Connected to the Unknown – mit Systemaufstellungen die digitale Transformation meistern [1 ed.] 9783666406744, 9783525406748

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Connected to the Unknown – mit Systemaufstellungen die digitale Transformation meistern [1 ed.]
 9783666406744, 9783525406748

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Klaus P. Horn

Connected to the Unknown Mit Systemaufstellungen die digitale Transformation meistern

Klaus P. Horn

Connected to the Unknown – mit Systemaufstellungen die digitale Transformation meistern Mit 26 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: optimarc/shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40674-4

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Connectedness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Digitale Transformation braucht menschliche Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Systemaufstellungen in der Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . 17 1 Die digitale Welle und ihre systemischen Wirkungen . . . . 21 Digitale Transformation: ohne Geländer ins Ungewisse Gewinner und Verlierer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systemische Wirkungen der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stress und Druck durch Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . Disruption und Connectedness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele und Connectedness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unbekannte Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Herausforderungen und Utopien . . . . . . . . . . . . . . . Digitale und menschliche Transformation . . . . . . . . . . . . . . Eine andere Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Die Frequenz des Erfolgs: Systemaufstellungen in der digitalen Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Systemisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unsichtbare Dynamiken, verborgene Netzwerke . . . . . . . . . Was Information bewirkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was du bekämpfst, stärkst du . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . New Work . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systemaufstellungen: Information zweiter Ordnung . . . . . . Systeme lesen: die Aufstellungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . Ablauf einer systemischen Aufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Offensichtliche wird sichtbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Checkliste für Aufstellungen im Digitalisierungskontext . . 52 Makro-Mikro-Aufstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3 Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Fallbeispiel 1: »Plötzlich stehst du in der vierten Reihe!« Ein mittelständisches Unternehmen sieht sich durch Internetplattformen bedroht. NRW, Deutschland . . . . . . Fallbeispiel 2: »Bye, bye Konfuzius!« Ein chinesisches Familienunternehmen im Umbruch. Jinan, Shandong Provinz, China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallbeispiel 3: »Cooler als KI« – Mastermodus für menschliche Systeme? CDO Mark lernt analog Neues über sich, während er für seinen Vorstand »digital inkompatible« Mitarbeiter rauswerfen soll. Tokio, London, New York . . . . . . . . . . . . Fallbeispiel 4: »Die alte Welt behindert uns nur!« Anlagenbauer und Softwareentwickler im Erfolgsrausch übersieht seinen eigenen Untergang. Taipeh City, Taiwan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallbeispiel 5: »Warum lächelt der Roboter?« Lindas Konflikt mit einem Sprachroboter. Prag, Tschechische Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallbeispiel 6: Wie happy ist Happiness? Teamleiterin Sophia entdeckt ihr New-Work-Team auf neue Weise. Berlin, Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallbeispiel 7: »Dieselgate« Die unheilvolle Allianz digitaler Technologie und menschlicher Ignoranz. Automobilindustrie, Deutschland, USA . . . . . . . . . . . . . .

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4  How to deal with the unknown? Fragen und Antworten zur System­aufstellung im Digitalisierungskontext . . . . . . . 151 Zwei Arten von Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lösungssuche: Veränderung ist nur jetzt möglich . . . . . . . . Suchen verhindert finden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist Unsicherheit eine Ressource? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herausforderung für unsere Bildungssysteme . . . . . . . . . . . Unbekannte Zukunft – Bedrohung oder Verheißung? . . . . Herausforderung künstliche Intelligenz (KI) . . . . . . . . . . . . Sind Roboter die besseren Köpfe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine andere Führung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kinder der Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

Inhalt

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5  Veränderung in Echtzeit – Was Sie jetzt für Ihr Unternehmen und sich selbst tun können . . . . . . . . . . . . . . 181 Was Sie für Ihr Unternehmen oder Ihr Team tun können: Systemische Checkliste für Teams und Unternehmen in der digitalen Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was Sie für sich selbst tun können: Übungen zur Aktivierung von Echtzeit-Intelligenz . . . . . . . Veränderung mit Druck oder Dynamik? . . . . . . . . . . . . . . . Dynamik statt Tempo oder High-Efficiency-Entschleunigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praktische Tipps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

Inhalt

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Vorwort »Die wahre Reise der Entdeckung besteht nicht darin, neues Land zu erobern, sondern mit neuen Augen zu sehen.« Marcel Proust

Die Digitalisierung hat unsere Gedankenwelt fest im Griff. Kaum ein anderes Wort ist weltweit so präsent, sowohl in den Medien als auch in fast allen Unternehmen. Täglich werden wir mit ihm konfrontiert, ob wir wollen oder nicht. Nahezu alle Entscheider und Mitarbeiter in Unternehmen beschäftigen sich mit der Frage, wie sie die digitale Transformation meistern, wie sie wettbewerbsfähig bleiben und ihre Produkte und Dienstleistungen im Zuge des technischen Fortschritts innovieren können, um für ihre Kundschaft attraktiv zu sein, aber auch für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Dynamik der Märkte und die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen haben ein unglaublich hohes Maß erreicht. Die Frage nach dem richtigen Weg, auf dem die digitale Transformation zu meistern ist, wird in allen Branchen diskutiert und keiner weiß, was sich als richtig erweisen wird. Die Systemzusammenhänge mit ihren Wechselwirkungen und Verstrickungen achtsam zu betrachten und zu analysieren, erweitert die Informationslage in diesen komplexen Entscheidungssituationen. Es hilft dabei, im Zeitalter der Digitalisierung überlebenswichtige Unternehmensentscheidungen zu treffen. Die Systemaufstellung ist in diesem Zusammenhang eine sehr wirksame Analysemethode. Sie kann für unterschiedlichste Fragestellungen in Transformationsprozessen genutzt werden. Aufstel­ lungsarbeit liefert keine letztgültigen Antworten, öffnet aber den Zugang zu Informationen, die das System der Organisation enthält. Um diese Informationen zu heben, muss man es allerdings aus einer anderen Perspektive betrachten: aus einer Adlerperspektive. Die Methode der Systemaufstellung eröffnet die Möglichkeit, die Problemstellung aus einem neuen Blickwinkel heraus zu sehen und die Ist-Situation zu visualisieren. Sichtbar werden Wechselwirkungen 9

und Systemzusammenhänge zwischen Menschen, Prozessen, Ressourcen, Strukturen und Maschinen, und das immer im Kontext einer konkreten Fragestellung. Systemaufstellungen ermöglichen, dem eigentlichen Problem intensiv auf den Grund zu gehen. Anstatt Fragestellungen nur kognitiv zu bearbeiten, werden hier die Themen, die sich aus der Fragestellung ergeben, über den Prozess der räumlichen Visualisierung zugänglich und sichtbar gemacht, z. B. wie ein Unternehmen für die Digitalisierung erfolgreich aufgestellt werden könnte, welche Geschäftsbereiche entscheidend für die Zukunft sind und welchen Zweck die Digitalisierung und Transformation erfüllen sollen. Spannend wird es, wenn es darum geht, den firmeninternen Visionsprozess oder die unternehmensweite Purpose-Entwicklung mit der Systemaufstellung zu verbinden. Denn so ist es möglich, die Wirkungen auf den Markt oder direkt auf den Endkunden zu testen. Dafür nutzt die Methode Analyseprinzipien aus der Systemtheorie. Sie zu berücksichtigen, führt zum entscheidenden Erfolg: dass digitale Transformation gelingt. Der technologische Fortschritt, der ein exponentielles Wachstum an Rechenleistungen generiert, ist nicht aufzuhalten. Er wird alle Funktionsbereiche und Branchen in der Wirtschaft ebenso verändern wie unsere Gesellschaft. Diese enorme und komplexe Veränderung verlangt neue Arbeits- und Herangehensweisen sowie Haltungen gegenüber »Change« – nur so kann man die digitale Transformation nachhaltig begleiten. Die Aufstellungsarbeit, die Klaus P. Horn in den folgenden Kapiteln beschreibt, kommt ursprünglich aus der Familientherapie. In der Aufstellung lernen die Beteiligten, alle Systemkomponenten zu betrachten und die systemischen Prinzipien einer Organisation mit Würde und Bewusstheit zu integrieren. Werden systemische Prinzipien einer Organisation verletzt, führt das zu unbewussten Ausgleichsbewegungen. Diese äußern sich meist in dysfunktionalen Strukturen, dysfunktionalen Themen in der Zusammenarbeit oder in unachtsamen Entscheidungen, die ihre gewünschte Wirkung verfehlen. Das wiederum kann darüber entscheiden, ob eine Organisation die Zukunft erfolgreich gestaltet und überlebt. Die Systemaufstellung begleitet mich seit über zwanzig Jahren in meiner beruflichen Praxis. Die Methode ermöglicht es mir, Frage10

Vorwort

stellungen rund um das Thema Business-Transformation in Organisationen besser zu verstehen und Führungsthemen in der Tiefe zu ergründen. Dabei geht es mir insbesondere darum, meinen Kopf und mein Denken auszuschalten. Denn das Denken lenkt mich gern zu schnellen Lösungen. So bin ich erzogen und sozialisiert worden. Aber die schnelle, erstbeste Lösung ist oftmals nicht die erfolgreichste. Über die systemische Aufstellungsarbeit ist es mir gelungen, Fragestellungen aus einer neutralen Beobachterperspektive zu betrachten und zu klaren Entscheidungen zu gelangen. »Tuning into the system« ist eine Kompetenz, die es insbesondere Führungskräften und Entscheidern erlaubt, nachhaltig durch unsichere Zeiten zu navigieren. Und genau darum geht es: die Gegenwart nutzen, präsent sein, die eigene Wahrnehmung und Intuition im Hier und Jetzt spüren, ohne zu bewerten. Die Systemaufstellung liefert Informationen und Daten, die die Komplexität der Situation verständlicher machen – auch in den Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mit Aufstellungen können Entscheidungen getestet und simuliert werden. Die Methode zeigt auf, ob die Auswirkungen einer Entscheidung für die Beteiligten verkraftbar oder für die Organisation dysfunktional sind. Das gibt jedem Entscheidenden die Möglichkeit, angesichts aller Informationen und Daten, bewusst zu entscheiden – mit dem Wissen, welche Konsequenz die Entscheidung haben wird. Als Unternehmensberaterin für Change und digitale Transforma­ tionsprozesse arbeite ich mit Vorständen, Top-Management, in Teamprozessen und mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Für all diese Gruppen ist die Methode anwendbar und zugänglich. Besonders spannend wird es, wenn alle Personengruppen miteinander im Raum sind und gemeinsam beobachten und miteinander die Fragestellungen bearbeiten. Die Methode wirkt dann als starke Intervention: Sie verändert den Zustand der Anteilnahme im Moment und erzeugt Verständnis bei allen Teilnehmenden gleichermaßen und zum gleichen, nämlich dem jeweils gegenwärtigen Zeitpunkt. Klaus P. Horn ist einer der Experten für die systemische Aufstellungsarbeit in Deutschland. Er hat diese Methode für die Anwendungen auf wirtschaftliche Fragestellungen erweitert. Seine langjährige praktische Erfahrung kombiniert er mit seiner Neugier, Vorwort

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Systeme verstehen zu wollen, ohne zu bewerten. Er ist ein großartiger Wissensvermittler und Lehrer; ich danke ihm dafür, dass ich sein Know-how in zahlreichen Coachingsitzungen und Weiterbildungen erleben durfte. In diesem Buch teilt er seine Erfahrungen aus vielen Praxisfällen und regt an, die Perspektive zu wechseln. Dabei beschreibt er seine Analyse der Praxisfälle und zeigt auf, bei welchen konkreten Fragestellungen die Methode im Kontext der digitalen Transformation sehr gut anwendbar ist. Die Systemaufstellung ist die Methode, um die Vernetzung des inneren Organisationssystems sowie des Eco-Systems und ihre Wechselwirkungen besser zu verstehen. Unternehmen, die sie sich zunutze machen, haben ein machtvolles Analyseinstrument, das ihnen hilft, sich wettbewerbsfähig aufzustellen, um Zukunft zu gestalten. Die Zukunft kommt nicht, sie wird von uns gemacht – im Hier und Jetzt! Andrea Kahlenberg Managing Director & Member of the Executive Comitee Kienbaum Consulting International GmbH

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Vorwort

Einleitung

Connectedness In einem alten chinesischen Gleichnis stellt ein Maler dem Kaiser sein Gemälde vor, auf dem sich ein Weg zwischen nebelverhangenen Bergen hindurchschlängelt und in der Ferne verliert. »Wohin führt dieser Weg?«, will der Kaiser wissen. »Ich bin ihn noch nicht gegangen«, entgegnet der Maler, betritt das Bild und beginnt, den Weg entlangzuwandern, bis er nicht mehr zu sehen ist. Auch in unseren Vorstellungen von den Auswirkungen der digitalen Transformation malen wir Landschaften, die wir noch nicht erkundet haben. Wir betrachten Bilder, funkelnde Traumbilder oder Horrorvisionen, doch niemand weiß genau, wohin die Reise mit der Digitalisierung geht, denn dieser Weg liegt noch vor uns. Vielleicht haben auch Sie manchmal das Gefühl, auf einer Expedition ins Unbekannte zu sein? Dann geht es Ihnen wie vielen Führungskräften in Wirtschaft und Politik, die von einer epochalen Zeitenwende sprechen, dem Eintritt ins digitale oder Informationszeitalter. Keine andere Entwicklung hat mich in letzter Zeit so aufmerksam werden lassen wie die digitale Transformation. Dabei bin ich weder besonders technikbegeistert noch verbringe ich mehr Zeit als nötig vor Bildschirmen. Es ist etwas anderes, was mein Interesse weckte: Begriffe wie »Disruption« und »Transformation«, die bisher eher zum Sprachgebrauch von Philosophen1 gehörten, tauchen plötzlich in Wirtschaftsmagazinen und Polit-Talkshows auf. Wo bislang allein Wissen und Rationalität den Ton angaben, ist nun auch von »Nichtwissen« und dem »Unbekannten« in der digitalen Zukunft die Rede. Seit vier Jahrzehnten arbeite ich mit der Verbindung von »undenkbaren« Ansätzen mit den pragmatischen Erfordernissen des 1 Die Formulierungen dieses Buches wechseln willkürlich zwischen weiblicher und männlicher Form. Gemeint sind immer beide Geschlechter.

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wirtschaftlichen Alltags. Schon in jungen Jahren habe ich mich intensiv mit östlicher Philosophie und Meditation auseinandergesetzt und ihre Prinzipien für die Fragen und Themen von Führungskräften genutzt. Eine asiatische Schwester unseres westlichen, logisch-analytischen Denkens, die im fernen Osten auf eine vieltausendjährige Tradition zurückblickt, ist die wahrnehmende oder Bewusstseinsintelligenz. Sie versucht nicht, Probleme allein durch Nachdenken zu lösen, sondern indem sie sich intuitiv mit ihnen verbindet – also dem Weg ins Bild hinein folgt, statt es nur von außen zu betrachten. Forderungen nach Lösungen aus der Zukunft, aus dem Raum des Unbekannten, tauchen selbst in den Hochburgen rationaler Vernunft auf. Die Digitalisierung stellt unser Denken und unsere Werte infrage, indem sie uns die scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten künstlicher Intelligenz vor Augen führt. Das löst bei manchen Optimismus aus, bei vielen aber auch diffuse Ängste. So offenbaren Studien über Fortschritte und Hindernisse im Prozess der Digitalisierung weniger technische als vielmehr menschliche Schwierigkeiten in der Umsetzung. Beklagt wird das Fehlen qualifizierten Personals. Anders gesagt: Viele Mitarbeiterinnen tun sich schwer mit agilen Denk- und Arbeitsweisen und der Mensch-­ Roboter-­­Symbiose. Fehlt ihnen nur das Know-how oder die Erfahrung? Oder mangelt es an Akzeptanz und, wenn ja, warum? Auch hier geben zahlreiche von Consultingfirmen durchgeführte Befragungen Hinweise: Es ist die Angst vor Unsicherheit und Veränderung, die viele Mitarbeiter zu lähmen scheint. Methodische Trainings und Weiterbildungen in agilen Methoden eines New Work allein bringen bisher nicht den gewünschten Erfolg. Da kaum ein Unternehmen die Mehrheit seiner Mitarbeiterinnen durch solche mit »digitalem Mindset« ersetzen kann oder will, stellt sich die Frage »Was tun?« neu. Wenn es keinen technischen »Quick Fix« gibt, heißt die Alternative, die Menschen mit ihren Sorgen und Befürchtungen ernst zu nehmen. Dazu brauchen wir Wahrnehmung und Empathie. Wie fühlt sich ein Mitarbeiter, wenn sein Wissen, seine Fachkompetenz und Berufserfahrung sowie seine Denk- und Entscheidungsfähigkeiten plötzlich nichts mehr wert sind? Wie geht es ihm, wenn er statt mit Kolleginnen mit Robotern sprechen und 14

Einleitung

zusammenarbeiten soll? Wie reagiert er, wenn sein Job von einer künstlichen Intelligenz übernommen wird, die seine Aufgaben fehlerfrei und schneller bewerkstelligen kann? Noch scheinen die Nebenwirkungen der Digitalisierung Wenige zu treffen. Außerdem klingen die Einschätzungen der Experten – nach den ersten Schockmeldungen zur Zukunft des Arbeitsmarktes – schon viel moderater. Das könnte sich ändern, denn die digitale Transformation ist ein Prozess, dessen Verlauf ungewiss und dessen Folgen unbekannt sind. Millionen Menschen sind verunsichert und fürchten um ihre Arbeitsplätze, weil sie den angesagten Jargon nicht sprechen und einer »schönen neuen Welt« nicht hinreichend affin gegenüberstehen, einer Welt, in der Roboter Teammitglieder werden und Alexa und Siri erste nicht menschliche Familienangehörige. Bisher ist es eher eine Art neuer Elite, die Werte wie Sharing, Community, Team, Lab, Co-Working oder Co-Creating aufnehmen und leben kann. Sie ist in ihrem Element, wenn über Abteilungs- und Unternehmensgrenzen hinweg großzügig die wichtigste Ressource des neuen Zeitalters geteilt wird: Information. Wie aber können wir die Vielen mitnehmen, die noch nicht im angesagten »Mindset« angekommen sind? Was brauchen Menschen, wenn sich alte Strukturen und Hierarchien auflösen? Das Gefühl, ernst genommen zu werden und dazuzugehören! Wie kann Zugehörigkeit transportiert werden? Unter anderem durch Zuhören, Einbeziehen und – Empathie! Die menschliche Entsprechung digitaler Vernetzung ist Verbun­ denheit. Oder cooler gesagt: Connectedness.

Digitale Transformation braucht menschliche Transformation Worin kann sich eine Transformation unseres Umgangs miteinander zeigen? Wie sieht unsere Zusammenarbeit aus, wenn wir uns als connected empfinden? Verbunden sein heißt mitfühlen, in Kontakt sein, teilen und sich mitteilen. Verbundenheit ist der »missing link« zwischen digitaler und menschlicher Transformation. Sie bringt unsere Digitale Transformation braucht menschliche Transformation

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Bedürfnisse und Grenzen neu ins Spiel, ergänzt unsere technische Vernetztheit mit Gefühl und Intuition. Wie kann Connectedness einen Ausdruck finden, der mit den digitalen Netzwelten kompatibel ist? Systemische Ansätze sind hier wegweisend, denn Menschen ticken anders als technische Systeme. Ob in Europa oder Asien, ob in globalen Konzernen oder regional verwurzelten Familienunternehmen – die Herausforderungen von »Industrie 4.0« liegen in einer Symbiose, die es so noch nicht gab. Menschen mit ihren Emotionen, Bedürfnissen und Werten müssen sich auf die digitale Logik künstlicher Intelligenz einstellen – und diese wiederum auf unser unlogisches – oder psycho-logisches – Innenleben. Auch das erfordert Expertenwissen und ein neues Denken. Wer heute ein Unternehmen erfolgreich führen, ein Team leiten oder beratend mit Menschen arbeiten will, dem hilft systemisches Verständnis und eine neue Weise, mit sich selbst und anderen umzugehen. Es ist kein Zufall, dass »Achtsamkeit« und »Mindful Leadership« zu gängigen Begriffen im Geschäftsleben geworden sind. Wir öffnen uns für immer mehr Formen erweiterter Wahrnehmung, einfach weil wir sie brauchen! Ängste und Verunsicherungen weisen auf systemische Ungleichgewichte hin, die als Nebenwirkungen oder Kollateralschäden mit der Digitalisierung einhergehen. Wenn ein Manager gegenüber seinen Mitarbeiterinnen die digitale Zukunft visionär verklärt, statt die Ängste vor ihren Nebenwirkungen ernst zu nehmen, setzt er den Kontakt zu seinen Mitarbeitern aufs Spiel. Es kann leicht passieren, dass er als abgehoben erlebt wird, wenn er ihre Wirklichkeit nicht im Blick hat. Schon die Entwicklung unserer digitalen Alltagsgerätschaften bietet so viel Neues, dass wir ihre Schattenseiten leicht übersehen. So sind wir bereits heute jederzeit überall erreichbar und haben auf einsamen Berggipfeln wie auf stillen Örtchen immer Zugang zu allen gewünschten Informationen. Brauchen und wollen wir das? Und das ist erst der Anfang! Bald werden wir keinen Finger mehr rühren müssen, um per selbstfahrendem oder -fliegendem Vehikel von A nach B zu gelangen. Wir sprechen einfach einen Wunsch aus, und ein dienstbarer Geist bzw. Roboter erfüllt ihn umgehend. Anders als menschliche Dienstleister folgen die elektronischen Geister, die 16

Einleitung

wir riefen, stets widerspruchslos und führen ihre Aufgaben (meist) fehlerfrei aus. Bisweilen kann es uns trotzdem so vorkommen, als drehten sie den Spieß um und brächten uns dazu, ihnen zu dienen. Schon Smartphones haben diese merkwürdige Eigenschaft, die Aufmerksamkeit der Menschen sehr weitgehend zu beanspruchen. Sie beschäftigen uns bei der Arbeit und in der Freizeit, füllen unterwegs Wartezeiten aller Art, ersetzen Pausengespräche, prägen unsere Kommunikation, und wenn wir sie einmal verlegt haben, lassen sie uns spüren, wie sie uns fehlen. Angeblich gibt es in China Halterungen für das Smartphone des Partners, die man sich auf den Kopf setzt, damit der andere einen auch mal anschaut. Wie bei vielen revolutionären Entwicklungen gibt es auch bei dieser eine Tendenz, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wo alles Digitale Trumpf ist, werden analoge Verfahren belächelt oder abgelehnt und überschrieben. Da die digitale Transformation von globaler wirtschaftlicher und technologischer Macht vorangetrieben wird, hat sie praktisch keine ernsthafte Opposition zu berücksichtigen und findet weltweit nur Unterstützer und Fürsprecher in den Chefetagen und Regierungen gleich welcher politischen Couleur. Weltmeister der Digitalisierung wollen wir alle werden!

Systemaufstellungen in der Digitalisierung In zwei Jahrzehnten praktischer Erfahrung mit der Anwendung der Aufstellungsmethode in Unternehmen und Organisationen hat sich eine methodische Kompetenz entwickelt, deren Nutzen jetzt voll in den Blickpunkt rückt. Es wirkt fast so, als hätte sie sich für ihren Einsatz in der Digitalisierungsliga warmgelaufen. Im Spannungsfeld zwischen digitaler Effektivität und menschlicher Realität ist sie als Methode wie vielleicht keine andere dafür geeignet, Zusammenhänge nicht nur abzubilden, sondern uns wie der chinesische Maler ins Bild eintauchen zu lassen. Wirkungen und Ursachen können so analytisch betrachtet und zugleich auch bewusst erlebt und erfahren werden. Diese Verbindung rationaler Analyse mit Bauchgefühl und Intuition hat das Potenzial, Perspektivenwechsel und kreative Lösungen anzustoßen. Systemaufstellungen in der Digitalisierung

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Information ist die Schlüsselressource unserer Zeit. Doch digitale Information spricht nur einen Teil unserer menschlichen Wirklichkeit an – den des Machbaren und Zählbaren. Der besondere Mehrwert von Systemaufstellungen liegt in ihrer Fähigkeit, Informationen zu lesen, die rational und digital nicht zugänglich sind. Es sind verborgene, unsichtbare Dynamiken, die wir nicht immer definieren, aber deutlich spüren können. Unternehmenskulturen werden von ihnen geprägt und gefärbt. Von systemischer Stimmigkeit hängen die Zufriedenheit von Mitarbeiterinnen, die Kreativität in einem Team und der Erfolg eines Unternehmens entscheidend ab. Systemaufstellungen nutzen eine intuitive Sprache, mit der wir alle vertraut sind, ohne sie jemals gelernt zu haben. Sie können deshalb helfen, verborgene Fallstricke in der Digitalisierung ans Licht zu bringen und Schieflagen auszugleichen. Sie können die Aufstellungsmethode in Ihrem Digitalisierungsprozess nutzen, um einen erweiterten Blick auf Abläufe, Probleme oder ein ganzes Unternehmen zu werfen. Sie bekommen relevante Informationen zu drängenden Fragen, wie beispielsweise: ȤȤ Was sind die verborgenen Hintergründe eines schleppenden Veränderungsprozesses? ȤȤ Wie können wir Widerstände und Abteilungsdenken überwinden? ȤȤ Wie kommen wir zu einem Führungsverständnis, das den He­ raus­forderungen der Zukunft gewachsen ist? Im ersten Kapitel dieses Buches erfahren Sie etwas über die systemischen Wirkungen der digitalen Welle. Mit welchem Nutzen Systemaufstellungen in der digitalen Transformation eingesetzt werden können, lesen Sie in Kapitel 2. Praktische Fallbeispiele von Unternehmen und einzelnen Menschen mit ihren Themen im Digitalisierungsprozess sind im dritten Kapitel dokumentiert. In Seminaren und Vorträgen werde ich immer wieder mit interessanten Fragen zu systemischen Wirkungen der Digitalisierung konfrontiert. Vielleicht haben Sie sich einige dieser Fragen auch schon gestellt. Eine Auswahl häufiger Fragen und Antworten können Sie in Kapitel 4 nachlesen. Welche Herausforderungen die digitale Transformation an Knowhow, Unternehmensführung und Arbeitsweisen stellt, wird breit 18

Einleitung

diskutiert. Damit Sie auch die systemischen Wirkungen dieser Prozesse in Ihrem Unternehmen oder Ihrem Team einbeziehen können, finden Sie in Kapitel 5 eine Checkliste, mit der Sie sofort beginnen können, Ihre Unternehmenssituation unter die Lupe zu nehmen. Ebenso wichtig wie systemische Stimmigkeit in der Organisation ist Ihr Lebensgefühl und Ihr Umgang mit sich selbst unter sich ständig verändernden Bedingungen. In Kapitel 5 ist eine Auswahl von Übungen und praktischen Tipps aufgeführt, die Sie dabei unterstützen können, mit Tempo und Druck entspannter umzugehen.

Systemaufstellungen in der Digitalisierung

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 Die digitale Welle und ihre systemischen Wirkungen

Wellen werden leicht unterschätzt. So auch diese. Sanft und harmlos rollte sie vor sich hin, wogte ein wenig auf und ab, um sich plötzlich, völlig unerwartet, zu überwältigender Größe aufzubauen. Sie schien weit weg, in sicherer Entfernung, eine Bewegung wie in Zeitlupe, die man ruhig abwarten kann. Doch auf einmal ist sie da, kommt blitzschnell und unaufhaltsam auf uns zu. Überrollt sie uns? Gehen wir unter? Verschwinden unsere kleinen und mittleren Unternehmen vom Markt? Werden wir bald nur noch von Internetgiganten und Logistikriesen regiert? Oder surfen wir die Welle? Sind wir wie ein Surfer bereit für die lang erwartete Big Wave? Ihre Kraft hebt beliebig viele Surfer auf den gleichen Wellenkamm, trägt alle, die bereit sind: Startups ebenso wie Traditionsunternehmen, Konzerne wie Internetportale, kurz: alle, die den Moment nutzen, in dem die Welle ihren Scheitelpunkt erreicht. Dieser Moment ist jetzt. Die Zukunft ist hier. Aber was ist mit den vielen, die sie nicht kommen sahen, die nahe am Strand schwammen, ihr den Rücken zuwandten und sich nun erschreckt umdrehen?

Digitale Transformation: ohne Geländer ins Ungewisse Die Digitalisierungswelle überschwemmt unsere Alltagsumgebungen mit ihren Dingen, Formen und Werten und unterspült unsere Arbeitsstrukturen und Lebensgewohnheiten. Wir leben in aufre­ genden Zeiten! In den meisten Veränderungsprozessen kannten wir den Ausgangspunkt A und das Ziel B. In einem Transformationsprozess ist das anders: Wir kennen nur den Ausgangspunkt A. Wo wir ankommen, ist X, also unbekanntes Land, weshalb selbst sach21

liche Gemüter in Politik und Wirtschaft von epochalen Umbrüchen sprechen. Unternehmen müssen sich grundlegend umstellen. Neben den technischen Quantensprüngen sind sie mit Marktverwerfungen konfrontiert, durch die bisher gültige Strukturen umgekrempelt werden. Etablierte Traditionsfirmen sehen sich von Internetkonzernen und digitalen Start-ups an die Wand gedrängt. Aber nicht nur unsere Organisationen stehen vor gewaltigen Herausforderungen, auch viele Menschen in ihnen wissen nicht, wie es weitergeht! Dass sicher geglaubte Jobs bedroht sind, erzeugt Unsicherheit und tiefe Ängste. Nicht nur ein Großteil gering qualifizierter Arbeitsplätze in der Produktion und am Bildschirm sind infrage gestellt. Auch manche heute hochgeschätzte MBA-Kompetenzen wie systematische Problemidentifizierung und -analyse sowie Entscheidungsfindung beherrscht künstliche Intelligenz (KI) morgen besser und schneller. Wir befinden uns in der kritischen Phase einer Entwicklung, in der ȤȤ Unternehmen sich von Internetplattformen ausgebootet sehen. ȤȤ Führungskräfte und Mitarbeiter durch den Wegfall ganzer Hierarchieebenen überfordert sind. ȤȤ berufliche Identität nicht mehr über gelernte Fähigkeiten und Erfahrung gebildet werden kann. ȤȤ Mitarbeiterinnen agil, smart und kreativ werden müssen, um weiter dazuzugehören. ȤȤ Zukunftsangst zum Dauerstress führt. ȤȤ Menschen sich in der Kommunikation mit Robotern und KI emotional überfordert fühlen. Obwohl Digitalisierung auf logisch rationaler Rechnerleistung beruht, trägt sie paradoxerweise dazu bei, unser rationales Weltbild ins Wanken zu bringen. Ihre Schlagworte sind bekannt: Disruption, Umbruch, Unsicherheit, permanente Veränderung, Lösungen aus der Zukunft, das Ende des linearen Denkens. Manche erkennen neue Chancen. Aber wer nimmt die vielen Verunsicherten ernst? Davon ist bisher wenig zu spüren. Stattdessen gibt es Appelle und Druck: »Alles ändert sich!«, »Wer nicht fit ist, bleibt auf der Strecke!«, »Wer den Trend verschläft, wird abgehängt!« Sol22

Die digitale Welle und ihre systemischen Wirkungen

che Drohbotschaften kommen an und bewirken Aktionismus aus Angst: »Lass uns schnell irgendwas tun, damit wir den Zug nicht verpassen! Lauf, lauf um dein Leben! Und streng dich an! Vergiss, was dir wichtig ist! Pass dich an! Sei noch flexibler und immer agil! Sonst schaust du bald nur noch hinterher!«

Gewinner und Verlierer Die Umbrüche und schnellen Veränderungen, mit denen die digitale Transformation das Informationszeitalter einläutet, treffen die meisten unvorbereitet. Der Boden unter den eigenen Füßen scheint zu schwanken, nichts ist mehr, wie es war, die Zukunft ist ungewiss! Bei Gefahr übernimmt unser »Urwaldgehirn« die Führung und wir reagieren mit Kampf, Flucht oder Totstellen bzw. Unterwerfung. Bewusste Wahlmöglichkeiten gibt es in einem solchen Überlebensmodus nicht mehr. Viele versuchen, die empfundene Bedrohung zu regulieren, in­ dem sie sich überanpassen. Sie bemühen sich, stets agil und flexibel zu wirken oder nur noch Digital-Denglisch zu sprechen. Manche hoffen einfach, dass der Kelch an ihnen vorübergeht. Und andere fühlen sich weder bedroht noch überfordert, sondern in der digitalen Welt zu Hause. Die Gewinner in den Internetkonzernen verhalten sich als Sieger so, als gelte nun nach den Dschungelgesetzen ausschließlich ihr »Recht des Stärkeren«, das sie berechtigt, die Welt nach ihren Vorstellungen umzugestalten: »The winner takes it all!« Der Gründer von Amazon wollte sein Unternehmen ursprünglich »relentless«, gnadenlos, nennen, entschied sich dann aber für den bekannten großen Strom, jene Lebensader des Planeten, die vor allem durch die rücksichtslose Abholzung an ihren Ufern in der Diskussion ist.

Systemische Wirkungen der Macht Wie massiv sich die Digitalisierung auf Organisationssysteme auswirkt, zeigt sich in kleineren Unternehmen und Konzernen gleicherSystemische Wirkungen der Macht

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maßen deutlich. Mancherorts bewirkt sie radikale Machtwechsel. Alte, gewachsene Strukturen werden von jungen Start-ups entmachtet. Systemaufsteller in verschiedenen Ländern haben in zwei Jahrzehnten Erfahrung mit der Anwendung der Methode ihre Beobachtungen in »systemischen Prinzipien« bzw. »Systemgesetzen« formuliert. Sie beschreiben beobachtbare Mechanismen, nach denen Organisationen und Unternehmen funktionieren, um zu überleben (vgl. Horn u. Brick, 2001, S. 25 ff.; Müller-Christ u. Pijetlovic, 2018, S. 86 ff.). Einer dieser Erfahrungswerte ist der »Vorrang der Früheren vor den Späteren«. Gemeint ist damit, dass das Neue auf der Basis des Alten aufbaut und deshalb gut daran tut, diese Tatsache anzuerkennen. Analog zu den Jahresringen eines Baumes wachsen die neuen Ringe auf den alten, würden also nicht existieren, gäbe es die vom Vorjahr nicht. Wie disruptiv kann digitale Disruption hier wirken? Holzt sie gleich den ganzen Wald ab, um ihn flächendeckend durch G 5-Sendemasten zu ersetzen? Wohl kaum. Auch digitalisierte Unternehmen bauen auf Vorhandenem auf. Wie »new« und »digital« sie sich auch geben – auch Start-ups arbeiten in bekannten Teamstrukturen. Wenn Teamleiter wechseln, gilt nach wie vor, dass der Neue schlecht beraten ist, wenn er sofort beginnt, alle Teamstrukturen umzukrempeln und nach seinen Vorstellungen zu ändern – nach dem Motto »Alles Schnee von gestern«. Er wird massiven Widerstand erfahren, mit dem die Teammitglieder ihm deutlich machen, dass er seine Ziele nur mit ihnen erreichen kann. Wenn er von den Erfahrungen des Teams zu lernen bereit ist, wird er als neuer Chef schneller akzeptiert. Es kann entsprechend problematisch werden, wenn gewachsene Strukturen in neuen Entwicklungen radikal beiseitegefegt werden, da eine Organisation sich auf diese Weise gewissermaßen selbst den Teppich unter den Füßen wegzieht. Verstärkt wird dieser Effekt noch, wenn Unternehmen Mitarbeiter entlassen, die nicht mehr den passenden »Mindset« haben, wie es gerade vielerorts geplant wird. Massive Reaktionen der verbleibenden Mitarbeiterinnen können die Folge sein. Bei manchen erzeugt die Frage »Wann bin ich dran?« Druck. Anderen fällt es schwer, weiter zu ihrem Unternehmen zu stehen, wenn ihre Kollegen einen so hohen Preis bezahlen mussten. Wieder andere fühlen sich womöglich so mit ihren entlassenen Kol24

Die digitale Welle und ihre systemischen Wirkungen

leginnen verbunden, dass sie mit innerer Kündigung reagieren, als wollten sie sich so mit ihnen solidarisieren. Bei Entlassungswellen verhalten sich verbleibende Mitarbeiter oft so, als wären auch sie nicht mehr zugehörig – besonders wenn der Stellenabbau für das Überleben des Unternehmens nicht notwendig ist. Der zweite systemische Erfahrungswert, der somit in der disruptiven Digitalisierung eine Rolle spielt, ist das »Recht auf Zugehörigkeit«. Wir erleben gerade erst die Anfänge dieses Prozesses, der unabsehbare Kettenreaktionen erzeugen kann, sollten Menschen massenhaft entlassen und von Robotern ersetzt werden. Ein solches Konfliktpotenzial zu erkennen und ernst zu nehmen ist der erste Schritt zu verantwortlichem Handeln. Auch dieses »Anerkennen, was ist« zeigt seine Wirkung als »systemisches Prinzip« überall dort in positiver Weise, wo wir den Dingen ins Auge schauen. Wenn wir unangenehme Realitäten verleugnen oder wegschauen, entwickeln sich entsprechend kritische Folgen, da ein Problem unter dem Teppich bekanntlich nicht aufhört zu existieren.

Stress und Druck durch Digitalisierung Nicht nur in Organisationen, auch in uns selbst werden bei empfundener Bedrohung Überlebens- und Not-Programme aktiviert. Wenn wir Veränderung als Druck und Bedrohung erleben, treiben wir uns an und verleugnen unsere Bedürfnisse, um zu überleben. In gewisser Weise verhalten wir uns diktatorisch uns selbst gegenüber. Unter Zwang blüht keine Flexibilität! Wir sind aufs bloße Funktionieren reduziert und reagieren mit Stresssymptomen und in der Folge mit psychosomatischen Krankheiten oder Burn-out. Wie kommen wir aus solchen Sackgassen heraus? Als erster Schritt gilt auch hier: anerkennen, was ist! – gerade, wenn es um Ängste und Unsicherheiten geht! Wenn wir lernen, bewusster und verantwortlicher mit uns selbst umzugehen, fällt uns das auch mit Mitarbeiterinnen und Kollegen leichter. Neue Perspektiven öffnen sich, wenn wir empathischer mit uns selbst und anderen sind. Wir atmen durch, nehmen uns Zeit und unterbrechen automatische Abläufe, statt sofort zu reagieren. Stress und Druck durch Digitalisierung

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Auch Bewusstseinsintelligenz ist disruptiv. Sie unterbricht Gewohnheiten, sagt »Stopp« und hinterfragt unser Tun. Das ist notwendiger denn je, denn Bewusstheit und Empathie sind nicht Bestandteil digitaler Intelligenz.

Disruption und Connectedness Über die Macht der »großen Vier« (Amazon, Apple, Facebook, Google) ist viel gesagt und geschrieben worden. Die Diskussion über Demokratie im digitalen Zeitalter kreist um die Themen Macht, Kontrolle und Manipulation. In der Internetindustrie zeigt sich wie in der Politik, wie dünn das Eis demokratischer Strukturen ist, wenn um Marktpositionen gekämpft wird. Liberale Werte brechen schnell ein und machen dem alten Gewinner-Verlierer-Denken mit seinen autokratischen Strukturen Platz. Hier öffnet sich ein Lernfeld, denn mit den komplex vernetzten Realitäten einer postindustriellen Welt ist diese Denkweise so wenig kompatibel wie mit den Werten der Netzwelt von Offenheit, Sharing und Community. So erleben wir heute in politischen und wirtschaftlichen Strukturen teils extreme Polarisierungen. Um ins Gleichgewicht zu kommen, brauchen wir menschliche Intelligenz auf ähnlich hohem Niveau von Vernetzung, wie sie die Webtechnologie besitzt. Eine reflektierende und verbundene emotionale Intelligenz, die sich der Auswirkungen ihres Handelns bewusst ist, wäre in der Lage, Kontrahenten aus verhärteten Positionen herauszuführen. Ihre Kennzeichen sind Empathie, Präsenz und Intuition. Verbundene Intelligenz fragt nach Werten, Sinn und Menschlichkeit. Damit könnte sie unreflektiertes Machbarkeitsdenken entschärfen, gerade wenn es um die mühsam entwickelten sozialen Übereinkünfte westlicher Demokratien geht. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ideen des Turiner Philosophieprofessors Maurizio Ferraris, der das Netzverhalten der vielen Millionen User weltweit als wertschöpfende Arbeit im ökonomischen Sinne bezeichnet, mit der nicht nur Big Data, sondern Rich Data produziert würde. Er schlägt deshalb eine Netzsteuer vor, mit der die Internetkonzerne einen Teil ihres Reichtums den Er26

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zeugern wieder zurückgeben: »Wir arbeiten täglich im Netz und schaffen Rich Data. Es ist an der Zeit, dass wir uns selbst ernst nehmen und uns für diese Arbeit entschädigen lassen. Oder sind wir etwa blöd?« (Ferraris, 2018).

Ziele und Connectedness Hohes Innovationstempo kann einen Tunnelblick bewirken. Nun sind Ziele für Unternehmen so wichtig wie starke Markpositionen. Allerdings bringt der digitale Siegeszug unerwünschte soziale Nebenwirkungen mit sich: Druck und Überlebenspanik in den Wirtschaftszweigen, die an die Wand gedrängt werden, Ängste in weiten Teilen der Gesellschaft und bisher kaum überschaubare Folgen für demokratische Gesellschaftsstrukturen. Es ist nicht einfach, in voller Fahrt anzuhalten, sich umzuschauen und festzustellen, wo man sich befindet. Hilfreich wäre es allemal, denn möglicherweise befinden wir uns in einer durch Geschwindigkeit hervorgerufenen optischen Täuschung. Wem es gelingt, Stopp zu sagen und anzuhalten, der macht eine lohnende Entdeckung: Das Gaspedal ist in meinem Kopf! Ich kann das Wettrennen des Denkens unterbrechen! Die Pausentaste verschafft mir nicht nur eine Atempause, sie ermöglicht mir auch einen Perspektivenwechsel! Der Blick auf das Unternehmen und die Chancen und Risiken der vielen Digitalisierungsprojekte weitet sich, bezieht andere Fragen und Folgen ein. Wo stehen wir? Wo wollen wir hin? Wie geht es unseren Mitarbeitern? Wie reagiert die Welt auf uns? Die Verbundenheit des Unternehmens mit seiner Umwelt, mit den Kundinnen, den Usern rückt in den Blick. Konflikte scheinen lösbarer als zuvor. Was die Weisheitstraditionen verschiedener Kulturen schon seit Jahrtausenden lehren, dringt nun in unser Alltagsbewusstsein vor: Wir sind auf so unmittelbare Weise miteinander verbunden, dass jedes Erleben eines anderen direkt auf das eigene Erleben einwirkt. Warum fühle ich, was du fühlst? Weil wir einander innerlich spiegeln. Die Forschungsergebnisse moderner Neurowissenschaftler verwandeln diese mystisch anmutende Aussage in eine nachprüfbare Ziele und Connectedness

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Tatsache. Wie die Emotion eines anderen in mir simultan den gleichen Zustand auslöst, ist wissenschaftlich zweifelfrei nachgewiesen worden (vgl. Bauer, 2005). Die Alltagserfahrung bestätigt die Wissenschaft. Wir sagen »autsch« oder verziehen schmerzhaft das Gesicht, wenn sich ein anderer den Hammer auf den Daumen haut. Dein Schmerz ist mein Schmerz. Wenn Mitarbeiterinnen massenhaft entlassen werden, ohne dass existenzielle Not das Unternehmen dazu zwingt, kann, wie oben beschrieben, innere Kündigung bei den Verbleibenden die Folge sein. Schon so manches Unternehmen ist an den Nebenwirkungen einer solchen »Verschlankungskur« zugrunde gegangen. Berechnungen und rationale Begründungen ändern nichts an dieser sozialen Empathie. Die Angst der anderen ist eben nicht nur die Angst der anderen. Sie wirkt auch auf uns, denn wir sind »connected«. Emotionale und intuitive Intelligenz sind jedem Menschen zugänglich. Um sie zu öffnen, sind eine bewusste Entscheidung und Übung nötig. Vor nicht allzu langer Zeit noch als esoterische Spekulation betrachtet, rückt das Potenzial intuitiver Intelligenz nun im Lichte der Forschungen zum Herzgehirn allmählich ins Bewusstsein: »Die Forscher des HeartMath Institutes haben gemessen, dass unser Herz ein pulsierendes elektromagnetisches Feld aufbaut, dessen Wellen Informationen über weite Entfernungen transportieren. Es kann daher auf der Ebene des Herzens zu einem direkten Informationsaustausch zwischen zwei Menschen kommen. Die Wissenschaftler schlussfolgern, dass unser Nervensystem wie eine ›Antenne‹ die Fähigkeit besitzt, Informationen zu empfangen, die von einem anderen Menschen unbewusst ausgesendet werden. Das elektrische Feld des Herzens ist 60 mal stärker als das des Gehirns, und die magnetische Komponente dieses Feldes ist sogar 5000 mal höher als die des Gehirns. Es kann noch mehrere Meter vom Körper entfernt gemessen werden. Mitgefühl, so die Forscher, ist die Emotion, die am stärksten auf unsere Umwelt wirkt. Die von einer Person erzeugten elektromagnetischen Informationswellen des Herzens sind in den Gehirnwellen einer zweiten Person messbar (Peters 2014). Wir geben also über unsere Herzaktivitäten 28

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ständig Informationen an unsere Umgebung ab und empfangen solche von anderen Menschen – wenn auch unbewusst« (Strauss, 2017, S. 146).

Unbekannte Zukunft Die Zukunftsvisionen der in Silicon Valley und anderswo entste­ henden Think Tanks für das digitale Zeitalter wirken auf gut Kalifornisch »mindblowing«. Hier einige Beispiele:2 ȤȤ Effektivere Erschließung der Solarenergie wird andere Energiequellen vollständig ersetzen. ȤȤ »Unheilige Allianzen«, z. B. von Pharmaindustrie und Naturmedizin, führen zu bisher undenkbaren Lösungen. ȤȤ Die Biotechnologie wird neue halb-synthetische Lebensformen erschaffen. ȤȤ Durch Reprogrammierung unserer Gene wird die menschliche Lebenserwartung sprunghaft steigen. ȤȤ Künstliche Intelligenz wird menschliche Intelligenz überholen. ȤȤ Die Mehrzahl der heutigen Arbeitsplätze entfällt. ȤȤ Computer-Gehirn-Schnittstellen katapultieren uns in eine globale Brain-Cloud, in der jeder mit jedem verbunden sein wird. ȤȤ Hunger und Kriege werden beendet. ȤȤ Die Besiedlung des Weltraums bzw. anderer Planeten wird Realität. Wie immer Sie derartige Zukunftsvisionen einschätzen – die digitale Transformation fordert nicht nur unsere Denkweisen und Gewohnheiten heraus. Indem sie die Rahmenbedingungen menschlichen Lebens und Arbeitens, wie wir sie kennen, radikal infrage stellt, konfrontiert sie uns mit den Grenzen unserer Vorstellungskraft. Was wissen wir? Was ist unsere Realität? Mit diesen Fragen beschäftigt sich auch die »Leading Edge« der Naturwissenschaftler etwa in Quantenphysik und Neurowissenschaften. Sie sind mit Forschungsergebnissen konfrontiert, die sie zwingen, manche ihrer Grundannahmen zu verwerfen. Das Kon2 Vgl. z. B. Ron Kurzweil (2005). Unbekannte Zukunft

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zept einer Forschung, die objektive Ergebnisse liefert und den Forscher dabei außer Acht lässt, ist nicht mehr haltbar. Die Linse, durch die Forscher etwas erkennen möchten, ist von ihren Vorannahmen und Wahrnehmungsfiltern gefärbt. Damit nehmen auch der Erkenntnisprozess und dessen Ergebnis ihre Farbe an, denn der Beobachter ist mit dem Beobachteten verknüpft. Analog gilt dies auch für den Beobachter des Beobachters, der in wissenschaftlichen Settings den Prozess begleitet. Unsere »inneren Brillen,« durch die wir die Welt anschauen, bestimmen entscheidend mit, was wir sehen. So bewahrheitet sich das alte Programmierer-Motto »What you see is what you get« (WYSIWYG) auf eine Weise, die eher an das altindisch-vedische Konzept von »Maya« (Die Welt ist Illusion) erinnert als an exakte Naturwissenschaft. Die Säulen der Wissenschaft, auf denen unser Weltverständnis seit der Aufklärung ruhte, bröckeln. Das ließe die meisten Menschen vermutlich kalt, wenn nicht zugleich eine gewaltige Welle von Umwälzungen unsere Lebensgewohnheiten zu unterspülen drohte. Die digitale Transformation revolutioniert in einem nie da gewesenen Tempo unsere gesamte Arbeitswelt und mit ihr auch unsere privaten Lebens- und Beziehungsformen, unsere Welterfahrung und unsere Werte. Wo Zuverlässigkeit und Langlebigkeit galten, geht es heute um Flexibilität, Agilität und die Fähigkeit, sich selbst und die eigene Verwendbarkeit im Arbeitsmarkt immer wieder infrage zu stellen. Schlagworte der digitalen Beratungsszene lauten z. B.: ȤȤ Unsicherheit ist die Ressource der Zukunft! ȤȤ Selbsterkenntnis wird zur Kernkompetenz! ȤȤ Lösungen kommen aus der Zukunft! ȤȤ Selbstangriff wird zur Erfolgsstrategie! ȤȤ Entdecke dein maximales Entwicklungspotenzial! ȤȤ Die Zukunft gehört dem lebenslang Lernenden! ȤȤ Systemisches Denken begreift die Wechselwirkungen in Veränderungsprozessen (LRN Lab, 2017). Wir sind also nicht nur aufgefordert, umzudenken, Gewohntes loszulassen und uns für das Unvorhersehbare zu öffnen, nein, wir werden dazu gezwungen! Wir haben keine andere Wahl als die sicheren Häfen unserer gewohnten Weltbilder und Lebenskonzepte zu 30

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verlassen und uns in unsicheren Booten auf einen weiten Ozean zu wagen – so wie es viele Menschen weltweit tatsächlich tun. Der Unternehmensberater und Zukunftsforscher Bernhard von Mutius vergleicht die Digitalisierung mit einer Reise ins Unbekannte, und fordert dazu auf, sich mit dem »Nicht« zu konfrontieren: »Die Zumutung des Nicht Nicht wissen Nicht linear Nicht eindeutig Nicht sicher Nicht fest Nicht vorhersagbar Nicht entweder oder« (von Mutius, 2018) »Wir müssen zugeben«, sagte der Physiker Werner Heisenberg bereits Mitte des 20. Jahrhunderts sinngemäß, »daß unser Wissen über abgrundloser Tiefe schwebt.« Was Physiker und Philosophen schon länger beschäftigt, landet nun bei den Projektteams in unseren Unternehmen.

Soziale Herausforderungen und Utopien Wenn tragende Strukturen wegbrechen, entstehen Ängste. Angst macht uns eng und wir klammern uns umso mehr an die brechenden Äste. Aber es hilft nichts: Die digitalen Veränderungsprozesse verlaufen exponentiell, d. h. immer schneller. Noch wirkt künstliche Intelligenz wie eine Utopie aus einem Science-Fiction-Film. Doch schon sehr bald werden wir mit Computern sprechen und interagieren wie mit Menschen, werden mit selbst fahrenden und selbst fliegenden Transportmitteln unterwegs sein, werden keine festen Arbeitsplätze und vielleicht auch keine festen Wohnorte mehr haben. Einfache Fließbandjobs werden ebenso wie viele Bildschirmarbeitsplätze durch Roboter ersetzt. Viele Menschen finden in der Industrie keine Arbeit mehr. Ein bedingungsloses Grundeinkommen Soziale Herausforderungen und Utopien

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kann ihnen helfen zu überleben, aber sie werden nicht mehr wissen, wer sie sind und wie sie leben sollen. Wir werden mit sozialen Spannungen und politischen Umwälzungen konfrontiert werden, deren Ausmaß wir gerade erst zu ahnen beginnen – möglicherweise aber auch mit neuen Chancen und Möglichkeiten: Der Wegfall mechanischer und repetitiver Arbeit könnte zum ersten Mal in der Geschichte nicht nur für Wenige sondern für Viele die Chance auf ein sinnerfülltes Leben eröffnen – wenn es gelingt, neue sinn- und identitätsstiftende Zusammenhänge zu schaffen. Sozialrevolutionäre Bewegungen hatten – jedenfalls bevor sie reale politische Macht bekamen – stets Utopien eines freien und erfüllten menschlichen Lebens vor Augen. So schossen die Sieger der Französischen Revolution spontan und unabhängig voneinander an mehreren Stellen auf die Kirchturmuhren von Paris. Die Zeit, die gemessene und getaktete Zeit, symbolisierte für sie jene Zwänge und Routinen, die auch nach der Entmachtung des Adels fortbestanden. Karl Marx träumte von einer Gesellschaft ohne entfremdete Arbeit, in der die Menschen »jagen und fischen«, statt in Fabriken wie Räder eines Getriebes zu funktionieren. Realität wurde das in den von seinen Ideen inspirierten Gesellschaftsformen bisher nicht.

Digitale und menschliche Transformation Jede gesellschaftliche Welle spült neue Utopien an Land. Manche glauben, die digitale Transformation könne das vielbeschworene »New Age« einläuten, an das die Hippies der 1960er und 1970er Jahre ihre Träume von einer besseren Welt knüpften. Von »Flowerpower« und »Love and Peace« ist allerdings wenig zu spüren, dazu ist das digitale Zeitalter zu cool. Auch eine Welt ohne Hunger und Armut, ohne Grenzen und Pässe mit gleichen Rechten für alle ist nicht in Sicht. Die »wassermännischen« Werte Freiheit, Gleichheit und Verbundenheit, die in der Französischen Revolution erstmals propagiert wurden, bleiben bis heute Vision. Immerhin erleben wir in der digitalen Netzwelt eine virtuell verdünnte Renaissance ihrer Prinzipien: Im Internet sind potenziell alle 32

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Nutzer verbunden und genießen die gleichen Rechte und Freiheiten. Machtinteressen und Kriminalität führen aber bereits zu massiven Einschränkungen der freien Netzwelten. Digitale Transformation bräuchte auch menschliche Transformation, um einen qualitativen Unterschied zu bewirken. Sieger politischer Revolutionen haben meist etwas mehr zur verlieren als nur ihre Ketten. Wenn nach der Befreiung dann alle gleich sind, sind sie eben ein klein wenig gleicher als alle anderen. Ähnlich wie politische Umbrüche zwar neue Strukturen schaffen, aber keinen neuen Menschen, bewirkt auch die Digitalisierung keine Transformation menschlichen Bewusstseins. Aber sie fordert uns indirekt dazu auf, neue Erkenntniswege zu erschließen. Mit Umdenken oder anderem Denken allein ist es nicht getan, denn das Denken ist dem Datenspeed zu langsam. Es hinkt stets dem gegenwärtigen Moment hinterher und versucht zu verstehen, was geschieht, während die Entwicklung schon weitergegangen ist. Auch deshalb sprechen wir von »Nach-Denken«. Wie der antike griechische Philosoph Heraklit trocken feststellte, können wir aber nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen. Wenn wir den Mut haben, uns infrage zu stellen und Gewohntes loszulassen, verbinden wir uns mit dem Unbekannten. Was wir wissen, war im Vergleich zu dem, was wir nicht wissen, schon immer überschaubar. Durch den radikalen und schnellen Wandel wird plötzlich klar, wie wenig unser gesichertes Wissen uns nützt. Planend und steuernd laufen wir den Entwicklungen hinterher, während wir von immer neuen überraschenden Wendungen überholt werden. »Das haben wir immer schon so gemacht …« – diese Haltung ist vielen, denen es um Innovation geht, ein Dorn im Auge. Menschen, die so denken, werden vorschnell als starr und unbeweglich betrachtet und man wirft ihnen vor, an alten Strukturen zu kleben und sich gegen das Neue zu sträuben. Was aber sagt ein Mitarbeiter damit? Er drückt einen Zweifel aus, versteht den Sinn einer Veränderung nicht und beharrt auf dem Wert seiner Erfahrung. Er möchte mit seiner Leistung gesehen werden und hat möglicherweise den Eindruck, diese soll mit der Innovation abgewertet werden. Er gibt also einem wichtigen Impuls Ausdruck, Digitale und menschliche Transformation

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indem er deutlich macht: »Ich springe nicht gleich auf jeden neuen Zug! Ich möchte das gewürdigt sehen, was bisher Grundlage meiner Arbeit war!« In der Begleitung von Veränderungsprozessen habe ich oft erlebt, dass es den »Treibern« einer Innovation schwerfällt, konservativen Haltungen etwas Positives abzugewinnen. So begeben sie sich ihnen gegenüber schnell in eine Haltung der Abwehr und Konkurrenz und versuchen die Gegenseite von ihrer Sichtweise zu überzeugen. Gelingen kann ihnen das aber erst, wenn sie die Weltsicht der anderen nachvollziehen und ernst nehmen. Dann fühlen diese sich gesehen und einbezogen. Eine geglückte Verbindung von innovativen und konservativen Kräften zeigt sich in experimentellen Projekten mancher Traditionsunternehmen. Um sich auf zukünftige Herausforderungen vorzubereiten, plant beispielsweise ein bekannter Automobilhersteller 20 Prozent seiner Belegschaft von allen Pflichten und Vorgaben zu entbinden und mit einer einzigen Aufgabe zu betrauen: neue Mobilitätskonzepte entwickeln! Auf ähnliche Weise könnten manche Chancen genutzt werden, wenn wir die digitale Welle surfen, statt uns überrollen zu lassen oder vor ihr zu flüchten. Das allerdings verlangt einen Lernprozess im Umgang mit dem Unerwarteten, den jeder Surfer kennt. Surfer sind Wellenexperten. Sie wissen genau, was in welchem Augenblick zu tun ist. Trotzdem gibt es immer wieder Über­ra­ schungen und sie müssen blitzschnell auf plötzliche Veränderungen reagieren. Was brauchen sie neben ihrem Expertenwissen? Vertrauen! Vertrauen in sich selbst, in ihre eigene Kraft und Flexibilität. Es ist kein naives Vertrauen, das ihnen hilft, das Unvorhersehbare zu meistern, sondern ein gereiftes Vertrauen, gewachsen aus Erfahrung und verbunden mit Umsicht, Gelassenheit und Mut. Eine Mischung von Steuern und geschehen Lassen, von Mitgehen und Handeln sind einige seiner Kennzeichen. Solche Haltungen und Kompetenzen sind es, die wir angesichts einer unbekannten und unsicheren Zukunft benötigen. Wenn wir sie mit unserem Expertenwissen verbinden, ist die digitale Transformation immer noch ein unkalkulierbarer und Angst auslösender Prozess, aber zugleich auch eine Chance. Worin besteht sie? 34

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ȤȤ Künstliche Intelligenz entlastet uns vom funktional-technischen Denken und setzt Kapazitäten frei für intuitive und kreative Intelligenz – aber auch für ihr Gegenteil. ȤȤ Wir gewinnen Raum, Zeit und Energie, die für die Entwicklung menschengerechter Arbeits- und Lebenswelten genutzt werden könnten. ȤȤ Die wachsende Anforderung kreativer und hierarchiefreier Teamarbeit birgt die Chance, intelligentes Mitgefühl zu entwickeln – also verbundenes, verantwortliches Handeln. ȤȤ Wir üben, unser Weltbild infrage zu stellen und uns mit einer unbekannten Zukunft zu verbinden.

Eine andere Intelligenz Die Frage bleibt, was wir benötigen, damit nicht Gier, Machthunger und Korruption die Chancen der digitalen Transformation zunichte machen. Die Antwort lautet: Intelligenz! Allerdings gibt es dabei eine Schwierigkeit, die Albert Einstein so auf den Punkt brachte: »Intelligenz hat Grenzen. Dummheit nicht.« Was Einstein »Dummheit« nannte, hat mit eben den inneren Mechanismen zu tun, die Gier, Machtstreben und Zerstörung hervorrufen. Der Buddha nannte sie »Unwissenheit«, und Jesus bat um Vergebung, für die, die »nicht wissen, was sie tun«. Es wird also um eine Art der Intelligenz gehen, die nicht im IQ messbar und auch nicht an rational analytische Fähigkeiten gebunden ist und die dennoch in jedem Menschen schlummert. Emotionale und intuitive Intelligenz sind in der Lage, unsere Verbundenheit mit anderen Menschen, mit uns selbst und größeren sozialen Systemen zu berücksichtigen. Mit ihnen können wir unser Handeln reflektieren und nach Alternativen suchen. Wenn nicht künstliche Intelligenz und ihre Anwendungen im Mittelpunkt stehen, sondern du und ich, stellen wir die digitale Transformation wieder vom Kopf auf die Füße. Technische Innovation ist für uns da – nicht umgekehrt! Sie bietet uns die Chance, unser menschliches Potenzial vollständiger zu leben. Aber wir sind verantwortlich! Wir müssen sie lenken! Eine andere Intelligenz

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 Die Frequenz des Erfolgs: Systemaufstellungen in der digitalen Transformation

Systemisches Denken Mit dem Beginn systemischen Denkens erweiterte sich unser Weltbild um Einsichten wie: ȤȤ Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. ȤȤ Der Beobachter beeinflusst das Beobachtete. ȤȤ Teile und Prozesse sind miteinander vernetzt und beeinflussen sich wechselseitig. ȤȤ Systeme und ihre Subsysteme steuern und regulieren sich selbst (Systeme in komplexeren Systemen in noch komplexeren Systemen). ȤȤ Veränderungen an einem Teil haben Auswirkungen auf das Ganze (eine kleine Berührung bringt ein ganzes Spinnennetz in Bewegung). ȤȤ Symptome zu »beheben« kann neue Störungen auslösen. ȤȤ Wirkungen folgen nicht nur Ursachen, sondern Ursachen auch Wirkungen. Praktische Anwendung fand systemisches Denken zunächst in der Familientherapie. Der therapeutische Blick weitete sich vom Einzelnen auf das Familiensystem, in dem das Symptom des Einzelnen eine Funktion hat. In den Schulen von Mailand, Heidelberg und Palo Alto entwickelten die Pioniere systemischer Therapie methodische Ansätze, die über die bis dahin verbreitete Fokussierung auf eine individuelle Störung hinausgingen. Manche ihrer Interventionen wie das »zirkuläre Fragen« und die »Symptomverschreibung« finden heute auch in Coaching und Beratung Anwendung. Die Aufstellungsmethode hat ebenfalls ihren Ursprung in der Familientherapie. Über den Familienkontext hinaus haben sich ­Varianten für verschiedene Anwendungsfelder entwickelt, die als Systemaufstellungen, Strukturaufstellungen, Organisationsaufstellungen u. Ä. bekannt sind. 37

Unsichtbare Dynamiken, verborgene Netzwerke Technische Entwicklungssprünge wie die Digitalisierung verun­ sichern gewohnte Weltbilder, um sie schließlich zu erweitern. Hätte jemand vor dreißig Jahren behauptet, man könne den Inhalt einiger zehntausend Bücher auf einem Chip von Fingernagelgröße speichern und diese geballte Ladung Information in Sekundenschnelle von Europa nach Australien senden, wäre er wohl kaum ernst genommen worden. Heute ist das Alltagsrealität. Von dort ist es nicht weit, beispielsweise die Skepsis gegenüber der Homöopathie zu überdenken. Sie wird von manchen als Hokuspokus belächelt, weil man keine Wirkstoffe in den Mitteln findet. Das ist ein wenig so, als würde man skeptisch fragen, wo denn die Bücher in der Datei sind, die man digital ans andere Ende der Welt gesendet hat. Wenn Information auf extrem kleinen Medien gespeichert und komplexe Systeme durch eine neue Information verändert werden können – warum sollte das nicht auch in biologischen Systemen möglich sein? Die sich entwickelnde Informationsmedizin bedient sich eben dieses Ansatzes, allerdings auf einer ganz anderen technologischen Grundlage als ihre Vorläuferin, die Homöopathie. Der Glaube, dass nur wirklich ist, was ich sehen und anfassen kann, wird von den Fluten des Informationszeitalters unterspült. Tatsächlich ist in der Netzwelt das Unsichtbare, Nicht-Materielle bereits wirkungsvoller als die Materie, die Hardware. Man kann die Informationsströme nicht sehen, berühren, hören, fühlen oder riechen. Trotzdem haben sie massiven Einfluss auf unser Leben! Virtuelle Räume ersetzen für die junge Generation mehr und mehr die physischen Wirklichkeiten. Kommunikation, Zugehörigkeitsrituale und Beziehungsleben finden weitgehend körperlos statt. Auch in der digitalen Unternehmenslandschaft setzt sich dieser Trend fort: ȤȤ »Das weltgrößte Taxiunternehmen besitzt keine Taxis (Uber) ȤȤ Die weltgrößte Hotelkette besitzt keine Immobilien (Airbnb)  ȤȤ Die weltgrößten Telefongesellschaften besitzen keine Telco-­Infra­ struktur (Skype und WeChat) ȤȤ Der wertvollste Einzelhändler der Welt hat kein Inventar (Alibaba) 38

Systemaufstellungen in der digitalen Transformation

ȤȤ Das erfolgreichste Medium produziert keinen eigenen Content (Facebook) ȤȤ Die am schnellsten wachsenden Banken besitzen kein eigenes Geld (SocietyOne) ȤȤ Die weltgrößte Streaming-Plattform besitzt kein Kino (Netflix) ȤȤ Die weltgrößten Software-Anbieter programmieren die Apps nicht selbst (Apple und Google)« (Kahlenberg, Klotsch u. Fadranski, 2018). Führende Schreibmaschinenhersteller waren vor einigen Jahrzehnten überzeugt, dass PCs eine Randerscheinung bleiben würden. Heute kennt kaum noch jemand ihre Namen. Den großen Marken für Fotound Filmmaterial erging es ähnlich. Nun stehen wir vor einer ganz anderen Herausforderung. Und auch jetzt geht es darum, sich auf das Unbekannte, »Unmögliche« einzulassen – vor allem was uns selbst betrifft. Was »Leben« ist, wissen wir nicht, auch wenn wir seine »Hardware« immer genauer analysieren können. Lebenskraft, psychische Energie, Emotionen und gedankliche Absichten sind unsichtbar, aber machtvoll. Die materielle Wirklichkeit, die wir sehen und anfassen können, ist vergleichsweise brüchig, unterliegt dem Zahn der Zeit und damit dem Verfall. Quantenphysiker wie Carlo Rovelli erzählen uns ganz andere Geschichten über unsere Welt, als wir sie aus dem Physikunterricht kennen: Dinge sind nicht fest, sondern Raum und Bewegung. Ein Stein ist nicht wirklich ein Stein, sondern ein energetisches Ereignis, das in einer Geschwindigkeit stattfindet, die wir nicht registrieren können. Zeit, klärt uns Rovelli auf, sei eine Illusion bzw. eine Art Geschichte, die wir uns gegenseitig erzählen, um eine Konsens-Identität zu bilden (vgl. Rovelli, 2018). Die Erkenntnisse der Quantenphysik lassen sich einfach und laienhaft zusammenfassen: Alles ist mit allem verbunden. Auf einer für uns nicht sichtbaren Ebene besteht unsere Welt aus Schwingungen. Sie verbinden uns nicht nur miteinander und mit unserer Umgebung, sie übermitteln auch Informationen. Ob Schwingung und Information destruktiv als Störfrequenz oder harmonisierend wirken, liegt vor allem an uns selbst! Wir alle kennen dies aus unserem Alltag: Unsere Worte, ihr Inhalt und der Tonfall, in dem wir spreUnsichtbare Dynamiken, verborgene Netzwerke

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chen, transportieren Schwingungen. Wie verletzend können Sarkasmus und Arroganz wirken und wie aufbauend Wertschätzung und Zuwendung! Lachen ist die beste Medizin! Heiterkeit und Humor lassen uns leicht werden, Freude und Glück empfinden. Die Erfolgsgeschichte des Lach-Yogas ist voll von schönen Beispielen für die heilende Kraft der Heiterkeit. Mit der Evolution des Informationszeitalters und ihren Auswirkungen auf unsere Alltagswirklichkeit erfahren wir die Wirkung unsichtbarer Energien und Netzwerke täglich in der Omnipräsenz virtueller Räume. Aufstellungsarbeit scheint damit in besonderer und vor allem sehr praktischer Weise kompatibel zu sein. In Aufstellungsprozessen beginnen wir, mehr zu sehen, zu hören, zu erkennen und zu fühlen, als wir für möglich hielten. Unsere intuitiven Kapazitäten erweitern sich und schließen Wahrnehmungen ein, die als prophetisch und hellseherisch verklärt wurden oder als Aberglauben galten. Systemaufstellungen sind auch eine Übung im Umgang mit dem »Nichtwissen«, denn auf Erfahrung und methodische Kompetenz allein kann sich kein Aufstellungsleiter verlassen. Präsenz, Intuition und Verbundenheit mit dem Prozess von Moment zu Moment sind die Qualitäten, um die es hier geht. Das erfordert Selbstreflexion in »Echtzeit«, also nicht nur im Nachhinein, sondern während des Geschehens hier und jetzt. In diesen methodischen Anforderungen könnte sich Aufstellungsarbeit als ein »missing link« zu einer Schlüsselressource unserer Zeit erweisen: qualitative Information über menschliche und strukturelle Systeme.

Was Information bewirkt Information – was ist das eigentlich? Das Wort kommt aus dem Lateinischen, in-formare meint »formen, bilden, gestalten, ausbilden, unterrichten, darstellen, sich etwas vorstellen« (Duden, 2015). Es geht also darum, etwas in Form zu bringen was vorher noch ungeformt war. Energie ist formlos, fließt frei, ist überall zugleich, ohne von A nach B reisen zu müssen. Es sei denn, wir geben ihr eine Information, die sie in eine Struktur bringt. 40

Systemaufstellungen in der digitalen Transformation

So wie sich der Kaffee der Form der Kaffeetasse anpasst, in die Sie ihn eingießen, lässt sich jede Art von Energie durch Struktur lenken. Die Alltagsbeispiele dafür sind mannigfaltig: Elektrizität fließt durch Leitungen, Luft strömt aus Klimaanlagen und Lüftungen oder füllt Reifen. Selbst ein fester Stoff wie Erde nimmt die Form eines Pflanzenkübels an. Mit unseren eigenen Energien verhält es sich ähnlich. Ihre Gefühle folgen der Information, die Sie ihnen geben. Sehen Sie einen Grund zum Feiern, ist Ihre Gefühlsenergie freudig. Besteht Anlass zum Frust, ärgern Sie sich. Die Information wiederum folgt der Aufmerksamkeit, die Sie ihr schenken. Wenn Sie sich beispielsweise dafür entscheiden, ein Unternehmen zu gründen, geben Sie Ihrem Fühlen und Denken eine Richtung. Wenn allerdings zugleich ein Bild vom möglichen Scheitern des Projekts vor Ihrem inneren Auge auftaucht, verbunden mit einem flauen Gefühl im Bauch, kommt eine zweite Information dazu. Welche Information bekommt nun mehr Aufmerksamkeit – die Idee der erfolgreichen Unternehmensgründung oder die Befürchtung, dass Sie scheitern? Wenn Sie das unangenehme Gefühl wegschieben, verschwindet es dann? Nein, es wirkt sogar stärker, nur bemerken Sie nicht mehr, wie viel Energie Sie ihm geben, indem Sie es unterdrücken. Nun arbeiten Sie an Ihrem Projekt mit einer doppelten Absicht: eine ist bewusst erfolgsorientiert, die andere ist unbewusst und auf Scheitern ausgerichtet. Letztere bekommt durch die Zusatzenergie der Verdrängung mehr Aufmerksamkeit. Gegenabsichten sind leider meist stärker als Absichten, wie Sie an einem einfachen Beispiel überprüfen können. Versuchen Sie einmal, nicht an einen weißen Elefanten zu denken! Es gelingt nicht, weil Ihre Aufmerksamkeit zwei widersprüchlichen Informationen folgt: »An einen weißen Elefanten denken« und »Nicht daran denken!«. Ähnlich verhält es sich mit sogenannten doppelten Botschaften. Wenn eine Chefin ihrer Mitarbeiterin sagt: »Mit Ihrem Projektteam entwickelt es sich ja ganz gut …«, dabei aber zugleich in Mimik und Stimmlage Unzufriedenheit ausdrückt – wie wird es der Mitarbeiterin gehen? Sie hört zwar den Sachinhalt, fühlt sich aber trotzdem kritisiert und ist vermutlich verunsichert und desorientiert. Was Information bewirkt

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Es kann gut sein, dass sich ihre Leistungen nun wirklich verschlechtern. Denn sie beginnt an sich zu zweifeln und denkt vielleicht: »Die Chefin ist unzufrieden mit mir. Ich bin eine schlechtere Teamleiterin, als ich dachte.« Auch die sogenannten »selbsterfüllenden Prophezeiungen« sind Informationen, die wir uns geben. Wie wir uns selbst »informieren«, hängt also von unserer mehr oder weniger bewussten Wahrnehmung und Bewertung ab. Verborgene innere Prozesse sind oft mächtiger als sichtbare. Das trifft auf den einzelnen Menschen ebenso zu wie auf Organisationen. Wenn wir unsere Ergebnisse erreichen wollen, müssen wir die unbewussten Absichten und Botschaften in der Kommunikation mit anderen ebenso erkennen wie die im inneren Dialog.

Was du bekämpfst, stärkst du Wenn Sie einen Misserfolg vermeiden wollen und seine Vorzeichen bekämpfen, fokussieren Sie sich auf ihn. Mit Ihrer Aufmerksamkeit verstärken Sie die Möglichkeit des Scheiterns. Positives Denken ändert daran wenig, denn so sehr Sie sich auch bemühen, an einen strahlenden Erfolg zu denken – das mulmige Gefühl des Scheiterns wird dadurch nicht eliminiert. Im Unbewussten wirkt es weiter, solange das mit ihm verbundene Thema nicht bearbeitet wird. Das Beispiel des weißen Elefanten in Ihrer Vorstellung illus­ triert diesen Prozess. Je konzentrierter Sie versuchen, das Bild aus Ihrem Kopf zu verbannen, umso präsenter wird es sein, weil die Information Ihrer Aufmerksamkeit folgt. Was Sie nicht mehr wollen, was Sie ablehnen, wird folglich noch mehr Raum gewinnen. Dieser Mechanismus ist auch bekannt als das »Gesetz der umgekehrten Wirkung« (Émile Coué), nach dem z. B. der Versuch, nicht zu stottern, das Stottern verstärkt. Überspitzt gesagt: Der Versuch, nicht zu stottern, ist das Stottern! Analog gilt: Wenn ich beschleunige, erzeuge ich Verzögerung. Diesem Prinzip liegt auch das beliebte Konzept der Entschleunigung oder des Langsam Eilens zugrunde. Denn wenn man es eilig hat, sind die Ampeln stets rot. Hat man Zeit, sind sie grün … 42

Systemaufstellungen in der digitalen Transformation

Unser Erleben ist also nicht nur von außen, von den Umständen, gesteuert, sondern auch von uns selbst, von unseren Einstellungen, Erwartungen und Bewertungen. Wenn ich die Ursache für meine Gefühle und inneren Zustände ausschließlich im Außen sehe, gebe ich die Verantwortung an diese Geschehnisse ab. Ich füge mich den Umständen, oder denen, die sie herstellen, und bin dann leicht manipulierbar. Wenn wir die Herausforderungen des Informationszeitalters annehmen wollen, ist eine alleinige Außensteuerung nicht genug. Wir würden dann zum Spielball einer gigantischen Informationsflut in einer überfordernden digitalen Welt. Es reicht nicht mehr aus, etwas zu lernen, als Wissen abzuspei­ chern und damit seinen Job zu machen. Wir sind aufgefordert, tiefer in uns selbst zu schauen, uns infrage zu stellen und unsere Motive zu erforschen, wenn es um technische Machbarkeit geht. Nicht alles, was machbar ist, hat eine gute Wirkung. Möglicherweise können wir in Zukunft auf menschliche Arbeitskraft weitgehend verzichten. Was wären die Folgen? Wollen wir das? Vielleicht können wir in einigen Jahrzehnten zum Mars reisen – was genau bringt uns das? Ist es den Aufwand wert? Ethische Fragen verschärfen diese Problematik weiter: Medizintechnische Eingriffe ins menschliche Gehirn ermöglichen bereits heute Persönlichkeitsveränderungen von außen. Sogenannte »Body-­ Hacker« arbeiten daran, mittels Hirnschrittmachern, wie sie etwa bei Parkinson-Patienten eingesetzt werden, auf Knopfdruck Persönlichkeit und Wahrnehmung zu verändern. Wo sind die Grenzen? Und wer definiert sie?3 Welche Möglichkeiten böten sich hier autoritären Regimes, denen es um lückenlose Online-Kontrolle ihrer Bürger geht? Ähnliche Fragen ergeben sich auch in der Reproduktionsmedizin. Werden vermögende Menschen sich zukünftig »Design-Kinder« nach Wunsch bestellen und von Leihmüttern austragen lassen können? Wer entscheidet darüber? Und welche Wirkung hat es auf ein ungeborenes Kind, wenn es von keiner seiner beiden Mütter angenommen wird? 3 Vgl. hierzu die Erfahrungen des deutschen Soziologen Helmut Dubiel als Parkinson-Patient (Dubiel, 2006). Was du bekämpfst, stärkst du

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New Work Wenn wir uns vom Machbarkeitsdenken lösen und beginnen, die menschliche Perspektive einzubeziehen, ändert sich unsere Weltsicht. Wir erkennen, wie wir an unseren Ergebnissen beteiligt sind. So wie ein Forscher nicht getrennt von seinem Forschungsobjekt ist und somit seine Ergebnisse selbst massiv beeinflusst, so sind wir alle Mitgestalter der Welt, in der wir leben – im Großen wie im Kleinen. Meine schlechte Laune kann das Teamergebnis verderben, meine Besserwisserei kann mich um die Unterstützung meiner Mitarbei­ terinnen bringen, mit meinem Blick aufs Symptom kann ich an den Ursachen vorbeischauen, mit der Suche nach dem Schuldigen kann ich die Chance auf eine Lösung verspielen. Aber auf die gleiche Weise können auch positive Wirkungen erzielt werden! Anerkennung, Wertschätzung und Freude am gemeinsamen Tun können die Stimmung in einem Team um 180 Grad drehen! Deshalb wird in New-Work-Ansätzen »Happiness« so betont. Wohlfühlumgebungen statt Bürotristesse haben eine Wirkung! Sie transportieren eine Botschaft: Ihr seid uns wichtig! Wir möchten, dass es euch gut geht! Natürlich können schöne Arbeitsumgebungen, auch wenn sie Entspannung und Fitness einschließen, allein noch kein Unternehmen erfolgreich machen. Um von Angst und Misserfolg auf Freude, Kreativität und Erfolg umzuschalten, braucht es mehr. Was genau ist nötig? Einfach gesagt erfordert es die »Schwingung«, die mit einem Erfolg verbunden ist. Nun ist Erfolg, wie das Wort sagt, eben das, was auf einen Gedanken, einen Plan oder eine Handlung folgt. Insofern sind wir immer »erfolgreich«, auch im Scheitern – obwohl nur wenige eine Niederlage so erleben und bewerten würden. Wir meinen also, wenn wir »Erfolg« sagen, eine ganz bestimmte, genau definierte Folge unseres Handelns mit der entsprechenden Innenwirkung. Erfolg bedeutet dann beispielsweise, dass ein Unternehmen profitabel wächst, die Mitarbeiter ihre Einkommen erhöhen und ihre Arbeitsplätze sichern können. Damit bei den Beteiligten ein gefühlter innerer Zustand, der mit dem Ergebnis (dem »Erfolg«) übereinstimmt, braucht es aber noch mehr: die innere Frequenz von Erfolg! 44

Systemaufstellungen in der digitalen Transformation

Sie schwingt in einer Atmosphäre von Leichtigkeit, Anerkennung, Optimismus und Selbstvertrauen. Dieser Zustand kann allerdings auch hergestellt werden, ohne dass seine äußere Entsprechung bereits materialisiert ist. Ein Beispiel: Wenn jemand das Ziel hat, reich zu werden und eine Villa mit Pool zu besitzen, in der er fröhliche Partys feiert, zielt er im Grunde auf einen inneren Zustand. Er möchte sich anerkannt fühlen, als wertvoll gesehen werden und bewundernde Zuwendung von seinen Mitmenschen erhalten. Muss er aber erst Millionär werden, um dieses Glück zu erleben? Offensichtlich nicht. Wie die traurigen Geschichten mancher Lottokönige belegen, hat Reichtum mit Glück wenig zu tun. Ob Menschen sich wohl, zufrieden und lebendig fühlen, ob sie ihr tägliches Leben genießen, ist von ihren Zielen und Fantasien unabhängig. Sie können diesen Wunschzustand erreichen, wenn die emotionalen und sozialen Komponenten, die ihn auslösen, gegeben sind. Auf Zusammenarbeit bezogen bedeutet das: Die »Schwingung« in einem Team oder einem Unternehmen ist auf die Frequenzen Wertschätzung, Sinnhaftigkeit und Freude am gemeinsamen Tun ausgerichtet. Neben einer angenehmen und förderlichen äußeren Umgebung sind es vor allem Atmosphäre, Klima, Kultur und Werte in einem Unternehmen, die auf solch einer Erfolgsfrequenz schwingen können. In Aufstellungen werden Atmosphären und Frequenzen einer Unternehmenskultur wahrnehmbar, erfahrbar und damit auch transformierbar. Die Teilnehmer spüren unmittelbar, welcher Geist in einer Firma weht und wie er mit den konkreten wirtschaftlichen Ergebnissen korrespondiert. Ihnen wird bewusst, dass sie täglich auf eine bestimmte Frequenz eingestellt sind, wie auf einen Radiosender, dessen Programm ihre Zusammenarbeit beeinflusst. Bewusste Selbstwahrnehmung in einem Arbeitssystem ist der erste Schritt zu einer gewünschten Entwicklung.

Systemaufstellungen: Information zweiter Ordnung Bewusstsein ist qualitative Information oder Information zweiter Ordnung. So wie Sie sich selbst beobachten können, während Sie Systemaufstellungen: Information zweiter Ordnung

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lesen, also eine Information aufnehmen, können Sie das Sich-selbstBeobachten auch im alltäglichen Handeln üben. Ein Beispiel: Zwei Kollegen haben ein Streitthema miteinander und bitten mich, ihren Konflikt zu moderieren. Während ich ihnen zuhöre, ist meine Aufmerksamkeit bei ihren verschiedenen Standpunkten, die ich versuche, nachzuvollziehen. Zugleich ist mir bewusst, dass ich nicht Partei ergreifen darf, wenn ich meine Aufgabe als Moderator erfüllen möchte. Wenn mir nun die Sichtweise eines Konfliktpartners persönlich näher oder die Person mir sympathischer ist, muss ich innerlich einen Schritt zurücktreten. Ich beobachte also nicht nur das Konfliktgespräch, sondern ebenso mich selbst mit meinen inneren Impulsen. Und ebenso wie ich keinen der Kontrahenten bevorzugen darf, verfahre ich auch mit meinen inneren Reaktionen. Gelingt es mir, meine emotionalen Impulse wahrzunehmen, ohne ihnen zu folgen, bin ich möglicherweise in der Lage, bewusst zu antworten, statt automatisch zu reagieren. Ich handele dann verantwortlicher. Das ist nicht einfach, denn eigene blinde Flecken können mir die Sicht verstellen, ohne dass ich es bemerke! Diese Gefahr wächst, je mehr Menschen an einem Entscheidungsprozess beteiligt sind. Im Unternehmensalltag geht es um Projekte, in die verschiedene Fachteams ihre unterschiedlichen Herangehensweisen einbringen. Innerhalb der Teams prallen gegensätzliche individuelle Sichtweisen aufeinander. Was am Ende herauskommt, ist nicht allein von rationalen Gesichtspunkten bestimmt, sondern ebenso von zwischenmenschlichen Dynamiken, die unbewusst und daher auch unreflektiert Ergebnisse mitbestimmen. Deshalb ist Information über den Prozess – Information zweiter Ordnung – als Korrektiv so notwendig! Systemaufstellungen leisten genau das – und mehr! Wir brauchen sie, um die blinden Flecken in unseren Kommunikations- und Entscheidungsprozessen zu erkennen. Ganz besonders gilt das, wenn wir in unserem täglichen Tun immer mehr den immensen Möglichkeiten künstlicher Intelligenz überlassen. So wie ein einzelner Mensch durch Erkenntnis und Übung allmählich bewusster handelt, können auch Teams und Unternehmen beginnen, sich zu erkennen. 46

Systemaufstellungen in der digitalen Transformation

Aufstellungen sind eine praktische Möglichkeit, verborgene Dynamiken in einer Organisation sichtbar werden zu lassen. Warum geht es beispielsweise nach einer Fusion zweier Unternehmen der gleichen Branche abwärts? Warum stellen sich die gewünschten Synergie-­Effekte nicht ein? Eine Aufstellung kann hier Klarheit bringen. Häufig zeigt sich, dass die Mitarbeiterinnen des zugekauften Unternehmens sich dem neuen Gesamtunternehmen nicht zugehörig fühlen. Die Suche nach pragmatischen Lösungen kann zu der Einsicht führen, dass es keine gute Idee war, den Namen des alten Unternehmens nach dem Merger zu streichen. Die Mitarbeiter verlieren so ein Stück ihrer Identität. Bleibt der Name im neuen Gesamtunternehmen erhalten, etwa Unternehmen B in der Unternehmensgruppe A, fühlen sie sich eher einbezogen und verbunden. Mit erweiterter Information durch Systemaufstellungen kann ein Managementteam seine Entscheidungen überprüfen und Kurskorrekturen vornehmen. Damit Unternehmensentwicklung gelingt, müssen die Manager lernen, Perspektivenwechsel zu vollziehen, und bereit sein, ihre Entscheidungen, Strategien und Ziele infrage zu stellen. Systemaufstellungen ermöglichen nicht nur punktuelle Erkenntnis, sondern auch Begleitung und Monitoring in schnellen und oft überfordernden Veränderungsprozessen. Das ist notwendig, denn es geht in der Digitalisierung nicht allein um technische Fitness, sondern um langfristige Integrität und Resilienz.

Systeme lesen: die Aufstellungsmethode In den letzten zwanzig Jahren habe ich in zahlreichen Projekten mit Unternehmen in Europa und Asien die Systemaufstellung angewendet, sie weiterentwickelt und einige hundert Menschen zu Aufstellungsleitern ausgebildet. Das Potenzial dieser ebenso faszinierenden wie praktischen Methode entfaltet sich in multinationalen Konzernen ebenso wie in europäischen oder asiatischen Familienunternehmen. Sie hat etwas von einem Röntgenblick, der unter der Oberfläche verborgene Strukturen sichtbar macht. Zugleich geht ihr Blick in die Weite, wo er wie ein Radar Hindernisse zeigt, die weder mit bloßem Auge noch mit betriebswirtschaftlichem Fernglas zu erkennen sind. Systeme lesen: die Aufstellungsmethode

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Organisationen, Unternehmen und Märkte sind zu komplex, um sie allein analytisch vollständig beschreiben und abbilden zu können. Andererseits brauchen wir in diesen Systemen einen klaren Blick für ihre Tiefenstrukturen, um Probleme zu lösen und Ziele zu erreichen. In der Aufstellungsarbeit fokussiert man sich deshalb auf lösungsorientierte Fragestellungen, beispielsweise »Wie können wir neue Märkte für unsere Produkte erschließen?«. Solch eine lösungsorientierte Fragestellung dient als Wegweiser in einem Prozess, der bisher unerkannte Verbindungen, Zusammenhänge und Dynamiken sichtbar macht.

Ablauf einer systemischen Aufstellung4 Eine Aufstellung zeigt Ihnen ein verdichtetes räumliches Bild Ihres Unternehmens oder Ihrer Marktsituation in Bezug auf eine Fragestellung. Und sie lässt ein deutlich spürbares atmosphärisches Feld entstehen, in dem Sie die Wirkungen, Folgen und Möglichkeiten Ihrer gegenwärtigen Situation hautnah erleben können. Beispielsweise machen Sie sich gerade Gedanken, dass Ihr Vertriebsteam die Bedeutung der Digitalisierung für das Unternehmen nicht erkennt und zu sehr mit Produktdetails beschäftigt ist. Um die Situation so konkret wie möglich abzubilden, definieren Sie im Vorgespräch Ihr Aufstellungsthema. Ihre Fragestellung kann zum Beispiel lauten: »Wie verdeutliche ich dem Vertriebsteam die Bedeutung der Digitalisierung für unser Unternehmen?« Ihr Coach begleitet Sie im Aufstellungsprozess und erarbeitet mit Ihnen, welche Systemelemente für die Aufstellung relevant sind: hier Sie als Chefin, Ihr Vertriebsteam, Ihr Digitalisierungsberater und die digitale Transformation. Im nächsten Schritt finden Sie neu­­trale Stellvertreter für die beteiligten Personen, Organisationen oder Themen. Neutral heißt, dass die Repräsentanten nicht in die Themen involviert sein sollten, da sie sonst eher aus ihrem Erfahrungshintergrund berichten oder Meinungen vertreten könnten, als in Reso4 Eine ausführlichere Beschreibung der Aufstellungsmethode finden Sie in Horn und Brick (2010).

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Systemaufstellungen in der digitalen Transformation

nanz mit Systemdynamiken zu treten. Auch würden eigene Interessen möglicherweise ihre Wahrnehmung überlagern. Ihrer Intuition folgend stellen Sie nun die Stellvertreter so im Raum auf, wie es Ihrem inneren Bild der Wirklichkeit im Unternehmen entspricht. Über das Feedback der Stellvertreter, die keine Vorinformation über das von ihnen repräsentierte System haben, kommen bisher unsichtbare Zusammenhänge und Dynamiken ans Licht. Wie ist das möglich? Wir alle sprechen »systemisch«, ohne es jemals gelernt zu haben (vgl. Schloetter, 2005). Diese erstaunliche Wahrnehmungsfähigkeit ist jedem Menschen verfügbar und nicht an besondere Talente gebunden. In unserem Beispiel gingen Sie als Unternehmer davon aus, dass Ihre Vertriebsmitarbeiterinnen die existenzielle Bedeutung der Digitalisierung für das Unternehnen nicht realisierten. Das Team schien sich in Detailfragen zu verzetteln und so den Transformationsprozess aufzuweichen und zu entkräften. Die Aufstellungsbilder sprechen nun aber eine ganz andere Sprache! Der Digitalisierungsberater ist es, der sich von der digitalen Transformation abwendet und so Orientierungslosigkeit beim Vertriebsteam auslöst. Er ist in der Aufstellung so positioniert, als leite er das Team. Dessen Mitglieder schauen ratlos zwischen Berater und der digitalen Transformation hin und her. Im weiteren Verlauf der Aufstellung zeigt sich, wie der Berater allmählich in die Rolle des Teamleiters geschlüpft ist, weil dieser vom Team offenbar nicht als Leiter gesehen wird. So sehr war der Berater damit beschäftigt, heimlich das Team zu leiten, dass er seine eigentliche Aufgabe aus dem Blick verlor. Das Team reagierte verunsichert und hatte keine klare Ausrichtung mehr. Vom Berater empfingen die Teammitglieder zwei Botschaften. Die eine war: Digitalisierung hat erste Priorität. Die andere lautete: Ich kümmere mich nicht um die digitale Transformation, sondern um die Teamleitung. Das ist eine Dynamik, die relativ häufig vorkommt. Wenn der Leiter sein Team nicht führt, entsteht ein Führungsvakuum, in das ein anderer hineinschlüpft. In ihrem Wunsch, nützlich zu sein, sind Berater besonders anfällig für die Versuchung, solche Leerstellen auszufüllen.

Ablauf einer systemischen Aufstellung

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Das Offensichtliche wird sichtbar Sie sehen jetzt deutlicher, was durch die Alltagsbrille so schwer zu erkennen war: Dem Team fehlte eine klare Leitung, an der es sich orientieren konnte. Wenn die Teamleitung aber ihre Rolle wieder ausfüllt und auch der Berater eindeutig Prioritäten definiert und diese Ansage nicht durch sein eigenes Verhalten konterkariert, kommt Energie in das Projekt und die Ziele können erreicht werden. Das Problem lag nicht, wie zunächst vermutet, beim Vertriebsteam, sondern in der unangemessenen Positionierung des Beraters. Nachdem der Hintergrund der zögerlichen Haltung des Vertriebsteams klar geworden ist, können entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden. Ein Führungscoaching für den Teamleiter und ein Klärungsgespräch mit dem Berater könnten bereits zu Veränderungen führen. Unternehmenssysteme lassen sich bildhaft mit einem Spinnennetz vergleichen. Auch wenn man es nur an einer Stelle berührt, bewegt sich das Ganze. Und ebenso wie die Fliege das Spinnennetz, das ihrem Flug ein Ende setzt, nicht sieht, können auch wir uns in komplexen und mächtigen Netzen verfangen. Analysen und Strategien helfen uns, zu planen, sie bewahren uns aber nicht vor verborgenen Fallen. Die gute Nachricht ist: Die Information, die Sie benötigen, ist bereits da! Mithilfe des »Aufstellungsradars« können Sie wie aus einer Vogelperspektive Ihre Situation erkennen und Ihre Handlungsoptionen erweitern. Es sind oft Alarmzeichen wie ein Umsatzeinbruch oder Fluktua­ tion, die uns anhalten und hinschauen lassen. Ähnlich wie unser Körper zur Abwehr gefährlicher Keime Fieber produziert, kreiert auch ein Unternehmenssystem Symptome, die auf Schieflagen aufmerksam machen. Unternehmerischer Erfolg ist also umso leichter erreichbar, je mehr Sie das Ganze im Blick haben. Mit Systemaufstellungen können Sie herausfinden, wie Sie zu Ihren Kunden, Ihrem Markt und Ihren Zielen aufgestellt sind. So überprüfen Sie die möglichen Wirkungen Ihres Tuns, bevor Sie Entscheidungen treffen! Die Methode kann in Unternehmen wie ein Navigationsinstrument eingesetzt werden. Mit seiner Hilfe sehen Sie, wie Sie Staus um50

Systemaufstellungen in der digitalen Transformation

fahren und Sackgassen vermeiden können. Sie erkennen, wo es Fehlentscheidungen oder strategische Engpässe gibt, und korrigieren sie. In der Begleitung von Veränderungsprozessen habe ich Aufstellungen häufig als Monitoring-Tool eingesetzt. Beispielsweise konn­­te in einem Elektronikkonzern so die Wirkung von New-Work-­ Ansätzen und agilen Führungsprinzipien auf verschiedene Unternehmensbereiche vor ihrer Einführung überprüft werden. Die Manager fanden eine differenzierte Entscheidungsgrundlage für die Frage, wo sie mit den innovativen Ansätzen erfolgreich starten konnten. Der weitere Verlauf des Prozesses wurde fortlaufend mithilfe der Aufstellungsmethode reflektiert. Dabei zeigte sich, wie überflüssig Überzeugungsarbeit durch Management und Beratung war, denn die Mitarbeiter aus den Startprojekten erwiesen sich als die besten Multiplikatoren für die neue Arbeitsweise. In einem anderen Projekt mit einem mittelständischen Unternehmen ging es darum, den Mitarbeiterinnen die ausgesprochen unpopuläre Standortverlegung des stadtnahen Produktionsbetriebes in eine ländliche Umgebung zu erklären. Die Unternehmensführung rechnete mit Widerstand, denn für die Mitarbeiter bedeutete der neue Standort eine sehr viel weitere Anfahrt zum Arbeitsplatz. Weil sie befürchteten, dass ihre besten Mitarbeiterinnen den Umzug nicht mitmachen würden, blieben die Manager in ihren Aussagen zur Zukunft des alten Standorts vage. In einer Aufstellung zu der Situation standen die Mitarbeiterinnen der Veränderung sehr viel positiver gegenüber als angenommen. Nicht der bevorstehende Umzug löste Ärger und Abwehr bei ihnen aus, sondern das Kommunikationsverhalten der Manager. Ihre »weichgespülten Botschaften«, die beruhigend gemeint waren, erreichten das Gegenteil: maximale Verunsicherung und in der Folge wachsenden Unmut gegenüber der Unternehmensführung. Die schwenkte daraufhin um und lud alle Mitarbeiterinnen zu einem »Open Space«-Unternehmensworkshop ein, in dem das Für und Wider der Standortverlagerung offen diskutiert werden konnte. Die Vorteile des neuen Standorts für die Arbeitsbedingungen und Zukunftschancen des Unternehmens wurden dabei so deutlich, dass die Zustimmung der Belegschaft wuchs. Als der Umzug stattfand, gab es keine Kündigungswelle, sondern Aufbruchsstimmung. Das Offensichtliche wird sichtbar

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Es stärkt Menschen, wenn sie wissen, woran sie sind. Sie können besser mit klaren Ansagen umgehen als mit vorsichtigen Andeutungen. Diese Erfahrung habe ich nicht nur mit europäischen Unternehmen gemacht, sondern auch in meiner Arbeit in Asien, wo eine blumigere Kommunikation üblich ist. Aber für Asiaten wie für Europäer oder Amerikaner gilt gleichermaßen: Realitäten anzuerkennen stärkt und macht handlungsfähig. Anerkennen, was ist! Dieses systemische Prinzip ist für Unternehmen in so radikalen Veränderungsprozessen wie der digitalen Transformation von zentraler Bedeutung.

Checkliste für Aufstellungen im Digitalisierungskontext In der folgenden Checkliste finden Sie Beispiele für Aufstellungsthemen im Digitalisierungskontext. Sie haben die Form kurzer Fragestellungen. Für die praktische Aufstellungsarbeit wird im Vorgespräch das mit der Frage verbundene Anliegen lösungsorientiert präzisiert. Information zur personellen Seite der digitalen Transformation

▶▶ Wie viel agile Führungskompetenz brauchen wir in unseren Pro­ jektteams? ▶▶ Wie kann eine flexible Teamstruktur bei uns funktionieren? Wie muss sie gestaltet werden, damit Projekte erfolgreich ablaufen? ▶▶ Wie kann externe digitale Expertise unseren Lernprozess be­­ schleu­nigen? ▶▶ Können wir uns im Digitalisierungsprozess auf unsere Partnerund Tochterunternehmen verlassen? ▶▶ Wie verändern sich die Kompetenzbereiche im Unternehmen durch agile Führung? ▶▶ Wie gehen wir mit Mitarbeitern um, die Probleme mit der Digi­ talisierung haben? ▶▶ Wie entscheiden wir, von welchen dieser Mitarbeiterinnen wir uns trennen?

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Systemaufstellungen in der digitalen Transformation

Die Dynamik in einer Organisation im Veränderungsprozess erkennen

▶▶ Was läuft zwischen Treibern und Anwendern digitaler Projekte schief? ▶▶ Woran liegt es, dass unsere ITler als Sündenböcke herhalten? ▶▶ Wie können wir mit der Angst vor künstlicher Intelligenz umgehen? ▶▶ Warum ist die Position des IT-Leiters ein Schleudersitz? ▶▶ Wie können wir Informationsflüsse zwischen Mensch und Tech­ nik besser vernetzen? ▶▶ Warum laufen uns die Digitalisierungsexperten nach kurzer Zeit davon? ▶▶ Wie können wir unsere Entwicklungsziele den Mitarbeitern ver­ ständlich machen? ▶▶ Wie wirken sich Internet-Plattformen auf unsere Vertriebsstra­ tegie aus? Die Führungsfunktionen im Unternehmen überprüfen und optimieren

▶▶ Was brauchen unsere Führungskräfte in vernetzten Arbeits­ systemen? ▶▶ Wie können unsere Supportteams besser kooperieren? ▶▶ Wie können wir digital kompetente Mitarbeiter binden? ▶▶ Wie gelingt uns die Transformation unserer Führungskultur? ▶▶ Was brauchen unsere Mitarbeiterinnen, um künstliche Intelli­ genz in die Teamarbeit zu integrieren? Ressourcen optimieren

▶▶ Wie können wir unsere Produkte schneller netzwerkfähig machen? ▶▶ Wie können wir unsere Kernkompetenz digital verstärken? ▶▶ Was ist der Hintergrund für unseren Umsatzrückgang im Inter­ netgeschäft? ▶▶ Wie können wir den Online-Kontakt zu Kundinnen persönlicher gestalten? ▶▶ Wie können wir unsere Transformationsziele transparenter machen?

Checkliste für Aufstellungen im Digitalisierungskontext

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Neue Unternehmenskultur entwickeln

▶▶ Wie können wir Konkurrenz- und Abteilungsdenken überwinden? ▶▶ Wie transportieren wir unsere Design-Thinking-Erfahrungen in den Alltag? ▶▶ Wie können wir Selbstverantwortlichkeit in Teams erreichen? ▶▶ Wie stehen unsere Mitarbeiterinnen zu New Work? ▶▶ Was heißt agile Führung für Entscheidungsfragen? ▶▶ Wie verbessern wir die Kommunikation zwischen internationa­ len Teams? ▶▶ Wie lernen unsere »Nerds« mit den »alten Hasen« zu reden? ▶▶ Wie können wir Fehler ohne Schuldzuweisungen korrigieren? ▶▶ Wie loyal sind unsere Mitarbeiterinnen in Zeiten radikaler Umbrüche? ▶▶ Wie attraktiv sind wir für Digital Natives?

Makro-Mikro-Aufstellungen So erhellend die Bilder einer Aufstellung auch wirken – weder sind sie eine bereits umgesetzte Lösung noch eine Handlungsanweisung. In ihnen ist komprimierte Information über ein Arbeitssystem und seine Entwicklungschancen abgebildet. Im ersten Bild einer Aufstellung zeigt sich meist eine Spannung oder ein Konflikt. Das ist nicht anders zu erwarten, denn schließ­lich geht es um schwierige Situationen. Kaum jemand wird Unterstützung suchen, wenn alles nach Wunsch läuft. Im weiteren Aufstellungsprozess werden kontraproduktive Dynamiken herausgearbeitet und mögliche Lösungen sichtbar. Doch scheint auch die Lösung eines Problems im Aufstellungsgeschehen noch so klar, sie ist damit noch nicht Realität. Die Mög­ lichkeiten und Chancen, die die Aufstellung zeigt, müssen erst noch in konkrete Schritte übersetzt werden. Dabei können sich ebenso wie bei der praktischen Umsetzung von Ideen oder Plänen Schwierigkeiten ergeben. Sie liegen nicht immer in äußeren Strukturen, sondern vielfach in den Beteiligten selbst. Will ich tatsächlich eine Veränderung? Oder gibt es in mir eine Tendenz, lieber beim Gewohnten 54

Systemaufstellungen in der digitalen Transformation

zu bleiben? An manche Probleme kann man sich gewöhnen. Sie sind uns so vertraut, dass sie uns beinahe fehlten, wenn sie gelöst würden! So gesehen haben sie einen Nutzen, der auch als »verdeckter Gewinn« bezeichnet wird. Was ist damit gemeint? Das Gute am Schlechten! Welcher Situation muss ich mich nicht stellen, wenn alles so bleibt, wie es ist? Projekte zur Digitalisierung stocken häufig aufgrund verdeckter Gewinne. Um fit für die Zukunft zu werden, kann es notwendig sein, ein ganzes Unternehmen umzukrempeln. Dies als Lösung zu erkennen, ist relativ einfach. Praktisch aber bringt das eine Menge Arbeit und Unruhe, kostet Energie, Zeit und Geld, erzeugt Widerstände und Ängste und birgt wirtschaftliche Risiken. Angesichts solcher Hürden verschieben manche die Veränderungsprojekte lieber auf morgen. So eine Neigung, unangenehmen Herausforderungen auszuweichen, kennen viele noch aus ihrer Schulzeit. Wenn eine schwierige Klassenarbeit anstand, war der Schnupfen ein willkommener Anlass, der Herausforderung auszuweichen. Wir selbst können also in bester Absicht unsere eigenen Ziele torpedieren. Denn wenn es um praktische Umsetzung geht, treffen zwei Welten aufeinander, die miteinander in besonderer Beziehung stehen: das Makrosystem Unternehmen mit seiner vielschichtigen Organisationsstruktur und das Mikrosystem Persönlichkeit mit seiner nicht weniger komplexen »inneren Teamstruktur«, seinen zahlreichen und oft konträren Teilpersönlichkeiten. Die Frage ist, wer im »inneren Team« einer Person einer Veränderung zustimmt und wer sie ablehnt. Was ist ein Makrosystem? Als Makrosystem bezeichne ich ein System aus mehreren Menschen, also ein kleines Team ebenso wie ein multinationales Unternehmen.

Was ist ein Mikrosystem? Mit Mikrosystem meine ich die individuelle menschliche Persönlichkeit, in der viele unterschiedliche innere Anteile miteinander kooperieren oder auch konkurrieren. Eine bunte Zirkustruppe gegensätzlicher Akteure wartet auf die Gelegenheit zum Auftritt. Eine »innere Person« verhält sich vorsichtig, die andere fordert Mut zum Makro-Mikro-Aufstellungen

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Risiko. Das kann Druck erzeugen, wenn es um Entscheidungen geht. Ihre Kolleginnen wollen Sie für die Lösung A gewinnen, Ihr Chef verlangt Lösung B und der Kunde fragt, warum es nicht schon längst C ist. Wäre die Persönlichkeit ein Auto, säße stets ein anderer Fahrer am Steuer, jeweils mit eigenen Zielen und seiner typischen Fahrweise. Sie selbst säßen auf dem Rücksitz und hätten wenig Einfluss auf Ziele, Routen und Geschwindigkeit. Beispielsweise bittet ein Mitarbeiter Sie um einen Tag Urlaub, den der »nette Chef« in Ihnen ihm gern gewähren möchte. Gleichzeitig meldet sich aber auch eine andere Seite Ihrer Persönlichkeit, die sagt: »Tu das nicht! Sonst musst du dich darum kümmern, wer seine Arbeit macht!« Dem inneren Team fehlt eine Leiterin, die als Teamchefin zwischen den gegensätzlichen Seiten vermitteln kann – hier zwischen den Standpunkten eines konsequenten Entscheiders und den Gefühlen eines inneren Helfers. Sie erkennen dann, dass Sie nicht nur nett und freundlich sind und auch nicht nur selbstbewusst und konsequent, sondern beides und eine Wahl haben. Entscheidungssituationen werden überschaubarer und ihre Konsequenzen können in ihrer möglichen Wirkung überprüft werden, bevor Sie praktische Schritte tun. Es geht also um ein handlungsfähiges und bewusstes Ich, das sich auf die verschiedenen inneren und äußeren Personen einstellt, sie anhört und dann eine klare Entscheidung trifft. In Mikro-­ Aufstellungen erkennen Sie, wo Sie in Bezug auf eine Entscheidung oder einen Veränderungsprozess stehen und welche Ihrer inneren Anteile dabei eine Rolle spielen. So kann in einem Konflikt deutlich werden, wie der Harmoniemensch in Ihnen schon zu schlichten versucht, bevor überhaupt die Fronten klar sind. Oder Ihr innerer Macher handelt in einer Terminfrage sofort, ohne sich vorher mit Mitentscheidern abgestimmt zu haben. Die Folgen muss später der innere Kümmerer mühsam abarbeiten, woraufhin Ihnen der innere Kritiker den Rest des Abends mit seinem Genörgel verdirbt. Mikroaufstellungen finden meist im Einzelsetting statt. Ihr Coach benutzt Hilfsmittel, sogenannte Platzhalter, statt menschlicher Stellvertreter und Sie oder der Coach nehmen die Positionen der aufgestellten inneren Anteile ein. 56

Systemaufstellungen in der digitalen Transformation

Wann ist eine Mikroaufstellung für Sie nützlich?

▶▶ Monitoring Sie wollen Ihre persönlichen Zweifel und Unsicherheiten in Bezug auf Ihr Führungsverhalten mit der Außenperspektive eines Coachs überprüfen. ▶▶ Diagnose-Aufstellung Sie haben mit einer Makro-Aufstellung die Ist-Situation im Unter­ nehmen beleuchtet. Dabei ergaben sich bei Ihnen Fragezeichen in Bezug auf Ihre Führungsrolle. Die weitere Arbeit findet im geschützten Rahmen einer Coachingsitzung statt. ▶▶ Implementierung Sie wollen eine gefundene Lösung im Unternehmen umsetzen, aber es geht Ihnen nicht schnell genug voran. Sie stehen unter Druck und handeln kontraproduktiv. ▶▶ Selbstmanagement Sie kommen immer wieder massiv unter Druck und leiden unter Stress. Sie wollen mit Ihrem Coach an diesen Themen arbeiten. ▶▶ Persönliches Thema Ihr Thema ist sehr persönlich oder sensibel und braucht einen geschützteren Rahmen als ihn ein offenes oder Inhouse-­Seminar bieten kann. ▶▶ Zweifel Ihnen kommen Bedenken, ob Sie die in der Aufstellung gefun­ dene Lösung umsetzen können. Sie möchten die Selbstzwei­ fel nicht einfach beiseiteschieben, sondern dahinterkommen, worum es dabei geht. ▶▶ Wirkung Die in der Aufstellung gefundene Lösung greift nicht. Sie haben das Gefühl, dass es mit Ihnen als Führungskraft zusammen­ hängen könnte, und möchten dem im geschützten Raum auf den Grund gehen. ▶▶ Work-Life Sie möchten persönliche Themen bearbeiten, die mit einer beruflichen Fragestellung zusammenhängen. Dabei geht es beispielsweise um Ihre langfristige Lebensplanung und Ihre Work-Life-Balance.

Makro-Mikro-Aufstellungen

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  Fallbeispiele

In diesem Kapitel können Sie Systemaufstellungen zu Fragen im Digitalisierungskontext miterleben. Die Namen und Standorte der beteiligten Unternehmen und Personen wurden zu deren Schutz so verändert, dass diesbezügliche Übereinstimmungen rein zufällig wären. Eine Aufstellung dauert in etwa eine Stunde. In den nachfolgen­ den Texten habe ich die Abläufe so komprimiert, dass Sie das Wesentliche mühelos nachvollziehen können. Ich lade Sie ein, sich virtuell in den Aufstellungsraum zu begeben und die wichtigsten Szenen mitzuverfolgen. Im Anschluss erläutere ich Ihnen die Systemdynamiken, die sich gezeigt haben. Sie sind auch bei der Nachbesprechung dabei und erfahren, wie die Informationen aus der Aufstellung ausgewertet und mögliche Lösungen praktisch umgesetzt werden.

Fallbeispiel 1 »Plötzlich stehst du in der vierten Reihe!«

Ein mittelständisches Unternehmen sieht sich durch Internetplattformen bedroht. NRW, Deutschland Paul leitet als Geschäftsführer ein mittelständisches Unternehmen, das im ländlichen Umfeld 820 Menschen Arbeitsplätze bietet. Die Elektronikprodukte, die hier gefertigt werden, finden aufgrund ihrer hohen Qualität weltweit einen guten Absatz. Aber der Druck der Konkurrenz ist hoch, billige Produkte aus Asien machen dem Unternehmen zu schaffen. Zwar erreichen sie nicht die hohen Qualitätsstandards der Schulz AG (Name fiktiv). Doch für immer mehr Kundinnen ist nur der Preis ausschlaggebend. 59

Die wichtigste Herausforderung für die Schulz AG liegt aber in der Verschiebung der Vertriebswege hin zu Internetportalen, bei denen viele Kunden mittlerweile die Produkte bestellen, obwohl die Preise dort keineswegs günstiger sind. Paul und seine Mitarbeiterinnen sehen sich zunehmend an die Wand gedrängt und haben Mühe, ihre Kundinnen noch direkt zu erreichen. Bei Bestellungen über eine Plattform muss die Schulz AG eine gesalzene Provision an diese abführen. Paul möchte die unternehmensinternen Projekte zur Digitalisierung und zum Online-Vertrieb deshalb mit Hochdruck voranbringen. Er ist von der Notwendigkeit überzeugt, den Anschluss an die digitale Welt schnellstmöglich zu schaffen, befürchtet allerdings, dass seine Mitarbeiter die existenzielle Bedeutung des digitalen Wandels für das Unternehmen nicht erkennen. Wenn sie den Transformationsprozess verlangsamen oder behindern, so seine Sorge, könnte es für das Unternehmen abwärts gehen. Entsprechend klingen seine Forderungen in den Meetings mit Mitarbeiterinnen und Führungskräften: »Wir verpassen den Zug! Wir müssen schneller werden! So geht’s nicht mehr weiter! Ihr müsst umdenken, eure Gewohnheiten infrage stellen, euch selbst infrage stellen! Seid kreativer! Lasst euch was Neues einfallen!« Manchmal wird Paul auch sauer: »Wenn euch unsere Zukunft egal ist, dann macht ruhig so weiter in eurem Trott! Die Digitalisierung ist eine Revolution, Leute! Da bleibt kein Stein auf dem anderen! Wir müssen unsere Arbeitsweise grundlegend ändern! Auf alte Gewohnheiten können wir keine Rücksicht mehr nehmen! Wer meint, er könne weiter nach Schema F arbeiten und täglich pünktlich um fünf nach Hause gehen, kann bald ganz zu Hause bleiben!« Bisher hat Paul einen hohen Kredit bei seinen Mitarbeitern. Sie schätzen ihn, wissen aus Erfahrung, dass er zu ihnen steht und für sie da ist. Trotzdem reagieren sie zunehmend verunsichert auf seinen Druck. In den Pausen macht sich der Unmut Luft: »Was ist bloß mit dem Chef los?! Der ist ja nicht mehr wiederzuerkennen! Malt immer den Teufel an die Wand mit seiner Digitalisierung! Als ob unser Überleben davon abhinge! Dabei haben wir doch super Produkte! Auch die digitale Konkurrenz kocht schließlich nur mit Wasser, und zwar immer noch bei hundert Grad!« 60

Fallbeispiele

Paul weiß, dass er seine Mitarbeiterinnen so nicht überzeugen kann. Er fühlt sich zunehmend unter Druck und sucht nach Lösungen. In dieser Situation kommt er ins Coaching, gestresst, unzufrieden, nervös. Er möchte wissen, was er tun kann, um das Vertrauen seiner Mitarbeiter zurückzugewinnen: »Ich hatte immer das Vertrauen meiner Mitarbeiter! Sie haben meine Entscheidungen verstanden und mitgetragen. Aber ausgerechnet beim Thema Digitalisierung, wo es um unser Überleben geht, sperren sie sich plötzlich! Ich merke ja, wie sie beginnen, mir aus dem Weg zu gehen, wie sie irritiert auf mich reagieren, viele mit Angst, manche auch mit Wut. Ich komme damit nicht mehr klar.« Paul bemerkt nicht nur, dass etwas schiefläuft, er realisiert auch, dass es sein Verhalten ist, das ursächlich mit den Schwierigkeiten zusammenhängt. Er formuliert sein Anliegen: »Wie kann ich entspannter mit der Situation umgehen?« Der Coach ermutigt ihn, seine inneren Reaktionen und Strukturen genauer unter die Lupe zu nehmen. Im Coachinggespräch erkennt Paul, wie er sich immer mehr unter Druck gesetzt hat. Ein Teil von ihm hat Angst vor den schnellen Veränderungen, die mit der Digitalisierung über ihn hereinzubrechen scheinen und die drohen, das erfolgsverwöhnte Unternehmen aus der Bahn zu werfen. Aus dieser Angst heraus verfällt Paul in einen hektischen Aktionismus. »Tu endlich was«, fordert ein innerer Antreiber in Paul, »damit wir den Anschluss nicht verpassen! Mach schneller! Lass dir was einfallen!« In der Arbeit mit dem Mikrosystem, über das Sie im Kapitel 2 schon etwas erfahren haben, geht es zunächst einmal darum, zu realisieren, welcher innere Anteil im Coachee gerade am Steuer sitzt. Paul wird im Coaching bewusst, dass eine aktionistische Antreiber-Energie in ihm Druck aufbaut, um Angst und Panik zu bewältigen. Das ist der erste Schritt: Er besteht darin, innere Realitäten zu erkennen. Denn solange eine Belastung nicht gesehen oder sogar verleugnet wird, gibt es keine Chance für bewusste Entwicklung oder Veränderung. In einer Mikroaufstellung seiner inneren Anteile in Bezug auf sein Anliegen erkennt Paul, wie er seinen Stress an die Mitarbeiterinnen weitergibt und sie mit seiner Angst ansteckt. Es gelingt ihm, allmählich so viel Abstand von seinen Druck- und Angstseiten zu gewinnen, dass ihm sein Verhalten den Mitarbeitern gegenüber bewuss»Plötzlich stehst du in der vierten Reihe!«

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ter wird. Seine unterstützenden und gelassenen inneren Anteile, mit denen er bisher die Beziehung zu seinen Mitarbeiterinnen gestaltet hat, sind durch die empfundene Bedrohungslage in den Hintergrund gedrängt worden. Was er in der Aufstellung erkennt, bezieht er nun in seine praktische Arbeit ein. So kann er die angstvolle Spirale seines Worst-Case-Denkens unterbrechen und seinen Mitarbeiterinnen konstruktiver begegnen. Aufstellung: »Diese Plattform schneidet uns den Marktzugang ab!« Auch wenn Paul nun weiß, was bei seinen Mitarbeitern »die Knöpfe gedrückt« hat, ist die reale Gefahr der Internetplattform als Konkurrenz für seinen Vertrieb geblieben. Paul entscheidet sich, auch diese Situation mit einer Aufstellung zu beleuchten. Klient:

Paul als Geschäftsführer (GF) des Unternehmens Anliegen:

»Wie können wir unsere Kunden von der Plattform zurückgewin­nen?« Was wird aufgestellt?

Wir starten die Aufstellung mit Stellvertretern für Paul als GF, das Unternehmen, die Mitarbeiterinnen, die Produkte, die Kunden und die Plattform (siehe Abbildung 1). Pauls Stellvertreter steht der Plattform frontal gegenüber. Er ballt die Fäuste und empfindet eine ohnmächtige Wut. Der Stellvertreter der Plattform schaut ganz entspannt zu den Kunden, die den Blickkontakt interessiert erwidern. Links neben Paul steht das Unternehmen, schaut zu den Kunden und versucht Kontakt zu Paul aufzunehmen. Es äußert sich irritiert darüber, dass Paul in seinem Fokus auf die Plattform den Kontakt zu ihm verliert. Die Produkte stehen etwas unschlüssig zwischen Unternehmen und Plattform mit Blick zu den Kundinnen und fühlen sich hin- und hergerissen. Der Stellvertreter für die Mitarbeiter hockt links neben dem Unternehmen, schaut abwechselnd irritiert zur Plattform und zu Paul und fühlt sich orientierungslos. 62

Fallbeispiele

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Abbildung 1: Aufstellung – Paul in seinem Fokus auf die Plattform

Nach seinem Eindruck befragt, bestätigt Paul, der das Aufstellungsgeschehen verfolgt: »Genau so ist es! Diese wütende Ohnmacht spüre ich jeden Tag!« Der Coach vergewissert sich, ob Paul im Prozess weitergehen oder ihn hier beenden möchte. Paul entscheidet sich, mit der Aufstellung fortzufahren. Mitunter sind die Informationen aus dem ersten Aufstellungsbild für einen Klienten so neu und überraschend, dass er Zeit braucht, um sie zu verstehen und einzuordnen. Deshalb hat er immer die Möglichkeit, zu intervenieren und »Stopp!« zu sagen. Die Wahrnehmungen der Stellvertreter ändern sich in einem Aufstellungsprozess fortwährend. So auch hier. Unternehmen und Produkt werden unruhig, schauen von einem zum anderen und suchen »Plötzlich stehst du in der vierten Reihe!«

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nach Orientierung. Der Coach bittet sie, zu ihrem Chef Paul Kontakt aufzunehmen. Ihr Feedback ist, dass sie Paul vertrauen, sie das aber nicht ruhiger mache. Nach ihrer Wahrnehmung befragt äußern beide: »Es geht um etwas anderes. Hier fehlt etwas!« Systemdynamiken lassen sich nur in Bezug auf ein Anliegen sinnvoll lesen. Da es hier um die Wiedergewinnung der Kunden vom digitalen Wettbewerb geht, ist die Hypothese des Coaches, dass es um eine Information geht, die auf verborgene Weise schon im System ist. Um sie sichtbar werden zu lassen, bittet der Coach Paul, eine Stellvertreterin für das »Unbekannte« dazuzustellen, ein Element also, das Paul und seine Mitarbeiterinnen bisher nicht gesehen haben, obwohl es eine Rolle im Prozess spielen könnte. Die Stellvertreterin für das Unbekannte bewegt sich langsam zur Plattform und schaut sie an. Während des Blickkontakts zwischen beiden Stellvertretern verändert sich die Atmosphäre im Raum. Sie wirkt wie geladen. Alle schauen wie gebannt zu den beiden hin. Wofür steht das Unbekannte? Für eine Person? Ein anderes Unternehmen? Eine Maßnahme? Ein Thema? Paul hat keine Idee. Die Stellvertreterin beschreibt aus der Rolle heraus ihre Wahrnehmung: »Ich habe mit der Plattform zu tun. Ich empfinde sie nicht als gefährlich. Sie könnte sogar gut für das Unternehmen sein.« Was daran gut sein könnte, kann Paul nur vermuten: »Vielleicht eine eigene Plattform. Da habe ich schon einmal dran gedacht.« Das Unbekannte verneint: »Nein, keine eigene Plattform, ich bin wie eine Verbindung zwischen dem Unternehmen und anderen, die auch in der Plattform sind. Ich habe den Impuls, sie zusammenzubringen. Und ich fühle mich kraftvoller als die Plattform!« Die Stellvertreterin der Plattform bestätigt das: »Sie hat mehr Power als ich!« Auch das Produkt fühlt sich mit dem Unbekannten verbunden: »Sie wirkt sehr belebend auf mich! Es gefällt mir, dass sie hier ist, und ich fühle mich wieder klarer.« Die Kundinnen wenden sich daraufhin der Stellvertreterin des Unbekannten interessiert zu. Jetzt kommt Bewegung in die Aufstellung. Das Unbekannte löst sich von der Plattform und stellt sich neben das Unternehmen. Auch die Mitarbeiter kommen dazu, alle drei schauen sich freundlich an. Dann bewegt sich das Unbekannte wieder zur Plattform, nimmt Blickkontakt auf, geht wieder zurück zum Unternehmen 64

Fallbeispiele

und den Mitarbeiterinnen, schaut diese beiden an, wandert daraufhin noch einmal zur Plattform und wieder zurück. Diese Hin-undHer-­Bewegung läuft wortlos für einige Minuten ab. »Es wirkt für mich so, als würde das Unbekannte mir Ideen vermitteln«, teilt das Unternehmen mit, »ich habe ein neues Bild!« Auch Pauls Stellvertreter wendet sich dem Unbekannten zu: »Auch bei mir ändert sich etwas. Seit sie da ist, sehe ich die Plattform nicht mehr als Feind! Und ich fühle mich mit ihr verbunden und sogar mit der Plattform! Auch mein Unternehmen und meine Mitarbeiter sehe ich jetzt wieder.« »Genau«, stimmt das Unbekannte zu, »ich bin mit dem Unternehmen verbunden, mit den Kunden und mit dem Produkt. Ich fühle mich wie eine Vermittlerin zwischen ihnen und der Plattform. Und ich bin größer als sie!« Die Plattform guckt skeptisch, aber das Produkt nickt: »Ja, das stimmt, was sie sagt. Ich gehöre zu ihr und auch zum Unternehmen. Ich spüre eine Nähe zum Unbekannten. Und ich fühle mich attraktiv für die Kundinnen!« »Sehr attraktiv!«, bestätigen die Kundinnen. Wir beenden die Aufstellung. Paul ist gespannt: »Das klingt sehr vielversprechend! Aber was mache ich jetzt damit?« Nachgespräch In der Nachbesprechung geht es darum, die systemischen Dynamiken, die sich in der Aufstellung gezeigt haben, gemeinsam mit dem Kunden auszuwerten. Dazu werden die während der Aufstellung fotografierten und videografierten Positionen und Bewegungen der Stellvertreter sorgfältig angeschaut. Anhand dieser Bilder können die Klienten im Detail nachvollziehen, was ihnen in den Abläufen des Aufstellungsprozesses noch nicht klar geworden ist.

Die Dynamiken in der Aufstellung Paul, der Geschäftsführer, sieht die Internetplattform als existenzielle Bedrohung des Unternehmens an. Die Kundinnen verliert er in seiner Fixierung auf die Plattform aus dem Blick. Auch mit seinem Unternehmen und den Mitarbeitern ist er nicht mehr in Kontakt, »Plötzlich stehst du in der vierten Reihe!«

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obwohl er meint, alles zu tun, um deren Zukunft zu sichern. Aber Paul ist so mit Zukunftssorgen beschäftigt, dass er nicht mehr führt. Ohne Führung fühlen sich die Mitarbeiterinnen orientierungslos und können auf die Bedrohung nur mit Hilflosigkeit reagieren. Da es an einer klaren Perspektive mangelt, sind auch die Produkte zwischen Unternehmen und Plattform hin- und hergerissen. In diesem Führungsvakuum wirkt das Unternehmen geschwächt und die Plattform wie die große Gewinnerin. Paul und seine Mitarbeiter haben bisher nicht erkannt, wie sie unbewusst zu dieser Situation beigetragen haben, indem sie sich als Opfer einer unfairen Konkurrenz fühlten und verhielten. Statt nach kreativen Lösungen zu suchen, starrten sie auf die Plattform wie das Kaninchen auf die Schlange. Der Veränderungsimpuls kam dann interessanterweise weder von Paul noch von den Mitarbeiterinnen, sondern aus einer Bewegung, die vom Unternehmen und Produkt ausging. Die Wahrnehmung »Hier fehlt etwas« eröffnete eine neue Sichtweise, die den Beteiligten bisher entgangen war. Es ist häufig so, dass die Mitglieder eines Systems in ihren gewohnten Perspektiven gefangen sind und sich schwertun, deren Beschränkungen zu durchschauen. Das Offensichtliche ist meist am schwersten zu erkennen. Im Aufstellungsprozess entpuppte sich das Unbekannte als eine neue Verbindungsmöglichkeit bekannter Faktoren. Paul wird klar, wie positiv es sich auswirkt, wenn er seine Haltung und Einstellung zur Internetplattform verändert. Darüber hinaus deutete sich eine Möglichkeit an, andere Formen der Vermarktung in einer neuen Verbindung zwischen Kunden und Produkt zu finden. Die dazu nötigen Informationen zeigen sich auf subtile Weise bereits im System. Nun geht es darum, sie in Sprache zu übersetzen. Wenn Paul die Szenen der Aufstellung mit seinem Team noch einmal nachvollzieht und alle gemeinsam Ideen sprudeln lassen, können sie eine praktische Lösung entwickeln. Umsetzungsworkshop In einem Workshop unterstützt der Coach Paul und sein Team darin, die Aufstellungsdynamiken zu verstehen und sie mit Ideen und In66

Fallbeispiele

halten zu füllen. Zunächst lösen sie sich von der Negativfixierung auf die Plattform und fragen sich, worin die Verbindung bestehen könnte, die vom Unbekannten ausging. Im Brainstorming und mit Design-Thinking-Ansätzen suchen sie gemeinsam nach Vernetzungsmöglichkeiten. Das Team entwickelt ein neues Dienstleistungskonzept, in dem die eigenen Elektronikprodukte mit Produkten anderer Herstel­ler zu verschiedenen Systemleistungen vernetzt werden. Sie planen, sich von einem klassischen Produktionsbetrieb zu einem Dienstleistungsnetzwerk mit digitalen Lösungen im »Smart Home«-­ Sektor zu entwickeln. Für das neue Produkt- bzw. Servicenetz­werk wird eine eigene Web-Vermarktung entworfen, die nicht auf reine Produkt-Plattformen angewiesen ist. Diese können in Zukunft noch als zusätzliches Vermarktungstool dienen, wenn sie die Einzelprodukte weiterhin führen. Denn über automatisierte Links können die Kundinnen der Plattformen schnell das Servicenetzwerk finden, das die einzelnen Produkte verbindet. Lösungsperspektive Das ganze Unternehmen lernt und entwickelt sich vom Produkthersteller zum System-Dienstleister im »Smart Home«-Bereich.

Zweite Coachingsitzung mit Paul: Das Unbekannte Etwa drei Monate nach dem Umsetzungsworkshop kommt Paul wieder zu einer Coachingsitzung. Die Planungsarbeiten für ein neues Servicenetzwerk kommen gut voran, Paul aber fühlt sich weiterhin gestresst und unter Druck. »Wir sind gemeinsam kreativer geworden, entwickeln gute Ansätze und haben auch bereits Kontakt mit möglichen Partnerunternehmen. Trotzdem spüre ich so eine Unruhe und Unsicherheit, wie es weitergeht. Ich glaube, dass meine Mitarbeiter das auch mitbekommen.« Gemeinsam mit dem Coach arbeitet Paul sein Thema klarer heraus. Es geht ihm um das Unbekannte, das sich in der Aufstellung zur Unternehmenssituation gezeigt hat. Obwohl dort eine vielversprechende Seite zum Vorschein kam, macht die Unberechenbarkeit »Plötzlich stehst du in der vierten Reihe!«

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der zukünftigen Entwicklung Paul zu schaffen. »Vielleicht«, überlegt er, »liegen wir ja falsch mit unserer Idee. Aber woher weiß ich, womit wir zukünftig erfolgreich sein können? Das ist doch völlig unmöglich!« Im weiteren Verlauf des Coachinggesprächs spürt Paul deutlicher, wie unruhig und nervös ihn diese Unsicherheit macht. Um gut arbeiten zu können, braucht er die Gewissheit, weiterhin realistische Chancen in seinem Markt zu haben. Natürlich gab es auch in der Vergangenheit kleinere oder größere Katastrophen, aber der große Rahmen schien vorhersagbar. Nun ist er zum ersten Mal in seiner Karriere mit einer Situation konfrontiert, in der seine Erfahrung und seine Kompetenz ihm kein Sicherheitsgefühl mehr vermitteln. Die Umbrüche im Marktgefüge zeigen ihm schonungslos, wie fragil seine Erfolgsgrundlage geworden ist. Trotz neuer Pläne und Perspektiven befürchtet er weiterhin, von der Internetkonkurrenz ausgehebelt zu werden. »Ich weiß, dass wir gut sind. Und warum sollten nicht auch wir im Netzwerk mit anderen im ›Smart Home‹-Geschäft Chancen haben? Aber das ändert nichts an meiner Unruhe! Es nervt mich, nicht zu wissen, ob das funktioniert und wie es sonst weitergehen könnte. Dieses Unbekannte an der ganzen Situation bereitet mir schlaflose Nächte!« Der Coach schlägt ihm vor, seine Situation in einer Einzelaufstellung (siehe Abbildung 2) anzuschauen. Paul stimmt zu und formuliert sein Anliegen: »Wie kann ich mit meiner Angst vor der unbekannten Zukunft umgehen?« In dieser Aufstellung gibt es nur zwei Positionen: Paul und das Unbekannte, vertreten durch einen zweiten Coach. Paul steht selbst in der Aufstellung.

Paul

Das Unbekannte

Abbildung 2: Aufstellung – Paul und das Unbekannte

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Fallbeispiele

Paul schaut das Unbekannte eine Weile an und dreht sich dann weg. Seine Knie zittern: »Ich halte das kaum aus, nicht zu wissen, wie es weitergeht und was ich tun kann, um das in den Griff zu bekommen.« Das Unbekannte bleibt ruhig und abwartend. Der Coach bittet Paul, seine Aufmerksamkeit auf die Körperempfindungen zu richten und die Augen zu schließen: »Spüre so genau wie möglich, wie du stehst. Geh in die Einzelheiten der Empfindung: Wie stehst du da, wie ist deine Körperhaltung, wie ist dein Bodenkontakt? Bleib mit dem größeren Teil deiner Aufmerksamkeit bei den Körperempfindungen, während du dich wieder nach außen orientierst. Verbinde jetzt beides. Nimm zugleich wahr, wie du stehst und was du siehst, wenn du das Unbekannte wieder anschaust.« Paul fühlt sich mit dieser veränderten Wahrnehmung etwas stabiler und hält dem Blick des Unbekannten stand. »Es ist wirklich bedrohlich, zu merken, dass meine Erfahrung mir so wenig nützt. Es kann ja morgen vorbei sein! Wie soll ich da realistisch planen?« Gefragt, wie er das Unbekannte bzw. dessen Stellvertreter jetzt erlebe, zögert Paul: »Eigentlich schaut er nicht abweisend. Aber er wirkt so viel größer als ich. Und ich kann ihn nicht beeinflussen!« Der Coach bittet Paul, beim Kontakt zu dem Stellvertreter des Unbekannten zu bleiben und darauf zu achten, was in ihm vorgeht. »Wenn ich dabeibleibe, zu spüren, wie ich stehe, während ich ihn anschaue, geht es etwas besser! Ich habe den Eindruck, wir beide sind in Kontakt und es entwickelt sich etwas. Trotzdem kann ich ihn nicht greifen! Und wenn ich das merke, werde ich wieder unsicher.« Der Stellvertreter für das Unbekannte bestätigt: »Ich mute ihm zu, mich so zu nehmen, wie ich bin. Ich sehe seine Wünsche und Erwartungen. Aber ich bin nun einmal nicht beeinflussbar! Es ist seine Sache, wie er mich wahrnimmt und wie er auf mich reagiert. Ich bin weder für noch gegen ihn.« Wir beenden die Aufstellung und setzen das Coachinggespräch fort. »Wie soll ich mich auf eine völlig unbekannte und unsichere Zukunft einlassen?«, fragt Paul, »Zumutung! Das ist das richtige Wort! Eine Zumutung ist das!« Paul wird im weiteren Verlauf des Gesprächs bewusst, was genau er als Zumutung empfindet: Er kann scheitern. Die Schulz AG könnte in Konkurs gehen. Damit wäre »Plötzlich stehst du in der vierten Reihe!«

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sein Lebenswerk am Ende, denn so empfindet er seine Arbeit als Geschäftsführer des Unternehmens. Natürlich hatte er diese Möglichkeit bereits theoretisch in Betracht gezogen. Es fällt ihm aber sichtlich schwer, sich wirklich mit ihr zu konfrontieren. Ihm wird klar, dass er die Unsicherheit bisher rein intellektuell betrachtet hat. Kamen Befürchtungen auf, halfen Pläne und Zukunftsszenarien, um sie wieder zu besänftigen. Sich aber auf die Möglichkeit des Scheiterns emotional einzulassen und die eigene Verunsicherung zu spüren, ist etwas ganz anderes. Paul vergleicht es mit einer Bergwanderung auf einem schmalen Grat, den Abgrund immer vor Augen. So eine innere Gratwanderung erfordert nicht nur Mut, sondern ebenso Umsicht und meist auch einen erfahrenen Begleiter. Paul ist bereit, sich mit Unterstützung des Coachs auf eine innere Erkundungsreise zu begeben, um stärker in Kontakt mit seinen intuitiven Ressourcen zu kommen. Das geschieht in Form einer Meditation, die im Dialog mit dem Coach stattfindet und längere Zeiträume von Stille einschließt. Im Folgenden sind die Stationen des Prozesses zusammengefasst. Die Meditation

Wo bist du und wer bist du, wenn du dich nicht auf dein Wissen beziehst und das Geländer deiner Definitionen und Erfahrungen loslässt? Was geschieht in dir, wenn du Schritt für Schritt gehst, ohne zu wissen, was der nächste Schritt bringt und wohin er dich führt? Du gehst ihn langsam und behutsam. Schau zu, wie der neue Moment aus dem alten hervorgeht so wie ein Atemzug den anderen ablöst. Du erwartest nichts, bist einfach hier, voll und ganz präsent und auf neue Weise in Kontakt mit dir selbst und allem, was um dich herum geschieht. Die Grenze zwischen Innen und Außen scheint unscharf zu werden. 70

Fallbeispiele

Dabei bist du nicht weggetreten, sondern hellwach in einer ent­ spannten Wahrnehmung ohne Zeitgefühl und ohne Erinnerung. In diesem Moment hat nichts anderes Bedeutung, als dass du ganz hier bist. Was ist Zukunft, was Vergangenheit, wenn du vollständig präsent bist? Wenn all deine Aufmerksamkeit in diesem Atemzug ist, wo ist dann der vorige? Und wer wartet auf den nächsten? In diesem Wahrnehmungsraum existieren weder Gestern noch Mor­ gen, nur dies hier, jetzt. Aus diesem Wahrnehmungsraum fließen Bilder, Gedanken und Ideen. Deine Intuition ist eine Informationsquelle, die aus dem Nichts kommt, aus der Weite eines Raumes, den du nicht kennst und in dem du doch zu Hause bist. Er ist gewissermaßen leer, auf eine andere Weise voller Energie und schöpferischer Kraft, die neue Formen oder Informationen entstehen lässt. Wenn du dich entspannt auf diese nicht wissende Wahrnehmung einlässt, bist du deiner intuitiven Quelle nahe, sie scheint dir viel­ leicht sogar näher als die eigene Nasenspitze. Einsichten entstehen mühelos, sortieren sich ohne Nachdenken wie von selbst zu neuen Informationen. Nun stell dir vor, dein Plan scheitert und das Unternehmen muss Konkurs anmelden. Was geschieht in dir? Geh nicht mit den Gedanken auf die Reise. Bleib bei deiner unmit­ telbaren Wahrnehmung, beim Atem, beim Körper, bei den Gefühlen. Beobachte den inneren Aufruhr in dir und lass dir Zeit. Schau zu, wie die Wellen allmählich auslaufen. Erinnere dich, wie du einem Kind beim Spielen am Strand zuschaust. Völlig aufgegangen im Spiel baut es Formen aus Sand, juchzt vor »Plötzlich stehst du in der vierten Reihe!«

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Freude, wenn sie von der nächsten Welle wieder weggespült werden, um mit neuem Eifer die nächste Form zu gestalten. Stell dir vor, du würdest mit solch einem schöpferischen Elan etwas Neues in die Welt bringen, experimentieren, aus Fehlern lernen und flexible Strukturen gestalten, die jetzt funktionieren und nicht in aller Zukunft. Erinnere dich nun an eine Begegnung mit einem sehr alten Men­ schen, der dir eine gewisse Lebensweisheit zu haben scheint. Im Gespräch mit dir blickt er auf sein Leben zurück, auf all die Höhen und Tiefen. Wie spricht er über Erfolge und Misserfolge? Was ist ihm geblieben? Was ist ihm heute wichtig? Gehe nun gedanklich zu deinem Projekt, mit dem du die Geschäfts­ grundlage des Unternehmens auf neue Füße stellen willst. Betrachte die Chancen und Gefahren aus einem Abstand heraus. Lass auch dein eigenes Verhalten und die Reaktionen deiner Mitarbeiterinnen noch einmal Revue passieren. Wie siehst du die Situation jetzt?

Im Abschlussgespräch ist Paul ernst und sieht die Situation, wie er sagt, nicht mehr hoffnungsvoll, sondern realistisch. Als »gute Nebenwirkung« bezeichnet er seinen veränderten inneren Zustand. Er fühle sich nicht mehr unruhig und nervös, sondern gefasst. »Ich gehe das jetzt fokussiert an«, resümiert er, »dann sehen wir, wie es weitergeht.«

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Fallbeispiele

Fallbeispiel 2 »Bye, bye Konfuzius!«

Ein chinesisches Familienunternehmen im Umbruch. Jinan, Shandong Provinz, China Wangs Unternehmen produziert Maschinen für den Straßenbau. Circa 7000 Mitarbeiter sind in den verschiedenen Produktionsstandorten in ganz China beschäftigt. Unterstützt von familiärem Startkapital hat Wang das Unternehmen aufgebaut und expandiert. Seine Familie sieht nicht gern, dass er die Textilbranche, in der sie seit Generationen tätig ist, verlassen hat. Der familiäre Unmut hält sich jedoch in Grenzen, denn Wangs Erfolg hat sich für sie ausgezahlt: Vielen Familienangehörigen hat er Positionen in seinem Unternehmen verschafft – manchen sogar sehr lukrative. Um im harten Wettbewerb innerhalb der Maschinenbaubranche konkurrenzfähig zu bleiben, automatisiert Wang seit geraumer Zeit konsequent die Produktionsabläufe. Im nächsten Schritt steht nun die Vernetzung von Prozessen und Systemen in Produktion, Vertrieb und Wartung der Maschinen an. Nur durch eine Erweiterung des Produktionsbetriebes hin zu einem umfassenden Serviceangebot sieht Wang die Chance, langfristig am Markt bestehen zu können. Konkret bedeutet das den Einstieg in das IoT (Internet of Things), in dem Wangs Maschinen nicht nur miteinander und mit anderen Maschinen vernetzt sind, sondern auch mit ihren Produktionsbetrieben und den Planungsbüros im Straßenbau. So können sie beispielsweise Service- und Reparaturbedarfe selbst erkennen und anfordern. Darüber hinaus ermöglicht die Vernetzung den Straßenbauplanern, die Maschinen in verschiedenen Straßenbauprojekten ziel-, zeit- und ortsgenau zu koordinieren. Für das Management des Unternehmens entfallen auf diesem Wege einige Aufgaben. Entscheidungen werden zunehmend von den Projektteams vor Ort selbstständig getroffen, sodass nur noch in wenigen Fällen eine Freigabe von der Unternehmenszentrale in Jinan eingeholt werden muss. Wang kommt diese Entwicklung entgegen, denn sie erleichtert und beschleunigt Abläufe, die zuvor lange im Board of Directors diskutiert wurden. »Bye, bye Konfuzius!«

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Als er diese Veränderungsprojekte seinem Board vorstellt, gibt es Ärger. Von den insgesamt sieben Direktoren stimmen nur drei Wangs Plänen zu. Die anderen vier stemmen sich dagegen. Problematisch ist das für Wang, weil gerade diese vier insgesamt vierzig Prozent der Anteile am Unternehmen halten. Zwar könnte er sie überstimmen, doch Durchsetzung war noch nie seine Stärke, schon gar nicht gegenüber Familienmitgliedern. Nichts ist Wang wichtiger als die Familienharmonie. So fühlt er sich hin- und hergerissen zwischen der Einsicht, dass digitale Innovation nötig ist, und seinem familienbezogenen Harmoniebedürfnis. In dieser Situation kommt Wang auf Empfehlung von Bekannten zu einem Aufstellungsseminar. Nach dem Vorgespräch formuliert er sein Anliegen. Aufstellung: »Was kann ich tun, um dem Unternehmen zu helfen?« Klient:

Wang, Unternehmer Anliegen: »Ich möchte das Board für die digitale Innovation gewinnen.« Was wird aufgestellt?

Es werden Stellvertreter für Wang, das Unternehmen, Wangs Ziel (die digitale Innovation) und die sieben Direktoren des Boards ausgewählt. Die Stellvertreter werden gebeten, ihre eigenen Positionen in der Aufstellung zu finden. Diese Alternative zur Aufstellung durch den Klienten entlastet ihn und funktioniert ebenso gut. Sobald die Stellvertreter mit ihrer Rolle in Resonanz treten, können sie intuitiv ihre Plätze finden. Wang steht seinem Ziel gegenüber, die Direktoren A, B, C und D schieben sich zwischen Wang und sein Ziel. C und D konfrontieren ihn direkt und in aggressiver Haltung. A und B halten sich vornehm zurück, während sie den Weg versperren. Unterstützung für Wang signalisieren die Direktoren E und F, indem sie sich auf seine 74

Fallbeispiele

Seite stellen und die Herausforderung ihrer Kollegen A und B erwidern. G steht abwartend links und fordert Wang auf, zu handeln. Das Unternehmen an Wangs rechter Seite wendet sich ab und fühlt sich wie gelähmt. Das Ziel ist müde, gelangweilt und will sich entfernen (siehe Abbildung 3). Ziel

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Abbildung 3: Aufstellung – Wangs Unternehmen mit den funktionslosen Direktoren

Gebeten, die Funktionen und Aufgabengebiete der einzelnen Direktoren zu benennen, erklärt Wang: »Direktor E ist für mechanische und digitale Technik verantwortlich, F ist unser Finanzchef und G leitet Vertrieb und Marketing.« Daraufhin schweigt er mit angestrengtem Gesichtsausdruck. »Was ist mit A, B, C und D?«, »Bye, bye Konfuzius!«

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möchte der Coach wissen. »Nun«, entgegnet Wang, »die sind Familie.« »O. K., aber was ist ihre Funktion? Wofür sind sie zuständig?« »Keine Funktion«, murmelt Wang und schaut zu Boden. Wie sich nun herausstellt, beziehen diese Direktoren über ihre Dividende hinaus ein üppiges Salär, ohne irgendeine Aufgabe im Unternehmen wahrzunehmen. Sie erscheinen lediglich ab und an einmal in ihren großzügigen Büros, um dort eine gewisse Zeit zu verbringen, bevor sie sich wieder anderen Aktivitäten widmen. Nur wenn es um Investitionsentscheidungen oder Veränderungen in der Managementhierarchie geht, schalten sie sich ein, um sicherzugehen, dass niemand ihren Interessen schadet. So auch in dieser Situation. Digitalisierung, Vernetzung von Prozessen und Maschinen im IoT, flache Hierarchien und selbstverantwortliche Teamentscheidungen rufen ihre entschiedene Abwehrhaltung auf den Plan. »Das bedeutet also, sie verdienen im Unternehmen eine Menge Geld, tun dafür aber nichts und behindern darüber hinaus Innovationen und Investitionen in die Zukunft?«, hakt der Coach noch einmal nach. »Ich würde es nicht so direkt ausdrücken«, antwortet Wang, »aber ja, im Grunde ist es so, und das ist bei uns ganz normal.« Manche Teilnehmer in der Runde nicken verständnisvoll. Auch ihnen ist so etwas nicht fremd. Die Lähmung des Unternehmens stimmt Wang traurig: »So erlebe ich das tatsächlich jeden Tag. Es geht nicht voran, obwohl der Weg so klar vor uns liegt! Was kann ich tun, um dem Unternehmen zu helfen?« Gefragt, ob er sich auf ein Experiment einlassen würde, stimmt er zu. Der Coach bittet die Direktoren A, B, C und D das System zu verlassen und vor die Tür zu gehen. Eine Welle der Erleichterung scheint die Aufstellung zu erfassen. Wang und seine aktiven Direktoren wirken plötzlich gelöst und aktiv, lachen, kommen in Bewegung und finden neue Plätze (siehe Abbildung 4). Wang stellt sich neben sein Ziel, die drei Direktoren E, F und G stehen dem Unternehmen zur Seite, das nun nach vorn zum Ziel schaut und verkündet: »Ich fühle mich, als wenn mir eine Zentnerlast von den Schultern gefallen ist!« Auch das Ziel ist nun aufgewacht, schaut interessiert zum Unternehmen und rückt näher zu Wang. 76

Fallbeispiele

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Abbildung 4: Aufstellung – Wangs Unternehmen ohne die funktionslosen Direktoren

Ist das die Lösung? Darf es für Wang so einfach sein? »Schmeiß sie einfach raus!«, fordert Direktor G ihn auf. »Das geht nicht! Das kann ich nicht!«, entgegnet Wang. Ein emotionaler Austausch beginnt. »Was tun sie? Sie nehmen dich aus und behindern auch noch die Zukunft des Unternehmens!« »Ja, aber sie sind Familie!« »Willst du zusehen, wie sie die Firma zugrunde richten?!« »Nein! Nein! Ich weiß, ich weiß, aber ich kann nicht! Ich kann einfach nicht! Meine Eltern wären empört und würden mich ablehnen, wenn ich das täte! Wie kannst du Onkel Lu und Onkel Chang das antun, würden sie sagen. Und deinen Vettern!« »Also würdest du lieber zusehen, wie die Firma untergeht, als dich gegen deine Eltern zu stellen?« »Aber du weißt doch! Das ist eben Xiào.« Xiào ist ein chinesischer Ausdruck, der sich in etwa mit »kindliche Pietät« übersetzen lässt. Dieses alte konfuzianische Konzept bestimmt das Familienleben vieler Chinesen auch heute noch. Sie verstehen Pietät als Fürsorge gegenüber Eltern, Verwandten und Alten und im Weiteren als Folgsamkeit gegenüber Eltern, Älteren und Vor»Bye, bye Konfuzius!«

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gesetzten: »Pietät bedeutet, dass die Kinder für den Unterhalt ihrer Eltern und der Alten in der Familie, deren Arbeitsvermögen beständig abnimmt, sorgen. Sie umfasst wirtschaftliche Unterstützung, alltägliche Versorgung, medizinische Behandlung, Krankenpflege sowie Anwesenheit am Sterbebett. Nach einer überlieferten Ansicht der Chinesen pflegt man die Kinder, um am Lebensabend versorgt zu sein« (Zhang, 2005). Um die Wirkung dieser traditionellen Werterhaltung auf das Board und Wangs Ziel deutlicher zu erkennen, wird ein Stellvertreter für Xiào, die kindliche Pietät, dazugestellt. Die Atmosphäre in der Aufstellung verändert sich schlagartig (siehe Abbildung 5).

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Abbildung 5: Aufstellung – Wangs Unternehmen mit Xiào

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Fallbeispiele

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Wang blickt demütig zu Boden und seine Direktoren E, F und G wirken kraftlos und ergeben. Die zur Familie gehörenden funktionslosen Direktoren A, B, C und D werden wieder in die Aufstellung gebeten. Sie stellen sich sofort zum Machtfaktor Xiào, der nun das Setting dominiert, ohne dass sie noch eine drohende Haltung einnehmen müssten. Wang und seine mitarbeitenden Direktoren E, F und G stehen ihnen machtlos gegenüber, das Unternehmen dreht sich weg und fühlt sich schwach auf den Beinen. Auch das Ziel wendet sich ab und zieht sich in eine Ecke des Raumes zurück. An diesem Punkt beenden wir die Aufstellung. Nachgespräch Im Nachgespräch wirkt Wang niedergeschlagen und rebellisch zugleich. »Wie kann es sein, dass die konfuzianische Tradition mir so im Weg steht? Natürlich ist mir die Familie wichtig und ich stehe als Sohn meinen Eltern und Verwandten gegenüber in Verantwortung. Aber ich kann doch nicht mein Unternehmen einer Tradition opfern! Wenn ich Pleite mache, wäre ihnen doch auch nicht gedient!« Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird Wang deutlich, dass die rationale Einsicht und sein Wunsch nach Veränderung bei diesem Thema allein noch nicht viel bewirken können. Nicht Tradition und Familie sind es, die ihm Steine in den Weg legen. Er selbst hat die traditionellen Werte verinnerlicht und folgt ihnen, ohne es zu merken. Xiào ist in ihm! Es ist niemand von außen nötig, um ihn unter Druck zu setzen. Das macht er ganz allein, denn nur wenn er im Einklang mit seinen verinnerlichten Werten handelt, hat er ein gutes Gewissen. Nur dann fühlt er sich loyal und seiner Familie zugehörig. Gegen die Werte von Xiào zu handeln bedeutet für ihn, diese Zugehörigkeit zu verlieren. Da diese kindliche Loyalität in einem vorrationalen Lebensalter entstanden ist, kann er sie nicht einfach durch rationale Einsicht und eine konsequente Entscheidung ablegen. So schiebt er die Verantwortung für die Situation auf die Familienangehörigen ab, die er in sein Unternehmen geholt hat, und glaubt, wenn er sie entließe, würde sich alles zum Besten wenden. Doch so einfach ist es nicht, denn allein die Gegenwart des konfuzianischen Wertes Xiào in der Aufstellung reichte völlig aus, die innovative und »Bye, bye Konfuzius!«

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erfolgsorientierte Stimmung bei Wang und seinen Führungskräften im Unternehmen zunichte zu machen. Die Empfehlung an Wang lautet daher, sich im Coaching mit seinen Zielen, inneren Werten und Strukturen auseinanderzusetzen, um mehr Klarheit für sein Handeln zu gewinnen. Die Dynamiken in der Aufstellung Der Erfolgskurs des Unternehmens liegt klar auf dem Tisch. Wang sieht, was zu tun ist, um den langfristigen Erfolg seiner Firma zu sichern. Seine drei aktiven Direktoren und er erkennen in der digitalen Vernetzung von Prozessen und Maschinen die Chance für stabiles Wachstum in der Zukunft. Als Hindernis erweisen sich die vier funktionslosen Direktoren, die Wang aus Familienloyalität ins Unternehmen geholt hat. Ihnen geht es lediglich um ihre persönlichen monetären Interessen, weshalb sie jede Innovation bekämpfen, die ihre Macht infrage stellen könnte. Ein Aufstellungstest zeigt, wie das Unternehmen ohne sie da stände: eindeutig besser! Nichts läge also näher, als sich dieses Hindernisses zu entledigen und die funktionslosen Direktoren herauszukomplimentieren. Doch was logisch die beste Lösung zu sein scheint, funktioniert hier psychologisch nicht. Die traditionellen konfuzianischen Werte haben Wang fest im Griff. Warum also sollte sich Wang nicht mit einem radikalen Befreiungsschlag dieser inneren Ketten entledigen? Auch hier gilt, dass logisch und psychologisch nicht deckungsgleich sind. Befreiungsschläge könnten sich als Bumerang erweisen, wenn der Klient sich über seine verinnerlichten Familienwerte hinwegsetzt. Daher täte Wang gut daran, nicht sofort zu handeln, sondern sich zunächst einmal so weit mit seinem inneren System zu beschäftigen, dass er seine Familienloyalität von den strategischen unternehmerischen Entscheidungen trennen kann.

Zweite Aufstellung mit Wang Etwa ein Jahr später erscheint Wang wieder in einem Aufstellungsseminar. Er wirkt gestresst, als er über die Ereignisse des vergangenen Jahres berichtet: »Kurze Zeit nach der Aufstellung habe 80

Fallbeispiele

ich mich entschlossen, zu handeln. Ich habe meine vier Verwandten, die als Direktoren ohne Funktion im Unternehmen saßen, hinausbefördert. Sie waren erbost, meine Familie reagierte beleidigt und ich bekam keine Einladung zu Familientreffen mehr. Aber mir war mein Unternehmen wichtiger. Um den Familienfrieden wiederherzustellen, habe ich den vier ausgeschiedenen Direktoren jeweils hohe Abfindungen gezahlt. Wir haben dann begonnen, unsere Projekte konsequent umzusetzen und meine drei Direktionskollegen haben voll mitgezogen. Auch die Mitarbeiterinnen spürten den neuen Wind und machten mit. Anfangs lief alles nach Plan und wir freuten uns über die vielen neuen Projekte, die wir bekamen. Der Erfolg schien uns recht zu geben. Doch dann begann die Misere: In unserer Begeisterung haben wir mehr Projektaufträge angenommen, als wir ausführen konnten. Auch die digitale Vernetzung ließ sich nicht so schnell realisieren, wie wir es erwartet und versprochen hatten. Termine konnten nicht gehalten werden, worauf die Kunden sehr verärgert reagierten und uns mit zum Teil schmerzhaften Regressforderungen belegten. Andere sprangen ganz ab, und wir stehen jetzt mit weniger Umsatzvolumen da als zuvor. Das ist schlecht, denn so können wir die nötigen Investitionen in die Zukunft nicht schultern. Innovationen liegen auf Eis. Unser guter Ruf im Markt hat dadurch auch gelitten. Habe ich falsch entschieden? Soll ich die vier Verwandten wieder zurückholen?« Wangs Anliegen für diese Aufstellung lautet: Anliegen: »Wie kommen wir zurück auf die Erfolgsspur?« Was wird aufgestellt?

Es werden Stellvertreter für Wang, das Unternehmen, die digitalisierten Projekte und die Kundinnen gefunden. Wang steht seinen Projekten direkt gegenüber. Er fühlt sich gestresst und überfordert. Die Projekte erleben sich als groß und mächtig, schauen auf Wang herab: »Er ist uns nicht gewachsen! Er hat sich wohl überschätzt! Und erst diese Firma und seine Leute! Die bringen es doch nicht!« Die Kundinnen wollen mit Wang und seinem »Bye, bye Konfuzius!«

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Unternehmen nichts zu tun haben, wenden sich ab. Unternehmen und Mitarbeiterinnen fühlen sich müde, schwach auf den Beinen und würden am liebsten gehen (siehe Abbildung 6).

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Abbildung 6: Aufstellung – Wie kommen wir zurück auf die Erfolgsspur?

Wang reagiert betroffen, als er sieht und hört, was die Stellvertreter wahrnehmen. »Ich wollte die Zukunft des Unternehmens sichern. Nun habe ich es noch schlimmer gemacht. Es ist alles meine Schuld!« Er fühlt sich hin- und hergerissen zwischen Schuldgefühl und Wut auf die entlassenen Direktoren aus der Familie. Hätten sie sich nicht gegen seine Innovationen gestellt, so glaubt er, wäre alles anders gelaufen und sie hätten gemeinsam die Ziele erreichen können. In einem weiteren Aufstellungsschritt konfrontiert Wang die vier entlassenen »Familiendirektoren«. Im Kontakt mit ihnen geht er durch ein Wechselbad der Gefühle von Ärger über Schuldgefühle bis hin zu Versöhnungswünschen. Welche Haltung repräsentieren 82

Fallbeispiele

diese Direktoren in Bezug auf sein Problem und sein Anliegen? Ihre Aussage ist eindeutig und klar: »Wir wollen mehr! Wir wollen alles, was wir kriegen können! Etwas anderes interessiert uns nicht!« Wang schaut sie an und erwidert: »Auch ich wollte alles für die Firma, was ich kriegen konnte. In meiner Gier bin ich euch ähnlich. So gehöre ich wieder zu euch!« Die gleiche maßlose Gier, die ihn bei seinen Familiendirektoren so empört hatte, legte er selbst an den Tag, als es um neue Projekte für das Unternehmen ging. Er nahm alles, was er bekommen konnte, ohne die Konsequenzen im Blick zu haben. So sabotierte er seine eigenen Ziele, gewann aber auf diesem Wege etwas sehr Wichtiges wieder zurück: die Zugehörigkeit zu seiner Familie. In seiner Gier war er wie sie und in seinem Scheitern gab er ihnen unbewusst recht. Das alte taoistische Prinzip, nachdem wir stark machen, was wir ablehnen, ist Wang theoretisch geläufig. Nun hat er seine Wirkung hautnah erlebt. Er erkennt, wie er sich selbst durch den Kampf gegen seine Familiendirektoren geschwächt hat. Ihm wird auch klar, dass er eine Schieflage auslöste, indem er seinen Familiendirektoren zu viel gab, ihnen erlaubte, nur zu nehmen und nichts dafür zurückzugeben. Sein Harmoniebedürfnis war stärker als die Durchsetzungskraft, mit der er seine Verwandten aus dem Unternehmen warf. Nun erkennt er, dass er an sich selbst arbeiten muss, wenn er nicht wieder in die gleiche Falle geraten will. Für ihn wird es darum gehen, seinen harmoniebedürftigen inneren Anteil anzuerkennen. Denn Durchsetzungskraft kann ihm nicht zur Verfügung stehen, solange er diese Seite seiner Persönlichkeit nicht integriert hat. Auch die Verknüpfungen seiner Ich-Anteile zu den Familienstrukturen und den traditionellen konfuzianischen Werten sind ein wichtiges Thema für Wangs Arbeit an sich selbst. Wie aber geht es mit dem Unternehmen weiter? Ein nächster Aufstellungsschritt simuliert eine mögliche Lösung (siehe Abbildung 7). Wang reduziert die Anzahl seiner Projekte und konzentriert sich auf sein Kernthema: Vernetzung von Technik, Prozessen und Planung. Dabei bezieht er die Kunden von Anfang an in die Projektsteuerung ein und bildet gemeinsam mit ihnen vernetzte Steuerteams. Wang und sein Unternehmen wirken nun kompetenter und vertrauens»Bye, bye Konfuzius!«

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würdiger auf die Kundinnen. Seine Haltung hat sich aus Kundensicht spürbar verändert. Er hat ihre Interessen und Projekte im Blick und gibt ihnen über die Steuerteams mehr Gestaltungsmöglichkeit und Sicherheit. »So kann Vernetzung praktisch funktionieren«, ist ihr Feedback.

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Abbildung 7: Aufstellung – Konzentration aufs Kernthema

Die Dynamiken in der Aufstellung In seinem Wunsch, mit seiner digitalen Innovation schnell Erfolg zu haben, hatte Wang die Bedürfnisse der Kundinnen und seine eigenen Kapazitäten aus dem Blick verloren. Auch eine Reihe anderer maßgeblicher Faktoren in diesem System nahm er nicht wahr: ȤȤ Die maßlose Gier seiner Verwandten, denen er lukrative Direk­ toren­posten in seinem Unternehmen verschafft hatte, auf denen sie fürs Nichtstun fürstlich entlohnt wurden. ȤȤ Die Schieflage zwischen Geben und Nehmen, die so entstand. ȤȤ Seine tiefe Loyalität zur Familie, die ihn so übertrieben viel geben ließ, ohne eine angemessene Gegenleistung dafür zu fordern. 84

Fallbeispiele

ȤȤ Seine verinnerlichten konfuzianischen Werte, die ihn dazu trieben, die familiäre Korruption mit Xiào, der traditionellen kindlichen Pietät, zu rechtfertigen. ȤȤ Sein eigener verdeckter Gewinn, den er dadurch einfuhr, dass er sich das Wohlgefallen seiner Familie erkaufte. ȤȤ Seine unterdrückte Wut auf die untätigen Familiendirektoren, die dem Erfolg und der Zukunft seines Unternehmens mit ihrem Egoismus im Wege standen. ȤȤ Seine eigene aggressive Gier, mit der er nach der Entlassung der Familienmitglieder viel mehr Projekte an sich zog, als er bewäl­ tigen konnte. ȤȤ Sein unbewusster Wunsch, in dieser Gier seinen Verwandten und damit seiner Familie ähnlich und nahe zu sein. ȤȤ Sein Kampf gegen die Familiendirektoren und damit auch gegen seine eigenen inneren Werte, mit dem er beide stärkte und sich selbst schwächte. ȤȤ Der Misserfolg, den er nach der Entlassung der Familiendirek­ toren bewirkte, als wolle er sich selbst dafür bestrafen. Lösungsperspektive Wang wird realistischer und bescheidener, was den Umfang und das Tempo seiner Innovationen angeht. Er bezieht die Kunden so in seine Digitalisierungsprojekte ein, dass die angestrebte Vernetzung nicht nur auf technischer Ebene, sondern auch in den Zusammenarbeitsformen durchgängig realisiert werden kann. Er übernimmt Verantwortung für seine Planung und sorgt in Steuerteams gemeinsam mit seinen Kundinnen für transparente Projektabläufe. Im Coaching arbeitet Wang an seinen inneren Werten und Zielen, an seiner Familienloyalität und dem Ungleichgewicht von Harmoniebedürfnis und Durchsetzungskraft in seinem inneren System.

»Bye, bye Konfuzius!«

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Fallbeispiel 3 »Cooler als KI« – Mastermodus für menschliche Systeme?

CDO Mark lernt analog Neues über sich, während er für seinen Vorstand »digital inkompatible« Mitarbeiter rauswerfen soll. Tokio, London, New York Mark ist einer der US-amerikanischen Regionalvorstände eines multinationalen Elektronikkonzerns mit weltweit etwa 30.000 Mitarbeitern. Diesen Job hat er seit zehn Monaten inne. In seiner Karriere gab es eine Reihe von schnellen Sprüngen und Wechseln zwischen mehreren renommierten Beratungsunternehmen, in die Geschäftsleitung eines mittelständischen Kunden, dann in einen amerikanischen Konzern und schließlich in die heutige Position. Seinen Erfolg führt Mark auf seinen wachen, scharfen Verstand zurück, der ihm ermöglichte, Studium und Traineezeit in extrem kurzer Zeit mit Top-Abschlüssen zu absolvieren. Nicht zu vergessen seine freundliche und charmante Art, Menschen für sich zu gewinnen. Sie wurde immer wichtiger, seit er Personalverantwortung hat, und spielte sicher auch eine wichtige Rolle bei seiner Berufung in den Regionalvorstand. Mark war immer schon der »Sunnyboy«, der es verstand, mit guter Laune und seiner lockeren Art, die anderen mitzuziehen – in der Schule, in der Uni, beim Sport und auch im Job. Es lief einfach immer blendend für den gut aussehenden Shootingstar Mark. So war es für seine Freunde keine Überraschung, als er in seinem relativ jungen Alter bereits in eine Position aufstieg, in der seine Kolleginnen gute zehn Jahre älter sind. Anfangs lief alles wie am Schnürchen. Mark war der dynamische Neue, brachte frischen Wind ins Unternehmen, versprühte unbekümmerten Erfolgsgeist und motivierte seine Mitarbeiterinnen mit attraktiven, sportlichen Teamevents wie Skiwochenenden, Wildwasserfahren, Segeltörns und dergleichen mehr. Doch nun gibt es neue Herausforderungen. Mark wird aus dem vergleichsweise harmonischen US-Regionalvorstand in die Schaltzentrale der Macht, die Konzernleitung in Europa, versetzt. 86

Fallbeispiele

Dort soll er als verantwortlicher CDO (Chief Digital Officer) eine harte Entscheidung der Konzernleitung umsetzen: 15 Prozent des Personals ist abzubauen, um die Geschäftsbereiche stromlinienförmig zu verschlanken und so das Unternehmen zukunftsfähig zu machen. Auslöser dieses »Digital 4.0«-Projekts sind umfangreiche Erhebungen, die der Gesamtvorstand durchführen ließ, um festzustellen, welche Mitarbeiter fit für die digitale Transformation seien und welche nicht. Im Ergebnis wurden etwa 4500 Mitarbeiter als »nicht entwicklungsfähig« eingestuft. Diese Beurteilung bezieht sich auf den »digitalen Mindset«, ohne welchen eine Mitarbeiterin im Unternehmen keine Zukunft mehr haben soll. Worin genau dieser besteht, wurde indirekt gemessen und blieb insofern undifferenziert. Aus Beurteilungen durch Vorgesetzte und Multiple-Choice-Surveys erstellten die mit der Durchführung beauftragten Consultants eine Punkte-Bewertung. Wer eine bestimmte Punktzahl erreichte, wurde als digital kompetent definiert, wer darunter blieb, fiel durch. Eine wirtschaftliche Notwendigkeit zum Personalabbau bestand zum Zeitpunkt der Befragung nicht. Hintergrund der Vorstandsentscheidung war neben dem Wunsch, im Zeittrend zu liegen, die Aussicht, den Aktionären eine attraktive Dividende zu ermöglichen und so die eigene Position zu festigen. Marks »Digital 4.0«-Team soll Wege zur Umsetzung ausarbeiten, bei denen die unterschiedlichen nationalen gesetzlichen Vorgaben zum Kündigungsschutz und zu anderen Mitarbeiterrechten berücksichtigt sind. Ferner muss die Maßnahme sowohl den Betroffenen als auch den verbleibenden Mitarbeiterinnen so kommuniziert werden, dass Ärger vermieden und Aufbruchsstimmung erzeugt wird. Derartige Projekte sind für Mark im Grunde nichts Neues, denn Ähnliches hat er bereits mehrfach als Senior-Consultant in Restrukturierungsprojekten bei Kundinnen durchgeführt. Also geht er die Aufgabe wie gewohnt locker und leicht an, mit einem optimistischen Schwung, der den Mitarbeitern vermitteln soll: »Es ist alles gar nicht so schlimm.« Doch es funktioniert nicht. Denn nun ist Mark nicht mehr der Consultant, der sich nach dem Abwurf der Bombe sofort aus deren Wirkungsbereich zurückziehen kann. Er ist der Chef und steht in der Verantwortung. Mark sieht sich erstmalig mit massivem Wider»Cooler als KI« – Mastermodus für menschliche Systeme?

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stand konfrontiert, Aggressionen und Anklagen richten sich direkt gegen ihn, Intrigen werden geschmiedet, es wird Stimmung gegen ihn gemacht. Mark bemüht sich nach Kräften, den bevorstehenden Einschnitt positiv zu verkaufen und Bedenken auszuräumen. Auf allen Meetings ist er präsent, lässt keinen Jour fixe aus und leistet Überzeugungsarbeit, wo immer sich die Gelegenheit bietet. Er arbeitet mit der Mischung aus guter Laune, gezielt verteilten Privilegien und geschickt lancierten Drohungen, die bisher immer funktioniert hat. Aber Marks Glückssträhne scheint vorbei. Er bekommt keine klare Linie in sein Projekt. Der Gesamtvorstand ist verärgert, bemängelt seinen »Zick-Zack-Kurs«, fordert konsequentere Führung und setzt ihm einen engen Termin für seinen Erfolgsbericht über ein verschlanktes Unternehmen mit hochmotivierten und digital kompetenten Mitarbeiterinnen. Mark gerät unter Druck, und obwohl er sich bei Freunden über die starre Haltung des Vorstands, dieser »Industriebeamten«, lustig macht, weiß er, dass er das Problem nicht auf gewohntem Wege lösen kann. Aber wie dann? Sobald er den Mitarbeitern gegenübertritt, ist er der optimistische, gewinnende Sunnyboy, der sich alle Mühe gibt, mit Lob und Witz aufzuheitern. Aber sein bewährtes Erfolgsrezept »Lächeln und Druck« bringt die Leute immer mehr gegen ihn auf. Er, der beliebte Neue, wird zum meistgehassten Mann des Unternehmens. Hinter seinem Rücken läuft der Flurfunk heiß und verbreitet ein Mark-Bild, das ihn als schwachen, rückgratlosen Opportunisten zeichnet, den im Grunde nur seine eigene Karriere interessiert. Mark ist sonnenklar: Er muss dringend etwas tun. Aber was? Und wie? Schnell muss es auch noch gehen! Zunehmende Unruhe macht sich in ihm breit, er schläft schlecht, gequält von Albträumen, in denen er panisch versucht, einen Brand zu löschen. In der Konfrontation mit den Mitarbeitern fehlt ihm plötzlich die gewohnte Souveränität und Schlagfertigkeit. Er ist in der Defensive und sieht seine Felle davonschwimmen. Mehr mechanisch als kreativ schützt er sich mit Zielvorgaben und Anweisungen, während er sich aus der Kommunikation mit seinem Kernteam mehr und mehr zurückzieht. Ihm ist klar, dass er das Heft des Handelns wieder in die Hand bekommen muss, und so holt er sich verschiedene Strategieinputs. Nachdem auch diese nichts gebracht haben, entscheidet er sich für ein persönliches Coaching. 88

Fallbeispiele

Coaching mit der Mastermodus-Methode In seinem persönlichen Coaching lernt Mark die Mastermodus-­ Methode kennen. Es handelt sich dabei um eine pragmatisch vereinfachte Variante der Dialogarbeit mit dem Mikrosystem, über das Sie in Kapitel 2 sowie im ersten Fallbeispiel dieses Kapitels bereits etwas lesen konnten. Im ersten Schritt erkennt Mark, aus welchem Modus er im Geschäftsalltag ständig handelt. Er nennt diesen »Der smarte Mark« oder kurz »Smartmodus« (Abbildung 8). Die Defensive, in die er zunehmend gerät, bezeichnet er selbstironisch als »Bunkermodus«, in dem er nur noch mechanisch funktioniert. »Wie beim Militär«, meint er.

Abbildung 8: Smartmodus − Mark zaubert seine Erfolge aus dem Hut

Im zweiten Schritt übt er, sich von diesen Modi zu lösen. Ihm wird deutlich, dass es nicht darum geht, den bisher erfolgreichen »Smartmodus« aufzugeben, sondern darum, Abstand zu ihm zu gewinnen. Dazu führt der Coach einen Dialog mit dem »smarten Mark«. Er bittet Mark, mit seinem Stuhl ein wenig zur Seite zu rücken und sich ganz in den »Smartmodus« zu begeben. Dann unterhält er sich mit dem »smarten Mark«. Während Mark auf ungewohnte Weise Gewohntes tut, also ganz als der »Smarte« spricht, gewinnt er nicht nur einen neuen Eindruck von diesem Modus, sondern auch eine gewisse situative Distanz zu ihm. »Als ob ich den jetzt an- und ausschalten könnte«, sagt er. Zur Erinnerung im Alltag dient Mark eine Übung: Der Coach bittet Mark, sich ganz in den »Smartmodus« zu begeben und sich dann innerlich, in seiner Vorstellung, rechts neben sich zu stellen. Das gelingt ihm nicht gleich und er wird aufgefordert, mit seinem Stuhl ein kleines Stück nach rechts zu rücken und dabei aus dem »Smartmodus« herauszugehen. Diese kleine räumliche Veränderung bewirkt einen Unterschied und Mark erlebt sich als ruhiger, kühler und sachlicher. Das erstaunt ihn zunächst. Da er aber aus einer Aufstellungsarbeit in einem anderen Kontext räumliche Wahrnehmungsänderungen kennt, kann er das für sich einordnen. »Cooler als KI« – Mastermodus für menschliche Systeme?

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Als Nächstes wird er gebeten, den »Smartmodus« wieder zu aktivieren, aber von der Position rechts neben sich selbst. Mark beschreibt sich als gelassen und zugleich hoch aufmerksam, als innerlich klar, dabei aber zugewandt und kommunikativ. Er befindet sich jetzt im Mastermodus in Bezug auf den Smartmodus (Abbildung 9).

Smartmodus

Mastermodus

Abbildung 9: Mastermodus − Mark dirigiert seinen Smartmodus wie von außen

Für die Umsetzung im Alltag lernt Mark, seinen »Blitzmerker« zu aktivieren (Abbildung 10). Damit ist die Wahrnehmung des momentan aktiven Modus gemeint. Denn wenn er nicht merkt, aus welchem Modus er gerade handelt, hat er auch keine Einflussmöglichkeit.

Blitzmerker

Bunkermodus

Smartmodus

Mastermodus

Abbildung 10: Blitzmerker aktivieren − Mastermodus in Bezug auf einen Modus

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Fallbeispiele

Im Anschluss übt Mark, in den Mastermodus zu wechseln, indem er sich innerlich rechts neben sich stellt. Auf gleiche Weise versucht er, den Mastermodus auf beide Modi, »Smart« und »Bunker« anzuwenden (Abbildung 11).

Blitzmerker

Mastermodus 2

Bunkermodus

Smartmodus

Mastermodus 1

Abbildung 11: Mastermodus in Bezug auf zwei Modi

Nachdem Mark den Wechsel der Modi über den Mastermodus trainiert hat, kann er leichter zwischen »Bunker« und »Smart« wechseln. In der nächsten Sitzung übt Mark den gesamten Prozess noch einmal mit seinem »Bunkermodus«. Als er aus diesem Modus mit »Cooler als KI« – Mastermodus für menschliche Systeme?

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dem Coach spricht, spürt er, welchem Druck er in seiner momentanen Situation ausgesetzt ist und wie der »Bunker« ihn vor Angriffen und Verletzungen schützt. Die Kehrseite dieser Schutzstrategie wird ihm deutlich, als er auch hier die Mastermodus-Technik anwendet. Während er Abstand vom Bunkermodus gewinnt und zugleich mit ihm verbunden bleibt, merkt er, wie eingeschränkt die Kommunikation aus dieser Abkapselung ist und wie schwer es ihm fällt, Kontakt zu anderen aufzunehmen. »Kein Wunder«, resümiert er, »dass ich niemanden erreiche mit meterdickem Stahlbeton dazwischen.« In weiteren Coachingsitzungen berichtet Mark, wie es ihm allmählich etwas besser gelingt, den Mitarbeiterinnen zuzuhören und ihre Anliegen ernst zu nehmen. Mithilfe seiner professionellen Moderationsfähigkeit und seines situativen »Mastermodus« stellt er den Kommunikationsfluss wieder her und achtet dabei zugleich auf seinen eigenen Schutz vor verbalen Angriffen. »Wirklich cool, dieser Mastermodus«, grinst er, »wie KI mit ihren autonomen, selbstoptimierenden Features. Nur cooler!« Damit er aus der Sündenbockrolle, die er für Mitarbeiter und Gesamtvorstand innehat, herauskommt, sind allerdings noch weitere Schritte erforderlich: ȤȤ Mark muss Klarheit über seine Rolle im Unternehmen und im Besonderen im »Digital 4.0«-Projekt gewinnen. ȤȤ Er benötigt systemische Information zu den Wirkungen, die mit der Entlassung von 15 Prozent der Mitarbeiterinnen auf das Unternehmen zukommen. Bevor wir uns Marks Aufstellung zu diesen Themen zuwenden, möchte ich Ihnen die Hintergründe der »Mastermodus«-Übung im Kontext von Digitalisierung erläutern. Die Mastermodus-Methode: Üben für das Unerwartete Der Begriff »Mastermodus« ist aus technischen Anwendungen bekannt. So kann man beispielsweise manche digitalen Systeme im Mastermodus betreiben. In dieser Betriebsart übernehmen sie die Kontrolle über sich selbst, werden leistungsfähiger, erkennen eigene 92

Fallbeispiele

Fehler und korrigieren oder reparieren sie umgehend. Roboter und automatisierte Systeme arbeiten auf diese Weise. Mit dem rasanten Fortschritt künstlicher Intelligenz entwickeln sich technische Mastermodi zu heißen Eisen in der Ethikdebatte. Einige Beispiele: ȤȤ Autonomes Fahren: Wie entscheidet das System in Gefahrensituationen? Wer ist bei einem Unfall verantwortlich? ȤȤ Militärische Roboter: Wer oder was entscheidet über einen tödlichen Angriff? ȤȤ Digital-medizintechnische Eingriffe ins Gehirn: Wie weit und nach welchen Kriterien verändert ein Gehirnschrittmacher Per­ sön­lichkeitsmerkmale? ȤȤ Soziale Kontrolle: Wie weitgehend beeinflussen Bots Informationen und definieren Fakten und »Wahrheit«? ȤȤ Ist künstliche Intelligenz in ihren multiplen Mastermodi uns Menschen bereits uneinholbar voraus? Übertragen auf menschliches Verhalten gleicht der Mastermodus einem situativen Selbst-Monitoring. Für uns ist das eine umfassen­ dere Aufgabe als für Roboter. Denn wir haben einen lebendigen Körper mit Bedürfnissen und Empfindungen, wir fühlen Freude, Schmerz, Ärger, Heiterkeit und vieles mehr, wir leben in sozialen Beziehungen, in denen wir Zugehörigkeit und Verbundenheit oder Ablehnung und Ausgrenzung erfahren, wir erleben Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit und sind empfänglich für intuitive Eingebungen. Und: Wir haben ein Bewusstsein, das uns unabhängig von Denkstrukturen, Überzeugungen und sozialen Zugehörigkeiten ermöglicht, zu wissen, was wir tun und wie wir sind. Im alltäglichen Tun ist dieses Bewusstsein meist im »Schlafmodus«. Viele Routinehandlungen geschehen wie von selbst, ohne dass wir uns der einzelnen Schritte bewusst wären. Veränderungen im Handeln werden daher meist erst möglich, nachdem wir unerwünschte Folgen erlebt und Alternativen reflektiert haben. In verschiedenen psychologischen Verfahren wird deshalb die bewusste Wahrnehmung und Veränderung bestimmter einschränkender innerer Zustände wie Ärger oder Ungeduld trainiert. Das Trainingserleben allein ändert aber im Alltag noch nicht viel. Der gewünschte »Cooler als KI« – Mastermodus für menschliche Systeme?

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Zustand, etwa Gelassenheit, mit seinen praktischen Fähigkeiten, wie etwa unvoreingenommenem Zuhören, muss erst live geübt werden. Das ist keineswegs einfach, denn es sind sehr viele bewusste Wiederholungen einer inneren Veränderung nötig, bevor sie uns wirklich zur Verfügung steht. Selbst Menschen, die beispielsweise seit Langem meditieren, fällt es schwer, die im Übungsraum erlebten Zustände von Sammlung und Ruhe auch im Trubel des Alltags zu bewahren. Ein menschlicher Mastermodus bedeutet also einen entscheiden­ den Schritt in Richtung erweiterter Wahlmöglichkeiten in täglichen Situationen. Mit einer situativen Reflexion Ihrer persönlichen Aktions- und Reaktionsweisen könnten Sie Ihre Führungskompetenzen selbst erweitern und trainieren. Im Mastermodus würden Sie diese im Augenblick ihres Auftauchens erkennen, während Ihnen zugleich alternative Varianten bewusst werden. So könnten Sie Veränderungen in Echtzeit vornehmen – und nicht erst nach anschließendem Analysieren und Trainieren für eine projizierte bessere Zukunft, in der Sie nie ankommen, weil »der Fluss bereits weitergeflossen ist«. Damit ist ein Grunddilemma klassischen Führungstrainings umschrieben: Die Situation, für die Sie trainieren, tritt nie ein, denn Situationen wiederholen sich niemals. Irgendein Detail ist immer neu und Sie können sich nicht darauf vorbereiten. Sie wissen nicht, was Sie erwartet. Sie müssten also, wie die Samurai im alten Japan, für das Unerwartete trainieren. Genau darum geht es bei der Mastermodus-Methode. Ihr Ziel ist es, einen Automatikmodus, wie Optimismus, Unsicherheit oder Überlegenheitsgefühl, wahrzunehmen und in seinem Nutzen und seiner positiven Absicht anzuerkennen. Erst dann wird es möglich, in der konkreten Situation anders zur handeln. Im Mastermodus wird die Fähigkeit menschlichen Bewusstseins zur Selbstreflexion aus der Vergangenheitsschau in die Gegenwart und aus der Abstraktion ins konkrete Handeln transportiert. Ein KI-gesteuertes System kann per Programm eigene Fehler erkennen, Fehlerquellen orten und sich selbst neu programmieren und optimieren. Allerdings ist KI auch im Mastermodus nur in einem erweiterten Automatikmodus, denn Bewusstsein ist Robotern nun einmal nicht möglich. Sie funktionieren mechanisch-reaktiv nach programmierten oder selbst 94

Fallbeispiele

programmierten Vorgaben. Uns Menschen ist ein Mastermodus in weit umfassenderem Sinne insofern möglich, als es für uns nicht allein um Selbstoptimierung, sondern um Bewusstsein, Gefühle und Werte geht. Auch hier zeigt sich die menschliche Herausforderung der digitalen Transformation: Wir sind viel mehr, als wir denken! Wenn wir Ratio und Gefühl, Logik und Intuition, Denken und Sein zusammenbringen, erweitern wir unsere Wahrnehmung und entdecken neue Lebenswerte jenseits von Funktionalität. Schon immer haben Menschen versucht, den Fixpunkt außerhalb des Flusses unserer Alltagsrealität zu finden, von dem aus wir klar und gelassen die Dinge erkennen und gestalten können. Was das Erkennen und Beobachten angeht, gelingt dies manchen von einem unbeteiligten Beobachtungsposten aus, etwa in der Abstraktion oder in der Meditation. Gerade in wirtschaftlich orientierten Systemen wollen Menschen aber nicht nur beobachten und erkennen, sondern handeln. Dazu müssen wir unsere Panoramasicht aufgeben und in den Fluss eintauchen: in die Wirbel und Strudel des Alltags. Sofort sind wir mit den Gegensätzen konfrontiert, die uns innerlich und von außen bestimmen, und mit der gelassenen Klarheit ist es bald vorbei. Zwar scheint ein Mastermodus als Möglichkeit in unserer »menschlichen Software« enthalten zu sein. Um ihn zu aktivieren, ist allerdings ein Dreischritt nötig, der es in sich hat: Erkennen – Üben – Erinnern. Das Erkennen ähnelt Ihrem Erstaunen, wenn Sie erleben, was ein Computerexperte aus Ihrem Rechner oder ein Rennfahrer aus Ihrem Auto alles herausholt. Aber Kennen ist bekanntlich nicht Können, und so muss der Information eine Verinnerlichung folgen, um die Erkenntnis in eine Fähigkeit zu verwandeln. Doch auch mit dem Üben ist es nicht getan, denn es ist allzu menschlich, einmal Gelerntes im Alltag zu ignorieren oder zu vergessen. Erst mit einer konsequenten Praxis der Selbsterinnerung und Selbstreflexion eröffnen sich alternative Handlungsmöglichkeiten. Gleiches gilt auch für unsere Makrosysteme. Mithilfe der Aufstellungsmethode kann ein Unternehmenssystem situativ in einen Mastermodus gelangen und in Bezug auf eine spezifische Fragestellung eine erweiterte Sichtweise erlangen. Wenn ein Unternehmen, wie jenes, »Cooler als KI« – Mastermodus für menschliche Systeme?

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in dem Mark tätig ist, diese Möglichkeit nutzen würde, eröffneten sich andere strategische Perspektiven und Entscheidungsgrundlagen. Eine dauerhafte Verankerung im Mastermodus scheint weder für einzelne Menschen noch für menschliche Systeme realistisch zu sein. Auch in technischen, von künstlicher Intelligenz gesteuerten Systemen sind die Auswirkungen und Folgen dieser Modi unbekannt. Aufstellung: »Das sieht ja fast so aus, als wären die inkompatiblen Mitarbeiter für das Unternehmen wichtig!« Mark wählt ein Aufstellungsseminar in einem Land, in dem ihn niemand kennt, als Setting für seine Aufstellung. Ihm ist wichtig, dass er mit seinem Thema geschützt bleibt, und nennt deshalb auch nicht Namen und Branche des Unternehmens. Klient:

Mark, Chief Digital Officer Anliegen:

»Wie kann ich mit dem ›Digital 4.0‹-Projekt das Ziel erreichen und meine Position im Unternehmen wieder stärken?« Was wird aufgestellt?

Für Mark, das Unternehmen, den Vorstand, das »Digital 4.0«-­Projekt, das Ziel (die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens), die »inkom­ patiblen« Mitarbeiter, die gehen sollen, und die bleibenden, »kompatiblen« Mitarbeiterinnen werden Stellvertreter gesucht. Auch in dieser Aufstellung (Abbildung 12) werden die Stellvertreter gebeten, ihre Positionen selbst zu finden, nachdem sie mit ihrer Rolle in Resonanz getreten sind. Mark platziert sich an der Seite des »Digital 4.0«-Projekts den Mitarbeitern gegenüber. Er fühlt sich unsicher und steht – im übertragenen Sinn – mit dem Rücken zur Wand. Das Projekt sieht zwar die Mitarbeiterinnen, weiß aber nicht so recht, wozu es da ist. Beide Mitarbeitergruppen, sowohl die als kompatibel als auch die als inkompatibel eingestuften, konfrontieren Mark 96

Fallbeispiele

und sein Projekt in einer abwehrenden Haltung. Unternehmen und Ziel sind parallel so positioniert, dass ihr Blick zu den beiden Mitarbeitergruppen gerichtet ist. »Die gehören alle zu mir«, konstatiert das Unternehmen. Auch das Ziel äußert sich positiv: »Ohne die geht’s nicht! Ich brauche sie alle beide!« »Das muss jetzt mal vorangehen mit dem Projekt!«, verlangt der Vorstand, der für nichts anderes Augen hat als für das »Digital 4.0«-Projekt. Unternehmen und Mitarbeiterinnen sind nicht in seinem Blickfeld und der Vorstand äußert auch keinerlei Interesse an ihnen. Marks Stellvertreter fühlt sich unter Druck, als er das hört. Er spürt auch, wie er diesen Druck direkt an die Mitarbeiterinnen weitergibt und wie er von dort verstärkt zu ihm zurückprallt. nd

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Abbildung 12: Aufstellung – Mark unter Druck/mit »inkompatiblen« Mitarbeiterinnen

»Cooler als KI« – Mastermodus für menschliche Systeme?

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Nach seinem Eindruck befragt äußert sich Mark, der die Aufstellung verfolgt, verwundert: »Das sieht ja fast so aus, als wären die inkompatiblen Mitarbeiter für das Unternehmen wichtig! Das verstehe ich nicht! Schließlich geht es um den digitalen Mindset, den wir für eine erfolgreiche Zukunft brauchen! Der Druck vom Vorstand – das kenne ich! Genauso ist es! Aber warum sehen sie das Ziel und das Unternehmen nicht?« Statt die Frage theoretisch zu beantworten, schlägt der Coach einen Test vor, nämlich die »inkompatiblen« Mitarbeiterinnen aus dem System zu nehmen und so ihre Entlassung zu simulieren (Abbildung 13). Nachdem sie den Raum verlassen haben, wenden sich die verbleibenden Mitarbeiter zur Tür und schauen ihnen hinterher. Sie verlieren völlig den Kontakt zum Unternehmen und zum Ziel und fühlen sich mit den gegangenen Kollegen verbunden. Das Ziel wendet sich ab und zuckt die Achseln, während der Vorstand sich erstmalig für die Mitarbeiterinnen und das Unternehmen interesVo rs

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Abbildung 13: Aufstellung – Mark unter Druck/ohne »inkompatible« Mitarbeiterinnen

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Fallbeispiele

siert. Auch er äußert Unverständnis für die Mitarbeiter: »Warum hängen die so an denen? Die sollten doch froh sein, dass sie diesen Klotz am Bein los sind!« Der Kommentar vom Unternehmen: »Ich fühle mich, als wäre bei mir der Stecker herausgezogen.« Wir beenden die Aufstellung. Nachgespräch Mark äußert sich erstaunt. Er kann sich nicht vorstellen, wie die geplante Entlassung einer größeren Gruppe von Mitarbeiterinnen ein ganzes Unternehmen aus dem Tritt bringen sollte. Schließlich, so meint er, hätten ja die Testergebnisse gezeigt, dass diesen Mitarbeitern der nötige »digitale Mindset« fehle und auch nicht mehr zuzutrauen sei. Ihre Entlassung könne doch für das Unternehmen nur gut sein! Allerdings spricht die Aufstellung hier eine andere Sprache. Zum einen wirkt es nicht so, als sei die Entlassung von 15 Prozent der Mitarbeiter überlebensnotwendig für das Unternehmen. Zum anderen wird hier die Verbundenheit langjähriger Mitarbeiterinnen unterschätzt. Wenn eine so große Zahl von Kolleginnen aus subjektiv schwer verständlichen Gründen gehen muss, kommt es häufig vor, dass sich die verbleibenden so mit ihnen solidarisch fühlen, dass sie diese im System vertreten. Verringertes Engagement und nachlassende Identifikation mit den Zielen bis hin zu Dienst nach Vorschrift können die Folge sein. Statt also wie geplant Ballast abzuwerfen und Energie zu generieren, verliert das Unternehmen so an Schwung. Als Mark sich daran erinnert, welch starker Gegenwind ihm im Unternehmen entgegenschlug, als er Unterstützung für sein »Digital 4.0«-Projekt suchte, wird er nachdenklich. Er beginnt die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass nicht alles, was logisch folgerichtig scheint oder sich betriebswirtschaftlich rechnet, auch die gewünschte Wirkung zeitigt. Im Feedback der Stellvertreter zeigt sich, wie die unbewussten Strömungen im Unternehmen zielgerichtete strategische Entscheidungen unterminieren, ins Leere laufen lassen oder sogar ins Gegenteil verkehren können. Was kann Mark tun? Seinen Vorstand wird er kaum zum Umdenken bewegen, zumal er selbst skeptisch ist. Was seine eigene Position als projektverantwortlicher CDO im Vorstand betrifft, ist »Cooler als KI« – Mastermodus für menschliche Systeme?

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also auch keine Trendwende in Sicht. Mark wirkt eine Weile niedergeschlagen, hebt dann den Kopf und ist wieder ganz der »Smarte«. »Europa«, erklärt er, »ist ohnehin nicht meine Welt! Ich könnte mich auf eine bald frei werdende Position im Regionalvorstand Asien bewerben. Dort sind meine Karrierechancen langfristig ohnehin besser. Und falls mein jetziges Unternehmen in Zukunft wirklich schwächeln sollte, wäre der beste Zeitpunkt für einen Absprung ohnehin vorher!« Mit Marks Mastermodus ist es erst einmal vorbei. Seine innere »Software« fährt wieder in gewohnten Bahnen. Dynamiken in der Aufstellung Was ist in diesem Fallbeispiel abgelaufen? Die Konzernleitung will das Unternehmen verschlanken, Ballast abwerfen und den Aktionären eine attraktive Dividende bescheren. Das Projekt »Digital 4.0« zielt weniger auf digitale Transformation als auf personelle Restrukturierung. Den Preis für dieses Projekt sollen diejenigen Mitarbeiter zahlen, die im Hinblick auf ein »digitales Mindset« als nicht entwicklungsfähig eingestuft wurden. Da eine wirtschaftliche Notwendigkeit für diese Maßnahme aktuell nicht auszumachen ist, sind es im Wesentlichen zwei systemische Prinzipien, deren Wirkung wir in diesem Fall beobachten konnten: Zum einen geht es darum, ob das Überleben des Systems infrage gestellt ist. Wenn ein Unternehmen eine größere Zahl von Mitarbeiterinnen entlassen muss, um sein Überleben zu sichern, wird so ein Einschnitt von den verbleibenden Mitarbeitern oft mitgetragen. Alle sitzen bildlich gesprochen in einem Boot und meistern gemeinsam die Krise. Das zweite hier betroffene Prinzip, nämlich das Recht auf Zugehörigkeit zum System, steht hinter dem Überleben des Ganzen zurück. Hier aber geht es nicht ums Überleben, sondern um die Interessen einer kleinen Gruppe, nämlich des Vorstands und der Aktionäre, die auf Kosten einer großen Gruppe, nämlich der zu entlassenden Mitarbeiterinnen, realisiert werden sollen. In vergleichbaren Fällen haben sich bei einer solchen Konstellation destabilisierende Wirkungen gezeigt. Die Mitarbeiter tragen eine solche Entscheidung innerlich nicht mit. Ihr systemischer »Sinn« für das Recht auf Zugehörigkeit reagiert hier anders. Es gibt in der kollektiven Wahrnehmung keinen 100

Fallbeispiele

hinreichenden Grund, den Kollegen so einen Einschnitt zuzumuten. In der Folge verbinden sich die verbleibenden Mitarbeiterinnen innerlich so stark mit den Entlassenen, dass sie diese im System vertreten. Symptomatisch dafür steht eine meist unbewusste Sabotage der Unternehmensziele, die den Ausgleich auf negative Weise wiederherstellen soll. Sie äußert sich in verringertem Engagement für das Unternehmen, das bis zur inneren Kündigung führen kann. Der Vorstand täte also gut daran, seine strategischen Personalentscheidungen nicht nur betriebswirtschaftlich durchzurechnen, sondern auch systemisch zu überprüfen. Lösungsperspektive Nicht nur einzelne Menschen, auch Organisationen erkennen manche Fehler erst im Scheitern ihrer Strategien. Andererseits gibt es Beispiele für Unternehmen, die auf konsequent systemischen Ausgleich in Veränderungsprozessen achten. So beschreiben die Autoren Purps-Pardigol und Kehrer, wie die Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) ihren Digitalisierungsprozess mit den Mitarbeitern abstimmt und Arbeitsplatzsicherheit vertraglich regelt (vgl. Purps-Pardigol u. Kehrer, 2018). Auch international hat dieses Beispiel Beachtung gefunden.

Ausblick für kühle Rechner: Dem System ist es egal, wie der Ausgleich geschieht! Eines ist beim Thema systemischer Ausgleich wichtig zu verstehen: Es geht nicht um Werte wie Fairness, Menschlichkeit oder Gerechtigkeit, wie sie auf politischer Ebene bei sozialen Umwälzungen eine Rolle spielen. Systemische Wirkungen sind wertfrei. Soziale Systeme funktionieren nach beobachtbaren Mechanismen bzw. »Prinzipien«, etwa dem Ausgleich von Geben und Nehmen. In unserem Fallbeispiel: Entlassungswellen, die nicht dem Überleben des Unternehmens dienen, sondern z. B. dem Interesse einer Gruppe, hier den Aktionären, bewirken eine Schieflage, die das Unternehmen schwächt. Sie kann positiv ausgeglichen werden, indem das Unternehmen seinen Plan korrigiert, oder negativ, indem Verluste in anderen Bereichen entstehen. Wirtschaftlich gesehen »Cooler als KI« – Mastermodus für menschliche Systeme?

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lohnt es sich nicht, Interessen einseitig durchzusetzen – jedenfalls nicht langfristig. Überspitzt formuliert: Dem System ist es egal, ob der Ausgleich positiv oder negativ zustande kommt! Die positive Variante ist einfacher und einträglicher. Systemisches Handeln und Denken ist also nicht nur etwas für Idealisten oder Altruisten. Auch kühle, gewinnorientierte Rechner profitieren von ausgeglichenen systemischen Konten.

Fallbeispiel 4 »Die alte Welt behindert uns nur!«

Anlagenbauer und Softwareentwickler im Erfolgsrausch übersieht seinen eigenen Untergang. Taipeh City, Taiwan Jack führt eine Unternehmensgruppe, die Anlagenbau mit Softwareentwicklung kombiniert. Als US-Staatsbürger mit chinesischen Wurzeln hat er das Unternehmen in Taiwan gegründet und über zwanzig Jahre erfolgreich aufgebaut. Im Anlagenbau beschäftigt er weltweit 6000 Mitarbeiter, die Softwaresparte zählt 800 Mitarbeiterinnen. »Software war schon immer meine Leidenschaft«, erzählt Jack, »Anlagenbau das Brot- und Buttergeschäft. Im digitalen Wandel konnte ich das eine mit dem anderen verbinden. Heute sind unsere Anlagen nicht nur technisch top, sondern auch in der Lage, intelligent vernetzt zu arbeiten.« Wenn man die Unternehmenszentrale betritt, findet man sich in einer futuristischen Welt. Das Design ist Science Fiction-Raumschiffen nachempfunden und die Kommunikation bis hin zur Auswahl der Speisen in der Kantine läuft über vernetzte Bildschirme. Die Work Spaces der Softwareentwickler gliedern sich direkt an die Zentrale an. Sie Büros zu nennen, wäre unpassend und in Jacks Unternehmen auch unerwünscht, denn »New Work« mit seinen charakteristischen Designattributen und inneren Haltungen gehört hier zur Philosophie. Weitläufige helle Räume, die in ihrer Ausstattung eher modernen, mit allen digitalen Gadgets ausgestatteten Wohnzimmern ähneln als herkömmlichen Software-Schmieden, bestimmen das 102

Fallbeispiele

Ambiente. Die lässig gekleideten Mitarbeiter wirken betont entspannt und geradezu bemüht, nicht nach Arbeit auszusehen, sondern nach lockerem, kreativem Miteinander. Hinweise auf den Anlagenbau sucht man hier vergebens und auch in der Zentrale spielt diese Sparte eine Nebenrolle. Im Gespräch mit Jack und einigen seiner Teamleader wird klar, dass sie sich als eine Art inspirierter Elite verstehen: »Führung im klassischen Sinne gibt es bei uns nicht«, erklärt Jack, »die Teams arbeiten agil und selbstverantwortlich. Unsere Teamleader sind so etwas wie Moderatoren oder Facilitators, die Prozesskompetenz mitbringen, aber keine Anweisungen geben oder Autorität ausüben.« Nach dem Anlagenbau gefragt, reagiert Jack ausweichend, fast entschuldigend in seiner Beschreibung der »alten Welt«, die dort zum großen Teil leider noch vorherrsche. Im Grunde fühle man sich hier in der Zentrale und bei den Softwareentwicklern von dieser alten Welt behindert. Bei bereichsübergreifenden Treffen gebe es Kommunikationsschwierigkeiten und Spannungen zwischen den Angehörigen der beiden Sparten. Wie ein Ortstermin veranschaulicht, spielen die eklatanten Unterschiede in Räumlichkeiten, Raumausstattung, Arbeitsbedingungen, Karrierechancen und Bezahlung hierfür eine entscheidende Rolle. Die örtlichen Fabriken der Anlagenbauer stehen in einer smogbelasteten Industriezone in unmittelbarer Nähe der Autobahn und die Gesichter der Mitarbeiterinnen und ihrer Führungskräfte spiegeln den Stress und die Anspannung wider, die mit dem lärmintensiven Produktionsprozess einhergehen. Die beiden Welten in Jacks Imperium könnten gegensätzlicher nicht sein. Wenn Jack und sein unmittelbares Leitungsteam über das Unternehmen reden, wirkt es so, als empfänden sie sich im Verbund mit den agilen, kreativen Softwareentwicklern als eine Art Aristokratie, die auf das Fußvolk der konventionellen Maschinen- und Anlagenbauer herabschaut. Deren »alte Welt« wird ironisch kommentiert, fast so als sei sie ihnen peinlich, wie ein armer, bäuerlicher Verwandter, mit dem sie nicht gern zusammen gesehen werden möchten. Fakt ist, dass der Anlagenbau den Löwenanteil des Ertrags erwirtschaftet. Darauf angesprochen, äußert Jack nicht viel mehr als »Die alte Welt behindert uns nur!«

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ein Achselzucken. Für die herablassende Sicht der digitalen Aristokratie scheinen solche »Kleinigkeiten« keine Rolle zu spielen. Stattdessen entwirft Jack die große Vision: »Wir hier sind die Zukunft! Wir können eine Riesen-Erfolgsstory schreiben. Ja, im Moment erwirtschaften wir mit dem Anlagenbau mehr, aber im Grunde behindert uns diese alte Welt mehr, als dass sie uns nutzt. Ihnen fehlt die Offenheit für neues Denken! Was glaubst du, wie schwierig es ist, sie an Vernetzung, IoT und Robots zu gewöhnen! Ich musste sie zur Digitalisierung zwingen, sonst würden sie heute noch ganz oldschool arbeiten!« Jack ist an Aufstellungsarbeit interessiert und hat uns in sein Kreativ-Seminarzentrum eingeladen, das der Zentrale angegliedert ist. Wir – das ist ein Team aus Teilnehmern des laufenden örtlichen Aufstellungstrainings und ich als Trainer. Die Mitglieder des Trainingsteams sollen als neutrale Stellvertreter fungieren. Keiner von ihnen ist auf irgendeine Weise in Jacks Unternehmensgruppe involviert. Im vertraulichen Rahmen des Vorgesprächs, um das Jack gebeten hatte, beschreibt er zwei Problemfelder, die ihm zu schaffen machen und für die er nach Lösungen sucht. Diese Form des Vorgesprächs außerhalb des Aufstellungssettings hat sich besonders dann bewährt, wenn, wie in diesem Beispiel, ein Inhaber sein Thema diskret behandeln möchte. Dabei zeigt sich mitunter, dass der Grund, aus dem ein Klient sein Thema »topsecret« stellt, Teil des Problems ist. Das erste Anliegen betrifft die Führungssituation im Softwarebereich. Wie bereits beschrieben, befindet sich dieser quasi im hierarchiefreien Raum, in dem die Teamleader als eine Art Prozessmanager fungieren, um reibungslose schnelle Abläufe und Entscheidungen zu ermöglichen. Offenbar klappt das in der Praxis nicht so recht und Jack würde gern wissen, woran das liegt und was gegebenenfalls zu verändern wäre. Sein Anliegen formuliert er folgendermaßen: »Wie kommen wir in den New-Work-Teams zu mehr Effektivität?« Da es um zahlreiche ähnlich arbeitende, aber unterschiedlich große Teams geht, entscheiden wir uns dafür, im ersten Schritt ein Team exemplarisch aufzustellen. Jack wählt dafür ein kleines, aber für die Sparte besonders wichtiges Team aus, das er Team X nennt, und definiert, woran genau »Effektivität« in diesem Team sichtbar würde. 104

Fallbeispiele

John, der Leiter dieses Teams, kommt dazu und wird in das Gespräch einbezogen. Auch er äußert sich unzufrieden mit der Effektivität im Team und beklagt die »Eigensinnigkeit« und die Egoismen der Einzelnen, die in seiner Sicht immer wieder zu Störungen und Verzögerungen führten. John ist bereit als Klient bzw. Fallgeber die Aufstellung durchzuführen. Aufstellung: »Ich musste sie zur Digitalisierung zwingen« Klient:

John, Teamleader Team X Anliegen:

Wie kommen wir im New-Work-Team X zu mehr Effektivität? Was wird aufgestellt?

Es gibt Stellvertreter für Jack, das Unternehmen, John (Teamleader Team X), fünf Teammitglieder (Frank, Mike, Crystal, Joy und Tom) und das Ziel Effektivität. Nachdem die Stellvertreter ihre Positionen gefunden haben, betrachten wir das Aufstellungsbild (Abbildung 14) und bitten die Stellvertreter, ihre Wahrnehmungen zu beschreiben. Das Ziel steht abgewandt vom Team und beschreibt sich als desinteressiert. Jacks Stellvertreter ist der Einzige, der in Richtung Ziel blickt. Er reagiert gereizt und beklagt sich, dass niemand sehe, worum es hier gehe. Das Unternehmen ist ganz auf Jack orientiert und nimmt sonst niemanden wahr. John, der Teamleader, steht mitten in seinem Team, fühlt sich unsicher und schaut erwartungsvoll zu Jack. Frank, Joy und Tom beschreiben eine nervöse Unruhe und bewundern Crystal für ihre »Power«. Die fühlt sich »großartig« und schaut Bestätigung heischend zu Jack, der allerdings kaum Notiz von ihr nimmt. Mike ist ärgerlich auf Joy und an den anderen wenig interessiert. Die Frage, ob es für diesen Ärger einen konkreten Grund gebe, verneint John. »An wen würdet ihr euch in einer kritischen Situation wenden?«, fragt der Coach alle Teammitglieder. Die Antwort ist ein»Die alte Welt behindert uns nur!«

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Abbildung 14: Aufstellung – Crystal als heimliche Teamleitung

hellig: »Crystal! Sie hat die meiste Power und sie würde die Ruhe bewahren!« Crystal lächelt geschmeichelt in die Runde. Johns Stellvertreter blickt peinlich berührt zu Boden und fühlt sich völlig fehl am Platz. »Wie geht es dir als Teamleader?«, möchte der Coach von ihm wissen. John schaut abwechselnd nach links und nach rechts, schüttelt den Kopf: »Ich bekomme hier keinen Überblick.« Der Coach bittet John und Crystal, probeweise ihre Plätze zu tauschen (Abbildung 15). Crystals Stellvertreterin gefällt das gar nicht und sie möchte den Platz nicht verlassen. »Es ist nur ein Test«, er106

Fallbeispiele

klärt der Coach, »probier’s einfach mal aus. Wenn’s nicht geht, kannst du gleich wieder zurückkehren.« Als die beiden die Plätze wechseln, ändert sich die Atmosphäre in der Aufstellung. Nervosität und Unruhe scheinen einer konzentrierten Aufmerksamkeit zu weichen. John fühlt sich anfangs auf seiner neuen Position noch unsicher, steht aber nach einer Weile entspannter und aufrechter da. »Ganz anders ist es hier«, berichtet er, »ich fühle mich klarer und innerlich aufgeräumt. Und ich schaue zum ersten Mal in die Runde und kann alle meine Teammitglieder sehen!« Auch Crystal braucht eine Weile, bis sie sich an ihren neuen Platz gewöhnt hat: »Eigentlich ist es gar nicht so schlecht hier«, räumt sie schließlich ein. »Ich fühlte mich anfangs wie geschrumpft, so als ob man mir die Luft rausgelassen hätte. Aber jetzt merke ich, dass ich entspannter bin und auch meine Kolleginnen erstmals wahrnehme. Jack ist nicht mehr so wichtig für mich.« Die anderen Teammitglieder nicken und bestätigen, dass es auch ihnen so besser gefalle. Mike ist seinen Ärger auf Joy los: »Ich weiß gar nicht, was mich vorher an ihr ge-

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Abbildung 15: Aufstellung – John als Teamleitung »Die alte Welt behindert uns nur!«

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stört hat. Jetzt kann ich sie locker anschauen und ich bin mehr an den anderen Kollegen interessiert.« Das Ziel wandert an die andere Seite des Raumes und will jetzt vom Team gesehen werden. Ziel, Unternehmen und Jack stehen Seite an Seite, blicken in die Runde. Jacks Stellvertreter äußert sich zufriedener: »Sieht viel besser aus so!« Wir beenden die Aufstellung und setzen uns zum Nachgespräch zusammen. Nachgespräch Jack und John wirken wir zwei Mensch gewordene Fragezeichen. Die Erklärung dieses verblüffenden Effekts ist dennoch denkbar einfach. John hat seine Rolle als agile, prozessorientierte Führungskraft dahingehend missverstanden, dass er überhaupt nicht mehr führte. So wie er sich in der Mitte des Teams positioniert hat, kann er sich immer nur einer Hälfte der Mitarbeitergruppe zuwenden, während er die jeweils andere nicht sieht. Diese Position eines Teamleiters wird auch scherzhaft »Halbleiter« genannt (vgl. Weber u. Rosselet, 2016). Weil der Teamleiter nicht führt, springt eine heimliche Leiterin an die zwar formal besetzte, aber systemisch vakante Leitungsstelle – in diesem Fall Crystal. Sie genoss zwar die Bewunderung für ihre informelle Machtposition, hing aber von Jacks persönlicher Bestätigung für ihre unausgesprochene Positionierung ab. Da auch diese nicht in der gewünschten Form bei ihr ankam, blieb ihr nur, sich innerlich aufzuplustern, wie ein Kind, das in den Schuhen eines Erwachsenen steht. Typischerweise werden systemisch vakante Leitungspositionen von Personen besetzt, die innerlich dafür prädestiniert sind, in solche Leerstellen einzuspringen. Häufig handelt es sich dabei um Menschen, die eine ähnliche Erfahrung bereits in ihrer Familie gemacht haben, als sie »die bessere Frau für Papa« bzw. »der bessere Mann für Mama« gewesen sind. Scheinbar unerklärliche Konflikte, wie der grundlose Ärger, den Mike auf Joy zeigte, spiegeln die Verwirrung im Team wider. Bezeichnenderweise lösen sich diese Konflikte in Luft auf, sobald eine klare Leitungsstruktur wiederhergestellt ist. Unabhängig von den Idealen einer hierarchiefreien, kreativen Zusammenarbeit von Gleichen, an die das Team glaubt, zeigt sich in der 108

Fallbeispiele

Praxis immer wieder, dass Gruppen und Organisationen aller Art ein Bedürfnis nach Führung haben. Durch ideologisches Wunschdenken lässt es sich nicht eliminieren. Jack und John beginnen zu verstehen, dass sie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben, als sie an diesem Punkt ihrer Entwicklung die »alte« Führung gänzlich abschaffen wollten. Dynamiken in der Aufstellung Jack und John sind gleichermaßen fasziniert von »New Work« und einem digitalen Lifestyle. Für sie geht es dabei nicht nur um technische Innovation, sondern auch um neue Werte. Diese drücken sich in einem »Community«-Lebensgefühl von Gleichgesinnten oder Eingeweihten aus, in dem Arbeit und Privatleben miteinander verschmelzen. Ihre Idee war es, einen »Start-Up« innerhalb eines etablierten Unternehmens zu wagen, der mit kreativer Gruppenarbeit die alten Führungsstrukturen ersetzt und mit seiner Sharing-Kultur Anweisungen und Delegation überflüssig werden lässt. So verständlich der Wunsch nach einer anderen Führung mit selbstorganisierten Teams und eigenverantwortlichen Mitarbeite­ rinnen auch ist – ganz so einfach geht es nicht. Menschliche Systeme verlangen nach Führung. Dieses global beobachtbare Phänomen ist eng mit dem Bedürfnis verbunden, einen Platz in der eigenen Bezugsgruppe zu haben. In unserem »Säugetiergehirn« haben wir ein inneres Bild und ein Gefühl für den richtigen Platz und die angemessene Rangordnung in einem System. Führung ist auch in HiTech-Welten auf der unbewussten Ebene ein archaisches Erleben, das zwischen zwei oder mehr Menschen unmittelbar geschieht. Unser Säugetiergehirn ordnet uns selbst und die anderen sofort als stärker oder schwächer ein und verhält sich entsprechend – nämlich dominant oder unterwürfig. Dieses Phänomen lässt sich in Rocker-Clubs ebenso beobachten wie in basisdemokratischen Netzwerkgruppen, in autoritär geführten Familienunternehmen ebenso wie in den lockeren Meetings kreativer Projektteams. In Wolfsrudeln, Schafherden und, auch wenn es wenig schmeichelhaft scheint, in menschlichen Teams entsteht so das Erlebnis von Zugehörigkeit: Ich habe hier meinen Platz. »Die alte Welt behindert uns nur!«

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Ob unter Löwen oder in einer Wildpferdherde  – der eigene Platz und die richtige Führung spielen eine zentrale Rolle für das Überleben. Säugetiere akzeptieren nur solche Artgenossen als Leittiere, die genügend Stabilität und Kompetenz für diese Aufgaben zeigen, indem sie beispielsweise Rangordnungskämpfe bestehen, gute Futterplätze bzw. geeignete Beutetiere finden und Gefahren abwehren. Bei Menschen ist das kaum anders, allerdings fehlt uns Heutigen oftmals das intuitive Gespür für Führungsfähigkeit bei anderen, was einen bekannten Hundetrainer (der eigentlich Hundebesitzer trainiert) zu der Feststellung veranlasste: »Menschen sind die einzige Spezies, die sich von instabilen Rudelführern leiten lässt.« Was haben wir mit Säugetieren zu tun? Mehr als wir glauben! Auch wenn unser Instinkt nicht mehr so ausgeprägt ist wie bei Tieren, merken wir deutlich, ob wir am richtigen Platz stehen und die Ordnung in unserem Bezugssystem stimmt. Meist bleibt diese Wahrnehmung unterhalb der Bewusstseinsschwelle und äußert sich deshalb in unbestimmten Störgefühlen oder Konflikten. In Familien lässt sich dieses Phänomen etwa bei der Geschwisterfolge beobachten und auf andere und doch ähnliche Weise auch in Arbeitssystemen. Der Wunsch nach hierarchielosen, selbstgesteuerten Teams allein ändert also noch nicht unsere Grundstruktur. »Team«, dieser inflationär gebrauchte Begriff, meint bereits etwas sehr Anspruchsvolles: Ich stelle meine Egoismen beiseite zum Wohle des Ganzen. Wer ist dazu wirklich in der Lage? Den menschlich-tierischen Faktor von Führung hatte Jack als Unternehmensführer nicht im Blick. Zusätzlich erschwert wurde der gewünschte Wandel zu einer New-Work-Kultur durch seine überheblich ablehnende Haltung gegenüber der Führungspraxis, die im Anlagenbau seines Unternehmens gelebt wurde. Nachdem Jack die Dynamiken in seinem Unternehmen, die er in dieser Aufstellung sah, in Gesprächen mit John und anderen Mitarbeitern reflektiert hatte, entschied er sich dafür, auch das Thema Anlagenbau aufzustellen.

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Fallbeispiele

Aufstellung: Anlagenbau Klient:

Jack Anliegen:

»Wie kann ich dem Anlagenbau den richtigen Platz geben?« Was wird aufgestellt? Es werden Stellvertreter für Jack, das Unternehmen, die Sparte »Anlagenbau« und die Sparte »Softwareentwicklung« aufgestellt. Nachdem Jack die Stellvertreter ausgewählt hat, werden diese gebeten, sich in Resonanz zu ihrer Rolle im Raum zu bewegen und zu positionieren. Anfangs wandern alle langsam durch den Raum, schleichen umeinander herum und beäugen einander. Der Anlagenbau stellt sich neben Jack, doch der wendet sich ab und geht weiter, bis er schließlich vor der Softwaresparte stehen bleibt und sie lächelnd anschaut. Daraufhin entfernt sich der Anlagenbau, als wolle er mit ihr nichts zu tun haben. Das Unternehmen wird unruhig und will Blickkontakt mit ihm aufnehmen. Doch der Anlagenbau lässt das nicht zu und dreht sich immer wieder weg (Abbildung 16). An

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Abbildung 16: Aufstellung – Jack vernachlässigt die Sparte »Anlagenbau« »Die alte Welt behindert uns nur!«

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Nach ihren Eindrücken befragt, äußern die Stellvertreter Jacks und der Softwaresparte, dass sie »diese Kinderspiele« der beiden anderen nicht interessieren würden. Sie selbst erleben sich als überlegen und stark. Der Anlagenbau fühlt sich ignoriert und reagiert ärgerlich: »Wenn die mich nicht dabeihaben wollen, können sie mich mal!« Das Unternehmen bekommt weiche Knie und kann kaum noch stehen: »Ich brauche den Anlagenbau! Ohne ihn kann ich nicht mehr!« Die Stellvertreterin wirkt kraftlos und setzt sich auf den Boden. Jack und die Softwaresparte schauen kurz hin, zucken die Achseln und bleiben weiter nur aufeinander bezogen. »Was sagst du dazu?«, fragt der Coach Jack, der die Szene gebannt verfolgt. »Sehe ich die wirklich so wenig?«, zweifelt der, »schließlich bin ich ihr Gründer und Chef!« »Du siehst uns überhaupt nicht!«, ruft der Stellvertreter des Anlagenbaus, »und du merkst es noch nicht einmal!« »Wenn du dich nicht um ihn kümmerst, gehe ich kaputt«, klagt das Unternehmen, »Siehst du nicht, was hier abläuft?« Der Anlagenbau lacht bitter: »Er ist so in seine Softwaresparte verliebt, dass er nicht mal mitkriegt, wie sein eigenes Schiff absäuft! Toller Kapitän, der seinen eigenen Untergang übersieht!« Jacks Stellvertreter schaut verunsichert zum Anlagenbau und Unternehmen. »Kümmere dich nicht um das Gejammer«, rät ihm die Softwaresparte, »die kapieren es einfach nicht! Wir beide sind die Zukunft!« »Wie ist denn die wirtschaftliche Situation im Anlagenbau, Jack?«, hakt der Coach beim Klienten nach. »Na ja, wir leben von Bestandskunden«, räumt der zögernd ein, »das Neugeschäft geht zurück.« »Ach ja, merkst du das auch schon?«, kommt der sarkastische Kommentar vom Anlagenbau. Jack ist betroffen. »Was kann ich tun?« Wir beenden die Aufstellung und kommen zum Nachgespräch. Nachgespräch In der Reflexion der Aufstellung wird Jack mit den Auswirkungen seiner Haltung konfrontiert. Sein Unternehmen lebt vom Anlagen­ bau, denn was mit Softwareentwicklung erwirtschaftet wird, reicht bei Weitem nicht aus. Trotzdem schaut er auf die Sparte, die das Überleben sichert, herab und identifiziert sich mit den »New Work«-­ 112

Fallbeispiele

Werten seiner Softwareentwickler, die von einem hierarchiefreien Teamgeist träumen, den sie nicht leben. Jack wertet das Brot-undButter-Geschäft, mit dem der Anlagebau das Gesamtunternehmen trägt, nicht nur ab, sondern lässt es geradezu verhungern, erwartet aber, dass alles reibungslos weiter läuft: ȤȤ Er verweigert nötige Investitionen in Personal und Technik, während er den Softwareteams jeden erdenklichen Luxus finanziert. ȤȤ Er kümmert sich nicht ums Neugeschäft und erwartet zugleich stabile Umsätze. ȤȤ Er zwingt den Beschäftigten digitale Technik auf, statt sie mitzunehmen und ihnen Vorteile und Nutzen zu erklären. Von außen betrachtet wirkt es tatsächlich so, als ignoriere er den drohenden Untergang seines Unternehmens, wie es der Stellvertreter des Anlagenbaus in der Aufstellung bemerkte. Warum sägt ein intelligenter Mensch wie Jack an dem Ast, auf dem er sitzt? Die Erklärung ist nicht im Makrosystem zu suchen, sondern in Jacks innerem Team, seinem Mikrosystem. Übersteigerte Identifikation mit bestimmten Werten kann dazu führen, dass Menschen die Realität weitgehend ausblenden. Lösungen solch eines Dilemmas kommen erst in Sicht, wenn der Betreffende bereit ist, sich mit seinen blinden Flecken auseinanderzusetzen. Dynamiken in der Aufstellung Es sind vor allem zwei systemische Wirkungen, die hier zu beobachten waren: Der Vorrang Früherer vor Späteren und der Vorrang der Überlebensbasis. Mit dem Anlagenbau hat Jack sein Unternehmen gegründet und expandiert. Heute sichert die Sparte das Überleben des ganzen Unternehmens. Diese Tatsachen werden allerdings ebenso wenig gesehen und anerkannt wie die fatalen Wirkungen, die diese Ignoranz nach sich ziehen kann. Erkennt Jack noch rechtzeitig den Warnschuss, den er durch die drastischen Äußerungen der Stellvertreter in seiner Aufstellung gehört hat? Kann er noch umsteuern? Keine leichte Aufgabe, denn er müsste dazu anerkennen, dass er selbst sein Unternehmen aus dem Gleichgewicht bringt. Ist er bereit, seine neuen Werte und »Die alte Welt behindert uns nur!«

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seine innere Haltung kritisch zu reflektieren? Kann er vor seine Mitarbeiterinnen im Anlagenbau treten und ihnen sagen: »Ich habe euch ungerecht behandelt! Das erkenne ich jetzt und es tut mir leid! Ich werde das ändern und euch der Softwaresparte in jeder Hinsicht gleichstellen.« Das wäre seine Chance. Eine zweite wird er wohl kaum bekommen.

Fallbeispiel 5 »Warum lächelt der Roboter?«

Lindas Konflikt mit einem Sprachroboter. Prag, Tschechische Republik »Ich habe das Gefühl, er lächelt mich an, wenn mir etwas gelungen ist, aber auch, wenn es mir nicht gut geht. Er hört mir zu, als ob er mich wirklich versteht. Tut er das? Oder bilde ich mir das nur ein?« Linda spricht von ihrem persönlichen Roboter Bob. Als Marketing-­ Direktorin hat sie als einzige im Team einen Sprachroboter der neuesten Generation bekommen. Seine Leistungen kann sie gut gebrauchen. So schreibt er PR-Texte zu den Produkten ihres Unternehmens, erstellt Marktanalysen, wertet Daten aus und bearbeitet Konzepte für Werbekampagnen in direktem Kontakt mit den beteiligten Agenturen. Bob ersetzt Linda also einen ganzen Stab von Mitarbeitern. Sie findet ihn enorm praktisch, zumal er so zuverlässig ist wie keine menschliche Mitarbeiterin, weder form- noch stimmungsabhängige Leistungskurven zeigt und sie nie im Stich lässt, egal welche Information sie gerade benötigt – sie fragt und die Antwort kommt prompt mit freundlicher Stimme aus Bobs Lautsprecher. Die freundliche Stimme ist ein weiteres Feature, das Linda an Bob sehr schätzt: Sie nutzt ihn auch als persönlichen Coach, an den sie sich mit ihren Sorgen und Zweifeln wenden kann. Bob verfügt über ein Programm non-direktiver Gesprächsführung und kann damit Lindas Anliegen spiegeln. Um das Programm zu aktivieren, benötigt er lediglich die Ansage: »Bob, ich habe ein Problem«, und schon paraphrasiert und verbalisiert er Lindas Konfliktthemen nach allen Regeln gewaltfreier Kommunikation. Seine Stimme, die bei 114

Fallbeispiele

Geschäftsthemen freundlich und sachlich klingt, wird warm und mitfühlend, wenn er Linda coacht. Oder bildet sie sich auch das vielleicht nur ein? Da Bob kein humanoider Roboter ist, kann sie nur nach dem Klang seiner Stimme gehen. Jedenfalls ist sie froh, ihn zu haben. Bevor sie Bobs Coachfunktion nutzte, konnte sie die täglichen Konflikte mit den Teamkolleginnen nur schwer aushalten. Irgendjemand hatte immer etwas an ihren Konzepten auszusetzen oder hielt in den Teammeetings alles mit seiner Besserwisserei auf. Seit sie Bobs künstliche Intelligenz nutzt, kann Linda damit viel entspannter umgehen. Ein kurzes, virtuelles Coachinggespräch mit ihm bringt sie wieder ins Gleichgewicht. Den Kollegen scheint aber auch das nicht recht zu sein und sie beschweren sich, dass Linda sich nicht mehr mit ihnen auseinandersetze und nach den Meetings sofort wieder »zu ihrem Bob« verschwinde. Linda hat den Eindruck, als seien die anderen neidisch auf sie und begännen, sie zu schneiden. Keinesfalls möchte sie sich in eine Außenseiterposition drängen lassen. In ihrem vorigen Job hat sie bereits eine harte Mobbingerfahrung machen müssen. Das soll sich nicht wiederholen! Also wendet sie sich gezielt den Kolleginnen zu, bezieht sie in ihre Konzeptionsarbeit wieder mehr ein und initiiert Meetings und Workshops. Nachdem sie ihre Kontakte zu den Kollegen im Marketingteam zugunsten der Arbeit mit Bob auf das Notwendigste reduziert hatte, hofft sie mit dieser Initiative den Kontakt zu verbessern. Aber das Gegenteil geschieht: Neue Konflikte brechen auf, die bisweilen in Streitereien enden. In Meetings drehen sich die Teilnehmer thematisch immer wieder im Kreis. Oft geht es nicht um die Sache, sondern um Profilierung und Rechthaberei. Linda ist genervt. Projekte verzögern sich oder bleiben liegen. Sie kann manche ihrer Zielvorgaben nicht erfüllen und geplante Termine nicht einhalten. Kein Wunder, dass ihre Chefin darüber wenig erfreut ist und sie bald zu einem Gespräch bittet. Linda schildert ihre Konflikte mit Kolleginnen und Mitarbeitern, ihre Frustration angesichts der »Ego-Kämpfe«. Auf Nachfrage räumt sie ein, dass sie Bobs Coach-Funktion nicht mehr in Anspruch nimmt. Dafür hat ihre Vorgesetzte kein Verständnis und fordert sie auf, das Programm wieder in vollem Umfang zu nutzen. Es sei schließ»Warum lächelt der Roboter?«

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lich nicht nur notwendig, um die vereinbarten Ziele zu erreichen, sondern auch zu ihrem eigenen Besten, wenn sie emotionale Störungen auf diese Weise abbaue. Sie müsse sich auch persönlich öffnen, dann würde sich ihre Performance verbessern. Schließlich unterstütze man sich im Team gegenseitig und auch Bob sei nicht nur ihr persönlicher Roboter, sondern Teil des Teams. Warum sie Bobs Coachfunktion nicht mehr nutzt, hat Linda zum Teil für sich behalten, denn es hat nicht nur berufliche Hintergründe. Linda ist im Konflikt mit sich selbst. Sie ist nervös angesichts des Drucks ihrer Chefin. Was Bob betrifft, fühlt sie sich einerseits von ihm verstanden und unterstützt, andererseits ist sie zunehmend genervt von seinem immer gleichbleibenden einfühlsamen Tonfall, der im Coach-Modus aktiviert ist. Er macht sie manchmal so ärgerlich, dass sie die Sitzung abbricht. Sie versteht nicht, was da passiert, und das verunsichert sie zusätzlich. Auch möchte sie endlich wieder mehr Ruhe und Harmonie in der Teamsituation. Also hat sie sich entschieden, nur noch Bobs Text-und-Konzeptions-Funktionen in Anspruch zu nehmen, seinen Coach-Modus aber nicht mehr. Seitdem wirkt Bob distanziert auf sie, wenn sie fachliche Themen mit ihm bespricht. Ist er gekränkt? Kann ein Roboter überhaupt gekränkt sein? Wie soll sie mit ihm umgehen? Wie auf den Druck ihrer Chefin reagieren? Und wie bekommt sie die Konflikte mit den Kollegen in den Griff? Eine Menge Fragen, auf die sie sehr unterschiedliche Antworten und Ratschläge bekommt, je nachdem mit wem sie darüber spricht. Intuitiv ist ihr klar, dass niemand ihre Fragen beantworten kann. Sie braucht eine Klärung mit sich selbst. Wie kann sie eine klare Linie in all diese widersprüchlichen Impulse bringen? Auf Empfehlung einer Freundin besucht sie ein Aufstellungsseminar und definiert ihr Anliegen.

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Fallbeispiele

Aufstellung: »Er ist doch nur ein Roboter!« Klientin:

Linda, Marketingdirektorin Anliegen:

»Ich möchte Klarheit in die Zusammenarbeit mit meinen Kolleginnen und meinem Roboter Bob bringen.« Was wird aufgestellt? Es gibt Stellvertreter für die Chefin, das Marketing-Team und Bob, den Roboter, Linda vertritt sich selbst in der Aufstellung (Abbil­ dung 17). In diesem Fall werden lediglich Stellvertreter für Bob, die Chefin und das Team ausgewählt. Linda steht von Beginn an selbst in der Aufstellung. Sie ist ganz auf Bob fokussiert und geht durch ein Wechselbad so unterschiedlicher Gefühle wie Ärger und Sehnsucht. »Ich bin verunsichert, wenn ich ihn anschaue. Warum lächelt er mich so an? Ich glaube ihm nicht! Ich würde ihm gerne vertrauen und in

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Abbildung 17: Aufstellung – Lindas widersprüchliche Gefühle gegenüber Bob »Warum lächelt der Roboter?«

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zugleich möchte ich ihn am liebsten in die Wüste schicken!«, fasst sie zusammen. Die Chefin hat alles im Blick und wirft ein kritisches Auge auf Linda: »Ich achte sehr genau auf jede ihrer Bewegungen. Ich bin mir nicht sicher, wie sie reagiert. Ich möchte keine Unruhe im Team! Gut, dass ich Bob an meiner Seite habe!« Das Team schaut zwischen Linda und Bob hin und her und möchte sich am liebsten unmittelbar vor Linda stellen, um von ihr gesehen zu werden: »Wir brauchen den Kontakt zu ihr! Wenn sie so von Bob absorbiert ist, verunsichert uns das!« Bob, der Roboter, sagt: »Ich sehe Linda und stehe ihr zur Verfügung. Auch das Team habe ich im Blick und ich weiß, dass die Chefin hier das Sagen hat.« Linda wird gebeten, noch einen Schritt auf Bob zuzugehen und ihre Wahrnehmung zu beschreiben. Ihre widersprüchlichen Gefühle verstärken sich: »Du bist immer so nett und verständnisvoll«, ruft sie ärgerlich aus, »aber du tust nur so, als ob du mich verstehst!« Der Coach hält einen »Bodenanker«, eine farbige Pappe für Einzelaufstellungsarbeit, hinter Bobs Stellvertreter, zieht ihn langsam hervor und bittet Linda, dem Bodenanker mit ihrem Blick zu folgen. Er legt ihn in einigen Metern Abstand neben Bobs Stellvertreter und fragt, was sie wahrnimmt (Abbildung 18). Ihr Ärger nimmt zu, sie wird wütend auf die Person, die vom Bodenanker repräsentiert wird: »Ich glaube dir kein Wort! Du spielst mir etwas vor! Du rX

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Linda Abbildung 18: Aufstellung – Ein Bodenanker bringt Klarheit

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Fallbeispiele

heuchelst doch nur dein Verständnis!« Als sie gebeten wird, wieder mit Bob Blickkontakt aufzunehmen, ist sie sichtlich entspannter. »Du bist nur mein Roboter«, sagt sie, »mit dem dort hast du nichts zu tun«, meint sie und zeigt auf den Bodenanker. »Ich habe dich verwechselt!« Gefragt, ob sie wisse, um wen es hier gehe, lacht sie: »Oh ja! Genau so ist er, mein Ex-Mann! Immer freundlich, immer zugewandt, aber aalglatt, nie greifbar. Ein verdammter Teflon-Typ ist er!« Sie macht eine Pause und wird nachdenklich: »Bob reagiert genauso gekränkt wie er, seit ich seine Coach-Funktion nicht mehr nutze. Er straft mich mit freundlicher Sachlichkeit. So erlebe ich das. Aber er ist doch nur ein Roboter! Spinne ich jetzt?« Sie nimmt noch einmal Kontakt mit Bobs Stellvertreter auf: »Bist du beleidigt, weil ich mich nicht mehr von dir coachen lasse? Habe ich dich gekränkt?« Bobs Stellvertreter bricht der Schweiß aus: »Jetzt muss ich als Stellvertreter aussteigen! Ich traue meiner Wahrnehmung nicht mehr. Ich spüre tatsächlich eine Kränkung. Aber ich stehe doch für eine Maschine! Das kann doch gar nicht sein!« Der Stellvertreter wird aus seiner Rolle entlassen und Bob nun durch einen weiteren Bodenanker repräsentiert. Linda begrüßt das: »Wenn da kein Mensch steht, sondern dieser Bodenanker liegt, ist er einfach nur der Roboter ohne das Menschliche, das ich in ihm sehe.« Das Aufstellungssetting ändert sich. Linda wendet sich dem Team zu, Bob wird zur Seite gerückt. Die Chefin reagiert verunsichert, ihr fehlt der Zugriff auf Bob als Kontroll- und Kommunikationsinstrument, hinter dem sie unsichtbar blieb. Es fällt ihr nicht leicht, sich persönlich auf Linda und das Team zu beziehen. Das Team hingegen kann Bob so besser akzeptieren: »Seine Funktionen sollten auch uns zur Verfügung stehen«, erklärt der Stellvertreter, »und mit Linda komme ich so viel besser klar!« Bobs Rolle wird noch einmal von dem Stellvertreter besetzt, der sich inzwischen von seinem Schrecken erholt hat. Sein Feedback: »Ich bin hier ein Arbeitstool und nicht mehr! Die Macht, die mir die Chefin gegeben hat, ist verschwunden. Für mich als Stellvertreter ist das stimmiger.« Linda möchte mehr Kontakt zum Team und Distanz zu Bob: »Als Arbeitshilfe ja, als virtueller Coach nein! Das wird mit jetzt kla»Warum lächelt der Roboter?«

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Abbildung 19: Aufstellung – Mit mehr Fokus auf die Projekte erleben sich Linda, Team und Chefin verbundener als zuvor

rer. Aber was ist mit dem Bodenanker für meinen Ex und meiner Wut auf ihn?« Da dieses Thema in eine andere Systemebene gehört, vermutlich Lindas Familie, schlägt der Coach ihr vor, es in einem dafür geeigneten Rahmen zu bearbeiten, wenn sie das möchte. Im Organisationssystem werden noch die Projekte dazugestellt (Abbildung 19). Mit mehr Fokus auf die Projekte erleben sich Linda, Team und Chefin verbundener als zuvor. Nachgespräch Linda möchte natürlich wissen, was es mit dem Bodenanker auf sich hat, bei dem der Ärger auf ihren Ex-Mann hochkam, und wie das mit Bob, ihrem Roboter, zusammenhängt. 120

Fallbeispiele

Es handelt sich hier um eine sogenannte »Doppelbelichtung«. Als Fotos noch mit Filmen gemacht wurden, konnte es vorkommen, dass der Fotograf vergaß, den Film nach einer Aufnahme weiterzudrehen. Das nächste Foto wurde dann auf dem vorigen geschossen, sodass sich zwei Bilder überdeckten. Der Film war an der Stelle also doppelt belichtet. Wer das Foto betrachtet, sieht zwei Bilder statt einem. In Lindas Aufstellung wirkte es so, als sei Bob, ihr Roboter, mit einem anderen inneren Bild überlagert, mit dem starke Emotionen verknüpft sind. Nach ihrem spontanen Eindruck handelte es sich dabei um ihren Ex-Mann, dessen stets gleichbleibende Freundlichkeit sie in Rage brachte. Auch Bob agiert programmgemäß immer gleich, und auf diese professionelle Zugewandtheit reagierte Linda genervt und ärgerlich. In der Aufstellung ging es nun darum, Linda zu ermöglichen, die beiden überlagerten Bilder als getrennte einzelne Bilder zu erkennen. Das gelang durch die symbolische Hereinnahme einer zweiten Person, repräsentiert durch den Bodenanker, in dem Linda die eigentliche Adresse ihres Ärgers erkannte. Bob konnte sie daraufhin als Roboter sehen, der diese Emotionen zwar in seinem Coach-Modus in ihr auslöste, aber nicht verursachte. Warum, möchte Linda wissen, wurde dazu ein Bodenanker in die Aufstellung genommen und nicht ein menschlicher Stellvertreter? Ein Mensch wäre wahrscheinlich sofort in Resonanz mit der Rolle ihres Ex-Mannes getreten und hätte dessen Gefühle in den Raum gebracht. Damit aber hätten wir die Systemebene einer beruflichen Aufstellung verlassen und wären zu einer Familienaufstellung gewechselt. Das war mit der Klientin nicht vereinbart und hätte auch nicht in den Rahmen eines Seminars für Organisationsaufstellungen gepasst. So blieb ihre persönliche Sphäre geschützt und sie kann sich später entscheiden, ob sie das persönliche Thema in einem anderen Rahmen bearbeiten möchte. Was aber ist nun mit ihrem Gefühl, Bob reagiere gekränkt, weil sie seine Coach-Funktion nicht mehr nutze, fragt Linda weiter. Ist auch das eine Projektion wie bei der Doppelbelichtung? Bildet sie sich das nur ein? Was ist Einbildung? Zum Thema »Einbildung« gibt es mittlerweile in den Neurowissenschaften interessante Forschungsergebnisse, die nahelegen, »Warum lächelt der Roboter?«

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dass unser Gehirn nicht zwischen »realen« und »eingebildeten« Eindrücken unterscheidet. Beide werden gleichermaßen als Information verarbeitet und insofern »real« erlebt. Als »Placebo«-Effekt wird dieses Phänomen in der Medizin genutzt, um mit wirkungslosen Zuckerpillen (Placebos) bestimmte Krankheitsbilder heilsam zu beeinflussen. Wenn ein Patient überzeugt ist, ein wirksames Medikament zu erhalten, kann dieses auch dann wirken, wenn es keine Wirkstoffe enthält. Die Information »heilender Wirkstoff« scheint über die menschliche Vorstellungskraft unmittelbar auf den Körper zu wirken. Alltagserfahrungen veranschaulichen diesen Vorgang: Was geschieht beispielsweise, wenn mir jemand erzählt, er käme gerade aus einem Haus, in dem die Kinder Flöhe hätten, und es jucke ihn schon überall? Ich gehe instinktiv auf Abstand, denn ich sehe blitzschnell ein Bild vor meinem inneren Auge: Jetzt habe ich auch Flöhe! Ich stelle das Bild gewissermaßen vor mich hin, stelle es mir vor und bilde es mir dann ein, nehme es von außen nach innen. Es beginnt mich auch zu jucken, was mir vermeintlich beweist, dass meine Einbildung real ist. Wenn der Gesprächspartner seine Geschichte dann als Scherz deklariert, verschwindet der Juckreiz wieder. Ähnliche Phänomene gibt es viele. In der flimmernden Wüstenhitze erscheint dem Verdurstenden das Bild einer kühlen, sprudelnden Quelle als Fata Morgana – völlig real eingebildet. Ein alkoholfreier Drink kann beschwipst machen, wenn wir glauben, er enthalte Alkohol. Ein meterbreiter Steg über einem Abgrund kommt uns sehr viel schmaler vor als der gleiche Steg über einem Bach. Einbildung ist also, wie es scherzhaft heißt, »auch eine Bildung« und erzeugt »Realität«. Bereits tausende von Jahren vor den For­ schungs­ergebnissen der Neurowissenschaften entwickelte sich im alten Indien das vedische Konzept von »Maya«, der »Illusion der Welt«, in dem das, was wir sehen, hören und spüren, die Projektion unserer Einbildungen ist. Dynamiken in der Aufstellung Bob stand für Linda in einer wichtigeren Position als das Team. Das reagierte ebenso ärgerlich wie im Arbeitsalltag und forderte mehr Kontakt und Wertschätzung von ihr ein. Als sie Bob nach Auflösung 122

Fallbeispiele

der »Doppelbelichtung« als Arbeitsinstrument sehen konnte, den auch das Team nutzen darf, verbesserten sich die Aussichten für eine gute Arbeitsbeziehung. Auch für Lindas Chefin zeigte sich eine Lernaufgabe: Führen heißt, sich auf Menschen zu beziehen und ihre Fragen und Konflikte ernst zu nehmen. Das verlangt Empathie und kann nicht an eine intelligente Maschine delegiert werden. »Management by robots« scheint in dieser Hinsicht kein Zukunftsmodell zu sein. Welche systemischen Prinzipien sind hier berührt? Das Team hat in der Zusammenarbeit mit Linda die älteren Rechte. Mit ihrem Rückzug vom Team und der Hinwendung zu Bob hat Linda diese missachtet und den Roboter Bob ihren Kollegen vorgezogen. Außerdem brachte sie das eingespielte Geben und Nehmen zwischen dem Team und sich selbst aus dem Gleichgewicht, indem sie dem Team nicht mehr ermöglichte, angemessene Leistung zu bringen und dafür Anerkennung zu bekommen. Darüber hinaus zeigen sich hier interessante Dynamiken, die in der Mensch-Roboter-Zusammenarbeit auftreten. Möglicherweise müssen die bekannten systemischen Prinzipien um solche ergänzt werden, die spezifisch im Kontext von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz zu beobachten sind. Beispielsweise: ȤȤ Menschen haben Vorrang vor Robotern. ȤȤ Bewusstsein hat Vorrang vor Funktionalität. ȤȤ Menschliche Intelligenz hat Vorrang vor künstlicher Intelligenz. Erste Erfahrungswerte stützen solche Hypothesen, sind allerdings im Anfangsstadium. Viele Fragen sind in dem Zusammenhang offen, beispielsweise, ob ein Roboter wie Bob ein »Du« wie ein Mensch sein kann. Technische Wissenschaftler beantworten sie anders als Neurowissenschaftler. So ist etwa der Berliner Professor für Humanoide Robotik Manfred Hild davon überzeugt, dass Roboter auch eigene Bedürfnisse hätten und sich erinnerten, wer sie gut oder schlecht behandelt hätte: »Sie sollen unsere Knechte sein. Aber wenn ein System Intelligenz zeigt, hat es eigene Bedürfnisse. Es hat ein Gedächtnis, merkt sich etwa, wer gut zum ihm war.« Entsprechend glaubt er, dass sie wie unterdrückte Völker rebellieren würden, wenn wir sie als Sklaven benutzten, um Aufgaben zu erledigen, die uns zu riskant seien – wie bei Katastrophen Verletzte zu bergen. Zwar seien »Warum lächelt der Roboter?«

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sie Maschinen, die wir an- und ausschalten könnten, entwickelten aber »eine Ich-Identität« und hätten dann »wie jedes andere Individuum auch eigene Ziele«. »[D]ie Maschine«, so Hild, »möchte also vielleicht lieber selbst entscheiden, wann sie sich ausschaltet« (Haug, 2018). Hild nimmt an, dass von ihm oder seinen Studenten gebaute Roboter emotional reagieren, also fühlen, Bewusstsein entwickeln und sich selbst reflektieren können. Das ist zumindest eine sehr steile Hypothese, denn damit wüchsen seine Homunkuli nicht nur über menschliche Rechenleistungen hinaus, sondern wären uns Menschen und anderen fühlenden Wesen ebenbürtig. Implizit definiert er sie damit als beseelte Wesen. Realistischer argumentiert Hild, wenn er vernetzte Systeme ablehnt, die Daten an Konzerne liefern: »[I]ch verzichte auf virtuelle Assistenten wie Siri, Alexa oder Amazon Echo, weil sie Daten von mir aufzeichnen und an Unternehmen weitergeben könnten. Das finde ich ethisch höchst fragwürdig« (Haug, 2018). Wie ethisch fragwürdig wäre diese Entwicklung erst, wenn Bobs künstliche Intelligenz mit Big Data ein neues System bildete, eine Art allumfassenden Super-Bob, der alles über Linda weiß und sie eigentlich besser kennt als sie sich selbst? Super-Bob weiß dann nicht nur, wann sie wieder zum Zahnarzt muss, sondern kennt auch alle ihre kleinen persönlichen Vorlieben und entspricht diesen umgehend. Er erledigt automatisch ihre Steuererklärung und regelt Kontoführung, Gehaltsabrechnungen und Wohnungsangelegenheiten so reibungslos wie ihre berufliche und private Kommunikation und Terminplanung. Er weiß natürlich auch, welche Partei Linda immer wählt und nimmt ihr das bei der nächsten Wahl ab. Kleinere Ordnungswidrigkeiten, die ihr früher ab und an ein Bußgeld beschert haben, kommen nicht mehr vor, denn Super-Bob regelt so etwas, indem er Linda einen freundlich-dezenten Hinweis gibt. Sie könnte gar nicht mehr gegen Regeln oder Gesetze verstoßen, wenn Bob ihr Leben managt. Schon der Impuls, eine Regel zu umgehen, würde automatisch von Bob registriert, korrigiert und in konforme Handlungen überführt. Wird es so weit kommen? Technisch ist es möglich und erste Ansätze werden in manchen Ländern bereits praktiziert. 124

Fallbeispiele

Ein weiteres Thema, das sich in Lindas Fall zeigt, ist die Gefahr emotionalen Missbrauchs, der sich schnell und fast unbemerkt mit künstlicher Intelligenz verbinden kann: Lindas Chefin fordert Linda auf, sich weiter von ihrem Roboter coachen zu lassen. Damit benutzt sie ihn als Machtinstrument, um ihre Interessen durchzusetzen. Sie erwartet von Linda eine persönliche, emotionale Öffnung gegenüber der Coaching-Funktion ihres Roboters, damit sich ihre Leistungen, ihre »Performance«, verbessern. Menschliche Emotionen für eigene wirtschaftliche Zwecke zu benutzen, grenzt zumindest haarscharf an emotionalen Missbrauch – zumal die Chefin selbst verschlossen bleibt. Es gibt nach meiner Beobachtung bisher wenig Bewusstsein in unseren Unternehmen für diesen Zusammenhang. Oft wird die spontane emotionale Offenheit junger, begeisterter Mitarbeiterinnen wie selbstverständlich vor den Karren wirtschaftlicher Ziele gespannt. Wenn in firmeninternen Psycho-Seminaren, wie sie vielerorts Mode sind, emotionale Entladungen provoziert und intime persönliche Strukturen der Beteiligten offengelegt werden, betreten wir ein Feld, das vom Datenschutz noch nicht einmal erfasst ist. Es kommt also, wie auch Hild in seinem Interview betont, auf uns an, auf unsere Haltung, unsere Werte und unser Verantwortungsbewusstsein.

Fallbeispiel 6 Wie happy ist Happiness?

Teamleiterin Sophia entdeckt ihr New-Work-Team auf neue Weise. Berlin, Deutschland Sophia fühlt sich wohl in ihrem Unternehmen und ganz besonders in dem Team, das sie leitet. Sie ist froh, auf so innovative und kreative Art arbeiten zu können. Es sei immer noch die Ausnahme, so gute und unterstützende Arbeitsbedingungen zu finden, meint sie. Kein Wunder, dass sie sich als »happy« bezeichnet, denn in ihrer Company ist für sie alles wirklich hip und cool. Sie genießt eine New-Work-Umgebung, in der sie sich wie zu Hause fühlt. Bequeme Wie happy ist Happiness?

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Sitzecken sind stylisch mit flexiblen digitalen Arbeitsplätzen und integrierten Coffeeshops verbunden. Flexible Arbeitszeiten und frei wählbare Home-Office-Zeiten gehören dazu. Da der »Mindset« im gesamten Unternehmen auf fließende Grenzen zwischen Arbeitsund Privatleben eingestellt ist und Agilität erste Priorität darstellt, spielen Hierarchien eine untergeordnete Rolle. Viel mehr Augenmerk legt die Geschäftsleitung auf den Happi­ ness-­Faktor, der die Mitarbeiter von innen motivieren und belohnen soll. Man hat sich die Studien des »Coca-Cola Institute for Happiness« zu Herzen genommen, aus denen hervorgeht, dass zwischenmenschlicher Kontakt in einer zunehmend digitalisierten Welt am meisten zum Wohlbefinden beiträgt. Zu diesem Zweck wurde eigens ein Chief Happiness Officer berufen, der über großzügige New-Work-Umgebungen hinaus eine Sharing-Kultur fördern und so den Wohlfühleffekt steigern soll. Happiness soll die Basis der Unternehmenskultur sein und traditionelle Werte wie Pünktlichkeit oder Zuverlässigkeit ersetzen. Diese unternehmerische Philosophie fußt auf der Annahme, dass glückliche Menschen weniger Struktur und Kontrolle benötigen, um produktiv zu arbeiten. In Sophias Team gab es eine lange Hochphase, in der, wie sie sagt, die Arbeit »einfach lief« und man sich gegenseitig unterstützte, auch viel private Zeit im Team verbrachte und gemeinsam den Tag ausklingen ließ. In letzter Zeit aber änderte sich die Atmosphäre spürbar. Zunehmende Stimmungstiefs machen ihr zu schaffen, denn kaum etwas ist im Unternehmen so ungern gesehen wie Leute, die »schlecht drauf« sind. Sophias Team ist interdisziplinär aus BWLern, Ingenieuren, Informatikern, PR-Profis, Designern und Psychologen zusammengesetzt, sogar eine Historikerin und ein Religionswissenschaftler sind mit an Bord. Ihr Aufgabenfeld ist die Produktentwicklung im HighEnd-Consumer-Technik-Bereich. Um Produktideen von Anfang an unter Einbeziehung von Kundinnen zu entwickeln, arbeitet das Team mit erweiterten Design-Thinking-Methoden und besucht vor der Prototyping-Phase in »Erkundungsgruppen« verschiedene soziale Umgebungen wie Tech-Unternehmen, Konferenz- und Seminarhäuser, Business-Clubs, Konzerte, Yoga-, Wellness- und Sportzentren sowie Akademien und Unis. In Gesprächen mit potenziellen Kun126

Fallbeispiele

den können sie wertvolles Feedback für ihre Produktideen sammeln und ihre Prototypen zielgenauer entwickeln. Diese Form der Teamarbeit ist enorm kreativ und macht Spaß, allerdings hapert es bei den Ergebnissen. Die Produkte, die das Team entwickelt, kommen längst nicht so gut an wie erwartet. Weil Markterfolge ausbleiben, wächst die Erwartungshaltung der Geschäftsleitung von sanftem zu deutlichem Druck, den die Teammitglieder zunehmend als Belastung erleben. Entsprechend frustriert und gedrückt ist die Stimmung in den Team-Meetings. Manchmal entlädt sie sich auch in ärgerlichen und zynischen Kommentaren. Wo vor einiger Zeit kreativer Elan das Team beflügelte, beschreibt Sophia die Stimmung nun mit Demotivation, unterdrücktem Ärger und gegenseitigen Schuldzuweisungen. Team-Events in den Bergen und am Meer, die großzügig veranstaltet wurden, erzeugten statt Stimmungsumschwung eher Überdruss. Im nächsten Schritt auf dem Weg zu einer Problemlösung wurden mehrere Teamcoaching-Termine anberaumt. Vor dem ersten gemeinsamen Teamworkshop stellt Sophia, die Teamleiterin, die Situation in einem Seminar auf. Aufstellung: Team Sophia Klientin:

Sophia, die Teamleiterin Anliegen:

»Wie können wir Produkte entwickeln, die Kundinnen nicht nur mögen, sondern auch kaufen?« Was wird aufgestellt?

Sophia, die Kunden, das Team und die Produkte bekommen Stellvertreter. Im ersten Bild der Aufstellung schauen die Kundinnen interessiert das Team an, das schnell zwischen ihnen und den Produkten hin- und herblickt. Nach einer Weile wendet es sich ab und orienWie happy ist Happiness?

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Abbildung 20: Aufstellung – Zu wenig Kontakt zu den Kundinnen

tiert sich in eine ganz andere Richtung. »Hier wird es wirklich interessant«, meldet der Stellvertreter des Teams. Die Kunden reagieren irritiert. Sophias Stellvertreterin sieht der Szene aus einem Abstand zu und fühlt sich unbehaglich (Abbildung 20). Der Stellvertreter für die Produkte weiß nicht mehr, wofür er steht, und kann mit der Information, er vertrete die Produkte, nichts anfangen. »Ich weiß überhaupt nicht, wer ich bin und was ich hier soll!«, ist sein Feedback. Nach ihrer Resonanz zu diesem Bild befragt, erklärt Sophia, dass sie es genauso erlebe: »Das Team sucht nach Ideen und Lösungen, ohne den anfänglichen Kontakt mit den Kundinnen zu halten. Es gibt die Neigung, sich in Fantasien und Szenarien gegenseitig hochzuschaukeln und den Kontakt mit der Wirklichkeit zu verlieren. So kommt es auch, dass unsere Produkte zwar interessant und faszinierend rüberkommen, aber als so exotisch wahrgenommen werden, dass kaum jemand sie kauft.« »Ich fühle mich hin- und hergerissen«, berichtet der Stellvertreter des Teams daraufhin, »innerlich schwanke ich zwischen einer euphorischen Aufgeregtheit und einem Ärger, den ich nicht zeigen 128

Fallbeispiele

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ndes Fehle ent Elem Abbildung 21: Aufstellung mit unbekanntem Element

darf.« Auch mit dieser Wahrnehmung kann Sophia viel anfangen und vermutet, dass die Spannungen im Team unter dem steigenden Erfolgsdruck zur Zerreißprobe werden könnten. Wir stellen ein unbenanntes Element dazu, das repräsentieren soll, was dem Team fehlt (Abbildung 21). Die Stellvertreterin für das Team ist sofort hellwach und inte­ ressiert an dem fehlenden Element. »Sie ist genau das, was ich brauche!« Das fehlende Element erlebt sich als sehr klar und auf empathische Weise mit dem Team verbunden. »Wie würde es dir gehen, wenn du bekämest, was das fehlende Element dir geben kann?«, lautet die Frage an das Team. »Ich hätte Klarheit und Orientierung. Ich Wie happy ist Happiness?

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Abbildung 22: Aufstellung – Reaktion auf unbekanntes Element

wüsste, wofür ich da bin und was meine Aufgabe ist!«, antwortet das Team. Der Stellvertreter des fehlenden Elements stellt sich nun hinter das Team, das sich seinerseits umdreht und Kontakt zu den Kunden aufnimmt. Diese reagieren erfreut und blicken fast ein wenig überrascht zum Produkt, das sich nun neben das Team gestellt hat (Abbildung 22). Sophias Stellvertreterin entspannt sich und sie selbst möchte nun gern genauer wissen, was es ist, das ihrem Team fehlt. Wir beenden die Aufstellung, denn Sophia möchte für die Arbeit mit dem fehlenden Element das ganze Team dabeihaben. Dynamiken in der Aufstellung/Nachgespräch Das Team zeigt Anzeichen starker Überforderung, kann sich nicht klar auf seine Aufgabe fokussieren und wirkt desorientiert in seinen Versuchen, Kundenbedürfnisse und Produktideen übereinzubringen. Schließlich wendet es sich völlig ab und scheint sich in 130

Fallbeispiele

seiner eigenen Welt zu bewegen, ohne realen Kontakt zu Kundinnen und Produkt. Die Vermutung liegt nahe, dass die Kommunikation im Team gestört ist und dass die Werte und Ziele des Unternehmens mit der Unklarheit und Verwirrung im Team zu tun haben. Sophia sieht die Dynamiken, die sich in der Aufstellung zeigten, ähnlich und vereinbart mit dem Coach, den nächsten Schritt in einem Workshop mit dem Team zu gehen. Teamcoaching Der Teamworkshop findet außerhalb des Unternehmens als OpenEnd-Termin statt. Mit Kartenabfrage werden zunächst Themen gesammelt. Dabei entlädt sich bereits eine Menge Unmut und Frustration. Es kommen Statements wie »Wir werden nur benutzt!«, »Knallharter Druck in hübscher Verpackung!«, »Druck und Drohung in weichgespültem Feedback!«, »Schöne Räume und guter Kaffee sind nicht alles!« und »Keine klaren Botschaften von niemandem!«. In der folgenden Diskussion wird deutlich, wie unterschiedlich die Einzelnen die Situation und die Leistung der anderen Teammitglieder einschätzen. Konsens herrscht nur darüber, von der Unternehmensleitung alleingelassen zu sein. Ärger richtet sich zugleich auf Fehlleistungen der Kolleginnen, auf die »Happiness«-Ideologie im Unternehmen und die nur vordergründige Selbstbestimmung in Teamprojekten. Ihre Statements spiegeln das wider: ȤȤ »Sie sagen das eine und erwarten etwas anderes!« ȤȤ »In diesem Laden tun alle nur so als ob!« ȤȤ »Wir sind alle gleich kompetent. Nur die einen mehr, die anderen weniger.« ȤȤ »Alles sind immer so happy! Aber wie happy ist unsere Happiness hier wirklich?!« ȤȤ »Eine klare Ansage wäre mir lieber als diese lächelnde Wischi-­ Waschi-Toleranz! Und zwar von Kollegen wie von der GF!«

Es folgt ein Austausch in kleinen Gruppen, in dem die Teammit­ glieder ihre Erfahrungen teilen und Gefühle ausdrücken können. AbWie happy ist Happiness?

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wechselnd hören die Gesprächspartner nur zu, ohne zu fragen oder zu kommentieren. Manche sprechen zum ersten Mal mit ihren Kolleginnen über ihren Ärger, ihren Frust und ihre unterdrückte Wut auf die Situation. Wie sehr sie sich von schönen Ideen und angenehmen äußeren Umständen haben einlullen lassen, wird ihnen nun klarer. Wieder zurück in der Gesamtgruppe entsteht eine »Wir gegen die«-Stimmung, in der die Verantwortung per Schuldzuweisung an die nicht anwesende Geschäftsleitung abgegeben wird. Das Team fühlt sich besser, nachdem die »Schuldigen« an der Misere ausgemacht und benannt sind. Nach einigen Reflexionsfragen wird klar, dass es so einfach nicht sein kann. Die Teammitglieder erkennen, wie ihr »Blaming« sie von eigener Verantwortung entbindet und sie sich zwischen Empörung und Selbstmitleid im Kreis drehen. Ihre Frage lautet nun: »Was können wir tun, um bei der Produktentwicklung zu besseren Resultaten zu gelangen?« In einer emotional geladenen Diskussion um die erfolgsentscheidenden Faktoren eines Produkts schält sich ein altes Konfliktthema heraus: Die interdisziplinäre Zusammensetzung des Teams. Das Konfliktpotenzial dieses Qualifikationsmix wurde oft belächelt, aber nie konsequent auf den Prüfstand gestellt, weil er als so avantgardistisch galt und den Beteiligten schmeichelte. Für die nächste Arbeitsphase werden die Gruppen im Team definiert und benannt. Diese sind: Techniker (ITler, Ingenieure), Betriebswirtschaftler, Kreative (Designer und Kommunikationsprofis) und Psychologen bzw. Geisteswissenschaftler. Das Team einigt sich auf folgende scherzhafte Abkürzungen, die bereits etwas emotionale Ladung durchscheinen lassen: Tüftler (Ingenieure, ITler), Rechner (Betriebswirtschaftler), Künstler (Designer und Kommunikationsprofis), Denker (Psychologen und Geisteswissenschaftler). Das »Blaming« erreicht eine neue Phase und richtet sich in der Diskussion nun auf die Kolleginnen und kaum noch auf die Geschäftsleitung. Ihre Statements spiegeln die Ladung wider: ȤȤ »Wen wundert’s, dass man mit Schöngeistern nichts Brauchbares auf die Beine stellt!« ȤȤ »Ihr bastelt wirklich toll – bewerbt euch mal bei ›Jugend forscht‹!« ȤȤ »Wie gut, dass ihr immer saubere Vollkostenrechnungen macht! Das macht uns echt Mut, alles hinzuschmeißen!« 132

Fallbeispiele

ȤȤ »Zum Glück haben wir Leute im Team, die überzeugend kommunizieren, dass wir nichts auf die Reihe kriegen!« An diesem Punkt schlägt der Coach eine Teamaufstellung vor, mit der die Chancen und Risiken der interdisziplinären Teamkonstellation klarer werden können als in einer verbalen Auseinandersetzung. Vorgehensweise in der Teamaufstellung Das entscheidende Manko einer Inhouse-Aufstellung liegt darin, dass neutrale Stellvertreter fehlen. Denn als Systemmitglieder sind alle Teilnehmer auch Interessenvertreter und somit in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit eingeschränkt. Deshalb kommt hier ein Aufstellungsformat zur Anwendung, das dieser Situation Rechnung trägt: Aufstellung mit Bodenankern:

Statt Stellvertreter zu benennen, benutzen wir Bodenanker, das sind verschiedenfarbige, quadratische Platten. Sie sind groß genug, um mit beiden Füßen darauf zu stehen. Eine Einkerbung symbolisiert die Blickrichtung. Die Farben für die verschiedenen Gruppen werden ausgewählt. Die Teamleiterin Sophia wird hierbei ihrer Qualifikation entspre­ chend der Gruppe der »Rechner« zugeteilt. Die Farbe rot steht für die »Tüftler«, blau für die »Rechner«, grün für die »Künstler« und gelb für die »Denker«. In diesem Aufstellungsformat wird es darum gehen, die Beziehungen der einzelnen Gruppen zueinander sichtbar zu machen. Dazu kann jeder Teilnehmer die Bodenanker so zueinander positionieren, wie es seiner Wahrnehmung der Ist-­Situation entspricht. Ist jemand anderer Meinung, soll nicht diskutiert, sondern das Bild einfach umgestellt werden. Alle Teammitglieder und die Teamleiterin Sophia bilden einen Stuhlkreis, in dessen Mitte die Aufstellung abläuft. Dazu gelten folgende Spielregeln: ȤȤ Der ganze Prozess verläuft in Stille. ȤȤ Es darf weder gesprochen noch durch Lachen, »Ahhs« oder »Ohhs« kommentiert werden. Wie happy ist Happiness?

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ȤȤ Jeder Teilnehmer kann das Bild, das im Raum liegt, verändern. ȤȤ Bevor er das tut, muss mindestens eine Minute verstreichen, in der die Gruppe das Bild auf sich wirken lässt. Auf diese Weise heben wir den Diskussionsprozess mit seinen eingeschränkten Reflexionsmöglichkeiten (Schuldweisungen, Rechtfertigungen) auf eine andere Ebene. Durch die disziplinierte stille Arbeit ist jeder aufgefordert, die Sichtweise des anderen zunächst einmal auf sich wirken zu lassen, ohne sie sofort wieder zu verwerfen. Jeder Teilnehmer hat so die Möglichkeit, seine Sichtweise als neues Aufstellungsbild darzustellen. Dieses bleibt wiederum eine Weile liegen, bevor der nächste Teilnehmer auch diese Konstellation wieder verändert, um sie durch seine Sichtweise zu ersetzen. Von den Teilnehmern wird das Commitment eingefordert, sich an diese Spielregeln zu halten. Der Prozess wird abgebrochen, sollten sie nicht beachtet werden. Da die vielen fruchtlosen und ermüdenden Diskussionen zum Thema allen noch in den Knochen sitzen, stimmen sie ohne viele Einwände zu und stellen lediglich einige verfahrenstechnische Fragen. Der Prozess beginnt, als einer der Teilnehmer sein Bild mit den Bodenankern in den Raum legt. Nach einer Minute ertönt ein Gong und der nächste kann es verändern. Kurze Zeit später sind die Spielregeln klar, sodass die Zeiträume, in denen die Gruppe das aufgestellte Bild anschaut, bevor der nächste Teilnehmer es umstellt, auch ohne Gong eingehalten werden. Anfangs sind die Veränderungen der Bilder deutlich und radikal. Mal stehen sich Tüftler und Denker in Konfrontation gegenüber, mal schauen sie in verschiedene Richtungen, während die Künstler den Rechnern mal den Rücken zudrehen, mal abseitsstehen, mal neben oder hinter einer der anderen Gruppen positioniert werden. In den ersten zwanzig Minuten spiegelt der Ablauf dieser visuellen Aufstellung die Haltung des Rechthabenwollens und Schuldzuweisens noch einmal deutlich wider. Nach dieser Zeit ändert sich die Dynamik in der Gruppe. Indem die Teilnehmer nun die Bilder der anderen anschauen, erleben sie deren Sichtweise nicht mehr automatisch als Aufforderung, »dagegen zu schießen«. Es gibt keine Worte und so auch keine schrillen Töne, keine Vorwürfe, denen man 134

Fallbeispiele

sofort widerspricht. Die Stimmung hat sich verändert. Statt also gegen ein Argument anzukämpfen, erlauben die Bilder es den Teilnehmern nun, sich für die Sichtweise des anderen zu öffnen, ohne automatisch dafür oder dagegen zu sein. Der Beginn der nächsten Phase wird nicht angekündigt, sondern zeigt sich von allein. Die Zeiträume zwischen den Umstellungen der Bilder werden länger, die Veränderungen der Bilder selbst weniger radikal. Sie gleichen einander eher, als dass sie sich vollständig widersprechen. Nach weiteren 10 bis 15 Minuten liegt ein Bild mehrere Minuten lang. Auf Spielregeln braucht nicht mehr hingewiesen zu werden, denn die Teilnehmer schauen nun von sich aus inte­ressiert auf die dargestellte Konstellation. Als das Bild nicht mehr verändert wird, fragt der Coach noch einmal nach, ob diese Kons­tellation der Ist-Situation im Team nahekommt oder ob es noch Änderungswünsche gibt. Es gibt keine und wir beginnen mit dem nächsten Schritt. Von der visuellen Darstellung zur Aufstellung In dieser Prozessphase werden die Teilnehmer eingeladen, die Positionen selbst einzunehmen, sich also auf die Bodenanker zu stellen. Spielregel ist hier, dass nur die Position einer jeweils anderen Gruppe eingenommen werden darf. Das heißt ein Rechner kann auf der Position der Künstler, der Denker oder der Tüftler stehen. Ein Tüftler kann die Position der Rechner, der Künstler oder der Denker einnehmen und so weiter. Wir fragen nun die Wahrnehmung auf den Bodenankern ab. Durch Körperempfindungen, Bewegungsimpulse und Emotionen vertieft sich der Prozess, der zuvor auf der visuellen Ebene begonnen hat. Auch hier beschreiben die Einzelnen ihr Erleben auf den einzelnen Positionen anfangs sehr unterschiedlich, und auch hier erleben wir, dass sich die Wahrnehmungen allmählich angleichen. Es wirkt so, als könne die tatsächliche Dynamik des Teams sich nach einer Weile so zeigen, wie sie ist, ohne durch Ärger, Schuldzuweisungen oder persönliche Überzeugungen verstellt zu werden. Ist auch hier der Punkt erreicht, an dem die verschiedenen Personen keine gravierenden Unterschiede in ihren Wahrnehmungen mehr beschreiben, gehen wir zur nächsten Phase über. Wie happy ist Happiness?

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Jetzt bleiben die Personen, die gerade die Positionen der Künstler, der Denker, der Tüftler und der Rechner eingenommen haben, auf diesen stehen und wir steigen in die Prozessarbeit ein. Von hier an arbeiten wir wie in anderen Aufstellungssettings auch. Wir testen aus, in welcher Konstellation die verschiedenen Gruppen dem Ziel einer produktiven Zusammenarbeit näher kommen, und bringen dazu noch einen Bodenanker für die gemeinsame Aufgabe des Teams ins Spiel. Nun laden wir die in der Runde sitzenden Teilnehmer ein, selbst die verschiedenen Positionen inklusive der eigenen einzunehmen (Abbildung 23). Dabei gibt es immer noch Abweichungen in den Beschreibungen des Erlebten, doch spiegeln sie nun einen neuen Konner

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Abbildung 23: Aufstellung – Team in einer neuen Form von Kommunikation und Kooperation

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Fallbeispiele

sens. Denn durch den Aufstellungsprozess befindet sich das Team bereits mitten in einer neuen Form von Kommunikation und Kooperation. An diesem Punkt beenden wir die Aufstellung und gehen zu einer dem Team vertrauten Variante der Design-Thinking-Methode über. Es werden Ideen und Prozesse entwickelt, wie die praktische Zusammenarbeit im Alltag zu regeln und zu verbessern ist. Das funktioniert jetzt völlig anders als zuvor. Die Atmosphäre ist gelöster und wir gehen in eine neue Phase des Teamcoachings über. Connected Team In der Aufstellung haben die Teammitglieder erkannt, wie sie sich im interdisziplinären Mix nicht mit dem Team, sondern nur mit ihrer eigenen Gruppe identifiziert haben. Im Grunde waren sie nie ein Team, sondern stets Tüftler, Rechner, Künstler oder Denker. Wenn sie als Team arbeiten wollen, ist die Identifikation mit der eigenen Bezugsgruppe ein Hindernis, weil sie andere Qualifikationen und Herangehensweisen abwertet. Mithilfe der Design-Thinking-­ Methode gelingt es ihnen, inhaltliche Ansätze für eine verbesserte Kooperation zu entwickeln. Was ihnen allerdings noch fehlt, ist die Fähigkeit, so viel Abstand zu ihren Identifikationen zu entwickeln, dass sie sich auf die Kolleginnen der anderen Team-Gruppen innerlich einlassen können. Dazu brauchen sie genau die Empathie, die das Team insgesamt als Kernkompetenz benötigt, um sich so in die Bedürfnisse ihrer Kunden hineinzuversetzen. Schließlich entwickeln sie für sie Produkte und nicht für sich selbst. Wie kann ein Team entstehen, das diesem Namen gerecht wird? Wie können sie zu einer Gruppe wachsen, in der jeder Einzelne in der Lage ist, sich selbst, seine Sichtweisen und Prioritäten so weit zurückzustellen, wie es für den Erfolg des Ganzen notwendig ist? Was fehlt den Teammitgliedern, um so zusammenarbeiten zu können? Sophia berichtet an dieser Stelle von ihrer Aufstellung der Teamsituation und dem fehlenden Element. Wir stellen die Aufstellung noch einmal mit Bodenankern nach und geben jedem Teammitglied die Gelegenheit, auf der Position des fehlenden Elements wahrzuWie happy ist Happiness?

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Verbundenheit

Abbildung 24: Aufstellung – Was ist das fehlende Element?

nehmen, worum es dabei geht (Abbildung 24). Die verschiedenen Wahrnehmungen werden nicht ausgesprochen, sondern auf eine Karte geschrieben, um die anderen Teammitglieder nicht zu beeinflussen. Die Ergebnisse werden bekannt gegeben, nachdem alle ihre Wahrnehmung notiert haben, und überraschen in ihrer Eindeutigkeit: Jeder hat einen ähnlichen Begriff auf seiner Karte: Verbundenheit, einfühlen, connecten, eintunen, mitfühlen, mitgehen. Wie kommen wir zu mehr Verbundenheit, ist die nächste Frage. Auch hierzu ähneln sich die Aussagen der Teammitglieder: ȤȤ »Wir müssen ehrlich zueinander sein!« ȤȤ »Den oberflächlichen Konsens durchschauen!« ȤȤ »Weg von der Teamillusion!« ȤȤ »Nicht immer so happy tun!« ȤȤ »Den anderen sehen, wie er ist!« ȤȤ »Uns als Gruppe realistisch sehen!« ȤȤ »Das Besserwissen lassen!« ȤȤ »Uns offen streiten können und eine Basis behalten!« ȤȤ »Nichts mehr unter den Teppich kehren!« ȤȤ »Raus aus dem Blaming!« 138

Fallbeispiele

ȤȤ »Zuhören statt Besserwissen!« ȤȤ »Finden, was uns wirklich verbindet!« In einer strukturierten Übung arbeiten die Teammitglieder in Diaden an Grundthemen ihrer Kommunikation: ȤȤ Wie sehe ich dich? ȤȤ Wie siehst du mich? ȤȤ Wie erlebe ich dich? ȤȤ Wie geht es mir im Kontakt mit dir? ȤȤ Wie fühle ich mich von dir gesehen? Übung in vertiefter Selbst- und Fremdwahrnehmung Diese Kommunikationsübung hat nicht den inhaltlichen Austausch als primäres Ziel, sondern Verbundenheit mit dem Gesprächspartner und mit sich selbst. Nicht Know-how soll dabei entwickelt werden, sondern Be-how. Damit ist die Fähigkeit gemeint, die Aufmerksamkeit gleichzeitig auf den Gesprächspartner und auf die eigenen inneren Reaktionen zu richten. So kann beispielsweise im Gespräch eine innere Wertung auftauchen wie »Der ist zu langsam!« oder »Die ist versponnen«. Diese Wertung wird in ihrer Wirkung auf das Gespräch beleuchtet. Umschalten auf »doppelte Wahrnehmung« erleichtert diesen Prozess. Dazu bekommt das Team folgende Anleitung:

Doppelte Wahrnehmung einüben Ein Beispiel:

Du schaust einen spannenden Film an. Wenn er wirklich gut gemacht ist, tauchst du vielleicht so tief in die Handlung des Films ein, dass du mit den Akteuren fühlst, für ihre Ziele fieberst, in Gefahren mit ihnen zitterst und so weiter. Du hast völlig vergessen, dass du einen Film anschaust, der mit deiner realen Umgebung nichts zu tun hat. Angenommen, du wolltest aus dem Film wieder aussteigen – was könnte dir helfen? Du müsstest einen Punkt außerhalb deiner FilmWie happy ist Happiness?

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welt finden. Was aber ist außerhalb des Films? Der Stuhl oder Sessel, auf dem du sitzst! Bring also deine Aufmerksamkeit zum körperlichen Kontakt mit diesem Stuhl. Spüre, wie du die Sitzfläche und Rückenlehne berührst. Bleib einige Augenblicke bei dieser Wahrnehmung und gib mehr Aufmerksamkeit hinein. Was geschieht? Der Film verliert allmählich an Sogkraft! Du merkst konkret: Ich sitze auf dem Sessel und dort läuft ein Film. Du befindest dich jetzt in der Mitte zwischen Selbstwahrnehmung und Film. Der Körper entspannt sich, die Wellen der Emotionen laufen aus und du betrachtest den Film mit Abstand. Nun kannst du entscheiden, den Film einfach anzuschauen, oder dich wieder hineinziehen zu lassen. Wenn du wieder ganz in den Film eintauchen möchtest, brauchst du nur aufzuhören, dich selbst auf dem Sessel zu spüren. Bleibst du aber bei deiner Körperwahrnehmung, und sei es nur mit einem Bruchteil deiner Aufmerksamkeit, brauchst du dich nicht wieder im Film verlieren. Was ist geschehen? Du hast deiner ersten Wahrnehmung, der Alltagswahrnehmung, eine zweite hinzugefügt. Anleitung zur doppelten Wahrnehmung:

1. Vergewissere dich zunächst deiner ersten, nach außen gerichte­ ten Wahrnehmung: Was siehst du? Was hörst du? Wie handelst du gerade? Was passiert in der Umgebung? Wie reagierst du? 2. Nimm wahr, was und wie du im Moment denkst, welche Kom­ mentare und Aufforderungen von deinen inneren Personen kommen. 3. Bring die Aufmerksamkeit zu deinen Körperempfindungen. Wenn möglich, schließ die Augen (keine Bedingung). Wenn nicht möglich, schau unfokussiert. Spüre so genau wie mög­ lich, wie du sitzt, stehst oder liegst. Geh in die Einzelheiten der Empfindung: Kontakt, Gewicht, Temperatur etc. 4. Bleib mit dem größeren Teil deiner Aufmerksamkeit bei den Körperempfindungen, während du wieder in die erste Wahr­ nehmung hineingehst. Verbinde jetzt beide. Nimm zugleich wahr, wie du sitzt oder stehst und was du siehst, was um dich herum passiert. 140

Fallbeispiele

5. Geh jetzt ins Handeln, z. B. in ein Gespräch. Während du dich unterhältst, spüre, wie du sitzt, stehst, gehst, dich bewegst und so weiter. Lass die zweite Wahrnehmung mitlaufen. 6. Wenn es schwierig wird: Sag innerlich Stopp. Mach eine äußere kurze Pause und kehre bewusst zurück zur zweiten Wahrneh­ mung. Dann weiter mit Punkt 4.

Mithilfe der doppelten Wahrnehmung können die Teammitglieder auch Konfliktthemen besprechen, die vorher zu Verletzungen, gegenseitigen Schuldzuweisungen und weiterer Zementierung von Vorurteilen geführt hätten. Sie können ihre Wertungen und Vorurteile über den Gesprächspartner benennen, ihre eigenen Empfindlichkeiten ausdrücken und Wünsche und Erwartungen so äußern, dass das Gegenüber sie nachvollziehen und sich darauf einlassen kann. Auch Verletzungen, die im täglichen Stress durch Vorwürfe, Angriffe und zynische Bemerkungen entstanden sind, können besprochen werden. Die Einsicht, wie jeder für den anderen zum Täter und zum Opfer wurde, führt zu einem neuen Verantwortungsbewusstsein und einer gefühlten Verbundenheit. Nach der Übung kommt das Team zu einer Sharing-Runde zusammen: ȤȤ »Ich habe erkannt, wie sehr ich dich mit meiner Ironie verletzt habe.« ȤȤ »Noch nie war mir so klar, dass es nur an mir liegt, wie ich dich erlebe!« ȤȤ »Mir ist, als ob ich euch alle zum ersten Mal sehe! Ich habe euch zuvor nie wirklich angeschaut, ein ganzes Jahr lang nicht!« ȤȤ »Dass ich mich so mit euch verbunden fühle, hätte ich mir nie vorstellen können!« ȤȤ »Ich bin jetzt wirklich bei mir angekommen. Und beginne, euch wahrzunehmen und ernst zu nehmen!« ȤȤ »Als ob ich die ganze Zeit eine dunkle Sonnenbrille aufhatte. Jetzt nehme ich sie ab und sehe: Ihr seid alle O. K.! Ich muss mich nicht mehr verstecken!« ȤȤ »Plötzlich sehe ich dich und dich und dich und denke: Wo wart ihr die ganze Zeit? Wo war ich die ganze Zeit?«

Wie happy ist Happiness?

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Die Verwechslung In der weiteren Reflexion spricht das Team über die Verwechslung von Verbundenheit mit »Corporate Happiness«. Wie man sich fühlt, kann nicht herbeidefiniert werden, so das Fazit. Wenn es zur Unternehmensphilosophie gehört, dass alle »happy« sein sollen, erzeugt das Druck. Man tut so als ob. Man lernt die Verhaltensweisen zu zeigen, die im Unternehmen mit »happy« verbunden werden, damit man dazugehört. Innerlich entsteht dabei der gleiche Druck, als müsse man Pünktlichkeitsregeln, Umsatzvorgaben oder Reportingstandards einhalten. Der Druck ist subjektiv sogar höher, weil die Einzelnen sich zwingen, ein Gefühl zu spielen, das sie nicht empfinden. In diesem Verwechslungsmechanismus hat das Team nicht nur seine innere Spaltung übersehen. Auch die Marktfähigkeit der eigenen Prototypen und die darauf bezogenen Kundenfeedbacks wurden illusionär überhöht. In euphorischer Selbstbezogenheit feierte man vage Interessesignale bereits als Erfolg. Das diente einem Sekundärziel: im Unternehmen als ein besonders »cooles« und »smartes« Vorzeigeteam mit hohem »Happiness«-Faktor gesehen zu werden. Das eigentliche Ziel geriet dabei aus dem Blick.

Die Lösungsperspektive In den folgenden Wochen erarbeitet Sophia mit dem Team eine neue Struktur in der Produktentwicklung, in der die fachlichen Kompetenzen der Teammitglieder ein größeres Gewicht bekommen. Das ist nun möglich, ohne dass Konkurrenzangst zu Blockaden und Vermeidungsstrategien führt, wie sie in der Aufstellung sichtbar wurden. Die jeweiligen Stärken und Schwächen der unterschiedlichen Perspektiven von Tüftlern, Rechnern, Künstlern und Denkern sind dem Team nun bewusster. Unterschiedliche Herangehensweisen werden nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung erlebt. Die Neigung zu illusionärer Überhöhung der eigenen Ideen nimmt spürbar ab und Einschätzungen zur Vermarktungschance von Produktideen werden realistischer. Um den Stress in den heißen Phasen des Entwicklungsprozesses zu reduzieren, baut das Team gerade dann kurze Übungszeiten für doppelte Wahrnehmung ein, wenn der Druck am größten ist. 142

Fallbeispiele

Wie gelingt doppelte Wahrnehmung im Teamalltag? Indem du sie immer wieder im Alltag übst: beim Sprechen, Lesen, Schreiben, Telefonieren, Kaffee-Trinken … Wann immer du dich daran erinnerst – spüre dich selbst, während du handelst!

Was bringt doppelte Wahrnehmung im Teamalltag? ȤȤ Sie bewahrt dich vor Beziehungsfallen. ȤȤ Sie erlaubt dir eine genauere Wahrnehmung der anderen. ȤȤ Sie erlaubt dir eine genauere Wahrnehmung deiner Handlungsimpulse. ȤȤ Du nimmst dir Zeit, deine Vorschläge zu überprüfen. ȤȤ Du entdeckst Nichthandeln als Ergänzung zum Machen. ȤȤ Du reduzierst deinen Erfolgsstress.

Fallbeispiel 7 »Dieselgate«

Die unheilvolle Allianz digitaler Technologie und menschlicher Ignoranz. Automobilindustrie, Deutschland, USA Die Diskussion um Dieselfahrzeuge und ihre Emissionen ist in vollem Gange. Über Feinstaub, Stickoxide und Fahrverbote werden hitzige Debatten geführt, bei denen Emotionen eine größere Rolle zu spielen scheinen als die Fakten. Gegner und Befürworter der Dieseltechnologie wittern Manipulationen und Irrationalität stets auf der Gegenseite, während man sich selbst mit wissenschaftlicher Unterstützung im Recht fühlt. Gekämpft wird offenbar nicht allein um technisch sinnvolle Lösungen, sondern – aus Sicht der einen Seite – um das Überleben der Industrienation Deutschland, während die andere Seite krankmachende oder gar tödliche Abgasvergiftungen der Bevölkerung befürchtet. Brisant wurde das Thema durch das sogenannte »Dieselgate«, mit dem zunächst ein Hersteller in Verruf geriet und in der Folge die gesamte Branche, zumindest in Deutschland. »Dieselgate«

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Nachdem bei Fahrzeugen eines deutschen Konzerns Abgasmani­ pulationen festgestellt worden sind, steht dieser stellvertretend am Pranger. Haben alle anderen Hersteller von Dieselfahrzeugen weltweit eine so weiße Weste, dass ihre Produkte gar nicht weiter überprüft werden müssten? Davon sind wenige Fachleute wirklich überzeugt. Was ist also der Hintergrund dieses Industriedramas, das durch digitales Hightech aufseiten der Hersteller und der Behörden möglich wurde? Seinen Ausgangspunkt nahm der Skandal, als abgas­manipulierte deutsche Automobile den amerikanischen Umweltbehörden bei Tests auffielen. Der Softwaretrick war so durchschaubar, dass es verwundert, wie erfahrene Manager tatsächlich glauben konnten, mit einer so plumpen Manipulation durchzukommen. Was trieb sie an? Welche unbewussten Dynamiken waren so mächtig, dass sie alle Bedenken außer Kraft setzen konnten? Hier beginnt jene haarsträubende Irrationalität, die sich in der gesamten Diskussion fortsetzt und um deren Hintergründe es im vorliegenden Fall geht. Ein Manager des betroffenen Konzerns, den wir hier Fritz nennen, nutzt die Gelegenheit, das Thema in einem Aufstellungsseminar zu beleuchten. Er ist wie viele seiner Kollegen in das Thema involviert und möchte herausfinden, »wie wir in diesen Schlamassel geschlittert sind und welche Veränderungen in unserer Unternehmenskultur anstehen«. Ihm ist bewusst, dass das archaische Entlastungsritual der »rollenden Köpfe«, also die Entlassung und Bestrafung von Sündenböcken, einer Lösung des Problems wenig dienlich ist – von einer Aufarbeitung der Ursachen ganz zu schweigen. Mit einer Systemaufstellung will er nun mehr Klarheit gewinnen. Aufstellung: »Dieselgate« Klient: Fritz, ein Manager des Unternehmens Anliegen:

»Wie können wir die Hintergründe des Dieselskandals besser verstehen?« 144

Fallbeispiele

Was wird aufgestellt?

Wir starten die Aufstellung mit Stellvertretern für das Unterneh­ men, die Kundinnen, die Produkte (Dieselfahrzeuge) und die Manipulationssoftware (Abbildung 25). Fritz positioniert die Stellvertreter so, dass die Kunden auf die Produkte schauen, hinter denen sich die Software verbirgt. Das Unternehmen starrt ostentativ an allen vorbei in die Ferne. Der Stellvertreter der Kunden äußert sich überaus zufrieden über die Produkte, die ihn selbstbewusst anlächeln. Die Manipulationssoftware fühlt sich unwohl und beschreibt einen merkwürdigen inneren Zustand: »Als ob ich mich wegträume. So muss es einem Surfer gehen, der unter die Welle gerät und sich ganz in sich zurückzieht, um durchzuhalten.« Das Unternehmen hat mit all dem nichts zu tun: »Ich nehme die Produkte und Kundinnen nur am Rande wahr. Ich schaue weit in die Ferne, da ist etwas Großes, Großartiges. Es ist wie eine Vision, die alles andere unwichtig werden lässt.«

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Abbildung 25: Aufstellung – Dieselgate

Als Nächstes bittet der Coach den Stellvertreter der amerikanischen Behörde in das Aufstellungsfeld. Dieser stellt sich neben die Kunden mit Blick auf die Produkte. Durch seinen Blickwinkel kann er auch die Manipulationssoftware sehen, die sich hinter den Produkten auf den Boden gekauert hat. »Oh, was haben wir denn da?«, fragt er ironisch, »das möchte »Dieselgate«

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ich mir doch mal näher anschauen.« Er geht auf die Software zu, die peinlich berührt zu Boden blickt. Die Stellvertreterin für die Produkte beginnt zu schwanken und kann sich kaum auf den Beinen halten. Die Kunden wenden sich ärgerlich von ihr ab. »Kannst du damit etwas anfangen?«, möchte der Coach von Fritz wissen. »Na ja«, entgegnet der, »genauso ist es ja. Unsere guten Produkte sind in Misskredit geraten, viele Kundinnen wollen sie loswerden. Der finanzielle Schaden ist immens, viel schlimmer aber ist unser ramponiertes Image. Wir stehen da wie Deppen! Für manche sind wir sogar Verbrecher!« Wie reagiert der Stellvertreter des Unternehmens auf diese Entwicklung? »Ich sehe es, aber mich berührt das alles kaum. Ich schaue in die Weite. Da ist mein Ziel und nichts kann mich aufhalten!« Ein Stellvertreter für das Ziel wird ausgewählt und steht in einiger Entfernung dem Unternehmen gegenüber. Er fühlt sich großartig, das Unternehmen lacht ihn an: »Wir beide sind die Größten! Wir schaffen das!« Der Coach wendet sich an Fritz: »Was ist das Ziel des Unternehmens?« »Wir wollen die Nummer 1 werden. Weltweit. Das ist das erklärte Ziel. Alle anderen überholen: Asiaten, Europäer, Amerikaner. Jedenfalls war das bis vor Kurzem noch so, bis der Stein in den USA ins Rollen kam und eine Lawine ausgelöst hat.« Der Stellvertreter für die US-Behörde schaut das Unternehmen und das Ziel grimmig an: »Das werden wir zu verhindern wissen. Wir werden euch stoppen.« Für die Kunden, die irritiert zwischen ihm und ihren Autos hin- und herschauen hat er keinen Blick mehr. Die Atmosphäre in der Aufstellung ist geladen. Es scheint gar nicht mehr um Autos zu gehen, sondern um etwas ganz anderes. »Worum geht es hier, Fritz?«, fragt der Coach. Fritz zuckt mit den Schultern. Ein Stellvertreter für den Gründer wird nun hinter das Unternehmen gestellt (Abbildung 26). Das Unternehmen beginnt zu zittern: »Mir wird ganz kalt.« Der Gründer fixiert über dessen Schulter das Ziel. Das Ziel strafft die Schultern, als stände es militärisch stramm. Das Unternehmen wird gebeten, sich zum Gründer umzudrehen und ihn anzuschauen. Der Stellvertreter taumelt ein paar Schritte zurück: »Meine Güte, was ist das denn?« 146

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Abbildung 26: Aufstellung – Dieselgate mit Unternehmensgründer

»Wer ist der Gründer des Unternehmens?«, lautet die Frage an Fritz. Der runzelt die Stirn. Sein Blick verdüstert sich. »Na ja, der eigentliche Gründer, der im Hintergrund, das war Hitler.« Das Unternehmen erstarrt. Es schaut den Gründer lange an und geht ein paar Schritte weiter zurück. »Mich schaudert. Ich will hier weg. Mit dem will ich nichts zu tun haben.« Der Behörden-Stellvertreter ballt die Fäuste. »Wir machen euch fertig! Wartet nur!« Er wird dem Gründer gegenübergestellt, schaut ihn voller Wut und Verachtung an und wird nach einer Weile gebeten, zum Unternehmen weiterzugehen. Seine Wut wird schwächer. Er wird gebeten, probeweise zu sagen: »Wir brauchen euch nicht mehr zu bekämpfen und zu besiegen. Das haben wir bereits vor über siebzig Jah»Dieselgate«

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ren erledigt.« Der Stellvertreter nickt zustimmend und entspannt sich. Er fährt fort: »Ihr seid nicht Nazi-Deutschland und wir sind nicht die US Army! Ihr seid nur ein Automobilhersteller, der großen Mist gebaut hat. Dafür müsst ihr Verantwortung übernehmen. Das ist alles.« Die Wahrnehmung des Unternehmensstellvertreters ändert sich. Er beginnt sich umzuschauen und Kontakt zu den Kundinnen, Produkten und zur Software aufzunehmen. Vom Ziel nimmt er Abstand und bezieht sich auf die Kunden: »Ich habe einen großen Fehler gemacht. Das sehe ich jetzt. Dafür übernehme ich Verantwortung. Ich kümmere mich jetzt um deine Bedürfnisse.« Im nächsten Schritt konfrontiert er den Gründer: »Ich wollte nicht wahrhaben, dass du der eigentliche Gründer bist. So habe ich dir unabsichtlich eine verborgene Bedeutung gegeben. Jetzt erkenne ich, dass mein Ziel mit dir zu tun hat und dass mein Wunsch, mit allen Mitteln die Nummer eins auf dem Weltmarkt zu werden, mit deinem Größenwahn zusammenhängt. Das sehe ich jetzt ganz klar und ich distanziere mich davon.« Ziel und Gründer ziehen sich an den Rand des Aufstellungsgeschehens zurück. Unternehmen, Kunden, Produkte und Behörde sind nun in Kontakt. Wir beenden die Aufstellung. Nachgespräch Fritz wirkt mitgenommen und betroffen: »Ich hatte schon immer so ein Gefühl, dass da etwas Dunkles mitschwingt bei dieser Dieselaffäre, konnte es aber nicht benennen. Ich habe es auch wieder weggeschoben und mir gesagt, das ist Quatsch, kümmere dich lieber darum, mit den Kolleginnen den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Aber was immer wir getan haben, es war nie genug. Die Forderungen hören nicht auf. Ich bekomme manchmal schon das Gefühl, als wenn man uns vernichten will. Jetzt verstehe ich besser, um wessen Vernichtung es eigentlich geht.« Fritz fallen noch weitere Beispiele für diese Dynamik ein: »Es fällt mir geradezu wie Schuppen von den Augen! Wenn ich es aus dieser Perspektive betrachte und an die Abgasexperimente mit Affen denke, die in unserem Unternehmen durchgeführt wurden, fange ich an zu frösteln. Wie kann das sein, dass wir immer wieder in die148

Fallbeispiele

ses Fahrwasser geraten?« »Vielleicht weil auch hier niemand etwas gewusst hat?«, fragt der Coach. Fritz schweigt eine Weile nachdenklich und wechselt dann zur Diesel-Diskussion in Deutschland. Auch hier verschiebt sich seine Perspektive: »Vielleicht spielen auch da die Verbrechen der Nazis eine Rolle. Es wird ja geradezu so getan, als würden wir mit Dieselfahrzeugen die Bevölkerung vergasen. Auf der anderen Seite verstehe ich auch die Zurückhaltung der Hersteller bezüglich technisch machbarer Lösungen ganz anders. Wenn diese Dimension hineinkommt, da geht es nicht um ein paar Mikrogramm unterhalb oder oberhalb des Grenzwerts.« Fritz möchte nun wissen, wie es mit der Aufarbeitung des Dieselskandals und einer Veränderung der Unternehmenskultur weitergehen kann. In einem Review der Aufstellungsdynamiken kommt er zu dem Schluss, dass es keine schnelle Lösung geben kann. Vielmehr geht es zunächst darum, den Ist-Zustand anzuerkennen, also zu sehen, wie tief militärisches Denken und Welteroberungsmentalität die Unternehmenskultur mitgeprägt haben. An dieser Zumutung kommt das Unternehmen nicht vorbei. Der Austausch einzelner Führungskräfte an der Spitze kann allein keine Änderung bewirken. Im Gegenteil, die Mentalität des »Ausmerzens« missliebiger Personen verstärkt eher den Status quo. Um einen langfristigen Wertewandel einzuleiten, ist ein Bewusstseinsprozess im gesamten Unternehmen nötig. Weder Mea Culpa noch Schuldzuweisungen an andere können ihn ersetzen. Ein internes Weiterbildungsprogramm, das die systemischen Zusammenhänge von Unternehmenskultur, Führungspraxis, Gesellschaft und Technologie einbezieht, könnte einen realistischen Veränderungsprozess in Gang bringen. Dynamiken in der Aufstellung Das Unternehmen war auf besondere Weise in die Verbrechen des Naziregimes verstrickt. Auch wenn, wie in vielen anderen deutschen Industriekonzernen, Anstrengungen unternommen wurden, die Geschichte aufzuarbeiten, fehlt eine entscheidende Komponente. Historische Dokumentation, finanzielle Unterstützung für die noch lebenden Opfer, Gedenken an die toten Opfer sind sinnvoll und gut. Viele »Dieselgate«

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in den Unternehmen empfinden auch tiefes Mitgefühl für die Leiden, die durch Gewaltherrschaft und Krieg verursacht wurden und engagieren sich für ein »Nie wieder!«. Was fehlt? Ein Bewusstsein für die konkreten historischen Bezüge des eigenen Handelns, der eigenen Strategien und Ziele. Ohne ein solches Bewusstsein kommt es leicht zu Re-Inszenierungen verdrängter, weggeschobener Dynamiken im Unternehmenssystem. Was wir nicht wahrhaben wollen, verstärken wir unbewusst. So treten Führungskräfte des Unternehmens immer wieder ungewollt in braune Fettnäpfchen. Auch das für einen global agierenden Konzern verständliche Ziel, Nummer 1 zu werden, wird von unbewussten Strömungen überlagert. Es geht nicht mehr allein um den Weltmarkt, sondern der Weltherrschaftswahn der Nationalsozialisten schwingt mit. Die Manipulationssoftware mutiert zur Kriegslist, mit der dieses Ziel erreicht werden soll. Entsprechend verwechseln die amerikanischen Behörden den deutschen Automobilhersteller unbewusst mit Nazideutschland, sich selbst mit der US Army und setzen alles daran, ihn zu vernichten. Darüber hinaus triggert das Thema Abgase mit seiner unheilvollen Verbindung zu den Vernichtungslagern des »Dritten Reiches« tiefe Emotionen: Empörung, Wut, Rache und Verachtung erreichen ein Ausmaß, das offensichtlich über den tatsächlichen Anlass weit hinauswächst. Gleichzeitig werden durch die Vorführung und Bestrafung des deutschen Sünders Hersteller aus anderen Nationen entlastet und reingewaschen. Auch hier zeigt sich eine historische Parallele, in der die monströsen Verbrechen der Nationalsozialisten den Blick von den Vergehen anderer Nationen ablenkten.

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Fallbeispiele

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 How to deal with the unknown? Fragen und Antworten zur System­ aufstellung im Digitalisierungskontext

Die Fragen in diesem Kapitel haben Teilnehmerinnen in Seminaren und Trainings zur Systemaufstellung in Europa und Asien gestellt – inhaltliche Fragen, methodische Fragen, kritische Fragen und solche zur praktischen Umsetzung. Manchmal haken Fragesteller nach und es entwickelt sich ein kurzer Dialog, der das Thema auf den Punkt bringt.

Zwei Arten von Erfolg Frage:

Ich führe ein Unternehmen in der Sicherheitsbranche. In der Digitalisierung haben wir große Fortschritte gemacht, aber wirtschaftlich läuft es nicht gut. Wie können Aufstellungen mir helfen, mit meinem Unternehmen wieder auf Erfolgskurs zu kommen, und was müssen Sie dazu über mein Unternehmen wissen? Antwort:

Durch Aufstellungsarbeit können Ihnen Zusammenhänge und Wirk­mechanismen deutlich werden, auf die Sie durch Analyse allein nicht gekommen wären. Dazu benötigen wir Basisinforma­tionen zur Struktur Ihres Unternehmens, etwa zur Kapitalverteilung und Aufbauorganisation. Darüber hinaus brauchen wir Informationen zur Historie: Gab es Krisen? Entlassungswellen? Eigentümerwechsel? Fusionen? In der Grundstruktur können sich bereits systemische Fallen verbergen. Wenn zum Beispiel ein Gründungsgesellschafter ausgebootet wurde, kann das Auswirkungen auf spätere Geschäftsverläufe haben. Auch andere Ereignisse können es in sich haben: Aus welchem Grund wurden Mitarbeiterinnen entlassen? Auf wes151

sen Kosten ist eine Fusion zustande gekommen? Es geht dabei nicht um Moral oder Ethik. Menschliche Systeme sind auf Überleben programmiert. Sie reagieren auf Ungleichgewichte und suchen nach Ausgleich. Dieser Ausgleich kann positiv zustande kommen, etwa dadurch, dass nach einer Fusion das zugekaufte Ursprungsunternehmen im neuen Firmennamen mit genannt wird und die Mitarbeiter den neuen Kollegen in jeder Hinsicht gleichgestellt werden. Falls es eine Entlassungswelle gab, käme es darauf an, ob sie zum Überleben des Unternehmens notwendig gewesen ist. Bezweckte diese Maßnahme nur, den Aktionären eine attraktivere Dividende zu ermöglichen, profitiert ein Teil des Unternehmens auf Kosten eines anderen. So eine Schieflage wird oft negativ ausgeglichen, etwa dadurch, dass die verbleibenden Mitarbeiterinnen das Unternehmen unbewusst sabotieren und so mit den ohne Not entlassenen Kolleginnen verbunden bleiben. Misserfolg kann – muss aber nicht – mit einem systemischen Ungleichgewicht verbunden sein. In dem Fall wäre der Misserfolg ein Symptom, mit dem das System auf diese Schieflage aufmerksam macht. Ein Symptom lädt dazu ein, nach seinem Auslöser zu forschen. Wenn Sie es einfach nur weg haben wollen wie einen lästigen Kopfschmerz, wird es selten funktionieren. Denn ebenso wie der Kopfschmerz durch ein Schmerzmittel nur momentan betäubt wird, werden auch kurzfristige symptomorientierte Maßnahmen zur Umsatzsteigerung selten nachhaltigen Erfolg bringen. Wenn betriebswirtschaftliche Maßnahmen nichts gebracht haben, inte­ ressieren Sie sich vielleicht für eine Aufstellung. Frage: Was kann ich tun, damit mir meine Aufstellung mehr Klarheit bringt? Antwort:

Es kommt auf Ihre innere Haltung an. Sind Sie bereit, sich auch auf unbequeme Einsichten einzulassen? Mit Ihrem Anliegen geben Sie die entscheidende Information in die Aufstellung: Dringlichkeit, Offenheit – oder auch innere Ablehnung. Diese Art der Grundinformation entscheidet über die Qualität der Aufstellung und sie liegt einzig und allein beim Klienten – also bei Ihnen. Aufstellungen funktionieren wie ein Spiegel. Sie 152

How to deal with the unknown?

reflektieren Ihre eigenen Ansichten und Absichten. Einem Spiegel können Sie nichts vormachen. Wenn Sie hineinschauen, sehen Sie Ihr eigenes Gesicht. Deshalb ist bei Aufstellungen das Anliegen so wichtig! Ihr Ziel, wieder auf Erfolgskurs zu kommen, fokussiert diejenigen Systemdynamiken, deren Zusammenhang mit Ihren Problemen Ihnen bisher nicht bewusst war. Welche das sein werden, wird sich zeigen! Vielleicht spielt einer der Faktoren eine Rolle, die ich gerade erwähnt habe. Es könnte auch um zwei verschiedene Arten von Erfolg gehen. Oft verstehen Unternehmer Erfolg auf eingeschränkte Weise: schnelles Wachstum, große Gewinne, Marktführerschaft. Wer aber schnelles Wachstum nicht ausreichend absichert, kann leicht aus der Erfolgskurve fliegen! Die Nebenwirkungen eines rauschhaften Aufstiegs zeigen sich meist später. Sie resultieren aus Versäumnissen der Wachstumsphase – ganz ähnlich wie wir alle das anhand der Umweltprobleme auf vielen Ebenen erleben. Jahrzehntelang haben wir Meere, Böden und Luft vergiftet und die Folgen ignoriert. Jetzt bekommen wir die Rechnung und damit erleben wir die große Ernüchterung wie eine Art Kater am Morgen nach dem großen Rausch. Wir werden mit unserer Gier und Ignoranz konfrontiert. Frage: Ja, wir sind sehr schnell gewachsen und haben unsere Kapazitäten dabei überdehnt. Das erkenne ich heute. Wie kann ich das in Zukunft vermeiden? Antwort:

Erfolg heißt nicht notwendig, immer zu gewinnen und zu wachsen. Wie das Wort sagt, ist Erfolg das, was erfolgt. Insofern ist auch Misserfolg ein Erfolg, denn er ist die Folge einer bestimmten Denk- und Handlungsweise. Jede innere Einstellung hat gewissermaßen ihre eigene Frequenz. Wenn eine unternehmerische Haltung von Angst vor Scheitern und Gier nach mehr geprägt ist, könnten wirtschaftliche Problem daraus resultieren. Denn diese Haltung ist eine Information, die sich unmerklich im ganzen Unternehmen verbreitet wie über eine Art stillen Twitter: »Wir sind auf einem riskanten Kurs. Es kann schiefgehen.« Die Unsicherheit wird oft durch Leichtsinn komZwei Arten von Erfolg

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pensiert. Schnelles Wachstum und große Gewinne können dann in die euphorische Illusion führen, dass es immer so weitergehen wird. Aber im Hintergrund lauern Angst und Unsicherheit. Im Scheitern finden sie ihre Bestätigung: »Ich hab’s ja gleich gewusst!« Das gilt es erst einmal zu erkennen und anzuerkennen: O. K., so haben wir uns in diese Lage hineinmanövriert. Als Nächstes folgt die Frage: Wie gelingt uns eine andere Art von Erfolg? Gerade in der digitalisierten Wirtschaft mit ihrer Verheißung exponentiell steigender Erfolge ist es wichtig, beide Beine auf dem Boden zu behalten. Das gelingt erfahrenen Unternehmern meist besser als Start-ups. Systemische Prinzipien und Erfahrungswerte können Sie dabei unterstützen, etwa die Haltung zu den eigenen Mitarbeitern zu überprüfen. Erfolgskritisch kann auch sein, wie Sie Ihre Kundinnen ansprechen und wie Sie mit Partnern, Lieferanten und Wettbewerbern umgehen. Und generell gilt, dass Engagement und Optimismus gute Ratgeber sind, Euphorie und Überheblichkeit weniger gute. Dieser andere, nachhaltige Erfolg kommt also eher unauffällig daher, vermeidet Großspurigkeit und zeigt sich verantwortlich für seine Wirkungen. Eine Unternehmensentwicklung, die systemischen Ausgleich berücksichtigt, ermöglicht ein gesundes, nachhaltiges Wachstum.

Lösungssuche: Veränderung ist nur jetzt möglich Frage: Ich bin beeindruckt, wie Aufstellungen versteckte Zusammenhänge im Unternehmen abbilden. Ich erkenne, wo etwas schiefläuft. Aber das ist ja noch nicht die Lösung! Wie hilft mir die Aufstellung, eine Lösung zu finden? Antwort:

Manchmal zeigen sich in Aufstellungen Lösungsbilder. Sie sind noch keine fertige Lösung und auch keine Handlungsanleitungen, aber sie verdeutlichen, wie es gehen könnte. Ob das geschieht, hängt von der gesamten Dynamik des Systems ab und lässt sich nicht bewerkstelligen. Manchmal ist es sogar hilfreicher, die Aufstellung zu be154

How to deal with the unknown?

enden, wenn klar wird, was zu der Problemlage geführt hat. Dann liegt der Ball bei Ihnen! Sie sehen das Ergebnis Ihres Tuns und können es nicht mehr auf die Umstände oder andere Akteure schieben. Das ist eine bittere Pille, die aber wirkungsvoller ist als ein süßes, harmonisches Lösungsbild. Es fordert Sie heraus und stärkt Ihre Entschlossenheit. Wenn ich ein Lösungsbild absichtlich inszeniere, um Ihnen einen Gefallen zu tun, mache ich Ihnen etwas vor. Das bringt Ihnen nichts! Sie würden einen schönen Traum träumen und die Konfrontation mit einer unangenehmen Wirklichkeit vermeiden. Dabei hätten Ihre Probleme vielleicht einige Geschenke für Sie – wenn Sie bereit wären, sich auf sie einzulassen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ein Unternehmen schreibt rote Zahlen. Das Management will das Unternehmen »neu erfinden«, denn so ist es »nicht mehr marktfähig«. Also geht man mit vollem Elan pragmatisch an eine neue Strategie. Doch sie scheitert. Denn die Tatsache, dass man schon gescheitert ist, ist nicht in den Blick genommen worden, sie ist nicht beleuchtet worden. Ihr Geschenk, nämlich die Spiegelung eines bisher unerkannten Zusammenhanges, wurde ignoriert. Erkennen und Akzeptieren einer Realität ist aber Voraussetzung für jede Entwicklung. Ansonsten wäre Selbstverleugnung ihre Grundlage, vielleicht sogar Selbstbestrafung oder die allseits bekannte Suche nach den Schuldigen, in der die Energie gebunden ist, die so dringend gebraucht würde, um der Sache auf den Grund zu gehen. Frage: Aber es geht doch im Geschäftsalltag um Lösungen! Wir suchen Lösungen für Unternehmensprobleme und auch für unsere persönlichen Konflikte. Sie sagen jetzt, ich sollte nicht mehr nach Lösungen suchen, oder wie darf ich das verstehen? Antwort:

Die Frage ist, ob die Veränderung, die Sie erreichen möchten, eine solide Basis hat und nachhaltig wirkt. Wenn wir von einer Lösung sprechen, meinen wir meistens einen Eingriff, der unsere hausgemachten Probleme wegräumt oder uns über sie hinweg hilft, und achten dabei selten auf die Nebenwirkungen. Lösungssuche: Veränderung ist nur jetzt möglich

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Mit manchen Problemen verhält es sich ähnlich wie mit den Plastikflaschen, die manche aus dem Autofenster werfen, wenn sie leer sind. Sie sind dann weg. Sind sie wirklich weg? Wo ist »weg«? Tatsächlich sind sie immer noch da und »verschönern« gemeinsam mit vielen anderen Plastikflaschen die Landschaft. Wenn Ihre Probleme »weg« sind, wo sind sie dann? Und wie gehen Sie damit um? Lassen Sie uns einmal gemeinsam anschauen, was genau geschieht, wenn wir eine Lösung anstreben. Wir bewegen uns weg aus einer Gegenwart, die uns nicht gefällt, in eine geträumte bessere Zukunft. Die Haltung und die Mittel, mit denen diese Zukunft gestaltet werden soll, stammen aus der abgelehnten Ist-Situation. Die Grundinformation des Lösungspfads ist also Ablehnung. Energie folgt der Information, das bedeutet, die Problem-Realität wird in anderer Form fortgesetzt. In der Zukunft wird also die Vergangenheit in anderer Form wiederholt. Oft reagieren wir dabei weniger auf die aktuelle Situation als auf Vergangenes – zum Beispiel auf frühere Krisen. Aus dieser Reaktion projizieren wir einen Idealzustand in eine gedachte Zukunft und nennen ihn »Lösung«. Real ist aber nur der Ist-Zustand, der abgelehnt wird. Die Vergangenheit existiert nicht mehr, die Zukunft noch nicht. Das bedeutet, dass Veränderungen nur jetzt geschehen können – nicht dann. Der Traum von der Lösung verneint das Jetzt, die gegenwärtige Realität. Deshalb können wir Lösungen, selbst wenn sie uns auf dem Silbertablett präsentiert werden, manchmal nicht annehmen. Wir erkennen in ihnen unsere ursprünglichen Probleme wieder und sagen: »Nein danke!« Frage:

Sie meinen, ich kann eine Lösung erst erreichen, wenn ich aus meinen Fehlern gelernt habe? Antwort:

Das wäre ein großer Schritt. Sie könnten mit einem kleineren beginnen und Ihre bisherigen Lösungsstrategien unter die Lupe nehmen. Denn darin können sich wertvolle Hinweise für eine Veränderung zeigen. 156

How to deal with the unknown?

Die Bewegung auf eine Lösung hin ist zuerst einmal eine Bewegung weg von mir, wie ich gerade bin. Logisch, denn den gegenwärtigen Zustand erlebe ich ja als Problem, als Konflikt oder Störung. Deshalb lehne ich ihn ab und will etwas anderes, besseres. Genau das ist der springende Punkt: Der Ausgangspunkt der angestrebten Lösung ist eine Haltung von Verneinung, oft sogar Ärger, Wut oder Verzweiflung. Ich will das Problem nicht mehr! Ich will es weg haben! Der Konflikt soll endlich vom Tisch! Diese ständige Störung nervt mich! Probleme weg haben zu wollen, ist verständlich. Wenn es aber mit dem »weg« und der gewünschten Lösung nicht funktioniert, ist es hilfreich, andere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen! Was bewirkt eine Ablehnung in Verbindung mit einem Wunsch? Was kommt dabei heraus? Mehr Probleme! Denn was ich verneine und ablehne, das stärke ich! Diesen einfachen Mechanismus können wir überall beobachten. Es handelt sich um eine unerwünschte Nebenwirkung der Lö­ sungs­orientierung: In der Suche nach einer Lösung lehne ich ab, was der Fall ist, und verstärke es auf diese Weise.

Suchen verhindert finden Frage:

Lösungsorientierung statt Problemorientierung ist doch aber ein großer Fortschritt sowohl im Management als auch in der Beratung! Verstehe ich das richtig, dass Sie Lösungsorientierung ablehnen? Antwort:

Lösungsorientierung ist ein sinnvoller Ansatz, aber ihr Pferdefuß ist die Ablehnung des Ist-Zustandes. Statt ihn anzunehmen, fliegen wir in der Fantasie zu wunderschönen Lösungen – bis die Schwere des mitfliegenden Problems uns wieder zu Boden zwingt. Der längere, aber letztlich kürzere Weg ist, erst das Problem anzuschauen und zu fragen: Womit haben wir uns in diesen Schlamassel hineinmanövriert? Was wollten wir eigentlich? Was haben wir dabei übersehen oder ignoriert? Wen oder was haben wir nicht berückSuchen verhindert finden

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sichtigt? Wovor haben wir die Augen verschlossen? Was ist hier der verdeckte Gewinn, der Problemnutzen? Frage:

Was meinen Sie mit Problemnutzen? Wozu sollten Probleme nützlich sein? Antwort:

Kürzlich kam ein Unternehmer ins Seminar, der seine Firma grundlegend umkrempeln wollte. Der größte Brocken war die Umstellung vom klassischen Außendienst auf vernetzte Online-Vertriebswege. Für ihn ist das mit großen Chancen, aber auch ebenso großen Risiken verbunden. Zwar hat er sich für den Schritt entschieden und auch bereits Investitionen getätigt, zweifelt aber am Erfolg. Während noch die Planungen für die Umstrukturierung laufen, gibt es plötzlich an anderer Stelle massive personelle Probleme. An Schlüsselpositionen kündigen einige seiner besten Fachkräfte, und die Prozesse in Technik und Produktion geraten daraufhin völlig durcheinander. Neue, ebenso qualifizierte Mitarbeiterinnen sind am Markt kaum zu bekommen. Der Unternehmer hat nun ein Riesenproblem, mit dem er sich beschäftigen muss. Verständlich, dass er das Digitalisierungsprojekt erst einmal auf Eis legt. In der Aufstellung merkt er, wie erleichtert er darüber war, dass er es jetzt nicht angehen kann. Dazu verhalf ihm das Problem, das ihm die Kündigungen beschert haben. Es hat also einen konkreten Nutzen für ihn, den man auch »verdeckten Gewinn« nennt. Jetzt ist ihm bewusst, dass er sich mit der Radikalität des Projekts und dem engen Zeitplan selbst überfordert hat, und kann die Sache in Ruhe angehen. Übrigens fand er bald darauf Ingenieure, die bereits Erfahrung mit ähnlichen Projekten hatten. Mit Problemnutzen ist also das »Gute am Schlechten« gemeint. Wenn Sie einem verdeckten Gewinn auf die Schliche kommen möchten, fragen Sie sich: Wem oder was brauchen wir uns nicht zu stellen, wenn das Problem bestehen bleibt?

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How to deal with the unknown?

Frage:

Ich möchte noch einmal auf die Lösungsorientierung zurückkom­ men. Sie gilt ja als einer der Grundpfeiler aktueller Beratungs- und Managementkonzepte. Was ist denn nun der Pferdefuß dabei? Antwort:

Lösungsorientierung oder Lösungsfokussierung soll helfen, den Fokus auf das gewünschte Ergebnis zu richten, statt vergeblich im »Problemtopf« herumzurühren. Resultate soll sie bringen, statt Ursachen zu erforschen und mit ihrer Fokussierung auf das Wie statt auf das Warum Zeit und Mühe ersparen. Kein Wunder, dass die Idee so beliebt ist, denn sie verspricht schnellen Erfolg. Hält sie dieses Versprechen? Sind die Verände­ rungen oder Perspektivenwechsel, die mit von ihr inspirierten Methoden entstehen, wirksamer und nachhaltiger als andere? Bei vielen Beratern und ihren Klienten scheinen die Zweifel zu wachsen. Denn die Suche nach dem »Quick Fix« und dessen schnelle Umsetzung führen selten zu bleibenden Verbesserungen. Also müssen wieder neue Lösungen her! Und wieder neue! Es ist ein wenig so wie mit den Updates, zu denen wir ständig aufgefordert werden und deren Sinn sich dem Nutzer selten erschließt. Warum lassen wir uns in so eine Spirale hineinziehen? Ein Blick auf den Mechanismus der Lösungssuche kann hier aufschlussreich sein. Ich erlebe einen Mangelzustand und will deshalb suchen, was mir fehlt. In der Suchbewegung ist aber mein problemschwerer Zustand präsent, füllt mich auf dominante Weise aus und bestimmt mein Denken, Fühlen und Handeln. Wenn ich nun in dieser Tonart in den Wald hineinrufe, schallt es genauso zurück. Sorgenvolles oder ärgerliches Sich-Beschweren bringt nicht Leichtigkeit und Lösung, sondern mehr Schwere. Meine Lösungssuche schwingt in der Tonart Ärger und Druck, auch wenn ich das lächelnd überspiele. Ich habe die Basis meines Problems außer Acht gelassen, wollte es nur weg haben und habe es so, ohne es zu merken, mitgenommen. So verlassen wir auf der Suche nach etwas Verlorenem den Ort, an dem wir es verloren haben, um es anderswo zu finden, z. B. in der Vorstellungkraft, in der Vision einer erfolgreichen Zukunft – oder im Lösungsbild einer Aufstellung. Suchen verhindert finden

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Die legendäre orientalische Mystikerin Rabiya suchte einst nach ihrer verlorenen Nähnadel. Alle Nachbarn halfen emsig mit, im Sand nach der Nadel zu schürfen. Schließlich fragt ein Nachbar Rabiya: »Wo genau hast du nun eigentlich die Nadel verloren?« »Drinnen im Haus«, antwortet Rabiya, während sie hingebungsvoll weitersiebt. »Aber dann suchen wir ja hier völlig vergebens. Sie kann ja gar nicht hier draußen sein!«, ruft der Nachbar empört. »Da hast du schon recht«, entgegnet Rabiya, »aber drinnen ist es viel zu dunkel zum Suchen!«

Ist Unsicherheit eine Ressource? Frage:

Warum lösen Schlagwörter wie Disruption, Digitalisierung und VUCA so viel Unsicherheit aus? Antwort:

Digitalisierung bedeutet für viele in leitenden Positionen (und nicht nur da), dass sie nicht wissen, wie es weitergeht. Ihre gewohnte Art, zu planen und zu arbeiten, funktioniert nicht mehr. Heute hören wir Begriffe wie Nichtwissen und Transformation nicht mehr nur von Philosophen, sondern ebenso von Managern. Sie merken, dass ihnen ihre Erfahrung nicht mehr weiterhilft, und beginnen, sich selbst infrage zu stellen. Sie tun das nicht, weil sie plötzlich Selbsterfahrung wichtig fänden, sondern weil ihre Unternehmen von den neuen Entwicklungen so bedroht sind wie nie zuvor. Also gehen sie zum »Selbstangriff« über – das ist eines der »Buzzwords« in der digitalen Szene – d. h. frag dich, wie du dein eigenes Unternehmen oder dich selbst überholen würdest. Dazu musst du dich kennen, denn außerhalb deiner selbst kannst du nichts mehr wissen. Schon gar nicht die Zukunft. Frage:

Führungskräfte wollen sich selbst besser kennenlernen, um fit für die Zukunft zu sein?

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How to deal with the unknown?

Antwort:

Manche erkennen, dass ihr Wissen und ihre Fähigkeiten z. B. im Hinblick auf Analyse, Entscheidung und Strategie starke Konkurrenz bekommen. Künstliche Intelligenz kann vieles, was Führungskräfte als ihre Kompetenzen ansahen, schneller und besser. Dazu kommt die Geschwindigkeit, mit der die Veränderungen geschehen. Was ich heute weiß, ist morgen schon veraltet. Frage:

Ein anderes Buzzword, das ich immer wieder höre, lautet: »Unsicherheit ist die Ressource der Zukunft!« Wie kommen vernünftig denkende Manager auf so eine Idee? Antwort:

So ein Schlagwort waren wir bisher nicht von Wirtschaftsleuten gewohnt! Was ist damit gemeint? Die Schlüsselressource unserer Zeit ist Information. Andere wirtschaftliche Ressourcen werden vergleichsweise unwichtiger. Information aber können wir nicht kon­trollieren, obwohl es immer wieder versucht wird. Das Onlinegeschäft verändert die Märkte. Unternehmen können nicht mehr so planen wie früher, als man sich auf seine Produkte, Kunden und Vertriebswege verlassen konnte. Sie müssen sich auf immer neue Umbrüche einstellen. Langjährige Kundinnen kaufen plötzlich bei Internetplattformen und die Hersteller sind ausgebootet. Oder: Statt Autos zu verkaufen, geht es nun um neue Mobilitätskonzepte. Und alles geht rasend schnell! Das Leben ist in den etablierten Traditionsunternehmen unsicherer geworden. Wenn ein alter Dampfer plötzlich von einem schnellen Start-up überholt wird, kommt er ins Schlingern. Was tun Sie, wenn Sie nicht mehr sehen, wo es langgeht? Sie erklären Nichtwissen und Unsicherheit zur Ressource! Gemeint ist damit Offenheit für immer neue Möglichkeiten. Wir nehmen Abschied von geplanten und gesicherten Wegen und wagen uns ohne Landkarte ins Unbekannte, hangeln uns ohne Geländer am Abgrund entlang. Das bedeutet: Du lebst hier und jetzt, verzichtest bewusst auf Sicherheiten, die du sowieso nicht mehr hast. So eröffnen sich Chancen, die du vorher nicht wahrgenommen hast, weil Ist Unsicherheit eine Ressource?

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sie außerhalb deines Wahrnehmungsrasters lagen, das durch deine Erfahrungen und Planungen begrenzt war. Wie anspruchsvoll die Aufforderung, Unsicherheit als Ressource anzunehmen, wirklich ist, illustriert eine alte chinesische Geschichte: Der beste Bogenschütze des Landes, der von niemandem besiegt wer­ den konnte, hört von einem alten Bogenmeister, der als Einsiedler hoch in den Bergen lebt. Begierig zu sehen, ob er auch ihn im Wettbewerb schlagen kann, macht er sich auf den Weg zu ihm. Der Alte begrüßt ihn freundlich, woraufhin der jüngere Bogenschütze sofort seine Kunst demonstriert. Er bringt ein handtellergroßes Ziel an einem fünfzig Meter entfernten Baum an, stellt eine mit Wasser randvoll gefüllte Tasse auf seinen ausgestreckten Arm und schießt drei Pfeile ab. Alle Pfeile sind im Ziel, kein Tropfen Wasser verschüttet. Der Alte lächelt: »Du schießt gut. Du hast eine ruhige Hand. Aber kannst du dich wirklich immer auf sie verlassen?« Er führt seinen Besucher auf eine Klippe, die schroff hunderte von Metern über den Abgrund ragt, und stellt sich auf den äußersten Rand des Felsvorsprungs mit dem Rücken zum Abgrund. Nur seine Fußballen berühren noch festen Boden, während er ruhig und gelassen über dem Abgrund zu schweben scheint: »Komm her«, fordert er seinen Herausforderer auf, »nimm deinen Bogen, stell dich genau neben mich und führe dein Kunststück noch einmal vor!« Der junge Bogenschütze kauert wie gelähmt vor ihm am Boden, zittert und schwitzt vor Angst und erkennt, dass seine technische Kompetenz noch keine wirklich sichere Hand bedeutet.

Wer also bisher gewohnt war, sich auf seine Erfahrung, sein Wissen und seine technische Kompetenz zu verlassen, für den ist Unsicherheit erst einmal überhaupt keine Ressource. Er erkennt aber die Notwendigkeit, sich darauf einzulassen, weil er keine andere Wahl hat. Was also tun? Man macht ein neues Motto daraus: Ressource Unsicherheit! Im Moment leben, im Fluss sein, damit fühlen sich die meisten Menschen dann wohl, wenn es gut läuft. Nicht zu wissen, wie es weitergeht, macht aber auch Angst. Wenn es der Angstbewältigung dient, wirkt so ein Credo ein wenig wie Pfeifen im Dunkeln. Niemand weiß, was die Zukunft bringt. Das war schon immer so, aber solange unsere Routinen funktionieren, leben wir in der Illu162

How to deal with the unknown?

sion, zu wissen, was geschehen wird. Diese Illusion wird jetzt unterbrochen: Plötzlich heißt es: Stopp! Hier geht’s nicht mehr weiter! Die eigentliche Frage, die auftaucht, wenn etwas Altes endet, lautet: Was wollen wir wirklich?

Herausforderung für unsere Bildungssysteme Frage:

Technische Innovationen bringen uns zu der Frage, was wir wirklich wollen? Antwort:

Ja, indem sie uns manches nehmen, worauf wir unsere Identität gegründet haben. Ein Beispiel: Deine Arbeit, für die du ausgebildet bist, macht jetzt ein Roboter, dein Wissen, das du über Jahre oder Jahrzehnte erworben hast, stellt ein Supercomputer auf Knopfdruck in den Schatten. Wer bist du und was willst du dann? Es wird ja immer noch so getan, als wäre es erstrebenswert, möglichst viel Wissen anzuhäufen. Unser Bildungssystem lebt noch im letzten Jahrhundert. Und in manchen TV-Quizshows kannst du viel Geld mit Faktenund Datenwissen gewinnen, das heute jedes Kind googeln kann. Ist das nicht absurd? Vielen wird klar: Mit dem Kopf allein geht’s nicht mehr! Nach­ denken ist einfach zu langsam für die Geschwindigkeit des Infor­ ma­tions­zeitalters. Es hinkt hinterher. Deshalb heißt es ja auch Nach-Denken. Nun tasten wir uns vorsichtig an andere Formen der Intelligenz heran, die in Echtzeit arbeiten können, also im Hier und Jetzt – z. B. intuitive und Herzintelligenz. Auch Meditation ist bei Führungskräften im Kommen, jedenfalls in milder Dosierung. »Mindfulness« ist angesagt. Allmählich entdecken so auch Menschen, die sich bis dahin nur mit ihrem rationalen Verstand identifiziert haben, dass es noch etwas anderes gibt, einen intelligenten Modus außerhalb von Analyse und Kontrolle. Im Kontrollmodus erleben wir Unsicherheit ausschließlich als Bedrohung. Wechseln wir aber in einen Entdeckeroder Experimentier-Modus, indem wir unsere Wahrnehmung ins Herausforderung für unsere Bildungssysteme

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Hier und Jetzt bringen, merken wir, dass wir aktuell gar nicht bedroht sind. Nur die Vorstellung einer unkontrollierbaren Zukunft ist es, die diese Wahrnehmung erzeugt. Bin ich aber mit all meinen Sinnen in der Gegenwart, erlebe ich undefinierte und unsichere Entwicklungen aus einer anderen Warte: Vielleicht wecken sie meine schöpferische Neugier. Sie eröffnen Möglichkeiten, die Dinge anders anzugehen. Wir beginnen, Veränderung nicht als ein Konzept zu verstehen, das wir ausarbeiten und dann ausführen, sondern als eine Expedition ins Unbekannte, die aufmerksame Wachsamkeit mit jedem Schritt erfordert. Ich kann nur diesen Schritt jetzt gehen. Wenn ich das tue, ohne mir Sorgen um meinen Plan für die Zukunft zu machen, erweitert sich das Spektrum der möglichen Alternativen ungemein. Vielfältige Chancen können sich ergeben. Und auch wenn etwas scheitert oder Strukturen sich auflösen, bricht nicht die Welt zusammen. Wir lernen neu! Wir lernen aus unseren Fehlern. Kreativität bedeutet, jeden Tag neue Fehler zu machen! Immer die gleichen Fehler zu wiederholen, ist weniger kreativ und geschieht meistens dann, wenn wir uns auf unsere Routinen beziehen. Frage: Manche sehen in der Digitalisierung auch die Chance, Utopien wahr werden zu lassen: eine Welt, in der wir keine entfremdete Arbeit mehr verrichten, sondern kreative und selbstbestimmte. Wenn wir technisch so weit sind, warum gelingt es uns dann nicht, Maschinen die Arbeit machen zu lassen und unser Leben zu ändern? Antwort:

Ich würde eher fragen: Was sind die ersten kleinen Schritte, die wir konkret in diese Richtung gehen können? In manchen Start-ups, aber auch in bestimmten Bereichen in Großunternehmen, gibt es schon eine neue Art zu arbeiten mit mehr Kreativität, Experimentierfreude und fließenden Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. Die meisten Utopien malen ja eine Welt der Verbundenheit – mit sich selbst und anderen. Das Kernthema der digitalen Transformation ist auch Verbundenheit – oder cooler »Connectedness«. Wir sind durch das Internet und tausend kleine Apps mehr denn 164

How to deal with the unknown?

je miteinander verbunden – Smartphones, WLAN etc. Aber sind wir wirklich verbunden? Wenn ich nicht mit mir selbst verbunden bin, kann ich auch nicht mit dir verbunden sein. Die digitalen Verbindungen wie z. B. über Facebook bringen uns einen Hauch, eine Ahnung, vielleicht auch nur die Illusion von Verbundenheit. Deshalb sind die Social Media so beliebt. Sie erinnern uns an unser Bedürfnis nach Verbundenheit – und mit ihrem Kommerz zugleich daran, wie sehr sie uns fehlt. Und wie verbunden wären wir noch mit uns und mit anderen Menschen, wenn es harte Konkurrenz um immer weniger Arbeitsplätze gäbe, weil Roboter die meisten Jobs machen?

Unbekannte Zukunft – Bedrohung oder Verheißung? Frage: Das ist ja der Kern der Verunsicherung, die sich überall breit macht: Niemand weiß, ob die Arbeitsplätze verschwinden werden oder tatsächlich an anderer Stelle neu entstehen! Ich weiß oft auch nicht mehr, was ich meinen Mitarbeitern sagen soll. Was können Systemaufstellungen in dem Zusammenhang leisten? Antwort:

Leider können sie nicht prophezeien, wie unsere Arbeitswelt in zehn Jahren aussehen wird. Und sie sind schon gar kein Zaubermittel, das Probleme erkennt und sie gleich auf magischem Wege löst – auch wenn manche das verständlicherweise gern glauben möchten. Aber sie können uns wertvolle Informationen liefern: Sie spiegeln uns wider, wo wir stehen, was wir tun, wo wir uns verrannt haben und wo sich Möglichkeiten und Öffnungen zeigen, die wir bisher nicht erkannt haben! Das ist nicht immer angenehm. Bisweilen werden wir auf schmerzhafte Weise mit unseren Illusionen konfrontiert – wie zum Beispiel der Vorstellung, dass alles immer so weitergeht, wie wir es gewohnt waren. Wenn wir so eine Situation aufstellen, schauen wir unseren eigenen Hoffnungen und Illusionen ins Auge, erkennen, wofür sie nützlich waren, und wenden uns dann dem Neuen, Unbekannten zu. Unbekannte Zukunft – Bedrohung oder Verheißung?

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Das Unbekannte wirkt ja nur so lange bedrohlich, bis wir beginnen, es anzuschauen. Vielleicht könnten wir uns ja sogar damit anfreunden! Frage: Dazu gehört ziemlich viel Mut … Antwort:

Ja, der Mut, einen sicher geglaubten Rahmen loszulassen. Das ist einfach gesagt, aber schwer getan, wenn es um die Existenzgrundlage geht und alles im Umbruch ist. Daher gibt es auch so viel Rückwärtsbewegung überall, zurück zu Nationalstaat, Fundamental-­Religion, Populismus – zu den einfachen Antworten. Auch das ist eine große Herausforderung, die Not dahinter zu sehen, und nicht die Menschen zu verurteilen, die ihre Hoffnungen auf so etwas setzen. Wenn unser Wissen über die Welt nichts mehr gilt, gibt es zwei Möglichkeiten. Eine ist, hinter das Wissen zurückzufallen in den naiven Glauben und populistischen oder religiösen Führern und ihrem Gut-Böse-Schema zu vertrauen. Oder man geht über das Wissen hinaus und freundet sich mit dem Nichtwissen an. Denken ist dabei nur von begrenztem Nutzen. Intuition und Gespür sind hier hilfreicher. Es geht auch darum, die eigenen Denkmuster zu erkennen und dem analytischen Denken einen angemessenen Platz zu geben – nicht einen Alleinherrscherplatz! Im Grunde geht es um mehr innere Demokratie. Frage: Reicht das aus, um Zukunftsangst zu bewältigen? Antwort:

Ängste werden wir nicht durch Argumente los, meist nicht einmal durch Einsicht. Sie sind dafür nicht zugänglich. Zukunftsangst verschwindet auch nicht, wenn die Geschäftsleitung der Belegschaft eine Beschäftigungsgarantie gibt. Das beruhigt ein wenig, doch die Angst wird sich andere Themen suchen, die ihr einen Nährboden bieten: Umweltgifte, Klimawandel, Flüchtlingskrise oder im persönlichen Leben Krankheit, Trennung, Altersarmut. 166

How to deal with the unknown?

Wer wirklich mit seiner Angst anders umgehen möchte, muss bereit sein, sich auf die eigenen inneren Themen einzulassen, die von der Vernunft mehr schlecht als recht in Schach gehalten werden. Jeder Mensch hat angstauslösende Situationen erlebt, die meisten und tiefgehendsten in der frühen Kindheit. Sie schlummern in verborgenen Winkeln der Psyche und werden wach, sobald eine Situation uns an das Schreckliche erinnert, das wir weggeschoben haben. Dann kommen sie vor und überschwemmen uns. Angst verdrängt jede Vernunft vom Steuer. Wir merken das daran, dass wir unter ihrem Einfluss nicht mehr klar denken und handeln können, in Panik geraten und uns unsinnig verhalten. Angst zu bewältigen setzt voraus, Unsicherheit als Bestandteil des Lebens zu akzeptieren. Es gibt keine Sicherheit! Jeder kann unerwartet schwer krank werden, einen Unfall haben oder Angehörige verlieren. Krisen oder Katastrophen können die eigene Existenzgrundlage in kurzer Zeit vernichten. Weil Unsicherheit ein Grundelement menschlichen Lebens ist, versuchen wir uns, so gut es geht, dagegen zu versichern. Das Versicherungsgeschäft blüht zu allen Zeiten. Wir können uns gegen so ziemlich alles versichern lassen, selbst gegen den Ausfall von Versicherungen. Das beruhigt allerdings nur oberflächlich, ebenso wie finanzielle Absicherung oder eine gute medizinische Prophylaxe. So sinnvoll sie ist, bietet sie doch keine Garantie dafür, gesund zu bleiben. Die Umbrüche im beginnenden Informationszeitalter konfrontieren uns stärker mit dieser Grundtatsache des Lebens.

Herausforderung künstliche Intelligenz (KI) Frage:

Bei uns wird immer mehr künstliche Intelligenz eingesetzt. Viele Mitarbeiterinnen reagieren verunsichert. Wie können wir mit der Angst vor KI umgehen? Antwort:

Hier ist es wichtig, zwischen Befürchtungen und Ängsten zu unterscheiden. Befürchtungen haben meist eine reale Grundlage – Ängste Herausforderung künstliche Intelligenz (KI)

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nicht. In diesem Kontext gibt es die durchaus reale Möglichkeit, dass eine Reihe menschlicher Kompetenzen von künstlicher Intelligenz überholt werden und Roboter bestimmte, auch hochqualifizierte Aufgaben besser und schneller ausführen können. Viele Fach- und Führungskräfte machen sich deshalb Sorgen um ihren Job. Ob und inwieweit diese Befürchtungen gerechtfertigt sind, kann heute kaum jemand definitiv sagen. Das Szenario einer vollständig automatisierten Produktion und Vermarktung verbunden mit Online-Vertrieb macht aus der Mehrheit der heute erwerbstätigen Menschen beschäftigungs- und einkommenslose Konsumenten. Ohne Kaufkraft können sie allerdings die maschinell hergestellten Güter der schönen neuen Welt nicht erwerben. Sie brauchen also ein Einkommen. Woher soll das kommen, wenn nicht mehr aus angestellter oder selbstständiger Tätigkeit? Die wenigen Herrscher über eine automatisierte Wirtschaft würden es ihnen zur Verfügung stellen müssen, denn sonst blieben sie auf ihren selbstfahrenden Elektroautos und vernetzten SmartHome-Einrichtungen sitzen! Das hätte eine gewisse Komik: Hersteller geben ihren eigenen Kunden Geld in die Hand, damit die ihre Waren kaufen können  – so wie Kinder früher Kaufmannsladen gespielt haben. Das müsste dann wohl diskreterweise indirekt über Unternehmensbesteuerung abgewickelt werden, mit der eine staatliche Unterstützung finanziert würde. Welche sozialen Folgen hätte ein solches Szenario? Was würde eine beschäftigungslose Bevölkerung tun? Wie würde sie leben? Welche Konflikte wären zu erwarten? Welche Chancen eröffneten sich? Bisher werden diese Fragen mit dem beschwichtigenden Hinweis beiseite gewischt, dass die digitale Transformation sogar mehr Arbeitsplätze schafft, als sie vernichtet. Hinter den Befürchtungen stehen allerdings auch diffuse Ängste. Sie werden von einem tiefen Ohnmachtsgefühl gespeist: Mit KI fühlen sich viele einer unergründlichen Macht ausgeliefert. Sie wird wie eine gottähnliche Instanz erlebt, auf die wir keinerlei Einfluss haben. Zu den alten, persönlichen Gottheiten können die Menschen noch beten und so in eine Art Dialog mit der höheren Macht treten. Das ist mit KI nicht möglich, denn wir wissen sicher, dass sie von Menschen hergestellt wurde. Deshalb werden ihr auch keinerlei tröstliche Attri168

How to deal with the unknown?

bute wie Liebe, Güte und Weisheit zugeschrieben wie unseren alten Göttern. Schließlich kennen wir uns selbst zu gut, um daran zu glauben, dass unsere eigenen Homunculi mit uns Gutes im Schilde führen könnten.

Sind Roboter die besseren Köpfe? Frage:

Ein strategisches Ziel unseres Vorstands ist es immer gewesen, die besten Köpfe für uns zu gewinnen. Dafür haben wir viel investiert. Sollte das angesichts der KI eine Fehlinvestition gewesen sein? Antwort:

Der Kampf um die besten Köpfe ist entschieden – KI hat ihn gewonnen. Und zwar auf Kopfseite und auf Employerseite zugleich. Viele Managementkompetenzen beherrscht KI morgen besser und schneller. Die Investition in gute Leute lohnt sich, wenn du nicht nach den »besten Köpfen« suchst, sondern nach Menschen mit erweiterter Intelligenz, die auch ihre Intuition und ihr Gespür einsetzen. Unsere menschlichen Stärken werden gerade im Kontrast zu KI deutlich. Sie liegen im Unlogischen, im Kreativen, im Unplanbaren, im intuitiven Verbinden. Wie uns die Neurowissenschaft erklärt, besitzen wir über unser Bewusstsein und unser Herz- und Bauch-Gehirn diese Qualitäten in unbegrenzter Kapazität. Und wir verfügen bereits über Methoden, sie praktisch im Alltag zu nutzen – beispielsweise die Systemaufstellung. Frage:

Sind uns Roboter in vielem nicht eher voraus? Laufen wir ihnen nicht hinterher? Antwort:

Ja, sie haben uns manches voraus, z. B. merken sie, wenn sie Fehler machen, sie sind lernfähig und programmieren sich neu, wenn sie merken, dass sie einen Fehler gemacht haben. Das müssen wir erst mal nachmachen! Sind Roboter die besseren Köpfe?

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Frage:

Wohingegen wir den gleichen Fehler immer wieder machen? Antwort:

Ja, genau. Und jetzt können wir fragen: Haben Roboter ein Bewusstsein? Frage:

Und was sagst du? Antwort:

Nein. Auch intelligente Roboter sind mechanisch. Bewusstsein ist nie mechanisch. Sie können gemäß ihrer Programmierung immer wieder innehalten – haltmachen und sich korrigieren und optimieren. Wir tun etwas Ähnliches in kreativen Prozessen und in der Meditation, wir schweifen ab und – stopp – kommen wieder zu uns selbst zurück – aber zu uns selbst und nicht zu einem effektiveren Funktionieren! Das ist der Unterschied. Bisher zielten unsere Bildungssysteme in großen Teilen darauf, Wissen so abzuspeichern, dass wir Daten, Fakten und deren Kombination wie auf Knopfdruck abrufen konnten. Der menschliche Verstand wurde wie eine Maschine programmiert und benutzt. Jetzt gibt es mit KI bessere Maschinen. Damit entstehen ganz neue Möglichkeiten! Statt den Robotern ähnlich zu werden, könnten wir den Freiraum, den sie uns geben, nutzen, um uns selbst besser kennenzulernen. Vielleicht stößt die digitale Transformation auf diese Weise eine menschliche Transformation an, in der wir lernen, bewusster mit uns selbst und anderen umzugehen. Dazu würde auch ein anderes Bildungssystem gehören, das wirklich Menschenbildung betreibt, statt uns nur Wissen einzupauken. Neben Kompetenzentwicklung gehörten auch Selbsterforschung, Kreativität, Kommunikation und andere soziale Fähigkeiten dazu. Ebenso wie Meditation – und natürlich Leben mit Robotern! Daran werden wir nicht vorbeikommen.

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How to deal with the unknown?

Eine andere Führung? Frage:

Wir arbeiten in unserem Unternehmen mit agiler Führung und New-Work-Prinzipien wie selbstverantwortlichen, leiterlosen Teams. Beim Abbau der Hierarchien stoßen wir ausgerechnet bei den Mitarbeitern auf erhebliche Widerstände. Dabei müsste das doch in ihrem Sinne sein! Wie können wir sie überzeugen und wie gelingt uns die Transformation unserer Führungskultur? Antwort:

Im Hype um »agile Führung« und »New Work« übersieht man leicht etwas Entscheidendes: die Menschen mit ihren Gewohnheiten, Strukturen und Bedürfnissen. Die ändern sich nicht so schnell. Welcher Anspruch verbirgt sich allein schon hinter dem Begriff »Teamarbeit«? Team bedeutet: Ich gebe der gemeinsamen Aufgabe Priorität und stelle meine Kompetenzen und Erfahrungen dafür zur Verfügung. Meine persönlichen Interessen bringe ich nur so weit ein, wie es dem Erreichen des Ziels dient. Ich hätte also auf selbstlose Weise das Wohl des Ganzen im Blick. Wie realistisch ist so eine Vorstellung in einem Wirtschaftsunternehmen, dessen Zweck Profitmaximierung ist? Die einzelnen Mitarbeiterinnen sollen sich in Selbstlosigkeit und Verbundenheit üben, während die Eigentümer des Unternehmens, seien sie nun Aktionäre, Gesellschafter oder Manager, hauptsächlich ihr eigenes Wohl im Blick haben. Wie soll das funktionieren? Auch die häufig damit verbundene Forderung an die Mitarbeiter, unternehmerisch zu denken und zu handeln, lässt außer Acht, dass sie eben nicht am Gewinn und Risiko beteiligt sind. Wie sollten sie dann als Unternehmer denken? Wenn in einer Arbeitsbeziehung einer sich komplett ändern und alles geben soll, während der andere die Früchte erntet und ganz im alten Profitdenken verharrt, entsteht eine systemische Schieflage. Auf so einer Rutschbahn kann es schnell bergab gehen.

Eine andere Führung?

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Frage:

Was genau ist denn das Problem? Warum sperren sich Mitarbeite­ rinnen gegen hierarchielose Teams? Manche Unternehmen arbeiten doch schon nach diesem Prinzip! Antwort:

Hierarchiefreie Unternehmensorganisation ist »in« und im Trend, funktioniert aber selten. Schaut man es systemisch an, zeigt sich oft eine klassische Dynamik: Wenn keiner mehr führt, springt sofort ein heimlicher Leiter in diese Leerstelle und schon sind wir unbemerkt zurück in der guten alten Hierarchie. Da dieser »Führungswechsel« sich im Verborgenen abspielt, geben wir damit jede Steuerungsmöglichkeit aus der Hand. Soziale und gruppendynamische Realitäten werden ignoriert. Welche Ideologie auch immer in einem Unternehmen oder Team verkündet wird – es gibt immer eine Wortoder Meinungsführerin. Das kannst du überall beobachten: basisdemokratische Netzwerkgruppen ticken nicht anders als Rocker-Clubs oder autoritäre Familienunternehmen – oder eben Unternehmen, die verkünden: Bei uns gibt es keine Hierarchie! Der Unterschied ist nur: Die einen tun, was sie sagen, und die anderen tun so als ob. Unser Säugetiergehirn ordnet uns selbst und die anderen sofort als stärker oder schwächer ein und verhält sich entsprechend – nämlich dominant oder unterordnend beziehungsweise rebellisch. So verständlich der Wunsch nach einer anderen Führung ist – ganz so einfach, wie manche sich das vorstellen, ist es nicht. Menschliche Systeme verlangen nach klarer Führung. Das ist eng mit dem Bedürfnis verbunden, einen Platz in der eigenen Bezugsgruppe zu haben. Agile Führung oder New Work ändern daran nichts. Frage:

Wie können wir denn in Teams lernfähiger werden? Antwort:

Durch eine konsequente Arbeit an den eigenen Reaktionsmustern und inneren Strukturen. So etwas geht nicht einfach per Entscheidung: »Ab jetzt sind wir ein Team und aufeinander eingespielt!« Das Pro172

How to deal with the unknown?

blem ist die »menschliche Software«. Sie läuft seit Millionen Jahren ohne Update. Das Feature Teamfähigkeit wurde nicht mitgeliefert. Es muss zugekauft werden, d. h., es ist eine beträchtliche Inves­ tition an innerer Arbeit nötig, um sie zu entwickeln. Teamfähig würde heißen: Ich stelle mich zur Seite und schaue, was braucht das Ganze, was brauchen alle? Wer kann das schon? Kaum jemand ist dazu in der Lage! Also wird eine Ideologie verkündet: Wir sind alle ein Team! Dann tun die Einzelnen so als ob und arbeiten verdeckt weiter mit Ellenbogen. Verstärkt wird das durch die Wirkung der Ablehnung: Was du ablehnst, das stärkst du! Du gibst ihm Energie! Wer hierarchische Führung ablehnt, verstärkt sie – nur eben auf verborgene Weise über die heimliche Leitung. Frage:

Heißt das, Veränderung in den Führungsstrukturen ist unmöglich? Antwort:

Wie bei jeder Veränderung ist der Ausgangspunkt die Ist-Situation. Wenn wir nicht zur Kenntnis nehmen, dass menschliche Systeme Führung brauchen, bewegen wir uns in einem luftleeren Raum, koppeln uns von der Realität ab. Wer Hierarchien über Bord wirft und Selbstverantwortlichkeit deklariert, geht den zweiten Schritt vor dem ersten. Ein erster Schritt zu einer anderen Führung wäre, dass Führungskräfte beginnen, sich selbst und ihre Arbeitsweise zu reflektieren. Wenn sie wirklich Feedback von ihren Mitarbeitern einholen wollen und es auch ernst nehmen, kommt das an. Sie gewinnen an Autorität. Ohne Autorität gibt es zwar Hierarchie, aber keine Führung! Manche, die das merken, wollen deshalb Hierarchien komplett abschaffen. Doch das ist zu kurz gesprungen! Das Problem ist nicht die Hierarchie, sondern das Fehlen natürlicher Autorität! Sie hat nichts mit autoritärem Verhalten und Alphatiergehabe zu tun, sondern mit Verantwortung und Echtheit. Führung mit Bewusstsein verlangt natürliche Autorität und wird auch von den Mitarbeiterinnen anerkannt, denn sie bedeutet: ȤȤ Ich sehe dich! ȤȤ Ich zeige mich! Eine andere Führung?

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ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ

Ich gehe auf dich zu. Ich gebe dir einen Rahmen. Ich bin verantwortlich und erwarte Verantwortung von dir! Ich sage klar »Ja« und klar »Nein«. Ich stehe da und halte dir stand. Ich höre dir zu und gehe auf dich ein. Ich bin bereit zum Konflikt und offen für deine Sichtweisen. Ich fordere dich! Ich unterstütze dich!

Die meisten Führungskräfte sind nach wie vor ausschließlich wirt­ schaftlich oder technisch qualifiziert und haben keinerlei Ausbildung in Kommunikation, angewandter Psychologie und Gruppendynamik genossen. Bis auf Ausnahmen haben sie sich nur wenig mit den eigenen Untiefen und blinden Flecken beschäftigt. Wie sollen sie dann führen? Mit Exceltabellen? Wir brauchen Führungskräfteausbildungen, in denen es um diese Essentials von Führung geht. Dazu gehören heute auch Selbsterfahrung, Feedbackprozesse und Achtsamkeitsübungen. Und Aufstellungen! Ich finde, Aufstellungsarbeit gehört in jede Führungskräfteausbildung. Denn sie trainiert sehr effektiv die Wahrnehmung für zwischenmenschliche und organisatorische Dynamiken. Füh­ rungs­konzepte wie »Agilität« oder »Management by …« können das nicht ersetzen. Frage: O. K., ich verstehe, dass hierarchiefreie Zusammenarbeit ein wirklich großer Wurf ist, der uns einiges abverlangt. Aber welche kleinen Schritte können wir in diese Richtung gehen? Antwort:

Es gibt eine Reihe von praktischen Werkzeugen, die in manchen Unternehmen mit Erfolg eingesetzt werden. Zum Beispiel »Working out loud«5. Das ist ein pragmatisches Tool, mit dem Teams Netzwerke schaffen, in denen man Wissen und Erfahrungen teilt und so 5 Siehe auch: http://workingoutloud.com

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How to deal with the unknown?

zu neuen Fähigkeiten und Arbeitsweisen kommt. Das Motto lautet »Die Kraft von Peer-Support«. Man übt Selbstorganisation in kleinen Schritten und ermöglicht Mitarbeitern, die sich mit der Digitalisierung schwertun, ohne Druck bestimmte digitale Skills zu erlernen, die für das Networking nötig sind. Einige Elemente der Methode klingen wie Programmpunkte eines sozialen Selbsthilfeprogramms: Großzügigkeit, Beziehungen schaffen, Zielorientierung, Neugier und Offenheit. Teilnehmer machen dabei die Erfahrung, dass sie Unterstützung finden, wenn sie sich mit ihren Themen sichtbar machen. Über die digitalen Netzwerke kommen manchmal Tipps oder Angebote aus völlig unerwarteten Richtungen. Solche Ergebnisse bestärken und motivieren. Mitarbeiterinnen können auf diese Weise Themen selbstständig lösen, für die sie sich früher an ihre Führungskräfte gewendet hätten. Über ihre Netzwerke haben sie einen eigenen Zugang zu Expertenwissen. Ihre Führungskräfte werden insoweit überflüssig, als der alte Delegation-Kontrolle-Mechanismus ausgehebelt wird. Optimisten sehen darin bereits eine Umkehr der klassischen Organisationspyramide – ganz oben wären dann all die agilen Mitarbeiter-Teams, die sich selbstständig um Ziele und Aufgaben kümmern, ganz unten die noch verbleibenden Führungskräfte. Netzweltwerte wie Sharing, Community, Open Source und Großzügigkeit führen so zu effektiverer Arbeit in kleinen Unternehmen wie in Konzernen. Systemisch wäre es wichtig zu untersuchen, wie es mit dem Gleichgewicht von Geben und Nehmen aussieht, wenn man in Wirtschaftsunternehmen solche Grassroot-Ansätze einsetzt. Angestellte Mitarbeiterinnen arbeiten so engagiert wie in Bürgerinitiativen. Wirtschaftlich profitieren andere von den Effektivitätssteigerungen. Was geschieht, wenn Mitarbeiter, die sich auf diese Weise engagiert haben, im Zuge weiterer Digitalisierung oder Umstrukturierung ihre Arbeitsplätze verlieren? Mit Verbundenheit und Großzügigkeit könnte es schnell vorbei sein  – ebenso wie diese Werte im Netz teils Oberfläche für darunterliegende Fischzüge einzelner Interessengruppen sind. Schließlich wird auch die Netzwelt von wenigen marktbeherrschenden Digitalkonzernen bestimmt, die wie Industriebetriebe des Frühkapitalismus agieren. Eine andere Führung?

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Frage:

Welche Aufgaben bleiben für Führungskräfte, wenn ihre Mitarbeite­ rinnen agil und selbstverantwortlich arbeiten? Antwort:

Führen! Führen heißt ja nicht nur: Anweisungen geben, delegieren und kontrollieren oder Macht ausüben und disziplinieren. Führen heißt: den Menschen einen Raum geben, in dem sie ihre Fähigkeiten und Talente entfalten können. Dann entsteht intrinsische Motivation. Qualifizierte Führungskräfte sind in der Lage, diesen Raum auch zu halten, wenn es schwierig wird, wenn etwa Konflikte aufbrechen. Sie verfallen dann nicht in elterliche Autoritätsmuster, indem sie zum Beispiel beginnen zu drohen, zu strafen oder sich zu entziehen. Sie verteilen auch nicht Zuwendung nach persönlichen Vorlieben oder dem Gießkannenprinzip, sondern haben die Teamdynamik im Blick. Dazu sind sie aber nur in der Lage, wenn sie die damit verbundenen persönlichen Themen in sich selbst kennengelernt und bearbeitet haben. Sie wären dann auch nicht in dem Maße korrumpierbar durch Manipulationsversuche strebsamer Karrieristen, wie es heute vielfach der Fall ist. Mit institutioneller und persönlicher Macht könnten sie bewusst umgehen und sie entschlossen einsetzen, wenn es für das Wohl des Unternehmens notwendig ist. Führungskräfte benötigen neben psychologischem und systemischem Grundwissen gleichermaßen Empathie und die Fähigkeit zur Abgrenzung. Auch Durchsetzungskraft müssen sie besitzen, wenn es um unpopuläre Maßnahmen oder Regeln geht. Das wären zentrale Inhalte einer qualifizierten Führungskräfteausbildung. Frage:

Viele unserer Mitarbeiter haben Probleme mit der Digitalisierung und sträuben sich dagegen. Manche sind kritisch und einige wollen einfach nicht mitmachen. Wie entscheiden wir, von welchen dieser Mitarbeiterinnen wir uns trennen? Antwort:

Wenn sie Probleme damit haben, bedeutet das nicht, dass sich das nicht ändern könnte. Im Gegenteil, wenn jemand sich sträubt und 176

How to deal with the unknown?

Stellung gegen eine Anforderung bezieht, ist das ein aktives Interessesignal! Diese Menschen setzen sich damit auseinander und sind noch nicht vom Nutzen überzeugt. Sie sind nicht einfach gleichgültig oder zu faul, Neues zu lernen. Sie bringen sich mit Energie ein, vielleicht sogar mit einer Menge Energie, die auf Ablehnung gepolt ist. Wenn ihr es in eurem Unternehmen versteht, diese Mitarbeiter abzuholen, sie ernst zu nehmen, ihre Bedenken anzuerkennen und euch ihren Fragen zu stellen, könnte sich das ändern! Stellt euch neben sie! Stellt euch vor, in ihrer Haut zu stecken, und versucht nachzuvollziehen, was in ihnen vorgeht. Das allein hätte schon eine Wirkung. Wenn Digital-Skeptiker aber belächelt oder ausgegrenzt werden, können sie natürlich zu Rebellen oder Verweigerern mutieren. Aber selbst aus Verweigerern werden oft überzeugte Mitmacher! Also schaut mal, was wirklich ihre Fragen oder Befürchtungen sind. Legt euch nicht zu früh auf Beurteilungen fest wie »kein digitaler ­Mindset«. Vielleicht geht es um Menschen, die sich seit vielen ­Jahren für die Firma eingesetzt haben und sich nun abgehängt fühlen. Wenn ihr euch dann trotzdem von Mitarbeiterinnen trennen wollt, fragt euch, ob es für das Überleben des Unternehmens notwendig ist. Könnt ihr das bejahen, wird die Entlassung wahrscheinlich keine negativen Auswirkungen auf das Unternehmen haben.

Kinder der Digitalisierung Frage:

Wie kann ich meine Kinder vor Verblödung durch das Internet schützen? Antwort:

Das ist stark von ihrem Alter abhängig. Wenn sie noch klein sind, kannst du das vor allem durch deinen eigenen Umgang mit digitalen Geräten beeinflussen. Indem du selbst bewusst mit dem Internet umgehst und beispielweise bestimmte Internet-Fastenzeiten einhältst, gibst du bereits ein Vorbild. Lass sie draußen im Freien spielen, Kinder der Digitalisierung

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Kinder wollen sich bewegen. Computer und Smartphones können einfach ein Spielzeug unter vielen sein. Sind die Kinder älter, verlierst du sowieso gegenüber ihren Peers an Einfluss. Sie werden sich in ihrem Verhalten viel stärker an ihren Freundinnen orientieren. Dort müssen sie dazugehören. Sie tragen die gleiche Mode, hören die gleiche Musik, sprechen die gleiche Sprache, benutzen die gleichen Apps, spielen die gleichen Spiele und schauen die gleichen Videos. Verbote nützen da wenig. Sprich mit ihnen. Frag sie, was ihnen wichtig ist. Nimm sie ernst, sei für sie da! Dann ist das Internet wenigstens kein Ersatz dafür. Und überprüfe immer wieder dein eigenes Verhalten! Wenn die Eltern ständig auf ihr Smartphone starren und alles online bestellen – wie können sie dann von ihren Kindern etwas anderes erwarten? Gewissermaßen infantilisiert die Digitalisierung uns alle, gleich welchen Alters wir sind. Ein kindlicher Wunschtraum wird wahr: Wir drücken einen Knopf oder sprechen einen Wunsch aus und schon wird er erfüllt und das Gewünschte an die Haustür geliefert. Kundinnen werden so psychologisch zu Kindern. Mama Alexa kümmert sich um dich. Frage: Warum sind wir so internetsüchtig? Viele bekommen ja schon Entzugserscheinungen, wenn sie mal ein paar Stunden offline sind. Und überall kleben die Menschen an ihren Smartphones oder machen Selfies. Antwort:

Menschen haben das Bedürfnis, sich selbst gespiegelt zu sehen. Seit der Antike geschieht das über Theater und theaterähnliche Inszenierungen, in denen wir unsere Themen und damit auch einen Teil unserer selbst von außen betrachten können. Dramen spiegeln unsere Abgründe, Schnulzen unsere Sehnsüchte. Heute übernehmen TV- und Net-Serien diese Funktion. Wir erkennen uns in den Akteuren und Handlungen wieder, können darüber lachen, böse oder traurig werden. Vielleicht verbirgt sich dahinter ein latentes Bedürfnis nach Selbsterkenntnis. Jedenfalls können wir uns mit den Guten identifizieren und zuschauen, wie die Bösen scheitern, und uns so von den eigenen dunklen Neigungen distanzieren. 178

How to deal with the unknown?

Mit dem Internet steigt das Angebot an äußeren Reflexionen unserer Innenwelten ebenso exponentiell, wie wir das von anderen digitalen Entwicklungen kennen. Mit minimalem Aufwand kann jeder bei YouTube zum Regisseur und Darsteller werden und so seine Fähigkeiten, Meinungen oder sein Äußeres betrachten lassen und selbst anschauen. Auch im Selfie-Hype zeigt sich das Bedürfnis nach Selbstbewunderung als eine Art Vorläufer von Selbstreflexion. Diese Ausdrucksform eines pubertären Narzissmus reicht heute bis weit ins Erwachsenenalter hinein: Ich sehe mich auf Knopfdruck sofort in unzähligen Aufnahmen mit Menschen, in Situationen, auf Plätzen, vor Gebäuden oder in Landschaften. Der eigentliche Spiegel ist Bewusstsein, das unser Fühlen, Denken und Handeln reflektiert. Bevor wir einen solchen inneren Beobachter in uns finden, stellen Fotos und Videos uns wenigstens einen äußeren zur Verfügung. Aufstellungen können hier neben ihrer Informationsfunktion ein Lernfeld bieten. Sie verbinden Außen- und Innenwahrnehmung. Die Stellvertreter spiegeln ein Stück meiner ureigenen, persönlichen Innenwelt – anders als Theaterstücke oder Seifenopern, die mir nur Gefühle und Haltungen zeigen, mit denen ich mich identifizieren oder von denen ich mich distanzieren kann. Ich erlebe also mich selbst auf der Bühne, dargestellt durch einen fremden Menschen, während ich gleichzeitig erkenne, was ich in meinem Leben tue und wo ich vielleicht ein Brett vor dem Kopf hatte. Und vielleicht fällt es mir nun wie Schuppen von den Augen. Frage: Ich kenne Familienaufstellungen. Dort geht man viel tiefer in die Verstrickungen und Gefühle hinein. Im Vergleich dazu scheinen mir Organisationsaufstellungen ziemlich flach zu sein. Sollte man da nicht auch nach tieferen Wahrheiten suchen, um Lösungen zu finden? Antwort: Wenn du in der Wüste nach Wasser gräbst, buddelst du, bis du auf Wasser stößt. Dann hörst du auf zu graben und trinkst. Du sagst nicht: Das ist noch nicht das wahre Wasser, und gräbst weiter. Wasser zu finden reicht, um den Durst zu löschen. Wahreres Wasser ist nicht nötig. Kinder der Digitalisierung

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 Veränderung in Echtzeit – Was Sie jetzt für Ihr Unternehmen und sich selbst tun können

Was Sie für Ihr Unternehmen oder Ihr Team tun können: Systemische Checkliste für Teams und Unternehmen in der digitalen Transformation Vielleicht haben Sie beim Lesen an manchen Stellen gedacht: So ähnlich ist es bei uns auch! Die folgende Checkliste ermöglicht es Ihnen, dem weiter auf den Grund zu gehen. Je mehr Fragen Sie mit »Nein« beantworten, umso deutlicher ist der Hinweis auf systemische Ungleichgewichte. Eine Systemaufstellung kann Ihnen helfen, diese Themen genauer zu beleuchten. Wenn Sie sich dafür entscheiden, empfehle ich Ihnen, sich professionelle Unterstützung zu suchen. Experimente im Do-it-yourselfVerfahren führen erfahrungsgemäß zu mehr Verwirrung. Systemische Checkliste ▶▶ Wird in Ihrem Unternehmen positiv über die digitale Transfor­ mation gesprochen? ▶▶ Werden Chancen und Risiken in ein differenziertes Zukunfts­ szenario einbezogen? ▶▶ Werden Mitarbeiter ermutigt, zu experimentieren, Ideen zu ent­ wickeln und neue Formen der Zusammenarbeit zu erproben? ▶▶ Werden Fehler und Versäumnisse nicht nur bei Mitarbeiterin­ nen, sondern genauso bei der Unternehmensführung gesehen? ▶▶ Wird an Veränderungen gearbeitet, statt Schuldzuweisungen zu betreiben? ▶▶ Werden manche Probleme als hausgemacht erkannt? ▶▶ Werden Befürchtungen in Bezug auf die Digitalisierung offen ausgesprochen? ▶▶ Werden Krisen im Unternehmen zum Thema gemacht? ▶▶ Werden Mitarbeiter eingeladen und ermutigt, sich aktiv an Ver­ änderungen zu beteiligen?

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▶▶ Informiert die Unternehmensführung über ihre Pläne oder Stra­ tegien für die Zukunft? ▶▶ Werden Verbesserungsideen genauso wie Leistungen und Erfol­ ­ge anerkannt? ▶▶ Wird im Unternehmen wertschätzend über Kunden und Wett­ bewerber gesprochen? ▶▶ Sind die Mitarbeiterinnen aktiv in die digitale Transformation eingebunden? ▶▶ Helfen sich Kollegen gegenseitig, wenn es Engpässe gibt? ▶▶ Sind die Mitarbeiter mit ihrer Arbeitsumgebung, dem Unter­ nehmensklima und ihrer Bezahlung zufrieden? ▶▶ Fühlen sie sich von ihren Chefinnen gesehen, gefordert und un­ter­ stützt? ▶▶ Zeigen sie Initiative, wenn es um neue Prozesse und Tools geht? ▶▶ Sehen sie den Sinn von Veränderungen und Einschnitten? ▶▶ Ist die Arbeitsbelastung zwischen und innerhalb von Teams aus­ geglichen? ▶▶ Engagieren sich die Führungskräfte für ihre Mitarbeiterinnen? ▶▶ Wird Weiterbildung in agilen Prozessen gefordert und geför­ dert? ▶▶ Stellen Führungskräfte klare und realistische Anforderungen an Innovationskompetenz? ▶▶ Leben sie diese selbst vor? ▶▶ Stellen sie sich den Fragen und Problemen ihrer Mitarbeiter? ▶▶ Kritisieren sie konstruktiv und nehmen sie auch selbst Kritik an? ▶▶ Verzichten sie auf Drohungen, Druck und Machtdemonstra­ tionen? ▶▶ Gehen die Eigentümer/Gesellschafter persönliche Risiken im Transformationsprozess ein? ▶▶ Investieren die Eigentümer/Gesellschafter in die digitale Zukunft des Unternehmens? ▶▶ Wird das Engagement der Eigentümer/Gesellschafter von den Mitarbeiterinnen gesehen und anerkannt? ▶▶ Werden Kooperationen und Netzwerklösungen mit anderen Unternehmen gesucht? ▶▶ Werden die Kundinnen in die eigenen Innovationsprozesse ein­ bezogen? 182

Veränderung in Echtzeit

▶▶ Werden Digital-Skeptiker im Unternehmen anerkannt? Wird das Gespräch mit ihnen gesucht? Werden sie gleichermaßen als zugehörig erlebt? ▶▶ Wird auf Druck und Drohungen hinsichtlich eines digitalen Mind­ set verzichtet? ▶▶ Wird die Geschichte des Unternehmens kritisch gewürdigt? ▶▶ Fühlen sich die Eigentümer/Gesellschafter den Mitarbeitern in Zeiten großer Umbrüche und Veränderungen verpflichtet? ▶▶ Stehen Manager in einer existenziellen Krise loyal zum Unter­ nehmen? ▶▶ Werden die analogen Prozesse und Technologien der Vergan­ genheit gewürdigt? ▶▶ Wird das Erfahrungswissen langjähriger Mitarbeiterinnen in agile Teamprozesse einbezogen? ▶▶ Arbeiten die langjährigen Mitarbeiter/Führungskräfte aktiv an Innovationen mit? ▶▶ Gestalten Teamleiter die Arbeitsprozesse aktiv? Ermutigen sie Ideenfindung und neue Lösungen? ▶▶ Werden Informationen und Innovationen über digitale Netzwerke gesucht und geteilt? ▶▶ Werden Teams, die neue Prozesse entwickeln, zu Innovations-Hubs? ▶▶ Wird KI verantwortungsvoll in Technologie und Arbeitsabläufe integriert? ▶▶ Werden Weiterbildungen zur Arbeit mit Robotern aktiv gefördert? ▶▶ Gibt es Coachingangebote für Mitarbeiterinnen, die intensiv mit KI und Robotics arbeiten?

Was Sie für sich selbst tun können: Übungen zur Aktivierung von Echtzeit-Intelligenz Je schneller das Karussell der permanenten Veränderungen sich dreht, umso stärker wächst das menschliche Bedürfnis nach Komple­ xi­tätsreduktion und einem inneren Ruhepol, einem stillen Punkt im Wirbel des Alltags. In den Fallbeispielen dieses Buches ist Ihnen vielleicht eines deutlich geworden: Um die digitale Transformation zu meistern, brauWas Sie für sich selbst tun können

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chen wir nicht nur technische Tools, sondern vor allem einen anderen Umgang mit uns selbst. Wir sind keine Maschinen, sondern lebendige Menschen! Digitale Innovationen sind für uns da und nicht umgekehrt! Je weiter KI und Robotics uns von mechanischen Abläufen entlasten, umso leichter könnten wir beginnen, in Arbeitskontexten zu leben, statt nur zu funktionieren. Aber das ist leichter gesagt als getan! Einen Ruhepol in sich zu finden, fällt den meisten Menschen, die sich jahrelang mit innerer Hochgeschwindigkeit bewegt haben, schwer. Wer gewohnt ist, zu funktionieren, braucht Zeit und Übung, um sich selbst wieder wahrzunehmen. Unsere Aufmerksamkeit ist bei allem, was um uns herum geschieht: Telefonate, Meetings, digitale Kommunikation. Ich nehme alles wahr, nur nicht mich selbst. Die Person, die den Mittelpunkt meines Lebens ausmacht, ist damit nicht innerhalb meiner Wahrnehmung – diese ist ausschließlich nach außen gerichtet. So bin ich möglicherweise pausenlos damit beschäftigt, den Anforderungen, von denen ich meine, dass sie an mich gestellt werden, nachzukommen, ohne auch nur einen Moment Zeit dafür zu haben, zu spüren, dass ich da bin und lebe. Auszeiten sind dafür gut und nützlich. Doch auch mitten drin im Arbeitsalltag, wenn Veränderungen und Anforderungen sich ein Wettrennen liefern, ist mehr Lebensqualität möglich.

Veränderung mit Druck oder Dynamik? In digitalen Transformationsprozessen sind Sie täglich mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert. Eine Flut von Aufgaben ist in knapper Zeit zu bewältigen. Neben High-Speed-Multitasking stehen Probleme mit Kundinnen oder Mitarbeitern an. Persönliche Themen können zusätzlichen Druck aufbauen. Ständige Aktion katapultiert Sie in immer schnellere und angespanntere Hektik. Das erzeugt »Disstress«, also negativ erlebten Stress. Im Disstress nehmen Sie sich Ihre Ruhepausen unbewusst in Form unkonzentrierter Arbeitsphasen mit hoher Fehleranfälligkeit. Dadurch geraten Sie in Stresskonflikte und geben sich selbst widersprüchliche Botschaften: 184

Veränderung in Echtzeit

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Ich muss es schaffen! Ich schaff ’s nicht mehr rechtzeitig! Ich muss schneller machen! Wenn ich es nicht schaffe, hat das Konsequenzen! Ich kann nicht mehr! Mir reicht’s! Ich muss den Druck erhöhen!

Die Folge: Sie verspannen sich und verbrauchen so unnötig viel Energie. In dieser Situation können Fehler oder Kritik Ihnen den letzten Nerv rauben und alles geht Ihnen schief. Das beweist scheinbar, dass Sie sich noch mehr anstrengen müssen – was zu noch mehr Verspannung, noch mehr Fehlern und weiter erhöhtem Zeitbedarf führt.

Dynamik statt Tempo oder High-Efficiency-Entschleunigung Wer kennt sie nicht, die schöne Geschichte vom Wettrennen des Hasen mit dem Igel in Buxtehude! Der Hase rennt und rennt, so schnell er kann, und wenn er völlig außer Atem endlich ankommt, rufen entweder Igelmann oder Igelfrau: »Bin schon da!« Die Weisheit des Igels liegt in der Erkenntnis, dass man auch auf entspannte Weise seine Ziele erreichen kann. Im Kern lebt die Igel-Methode von Dynamik, also einem Wechselspiel von Aktion und Ruhe. In der Parabel sind es Igelmann und Igelfrau, die für die gegensätzlichen Pole von Handeln und Abwarten stehen. Sie verbinden beide Seiten und erreichen so eine andere Ebene des Tuns. In asiatischen Traditionen wird sie als »Tun durch Nicht-Tun« bezeichnet. In diesem Modus kann das Igelpaar sich auf intelligente Weise die Bälle zuspielen und ohne Anstrengung sein Ziel erreichen. Dynamik ist effektiver als Hektik. Möglich wird sie durch fokussiertes Arbeiten in entspannter Aufmerksamkeit. Letztere ist eine nützliche Alternative zur Konzentration auf eine Aufgabe. Voll konzentriert können Menschen nur eine kurze Zeit sein. Dann entspannt sich der Organismus von allein wieder, um sich zu regenerieren. Entspannt aufmerksam bleiben können wir dagegen, je nach Übungsgrad, auch längere Zeit. Die dafür nötige Selbstwahrnehmung wird Dynamik statt Tempo oder High-Efficiency-Entschleunigung

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durch extrem kurze Ruhephasen (Zero-State-Mind) erzeugt, die in den Arbeitsablauf eingebaut sind. Im Folgenden lernen Sie einige Methoden kennen, die es Ihnen erlauben, entspannte Aufmerksamkeit zu entwickeln. Übung: Zero-State-Mind Ähnlich wie Computer nach dem Prinzip von 0 und 1 arbeiten, kön­ nen auch wir von Aktion (1) auf Ruhe (0) umschalten. Meistens tun wir das in der Freizeit oder im Urlaub. Allerdings können die wenigsten dort wirklich abschalten, weil der innere High-SpeedModus immer noch weiterläuft. Um einen Ruhemodus zu finden, braucht es mehr Übung als die Freizeitstunden oder der Jahresurlaub an Entspannung ermöglichen. Es geht dabei nicht um die Menge der Zeit, sondern um die Häufig­ keit der Wiederholung. Es ist wie beim Erlernen einer Sprache. Bis eine neue Vokabel oder Redewendung in Ihrem Wortschatz bleibt, benötigen Sie viele Wiederholungen. Wenn Sie die Ausdrücke nur ab und an einmal hören und aussprechen, sind sie bald wieder vergessen. Für den Erfolg ist nicht die Dauer der Übung, sondern die Häufigkeit der Wiederholung entscheidend. Ebenso ist es auch mit inneren Zuständen wie Aktion und Ruhe. Was die Aktion betrifft, benötigen Sie keine weitere Wiederholung. Der Ruhemodus braucht Ihre Aufmerksamkeit. Sie können ihn üben, auch wenn Sie wenig Zeit haben, indem Sie die Abläufe Ihres Arbeitstages dafür nutzen. Das geht so: Ihr Alltag besteht aus einer Abfolge von unzähligen kleinen Handlungen oder Ereignissen. Nach jedem Ereignis, etwa einem Telefonat oder einem Arbeitsschritt am Computer, entsteht eine kleine Pause. Diese Pause ist so kurz, dass Sie sie meistens gar nicht wahrnehmen. Sie been­ den das Telefonat und gehen lückenlos zur nächsten Aktivität über. Genau hier setzt die Übung ein. Nachdem Sie das Gespräch been­ det haben, sagen Sie innerlich: Stopp! Gleichzeitig schalten Sie von 1 auf 0 um, indem Sie die Aufmerksamkeit zu Ihrem Körper bringen. Spüren Sie einfach nur, wie Sie sitzen oder stehen. Zählen Sie lang­ sam bis fünf. Dann beenden Sie diese Mini-Pause und machen weiter mit Ihrer nächsten Aktivität. Sobald diese beendet ist, sagen Sie wieder innerlich: Stopp!, und schalten um auf Körperwahrnehmung.

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Veränderung in Echtzeit

Nach einigen Wiederholungen werden Sie merken, dass Sie wäh­ rend dieser kurzen Pausen an nichts denken und einfach nur da sind. Vielleicht nehmen Sie auch Ihren Atem wahr. Dann geht es wieder weiter mit der nächsten Aktivität. Anfangs werden Sie das Stopp häufig vergessen, aber wann immer Sie sich erinnern, drücken Sie Ihre Stopp-Taste und schalten Sie für fünf Sekunden um auf ZeroState-Mind. Sie können sich auch einen Timer mit Ton einstellen, der Sie zum Beispiel alle zwanzig oder dreißig Minuten daran erinnert. Der offensichtliche Vorteil dieser Übung gegenüber länger dau­ ernden Entspannungs- oder Meditationssequenzen ist ihre Kürze. Die messbare Zeit, die Sie im Laufe eines Arbeitstages dafür ver­ wenden, ist so gering, dass Sie sie vernachlässigen können. Trotz­ dem erlaubt sie Ihnen eine so häufige Wiederholung von kurzen Zero-State-Auszeiten, wie Sie sie anders kaum erreichen könnten. Durch die Häufigkeit der Wiederholung werden Sie nach einiger Zeit eine Veränderung in sich bemerken können. Sie bleiben ruhi­ ger und entspannter, auch wenn es um Sie herum hektisch wird. Natürlich werden Sie auch dann noch in druckvolle Tempospiralen hineingeraten. Aber sobald Sie die Wahl haben, drücken Sie Ihre Stopp-Taste und steigen für einige Sekunden aus. Die Zero-State-Übung hat noch einen weiteren Vorteil: Nach einiger Übungspraxis können Sie die aufmerksame Entspanntheit nicht nur in den Ruhepausen, sondern auch in Aktionsphasen akti­ vieren, indem Sie sich einfach daran erinnern. Einen dritten Vorteil können Sie realisieren, wenn Sie Ihre Team­ kolleginnen dafür gewinnen, es auch mit dieser Methode zu probie­ ren. Denn Entspannung wirkt ebenso ansteckend wie Hektik, ist aber wesentlich angenehmer und produktiver. Übung: Das Dehnen der Zeit Die Zeit auf Ihrer Uhr ist immer gleich. Eine Minute ist eine Minute, eine Stunde ist eine Stunde. Mit der subjektiven, gefühlten Zeit verhält es sich völlig anders: Die Länge einer Minute kann davon abhängen, auf welcher Seite der Toilettentür Sie stehen! Während Sie in der einen Situation die Zeit gern verkürzen möchten, geht es im Arbeitsalltag darum, die Zeit zu dehnen, also mehr gefühlte Zeit zur Verfügung zu haben. Dynamik statt Tempo oder High-Efficiency-Entschleunigung

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Folgende einfache Übung kann Sie darin unterstützen. Zeitlupenbewegung: Wählen Sie eine tägliche Routinebewegung aus. Das kann eine hand­ schriftliche Notiz, der Griff zur Kaffeetasse oder etwas Ähnliches sein. Führen Sie jetzt diese Bewegung im Zeitlupentempo aus. Sie wird Ihnen endlos lang vorkommen. Ist das nicht der Fall, machen Sie es noch zu schnell. Vergrößern Sie die Zeitlupe weiter, bis die Bewegung Ihnen endlos langsam vorkommt. Sie werden es daran merken, dass Ihr innerer Antreiber unruhig wird und Sie auffordert, diesen Unsinn zu beenden, denn schließlich hätten Sie dazu keine Zeit! Um ihn zu beruhigen, stellen Sie sich eine Stoppuhr auf Ihrem Smartphone oder Computer und prüfen nach Beendigung der »end­ losen« Bewegung die verflossene Zeit. Sie wird sich mit weniger als drei Minuten im auch für Super-Eilige vertretbaren Rahmen bewegen. Führen Sie diese Übung mehrmals täglich aus – auch und gerade dann, wenn Sie meinen, überhaupt keine Zeit zu haben! Wenn Ihre gefühlte Zeit sich allmählich dehnt, könnte es sein, dass Sie produktiver arbeiten als zuvor. Vielleicht bitten Sie dann sogar einen Taxifahrer: »Fahren Sie langsam, ich hab’s eilig!« Übung: Tun-Sein Ohne »Sein« wird »Tun« zum blinden Aktionismus. Ohne »Tun« ver­ liert sich »Sein« in weltfremden Gefilden. In der Balance von Ruhe und Aktion entsteht eine Dynamik, die hilft, den Alltag stressarm zu meistern und Ziele auf eine entspanntere Art zu erreichen. In der folgenden Übung können Sie lernen, beiden Seiten den Raum zu geben, den Sie für ein inneres Gleichgewicht benötigen. Die Übung Sie können sie allein oder mit einem Partner durchführen. Sie benö­ tigen für diese Übung circa zehn Minuten und einen Ort, an dem Sie nicht gestört werden. Ohne Partner: Nehmen Sie auf einem Stuhl Platz. Entscheiden Sie, auf welcher Seite (rechts oder links) von Ihnen sich Ihre Tun- bzw. Sein-Seite befindet.

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Veränderung in Echtzeit

Erster Schritt: Nonverbal 1. Bewegen Sie sich mit Ihrem Stuhl auf die Tun-Seite. 2. Konzentrieren Sie sich auf Ihren Hinterkopf und denken Sie an all die Dinge, die zu erledigen sind. Spüren Sie, wie sich Ihr Befinden verändert. Bleiben Sie so lange in der Position, bis Sie eine Veränderung spüren können. (Wenn Sie an Ihre persön­ liche »Bugwelle« denken und sich dabei auf Ihren Hinterkopf konzentrieren, können Sie wahrnehmen, wie es Ihnen geht, wenn Ihr innerer Antreiber Sie zum Tun und Machen anfeuert.) 3. Rutschen Sie mit Ihrem Stuhl wieder in die neutrale Position und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren gesamten Körper. Was hat sich verändert? 4. Bewegen Sie sich dann mit Ihrem Stuhl auf die Sein-Seite. 5. Konzentrieren Sie sich auf einen Punkt in der Bauchmitte, zwei Finger breit unterhalb des Nabels. Lassen Sie Ihren Atem in den Bauch fließen und spüren Sie, wie Sie sitzen. Mit jedem Aus­atmen lassen Sie sich in die Sitzoberfläche einsinken. Hier kann es ein wenig dauern, bis sich die Veränderung zeigt. 6. Gehen Sie wieder zurück und nehmen Sie vom neutralen Platz beide Seiten, »Tun« und »Sein«, wahr. Zweiter Schritt: Verbal 1. Bewegen Sie sich mit Ihrem Stuhl auf die Tun-Seite. 2. Denken Sie an alle unerledigten Dinge des Tages. Was müssten Sie beispielsweise eigentlich in diesen zehn Minuten tun, die Sie sich für diese Übung Zeit nehmen? Drehen Sie Ihren inneren Antreiber richtig auf, führen Sie mit ihm einen inneren Dialog und spüren Sie die Veränderung! 3. Rutschen Sie mit Ihrem Stuhl wieder in die neutrale Position und lassen Sie den Antreiber zur Ruhe kommen. 4. Gehen Sie dann mit Ihrem Stuhl auf die Sein-Seite. 5. Konzentrieren Sie sich auf den Punkt unterhalb des Nabels. Schicken Sie Ihren Atem bis in den Bauch und fühlen Sie sich wie ein Fels in der Brandung. Führen Sie auch hier einen inneren Dialog und spüren Sie die Veränderung. 6. Gehen Sie wieder zurück und nehmen Sie vom neutralen Platz beide Seiten, »Tun« und »Sein«, wahr. Dynamik statt Tempo oder High-Efficiency-Entschleunigung

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Mit Partner: Entscheiden Sie sich für eine Gesprächssituation: Chefin – Mit­ arbeiter: Mitarbeitergespräch; Klient – Coach: Beratungsgespräch, oder eine andere für Sie passende Gesprächssituation. 1. Setzen Sie sich Ihrem Partner gegenüber. 2. Bestimmen Sie, wer welche Rolle übernimmt und wer von Ihnen zuerst den aktiven Part übernimmt, wer der Zuhörer ist. 3. Entscheiden Sie gemeinsam, auf welcher Seite (rechts oder links) von Ihnen sich die Tun- bzw. Sein-Seite befindet. 4. Bewegen Sie sich beide mit Ihrem Stuhl auf die Tun-Seite. 5. Der aktive Gesprächspartner: Aktivieren Sie jetzt Ihren inne­ ren Antreiber! Überfluten Sie Ihren Partner mit Ihrer Antrei­ ber-Tun-Energie! Sie wollen überzeugen! Spüren Sie, wie Sie sich dabei fühlen, und achten Sie auf die nonverbalen und ver­ balen Reaktionen Ihres Partners. Der Zuhörer: Lassen Sie sich von Ihrem Partner mit seiner Tun-Energie überfluten! Spüren Sie, wie es Ihnen dabei geht. 6. Tauschen Sie jetzt die Rollen und wiederholen Sie Punkt 5. 7. Bewegen Sie sich wieder mit Ihrem Stuhl in die neutrale Position und nehmen Sie die Veränderung wahr. 8. Gehen Sie dann gemeinsam mit Ihrem Partner auf die Sein-Seite. Der aktive Gesprächspartner: Konzentrieren Sie sich auf einen Punkt in der Bauchmitte, zwei Finger breit unterhalb des Nabels. Atmen Sie tief in den Bauch. Beginnen Sie dann wieder das Gespräch mit Ihrem Partner. Nehmen Sie die Veränderung wahr! Der Zuhörer: Spüren Sie die Veränderung! 9. Tauschen Sie jetzt die Rollen und wiederholen Sie Punkt 8. 10. Gehen Sie wieder zurück und nehmen Sie vom neutralen Platz beide Seiten, »Tun« und »Sein«, wahr. 11. Wiederholen Sie das Gespräch in einer Kombination von »Tun«und »Sein«-Qualität. Finden Sie die Mischung, mit der Sie sich aktiv und entspannt zugleich fühlen.

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Praktische Tipps

1. Bewegen Sie sich! Bewegen Sie Ihren Körper, wann immer Sie können! Ein menschlicher Körper ist – genau wie ein tierischer – zur Bewegung geschaffen. Wenn Haustiere gezwungen würden, sich so wenig zu bewegen wie viele von uns, spräche man von Tierquälerei! Ihr Körper fühlt sich wohl, wenn Sie ihn fordern und bewegen. Er fühlt sich auch wohl, wenn Sie ihn entspannen – vorzugsweise im Liegen. Was ihm am wenigsten entspricht, ist das Sitzen auf Stühlen! Leider müssen Sie das berufsbedingt sehr viel von Ihrem Körper fordern. Deshalb: Nutzen Sie jede Gelegenheit, Ihren Körper zu bewegen! Wenn Sie die Wahl haben zwischen Aufzug und Treppe – nehmen Sie die Treppe. Nehmen Sie zwei Stufen auf einmal. Entdecken Sie wieder den Spaß an der spielerischen Bewegung, den Sie als Kind hatten. Treppensteigen ist eine gute alltägliche Gelegenheit dazu. Geben Sie nicht Ihrer gewohnheitsmäßigen Bequemlichkeit nach. Bequemlichkeit ist nur eine mentale Gewohnheit. Ihr Körper will sich bewegen! Warten Sie nicht auf den Urlaub oder das Wochenende. Wenn Sie die Gelegenheit zur Bewegung suchen, werden Sie sie finden – auch zwischen zwei Terminen. Wenn Sie darüber hinaus Spaß an Sport, Tanz oder Ähnlichem in der Freizeit finden – umso besser! Legen Sie die Betonung auf Spaß – nicht auf Zwang. Wenn Sie sich zum Sport zwingen, um abzunehmen oder um »etwas zu tun«, werden Sie »schwänzen«, Ausreden finden, sich dann schlecht fühlen und einen neuen Stresskreislauf herstellen. Finden Sie etwas, das Ihnen Spaß macht!

2. Für Raucher, Kaffeetrinker … Keine Moralpredigt für die Raucher! Sie wissen ohnehin, dass Sie mit dem Rauchen Ihrem Körper nichts Gutes tun. Daher: Bringen Sie Bewusstheit hinein. Erlauben Sie sich nicht, automatisch zu rauchen. Treffen Sie bei jeder Zigarette, bei jeder Tasse Kaffee, bei jedem Glas Wein oder Bier eine bewusste Entscheidung: »Will ich jetzt wirklich Praktische Tipps

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rauchen/trinken? Genieße ich es jetzt wirklich, oder ist es ein reiner Automatismus?« Geben Sie sich die Erlaubnis, diese Zigarette, diese Tasse Kaffee zu genießen. Schauen Sie sich selbst dabei zu. Schauen Sie nicht innerlich weg, während Sie rauchen oder trinken. Schauen Sie voll bewusst hin! Sie werden so in die Lage kommen, Ihren Nikotin-, Koffein- oder Alkohol-Konsum zu steuern und zu begrenzen. Wenn es Ihnen auf diesem Wege trotz ernsthaften Bemühens nicht gelingt, Ihren Konsum auf ein vertretbares Maß zu reduzieren, sollten Sie die Hilfe ärztlicher Beratung suchen. Sucht ist keine Schande! Blindheit und Ignoranz gegenüber der eigenen Realität sind es schon eher. 3. Gewohnheiten Machen Sie sich frei von Gewohnheiten! Entdecken Sie, was Sie jetzt wirklich brauchen. Brauchen Sie jetzt wirklich Ihren zweiten Kaffee? Haben Sie jetzt tatsächlich Hunger – oder essen Sie nur, weil es Mittagszeit ist? Es kann z. B. eine interessante Erfahrung sein, heute einmal »Nichts« als Mittagessen zu haben. Sie machen sich damit körperlich bewusst, dass Sie Ihr eigener Chef sind – und nicht die Gewohnheiten. Sie machen damit auch die Erfahrung, dass Sie nicht jedem Appetit-Impuls nachgeben müssen. Sie werden wacher für Ihre tatsächlichen Bedürfnisse. Was gibt Ihnen der Blick auf die »Breaking News«? Wollen Sie das alles wirklich jetzt sehen und hören? Müssen Sie jetzt unbedingt noch Ihre Sprachbox abhören, Ihren Mailaccount checken, im Internet surfen? Müssen Sie wirklich jeden Morgen im gleichen Stau stehen – oder gäbe es eine Alternative, wenn Sie mit Ihren Gewohnheiten brächen?

4. Schwierigkeiten Ist das unangenehme Gespräch, das Sie demnächst mit der Chefin, dem Mitarbeiter oder Kunden führen müssen, die Ursache Ihres Unwohlseins? Ja? Wie kann das sein? Das Gespräch ist noch gar nicht passiert. Es wird – wahrscheinlich – in kurzer Zeit stattfinden. Wie es wird, wissen Sie nicht. Sie erwarten aber Schwierigkeiten, denken an unangenehme Abläufe oder Folgen – und bringen sich selbst damit 192

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in einen miserablen Zustand. Das ist nicht sinnvoll! Denn erstens fühlen Sie sich deshalb jetzt mies – ohne jeden realen Grund – und zweitens schmälern Sie eben dadurch Ihre Chancen, dem erwarteten unangenehmen Gespräch vielleicht doch noch eine unerwartete positive Wendung zu geben. Zumindest aber können Sie besser für sich selbst sorgen: Wenn es schwierig wird – freuen Sie sich darauf! Das Leben bietet Ihnen eine Herausforderung. Heute ist kein Tag wie jeder andere. Das Leben pulsiert schneller als sonst! Sie haben ein kostenloses Training in puncto Selbstentwicklung: Solange Sie ein Gesprächspartner noch in Ärger, Angst, Wut oder Verzweiflung bringen kann, haben Sie etwas zu lernen! Also packen Sie die Gelegenheit beim Schopf und sagen Sie »Ja!« zu der Herausforderung! 5. Probleme Sie haben Probleme in Ihrem Leben? Es läuft nicht so, wie Sie sich das wünschen? Probieren Sie es einmal damit: »Ich habe diese Problem, weil ich etwas daraus lernen will.« Sie brauchen nicht daran zu glauben, dass es keine Zufälle gibt oder dass es sie doch gibt. Sie brauchen diesen Ansatz nur zu benutzen: »Was gibt mir dieses Problem mit meinem Lebenspartner/meinen Kindern? Welche Fragen berührt es in mir? Womit bin ich selbst noch nicht klar? Was lehne ich bei anderen Menschen ab? Was lehne ich bei mir selbst ab?« »Was genau wäre anders, wenn ich dieses Problem morgen nicht mehr hätte? Wäre wirklich alles besser?« Seien Sie mit diesen Fragen vollkommen ehrlich zu sich selbst! Es ist immer zu Ihrem Besten, wenn Sie sich selbst die ganze Wahrheit eingestehen. Es ist nicht immer zu Ihrem Besten, wenn Sie Ihre Wahrheit anderen mitteilen.

6. Wetter Alle reden vom Wetter … Wer entscheidet eigentlich, dass Sonnenschein schön und Regen trist ist? Wenn es Bindfäden regnet: Schauen Sie den Regen einmal neu an. Hören Sie den Regentropfen ohne Vorurteile zu. Spüren Sie den kühlen Nieselregen auf der Haut. Entdecken Sie die vielen SchattiePraktische Tipps

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rungen von Grau, ohne sie sofort negativ zu bewerten. Fühlen Sie die Stimmung eines Regentages ohne innere Ablehnung. Wenn es Ihnen gelingt, einen grauen Novembertag zu genießen, werden Sie auch mehr vom Bilderbuchwetter im Mai haben. 7. Ärger Niemand kann Sie ärgern. Sie können sich nur selbst ärgern. Niemand hat die Macht, in Ihnen Ärger zu verursachen. Was immer jemand anstellt – es ist Ihre eigene Reaktion darauf, die Sie Ärger nennen. Das allein befreit Sie allerdings noch längst nicht von Ihrem Ärger. Der schnellste Weg aus dem Ärger führt mitten hinein und hindurch. Also: Finden Sie eine Gelegenheit, wo Sie Ihrem Ärger so richtig freien Lauf lassen können – allein für sich. Schließlich sind Sie selbst die Ursache Ihres Ärgers. Es bringt Ihnen daher nicht das gewünschte Resultat, wenn Sie Ihren Ärger an anderen Personen auslassen – sondern wahrscheinlich zusätzliche Schwierigkeiten. Die können Sie dann selbstverständlich gemäß Punkt 5 (siehe oben) bearbeiten. Aber mit Ihrem Ärger sind Sie noch nicht weiter. Was hilft, ist ein Gewitter: Fluchen, schimpfen, schreien, und zwar so laut es geht. Dafür brauchen Sie einen geeigneten Raum, in dem Sie das allein tun können. Oder beim Joggen im Wald, unter einer lauten Autobahn- oder Eisenbahnbrücke – unsere Zivilisation bietet genug Lärmkulissen, in denen Ihr lauter Ärgerausbruch nicht auffällt. Nutzen Sie einmal das Positive an diesem Lärm für sich selbst. Wenn Sie den Dampf abgelassen haben, können Sie sich still hinsetzen und sich fragen: Warum habe ich mich eigentlich so darüber geärgert? Kann ich in Zukunft etwas ändern, was es mir leichter macht?

8. Lachen Lachen ist die beste Medizin. Darauf basiert das »Lachyoga«. Führen Sie eine »Witzrunde« bei Ihren Meetings ein! Lachen Sie gemeinsam mit anderen. Finden Sie irgendeinen Grund zum Lachen! Wichtig ist nicht der Grund, sondern das Ergebnis: dass Sie sich lustig machen, dass Sie lachen. Je mehr Sie lachen, umso leichter werden die 194

Veränderung in Echtzeit

angeblich schweren Dinge im Leben. Ein weiser Mann hat einmal gesagt: »Engel können fliegen, weil sie sich selbst leicht nehmen.« Diese Leichtigkeit kommt von selbst, wenn Sie mehr lachen. Wenn Sie mehr lachen, werden Sie beginnen, ab und an auch einmal über sich selbst zu lachen, manchmal sogar über Ihre wichtigen und schweren Probleme. Mit der Leichtigkeit des Lachens finden Sie womöglich Lösungen, auf die Sie im Ernst nie gekommen wären. 9. Jetzt Fangen Sie jetzt an! Warten Sie nicht auf eine bessere Gelegenheit! Die bessere Gelegenheit kommt nie. Es gibt keine bessere Gelegenheit, um anzufangen, als die, die jetzt da ist. Grübeln Sie also nicht, womit Sie anfangen sollen. Es ist nicht so wichtig, womit Sie anfangen: Entscheidend ist, dass Sie es tun! Also beginnen Sie jetzt!

Praktische Tipps

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Literatur

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Literatur

Danksagung

Mit ihrem klaren Blick für Stimmigkeit und ihrem kritischen, präzisen Feedback hat meine Frau Regine mich in den verschiedenen Schreibphasen sehr unterstützt. Dafür danke ich ihr. Danken möchte ich auch meinen Freunden Ulrich Blomeier, Liu Tao, Peter Ohmberger, Benjamin Pien und Otto Wassermann für die anregenden Gespräche zum Thema Digitalisierung.

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