlicht.49 Zur Impfpflicht hat er sich unterschiedlich geäußert. Während er zunächst eine gesetzliche Impfpflicht abgelehnt hat (weil es unklar sei, ob eine Impfung auch das Risiko einer Übertragung des Virus wirksam verringere),50 spricht er sich neuerdings dafür aus.51 Freilich behandelt der Ethikrat in seiner Empfehlung vom 22. 12. 2021 zum großen Teil auch verfassungsrechtliche und verwaltungspraktische Fragen einer gesetzlichen Impfpflicht und behauptet, eine allgemeine gesetzliche Impfpflicht müsse „nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch moralisch akzeptabel sein“, und er erörtert alle in der Öffentlichkeit diskutierten Einzelfragen noch einmal unter den Überschriften „Ethi-

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tionen datiert vom 13. 04. 2021 (BT-Drs. 19/28444). Auslöser dafür war eine kritische Talkshow-Äußerung von Bundeskanzlerin Merkel am 28. 03. 2021 über die Uneinheitlichkeit der Länderpraxis. Inhaltlich war das Gesetz jedoch heftig umstritten, weil mit zu heißer Nadel genäht. Wolfgang Streeck, Wissenschaftlern folgen? Ja doch, aber welchen?, FAZ v. 11. 01. 2021, S. 13 (mit Beispielen von Fragen, die etwa mit Mitteln der wissenschaftlichen Statistik zu bearbeiten sind). Z.B.: Ad-hoc-Empfehlung v. 27. 03. 2020: Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise; Ad-hoc-Empfehlung v. 11. 1. 2021: Zur Impfpflicht gegen Covid-19 für Mitarbeitende in besonderer beruflicher Verantwortung. Ad-hoc-Empfehlung v. 04. 02. 2021: Besondere Regeln für Geimpfte?, S. 2. Ad-hoc-Empfehlung v. 22. 12. 2021: Ethische Orientierung zur Frage einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht.

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sche Grundsätze“ und „Konkrete Argumente“ – was eigentlich die Aufgabe der politischen Entscheider wäre.52 Als Störfaktor wird wissenschaftliche Beratung der Politik wahrgenommen, wenn dahinter kommerzielle oder andere subjektive Interessen der Experten vermutet werden oder wenn die Meinung herrscht, dass die Politik sich von Einflüssen wissenschaftlicher Sachverständiger ganz freihalten sollte. Das eine geschieht bisweilen und sollte offengelegt werden, das andere wäre grundfalsch: Demokratie soll rational handeln, deshalb muss sie den Stand der Wissenschaft beachten. In jedem Fall aber sind Forschungsergebnisse ihrerseits der Kritik ausgesetzt und können von den politisch Verantwortlichen niemals ungeprüft übernommen werden.

IV. Fragen der praktischen politischen Ethik Nicht alle Veränderungen in der Wahrnehmung des Staates berühren die Grundfragen der Staats- und Demokratietheorie; viele Einzelthemen, die während der Pandemie auf die Agenda der Öffentlichkeit gekommen sind, hätten auch in anderen Zeiten beachtet und diskutiert werden können. Denn auch wenn die grundlegenden normativen Vorgaben für eine funktionierende Demokratie insgesamt beachtet werden, muss ständig aufs neue geklärt werden, wie das Verhältnis von Staat und Bürgern in Konfliktfällen zu gestalten ist, welche Fehler und Versäumnisse die Bürger den Politikern mit Recht vorwerfen und welche guten oder schlechten Sitten sich entwickelt haben. In Krisenzeiten werden die Akteure freilich schärfer beobachtet als in ruhigen Epochen. Politische Ethik sollte freilich nicht als eine Einbahnstraße verstanden werden. Ein Staat, der nur auf den Entscheidungen und Handlungen seiner Repräsentanten aufgebaut wäre, würde schnell zerfallen; es ist unverzichtbar, dass auch die Bürger ihr Gemeinwesen stützen, also politische Handlungsgebote auch an sich selbst richten. Davon ist heute selten die Rede. Die politischen „Tugendlehren“ gelten als altmodisch und werden nicht nur von Karrieristen verlacht. Dass es solche Tugenden doch noch gibt, zeigt sich in Krisen und Katastrophen, die eine sofortige Hilfe vieler Zivilpersonen erfordern, wie bei großen Überschwemmungen, und in zahlreichen Aktivitäten von Ehrenamtlichen aller Art. 1. Zur Qualität der Gesetze Von den für die Gesetzgebung verantwortlichen Stellen werden gute Gesetze erwartet. „Gut“ heißt: gerecht, klar und verständlich. Was in der Gesetzgebungslehre unter angelsächsischem Einfluss seit einiger Zeit als „better regulation“ gefordert wird, ist im Wesentlichen eine Reduzierung der Zahl der Rechtsnormen und eine einfachere

52 Kritisch zu dem Minderheitsvotum in dem Papier des Ethikrates Gärditz (Fn. 30): „Die Dissentierenden aus Theologie und Rechtswissenschaften berufen sich auf Ethik, präsentieren aber in der Sache Versuche juristischer Verhältnismäßigkeit“. 46

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Sprache.53 Die rein quantitative Bewertung führt aber nicht weiter. In einer hochkomplexen, global orientierten Gesellschaft kann das Recht nicht so schlicht geformt sein, als beträfe es eine kleine Dorfgemeinde fernab der großen Siedlungsgebiete – und selbst dort kann es besser sein, künftig erkennbare Konflikte vorab differenziert zu regeln. Die Funktion, gerechte Einzelfalllösungen zu ermöglichen, zwingt unter Umständen gerade zu komplizierten Normen. Die Impfpflicht kann zwar relativ einfach geregelt werden (s. oben II. 4. und 5.). Soweit jedoch beklagt worden ist, dass die Rechtslage während der Pandemie oft geändert wurde, ist die Kritik überwiegend unbegründet. Die Normgeber mussten gerade auf die Veränderungen der tatsächlichen Lage reagieren; es wäre nachlässig gewesen, z. B. gestiegene Risiken durch die Mutationen des Virus oder andere neue Erkenntnisse der Wissenschaft unbeachtet zu lassen. Es war wohl auch kaum vermeidbar, in den CoronaVerordnungen der Länder seitenlange Kataloge der von den einzelnen Maßnahmen betroffenen Berufs- und Geschäftszweige, kulturellen und sozialen Einrichtungen usw. festzulegen, wenn man nicht große Unsicherheit bei vielen Branchen verursachen wollte. Dass z. B. Blumenläden oder Buch- und Papierhandlungen als Lieferanten des „täglichen Bedarfs“ anzusehen seien, ist zwar sachlich gerechtfertigt, aber nicht eindeutig. Auch „körpernahe Dienstleistungen“ mussten im Einzelnen benannt werden, um die betreffenden Regelungen sicher anwenden zu können. Politik und Medien neigen zur Charakterisierung politischer Richtungen durch einfache Begriffe wie „hart“ oder „weich“. Kritische Beobachter sollten sich dadurch nicht täuschen lassen: nicht jede Entscheidung, die eine Verpflichtung der Bürger begründet, ist „härter“ als eine andere, die dem Bürger vermeintlich die Freiheit zur Ablehnung belässt. Wenn die Politik von einer Impfpflicht absieht, aber strenge Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte einführt, greift sie wesentlich schwerer in deren Freiheitssphäre ein als durch ein Impfgebot. Auch andere Regelungsansätze – wie etwa über die Einführung bzw. Erhöhung oder aber Abschaffung bzw. Senkung von Steuern – können wegen ihrer unterschiedlichen Auswirkungen auf verschiedene Gruppen nicht eindeutig als „hart“ oder „weich“ bezeichnet werden. Selbst das bloße „nudging“ ist nicht immer als mildestes Mittel anzusehen.54 Gefordert sind vom demokratischen Gesetzgeber angemessene, d. h. geeignete und „verhältnismäßige“ Lösungen. Maßnahmen gegen eine Pandemie müssen schnell beschlossen werden. Ad hoc neu eingerichtete Gremien sind dafür nicht immer geeignet. Im Fall der Pandemiebekämpfung hat die Bundeskanzlerin den Versuch unternommen, außerhalb der Bundeskompetenz liegende einheitliche Regeln für alle Länder durch regelmäßige Konferenzen mit den Regierungschefs der Länder beschließen zu 53 Darüber berichten Karpen/Xanthaki (eds.), Legislation in Europe, Oxford u. a. 2020. Der deutsche Nationale Normenkontrollrat ist dieser Linie nicht gefolgt. 54 Dazu u. a. Margrit Seckelmann/Wolfram Lamping, Verhaltensökonomischer Experimentalismus im Politik-Labor, DÖV 2016, 189 ff.; Franziska Weber/Hans-Bernd Schäfer, „Nudging“, ein Spross der Verhaltensökonomie, in: Der Staat 2017, 561 ff. Recht und Politik, Beiheft 10

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lassen. Dadurch wurde die verfassungsgemäße Form der Normsetzung vernachlässigt und das Fachwissen der Exekutive in Bund und Ländern nicht hinreichend genutzt. Übrigens haben auch die bestehenden Beratungseinrichtungen wie der Deutsche Ethikrat ihre Diskussionsbeiträge teilweise erst zu einem Zeitpunkt geliefert, als der Gesetzgeber schon kurz vor der Beschlussfassung angelangt war.55 2. Lehren aus Kommunikationsfehlern und parteipolitischem Streit Einen taktischen Fehler stellte es dar, dass führende Politiker sich zunächst nachdrücklich gegen eine Impfpflicht ausgesprochen haben. Im Bundestagswahlkampf 2021 hielten die Spitzenkandidaten es offenbar für opportun, eine solche Pflicht auszuschließen. Sie gaben dafür keine Begründung an, sondern demonstrierten vor den Fernsehkameras Einigkeit durch Senken des Daumens; die Moderatorinnen und Moderatoren fragten nicht nach. Inzwischen besteht weitgehend Konsens, dass die frühen Äußerungen zur Impfpflicht voreilig waren und dass dadurch Vertrauen verloren gegangen ist. Als allgemeine Regel ist aus dieser Episode zu Recht geschlossen worden, dass eindeutige Festlegungen bei unsicherer Tatsachenlage vermieden werden sollten. Kommunikationsfehler hat es auch sonst während der Pandemie in großer Zahl gegeben. Verschiedene Spitzenpolitiker und renommierte Experten haben immer wieder Einschätzungen der Lage und der zu erwartenden Entwicklung gegeben, die zu sehr zugespitzt waren und zu wenig auf die Bewusstseinslage der Bevölkerung eingestellt waren. Zumindest anfangs haben sich die Entscheider auf die Vorschläge einiger weniger Experten verlassen, die dann ihrerseits die ganze Last der öffentlichen Darstellung und die Kritik anderer Experten zu ertragen hatten. In der ersten Phase der Pandemie waren sehr viele Menschen bereit, sich ohne weitere Fragen den medizinisch begründeten Maßnahmen der Virusbekämpfung zu unterwerfen, so wie man klugerweise den Anordnungen eines Arztes zu folgen pflegt. Der Bedarf an Erklärung ist jedoch stark gewachsen, seit in der Öffentlichkeit über die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit bestimmter Beschränkungen gestritten wurde. Trotz eines überwiegend bürgerfreundlichen Kommunikationsstils konnte weithin der Eindruck entstehen, dass die beschlossenen Maßnahmen alternativlos seien. Oft wurde versäumt, im Einzelnen zu erläutern, wie eine Anordnung konkret wirken würde; die Adressaten wurden nicht aufgefordert, die Normen möglichst sinngemäß (und damit wirkungsvoll) anzuwenden. „Sklavischer“ Gehorsam gegenüber den Anweisungen von Autoritäten kann im heutigen demokratischen Staat nicht gefordert werden; die Bürger wollen wissen, warum sie dies und jenes tun sollen, und sie sollten ermutigt werden, bei unklaren oder widersprüchlichen Vorschriften selbständig zu entscheiden, was im Interesse der Sache geboten ist. Der mündige Bürger hat auch Anspruch darauf, ungünstige Prognosen und belastende Entscheidungen frühzeitig zu erfahren. Er erwartet immer auch Erläuterungen darüber, wie die Politik den Gefahren begegnen will. Die öffentliche Diskussion war aber über 55 S. oben bei Fn. 51. 48

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weite Strecken hin durch parteipolitisch motivierte Schuldzuweisungen dominiert. Besonders in den Talkshows durften sich prominente Parteipolitiker lange darüber auslassen, welche Personen der Gegenseite bei bestimmten Entscheidungen Fehler gemacht oder falsch kommuniziert hätten. „Von einer Grundsatzdebatte ist keine Spur“.56 Je weniger Sachwissen über das unheimliche Virus vorhanden war, desto mehr Polemik griff um sich. Dass die Politik vielfach hilflos wirkte, war und ist angesichts der vielen Ungewissheiten über die virologischen und epidemiologischen Zusammenhänge verständlich, aber das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik wäre vermutlich größer, wenn Ungewissheit und Versäumnisse deutlicher eingeräumt und für die weitere Pandemiebekämpfung mehr Konsens der Verantwortlichen über die Möglichkeiten der Gesundheitspolitik (und ihre Grenzen) erzielt würde. Viele Beiträge zur Diskussion über die Impfpflicht wirken halbherzig oder unentschieden. Die politisch Verantwortlichen, aber auch die Medien nehmen sich viel Zeit, über das Pro und Contra zu reden und zu schreiben. Die „Bundesnotbremse“, die seinerzeit strenge Freiheitsbeschränkungen von dem Erreichen bestimmter Inzidenzen abhängig gemacht hatte und verfassungsrechtlich äußerst umstritten war,57 wurde wesentlich schneller beschlossen als die gesetzliche Klarstellung der von der Mehrheit angestrebten allgemeinen Impfpflicht. Ein Journalist meint nunmehr, der Ruf nach der Impfpflicht wecke „den Verdacht, dass Bund und Länder damit auch von eigenem Versagen ablenken“.58 Noch Wochen nach Beginn einer intensiven öffentlichen Debatte über das Thema fordert ein Landesminister „eine ausführliche Debatte um das Für und Wider eines solchen Eingriffs“.59 Manche meinen sogar, es sei noch zu früh, eine Entscheidung zu treffen. Eine Zeitung schreibt, „täglich 40 000 Neuinfektionen könnten als Grund nicht ausreichen, 80 Millionen Menschen an die Nadel zu zwingen“60 – eine wahrlich irritierende Argumentation, weil damit gesagt wird, dass die Lebens- und Gesundheitsgefahr für mehrere Millionen Menschen für die „Kalkulation“ unerheblich sein soll.61 Wenn ein großer Teil des Publikums sich stets aufs neue über die Regierungspolitik oder einzelne Maßnahmen der Behörden ereifert, wenn Empörung statt Sachkritik vorherrscht, kann die Stimmung kaum noch besser werden. Solche Stimmungskrisen entstehen heute nicht mehr nur aus Übertreibungen der Boulevard-Presse, sondern 56 57 58 59

Wolfgang Janisch, Das letzte Mittel, Süddeutsche Zeitung v. 13. 12. 2021, S. 2. S. oben Fn. 47. Janisch, a.a.O. (Fn. 56). Heiner Garg, Warum wir über eine Impfpflicht für alle reden müssen“: Hamburger Abendblatt v. 16. 12. 2021 S. 2. 60 Fatina Keilani, Eine „Vernunfthoheit“ gibt es nicht, Neue Zürcher Zeitung vom 29. 12. 2021, S. 6. 61 Das gilt auch dann, wenn man bedenkt, dass zu dieser Zeit nicht mehr 80, sondern „nur“ etwa 20 Millionen Menschen ungeimpft waren und davon viele Kinder abzuziehen sind, die noch nicht geimpft werden konnten.

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wesentlich aus Beiträgen in den sozialen Medien und sogar aus manchen Kommentaren der seriösen Presse. Dieses Dilemma ist allen politisch aktiven Menschen bekannt und nicht pandemiespezifisch. Andererseits tauchen in manchen Reaktionen aus der Bevölkerung wieder die altbekannten Stereotype über Politik und Politiker auf, die bei einem Teil der Wähler herrschen und die durch noch so viel Öffentlichkeitsarbeit nicht auszuschalten sind. So findet man in Leserbriefen immer wieder die schlichte Aussage: „Schuld ist die Politik“. Jemand schreibt in diesem Sinne: „Es ist naiv zu glauben, an dieser Situation seien die Ungeimpften schuld. In erster Linie ist es ein Versagen der Politiker“ – weil die Regierungen dem Personalnotstand in den Pflegeberufen „tatenlos und unfähig zu handeln“ zugesehen hätten.62 Ein anderer Leser meint, „unsere demokratisch gewählten Politiker“ sollten selbst die Aufgabe übernehmen, die Ungeimpften aufzuklären und „im persönlichen Gespräch“ „Ängste, falsche und verdrehte Informationen“ auszuräumen63 – eine Vorstellung von der Arbeit der Abgeordneten, die zwar erfreulich idealistisch, aber mit den harten Anforderungen an Politiker unvereinbar ist. 3. Spaltung der Gesellschaft? Als ein Argument gegen die Einführung einer Impfpflicht ist häufig angeführt worden, diese werde die Gesellschaft in unerträglicher Weise spalten. Dafür, dass dies kein Hirngespinst sei, wird auf die zahlreichen Demonstrationen mit Tausenden oder gar Zehntausenden von Teilnehmern verwiesen, auf denen behauptet wird, Deutschland sei zu einer „Corona-Diktatur“ geworden und habe „die Grundrechte“ abgeschafft. Bei solchen Demonstrationen oder Protest-„Spaziergängen“ wird nicht nur über die Pandemie und die Abwehrmaßnahmen geklagt, sondern pauschal „das System“ als volksund freiheitsfeindlich beschimpft. Von den Verfassungsschutzämtern beobachtete Gruppen wie die „Reichsbürger“ und andere Rechtsextremisten treffen sich bei diesen Gelegenheiten manchmal sogar mit linksextremistischen „Autonomen“, also Anarchisten. Gustav Seibt beschreibt die Lage zutreffend so: „Aktuell wird die Spaltung der Gesellschaft (…) lautstark vor allem von einer militanten Minderheit betrieben.“ Die Behauptung, „die Impfgegner würden ,in eine Ecke gestellt‘, verzerrt die Streitlage auf das Erstaunlichste.“ „Wollte man weiter den Militanten oder auch nur Ignoranten das Feld überlassen, dann bekämen von nun an laute Minderheiten ein faktisches Vetorecht.“64 Um des sozialen und politischen Friedens willen auf eine gesetzliche Regelung wie die Impfpflicht zu verzichten, würde nicht zum gewünschten Ziel führen. Nur diejenigen Impfgegner würden sich damit zufrieden geben, die tatsächlich aus Angst um die eigene Gesundheit „impfstoffrei“ leben wollen. Der harte Kern der Systemkritiker unter den 62 Leserbrief von Ralf Ginter, Süddeutsche Zeitung v. 30. 12. 2021, S. 13. 63 Leserbrief von Matthias Nauert ebd. (vorige Fn.). 64 Gustav Seibt, Das Endspiel des Liberalismus, Süddeutsche Zeitung v. 16. 11. 2021. 50

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Freiheitsbegriff, Staatsverständnis und politische Ethik im Wandel

Impf-Oppositionellen wird fortfahren, die Pandemieabwehr zu behindern und die verfassungsmäßige Ordnung der Staatsfunktionen zu bekämpfen. Andererseits werden die meisten Opponenten bei konsequenter Durchsetzung der kompetenzgemäß und grundrechtsadäquat beschlossenen Maßnahmen – einschließlich einer gesetzlichen Impfpflicht für alle Einwohner der Bundesrepublik – ihren Widerstand wohl aufgeben und sich entweder der Verpflichtung beugen oder versuchen, nicht aufzufallen und einer Bestrafung zu entgehen. Spaltungen zwischen verschiedenen Gruppen der Gesellschaft hat es immer gegeben; ohne sie ist eine lebendige Demokratie gar nicht denkbar. Spaltungen haben sich entlang der verschiedensten „Frontlinien“ gebildet: zwischen Reich und Arm, Links und Rechts, Konservativen und Liberalen, Nationalisten und Internationalisten, Freunden und Gegnern einer Willkommenskultur usw. usw. Manche halten schon die gegenseitige Feindschaft bestimmter Fußballfans für eine gesellschaftliche Spaltung; immerhin stehen z. B. der HSVund der FC St. Pauli für unterschiedliche Lebenswelten. Die Bundesrepublik hat sogar die Blockbildung für und gegen die zivile Nutzung der Atomkraft ohne größere Verletzungen überstanden; heute besteht in Deutschland ganz überwiegend Konsens darüber, dass diese hochriskante Technologie endgültig abgeschafft werden muss. Andere schwere politische Konflikte wurden noch schneller überwunden, so der hochemotionale Streit um die Notstandsverfassung: Nachdem die Artikel 115 a bis 115 l in das GG eingefügt waren, ist nie wieder grundsätzlich über den „Verteidigungsfall“ gestritten worden. Fast vergessen ist auch die Auseinandersetzung über den NATO-„Doppelbeschluss“ zur Raketenstationierung, den die Regierung Helmut Schmidt trotz einer gewaltigen Protestwelle unterstützte. Das heißt: Konflikte um heftig debattierte politische Themen sind der Normalfall; sie gefährden die demokratische Ordnung nicht oder allenfalls dann, wenn die Politik bei ihrer Bewältigung versagt.

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Impfpflichten nach der Karlsruher Entscheidung zur Nachweispflicht (§ 20a IfSchG) Von Johannes Lichdi

I. Entwicklung gesetzlicher Impfpflichten 1. Infektionschutz- und Soldatengesetz Nach Abschaffung der Pockenschutz-Impfpflicht 19831 ist das Bundesministerium für Gesundheit zwar ermächtigt, Impfungen für „bedrohte Teile der Bevölkerung“ „durch Rechtsverordnung“ anzuordnen, „wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist“ (§ 20 Abs. 6 Satz 1).2 Eine Impfpflicht ist aber wegen ihrer Eingriffstiefe und Streubreite „wesentlich“ und vom unmittelbar demokratisch legitimierten Bundestag zu beschließen.3 Daneben kannte nur das Soldatengesetz eine Impfpflicht für Soldatinnen, „wenn sie der Verhütung oder Bekämpfung übertragbarer Krankheiten dienen“ (§ 17a Abs. 2 Nr. 1 SG). Das BVerwG hat die Verwaltungsanordnung der Bundesverteidigungsministerin vom November 2021, Soldaten gegen Corona zu impfen, nicht beanstandet. Der Vorbehalt des Gesetzes sei gewahrt, da der Eingriff vom Gesetzgeber „hinreichend klar bestimmt und auf zumutbare Eingriffe“ begrenzt sei.4 Der Bundestag führte 2015 ein Fragerecht des Arbeitgebers zum Serostatus der Mitarbeiterinnen gegen Krankenhauskeime ein, „um über die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder über die Art und Weise einer Beschäftigung zu entscheiden“ (§ 23a). Seit März 2020 setzt der Besuch einer Kindertagesstätte eine Masernimpfung voraus (§ 20

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Jütte, Zur Geschichte der Schutzimpfung, APuZ 2020, Heft 46 – 47, S. 9 ff. Thiessen, Infizierte Gesellschaften, https://www.bpb.de/apuz/206108/infizierte-gesellschaften-sozial-und-kultur geschichte-von-seuchen?p=all. §§ ohne Angabe sind solche des Infektionsschutzgesetzes. – Die Vorschrift ermächtigt nur zu „Riegelungsimpfungen“: Höfling/Stöckle, RdJB 2018, 284, 293. Amhaouach/Kießling, MedR 2019, 853, 857 f. Wolff/Zimmermann, NVwZ 2021, 182, 183. Boehme-Neßler, NVwZ 2021, 1242. Zum Parlamentsvorbehalt Lichdi, SächsVBl 2020, 273 ff. Lichdi, RuP 2021, 352, 356 f. BVerwG, Urteil vom 07. 07. 2022, 1 WB 2.22, Pressemitteilung Nr. 44/2022. Die Entscheidung ist noch nicht veröffentlicht. – Anderer Ansicht Lichdi, RuP 2022, 1 f.

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Duncker & Humblot, Berlin

Impfpflichten nach der Karlsruher Entscheidung zur Nachweispflicht

Abs. 8 ff.).5 Das BVerfG hat Eilanträge gegen die Masernimpfung abgelehnt, die Hauptsacheentscheidung steht aus.6 Die wohl herrschende Meinung hält die Verwendung des Kombinationsimpfstoffs MMR, der auch gegen Mumps und Röteln schützt, für verfassungswidrig.7 2. Einrichtungsbezogene und allgemeine Corona-Impfung Auch für eine Impfung gegen das Corona-Virus führte der Bundestag im September 2021 zunächst ein Fragerecht des Arbeitgebers in Gesundheitsberufen ein.8 Mit Gesetz vom 10. Dezember 2021 beschloss er dann eine Impfnachweispflicht bis zum 15. März 2022 für Personen, die in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeeinrichtungen tätig sind (§ 20a).9 Die Anordnung einer Impfung nebst zwangsweiser Durchsetzung ist unzulässig.10 Wird der Nachweis ohne medizinische Kontraindikation nicht geführt, hat der Arbeitgeber das Gesundheitsamt zu benachrichtigen. Legt die Person auch diesem keinen Nachweis vor, „kann“ ihr das Betreten der Räume untersagt werden (§ 20a Abs. 5 Satz 3). Das BVerfG hat mit Beschluss vom 10. Februar 2022 eine einstweilige Anordnung gegen die Nachweispflicht abgelehnt und Verfassungsbeschwerden mit Beschluss vom 27. April 2022 zurückgewiesen.11 Nachdem die Bundesregierung seit Beginn der Pandemie im März 2020 eine allgemeine Impfpflicht immer abgelehnt hatte, sprachen sich ab November 2021 Gesundheitsminister, Bundeskanzler und die Ministerpräsidentinnen für eine allgemeine Impfpflicht aus.12 Allerdings fand weder ein Beschlussantrag um den FDP-Politiker 5 Für Zulässigkeit einer Masernimpfpflicht Schaks/Krahnert, MedR 2015, 860 ff. Höfling/Stöckle (Fn. 2), S. 298. Amhaouach/Kießling (Fn. 2), S. 861. – Dagegen vor allem Rixen, Verfassungsfragen der Masernimpfpflicht, 2019, https://individuelle-impfentscheidung.de/standardtitel.html. Deutscher Ethikrat, Impfen als Pflicht?, 2019, 1, 85 ff. Zuck, ZRP 2017, 118 ff. 6 BVerfG, Beschluss vom 11. 05. 2021, 1 BvR 469/20. Dazu vor allem Gebhardt, RdJB 2021, 277 ff. Neuerdings VG Ansbach, Beschluss vom 05. 05. 2022, AN 18 S 22.00535. 7 Rixen (Fn. 5), S. 44, 81. Höfling, JZ 2019, 776, 778. Pieper/Wehming-Schwager, DÖV 21, 287, 290. Gebhardt (Fn. 6), S. 291. Ethikrat (Fn. 5), S. 87. – Anderer Ansicht Schaks, MedR 2020, 201 ff. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29. 10. 2021, 12 B 1277/ 21, R. 20 erkennt im Eilverfahren „jedenfalls keine offensichtliche Verfassungswidrigkeit“. 8 Lichdi, RuP 21, 464 ff. 9 BGBl. 2021 I 5162. Bundestags-Drucksachen 20/188 und 250. Dazu Weigert, NZA 22, 166 ff. Bonitz/Schleiff, NZA 22, 233 ff. 10 OVG Niedersachsen, Beschluss vom 22. 06. 2022, 14 ME 258/22, R. 15 ff. 11 BVerfG, Beschlüsse vom 10. 02. 2022 und vom 27. 04. 2022, 1 BvR 2649/21. 12 Zur Diskussion um eine Impfpflicht Wolff/Zimmermann (Fn. 2), S. 182 ff. Boehme-Neßler (Fn. 2), S. 1241 ff. Rixen, verfassungsblog vom 28. 07. 2021. Gierhake, ZRP 2021, 115 ff. Bundestag, Wissenschaftlicher Dienst, Gutachten vom 22. 11. 2021. Oppenländer, Gutachten im Auftrag des Staatsministeriums Baden-Württemberg, November 2021. Cremer, LTO vom 16. 11. 2021. Deutscher Ethikrat, Ad-Hoc-Empfehlung, 22. 12. 2021. Sacksofsky, verfassungsblog vom 21. 01. 2022. Lichdi, RuP 2022, 1 ff. Hofmann/Neuhöfer, NVwZ 2022, 19 ff. Richter, NVwZ 2022, 204 ff. Blankenagel, JZ 22, 267 ff. Recht und Politik, Beiheft 10

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Kubicki gegen eine allgemeine Impfpflicht (Bundestags-Drucksache 20/680), noch ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Einführung eines Impfregisters und gegebenenfalls zur Inkraftsetzung differenzierter Impfpflichten (20/978), noch ein Gesetzentwurf für eine Impfpflicht ab 60 Jahren bis zum 15. Oktober 2022 nebst verpflichtender Impfberatung (20/1353) am 7. April 2022 im Bundestag eine Mehrheit.13

II. Eingriffe 1. Körperliche Unversehrtheit Das BVerfG stellt zu Recht klar, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht ein „zielgerichteter mittelbarer Eingriff“ ist. Denn die Impfentscheidung werde „von äußeren, faktischen und rechtlichen Zwängen“ wie bußgeldbewehrten Nachweisanforderungen sowie Betretungs- und Tätigkeitsverboten bestimmt. Da „die Konfrontation mit den erwähnten Nachteilen nach der gesetzgeberischen Zielsetzung zu einer Entscheidung zu Gunsten einer Impfung bewegen“ solle, komme die einrichtungsbezogene Impfpflicht „in seiner mittelbar faktischen Wirkung einem direkten Eingriff als funktionales Äquivalent gleich“.14 Die Impfpflicht greift in dreifacher Weise in die durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1, 2. Alt. GG grundrechtlich geschützte körperliche Unversehrtheit ein: Zunächst mit dem Einstich der Impfnadel in Haut und Muskel, dann mit der Einbringung von Stoffen in den Körper. Dass dies dem Gesundheitsschutz dient, ändert nichts an der Eingriffsqualität. Vor allem aber greift eine Impfpflicht in die „grundsätzliche Verfassungsentscheidung“ ein, „die Disposition über die eigene körperliche Integrität dem Grundrechtsträger anzuvertrauen“.15 Diese Anerkennung der Selbstbestimmung über den eigenen Körper ist ernst zu nehmen. Denn aus der Sicht mancher Gegner ist die Impfung ein grundlegender Angriff auf die eigene körperlich-geistige Unversehrtheit. Den Menschenwürdegehalt dieses Dispositionsrechts zeigt die Geschichte des Impfzwangs seit dem 19. Jahrhundert, in der die Unterwerfung des Körpers auch Instrument staatlicher Legitimation, Sozialkontrolle und Ausgrenzung war.16 Das BVerfG blendet diese Dimension aus und beschränkt sich auf die Einsicht, dass eine Verletzung der Menschenwürde ohne Impfzwang nicht in Betracht komme.17

13 Die Stellungnahmen von Lindner, Mayer und Seegmüller in der Anhörung des Gesundheitsausschusses: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw12-pa-gesundheit883036. Zum Scheitern der Impfpflicht Lichdi, RuP 2022, S. 182, 184 ff. 14 BVerfG (Fn. 11), R. 113 f., im Anschluss an EGMR, Vavřička u. a. gegen Tschechische Republik, Urteil vom 08. 04. 2021, Nr. 47621/13, § 263. Dazu zuvor schon Rixen (Fn. 5). 15 Trapp, DVBl 2015, 11, 13 ff. 16 Höfling (Fn. 7), S. 776 ff. Thiessen (Fn. 1). 17 BVerfG (Fn. 11), R. 91. 54

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Impfpflichten nach der Karlsruher Entscheidung zur Nachweispflicht

2. Gewissensfreiheit, Berufsausübung, Erziehungsrecht Obwohl der Schutzbereich der Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG berührt werden kann,18 berücksichtigen dies weder die Nachweispflicht noch die Gesetzentwürfe zu einer allgemeinen Impfpflicht. Das BVerfG hielt bereits die Beschwerde wegen Darlegungsmängeln für unzulässig.19 Dagegen greifen die Nachweispflichten in die Berufsausübungsfreiheit der Beschäftigten ein, weil sie zu einem Verlust des Beschäftigungs- und Vergütungsanspruchs und zur Kündigung führen können.20 Eine Impfpflicht für Minderjährige berührte zudem das Erziehungsgrundrecht der Eltern nach Art. 6 Abs. 2 GG.21 Das BVerfG verneint verfassungswidrige Eingriffe in das Grundrecht auf Informationelle Selbstbestimmung durch die Benachrichtigungspflichten der Einrichtungen über den Impfstatus der Beschäftigten oder in die Handlungsfreiheit durch Bußgelder.22

III. Verfassungsgerichtliche Kontrollmaßstäbe 1. Vorbehalt des Gesetzes Das BVerfG bezweifelte in seinem Beschluss vom 10. Februar 2022 für den Impf- oder Genesenennachweis, dass die „doppelte dynamische Verweisung“ auf die Schutzmaßnahmenausnahmen-Verordnung und von dort auf die jeweilige Konkretisierung der Anforderungen auf der Internetseite des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) dem Gesetzesvorbehalt genüge.23 In seinem Beschluss vom 27. April bejaht es aber nach den Änderungen des IfSchG vom 18. März eine gesetzliche Entscheidung der wesentlichen grundrechtsrelevanten Fragen in § 22a Abs 1 und 2. Denn der Gesetzgeber habe nun das Ziel eines Immunschutzes selbst geregelt und in § 22a Abs. 4 nur Intervallzeiten und Nachweisart einer Rechtsverordnung der Bundesregierung überlassen.24 Diese Flexibilität diene einem „dynamischen Grundrechtsschutz“.25

18 Pieper/Wehming-Schwager (Fn. 7), S. 295. 19 BVerfG (Fn. 11), R. 94. 20 BVerfG (Fn. 11), R. 259. ArbG Gießen, Urteil vom 12. 04. 2022, 5 Ga 1/22, R. 18 ff. Eingehend Weigert (Fn. 9), S. 169 ff. Kritisch Bonitz/Schleiff (Fn. 9), S. 237. 21 OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21. 10. 2021, 3 M 134/21, R. 20. Eingehend Höfling/ Stöckle (Fn. 2), S. 289 ff. 22 BVerfG (Fn. 11), R. 100, 267 f. 23 BVerfG (Fn. 11), R. 14. Für Rechtswidrigkeit VG Gießen, Beschluss vom 25. 02. 2022, 10 L 271/22.GI. VG Schwerin, Beschluss vom 28. 02. 2022, 7 B 177/22 SN. Verneinend auch Lichdi (Fn. 12), S. 7. 24 BVerfG (Fn. 11), R. 124 ff., 131 f. OVG Sachsen, Beschluss vom 10. 05. 2022, 3 B 99/22, R. 17 ff. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10. 05. 2022, 13 B 488/22, R. 22 ff. 25 BVerfG (Fn. 11), R. 140. Recht und Politik, Beiheft 10

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2. Vertretbarkeitskontrolle des Einschätzungsspielraums a) Einschätzungsspielraum und Nachbesserungspflicht Das BVerfG billigt dem Gesetzgeber aufgrund der sich schnell ändernden Lagen und fachwissenschaftlicher Ungewissheiten einen breiten Einschätzungsspielraum in der Corona-Pandemie zu.26 Er gilt für die Beurteilung der Gefahrenlage, geeigneter und erforderlicher Maßnahmen sowie ihrer Angemessenheit. „Gegenstand verfassungsgerichtlicher Überprüfung“ soll nur die „Zuverlässigkeit“ oder „hinreichend gesicherte Grundlage“ sowie die „Einschätzung der tatsächlichen Verhältnisse“, „die etwa erforderliche Prognose“ und „die Wahl der Mittel“ sein. Daher stelle eine Prognose, die sich „nachträglich als unrichtig“ erweise, „die ursprüngliche Eignung des Gesetzes nicht in Frage“.27 Bei der Beurteilung der Erforderlichkeit stehe dem Gesetzgeber „grundsätzlich“ ein Einschätzungsspielraum zur prognostizierten „Wirkung der von ihm gewählten Maßnahmen auch im Vergleich zu anderen, weniger belastenden Maßnahmen“ zu. Einerseits könne sich der „wegen des betroffenen Grundrechts und der Intensität des Eingriffs verengen“; „umgekehrt“ reiche er „umso weiter, je höher die Komplexität der zu regelnden Materie ist“.28 Dem Einschätzungsspielraum entspricht eine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht. Denn eine „zunächst verfassungskonforme Regelung“ kann „später mit Wirkung für die Zukunft verfassungswidrig werden, wenn ursprüngliche Annahmen des Gesetzgebers nicht mehr tragen“.29 Auslöser einer Nachbesserungspflicht seien „neue Entwicklungen oder bessere Erkenntnisse, die geeignet“ sind, „die ursprünglichen Annahmen des Gesetzgebers durchgreifend zu erschüttern.“30 b) Vertretbarkeitskontrolle auf RKI-Linie Die verfassungsgerichtliche Überprüfung könne „von einer bloßen Evidenz- über eine Vertretbarkeits- bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen“. Zwar dürften bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen, so wörtlich, „Unklarheiten in der Bewertung von Tatsachen grundsätzlich nicht ohne Weiteres zu Lasten der Grundrechtsträger gehen“. Allerdings genügten bei „Unwägbarkeiten der wissenschaftlichen Erkenntnislage“ eine Vertretbarkeitskontrolle, wenn sich der demokratisch legitimierte 26 BVerfG (Fn. 11), R. 152, 168, 187, 204. – Für die Corona-Pandemie grundsätzlich formuliert in BVerfG, Beschluss vom 19. 11. 2021, 1 BvR 781/21, R. 170 f. – Bundesnotbremse I. Dazu Frenz, DVBl 22, 43 ff. Ritgen, ZG 22, 102 ff. Kritisch Pagenkopf, ZRP 22, 51, 53 f. Blankenagel (Fn. 12), S. 270. Schwarz, NVwZ-Beilage 1/2022, 1, 4 ff. Degenhart, NJW 22, 123, 125 ff. – Zu Einschätzungsspielraum und Schulpräsenzpflicht Lichdi (Fn. 3), S. 361. 27 BVerfG (Fn. 11), R. 166 f. 28 BVerfG (Fn. 11), R. 186 f. 29 BVerfG (Fn. 11), R. 167. Zur Nachbesserungspflicht Ritgen (Fn. 26), S. 119 ff. 30 BVerfG (Fn. 11), R. 237. Möglicherweise enger BVerfG, NVwZ 2018, 1555 ff, R. 41, 43, wonach sich neue Erkenntnisse in der wissenschaftlichen Diskussion durchgesetzt haben müssen. 56

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Gesetzgeber „an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung der ihm verfügbaren Informationen und Erkenntnismöglichkeiten“ orientiere.31 So vorbereitet, nimmt das BVerfG im Beschluss vom 27. April die verfassungsgerichtliche Verhältnismäßigkeitskontrolle der Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Nachweispflicht auf eine Vertretbarkeitsprüfung zurück.32 Die „hinreichend“ verlässlichen und „vertretbaren“ Tatsachengrundlagen und Prognosen liefern die obersten Fachbehörden des Bundes, das Robert-Koch-Institus (RKI) und das Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Der Gesetzgeber dürfe auf die „Belastbarkeit“ der Einschätzungen des RKI und seiner Ständigen Impfkommission StIKO (§ 20 Abs. 2 und 2a) „vertrauen“, weil sie „über die notwendigen personellen und sachlichen Ressourcen“ verfügen und „in ihren Beurteilungen unabhängig und international vernetzt“ seien. Tatsächlich ist das RKI weisungsabhängig.33 Die Vertretbarkeitsprüfung enthält keine echten Maßstäbe.34 Was soll denn die Formel bedeuten, „Unwägbarkeiten“ dürften „nicht ohne weiteres zu Lasten der Grundrechte“ gehen? Reduziert sich das Kriterium auf die Binsenweisheit, dass Grundrechtseingriffe begründungsbedürftig sind? Die Zubilligung eines Einschätzungsspielraums, der zudem nur auf „vertretbare“ Ausfüllung überprüft werden soll, birgt die Gefahr, weitreichende Grundrechtseingriffe ebenso wortreich wie in der Sache kritiklos zu legitimieren.

IV. Zulässige Zwecke, Geeignetheit und Erforderlichkeit 1. Corona-Gefahr Der Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung sind verfasssungsrechtlich zulässige Zwecke. Mit Stand vom 27. Juli 2022 sind 143.545 Menschen in Deutschland an Corona verstorben, davon über 90.000 Menschen über 80 Jahre.35 Anfang Juli 2022 sind 85 % der Erwachsenen und 43 % der Kinder zwischen 5 und 17 Jahren „grundimmunisiert“, also zweimal geimpft. Fast 72 % haben eine und gut 8 % eine zweite Auffrischungsimpfung erhalten. Ungeimpft sind weiterhin knapp 15 % der Erwachsenen (9,3 Mio).36 Dennoch schätzt das RKI die Corona-Gefahr weiterhin als 31 32 33 34 35

BVerfG (Fn. 11), R. 152. Vgl. Gebhardt (Fn. 6), S. 292. BVerfG (Fn. 11), R. 168, 187, 204. BVerfG (Fn. 11), R. 160. Pagenkopf (Fn. 26), S. 53. Schwarz (Fn. 26), S. 4. Zu Corona ist der „Epidemiologische Steckbrief“ vom 26. 11. 2021 und die aktualisierten „Virologischen Basisdaten“ des RKI zu vergleichen: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/ N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html; https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neu artiges_Coronavirus/Virologische_Basisdaten.html. – Zudem https://www.rki.de/DE/Con tent/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html.zu https://www.rki.de/DE/Content/ InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Daten/Klinische_Aspekte.xlsx?__blob=publicationFile. 36 RKI, Monitoring des Impfgeschehens, Monatsbericht vom 07. 07. 2022, S. 5.

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„hoch“ ein.37 Schließlich ist das Ausmaß anhaltender oder nach Genesung auftretender gesundheitlicher Probleme (Long/Post-Covid) ungeklärt. Immerhin werden für über 37 % der im Krankenhaus behandelten Erwachsenen Langzeitfolgen berichtet!38 2. Schutz der Gemeinschaft und Vulnerabler Daher dürfte selbst eine diffuse „nachhaltige Steigerung“ der „Grundimmunität in der Bevölkerung“ „zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und vulnerabler Gruppen“, mit der die Gesetzentwürfe eine allgemeine Impfpflicht begründeten, ein noch zulässiger Zweck sein.39 Auch die Funktionsfähigkeit der Gesundheitsversorgung oder die Wiederherstellung der allgemeinem Geltung der Grundrechte ohne pandemiebedingte Einschränkungen des täglichen Lebens sind zulässige Ziele staatlichen Handelns. Dagegen ist eine Impfpflicht zum Schutz der Geimpften selbst unzulässig. Denn die Dispositionsfreiheit über den eigenen Körper schließt das Recht zur Selbstschädigung ein.40 Daher kommt es darauf an, ob eine Impfung eine „relevante“ Verringerung der Kontagiosität oder Transmissionswahrscheinlichkeit im Vergleich zu Ungeimpften oder Genesenen bewirkt. Das BVerfG hatte schon im Masernbeschluss den Schutz von Personen, die aufgrund ihres Alters, Geschlechts oder Vorerkrankung besonders verletzlich sind, als Schutzzweck anerkannt.41 In der Corona-Pandemie seien „die Risiken einer Infektion mit zunehmendem Alter und mit Vorerkrankungen, insbesondere bei immunsupprimierten Personen“ seit Ende 2021 gestiegen. „Im Median waren Personen mit Beatmungsnotwendigkeit 73 Jahre alt. Die Sterblichkeitsrate von Hospitalisierten betrug für über 80-Jährige 40 %.“ Zudem sei eine „sich zuspitzende Gefährdungslage durch Infektionsausbrüche in Alten- und Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern“ festzustellen gewesen.42 Daher beruhe die Beurteilung des Gesetzgebers, es „habe eine

37 RKI, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung. html. 38 RKI, https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/FAQ_Liste_Gesundheitliche_Lang zeitfolgen.html. 39 Bundestag, Drucksachen 20/899, S. 7, 27 ff. Drs. 20/954, S. 25. Drs. 20/1353, S. 36. Zustimmend Mayer (Fn. 13). Kritisch Lichdi (Fn. 13), S. 185 ff. 40 Trapp (Fn. 15), S. 15. Wolff / Zimmermann (Fn. 2), S. 183. Boehme-Neßler (Fn. 2), S. 1243. Lichdi (Fn. 12), S. 4 ff. Hofmann / Neuhöfer (Fn. 12), S. 22 f. Unklar Richter (Fn. 12), S. 206. – Zum „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ BVerfG, Beschluss vom 26. 02. 2020, 2 BvR 2347/ 15. 41 BVerfG (Fn. 6). OVG Sachsen-Anhalt (Fn. 21), R. 21. EGMR (Fn. 14). Amhaouach / Kießling (Fn. 2), S. 854. Wolff / Zimmermann (Fn. 2), S. 183. Boehme-Neßler (Fn. 2), S. 1243. Gebhardt (Fn. 6), S. 283. – Habermas, Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2021, S. 67, 78 begründet die Aufgabe staatlichen Gesundheitsschutzes und die Erzwingung von Solidarleistungen mit dem „Sinn der politischen Vergemeinschaftung“ überhaupt. 42 BVerfG (Fn. 11), R. 162 f. 58

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Gefahrenlage für Leben und Gesundheit vulnerabler Personen“ bestanden, auf „vertretbar als hinreichend tragfähig bewerteten Erkenntnissen“.43 3. Geeignetheit als prognostizierte Zweckförderung Eine Regelung ist im verfassungsrechtlichen Sinn schon geeignet, wenn sie die zulässigen Ziele fördern kann.44 Sie sei „erst dann nicht mehr geeignet, wenn sie die Erreichung des Gesetzeszwecks in keiner Weise fördern kann oder sich sogar gegenläufig auswirkt“. Daher ist kaum vorstellbar, wie ein Gesetzgeber diese niedrigen Hürden reißen könnte. Das BVerfG hat denn auch die Vertretbarkeit der Prognose zur Eignung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht bejaht.45 Der Nutzwert einer Impfung sei gegeben, weil nach Auskunft des RKI und PEI „eine deutliche fachwissenschaftliche Mehrheit“ beurteile, „dass sich geimpfte und genesene Personen seltener infizieren und auch das Virus seltener übertragen können als nicht geimpfte oder nicht genesene Personen“. Zudem würden auch infizierte Geimpfte „weniger und nur für einen kürzeren Zeitraum als nicht Geimpfte infektiös“ sein.46 Ende November 2021 seien noch 18 % des Personals mit engem Kontakt zu den Vulnerablen ungeimpft gewesen.47 Auch wenn das RKI 15 Wochen nach der Grundimmunisierung keinen „ausreichenden Schutz“ gegen die Omikronvariante mehr feststelle, die durch eine Auffrischungssimpfung wieder auf bis zu 70 % angehoben werden könne, sei dies eine „relevante Impfstoffwirksamkeit“.48 Die Bundesregierung erklärt Mitte Juni 2022, dass „eine Impfung auch unter vorherrschender Zirkulation der Omikron-Variante die Übertragbarkeit der Infektion um etwa 6 bis 21 Prozent nach Grundimmunisierung und nach Auffrischimpfung um weitere 5 bis 20 Prozent“ reduziere.49 Mit diesen Erwägungen könnte auch eine allgemeine Impfpflicht begründet werden. 4. Erforderlichkeit als Ausschluss sicher gleich geeigneter milderer Mittel Das BVerfG bestätigt die Erforderlichkeit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht, weil keine „eindeutig gleichen, aber die betroffenen Grundrechte weniger stark einschränkenden Mittel zur Verfügung“ stünden. Die „sachliche Gleichwertigkeit der alternativen Maßnahmen zur Zweckerreichung“ müsse „in jeder Hinsicht eindeutig feststehen“.50 Tests oder Schutzmaßnahmen seien nicht gleich geeignet.51 Zwar gebe es

43 BVerfG (Fn. 11), R. 156. 44 BVerfG, NJW 2008, S. 1137, 1138. BVerfG (Fn. 11), R. 166. – Zuck (Fn. 5), S. 120. BoehmeNeßler (Fn. 2), S. 1243, Oppenländer (Fn. 12), S. 50. 45 BVerfG (Fn. 11), R. 166 ff., 179. 46 BVerfG (Fn. 11), R. 173. 47 BVerfG (Fn. 11), R. 176. 48 BVerfG (Fn. 11), R. 184. 49 Bundestag, Drucksache 20/2299, 9. 50 BVerfG (Fn. 11), R. 186 f. Recht und Politik, Beiheft 10

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Fortschritte bei den Covid-Medikamenten, doch versprächen sie „weder eine sichere Heilung nach einer COVID-19-Infektion noch eine mit der gebotenen Eindeutigkeit festzustellende sichere Vermeidung von schweren bis hin zu tödlichen Krankheitsverläufen“.52 Das BVerfG prüft gar nicht mehr, ob Impflücken durch Aufklärung geschlossen werden könnten.53 Angesichts einer Quote von 15 % gänzlich Ungeimpfter seit mehr als einem halben Jahr ist von Apellen und Informationskampagnen tatsächlich nichts mehr zu erwarten.54

V. Angemessenheit oder Zumutbarkeit 1. Eingriffstiefe a) Reduzierte „erhebliche“ Eingriffstiefe Die Impfpflicht ist ein „erheblicher“ Eingriff in die körperliche Unversehrtheit.55 Der Einstich ist nicht schwerwiegend. Die Impfreaktionen beschränken sich in aller Regel auf Schwellungen und Schmerzen an der Injektionsstelle, zudem Unwohlsein, Fieber und Kopfschmerzen, die innerhalb weniger Tage abklingen. Eine wiederholende Impfung verstärkt den Eingriff. Die Streubreite einer allgemeinen Impfpflicht ist umfassend. Eine Zuwiderhandlung gegen Benachrichtigungspflichten, Betätigungsund Betreuungsverbote kann mit Bußgeld bis zu 2.500 € geahndet werden (§ 73 Abs. 1 Nr. 7e bis h, Abs. 2).56 Einen Impfzwang vertritt niemand; die Gesetzentwürfe für eine allgemeine Impfpflicht sahen sie auch nicht vor.57 Die einrichtungsbezogene Impfpflicht wird mittelbar durch Betretungsverbote durchgesetzt, was die Eingriffstiefe nach Ansicht des BVerfG „relativiert“.58 Sie werde zudem durch Befreiung bei medizinischer Kontraindikation, einer einschränkenden Auslegung, sie gelte nur für Personal, bei dem ein Kontakt mit Vulnerablen „möglich“ sei, und der Eröffnung einer „ermessensgeleiteten Einzelfallentscheidung“ des Gesundheitsamts vermindert.59

51 BVerfG (Fn. 11), R. 186, 188, 192, 197. Ebenso die Sachverständigen im Gesetzgebungsverfahren Mayer (Fn. 13), S. 10 ff. Lindner (Fn. 13), S. 7. 52 BVerfG (Fn. 11), R. 198. Anderer Ansicht Blankenagel (Fn. 12), S. 270. 53 So aber noch Lichdi (Fn. 12), S. 8 f. Rixen (Fn. 5). Zuck (Fn. 5), S. 121. – Zu den Inhalten der Aufklärung Drechsler, MedR 2021, 439 ff. 54 RKI (Fn. 36), S. 5. 55 BVerfG (Fn. 11), R. 205 ff. 56 BVerfG (Fn. 11), R. 267 ff. Bonitz / Schleiff (Fn. 9), S. 236. 57 Ethikrat (Fn. 5), S. 16 f. Ethikrat (Fn. 12), S. 87 hatte sich sogar gegen Betreuungsverbote ausgesprochen. Zu den Szenarien Blankenagel (Fn. 12), S. 274. 58 BVerfG (Fn. 11), R. 209, 221. 59 BVerfG (Fn. 11), R. 213 ff., 220 im Anschluss an Weigert (Fn. 9), S. 167 ff. Zur Auslegung der „Tätigkeit“ OVG Saarland, Beschluss vom 17. 05. 2022, 2 B 62/22, R. 11 ff. – Weigert (Fn. 9), S. 167 hält die Verantwortlichkeit von „Unternehmen“ für verfassungswidrig. 60

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b) Schwerwiegende Nebenwirkungen Maßgeblich wird die Eingriffstiefe durch das Ausmaß der Nebenwirkungen bestimmt. Obwohl sie selten bis sehr selten (zwischen 0,1 % und 0,01 % der Fälle) auftreten, hält es das PEI unter 172 Mio Impfungen für „möglich“ oder „wahrscheinlich“, dass eine Impfung für 116 Todesfälle ursächlich war.60 Immerhin ignoriert das BVerfG die Todesfälle entgegen einer Tendenz in der Literatur nicht. Dennoch hält das Gericht die einrichtungsbezogene Impfpflicht „bei akuter Gefährdungslage“ der Vulnerablen für „vertretbar“, weil, so wörtlich: „gravierende Folgen ganz überwiegend nicht eintreten“.61 Allerdings überzeugt nicht, wie das BVerfG hier mit dem „Höchstwert“ Leben umgeht.62 Andererseits hat das Verfassungsgericht bisher schon die Zulassung hochgefährlicher Anlagen trotz verbleibenden „Restrisikos“ für verfassungskonform gehalten, etwa im Atomrecht. Und Abschiebungen in gefährliche Gebiete hält die Rechtsprechung schon für zulässig, wenn das Risiko, schwer verletzt oder getötet zu werden, 1 : 800 betrage.63 2. Abwägung mit der Schutzbedürftigkeit Vulnerabler Das BVerfG betont die „besondere Schutzbedürftigkeit“ der Krankenhauspatienten und der Bewohnerinnen von Alten- und Pflegeheimen. Denn „neben dem erhöhten Risiko, schwerwiegend oder sogar tödlich an COVID-19 zu erkranken“, seien sie „nicht oder allenfalls eingeschränkt in der Lage, ihr Infektionsrisiko durch eine Impfung selbst zu reduzieren“. Zudem stehe die Inanspruchnahme der Einrichtungen „ganz überwiegend nicht zur freien Disposition dieser Personen, sondern betrifft typischerweise ihre essentiellen Grundbedürfnisse.“64 Im Ergebnis vertretbar räumt das Verfassungsgericht daher dem Schutz der Vulnerablen Vorrang vor einer freien Impfentscheidung der Beschäftigten ein. Denn „schwerwiegende und / oder länger andauernde Nebenwirkungen oder gravierende Folgen sind auf Extremfälle beschränkt, während das Infektionsrisiko mit einem regelmäßig schweren und einem in einer nicht nur unerheblichen Zahl auch tödlichen Krankheitsverlauf für die Vulnerablen zum maßgebenden Beurteilungszeitpunkt greifbar“ gewesen sei.65 Die vertretbaren Prognosen und Abwägungen seien inzwischen auch nicht „durchgreifend erschüttert“, weil eine Impfung jedenfalls „zu einer Reduzierung des Transmissionsrisikos“ beitrüge.66 Im Übrigen habe das „Personal in Heil- und Pflegeberufen auch eine besondere Verantwortung gegenüber den von ihm behandelten und betreuten Personen. Dieser be60 PEI, Sicherheitsbericht, 4. 5. 2022, S. 8. Das BVerfG (Fn. 11) R. 225 ff. referiert noch den Stand Ende Oktober 2021 mit 78 Toten. Sehr kritisch zum PEI Blankenagel (Fn. 12), S. 272. 61 BVerfG (Fn. 11), R. 225, 222. 62 Vgl. nur Blankenagel (Fn. 12), S. 272 ff. 63 BVerwG, Urteil vom 17. 11. 2011, 10 C 13.10, R. 22. 64 BVerfG (Fn. 11), R. 218. 65 BVerfG (Fn. 11), R. 219, 228 f., 230. 66 BVerfG (Fn. 11), R. 237 f. Recht und Politik, Beiheft 10

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sonderen Verantwortung müssen sich Angehörige dieser Berufsgruppen schon bei ihrer Berufswahl bewusst sein.“67 3. Abwägung zu allgemeinen Impfpflichten Für eine allgemeine Impfpflicht ist maßgeblich, ob sie zulässige Zwecke verfolgt sowie erforderlich und angemessen ist, um Menschen zu schützen, die durch Corona erheblich an ihrer Gesundheit gefährdet sind, sich aber nicht impfen lassen können. Den zu schützenden Personenkreis bilden Kinder unter 5 Jahren, für die bisher keine Impfempfehlung besteht, sowie Personen, bei denen eine Impfung medizinisch kontraindiziert ist. Allerdings erkranken Kinder sehr selten und auch Personen mit Immundefizienz können mit bestimmten Vorkehrungen geimpft werden.68 Die Gesetzentwürfe zu einer Impfpflicht spiegeln diese Begründungsschwierigkeiten, die deshalb nur noch dem „Risiko“ einer unbestimmten ansteckenderen und pathogeneren Variante im Herbst 2022 vorbeugen wollten. Zwar darf der Gesetzgeber auch verhältnismäßige Rechtspflichten zur Abwehr eines Risikos auferlegen, unterliegt dann aber höheren Begründungs-, Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten.69 Seegmüller kritisierte zu Recht, dass „aussagekräftige Zahlen über die drohende Belastung des Gesundheitswesens“ fehlten, „obwohl solche angesichts der angenommenen Regelhaftigkeit der Steigerung der Erkrankungszahlen vorliegen müssen“. Das „Aufzeigen einer abstrakten Möglichkeit“ genüge jedenfalls den „verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht“. Daher fehle laut Lindner derzeit das „konkrete Zweckverwirklichungsbedürfnis“.70 Auch Blankenagel erkennt überwiegende Gründe gegen eine Impfpflicht.71 Im Ergebnis kann wohl festgehalten werden: Die Durchsetzung einer Impfpflicht mit unmittelbarem Zwang ist unzumutbar, ebenso wenn der Gesetzgeber keine ausreichenden Vorkehrungen zur Feststellung medizinischer Kontraindikationen getroffen hat. Eine Gewissensklausel ist geboten. Eine allgemeine Impfpflicht mit dem Ziel, die erforderliche Impfquote für einen ausreichenden Gemeinschaftsschutz zu erreichen, die Funktionsfähigkeit der Gesundheitsversorgung zu gewährleisten oder zur Wiederherstellung der Grundrechte erscheint begründbar, wenn aufgrund der konkreten pandemischen Lage und der Viruseigenschaften eine Ansteckung mit Weitergabe des Virus wahrscheinlicher ist, als verschont zu bleiben und dadurch schwere Erkrankungen und Todesfälle auftreten können, ohne diese zuverlässig und wirksam mit Medikamenten behandeln zu können. Die Hürden sind um so höher, je weniger eine Impfung die Ansteckungsgefahr herabsetzt und je unwahrscheinlicher eine Reinfektion Gene67 BVerfG (Fn. 11), R. 265. 68 https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/39/Art_01.html;jsessionid= D7F90DAF0553255047EAFAD58DC85E8F.internet082. 69 Lichdi (Fn. 3), S. 366 f. 70 Seegmüller (Fn. 13), S. 5. Lindner (Fn. 13), S. 9 f. 71 Blankenagel (Fn. 12), S. 272. 62

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sener ist. Diesen Umständen kann mit einer bedingten Impfpflicht Rechnung getragen werden.

VI. Verletzung der Schutzpflicht durch intendiertes Vollzugsdefizit? Rechtsprechung und Literatur erkennen eine Kollision des grundrechtlichen Abwehranspruchs gegen eine Impfpflicht mit dem Schutzanspruch der durch eine CovidInfektion besonders gefährdeten Menschen, die sich nicht impfen lassen können.72 Das BVerfG löst den Konflikt aber nur in einer allgemeinen Proportionalklausel auf: „Um dem Übermaßverbot zu genügen, müssen hierbei die zu schützenden Rechtsgüter umso gewichtiger sein, je empfindlicher die Einzelnen in ihrer Freiheit beeinträchtigt werden. Umgekehrt wird gesetzgeberisches Handeln umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können.“73 Dieser Ansatz ist allgemein ebenso richtig, wie im Konkreten nutzlos. Allerdings lässt die Ausgestaltung und Praxis der einrichtungsbezogenen Impfpflicht zweifeln, ob der Staat seiner Schutzpflicht nachkommt und der vom BVerfG beschworenen dringlichen Gefahr für die Vulnerablen entspricht. So wurde das Gesetz zwar am 10. Dezember 2021 beschlossen, ließ aber den Beschäftigten bis zum 15. März 2022 Zeit für den Impfnachweis. Die lange Frist hat keineswegs dazu geführt, dass sich die Betroffenen impfen ließen. In Sachsen waren Ende April 2022 immer noch durchschnittlich 18 % der Beschäftigten in Pflegeeinrichtungen ungeimpft, wobei die Quote in den Kreisen zwischen 70 % und 90 % schwankt.74 Hinzu kommt die Eröffnung eines „einzelfallbezogenen Ermessens“ des Gesundheitsamts bei der Anordnung eines Betretungs- oder Beschäftigungsverbots, dass das BVerfG als Element der Verminderung der Eingriffstiefe sogar begrüßt. Aber es ist durchaus unklar, unter welchen Voraussetzungen die Gestattung weiterer Tätigkeit im Kontakt mit vulnerablen Menschen zugleich dem Zweck der Vorschrift entsprechen kann, nämlich dem Schutz Vulnerabler. Hier rächt sich, dass das BVerfG keine Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gegenüber einer fachgerichtlichen Klärung annahm.75

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BVerfG (Fn. 11), R. 203. Trapp (Fn. 15), S. 17. Gebhardt (Fn. 6), S. 283 ff. BVerfG (Fn. 11), R. 203. BVerfG (Fn. 26), R. 216. RKI, Bericht zu Impfquoten in Pflegeeinrichtungen in Sachsen – April 2022, S. 4 f. BVerfG (Fn. 11), R. 104.

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Allgemeine Impfpflicht: Chronik einer Absage Von Yannik Hofmann Die leidenschaftlich geführte Debatte um eine allgemeine Impfpflicht gegen das Coronavirus hat sich einmal im Kreis gedreht und steht mittlerweile dort, wo sie angefangen hat: bei einer kategorischen Absage. Mit Beginn der Pandemie schloss der damalige Bundesgesundheitsminister eine verpflichtende Impfung ohne Not aus, denn lange Zeit stand noch gar kein Impfstoff zur Verfügung. Die politische Trendwende vollzog sich dann überraschend im November 2021, als Olaf Scholz für eine allgemeine Impfpflicht ab spätestens Anfang März plädierte. Da man seine Lehren aus den oft kritisierten teils tiefgreifenden Grundrechtseinschränkungen durch Exekutivmaßnahmen gezogen hatte, sollte nun der Bundestag entscheiden. Dennoch herrschte Unsicherheit über die politische Windrichtung und Ausrichtung der neuen Bundesregierung. Statt einen eigenen Gesetzesvorschlag einzubringen, sollte die zur Gewissensfrage erhobene Entscheidung durch Gruppenanträge getroffen werden. Fünf Gruppen bildeten sich heraus und stellten jeweils einen Antrag mit unterschiedlichen Ausgestaltungen zur Impfpflicht, die alle abgelehnt wurden. Zwar endete damit die politische Debatte, doch mit Blick auf die Wintermonate und die kommenden Virusvarianten lohnt sich eine rechtliche Einordnung.

I. Politische Ausgangslage: Gewissensfrage statt Fraktionszwang Mit Ablauf des 25. November 2021 endete die sogenannte epidemische Lage von nationaler Trageweite.1 Am selben Tag erreichten die Parameter zur Pandemiebewältigung (Anzahl der Neuinfektionen, 7-Tage-Inzidenz, Sterberate) in Deutschland Höchstwerte.2 Nachdem mehrere führende Politiker sich für eine allgemeine Impf1

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Der Deutsche Bundestag hat am 25. 03. 2020 erstmalig die epidemische Lage von nationaler Tragweite nach einer Pandemiefeststellung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und im Hinblick auf die damals konkret drohende Einschleppung des neuartigen Coronavirus SARSCoV-2 festgestellt (BT-PlPr 19/154, S. 19169C). Am 18. 11. 2020, am 04. 03. 2021, am 11. 06. 2021 und zuletzt am 25. 08. 2021 (BGBl. I S. 4072) hat der Bundestag deren Fortbestehen festgestellt. Gemäß § 5 Abs. 1 S. 2 IfSG gilt die Feststellung als aufgehoben, sofern sie nicht 3 Monate später erneuert wird. Da keine erneute Feststellung erfolgte, endete die epidemische Lage von nationaler Tragweite mit Ablauf des 25. 11. 2021. Anzahl der Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden: 75.961 Fälle; Anzahl der mit oder an Covid-19 gestorbenen Menschen: >100.000; 7-Tage-Inzidenz: 419,7; Deutschland überschreitet Schwelle von 100.000 Corona-Toten, FAZ.NET, 25. 11. 2021, https://www.faz.net/

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Duncker & Humblot, Berlin

Allgemeine Impfpflicht: Chronik einer Absage

pflicht ausgesprochen hatten3, schwenkten die geschäftsführende Bundeskanzlerin und ihr designierter Nachfolger um und kündigten eine Abstimmung über die Impfpflicht ohne Fraktionszwang an4. Einige Kehrtwenden vollzogen sich auch beim Bundesgesundheitsminister. Zwar war Karl Lauterbach schon mit Beginn der Debatte ein Befürworter der Impfpflicht. Ausgestattet mit der Macht eines Bundesministeriums bereitete er trotz dessen zunächst nur einen Antrag „als Abgeordneter“5 vor, um dann wenige Tage später zu verkünden, dass „er sich entschieden habe, keinen eigenen Antrag zu präsentieren, sondern da neutral zu bleiben“.6 Dem Parlament einen eigenen Entwurf zu präsentieren, sei auf jeden Fall „keine so kluge Idee“. Als Gesundheitsminister müsse er „eine gewisse Neutralität“ haben.7 In Konsequenz dieses Führungsmangels bildeten sich fünf Gruppen: Die Gruppe um Dieter Janecek (GRÜNE) schlug eine verpflichtende Impfberatung für Erwachsene und eine altersbezogene Impfpflicht ab 50 Jahren vor.8 Die Abgeordneten um Heike Baehrens (SPD) forderte die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht ab 18 Jahren.9 Die Gruppe um Wolfgang Kubicki (FDP) wollte die Impfbereitschaft ohne allgemeine Impfpflicht erhöhen.10 Die Fraktion der CDU/CSU forderte in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, einen Gesetzesentwurf für ein „Impfvorsorgegesetz“ zu erarbeiten.11 Die Gruppe um Martin Sichert (AfD) beantragte, der Bundestag wolle beschließen, dass er eine mittelbare oder unmittelbare

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aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/rki-meldet-ueber-75-000-corona-neuinfektio nen-inzidenz-bei-419-7-17651317.html, Abruf am 15. 07. 2022. Die Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg (Winfried Kretschmann, GRÜNE) und Bayern (Markus Söder, CSU) verfassten hierzu einen gemeinsamen Artikel: Die Impfpflicht schützt die Freiheit, FAZ.NET, 22. 11. 2021, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ corona-impfpflicht-von-soeder-und-winfried-kretschmann-gefordert-17647078.html?printPa gedArticle=true#void, Abruf am 15. 07. 2022; es folgten die Regierungschefs von Hessen, Schleswig-Holstein und Berlin, vgl. „Sie muss kommen“: Weitere Ministerpräsidenten fordern Impfpflicht – Mehrere Länder weiten Coronaregeln aus, Handelsblatt, 23. 11. 2021, https:// www.handelsblatt.com/politik/deutschland/pandemie-sie-muss-kommen-weitere-minister praesidenten-fordern-impfpflicht-mehrere-laender-weiten-coronaregeln-aus/27826074.html? ticket=ST-300102-Ne2PYIckUvc6FeinJdyb-cas01.example.org, Abruf am 15. 07. 2022. Bundestag soll rasch über allgemeine Impfpflicht entscheiden, FAZ.NET, 30. 11. 2021, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-massnahmen-schnelle-entscheidungueber-impfpflicht-17660232.html, Abruf am 15. 07. 2022. Lauterbach verteidigt allgemeine Impfpflicht, SZ, 08. 01. 2022, https://www.sueddeutsche.de/ gesundheit/gesundheit-lauterbach-verteidigt-allgemeine-impfpflicht-dpa.urn-newsml-dpacom-20090101-220108-99-632978, Abruf am 15. 07. 2022. Karl Lauterbach im Gespräch, The Pioneer, 13. 01. 2022, https://www.thepioneer.de/ originals/hauptstadt-das-briefing/briefings/karl-lauterbach-im-gespraech, Abruf am 15. 07. 2022. Karl Lauterbach im Gespräch, The Pioneer, 13. 01. 2022, a.a.O. BT-Drs. 20/954. BT-Drs. 20/899. BT-Drs. 20/680. BT-Drs. 20/978.

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Impfpflicht für unverhältnismäßig halte.12 Alle Vorschläge wurden in den Gesundheitsausschuss überwiesen. Dieser führte die Gesetzesentwürfe um Janecek und Baehrens zusammen und empfahl die Einführung einer verpflichtenden Impfberatung für Erwachsene sowie eine altersbezogene Impfpflicht ab 60 Jahren.13 Die Antwort der Parlamentarier fiel für alle Anträge gleich aus: abgelehnt.14

II. Mittel, Zwänge und Zwangsmittel Der Begriff „allgemeine Impflicht“ ist semantisch unklar und bedarf zunächst einer Charakterisierung. Gemeint ist häufig das staatliche Gebot, sich impfen zu lassen und die Impfung nachzuweisen. Regelmäßig geht es nicht darum, Menschen unter Anwendung körperlichen Zwangs einen Impfstoff zu injizieren. Vielmehr sollen sie unter dem Druck in Aussicht gestellter Nachteile ihre Einwilligung in eine Impfung erteilen.15 Soweit mit dieser Unterscheidung die synonyme Verwendung der Begriffe „Impflicht“ und „Impfzwang“ als „irreführend“ abgelehnt wird16, überzeugt dies nicht. Diese Unterscheidung verkürzt den Zwangsbegriff in unzulässiger Weise auf den im Verwaltungsrecht normierten unmittelbaren Zwang (§ 12 VwVG), der die Anwendung direkter Gewalt unter bestimmten Voraussetzungen legitimiert. Die entscheidende Frage ist aber, mit welchen (Zwangs‐)Mitteln die Impflicht durchgesetzt wird, das heißt, mit welchen in Aussicht gestellten Nachteilen die Einwilligung zur Impfung erteilt werden soll. Auch die mit einem Betretungsverbot (z. B. für Schulen, Gaststätten, Museen) verbundene Einschränkung kann einen Belastungsgrad erreichen, der die Betroffenen gegen ihren Willen zur Teilnahme an der Impfung drängen könnte. Insofern kann auch bei Maßnahmen zur Durchsetzung einer Impflicht, die keine direkte Gewaltanwendung darstellen, von einem faktisch-indirektem Impfzwang gesprochen werden.17 Die Unterscheidung zwischen „Impflicht“ und „Impfzwang“ ist daher reine Sprachkosmetik, um die Intensität des Grundrechtseingriffs abzumildern. Für die rechtliche Einordnung ändert sich daran gleichwohl nichts.18

12 BT-Drs. 20/516. 13 BT-Drs. 20/1353, S. 11 ff. 14 BT-PlPr 20/28, S. 2366D (Gruppe Baehrens und Janecek), S. 2370C (Fraktion CDU/CDU), S. 2373D (Gruppe Kubicki), S. 2377C (Gruppe Sichert). 15 Rixen, in: Huster/Kingreen (Hrsg.), Handbuch Infektionsschutzrecht, 2. Auflage (2022), Kap. 5 Rn. 59. 16 Rixen, Rechtmäßigkeit und Semantik der Impfpflicht, Verfassungsblog, 28. 07. 2021, https:// verfassungsblog.de/rechtmaessigkeit-und-semantik-der-impfpflicht/, Abruf am 21. 07. 2022. 17 OVG Lüneburg, Urteil vom 03. 02. 2011 – 13 LC 198/08 –, juris, Rn. 32; kritisch: BVerwGE 142, 205, juris, Rn. 28; hierauf bezugnehmendVG Weimar, Beschluss vom 14. 03. 2019 – 8 E 416/19 WE –, juris, Rn. 13. 18 So im Ergebnis auch Rixen (Fn. 15), Kap. 5 Rn. 70. 66

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In Anbetracht des weitreichenden Maßnahmenkatalogs zur Bekämpfung der Covid19-Pandemie19 stellt sich die Frage, ob man von einer Impfpflicht sprechen kann, wenn sie nicht nur gesetzlich angeordnet ist, sondern auch wenn grundrechtseinschränkende Maßnahmen faktisch wie eine solche wirken.

III. Rechtliche und faktische Impfpflicht Eines der wenigen Beispiele einer allgemeinen Impfpflicht in Deutschland war im Gesetz über die Pockenschutzimpfung20 normiert, wonach alle Personen ab dem 12. Lebensjahr die Rechtspflicht hatten, sich gegen Pocken impfen zu lassen. Ausnahmen bestanden nur für solche Personen, die nicht ohne gesundheitliche Gefahren geimpft werden konnten. Verstöße stellten eine Ordnungswidrigkeit dar und konnten mit einem Bußgeld geahndet werden. Hinsichtlich der Masernimpfung normiert § 20 Abs. 8 IfSG unter anderem, dass Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 IfSG (Kindertagesstätten, Schulen, Ferienlager, etc.) betreut werden, einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern aufweisen müssen. Diese Regelung wird in der Literatur durchweg als Masernimpfpflicht bezeichnet.21 Durch die Regelung wird insofern Druck (auf die Eltern) aufgebaut, als dass bei fehlender Impfung der Entzug oder die Verweigerung des Rechtsvorteils „Kita-Platz“ droht. Nichts anderes stellen die Zugangsmodelle für Einrichtungen und Veranstaltungen der Kultur- und Freizeitgestaltung (Kinos, Theater, Gaststätten, etc.) dar, deren Inanspruchnahme inzidenzunabhängig nur Geimpften und Genesenen (2G) möglich ist. Bei fehlender Impfung werden die Rechtsvorteile „Besuche von Kultur- und Freizeitveranstaltungen und Einzelhandelsgeschäften“ verweigert, so dass es sich folglich um eine Impflicht handelt. Ebenso wie der Masernimpfpflicht bedarf es auch hier keiner Differenzierung zwischen „direkt“ und „indirekt“. Eine Impfpflicht gegen das Coronavirus existierte kraft der Normierung der in Aussicht gestellten Nachteile.22 Sinnvoller ist es meines Erachtens von einer rechtlich normierten Impfpflicht in Abgrenzung zu einer faktischen Impfpflicht zu sprechen. Im Ergebnis stimmen bei beiden Varianten Ziel und Wirkung der 19 Dazu zählt insbesondere Möglichkeit, den Zutritt zum Arbeitsplatz, zu Einrichtungen, Ladenlokalen etc. vom Impf-, Genesenen- oder Teststatus der Betroffenen abhängig zu machen (z. B. das sog. „3G-Zugangsmodell“ beim Zutritt zur Arbeitsstätte gem. § 28b Abs. 1 IfSG i. d. F. vom 24. 11. 2021, geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 22. 11. 2021, BGBl. I S. 4909 oder das sog. 2G-Zugangsmodell für Angebote mit Publikumsverkehr vgl. nur § 10j der 52. HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO i. d. F. vom 27. 08. 2021, HmbGVBl. Nr. 55, S. 573). 20 Gesetz über die Pockenschutzimpfung vom 18. 05. 1976, BGBl. I S. 1216 (§ 1 Abs. 1). 21 Gebhardt, in: Kießling (Hrsg.), IfSG, 2. Auflage (2021), § 20 Rn. 36, m.w.N.; Aligbe, in: Eckart/Winkelmüller (Hrsg.), IfSG, 12. Edition (Stand: 01. 07. 2022), § 20 Rn. 177a („mittelbare Impfverpflichtung“). 22 Im Ergebnis wohl auch Rixen, Rechtmäßigkeit und Semantik der Impfpflicht, Verfassungsblog, 28. 07. 2021, https://verfassungsblog.de/rechtmaessigkeit-und-semantik-der-impfpflicht/, Abruf am 21. 07. 2022. Recht und Politik, Beiheft 10

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Yannik Hofmann

Regelung überein: Bei der rechtlich normierten wie bei der faktischen Impfpflicht werden Rechtsnachteile (Bußgelder zur Ahndung einer Ordnungswidrigkeit oder Zutrittsverbot zu Einrichtungen und Veranstaltungen des öffentlichen Lebens) in Aussicht gestellt, die dazu animieren sollen, der Pflicht nachzukommen. Als Verursacher, der dieses Ziel und diese Wirkung erreichen will, steht dabei immer der Staat hinter dem Vorgang. Die rechtliche Situation des 2G-Zugangsmodells ist auch nicht mit der Konstellation vergleichbar, in der Ungeimpfte mittels aktuellem negativen Testnachweis Zutritt zu vielen Einrichtungen und Veranstaltungen des öffentlichen Lebens hatten. Bei einer in überwiegenden Bereichen geltenden 3G-Regelung wäre es verfehlt, von einer Impfpflicht zu sprechen, da regelhaft die Möglichkeit besteht, die in Aussicht gestellten Nachteile durch einen negativen Testnachweis rechtskonform zu überwinden. In einem 2G-Modell beschränkt sich der Lebensbereich für Ungeimpfte auf die eigene Wohnung und Geschäfte des täglichen Bedarfs. Mit Ausnahme des ÖPNV und der Arbeitsstätte, für deren Zutritt ein negativer Testnachweis vorliegen muss23, bleibt Ungeimpften der Zugang zu sämtlichen Einrichtungen und Veranstaltungen des öffentlichen Lebens verwehrt. Kurzum: Ungeimpfte dürfen noch Geschäfte des täglichen Bedarfs betreten und ihren arbeitsvertraglichen Pflichten nachkommen. Solche weitreichenden Einschränkungen der Freiheitsrechte Ungeimpfter auf ein absolutes Minimum rechtfertigen es, von einer faktischen Impfpflicht zu sprechen.

IV. Verfassungsrechtlich erforderlich Diese Maßnahmen stellen mindestens einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und in das Recht auf körperliche Unversehrtheit in seiner Bedeutung als Selbstbestimmungsrecht über den Körper (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) dar.24 Abhängig von der Konstellation und dem Kontext kommen auch weitere Grundrechtseingriffe in Betracht. Bei der sodann anzustellenden Verhältnismäßigkeitsprüfung fällt bereits eine präzise Bestimmung des legitimen Zwecks schwer. Es besteht keine Einigkeit und erst recht keine gesetzgeberische Festlegung über die Charakterisierung des Ziels „Schutz von Leben und Gesundheit“25. Eine alleinige Betrachtung der Auslastung der Intensivbettkapazitäten dürfte jedenfalls zu kurz greifen. Denn dies wirft die allgemeine Frage auf, ob eine Auslastung von 100 % überhaupt hingenommen werden sollte und berücksichtigt nicht die Möglichkeit der Krankenhäuser, Eingriffe zu verschieben. Ebenso bleibt dabei die individuell zumutbare Überlastungsgrenze des medizinisches Personals außer Betracht. Zwar ist auch das Ziel „Schutz von Leben und 23 Vgl. Fn. 19. 24 Schwager-Wehming/Pieper, Absage aus den falschen Gründen – Warum eine Impfpflicht nicht pauschal verneint werden sollte, JuWissBlog Nr. 57/2021, 01. 06. 2021, https://www.juwiss. de/57-2021/, Abruf am 21. 07. 2022; Rixen, Rechtmäßigkeit und Semantik der Impfpflicht, Verfassungsblog, 28. 07. 2021, https://verfassungsblog.de/rechtmaessigkeit-und-semantik-derimpfpflicht/, Abruf am 21. 07. 2022. 25 S. § 28a Abs. 3 IfSG. 68

Recht und Politik, Beiheft 10

Allgemeine Impfpflicht: Chronik einer Absage

Gesundheit“ für sich genommen zu abstrakt, lässt sich aber unter anderem auf Langzeitfolgen („Long Covid“) herunterbrechen, so dass jedenfalls deren Verhinderung ein legitimes Ziel von Coronaschutzmaßnahmen sein kann.26 Dass eine Impfpflicht unter Beachtung des gesetzgeberischen Einschätzungs- und Gestaltungspielraums geeignet ist, ist nach dem derzeitigen Wissensstand für Personen ab dem 5. Lebensjahr nach Maßgabe der STIKO-Empfehlung zu bejahen. Ebenso schützt eine Impfung gegen das Coronavirus vor schweren Verläufen von COVID-19 und reduziert die Wahrscheinlichkeit einer Infektion in erheblichem Maße.27 Eine adressatengerechte Information über die Impfung ist neben der Bereitstellung ausreichender Infrastruktur notwendig und für das Kriterium der Erforderlichkeit unumgänglich.28 Gegenwärtig sind 85,3 % der Erwachsenen in Deutschland grundimmunisiert (zwei Impfungen); in der Altersgruppe ab 60 Jahren sind es 91,2 %. Einen vollständigen Impfschutz29 haben 61,8 % der Erwachsenen und 85,7 % in der Altersgruppe ab 60 Jahren.30 Damit ist die im letzten Jahr noch geforderte Zielimpfquote31 nach nun eineinhalb Jahren Impfkampagne nicht erreicht. In einer vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebenen Befragung gab nur ein geringer Anteil der Nichtgeimpften an, sich in Zukunft auf jeden Fall (2 %) oder eher (3 %) impfen zu lassen. Eine große Mehrheit von zwei Drittel der Befragten gab an, sich auf gar keinen Fall gegen das Coronavirus impfen zu lassen.32 Es ist daher ausgeschlossen, dass die Zielimpfquote – sofern das RKI sie aufrechterhält – ohne weitere Maßnahmen erreicht werden wird.

26 Kießling, in: Kießling (Hrsg.), IfSG Kommentar, 2. Auflage (2021), § 28a Rn. 18 f. 27 STIKO: 20. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung, Epidemiologisches Bulletin 21/ 2022, RKI, 25. 05. 2022, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2022/Aus gaben/21_22.pdf ?__blob=publicationFile, Abruf am 22. 07. 2022. 28 Rixen, Rechtmäßigkeit und Semantik der Impfpflicht, Verfassungsblog, 28. 07. 2021, https:// verfassungsblog.de/rechtmaessigkeit-und-semantik-der-impfpflicht/, Abruf am 21. 07. 2022. 29 D. h. mindestens drei Impfungen, vgl. § 22a Abs. 1 S. 2 IfSG. 30 Monitoring des COVID-19-Impfgeschehens in Deutschland, Monatsbericht des RKI vom 07. 07. 2022, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/ImpfungenAZ/COVID-19/ Monatsberichte/2022-07-07.pdf ?__blob=publicationFile, Abruf am 22. 07. 2022. 31 Mindestens 85 % der 12 – 59-Jährigen und 90 % der über 60-Jährigen, vgl. COVID-19Zielimpfquote, Epidemiologisches Bulletin Nr. 27/2021, 08. 07. 2021, RKI, https://www.rki. de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/27_21.pdf ?__blob=publicationFi le, Abruf am 22. 07. 2022. 32 Befragung von nicht geimpften Personen zu den Gründen für die fehlende Inanspruchnahme der Corona-Schutzimpfung, Ergebnisbericht vom 18. 10. 2021, forsa, https://www.bundes gesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Coronavirus/Befragung_ Nichtgeimpfte_-_Forsa-Umfrage_Okt_21.pdf, Abruf am 22. 07. 2022. Recht und Politik, Beiheft 10

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Yannik Hofmann

V. Verfassungsmäßigkeit einer allgemeinen Impfpflicht Die in der Vergangenheit umgesetzten Maßnahmen – insbesondere das 2G-Zugangsmodell – stellen eine faktische Impfpflicht dar. Eine zum gleichen Zeitpunkt rechtlich normierte, allgemeine Impfpflicht wäre dagegen nicht erforderlich und damit verfassungswidrig. Denn bei einer faktischen Impfpflicht verbleibt Nichtgeimpften immerhin noch die Freiheit, sich auf ein erheblich eingeschränktes Sozialleben zurückzuziehen und damit rechtskonform einer Impfung zu umgehen. Diese Freiheit besteht – von wenigen medizinisch bedingten Ausnahmen abgesehen – bei einer allgemeinen Impfpflicht nicht mehr. Insoweit stellt eine faktische Impfpflicht, wie ich sie hier annehme, immer das mildere Mittel dar, so dass eine rechtlich normierte Impfpflicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstößt.

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Demokratie perdu? Fünf verfassungsrechtliche Anmerkungen zur gegenwärtigen Corona-Krise* Von Anna-Bettina Kaiser

I. Leben wir derzeit in einem Ausnahmezustand? Seit dem ersten Lockdown ist in der Öffentlichkeit auch von Expertenseite gelegentlich zu lesen, wir würden gerade den ersten Ausnahmezustand der Bundesrepublik erleben. Andererseits wird von ebenso ernstzunehmenden Stimmen vehement darauf gepocht, es liege gerade kein Ausnahmezustand vor. Welche Stimmen haben recht, und was sagt das Grundgesetz zu alldem? Die gegenwärtige Verwirrung lässt sich damit erklären, dass unterschiedliche Verständnisse, unterschiedliche Begriffe von „Ausnahmezustand“ in Gebrauch sind: Das heute bekannteste – und raunendste – Verständnis stammt aus den 1920er Jahren, von dem Staatsrechtler Carl Schmitt, der später bekanntlich mit den Nationalsozialisten kollaborierte. Ein Ausnahmezustand ist ihm zufolge eine derartig chaotische Lage, dass das Recht – nach Schmitts sehr eigener Rechtstheorie – gar nicht mehr wirken kann. Die Verfassung, die Rechtsordnung wird in dieser Lage suspendiert, so heißt es in seiner Schrift „Politische Theologie“ aus dem Jahr 1922.1 – Vermutlich war es ihre verführerische Radikalität, möglicherweise aber auch der weitere geschichtliche Verlauf in den 1930er Jahren, die zur weiteren Rezeption dieser Theorie geführt haben. Sie ist bis heute wirkmächtig, auch der schillernde italienische Philosoph Giorgio Agamben hat in diesem Jahrtausend nach den Anschlägen des 11. September wieder an sie angeknüpft.2 Hilft die Theorie, der gegenwärtigen Corona-Politik analytisch beizukommen? Kaum. Auch Kritiker der Corona-Politik werden sofort zugeben, dass unsere Verfassung, unsere Rechtsordnung nicht suspendiert sind, im Gegenteil: Der Apparat der Verwal*

1 2

Zuerst in: RuP 1/2021, S. 7 – 15. Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag, den die Verfasserin am 23. 11. 2020 auf freundliche Einladung von Claus Leggewie im Rahmen der Ringvorlesung „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Und: Wie wir morgen leben werden“ des Präsidenten der Justus-Liebig-Universität Gießen gehalten hat. Die Vortragsform wurde beibehalten. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 1922, 1. Kapitel. Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, 2004.

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Duncker & Humblot, Berlin

Anna-Bettina Kaiser

tungsgerichtsbarkeit läuft auf Hochtouren, seit Ausbruch der Pandemie sind mindestens 1000 Entscheidungen von Verwaltungsgerichten im vorläufigen Rechtsschutz ergangen. Der Bundestag hat bekanntlich im November 2021 erneut das Infektionsschutzgesetz (IfSG) novelliert. Über diese Novelle lässt sich sicher trefflich streiten.3 Doch steht jedenfalls fest, dass mit dem Gesetz der Bundestag weiter zu einer Verrechtlichung der Krise beigetragen hat. Carl Schmitts Theorie, so sehr sie Rechtstheoretiker mit ihren Bezügen zur politischen Theologie und zum weiten geschichtlichen Hinterland der Staatstheorie reizt, bringt uns in unserem Verständnis der gegenwärtigen Lage nicht weiter. Es ist vielversprechender, den Ausnahmezustand begriffsgeschichtlich aufzuklären.4 Wenn wir den Begriff Ausnahmezustand historisch untersuchen, stellen wir fest, dass mit ihm schlicht eine Notstandssituation des Staates bezeichnet werden sollte. Historisch betrachtet waren diese Notstandssituationen typischerweise der innere Aufruhr und der Krieg. Aber schon in der Weimarer Republik wurde anerkannt, dass auch andere existenzielle Staatskrisen – in der Weimarer Zeit vor allem: große Wirtschaftskrisen wie die Hyperinflation und die Weltwirtschaftskrise ab 1929 – einen Ausnahmezustand begründen können. Heute ist es die sog. „epidemische Lage von nationaler Tragweite“, so die Formulierung in § 5 Abs. 1 IfSG, die man ohne weiteres als Ausnahmezustand bezeichnen kann. Dabei muss allerdings klar bleiben: Die Rede vom Gesundheitsnotstand oder vom Ausnahmezustand Corona-Pandemie heißt gerade nicht, dass das Recht der Verfassung durchbrochen oder beiseite gewischt werden kann. Ein Notstand oder ein Ausnahmezustand unter dem Grundgesetz bleibt immer ein rechtsstaatlich und demokratisch eingehegter Ausnahmezustand. Die Rede vom Gesundheitsnotstand kann also zwar darauf aufmerksam machen, dass eine außergewöhnliche Krise vorliegt, auf die der Staat sicher außergewöhnliche Antworten geben muss und auch gibt. Doch alle diese Antworten müssen sich im Rahmen der Verfassung halten. Ich habe daher in meiner Forschung den Begriff des Ausnahmeverfassungsrechts vorgeschlagen, um die verfassungsrechtliche Einhegung von Ausnahmezuständen unter dem Grundgesetz zu unterstreichen.

II. Schlägt in der Corona-Krise die Stunde der Exekutive? Die Rolle des Parlaments und die Änderung des Infektionsschutzgesetzes Bekanntlich sind die Maßnahmen sowohl des ersten als auch des aktuellen Lockdowns in den sog. Corona-Verordnungen der Länder geregelt. Daran ist zweierlei interessant. Erstens: Die einschneidenden Maßnahmen erfolgen im Verordnungswege, erfolgen 3 4 72

Siehe etwa Uwe Volkmann, Das Maßnahmegesetz, https://verfassungsblog.de/das-massnahme gesetz/ (letzter Abruf: 01. 02. 2021), dort auch mit weiteren Nachweisen. Hierzu und zum Folgenden Anna-Bettina Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 49 ff. Recht und Politik, Beiheft 10

Demokratie perdu?

also durch exekutive Rechtssetzung. Zweitens: Die Verordnungen werden von den Ländern erlassen, nicht vom Bund. Der Grund für dieses Vorgehen liegt darin, dass die §§ 28, 32 des Bundesinfektionsschutzgesetzes die Landesregierungen über eine Generalklausel zum Erlass von Maßnahmen zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten ermächtigen. Weil auf diese Weise die Landesregierungen zu den zentralen Gestaltern der Pandemie wurden, konnte der Eindruck entstehen, dass ausgerechnet in der wohl größten Krise in der Geschichte der Bundesrepublik der Bundestag als Akteur weitgehend ausfiel. Das ist zunächst eine politische Beobachtung. Eine rechtliche tritt aber hinzu. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen die grundrechtswesentlichen Entscheidungen vom Parlament getroffen werden (sog. Wesentlichkeitstheorie). Der Bundestag hatte den Ländern aber bislang in § 28 IfSG im Wege der erwähnten Generalklausel nur sehr allgemeine Vorgaben gemacht, schon weil zum Zeitpunkt des Gesetzeserlasses eine Krankheit wie Covid-19 nicht bedacht worden war. Nun waren sich die meisten Verfassungsrechtler schnell einig,5 dass der Bundestag die alte Ermächtigungsgrundlage nachbessern würde müssen. Auch die Gerichte mahnten eine Konkretisierung an. Intensive Grundrechtseingriffe wie die schon aus dem ersten Lockdown bekannten Gottesdienstverbote oder Betriebsschließungen erfordern in der Tat eine gesetzliche Grundlage, die die einzelnen möglichen grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen klar benennt. Wenn überhaupt, dann können die massiven Grundrechtseingriffe nur auf diese Weise ausreichend demokratisch legitimiert und gerechtfertigt werden. Der Bundestag hat lange gezögert und sich erst spät, wohl zu spät zu einer Novellierung des Infektionsschutzgesetzes durchringen können.6 Tatsächlich listet der neue § 28a IfSG jetzt beispielhaft einzelne Maßnahmen eigens auf, die getroffen werden können. Es handelt sich um diejenigen Maßnahmen, die bereits bekannt sind, wie Abstandsregelungen, Maskenpflicht etc., aber auch Untersagungen von Versammlungen, die während des Bestehens einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (also dem Gesundheitsnotstand) möglich sein sollen. Was ist verfassungsrechtlich von dieser neuen Regelung zu halten? Das Urteil fällt ambivalent aus; die problematischen Punkte sollen gleich besprochen werden. Hinsichtlich der Frage, welche Rolle der Bundestag in der Krise gespielt hat, fällt die Würdigung der Neuregelung jedoch positiv aus. Der Bundestag hat, indem er für die erforderliche und längst überfällige parlamentarische Ermächtigung gesorgt hat, demonstriert, dass die parlamentarische Mehrheit im Grundsatz hinter den von den Ländern erlassenen Maßnahmen steht. Zwar ist eine derartige Verrechtlichung eines Notstands immer ein zweischneidiges Schwert, weil die Erfahrung lehrt, dass sich eine Ermächtigungsgrundlage, die einschneidende Maßnahmen erlaubt, auf Dauer in das

5 6

Etwa Uwe Volkmann, Heraus aus dem Verordnungsregime, NJW 2020, 3153 ff. § 28a eingefügt mit Wirkung vom 19. 11. 2020 durch Gesetz v. 18. 11. 2020 (BGBl. I S. 2397).

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Recht des Normalzustands einnisten und damit gewissermaßen normalisieren kann.7 Der Bundestag hat hier aber eine gewisse Vorkehrung gegen eine solche Einnistung getroffen. Der neue § 28a IfSG findet nämlich nur dann Anwendung, wenn das Parlament eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt hat – man könnte auch sagen: den Gesundheitsnotstand ausgerufen hat (§ 28a Abs. 1 IfSG – wovon Abs. 7 allerdings eine Ausnahme vorsieht, wenn sich die Krankheit nach Beendigung des Gesundheitsnotstands noch in einzelnen Bundesländern ausbreitet). Um es zusammenzufassen: Die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes kam spät, wohl zu spät, doch hat der Bundestag durch sie gezeigt, dass die Krise auch eine Stunde der Legislative ist. Was außerdem nicht vergessen werden darf: Die erwähnten rund 1000 Entscheidungen vor allem der Verwaltungsgerichte zeigen, dass auch die Judikative ein gewichtiger Akteur in der Krise ist. Darauf ist zurückzukommen.

III. Wo verlaufen die grundrechtlichen Grenzen der Corona-Maßnahmen? Keine rechtliche Frage beschäftigt wohl seit Beginn der Krise die Öffentlichkeit mehr als die Verfassungsmäßigkeit der massiven Grundrechtseinschränkungen, die wir derzeit erleben. Alle Maßnahmen, die der Bekämpfung der Corona-Pandemie gelten und Grundrechte einschränken, müssen sich am Maßstab des Grundrechtskatalogs des Grundgesetzes messen lassen. Was aber sieht der Grundrechtskatalog vor? Am wichtigsten zunächst: Das Grundgesetz lässt keine Suspension von Grundrechten zu, auch nicht im Gesundheitsnotstand. Dass das nicht selbstverständlich ist, zeigt der historische Vergleich ebenso wie der Rechtsvergleich. Im 19. Jahrhundert, als, übrigens in Frankreich, das Konzept des Ausnahmezustands entwickelt wurde, wurden Grundrechte im Ausnahmezustand typischerweise suspendiert. Preußen übernahm dieses Modell, ebenso wie später das Kaiserreich und schließlich die Weimarer Nationalversammlung durch den zu Recht berüchtigten Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung. Es ist interessant, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes ursprünglich an diese Tradition anknüpfen wollten. Sie planten eine Norm für das Grundgesetz, die sehr stark an Artikel 48 WRV erinnerte und tatsächlich wieder eine Grundrechtssuspension vorsah.8 Es waren wohl die Alliierten, die – wenngleich auch nicht aus Gründen des Grundrechtsschutzes – intervenierten. Die Norm fand daher nie Eingang in das Grundgesetz. Als 1968 die Notstandsverfassung verabschiedet wurde, war es bereits undenkbar geworden, wieder an das alte Suspensionsmodell anzuknüpfen. Das Grundgesetz kennt also keine Grundrechtssuspension. 7

8 74

Zu denken ist etwa an das Sonderregime des französischen état d’urgence, das als Reaktion auf die Terroranschläge im November 2015 verhängt wurde. Der Zustand endete zwar offiziell am 31. Oktober 2017, doch wurden die im Rahmen des état d’urgence vorgesehenen Maßnahmen zum Großteil durch die „loi n° 2017 – 1510 du 30 octobre 2017 renforç ant la sécurité intérieure et la lutte contre le terrorisme“ in das reguläre Gesetzesrecht überführt. Kaiser (Fn. 4), S. 145 ff. Recht und Politik, Beiheft 10

Demokratie perdu?

Unter anderem die fehlende Möglichkeit der Grundrechtssuspension hat der Verfassung den Vorwurf der Schönwetterverfassung eingetragen. Für die Bewältigung einer existenziellen Krise wie der gegenwärtigen sei das Grundgesetz nicht gerüstet, so urteilten verschiedene konservative Kritiker in den Jahrzehnten nach Einführung der Notstandsverfassung.9 Allerdings trifft dieser Vorwurf nicht zu. Denn die Grundrechtsgewährleistungen bleiben – mit Ausnahme der Menschenwürde – allesamt einschränkbar; in existenziellen Krisensituationen können sie sogar massiv eingeschränkt werden. Besteht aber überhaupt noch ein Unterschied zum Suspensionsmodell, wenn die Grundrechte des Grundgesetzes derart massiv eingeschränkt werden können? Tatsächlich ist der Unterschied höchst bedeutsam. Er liegt darin, dass sich das Handeln des Staates am Maßstab der Grundrechte rechtfertigen lassen muss und alle Stoppregeln (die sog. Schranken-Schranken) greifen, die für Einschränkungen von Grundrechten unter dem Grundgesetz gelten. Die wichtigsten dieser Stoppregeln sind das Verhältnismäßigkeitsprinzip, aber auch die bereits erwähnte Wesentlichkeitstheorie, der zufolge die grundrechtswesentlichen Entscheidungen vom parlamentarischen Gesetzgeber zu treffen sind, schließlich der Wesensgehalt eines Grundrechts (Art. 19 Abs. 2 GG). Diese Stoppregeln bleiben zwar insbesondere in Ausnahmesituationen dehnbar; sie ziehen aber gerade dann letzte Grenzen ein, wenn ein Grundrecht andernfalls bis zur Suspension hin eingeschränkt würde. Das lässt sich an einem Fall zur Versammlungsfreiheit aus der ersten Lockdownphase demonstrieren. Als Reaktion auf den ersten Lockdown wurden in Gießen mehrere Versammlungen unter dem Motto „Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen – Schutz vor Viren, nicht vor Menschen“ angemeldet. Die Versammlungen sollten an verschiedenen Terminen im April 2020 stattfinden, erwartet wurde eine ungefähre Teilnehmerzahl von 30 Personen. Die Veranstalter hatten Hygienemaßnahmen vorbereitet sowie Ordner vorgesehen, die für die Abstandsregeln sorgen sollten. Dennoch untersagte die Stadt Gießen mit Verweis auf die damalige hessische Corona-Verordnung die Versammlungen. Dort hieß es, Aufenthalte im öffentlichen Raum seien nur alleine, mit einer weiteren nicht im eigenen Haushalt lebenden Person oder im Kreise der Angehörigen des eigenen Hausstandes gestattet (§ 1 Abs. 2 der hessischen Corona-VO vom 14. März 2020). Nachdem die Rechtsmittel der Veranstalter in allen Instanzen erfolglos geblieben waren, wandten sie sich mit einer Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht. Das Karlsruher Gericht entschied, die Verbotsverfügung verletze die Veranstalter in ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Die hessische Corona-Verordnung legte es zu diesem Zweck verfassungskonform aus.10 9 Siehe etwa Josef Isensee, Normalfall oder Grenzfall als Ausgangspunkt rechtsphilosophischer Konstruktion?, in: Winfried Brugger/Görg Haverkate, Grenzen als Thema der Rechts- und Sozialphilosophie, ARSP Beiheft Nr. 84, 2002, S. 51 (66). 10 BVerfG (K), Beschluss vom 15. 4. 2020 – 1 BvR 828/20 = NJW 2020, 1426. Dazu Mathias Hong, Coronaresistenz der Versammlungsfreiheit? Das Bundesverfassungsgericht ermöglicht Recht und Politik, Beiheft 10

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Die Unterschiede zwischen den Modellen treten hier in deutlichen Kontrast: Hätte man, wie die Stadt Gießen, die damalige hessische Corona-Verordnung so verstanden, dass Versammlungen grundsätzlich verboten gewesen wären, hätte die Verordnung faktisch eine Suspension des Grundrechts der Versammlungsfreiheit bewirkt, die das Grundgesetz gerade nicht erlaubt. Das Bundesverfassungsgericht ist einer derartigen Auslegung entschieden entgegengetreten und hat mit seiner Entscheidung zugleich ein wichtiges Zeichen in Richtung der anderen Bundesländer mit vergleichbaren Verordnungen gesandt. Die Demonstrationen in Gießen konnten schließlich wie geplant stattfinden. Das Beispiel der Versammlungsfreiheit zeigt zuletzt auch die verbleibenden Schwächen der jüngsten Novellierung des Infektionsschutzgesetzes. Der neue § 28a Abs. 1 Nr. 10 IfSG erlaubt auch die Untersagung von Versammlungen. Zwar heißt es einschränkend in Abs. 2, dass diese Maßnahme nur dann zulässig ist, „soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erheblich gefährdet wäre.“ Doch trotz dieser erheblichen Relativierung dürfte die gänzliche Untersagung von Versammlungen, die die Norm zulässt, mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sein.11 Sie liefe letztlich auf eine Suspension der Versammlungsfreiheit hinaus, die unter dem Grundgesetz gerade nicht statthaft ist.

IV. Sind die von Legislative und Exekutive getroffenen Pandemie-Maßnahmen verhältnismäßig? Mit der Frage nach der Verhältnismäßigkeit der von Legislative und Exekutive getroffenen Pandemie-Maßnahmen lassen sich die letzten Überlegungen weiter vertiefen. Wie festgehalten, lassen sich die Grundrechte des Grundgesetzes zwar weitreichend einschränken, insbesondere in der Krise – doch müssen Legislative und Exekutive auch dabei verschiedene Stoppregeln beachten. Die zentrale Stoppregel ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Da das Prinzip, jedenfalls dem Namen nach, auch in der allgemeinen Öffentlichkeit bekannt ist, fällt die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Pandemiebekämpfungsmaßnahmen entsprechend häufig. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip besteht bekanntlich aus drei Unterstufen. Der erste Schritt fragt, ob eine Maßnahme geeignet ist, das staatliche Ziel zu erreichen: Fördert die Pflicht, in Geschäften eine Maske zu tragen, tatsächlich die Bekämpfung der Pandemie? Das wird man bejahen können. Zweitens muss die Maßnahme erforderlich sein; es darf kein milderes Mittel bestehen, das gleich wirksam wäre wie das gewählte. Und zuletzt muss die Maßnahme auch angemessen sein: Ihr Mittel darf nicht außer Verhältnis zum staatlich verfolgten Ziel stehen. Dieses Verhältnismäßigkeitsprinzip eine Versammlung in Gießen, https://verfassungsblog.de/coronaresistenz-der-versammlungs freiheit/ (letzter Zugriff: 01. 02. 2021). 11 Volkmann (Fn. 3). 76

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Demokratie perdu?

wurde vom Bundesverfassungsgericht in jahrzehntelanger Rechtsprechung für die Grundrechte entfaltet. Es ist die zentrale Stoppregel für Grundrechtseinschränkungen und international wohl der erfolgreichste Exportschlager des deutschen Öffentlichen Rechts. Allerdings stößt das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei all seinem Erfolg gerade in Krisen – und das heißt: auch in der gegenwärtigen Corona-Krise – an deutliche Grenzen.12 Das hat zwei Gründe. Erstens zeichnen sich Krisen regelmäßig durch Nichtwissen aus. Lange Zeit wusste man nicht, dass Covid-19 vor allem durch Aerosole übertragen wird; ebenso wusste man lange Zeit nicht, ob es eine Immunität gegen das Virus geben würde. Doch trotz dieses Nichtwissens war und ist die Politik zum Handeln gezwungen, sogar zu schnellstmöglichem Handeln. Im Ergebnis hieß und heißt das für die Politik: Handeln trotz vieler Wissenslücken. Das Wissensdefizit wirkt sich aber auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung aus.13 Häufig wird niemand wissen, ob eine Maßnahme tatsächlich geeignet, ob sie tatsächlich erforderlich ist. Ein Beispiel: Im Oktober erließen verschiedene Bundesländer Beherbergungsverbote. Sofort entbrannte ein Streit über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme. Das Problem: Niemand konnte mit Sicherheit sagen, wieweit das Verbot das Pandemiegeschehen tatsächlich beeinflusste, weswegen nur schwer über seine Geeignetheit und Erforderlichkeit geurteilt werden konnte. Die Verwaltungsgerichte lösen das Problem in der Regel, und zu Recht, durch richterliche Zurückhaltung gegenüber den exekutiven und legislativen Akteuren, die dem Entscheidungszwang unterliegen und denen eine Einschätzungsprärogative zukommt. Der zweite Grund für die gegenwärtige „Überforderung“ des Verhältnismäßigkeitsprinzips lässt sich bei der dritten Prüfungsstufe, der Angemessenheit, zeigen. Wie erwähnt ist hier eine Zweck-Mittel-Relation vorzunehmen. Das Problem ist, dass die Ziele, die gegenwärtig verfolgt werden, nämlich die Aufrechterhaltung unseres Gesundheitssystems sowie der Schutz von hunderttausenden von Leben (USA: bislang 439 421 Todesfälle14), derart überwältigend sind, dass die allermeisten Mittel ohne weiteres den Test der Zweck-Mittel-Relation überstehen werden. – Das heißt im Ganzen: Das Verhältnismäßigkeitsprinzip hilft derzeit nur bedingt weiter. Was bedeutet das für die Politik? Sie muss das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei den von ihr zu treffenden Maßnahmen freilich stets bedenken; sie ist und bleibt an das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebunden. Daher wäre es auch grundlegend falsch, von der Suspension dieses Prinzips zu sprechen. Doch kommt dem Gesetzgeber (in der Regel: dem Verordnungsgeber) bei der Frage der Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme aufgrund der Wissensproblematik, wie erwähnt, ein weiter Einschätzungsspielraum zu.

12 Kaiser (Fn. 4), S. 234 ff. 13 Hervorragend ist die Darstellung und Analyse von Hans-Heinrich Trute, Ungewissheit in der Pandemie als Herausforderung, GSZ 2020, S. 93 ff. 14 Quelle: New York Times, Stand 31. 01. 2021, https://www.nytimes.com/interactive/2020/us/ coronavirus-us-cases.html. Recht und Politik, Beiheft 10

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V. Wie ist die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zu den Corona-Maßnahmen zu beurteilen? Analysiert man die Rechtsprechung zu den Corona-Maßnahmen der letzten Monate, entsteht der Eindruck, dass sich zwei Phasen ausmachen lassen. In den ersten Monaten war die Rechtsprechung, von einigen Ausnahmen abgesehen, im Ganzen zurückhaltend. Sie hat die meisten Pandemie-Bekämpfungs-Maßnahmen akzeptiert. Das hat der Rechtsprechung auch einige Kritik eingetragen, die sicherlich teilweise berechtigt war – etwa im erwähnten Gießener Versammlungsrechtsfall; der Versammlungsveranstalter war erst vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich. Teilweise ging die Kritik jedoch zu weit.15 Gerichte sind nur so gut wie ihre Maßstäbe. Wichtigster Maßstab war und ist aber das erwähnte Verhältnismäßigkeitsprinzip. Gelangt das Prinzip an seine Grenzen, sind den Gerichten insoweit die Hände gebunden. Die Gerichte haben sich teilweise aber damit beholfen, andere Stoppregeln stark zu machen. Eine besondere Rolle hat insoweit der Gleichheitsgrundsatz gespielt, der es zu einem gewissen Grad erlaubte, die Lockdown-Kategorien der Verordnungsgeber, etwa zu verschiedenen Einzelhandelssparten, gerichtlich nachzuprüfen. In der zweiten Phase, als sich der zweite Lockdown abzeichnete, waren die Gerichte, so scheint es, dagegen strenger. Wie allgemein bekannt ist, erklärten einige Oberverwaltungsgerichte die von den Ländern ausgesprochenen Beherbergungsverbote für rechtswidrig.16 Auf den ersten Blick wirkt das freiheitsfreundlich. Bei näherem Hinsehen handelt es sich aber wohl um eine Anmaßung von Wissen, das bei den Gerichten nicht vorhanden ist. Denn bei den Beherbergungsverboten gilt nichts anderes als bei den anderen getroffenen Maßnahmen: Welchen Anteil genau sie an der Eindämmung der Pandemie haben, wissen wir nicht, auch die Gerichte nicht.17 Sie hätten den Einschätzungsspielraum der Verordnungsgeber respektieren müssen. – Soweit man während des andauernden Lockdowns bereits von einer dritten Phase sprechen kann, haben sich die Gerichte inzwischen wohl bei einer mittleren Linie eingependelt.

VI. Schlussfolgerungen Ausnahmezustände wie der gegenwärtige sind gefährlich für Demokratien. Tatsächlich hat die US-amerikanische Nichtregierungsorganisation Freedom House in einem Sonderbericht mit dem Titel „Democracy under Lockdown“ verzeichnet, dass sich die Bedingungen für Demokratie und Menschenrechte seit Beginn der Pandemie in 80 von

15 Vgl. Uwe Volkmann, Der Herde folgen, F.A.Z. vom 06. 05. 2020, S. 9: „Aber es ist, als hätte man für einen Moment in einen Abgrund geblickt“. 16 Siehe Nds. OVG, Beschluss vom 15. 10. 2020 – Az. 13 MN 371/20; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 27. 10. 2020 – Az. 3 R 205/20. 17 Trute (Fn. 13). 78

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192 untersuchten Staaten verschlechtert haben.18 Für Deutschland hat die Organisation – immerhin tröstlich – keine Verschlechterung festgestellt. Doch es wird wichtig sein, darauf zu achten, dass sich gegenwärtige Ausnahmeregelungen wie die angesprochene aus dem Infektionsschutzgesetz nicht dauerhaft einnisten und verstetigen. Und schließlich gilt es, die Demokratie gegen diejenigen zu verteidigen, die die gegenwärtige Verunsicherung in der Gesellschaft durch Falschinformationen und Drohungen auszunutzen versuchen und letztlich der Gesellschaft schaden wollen.

18 https://freedomhouse.org/report/special-report/2020/democracy-under-lockdown (letzter Abruf: 01. 02. 2021). Recht und Politik, Beiheft 10

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Die COVID-19-Pandemie – experimentelles Handeln unter Ungewissheitsbedingungen* Rechtliche und rechtspolitische Herausforderungen Von Karl-Heinz Ladeur

I. Covid-19 und die Grenzen der Abwägung unter Ungewissheitsbedingungen Die Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID-19 haben tief in eine Vielzahl von Grundrechten eingegriffen1 und auch deren transsubjektive Effekte, den Prozess der Produktion von Wirkungen der Grundrechtsausübung für Dritte2, stark beeinträchtigt. Die Grundrechte sind entgegen einer noch stark verbreiteten Auffassung eben nicht nur Abwehr- und Handlungsrechte des Einzelnen, sie haben vielmehr einen tiefgreifenden kollektiven Effekt in der Erzeugung von mehr Möglichkeiten für andere. Deshalb werden nicht nur „Güter“ beeinträchtigt, sondern der gesamte Prozess der selbstorganisierten Produktion des Neuen durch die modulare Ordnung der Grundrechte. Dazu gehört auch die Möglichkeit der Selbstentwicklung des Einzelnen in der Form der Erzeugung von mehr Möglichkeiten in der und durch die Schule, in Universitäten, in der Kunst, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft. Vieles von dem, was durch Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID-19 gestört worden ist, ist mit Geld allein kaum zu kompensieren. Das gilt zum Beispiel für Schüler, Studenten, junge Künstler und Wissenschaftler am Anfang ihrer Karriere, junge Unternehmer, die an einer neuen vielversprechenden Produktion gearbeitet haben. Dies sind nur einige Beispiele für Schäden, die schon angerichtet worden sind. Es kann auch keine Rede davon sein, dass insbesondere in der ersten Phase des CoronaRegimes der Grundsatz „Leben und Gesundheit über alles“ für die Gestaltung der * 1

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Zuerst in: RuP 2/2021, S. 144 – 163. Vgl. zur verfassungsrechtlichen Problematik nur Jens Kersten/Stephan Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, München 2020, S. 36 ff.; 2. Aufl. angekündigt für Mai 2021; Hans Michael Heinig et al., Why Constitution Matters – Verfassungsrechtswissenschaft in Zeiten der Corona-Krise, JZ 2020, 861. Karl-Heinz Ladeur, Die transsubjektive Dimension der Grundrechte, in: Thomas Vesting/ Stefan Korioth/Ino Augsberg (Hrsg.), Grundrechte als Phänomene kollektiver Ordnung, Tübingen 2014, S. 17.

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Duncker & Humblot, Berlin

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staatlichen Maßnahmen bestimmend gewesen wäre. In dieser ersten Phase der Bekämpfung der Pandemie ist von Verfassungsrechtlern die Notwendigkeit der Abwägung aller betroffenen Grundrechte oder der Grundrechtsgüter in Anschlag gebracht worden.3 In Fällen der Entscheidung unter extremer Ungewissheit, zu denen die Corona – Pandemie gehört, ist die Entwicklung einer Strategie zum Umgang mit und der Begrenzung von Ungewissheit oberstes Gebot.4 Wie es in einem Artikel über die Bekämpfung der Pandemie in Dänemark hieß, hat man „keine Zeit zum Abwägen“.5 Die Verwaltung konnte anfangs nicht einmal wissen, was es denn bedeuten könnte, „Leben und Gesundheit über alles“ zu stellen. Die in der öffentlichen Auseinandersetzung hervorgetretenen Protagonisten der Abwägung tendieren dazu, die Probleme der kognitiven Konstruktion des Sachverhalts, mit dem Entscheider unter Bedingungen der Ungewissheit zu tun haben, in normative Probleme der Relation von „Gütern“ umzuformulieren, die sich anfangs gar nicht unterscheiden lassen. Dann wird Nichtwissen zur normativen Voraussetzung für Entscheidungsfreiheit.6 Das erste Problem der Corona-Bekämpfung besteht und bestand darin, dass eine dynamische Entwicklung der Pandemie zu einem totalen Kontrollverlust führen konnte oder dieser jedenfalls zu befürchten war. Anfangs war nicht abzuschätzen, mit welcher Geschwindigkeit die dramatische Verbreitung des Virus erfolgen würde. Die Exekutive konnte nicht einmal wissen, ob eine abgewogene Strategie, die, wie es im Planungsrecht heißt, „alle in Betracht kommenden Belange“ in die Abwägung einstellt7, nicht dazu 3

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Vgl. nur Thorsten Kingreen, Ein Sonderregime ohne Ende?, FAZ Nr. 47 v. 25. 02. 2021, 6; allg. Heinig et al., a.a.O.; Stephan Rixen, Grenzenloser Infektionsschutz in der Corona-Krise?, RuP 2020, 109; ders., Grundrechtsschutz in der Corona-Krise – Die (Neu‐)Regelungen des Impfschutzgesetzes, NJW 2020, 1097; Oliver Lepsius, Grundrechtsschutz in der CoronaPandemie, RuP 2020, 258; Hans-Heinrich Trute, Ungewissheit in der Pandemie als Herausforderung, GSZ 2020, 93; Anika Klafki, Verwaltungsrechtliche Anwendungsfälle im Kontext der Corona-Pandemie, JuS 2020, 511; Friedhelm Hase, Corona-Krise und Verfassungsdiskurs, JZ 2020, 697; vgl. aus der Rechtsprechung nur BVerfG 5. 4. 2020, 1 BvR 828/20. Vgl. zu einigen Grundregeln Charles R. Schwenk, Cognitive Simplification Processes in Strategic Decision Making, Strategic Management Journal 5 (1984), 111. Vgl. zum technologischen Vorsprung, den Dänemark im Kampf gegen die Pandemie gegenüber Deutschland nutzen kann, Wirtschaftswoche Nr. 8 v. 19. 02. 2021, 68; so gut wie alle berechtigten Bedenken gegen den Gebrauch persönlicher Daten durch die Verwaltung können durch avancierte Technologien entkräftet werden, vgl. Karl-Heinz Ladeur, Die Gesellschaft der Netzwerke und ihre Wissensordnung: Big Data, Datenschutz und die „relationale Persönlichkeit“, in: Florian Süssenguth, Die Gesellschaft der Daten. Über die digitale Transformation der sozialen Ordnung, Bielefeld 2015, S. 225. Datenschutz ist deshalb in Deutschland vor allem eine Erscheinungsform der Technologiefeindlichkeit, die in der Pandemie teuer bezahlt werden muss. Vgl. aus jüngster Zeit nur BVerfG v. 18. 07. 2019, 1 BvL 1/18, 1 BvR 1595/18, 1 BvL 4/18. Werner Hoppe, Die „Zusammenstellung des Abwägungsmaterials“ und die „Einstellung der Belange“ in die Abwägung „nach Lage der Dinge“ bei der Planung, Deutsches Verwaltungsblatt 1977, 136; vgl. auch Martin Kment, Die Bewältigung von Nichtwissen durch adaptive Abwägung – zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der Abwägung, ZUR 2016, 331.

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führen würde, dass man nach kurzer Zeit vor der Notwendigkeit stehen würde, durch einen totalen Lockdown die Möglichkeit des Handelns wiederzugewinnen, um der massenhaften Verbreitung von Krankheit und Tod Einhalt zu gebieten. Bevor nicht das Nichtwissen in Grenzen konturiert worden ist, ist ein rationales Entscheidungsdesign für eine Optimierung von Werten nicht möglich8, weil diese ständig im Fluss sind.9 Ungewissheit ist aber nicht nur eine Herausforderung für die Verwaltung, sie ist auch ein Problem für die Bürger, sie bestimmt auch deren Handeln mit: In einem liberalen Staat muss es auch darum gehen, das Wissen der Bürger zu erhöhen, und zwar vor allem das der besonders mobilen jüngeren Bürger. Insbesondere die Reduzierung der Kontakte durch private Treffen ist ein wirksames Mittel gegen die Pandemie. Viele Jüngere verhalten sich eher leichtfertig, weil sie das Infektionsrisiko unterschätzen oder vernachlässigen. Dem kann nicht primär mit Polizeieinsätzen begegnet werden.10 Hier bedarf es einer professionellen Kommunikationsstrategie für soziale Medien11, die durch Maßnahmen abgestützt würde, die besonders auf die Beschreibung des Infektionsgeschehens bei privaten Treffen Jugendlicher in der Öffentlichkeit abzustimmen wären: So könnte man Polizeikontrollen darauf konzentrieren, z. B. die Daten von Personen, die im öffentlichen Raum gegen Vorsorgeregeln verstoßen, in statistisch signifikanter Zahl aufzunehmen und die Betroffenen zu verpflichten, sich innerhalb der folgenden Tage testen zu lassen. Auf diese Weise ließen sich Infektionsrisiken lokalisieren und spezifizieren: Man könnte kommunizieren, dass von z. B. 50 festgenommenen Personen innerhalb einer Woche x mit Corona infiziert waren. Die weiter unten dargestellten drei Typen von Handlungsstrategien, die sich in entwickelten Ländern beobachten ließen, sind von unterschiedlichen Herangehensweisen an eine Art Blindflug bestimmt, nicht durch unterschiedliche Abwägungen. Da in der einen oder anderen Weise nicht einfach das Ausmaß der körperlichen Kontakte, sondern deren Risiken in der Gesellschaft der Netzwerke reduziert werden musste, war dies die in der westlichen Welt wie in Ostasien geteilte Auffassung, die auch im Nachhinein als grundsätzlich richtig erscheint. Dies ist die Grundlage von Strategien der Vorsicht gewesen, die nur tentativ durch Ausprobieren auf der Grundlage sehr begrenzten 8 Christophe Favoreu et al., Strategic Management in the Public Sector: A Rational, Political or Collaborative Approach?, Int. Rev. of Admin. Sciences 82 (2016), 435. 9 Vgl. zur Notwendigkeit der Erhaltung oder Wiederherstellung der eigenen „Entscheidungsfähigkeit“ der Verwaltung m Angesicht von Ungewissheit Ino Augsberg, Informationsverwaltungsrecht, Tübingen 2014, S. 276. 10 Vgl. zur Wirksamkeit von Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie Nils Haug et al., Ranking the effectiveness of world wide COVID-19 government interventions, nature human behaviour 4 (2020), 1303. 11 Vgl. Stefano Landi et al., Public engagement and dialogical accounting through social media during COVID-19 crisis: A missed opportunity? Accounting, Auditing & Accountability v. 25. 03. 2021 – https://www.emerald.com/insight/content/doi/10.1108/AAAJ-08 - 2020 4884/full/htmlhttps://www.emerald.com/insight/content/doi/10.1108/AAAJ-08 - 2020 4884/full/html. 82

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Wissens entwickelt werden konnten. Dass nach anfänglichem Zögern in einigen Ländern die Strategie der Erzeugung von Herdenimmunität durch eine Art epidemiologisches „laisser-faire“ keine ernsthafte Lösung sein konnte, hat sich im Nachhinein am Beispiel der brasilianischen Stadt Manaus gezeigt, wo eher durch Untätigkeit der Behörden denn als Konsequenz bewussten strategischen Entscheidens ein Grad der Verbreitung von Corona eingetreten ist, der fast den Voraussetzungen der Entwicklung von Herdenimmunität entsprach.12 In jüngster Zeit hat sich jedoch in dieser Stadt – möglicherweise aufgrund der Verbreitung von Mutanten – eine zweite Welle entwickelt, ein Phänomen, das den mit dem Erreichen der Herdenimmunität verbundenen Erwartungen widerspricht.13 Für die entwickelten Länder der westlichen Welt und Ostasiens konnte diese Strategie nicht in Betracht kommen, weil man sich gerade in Ländern mit einem hohen Bevölkerungsanteil älterer Menschen dann mit einer kaum kalkulierbaren Zahl von Todesfällen abgefunden hätte.14 Das gleiche gilt umgekehrt für den totalen Lockdown, der scheinbar als die Strategie „Leben über alles“ in Betracht kommen konnte. Doch tatsächlich konnte man gar nicht wissen, ob und wie weit in einer global vernetzten Welt selbst ein auf den ersten Blick erfolgreicher Lockdown nach seiner Beendigung nicht alsbald das Wiederaufleben der Pandemie zur Folge gehabt hätte. Die Problematik der Festlegung von Zielen, die scheinbar objektiv auf Operationalität angelegt sind, lässt sich an einem Vortrag von Viola Priesemann zur „Physik der Covid-19 Eindämmung“ erkennen15: Die Vorgabe des Ziels der Reduzierung der Kontakte innerhalb der Beziehungsnetzwerke der Gesellschaft ist mit dieser Formulierung schon auf den Vorrang des Mittels eines mehr oder weniger weitgehenden Lockdowns als einer quasi-physikalischen Strategie angelegt (ähnlich die Stellungnahme der Leopoldina, s. u.).16 Dies entspricht auch dem bürokratischen Denken. Nicht der Vorrang der Gesundheit, sondern die bürokratisch-universalistische Vorgehensweise („alle Kontakte gleichermaßen reduzieren!“) ist für die Verwaltung das 12 Die Infektionsrate lag bei 76 %, Ärzteblatt v. 09. 12. 2020, https://www.aerzteblatt.de/ nachrichten/119216/Manaus-Keine-Herdenimmunitaet-trotz-Infektionsrate-von-76. 13 Ebd. 14 Infolge der vielfach als kopflos empfundenen Handlungsweise der Regierungen lebt das Interesse an der Strategie der Herdenimmunität seit Anfang 2021 aber wieder auf: Sake J. de Vlas/ Luc E. Coffeng, Achieving herd immunity against COVID-19 at the Country level, Scientific Reports v. 24. 02. 2021, Artikel Nr. 2245 (2021). 15 https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=OQUU3QsKoZk&pbjreload=101: Danach sollte die Herdenimmunität in einzelnen Regionen nach und nach erreicht werden können; u. a. wegen der Dauer dieser Strategie bestehen Zweifel an ihrer Realisierbarkeit. 16 Dass sich so viele Wissenschaftler mit Vorschlägen jenseits ihrer Kompetenz an die Öffentlichkeit wenden, ist ein Zeichen mangelnder politischer Führung. Physiker u. a. Wissenschaftler können sicher die (durch soziale ungehinderte) Ausbreitung einer Pandemie berechnen, für die Bewertung und Entwicklung von gesellschaftlichen Maßnahmen zu deren Eindämmung haben sie keine Kompetenz; krit. Caspar Hirschi, „Wenn Wissenschaft zu Ideologie wird“, FAZ v. 09. 03. 2021 – https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wie-sich-die-rolle-von-exper ten-in-der-pandemie-wandelt-17233562.html. Recht und Politik, Beiheft 10

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Nächstliegende. Der Staat verfügt über die als „Kontaktmasse“ verstandene Gesellschaft und teilt den Einzelnen ihren Anteil an Kontakten zu: Wenn aber die „Inzidenz in der Fläche“ nicht gesenkt wird, wird der Anteil wieder reduziert: Individuelle Freiheit und Verantwortung für Freiheitsausübung spielen keine Rolle mehr.17 Nur sehen, was deutlich sichtbar ist, aber nicht die Steigerung der administrativen Intelligenz anstreben!

II. Experimentelles Handeln: Die Mittel zuerst! Für ein Land wie Deutschland galt es im Angesicht extremer Ungewissheit nicht, einen Stufenplan mit ausformulierten Zielen und Mitteln zu entwickeln und Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen, sondern, wie Dirk Baecker dies prägnant formuliert hat, zu fragen, welche „Intelligenz verfügbar ist“.18 Die Coronakrise ist dadurch gekennzeichnet, dass es keinen festen Beobachtungspunkt und keinen stabilen Referenzrahmen gibt, von dem aus der Staat, unterstützt durch Experten, einen Plan mit Weitsicht entwickeln konnte. Deshalb gab es auch keine Möglichkeit, mehrere Handlungsvarianten gegeneinander abzuwägen, die „das“ Leben mehr oder weniger vernachlässigt hätten. In Betracht kommen konnte nur ein iteratives Verfahren, das darauf setzen würde, durch Entscheidung selbst mehr Möglichkeiten zu erzeugen, die immer wieder durch Abstimmung zwischen unterschiedlichen Mitteln und der Beobachtung der Folgen ihres Einsatzes in „Echtzeit“ überprüft werden müssen. Man muss, um noch einmal Dirk Baecker19 zu zitieren, erst in einem prozeduralen Vorgehen herausfinden, „was Sinn ergibt“. Wissen und Handeln sind weder in der Sach- noch in der Zeitdimension stabil voneinander getrennt. Man muss in „Echtzeit“ auf der Grundlage des durch Entscheidungen selbst erzeugten Wissens eine Strategie formulieren, die in einem paradoxen Verfahren den Vorrang der Mittel vor den erst im Nachhinein zu formulierenden Teilzielen unterstellt. Zu den Mitteln des Kampfes gegen die Pandemie gehörte, nachdem die Exekutive zunächst durch einen beschränkten Lockdown Zeit gewonnen hatte, zuallererst die Förderung der Entwicklung von Impfstoffen. Kaum jemand hätte damit gerechnet, dass nach so kurzer Zeit im Dezember 2020 mehrere vielversprechende Impfstoffe zur Verfügung stehen würden, wenn auch nicht in ausreichender Menge. Die Priorität der Mittel hätte zugleich dazu führen müssen, sich nicht auf das eine Mittel zu beschränken, sondern viel stärker, als dies tatsächlich 17 In einem Artikel in der FAZ Nr. 15. 04. 2021, 9 hat Viola Priesemann zus. mit dem Soziologen Armin Nassehi die Hydraulik der Kontaktsteuerung weiter ausgearbeitet: Gegen den unreflektierten „Öffnungswunsch“ (das ist der neue Terminus für die Grundrechtsausübung) steht die „Vorsicht“ des Staates! Der Aufsatz trägt den Titel: „Nachhaltige Ziele verfolgen“. Und „Nachhaltigkeit“ ist die neue Generalkompetenz des Staates. 18 Dirk Baecker, Rechnen mit Nichtwissen, Wirtschaftswoche 2021, Nr. 8, 19. 02. 2021, 44, 45; auch Robert J. Lempert, A New Decision Science for Complex Systems, Proc. of the National Academy of Sciences of the USA 99 (Mai 2002), 7309. 19 Baecker, a.a.O., 45. 84

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geschehen ist, auch andere Mittel zu fördern. Dazu hätte die massive Förderung der Entwicklung von Medikamenten gehört.20 Auf diesem Feld ist der Staat weitaus weniger aktiv geworden.21 Auch die Entwicklung eines dritten Mittels, der Infektionstests, hätte sehr viel stärker durch den Staat diversifiziert und gefördert werden müssen. Bis zuletzt wird der PCR-Test, der nur mit einer gewissen Verzögerung im Labor ausgewertet werden kann, als der „Goldstandard“ auf der Homepage des Gesundheitsministeriums genannt22. Demgegenüber hätte viel stärker auf die Alternativen der Testung durch angeleitete Laien und vor allem auf Selbsttests gesetzt werden müssen23, die zu Beginn der Teilaufhebung des zweiten Lockdowns nur eingeschränkt zur Verfügung standen. In Deutschland dauert es viel zu lange, bis Tests in großer Zahl eingesetzt werden, weil zunächst über eine „Gesamtstrategie“ nachgedacht werden muss. Das ist Ausdruck eines grundsätzlich verfehlten Denkens vom ex ante zu formulierenden Ziel her: In einer komplexen Situation der Unsicherheit muss nur gefragt werden, ob das Mittel (in seinen verschiedenen Versionen) „irgendwie“ Erfolg verspricht. Dann muss beim Einsatz in „Echtzeit“ gelernt werden. Dass Testen „irgendwie“ hilft, ist auch für den Laien sofort erkennbar. In einem föderalen System könnte man das Lernen vereinfachen, wenn nebeneinander z. B. mehrere Testvarianten (Schnelltest, Selbsttests) und mehrere Einsatzstrategien erprobt werden – es muss „vorgedacht“ und nicht nachgedacht werden! Es müsste auch dann auch von Ländern, die für ihre Flexibilität und Kreativität bekannt sind (z. B. Dänemark) „blind“ gelernt werden: Was in Dänemark erprobt wird, kann z. B. auch in Schleswig-Holstein erprobt werden.24 Ein viertes 20 Erst Mitte April 2021 haben das Bundesforschungs- und das Bundesgesundheitsministerium eine erhebliche Ausweitung der Förderung der Entwicklung von Arzneimitteln beschlossen, FAZ Nr. 85 v. 13. 04. 2021, 16; klinische Studien über Medikamente zur Bekämpfung der COVID-19-Infektion in der Schweiz und in Großbritannien sind vielversprechend, WeserKurier N. 85 v. 13. 04. 2021; Sanja Radakrishna et al., Inhaled Budosonide in the Treatment of Early COVID-19 (STOIC), The Lancet – Respiratory Medicine v. 09. 04. 2021, https:// www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2213260021001600. 21 https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/50-millionen-euro-fuer-medi kamente-gegen-covid-19 - 1834510; vgl. zu Anwendungsmöglichkeiten von Antikörpern, die durch Inhalation verabreicht werden, Interview der FAZ mit Hubertus von Baumbach (Boehringer), FAZ Nr. 71 v. 25. 03. 2021, 21. 22 https://www.bundesgesundheitsministerium.de/coronatest/faq-schnelltests.html. 23 Vgl. aber den Bericht „Laborärzte warnen vor Selbsttests“, FAZ Nr. 41 v. 18. 02. 2021, 16. 24 Vgl. zur Teststrategie in Dänemark https://www.tagesschau.de/ausland/europa/testen-corona101.html; man hätte auch viel schneller regional von „dänischen Methoden“ in Rostock (Oberbürgermeister Madsen) lernen können; am 13. 04. 2021 war die Inzidenz auch in Rostock auf über 100 gestiegen https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/ Corona-Vorzeigestadt-Rostock-nun-mit-kritischer-Inzidenz,coronavirus4912.htm; laut Twitter-Tweet des BMG konnten sich die Bundesländer für März und April mit „ausreichend Schnelltests und Selbsttests versorgen“ – https://twitter.com/BMG_Bund/status/ 1374019317164036098. Doch wo waren die Tests Ende März 2021? Die von Unternehmen zum Kauf angebotenen waren jedenfalls sofort ausverkauft. Immerhin erfährt man durch den Tweet, dass es nun beim BMG eine „Taskforce Testlogistik“ gibt. Recht und Politik, Beiheft 10

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Mittel, eine digitale App zur Verfolgung von Kontakten25, ist viel zu spät und ganz unzulänglich entwickelt worden. Vor allem die Vernachlässigung der Entwicklung von, wenn auch weniger zuverlässigen Selbsttests ist immer noch von der Orientierung an einem anderen Paradigma der Beschreibung von Risiken und der Zurechnung auf den einzelnen geprägt. Selbsttests mögen weniger zuverlässig sein, darauf kommt es aber bei der Bekämpfung einer Pandemie nur in zweiter Linie an. In erster Linie wäre darauf abzustellen gewesen, dass das Mittel einfach, flexibel, schnell und massenhaft einsetzbar ist. Seine Schwächen können durch massenhaften Einsatz mehr als kompensiert werden26, wenn man liest, dass vielfach positiv getestete Personen z. T. erst bis zu sieben Tage nach dem Test über das Ergebnis informiert worden sind. Die Unzulänglichkeit der Mittel war auch bei der Nachverfolgung von Infektionsketten durch die Gesundheitsämter von vornherein absehbar. Dass man durch Telefonanrufe ein Infektionsgeschehen nur so lange nachverfolgen kann, wie die Zahl der Infizierten niedrig ist, war von vornherein abzusehen. Hier ist sozusagen nicht in Entwicklungsnetzen und Entwicklungsketten gedacht worden, sondern in der Form einfacher Kausalitäten. Dieses Modell ist mit den Herausforderungen einer Pandemie nicht vereinbar. Dieses Tracking hätte sinnvoll nur mithilfe einer digitalen App für Smartphones durchgeführt werden sollen, die nicht von vornherein durch Überbetonung des Datenschutzes (keine Information der Gesundheitsämter, keine Lokalisierung riskanter Kontakte!) einen großen Teil ihrer Wirkung einbüßen würde. Man hätte viel stärker mit Bürgern kooperieren sollen, die ein Interesse an der Entwicklung der Technologie gehabt hätten und mit einer geringeren Zahl von Beteiligten qualitativ hochwertige, für statistische Auswertung geeignete Daten generieren sollen. Dabei hätte auch mit neuen Formen der kollektiven Selbstbestimmung gearbeitet werden können.27 Der Datenschutz ist in Deutschland tat-

25 Vgl. zur unterbliebenen Verknüpfung der früheren App mit neueren Apps, die die Identifikation von Besuchern mithilfe der Übermittlung des QR-Codes ermöglicht, Joachim MüllerJung. FAZ Nr. 53 v. 04. 03. 2021, 11; vgl. zum Verhältnis der bestehenden App mit einer neuen App („Luca“), die das Tracking mithilfe des Auslesens von QR-Codes erlaubt, Deutschlandfunk v. 01. 03. 2021; 60 Gesundheitsämter setzen seit Ende März die Luca-App ein, https:// www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-luca-app-100.html; vgl. auch RaquelTeixeira/Julia Doetsch, The mulifaceted role of mobile technologies as a strategy to combat COVID-19 pandemic, Epidemiology & Infection 148 (2020) e244, 1 – https://www.cambridge.org/core/ services/aop-cambridge-core/content/view/AB77C1AD33F19AA254B4B9DD149AA463/ S0950268820002435a.pdf/the-multifaceted-role-of-mobile-technologies-as-a-strategy-tocombat-covid-19-pandemic.pdf. 26 Ende 2020 war jedenfalls kein ausreichend flexibles Testsystem verfügbar und ebenso wenig ein angemessenes Tracking System, so für England (für Deutschland gilt aber nichts anderes) Gus O’Donnell/Harry Begg, Far From Well: The UK since COVID-19 and Learning to Follow the Science(s), Fiscal Studies 41 (2020), 761. 27 Vgl. dazu unten Fn. 62. 86

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sächlich beinahe das einzige Grundrecht, das praktisch abwägungsfest ist.28 Alle anderen Grundrechte (außer der Menschenwürde) müssen dahinter zurücktreten. Die in der Pandemie-Bekämpfung erfolgreichen Länder haben auf die Entwicklung einer leistungsfähigeren App gesetzt29, die sicher mit gewissen Risiken für den Datenschutz verbunden war. Dagegen steht, dass die weitgehend wirkungslose deutsche CoronaApp30 höchstwahrscheinlich für den Tod beziehungsweise massive Schäden an der Gesundheit vieler Menschen verantwortlich gemacht werden kann. Mithilfe eines gut ausgebauten Tracking-Systems hätten nicht nur Kontaktpersonen von Infizierten besser informiert werden können, sondern es hätte eine Fülle von Daten erzeugt werden können, über die lokale Verbreitungsmuster der Pandemie im Einzelnen beobachtet werden konnten, die für die Differenzierung der Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung hätten eingesetzt werden können und damit erst eine genauere Abwägung von Risiken erlaubt hätten. Dies wäre eine der Erscheinungsformen der sozialen Intelligenz des Systems gewesen, die der Pandemie entgegengesetzt werden kann und die Grenzen einer quantitativen Beschreibung der Kontakte überwunden hätte. Stattdessen hat man die App ganz nach den Wünschen der um ihre informationelle Selbstbestimmung besorgten Bürger gestaltet – auf Kosten eben der Gesundheit der Bürger, aber auch der informationellen Selbstbestimmung der anderen Bürger und der hier in den Vordergrund gestellten Intelligenz des Systems. Die Option „Daten gegen Sicherheit“ ist nicht ermöglicht worden.31 In einer primär an Mitteln, nicht an Zielen orientierten Perspektive hätte man in einer administrativen Task Force, die diesen Namen verdient, auch in einer datenbasierten paradoxen Sichtweise auf unbekannte, aber denkbare Mittel fragen müssen, welche neuen Mittel möglicherweise im Lauf der Pandemie entwickelt werden könnten und wo es dafür in der Wissenschaft und in der Industrie Ansätze gab. Dies ist eine neue Denkweise, die mit der Datenbasierung der Technologie zusammenhängt: Neue Mittel 28 Ein Beispiel für die Art von Problemen, mit denen Datenschützer sich in der Pandemie befassen, bietet ein Bericht über ein Gespräch mit der Bremer Datenschutzbeauftragten Imke Sommer v. 26. 03. 2021: Missbrauch eines Gästeformulars für eine Kontaktaufnahme durch eine Servicekraft und ein Hackerangriff auf eine digitalisierte Gästeliste (!?) https://www.weserkurier.de/bremen/bremen-stadt_artikel,-coronabedingter-digitalisierungsschub-birgt-risi ken-_arid,1966818.html – was sind dagegen Tod, schwere Gesundheitsschäden, Verluste grundrechtlicher Freiheit! 29 Vgl. allg. zum Einsatz digitaler Technologien gegen Corona Jobie Budd et al., Digital Technologies in the Public Health Response to COVID-19, Nature v. 07. 08. 2020. 30 Ab April 2021 soll sie mehr Funktionen haben, insbesondere die Möglichkeit der Registrierung (z. B. in Geschäften) über das Auslesen eines QR-Codes. 31 Vgl. dazu grundsätzlich die Diskussion mit den Wissenschaftlern Roland Eils und Christoph von Kalle in FAZ Nr. 83 v. 10. 04. 2021, 9: offenbar ist die Sorge um den Datenschutz beim Aufbau von Big Data für Zwecke des Gesundheitsschutzes bei Jüngeren – verständlicherweise – größer als bei Älteren: Warum also nicht zunächst ein effízientes Datensystem für Ältere aufbauen? Z. B. über 50-jährige, die offenbar ihre Daten gerne zur Verfügung stellen? Wenn das System einmal steht, können weitere Gruppen leicht einbezogen werden. Recht und Politik, Beiheft 10

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werden nicht mehr primär durch Fortentwicklung älterer Technologien oder vom Ziel des Einsatzes her konzipiert, sondern vielfach durch Umlenken innerhalb eines Datenstroms möglicher Verknüpfungen generiert.32 So hätte man – vielleicht nicht im ersten Schritt – an die Möglichkeit der Entwicklung von Sensoren denken können, die für das „internet of things“ teilweise schon einsetzbar sind33 und die möglicherweise auch für die Meldung von Viren verwendbar sind.34 Das gleich gilt für die Entwicklung von Nasensprays, die für die Verabreichung von Impfstoffen geeignet sind. Dies ist mittelfristig besonders wichtig, wenn wir uns auf die Entstehung von Mutationen für einen längeren Zeitraum einlassen müssten.35

III. Verpasste Chancen des Lernens Vor diesem Hintergrund ist vor allem zu kritisieren, dass die Phase der Lockerung in den Sommermonaten nicht dazu genutzt worden ist, unter dem geringer gewordenen Handlungsdruck genauer an einzelnen Problemfeldern mithilfe des Einsatzes einer verbesserten App zu ermitteln, welche Beziehungsnetzwerke mit größeren oder geringeren Risiken verbunden sind und wie Hygienestrategien mit „adaptive governance“36 auf diese Risiken einwirken zum Beispiel bei Konzertveranstaltungen, beim Restaurantbesuch, in öffentlichen Verkehrsmitteln, Ladenbesuchen etc. Auf diese Weise hätte auch ermittelt werden können, ob und wie weit die Trennung der vulnerablen Gruppen von weniger gefährdeten vielversprechend sein konnte.37 Z. B. hätte man mit Veranstaltern die Möglichkeit des Angebots getrennter Konzertveranstaltungen für Personen über 65 Jahren und darunter vereinbaren können. Vielfach ist im Rahmen von Hygienekonzepten ohnehin die Dauer von Konzerten verkürzt worden und zugleich die

32 Yeolan Lee et al., Why Do Experts Solve Complex Problems Using Open Innovation? Evidence From the US Pharmaceutical Industry, California Management Review 62 (2019), 144; auch Tyrone S. Pitsis et al., Designing the Future: Strategy, Design, and the 4th Industrial Revolution – An Introduction to the Special Issue, ebd. 5. 33 Janna Anderson/Lee Rainie, The Internet of Things Will Thrive by 2025, 2014 – https://www. pewresearch.org/internet/2014/05/14/internet-of-things/. 34 Vgl. die Berichte von Stephan Finsterbusch und Thiemo Heeg, „Hightech gegen Corona“, FAZ Nr. 62 v. 15. 03. 2021, 18. 35 Was auch für das Recht eine neue Herausforderung ist, kann man mit Anita M. McGrahan et al. als „Tackling Societal Challenges With Open Innovation“ bezeichnen (California Management Rev. 2021 – https://cmr.berkeley.edu/2021/02/63 – 2-tackling-societal-problems-with-openinnovation/, d. h. Wissen muss in vielfacher Hinsicht grenzüberschreitend werden – es muss über Organisationsgrenzen und Zweckbestimmungen hinaus mobilisiert werden. 36 Vgl. Jan M. Brauner, et al., Inferring the Effectiveness of Government Interventions against COVID-19, Science v. 19. 02. 2021. 37 Vgl. zu dieser Möglichkeit auch Uri Goldstejn et al., Public Policy and economic dynamics of COVID-19 spread: A mathematical model, PLOS ONE, 22. 12. 2020. 88

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Wiederholung am gleichen Abend vorgesehen worden.38 Dieser Strategieschritt hätte partiell als „Öffnung gegen Informationen“ bezeichnet werden können. Zwar lassen sich allgemein Infektionsrisiken mit mathematischen Modellrechnungen relativ gut bestimmen. Von diesem Mittel wird ja auch in der Pandemie-Bekämpfung Gebrauch gemacht. Allerdings lassen sich so nicht relativ kleine Beziehungsknoten unterscheiden und untersuchen. Auf jeden Fall hätte man darüber hinaus auch die evidente Gefährdung insbesondere von Bewohnern der Pflegeheime in der Strategie viel stärker berücksichtigen müssen.39 Hier hatte sich die Verdichtung des Risikos zu einer massiven Gefahr schon abgezeichnet. Dort wären deshalb die größten Erfolge zu erreichen gewesen, wenn aus Erfahrungen anderer Länder (Italien) besser gelernt worden wäre. Die Logik des iterativen Handelns unter Bedingungen extremer, sich in der Zeit wandelnder Ungewissheit ist eine andere als die Logik der rationalen, territorial radizierten Planung, wie sie auch im Umwelt- und Planungsrecht institutionalisiert worden ist, wo Ziele sehr allgemein (Umweltschutz), aber doch relativ stabil und auf Operationalisierung angelegt formuliert werden. Bei der Pandemie-Bekämpfung müssen dagegen zugleich allgemein und sehr konkret einerseits die Dichte eines komplexen Beziehungsnetzwerks, andererseits die Aktivität jedes einzelnen, sehr unterschiedlich aggregierten Beziehungsknotens im Netzwerk und die damit verbundenen Risiken beobachtet werden. Auch hier liegt die Aufmerksamkeit bei der Beobachtung der Mittel (des körperlichen Kontakts), während die Zwecke z. B. von Kunst und Musik zunächst eher ignoriert werden (müssen), weil sonst die gesamthaft verfolgten Zwecke des Schutzes der Grundlagen aller Grundrechte nicht erreicht werden können. Dafür sollte sich ein neues Paradigma des „datenbasierten Verwaltungshandelns“ entwickeln, das auf eine neue Struktur des Entscheidens durch computergestützte Generierung und Nutzung von Daten (Big Data) angelegt ist – und damit ebenfalls durch sein Mittel bestimmt wird.40 Dieses Mittel ist vor allem auf das „Auslesen“ von Mustern und Beziehungsnetzwerken eben innerhalb einer großen Menge von Daten angewiesen. Es ist davon auszugehen, dass dies auch über die Bekämpfung der Pandemie hinaus eine neue administrative Handlungsform wird (internet of things etc.). In einer, wenn auch nicht repräsentativen Umfrage unter Virologen und Epidemiologen haben 90 % der

38 Zur Notwendigkeit der Differenzierung Brauner et al., a.a.O.; auch Mariana Mazzucato/Rainer Kattel, COVID-19 and Public Sector Capacity, Oxford Rev. Of Economic Policy 36 (2020), issue supplement S256. 39 Vgl. dazu Britta Beeger et al., Akte Altenheim. Chronik eines kollektiven Kontrollverlustes, FAZ Nr. 55 v. 06. 03. 2021, 20 – 21. 40 Karl-Heinz Ladeur, Wissensgenerierung im Sozialrecht und der Aufstieg von „Big Data“, in: Benedikt Buchner/ders. (Hrsg.), Wissensgenerierung und -verarbeitung im Gesundheits- und Sozialrecht, Tübingen 2016, S. 89; letztlich hängt dieser Wandel damit zusammen, dass in Zukunft Ungewissheit grundsätzlich als eine Herausforderung der Verwaltung bleiben wird und nicht eine Ausnahme, Augsberg, a.a.O. (Informationsverwaltungsrecht), S. 62. Recht und Politik, Beiheft 10

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Befragten angegeben, dass mit einer Fortdauer der Pandemie in welcher Form auch immer zu rechnen sei.41 Die Formulierung einer Strategie42 der erneuten Öffnung der Beziehungsnetzwerke (ab März 2021) stellt paradoxerweise eine große Herausforderung dar, weil jetzt mehr Wissen zur Verfügung steht. In einer von vornherein auf die Reduktion von Kontakten angelegten Betrachtungsweise, wie sie unter Naturwissenschaftlern vorherrscht, erscheinen die Mittel, die für die differenzierte Beobachtung von Beziehungsknoten geeignet sind, nur als Randgrößen, deren Entwicklungspotential im Angesicht der Dynamik der Verbreitungsnetzwerke selbst eher vernachlässigt wird. Bevor die Überlegungen zu einer veränderten Strategie für die Zeit nach dem zweiten Lockdown (März 2021) konkretisiert werden können, muss zunächst ein Schritt zurück zur Beschreibung der bisherigen, in den westlichen und ostasiatischen Ländern sich ex post herauskristallisierenden Strategiemodellen getan werden. Wissenschaftler der renommierten Boston Consulting Group43 haben drei Modelle unterschieden. Die Unterscheidung ist für unseren Zusammenhang wichtig, weil dann noch einmal die Grenzen des Abwägungsmodells für Entscheidungen unter extremer Ungewissheit gezeigt werden können. Diese Grenzen bestehen schon unter weniger komplexen Bedingungen u. a. darin, dass dem Staat eine mehr oder weniger erhebliche Gestaltungsfreiheit zugestanden werden muss, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine große Rolle spielt.44 Polemisch könnte man formulieren: Der Staat darf den Daumen mitwiegen, den er auf die eine oder die andere Waagschale hält. Zugleich wird deutlich, dass es in der Praxis der Handhabung und Entwicklung der dargestellten Strategiemodelle eine stabile Priorität für einen oder mehrere Grundrechtswerte nicht gab und aus den beschriebenen Gründen auch nicht geben konnte. Überall ging es zunächst darum, die Kontakte oder ihre Wirkungen zu reduzieren, d. h. sich an einem Kriterium zu orientieren, das sozusagen vor die Klammer der Beschränkung der einzelnen Grundrechte gezogen war. Dass die Unterscheidung von Gütern selbst vielfach Probleme einebnet, zeigt sich an dem demnächst vom BVerfG zu entscheidenden Konflikt um den „Schutz“ der geimpften (!) Pflegeheimbewohner vor dem Kontakt mit anderen (gemeinsames Essen) ebenfalls geimpften Bewohnern, weil das Risiko der Übertragung (auf wen?) nicht vollständig ausgeschlossen werde.45 Hier besteht die naheliegende Gefahr, dass, wenngleich das Leben des Körpers geschützt wird, der Wille und die Fähigkeit zum Überleben zerstört werden. „Das“ Leben hat 41 Mickey Phillips, The Corona virus is there to stay, Nature v. 16. 02. 2021. 42 Vgl. allg. zum strategischen Entscheiden in der Verwaltung Favoreu et al., a.a.O.; Federica Angeli/Andrea Montefusco., Sense Making and Learning during the COVID-19 Pandemic, World Development 2020 (136), Article No. 105106. 43 Marin Gjaja et al., Three Paths to the Future, 27. 05. 2020 – https://www.bcg.com/de-de/ publications/2020/three-paths-to-the-future-post-covid-19. 44 Vgl. nur BVerfGE 35, 79, 115 ff.; 93, 85, 95 (Wissenschaft) – st. Rspr. 45 FAZ Nr. 73 v. 27. 03. 2021, 8. 90

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eben mehr Facetten als in einem „Rechtsgut“ Leben zur Geltung kommen können. Dass die Betroffenen über die einzugehenden Risiken in dieser Konstellation selbst entscheiden können, wird offenbar nicht mehr bedacht. Das „Rechtsgut“ Leben wird gegen deren Träger selbst geschützt!

IV. Drei Modelle der Pandemie-Bekämpfung Es ging am Anfang der Pandemie-Bekämpfung, wie oben gezeigt, vor allem darum, Zeit zu gewinnen und damit neues Wissen, nicht aber das eine Grundrecht zu Gunsten eines anderen zurückzusetzen oder beide neu aufeinander abzustimmen. „Crunch and contain“ wird das erste Modell von der Boston Consulting Group genannt. Hier wird ein scharfer, aber zeitlich begrenzter Lockdown eingeführt, um die Verbreitung des Virus auf eine niedrigere Größenordnung zu drücken, während zugleich Kontakte nach außen durch Grenzkontrolle stark reduziert werden und nach innen mithilfe der Einschränkung des Einzelhandels, von Veranstaltungsverboten und der Maskenpflicht die Risiken der Körpernähe begrenzt werden. Teil dieses Strategiemodells ist der Einsatz einer effizienten App, die ein wirksames Tracking erlaubt.46 Die Praxis dieser Strategie konnte exemplarisch in Ländern wie Taiwan, Südkorea, Singapur, Neuseeland beobachtet werden. Auch wenn es wiederholt zur plötzlichen Steigerung der Zahl der Infizierten gekommen ist, hat sich die Verbreitung der Pandemie insgesamt relativ gut beherrschen lassen.47 Es ist kein Zufall, dass es sich bei den mit dieser Strategie erfolgreichen Ländern durchweg um Inselstaaten handelt (Südkorea ist aufgrund seiner geschlossenen Grenze zu Nordkorea im sozialen Sinne auch eine Insel), die nach der Reduktion der Infektionszahl ihre Außenkontakte scharf kontrollieren konnten. Auf Länder wie Deutschland kann eine solche Strategie kaum erfolgreich übertragen werden. „Sustain and support“ wird das dazu in einem scharfen Kontrast stehende andere Modell genannt. Dem entspricht etwa die in Schweden zu beobachten der Praxis der moderaten Intervention in die Netzwerke der Gesellschaft und vor allem das Vertrauen auf die freiwillige Selbstkontrolle der Bürger sowie auf den Schutz vulnerabler Gruppen. Vor allem das Letztere ist unter den Bedingungen der Offenheit schwer zu erreichen. Schweden hatte deshalb eine sehr hohe Zahl von Todesopfern in Pflegeheimen und sonst unter älteren Bürgern zu verzeichnen. Das Land zeichnet sich im Übrigen durch eine geringe Bevölkerungsdichte aus und befindet sich in einer Randlage, die den Grenzverkehr mitteleuropäischer Staaten nicht erreicht. Es bleibt das dritte mittlere System, dass praktisch in den meisten westlichen Ländern praktiziert worden ist und das von der Boston Consulting Group mit „flatten and fight“ charakterisiert wird: Dieses Modell ist durch einen weichen Lockdown gekennzeichnet – bei gleichzeitigem Aufbau 46 Zur intensiven Datenerhebung in Südkorea vgl. Mark Zastrow, South Korea is Reporting Intimate Details of COVID-19 Case, Nature v. 18. 03. 2020; für Dänemark, Ärzteblatt v. 18. 06. 2020. 47 Vgl. zur Entwicklung der Pandemie in Ostasien FAZ v. 07. 04. 2021, COVID-19 Spezial. Recht und Politik, Beiheft 10

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eines Monitoring Systems, hoher Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems einschließlich der Testverfahren und der Entwicklung eines Trackingsystems. Die Strategie baut also auf Lernen, und zwar auf der Grundlage der Erzeugung und Nutzung von Big Data für die zweite Stufe innerhalb dieses Modells: „lifting and reopening“. Dieses Lernen ist in den meisten europäischen Ländern, die dieses System praktiziert haben, nur in unzulänglicher Form zu beobachten gewesen.48 Deshalb ist es zu einem weiteren mehr oder weniger weichen Lockdown im Winter 2020/21 gekommen. Bei der Option für alle Modelle stellen sich aber grundsätzliche Fragen der Güterabwägung nicht, weil es allen Modellen darum geht, möglichst Schäden für alle betroffenen Grundrechte zu begrenzen, ohne genau wissen zu können, welches der richtige Weg ist. Es wird am Anfang im Grunde nur eine Prozessentscheidung gefällt, nicht aber werden Güter abgewogen. Dies war erst möglich, nachdem ein Minimum an Erfahrungen mit den Wirkungen unterschiedlicher Teilmaßnahmen gesammelt worden ist. Bei der Suche nach den durch Lernen zu entwickelnden Instrumenten ist es insbesondere auch in Deutschland zu erheblichen Problemen gekommen. Insbesondere ist der Schutz vulnerabler Gruppen nur mit großen Einschränkungen als gelungen zu bezeichnen. Während Deutschland anfangs relativ wenige Todesfälle zu verzeichnen hatte, ist es im Winter 2020/21 zu einer hohen Sterblichkeit unter hochbetagten Personen, insbesondere Bewohnern von Pflegeheimen, gekommen, die vor allem deshalb schwer ins Gewicht fällt, weil das Gesundheitssystem auf die Krankenversorgung sehr viel besser eingestellt und vorbereitet war als etwa in Italien oder Frankreich. Im März 2021 ist es zu einer Wiederholung des zweiten strategischen Schritts innerhalb dieses mittleren Modells gekommen, das auch in Deutschland praktiziert worden ist. Auf dieser zweiten Stufe haben sich von Anfang an Schwierigkeiten beim Einsatz der nunmehr vorhandenen Mittel, einer breiteren Palette von Testmöglichkeiten, der Impfstrategie und des Einsatzes der elektronischen App gezeigt. Dies ist, wie oben gezeigt, vor allem darauf zurückzuführen, dass die Zeit des Lernens nach dem ersten Lockdown nur unzulänglich genutzt worden ist und am Anfang der zweiten Phase, des „lifting and reopenning“49, zwar eine Vielzahl von Mitteln zur Verfügung stand, aber deren sehr voraussetzungsvoller strategischer Einsatz insbesondere für die schnelle Impfung eines großen Teils der Bevölkerung organisatorisch und prozedural sehr unzulänglich vorbereitet worden ist.

48 Vgl. für Deutschland den Bericht „Wir können es nicht“, Wirtschaftswoche v. 29. 01. 2021, 15, 17. 49 Vgl. bcg a.a.O. 92

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V. Der schwierige Übergang zu einer Logik des „Denkens in Netzwerken“ Insbesondere ist auffällig, dass die Exekutive in Deutschland immer noch nicht gelernt hat, dass hier nach einer anderen Logik, nämlich der des strategischen Handelns vorgegangen werden musste und nicht einem klassischen planerischen Handlungsmodell des „rationalen Staates“.50 Dies lässt sich vor allem bei der komplizierten Setzung von Prioritäten für die Impfstrategie erkennen. Nur innerhalb der ersten Prioritätsgruppe der hochbetagten oder sonst gesundheitlich beeinträchtigten Menschen erscheint eine vorrangige Impfung angezeigt. Für die anderen, dies gilt schon für die Gruppe der 70bis 80-jährigen und erst recht für die jüngeren Gruppen, ist das persönliche Infektionsrisiko gering, wenn Vorsichtsmaßregeln beachtet werden und Testverfahren genutzt werden. Hier käme es deshalb darauf an, ein Verfahren zu finden, durch das möglichst viele Menschen möglichst schnell und deshalb eben ohne Differenzierung geimpft werden. Jede Impfung, auch die eines Jüngeren kommt letztlich auch den Älteren zugute. Am besten wäre sicher ein einfaches Vorgehen nach der alphabetischen Reihenfolge und vor allem die Bereithaltung eines stand-by-Verfahrens gewesen, das Lücken bei der Impfung durch das Vorrücken von einer Warteliste ermöglicht hätte.51 Insbesondere der Einsatz von Selbsttests ist Mitte März 2021 nur unzulänglich durch strategische Überlegungen über seinen sinnvollen Gebrauch vorbereitet worden. Ähnliches gilt auch für den Einsatz einer neuen App, die das völlig unzulängliche Verfahren der Registrierung insbesondere in Restaurants ablösen soll. Die Voraussetzung dafür war Anfang März 2021 noch nicht geschaffen. Das aktive Moment der zweiten Strategiephase, der „Fight“ gegen die Pandemie, war im März 2021 jedenfalls nicht gut vorbereitet. Weder die Einführung des zweiten Lockdowns im November/ Dezember 2020 noch der (partielle) Übergang zu einer allmählichen Lockerung im März 2021 sind angemessen kommuniziert worden. Dies wäre angesichts der Dramatik der Situation unbedingt erforderlich gewesen. Das Risiko hätte untersucht und zugleich privatisiert werden können, wenn das Impfen mit AstraZeneca zur freien Entscheidung der Bürger angeboten worden wäre: Wer keine Bedenken hat, wird sofort geimpft, die anderen müssen warten.

50 Favoreu et al., a.a.O.; Andreas Voßkuhle, Das Konzept des rationalen Staates, in: Gunnar Folke Schuppert/ders. (Hrsg.), Governance von und durch Recht, Baden-Baden 2012, S. 12. 51 Dies ist teilweise nach den Zweifeln an dem Impfstoff von AstraZeneca zu spät ermöglicht worden. Recht und Politik, Beiheft 10

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VI. Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Expertenwissens im Angesicht der Entscheidung über eine Fortsetzung des Lockdowns im Dezember 2020 Die Vernachlässigung der Entwicklung einer Strategie der Informationsgenerierung durch den Aufbau eines distribuierten Netzwerks von experimentellen Operationen im Sommer und Herbst 2020 spiegelt sich auf eine charakteristische Weise auch in der wissenschaftlichen Begleitung durch die Leopoldina, insbesondere deren 7. ad-hoc Stellungnahme wider.52 Die Beteiligung einer Fülle von wissenschaftlichen Disziplinen an der Abfassung dieser Stellungnahme scheint eine Art von „Kommandowissenschaft“ zu legitimieren, die sich mit der Entfaltung wissenschaftlicher Argumentationen nicht lange aufhalten zu müssen glaubt und die die Notwendigkeit der experimentellen Verschleifung von Verwaltungsoperationen mit der strategischen Generierung von Wissen unter Bedingungen extremer Komplexität missachtet.53 Auch wissenschaftliche Stellungnahmen „ad-hoc“ sollten primär analysieren, Alternativen diskutieren, kurz Probleme reflektieren. Die weitere Verlängerung eines strikten Lockdowns, wie er von einigen Wissenschaftlern (nicht nur der Leopoldina) und Politikern offenbar im Hinblick auf das Auftauchen von Mutanten für sinnvoll gehalten worden ist, wäre problematisch, weil er die Bevölkerung überfordern und wahrscheinlich auch die Bereitschaft zur Regelverletzung erhöhen würde.54 Im Übrigen ist offenbar das Auftreten von Mutationen, das von manchen Wissenschaftlern mit einer schnellen Evolution des Virus in seiner Umwelt verglichen wird55, offenbar nicht so unberechenbar, dass nicht auch eine flexible Strategie des „Fight“ gegen Mutation als realistisch erscheinen kann. In einem zentral in Europa gelegenen Land wie Deutschland wird eine Strategie des Containments von Mutationen nicht aufrecht zu erhalten sein56, da die Dauer nicht abschätzbar ist und in Europa insgesamt mit Sicherheit keine einheitliche Entscheidung in dieser Richtung getroffen werden wird. Diejenigen Virologen, die einen harten Lockdown weiter befürworten, haben ihrerseits darauf hingewiesen, dass dies nur in einer ganz Europa umfassenden Strategie denkbar erscheinen könnte.57 Immerhin bleibt aber 52 https://www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/coronavirus-pandemiedie-feiertage-und-den-jahreswechsel-fuer-einen-harten-lockdown-nutzen-2020/. 53 Zum experimentellen Entscheiden Augsberg, a.a.O. (Informationsverwaltungsrecht), S. 56. 54 Auch dies muss in die Abwägung eingestellt werden, die tatsächlich erst wirksam erfolgen kann, wenn mehr Mittel zur Verfügung stehen. 55 Vgl. den Bericht von Adam Rogers, The Raging Evolutionary War Between Humans and Covid19, WIRED v. 03. 01. 2021 https://www.wired.com/story/the-raging-evolutionary-war-be tween-humans-and-covid-19/. 56 Auch dies muss in die Abwägung eingestellt werden. 57 Melanie Brinkmann, „Ich fürchte, es geht nur, wenn es europaweit läuft“, Deutschlandfunk v. 29. 12. 2020 – https://www.deutschlandfunk.de/virologin-zur-pandemie-bekaempfung-ichfuerchte-es-geht-nur.694.de.html?dram:article_id=489996. 94

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festzuhalten, dass auch die Entscheidung für die Lockerung keine wirklich überzeugende Entscheidung wäre, weil die notwendigen Voraussetzungen dazu, wie erwähnt, nicht geschaffen worden sind. Das Virus wird bleiben. Indes wird aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit der Beobachtung der Mutationen von Viren nicht ohne weiteres von einer katastrophalen Entwicklung durch eine weitere Steigerung der Übertragbarkeit oder der Verschlimmerung der Erscheinungsformen ausgegangen werden müssen. Im günstigen Fall erscheint es wohl denkbar, dass das Virus58 nach einiger Zeit sich in einer ähnlichen Konstellation stabilisiert wie etwa das Grippevirus, mit dessen Verbreitungsverlauf sich die Gesellschaft arrangieren konnte. Vor allem wird es jetzt auf ein hohes Maß an Flexibilität und Schnelligkeit ankommen, mit der die Intelligenz der Gesellschaft in Stellung gebracht wird.

VII. Die Abwägung von „Gütern“ mit variablen Werten Die Frage nach der Abwägung, die für den Beginn der Pandemie gerade im Hinblick auf die hier für richtig gehaltene epistemologische Strategie des Experimentierens, des Lernens durch Handeln, skeptisch gesehen worden ist, stellt sich aufgrund des Lernens im Versuch, aber auch durch verpasste Gelegenheiten, in den letzten Monaten ganz anders dar. Einerseits sind große, im Hinblick auf das Recht auf Leben und Gesundheit vulnerable Gruppen durch Impfung jedenfalls vorübergehend geschützt, andererseits sind durch zwei Lockdowns im Hinblick auf eine Vielzahl anderer Grundrechte ebenfalls vulnerable Gruppen, Kinder und Jugendliche, junge Erwachsene am Beginn einer künstlerischen Karriere, junge Unternehmer, psychisch Kranke etc. durch Maßnahmen des Lockdowns in ihren Aktivitäten ganz erheblich, zum Teil mit kaum behebbaren Folgen beeinträchtigt worden. Angesichts dieser Konstellation muss man verlangen, dass der Staat vor einer weiteren Verlängerung des Lockdowns zunächst massenhaft Tests (in allen Varianten) einsetzt, damit Infizierte entdeckt und behandelt werden können. Erst wenn sich zeigt, dass dies nicht ausreicht, kann an eine Verlängerung des Lockdowns gedacht werden. Auch angesichts einer steigenden Zahl von Infektionen kann nicht einfach auf den Lockdown als das scheinbar wirksamere und geeignetere Mittel zurückgegriffen werden.59 Letzteres 58 Phillips, a.a.O. 59 So ist z. B. auch fraglich, ob die Verhängung einer nächtlichen Ausgangssperre tatsächlich – im Vergleich mit den anderen Maßnahmen des Lockdown – ein besonders gravierende Mittel ist, wie das VG Hannover in einer Eilentscheidung v. 01. 04. 2021 angenommen hat – https:// www.verwaltungsgericht-hannover.niedersachsen.de/aktuelles/pressemitteilungen/eilantragegegen-die-ausgangsbeschrankungen-in-der-region-hannover-haben-erfolg-199166.html: Die Zahl der legal erreichbaren Ziele ist ihrerseits so stark reduziert worden, dass fast nur noch illegale Ziele (private Treffen) übrig bleiben; für Hamburg vgl. FAZ Nr. 79 v. 03. 04. 2021 – https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/hamburg-was-bringen-naechtliche-ausgangssper ren-17276056.html. Auch hier zeigt sich, dass die Abwägungen immer schwieriger werden: Ausgangssperren scheinen effektiv zu sein, vgl. Haug et al., a.a.O., wahrscheinlich erheblich wirksamer als die Schließung des Einzelhandels, aber der Widerstand wird stark sein. Ist auch Recht und Politik, Beiheft 10

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ist nicht einmal wahrscheinlich, weil, je länger der Lockdown anhält, umso mehr mit illegalem Verhalten zu rechnen ist (z. B. private Partys). Das alte universalistische Denken hat immer noch nicht einem „Denken in Netzwerken“ Platz gemacht! Auch die Festsetzung des Inzidenzwerts 100 als Anlass für eine Verschärfung des Lockdowns berücksichtigt nicht, dass der Staat nun einen langen Lockdown noch einmal verlängert, ohne große Wirkungen erreicht zu haben. Jetzt muss – wie in der Schweiz: Inzidenzwert 175 und weitere Referenzwerte60 – ein größeres Risiko zu Lasten der Gesundheit eingegangen werden, auch um den Staat selbst unter Druck zu setzen, eine flexiblere Strategie zu entwickeln. Soll man sich vorstellen müssen, dass noch einmal ein weiterer Lockdown beschlossen werden könnte, wenn der Staat wieder keine andere Strategie konzipieren kann? Das experimentelle Denken, das hier befürwortet wird, kommt auch im Rahmen der Abwägung der Grundrechte zum Tragen: Das Risiko des partiellen Scheiterns der stärkeren Gewichtung des Rechts auf Leben gegenüber anderen Grundrechten muss auch partiell von den vom Staat Begünstigten getragen werden: Es kann nicht einfach wieder von vorne angefangen werden. Es geht nicht um eine punktuelle Abwägung von „Gütern“, sondern um eine prozedural konzipierte Strategie der Begrenzung riskanter Kontakte. Solange der Staat den Bürgern allenfalls in begrenztem Maße die Möglichkeit verschafft, durch Tests (oder Impfung) zu belegen, dass sie (so gut wie) kein Risiko für andere hervorrufen, darf nicht einfach aufgrund einer formalen Größe (Inzidenz) das scharfe Schwert des Lockdowns eingesetzt werden.61 Die Kosten der Tests62 stehen in keinem Verhältnis zu den Kosten eines Lockdowns und der massiven Verkürzung einer Vielzahl von Grundrechten. Die ganze Komplexität der Grundrechtsnetzwerke und der Grundrechtsausübung zwischen den Subjekten kann durch eine vordergründige Abwägung von „Gütern“, die der Staat definieren zu können scheint, nicht zur Geltung gebracht werden. Wenn den Einzelnen nicht die Möglichkeit gegeben wird, ein geringes Risiko der Übertragung des Virus durch Tests zu belegen, das ein zulässiger Gesichtspunkt? Letztlich kompensiert der Staat sein Versagen bei der strategischen Bekämpfung von Risiken durch eine Radikalisierung der universalistischen Beschränkung von Kontakten als solchen. Wohlgemerkt: Nicht der Kontakt ist riskant, sondern die ungewollte Verbreitung des Virus! Das OVG Lüneburg hat in seinem das VG Hannover bestätigenden Beschluss v. 07. 04. 2021, Az: 13 ME 166/21, mit Recht kritisiert, dass die Verwaltung die Erforderlichkeit eines gravierenden Grundrechtseingriffs effektives behördliches Vorgehen gegen Verstöße gegen bisherige Ge- oder Verbote nicht belegt habe – https:// oberverwaltungsgericht.niedersachsen.de/aktuelles/presseinformationen/ausgangsbeschran kung-der-region-hannover-voraussichtlich-rechtswidrig-199221.html. 60 https://www.nzz.ch/meinung/logik-im-lockdown-die-deutsche-corona-politik-ist-ein-scher benhaufen-ld.1608069. 61 Vgl. in diesem Sinne auch Roland Koch, „Lockdown für immer?“, FAZ Nr. 82 v. 09. 04. 2021, 8. 62 Vgl. aber wieder zu der komplizierten Frage der Verteilung der Kosten zwischen Bund, Ländern, Wirtschaft https://www.bundesgesundheitsministerium.de/coronatest/faq-schnelltests. html?r=artikellink. 96

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kann auch ein gravierenderer Eingriff in Grundrechte nicht verfassungsmäßig sein. Das gleiche gilt im Hinblick auf die Mängel der Corona-App: Auch hier hat der Staat versäumt, dem Einzelnen die Möglichkeit einer eigenen Abwägung des Verhältnisses von Gesundheitsschutz und Datenschutz zu ermöglichen. Warum konnte der Einzelne nicht für sich entscheiden, dem Staat (Gesundheitsamt) alle Informationen zur Verfügung zu stellen, die für eine wirksame Informationsstrategie nützlich sein konnten? Auch darüber ist „von oben“ entschieden worden, statt dem Einzelnen Alternativen zu eröffnen.63 Gerade die Nutzung des Föderalismus als „Flickenteppich“ hätte es ermöglicht, genauer einzelne Varianten der Wiederherstellung der Grundrechte zu beobachten und zu vergleichen: Z. B. wäre es sinnvoll gewesen, in einem Land nur die Öffnung des Einzelhandels, in einem anderen Land nur die Außengastronomie und in einem weiteren kleinere öffentliche Veranstaltungen – jeweils in Verbindung mit einer Teststrategie – zuzulassen und dann genaue statistische Untersuchungen zur Korrelation mit der Zahl der Infektionen vorzunehmen. Dies könnte man – im Hinblick auf den Gedanken, der dem höheren Referenzwert für Schulen entspräche – weiter differenzieren für jüngere Künstler (kleinere Konzerte für Musiker mit Akademieausbildung), für die die Auftrittsverbote viel gravierender sind als für arrivierte. Auch die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG verlangt eine Rücksichtnahme gerade auf den Prozess der Entwicklung junger Künstler: Das Verbot von Konzerten auch für ein Publikum von Getesteten und Geimpften bei Einhaltung einer Hygienestrategie ist mit Sicherheit unverhältnismäßig. Der zu erwartende, wenn auch für die Bürokratie weniger sichtbare Schaden ist im Vergleich zu den fortbestehenden Risiken nicht hinnehmbar. Wieso kann hier nicht differenziert werden? Es gilt das „Prinzip Rasenmäher“! Der „Flickenteppich“ der Regelungen entspräche dem „Flickenteppich“ der Infektionen! Die mit dem geplanten Gesetz betriebene Vereinheitlichung wäre unverhältnismäßig, da sie der diffusen Streuung der Infektionen weniger gerecht werden kann.64 Der undifferenzierte Lockdown entspricht einem einfachen naturwissenschaftlichen Kausalitätsmodell: keine Kontakte, keine Infektionen. Eine administrative Strategie muss aber unter Ungewissheitsbedingungen, soweit möglich, auch auf Lernen, nicht nur auf Risikobegrenzung angelegt sein. Das Moment des Experiments ist ein Teil des Abwägungsprozesses: Gelingt es trotz eines gut entworfenen Testmodells und trotz effektiver Impfungspraxis nicht, die 63 Eine neue technologiegerechte Form des Datenschutzes hätte in der (partiell) kollektiven Verfügung über Daten mithilfe von GEMA-ähnlichen „Information-Brokers“ bestehen können: Der Einzelne bedient sich einer Organisation, die erst wirksam Vereinbarungen über die Benutzung von Daten schließen und deren Durchführung beobachten könnten, Karl-Heinz Ladeur, Neue Institutionen für den Daten- und Persönlichkeitsschutz im Internet: „CyberCourts“ für die Blogosphere, DuD 2012, 711; jetzt auch Anouk Ruhaak, Data Trusts, MIT Technology Rev. April/Mai 2021, 36. 64 Vgl. Hans-Günther Henneke, „Es darf nicht nach Schema F gehen“, FAZ Nr. 86 v. 14. 04. 2021, 8. Recht und Politik, Beiheft 10

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Pandemie in Schranken zu halten, schlägt das Pendel wieder zurück, und der Staat kann ggf., je nach Gefährdungslage (vor allem entsprechend der Belastung der Intensivstationen, nicht allein des Inzidenzwerts), wieder auf einen Lockdown zurückgreifen. Mit diesem Ansatz würde auch der unvermeidliche Gestaltungsraum des Staates zu einem Experimentierspielraum, eine Annahme, die eine höhere Rationalität in den Raum des Entscheidens zurückbrächte und Kontrolle durch Transparenz ermöglichen würde. Gilt jetzt das Prinzip „Herrschaft kraft Nichtwissen?“65 Der Staat weiß nichts und darf deshalb frei entscheiden? Es ist inzwischen mehr als ein Jahr vergangen, und der Erkenntniszuwachs der Behörden erscheint sehr gering. Es wird immer noch eine Priorität bei der Kontaktvermeidung gesetzt, nicht bei der Kontrolle von Kontaktrisiken. Es kann z. B. nicht einfach das geringe, aber messbare bekannte Risiko bei Kontakten im Einzelhandel als ein Quantum von Kontakten in eine Gesamtrechnung eingesetzt werden, die nach wie vor von vielen Unbekannten bestimmt wird („private Kontakte“). Das war am Anfang der Corona-Krise noch eine Möglichkeit. Es wäre ohne weiteres möglich (gewesen), in Zusammenarbeit mit einzelnen Supermärkten deren Kunden systematisch für mehrere Wochen zu testen, um das Risiko der Infektion festzustellen. Daraus hätten sich Folgerungen für andere Formen des Einzelhandels ableiten lassen. Der Staat hat seinen Kredit in dieser Hinsicht zum erheblichen Teil aufgebraucht. Allerdings erhält die Anerkennung eines Gestaltungsspielraums neue Legitimation dadurch, dass das vorhandene Wissen partiell durch neue Virusvarianten entwertet wird – auch dies gilt aber nur dann, wenn eben eine Strategie des Lernens konzipiert wird: Was kann der Staat wissen, wenn der Lockdown noch einmal z. B. bis Mitte Mai verlängert würde? Bis dahin werden mehr Menschen geimpft sein, sonst wird nicht mehr gewusst. Insbesondere wird nichts Genaues über den Wandel der Verbreitungsmuster von COVID19-Mutanten bekannt sein. Hätte man früher Daten gesammelt, wäre heute ein Vergleich der Risiken der Ansteckung bei unterschiedlichen Mutanten möglich. Ob alle Impfstoffe gleichermaßen gegen alle Mutanten wirksam sein werden, ist auch nicht sicher abschätzbar. Es darf nicht allein auf die Impfung gesetzt werden, zumal nicht bekannt ist, wie lange auch eine erfolgreiche Immunisierung (durch Impfung oder auch spontane Antikörperbildung) anhält. Muss im Winter ggf. nachgeimpft werden? Es muss viel stärker berücksichtigt werden, dass wir ggf. noch längere Zeit mit dem Virus leben müssen. Die im April 2021 aufgekommene Idee der Stärkung der Bundeskompetenz für den Infektionsschutz, über die offenbar die Bindung der Maßnahmen an eine bestimmte Inzidenz einheitlich ermöglicht werden soll66, erscheint ebenfalls bedenklich im Hinblick die Entwicklung einer Strategie des Lernens. Gerade solche starren Bindungen sind nicht mehr zulässig. Der Ruf der Intensivmediziner nach einem „harten Lock-

65 So der Titel eines Aufsatzes von Boris Holzer/Stefan May, Soziale Welt 56 (2005), 317, dort wird dieses „Prinzip“ aber in dem hierverstandenen Sinne als Zwang zum Lernen im Angesicht von Nichtwissen verstanden. 66 FAZ Nr. 85 v. 10. 04. 2021, 2. 98

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down“ ist allein kein Argument67, da über Wirkungen einzelner Maßnahmen immer noch zu wenig bekannt ist. Das im Ansatz verfehlte Gesetzesvorhaben einer Ausweitung der Bundeskompetenz für die Bekämpfung des Virus, das vor allem das Ansehen beteiligten Institutionen beeinträchtigt, zeigt, dass die Diskussion über den Gesetzesvorbehalt am Kern des Problems vorbeigeht. Auch der Föderalismus ist mit Sicherheit kein Hindernis für eine wirksame Pandemiepolitik – im Gegenteil! Immer mehr Bürger gewinnen den Eindruck, dass im Zweifel diejenigen belastet werden, die nur ein geringes Risiko für ihre Mitbürger begründen. Dass Mitte April 2021 Wissenschaftler, die die Übertragbarkeit der COVID-19-Viren im Freien erforschen, Beschränkungen von Kontakten im Außenbereich als wenig wirksam kritisieren68, ist ein weiteres bedenkliches Symptom: Was immer davon zu halten ist, dies zeigt, dass immer noch kein ausreichendes Wissen über die Risiken bestimmter Kontaktformen vorliegt, obwohl dies ohne Zweifel schon längst möglich gewesen wäre. Das gleiche gilt für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Auch die dadurch entstehenden Risiken müssten untersucht werden, weil sonst die Möglichkeit besteht, dass in anderen Bereichen bestehende geringe Infektionsrisiken trotz erheblicher Folgeprobleme bekämpft werden, während die Infektionsrisiken im öffentlichen Nahverkehr viel höher sein könnten.

VIII. Fazit Die Auseinandersetzung mit der COVID-19-Pandemie zeigt die Grenzen des traditionellen bürokratisch-universalistischen Denkens der Verwaltung. Es lässt zugleich die Konturen eines anderen Paradigmas erkennen, das über die aktuelle Pandemie hinausweist: das „Denken in Netzwerken“, das die Herausforderung durch extreme Ungewissheit mithilfe von Strategien des Lernens für eine datenbasierte Verwaltung beantwortet.

67 Vgl. FAZ Nr. 83 v. 10. 04. 2021, 2. Die Forderung ist aus medizinischer Sicht verständlich, aber es ist verfassungsrechtlich nicht (mehr) akzeptabel, Bürger massiv in ihren Freiheitsrechten zu beschränken, die selbst, nachgewiesen durch Tests oder Impfung, so gut wie nichts zur Steigerung des Risikos beitragen. 68 Vgl. Weser-Kurier Nr. 85 v. 13. 04. 2021, 1. Recht und Politik, Beiheft 10

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Bundesnotbremse – das Bundesverfassungsgericht bleibt „etatistisch“: Neue Grundrechte, weniger Freiheit und eine „Kontrollinszenierung“?* Von Martin H. W. Möllers und Robert Chr. van Ooyen

I. Die Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten als Rechtfertigung für die Bundesnotbremse: zu den Entscheidungen des BVerfG 1. Ausgangssachverhalte der Bundesnotbremsen-Beschlüsse und beanstandete Grundrechtsverletzungen Am 23. April 2021 traten Vorschriften in Kraft, die durch das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite1 in das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) eingefügt worden waren mit der Maßgabe des § 28b Abs. 10 IfSG, dass sie längstens bis zum Ablauf des 30. Juni 2021 gelten, und zuletzt mit Art. 1 Nr. 2, Art. 4 Abs. 4 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze vom 28. Mai 20212 mit Wirkung zum 4. Mai 2021 neu gefasst wurden („Bundesnotbremse“ nach § 28b IfSG). Gegen diese Vorschriften wurden Verfassungsbeschwerden (VB) eingereicht, die der Erste Senat des BVerfG in zwei Beschlüssen jeweils vom 19. November 2021 entschied.3 Sie richten sich kumulativ zum einen gegen die in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 u. 2 IfSG enthaltenen Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen und den mit ihnen korrespondierenden und mit Bußgeld bewehrten Ordnungswidrigkeitentatbeständen in § 73 Abs. 1a Nr. 11b u. 11c IfSG. Eine weitere VB beanstandet die Beschränkungen von Freizeit- und Kultureinrichtungen, Ladengeschäften, Sport und Gaststätten sowie die Verordnungsermächtigung im Umgang mit geimpften und genesenen Personen in * 1 2 3

Zuerst in: RuP 1/2022, S. 58 – 73. G vom 22. April 2021, BGBl I S. 802. BGBl I S. 1174. BVerfGE Bundesnotbremse I (Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen), – 1 BvR 781/21 –, Rn. 1 – 306, http://www.bverfg.de/e/rs20211119_1bvr078121.html (letzter Abruf 5. 1. 2022); BVerfGE Bundesnotbremse II (Schulschließungen), – 1 BvR 971/21 –, Rn. 1 – 222, http://www.bverfg.de/e/rs20211119_1bvr097121.html (letzter Abruf 5. 1. 2022).

Recht und Politik, Beiheft 10 (2022), 100 – 115

Duncker & Humblot, Berlin

Bundesnotbremse – das Bundesverfassungsgericht bleibt „etatistisch“

§ 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 – 10, Abs. 7, § 28c sowie § 73 Abs. 1a Nr. 11d bis 11 m IfSG. Zum anderen richten sich die VB gegen Schulschließungen nach § 28b Abs. 3 IfSG, geregelt als Gebot von Wechselunterricht in Form von Präsenzunterricht in der Schule und Distanzunterricht zuhause bzw. einer vollständigen Untersagung des Präsenzschulbetriebs. In den Vorschriften werden Rechtsverletzungen gegen verschiedene Grundrechte gesehen, unter anderen in den Grundrechten Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und zum Teil auch in dem Grundrecht auf Schutz von Ehe und Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG. In dem Beschluss zu den Schulschließungen wird konkret die Verletzung des Rechts auf Bildung gerügt, das sich aus dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG ergebe und auch völkerrechtlich anerkannt sei.4 Darüber hinaus werden im Falle der Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen Verletzungen in das Recht auf Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG), Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) und Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) beanstandet sowie in einer VB die Verletzung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) wegen des Verlusts zum Betreiben von Mannschaftssport, außerdem der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) wegen einer Ungleichbehandlung von Frühaufstehern gegenüber abends Sport Treibenden.5 Ferner wird als verfassungswidrig moniert, dass die funktionale Gewaltenteilung bei der Entscheidung über Freiheitsbeschränkungen, die Art. 104 GG voraussetze, in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG nicht vorgesehen sei. So entfalle die Prüfung des Einzelfalls im Verwaltungsverfahren und auch der Richtervorbehalt (Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG), wenn der Eingriff unmittelbar durch Gesetz erfolge.6 Der Erste Senat urteilt jedoch, dass der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht gehindert sei, die angegriffenen Beschränkungen als selbstvollziehendes Gesetz auszugestalten. Bei der Wahl seiner Handlungsform habe er weder Grenzen, die unmittelbar aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) folgen, noch die zum Schutz individueller Grundrechte bestehenden Grenzen der Handlungsformenwahl missachtet. Denn wegen der unabsehbaren Vielzahl von Anwendungsfällen der Ausgangsbeschränkungen handelte es sich bei § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG nicht um ein Einzelpersonen- oder Einzelmaßnahmegesetz und daher mit dem Allgemeinheitsgebot aus Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar.7 Im Falle der Schulschließungen werden noch Verletzungen des Gleichheitsgrundrechts aus Art. 3 Abs. 1 GG gesehen, weil die Arbeitsstätten in deutlich geringerem Umfang reguliert worden seien als die Schulen, ohne dass es hierfür sachliche Gründe gebe, sowie 4 5 6 7

BVerfGE Bundesnotbremse II (Schulschließungen), Rn. 12. BVerfGE Bundesnotbremse I (Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen), Rn. 92 ff. BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 26. BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 138, 151, 255.

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des Grundrechts der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wegen der wöchentlich zweimaligen Testung, mit der die Gefahr einer Verletzung des Naseninnenraums und von psychischen Störungen verbunden sei.8 Bezüglich dieser Grundrechte sieht das BVerfG die Begründungsanforderungen nicht erfüllt, sodass es schon die Zulässigkeit der darauf gerichteten VB ablehnt.9 Zulässig sind nach Beschluss des BVerfG die VB, die das Verbot schulischen Präsenzunterrichts angreifen10, und die sich unmittelbar gegen die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen richten.11 Dabei anerkennt der Senat bezüglich der Kontaktbeschränkungen Eingriffe in das Familiengrundrecht und die Ehegestaltungsfreiheit (Art. 6 Abs. 1 GG) als auch in das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG). Einen weiteren Eingriff sieht es in das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) infolge der Bußgeldbewehrung von Verstößen gegen die Kontaktbeschränkungen.12 Bezüglich der Ausgangsbeschränkungen stellt der Senat Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG) und in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) fest und teilweise auch in das Familiengrundrecht und die Ehegestaltungsfreiheit (Art. 6 Abs. 1 GG). Hier kommt ebenfalls das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) infolge der Bußgeldbewehrung von Verstößen gegen die Ausgangsbeschränkungen hinzu.13 In dem Verbot von Präsenzunterricht erkennt der Senat einen Eingriff in das Recht auf schulische Bildung, dessen Schutz sich aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG ergebe. Außerdem geht es von einem Eingriff in das Recht auf freie Bestimmung des Bildungsgangs des betroffenen Schülers nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG aus14, lehnt jedoch einen Eingriff in den Schutzbereich des Familiengrundrechts nach Art. 6 Abs. 1 GG ab, da das Recht der Eltern, ihr familiäres Leben nach ihren Vorstellungen zu planen und zu verwirklichen und in ihrer Erziehungsverantwortung zu entscheiden, ob und in welchem Entwicklungsstadium das Kind überwiegend von einem Elternteil allein, von beiden Eltern in wechselseitiger Ergänzung oder von einem Dritten betreut werden soll, keine Abwehrrechte gegenüber staatliche Maßnahmen beinhalte, sondern vielmehr ein Förder- und Schutzgebot des Staates sei, welches dieser frei gestalten könne.15 Auch wenn das BVerfG die VB für zulässig anerkennt, kommt es am Ende zu dem Ergebnis, dass alle Eingriffe formell sowie materiell verfassungsgemäß und damit ver8 9 10 11 12 13 14 15

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BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 26, 27. BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 92 ff. BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 24. BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 84 ff. BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 105. BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 239. BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 200. BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 205 ff.; vgl. Robbers, Art. 6 GG, Rn. 8 ff.; in: MKS, Grundgesetz, Bd. 1, 7. Aufl., 2018, S. 750. Recht und Politik, Beiheft 10

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fassungsrechtlich gerechtfertigt sind. Einstimmig beschließen die Richterinnen und Richter des Ersten Senats des BVerfG in beiden Entscheidungen, alle VB zurückzuweisen bzw. in einem Fall die VB zu verwerfen. Im Einzelnen bringt das BVerfG eine Grundrechtsargumentation, die sich im Wesentlichen auf ihre Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten stützt, die das BVerfG 1975 entwickelte, indem es feststellte: „Die Schutzpflicht des Staates verbietet nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen.“16

Dem bis dahin propagierten subjektiv-defensiven Abwehranspruch der Grundrechte wurde 1975 die „Schutzpflichtenlehre“ entgegengesetzt, die in der Literatur durchaus begrüßt wurde und inzwischen herrschende Meinung ist.17 Denn aus den Grundrechten folge, dass die staatlichen Organe die Verpflichtung haben, den einzelnen Bürger vor Ein- oder Übergriffen in dessen Rechtssphäre durch private Dritte zu schützen und durch positive staatliche Maßnahmen, drohenden Rechtsgutsverletzungen vorzubeugen.18 Dieser Schutzpflicht des Staates folgt das BVerfG bei seinen Entscheidungen in zunehmendem Maße19 und so auch bei ihrer Grundrechtsargumentation in den Entscheidungen I und II zur Bundesnotbremse. 2. Grundrechtsargumentation in den Entscheidungen I und II zur Bundesnotbremse Nach Auffassung des Ersten Senats des BVerfG gehören die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen und das Verbot von Präsenzunterricht zu einem umfassenden Schutzkonzept des Gesetzgebers. Sie dienten „legitimen Zwecken, die der Gesetzgeber in Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erreichen wollte“.20 Das Konzept sei in seiner Gesamtheit auf den Lebens- und Gesundheitsschutz gerichtet und sollte das funktionsfähige Gesundheitssystem – das im überragend wichtigen Gemeinwohlinteresse liegt – aufrechterhalten. Das Gericht verfolgt in beiden Beschlüssen als Gegenstand verfassungsgerichtlicher Überprüfung sowohl die Ein16 Urteil des Ersten Senats vom 25. Februar 1975, BVerfGE 39, 1 – 68 – Schwangerschaftsabbruch I, 1. Leitsatz, 2. Absatz. 17 Vgl. m.w.N. z. B. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1983, S. 27, der das Urteil als „juristischer Paukenschlag“ bezeichnete; weitere Nachweise bei Möllers, Der durch Zeitgeist und Staatsräson bedingte Wandel von Menschenwürde und Bürgerfreiheit nach 70 Jahren Grundgesetz, in: van Ooyen/Möllers (Hg.), „Der Staat ist von Verfassungs wegen nicht gehindert…“, 2021, S. 119 ff. 18 Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 47. 19 Vgl. z. B. BVerfG, Klimaschutz-Beschluss des Ersten Senats vom 24. 3. 2021 – 1 BvR 2656/ 18 –, www.bverfg.de/e/rs20210324_1bvr265618.html; BVerfG, Triage-Beschluss des Ersten Senats vom 16. 12. 2021 - 1 BvR 1541/20 -, http://www.bverfg.de/e/rs20211216_ 1bvr154120.html ( jeweils letzter Abruf 10. 1. 2022). 20 BVerfGE Bundesnotbremse I (Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen), Rn. 168; BVerfGE Bundesnotbremse II (Schulschließungen), Rn. 110. Recht und Politik, Beiheft 10

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schätzung des Gesetzgebers zum Vorliegen einer solchen Gefahrenlage als auch die Zuverlässigkeit der Grundlagen, aus denen er diese abgeleitet hat oder ableiten durfte. Es stellt aber zugleich heraus, dass die Verfassung dem Gesetzgeber für beides einen Spielraum belassen muss, der vom BVerfG nur in begrenztem Umfang überprüft werden könne.21 „Dieser Spielraum gründet auf der durch das Grundgesetz dem demokratisch in besonderer Weise legitimierten Gesetzgeber zugewiesenen Verantwortung dafür, Konflikte zwischen hochund höchstrangigen Interessen trotz ungewisser Lage zu entscheiden.“22

Gibt es – wie in dieser Pandemie – Unwägbarkeiten der wissenschaftlichen Erkenntnislage, sodass die Möglichkeiten des Gesetzgebers begrenzt sind, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen,23 „genügt es daher, wenn er sich an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung der ihm verfügbaren Informationen und Erkenntnismöglichkeiten orientiert“24 und sich „die verfassungsgerichtliche Prüfung auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose beschränkt“.25 Kritisch ist an dieser Einschätzung des Gerichts, dass sich daraus ergibt, dass der Spielraum umso größer wird, je größer die Unwägbarkeiten der wissenschaftlichen Erkenntnislage sind. Je mehr „Experten“ ins Spiel kommen, desto unwägbarer wird die wissenschaftliche Erkenntnislage. Denn: „Viele Köche verderben den Brei.“ Das hat die Corona-Pandemie deutlich gezeigt, als sich die öffentlich auftretenden Virologen widersprachen.26 Eine sachgerechte und vertretbare Beurteilung sieht das Gericht unter Hinzuziehung der Stellungnahmen der angehörten sachkundigen Dritten sowohl bei den Kontaktund Ausgangssperren als auch bei den Schulschließungen an und hält beide Maßnahmen für geeignet, sowohl unmittelbar Leben und Gesundheit von Menschen vor den Gefahren einer COVID-19-Erkrankung zu schützen als auch eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden.27 Denn verfassungsrechtlich genügt nach Auffassung des Gerichts für die Eignung bereits die Möglichkeit, durch die gesetzliche Regelung den Gesetzeszweck zu erreichen.28

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BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 170 f.; Bundesnotbremse II, Rn. 114. BVerfGE Bundesnotbremse I (Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen), Rn. 171. BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 115; vgl. auch BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 185. BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 115. BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 185. Schughart, Warum widersprechen sich die Virologen?, RND, 9. 4. 2020, https://www.rnd.de/ gesundheit/warum-widersprechen-sich-die-virologen-5MWAJSGTXFDG3H255EFYX PEU5U.html (letzter Abruf 10. 1. 2022). 27 BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 184, 192 (Kontaktbeschränkungen), Rn. 281 (Ausgangsbeschränkungen); Bundesnotbremse II, Rn. 113, 116. 28 BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 185; Bundesnotbremse II, Rn. 114; stRspr, vgl. BVerfGE 152, 68, 130 f. Rn. 166; 155, 238, 279 Rn. 102; 156, 63, 116 Rn. 192.

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Auch für die Beurteilung der Erforderlichkeit ihrer Maßnahmen steht – so das BVerfG – dem Gesetzgeber grundsätzlich ein Einschätzungsspielraum zu.29 Dabei bezieht sich der Spielraum u. a. darauf, die Wirkung der von ihm gewählten Maßnahmen auch im Vergleich zu anderen, weniger belastenden Maßnahmen zu prognostizieren. „Der Spielraum kann sich wegen des betroffenen Grundrechts und der Intensität des Eingriffs verengen“, „umgekehrt reicht er umso weiter, je höher die Komplexität der zu regelnden Materie ist.“30 Der Erste Senat konstatiert in Bezug auf die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen für den Gesetzgeber einen weiten Beurteilungsspielraum, „denn die Situation der Pandemie ist durch eine gefährliche, aber schwer vorhersehbare Dynamik geprägt, die Sachlage also komplex. Zudem wiegen die flächendeckenden und alle Lebensbereiche betreffenden Einschränkungen zwar schwer. Dem stand aber der Schutz von Leben und von sehr schweren körperlichen Beeinträchtigungen gegenüber.“31

Aufgrund der Erkenntnislage zur maßgeblichen Zeit ist dem Senat kein milderes Mittel gegenüber einer effektiven Kontakt- und Ausgangsbeschränkung, das gleich wirksam, aber mit geringeren Grundrechtseinschränkungen hätte erreicht werden können, ersichtlich, weder durch ein anderes Regelungssystem noch durch eine andere Ausgestaltung der angegriffenen Kontakt- bzw. Ausgangsbeschränkungen.32 Denn die Kontrolle privater Zusammenkünfte zur Nachtzeit unter Verzicht auf Ausgangsbeschränkungen habe zwar ein gleich geeignetes Mittel sein können, sie hätten aber flächendeckend angelegt sein müssen und wären nur durch Betreten der Wohnungen seitens der kontrollierenden Vollzugsbehörden erfolgreich gewesen. „Dies wäre mit schwerwiegenden Eingriffen in Persönlichkeitsrechte sowie in die Schutzsphäre von Art. 13 GG einhergegangen und wäre daher nicht grundrechtsschonender gewesen.“ Dagegen lasse sich die Einhaltung der Ausgangsbeschränkungen weniger eingriffsintensiv überwachen und durchsetzen.33 Die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen sind damit erforderlich. Für das Verbot von Präsenzunterricht sieht der Senat in der Alternative einer vollständigen Aufrechterhaltung des Präsenzunterrichts mit wöchentlich zweimaliger Testung und angemessenen Schutz- und Hygienekonzepten zwar ein milderes Mittel, kann jedoch nicht mit der gebotenen Eindeutigkeit feststellen, dass es sich um eine mindestens gleich wirksame Alternative gehandelt habe.34 Und die von den Schülerinnen und Schülern verlangte stärkere Regulierung der Arbeitswelt und den spezifischen Schutz vulnerabler Gruppen vor Infektionen lehnt das Gericht schon deshalb ab, weil

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BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 204; Bundesnotbremse II, Rn. 123. BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 204. BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 205. BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 207 (Kontaktbeschränkungen), Rn. 286 (Ausgangsbeschränkungen). 33 BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 285. 34 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 126.

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dadurch die Belastungen lediglich auf Dritte verschoben worden wären.35 Dabei habe es sich nicht um ein milderes Mittel im verfassungsrechtlichen Sinne gehandelt.36 So ist das Verbot von Präsenzunterricht aus Sicht des BVerfG ebenfalls erforderlich. Bezüglich der Angemessenheit im engen Sinne stellt das BVerfG bezüglich der Kontaktbeschränkungen fest, dass der Gesetzgeber für den zu beurteilenden Zeitraum verfassungsgemäß zwischen den mit den Kontaktbeschränkungen verfolgten besonders bedeutsamen Gemeinwohlbelangen und den erheblichen Grundrechtsbeeinträchtigungen abgewogen hat. Und es sei nicht erkennbar, dass er einseitig die Grundrechte außer Acht gelassen und die Gemeinwohlbelange vorrangig behandelt habe. Auch die erhebliche Eingriffsintensität der Ausgangsbeschränkungen für die Betroffenen seien nicht ungeachtet geblieben. Die Nachteile für die Betroffenen blieben aber hinter den „überragend wichtigen Gemeinwohlbelange[n] des Lebens- und Gesundheitsschutzes sowie der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems“ zurück. Der Senat bescheinigt dem Gesetzgeber, einen verfassungsgemäßen Ausgleich zwischen Individual- und Gemeinwohlbelangen gefunden zu haben.37 Das Verbot von Präsenzunterricht ist daher „gemessen an den zum maßgeblichen Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes verfügbaren Erkenntnissen“38

ebenfalls nach Ansicht des BVerfG verhältnismäßig im engeren Sinne. Zwar stellt der Senat heraus, dass die bereits seit Beginn der Pandemie erfolgten Schulschließungen die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder in Bezug auf ihr Recht auf schulische Bildung schwerwiegend beeinträchtigte. Andererseits diente die Maßnahme jedoch Gemeinwohlbelangen von überragender Bedeutung. Der Gesetzgeber habe einen angemessenen Ausgleich zwischen den mit der Maßnahme verfolgten Gemeinwohlbelangen und der Grundrechtsbeeinträchtigung der Schülerinnen und Schüler erzielt.39 Gleiches ergebe sich auch für das Recht der Eltern, den von ihrem Kind einzuschlagenden Bildungsweg wählen zu können.40 Da die durch das Verbot bedingten Beeinträchtigungen des Familienlebens und der Möglichkeiten zur beruflichen Tätigkeit von Eltern schulpflichtiger Kinder insgesamt so weit abgemildert worden seien, könne auch nicht von einer offensichtlich unangemessenen Förderpolitik gesprochen werden.41 Insgesamt habe daher der Staat auf angemessene Weise auf die Beeinträchtigungen durch Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen reagiert, da er einerseits Gemeinwohlziele von überragender Bedeutung verfolgte und andererseits selbst für Milderungen der 35 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 132. 36 BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 212. 37 BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 232 (Kontaktbeschränkungen), Rn. 289 (Ausgangsbeschränkungen). 38 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 133. 39 BVerfGE Bundesnotbremse II, ebd. 40 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 202. 41 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 200. 106

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Eingriffe gesorgt und einen verfassungsgemäßen Ausgleich zwischen Individual- und Gemeinwohlbelangen gefunden habe.42 Insofern habe er auf angemessene Weise auf die Beeinträchtigungen des Familienlebens und der Möglichkeiten zur beruflichen Tätigkeit von Eltern schulpflichtiger Kinder infolge des Wegfalls von Präsenzunterricht reagiert.43 Vor allem die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder steht im Bundesnotbremse IIBeschluss des Gerichts im Fokus. Diese sei durch den Wegfall von Präsenzunterricht schwerwiegend beeinträchtigt. Dafür benennt das BVerfG zwei bisher nur vage in der Literatur diskutierte neue Grundrechte: das Recht auf freie Bestimmung des Bildungsgangs, das kurz abgehandelt wird44, und das Recht auf schulische Bildung, mit dem sich der Erste Senat ausführlich auseinandersetzt.45 3. „Neue“ Grundrechte durch den Bundesnotbremse II-Beschluss In dem Verbot von Präsenzunterricht erkennt der Senat einen Eingriff in das Recht auf freie Bestimmung des Bildungsgangs des betroffenen Schülers nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sowie in das Recht auf schulische Bildung, dessen Schutz sich nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG ergebe. Das Recht auf freie Bestimmung des Bildungsgangs entnimmt das BVerfG aus der Formulierung des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Diese Regelung führt grundsätzlich zu einer unteilbaren Gesamtverantwortung der Eltern für das Kind. Sie sind verpflichtet und berechtigt, für das Kind in körperlicher und geistigseelischer Hinsicht zu sorgen, es zu betreuen und auch auf die Zukunft des Kindes gerichtet zu fördern.46 Daraus leitet sich letztlich auch das Recht der Eltern ab, den von ihrem Kind einzuschlagenden Bildungsweg wählen zu können. Dies hat das BVerfG bereits seit Anfang der 1970er Jahre mehrfach festgestellt.47 Insofern handelt es sich nicht um ein „neues“ Grundrecht. Das Recht auf schulische Bildung behandelt der Erste Senat grundrechtsdogmatisch sehr ausführlich und geht dabei weit über das hinaus, was für die Beantwortung der konkret zur Entscheidung stehenden Frage von Schulschließungen anlässlich der Pandemie erforderlich war. Das ergibt sich schon aus den Leitsätzen. Denn sie machen deutlich, dass sich das neue Recht auf schulische Bildung „auf inhaltliche Organisations-, Ge-

42 BVerfGE Bundesnotbremse I, Rn. 231, 225 (Kontaktbeschränkungen), Rn. 289, 299 (Ausgangsbeschränkungen). 43 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 221. 44 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 200 – 202. 45 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 42 – 199. 46 Robbers, Art. 6 GG, Rn. 143; in: MKS, Grundgesetz, Bd. 1, 7. Aufl., 2018, S. 777. 47 Vgl. BVerfGE 34, 165, 182, 184; E 45, 400, 415 f.; E 53, 185, 196. Recht und Politik, Beiheft 10

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staltungs- und Durchführungsaspekte beziehen“.48 Dieses Recht leitet der Senat aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG ab. Es sei ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat, „ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung zu unterstützen und zu fördern“49. Ein solches Recht auf Bildung wird in weitem Umfang bereits in den Landesverfassungen anerkannt. So bestimmen zum Beispiel Art. 20 Satz 1 Verf TH und Art. 29 Abs. 1 Verf BB, dass jeder Mensch das Recht auf Bildung hat. Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Verf NW legt fest, dass jedes Kind Anspruch auf Erziehung und Bildung hat. Und Art. 128 Abs. 1 Verf BY gewährt jeder in Bayern wohnenden Person den Anspruch darauf, eine ihren erkennbaren Fähigkeiten und ihrer inneren Berufung entsprechende Ausbildung zu erhalten.50 Das BVerfG hat nunmehr in seiner Entscheidung zur Bundesnotbremse II das „Recht auf schulische Bildung“ als Grundrecht anerkannt. Aus früheren Entscheidungen zu Art. 7 Abs. 1 GG entnimmt der Senat, dass dem Staat die Aufgabe zukommt, „ein Schulsystem zu schaffen, das allen Kindern und Jugendlichen gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet, um so ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft umfassend zu fördern und zu unterstützen.“51

In dem Beschluss stellt der Senat fest, dass diese dem Staat zugewiesene Aufgabe dem in Art. 2 Abs. 1 GG verankerten Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf Unterstützung ihrer Persönlichkeitsentwicklung entspreche und kombiniert: „Das durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Recht der Kinder und Jugendlichen ist folglich das subjektiv-rechtliche ,Gegenstück‘ […] zur objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates aus Art. 7 Abs. 1 GG, schulische Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen, die deren Persönlichkeitsentwicklung dienen.52

Den materiellen Rahmen legt das Gericht ebenfalls fest: Der Schutzbereich des „Rechts auf Bildung“ umfasst die Schulbildung als Ganze, nicht jedoch die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte berufsbezogene Ausbildung.53 Innerhalb des Schutzbereichs Schulbildung zählt der Erste Senat auf der einen Seite „verschiedene Gewährleistungsdimensionen“ auf, die das Recht auf schulische Bildung gewähren soll und die das Gericht im „Einklang mit der völkerrechtlichen Gewähr48 Nettesheim, Schule als Markt staatlicher Bildungsangebote: Anmerkungen zum Beschluss des BVerfG vom 19. November 2021 („Bundesnotbremse II – Schulschließungen“), VerfBlog, 30. 11. 2021, https://verfassungsblog.de/schule-als-markt-staatlicher-bildungsangebote (letzter Abruf 10. 1. 2022). 49 BVerfGE Bundesnotbremse II, 1. Leitsatz. 50 Vgl. auch Art. 8 Verf MV, Art. 13 Verf BE, Art. 25 Abs. 1 Verf HB, Art. 10 Abs. 3 Verf SH; vgl. Robbers, Art. 7 GG, Rn. 31; in: MKS, Grundgesetz, Bd. 1, 7. Aufl., 2018, S. 821. 51 So schon BVerfGE 34, 165, 182, 188 f.; E 47, 46, 72; E 93, 1, 20. Vgl. BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 48. 52 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 48. 53 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 49, vgl. zur Ausbildung BVerfGE 58, 257, 273. 108

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leistung eines ,Rechts auf Bildung‘ und Unionsrecht“54 sieht, etwa „Bildungsleistungen des Staates“55 oder „Bildungsangebote“56, durch die „der Staat die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten in der Gemeinschaft“ unterstützt und fördert.57 So gewährt das BVerfG konkret aus diesem Recht auf schulische Bildung den individuellen und – als unverzichtbares Minimum schulischer Bildung – einklagbaren „Anspruch der einzelnen Schülerinnen und Schüler auf Durchführung von Distanzunterricht“58 und verlangt für zukünftige Schulschließungen deutlich stärkere Anstrengungen, vor allem bei der Digitalisierung.59 Auf der anderen Seite zeigt das Gericht zugleich die Grenzen der Gewährleistungsdimensionen auf, indem es u. a. feststellt, dass aus diesem Recht keine individuellen Ansprüche auf die wunschgemäße Gestaltung von Schule abgeleitet werden können.60 Denn es ist naheliegend, dass Schüler aufgrund des neuen Rechts den Wunsch entwickeln könnten, frei wählen zu dürfen, welche Bildungsangebote sie in der Schule erhalten wollen. Als Begründung der Ablehnung solcher individuellen Ansprüche gibt der Senat an, „dies wäre angesichts der Vielfalt der Bildungsvorstellungen der einzelnen Schülerinnen und Schüler auch schlicht nicht umzusetzen“61. Diese Begründung der Überforderung des Staates ist klassisch eine etatistische Begründung, denn beim Individualrecht auf schulische Bildung müsste eigentlich aus Sicht der Kinder und Jugendlichen argumentiert werden, etwa damit, dass ein schulischer Bildungsauftrag zum Scheitern verurteilt ist, wenn den Kindern und (pubertierenden) Jugendlichen freie Wahlmöglichkeiten eingeräumt würden.62 Mit dieser Entscheidung der Einführung eines neuen Grundrechts erweitert das BVerfG seine Kompetenz und bestätigt zum ersten Mal, dass es Grundrechte gibt, die ausschließlich nur für Kinder und Jugendliche gelten. Es bricht damit die auf politischer und juristischer Ebene geführte Debatte auf,63 ob Grundrechte nur für Kinder ins Grundgesetz gehören. Diese Debatte war vor dem Hintergrund der VN-Kinder-

54 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 66; vgl. Wrase, Ein Beschluss mit weitreichenden Folgen. Das Recht auf schulische Bildung nach der Schulschließungs-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, VerfBlog, 5. 12. 2021, https://verfassungsblog.de/ein-beschluss-mit-weitrei chenden-folgen (letzter Abruf 10. 1. 2022). 55 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 52. 56 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 62. 57 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 47, 62. 58 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 173. 59 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 189 ff. 60 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 55. 61 BVerfGE Bundesnotbremse II, Rn. 55 mit Bezug auf BVerfGE 45, 400, 415 f. 62 Vgl. Nettesheim, Schule als Markt staatlicher Bildungsangebote, a. a. O. (Fn. 48), der den Beschluss sowohl erziehungswissenschaftlich als auch verfassungsrechtlich kritisch sieht. 63 Zum Diskurs vgl. Wissenschaftliche Dienste, Kinderrechte im Grundgesetz, WD 3 – 3000 – 294/ 14, 29. 2. 2015. Recht und Politik, Beiheft 10

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rechtskonvention neu entfacht worden.64 Mit diesem Beschluss legt sich der Erste Senat des BVerfG endgültig fest: Seine bereits 1968 getroffene Entscheidung, dass das Wächteramt des Staates aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG in erster Linie auf dem Schutzbedürfnis des Kindes beruht, dem als Grundrechtsträger eigene Menschenwürde und ein eigenes Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit im Sinne des Art. 1 Abs. 1 und Art 2 Abs. 1 zukomme,65 ließ diesen Beschluss schon erkennen. Nach über 50 Jahren ist dieses Kinderrechts-Grundrecht nunmehr bestätigt.66 Das Grundrecht auf schulische Bildung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG wird in der Zukunft in den Entscheidungen des BVerfG fester Bestandteil sein.

II. Rechtspolitologische67 Einordnung der Entscheidungen 1. Mehr Grundrechte – weniger Freiheit: eine „Kontrollinszenierung“ Bei der Pandemie hat sich das Bundesverfassungsverfassungsgericht mit seiner ersten Grund-Doppelentscheidung zur Pandemie sehr viel Zeit gelassen. Nahezu alle Verfassungsbeschwerden verwies es zuvor an den Instanzenweg,68 als ob es in dieser besonderen Situation mit den in der Geschichte der Bundesrepublik bisher größten Einschränkungen von Grundrechten bloß um die routinemäßige Prüfung nachrangiger Rechtsvorschriften und Verwaltungsakte ginge – nicht aber um die Gefahr der Etablierung einer „Parallelrechtsordnung“,69 die zu Beginn sogar Assoziationen zum staatsrechtlichen „Ausnahmezustand“ weckte.70 Während die Verwaltungsgerichte dann von Fall zu Fall die exekutiven Auswüchse rechtsstaatlich tapfer wieder einfingen, konnte man beim Bundesverfassungsgericht den Eindruck gewinnen, es habe in dieser Krise sogar „alle dogmatischen Hebel bedient, um sich ,Corona-Verfahren‘ vom Halse 64 Lemmert, #CoronaKinder und das Grundgesetz (Teil 1) – Normative und tatsächliche Grundlagen, JuWissBlog Nr. 84/2020, 16. 6. 2020, https://www.juwiss.de/84-2020 (letzter Abruf 10. 1. 2022); Kirchhof, Die Kinderrechte des Grundgesetzes. Sollte die Verfassung zugunsten von Kindern geändert werden?, NJW 37/2018, 2690 – 2693; Hohmann-Dennhardt, Kinderrechte ins Grundgesetz – warum?, FPR 2012, 185 – 187. 65 BVerfGE 24, 119 – 155, 4. Leitsatz. 66 Vgl. Wrase, Ein Beschluss mit weitreichenden Folgen, a. a. O. (Fn. 54). 67 Zum Begriff vgl. Voigt, Das Bundesverfassungsgericht in rechtspolitologischer Sicht, in: van Ooyen/Möllers (Hg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl., 2015, S. 69 ff. 68 M.w.N. Möllers, Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei Freiheitsbeschränkungen infolge der SARS CoV-2 Pandemie, RuP 3/2020, S. 286 ff. 69 Lepsius, Grundrechtsschutz in der Corona-Pandemie, RuP 3/2020, S. 264. 70 Vgl. van Ooyen/Wassermann, Freiheit, Demokratie und Grundgesetz im Pandemie-Notstand, Einführung zu: Dies (Hg.), Corona und Grundgesetz, RuP-Beiheft 7, 2021, S. 7 ff.; Lemke, Deutschland im Notstand?, 2021; zur Weimarer Diskussion van Ooyen, „Hüter der Verfassung“. Carl Schmitt und die Kontroverse um die „Diktaturgewalt“ des Reichspräsidenten, in: Voigt (Hg.), Aufbruch zur Demokratie, 2020, S. 699 ff. 110

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zu halten“.71 Prompt, als drücke ihn ein schlechtes Gewissen, sieht sich der Erste Senat nun bemüßigt, ausdrücklich juristisch darzulegen, warum die einfachgerichtliche Prüfung gerade jetzt nicht mehr ausreichte, sodass die Klagen gegen die „Bundesnotbremse“ von ihm selbst verhandelt werden müssten: „Die Inanspruchnahme fachgerichtlichen Rechtsschutzes ist also insbesondere dann geboten, wenn von der Durchführung eines Gerichtsverfahrens die Klärung einfachrechtlicher Fragen zu erwarten ist, auf die das Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung der verfassungsrechtlichen Fragen angewiesen ist, deren Beantwortung mithin nicht allein von der Auslegung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe abhängt… Ob ein Grundrechtseingriffe unmittelbar anordnendes, selbstvollziehendes Gesetz in mit Verfassungsrecht unvereinbarer Weise den Rechtsschutz der Betroffenen verkürzt oder gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) verstößt, hängt nicht von der konkreten Ausgestaltung des Eingriffs ab. Aufgeworfen sind damit insoweit allein verfassungsrechtliche Fragen“.72

Das mag auch mit der zwar eher spät einsetzenden, aber schließlich deutlichen Kritik in der Öffentlichkeit zusammenhängen: Präsident Harbarth wurde schon vorgeworfen, ob das Verfassungsgericht die Entscheidung zur Pandemie verschleppe73 und wie denn ein aktuelles Treffen mit der Bundesregierung samt „passend“ geändertem Vortragsthema einzuordnen sei: bloß ein routinemäßiges Essen als business as usual unter Verfassungsorganen oder günstige Gelegenheit zur informellen Sondierung zwischen Gericht und Regierung? 74 Letzteres scheint abwegig – das würde man wohl cleverer machen –, sodass der auf dem Fuße folgende Befangenheitsantrag zu Recht abgelehnt wurde.75 In der Rückschau der nun erfolgten Beschlüsse bekommt der Vorgang aber dann doch ein „Geschmäckle“, da die Auctoritas des Bundesverfassungsgerichts auch von der Inszenierung seiner Unvoreingenommenheit und (Partei‐)Politikferne lebt.

71 Lepsius, zitiert in: Hipp, Abendessen mit Tücken, Der Spiegel 47/2021, S. 45. 72 BVerfGE Bundesnotbremse I (Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen), Rn. 101 und 103. 73 Strate, Stets zu Diensten. Corona, Klima, Rundfunkbeitrag: „Karlsruhe“ entwickelt sich immer mehr zum Erfüllungsgehilfen der Politik, in: Cicero-Themenheft, Sept./2021, S. 16 ff.; Keilani, Vom Gegenspieler zum verlängerten Arm Merkels?, in: NZZ vom 07. 09. 2021, https://www. nzz.ch/international/das-bundesverfassungsgericht-wird-70-jahre-alt-verblasster-glanz-ld. 1644069. Dem Vorwurf zur Verschleppung einer Corona-Grundentscheidung trat Präsident Harbarth entgegen; vgl. „Der Staat ist den Bürgern verpflichtet“, Interview, in: FAZ vom 28. 09. 2021, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/verfassungsrichter-stephan-harbarthspricht-ueber-den-rechtsstaat-17558122.html?premium=0xd96f 3de55fca15e6fad8a14f 7 c4ef304 (letzter Abruf 9. 2. 2022). 74 Das Thema lautete dann „Entscheidung unter Untersicherheiten“; vgl. Bräutigam, Fehlendes Gespür, Tagesschau-Kommentar vom 18. 10. 2021, https://www.tagesschau.de/kommentar/ kommentar-bverfg-101.html (letzter Abruf 9. 2. 2022). 75 Vgl. BVerfGE 1 BvR 781/21; Legal Tribune Online vom 18. 10. 2021, Harbarth und Baer im Corona-Verfahren nicht befangen, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bverfg1bvr78121-ablehnung-gesuch-harbarth-baer-abendessen-bundesregierung-abgelehnt-befang enheit (letzter Abruf 9. 2. 2022). Recht und Politik, Beiheft 10

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Befremdender aber ist, dass alle Regelungen gegen die Pandemie in der Doppel-Entscheidung durchgewunken werden und dabei noch nicht einmal eine abweichende Meinung auftaucht. Das Bundesverfassungsgericht, das so gerne z. B. über die „Gefahr“ der „Kopftücher“ von Lehrerinnen im Schuldienst (2003 und 2015) und einer Rechtsreferendarin bei Gericht (2020) insgesamt fast zwanzig Jahre heftig in (und auch zwischen) den Senaten mit Sondervoten gestritten hat,76 findet hier angesichts der drastischsten Einschränkungen von Freiheiten einfach zur Harmonie: beide Entscheidungen des Doppel-Beschlusses ergehen nämlich einstimmig, – kein Widerspruch regt sich. Auch ein obiter dictum (sonst nicht gerade selten im Entscheidungsrepertoire) zur Verfassungskonformität einer allgemeinen Impflicht wird nicht gegeben, obwohl diese doch im Vergleich zur Dauerschleife von Grundrechte-Shutdowns das weitaus mildere Mittel wäre und sich angesichts der seitenlangen Ausführungen des Gerichts zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit zumindest angeboten hätte. Wiederum steht der Begründungsaufwand dabei kaum im Verhältnis zum lapidaren Argumentationsgang, der sich auf wenige Sätze hinsichtlich der Freiheitsbeschränkungen etwa derart hätte verkürzen lassen können: Es handelt sich um schwerwiegende Eingriffe in die Freiheit, aber der Gesetzgeber hat bei den besonderen Gefahren und Unwägbarkeiten einer Pandemie einen außerordentlichen Spielraum hinsichtlich der zu ergreifenden Maßnahmen. Dies wird bloß camoufliert durch lange, z. T. redundante Ausführungen und durch die abermalige „Kreation“ eines – so im Verfassungstext nicht vorhandenen – weiteren Grundrechts. Hier knüpft das Bundesverfassungsgericht an seine Linie an, Grundrechte zu „schöpfen“, die sich aber aufgrund ihres „Gemeinschaftsbezugs“ schnell wieder in Luft auflösen, wenn nicht sogar – wie im Falle des Rechts zukünftiger Generationen beim jüngsten „Klimabeschluss“ (2021) – sogar direkt freiheitsbeschränkend wenden lassen. Schon die mit der alten Entscheidung zur Investitionshilfe (1954) gefundene „Menschenbildformel“ hatte von Anfang an auch eine anti-individualistische, gemeinschaftsbezogene Stoßrichtung gehabt, mit der sich liberale Grundrechte zugunsten des Staates gerade verkürzen ließen.77 Das neue Recht auf „schulische Bildung“, das in der Entscheidung noch aufwändig in drei Teilrechte ausdifferenziert wird,78 bringt jedenfalls für die Freiheit im konkreten Fall gar nichts79 (bzw. nichts, was nicht die staatlichen Institutionen der Schulpflicht ohnehin selbst eingerichtet hatten). Und daher ist im Ergebnis die „Corona-Doppelentscheidung“ 76 Vgl. van Ooyen, Das Bundesverfassungsgericht und der „Kopftuch-Streit“, 3. Aufl., 2020. 77 Denn sie ging auf Richter Wintrich zurück, der als Mitglied der CSU der katholischen Soziallehre nahestand, vgl. Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1996. 78 Vgl. BVerfG Bundesnotbremse II (Schulschließungen), 2. Leitsatz sowie Rn. 44 ff. 79 So auch in einer ersten Einschätzung von Lepsius, Zerstörerisches Potenzial für den Verfassungsstaat, in: Legal Tribune Online vom 03. 12. 2021, https://www.lto.de/recht/hinter gruende/h/bverfg-1bvr78121-1bvr97121-corona-bundes-notbremse-massnahmen-kontaktausgang-schule-kinder-grundrechte-kommentar-verfassung-rechtstaat. 112

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einfach eine carte blanche an Parlament und Regierung, bei der verfassungsgerichtliches checks and balances auf das Niveau einer bloßen „Kontrollinszenierung“ sinkt.80 2. Das Bundesverfassungsgericht: zwischen „Entgrenzung“ und regierungsnahem „Etatismus“ In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt sich immer wieder eine eigentümliche Dialektik, die an die Gegenüberstellung von „niederer“ Gesellschaft und „hoher“ Politik des Staats bei Hegel erinnert: Auf der einen Seite wird das Gericht dafür kritisiert, dass es seinen Wirkungskreis permanent ausgedehnt81 und dabei den politischen Spielraum des Parlaments kleinteilig und in allen möglichen Lebensbereichen eingeengt hat. Denn zu bereitwillig und zu oft ist es in deutscher Manier in die Detailfragen eingestiegen und hat dem Gesetzgeber gerne schon einmal den Lebenskomfort kinderreicher Beamtenfamilien vorgerechnet (Beamtenbaby 1990), die Anzahl Sonntage, an denen hintereinander vor Weihnachten Geschäfte öffnen dürfen (2009), die Quadratmeterzahl beim Rauchverbot in Kneipen (2008), die statistischen Maßstabsgrundsätze für Hartz IV (2010), die steuerliche Abzugsfähigkeit der Pendlerpauschale (2008) usw. Das alles ergab sich für das Gericht bei „wesensmäßiger“ Betrachtung des Willkürverbots sozusagen direkt aus dem Grundgesetz. Das Bundesverfassungsgericht ist daher ein „entgrenztes Gericht“,82 in dessen Rechtsprechung eine typisch deutsche Maßstabsverschiebung in ein rechtspolitisches Biedermeieridyll deutlich wird: auf der Suche nach der verlorenen Gerechtigkeit in einer großen Welt – aber mit ganz kleiner Münze. Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht oft eine „Regierungs-“ oder besser: „Staatsnähe“ bei Entscheidungen von „hoher“ Politik begleitet. Damit sind hier gar nicht Formen von „Durchstechereien“ gemeint, die es etwa in der bundesdeutschen Gründerzeit während des laufenden Verfahrens gegen die KPD beim Kampf gegen den Kommunismus gab.83 Die immer wieder gestellte Frage: „Das Bundesverfassungsgericht – eine Gegenregierung?“ muss für das deutsche politische System verneint werden.84 US-Präsidenten dagegen sehen sich – schon aufgrund des anderen Nominierungsverfahrens – nicht selten mit knappen, aber harten Richter-Gegen-Mehrheiten konfrontiert, die durch ihre(n) Vorgänger bestimmt worden sind: Reagan, Bush I und Bush II hatten die politische Chance, die gesamte Richtung der noch infolge der Warren- und Burger-Ära „spät-liberalen“ Rechtsprechung des Supreme Courts zu 80 Lübbe-Wolff, zur Entscheidung über die „fingierte Vertrauensfrage“, BVerfGE 114, 121 – Bundestagsauflösung II (2005), Abw. Meinung, Rn. 220 (Internetfassung). 81 Dieser Prozess beginnt schon mit Lüth (1954); vgl. Henne/Riedlinger (Hg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts‐)historischer Sicht, 2005. 82 Jestaedt/Lepsius/Chr. Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011. 83 Hierzu nun Foschepoth, Verfassungswidrig! Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg, 2017. 84 So schon Wever, Das Bundesverfassungsgericht – eine Gegenregierung?, in: Blanke/Wollmann (Hg.), Die alte Bundesrepublik, Sonderheft Leviathan, 1991, S. 310 ff. Recht und Politik, Beiheft 10

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kippen, die vor allem dem religiös-rechten Flügel der Republikaner seit Jahrzehnten ein Dorn im Auge war; Trump hat das inzwischen „vollendet“.85 Auch angesichts der Konflikte mit Konrad Adenauer um dem von ihm geplanten „Regierungsfunk“ (Deutschlandfernsehen 1961), mit Willy Brandt und der sozialliberalen Koalition um Ostverträge und Reformpolitik der 1970er Jahre sowie mit den Innenministern um Grundrechtseinschränkungen und „Bürgeropfer“ bei der „Selbstbehauptung des Rechtsstaats“86 infolge von 9/11 erweist sich das Bundesverfassungsgericht eher als eine stabilisierende Legitimationsreserve: Es hilft, die in Regierung und Parlament beschlossenen Entscheidungen durch seinen „Begründungsaktivismus“ staatstragend abzusichern.87 Selbst bei seinen Europa-Urteilen hat das Bundesverfassungsgericht mit weit ausholendem, staatstheoretischem Pathos und noch mehr Bedenken letztlich im Prinzip Verfassungskonformität festgestellt und dem von hohen Parlamentsmehrheiten getragenen Weg der Regierung bei der europäischen Integration nicht wirklich einen Stein in den Weg gelegt – im Ergebnis noch nicht einmal, bei allem „Getöse“, mit dem EZB-Beschluss (2020).88 Die Begründungen zu Maastricht (1993) und Lissabon (2009) sind dabei ja nur die einer breiteren politischen Öffentlichkeit bekannten Entscheidungen. Subkutan spürbar wird die „Staatsnähe“ aber in ganz vielen Bereichen seiner Rechtsprechung, die den „Staat“ und die „hohe“ Politik betreffen:89 z. B. bei den Entscheidungen zur „fingierten“ Bundestagsauflösung durch die Kanzler Kohl und Schröder (1983 bzw. 2005) oder auch bei denen zum Berufsbeamtentum, mit denen das Gericht ein Stück Verfassung geändert hat, indem es den Art. 33 V GG von der bloßen „Berücksichtigung“ einfach zur Beachtung der hergebrachten Grundsätze hin verschob.90 In der Asylrecht-Rechtsprechung etwa ist die „politische Verfolgung“ i. S. d. Art. 16 bzw. später 16a GG von ihm ganz selbstverständlich und „hegelianisch“ auf

85 In der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts hat es jedenfalls auch keine „Four Horsemen“ gegeben. Die auf die apokalyptischen Reiter anspielende Bezeichnung meinte konservative Justices des Supreme Courts in der Roosevelt-Ära. Im Machtkampf mit dem Präsidenten während der 1930er Jahre hatte das Gericht die erste Phase der populären Sozialreformen des New Deals zur Bekämpfung der Großen Depression kassiert. Gestärkt durch eine überragende Wiederwahl 1936/37 wies Roosevelt dann den Supreme Court in die Schranken mit der Drohung einer Erhöhung der Richterzahl; vgl. Shesol, Supreme Power, 2010. 86 So mit „schmittianischem“ Impetus der konservative Staatsrechtler Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaats, 2007; zur Rechtsprechung vgl. Möllers/van Ooyen, Bundesverfassungsgericht und Öffentliche Sicherheit (2 Bde.), 5. Aufl., 2019. 87 Vgl. Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, 2004. 88 Vgl. van Ooyen, Die Staatstheorie des Bundesverfassungsgericht und Europa, 8. Aufl., 2020. 89 Alshut, Der Staat in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1999, van Ooyen, Der Begriff des Politischen des Bundesverfassungsgerichts, 2005. 90 So blieb das Beamtenrecht das „Sonderrecht einer ,staatstragenden‘ Gruppe“ und schirmt bis heute das Dienstrecht gegen Neuerungen ab, Bull, Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zur „Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“, in: HB BVerfG PolSys (Fn. 67), S. 821. 114

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„staatliche Verfolgung“ reduziert worden91 (z. B. im Tamilen-Beschluss 1989) und beim Asylkompromiss (1996) wurde angesichts der einhelligen politischen Stimmung, die „Flüchtlingswellen“ zu „bekämpfen“, staatsräsonistisch beiläufig dessen Menschenwürdecharakter einfach kassiert. Deutlich wird das auch an seiner ablehnenden Haltung zur Parlamentarisierung der Außenpolitik von der Entscheidung zum NatoDoppelbeschluss (1984) bis zur Rechtsprechung seit den 1990er Jahren, die die Out of Area-Einsätze der Bundeswehr betreffen: Außenpolitik eben als „Regierungsdomäne“;92 usw. Diese „etatistische Schlagseite“ speist sich aus verschiedenen Quellen: Soziologisch betrachtet hat es mit der „Staatsnähe“ seiner Richter/innen zu tun, 93 institutionell mit dem Verfahren ihrer Wahl. Eine weitere Ursache liegt im strategischen Kalkül eines Verfassungsgerichts, das als bloße „Deutungsmacht“94 harte Konfrontationen nur wagen kann, wenn bestimmte machtpolitische Konstellationen zu seinen Gunsten vorliegen.95 Andernfalls riskiert es die Demontage seiner Legitimation. „Cruzifix“ (1995) ist hierfür ein Beispiel, aber auch der nur ein paar Jahre zurückliegende Vorfall um eine NPD-Wahlkampfveranstaltung, bei dem es dem Bundesverfassungsgericht nicht einmal gelang, sich gegenüber der Kommunalverwaltung der hessischen Kleinstadt Wetzlar durchzusetzen.96 Eine weitere Ursache liegt schließlich im Staatsverständnis des Bundesverfassungsgerichts, das sich aus hegelianisch geprägten Traditionsbeständen der deutschen Staatslehre speist. Diese ist selbst in der liberalen Wendung ihres Altmeisters Georg Jellinek ebenso etatistisch geblieben wie in ihrer sozialdemokratischen Färbung eines Hermann Heller. Der in der deutschen Staatslehre „vermisste Leviathan“97 ist auch ein Phantomschmerz des Bundesverfassungsgerichts. Im Zweifel daher gilt: „Der Staat ist von Verfassungs wegen nicht gehindert…“.98 91 Vgl. van Ooyen, Staatliche, quasistaatliche und nichtstaatliche Verfolgung?, ARSP 2003, S. 387 ff. 92 Vgl. van Ooyen, Das Bundesverfassungsgericht und der Einsatz der Bundeswehr, 3. Aufl., 2020. 93 Daher immer noch lesenswert, wenn auch vor dem Hintergrund Weimarer Verhältnisse und marxistisch zugespitzt: Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz (1927), in: ders., Recht und Politik in der Weimarer Republik, GS, Bd. 1, 1999, S. 177 ff. 94 Vorländer (Hg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006. 95 Vgl. Vanberg, The Politics of Constitutional Review in Germany, 2004. 96 Vgl. Wowtscherk, Wetzlar: Eine Kleinstadt ignoriert das Bundesverfassungsgericht, in: RuP 1/ 2019, S. 40 ff. 97 Bärsch, Der Staatsbegriff in der neueren deutschen Staatslehre und seine theoretischen Implikationen, 1974, Günther, Denken vom Staat her, 2004; Chr. Möllers, Der vermisste Leviathan, 2008; Schönberger/Takada/Jakab, Der „German Approach“, 2015; van Ooyen, Der Staat der Moderne, 2. Aufl. 2020. 98 BVerfGE 98, 218 – Rechtschreibreform (1998), 1. Leitsatz; m.w.N. van Ooyen/Möllers, „Der Staat ist von Verfassungs wegen nicht gehindert…“. National-liberaler Etatismus im Staatsverständnis des Bundesverfassungsgerichts, 2021; aktuell auch Kulick/Vasel, Das konservative Gericht, 2021. Recht und Politik, Beiheft 10

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Beweislastumkehr und Verfassungsrecht* Zum Homeoffice-Angebot des Arbeitgebers in der Pandemie Von Anna Leisner-Egensperger Nach der neuen Regelung des § 28b Abs. 4 S. 1 IfSG, die im Vierten Bevölkerungsschutzgesetz vom April 2021 eine wortlautidentische Vorschrift der Corona-Arbeitsschutzverordnung abgelöst hat, ist der Arbeitgeber verpflichtet, den Beschäftigten die Erledigung von Büroarbeit und vergleichbaren Tätigkeiten im Homeoffice zu ermöglichen. Für entgegenstehende zwingende betriebliche Gründe ist er beweispflichtig. Diese politisch umstrittene Regelung ist in das System normativer Beweislastregeln einzuordnen und anhand des Grundgesetzes zu überprüfen. Verfassungsdogmatisch fragt sich, welcher Prüfungsmaßstab für das Recht der Beweislastverteilung gilt, verfassungsrechtlich geht es um die Reichweite staatlicher Schutzpflichten – bei Fortgeltung der epidemischen Lage und danach.

I. Die Darlegungs- und Beweispflicht des Arbeitgebers 1. Das Homeoffice-Angebot und seine praktische Bedeutung a) Coronarecht zum Homeoffice Die staatliche Anordnung von Kontaktreduzierungen zur Bekämpfung der Coronapandemie hat mit dem Jahr 2021 auch das Arbeitsleben erfasst. Durch die SARS-CoV2-Arbeitsschutzverordnung (Corona-ArbSchV) vom 21. Januar 2021 wurden Arbeitgeber verpflichtet, „den Beschäftigten im Fall von Büroarbeit oder vergleichbaren Tätigkeiten anzubieten, diese Tätigkeiten in deren Wohnung auszuführen, wenn keine zwingenden betriebsbedingten Gründe entgegenstehen“ (§ 2 Abs. 4 Corona-ArbSchV). Das Vierte Bevölkerungsschutzgesetz, das nach dem Bundestagsbeschluss vom 22. April 2021 am selben Tag verkündet und zum 23. April 2021 in Kraft getreten ist, hat diese Regelung nun wortlautidentisch in das Infektionsschutzgesetz überführt – als § 28b Abs. 4 S. 1 IfSG.1 Dabei ist die seit Januar bestehende Pflicht des Arbeitgebers, Homeoffice anzubieten, ergänzt worden um die Verpflichtung der Beschäftigten, „dieses Angebot anzunehmen, soweit ihrerseits keine Gründe entgegenstehen“ * 1

Zuerst in: RuP 2/2021, S. 173 – 191. BGBl. 2021 I, S. 802 (805).

Recht und Politik, Beiheft 10 (2022), 116 – 134

Duncker & Humblot, Berlin

Beweislastumkehr und Verfassungsrecht

(§ 28b Abs. 7 S. 2 IfSG). Die in das Infektionsschutzgesetz neu eingeführten Vorschriften zur Einschränkung von Kontakten im Arbeitsleben haben – anders als die übrigen Regelungen der sog. Bundesnotbremse in § 28b Abs. 1ff. IfSG – nicht die Überschreitung bestimmter Schwellenwerte zur Voraussetzung. Mithin passt die Überschrift des § 28b IfSG „Bundesweit einheitliche Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit 2019 (COVID 19) bei besonderem Infektionsgeschehen“ nicht für den Absatz 4. Als legislatives Redaktionsversehen ist dies wohl der Schnelligkeit des Gesetzgebungsprozesses geschuldet, auf den Regelungsinhalt des § 28b Abs. 4 IfSG bleibt die zu enge Fassung der Überschrift zu § 28b IfSG jedenfalls ohne Einfluss. Ob die Voraussetzungen für eine Ausnahme von der prinzipiellen Homeoffice-Verpflichtung des Arbeitgebers erfüllt sind, wird nach § 28b Abs. 4 S. 3 IfSG nunmehr von derjenigen Behörde geprüft, die von den Ländern nach § 54 S. 1 IfSG als zuständig bestimmt wird; vor Erlass des Vierten Bevölkerungsschutzgesetzes ergab sich die behördliche Zuständigkeit aus § 22 ArbSchG. b) Homeoffice im Arbeitsleben Dass Arbeitnehmer ihre Arbeitsleistung ganz oder teilweise von zu Hause aus erbringen, ist kein neues Phänomen. Bereits im Jahr 2017 betrug der Anteil der Arbeitnehmer, die immerhin teilweise zuhause arbeiteten, etwa 22 Prozent.2 Doch war es die rasante Ausbreitung des Coronavirus im Frühjahr 2020, die dem Homeoffice eine bislang nicht gekannte Hochkonjunktur verschaffte. Durch die Heimarbeit soll zum einen den Beschäftigten wegen geschlossener Schulen und Kitas die Betreuung und Versorgung ihrer Kinder durch Anwesenheit im häuslichen Umfeld ermöglicht werden. Vor allem geht es aber darum, persönliche Kontakte zu minimieren, um dadurch Leben und Gesundheit sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems zu schützen – ein arbeitsrechtliches Pendant zu den zahlreichen landesrechtlichen Schutzmaßnahmen zur Verwirklichung der Normzwecke des Infektionsschutzgesetzes (§ 28a Abs. 3 S. 1 IfSG). Welche praktische Bedeutung dem Homeoffice langfristig zukommen wird, lässt sich derzeit schwer abschätzen. Die meisten Unternehmen sehen im häuslichen Arbeiten derzeit wohl nur eine Maßnahme auf Zeit. Insbesondere haben laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft zwei Drittel der Firmen nicht vor, ihren Beschäftigten nach der Pandemie mehr Home-Office als vor der Krise zu ermöglichen, zumal ein fester Büroplatz oft Teil des Arbeitsvertrags sei.3 Doch weder lässt sich gegenwärtig absehen, wie lange der Staat gegen die Auswirkungen der Corona-Pandemie weiterhin Maßnahmen ergreifen wird, noch kann ausgeschlossen werden, dass bald weitere Infektionswellen, verstärkt durch Mutanten unterschiedlicher Provenienz, die Arbeitsbedingungen erneut auf den Prüfstand stellen werden. Daher lohnt es sich, die Regelung zum Homeoffice unter beweisrechtlichem wie vor allem verfassungsrechtlichem Blickwinkel zu analysieren.

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Vgl. Schöllmann, NZA-Beil. 2019, S. 81 ff. Studie des IW vom 5. 2. 2021, zit. nach Stettes/Voigtländer, IW-Kurzbericht 6/2021, S. 2 ff.

Recht und Politik, Beiheft 10

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Anna Leisner-Egensperger

Im Sinne der Rechtssicherheit im Arbeitsverhältnis ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass das bislang weithin ungeregelte Recht des Homeoffice neuerdings normiert wurde. Denn vor der Aufnahme einer entsprechenden Verpflichtung des Arbeitgebers in die Arbeitsschutzverordnung im Januar 2021 war die diesbezügliche Reichweite des arbeitgeberischen Direktionsrechts nach dem individuellen Arbeitsvertrag, einschlägigen Kollektivverträgen oder § 106 S. 1 GewO ebenso umstritten4 wie die Frage, inwieweit der Arbeitgeber in besonderen Situationen aufgrund seiner Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB gehalten sein konnte, einer Tätigkeit im Homeoffice zuzustimmen.5 Für die teils weiten Generalklauseln sprach zwar ihre Flexibilität bei der laufenden Anpassung an neue Entwicklungen.6 Erkauft wurde diese jedoch mit fehlender Planungssicherheit für beide Seiten. Vor allem kam es aufgrund der mangelnden Bereitschaft mancher Arbeitgeber, unverbindliche Arbeitsschutzstandards einzuhalten,7 phasenweise zu hohen Kontaktzahlen im beruflichen Bereich, die sich spätestens seit der weitgehenden Schließung von Schulen im Dezember 2020 gesellschaftspolitisch nur schwer rechtfertigen ließen. Auch die Diskussion um das Vierte Bevölkerungsschutzgesetz hat gezeigt, dass schwere Grundrechtseingriffe auf umstrittener epistemischer Grundlage, zu denen insbesondere die Ausgangssperre zählt, nur dann auf hinreichende rechtspolitische Akzeptanz stoßen, wenn sie von entsprechenden Maßnahmen flankiert werden, die auch im beruflichen Bereich zur Kontaktreduktion in Innenräumen beitragen. c) Die neue Vermutungsregel § 28b Abs. 4 S. 1 IfSG begründet – in Fortführung von § 22 ArbSchG i.V.m. § 2 Abs. 4 CoronaArbSchV – im Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine besondere Vermutung: Auf der Grundlage eines infektionsschutzrechtlichen Vorsorgegrundsatzes wird unwiderleglich angenommen, dass das Risiko von Arbeitnehmern, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, die grundrechtlich relevante Schwelle des allgemeinen Lebensrisikos überschreitet. Der Gesetzgeber nimmt ferner an, dass die Gefahr für einen Arbeitnehmer, sich mit dem Coronavirus am Arbeitsplatz zu infizieren, durchgehend höher ist als sie es im Homeoffice wäre. Dies dürfte in den meisten Fällen zutreffen, allerdings nur bei Einhaltung strenger Kontaktbeschränkungen im häuslichen, insbesondere familiären Umfeld. Schließlich geht der Gesetzgeber davon aus, dass sich Büroarbeit oder vergleichbare Tätigkeiten im Homeoffice den betrieblichen Erfordernissen entsprechend erledigen lassen. In diesem Punkt ist die normative Vermutung zwar widerlegbar – allerdings nur durch zwingende betriebliche Gründe.

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Vgl. den Überblick bei Müller, Homeoffice in der arbeitsrechtlichen Praxis, 2. Aufl., 2020, §§ 1 f. Dazu BAGE 131, 325 ff.; 134, 296 ff.; LAG Rheinland-Pfalz BeckRS 2015, 66249; vgl. auch Isenhardt, DB 2016, S. 1499 ff. Diese betonen Krieger/Rudnik/Peramato, NZA 2020, S. 473 (480). Zu diesen Müller-Bonanni/Bertke, NJW 2020, S. 1617 ff. Recht und Politik, Beiheft 10

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Solche muss der Arbeitgeber der zuständigen Behörde darlegen, d. h. Auskünfte darüber erteilen und entsprechende Unterlagen dazu überlassen. Im Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer kommt es durch die neuen Vermutungsregeln zu einer ungewöhnlichen Beweislastverteilung. Nicht etwa trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen der für ihn günstigen Norm, d. h. dafür, dass ihm ein Recht auf Homeoffice zusteht. Vielmehr wird das Vorliegen der Voraussetzungen eines entsprechenden Rechts des Arbeitnehmers vermutet, und es trifft den Arbeitgeber die Beweislast dafür, dass dem zwingende betriebliche Gründe entgegenstehen. d) Gegenstand und Aufbau der Untersuchung § 28b Abs. 4 S. 1 IfSG enthält eine bereichsspezifische Beweislastumkehr, die es im Folgenden zunächst rechtsgebietsübergreifend in das System der Beweislastverteilung einzuordnen gilt (i. Folg. II.). Im Zentrum dieser Untersuchung steht dann die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer solchen Beweislastumkehr (i. Folg. III.). Anhand der dazu herausgestellten Maßstäbe ist schließlich die konkrete Verpflichtung des Arbeitgebers zu überprüfen, den Beweis für das Vorliegen dringender betrieblicher Gründe im Fall des Homeoffice anzutreten (i. Folg. IV.). Im Zentrum des vorliegenden Beitrags steht die Verpflichtung des Arbeitgebers, Homeoffice anzubieten. Ihre mit der Bundesnotbremse eingeführte Flankierung durch die Verpflichtung der Arbeitnehmer, dieses Angebot auch anzunehmen (§ 28b Abs. 4 S. 2 IfSG), soll nur in ihren Auswirkungen auf das Homeoffice-Angebot des Arbeitsgebers berücksichtigt werden. Denn auch wenn die arbeitnehmerische Verpflichtung zur Angebotsannahme bei entsprechender Medienberichterstattung dazu führen dürfte, dass insgesamt mehr Beschäftigte zuhause arbeiten, hat die Regelung des § 28b Abs. 4 S. 2 IfSG doch eher appellativen Charakter.8 Insbesondere eröffnet die einschränkende Formulierung „soweit ihrerseits keine Gründe entgegenstehen“ den Arbeitnehmern die Möglichkeit, eine Vielzahl von Gründen entgegenzuhalten. Anders als dies § 28b Abs. 4 S. 1 IfSG für den Arbeitgeber anordnet müssen solche gerade nicht „zwingend“ sein. In der Gesetzesbegründung werden als Beispiele für entgegenstehende Gründe etwa räumliche Enge, Störungen durch Dritte oder unzureichende technische Ausstattung genannt. Auch soll es danach ausreichen, dass der Arbeitnehmer entgegenstehende Gründe dem Arbeitgeber mitteilt.9 Er wird also insbesondere nicht damit rechnen müssen, dass der Arbeitgeber bei ihm zuhause vorbeischaut, um sich von einer behaupteten räumlichen Enge ein eigenes Bild zu machen.

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Überzeugend Fuhltrott, LTO v. 22. 4. 2021, http://www.lto.de/persistent/a_id/44782/ (abgerufen am 23. 4. 2021). BT-Drs. 19/28732 v. 20. 4. 2021, S. 21.

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II. Die Beweislastumkehr im System der Beweislastverteilung 1. Grundlagen der Beweislastverteilung Die Lehre der Beweislast knüpft an die Verpflichtung des Richters an, nach freier Überzeugung zu entscheiden, „ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten sei“ (§ 286 Abs. 1 S. 1 ZPO). Konnte der Richter des römischen Zivilprozesses bei unüberwindlichen Zweifeln in der Tatfrage den Eid sibi non liquere leisten und so aus dem Verfahren aussteigen,10 trifft den Richter heute in sämtlichen Fällen die Verpflichtung, in der Sache selbst zu entscheiden. Dies folgt aus dem Rechtsverweigerungsverbot des Art. 6 Abs. 1 EMRK, aber auch aus dem verfassungsrechtlich verankerten Justizgewährungsanspruch. Prozessuale Selbsthilfe ist den Bürgern verwehrt. Als Ausgleich dazu muss der Staat ihnen jedoch ein rechtsstaatliches Verfahren zur Verfügung stellen, durch das ein Streit verbindlich und durchsetzbar entschieden wird.11 Praktische Bedeutung hat die Verteilung der Beweislast für die Situation des non liquet, für den Fall also, dass alle zulässigen Beweismittel und Erkenntnisquellen ausgeschöpft sind und weitere Feststellungen nicht mehr möglich erscheinen, dabei aber einzelne Tatsachen, auf die es bei der Entscheidung ankommt, unbewiesen geblieben sind. Entscheidungserheblich ist im Fall des Homeoffice die Frage, ob sich Büroarbeit oder vergleichbare Tätigkeiten zuhause den betrieblichen Erfordernissen entsprechend erledigen lassen. Die Beweislastverteilung wird hier dann praktisch relevant, wenn eine Partei diese Frage verneint – typischerweise der Arbeitgeber – während die andere Partei, regelmäßig der Arbeitnehmer, davon ausgeht, dass er solche Aufgaben ebenso gut, d. h. den betrieblichen Erfordernissen im selben Umfang entsprechend, zuhause erfüllen kann. Dabei fasst der Begriff „Beweislast“ nach inzwischen gefestigter zivilprozessualer Dogmatik die sog. objektive Beweislast (Feststellungslast) und die subjektive Beweisführungslast zusammen.12 Materiellrechtlich entscheidend ist die Verteilung der objektiven Beweislast, d. h. die Frage, zu wessen Nachteil es geht, wenn die unterschiedliche Tatsachenvorträge von Arbeitgeber und Arbeitnehmer Unklarheit zur Frage aufkommen lassen, ob eine im Homeoffice verrichtete Arbeit betrieblichen Erfordernissen gerecht wird. Es handelt sich dabei um eine Form gesetzlicher Risikoverteilung, die nach dem Rechtsstaatsprinzip und dem Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) grundsätzlich abstrakt-generell zu erfolgen hat, also nicht etwa einer richterlichen Einzelfallentscheidung überlassen werden darf.13 Diese formelle Anforderung erfüllte bereits die Arbeitsschutzverordnung. Sie wird nun erst 10 Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozess, 1975, S. 199; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, S. 124, jeweils m.w.N. 11 Zusammenfassend BGHZ 37, 113 (120). 12 Laumen, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 4. Aufl., 2019, Band 1, Kapitel 9, Rn. 6; vgl. bereits Musielak (Fn. 10), S. 386; Prütting (Fn. 10), S. 5. 13 BVerfGE 52, 131 (147); Laumen (Fn. 12), Rn. 20. 120

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recht durch die Regelung des § 28b Abs. 4 S. 1 IfSG gewahrt, die der Beweislastverteilung im Arbeitsleben eine noch stärkere demokratische Legitimation verleiht. 2. Beweislastumkehr a) Grundlagen Eine Beweislastverteilung, die den Fall eines non liquet zur Erfüllung der betrieblichen Erfordernisse bei Tätigkeiten im Homeoffice in die Risikosphäre des Arbeitgebers legt, weicht von der zivilprozessualen Grundregel ab, dass jede Partei die Feststellungslast für die ihr günstigen Bestimmungen trägt.14 Diese auf Leo Rosenberg zurückzuführende Beweisregel15 fingiert bei einem non liquet grundsätzlich eine negative Feststellung, so dass ein auf diese Tatsachen gestütztes Recht prozessual nicht durchdringen kann.16 Günstiger ist eine Tätigkeit im Homeoffice in der Regel für die Arbeitnehmer, die ein entsprechendes Recht schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie gefordert und dafür nun neue, schlagkräftige Argumente erhalten haben.17 Nach der Rosenberg’schen Grundregel müsste daher – wenn sich nicht feststellen lässt, ob die Arbeit im Homeoffice den betrieblichen Erfordernissen genügt – die Fiktion gelten, dass dies nicht der Fall ist. Demgegenüber basiert § 28b Abs. 4 S. 1 IfSG auf dem Grundgedanken, dass sich Büroarbeit oder vergleichbare Tätigkeiten den betrieblichen Erfordernissen entsprechend ebenso gut zuhause erfüllen lassen. Ein Gegenbeweis ist zwar möglich, doch wird die subjektive Beweisführungslast dafür, dass nur ein Arbeiten im Betriebsgebäude den betrieblichen Erfordernissen genügt, dem Arbeitgeber auferlegt. Dieser muss also Auskünfte erteilen oder Unterlagen vorlegen, aus denen hervorgeht, dass die jeweilige Arbeit betrieblich sinnvoll nicht im Homeoffice erfüllt werden kann. b) Normierte Sonderregelungen zur Beweislast In Gesetzen oder Rechtsverordnungen vorgesehene Sonderregeln zur Beweislast, zu denen auch eine Umkehr derselben gehört,18 begegnen in verschiedenen Rechtsgebieten und in Bezug auf unterschiedliche Tatfragen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie jeweils eine Abweichung von der Grundregel vorsehen, dass jede Partei die objektive Beweislast zu den Voraussetzungen der für sie günstigen Norm trägt. Sie sind hier als einfachgesetzlicher Hintergrund zu skizzieren, vor dem die Regelungen zum Homeoffice dann genauer in den Blick genommen werden sollen. Eine typische Form der gesetzlichen Abweichung von der Grundregel der Beweislastverteilung sieht die Vorschrift des § 280 Abs. 1 S. 2 BGB vor, die dem Schuldner bei 14 Dazu umfassend Laumen (Fn. 12), Kapitel 3, Rn. 8 ff. 15 Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der Zivilprozessordnung, 5. Aufl., 1965, S. 5, 6, 12. 16 Zusammenfassend Reinhardt, NJW 1994, S. 93 (93). 17 Überblick bei Krieger/Rudnik/Peramato (Fn. 6), S. 474 ff. 18 Zur systematischen Einordnung für viele Prütting, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 4. Aufl., 2019, Band 1, Kapitel 25, Rn. 2 ff. Recht und Politik, Beiheft 10

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feststehender Pflichtverletzung den Beweis für sein fehlendes Verschulden auferlegt. Ähnliche Regelungen finden sich im Bürgerlichen Gesetzbuch zu verschiedenen Sachbereichen, etwa zum Vertretungsrecht (§ 179 Abs. 1 BGB), zur Sachmängelhaftung nach Gefahrübergang (§ 477 BGB), zur fristlosen Kündigung des Mietvertrags bei Zahlungsrückstand des Mieters (§ 543 Abs. 4 S. 2 BGB) oder zu ärztlichen Fehlern bei Verwirklichung allgemeiner Behandlungsrisiken (§ 630 h BGB). Außerhalb des Bürgerlichen Gesetzbuchs begegnen Sonderregelungen zur Beweislast beispielsweise im Umwelthaftungsgesetz: Nach § 6 Abs. 1 S. 1 UmweltHG wird dann, wenn eine Anlage dazu geeignet ist, den entstandenen Schaden zu verursachen, vermutet, dass er durch diese Anlage auch tatsächlich verursacht wurde. Zu einer Beweislastumkehr kommt es auch bei irreführender Werbung mit der Herabsetzung eines Preises nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb: Ist streitig, ob und in welchem Zeitraum der Preis gefordert worden ist, trifft nach § 5 Abs. 4 S. 2 UWG die Beweislast denjenigen, der mit der Preisherabsetzung geworben hat. Eine Sonderregelung der Beweislast enthält ferner für Sorgfaltspflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern die Vorschrift des § 93 Abs. 2 S. 2 AktG: Sie legt Vorstandsmitgliedern die Beweislast dafür auf, dass sie die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt haben. Gemeinsamer Grundgedanke dieser Beweislastregeln ist es, die nach der Rosenberg’schen Grundregel beweispflichtige Partei mit Blick auf ein übergeordnetes Ziel zu unterstützen. So erlegt der Gesetzgeber die objektive Beweislast insbesondere demjenigen auf, der an der Tatsachenfeststellung näher dran ist – bei der Umwelthaftung dem Anlagenbetreiber oder für Sorgfaltspflichtverletzungen den Vorstandsmitgliedern, letzteres in bedenklicher Abkehr von der Unschuldsvermutung in dubio pro reo.19 Im Fall irreführender Werbung knüpft die Beweislastumkehr an vorangegangenes gefährdendes Tun an, die aus den strafrechtlichen Unterlassungsdelikten bekannte Ingerenz.20 c) Insbesondere die Beweislastumkehr im Antidiskriminierungsrecht In der Praxis können Vorschriften zur Beweislastumkehr erhebliches Konfliktpotenzial bergen, wie insbesondere das Recht der Antidiskriminierung zeigt. Nach § 22 AGG kann eine Partei Indizien beweisen, die eine Benachteiligung wegen bestimmter, in § 1 AGG abschließend genannter Gründe vermuten lassen; dann trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat. Ob diese Regelung ihr durch europäische Richtlinien vorgegebenes Ziel erreicht, die Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen zu erleichtern und dabei zugleich andere Interessen der Betroffenen zu wahren,21 ist fraglich.22 Dies zeigt das Beispiel von Stellenausschreibungen, in denen sich vermeintliche oder tatsächliche Indizien für zumindest mittelbare Benachteiligungen leicht finden 19 Vgl. dazu BVerfGE 38, 105 (113); 56, 37 (41 ff.); 80, 109 (121 f.); Weiß, JZ 1998, S. 289 (293). 20 Vgl. dazu Rönnau, JuS 2018, S. 526 (529 f. m.w.N.). 21 Vgl. Art. 8 Abs. 1 RL 2000/43/EG, Art. 10 Abs. 1 RL 2000/78/EG und Art. 19 Abs. 1 RL 2006/54/EG. 22 Vgl. das insgesamt positive Urteil von Bauer/Krieger, NZA 2016, S. 1041 ff. 122

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lassen.23 Dadurch wird allerdings die Formulierung eines sachlich aussagekräftigen und nicht nur floskelhaften Ausschreibungstextes, der im Interesse potenzieller Bewerber das jeweilige Anforderungsprofil transparent macht, zu einem schwierigen Spagat.24 Die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte dazu ist weithin kasuistisch.25 Für rechtspolitischen Zündstoff hat jüngst die bei öffentlich-rechtlichem Handeln, insbesondere gegenüber Sicherheitsbehörden oder im staatlichen Bildungswesen noch über § 22 AGG hinausgehende26 Antidiskriminierungsvorschrift des § 7 Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) Berlin gesorgt.27 Danach genügt es für eine Beweislastumkehr zulasten der öffentlichen Stelle, dass Tatsachen glaubhaft gemacht werden, die das Vorliegen eines Verstoßes gegen ein Diskriminierungsverbot überwiegend wahrscheinlich machen.28 Wie sachlich nicht gerechtfertigte Diskriminierungsvorwürfe, etwa gegen Sicherheitskräfte oder Lehrpersonen, bei einer derartigen Absenkung der Anforderungen an ihr Vorbringen noch verhindert werden können, bleibt unerfindlich.29 d) Von der Rechtsprechung entwickelte Fallgruppen der Beweislastumkehr Neben den vorstehend erläuterten Fällen gesetzlicher Beweislastumkehr gibt es noch andere, die teils contra, mitunter auch nur praeter legem von der Rechtsprechung entwickelt wurden. Im zivilprozessualen Schrifttum wird der Begriff der Beweislastumkehr teilweise nur für diese richterrechtlich entfalteten Fallgruppen verwendet, während im Fall einer normativen Grundlage, wie sie auch bei der Homeofficepflicht gegeben ist, von einer gesetzlichen Beweislastsonderregel gesprochen wird.30 Als richterrechtliche Beweislastumkehr anerkannt ist zunächst die Fallgruppe der Produzentenhaftung, nach der seit der Hühnerpestentscheidung31 entgegen dem Wortlaut des § 823 Abs. 1 BGB der Warenhersteller den Beweis dafür erbringen muss, dass ihn im Fall von Schädigungen bei bestimmungsgemäßer Verwendung eines Industrieerzeugnisses hinsichtlich des Fehlers kein Verschulden trifft. Hier geht die Rechtsprechung davon aus, dass der Produzent „näher dran“ sei, den Sachverhalt aufzuklären und die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen, da er die Produktionssphäre

23 Vgl. dazu etwa BAG, NZA 2016, S. 625 ff. 24 Rolfs, NZA 2016, S. 586 (589). 25 Dazu etwa LAG Hamburg, NZA-RR 2010, S. 629 (630 f.); LAG München, BeckRS 2013, 66910; LAG Düsseldorf, NZA-RR 2015, S. 572 (575); LAG Baden-Württemberg, BeckRS 2016, 67158. 26 Vgl. Rackow, LKV 2020, S. 454 (455). 27 Gesetz vom 11. 6. 2020, GVBl. Berlin 2020, S. 532 ff. 28 Vgl. dazu Abgeordnetenhaus Berlin, Drs. 18/1996, S. 29 ff. 29 Rechtspolitische Diskussion unter becklink 2016509. 30 Prütting (Fn. 18), Rn. 2 m.w.N.; ders., in: Krüger u. a., Münchner Kommentar zur ZPO, 6. Aufl., 2020, § 286 ZPO, Rn. 126. 31 Grdl. BGHZ 51, 91 ff. Recht und Politik, Beiheft 10

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überblicke und den Herstellungsprozess sowie die Auslieferungskontrolle der fertigen Produkte organisiere.32 Eine Umkehr der objektiven Beweislast nahm die Rechtsprechung ferner viele Jahrzehnte lang im Bereich der Arzthaftung für die Kausalität bei groben Behandlungsfehlern an, bis diese Judikatur in § 630 h BGB überführt wurde.33 Übertragen wurde der arzthaftungsrechtliche Grundgedanke auf andere grobe Berufspflichtverletzungen, etwa im Bereich der Hebammenkunst,34 der Säuglingspflege35 oder des Schwimmunterrichts36 – in Judikaten, die allerdings teils heftig umstritten waren.37 Argumentativer Ausgangspunkt der Beweislastumkehr ist in solchen Fällen, dass die biologischen und physiologischen Reaktionsabläufe in lebendigen Organismen nicht vollständig beherrschbar sind.38 Insoweit wird es weithin als unbillig empfunden, dass der geschädigten Patienten neben seiner eigenen Körper- oder Gesundheitsverletzung und dem konkret entstandenen Schaden auch noch die Pflichtverletzung des Arztes, die Kausalität zwischen beiden, das Verschulden des Arztes und die haftungsausfüllende Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Schadenshöhe zu beweisen hat.39 Hier sind es also die Grenzen der Überschaubarkeit einer Risikosphäre, die zu einer – oftmals ergebnisorientierten – Beweislastumkehr führen. Eingeordnet werden sie in die vom BGH stereotyp verwendete Definition des groben Behandlungsfehlers, der voraussetze, dass „der Arzt einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf“.40 Weitere – im Schrifttum jeweils umstrittene – Fallgruppen einer Beweislastumkehr nimmt die Rechtsprechung bei der Verletzung von Dokumentations-, Aufklärungs- oder Beratungspflichten an.41 Hier geht es um die Verteilung von Verantwortlichkeit aus vorangegangenem pflichtwidrigem Tun – ein Gesichtspunkt, der auch bei der gesetzlichen Beweislastverteilung zur irreführenden Werbung zum Tragen kommt.

32 Vgl. Baumgärtel/Katzenmeier, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting (Hrsg.), Handbuch der Beweislast, 4. Aufl., 2019, Band 3, § 823 Anh III Rn. 13 ff. 33 BT-Drs. 17/10488, S. 27; Spickhoff, in: ders. (Hrsg.), Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, § 630 h BGB, Rn. 1. 34 OLG Braunschweig VersR 1987, S. 76 (77); einschränkend BGHZ 144, 296 (302 ff.). 35 Vgl. BGH, NJW 1971, S. 241 (243). 36 BGH, NJW 2018, S. 301 ff.; zustimmend Koch/Rupp, NJW 2018, S. 267 ff.; kritisch Laumen, MDR 2018, S. 256 f. 37 Vgl. etwa Gottwald, Jura 1980, S. 303 (305); Mäsch, JuS 2013, S. 1130 (1132), Laumen, MDR 2017, S. 797 (798 ff.). 38 BGH, NJW 1980, S. 1333 ff.; BGH, NJW 1991, S. 1540 (1541); BGH, NJW 2011, 1674; Spindler/Rieckers, JuS 2004, S. 272 (273). 39 Prütting (Fn. 18), Rn. 25. 40 BGH, NJW 1983, S. 2080 (2081); BGHZ 138, 1 (6); BGH, NJW 2016, S. 563 ff. 41 Rechtsprechungs- und Literaturüberblick bei Baumgärtel/Katzenmeier (Fn. 32), § 823 Anh II, Rn. 52 ff. 124

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e) Die Homeofficeregelung im System der Beweislastumkehr Sowohl bei der gesetzlichen als auch bei der richterrechtlich entwickelten Beweislastverteilung können gemeinsame, auf die Homeoffice-Problematik übertragbare Grundgedanken nur bei typisierender Vernachlässigung von mitunter entscheidungserheblichen Sachverhaltsspezifika ausgemacht werden. Als übergeordneten Gesichtspunkt für abweichende Beweislastregeln im Schadensersatzprozess sieht es das BVerfG an, dass „die Schadensursache aus dem Gefahrenbereich des Schädigers entsprungen ist und der Geschädigte sich typischerweise in einem Beweisnotstand befindet, während der mögliche Schädiger typischerweise den Beweis dafür führen kann, daß der Tatbestand der haftungsbegründenden Norm nicht vorliege“.42 Unter Einbezug weiterer Sachbereiche jenseits des Schadensersatzrechts lassen sich aus den gesetzlichen und richterrechtlichen Beweislastregelungen folgende vier Kriterien herausstellen, die für die Annahme einer Beweislastumkehr bislang teils isoliert, mitunter aber auch in Verbindung mit anderen herangezogen wurden: Abgrenzung nach Risikosphären („Näher-dran-Prinzip“), Unterstützung der jeweils strukturell unterlegenen Partei, Hilfe in Fällen faktischen Beweisnotstands und Ingerenz, d. h. vorangegangenes, gefährdendes Tun. Wendet man diese Kriterien auf Tätigkeiten im Homeoffice an, so lässt sich daraus rechtspolitisch eine Beweislastverteilung konstruieren, die der jetzt angeordneten entspricht; argumentativ ebenso möglich wäre jedoch die Beibehaltung der Grundregel zur Beweislast. Denn die betrieblichen Erfordernisse im Zusammenhang einer arbeitsrechtlichen Weisung, die seinem Direktionsrecht unterfällt, überblickt der Arbeitgeber besser als der Arbeitnehmer. Alternativ lässt sich aber der Fokus auf die häusliche Leistungsfähigkeit legen, die der Arbeitnehmer sachgerechter einzuschätzen vermag als der Arbeitgeber. Dies spräche dafür, dem Arbeitnehmer sowohl die objektive Beweislast als auch die subjektive Beweisführungspflicht dafür aufzuerlegen, dass er im Homeoffice den betrieblichen Erfordernissen entsprechend arbeitet. Andererseits lässt sich der Gesichtspunkt struktureller Unterlegenheit für eine Beweislastumkehr zulasten des Arbeitgebers anführen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die Beweislastverteilung nach § 28b Abs. 4 S. 1 IfSG argumentativ in die bisher anerkannten Fallgruppen gesetzlicher und richterrechtlicher Beweislastumkehr einordnen lässt. Allerdings sind diese derart kasuistisch, dass sie keine Grundlage für ein kongruentes System der Beweislastumkehr abgeben. Demnach gibt es auch keinen Grundgedanken der Systemgerechtigkeit der Beweislastumkehr, anhand dessen sich die arbeitsrechtliche Homeofficeregelung messen ließe.43

42 BVerfGE 52, 131 (145). 43 BVerfGE 60, 16 (43); vgl. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Systembindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 10 ff.; Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 26 ff.; Dieterich, Systemgerechtigkeit und Kohärenz, 2014, S. 185 ff. Recht und Politik, Beiheft 10

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III. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Beweislastumkehr 1. Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR a) Grundsatzbeschluss des BVerfG zum Arzthaftungsrecht Regelungen zur Beweislast berühren immer das Verfassungsrecht. In einem Beschluss zum Arzthaftungsrecht auf dem Jahr 1979 sah das BVerfG „grundsätzliche Waffengleichheit im Prozeß und gleichmäßige Verteilung des Risikos am Verfahrensausgang“ als „verfassungsrechtlich gebotene Erfordernisse des Gleichheitssatzes […] wie auch des Rechtsstaatsprinzips“ an.44 Mit seinem Ziel der „Erlangung und Erhaltung materieller Gerechtigkeit im staatlichen und staatlich beeinflußbaren Bereich“ erstrecke sich das Rechtsstaatsprinzip auch auf den Zivilprozess und das Zivilverfahren, in dem der Richter „für ein gehöriges, faires Verfahren Sorge zu tragen habe“.45 Hierzu zähle „eine grundsätzlich faire Handhabung des Beweisrechts, insbesondere der Beweislastregeln, die als Entscheidungsnormen im Schnittpunkt von sachlichem und Verfahrensrecht“ stünden.46 Dem würden zwar die von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft entwickelten Regeln über die Beweislastverteilung „in aller Regel gerecht“. Doch müsse der Richter die Auswirkungen beweisrechtlicher Teilerkenntnisse auf die Gesamtentscheidung berücksichtigen47 und die Zumutbarkeit der Beweislastverteilung im Einzelfall überprüfen.48 Mit Blick auf die Ausgestaltung des Zivilprozessrechts übt sich das Bundesverfassungsgericht jedoch in Zurückhaltung: „Waffengleichheit als Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes“ bedeute zivilprozessual „die verfassungsrechtlich gewährleistete Gleichwertigkeit der prozessualen Situation der Parteien vor dem Richter“. Demnach sei es Aufgabe des Richters, die Gleichstellung der Parteien zu wahren: „durch eine objektive, faire Verhandlungsführung, durch unvoreingenommene Bereitschaft zur Verwertung und Bewertung des gegenseitigen Vorbringens, durch unparteiische Rechtsanwendung und durch korrekte Erfüllung seiner sonstigen prozessualen Obliegenheiten gegenüber den Prozeßbeteiligten“.49 Darüber hinaus ließen sich aus der „prozessualen ,Waffengleichheit‘ für das zivilprozeßrechtliche Erkenntnisverfahren mit seiner von der jeweiligen Beweislage und den geltenden Beweisregeln abhängigen Verteilung des Risikos am Verfahrensausgang keine verfassungsrechtlichen Folgerungen herleiten“. Dies betonte das Bundesverfassungsgericht

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BVerfGE 52, 131 (145). BVerfGE 52, 131 (145), unter Verweis auf BVerfGE 49, 220 (225). BVerfGE 52, 131 (145). BVerfGE 52, 131 (145). BVerfGE 52, 131 (147). BVerfGE 52, 131 (157 f.), unter Verweis auf BVerfGE 21, 139 (145 f.). Recht und Politik, Beiheft 10

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unter Verweis auf das zivilprozessuale Schrifttum,50 das damals unter Verweis auf die bloße „Rahmenfunktion der Verfassung“ das Prozessrecht „gegen übertriebene verfassungsrichterliche Konkretisierungen“ abzuschirmen suchte.51 b) Weitere Entscheidungen des BVerfG zur Beweislastverteilung In späteren Judikaten setzte das Bundesverfassungsgericht die im Arzthaftungsbeschluss vorgezeichnete Rechtsprechungslinie fort. Zur zivilverfahrensrechtlichen Verwertung von Zeugenaussagen, die auf dem rechtswidrigen Mithören von Telefongesprächen Dritter beruhten, folgerte es im Jahr 2002 aus dem Rechtsstaatsprinzip „die Verpflichtung zu einer fairen Handhabung des Beweisrechts, insbesondere der Beweislastregeln“.52 Dem aktualisierten Stand der verfassungsrechtlichen Dogmatik entsprechend stellte das Gericht zugleich klar, dass sich auch aus den materiellen Grundrechten wie Art. 2 Abs. 1 GG Anforderungen an das gerichtliche Verfahren ergeben könnten.53 In einem Kammerbeschluss aus dem Jahr 2005 entnahm das BVerfG dem Prozessgrundrecht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren, dessen Wurzeln in der freiheitssichernden Funktion der Grundrechte lägen, Mindestanforderungen für eine Verfahrensregelung, die eine zuverlässige Wahrheitsforschung im prozessualen Hauptverfahren sicherstellten. Auch hier betonte das Gericht jedoch die Notwendigkeit der „Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten“.54 Im Jahr 2007 stellte das BVerfG schließlich – soweit ersichtlich zuletzt – die richterliche Verpflichtung zu einer fairen Handhabung der Beweislastregeln heraus. Dies erfolgte im Zusammenhang des Verfassungsverbots der Verwertung heimlich eingeholter genetischer Abstammungsgutachten.55 c) Rechtsprechung des EGMR Parallel zum BVerfG folgert der EGMR aus den Grundsätzen eines fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 EMRK, dass etwaige Schwierigkeiten, die der Verteidigung durch eine Einschränkung ihrer Rechte entstehen, in dem gerichtlichen Verfahren hinreichend ausgeglichen werden.56 Eine übermäßige Einschränkung der Verteidigungsrechte nahm der EGMR beispielsweise 2001 im Fall der Verurteilung eines Musiklehrers wegen sexuellen Missbrauchs einer Schülerin an, die weder im Ermittlungsverfahren noch in der Hauptverhandlung unmittelbar hatte befragt werden können.57

50 Zitiert werden Steffen und Weissauer im Sitzungsbericht I zum 52. Deutschen Juristentag 1978, S. 23 ff., 35 ff.; Stürner, NJW 1979, S. 1225 ff.; Laufs, NJW 1979, S. 1232 f. 51 Besonders deutlich Stürner (Fn. 50), S. 1234. 52 BVerfGE 106, 28 (48), unter Verweis auf BVerfGE 52, 131 (145). 53 BVerfGE 106, 28 (48), unter Verweis auf BVerfGE 101, 106 (122). 54 BVerfG, NJW 2005, S. 1175 (1175). 55 BVerfGE 117, 202 (240), unter Verweis auf BVerfGE 52, 131 (145). 56 EGMR, NJW 2003, S. 2893 (2894). 57 EGMR, NJW 2003, S. 2893 (2894) unter Verweis auf EGMR, Slg. 1997-III, S. 712 Nr. 76. Recht und Politik, Beiheft 10

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Zusammenfassend sehen es BVerfG wie EGMR als Aufgabe der Gerichte an, für ein faires, dem Gebot der Waffengleichheit entsprechendes Verfahren zu sorgen – durch eine faire Handhabung des Beweisrechts, insbesondere der Beweislastregeln. Verfassungsrechtliche Folgerungen für die Ausgestaltung des Beweisrechts selbst lehnt die Rechtsprechung hingegen ausdrücklich ab. 2. Verfassungsrechtliches Schrifttum – eigene Stellungnahme a) Überblick zum Forschungsstand Bei der Sichtung des Schrifttums fällt auf, dass die Dogmatik des Zivilprozessrechts – abgesehen von einer punktuellen Rezeption des Arzthaftungsbeschlusses des BVerfG aus dem Jahr 197958 – zum Verfassungsrecht wenig beiträgt.59 Insbesondere finden sich in der aktuellen Auflage des von Gottfried Baumgärtel, Hans-Willi Laumen und Hanns Prütting herausgegebenen und von den beiden letzteren bearbeiteten Handbuchs der Beweislast aus dem Jahr 2019, das immerhin drei Bände mit jeweils etwa 600 Seiten umfasst, keinerlei Ausführungen zur materiellen Verfassungskonformität des einfachgesetzlichen oder richterrechtlichen Beweisrechts. Einen Brückenschlag zum Grundgesetz unternimmt aus zivilprozessualer Sicht – soweit ersichtlich als einzige – Sabine Schlemmer-Schulte in ihrer Monographie „Beweislast und Grundgesetz“ aus dem Jahr 1997.60 Auch in den Schriften von Vertretern des Verfassungsrechts spielen Fragen der Beweislastverteilung bislang eine deutlich untergeordnete Rolle.61 Zwei Aufsätze aus den Jahren 1994 und 1995 von Michael Reinhardt bzw. Stefan Huster greifen zwar das hier behandelte Problem grundsätzlich auf.62 Im Übrigen beschränkt sich aber das Schrifttum zum Grundgesetz – wie so oft63 – auf die Darstellung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. b) Sachbereichsübergreifende Verfassungsgrenzen der Beweislastumkehr? Generelle verfassungsrechtliche Grenzen werden einer einfachgesetzlichen Beweislastumkehr bislang lediglich von Michael Reinhardt und Sabine Schlemmer-Schulte gezogen. In den Beweislastregeln sieht Reinhardt eine „Nebenordnung“, die immer dann zum Zuge komme, wenn auf Grund der Unaufklärbarkeit des Sachverhalts das einschlägige materielle Recht nicht unmittelbar angewendet werden könne.64 Da diese Nebenordnung im Fall des non liquet an die Stelle der rechtlichen Sachentscheidung trete, müsse 58 Stürner (Fn. 50), S. 1225 ff.; Laufs (Fn. 50), S. 1232 f. 59 Immerhin allgemeine Ausführungen zum Rechtsschutzanspruch bei Karwacki, Der Anspruch der Parteien auf einen fairen Zivilprozeß, 1984, S. 9 ff. 60 Schlemmer-Schulte, Beweislast und Grundgesetz: eine verfassungsrechtliche Untersuchung zur zivilprozessualen Beweislast im Haftungsrecht, 1997. 61 Vgl. allerdings Tettinger, Fairneß und Waffengleichheit, 1984, S. 5 ff. 62 Reinhardt (Fn. 16), S. 93 ff.; Huster, NJW 1995, S. 112 f. 63 Vgl. bereits die Grundsatzkritik bei Schlink, Der Staat (28) 1989, S. 161 ff. 64 Reinhardt (Fn. 16), S. 93. 128

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sie einer ebenso strengen verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten wie diese. Hiervon ausgehend entfaltet Reinhardt aus dem Gebot des fairen Verfahrens, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dem Anspruch auf rechtliches Gehör, dem Grundsatz prozessualer Waffengleichheit und den Freiheitsrechten einen allgemeingültigen Anforderungskatalog für eine Beweislastumkehr. Sachgebietsübergreifend und ohne Rücksicht auf den Einzelfall hält er eine solche nur dann für verhältnismäßig, „wenn die Anwendung der Grundregel der Beweislast zu schwerwiegenden und sozial unerträglichen Ergebnissen führen würde“.65 Einen ähnlichen Ansatz legt Sabine SchlemmerSchulte ihrer Monographie „Beweislast und Grundgesetz“ zugrunde. Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör, dem Rechtsschutzanspruch, dem Anspruch auf Zugang zum Gericht, dem Gebot eines effektiven und fairen Gerichtsverfahrens, dem Willkürverbot und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz66 folgert sie, „dass von der regelmäßigen Beweislastverteilung auszugehen“ und Ausnahmen nur dann zuzulassen seien, wenn ansonsten „schwerwiegende und sozial unerträgliche Ergebnisse“ zu erwarten wären.67 Auf die Beweislastumkehr im Fall des Homeoffice angewandt müsste das Vorliegen der von Reinhardt und Schlemmer-Schulte aufgestellten Voraussetzung verneint werden. Denn als pauschal sozial unerträglich kann es wohl nicht angesehen werden, dem Arbeitnehmer den Nachweis aufzuerlegen, dass er auch zuhause den betrieblichen Erfordernissen entsprechend arbeitet. Doch ist nicht einsichtig, weshalb gerade die Grundregel der Beweisverteilung Verfassungsrang genießen soll, während Abweichungen von ihr nur in engen Grenzen anzuerkennen sind. Vielmehr hat das Verfassungsrecht, wie das BVerfG betont, lediglich die Aufgabe, ein faires Verfahren zu gewährleisten.68 Die Beweislastregeln sind nur Hilfsmittel, um dieses Ziel zu erreichen.69 Mangels generellen verfassungsrechtlichen Vorrangs der beweisrechtlichen Grundregel kann es daher keine allgemeingültigen Anforderungen an eine Beweislastumkehr geben. c) Abschließende Ausgestaltung der einfachgesetzlichen Beweislastverteilung? Die Gegenposition zum strengen Anforderungskatalog von Reinhardt und SchlemmerSchulte stellt die im verfassungsrechtlichen Schrifttum verbreitete Auffassung dar, die rechtsstaatlichen Anforderungen an Organisation und Verfahren seien in Verfassungsrecht wie einfachem Recht schon derart ausführlich geregelt, dass sich zusätzliche, weitergehende verfassungsrechtliche Anforderungen kaum ableiten ließen.70 Diese 65 66 67 68 69 70

Reinhardt (Fn. 16), S. 99. Schlemmer-Schulte (Fn. 60), S. 87 ff. Schlemmer-Schulte (Fn. 60), S. 96. BVerfGE 52, 131 (145); 106, 28 (48); 117, 202 (240). Klarsichtig Huster (Fn. 62), S. 112. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (Stand 2020), Rn. 130; ähnlich bereits Huster (Fn. 62), S. 113.

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Ansicht kann zwar auf die bundesverfassungsgerichtliche Zurückhaltung bei der Annahme verfassungsrechtlicher Folgerungen für das Beweisrecht71 verweisen. Doch lässt es sich verfassungsrechtlich nicht begründen, dass die einfachgesetzlichen Beweislastregeln, die ja immerhin Hilfsmittel zur Verwirklichung des Rechts auf ein faires Verfahren sind, nicht ihrerseits umfassend am Maßstab des Verfassungsrechts sollen überprüft werden können. Insbesondere bildet die Ausführlichkeit der einfachgesetzlichen Regelungen zur Beweislast keine Sperre für ihre verfassungsrechtliche Überprüfung. d) Erfordernis sachbereichsspezifischer Grundrechtsprüfung Eine sachgerechte Bestimmung des Prüfungsmaßstabs von Beweislastregeln muss in Abhängigkeit vom jeweiligen Untersuchungsgegenstand erfolgen. Geht es in einem vorprozessualen Stadium oder losgelöst von einer Prozesssituation um die Beurteilung der materiellen Verfassungsmäßigkeit einer Beweislastregel, so ist zu untersuchen, welche konkrete Eingriffsintensität ihre Anwendung entfaltet, und ob sich diese am Maßstab des berührten Grundrechts verfassungskonform rechtfertigen lässt. Im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde stellt sich hingegen die Frage, ob die jeweilige Beweislastregel durch das Gericht fair gehandhabt wurde.72 Maßstab ist insoweit das Recht auf ein faires Verfahren, das aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den bereichsspezifisch einschlägigen Grundrechten abzuleiten ist.73 Zum Tragen kommt es dort, wo spezielle grundgesetzliche Verfahrensgewährleistungen fehlen,74 insbesondere vor den Zivil- und Strafgerichten,75 aber auch vor den Arbeitsgerichten.76 In seinem materiellen Gehalt bedarf das Recht auf ein faires Verfahren der Konkretisierung nach den sachlichen Gegebenheiten.77 Nach der Rechtsprechung des BVerfG und den darin einfließenden Wertungen des EGMR verlangt dieses Recht nicht nur die Möglichkeit, Einfluss auf das Verfahren und dessen Ergebnis zu nehmen.78 Vielmehr ist hierbei auch das rechtsstaatliche Gebot der Unparteilichkeit und insbesondere der fehlenden Befangenheit der handelnden Amtsträger zu wahren.79 Im Rahmen dieses Beitrags ist die Beweislastregel zum Homeoffice losgelöst von einem konkreten prozessualen Zusammenhang verfassungsrechtlich zu beurteilen. Dies hat nicht anhand eines abstrakten Anforderungskatalogs zu erfolgen, wie ihn Michael

71 72 73 74 75 76 77 78 79 130

BVerfGE 52, 131 (157). So auch Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, 3. Aufl., 2015, Art. 20, Rn. 216. BVerfGE 109, 13 (34); 110, 339 (342); 113, 29 (47). BVerfGE 109, 13 (34); dazu Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl., 2020, Rn. 42. Vgl. BVerfGE 52, 131 (144); 69, 248 (254). BAGE 126, 137 (142). BVerfGE 57, 250 (274). BVerfGE 101, 397 (405); EGMR, NJW 2003, S. 2893 (2894). Vgl. BVerfGE 123, 148 (179 f.). Recht und Politik, Beiheft 10

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Reinhardt und Sabine Schlemmer-Schulte entwickelt haben, sondern allein am Maßstab des konkret einschlägigen Freiheitsrechts.80

IV. Grundgesetzkonformität der Beweislastverteilung im Fall des Homeoffice Die Verpflichtung des Arbeitgebers, zu seinen jeweiligen betrieblichen Erfordernissen Auskünfte zu erteilen und Unterlagen vorzulegen, stellt in Verbindung mit der daran geknüpften objektiven Beweislastumkehr einen schwerwiegenden Eingriff in seine Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG dar. Denn es gehört zum Kernbestand der Freiheit des Arbeitgebers, im Rahmen seiner arbeitsrechtlichen Vertragsfreiheit im Zusammenwirken mit den Beschäftigten den Ort der Arbeitsleistung zu bestimmen.81 Soweit das Individualarbeitsrecht auf den Inhalt dieser Vereinbarung einwirkt, muss es so gestaltet sein, „dass die Grundrechte der Parteien in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden“.82 Durch die Beweislastumkehr zum Homeoffice wird der Arbeitgeber gegenüber dem Staat aber in die Position eines Bittstellers gezwungen, die ihm überdies organisatorischen und damit zugleich finanziellen Aufwand verursacht. Zu einer noch weitergehenden, faktischen Beschränkung seiner Direktionsrechte kommt es durch die neuerliche Einführung der Verpflichtung des Arbeitnehmers, sein Angebot zum Homeoffice anzunehmen. Denn das Zusammenwirken beider Verpflichtungen erzeugt betriebsintern und in der Öffentlichkeit einen starken Druck dahingehend, Kontakte im betrieblichen Bereich soweit irgend möglich zu reduzieren. Verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist ein solcher Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit nur dann, wenn er durch sachgerechte, vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls gefordert ist.83 In der gegenwärtigen Phase der Pandemie dient die Beweislastumkehr zulasten des Arbeitgebers dem Schutz von Leben und Gesundheit der Beschäftigten (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Zur Verwirklichung dieses höchstrangigen Verfassungsziels hat der Gesetzgeber einen weiten Einschätzungs- Wertungs- und Gestaltungsspielraum, der nur in beschränktem Maße gerichtlich überprüft werden kann.84 Nach dem BVerfG hängt es von vielen Faktoren ab, „was konkret zu tun ist, um Grundrechtsschutz zu gewährleisten“, „im Besonderen von der Eigenart des Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der hier betroffenen Rechtsgüter“.85 Im Rahmen der verfassungsrechtlich vorgegebenen Verhältnismäßig-

80 So im Ergebnis auch Huster (Fn. 62), S. 113. 81 Grdl. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12 (Stand 2020), Rn. 94; vgl. dazu auch Jarass (Fn. 74), Rn. 79. 82 BVerfGE 149, 126 (142). 83 BVerfGE 7, 377 (404 ff.). 84 BVerfG, NStZ-RR 2021, 19 (20); vgl. bereits BVerfG, NJW 2020, 2327 (2327 ff.). 85 BVerfG, NJW 2020, 905 (909). Recht und Politik, Beiheft 10

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keitsprüfung86 ist es nach diesen Maßstäben als grundsätzlich erforderlich anzusehen, dass Arbeitnehmer Büroarbeiten und ähnliche Tätigkeit im Homeoffice verrichten können, soweit der Arbeitgeber nicht den Nachweis erbringt, dass dringende betriebliche Erfordernisse entgegenstehen. Denn nur durch diese Beweislastumkehr lässt sich sicherstellen, dass der Arbeitgeber sein Direktionsrecht in Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht87 ausübt. Zwar hätte von gewissenhaft fürsorgenden Arbeitgebern erwartet werden dürfen, dass sie sich an Arbeitsschutzstandards auch dann halten, wenn sie für ihre Unternehmen nicht verbindlich sind, nicht zuletzt in Anbetracht ihrer dabei nicht unerheblichen Haftungsrisiken.88 Allerdings hatte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales immerhin schon am 16. 4. 2020 in praktischen Handlungsempfehlungen die Ausführung von Büroarbeiten im Homeoffice empfohlen.89 Dies war gegenüber der staatlichen Anordnung einer arbeitgeberischen Verpflichtung, Homeoffice anzubieten, ein milderes Mittel, wurde in der arbeitsrechtlichen Praxis dann aber zu wenig beachtet. Ähnlich wie bei der tatsächlichen Verwirklichung der Gleichberechtigung durch Frauenquoten gibt es daher auch im Fall des Homeoffice zur effektiven Zielverwirklichung gegenwärtig kein milderes Mittel als die inzwischen normativ verwirklichte Lösung. Eine besondere staatliche Verpflichtung dazu, Leben und Gesundheit der Bürger sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems zu schützen, ist anzunehmen, solange eine epidemische Lage von nationaler Tragweite i.S.d. § 5 Abs. 1 IfSG besteht. Hierzu stehen den zuständigen Behörden in Abhängigkeit von der Erreichung bestimmter Schwellenwerte nach § 28a Abs. 3 IfSG umfangreiche Schutzmaßnahmen zu Gebote.90 Für die Grundrechtsabwägung, die zur staatlich angeordneten Beweislastumkehr zulasten des Arbeitgebers im Rahmen des § 28b Abs. 4 S. 1 IfSG stattzufinden hat, können keine anderen Wertungen angelegt werden als bei der Einschränkung von Freiheitsrechten. Was die Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Inzidenzen unter 100 betrifft, so besteht zwar auch insoweit ein weiter politischer Gestaltungsspielraum.91 Doch ließe sich die immerhin erhebliche Einschränkung der Berufsfreiheit des Arbeitgebers, wie sie gegenwärtig durch die Beweislastumkehr stattfindet, bei einer deutlichen Unterschreitung des regionalspezifischen Schwellenwerts von 35 auf der Grundlage der jetzigen Regelung des § 28a Abs. 3 IfSG nicht mehr pauschal rechtfertigen.92 Denn die Beweislastumkehr ist Teil eines staatlichen Gesamtpakets an Schutzmaßnahmen, des86 Dazu Wieland, in: Dreier, GG, 3. Aufl., 2013, Art. 12, Rn. 94. 87 Aus §§ 3, 4 ArbSchG, § 618 Abs. 1 BGB, § 241 Abs. 2 BGB; umfassend dazu Müller (Fn. 4), § 3, Rn. 343 ff. 88 Vgl. dazu Joussen, in: Rolfs u. a., BeckOK Arbeitsrecht, § 618 BGB, Einleitung, Rn. 1 ff. 89 Überblick zu den Arbeitsschutzstandards Covid 19 bei Müller-Bonanni/Bertke (Fn. 7), S. 1617 ff. 90 Zu deren Weiterentwicklung vgl. Leisner-Egensperger, Stellungnahme, Ausschussdrs. 19(14) 288(9), S. 32 ff. 91 Überblick bei Jarass (Fn. 74), Rn. 79 ff. 92 Dazu OVG Lüneburg, BeckRS 2021, 1863, Rn. 13, 15. 132

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sen einzelne Regelungselemente in ihrer Wechselbezüglichkeit einer gleichheitsrechtlichen Überprüfung standhalten müssen. Für die Arbeitgeber besteht damit eine verfassungsrechtlich begründete Hoffnung, dass die gegenwärtige Beweislastumkehr bei deutlich niedrigeren Inzidenzen nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Immerhin ist die Regelung zur Beweislastverteilung nach § 28 Abs. 10 IfSG auf die Dauer der epidemischen Lage nationaler Tragweite beschränkt und gilt längstens bis Ablauf des 30. Juni 2021. Diese verfassungsrechtlich notwendige Befristung verschafft den Arbeitgebern hinreichende Planungssicherheit. Für die Verhältnismäßigkeit des im Grundsatz erheblichen Eingriffs in die Berufsausübungsfreiheit spricht schließlich, dass auch nach der Neuregelung des § 28b Abs. 4 S. 1 IfSG den Unternehmen keine Bußgelder drohen, wenn sie gegen ihre Verpflichtung verstoßen, Homeoffice anzubieten. Unter rechtspolitischem wie auch verfassungsrechtlichem Blickwinkel ist allerdings auf folgendes hinzuweisen: Auch nach Beendigung der epidemischen Lage i.S.d. § 5 Abs. 1 IfSG sollten Arbeitnehmer die Möglichkeit erhalten, Arbeiten, die ihrer Art nach an beliebigen Orten erbracht werden können,93 in deutlich größerem Maße als vor Ausbruch der Pandemie im Homeoffice zu erledigen. Denn in vielen Fällen steigert diese Option die Mitarbeiterzufriedenheit und damit letztlich die Effizienz der Arbeit.94 Verfassungsrechtlich betrachtet ist insbesondere das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) als grundgesetzliches Schutzgut in größerem Maße zu respektieren als dies in vielen Betrieben bisher geschieht. Hinter einem nachvollziehbar begründeten Wunsch von Eltern, ihrer erzieherischen Verantwortung nachzukommen, haben betriebliche Erfordernisse zwingend zurückzutreten – und zwar auch dann, wenn ihre Kinder das zwölfte Lebensjahr vollendet haben.95 Die anderslautende arbeitsgerichtliche Rechtsprechung96 lässt sich weder mit der Familiengestaltungsfreiheit des Art. 6 Abs. 1 GG noch mit dem diese konkretisierenden Elternrecht vereinbaren.97

V. Fazit Die in § 28b Abs. 4 S. 1 IfSG vorgesehene Beweislastumkehr zulasten des Arbeitgebers ist nicht per se verfassungswidrig. Als Hilfsmaßnahme zur Verwirklichung eines fairen Verfahrens muss sie jedoch einer verfassungsrechtlichen Überprüfung anhand der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG standhalten. Solange den Staat eine in der pandemischen Lage gesteigerte, akute Schutzpflicht für Leben und Gesundheit der Bürger 93 94 95 96

Fuhlrott/Fischer, NZA 2020, S. 345 (349). Eingehend dazu Müller (Fn. 4), § 1, Rn. 6. § 45 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 1 SGB V regelt nur den Anspruch auf Krankengeld. LAG Rheinland-Pfalz, BeckRS 2015, 66249; ähnlich zu Sozialplänen BAGE 124, 335 (340 ff.). 97 Dazu Leisner-Egensperger, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar GG, Art. 6 Abs. 1 (Stand 2020), Rn. 236.

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trifft, lässt sich die Beweislastumkehr verfassungsrechtlich rechtfertigen. Die Beweislastverteilung im Arbeitsleben unterliegt jedoch einer strikten normativen Beobachtungspflicht, die sich am Schutzkonzept des § 28a Abs. 3 IfSG zu orientieren hat.

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Datenschutz in Zeiten der Coronabekämpfung – zum Umgang mit dem Impfstatus* Von Felix Hermonies Die Corona-Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung entwickeln sich weiter. Zu Beginn des Ausbruchs lag die Aufmerksamkeit zunächst auf Ermittlung der Verbreitung und Verhinderung des Ausbreitungsgeschehens, indem bspw. Bewegungen von Infizierten (auch digital) nachverfolgt werden sollten1. Im weiteren Verlauf wurde mit der Anwendung der sog. 2-/3-Regeln die Hoffnung verbunden, die Ausbreitung einschränken zu können, wenn Menschen, die aufgrund eines vermuteten erhöhten Ansteckungsrisikos (Nicht-Getestet, -Geimpft, -Genesen), daran gehindert werden, am gesellschaftlichen Leben bzw. Ansammlungen teilzunehmen.2 Seit der Entwicklung von Impfstoffen verlagert sich das Interesse verstärkt darauf, möglichst viele mehrfach zu impfen. Wenn eine hohe Anzahl an Geimpften erreicht wird, sollen das Pandemiegeschehen als kontrolliert gelten und insbesondere auch weitere übermäßige Krankenhausbelegungen unwahrscheinlich werden.3 Zwar bleibt die Beobachtung der Verbreitung des Virus nach wie vor eine der Hauptaufgaben bei der Bekämpfung, aber auch die Frage, wie Nicht-Geimpfte zur Impfung bewegt werden können, wird allgemein diskutiert. Angesichts einer verbreiteten Impfskepsis oder auch -gegnerschaft werden hier inzwischen unterschiedliche Maßnahmen diskutiert, die von drängenden Angeboten („Nudging“4) bis hin zu einem Vorgehen mit Zwang („Impfpflicht“) reichen. In der Diskussion über die Umsetzung * 1

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Zuerst in: RuP 2/2022, S. 189 – 194. Zu der technischen Umsetzung und den rechtlichen Problemen beim Nachvollziehen und Unterbrechen von Infektionsketten durch Tracking Hamann, „Zwangstracking“ – Ein rechtliches No-Go?, RuP 2020, 133 ff. S. a. Kühling/Schildbach, Corona-Apps – Daten- und Grundrechtsschutz in Krisenzeiten NJW 2020, 1545 ff. Zum Fall der Verwertung der Daten für staatsanwaltschaftliche Ermittlungen von Straftaten, https://www.datenschutz.rlp.de/de/ aktuelles/detail/news/detail/News/nach-erhebung-und-nutzung-von-kontaktdaten-aus-derluca-app-durch-die-staatsanwaltschaft-datenschu/, abgerufen am 14. 04. 2022. Dazu Zeyher, Nutzung digital erfasster Kontaktdaten zur Strafverfolgung, ZD 2022, 198 ff. S. a. VerfGH des Saarlandes, Beschluss vom 28. 08. 2020 – Lv 15/20, ZD 2021, 35. Huller, „Digitaler Impfnachweis“, NVwZ 2021, 775. Boehme-Neßler, Auf dem Weg zur Herdenimmunität? NVwZ 2021, 1241. Kruse/Maturana, Nudging COVID-19: Die sanfte Alternative zum infektionsrechtlichen Zwang, NVwZ 2021, 1669.

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Duncker & Humblot, Berlin

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der Schritte wird deutlich, dass dann jedenfalls Nicht-Geimpfte ermittelt werden müssen, um ihnen gegenüber die Maßnahmen adressieren und anwenden zu können. Das führt zu der Frage, welche datenschutzrechtliche Rahmenbedingungen beachtet werden müssen und ob sich gegebenenfalls gesetzgeberische oder organisatorische Handlungsnotwendigkeiten ergeben. Insgesamt wird aber deutlich, dass bei der Verfolgung der Ziele der Impfstatus zunächst in Erfahrung gebracht werden und dann als Grundlage für das weitere Vorgehen dienen soll. Im Folgenden soll auf tatsächliche und rechtliche Probleme beim aktuellen und diskutierten Umgang mit dem Impfstatus eingegangen werden.

I. Der Impfstatus und seine Zertifizierung Während früher bspw. im Zusammenhang mit Impfungen gegen Masern oder Röteln der Impfstatus im gelben Heft oder bei den impfenden Ärztinnen und Ärzten zu ermitteln war, ist aufgrund der inzwischen eingesetzten Techniken wie den Smartphone-Apps das digitale Impfzertifikat verbreitet, aus dem sich diese Information einfach ablesen bzw. das Vorliegen bestätigen lässt. So wurde es dann zur Verhinderung der Verbreitung u. a. erforderlich gemacht, dass in der jeweiligen Zugangssituation, bspw. zu einer Gaststätte, ins Kino oder zu anderen Versammlungen, die Einhaltung auch zu kontrollieren. Dazu musste demnach der Umstand der Impfung, Testung oder Genesung geprüft werden. Zu diesem Zweck wurden Apps entwickelt, die die Informationen auf dem Smartphone von Betroffenen überprüfbar machen („CovPassApp“), und solche, mit denen Prüfende die Prüfung vornehmen können („CovPassCheck-App“). Eine weitere Verarbeitung, Speicherung o. Ä. ist danach nicht vorgesehen oder möglich.5 Datenschutzrechtlich ist mit der Information über den Impfstatus zu berücksichtigen, dass der Impfstatus auch nach der Anzahl der Impfungen und der Zeiträume, die seit der letzten Impfung vergangen sind, differenziert werden kann. In jeden Fall handelt es sich dabei um personenbezogene Daten nach Art. 4 Nr. 1 DSGVO. Eine Verarbeitung durch andere als die Betroffenen selbst in Form eines Zugriffs durch Einsicht, Kenntnisnahme usw. muss dann auf eine Rechtsgrundlage gestützt werden, Art. 5 Abs. 1 a) DSGVO. Dabei kommt hinzu, dass es sich hierbei um Gesundheitsdaten nach Art. 4 Nr. 15 DSGVO handelt, für die sich regelmäßig gesteigerte Rechtmäßigkeitsanforderungen aus Art. 9 DSGVO ergeben.

II. Der Umgang mit dem Impfstatus auf dem Handy Während der frühere Umgang mit der Information über den Impfstatus in Arztpraxen usw. auch aufgrund der berufsbezogenen Geheimnisvorschriften klarer geregelt und geübt war, ist die „Auslagerung“ der Information auf die Handys der Geimpften

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Tätigkeitsbericht 2022 des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein, 104. Recht und Politik, Beiheft 10

Datenschutz in Zeiten der Coronabekämpfung

Neuland gewesen.6 Wenn damit zunächst auch suggeriert werden mochte, dass so letztlich die Betroffenen den Überblick und die Kontrolle über den Umgang mit der Information behalten, ist mit der Verbreitung der sog. 2-/3-G-Regeln sehr schnell deutlich geworden, dass die dort gespeicherte Information vielfach offenbart und der Zugriff darauf gewährt werden muss. In vielen Fällen wurde der Zutritt zu bestimmten gesellschaftlichen Bereichen wie Geschäften, Gaststätten, Konzerte usw. nur gewährt, wenn der entsprechende Nachweis auf dem Handy vorgelegt wurde. So sollen öffentliche Unternehmungen, Besuche, Versammlungen und andere Situationen nur von Personen besucht werden, die aufgrund der Impfung, Testung oder Genesung eine geringeres Ansteckungsrisiko haben. Der Gesetzgeber hat zu den grundsätzlichen rechtlichen Möglichkeiten der Datenverarbeitung teilweise sehr dynamisch Festsetzungen und Grundlagen im Infektionsschutzgesetz, aktuell in § 28a, getroffen. Mit der Verfügbarkeit der Informationen in einer App auf dem Handy und v. a. mit der Ausübung der Zugriffskontrolle durch die Betroffenen selbst, hat sich vor dem Hintergrund der rechtlichen Anforderungen auch aus Art. 9 DSGVO über Frage, wer hier unter welchen Voraussetzungen Zugriff haben darf bzw. soll, aber auch die Notwendigkeit ergeben, konkrete Anforderungen an die Gestaltung der App auf dem Handy festzusetzen. Dabei ist hervorzuheben, dass für die Kontrollsituation die schlichte Feststellung der Zertifizierung des Status Geimpft, Genesen oder Getestet ausreicht. Ein Abstellen auf konkretere Angaben wie Zeitpunkt oder Anzahl der Impfungen ist dann nicht notwendig, wenn die Gestaltung der Zertifizierungs-App gewährleistet, dass die Bestätigung der Erfüllung der Anforderungen quasi intern erfolgt und nicht mehr durch die Prüfung bei Vorlage der Zertifizierung. Das Gleiche gilt auch, wenn der Impfstatus durch die ersten oder erst durch die Booster-Impfungen erreicht wird. Für die Zertifizierung reicht lediglich die Bestätigung aus, dass der Impfstatus vorliegt. Weitergehende Informationen müssen nicht offenbart werden. In der Praxis hat sich aber gezeigt, dass bei der Gestaltung der App auf dem Handy teilweise irritierende Warnhinweise oder auch nicht nur der Umstand („ausreichende Impfung liegt vor“) gezeigt wurden. 7 Vielmehr waren aufgrund von technischen Voreinstellungen auch die Anzahl der Impfungen bzw. der Zeitpunkt der letzten Impfung erkennbar; das konnte teilweise auch gar nicht unterbunden werden.8 Wie dargestellt, war demgegenüber aber ein Zugriff auf diese Informationen bspw. für Gaststättenbetreiber gar nicht notwendig. Hier entstand der Eindruck, dass nicht die hinreichende Sensibilität oder Sorgfalt bei der Gestaltung der App für die Offenlegung von Gesundheitsdaten gegenüber für die 6 7

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BfDI, 30. Tätigkeitsbericht 2021, 30 ff. So sollten bei der 2G Plus-Regelung Nicht-Geboosterte zusätzlich noch ein negatives Testergebnis vorlegen, welches auch in der CovPass-App unter „Zertifikate anzeigen“ zu finden war. Die App selbst aber warnte davor, dass diese sensiblen Daten gerade nicht vorgezeigt werden sollten. https://www.nordbayern.de/panorama/covpass-app-weshalb-sie-ihren-booster-statuseigentlich-gar-nicht-zeigen-mussen-1.11724641, abgerufen am 14. 04. 2022. https://netzpolitik.org/2022/booster-nachweis-covpasscheck-app-nutzlos-bei-einigen-coronaregeln/, abgerufen am 14. 04. 2022.

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Betroffenen völlig Fremden bestand. Auch wurde offenbar, dass bei Nutzung einer falschen App durch den Zugreifenden die Informationen durch unbefugtes Kopieren des QR-Codes beim Scannen im Rahmen einer Überprüfung rechtswidrig gespeichert werden können. Damit lassen sich Zertifikate von Betroffenen vervielfältigen und einsetzen.9 Das soll mit der Strafbarkeit aus § 75a InfektionsschutzG aber als hinreichend unterbunden gelten.10 Die Holprigkeiten bei der Entwicklung dieser digitalen Umsetzungsmaßnahmen mögen im Zusammenhang mit ihrer Tragweite und der Hektik zu erklären sein. Legt man aber den Maßstab an, der auch sonst von Verantwortlichen bei der Verarbeitung von personenbezogenen Daten und der Entwicklung von Technik zu beachten ist, so ergibt sich, dass nach Art. 32 DSGVO geeignete technische und organisatorische Maßnahmen unter Berücksichtigung des Stands der Technik zu treffen sind, um ein dem Risiko angemessenes Schutzniveau zu gewährleisten. Das gilt nach Art. 25 DSGVO auch bei der Gestaltung von Technik und Festlegung von Voreinstellungen. Es ist für Außenstehende schwer zu vermitteln, wie bspw. mit Einbeziehung des Wissensstands im Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnologie nicht schneller sorgfältigere Lösungen entwickelt werden können. Da ergibt sich angesichts der aktuellen Bedrohungen für Kritische (IT‐)Infrastruktur ein merkwürdiges Bild.

III. Der Impfstatus in einem Impfregister Angesichts der inzwischen auch beim Gesetzgeber diskutierten Impfpflicht11 ist auch die Frage entstanden, wie diese umgesetzt werden kann. Auch hier wird eine solche Pflicht der Einzelnen gegenüber dem Staat nur dann effektiv sein können, wenn der Staat auch kontrollieren kann, ob diese Pflicht erfüllt wird. Dazu ist ebenfalls notwendig, den Impfstatus der Einzelnen erfassen zu können, um bspw. Zwangsmaßnahmen wie Bußgelder oder Ähnliches verhängen zu können. In der Diskussion dazu ist das Impfregister genannt worden.12 Auch dabei stellt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein solches Register in Form von zentralen Dateien gestaltet werden kann und welche gesetzgeberischen Handlungsnotwendigkeiten sich daraus ergeben. 9 Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein, https://www.datenschutz zentrum.de/tb/tb40/kap10.html, abgerufen am 14. 04. 2022. 10 https://www.spiegel.de/netzwelt/apps/corona-warum-der-digitale-impfnachweis-beliebig-oftkopierbar-ist-a-0bae6b20-993c-47b3-a52f-935e112d3730, abgerufen am 14. 04. 2022. 11 Dazu Lichdi, Voraussetzungen einer allgemeinen Corona-Impfpflicht, RuP 2022, 1 ff. 12 Bundesjustizminister Buschmann schlägt vor, statt des physischen Zwangs auf Bußgelder abzustellen, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/marco-buschmann-im-interview-wie-dieimpfpflicht-aussehen-koennte-17703872.html, abgerufen am 14. 04. 2022. Ein weiterer Vorschlag ist die Ermittlung der Angaben über Krankenkassen, BT-Drs. 20/954, 3. S. a. den Entwurf von Richter, Verfassungsmäßigkeit einer allgemeinen Impfpflicht gegen das SARSCoV-2, NVwZ 2022, 210 f. 138

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Datenschutz in Zeiten der Coronabekämpfung

Bei der Verarbeitung des Impfstatus zur Kontrolle der Impfpflicht ließe sich zunächst auch über alternative technische Gestaltungen nachdenken.13 So könnten bspw. das Impfzertifikat auf dem Handy (automatisiert) an weitere zentrale Server/Dateien weitergeleitet werden. Das dürfte in der Diskussion angesichts der verbreiteten Skepsis gegenüber zentralen Datensammlungen und des damit verbundenen Bedrohungsgefühls schwer vermittelbar sein.14 Demgegenüber hat von Anfang an viel mehr die Gestaltung eines sog. Impfregisters zur Diskussion gestanden, welches auch schon früher im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Masern und Röteln eingesetzt wurde, bei dem die Daten über die impfenden Stellen zusammengetragen wurden. Beim Blick auf den rechtlichen Rahmen ist zunächst zu berücksichtigen, dass angesichts der typischerweise anzusprechenden Impfskeptiker und -gegner eine Einwilligung als Rechtsgrundlage für solche Verarbeitungen wohl ausscheidet. Daher würde sich die rechtliche Zulässigkeit nach den für Gesundheitsdaten geltenden speziellen Vorgaben des Art. 9 Abs. 2 h), i) DSGVO richten.15 Gerade für die Gesundheitsvorsorge und für den Schutz vor Gesundheitsgefahren sind hier sog. Öffnungsklauseln für die Mitgliedstaaten vorhanden, in deren Rahmen sich eine gesetzliche Grundlage schaffen lässt; Art. 9 Abs. 2 i) DSGVO nennt noch das etwas allgemeiner formulierte öffentliche Interesse. Dann aber müsste hier wie auch nach dem sonstigen Grundrechtsverständnis mit einem solchen gesetzlichen Eingriff nicht nur das Allgemeininteresse verfolgt, sondern als Ziel im Rahmen der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers auch erreicht werden können.16 Andernfalls ist von der fehlenden Geeignetheit der Maßnahmen auszugehen. Daneben ist zu beachten, dass auch diese rechtlichen Umsetzungsmöglichkeiten in Verbindung mit der Frage der Geeignetheit der Impfpflicht als Maßnahme zur Bekämpfung der Pandemie selbst zu sehen sind.17 Dabei ist dann der zeitliche Horizont 13 Bspw. helfen auch Landesdatenschutzbeauftragte beim Aufbau von Meldeportalen bei der Umsetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht, s. Baden-Württemberg: https://www. baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/digitales-meldeportal-zur-ein richtungsbezogenen-impfpflicht-1/, oder Rheinland-Pfalz: https://www.datenschutz.rlp.de/ de/newsletter/lfdi-newsletter-nr-2-2022/, jeweils abgerufen am 14. 04. 2022; beachte beim Letzterem die Anmerkung: „So konnte beispielsweise durch die Vereinbarung nur kurzer Speicherfristen im Meldeportal verhindert werden, dass sich mittelfristig ein zentraler landesweiter Datenbestand der nichtgeimpften Personen, die in den von der Impfpflicht erfassten Einrichtungen beschäftigt sind, bildet.“ 14 S. Buschmann (Fn. 12). 15 Orak, Zur Zulässigkeit eines Impfregisters in Deutschland, https://verfassungsblog.de/ impfregister-statt-datenschutz/, abgerufen am 14. 04. 2022. 16 S. a. Ladeur, Die COVID-19-Pandemie – experimentelles Handeln unter Ungewissheitsbedingungen – Rechtliche und rechtspolitische Herausforderungen, RuP 2021, 144. 17 Diese Geeignetheit wird auch von einem kleinen Teil im Deutschen Ethikrat angesichts einer hinterfragten Wirksamkeit einzelner Impfstoffe als auch von Zwangsmaßnahmen in diesem persönlichen/gesellschaftlichen Bereich („Normbefolgungsbereitschaft“) bezweifelt, https:// www.faz.net/aktuell/politik/inland/ethikrat-darum-stimmten-vier-mitglieder-gegen-coronaRecht und Politik, Beiheft 10

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der Maßnahme zu berücksichtigen. Eine IT-Infrastruktur muss in der Lage sein, die Daten entsprechend zu verwalten und dann wiederum mit den Behörden austauschen können, die die entsprechenden Ansprachen durchführen sollen. Dazu müssen Zuständigkeiten geklärt sowie umfangreiche Zugriffskonzepte entwickelt und umgesetzt werden. Nach den Erfahrungen in den letzten Jahren mit dem Online-Zugangsgesetz18 würde das wohl nicht in wenigen Monaten, sondern eher in ein oder mehreren Jahren zur Verfügung stehen. Zudem werden sich auch die aus der DSGVO ergebenden Pflichten zur Informierung über die Datenverarbeitung angesichts der notwendigen Einschränkung von Betroffenenrechten wie Widerspruch, Löschung oder Einschränkung der Verarbeitung (Art. 13 bzw. 21, 17 und 18 DSGVO) kaum in wenigen Monaten bewerkstelligen lassen.19 Im Rahmen einer Erforderlichkeitsprüfung würde wohl auch angeführt werden, ob nicht bspw. allgemeine Stichprobenkontrollen mit der Möglichkeit der Verhängung von Bußgeldern ebenso gut zum Ziel führen könnten.20 Bei der Bekämpfung der Pandemie ist schließlich Effektivität ein entscheidendes Argument bei der Frage der potenziellen Ziel- oder Zweckerreichung. Wenn aber ein Impfregister erst in einigen Jahren aufgebaut werden kann, hat sich die Pandemie vielleicht schon in die eine oder andere Richtung entweder selbst erledigt oder so ausgebreitet, dass sie mit dem Impfregister und einer Zwangsimpfung vielleicht gar nicht mehr bekämpft werden kann.21 Insoweit bestünden große Zweifel an der Geeignetheit eines Impfregisters als Maßnahme.

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impfpflicht-17698695.html, abgerufen am 14. 04. 2022. Anders Schwartmann u. a. https:// www.faz.net/aktuell/politik/inland/impfregister-datenschutzrechtler-kritisieren-justizmini ster-17734274.html, abgerufen am 14. 04. 2022. Das Gesetz mit der Verpflichtung zur digitalen Abbildung von Verwaltungsleistungen aus dem Jahr 2017 soll jetzt nach den aktuellen Planungen bis Ende 2022 umgesetzt werden, https:// www.it-planungsrat.de/foederale-zusammenarbeit/ozg-umsetzung, abgerufen am 14. 04. 2022. Orak (Fn 15). Demgegenüber von der Machbarkeit ausgehend Schwartmann u. a. (Fn. 17). So auch der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Frei, https://www. spiegel.de/politik/deutschland/corona-pandemie-cdu-politiker-thorsten-frei-haelt-impfregi ster-fuer-zwingend-notwendig-a-f4ad3772-0ebe-4366-ac64-8c9056d729fe, abgerufen am 14. 04. 2022. Recht und Politik, Beiheft 10

Keine Frage eines Privilegs – zum Umgang mit Geimpften Von Johannes Fechner* Wenn wissenschaftlich feststeht, dass von Geimpften keine Ansteckungsgefahr mehr ausgeht, müssen Grundrechtsbeschränkungen ihnen gegenüber aufgehoben werden. Dies ist keine Frage des Privilegs, sondern der Verfassung. Sind die Maßnahmen gegenüber allen gelockert, gilt in der freien Wirtschaft der Grundsatz der Privatautonomie: Jeder darf also selbst entscheiden, mit wem er Verträge abschließt. In Bereichen der Daseinsvorsorge darf es aber nicht zu einer Diskriminierung von Ungeimpften kommen.

I. Privilegien für Geimpfte? Anfang dieses Jahres entbrannte eine politische Diskussion um den richtigen Umgang mit Geimpften. Nachdem die australische Airline Qantas ankündigte, nur noch geimpfte Passagiere befördern zu wollen1 und Eventim öffentlich über GeimpftenKonzerte nachdachte2, war der öffentliche Aufschrei zunächst groß. Jens Spahn und Horst Seehofer sprachen sich gegen „Sonderrechte“ für Geimpfte aus3. Solche „Privilegien“ würden die Gesellschaft spalten. Man setze hier auf Solidarität. In der Rechtswissenschaft wurde hingegen zurecht darauf hingewiesen, dass die Aufhebung von Grundrechtsbeschränkungen kein „Privileg“ ist, sondern eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit, sobald feststeht, dass geimpfte Personen das Virus nicht weiter übertragen können4.

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Zuerst in: RuP 2/2021, S. 164 – 168. Vgl. https://www.tagesschau.de/wirtschaft/qantas-kuendigt-impfpflicht-fuer-passagiere-an101.html. Vgl. https://www.tagesspiegel.de/politik/mehr-moeglichkeiten-fuer-geimpfte-ticketverkaeu fer-eventim-haelt-impfnachweis-fuer-konzertbesuche-moeglich/26880588.html. Vgl. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-pandemie-jens-spahn-spricht-sichgegen-sonderrechte-fuer-geimpfte-aus-a-c90bcaf 7 - 16f6 - 4f34-b7e0 - 567a6e7ce3ed. Vgl. u. a. Thorsten Kingreen, Stellungnahme zum CoronaImpfG vom 07. 01. 2021, abrufbar un ter h ttps://www.bu nde sta g .de /re sou rc e /bl ob/ 8 1 6 1 6 6/ b 8 b 8 3 38 4 c 7 9 a a 1 5 f3ea4142bc628dc21/19_14_0263 - 2-_ESV-Prof-Dr-Thorsten-Kingreen_Impfstrategie-data. pdf.

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Zum damaligen Zeitpunkt war noch unklar, ob Geimpfte oder Genesene das CoronaVirus nicht mehr übertragen können. Dabei wurden aber in der medialen Berichterstattung zwei Dinge vermischt, die nur bedingt etwas miteinander zu tun haben, nämlich zum einen die Frage, ob Corona-Schutzmaßnahmen noch gegenüber Geimpften erlassen werden können und zum anderen ob – sobald die Schutzmaßnahmen gegenüber allen gelockert wurden – eine Ungleichbehandlung zwischen Geimpften und Ungeimpften weiterhin zulässig ist. Diese beiden Fragen sollen im Folgenden differenzierter betrachtet werden.

II. Staatliche Corona-Schutzmaßnahmen gegenüber Geimpften Aus verfassungsrechtlicher Perspektive steht fest: Sobald sicher ist, dass von einer Person keine Ansteckungsgefahr mehr ausgeht, entfällt ein wesentlicher Rechtfertigungsgrund für die Grundrechtsbeschränkungen, die mit den Corona-Schutzmaßnahmen einhergehen. Ziel der Maßnahmen nach §§ 28 ff IfSG ist der Schutz des Lebens und der Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 GG. Kann aber eine Person aufgrund ihrer Schutzimpfung das Virus nicht mehr übertragen, so besteht weder ein Risiko für ihre eigene Gesundheit, noch stellt der Geimpfte eine Ansteckungsgefahr für andere Personen mehr dar. Eine Gesundheitsgefährdung durch diese Person läge nicht mehr vor. Nachdem das Robert-Koch-Institut Anfang April festgestellt hat, dass nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen das Risiko einer Virusübertragung durch Impfungen mit Biontech und AstraZeneca in dem Maß reduziert sei, dass Geimpfte bei der Epidemiologie der Erkrankung keine wesentliche Rolle mehr spielten5, war der Gesetzgeber zum Handeln gezwungen. Mit §28c IfSG hat er darum im vierten Bevölkerungsschutzgesetz die Entscheidung getroffen, dass Lockerungen gegenüber Geimpften vorzunehmen sind. Diese sollten nicht unmittelbar im Gesetz, sondern im Verordnungswege mit Zustimmung des Bundestages umgesetzt werden, um stets aktuelle wissenschaftliche Entwicklungen berücksichtigen zu können. Aus der Ankündigung des Robert-Koch-Instituts folgte für den Gesetzgeber jedoch nicht die Pflicht, Beschränkungen gegenüber Geimpften sofort gänzlich aufzuheben. Vielmehr hieß es auf der Ankündigung vom 9. 4. 2021: „Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person trotz vollständiger Impfung PCR-positiv wird, ist bereits niedrig, aber nicht Null […] In welchem Maß die Impfung darüber hinaus die Übertragung des Virus weiter reduziert, kann derzeit nicht genau quantifiziert werden. Auf Basis der bisher vorliegenden Daten ist davon auszugehen, dass die Viruslast bei Personen, die trotz Impfung mit SARS-CoV-2 infiziert werden, stark reduziert und die Virusausscheidung verkürzt ist. In der Summe ist daher das Risiko einer Virusübertragung stark vermindert. Es muss jedoch davon ausgegangen werden, dass einige Menschen nach Kontakt mit SARS-CoV-2 trotz Impfung (asymptomatisch) PCR-positiv werden und dabei auch infektiöse Viren ausscheiden. Dieses Risiko muss durch das Einhalten der Infektionsschutzmaßnahmen zusätzlich reduziert 5

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Vgl. https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/gesamt.html;jsessionid= B37997FB1440254BDA022EAD827DFB7F.internet112. Recht und Politik, Beiheft 10

Keine Frage eines Privilegs – zum Umgang mit Geimpften werden. Daher empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO) auch nach Impfung die allgemein empfohlenen Schutzmaßnahmen (Alltagsmasken, Hygieneregeln, Abstandhalten, Lüften) weiterhin einzuhalten.“6

Inwiefern also Corona-Schutzmaßnahmen gegenüber geimpften Personen aufrechterhalten werden können (oder auch zu ihrem eigenen Schutz sollten), ist weiterhin eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Hierbei sind folgende Aspekte zu berücksichtigen: Corona-Schutzmaßnahmen, die nicht zwischen Geimpften und Ungeimpften unterscheiden, können grundsätzlich weiterhin ein geeignetes Mittel darstellen, um Art. 2 Abs. 2 GG zu schützen. Primär ergibt sich dies aus dem verbleibenden Restrisiko für eine Infektion des Geimpften und die Weiterverbreitung des Virus durch den Geimpften, das auch nach aktuellem Stand der Wissenschaft nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Darüber hinaus dürfte eine Aufhebung sämtlicher Beschränkungen für Geimpfte nicht nur dazu führen, dass die Einhaltung der Maßnahmen schwerer zu kontrollieren ist, sondern auch zu einer schwindenden Akzeptanz der Maßnahmen bei den Nicht-Geimpften7. So dürfte beispielsweise die Bereitschaft zur eigenen Einhaltung der Kontaktbeschränkungen erheblich sinken, wenn in den Parks große Gruppen Geimpfter beim Feiern zu beobachten wären. Auch dies darf bei der Geeignetheit der Maßnahmen berücksichtigt werden. Bei der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit ist jedoch deutlich zu unterscheiden: Während Maßnahmen, die einen geringen Eingriff bedeuten (insb. Abstandsgebote und Maskenpflicht) vor dem soeben genannten Hintergrund auch gegenüber Geimpften noch zu rechtfertigen sind, dürfte dies bei schwereren Eingriffen (insb. Quarantäneanordnungen, Ausgangsbeschränkungen) kaum noch der Fall sein. Zu berücksichtigen ist in der Verhältnismäßigkeitsprüfung insbesondere die Bewertung des Restrisikos für eine Ansteckung, das laut RKI trotz einer Impfung verbleibt. So ist bei einer hohen Inzidenz in der Bevölkerung auch das Risiko für Geimpfte höher, sich trotz Impfung anzustecken und die Infektion weiterzugeben. Darum sind bei einem höheren Infektionsgeschehen in Deutschland Beschränkung gegenüber Geimpften eher zu rechtfertigen als bei einem niedrigeren. Außerdem muss deutlich unterschieden werden, ob und in welchem Umfang die Hygienemaßnahmen trotz Lockerungen auch von den Geimpften eingehalten werden können. Die Vermeidung eines Restrisikos ist beispielsweise einfacher bei einem Friseurbesuch mit FFP2-Maske, schwieriger hingegen bei einem privaten Treffen in großer Gruppe im Innenraum ohne Maske. Es ist zum Zeitpunkt der Verfassung des Artikels darum damit zu rechnen, dass aufgrund der aktuellen Erkenntnisse des Robert-Koch-Instituts nicht alle Maßnahmen auf einmal aufgehoben werden. Vielmehr sollten die Maßnahmen schrittweise – je nach Entwicklung des Infektionsgeschehens – gelockert werden. Dabei könnten zunächst Geimpfte mit Negativ-Getesteten gleichgestellt werden und auf unmittelbare Frei6 7

Vgl. Rn. 5. Vgl. Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes zu „Fragen zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Ungleichbehandlungen von geimpften gegenüber ungeimpften Personen“ vom 25. 01. 2021 – WD 3 – 3000 – 001/21 m.w.N.

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heitsbeschränkungen, z. B. durch eine Quarantäneanordnung nach Reiserückkehr oder Ausgangssperren, verzichtet werden. Neben Geimpften sollten dann auch Genesene von den Grundrechtsbeschränkungen ausgenommen werden, sofern feststeht, dass von Ihnen keine Ansteckungsgefahr mehr ausgeht.

III. Diskriminierung von Ungeimpften? Werden mit sinkender Inzidenzzahl und steigender Impfquote immer mehr Schutzmaßnahmen gelockert, stellt sich aber die rechtspolitische Folgefrage, ob eine Ungleichbehandlung zwischen Geimpften und Ungeimpften zulässig ist. Dürfen also beispielsweise Transportunternehmen und Konzertveranstalter tatsächlich ihre Leistungen ausschließlich für Geimpfte anbieten? Auch hier ist zu unterscheiden: In vielen Fällen des täglichen Geschäfts dürfte die Privatwirtschaft gar kein Interesse an einem Immunitätsnachweis haben, sondern aus ökonomischen Gründen ihre Leistungen allen anbieten wollen. Andererseits haben – wie eingangs erwähnt – bereits einige Reiseanbieter und Konzertveranstalter angekündigt, Angebote nur Geimpften zur Verfügung zu stellen. Explizite Grenzen setzt der Privatautonomie dabei nur das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Dieses verbietet Diskriminierung aus rassistischen Gründen, wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität durch private Akteure (z. B. durch den Arbeitgeber, Vermieter oder beim Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen). Das Merkmal des Impfstatus dürfte derzeit allenfalls unter eine Diskriminierung aufgrund einer Behinderung fallen, wenn die Person aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden darf. Den Gesetzgeber trifft hier in den kommenden Monaten eine genaue Beobachtungspflicht. Dienstleistungen der Daseinsvorsorge (Supermärkte, Busse, Bahnen), aber auch in Bereichen der medizinischen und pflegerischen Versorgung, z. B. bei ambulanten Pflegediensten oder privaten Dialysezentren, müssen weiterhin auch Nichtgeimpften offenstehen. Sollten Ungeimpfte von privaten Anbietern ausgeschlossen werden, die in den Bereich der Daseinsvorsorge fallen, muss der Gesetzgeber den Diskriminierungsschutz des AGG möglicherweise vorübergehend ausweiten. Dies gilt jedenfalls, solange noch nicht ausreichend Impfstoff für alle zur Verfügung steht. Jedenfalls zu diesem Zeitpunkt stellt der Impfstatus – wie auch die sonstigen Diskriminierungsgründe des AGG – eine höchstpersönliche Eigenschaft dar, auf die der Einzelne keinen Einfluss hat. Er kann durch sein Verhalten nichts daran ändern, dass er in der Prioritätenliste nicht berücksichtigt ist oder aufgrund der Auslastung der Impfzentren erst sehr viel später einen Impftermin erhält als andere Menschen.

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IV. Fazit Die Rücknahme von Corona-Schutzmaßnahmen gegenüber geimpften Personen stellt kein „Privileg“ oder „Sonderrecht“ dar. Vielmehr stellt sie den verfassungsrechtlichen Normalzustand her. Die Aufhebung der Schutzmaßnahmen hat entsprechend der wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Übertragbarkeit des Virus durch Geimpfte zu erfolgen. Bei der Abwägung ist vor allem zu berücksichtigen, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen ein Restrisiko der Ansteckung für den Geimpften oder Dritte verbleibt. Weniger schwere Maßnahmen (wie die Maskenpflicht oder Abstandsgebote) können länger aufrechterhalten werden als schwere Grundrechtseingriffe (wie Quarantäne-Anordnungen oder Ausgangssperren). Sobald die Maßnahmen für alle Bürgerinnen und Bürger gelockert sind, ist zu beobachten, ob es auf dem Markt zu ungerechtfertigten Diskriminierungen aufgrund des Impfstatus kommt. Grundsätzlich gilt im Rechtsverkehr der Grundsatz der Privatautonomie. Sollte es aber in Bereichen der Daseinsvorsorge zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung kommen, muss der Gesetzgeber ggf. durch eine entsprechende Anpassung des AGG gegensteuern – jedenfalls, wenn er an seinem Versprechen festhalten will, dass es weder unmittelbar noch mittelbar zu einem Impfzwang in Deutschland kommen soll.

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Handlungsfähigkeit des Föderalismus in der Pandemie* Überlegungen zur Kompetenzverteilung anlässlich der ,Bundesnotbremse‘ Von Nathalie Behnke

I. Einführung Nach knapp eineinhalb Jahren föderalen Pandemiemanagements wird in Politik und Medien verstärkt die Forderung formuliert, die föderale Kompetenzverteilung müsse neu geordnet werden. Der Kompetenzwirrwar im Allgemeinen und die unterschiedlichen länderspezifischen Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung im Besonderen seien verantwortlich für folgenschwere Verzögerungen in der Bekämpfung der Infektionswellen, und die uneinheitlichen Maßnahmen sorgten für Verunsicherung in der Bevölkerung.1 Eine grundlegende Überarbeitung der Zuständigkeiten und der Koordinationsprozesse zwischen Bund, Ländern und Kommunen sei nötig, um zukünftig ein effektiveres Krisenmanagement zu gewährleisten.2 Diese Reformforderung ist per se zustimmungsfähig. Kompetenzverteilungen sollten in der Tat regelmäßig überdacht werden; und insbesondere der Digitalisierungsrückstand erfordert eine bessere interregionale Koordination (und Anpassungen der datenschutzrechtlichen Vorgaben), um schnellen und umfassenden Informationsaustausch zwischen dezentralen Verwaltungseinheiten zu gewährleisten. Für diese Zentralisierungsoption besteht nicht nur in der Politik, sondern auch in der Bevölkerung, große Sympathie3. Die Reformforderung sollte jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass nur eine umfassende Zentralisierung von Kompetenzen beim Bund ein schnelles und * 1

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Zuerst in: RuP 3/2021, S. 369 – 380. ,Können uns Flickenteppich nicht leisten‘. So wird in der Tagesschau eine Äußerung des Bundeswirtschaftsministers Peter Altmeier vom 22. 10. 2021 apostrophiert, der angesichts der rasant steigenden Infektionszahlen an die Länder appellierte, einheitlicher zu agieren. https:// www.tagesschau.de/wirtschaft/altmaier-corona-regeln-101.html, letzter Aufruf 13. 06. 2021. ,Brinkhaus fordert Reform des Staatswesens‘. Pressemitteilung der Unionsfraktion des Bundestages vom 21. 02. 2021; https://www.cducsu.de/presse/texte-und-interviews/brinkhausfordert-reform-des-staatswesens, letzter Aufruf 13. 06. 2021. Juhl et al., Preferences for Centralized Decision-Making in Times of Crisis: The COVID-19 Pandemic in Germany, 2021, URL: ronilehrer.com/docs/jhet.pdf, letzter Aufruf 22. 06. 2021.

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Handlungsfähigkeit des Föderalismus in der Pandemie

schlagkräftiges Krisenmanagement gewährleisten könne. Vielmehr zeigen aktuelle Studien, dass sich der deutsche Föderalismus im Pandemiemanagement weitgehend bewährt hat. Dies gilt besonders für die Verwaltungsleistungen von Ländern und Kommunen, namentlich der Gesundheitsämter als kommunalen Behörden4. Aber auch die Verhandlungsprozesse in den föderalen Koordinationsgremien erbrachten häufig schnelle Ergebnisse5, und die wirtschafts- und finanzpolitischen Hilfen flossen zügiger als in vorangehenden Krisen, wodurch ein tiefer Konjunktureinbruch verhindert werden konnte6. Insgesamt blieb daher auch das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat erstaunlich stabil7. Ein ähnliches Bild zeichnen Studien, die das subnationale Aufnahme- und Integrationsmanagement während der so genannten ,Flüchtlingskrise‘ aufgearbeitet haben. Insbesondere die kommunalen Verwaltungen konnten schnell reagieren und ,Flexibilitätsreserven‘ aktivieren8, wohingegen die Bearbeitung der Asylanträge durch die Außenstellen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) – einer Bundesbehörde – das wesentliche Nadelöhr im Aufnahmeprozess darstellte. Dort konnten weder die notwendige Geschwindigkeit noch die notwendige Rechtssicherheit gewährleistet werden, was nicht zuletzt zu einer Flut verwaltungsgerichtlicher Anfechtungen führte, die sich weit über das Jahr 2016 hinaus hinzogen9. Das Hauptaugenmerk der politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger richtet sich momentan darauf, die gesellschaftliche und politische Krisenresilienz in Deutschland und Europa zu erhöhen. Wesentlich ist es daher, ein Verständnis dafür zu gewinnen, welche Strukturen und Prozesse der Koordination und Entscheidungsfindung im Pandemiemanagement von Bund, Ländern und Kommunen sich bewährt haben, wo andererseits strukturelle Barrieren für ein schnelles und situationsangepasstes Handeln bestehen, die in der Pandemie besonders augenfällig wurden. Im Einzelnen können Entbürokratisierung10, verbesserte Koordination oder – mit Blick auf Skalenerträge und Externalitäten – eine Zentralisierung oder Dezentralisierung von 4 Horacek/Auer/Thaiss, Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2021, S. 463 – 471. 5 Hegele/Schnabel, West European Politics 2021, S. 1 – 20. 6 Döring, Wirtschaftsdienst 2020, S. 869 – 875. 7 Eckhard/Lenz, Die öffentliche Wahrnehmung des Krisenmanagements in der Covid-19 Pandemie, 2020, URL: nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352 – 2-uxhfn4noqkgi8, letzter Aufruf 22. 06. 2021; Wagschal et al., Politikpanel Deutschland. Ausgewählte Ergebnisse einer Bevölkerungsumfrage zu den Auswirkungen des Corona-Virus, 2021, URL: politikpanel.unifreiburg.de/docs/Auswertung_PPD_Corona_Umfrage_Mai2020.pdf, letzter Aufruf 22. 06. 2021. 8 Bogumil/Hafner/Kuhlmann, Verwaltung & Management 2016, S. 126 – 136; Eckhard et al., Journal of Public Administration Research and Theory 2021, S. 416 – 433. 9 Thränhardt, in: Knüpling et al. (Hrsg.), Reformbaustelle Bundesstaat, 2020, S. 485 – 515. 10 Normenkontrollrat Baden-Württemberg, Ursachen übermäßiger Bürokratie, 2021, URL: normenkontrollrat-bw.de/fileadmin/_normenkontrollratBW/Dokumente/PositionspapierUrsachen-uebermaessiger-Buerokratie.pdf, letzter Aufruf 22. 06. 2021. Recht und Politik, Beiheft 10

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Kompetenzen die Reaktions- und Anpassungsfähigkeit des politischen und administrativen Handelns verbessern. Eine entsprechend differenzierte Analyse, die hierfür benötigt würde, kann im vorliegenden Beitrag jedoch nur angedeutet werden. Generell wird in der vergleichenden Föderalismusforschung davon ausgegangen, dass die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit eines föderalen Systems davon abhängt, wie gut strukturelle Komponenten der föderalen Architektur (Kompetenzverteilung) mit prozessualen Komponenten (intergouvernementale Verhandlungen) zusammenpassen11. Entsprechend folgt das Argument in diesem Beitrag dieser analytischen Zweiteilung. Zunächst wird die Struktur und Logik der Kompetenzverteilung in der föderalen Architektur Deutschlands im ,Normalmodus‘ dargestellt. Hieran anschließend wird die so genannte ,Bundesnotbremse‘, die im Rahmen des Pandemiemanagements zu einer Kompetenzverschiebung führte, vorgestellt und kritisch diskutiert. Der Prozess der föderalen Koordination innerhalb des vorgegebenen institutionellen Rahmens wird am Beispiel der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) illustriert, die ebenfalls in der Pandemiezeit so sehr ins öffentliche Interesse wie in die öffentliche Kritik rückte. Struktur und Prozess sind insofern miteinander verbunden, als das – zumindest in der Öffentlichkeit so wahrgenommene – Versagen der Koordination in der MPK letztlich den Auslöser für die Kompetenzverlagerung darstellte. Abschließend wird diskutiert, welches Problemlösungspotenzial im Zusammenspiel von Struktur und Prozess des deutschen Föderalismus steckt und wo aufgrund widerstreitender Handlungslogiken Sollbruchstellen für Irrationalitäten oder Ineffizienzen bestehen. In der Gesamtschau zeigt sich, dass sich der deutsche Föderalismus gerade in Krisenzeiten als bemerkenswert reaktionsschnell und anpassungsfähig erwiesen hat. Versuche, eine weitere Verschiebung der Kompetenzen zugunsten des Bundes vorzunehmen, erscheinen daher als nicht zielführend und würden andere Stärken der föderalen Staatsorganisation erheblich gefährden.

II. Struktur: Kompetenzverteilung im deutschen Bundesstaat Gemäß der Logik des ,administrativen Föderalismus‘ ist nach dem Grundgesetz die Bundesebene primär für die Gesetzgebung zuständig, wohingegen die Ausführung der Gesetze in der Verantwortung der Länder liegt12. Zwar haben auch die Landtage eigene Gesetzgebungskompetenzen, jedoch nur in wenigen Bereichen, am bekanntesten sind die Bildungs- und Kultusangelegenheiten. Umgekehrt leistet sich die Bundesebene einen eigenen Behördenunterbau nur in wenigen ausgesuchten Politikbereichen wie der Wehrverwaltung oder der Zollverwaltung. Diese Form der Aufgabenteilung unterscheidet den deutschen Föderalismus von anderen Föderalstaaten wie den USA, Kanada oder auch der Schweiz, wo die Kompetenzzuteilung überwiegend sektoral und 11 Behnke/Benz, in: Contiades/Fotiadou (Hrsg.), The Routledge Handbook of Comparative Constitutional Change, 2020, S. 167 – 181. 12 Behnke, in: Knüpling et al. (Hrsg.), Reformbaustelle Bundesstaat, 2020, S. 187 – 202; Behnke/ Kropp, in: Kuhlmann et al. (Hrsg.), Public Administration in Germany, 2021, S. 35 – 51. 148

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seltener funktional erfolgt13. Also einzelne Politikbereiche, etwa der Binnenhandel, die Medikamentenregulierung oder der Katastrophenschutz, liegen dann komplett in der Verantwortung einer Ebene, von der Gesetzgebung bis hin zum Vollzug. Die funktionale Verteilung in Deutschland bewirkt eine Mischung zwischen Einheitlichkeit und regionaler Autonomie: durch die Bundesgesetzgebung wird eine einheitliche Rechtsgrundlage für den Vollzug geschaffen, wobei die Landesregierungen über den Bundesrat an der Formulierung der Gesetze beteiligt sind. Auf dieser Grundlage entscheiden die Länder (oder, von ihnen beauftragt, die Kommunen), wie sie die Vorgaben am besten umsetzen. Im Grundgesetz (Art. 84) wird dies als ,Vollzug als eigene Angelegenheit‘ bezeichnet. Regionale Unterschiede sind in diesen Fällen nicht nur möglich, sondern prinzipiell erwünscht. Denn unterschiedliche Lösungen können somit gleichzeitig erprobt werden und bilden die Basis für Lernen durch wechselseitige Anpassung an Best Practices. Dass die Länder außerdem die Kosten des Vollzugs selbst tragen, erhöht den Anreiz für die Suche nach effizienten Lösungen. Besteht aus Sicht des Bundesgesetzgebers ein Bedürfnis nach einheitlichem Vollzug, etwa um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet zu wahren, hat er nach Art. 85 GG die Möglichkeit, auch den Vollzug (in diesem Falle ,im Auftrag des Bundes‘) sehr weitgehend vorzustrukturieren, etwa indem er Verwaltungsverordnungen erlässt. Werden Gesetze im Auftrag des Bundes ausgeführt, leihen die Länder dem Bund gewissermaßen nur ihre Behörden, sind hierbei umfassenden Weisungs- und Aufsichtsrechten unterworfen. Im Gegenzug muss der Bund aber auch die Kosten des Vollzugs übernehmen (Art. 104a, Absatz 2 GG)14. In der Alltagspolitik sind die Unterschiede im Verwaltungsvollzug zwischen den Ländern in der Regel nicht besonders augenfällig, wenngleich sich die ländervergleichende Policy-Forschung in Deutschland in den vergangenen Jahren dieser Thematik verstärkt angenommen und deutliche empirische Unterschiede herausgearbeitet hat15. Öffentlich wird allenfalls kritisch über den Bildungsföderalismus diskutiert16, der, so der Vorwurf, aufgrund der regional unterschiedlichen Leistungsanforderungen im Bildungswesen ungerechte Lebenschancen produziere. In Krisenzeiten jedoch verstärkt sich die Kritik am Föderalismus, ein Phänomen, das übrigens nicht nur auf Deutschland beschränkt ist17. Einerseits wird die Uneinheitlichkeit der regionalen Strategien des Krisenmanagements weniger toleriert, da die Krise ohnehin eine hohe 13 Hueglin/Fenna, Comparative Federalism, 2015, S. 136. 14 Schrapper, in: Kuhlmann et al. (Hrsg.), Public Administration in Germany, 2021, S. 105 – 121. 15 Hildebrandt/Wolf, Die Politik der Bundesländer, 2016; Sack/Töller, Zeitschrift für vergleichende Politikwissenschaft 2018, S. 603 – 619; Wenzelburger, in: Knüpling et al. (Hrsg.), Reformbaustelle Bundesstaat, 2020, S. 381 – 405. 16 Brodkorb/Koch, Der Abiturbetrug. Vom Scheitern des deutschen Bildungsföderalismus, 2020. 17 Vgl. bspw. für Belgien van Overbeke, Stadig, European Policy Analysis 2020, S. 305 – 317; für die Schweiz Waldmann, IFF Newsletter 2020, S. 1 – 14 (https://www.unifr.ch/federalism/fr/assets/ public/files/Newsletter/IFF/3_Waldmann_Covid-19_und_Foederalismus-final.pdf, letzter Aufruf 22. 06. 2021). Recht und Politik, Beiheft 10

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Unsicherheit und entsprechend ein Bedürfnis nach Klarheit der Entscheidungen bei den Menschen hervorruft. Andererseits wird die verzögerte Entscheidungsfindung beklagt, die aus dem Abstimmungsbedarf der föderalen Verhandlungsprozesse resultiere18. Von Bedeutung in der Pandemie war insbesondere die Aufgabenverteilung im Infektionsschutz. Der Vollzug des öffentlichen Gesundheitsschutzes ist nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes Angelegenheit der Länder19. Sie vollziehen ihn gemäß Art. 84 GG als landeseigene Verwaltung. Hierbei kommt den Gesundheitsämtern als kommunalen Behörden eine herausgehobene Rolle zu, da sie den Gesundheitsschutz in der Fläche umsetzen. Grundlage hierfür ist das Infektionsschutzgesetz (IfSG). Gemäß § 32 IfSG sind die Länder für den Vollzug des Infektionsschutzes verantwortlich. Er ermächtigt die Landesregierungen, „durch Rechtsverordnung entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen“. Außerdem dürfen die Landesregierungen die Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen auf andere Stellen (damit sind in der Regel Fachministerien der Länder gemeint) übertragen. Diese 16 parallel existierenden ,Corona-Verordnungen‘ vermittelten ein buntes Bild an Regelungen und führten insbesondere in Grenznähe des Öfteren zu Unsicherheit, welche Verhaltensweisen denn nun dies- und jenseits der Ländergrenzen aktuell gültig waren. Wie eine aktuelle empirische Untersuchung zeigt20 ist diese Uneinheitlichkeit jedoch noch mehr der hohen Dynamik des Infektionsgeschehens und somit der Änderungsfrequenz der Verordnungen im Zeitverlauf geschuldet als der unterschiedlichen Ausgestaltung zwischen den Ländern zu jeweils einem Zeitpunkt. Häufig lagen nur wenige Tage zwischen den Anpassungsschritten der einzelnen Länder, die dann im Effekt wieder zu sehr ähnlichen Regeln führten. Während eine gewisse Variation im Querschnitt also empirisch bestätigt werden kann21, zeigen sich auch wechselseitige Lern- und Anpassungsprozesse, die auf einen vergleichbaren Umgang mit dem Infektionsgeschehen deuten. Insgesamt dürfte die Größe der Unterschiede in der öffentlichen Wahrnehmung gegenüber ihrem realen Ausmaß deutlich überschätzt worden sein.

18 Münch, in: Europäisches Zentrum für Föderalismusforschung (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2020, 2021, S. 209 – 225. 19 Gerlinger/Burkhart, Dossier Gesundheitspolitik, 2012, URL: bpb.de/politik/innenpolitik/ gesundheitspolitik/. 20 Behnke, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Corona. Pandemie und Krise, 2021, S. 215 – 229. S. auch den Projektbericht und die Daten zur zeitlichen Abfolge der CoronaMaßnahmen der Länder in der ersten Pandemiewelle unter https://www.politikwissenschaft. tu-darmstadt.de/institut/arbeitsbereiche/oeffentliche_verwaltung_public_policy/forschung_ oev/Corona-VerordnungenimdeutschenFderalismus.de.jsp, letzter Aufruf 14. 06. 2021. 21 Behnke (Fn. 20). 150

Recht und Politik, Beiheft 10

Handlungsfähigkeit des Föderalismus in der Pandemie

Im Verlauf der Pandemie wurde das IfSG insgesamt viermal novelliert, um mit dem Pandemiegeschehen Schritt zu halten22. Die erste und zweite Novelle vom März und Mai 2020 bezogen sich im Wesentlichen auf die horizontale Gewaltenteilung auf der Bundesebene. Der Bundesgesundheitsminister erhielt in § 5 das Recht, ohne Zustimmung des Bundesrates Verordnungen etwa hinsichtlich der Grundversorgung mit Arzneimitteln und Schutzausrüstung, der Quarantäne für Reiseheimkehrer, Grenzschließungen aber auch der Amtshilfe für das RKi oder Krankenhäuser zu erlassen23. Beim RKI wurde eine Koordinationsstelle eingerichtet, die die Amtshilfe für die Gesundheitsämter koordinierend unterstützen sollte. Die vertikale Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern blieb noch weitgehend unberührt. Auch die dritte Novelle im November 2020 bezog sich nur mittelbar auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern. In Reaktion auf die wachsende Kritik an der mangelnden demokratischen Legitimation fortgesetzter Grundrechtseingriffe beschloss der Bundestag einen Maßnahmenkatalog im neu eingefügten § 28a des IfSG, auf den sich dann die Landesregierungen als Rechtfertigungsgrundlage für die kontaktbeschränkenden Maßnahmen berufen konnten. Entgegen der verbreiteten Kritik an dieser Reform diente sie also der Stärkung der demokratischen Legitimation (wenn auch nicht unbedingt Kontrolle) des exekutiven Handelns. Erst die vierte Novelle in Form der so genannten ,Bundesnotbremse‘ vom April 2021 brachte eine manifeste Kompetenzverlagerung von den Ländern auf den Bund. Die Notbremse verlangt, dass immer dann, wenn die durchschnittliche 7-Tage-Inzidenz in einem Landkreis seit mindestens drei Tagen in Folge über 100 pro 100.000 Einwohner liegt, die bundeseinheitlichen Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung verpflichtend umgesetzt werden müssen (die Länder haben im Prinzip die Freiheit, in der Restriktivität über den Bundesstandard noch hinausgehende Maßnahmen zu verordnen). Sinkt die Inzidenz fünf Tage in Folge unter 100, fällt die Entscheidung über das Ausmaß der Restriktivität wieder zurück an die Länder. Die Bundesnotbremse wurde als nicht zustimmungspflichtiges Gesetz vom Bundestag unter Billigung des Bundesrates verabschiedet.24 Die (wenngleich in Abhängigkeit des Infektionsgeschehens zeitlich befristete) Kompetenzverlagerung ist im Rahmen des Grundgesetzes möglich. Ob sie politisch nötig war, ist eine andere Frage. Auslöser für die Forderung nach einer Bundesnotbremse war die MPK vom 22. März 2021, die selbst im Vergleich zu den auch ansonsten in der Pandemie schon lang andauernden 22 Die erste Novelle war am 27. 03. 2020 (BGBl 2020 Teil I Nr. 14 vom 27. 03. 2020, 587 – 592); die zweite am 22. 05. 2020 (BGBl 2020 Teil I Nr. 23 vom 22. 5. 2020, 1018 – 1036); die dritte am 18. 11. 2020 (BGBl 2020 Teil I Nr. 52 vom 18. November 2020, 2397 – 2413; und die letzte am 22. 04. 2021 (BGBl 2021 Teil I Nr. 18, 802 – 807). 23 Vgl. hierzu kritisch Münch (Fn. 18). 24 Dass ausgerechnet das vierte Bevölkerungsschutzgesetz (zur Novelle des IfSG) nicht zustimmungspflichtig war, die drei vorangehenden aber schon, obwohl das vierte am weitesten in die Kompetenzen der Länder eingreift, ist jedenfalls bemerkenswert. Vgl. hierzu auch kritisch Grefrath, Die ,Bundesnotbremse‘ ist nicht zustande gekommen, 2021, URL: verfassungs blog.de/die-bundesnotbremse-ist-nicht-zustande-gekommen/, letzter Aufruf 22. 06. 2021. Recht und Politik, Beiheft 10

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und konflikthaften Treffen der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder und des Bundes ungewöhnlich lang dauerte und letztlich zu keinem Ergebnis führte. Der Kompromiss, den die Kanzlerin schließlich nachts um 1 Uhr verkündete, eine Osterruhe zu verhängen und Gründonnerstag sowie Karsamstag zu einmaligen Feiertagen zu erklären, scheiterte an der rechtlichen Umsetzbarkeit, wodurch in einer Phase exponentiell steigender Infektionszahlen letztlich keine bundesweite Einigung über ein strikteres Vorgehen erzielt werden konnte. Daraufhin dachte die Kanzlerin erstmals öffentlich darüber nach, die Notbremse verbindlich zu machen. Letztlich dauerte es weitere vier Wochen, bis am 22. April 2021 die Bundesnotbremse in Kraft trat. In der Zwischenzeit waren die Inzidenzen weiter gestiegen, und die Regelungen zwischen den Ländern variierten stark. In vier Ländern gab es verbindliche nächtliche Ausgangssperren bei Inzidenzen über 100, in einigen Ländern wurde weiterhin mit durch Teststrategien begleiteten Öffnungsoptionen experimentiert.25 Sachlich sprach somit der Anstieg der Inzidenzen für eine einheitliche Umsetzung restriktiverer Regeln. Andererseits lehnten einige Länder dies dezidiert ab. Sie hätten – wäre der politische Wille vorhanden gewesen – die Maßnahmen ja auch ohne Bundenotbremse vereinbaren können. Hier stellt sich die Frage, warum sie dennoch der bundeseinheitlichen Regelung zustimmten. Auf diese Frage wird bei der Analyse der Koordinationsprozesse zurückzukommen sein. In der Gesamtschau scheint sich – trotz der Einführung der Notbremse – die strukturelle Arbeitsteilung im Großen und Ganzen bewährt zu haben: Gerade in der Anfangszeit der Pandemie wurde lokal erstaunlich schnell auf die Erfordernisse reagiert, die sich aus der Umsetzung der Kontaktbeschränkungen ergaben (bspw. Einrichtung von Notbetreuung für Kinder, Umsetzung von Versammlungs- und Betretensverboten)26. Für das ,Contact tracing‘ konnten Personalengpässe in den Gesundheitsämtern teilweise dadurch behoben werden, dass im Wege der Amtshilfe Personal von anderen kommunalen Behörden ausgeliehen wurde. Und die Verzögerung im Impffortschritt entstand in der ersten Jahreshälfte 2021 nicht aufgrund mangelnder Kapazitäten der lokal bereitgestellten und ausgestatteten Impfzentren, sondern aufgrund von Lieferengpässen bei den Impfstoffen, deren Verantwortung bei der Bundesebene lag.

III. Prozess: Intergouvernementale Verhandlungen Der Vorteil von dezentralen Entscheidungseinheiten, die relativ autonom reagieren können, wird in der Krisenliteratur regelmäßig betont. Dezentralität erhöht die Flexibilität und damit sowohl die Geschwindigkeit als auch die Situationsangemessenheit von Entscheidungen27. Dezentrale Entscheidungskompetenzen sind aber nicht für sich 25 Zusammenstellung der gültigen Regelungen zu Ostern durch die ZDF-Redaktion: https:// www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-regeln-verordnung-bundeslaender-100.html#maincontent, letzter Aufruf 14. 06. 2021. 26 Behnke (Fn. 20). 27 Boin et al., The Politics of Crisis Management: Public Leadership under Pressure, 2016, ch. 3. 152

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Handlungsfähigkeit des Föderalismus in der Pandemie

allein ausreichend. Vielmehr kommt eine besondere Bedeutung der Koordination zwischen diesen dezentral getroffenen Entscheidungen zu. Hier kann der deutsche Föderalismus auf gut eingespielte Routinen der intergouvernementalen Verhandlung und Abstimmung zurückgreifen28. Tatsächlich gilt er im internationalen Vergleich hinsichtlich seiner intergouvernementalen Koordinationsleistung als vorbildlich, da die lose gekoppelten Teilsysteme von Exekutiven und Legislativen, Bund und Ländern insgesamt durch eine starke Kooperationsnorm überformt sind29. Diese Kooperationsnorm wird im Grundgesetz ausdrücklich durch das Postulat der gleichwertigen Lebensverhältnisse (Art. 72 Abs. 2 sowie Art. 106 Abs. 3) sowie implizit durch den Grundsatz der Bundestreue eingefordert. In routinierten, überwiegend bürokratisch besetzten Netzwerken30 werden regelmäßig im Vorfeld zu den politischen Treffen im Rahmen von Plenarsitzungen des Bundesrats, der Ministerpäsidentenkonferenz (MPK) oder auch der Fachministerkonferenzen aktuelle Themen vorbesprochen, Interessenkonflikte ausgelotet und potenzielle Konsenslösungen gesucht31. Somit können die intergouvernementalen Beziehungen mit Fug und Recht als das ,Schmiermittel‘ des Föderalismus32, die dazugehörigen Gremien als dessen ,Arbeitspferde‘33 bezeichnet werden. Insgesamt funktioniert die hochgradig informelle intergouvernementale Koordination und Kooperation über Parteien-, Länder- und Ebenengrenzen sowie über sachlich begründete Interessenkonflikte hinweg so gut, dass politische Blockaden kaum noch vorkommen.34 Unter den verschiedenen Arenen der intergouvernementalen Verhandlungen kommt der MPK als Organ der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder unter Beteiligung der Bundeskanzlerin eine herausgehobene Position zu.35 In der MPK werden Materien verhandelt, die aufgrund ihrer höheren politischen Salienz oder Konflikthaftigkeit in den Fachgremien nur unzureichend behandelt werden können. 28 Hegele, Publius: The Journal of Federalism 2017, S. 244 – 268. 29 Benz, Föderale Demokratie, 2020, 240 ff. 30 Behnke, in: Behnke/Broschek/Sonnicksen (Hrsg.), Configurations, Dynamics and Mechanisms of Multilevel Governance, 2019, S. 41 – 59. 31 Hegele/Behnke, Politische Vierteljahresschrift 2013, S. 21 – 50. 32 Poirier/Saunders, in: Poirier/Saunders/Kincaid (Hrsg.), Intergovernmental Relations in Federal Systems. Comparative Structures and Dynamics, 2015, S. 1 – 13. 33 Cameron, International Social Science Journal 2001, S. 121 – 127. 34 Besonders augenfällig wird das niedrige Konfliktniveau – zumindest im Hinblick auf die Gesetzgebung – in der Gesetzgebungsstatistik des Bundesrates, wo Anrufungen des Vermittlungsausschusses in Legislaturperioden im niedrigen einstelligen Bereich liegen und die endgültige Ablehnung von Gesetzesvorlagen praktisch nicht mehr vorkommt. S. die Statistik der parlamentarischen Arbeit des Bundesrates: https://www.bundesrat.de/DE/dokumente/stati stik/statistik-node.html, letzter Aufruf 14. 06. 2021. 35 Für umfassende Darstellungen zur Geschichte, Struktur und Arbeitsweise der MPK s. Martens, Die Ministerpräsidentenkonferenzen, 2003 sowie Scherer, Zusammenarbeit im Bundesstaat seit 1871, 2009. Recht und Politik, Beiheft 10

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Während der Pandemie wuchs die MPK in die Rolle des zentralen Krisenstabes hinein. Die Frequenz ihrer Treffen erhöhte sich von vier jährlichen Treffen in Normalzeiten auf 25 Treffen zwischen März 2020 und März 2021, also im Schnitt alle zwei Wochen. Mit der öffentlichen Aufmerksamkeit, die sie dadurch plötzlich erfuhr, änderten sich auch die Erwartungen an ihre Leistungsfähigkeit als Krisenstab. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass die MPK als freiwilliges Selbstkoordinationsorgan der Länder unter (freiwilligem) Einbezug des Bundes keine Kompetenz hat, rechtlich bindende Beschlüsse zu fassen. Allenfalls entfalten gemeinsam gefasste Beschlüsse einen politischmoralischen Druck im Sinne einer Selbstverpflichtung36. So entspricht die Praxis, sich während eines Treffens auf formelhafte Kompromisse zu einigen, die man in Form eines Presse-Statements der Öffentlichkeit präsentiert, dann aber die konkrete Umsetzung der vereinbarten Leitlinien in Abstimmung mit und unter Rücksicht auf die eigenen Koalitionspartner im Land zu beschließen, der traditionellen Arbeitsweise der MPK. Hätten die Regierungschefinnen und -chefs den Versuch unternommen, die Beschlüsse in den Landesregierungen als quasi rechtsverbindlich durchzusetzen, hätten sie ihre Kompetenzen klar überschritten. Hierfür bietet die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes, die Länder als autonome und mit Souveränitätsrechten ausgestattete Rechtssubjekte schützt, keine Grundlage. Eine andere Sache ist es, dass die freiwillige Selbstkoordination in horizontalen intergouvernementalen Gremien ein Weg sein kann, einem vereinheitlichenden Eingriff des Bundes vorzubeugen. Unter Verweis auf die ,gleichwertigen Lebensverhältnisse‘ kann der Bund (und letztlich war dies genau die Argumentationslogik hinter der ,Notbremse‘) dann eine Kompetenzanziehung rechtfertigen, wenn die Länder im Wege der Selbstkoordination dem Anspruch einer hinreichend einheitlichen Rechtslage im Bundesgebiet nicht nachkommen. Dass die Länder sich in diesem Sinne nicht stärker um eine Selbstkoordination bemüht haben, dürfte an einem anderen Mechanismus liegen, der die MPK-Verhandlungen im Verlauf der Pandemie zusehends erschwerte. Während traditionell in MPK-Sitzungen ein strikter Ausschluss der Öffentlichkeit herrschte, was offene Aussprachen und sachliche Kompromisse jenseits von Parteilinien begünstigte, führte das aufgrund von Kontaktbeschränkungen ab Ende März 2020 eingeführte Format der Video-Konferenzen unter intensiver Beobachtung der Öffentlichkeit dazu, dass zusehends während der Beratungen schon Informationen über die sozialen Medien ,durchgestochen‘ wurden. Das Bewusstsein einer solchen Außenbeobachtung verändert aber notwendig den Charakter der Verhandlungen und erschwert den Wechsel von einem eigeninteressiert verhandelnden (,bargaining‘) in einen problemlösungsorientiert diskursiven (,arguing‘) Modus37. Diese Tendenz wurde schließlich durch einen weiteren Faktor noch verstärkt – den sich zuspitzenden Parteienwettbewerb in einem ,Superwahljahr‘. Während Verhandlungen zwischen föderalen Einheiten tendenziell kooperationsorientiert verlaufen, implizieren Verhandlungen zwischen Parteien Wettbewerb. Beide 36 Hegele/Behnke (Fn. 31). 37 Elster, Journal of Constitutional Law 2000, S. 346 – 421. 154

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Handlungsfähigkeit des Föderalismus in der Pandemie

Handlungslogiken überlagern sich im Föderalismus, was schon in den 1970er-Jahren von Gerhard Lehmbruch als ,Strukturbruch‘ bezeichnet wurde38. Die Wettbewerbslogik gewinnt nun zwangsläufig an Einfluss, wenn Politikerinnen und Politiker sich gleichzeitig im föderalen Krisenmanagement und im Wahlkampf befinden. So ließ sich beobachten, dass die MPK-Sitzungen in 2021 zusehends von Nervosität und kompetitiven Handlungsorientierungen geprägt waren. Die Verhandlungen gerieten zum ,Schaulaufen‘: nicht nur in der ,K-Frage‘, sondern auch mit Blick auf die eigene Wählerschaft versuchten MPK-Mitglieder ihre Reputation, etwa als Vertreter des ,Team Vorsicht‘ oder als Kritiker der Grundrechtsbeschränkungen, auszubauen. Der fast permanente elektorale Wettbewerb, in dem sich Deutschland befindet (17 Parlamente und Regierungen werden im vier-bis fünf-Jahres-Rhythmus gewählt), stellt also eine potenzielle Belastung für eine sach- und konsensorientierte föderale Verhandlung dar. Allerdings stellt sich die Frage, wie dieser Tendenz abgeholfen werden kann. Eine Verlängerung von Wahlperioden oder gar die Abschaffung von Wahlen wäre doch eine sehr drastische Reaktion auf die potenziell kontraproduktiven Effekte des Parteienwettbewerbs. Ähnlich wie beim Föderalismus überwiegen auch in der elektoralen Demokratie die normativen Vorteile (Autonomie, Mitbestimmung, Freiheitssicherung) klar die ungemütlichen Nebeneffekte der Uneinheitlichkeit oder der Kurzfristorientierung der Politik. Schließlich bekommt man regionale Autonomie nicht ohne Uneinheitlichkeit und Responsivität der gewählten Politiker nicht ohne Kurzfristorientierung an Umfrageergebnissen. Aus diesen Überlegungen bietet sich letztlich auch eine Antwort auf die oben formulierte Frage an, warum die Länder sich so bereitwillig auf die Bundesnotbremse einließen, obwohl sie einen deutlichen Eingriff in ihre Kompetenzen darstellte. Angesichts der wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit den Lockdown-Maßnahmen und im Lichte herannahender Wahlen erschien es vermutlich dem einen Politiker oder der anderen Politikerin angenehmer, hier ein ,blame-shifting‘39 betreiben zu können und sich achselzuckend hinter der Bundesnotbremse zu verstecken, für die man dann nicht mehr selbst zur politischen Verantwortung gezogen werden kann.

IV.

Fazit: Wie sinnvoll ist die Zentralisierung von Kompetenzen in Krisenzeiten?

Zusammengefasst gestaltet sich das föderale Krisenmanagement wie folgt: In intergouvernementalen Arenen koordinieren sich Politikerinnen und Politiker hinsichtlich des Policy-Making. Sie verständigen sich über die großen Linien der zu treffenden Entscheidungen und über grundsätzliche Regulierungsbedarfe, die gegebenenfalls durch den Bundestag in Gesetzes- oder Verordnungsform gegossen werden. Diese großen Linien werden dann dezentral von Regierungen und Verwaltungen in den 38 Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 2000. 39 Bednar, The Robust Federation. Principles of Design, 2009. Recht und Politik, Beiheft 10

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Ländern umgesetzt. Das lose gekoppelte Zusammenspiel zwischen koordinierter Rechtsetzung und dezentraler Umsetzung hat sich jedenfalls in ,Normalzeiten‘ als weitgehend effektiv und effizient bewährt. Auch in der Pandemie wurden diese föderalen Routinen beibehalten, wobei sich die Frequenz der Koordination intensivierte. Eingangs wurde die Forderung wiedergegeben, die horizontale Koordinierung des Policy-Making durch eine effizientere zentrale Koordinierung zu ersetzen, die dann auch einheitliche Vorgaben für den dezentralen Vollzug setzen würde. Die Rechtszersplitterung in der Fläche könne dadurch reduziert werden und entsprechend die Unsicherheit in der Bevölkerung darüber, was wann und wo gerade geltendes Recht ist. In Ansätzen wurde dieser Schritt durch die Bundesnotbremse vollzogen. Eine solche Kompetenzanziehung zur exekutiven Rechtsetzung verändert allerdings die bestehende Machtverteilung zwischen Bund und Ländern erheblich zugunsten des Bundes. Dies kann in der aktuellen normativen Rahmung durch das Grundgesetz nur dadurch gerechtfertigt werden, dass konkurrierende Rechtsgüter, wie etwa der Gesundheitsschutz in der Pandemie oder die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, dadurch bedeutsam gesteigert werden. Tatsächlich erbrachte die Bundesnotbremse wenig Mehrwert. Wie oben ausgeführt, dauerte es über vier Wochen, bis das Gesetz den regulären Gesetzgebungsprozess durchlaufen hatte und in Kraft trat. Vergleichbare Beschlüsse, die auf den MPK’en zuvor getroffen worden waren, wurden jeweils innerhalb weniger Tage in den einzelnen Ländern als Rechtsverordnungen umgesetzt. Auch der Gewinn an Einheitlichkeit ist überschaubar. Denn in dem Moment, als die Inzidenzen in einzelnen Landkreisen oder Ländern unter 100 sanken, griff wiederum das Landesrecht, das zwischen den Ländern variiert. Nun könnte man argumentieren, dass die Notbremse eben weiter ausformuliert werden und einen bundeseinheitlichen Stufenplan für Lockdown- bzw. ÖffnungsMaßnahmen bei unterschiedlichen Inzidenzen aufstellen müsse. Dagegen ist sachlich nichts einzuwenden. Nach rund eineinhalb Jahren Pandemie-Erfahrung kann angenommen werden, dass genügend Fachwissen vorhanden ist, um einen solchen Stufenplan unter Berücksichtigung der Kapazitäten des Gesundheitssystems und der dagegen auszubalancierenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedarfe aufzustellen. Andererseits müsste es dann ja auch möglich sein, eine entsprechende Einigung, die auf diesem einschlägigen Erfahrungswissen beruht, horizontal zwischen den Ländern zu vereinbaren, was wiederum die zentrale Regel überflüssig machen würde. Falls eine horizontale Einigung nicht möglich ist, etwa, weil der Parteienwettbewerb im Vorfeld von Wahlen eine zu stark kompetitive Orientierung bei den beteiligten Politikerinnen und Politikern begünstigt, stellt allerdings eine zentrale Regelung potenziell die Rückfalloption dar. Ein anderer Reformvorschlag zielt darauf, die MPK zu entlasten und stattdessen einen für diese Aufgabe ausdrücklich ausgewiesenen Krisenstab einzurichten. Dieser könnte ein erweitertes Gremium sein, das neben dem politischen und administrativen Spitzenpersonal noch Expertinnen und Experten sowie Vertreterinnen und Vertreter gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Interessen enthält. Prinzipiell ist es denkbar, ein 156

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Handlungsfähigkeit des Föderalismus in der Pandemie

weiteres Gremium zu schaffen. Nur: eine Erweiterung des Kreises beteiligter Personen dürfte im Hinblick auf die Entscheidungsgeschwindigkeit eher kontraproduktiv wirken. Und eine höhere Verbindlichkeit der Beschlüsse könnte ein solcher Krisenstab – zumindest ohne vorherige Zustimmung der Länder – auch nicht erzielen, da dies der bestehenden Machtverteilung widersprechen würde. Ob daher ein weiteres Parallelgremium neben der etablierten Institution der MPK wirklich die geforderte höhere Schlagkraft erreichen könnte, erscheint fragwürdig. Was den Vollzug in der Fläche angeht, kann generell die Effektivität eines dezentralen Verwaltungsvollzugs kaum in Zweifel gezogen werden. Wiederholt wurde aber deutlich, dass es einen großen Bedarf gibt, Daten schneller auszutauschen und zwischen den Ländern zu teilen. Entsprechende Infrastrukturen zu schaffen, ist offensichtlich seit über 10 Jahren dem IT-Planungsrat als horizontalem Selbstorganisationsgremium der Länder nur unzureichend gelungen. Auch hier könnte eine stärkere Zentralisierung der Koordinationsleistung daher Effizienzvorteile versprechen. Grundsätzlich sind das alles Aufgaben, die auch im Wege der freiwilligen horizontalen Organisation gelöst werden könnten. Wo aber der politische Wille unter den Ländern fehlt, sich zu einigen, bieten sie dem Bund ein Einfallstor, mit dem Argument der effizienten Problemlösung und der Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse weitergehende Kompetenzen an sich zu ziehen und damit mittelfristig den Föderalismus auszuhöhlen. Ohnehin lässt sich in der Langfristtendenz eine klare Machtverschiebung zugunsten des Bundes beobachten. Zunächst wurden die Materien der konkurrierenden Gesetzgebung nach und nach vom Bund an sich gezogen. Im vergangenen Jahrzehnt gaben die Länder außerdem zusehends Kontrollrechte über Vollzugsaufgaben ab40. Es liegt also letztlich in der Verantwortung der Länderchefinnen und -chefs, sich ihrer Koordinationsfähigkeit nicht aufgrund kurzfristiger Wettbewerbsorientierungen, begrenzter finanzieller Mittel oder von Strategien der Verantwortungsverschiebung selbst zu berauben und damit ihre Autonomie und ihren Einfluss als Länderkollektiv zu schwächen.

40 Behnke (Fn. 12). Recht und Politik, Beiheft 10

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Notstandsföderalismus* Ausgewählte verfassungsrechtliche Regelungen der Bundesländer im Notstandsfall Von Matthias Lemke Zumindest in einem Fall, nämlich in Bayern, haben die Mütter und Väter der Landesverfassung den merkwürdigen Humor bewiesen, die Regelungen zum Notstand ausgerechnet im Artikel 48 unterzubringen, also dem Artikel, der nach der Weimarer Reichsverfassung den Ausnahmezustand regelte. Wegen ihrer starken Fokussierung auf die Handlungsermächtigung der Regierung waren Sicherheit und Freiheit darin nicht gut ausbalanciert, wie die Geschichte gezeigt hat.1 Ungeachtet dieser Merkwürdigkeit macht noch ein anderer Umstand die Auseinandersetzung mit den Regelungen der Länder zum Ausnahmezustand im deutschen Föderalismus unumgänglich. Zwar legt das Grundgesetz in Art. 73 Abs. 1 Satz 1 den Schutz der Zivilbevölkerung als ausschließliche Gesetzgebungsdomäne des Bundes fest. Unter Zivilschutz fallen alle nicht-militärischen Maßnahmen im Verteidigungs- oder Spannungsfall, die dem Schutz der Bevölkerung und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Infrastruktur dienen. Dabei kann es sich um die Bevorratung von Lebensmitteln und die Unterhaltung von Trinkwassernotbrunnen ebenso handeln, wie um die Bereitstellung von Bunkeranlagen, Techniken zum CBRN-Schutz2 sowie die entsprechende bundeseinheitliche Ausbildung. Jenseits des Verteidigungs- oder Spannungsfalls ist Katastrophenschutz jedoch Ländersache, wie aus Art. 30 und Art. 70 Abs. 1 GG hervorgeht. Unter Katastrophenschutz werden grundsätzlich alle Maßnahmen verstanden, die von den örtlich zuständigen Stellen, den Kommunen, getroffen werden, um menschliches oder tierisches Leben, Gesundheit oder die Umwelt vor einer Gefahr zu schützen. Eine Katastrophe liegt dann vor, wenn ein vom Menschen gemachtes oder ein natürliches Ereignis zu so immensen Schäden führt, dass eine lokal für die Scha* 1

2

Zuerst in: RuP 1/2021, S. 16 – 25. Vgl. ausführlich Matthias Lemke, Notanker oder Sargnagel? Verfassungsrechtliche Konstruktion und politische Funktion des Ausnahmezustandes in der Weimarer Republik, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Aufbruch zur Demokratie. Die Weimarer Reichsverfassung als Bauplan für eine demokratische Republik, Baden-Baden 2020, S. 685 – 697. Die Abkürzung CBRN steht für Chemische, Biologische, Radioaktive und Nukleare Gefahren. Die vormalige Abkürzung ,ABC-Gefahren‘ – Atomare, Biologische, Chemische – ist nicht mehr gebräuchlich.

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Duncker & Humblot, Berlin

Notstandsföderalismus

denbekämpfung bzw. die Gefahrenabwehr zuständige Behörde zu ihrer Bewältigung nicht mehr in der Lage ist. Da es sich bei der Corona-Pandemie3, allein schon wegen ihrer räumlichen Ausdehnung über das gesamte Bundesgebiet hinweg, um ein Ereignis katastrophalen Ausmaßes handelt, ist es für eine umfassende Analyse und Bewertung der getroffenen Maßnahmen erforderlich, die entsprechenden landesrechtlichen Regelungen zu berücksichtigen. Nur so kann eine Analyse des coronabedingten Gesundheitsnotstandes in Deutschland4 gelingen. Nachfolgend möchte ich daher exemplarisch einige Landesverfassungen und Landesgesetze, die für das föderale Katastrophenmanagement ebenfalls einschlägig sind, kurz vorstellen und hinsichtlich ihrer Ausgestaltung einordnen5.

I. Notstandsföderalismus im Überblick Die Regierungen und Parlamente der 16 Bundesländer haben während der ersten Monate der Corona-Pandemie erheblich in die Grundrechte der Bürger*innen eingegriffen.6 Nicht weniger als sechs von ihnen erließen zeitweise weitreichende Ausgangsbeschränkungen. Neben diese Eingriffstiefe und die schiere Dynamik der In- wie Außerkraftsetzung entsprechender Regelungen, die im deutschlandweiten Schnitt alle drei bis fünf Tage erfolgte7, tritt noch die Vielfalt der Erscheinungen des deutschen „Föderallala“8, wie die ZDF-Satire-Sendung heute-show reichlich an der Sache vorbei spottete. Die konkreten Erscheinungen der auf Länderebene getroffenen Maßnahmen reichen von der einfachgesetzlichen Regelung über die bloße Empfehlung, von Erlassen bis hin zu Verordnungen. In der Summe haben die Regelungen der Länder zum Umgang mit Corona bereits in den ersten Monaten der Pandemie einen Grad an 3

4 5

6 7 8

Vgl. zu den politischen und rechtlichen Implikationen der Corona-Pandemie ausführlich Matthias Lemke, Deutschland im Notstand? Politik und Recht während der Corona-Krise, Frankfurt (Main) / New York 2021; vgl. ferner zum Föderalismus und seiner Leistungsfähigkeit in Krisensituationen Nathalie Behnke, Föderalismus in der (Corona‐)Krise? Föderale Funktionen, Kompetenzen und Entscheidungsprozesse, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 70 (35 – 37), S. 9 – 15. Vgl. hierzu ausführlich Lemke (Fn. 3), S. 208 f. Für die Möglichkeit einer typologischen Ausdifferenzierung rechtlicher Regelungen zum Ausnahmezustand vgl. Lemke, What does state of exception mean? A definitional and analytical approach, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft (ZPol), 2018, 373 – 384. Dort hatte ich zwei Varianten von Ausnahmezuständen unterschieden, nämlich extra-legale und legal. Die legalintegrierte Variante konnte zudem noch einmal in exekutiv- und legislativorientierte Subvarianten binnendifferenziert werden. Vgl. grundsätzlich zur Corona-Reaktion der Länder Nathalie Behnke (Fn. 4). Nathalie Behnke, In der Pandemie ist es besser, dezentral organisiert zu sein“, in: Der Spiegel, 43/2020, S. 20. Vgl. heute-show, Sendung vom 15. 05. 2020, online unter www.zdf.de/comedy/heute-show/ heute-show-vom-15-mai-2020 - 100.html; zugegriffen am 10. 10. 2020.

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Komplexität erreicht, dem manche Fachministerien und auch die ein oder andere Bundesbehörde nicht mehr gewachsen waren. Nachfolgend werde ich daher einige der existierenden Varianten „ausnahmezustandlicher“ Regelungen auf Länderebene vorstellen. Sie alle verfolgen das Ziel, der jeweiligen Landesregierung auch im Krisen- bzw. Katastrophenfall Handlungsfähigkeit zu sichern. Die jeweiligen konkreten verfassungsrechtlichen Prozeduren hierfür unterscheiden sich jedoch mitunter erheblich, weswegen ich einige auf den folgenden Seiten exemplarisch vorstellen möchte. Im Anschluss an die Vorstellung ausgewählter landesrechtlicher Regelungen des Notstandes möchte ich eine kurze Einordnung hinsichtlich ihrer Demokratieverträglichkeit versuchen. 1. Bayern Wie bereits eingangs erwähnt, regelt die Bayrische Landesverfassung den Notstand in Artikel 48 – und damit in just jenem Artikel, der als Hypothek aus der Weimarer Republik die Debatte um die Wiedereinführung der Notstandsgesetze in der Frühphase der Bundesrepublik so belastet hatte. Dort heißt es: (1) Die Staatsregierung kann bei drohender Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung das Recht der öffentlichen freien Meinungsäußerung (Art. 110), die Pressefreiheit (Art. 111), das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis (Art. 112) und die Versammlungsfreiheit (Art. 113) zunächst auf die Dauer einer Woche einschränken oder aufheben. (2) 1Sie hat gleichzeitig die Einberufung des Landtags zu veranlassen, ihn von allen getroffenen Maßnahmen unverzüglich zu verständigen und diese auf Verlangen des Landtags ganz oder teilweise aufzuheben. 2Bestätigt der Landtag mit der Mehrheit seiner gesetzlichen Mitgliederzahl die getroffenen Maßnahmen, so wird ihre Geltung um einen Monat verlängert. (3) Gegen die getroffenen Maßnahmen ist außerdem Beschwerde zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof zulässig; dieser hat innerhalb einer Woche wenigstens eine vorläufige Entscheidung zu treffen.

Dreierlei ist hier bemerkenswert. Zum einen sticht die sehr pauschal gehaltene Ermächtigung aus Absatz 1 ins Auge. Ausgehend von meiner Überlegung, dass eine Gefährdung nicht bloß eine objektive, sondern vielmehr eine beliebig als solche plausibilisierte Lage sein kann, kann das Fehlen jeglicher Spezifikation ein Einfallstor für eine missbräuchliche Verwendung der Notstandskompetenzen darstellen. Hinzu kommt noch die weitere Öffnung des Gefährdungsbegriffes, der um das Adjektiv ,drohend‘ – also als unmittelbar bevorstehend – ergänzt wird. Auch wenn das in rechtlicher Hinsicht ein hinreichend spezifischer Begriff sein mag, so ist keineswegs ausgeschlossen, dass deutungsmächtige Interpretationen in der politischen Öffentlichkeit dieses Zeitfenster des ,kurz Bevorstehens‘ auszudehnen versuchen könnten. Zum zweiten liegt die Initiativkompetenz zur Anwendung von Artikel 48 BayVerf bei der Staatsregierung, in letzter Instanz beim Ministerpräsidenten. Damit geht die Einberufung des Landtages von der Exekutive aus. Dieser muss dann seinerseits über die Verlängerung der von der Staatsregierung beschlossenen Maßnahmen über den Zeitraum von einer Woche hinaus befinden. Da sich die Staatsregierung notwendig –

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Stichwort Machtverschränkung – auf eine Mehrheit im Landtag stützen können muss, um regierungsfähig zu sein, ist die Kontrollfunktion, die von dieser Verzahnung von Exekutive und Legislative ausgeht, eher schwach ausgeprägt. Mit Blick auf die typologische Zuordnung halte ich daher eine Einordnung der Bayrischen Notstandsregelungen als exekutivorientiert9 für angemessen. Zum dritten fällt die Option zur Einschränkung der Pressefreiheit auf, die immer noch in zahlreichen Regelungen zum Ausnahmezustand zu finden ist. In Frankreich etwa verfügte die Staatsregierung im Gesetz über den état d’urgence (Loi No 358/55 vom 3. April 1955) bis zu den Anschlägen vom 13. November 2015 ebenfalls über eine solche Option. Sie ließ diese im Novellierungsprozess des Gesetzes, noch in der Woche nach den Anschlägen, aber fallen.10 Der damalige Premierminister Manuel Valls begründete diesen Schritt damit, dass es sich um eine veraltete, noch aus der Zeit des Algerienkrieges stammende Regelung zur Pressezensur handele. Heute aber wolle die Regierung Transparenz über ihre Maßnahmen schaffen und rücke daher von dieser Möglichkeit der Informationskontrolle ab. Was Valls nicht sagt: Im Zeitalter von Social Media und Smartphones ist Pressezensur ein mehr als untaugliches Mittel im Kampf um Informations- und Deutungshoheit. Vielleicht ist es auch für Bayern an der Zeit, diese Regelung zu überdenken, gerade wenn der Gesundheitsnotstand deutlich macht, wie wichtig gute Krisenkommunikation im Zuge der Pandemiebekämpfung ist. 2. Hessen Die Verfassung des Landes Hessen sieht ein ähnliches Arrangement zum Umgang mit außergewöhnlichen Krisensituationen vor wie Bayern. Allerdings gibt es einen wesentlichen institutionellen Unterschied. So legt Artikel 110 der Hessischen Landesverfassung fest: „Wenn die Beseitigung eines ungewöhnlichen Notstandes, der durch Naturkatastrophen oder andere äußere Einwirkungen hervorgerufen worden ist, es dringend erfordert, kann die Landesregierung, sofern der Landtag nicht versammelt ist und nicht rechtzeitig zusammentreten kann, in Übereinstimmung mit dem in Artikel 93 vorgesehenen ständigen Ausschuß Verordnungen, die der Verfassung nicht zuwiderlaufen, mit Gesetzeskraft erlassen. Diese Verordnungen sind dem Landtag bei seinem nächsten Zusammentritt zur Genehmigung vorzulegen. 9 Vgl. Lemke (Fn. 5), S. 375: (2.1) Examples of an executive-oriented legal integration of the SoE, which ascribes the authority for its proclamation to the executive, are the Ausnahmezustand, according to Article 48 of the Weimar Constitution (WRV), or the e´tat d’urgence (Loi No 358/55) in contemporary France. Both are based on a clear priority of the executive and on the concentration of competencies in its hands. These competences concern the proclamation as well as the capacity to act during the SoE. With regard to the history of ideas, the typical examples of an executive-oriented, legally integrated SoE constitutes Carl Schmitt’s commissary dictatorship. 10 Vgl. zur rechtswissenschaftlichen Einordnung der Situation in Frankreich nach den Anschlägen vom 13. 11. 2020 ausführlich Fabien Jobard, Ausnahmezustände: Die Eiche und das Schilfrohr der Rechtswissenschaften. Kann ein Begriff zugleich verformbar und zerbrechlich sein?, in: KrimJ 2019, 300 – 311. Recht und Politik, Beiheft 10

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Matthias Lemke Wird die Genehmigung versagt, so ist die Verordnung durch Bekanntmachung im Gesetz- und Verordnungsblatt unverzüglich außer Kraft zu setzen. Artikel 12211 gilt sinngemäß.“

Die Institution des ,Ständigen Ausschusses‘ wiederum ist in Art. 93 geregelt: Der Landtag bestellt einen ständigen Ausschuß (Hauptausschuß). Dieser Ausschuß hat, während der Landtag nicht versammelt ist und zwischen dem Ende einer Wahlperiode oder der Auflösung des Landtags und dem Zusammentritt des neuen Landtags, die Rechte der Volksvertretung gegenüber der Landesregierung zu wahren. Er hat auch die Rechte eines Untersuchungsausschusses. Seine Zusammensetzung wird durch die Geschäftsordnung geregelt. Seine Mitglieder genießen die in den Artikeln 95 bis 9812 festgelegten Rechte.

Auch in Hessen geht die Initiative zur Aktivierung des Krisen- und Notstandsmodus von der Landesregierung, also von der Exekutive aus. Im Unterschied zur Bayrischen Verfassung jedoch sieht Hessen eine Regelung für den Fall vor, dass der Landtag an einem ordnungsgemäßen Zusammentreten gehindert ist. Dann tritt anstelle des Parlaments der ,Ständige Ausschuss‘, der die Funktion der Legislative an deren Stelle wahrnimmt. Eine ähnliche Regelung sieht auch das Grundgesetz für den Äußeren Notstand vor, den ich an anderer Stelle ausführlich erläutert hatte.13 Da die Hessische Landesverfassung eine Pandemie als Auslöser für die Verhängung des Notstandes nicht ausschließt, wäre der Rückgriff auf den ,Ständigen Ausschuss‘ in Hessen, etwa für den Fall eines weiter ausufernden Infektionsgeschehens, durchaus denkbar. Da ist, so könnte man sagen, Hessen weiter als der Bund. Denn der Innere Notstand, unter den überhaupt nur eine Pandemiebekämpfung fallen könnte, sieht die Einberufung des Gemeinsamen Ausschusses von Bundestag und Bundesrat nach Art. 53a GG nicht vor. Und so hatte es gerade in der Akutphase des ersten Krisenzyklus im März/April 2020 wiederholt Vorstöße, unter anderem von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, in diese Richtung gegeben, die allerdings nicht von Erfolg gekrönt waren. 3. Sachsen Die Bestimmungen zum Umgang mit einem Notstand unterscheiden sich im Freistaat Sachsen noch einmal von den beiden vorgenannten Modellen. In Abschnitt 11 unter der Überschrift „Übergangs- und Schlußbestimmungen“ legt Art. 113 der Verfassung des Freistaates Sachsen fest: (1) Ist bei drohender Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Landes oder für die lebensnotwendige Versorgung der Bevölkerung sowie bei einem Notstand infolge einer Naturkatastrophe oder eines besonders schweren Unglücksfalles der

11 Artikel 122 der Hessischen Landesverfassung über die Bekanntgabe außerhalb des Gesetz- und Verordnungsblattes bestimmt: „Kann das Gesetz- und Verordnungsblatt nicht rechtzeitig erscheinen, so genügt jede andere Art der Bekanntmachung des Gesetzes. In diesem Falle ist die Verkündung im Gesetz- und Verordnungsblatt alsbald nachzuholen.“ 12 Die Artikel 95 bis 98 der Hessischen Landesverfassung bestimmen die Rechtsstellung der Landtagsabgeordneten in Sachen Indemnität, Immunität, Zeugnisverweigerungsrecht und Entschädigung. 13 Vgl. Lemke (Fn. 3), S. 87 – 93. 162

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Notstandsföderalismus Landtag verhindert, sich alsbald zu versammeln, so nimmt ein aus allen Fraktionen des Landtages gebildeter Ausschuss des Landtages als Notparlament die Rechte des Landtages wahr. Die Verfassung darf durch ein von diesem Ausschuss beschlossenes Gesetz nicht geändert werden. Die Befugnis, dem Ministerpräsidenten das Vertrauen zu entziehen, steht dem Ausschuss nicht zu. (2) Solange eine Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Landes droht, finden durch das Volk vorzunehmende Wahlen und Abstimmungen nicht statt. Die Feststellung, dass Wahlen und Abstimmungen nicht stattfinden, trifft der Landtag mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder. Ist der Landtag verhindert, sich alsbald zu versammeln, so trifft der in Absatz 1 genannte Ausschuss die Feststellung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder. Die verschobenen Wahlen und Abstimmungen sind innerhalb von sechs Monaten, nachdem der Landtag festgestellt hat, dass die Gefahr beendet ist, durchzuführen. Die Amtsdauer der in Betracht kommenden Personen und Körperschaften verlängert sich bis zum Ablauf des Tages der Neuwahl. (3) Die Feststellung, dass der Landtag verhindert ist, sich alsbald zu versammeln, trifft der Präsident des Landtages. (4) Gesetze werden im Fall des Absatzes 1, falls eine rechtzeitige Verkündung im Gesetz- und Verordnungsblatt des Freistaates Sachsen nicht möglich ist, auf andere Weise öffentlich bekanntgemacht. Die Verkündung im Gesetz- und Verordnungsblatt ist nachzuholen, sobald die Umstände es zulassen. (5) Beschlüsse des in Absatz 1 genannten Ausschusses können vom Landtag aufgehoben werden, wenn dies spätestens vier Wochen nach dem nächsten Zusammentritt des Landtages beantragt wird.

Die Regelungen in Sachsen unterscheiden sich in zweierlei Hinsicht von denen in Bayern und Hessen. Zum einen ist das politische Gewicht, also die Initiativkompetenz der Legislative zu nennen. Das Parlament, oder, falls es am Zusammentreten gehindert ist, ein ,Gemeinsamer Ausschuss‘ entscheidet laut Absatz 2 darüber, wie lange eine ,Gefahr‘ Bestand hat. Das bedeutet im Umkehrschluss auch, dass die Legislative und nicht die Regierung letztinstanzlich über die Dauer der notstandlichen Maßnahmen befindet. Daher halte ich im vorliegenden Fall die Einordnung der Regelungen als legislativorientiert14 für angemessen. Darüber hinaus unternimmt der Verfassungstext einen Versuch der näheren Bestimmung solcher Tatbestände, die als notstandswürdig in Betracht kommen. Eine solche Eingrenzung ist wichtig, da sie einen Deutungsrahmen vorgibt, der politische Akteure in ihrer Interpretation der Ereignisse bindet. In Sachsen gibt es einerseits die Eingrenzung, wonach eine Naturkatastrophe, ein besonders schwerer Unglücksfall oder das 14 Vgl. Lemke (Fn. 5), S. 375: A far less common form of legally integrated SoEs are those institutional ar-rangements that attribute farreaching competences to the legislature. In these cases, the SoE can only be imposed if the parliament or a part of the parliament agrees. This is the case, for example, in the German Notstand (Articles 35 and 91 GG), which is based on the experiences of the Weimar Republic and deliberately tries to avoid exaggerated executive power […]. In this sense, corresponding institutional arrangements can be described as non-executiveoriented legal variants of SoE. Nonetheless, once the SoE is proclaimed, the executive has the central competence to act. Recht und Politik, Beiheft 10

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Versagen der lebensnotwendigen Versorgung der Bevölkerung notstandswürdig sind. Zudem ist der Notstand im Falle der substanziellen Bedrohung der freiheitlich demokratischen Grundordnung des Landes vorgesehen. Drei der vier auslösenden Szenarien sind demnach nicht politischer Natur, d. h. sie sollten anhand objektiver Merkmale identifizierbar sein. Lediglich das vierte Szenario bietet Raum für politische Ausdeutungen. 4. Nordrhein-Westfalen Ähnlich legislativorientiert gibt sich die Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen. Sie regelt den Notstand in Art. 60. Dort heißt es: (1) Ist der Landtag durch höhere Gewalt daran gehindert, sich frei zu versammeln, und wird dies durch einen mit Mehrheit gefaßten Beschluß des Landtagspräsidenten und seiner Stellvertreter festgestellt, so kann die Landesregierung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung oder zur Beseitigung eines Notstandes Verordnungen mit Gesetzeskraft, die der Verfassung nicht widersprechen, erlassen. (2) Diese Verordnungen bedürfen der Zustimmung eines in der Geschäftsordnung zu bestimmenden Ausschusses, es sei denn, daß auch dieser nach einer entsprechend Absatz 1 zu treffenden Feststellung am Zusammentritt verhindert ist. (3) Verordnungen ohne Beteiligung des in der Geschäftsordnung zu bestimmenden Ausschusses sind nur mit Gegenzeichnung des Landtagspräsidenten rechtswirksam. Die Gegenzeichnung erfolgt oder gilt als erfolgt, sofern der Landtagspräsident und seine Stellvertreter dies mit Mehrheit beschließen. (4) Die Feststellung des Landtagspräsidenten und seiner Stellvertreter ist jeweils nur für einen Monat wirksam und, wenn die Voraussetzungen des Notstandes fortdauern, zu wiederholen. (5) Die Verordnungen sind dem Landtage bei seinem nächsten Zusammentritt zur Genehmigung vorzulegen. Wird die Genehmigung versagt, so sind die Verordnungen durch Bekanntmachung im Gesetz- und Verordnungsblatt unverzüglich außer Kraft zu setzen.

Auch diese Bestimmungen können als sehr weitreichend zugunsten des Parlaments charakterisiert werden. Denn im Falle nicht näher definierter ,höherer Gewalt‘, die nur dahingehend, wenn auch nicht abschließend, konkreter bestimmt wird, dass sie das Zusammenkommen des Landtages verhindert, ist die Regierung befugt, verfassungskonforme Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen. Die Voraussetzung hierfür ist aber die Feststellung des Landtages, wegen höherer Gewalt an der Ausübung seiner Funktion gehindert zu sein. Damit liegt auch hier eine legislativorientierte Konstellation vor, die dem Parlament die Deutungshoheit über das Vorliegen eines Notstandes zuspricht. Im Unterschied zu Sachsen jedoch unterlässt es die Landesverfassung NordrheinWestfalens indes, konkrete notstandliche Szenarien zu definieren. Das hat im Zuge der Bekämpfung der Corona-Pandemie – noch dazu just in dem Zeitfenster, als Frankreich sich einen Gesundheitsnotstand gab und der Deutsche Bundestag das Infektionsschutzgesetz (IfSG) novellierte – dazu geführt, dass in Nordrhein-Westfalen gesetzlich

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in Form des sogenannten „Epidemiegesetzes“15 ad hoc eine Anpassung der geltenden Regelungen erfolgte. 5. Baden-Württemberg Einen nochmal ganz eigenen Entwurf hinsichtlich der Regelungen des Ausnahmefalls legt die Verfassung des Landes Baden-Württemberg vor. Die Regelungen zum Verfahren angesichts einer drohenden Gefahr für den Bestand des Landes sind dort in Artikel 62 festgehalten. Dieser lautet: (1) Ist bei drohender Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Landes oder für die lebensnotwendige Versorgung der Bevölkerung sowie bei einem Notstand infolge einer Naturkatastrophe oder eines besonders schweren Unglückfalls der Landtag verhindert, sich alsbald zu versammeln, so nimmt ein Ausschuss des Landtags als Notparlament die Rechte des Landtags wahr. Die Verfassung darf durch ein von diesem Ausschuss beschlossenes Gesetz nicht geändert werden. Die Befugnis, dem Ministerpräsidenten das Vertrauen zu entziehen, steht dem Ausschuss nicht zu. (2) Solange eine Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Landes droht, finden durch das Volk vorzunehmende Wahlen und Abstimmungen nicht statt. Die Feststellung, daß Wahlen und Abstimmungen nicht stattfinden, trifft der Landtag mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder. Ist der Landtag verhindert, sich alsbald zu versammeln, so trifft der in Absatz 1 Satz 1 genannte Ausschuss die Feststellung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder. Die verschobenen Wahlen und Abstimmungen sind innerhalb von sechs Monaten, nachdem der Landtag festgestellt hat, daß die Gefahr beendet ist, durchzuführen. Die Amtsdauer der in Betracht kommenden Personen und Körperschaften verlängert sich bis zum Ablauf des Tages der Neuwahl.

Zudem regelt Artikel 61 BWVerf die Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen. Hierzu heißt es in Absatz 1: (1) Die Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen kann nur durch Gesetz erteilt werden. Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmt werden.

Was macht diese Regelungen so besonders? Kurz gesagt zeigen die Regelungen der Landesverfassung Baden-Württembergs für den Notstandsfall eine besonders starke Betonung parlamentarischer Regelungskompetenz im Krisenfall – und zwar noch einmal deutlicher ausgeprägt als das in Sachsen und Nordrhein-Westfalen der Fall war. Das lässt sich daran erkennen, dass die Möglichkeit, per Verordnung zu regieren, eines vorherigen Gesetzes bedarf, das genau diese Möglichkeit freigibt. Dieses Gesetz ist entweder durch den Landtag selbst oder aber durch ein Notparlament zu erlassen. Insofern ist im Notstandsfall die Legislative zwingend der Exekutive vorgeschaltet.

15 Vgl. Gesetz zur konsequenten und solidarischen Bewältigung der COVID-19-Pandemie in Nordrhein-Westfalen und zur Anpassung des Landesrechts im Hinblick auf die Auswirkungen einer Pandemie, in: Gesetz- und Verordnungsblatt (GVBl. NRW), Ausgabe 2020 Nr. 12b vom 14. 04. 2020 S. 217b bis 244b, online unter: https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_vbl_detail_text? anw_nr=6&vd_id=18406. Recht und Politik, Beiheft 10

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Hinzu kommt noch die Eingrenzung verschiedener Tatbestände, die den Notstand auslösen können. Das ist eine Parallele zu den Regelungen, wie sie auch die Verfassung von Nordrhein-Westfalen kennt. Beides zusammengenommen, das Primat der Legislative und die tatbestandliche Eingrenzung, erhöht die Demokratieverträglichkeit der Regelungen. Denn sie grenzen den Handlungsspielraum und damit das Missbrauchspotenzial des Notstands durch die Exekutive ein. 6. Berlin Und noch eine letzte landesrechtliche Regelung des Notstandes möchte ich vorstellen, die des Landes Berlin. Die Verfassung Berlins enthält keine expliziten Regelungen zum Ausnahme- oder Notstand. Einschlägig ist stattdessen das Gesetz über die Gefahrenabwehr bei Katastrophen (Katastrophenschutzgesetz KatSG). Es definiert in § 2 Abs. 1 den Katastrophenfall wie folgt: (1) Katastrophen im Sinne dieses Gesetzes sind Großschadensereignisse, die zu einer gegenwärtigen Gefahr für das Leben oder die Gesundheit einer Vielzahl von Menschen, für die Umwelt oder für sonstige bedeutsame Rechtsgüter führen und die von den für die Gefahrenabwehr zuständigen Behörden mit eigenen Kräften und Mitteln nicht angemessen bewältigt werden können.

Analog dazu bedeutet Katastrophenschutz den vorbeugenden oder akuten „Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren und Schäden, die von Katastrophen ausgehen“. Wird das Vorliegen einer Katastrophe festgestellt, so erklärt die Senatsbehörde für Inneres den Katastrophenfall. In dieser Situation besteht für die im Katastrophenschutz mitwirkenden Behörden (etwa die Berliner Feuerwehr) die Möglichkeit, im Zuge der Gefahrenabwehr Grundrechtseinschränkungen vorzunehmen. Hierzu präzisiert § 20 KatSG, dass „die Grundrechte der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, Art. 8 Abs. 1 S. 2 der Verfassung von Berlin) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG, Art. 28 Abs. 2 VvB) eingeschränkt“ werden können. Konkret kann es sich dabei um die Einrichtung von Sperrzonen ebenso handeln wie um das Aussprechen von Betretungsverboten, das Erteilen von Platzverweisen oder die Gestellung von für den Einsatzerfolg notwendigen Materialien und Geräten sowie die Gestattung von Zutritt auf privaten Grundstücken. Eine geographische Beschränkung sieht das Gesetz nicht vor, so dass auch die Festlegung einer landesweiten Sperrzone denkbar wäre. Das Besondere der Berliner Regelungen besteht ohne Zweifel darin, dass Katastrophenschutzmaßnahmen vollständig als Verwaltungsaufgabe an die Senatsverwaltung für Inneres sowie deren nachgeordnete Behörden delegiert sind. Krisenmanagement erweist sich somit als eine jeweils akut zu bewältigende Aufgabe, die eine situative Einbeziehung des Parlaments nicht erforderlich macht. Die Berliner Regelung ist somit als weitreichend exekutivorientiert einzustufen. Der Berliner Senat wäre nur dann involviert, wenn eine Neufassung des Katastrophenschutzgesetzes anstünde.

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II. Notstandsföderalismus Die verfassungsrechtlichen Regelungen des deutschen Föderalismus zum Krisenmanagement sind vor allem eins: vielfältig. Das ist zuallererst eine Feststellung, keine Wertung. Im Kern laufen alle 16 Modelle zur Regelung des Notstandes auf die Wahrung der Handlungsfähigkeit der jeweiligen Landesregierung hinaus. Das jeweilige institutionelle Setting – hier insbesondere die Kompetenzzuschreibung zwischen Regierung und Parlament – und die tatbestandliche Definition dessen, was einen Notstand erforderlich macht, variieren aber sehr stark. In der öffentlichen Debatte hat sich, und das gilt für den Bund ebenso wie für die Länder, die Rolle der Parlamente als ein besonders kontrovers beurteilter Aspekt herausgestellt. Uneinigkeit entsteht dabei wesentlich um die Frage, ob die Parlamente als Repräsentationsforen politischer Öffentlichkeit ihre Aufgabe hinreichend aktiv wahrnehmen. Oder um es zuzuspitzen: Nicken die Parlamentarier*innen Regierungswünsche bloß willfährig ab oder entwerfen sie ein Korrektiv, gar eine kritische Gegenöffentlichkeit zu überbordenden exekutiven Machtphantasien? Keine der hier exemplarisch vorgestellten Regelungen lässt, und das scheint mir bedeutend zu sein, auch nur im Ansatz erkennen, dass der parlamentarische Betrieb per Verordnung oder sonst irgendwie durch die Regierung eingeschränkt werden könnte. Im Gegenteil: Zahlreiche Regelungen verweisen ausdrücklich auf die Anhörungs- und Mitbestimmungspflicht oder sogar auf die Iniitiativkompetenz der Legislative im Notstandsfall. Das entspricht dem Wesen der bundesrepublikanischen Notstandsidee – eine starke parlamentarische Beteiligung ist gerade in Krisensituationen sicherzustellen. Wahr ist aber auch: Diese starke parlamentarische Beteiligung will, ja muss gelebt, sie muss im Zweifelsfall auch aktiv eingefordert werden. Wird sie es nicht, wie manche Kritiker*innen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zu Recht beklagen16, dann liegt das bislang nicht an einer Missachtung parlamentarischer Befugnisse durch übermächtig gewordene Regierungen. Vielmehr scheint mir eine Selbstentmachtung der Parlamente vorzuliegen. Der Wunsch nach nationalem Konsens strahlt offenbar stärker als das Bedürfnis nach kritisch-konstruktiver Debatte. Gerade in der Akutphase der Krisenreaktion – und das nicht erst seit der Corona-Pandemie – agiert die Legislative häufig nach dem Motto ,Weniger Kontroverse wagen‘, was ihr im Falle des Machtmissbrauchs der Exekutive den Vorwurf der Komplizenschaft eintragen würde. Welche Gründe für dieses Muster parlamentarischer „Selbtverzwergung“ ausschlaggebend sind, bedarf gerade aus demokratietheoretischer Perspektive einer eingehenderen Untersuchung.

16 Eine pointierte Kritik an einer nicht hinreichend ausgeprägten Rolle der Parlamente während der Corona-Pandemie haben jüngst etwa Hans Michael Heinig und Christoph Möllers in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Titel vorgelegt: Hans Michael Heinig/Christoph Möllers, Die Stunde der Legislative, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 10. 2020, S. 11. Recht und Politik, Beiheft 10

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Eine verfassungskonforme (Impf‐)Schererei: Zur Einführung des französischen Impfpasses im Konkreten und dem Rechtsprechungsparadox des Verfassungsrats im Allgemeinen* Von Sarah Geiger In einer Normenkontrollentscheidung hat der französische Verfassungsrat Ende Januar die Einführung eines COVID-Impfpasses für verfassungskonform erklärt. Die Entscheidung veranschaulicht nicht nur, wie es in unserem Nachbarland politisch und rechtlich um die Pandemiebekämpfung steht. Sie bietet auch ein interessantes Beispiel für die Rechtsprechungsentwicklung des Verfassungsrats, der versucht, sowohl traditionellen Vorstellungen von „richterlicher“ Zurückhaltung als auch wachsenden Erwartungen an eine effektive Kontrolle des Gesetzgebers gerecht zu werden.

I. Politischer und rechtlicher Hintergrund der Entscheidung 1. Ein genervter und nerv-williger Präsident Die Botschaft des französischen Präsidenten, Emmanuel Macron, im Dezember 2021 war klar: Eine Impflicht komme nicht, er wolle die Impfunwilligen jedoch nerven (wörtlich „emmerder“; ein deutlich vulgäreres Wort als bloß „énerver“). Sein Ziel: Ab dem 15. Januar 2022 solle es für den ungeimpften Bevölkerungsteil unmöglich werden, Rotwein oder Kaffee in öffentlichen Einrichtungen zu trinken, Theater oder Kino zu besuchen – kurzum an elementaren Alltagsaktivitäten teilzuhaben. 2. Die kontroverse Einführung eines Impfpasses und die Anrufung des Verfassungsrats Tatsächlich hat die französische Nationalversammlung, die unmittelbar vom Volk gewählte Parlamentskammer, ein von Macrons Premierminister Jean Castex initiiertes Gesetzesvorhaben am 16. Januar verabschiedet. Dieses sieht vor, dass der bisher in Frankreich gültige Gesundheitspass durch einen Impfpass ersetzt wird. Dadurch ist der Zugang zu nicht näher definierten Freizeitaktivitäten, Restaurants, körpernahen Dienstleistungen, öffentlichen Versammlungen sowie dem öffentlichen Fernverkehr ab *

Zuerst in: RuP 2/2022, S. 205 – 212.

Recht und Politik, Beiheft 10 (2022), 168 – 175

Duncker & Humblot, Berlin

Eine verfassungskonforme (Impf‐)Schererei

sechzehn Jahren nur noch unter Vorlage eines Impfnachweises möglich.** Grundsätzlich nicht mehr ausreichend ist ein 24-Stunden alter Negativtest oder der Nachweis einer bis zu sechs Monate zurückliegenden COVID-Erkrankung1. Am 17. Januar haben je 60 Abgeordnete und 60 Senatoren den Verfassungsrat gemäß Art. 61 Abs. 2 der Verfassung angerufen. Nach kontroversen Parlamentsdebatten, in denen sich Macrons Mehrheit erwartungsgemäß durchsetzen konnte, hatten die der Opposition entstammenden Antragssteller große Hoffnungen in die Normenkontrolle a priori gesetzt. Auch der gesellschaftliche Widerstand gegenüber der Einführung eines Impfpasses war unter Geimpften und Ungeimpften groß. Die Polarisierungskraft des Themas tritt in den „externen Beiträgen“2, die dem Verfassungsrat während des Verfahrens übermittelt wurden, deutlich hervor. Ein Zusammenschluss von 22 635 Bürgern pranget darin etwa auf pathetische Weise an, das Gesetz fuße in Wahrheit auf dem Willen des Präsidenten, eine nationale Minderheit zum Objekt eines klinischen Versuchs zu machen3. Auf Antrag des Premierministers hat der Verfassungsrat im Eilverfahren entschieden und seine Entscheidung vier Tage später, am 21. Januar, veröffentlicht.4 Der Eilantrag des Premierministers kann als Ausdruck politischer Siegessicherheit gedeutet werden5, die durch die Erklärung der Verfassungskonformität des Impfpasses bestätigt wurde.

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Einleitender Hinweis: Der Beitrag spiegelt die Rechtslage von Anfang Februar 2022 wider. Seit dem 14. März ist die Pflicht zur Vorlage des Impfpasses an allen Orten, an denen er notwendig war, ausgesetzt. Der Zutritt zu Gesundheitseinrichtungen steht nunmehr unter dem Vorbehalt der Vorlage eines Gesundheitspasses. Der Premierminister wurde gesetzlich ermächtigt, einen Genesenennachweis anstelle des Impfpasses ausreichen zu lassen (vgl. unten). Das hat er auch getan, ab 15. Februar 2022 gilt der Nachweis jedoch nur noch vier Monate. Art. 61 Abs. 2 der französischen Verfassung beschränkt den Kreis der Personen, die den Verfassungsrat im abstrakten Normenkontrollverfahren anrufen können, auf den Präsidenten, den Premierminister, die Kammerpräsidenten oder je 60 Abgeordnete oder Senatoren. Gleichwohl hat sich im Lauf der Jahre eine Verfahrenspraxis herausgebildet und verstärkt, die es allen interessierten Dritten erlaubt, dem Verfassungsrat ihren rechtlichen Standpunkt zum Kontrollgegenstand zu kommunizieren (System der „porte étroite“, heute schlicht „contributions extérieures“ genannt). Der Verfassungsrat veröffentlicht diese externen Beiträge seit 2019 auf seiner Homepage. Der Staatspräsident hat jedoch kein Gesetzesinitiativrecht. Entscheidung Nr. 2022 – 835 DC vom 21. Januar 2022. Es ist in Frankreich bekannt, dass die Organe der Exekutive, die über Anrufungs- und Antragsrechte im Normenkontrollverfahren a priori verfügen, diese nutzen, um eine rasche Verfassungskonformitätserklärung durch den Verfassungsrat herbeizuführen, sofern es sich um ein von der Exekutive vorgeschlagenes Gesetz handelt. Für verfassungskonform erklärte Gesetzesbestimmungen können grundsätzlich nicht mehr im Kontrollverfahren a posteriori erneut in Frage gestellt werden.

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II. Verfassungsrechtliche Bewertung des Impfpasses 1. Begrenzung des Anwendungsbereichs auf risikoträchtige Freizeitaktivitäten: zur Unterbrechung der Virusausbreitung geeignete Grundrechtsbeschränkung Auch in Frankreich verfolgt der Gesetzgeber mit seinen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung das verfassungsrechtliche Ziel des Gesundheitsschutzes. Dieses muss er in einen Ausgleich mit den durch die Verfassung garantierten Rechten und Freiheiten bringen. Konkret geht es bei der Einführung des Impfasses nicht darum, das Virus auszurotten, sondern seine unkontrollierte Ausbreitung zu unterbrechen. An diesem Maßstab misst der Verfassungsrat die Gesetzesbestimmungen. Den Zugang zu den eingangs genannten Orten zu begrenzen, verletzt die Freiheit, zu kommen und zu gehen, und, soweit die angegriffenen Bestimmungen öffentliche Versammlungen einschränken, das Recht, kollektiv seine Meinung zu äußern.6 Sofern die ergriffenen Maßnahmen jedoch nicht offensichtlich ungeeignet (unangemessen, „inapproprié“) zur Zielerreichung sind, geht es in erster Linie darum, sicherzustellen, dass ihre Anwendung mit ausreichenden Grenzen und Garantien einhergeht. Die Einführung des Impfpasses erscheint nicht gänzlich ungeeignet, das Ziel des Gesundheitsschutzes zu erreichen, denn es gilt als wissenschaftlich nachgewiesen, dass eine Impfung das Risiko einer Virusübertragung oder eines schweren Krankheitsverlaufs senkt.7 Da die Einführung des Impfpasses die Offensichtlichkeitsprüfung übersteht, prüft der Verfassungsrat nicht, ob das Ziel des Gesundheitsschutzes auch auf andere Weise hätte erreicht werden können. Maßgebend ist nunmehr die Sicherstellung, dass die eingeführten Maßnahmen der aktuellen Virusverbreitung und den damit einhergehenden Auswirkungen auf das Gesundheitssystem ausreichend Rechnung tragen. Auch die tatsächlichen (nicht näher definierten) Gesundheitsrisiken der jeweiligen Aktivitäten stellen ein gewichtiges Argument dar. So gilt der Impfass nur für Orte, die aufgrund der räumlichen Nähe einer erheblichen Personenzahl und der Art der Aktivitäten ein erhöhtes Infektionsrisiko bergen. Er wird nicht für Einkäufe des täglichen Lebens benötigt und muss erst ab einem durch Verordnung festzulegenden Inzidenzwert vorgezeigt werden. Bei nicht näher definierten familiären oder medizinischen Notfällen ist für den öffentlichen Fernverkehr eine Ausnahme von der Vorlagepflicht vorgesehen. Auch eine zeitliche Anwendungsbegrenzung enthalten die Gesetzesbestimmungen schließlich: Sie sollen nur solange gelten, wie dies zur Pandemiebekämpfung nötig erscheint, was aktuell der 31. Juli 2022 ist.8 6 7 8 170

Rn. 10 der vorliegenden Entscheidung. Sofern nicht anders gekennzeichnet, handelt es sich im Folgenden bei zitierten Randnummern um Verweise auf die aktuelle Entscheidung. Rn. 11 ff. Vgl. Rn. 13. S. auch den einleitenden Hinweis zur geänderten Rechtslage. Recht und Politik, Beiheft 10

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2. Keine De-facto-Impfpflicht für Freizeitaktivitäten, für bestimmte Berufsgruppen jedoch schon Eine besonders kontroverse öffentliche Debatte hatte das von den Antragsstellern aufgegriffene Argument ausgelöst, der Gesetzgeber führe mit seinem Impfpass de facto eine Impflicht ein. Die Antwort des Verfassungsrats orientiert sich am bekannten Rechtfertigungsmaßstab, wenngleich die Ratsmitglieder danach unterscheiden, ob der Impfpass für den Zutritt zu bestimmten Orten oder die Ausübung der Erwerbstätigkeit an ebenjenen Orten gilt. Da die Zugangsbeschränkung auf der besonderen Natur der Orte und Aktivitäten beruht, kann die hier geltende Vorlagepflicht nicht einer allgemeinen Impfpflicht gleichgesetzt werden. Personen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nachweislich nicht impfen lassen können, müssen keinen Impfpass besitzen. Die Ermessensentscheidung der Exekutive, natürliche und durch Impfung herbeigeführte Immunität durch die mögliche Vorlage eines Genesenennachweises gleichzusetzen, soll ebenfalls gegen einen Impfpflichtcharakter der Regelung sprechen.9 Allerdings erkennt der Verfassungsrat an, dass die Pflicht bestimmter Erwerbstätiger, einen Impfpass vorzulegen, um eine Suspendierung des Arbeitsvertrags zu vermeiden, im Ergebnis der Einführung einer Impflicht gleichkommt.10 Da sie zum Gesundheitsschutz nicht offensichtlich ungeeignet ist, prüft der Verfassungsrat nicht die Erforderlichkeit der Regelung. Rechtfertigend wirkt das eng umrahmte Ermessen, das der Exekutive bei der Verpflichtung zur Vorlage des Impfpasses zukommt – entscheidend ist das tatsächliche Infektionsrisiko im Licht der jeweiligen Bevölkerungsdichte – sowie die Risikohaftigkeit der betroffenen Tätigkeiten. Auch hier sind Personen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können, von der Vorlagepflicht befreit. Der Verfassungsrat kommt hinsichtlich der grundlegenden Bestimmungen, die den Impfpass einführen, zu dem Ergebnis, dass sie vorbehaltslos mit der Verfassung vereinbar sind. Zwar verletzen sie mehrere Grundrechte. Die Regelungen beruhen jedoch auf objektiv nachvollziehbaren Erwägungen des Gesetzgebers; sie erscheinen im Lichte der pandemischen Lage schlechthin angemessen. Die Ausführungen des Verfassungsrates lassen den Schluss zu, dass ihr Anwendungsbereich weder zu weit ist, noch die Gefahr schwerwiegender Grundrechtsverletzungen im Einzelfall mit ihrer Anwendung einhergeht. Anderes gilt in Bezug auf die Erlaubnis zum hoheitlichen oder privaten Ergreifen zusätzlicher Eindämmungs- bzw. Verifizierungsmaßnahmen.

9 Rn. 18 ff., insb. Rn. 21. 10 Rn. 29. Recht und Politik, Beiheft 10

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3. Zusätzliche Maßnahmen unterliegen dem Vorbehalt der verfassungskonformen Auslegung Das „Impfpass-Gesetz“ enthält eine weitere Verordnungsermächtigung für den Premierminister. Dieser kann die Vorlage eines zusätzlichen Negativtests für bestimmte Aktivitäten, die ein besonders hohes Übertragungsrisiko mit sich bringen, anordnen. Laut Verfassungsrat darf dies jedoch nicht für den öffentlichen Fernverkehr gelten. Andernfalls liegt ein (ungerechtfertigter) Verstoß gegen die Freiheit, zu kommen und zu gehen, vor.11 Argumente, die den Verfassungsrat zu diesem Ergebnis bewegt haben, fehlen. Befürchtungen hinsichtlich des Rutsches hin zu einer „Überwachungsgesellschaft“ hatte schließlich eine Gesetzesbestimmung hervorgerufen, die Betreibern von Einrichtungen, die nur unter Vorlage des Impfpasses betreten werden dürfen, die Kontrolle eines offiziellen Ausweisdokuments erlaubt. Dies soll ermöglichen, bei ernsthaften Zweifeln an der Identität des Impfpassinhabers einen Fotoabgleich vorzunehmen. Derartige Befugnisse sind grundsätzlich stark beschränkt, da ein verfassungsrechtliches Verbot besteht, polizeiliche Befugnisse an Privatpersonen zu übertragen (Art. 12 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789).12 Die Ausweiskontrolle zur Identitätsbestätigung stellt keine polizeiliche Maßnahme dar, denn sie darf einzig dem Abgleich der im Impfpass genannten Daten dienen und wer sich weigert, einen Ausweis vorzulegen, kann schlicht den gewünschten Ort nicht betreten.13 Die Anwendung der gesetzlichen Bestimmung darf allerdings keinesfalls auf diskriminierenden Kriterien beruhen. Andernfalls läge eine Verletzung des Gleichheitsprinzips vor. Wie dieser Gefahr durch die gesetzliche Bestimmung begegnet wird, bleibt in den Ausführungen des Verfassungsrats unklar. Möglicherweise greift der Verfassungsrat zweimal auf die Vorbehaltslösung zurück, um besonders schwerwiegenden grundrechtlichen Bedenken gegenüber dem neuen Gesetz den Wind aus der Fahne zu nehmen. Denn hinsichtlich beider Regelungsgehalte hatte der „Défenseur des droits“14 im Vorhinein auf verfassungsrechtliche Vorbehalte hingewiesen: Der beschränkte Zutritt zum 11 Rn. 20. 12 Das in Art. 12 enthaltene Verbot ist Teil der französischen Verfassungsidentität, vgl. Conseil constitutionnel, Entscheidung Nr. 2021 – 940 QPC v. 15. 10. 2021 (Société Air France). 13 Sie dient auch dem Ziel des Gesundheitsschutzes, da sie die Impfpasseinführung effektiviert, Rn. 41 ff. 14 Der „Défenseur des droits“ (wörtlich: Rechtsverteidiger) ist ein unabhängiges Verwaltungsorgan, das durch die Verfassungsreform von 2008 geschaffen wurde. Gemäß Art. 71 – 1 der Verfassung achtet er auf den Schutz der durch die Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten. Das Organ kann von jedem Bürger, der sich in seinen Rechten und Freiheiten verletzt fühlt, angerufen werden. 172

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öffentlichen Fernverkehr verkenne die Bedeutung, die diesem für die Suche und Erreichung des Arbeitsplatzes zukomme. Die Möglichkeit der privaten Ausweiskontrolle bereite den Boden für horizontale Diskriminierungen. Diese Erwägungen haben ausdrücklich oder implizit Eingang in die Normenkontrolle erhalten. Jedoch ohne, dass der Verfassungsrat sie sich wirklich zu eigen gemacht hat.

III. Rechtspolitische Einordnung der Entscheidung des Verfassungsrats 1. Die Verfassungskontrolle zwischen französischer Rechtsprechungstradition und europäisierten Verfassungsgerichtsidealen? Auffällig an der Entscheidung des Verfassungsrats ist nicht, dass seine Ausführungen mehr aneinandergereihten Feststellungen denn ausdifferenzierten Argumentationsketten gleichen. Dies ist, wie auch in Deutschland bekannt, Ausdruck der sehr zurückhaltenden französischen Rechtsprechungstradition. So ist es in der Geschichte des Verfassungsrats keine Selbstverständlichkeit, im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle eine Abwägung zwischen gesetzgeberischen Zielen und gegenläufigen Individualrechten vorzunehmen. Prüfungsleitend ist seit über 40 Jahren die Feststellung, dass ihm Art. 61 der Verfassung keine allgemeine Ermessensund Entscheidungsbefugnis wie diejenige, die das Parlament innehat, überträgt.15 Auch ist der Grundrechtsschutz keine dem Verfassungsrat originär zugewiesene Funktion. Spannend ist jedoch, dass die vorliegende Entscheidung eine intrinsisch und extrinsisch bedingte Entwicklung des Verfassungsrats widerspiegelt. Diese nähert ihn einem echten Grundrechtsgaranten an und schürt, besonders bei gesellschaftspolitisch brisanten Fragen, Erwartungen an eine effektive Kontrolle des Gesetzgebers. Das gilt im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle gerade dann, wenn der Verfassungsrat, wie vorliegend, von der parlamentarischen Opposition angerufen wird. Das erst 1975 eingeführte Antragsrecht soll nicht nur ein wirkungsvolles Instrument zur Kontrolle der Parlamentsmehrheit bieten. Über die Wahl ihrer Argumente haben die Parlamentarier wesentlich zur „verfassungsgerichtlichen“ Entwicklung und Ausarbeitung der gegenüber dem Gesetzgeber schützenswerten Individualrechte und Freiheiten beigetragen.16 Bei aller institutionellen Traditionsverbundenheit ist das etwa in Deutschland weit verbreitete Verständnis von der starken Verfassungsgerichtsbarkeit als Grundrechtsschützerin auch in Frankreich nicht unbeachtet geblieben. Hinzu tritt eine anhaltende

15 Vgl. schon Entscheidung Nr. 74 – 54 DC vom 15. Januar 1975, Rn. 1 und so mehrmals in der vorliegenden Entscheidung hervorgehoben, s. Rn. 14, 32, 51, 79. 16 Vgl. L. Favoreu et al., Droit constitutionnel (2020), S. 374, Rn. 474. Recht und Politik, Beiheft 10

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Kritik an der Begründungsarmut der Entscheidungen des Verfassungsrats, mit der sich der Verfassungsrat selbst bereits ernsthaft auseinandergesetzt hat.17 Anders als dies von außen manchmal erscheinen mag, herrscht in Frankreich also keine Genügsamkeit mit dem Status quo einer möglichst zurückhaltenden Verfassungsratsinstanz. So hat die kontinuierliche Ausweitung von Prüfungsmaßstab und -dichte dazu geführt, dass der Verfassungsrat seine Normenkontrollentscheidungen nunmehr mit einer Erinnerung an die gesetzgeberische Abwägungspflicht einleitet. So geschehen auch vorliegend.18 Eine tatsächliche Kontrolle dieser Abwägung scheitert jedoch an dem konsequenten Verweis auf die gegenüber dem Parlament beschränkte Entscheidungsbefugnis. Dadurch gleicht die Entscheidung des Verfassungsrats einem Absuchen der gesetzlichen Bestimmungen nach ausreichenden verfassungsrechtlichen Grenzen und Garantien, ohne, dass die Reichweite konkret betroffener Grundrechte weiter Berücksichtigung findet. Wenig überrascht daher der Vorwurf, den der Verfassungsrechtler Paul Cassia in seinem der Entscheidung vorausgehenden externen Beitrag erhoben hat: Das Vorgehen des Verfassungsrats sei vielmehr eine „Nicht-Kontrolle“, die der bloßen Nachprüfung entspricht, wie sie Privatpersonen zur Abgleichung von Impfpass und Personalausweis vornehmen dürfen.19 Dies weckt Erinnerungen an die verfassungskonforme Auslegung des Verfassungsrats, die, wie erwähnt, vorliegend jeglicher Erklärung entbehrt. Selbst wenn der Verfassungsrat damit einen effektiven Grundrechtsschutz sicherstellen wollte, enttäuscht der Weg. Denn für das Entscheidungsverständnis sollten nicht die das Verfahren begleitenden Dokumente notwendig sein, es sollte schon aus der begründeten Entscheidung folgen.20 So trägt die teils weiterhin gepriesene richterliche Zurückhaltung das Paradox in sich, mitunter zu reichlich undurchschaubaren Ergebnissen zu führen. Gerade in Entscheidungen, die zur Validation eines freiheitsrechtlich umstrittenen Gesetzes führen oder eine verfassungskonforme Auslegung enthalten, wäre eine Erhöhung der Begründungsdichte jedoch begrüßenswert. Dies führt nicht zuletzt zu erhöhter öffentlicher Akzeptanz einer gerichtlichen Entscheidung; unabhängig von ihrem Ergebnis. Zu ebenjener Akzeptanz, um die sich der Verfassungsrat stets bemüht21, trägt wiederum die Positionierung als effizienter Grundrechtsschützer bei.22 17 Vgl. etwa Les Nouveaux Cahiers du Conseil constitutionnel, Dossier : La réforme de la motivation des décisions du Conseil constitutionnel à l’épreuve des modèles étrangers, n° 55 – 56 (2017). 18 Vgl. etwa Rn. 8 u. 27. 19 Décision n° 2022 – 835 DC, Liste des contributions extérieures, S. 8. 20 Vgl. N. Belloubet, La motivation des décisions du Conseil constitutionnel: justifier et réformer, in : Les Nouveaux Cahiers du Conseil constitutionnel, n° 55 – 56, S. 5. 21 Sei es durch die steigende Zahl an verfahrensbegleitenden Dokumenten, die der Verfassungsrat zur Erklärung seiner Entscheidungen veröffentlicht oder durch die sehr ausgeprägte öffentliche 174

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Doch man kann nicht allein den Mitgliedern des Verfassungsrats vorwerfen, ihre Kontrollbefugnisse nicht ausreichend wahrzunehmen. Flagrante Probleme, die außerhalb des Machtbereichs des Verfassungsrats liegen, bestehen fort. 2. Die zurückhaltende Verfassungskontrolle: Ein Problem, das nicht (nur) in der Macht des Verfassungsrats steht? So kann man sich fragen, wie ein Kontrollorgan innerhalb von nicht einmal einer Woche (Antrag am 17. Januar, Entscheidung am 21.) eine vernünftige Prüfung komplexer Gesetzesbestimmungen vornehmen soll. Art. 61 Abs. 3 der Verfassung sieht vor, dass der Verfassungsrat innerhalb eines Monats und, sofern die Regierung von ihrem alleinigen Eilantragsrecht Gebrauch macht, innerhalb von maximal acht Tagen zu entscheiden hat. Hier wäre eine Reform des Verfassungsprozessrechts angebracht. Wenig überrascht die Selbstbeschränkung der Ratsmitglieder gegenüber dem Gesetzgeber, sofern man sich die Diskrepanz der demokratischen Legitimation beider Organe in Erinnerung ruft. Angesichts der Bedeutung, die das Demokratieprinzip in der Fünften Republik innehat, dürften sich die Ratsmitglieder, die weiterhin zu einem Drittel vom Präsidenten ernannt werden, gegenüber kühnen Erweiterungen ihrer eigenen Befugnisse zurückhalten. Auch eine Aufhebung des Rechts ehemaliger Präsidenten, mit Amtsausschied auf Lebenszeit Mitglied des Verfassungsrats zu werden, ist längst überfällig. Macron hatte zu Beginn seiner Präsidentschaft23 eine entsprechende Verfassungsänderung angestoßen. Durch Corona sind ihm wohl drängendere Scherereien dazwischengekommen.

Kommunikation, die beispielsweise zur Eröffnung einer Museumsshop-artigen „Boutique du Conseil constitutionnel“ geführt hat (vgl. https://www.conseil-constitutionnel.fr/actualites/ ouverture-de-la-boutique-du-conseil-constitutionnel-le-mardi-15-decembre-2020). 22 Vgl. zu diesbezüglichen Entwicklungen in der Vergangenheit L. Favoreu et al. (Fn. 15), S. 334 f., Rn. 405 – 407. 23 NB: Zu Beginn seiner ersten Amtszeit, also in den Jahren 2017/2018. Macron wurde am 24. 4. 2022 für weitere fünf Jahre in seinem Amt bestätigt. Recht und Politik, Beiheft 10

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Krisendemokratie. Österreichbericht* Von Tamara Ehs

I. Einleitung Als der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz am 6. April 2020 in einem Fernsehinterview mit der Kritik an womöglich gesetzwidrigen Verordnungen und generell schlampiger Legistik konfrontiert wurde, wies er dies als „juristische Spitzfindigkeiten“ zurück, für die nun nicht die Zeit wäre. In der Krise sollte man nicht ein „Maximum an Verwirrung stiften“, sondern alles tun, was nötig ist, um sie zu bewältigen. Er übergab die Frage der Rechtskonformität in nachgängiger Befassung an den Verfassungsgerichtshof (VfGH). Wenn dieser (im Juni 2020) wieder zusammentrete, wären die Maßnahmen jedoch ohnehin nicht mehr in Kraft, so Kurz.1 An jener Aussage lässt sich exemplarisch nicht nur ein Mangel an rechtstaatlichem Verständnis, sondern vor allem ein autoritäres (Krisen‐)Bewusstsein ablesen: Zwar erlebte Österreich keinen konstitutionellen Ausnahmezustand und kennt im Gegensatz zu Deutschland auch keine umfassenden Notstandsgesetze, Parlament und Regierung schufen allerdings einen rhetorischen Ausnahmezustand, der rechtstaatliche Regeln als vernachlässigbar ansah. Schon früh hatten namhafte Jurist*innen auf Verfassungswidrigkeit und Missachtung des Rechtsstaats hingewiesen, jedoch kein Gehör gefunden. Seither sind die Gerichte beschäftigt, die Rechtsverletzungen zu beheben. Als Politikwissenschafterin nehme ich für diesen Beitrag insbesondere die Auswirkungen auf die Demokratie in den Blick und erörtere anhand ausgewählter Beispiele den österreichischen Umgang mit der Coronakrise. Der Fokus liegt hierbei auf der Gemengelage von „executive overreach“2 und „executive underreach“3, was die Institutionen des demokratischen Rechtsstaats einer erheblichen Belastung aussetzte. Für die zeitliche Analyse greife ich auf ein Dreiphasenmodell zurück, das ich gemeinsam mit Ece Göztepe und Matthias Lemke entwarf:4 Die erste Phase nennen wir „Akutphase“ * 1 2 3 4

Zuerst in: RuP 4/2021, S. 468 – 477. Zur chronologischen Betrachtung und demokratiewissenschaftlichen Einordnung der ersten Pandemiewochen siehe Ehs, Krisendemokratie, 2020. Diebel, „Die Stunde der Exekutive“, 2019. Scheppele/Pozen, AJiL 114 (2020), S. 608. Zu einer früheren Phasenteilung siehe Lemke, Deutschland im Notstand? 2021, S. 212 ff.

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Duncker & Humblot, Berlin

Krisendemokratie. Österreichbericht

oder in inhaltlicher Qualifizierung auch „autoritäre Phase“. Sie umfasste die ersten Wochen der Krise und war durch eine rasche Gesetzgebung und oft noch schnelleres Verwaltungshandeln gekennzeichnet, was sie zum rechtlich und politisch problematischsten Zeitraum der Krise machte. In Österreich dauerte diese Phase von Mitte März bis etwa Mitte Mai 2020. In jener Phase entstanden Pfadabhängigkeiten sowohl für den weiteren Verlauf des Krisenmanagements als auch für die Rückkehr zum Status quo ante. Aufgrund ihrer immensen Bedeutung für die Gesamtschau der Krisenbewältigung bis heute kommt ihr im vorliegenden Beitrag die meiste Aufmerksamkeit zu. Auf die Akutphase und ihre gesteigerte Regelungsdichte folgte die „Konsolidierungsphase“, die zirka Mitte Mai 2020 einsetzte. Wir nennen sie auch „kritische Phase“, weil Opposition, Zivilgesellschaft und Medien ihre anfängliche Schockstarre verließen und begannen, den Rechtsstaat zu mobilisieren und demokratische Mitsprache einzufordern. Die Qualität des liberalen, demokratischen Rechtsstaates bildete in dieser Phase die Grundlage für die Aufhebung rechtswidriger oder überzogener Vorschriften aus der Akutphase. Die dritte Phase, in der sich Österreich bei Abfassung dieses Textes noch immer befindet, ist jene des „Ausnahmezustand 2.0“5. Obgleich die Wiederherstellung des Status quo ante Zielvorgabe bleibt, herrscht die oft beschworene „neue Normalität“, in der die Ausübung von Grundfreiheiten an Vorgaben gebunden ist. Diesen Formwandel des Ausnahmezustands konnten Politik- und Rechtswissenschaft bereits nach den Terroranschlägen in Frankreich beobachten.6 In jener dritten und längsten Phase integriert der Gesetzgeber Normen aus der zweiten (manchmal auch aus der ersten) Phase in das gewöhnliche Regelwerk und verstetigt den Ausnahme- als neuen Normalzustand.

II. Akut- oder autoritäre Phase 1. Nationaler Schulterschluss, ausbleibende Kontrolle Österreich erlebte zwar einen politischen, doch keinen rechtlichen Ausnahmezustand. Das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) kennt im Gegensatz zu vielen anderen Verfassungen kein umfassendes Notstandsrecht, sondern verpflichtet die Regierung, sich auch in Ausnahmesituationen, in denen schnelles Handeln geboten ist, dem parlamentarischen Verfahren zu fügen und den normalen Gesetzgebungsweg zu gehen. Einzig wenn der Nationalrat – zum Beispiel aufgrund der gleichzeitigen CoViD19-Erkrankung von mehr als zwei Drittel seiner Abgeordneten – nicht hätte zusammentreten können, dann und nur dann hätte der Bundespräsident auf der Grundlage des Artikels 18 Absatz 3 Bundes-Verfassungsgesetz „zur Abwehr eines offenkundigen, nicht wieder gutzumachenden Schadens für die Allgemeinheit“ Notverordnungen anstelle von Gesetzen erlassen können. Aber auch in diesem Fall wäre er an einen Vorschlag der Bundesregierung gebunden, der wiederum mit dem „Ständigen Unterausschuss des Hauptaus5 6

Lemke, Demokratie im Ausnahmezustand, 2017. Vgl. Jobard, Cilip 118 (2017), S. 42 ff.

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schusses“ abgestimmt sein muss; in jenem Unterausschuss sind alle Parlamentsparteien gemäß den Mehrheitsverhältnissen vertreten. Jede auf diese Weise erlassene Notverordnung muss unverzüglich dem Nationalrat vorgelegt werden, der dann vier Wochen Zeit hat, um entweder an Stelle der Verordnung ein entsprechendes Bundesgesetz zu beschließen oder die Bundesregierung zu verpflichten, die Verordnung sofort außer Kraft zu setzen.7 Demnach könnten auch in der größten Not und höchsten Dringlichkeit weder Bundesregierung noch Bundespräsident allein und eigenmächtig handeln. Denn die österreichische Verfassung gliedert alle Staatsorgane in ein „System rechtstechnischer Maßnahmen [ein], die den Zweck haben, die Rechtmäßigkeit der Staatsfunktionen zu sichern“, schrieb schon ihr maßgeblicher Autor Hans Kelsen.8 Ins Bundes-Verfassungsgesetz sind durch die Gewaltenverschränkung auch und gerade für den Krisenfall Vorsichtsmaßnahmen eingebaut, um einen Alleingang der Exekutive zu verhindern. Mit dem Ziel, die Bundesregierung und den Bundespräsidenten nicht in die Verlegenheit kommen zu lassen, Notverordnungen in Anspruch zu nehmen, entschloss sich der Nationalrat in der Sitzung vor Ostern 2020 für seine Verkleinerung in Relation der Mehrheitsverhältnisse und trat mit nur 96 Abgeordneten zusammen. Mithilfe dieser Maßnahme sollte der Sicherheitsabstand zwischen den Nationalratsabgeordneten gewährleistet werden, um vor Ort Ansteckungen und folglich eine Grundlage für die Verwendung des Artikels 18 Absatz 3 bis 5 Bundes-Verfassungsgesetz zu verunmöglichen. Mit 96 Personen waren noch immer genügend Abgeordnete anwesend, um Verfassungsgesetze zu beschließen. Für einen normalen Gesetzesbeschluss hätte auch die Anwesenheit von bloß 61 Abgeordneten, also einem Drittel, genügt. Obgleich der parlamentarische Betrieb aufrechterhalten werden konnte, gab das Parlament durch umfassende Verordnungsermächtigungsgesetze das Ruder aus der Hand. Denn zu den politischen Inhalten, die aufgrund der im COVID-19-Maßnahmengesetz vom 15. März 2020 in den Paragraphen 1 und 2 normierten Verordnungsermächtigung für den Gesundheitsminister gesetzt wurden, hatte es fortan nichts mehr zu sagen. In der Akutphase war ein „nationaler Schulterschluss“ beziehungsweise das „Team Österreich“ ausgerufen. Deshalb erfolgte die Gesetzgebung jener Wochen nicht nur beschleunigt, in Allparteienbeschlüssen und ohne Begutachtungsverfahren, sondern ausschließlich in Sammelgesetzen, was den Abgeordneten kein differenziertes Abstimmungsverhalten erlaubte. Die Kontrollfunktion des Parlaments und insbesondere der Opposition war ausgesetzt.

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Zur Einordnung des präsidentiellen Notverordnungsrechts siehe Wiederin, BRGÖ 2 (2018), S. 385 ff. Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, 1929. Recht und Politik, Beiheft 10

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2. Fake Laws, Intransparenz Jene beschleunigte Sammelgesetzgebung unter Umgehung des Begutachtungsverfahrens hatte zahlreiche „Husch-Pfusch-Gesetze“9 zur Folge und traf im Gesundheitsministerium, dessen legistischer Dienst nicht nur kaum Erfahrung mit Grundrechten hatte, sondern auch personell unterbesetzt ist, auf weitere Missordnung. Die Verordnung des Gesundheitsministers (Stammfassung BGBl. II 98/2020, „Lockdown-Verordnung“ genannt) über die ab 16. März 2020 gültigen Ausgangsbeschränkungen widersprach der gesetzlichen Ermächtigung: Während im Parlament beschlossen worden war, es dürfe das Betreten „von bestimmten Orten“ untersagt werden, verbot die Verordnung das Betreten aller öffentlichen Orte und listete dann Ausnahmen auf. Die gravierendste Grundrechtseinschränkung der Zweiten Republik war nicht nur offenkundig gesetzeswidrig, sondern Regierungsmitglieder kommunizierten wochenlang eine De-facto-Ausgangssperre, die weder im Gesetz noch in der Verordnung eine Grundlage hatte. Doch das konnten damals nur Rechtskundige wissen. Alle anderen Normunterworfenen waren auf die Regierungskommunikation angewiesen, die sich autoritärer Rhetorik bediente und – mutmaßlich beabsichtigte – Diskrepanzen zur Rechtsordnung aufwies. Verwaltungswissenschafter Heinz Meditz und Rechtsanwalt Georg Negwer bezeichneten jene in Pressekonferenzen verbreiteten rechtswidrigen Verbote treffend als „Fake Laws“10. Indem die Regierung das erwünschte Sozialverhalten als geltendes Recht hinstellte, nutzte sie „Desinformation als Herrschaftsmittel“.11 Die Akutphase war jedoch nicht nur von fehlender Kontroll- und Alternativmacht durch das Parlament, schlechter Legistik und autoritärer Rhetorik geprägt, sondern auch von weitgehender Intransparenz: ORF-Journalist*innen hatten die Pressestelle des Gesundheitsministeriums schon zu Beginn der Krise um Veröffentlichung ihrer Entscheidungsgrundlage zur graphischen Aufbereitung für die Aufklärung und Information der Bevölkerung gebeten, aber nicht erhalten. Auch die Arbeit der Taskforce Corona, eines Beratungsgremiums des Gesundheitsministeriums, war monatelang unter Verschluss gewesen. Intransparenz und Desinformation wiegen umso schwerer, weil es auch 2021 kein modernes Transparenz- und Informationsfreiheitsgesetz gibt. Österreich ist mittlerweile das letzte EU-Mitglied, das das Amtsgeheimnis im Verfassungsrang verankert; gleichzeitig fällt es im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International jährlich um weitere Plätze zurück. Die österreichische politische Kultur ist schon in Normalzeiten von einem Hang zum Informellen geprägt. In Kombination mit dem

9 Matzka, Der Standard, 7. April 2020. 10 Meditz/Negwer, Die Presse, 19. April 2020. 11 Adensamer/Kreissl, Vicesse-Blog, 15. April 2020. Recht und Politik, Beiheft 10

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überbordenden Amtsgeheimnis und der fehlenden Informationsfreiheit resultieren daraus demokratieschädigende Handlungen.12 Aus diesem Grund kommt parlamentarischen Untersuchungsausschüssen eine besondere Bedeutung für die öffentliche Informationsbeschaffung zu. Aus demokratiewissenschaftlicher Sicht wäre es notwendig gewesen, gleichzeitig mit den Allparteienbeschlüssen der Akutphase einen „Coronaausschuss“ einzusetzen, um die COVID-19Maßnahmengesetze und ihre Umsetzung einer laufenden kritischen Reflexion zu unterziehen. Es dauerte schließlich bis zum Jänner 2021, im Unterausschuss des Rechnungshofausschusses wenigstens die Beschaffungsvorgänge und Auftragsvergaben der Bundesregierung in Zusammenhang mit der Coronakrise zu prüfen. Eine umfassende parlamentarische Enquetekommission für die Analyse und Aufarbeitung des Umgangs mit der Pandemie, wie sie das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) für Deutschland vorschlägt13, fehlt bis heute. 3. Rhetorische Übersteuerung, fehlendes Demokratiebewusstsein Die autoritären Impulse, denen einige Mitglieder der Regierungsparteien folgten, erfuhren mehrere Wochen weder durch die Opposition noch durch die Zivilgesellschaft breiten Widerspruch; die Akutphase war von Drohgebärden und Angstrhetorik beherrscht. Laut dem sprachwissenschaftlichen Analyserahmen von Windsor et al. zeigt sich der autoritäre Charakter von Politiker*innen insbesondere in Krisensituationen.14 Kalypso Nicolaïdis unterscheidet zudem in ihrer Analyse der demokratischen Kultur während der Pandemie zwischen einem „theatre of care“ und einem „theatre of war“.15 Während sie Sorgerhetorik etwa in Neuseeland oder Finnland verortet, war die Kriegsrhetorik vor allem bei Populisten wie Trump oder Bolsonaro vorzufinden. Auch Österreich hatte mehr war als care vorzuweisen: Die Kommunikationsstrategie der Bundesregierung setzte vor allem auf Angst. Es macht jedoch einen Unterschied, ob man Politik gegen die (angesichts einer neuen, weitgehend unbekannten Krankheit berechtigte) Angst macht oder ob man Politik mit der Angst macht. „Für seine apokalyptische Rhetorik ist Kurz international bekannt. Der in Worte gekleidete Ausnahmezustand ist zentraler Bestandteil seines Erfolges“, fasste David Schalko die Aussagen des Bundeskanzlers zusammen und machte auf eine Parallele aufmerksam: „Das galt schon für die Flüchtlingskrise. Und gilt noch mehr für den ,Kampf‘ gegen Corona, der vor allem mit Kriegsrhetorik geführt wird.“16 In Pressekonferenzen sprach Sebastian Kurz mehrmals von „100.000 Toten“, die ohne Regierungsmaßnahmen zu erwarten seien, und dass „bald jeder von uns jemanden kennen wird, der an Corona gestorben ist“. Ihm zur Seite standen Innenminister Karl Nehammer, der all jene, die 12 13 14 15 16 180

Vgl. Ehs, juridikum 3 (2021), S. 291 ff. Vgl. Vartels/Schröder/Weßels, Discussion Paper SP V 2021 – 102. Vgl. Windsor/Dowell/Graesser, Risk, Hazards and Crisis in Public Policy, 4 (2015), S. 446 ff. Nicolaïdis, in: Maduro/Kahn (Hrsg.), Democracy in Times of Pandemic, 2020, S. 168 ff. Schalko, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. April 2020. Recht und Politik, Beiheft 10

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sich nicht an die Maßnahmen hielten, als „Lebensgefährder“ und sich selbst brutal als die „Flex, die Trennscheibe für die Gesundheitsbehörden“ bezeichnete, und Vizekanzler Werner Kogler, der als Sportminister den Vereinen mit der „Streichung von Subventionen“ drohte, wenn sie ihren Trainingsbetrieb nicht umgehend einstellten. Schließlich rahmten sie das katholische Osterwochenende 2020 sprachlich als „Bewährungsprobe“. Der unausgesprochene Subtext an die Bevölkerung lautete: Wenn ihr diese Bewährungsprobe nicht besteht, müssen die Ausgangsbeschränkungen noch länger aufrechterhalten werden! Drohungen sind demokratietheoretisch jedoch illegitim, wie Sascha Kneip erinnerte: „So wie man unmündigen Kindern bei Uneinsichtigkeit mitunter Fernsehentzug androht, um sie zu vernünftigem Handeln zu bewegen, droht die Exekutive dem Souverän bei unbotmäßigem Verhalten also mit der (temporären) Suspendierung seiner Grundrechte.“17 Ende April 2020 war ein Gesprächsprotokoll des Krisenstabes im Kanzleramt geleakt geworden, das nahelegte, dass Angst und der rhetorische Ausnahmezustand bewusst als Mittel des Krisenmanagements gewählt worden waren. In jenen Tagen beendete die Opposition den nationalen Schulterschluss, pochte wieder auf Begutachtungsverfahren und nutzte im Bundesrat ihr Einspruchsrecht gegen Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates, als die Regierungsparteien auf diese Forderung nicht eingingen. Da solch ein Veto jedoch bloß aufschiebende Wirkung und zur Folge hat, dass der Nationalrat einen Beharrungsbeschluss trifft, sah Sigrid Maurer, Klubchefin der Grünen, darin nicht die Wahrnehmung demokratischer Verantwortung seitens der parlamentarischen Opposition, sondern einen „zynischen Sabotageakt“. Aus Sicht der Demokratiewissenschaft war die Sabotage jedoch auf der Regierungsseite festzumachen. Laut Maerz et al. zeigten sich autoritäre Praktiken während der Coronakrise mitunter in Form von „sabotaging accountabilty“, also in der Vereitelung der politischen Zurechenbarkeit.18 Wenn Regierungsparteien in der Krise auf Einstimmigkeit pochen, keine Begutachtung zulassen und Sammelgesetzesentwürfe vorlegen, hintertreiben sie damit die Kontrollfunktion des Parlaments und verschleiern ihre eigene politische Verantwortung.

III. Konsolidierungsphase 1. Gerichte als Reparaturorgane autoritärer Maßnahmenpolitik Schon im Mai 2020 hob als erstes Gericht das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich eine unzulässige Strafe in Zusammenhang mit den oben erwähnten COVID19-Maßnahmengesetzen und der darauf beruhenden Verordnung auf und stellte klar: „Die Verordnung sieht keine Beschränkung des Zweckes für ein Betreten des öffentlichen Ortes […] vor, auch wenn medial immer nur das ,Luftschnappen‘ oder ,Sport‘ als 17 Kneip, WZB Democracy Blog, 9. April 2020. 18 Vgl. Maerz/Lührmann/Lachapelle/Edgell, Varieties of Democracy-Institut Working Paper 110, 2020. Recht und Politik, Beiheft 10

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zulässig dargestellt wurden.“19 Dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich folgte Anfang Juni 2020 das Verwaltungsgericht Wien, als es der Beschwerde eines Wieners, der am 21. März ohne triftigen Grund seinen Freund in dessen Wohnung besucht hatte, mit den Worten stattgab: „Der Zweck des Betretens eines öffentlichen Ortes ist dem klaren Gesetzeswortlaut nach für das Vorliegen des Ausnahmetatbestandes gemäß § 2 Z 5 COVID-19-MaßnahmenG-VO unerheblich. Angesichts des unzweifelhaften Auslegungsergebnisses ist dem Umstand, dass der zuständige Verordnungsgeber allenfalls in Presseerklärungen oder dergleichen eine davon abweichende Auffassung vertreten hat, keine rechtserhebliche Bedeutung beizumessen.“20 Wenig später trat auch der VfGH zu seiner Sommersession zusammen und bestätigte die Gesetzwidrigkeit der Ausgangsbeschränkungen: In V 363/2020 – 25 erkannte er, dass die umfassenden Einschränkungen nicht vom Gesetzeswortlaut gedeckt seien. Das COVID-19-Maßnahmengesetz erlaube nur, das Betreten „bestimmter Orte“ zu untersagen. Die Verordnung laufe jedoch – wenn es auch Ausnahmen gebe – auf ein allgemeines Ausgangsverbot hinaus. Ein derartiger Eingriff hätte jedoch einer konkreten und näher bestimmten Grundlage im Gesetz bedurft. Ein Universitätsassistent der Juridischen Fakultät hatte die „Lockdown-Verordnung“ unter Berufung auf das Grundrecht auf Freizügigkeit (Artikel 4 StGG) erfolgreich bekämpft und machte dadurch beiläufig auf die soziale Ungleichheit in der Coronakrise aufmerksam: Da sowohl das Rechtsverständnis als auch der Zugang zum Recht gesellschaftlich ungleich verteilt sind, stellt jede bewusste Desinformation seitens der Regierung auch ein Gleichheitsproblem dar. Zirka 30.000 Anzeigen wurden österreichweit in der Akutphase der Coronakrise ausgestellt – etliche von ihnen auch bezahlt, die Organstrafverfügungen ohnehin sofort. Ein Großteil dieser Anzeigen betraf Verstöße gegen Ausgangsbeschränkungen, die einige Wochen später als gesetzwidrig aufgehoben wurden. Viele Betroffene hatten umgehend bezahlt, nur die wenigsten verfügten über ausreichend Beschwerdemacht iSv Rechtswissen und Habitus, „den Staat zu verklagen“, aber auch schlicht die nötigen finanziellen Mittel, anwaltschaftliche Hilfe zu beauftragen. Aufgrund des in der Praxis ungleichen Zugangs zum Recht forderte die SPÖ-Justizsprecherin Selma Yildirim nach Bekanntwerden des Urteils eine Generalamnestie, fand allerdings keine Mehrheit. 2. Nachvollziehbarkeit als Voraussetzung des demokratischen Rechtsstaats Der VfGH war auch in späteren Sessionen mit schlampigen Rechtstexten beschäftigt. Ein Großteil seiner Aufhebungen war damit begründet, dass die Ministerien die Verordnungsgründe nicht oder nicht ausreichend aufbereitet, also intransparent gearbeitet hatten. Die Normadressat*innen konnten deshalb kaum nachvollziehen, auf welcher Grundlage die politischen Entscheidungen beruhten. Dabei handelt es sich nicht um 19 Landesverwaltungsgericht Niederösterreich, LVwG-S-891/001 – 2020, Entscheidungsdatum 12. Mai 2020. 20 Verwaltungsgericht Wien, VGW-031/047/5718/2020, Entscheidungsdatum 5. Juni 2020. 182

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bloße Neugierde, sondern um eine Voraussetzung des demokratischen Rechtstaates in Österreich: „Bei allen als gesetzwidrig erkannten Bestimmungen war aus den dem VfGH vorgelegten Akten nicht nachvollziehbar, auf Grund welcher tatsächlichen Umstände die zuständige Behörde – der Gesundheitsminister – die jeweilige Maßnahme für erforderlich gehalten hat. Dies verstößt aber gegen die gesetzliche Ermächtigung im COVID-19-Maßnahmengesetz bzw. im Epidemiegesetz.“21 Der VfGH beurteilte nicht die inhaltliche Richtigkeit der Maßnahmen, sondern ihr Zustandekommen, das im demokratischen Rechtstaat öffentlich begründet werden muss. Für die Herstellung von Öffentlichkeit sind Pressekonferenzen und Regierungsinserate zu wenig. Die Demokratie verlangt nach schriftlichen Unterlagen, nachvollziehbaren Begründungen und einer Debatte. Dass Krisenzeiten die „Stunde der Exekutive“ sind, ist nämlich in der österreichischen Verfassung nicht vorgesehen. 3. Eingebettete Demokratie Die Coronakrise verdeutlichte den Wert einer „eingebetteten Demokratie“22, deren rechtsstaatliche Komponente in Österreich sehr ausgeprägt ist. Georg Lienbacher, Mitglied des VfGH, erkennt in der Bundesverfassung eine besondere „Autokratieresistenz“, die er an der Gewaltenteilung und an der Unabhängigkeit der Gerichte festmacht.23 Das Legalitätsprinzip (Art 18 Bundes-Verfassungsgesetz), die Unabhängigkeit der Richter*innen (Art 87 Bundes-Verfassungsgesetz) sowie die Trennung von Justiz und Verwaltung (Art 94 Bundes-Verfassungsgesetz) stellen Bollwerke gegen Entdemokratisierungstendenzen dar. Neben den Verwaltungsgerichten war es in der Coronakrise hauptsächlich der VfGH, dem die Aufgabe zukam, als wichtiger Hüter der Verfassung und folglich der Demokratie, autokratische Tendenzen hintanzuhalten: „Er ist ein Staatsorgan, das seiner Funktion nach die Autokratieresistenz stärkt, indem er Machtanmaßung, die sich in Form von Rechtsakten zeigt, durch Aufhebung dieser Rechtsakte verhindert und beseitigt.“24 Aus diesem Grund sind Kontrollorgane wie Höchstgerichte und parlamentarische Oppositionsrechte gemeinsam mit freien Medien die ersten Zielscheiben bei der Entfaltung autoritärer Tendenzen, wie sich seit einigen Jahren nicht nur in Ungarn und Polen beobachten lässt, sondern während der Coronakrise auch in demokratisch gefestigteren Staaten. Während der Konsolidierungsphase trat die Judikative auf den Plan und zeigte der Exekutive ihre Grenzen auf. Allerdings offenbarte sie dadurch zugleich die Schwächen des Parlaments, das sich in der Akutphase nicht nur die Kontroll- sondern auch die Alternativmacht hatte abnehmen lassen. Auch die Zivilgesellschaft war aufgrund der Versammlungsverbote eingeschränkt und konnte kaum widerstreitende Meinungen in 21 Siehe exemplarisch die Erkenntnisse V 392/2020, V 405/2020, V 428/2020, V 429/2020, G 271/2020, G 272/2020. 22 Merkel, in: Lembcke et al (Hrsg.), Zeitgenössische Demokratietheorie, 2016, S. 455. 23 Lienbacher, ZÖR 75 (2020), S. 67 ff. 24 Ders. (Fn. 24), S. 83. Recht und Politik, Beiheft 10

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den öffentlichen Diskurs einbringen. Dadurch fehlte der Regierungspolitik ein wichtiges Korrektiv; denn auch in der Krise muss Widerrede bereits in den dafür vorgesehenen Strukturen des demokratischen Aushandlungsprozesses artikulier- und vernehmbar sein, sonst ist sie allein den extremen Rändern und Verschwörungserzählungen überlassen. Erst die Gerichte, die ja stets nur in nachgängiger Betrachtung Recht sprechen können – der österreichische VfGH kennt kein Eilverfahren – setzten wichtige Wegweiser für die weitere Krisenbearbeitung.

IV. Ausblick: Ausnahmezustand 2.0 oder mehr Aufmerksamkeit für den demokratischen Rechtsstaat? Mittlerweile ist das Pandemiemanagement nicht mehr allein Sache der Bundesregierung, sondern erfuhr eine Föderalisierung: Verordnungen werden gleichzeitig von Bezirkshauptmannschaften, Landeshauptleuten und den Ministerien ausgegeben. Sie ändern sich ständig, beeinflussen und widersprechen einander und lassen sowohl Normadressat*innen als auch Exekutivorgane nicht selten verwirrt zurück – und beschäftigen nach wie vor die Gerichte. In sämtlichen Sessionen seit Pandemiebeginn hob der VfGH Verordnungen auf, meist wegen mangelnder Begründung, also Willkür. Mittlerweile achten Verordnungsgeber wie insbesondere Gesundheits- und Bildungsminister allerdings darauf, Begründungen nicht nur in den Akten zu notieren, sondern auf ihren Websites öffentlich darzulegen. Für das österreichische Verwaltungshandeln stellt dies eine bislang ungekannte Transparenz dar. Für die inhaltliche Begründung bestätigt sich das Argument der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems nicht nur gegenüber dem VfGH sondern auch gegenüber der Bevölkerung als besonders nachvollziehbar. Jedoch weist Lino Munaretto zu Recht darauf hin, dass Gerichte nach bald zwei Jahren Pandemie das Funktionsfähigkeitsargument kritischer prüfen und die Rechtfertigungslast der politisch verantwortlichen Organe erhöhen müssten.25 Aus demokratiewissenschaftlicher Perspektive muss demnach in Frage stehen, wie lange und in welchem Umfang mit dem staatlichen Funktionsfähigkeitsargument Grundrechte eingeschränkt werden können, bevor der Ausbau staatlicher Leistungen politisch erwartet oder gar juristisch gefordert werden darf. Denn laut Lemke ist der Ausnahmezustand „nichts anderes als das symbolische Feigenblatt, hinter dem sich selbst bloß potenzielles Regierungsversagen in einer Krisenphase verbergen lässt“.26 Mögliche autokratische Tendenzen in der Krise offen als solche zu benennen und sie nicht bloß mit den besonderen Umständen zu erklären, schafft eine wichtige Grundlage für die weitere Forschung. Denn die Verletzung demokratischer Standards ist kein Kavaliersdelikt und darauf hinzuweisen, keine „juristische Spitzfindigkeit“. Öffentliche Kommunikation, Regierungs-PR, Rhetorik und deren diskursive Wirkung auf politi25 Munaretto, VerfBlog, 4. August 2021. 26 Lemke (Fn. 4), S. 219. 184

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sche Zurechenbarkeit und demokratische Kontrolle sind wesentliche Indikatoren zur Prüfung der Demokratiequalität und bedürfen der rechts- und politikwissenschaftlichen Aufmerksamkeit.27 Der Forschungsverbund V-Dem konnte in einer weltweiten Vergleichsstudie nachweisen, dass es keinen Zusammenhang zwischen autoritären, also die demokratische Norm des jeweiligen Staates verletzenden Maßnahmen und der Zahl von an COVID19 Verstorbenen gibt.28 Die im politischen Ausnahmezustand in Anspruch genommene Legitimation, der Erfolg rechtfertige die autoritären Mittel, ist demnach nicht nur rechtswidrig, sondern auch auf der inhaltlichen Ebene falsch; zumal Cheibub et al zeigen, dass Grundrechtseinschränkungen wie Versammlungsverbote oder Schulschließungen in starken Demokratien zögerlicher eingesetzt wurden als in schwachen Demokratien oder gar Autokratien.29 Die Analyseaufgabe der kommenden Jahre besteht in einer Untersuchung der Langzeitfolgen krisenbedingter Demokratie- und Rechtsstaatsverletzungen.

27 Vgl. Schedler, ZVglP 4 (2019), S. 433 ff. 28 Maerz et al. (Fn. 18). 29 Vgl. Cheibub/Hong/Przeworski, SocArXiv July 9 (2020), https://doi.org/10.31235/osf.io/fte84 (pre-print). Recht und Politik, Beiheft 10

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Mehr Europa? Kriterien für eine Kompetenzübertragung auf die Europäische Union am Beispiel der Gesundheitspolitik und der COVID 19-Pandemie* Von Christian Calliess

I. Einleitung Wenn die Akteure auf Ebene der Europäische Union (EU) nicht „liefern“ was sie versprechen, dann besteht die Gefahr, dass die EU in den Augen der Bürger als nicht handlungsfähig erscheint und an Glaubwürdigkeit verliert. In rechtlicher Perspektive ist in diesem Zusammenhang freilich zu beachten, dass die Aufgaben und Ziele der EU von ihren Kompetenzen zu unterscheiden sind. Denn den Zielen und Aufgaben der EU korrespondiert in den Verträgen nicht notwendig immer auch eine Kompetenz: Anders als z. B. in der europäischen Umweltpolitik (vgl. Art. 3 EUV und Art. 191 AEUV einerseits und Art. 192 AEUV andererseits) ist dies so in der europäischen Sozialpolitik (vgl. Art. 3 Abs. 3 EUV und Art. 151 AEUV einerseits sowie Art. 153 AEUV andererseits) oder der Wirtschafts- und Währungsunion (vgl. Art. 119 AEUV einerseits und 121 AEUV andererseits) der Fall. In den letzteren Beispielsfällen enthalten die Ziele und Aufgaben der EU zum Teil kompetenzüberschießende Inhalte, die in einer Diskrepanz zur europäischen Kompetenzordnung stehen können. Hier verspricht die Ziel- und Aufgabenbestimmung der EU mehr, als die Union aufgrund der ihr von den Mitgliedstaaten vertraglich zugewiesenen Kompetenzen (Art. 4 Abs. 1 EUV mit Art. 5 Abs. 2 EUV) einlösen kann. Geändert werden kann dies nur, wenn die Mitgliedstaaten sich aus politischen Gründen für eine Vertragsänderung nach den dafür in Art. 48 EUV vorgesehenen Verfahren entscheiden. Ein besonders aktuelles Beispiel ist die im Zuge der COVID 19-Pandemie in das Rampenlicht gerückte Gesundheitspolitik der EU. Nach Art. 168 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und Art. 35 der Charta der Grundrechte der EU verspricht „die EU“ den Unionsbürgern eine europäische Gesundheitspolitik, ist aber in ihren Kompetenzen auf die unverbindliche Koordinierung und Unterstützung der Mitgliedstaaten beschränkt. Diese Divergenz zwischen Zielen und Kompe*

Zuerst in: RuP 2/2022, S. 195 – 204. Der Aufsatz stellt eine gekürzte und aktualisierte Fassung des Berliner Online-Beitrages zum Europarecht (BOB) Nr. 128 vom 22. März 2021 dar.

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tenzen wurde nicht nur an der Debatte um die gemeinsame Impfstoffbeschaffung deutlich1, in der die Europäische Kommission nur eine koordinierende Rolle wahrnehmen konnte, und genau deswegen – was in der Öffentlichkeit oftmals übersehen wurde – auf den Konsens aller Mitgliedstaaten angewiesen war. Eine echte europäische Strategie der Impfstoffbeschaffung war der EU auf dieser Basis nicht möglich. Denn ein Lenkungsausschuss aus Vertretern aller 27 Mitglieder sowie ein gemeinsames Verhandlungsteam aus Vertretern der Kommission, Deutschland, Spanien, Polen, Italien, Frankreich, Schweden und den Niederlanden koordinierte offenbar die Impfstoffbeschaffung mit den Herstellern. Die Entscheidung, wie viele Impfstoffdosen bei welchem Hersteller vorbestellt werden sollten, trafen die einzelnen Mitgliedstaaten jedoch – soweit bekannt – selbst.2 In diesem Zusammenhang wird die Vermutung geäußert, dass wirtschaftlich weniger wohlhabende Mitgliedstaaten, die im Lenkungsausschuss mit über die Auswahl entschieden, darauf drängten, größere Kontingente der günstigeren Impfstoffe zu ordern. Diese gelangten jedoch später zur Zulassung, eine kostspielige Risikostreuung durch größere Bestellmengen eines jeden im Test- bzw. Zulassungsverfahren befindlichen Impfstoffs wie in den USA wurde offenbar unterlassen. Ähnlich liegt es, wenn es an einer verbindlichen grenzüberschreitenden Strategie bei der Pandemiebekämpfung fehlt: Dann kann es zu Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der Mitgliedstaaten kommen. Dies gilt um so mehr, wenn es keine aufeinander abgestimmten und für alle Mitgliedstaaten verbindlichen Gesundheitskontrollen an den Außengrenzen und Flughäfen bei der Einreise in die EU aus Drittstaaten gibt. Im Rahmen dieser Fragmentierung besteht die Gefahr, dass an und für sich sinnvolle Schutzmaßnahmen im Lichte der grenzüberschreitenden Dimension der Pandemie weder kohärent noch effizient und verhältnismäßig sind. Zwar hat die Europäische Kommission im November 2020 aufbauend auf den Erfahrungen der Corona-Krise einen Vorschlag zum Aufbau einer „Europäischen Gesundheitsunion“3 vorgelegt, der verschiedene Maßnahmen zur effektiveren Bekämpfung von grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren in Form von umfassenden Vorsorgestrategien, institutionellen Reformen und verbindlichen Pflichten der Mitgliedstaaten und Unternehmen bündelt. Aber auch hier stellt sich die Frage: Kann sie 1

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Vgl. Gontariuk/Krafft u. a., The European Union and Public Health Emergencies: Expert Opinions on the Management of the First Wave of the COVID-19 Pandemic and Suggestions for Future Emergencies, in: Front. Public Health, 20 August 2021 | https://doi.org/10.3389/ fpubh.2021.698995, S. 1 – 11; ferner Der Spiegel: Das Impfdesaster, 19. Dezember 2020; Deutsches Ärzteblatt: Corona: Hat die EU bei den Impfstoffen an der falschen Stelle gespart?, 21. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/120047/CoronaHat-die-EU-bei-den-Impfstoffen-an-der-falschen-Stelle-gespart (letzter Zugriff: 29. 03. 2022). Ebenda. Vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Schaffung einer europäischen Gesundheitsunion: Die Resilienz der EU gegenüber grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren stärken, COM(2020) 724 final.

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ihre hochgesteckten Ziele angesichts ihrer begrenzten Kompetenzen allesamt auch erreichen und „liefern“?

II. Allgemeine Prüfkriterien für eine Kompetenzübertragung auf die EU Die Ziele und Aufgaben, die Art. 3 Vertrag über die Europäische Union (EUV) der EU zuweist, sind ursprünglich staatliche Aufgaben zur Verwirklichung von Gemeinwohlbelangen4 – in der Ökonomie wird insoweit von öffentlichen Gütern gesprochen.5 Diese Aufgaben sind auf die EU übertragen (hochgezont) worden, um eine adäquate Aufgabenerledigung und damit Sicherung der jeweiligen öffentlichen Güter zu gewährleisten. Insoweit wären die Staaten allein angesichts der grenzüberschreitenden Dimension der jeweiligen Herausforderungen bei der Problemlösung „überfordert“.6 Diese „Überforderung“ lässt sich allgemein am Maßstab des Subsidiaritätsprinzips konkretisieren. Insoweit sind jedoch zwei Fragenkreise zu unterscheiden: Zum einen die Frage, ob und wie eine der EU übertragene Kompetenz ausgeübt werden soll. Im Zuge der Beantwortung dieser Frage wird am Maßstab des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips (Art. 5 EUV) entschieden7, ob überhaupt und wenn ja in welchem Umfang die EU zur Verwirklichung eines Ziels tätig werden kann und soll. Art. 5 Abs. 3 EUV formuliert insoweit ein Negativkriterium, demzufolge ein Handeln der Mitgliedstaaten „nicht ausreichend“ zur Problemlösung sein darf, sowie ein Positivkriterium, nach dem die EU auf Basis eines wertenden Vergleichs „besser“ als die Mitgliedstaaten handeln können muss.8 Zum anderen geht es um die Frage, ob der EU eine Kompetenz zur Verwirklichung eines Ziels von den Mitgliedstaaten übertragen werden soll. Dies geschieht durch politische Entscheidung und vollzieht sich rechtlich im Wege einer Vertragsänderung nach den dafür in Art. 48 EUV vorgesehenen Verfahren. In diesem Rahmen können die für die Ausübung einer der EU übertragenen Kompetenz geltenden Kriterien des Subsidiaritätsprinzips freilich nur analog herangezogen werden. 4

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Dazu Calliess, Gemeinwohl in der Europäischen Union – Über den Staaten- und Verfassungsverbund zum Gemeinwohlverbund, in: Brugger/Kirste/Anderheiden (Hg.): Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, Baden-Baden 2002, S. 173 – 211. Siehe dazu im Überblick Steinbach/van Aaken, Ökonomische Analyse des Völker- und Europarechts, Tübingen 2019, S. 49 ff. und 147 ff. Dietz/Ostrom/Stern, The Struggle to Govern the Commons, in: Science 5652/2003, S. 1907 – 1912; im Überblick Steinbach/van Aaken, Ökonomische Analyse des Völker- und Europarechts, 2019, S. 49 ff. Vgl. Mitteilung der Kommission, Die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit – Stärkung ihrer Rolle bei der Politikgestaltung der EU, COM (2018) 703 final vom 23. 10. 2018. Ausführlich zu diesen Prüfkriterien Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der EU, 2. Aufl. 1999, S. 65 ff. samt Prüfraster auf S. 271 ff. m.w.N.; jüngst ders., Öffentliche Güter im Recht der EU, 2021, S. 22 ff. (online verfügbar). Recht und Politik, Beiheft 10

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Koppelt man diese Kriterien mit jenen, die im Rahmen der ökonomischen Theorie zur Bereitstellung von (europäischen) öffentlichen Gütern9 herangezogen werden, so sollte europäisches Handeln analog den Vorgaben des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 Abs. 3 EUV) in den Bereichen möglich sein, in denen die Mitgliedstaaten aufgrund von „policy spillovers“ im Hinblick auf die Bereitstellung und Verwirklichung eines europäischen öffentlichen Guts allein „nicht ausreichend“ handeln können, also überfordert sind, und in denen der europäischen Ebene geeignetere und wirksamere Mittel zur Verfügung stehen als der Ebene der Mitgliedstaaten („economies of scale“), die EU also im Vergleich „besser“ handeln kann.10 In diesem Rahmen gilt es, jene Bereiche zu ermitteln, in denen Maßnahmen auf EU-Ebene einen europäischen Mehrwert (European Added Value) mit sich bringen11 und solchermaßen (in der Sprache der Politik) die europäische Souveränität oder auch Autonomie stärken. Überall dort also, wo die Summe aller Mitgliedstaaten einen Unterschied macht und damit zugleich im globalen Kontext ein Mehrwert durch gemeinsames europäisches Handeln erzielt werden kann (sog. „Brüssel-Effekt“12) besteht ein europäisches öffentliches Gut, im Hinblick auf das die EU funktions- und handlungsfähig sein sollte.

III. Divergenzen zwischen Ziel und Kompetenz im Bereich der Pandemiebekämpfung Am Beispiel der europäischen Politik der öffentlichen Gesundheit, konkret der Pandemiebekämpfung, soll die vorstehend skizzierte Divergenz nachfolgend exemplarisch vertieft werden. 1. Rechtliche Rahmenbedingungen Im Zuge der vorstehend geschilderten Herausforderungen hat die Corona-Krise ein größeres Bewusstsein dafür geschaffen, dass die Kompetenzen der EU im Bereich der öffentlichen Gesundheit, im Unterschied zur Umwelt- und Verbraucherschutzpolitik, schwach ausgeprägt sind. Zwar erkennt der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) einen „allgemeinen Grundsatz“ dergestalt an, dass der Gesundheit insbesondere im Verhältnis zu ökonomischen Erwägungen „zweifelsohne vorrangige Bedeutung beizumessen ist“13. Jedoch sind die Mitgliedstaaten zugleich „Herren der Gesund9 Vgl. Fuest/Pisani-Ferry, A Primer on Developing European Public Goods, EconPol Policy Report 16, 2019, S. 7 ff. 10 Calliess, Öffentliche Güter im Recht der EU, 2021, S. 22 ff. (online verfügbar). 11 Vgl. Fuest/Pisani-Ferry, A Primer on Developing European Public Goods, EconPol Policy Report 16, 2019, S. 7 ff. 12 Dazu aus rechtlicher Sicht Calliess, Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen, europäischen und nationalen Rechtsetzung, VVDStRL 71 (2012), S. 113 (insbes. 175 f.); vertiefend Bradford, The Brussels effect, Northwestern University School of Law, Vol. 107, Nr. 1 (2012). 13 EuGH Rs. C-221/10 P (Artegodan GmbH/Kommission), ECLI:EU:2012:216, Rn. 99. Recht und Politik, Beiheft 10

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heitspolitik“14 geblieben: Die Zuständigkeit der EU ist gem. Art. 168 Abs. 1 und 2 AEUV in aller Regel auf die mitgliedstaatlichen Gesundheitspolitiken ergänzende, fördernde oder koordinierende Tätigkeiten beschränkt.15 An dieser begrenzten Kompetenz der EU ändert sich auch durch Art. 35 der Charta der Grundrechte, der ein „Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und ärztliche Versorgung“ postuliert, nichts. Zwar lassen sich in Rechtsprechung und Schrifttum Argumente für eine hoheitliche Maßnahmen aktivierende Schutzdimension der Grundrechte erkennen,16 jedoch stellen Art. 51 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 der Charta explizit klar, dass die dort aufgeführten Rechte die Zuständigkeiten der EU nicht erweitern dürfen. Nach Art. 168 Abs. 2 AEUV kann die Kommission zwar „in enger Verbindung mit den Mitgliedstaaten alle Initiativen ergreifen, die dieser Koordinierung förderlich sind, insbesondere Initiativen, die darauf abzielen, Leitlinien und Indikatoren festzulegen, den Austausch bewährter Verfahren durchzuführen und die erforderlichen Elemente für eine regelmäßige Überwachung und Bewertung auszuarbeiten“. Handelt die EU, so wird die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten jedoch nicht – wie im Falle verbindlicher Gesetzgebung – europäisiert oder gar beschränkt (vgl. Art. 2 Abs. 2 AEUV). Es bleibt also bei einer letztlich unverbindlichen (und daher nur im Konsens mit den Mitgliedstaaten) möglichen europäischen Koordinierung der in nationaler Hand verbliebenen Zuständigkeiten (Art. 2 Abs. 3 und 5 AEUV).17 Diese Rechtslage spiegelt sich im Harmonisierungsverbot (Art. 168 Abs. 5 AEUV) für etwaige gesetzgeberische Maßnahmen. Unter dieses Verbot fallen auch Maßnahmen „zur Bekämpfung der weit verbreiteten schweren grenzüberschreitenden Krankheiten, Maßnahmen zur Beobachtung, frühzeitigen Meldung und Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren“, mithin also auch Maßnahmen zur Bekämpfung von Pandemien wie COVID-19. Eine Ausnahme vom Harmonisierungsverbot gilt nur für die in Art. 168 Abs. 4 AEUV explizit aufgeführten und eng umgrenzten Bereiche (Blut- und Organhandel, Veterinärwesen und Pflanzenschutz sowie Qualitätstandards für Arzneimittel und Medizinprodukte), in denen es um Maßnahmen geht, die dazu bestimmt sind, im Sinne des Art. 4 Abs. 2 k AEUV 14 Mögele, Die EU und COVID-19: Befugnisse und Initiativen, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 8/2020, S. 297 – 300, hier S. 297. 15 Kingreen, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.): EUV/AEUV mit europäischer Grundrechtecharta. Kommentar, 6. Auflage, München 2021, Art. 168 AEUV, Rn. 3 ff. und 13 ff.; vertiefend Thym/Bornemann, Binnenmarktrechtliche Grundlagen des Infektions- und Gesundheitsschutzrechts, in: Stefan Huster/Thorsten Kingreen (Hrsg.): Handbuch Infektionsschutzrecht, München 2021, Kap. 2 Rn. 49 ff.; aus der Praxis: Maass/Schmidt, Die Entwicklung des EU-Gesundheitsrechts seit 2012, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 3/2015, S. 85 – 92. 16 Calliess: Schutzpflichten, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.): Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band II, Heidelberg 2006, § 44, Rn. 17. 17 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV mit europäischer Grundrechtecharta, 2016, Art. 6 AEUV, Rn. 5 und 12 ff. sowie bei Art. 2 AEUV, Rn. 19 ff. 190

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„gemeinsamen Sicherheitsanliegen Rechnung zu tragen“. Sie gehen allesamt auf die politische Erfahrung mit Gesundheitskrisen (HIV-Blutkonserven, BSE, EHEC, Brustimplantate) zurück, in deren Konsequenz „echte“ Gesetzgebungskompetenzen auf EU-Ebene gehoben wurden.18 Folge ist, dass die Mitgliedstaaten auch nur im Anwendungsbereich des Art. 168 Abs. 4 AEUV an die europäischen Vorgaben verbindlich gebunden werden können.19 2. Die Praxis der EU in der Corona-Pandemie Dieser rechtliche Befund soll nun anhand einiger Beispiele im Rahmen der CoronaPandemie gespiegelt werden. Immerhin konnte die EU auf Basis der Kompetenzlage ein Netz an Maßnahmen, Verfahren und Institutionen aufbauen, die auch dem Schutz der menschlichen Gesundheit im Fall einer Infektionsgefahr dienen.20 So ermöglicht der Beschluss 1082/2013/EU die epidemiologische Überwachung und Beobachtung, frühzeitige Erkennung sowie Bekämpfung von Krankheiten in enger Abstimmung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten.21 Wesentlicher Bestandteil des Netzwerks ist neben der Europäischen ArzneimittelAgentur (EMA)22 aktuell das in Solna bei Stockholm angesiedelte Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (European Centre for Disease Prevention and Control, ECDC). Die unabhängige Agentur sammelt Informationen, ermittelt und bewertet auf dieser Basis Gefahren und kann Gutachten erstellen. Im Jahre 2013 übertrug die EU dem ECDC durch den erwähnten Beschluss 1082/2013/EU die Aufgabe, ein transnationales Netzwerk zur Kooperation nationaler Behörden zu errichten und zu koordinieren, innerhalb dessen sie zusammen mit der Kommission und den Mitgliedstaaten die epidemiologische Überwachung übertragbarer Krankheiten gewährleistet. Überdies betreibt das ECDC ein Frühwarn- und

18 Vgl. auch Sander, Europäischer Gesundheitsschutz als primärrechtliche Aufgabe und grundrechtliche Gewährleistung, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 2/2005, S. 253 – 272. 19 Beispiele: Europäische Kommission: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates. Zu einer verstärkten Rolle der Europäischen Arzneimittel-Agentur bei der Krisenvorsorge und dem Krisenmanagement in Bezug auf Arzneimittel und Medizinprodukte, COM(2020) 725 sowie zuvor schon Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer europäischen Arzneimittel-Agentur, in: Amtsblatt der EU, Nr. L 136 vom 30. April 2004. 20 Vgl. den Überblick bei Thym/Bornemann, Binnenmarktrechtliche Grundlagen des Infektionsund Gesundheitsschutzrechts, 2021, Kap. 2 Rn. 44 ff. und 68 ff. 21 Vgl. Beschluss Nr. 1082/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren, in: Amtsblatt der EU, Nr. L 293 vom 5. November 2013. 22 Dazu Orator, Möglichkeit und Grenzen der Einrichtung von Unionsagenturen, Tübingen 2017, S. 142 ff. Recht und Politik, Beiheft 10

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Reaktionssystem.23 Als Lehre aus der Corona-Krise soll vor allem das ECDC gestärkt werden und zu einer „echten“ (also mit exekutiven Befugnissen ausgestatteten) EUGesundheitsagentur ausgebaut werden, die von den Mitgliedstaaten mit der Krisenvorsorge und -reaktion betraut wird. In diesem Zusammenhang soll das ECDC in Situationen wie der COVID-19-Pandemie in der Lage sein, die Mitgliedstaaten bei der Wahrnehmung ihrer einschlägigen Aufgaben praktisch zu unterstützen.24 Zusätzlich wurde das Netzwerk um die Europäische Behörde für Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (Health Emergency Preparedness and Response Authority, HERA) ergänzt, die ab Anfang 2022 voll einsatzfähig sein soll und bei grenzüberschreitenden Krisen – wie Pandemien – in Zukunft Vorsorge leisten und im Falle einer solchen Krise Sofortmaßnahmen ergreifen können soll. Hierzu gehören insbesondere die Sicherstellung der Herstellung und Versorgung mit medizinischer Schutzausrüstung sowie Impfstoffen.25 Soweit es um verbindliche Maßnahmen der EU geht, stoßen die Vorschläge allerdings auf die Kompetenzgrenze des Art. 168 Abs. 5 AEUV. Dies liegt nur anders bei Maßnahmen, die auf Art. 168 Abs. 4 AEUV gestützt werden. Ansonsten ist auf Basis von Art. 168 Abs. 2 AEUV nur eine unverbindliche Aufforderung der Kommission möglich. In diesem Kontext kann die Kommission zwar die Beschaffung übernehmen, allerdings handelt die EU im Auftrag der Mitgliedstaaten, die formal die Käufer der Produkte bleiben.26 Solchermaßen tritt – ähnlich wie bei der Impfstoffbeschaffung27 – nach außen zwar die EU auf, nach innen behalten jedoch die im Konsens entscheidenden Mitgliedstaaten den gesamten Prozess in der Hand. Verantwortung und Kompetenz fallen hier auseinander. Damit bestand von Anfang an die Gefahr, dass die EU für alle Fehler verantwortlich gemacht werden kann, obwohl sie im Innenverhältnis vollumfänglich auf die Einbindung und Zustimmung der Mitgliedstaaten angewiesen war, also gar nicht eigenständig handeln konnte. Die von der Kommission vorgeschlagene „Europäische Gesundheitsunion“ verspricht insoweit mehr, als sie halten kann.

23 Vgl. Verordnung (EG) Nr. 851/2004 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 21. April 2004 zur Errichtung eines Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten, Art. 4 ff., in: Amtsblatt der EU, Nr. L 142 vom 30. April 2004. 24 Vgl. Europäische Kommission, Schaffung einer europäischen Gesundheitsunion: Die Resilienz der EU gegenüber grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren stärken, COM(2020) 724 final, S. 5 und 17 ff. 25 Vgl. Communication from the Commission, Introducing HERA, the European Health Emergency preparedness and Response Authority, the next step towards completing the European Health Union, COM(2021) 576 final. 26 Thym/Bornemann, Binnenmarktrechtliche Grundlagen des Infektions- und Gesundheitsschutzrechts, 2021, Kap. 2 Rn. 16. 27 Vgl. Mitteilung der Kommission, EU-Strategie für COVID-19-Impfstoffe, COM(2020) 245 final. 192

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Notwendigkeit einer europäischen Kompetenz zur Pandemiebekämpfung?

Wie vorstehend herausgearbeitet wurde, ist eine Vertragsänderung vor allem dann geboten, wenn zwischen vertraglichen Zielen und Aufgaben (und damit bereits von allen Mitgliedstaaten bei der Unterzeichnung der Verträge anerkannten europäischen öffentlichen Gütern) und den der EU insoweit zustehenden Kompetenzen eine Diskrepanz besteht, durch welche die EU also entweder gar nicht oder nicht hinreichend effizient zur Verwirklichung eines in den Zielen „versprochenen“ grenzüberschreitenden und insoweit europäischen öffentlichen Guts handeln kann. Schaut man auf jene Kriterien, die im Rahmen der ökonomischen Theorie zur Bereitstellung von (europäischen) öffentlichen Gütern28 herangezogen werden, so sollte europäisches Handeln in den Bereichen möglich sein, in denen die Mitgliedstaaten aufgrund von „policy spillovers“ im Hinblick auf die Bereitstellung und Verwirklichung eines europäischen öffentlichen Guts allein „nicht ausreichend“ handeln können, also überfordert sind, und in denen der europäischen Ebene geeignetere und wirksamere Mittel zur Verfügung stehen als der Ebene der Mitgliedstaaten („economies of scale“), die EU also im Vergleich „besser“ handeln kann.29 In diesem Rahmen gilt es, jene Bereiche zu ermitteln, in denen Maßnahmen auf EU-Ebene einen europäischen Mehrwert („European Added Value“) mit sich bringen und solchermaßen die europäische Souveränität oder auch Autonomie stärken. Legt man die hier genannten Kriterien zugrunde, so wird im Lichte der vorstehenden Ausführungen deutlich, dass die grenzüberschreitende Pandemiebekämpfung ein europäisches öffentliches Gut darstellt, der eine rein koordinierende Kompetenz nicht gerecht wird. Nach alledem besteht eine Diskrepanz zwischen Zielen und Aufgaben der EU einerseits und tatsächlichen Kompetenzen der EU andererseits. Die EU soll gem. Art. 168 Abs. 5 AEUV einerseits „zur Bekämpfung der weit verbreiteten schweren grenzüberschreitenden Krankheiten“ aktiv werden und „Maßnahmen zur Beobachtung, frühzeitigen Meldung und Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren“ ergreifen können. Jedoch soll sie sich hierbei andererseits unter Ausschluss gesetzgeberischer Harmonisierung auf bloße koordinierende Fördermaßnahmen beschränken. Wie vorstehend gezeigt wurde, ist eine bloße Koordinierungskompetenz jedoch nicht hinreichend, um eine Pandemie effektiv und grenzüberschreitend zu bekämpfen und solchermaßen die eingangs genannten Kollateralschäden durch Grenzkontrollen zu vermeiden. Blickt man ergänzend (in systematischer Auslegung) noch in die Kompetenzkataloge der EU, so wird deutlich, dass europäische Strategien 28 Vgl. Fuest/Pisani-Ferry, A Primer on Developing European Public Goods. A report to Ministers Bruno Le Maire and Olaf Scholz, European Network for Economic and Fiscal Policy Research: EconPol Policy Report 16/2019, S. 7 ff. 29 Calliess, Öffentliche Güter im Recht der EU, 2021, S. 22 ff. (online verfügbar). Recht und Politik, Beiheft 10

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Christian Calliess

und Maßnahmen zur Bekämpfung von Pandemien wie Corona im Rahmen des Art. 4 Abs. 2 (k) AEUV durchaus als „gemeinsame Sicherheitsanliegen im Bereich der öffentlichen Gesundheit“ eingeordnet werden können.

V. Vorschlag für eine kompetenzielle Lückenschließung im Bereich des Pandemieschutzes Festzuhalten ist daher, dass im Hinblick auf das europäische öffentliche Gut des Gesundheitsschutzes eine evidente Diskrepanz zwischen europäischem Versprechen und europäischen Handlungsmöglichkeiten in Form von der EU zugewiesenen Kompetenzen besteht. Aus der vorstehend entwickelten rechtlichen Perspektive auf europäische öffentliche Güter müsste Art. 168 Abs. 4 AEUV daher um eine europäische Gesetzgebungszuständigkeit ergänzt werden, um grenzüberschreitenden Ereignissen wie Pandemien effektiv begegnen zu können. Denn im Sinne der weiter oben erarbeiteten Kriterien für ein europäisches öffentliches Gut, die sich in der vorstehend skizzierten analogen Anwendung der Maßstäbe des Subsidiaritätsprinzips (hier – im Rahmen der Vertragsänderung – „nur“ als politische Leitlinie) spiegeln, kommt dem grenzüberschreitenden Charakter einer Pandemie wie er in der Corona-Krise sichtbar wird sowie dem europäischen Mehrwert gemeinsamer Antworten und Strategien in Bezug auf Vorbeugung und Bekämpfung eine maßgebliche Bedeutung zu. Zugleich würde damit gewährleistet, dass nationale Grenzkontrollen, die Binnenmarkt und Schengenraum in ihrer Funktionsfähigkeit beschränken, nicht mehr notwendig wären und solchermaßen nur noch in extremen Ausnahmefällen, also z. B. im Falle eines gänzlichen Nichthandelns oder einer evident unwirksamen europäischen Strategie, noch zu rechtfertigen wären. Um allerdings die Mitgliedstaaten nicht daran zu hindern, „mehr“ zu tun, müsste im Sinne eines Ausgleichs zwischen Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzip30 und dem darauf bezogenen arbeitsteiligen Zusammenwirken bereits vertraglich eine Schutzverstärkungsmöglichkeit zugunsten der nationalen Ebene eingeräumt werden, die den Mitgliedstaaten Handlungsspielräume oberhalb der europäischen Regeln (sog. „opting up“) gewährt. Vor diesem Hintergrund könnte die Ergänzung des vorstehend dargestellten Art. 168 Abs. 4 AEUV um eine Gesetzgebungszuständigkeit unter Buchstabe (d) wie folgt lauten: „Maßnahmen zur frühzeitigen Meldung, Beobachtung und Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren, insbesondere im Falle von Pandemien. Diese Maßnahmen dürfen die Mitgliedstaaten nicht daran hindern, verstärkte Schutzmaßnahmen beizubehalten oder zu ergreifen, wenn diese zwingend erforderlich sind.“ Eine solche Kompetenzergänzung wäre – wie vorstehend gezeigt wurde – nicht zuletzt auch für die Verwirklichung einer handlungsfähigen „Europäischen Gesundheitsunion“ sowie die damit einhergehende rechtliche, finanzielle und personelle Stärkung 30 Dazu Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der EU, Baden-Baden 1999, S. 185 ff. 194

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Mehr Europa?

der EMA und des ECDC erforderlich. Denn auf Agenturen können nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur innerhalb der Kompetenzordnung der Verträge (Art. 5 Abs. 2 EUV) und darüber hinaus klar umrissene Ausführungsbefugnisse, die der Kontrolle des EuGH unterliegen, übertragen (delegiert) werden.31

31 EuGH Rs. C-270/12 (Vereinigtes Königreich/Europäisches Parlament und Rat), ECLI:EU: C:2014:18; ausführlich Orator: Möglichkeiten und Grenzen der Einrichtung von Unionsagenturen, 2017, S. 185 ff. und S. 459 ff. Recht und Politik, Beiheft 10

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AUTORINNEN UND AUTOREN Behnke, Nathalie, Prof. Dr. phil., Professorin und Leiterin des Arbeitsbereichs ,Öffentliche Verwaltung, Public Policy‘ am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von empirischer Verwaltungsforschung, vergleichender Föderalismusforschung und Multilevel Governance. In ihrem aktuellen Forschungsprojekt untersucht sie die Rolle kommunaler Dachverbände in föderalen Aushandlungsprozessen. Von 2012 bis 2021 war sie im Ehrenamt Richterin am Verfassungsgerichtshof BadenWürttemberg. Bull, Hans Peter, Dr. iur., em. Universitätsprofessor, Landesminister a.D., Bundesbeauftragter für den Datenschutz a.D., zahlreiche selbständige Publikationen. Callies, Christian, Prof. Dr. iur., Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Europarecht an der Freien Universität Berlin und eines Ad Personam verliehenen Jean Monnet Chair. Selbständige Veröffentlichungen: Vgl. https://www.jura.fu-berlin.de/fachbereich/einrichtungen/oeffentlichesrecht/lehrende/calliessc/professur/calliess_christian/Literaturverzeichnis_Calliess_Feb-2022_neu. pdf. Ehs, Tamara, Dr. phil. Politikwissenschafterin. Jüngste Publikationen: Autokratisierungstendenzen: Institutionenkonflikte und fehlende demokratische Gesinnung, in: juridikum. Zeitschrift für Recht, Kritik, Gesellschaft 3/2021, S. 291 – 295; Different class citizens: Understanding the Relationship between Socio‐economic Inequality and Voting Abstention, in: Politics in Central Europe 17(3)/2021, S. 525 – 540 (zusammen mit Martina Zandonella); Deliberation against Participation? Yellow Vests and Grand Débat: A Perspective from Deliberative Theory, in: Political Studies Review 19(2)/2021, S. 186 – 192 (zusammen mit Monika Mokre; Friede durch Rechtsprechung, in: Peter Hilpold/Andreas Raffeiner/Walter Steinmair (Hg.): Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Solidarität in Österreich und in Europa. Wien: Facultas 2021, S. 177 – 189; Krisendemokratie. Sieben Lektionen aus der Coronakrise. Wien: Mandelbaum 2020. Fechner, Johannes, Dr. iur., ist Mitglied des Deutschen Bundestages, Sprecher der AG Recht und Verbraucherschutz der SPD-Bundestagsfraktion, Rechtsanwalt. Geiger, Sarah, Juristin /Maître en Droit. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht (Prof. Armin Hatje) an der Universität Hamburg und ehem. Lehrbeauftragte im französischen Verfassungsrecht am Centre Juridique Franco-Allemand der Universität Saarbrücken. Hermonies, Felix, Prof. Dr. iur., LL.M. (R.L.), Mag. rer. publ., Professor an der Hochschule Darmstadt, versch. Publikationen zum Datenschutzrecht. Hofmann, Yannik, Diplom-Jurist, BA. Rechtsanwalt und Doktorand. Selbständige Publikationen im JuWissBlog, zuletzt: Die Impfpflicht existiert bereits (https://www.juwiss.de/108-2021/) und Wider die Freiheit (https://www.juwiss.de/144-2020/. Kaiser, Anna-Bettina, Prof. Dr. iur. Professorin für Öffentliches Recht und Grundlagen des Rechts. Selbstständige Publikationen: Die Kommunikation der Verwaltung, 2009; Ausnahmeverfassungsrecht, 2020. Ladeur, Karl-Heinz, Prof. Dr. Dr. h.c. em. Professor für öffentliches Recht, Universität Hamburg. Selbständige Veröffentlichungen (Auswahl): Der Anfang des westlichen Rechts, Tübingen 2018;

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Duncker & Humblot, Berlin

Autorinnen und Autoren Die Textualität des Rechts, Weilerswist 2015; Recht – Wissen – Kultur. Die fragmentierte Ordnung, Berlin 2016. Leisner-Egensperger, Anna, Prof. Dr. iur., o. Universitätsprofessorin, Selbständige Publikationen: Zuletzt: Die Leistungsfähigkeit des Staates. Verfassungsrechtliche Grenze der Staatsleistungen? Berlin 1998; Kontinuität als Verfassungsprinzip. Unter besonderer Berücksichtigung des Steuerrechts, Tübingen 2002; Vielfalt. Ein Begriff des Öffentlichen Rechts, Berlin 2004; Historia Magistra des Staatsrechts, in: Hans-Joachim Berendt (Hrsg.), Jena 2004. Zahlreiche weitere Veröffentlichungen v. a. zum Öffentlichen Recht und Steuerrecht, vgl. das Publikationsverzeichnis auf der Homepage der Friedrich-Schiller-Uinversität Jena. Lemke, Matthias, Dr., PD., Regierungsrat, Fachhochschullehrer für Staats- und Gesellschaftswissenschaften an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundespolizei. Selbständige Veröffentlichungen: Deutschland im Notstand? Politik und Recht während der Corona-Pandemie in Deutschland, Frankfurt (Main) / New York: Campus 2021 (i.E.); New Normality? State of Exception as Contemporary Government Technique, Wiesbaden: Springer VS 2018 (hg. mit Ece Göztepe und Olivier Cahn) (=Sonderband ZPol 28(4)); Demokratie im Ausnahmezustand. Wie Regierungen ihre Macht ausweiten, Frankfurt (Main) / New York: Campus 2017. Lichdi, Johannes, Rechtsanwalt in Dresden. MdL Sachsen 2004 – 2014. Letzte Veröffentlichungen: „Die Geltung des Parlamentsvorbehalts in der Corona-Pandemie“, SächsVBl 2020, 273; „Die Rechtsprechung zur Versorgung mit Medizinal-Cannabis“, NZS 2020, 795 und für Recht und Politik „Zur Abschaffung der Chancengleichheit der Parteien“, in RuP 2017, 456 und „Schulpräsenzpflicht in der Corona-Pandemie am Beispiel Sachsens“, RuP 2021, 352. Möllers, Martin H. W., Prof. Dr., Dipl. Soz. Wiss., Studienassessor, Politikwissenschaftler und Jurist. Ooyen, Robert Chr. van, Prof. Dr. phil., lehrt Staats- und Gesellschaftswissenschaften an der Hochschule des Bundes (Lübeck) sowie Politikwissenschaft an der TU Dresden und ist Mitglied der RuP-Redaktion, Berlin. Zeh, Wolfgang, Prof. Dr. iur., Bundestagsdirektor a.D.

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