Christianorum Maro et Flaccus: Zur Vergil- und Horazrezeption des Prudentius 9783666252402, 3525252404, 9783525252406

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Christianorum Maro et Flaccus: Zur Vergil- und Horazrezeption des Prudentius
 9783666252402, 3525252404, 9783525252406

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VÔR

Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 141

Vandenhoeck & Ruprecht

Maria Lühken

Christianorum Maro et Flaccus Zur Vergil- und Horazrezeption des Prudentius

Vandenhoeck & Ruprecht

Verantwortlicher Herausgeber: Siegmar Döpp

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lühken,

Maria:

Christianorum Maro et Flaccus: zur Vergil- und Horazrezeption des Prudentius / Maria Lühken. [Verantw. Hrsg.: Siegmar Döpp]. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 2002 (Hypomnemata ; Bd. 141) Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 2000/2001 ISBN 3-525-25240-4

D 7 : Göttinger philosophische Dissertation

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

© 2002, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Internet: http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Hubert & Co., Göttingen. Umschlagkonzeption: Markus Eidt, Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt Vorwort 1. Einführung 1.1. Vorbemerkungen 1.2. Grundzüge der bisherigen Forschung 1.3. Zur Theorie der literarischen Reminiszenz 1.4. Überlegungen zur Vorgehensweise 2. Prudentius und Vergil 2.1. Formale Reminiszenzen kleineren Umfangs 2.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.1.4.

Lexikalische Reminiszenzen Wortverbindungen und Figuren Metrische Reminiszenzen Strukturierende Hinweise

2.2. Epische Elemente 2.2.1. Die Spiritualisierung des Epos in der Psychomachia 2.2.1.1. Der erste Vers 2.2.1.2. Beschreibung der Kämpferinnen 2.2.1.3. Die Kämpfe 2.2.1.4. Reden 2.2.1.5. Der Tempel der Sapientia 2.2.1.6. Die Vergilrezeption der Psychomachia - ein »Angriff« auf den Prätext? Exkurs: Spiritualisierung vergilischer Passagen außerhalb der Psychomachia 2.2.2. Gattungstypische Formelemente 2.2.3. Episches in den Büchern Cathemerinon und Peristephanon 2.3. Polemik gegen das Heidentum 2.3.1. Rationalistische Deutung des heidnischen Pantheons 2.3.2. Die Götter und Rom 2.3.3. Behandlung religiöser Bräuche 2.4. Die religiöse Sprache Vergils in der christlichen Dichtung des Prudentius 2.4.1. 2.4.2. 2.4.3. 2.4.4.

Details der Religionsausübung Rede von Gott Tod und Auferstehimg Paradies- und Höllenvorstellungen

2.5. Christliche Reichsideologie

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6

Inhalt

3. Prudentius und Horaz

185

3.1. Formale Reminiszenzen kleineren Umfangs

185

3.1.1. Lexikalische Reminiszenzen 3.1.2. Wortverbindungen und Figuren 3.1.3. Metrische Reminiszenzen 3.1.4. Strukturierende Hinweise 3.2. Übernahme von Elementen der horazischen Lyrik

185 186 190 191 193

3.2.1. Versmaße 3.2.2. Sprecherhaltung 3.2.3. Erzählende Passagen im lyrischen Gedicht 3.3. Polemik gegen das Heidentum 3.3.1. Spott über heidnische Gottheiten 3.3.2. Behandlung religiöser Bräuche 3.3.3. Horaz als religiöser Aufklärer? 3.4. Die religiöse Sprache des Horaz in der christlichen Dichtung des Prudentius 3.4.1. Rede von Gott 3.4.2. Tod und Auferstehung 3.4.3. Paradiesvorstellungen 3.5. Horaz als Quelle für ethische Aussagen 3.5.1. Ermahnung zur rechten Lebensführimg 3.5.2. Die uirtus der Märtyrer 3.6. Die Selbstdarstellung des christlichen Dichters 3.6.1. Die Priamel der Lebensformen in cath. 2 3.6.2. Die Abgrenzung von der klassischen Lyrik in cath. 3 3.6.3. Die Horazrezeption der Rahmengedichte 3.6.3.1. Vorüberlegung: Die Stellung von Praefatio und Epilogus im Gesamtwerk 3.6.3.2. Horazisches in der Praefatio 3.6.3.3. Der Epilogus und carm. 2,18 3.6.3.4. Die Rahmengedichte des Prudentius und die Rahmengedichte der ersten Odensammlung

194 198 203 208 208 212 215 219 219 229 232 236 236 242 247 247 250 254 255 260 262 265

4. Ergebnisse

269

5. Literaturverzeichnis

285

5.1. Ausgaben, Übersetzungen, Kommentare

285

5.2. Textdatenbanken auf CD-ROM

291

5.3. Sekundärliteratur

291

Inhalt

Anhang I: Übersicht über die Verteilung der Vergil- und Horazreminiszenzen Anhang II: Register der Reminiszenzen 1. Prudentius ~ Vergil/Horaz 2. Vergil - Prudentius 3. Horaz ~ Prudentius

7

299 300 300 311 319

Anhang III: Einzelstellen

322

1. Antike Autoren 2. Bibelstellen

322 330

Anhang IV: Namen- und Sachregister

332

Für Henning

Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2000/2001 von der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen angenommen wurde. Das Manuskript wurde im Januar 2001 abgeschlossen; später erschienene Literatur konnte nicht mehr berücksichtigt werden. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Professor Ulrich Schindel, der die Arbeit in allen Phasen ihres Entstehens durch Rat und Ermutigung gefördert hat. Professor Siegmar Döpp hat das Korreferat übernommen und mir darüber hinaus zu wichtigen Punkten wertvolle Hinweise gegeben. Hierfür und für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe »Hypomnemata« sei ihm herzlich gedankt. Dr. Jan Radicke und Kai Orshausen danke ich für die kritische Lektüre eines Teils der Arbeit und hilfreiche Verbesserungsvorschläge. Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat mir durch ein Promotionsstipendium mehrere Jahre ungestörten Arbeitens an der Dissertation ermöglicht; die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat das Erscheinen der Arbeit durch einen beträchtlichen Druckkostenzuschuß gefördert. Für beides bin ich dankbar. Nicht entstanden wäre diese Arbeit aber auch ohne die beständige Ermutigung von selten meiner Eltern, denen ich mehr verdanke, als ich ausdrücken kann. Am wichtigsten aber war für mich die liebevolle Unterstützung meines Mannes Henning Lühken, der mir nicht nur in allen Computerfragen geholfen, sondern die Arbeit auch mit kaum zu übertreffender Gründlichkeit Korrektur gelesen hat. Sein ruhiger Optimismus hat wesentlich dazu beigetragen, daß ich bis zum Schluß motiviert an der Dissertation gearbeitet habe. Ihm ist dieses Buch gewidmet. Göttingen, im April 2001

M. L.

1. Einführung 1.1. Vorbemerkungen Einer der faszinierendsten Aspekte der spätantiken Kultur ist das Nebeneinander, Gegeneinander und Ineinander christlicher und heidnisch-antiker Elemente, das sich in charakteristischer Weise im Umgang christlicher Schriftsteller mit der literarischen Tradition widerspiegelt. In einer Epoche, die mit Recht als »klassizistisch« bezeichnet werden kann,1 knüpfen auch christliche Dichter durch zahlreiche sprachliche, motivische und strukturelle Bezüge an kanonisch gewordene Vorbilder an, unter denen in der lateinischsprachigen Reichshälfte zweifellos Vergil an erster Stelle steht. Diese Reminiszenzen dienen keineswegs nur der Reproduktion des »klassischen« Stils der Vorlage, sondern auch (und vor allem) der Auseinandersetzung mit deren Gedankengut, das durch die literarische Bezugnahme ebenso in die christliche Vorstellungswelt integriert wie pointiert zurückgewiesen werden kann. Ein Meister der schöpferischen imitatio klassischer und nachklassischer Dichtung ist Prudentius, der mit seinem vielfältigen Gesamtwerk ein christliches Gegenstück zu beinahe allen traditionellen Dichungsgattungen der lateinischen Literatur geschaffen hat.2 Kein anderer Dichter der christlichen Spätantike schmückt sein Werk mit einer so großen Fülle von intertextuellen Bezügen zu den verschiedensten antiken Autoren. Daß im folgenden gerade die Vergil- und Horazrezeption des Prudentius in den Mittelpunkt einer Untersuchung gestellt werden soll, hat seinen Grund in der Annahme, daß die beiden großen Augusteer unter den von Prudentius rezipierten Autoren eine herausragende Stellung einnehmen. Bereits B E N T L E Y hat diese besondere Nähe des Prudentius zu Vergil und Horaz gesehen, als er den christlichen Dichter als »Christianorum Maro et Flaccus« bezeichnet hat.3 Der Prudentiusherausgeber B E R G M A N erkennt Vergleichspunkte auch in der gesellschaftlichen Rolle der drei Dichter: »Ebenso wie Vergil und Horaz poetische Sprachrohre für die Religionsrestauration des Augustus waren, so ist Prudentius der religions1 Vgl. S. DÖPP, Die Blütezeit der lateinischen Literatur in der Spätantike (350-430 n. Chr.). Charakteristika einer Epoche, Philologus 132 (1988), 19-52, hier 41. 2 Z u den Werken des Prudentius als einem alle Gattungen umspannenden christlichen Gesamtkunstwerk vgl. W. LUDWIG, Die christliche Dichtung des Prudentius und die Transformation der klassischen Gattungen, in: Christianisme et formes littéraires de l'antiquité tardive en occident, éd. par M. FUHRMANN, Vandceuvres-Genève 1977 (Entretiens sur l'antiquité classique 23), 303-372, hier 303 u. ö. 3 In seinem Horazkommentar, Cambridge 1711, zu carm. 2,2,15.

12

1. Einführung

p o l i t i s c h e D i c h t e r d e s T h e o d o s i u s , d e s christlichen A u g u s t u s . « 4 M i t V e r g i l u n d H o r a z v e r b i n d e t P r u d e n t i u s d a s B e w u ß t s e i n , in e i n e m n e u e n , b e s s e r e n Z e i t a l t e r z u leben, in d e m e i n i n n e r l i c h e r n e u e r t e s R o m e i n e n b e r e c h t i g t e n A n s p r u c h a u f die W e l t h e r r s c h a f t e r h e b e n k a n n . Die Vorrangstellung Vergils bedarf dabei w o h l k a u m einer Erklärung: Bei allen c h r i s t l i c h e n e b e n s o w i e h e i d n i s c h e n b z w . p r o f a n e n D i c h t e r n d e r S p ä t a n t i k e ist V e r g i l d e r a m m e i s t e n imitierte klassische A u t o r . 5 V e r g i l g e h ö r t e n e b e n T e r e n z , Sallust u n d C i c e r o z u d e n w i c h t i g s t e n S c h u l a u t o r e n 6 u n d g e n o ß w e i t ü b e r d e n e n g e n K r e i s d e r G e b i l d e t e n h i n a u s e i n e beinahe grenzenlose

W e r t s c h ä t z u n g . S c h o n f r ü h h a t t e er bei d e n R ö m e r n

d e n s e l b e n R a n g , d e r i m g r i e c h i s c h e n K u l t u r k r e i s H o m e r z u k a m ; er w a r » d e r D i c h t e r schlechthin, d e s s e n S t u d i u m d i e G r u n d l a g e aller freien Bild u n g ist« 7 . H o r a z tritt d e m g e g e n ü b e r d e u t l i c h z u r ü c k . 8 Z w a r w a r er, o b w o h l er n i c h t z u r quadriga t e r l e k t ü r e b e i m grammaticus,

Messii

g e h ö r t e , ebenfalls G e g e n s t a n d d e r D i c h -

so d a ß a u c h in d e r S p ä t a n t i k e ein g e b i l d e t e s

P u b l i k u m in d e r L a g e g e w e s e n sein d ü r f t e , H o r a z r e m i n i s z e n z e n als s o l c h e z u erkennen.9 Die meisten spätantiken Dichter rezipieren H o r a z jedoch n u r in v e r g l e i c h s w e i s e g e r i n g e m U m f a n g , 1 0 w ä h r e n d P r u d e n t i u s

schon

4 J. BERGMAN, Aurelius Prudentius Clemens, der größte christliche Dichter des Altertums. I: Eine Einführung in den heutigen Stand der Prudentius-Forschung und eine Studie über die Hymnensammlung »Die Stunden des Tages« (Cathemerinon liber), Dorpat 1921 (Acta et Commentationes Universitatis Dorpatensis B: Humaniora II 1), 27. 5 Zum Vorrang Vergils vgl. etwa H. HAGENDAHL, Von Tertullian zu Cassiodor. Die profane literarische Tradition in dem lateinischen christlichen Schrifttum, Göteborg 1983 (Studia Graeca et Latina Gothoburgensia 44), 75-77. 6 Vgl. H.-I. MARROU, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, hg. von R. HARDER, Freiburg/München 1957, 407. 7 MARROU 406. - Die enorme Wirkung von Vergils Werken (insbesondere der Aeneis, des römischen Nationalepos) läßt sich bereits am monumentalen Umfang von COURCELLEs Buch über die Rezeption des vergilischen Epos ablesen (P. COURCELLE, Lecteurs païens et lecteurs chrétiens de l'Énéide I: Les témoignages littéraires, Paris 1984). 8 Vgl. HAGENDAHL, Von Tertullian zu Cassiodor 78. 9 Horaz wurde wahrscheinlich bereits zu seinen Lebzeiten Schulautor (vgl. Suet. gramm. 16 und dazu MARROU 368); auch Quintilian empfiehlt seine Werke ebenso für die Lektüre beim grammaticus (inst. 1,8,6) wie zur Stilschulung des künftigen Redners (inst. 10,1,94. 96). Wahrscheinlich ist die Präsenz des Horaz im Schulunterricht der Spätantike auch deshalb, weil das Lektüreprogramm der römischen Schulen sich im Laufe der ersten nachchristlichen Jahrhunderte immer mehr auf die Klassiker konzentrierte, also keine wesentlichen Änderung gegenüber der Zeit Quintilians auftraten (vgl. MARROU 405f.). Sicher belegt ist die Horazlektüre für die Schule des Ausonius: Dieser legt seinem Enkel neben Vergil und Terenz auch die modulata poemata Flacci ans Herz (protr. 56). 10 Vgl. hierzu z. B. P. L. SCHMIDT, Art. Horaz, in: RAC XVI (1994), 491-524, hier 513515. Als Ausnahme ist hier v. a. Ausonius zu nennen, dem etwa ein Jahrhundert später Sidonius Apollinaris nachfolgt. Von den gleichzeitigen Prosaschriftstellern zeigt sich besonders Hieronymus als ausgesprochener Horazkenner und -liebhaber; vgl. H. HAGENDAHL, Latin Fathers and the Classics. A Study on the Apologists, Jerome and Other Christian Writers, Göteborg 1958 (Studia Graeca et Latina Gothoburgensia 6), 281-283.

1.1. Vorbemerkungen

13

allein darin einen ungewöhnlich engen Anschluß an den Augusteer zeigt, daß er überhaupt Sammlungen von Gedichten in lyrischen Versmaßen veröffentlicht.11 Insbesondere bilden die lyrischen Rahmengedichte - vorausgesetzt, die Reihenfolge der modernen Ausgaben spiegelt im wesentlichen die vom Dichter gewollte Anordnung wider - ein Gegenstück zu der im Zentrum des Gesamtwerks stehenden epischen Psychomachia.

11 SCHMIDT, Horaz 518f., sieht darüber hinaus in der Rahmung der (mit Satiren und Episteln vergleichbaren) didaktischen Gedichte durch die lyrischen Sammlungen ein Indiz dafür, daß »das Gesamtwerk des Prudentius als Versuch einer umfassenden Christianisierung des horazischen Corpus verstanden werden« könne. Auch wenn man einer solchen verallgemeinernden Aussage (und besonders einer allzu engen Parallelisierung der didaktischen Gedichte und der horazischen sermones) mit Skepsis begegnet, bleibt zu konstatieren, daß die überraschende Gattungsvielfalt, die Prudentius' Gesamtwerk auszeichnet, an die Vielgestaltigkeit des horazischen Lebenswerks erinnert.

14

1. Einführung

1.2. Grundzüge der bisherigen Forschung Die Klassikerrezeption des Prudentius ist bereits vielfach Gegenstand der Forschung gewesen, ohne daß jedoch alle (oder auch nur alle inhaltlich relevanten) Reminiszenzen bereits erschöpfend interpretiert wären. Die Rezeption mehrerer antiker Autoren behandeln LAVARENNE, SALVATORE, HANLEY, WITKE u n d PARATORE.1 LAVARENNE g i b t in s e i n e r » É t u d e s u r la

langue du poète Prudence«2 lediglich eine Liste paralleler Formulierungen, die nicht über das im Index imitationum der Ausgabe von BERGMAN bzw. in LAVARENNES eigener Ausgabe Gesammelte hinausgeht. Kaum weniger lapidar liest sich über weite Strecken der Aufsatz von PARATORE3, der auf eine Auflistung der in seinen Augen hinreichend sicheren von einem bestimmten Autor übernommenen Formulierungen jeweils einige knappe interpretierende Bemerkungen folgen läßt und nachdrücklich die alle anderen Prätexte übersteigende Bedeutung Vergils für das poetische Schaffen des Prudentius betont. Die Dissertation von HANLEY4 hat sich die Untersuchung aller klassischen Vorlagen des Prudentius zum Ziel gesetzt und behandelt nach einem einführenden Kapitel Vergil (II.), die Lyrik des Horaz (III., mit einem Seitenblick auf Catull und die Elegiker), Lukrez (IV.), die Satiriker Juvenal, Horaz und Persius (V.), die Tragödien Senecas (VI.), Lucan (VII.), Ovid (Vili.), Statius (IX.) sowie die Einflüsse heidnisch-antiker Literatur auf das Geschichtsbild des Dichters (X.). Sie zählt in erster Linie über1 Hinweise zur Verarbeitung klassischer Vorbilder finden sich natürlich auch in der allgemeineren Literatur, etwa in den Arbeiten von M. M. VAN ASSENDELFT (Sol ecce surgit igneus. A Commentary on the Morning and Evening Hymns of Prudentius [Cathemerinon 1, 2, 5 and 6], Groningen 1976), W. EVENEPOEL (Zakelijke en literaire onderzoekingen betreffende het Liber Cathemerinon van Aurelius Prudentius Clemens, Brüssel 1979 [Verhand. Acad, voor Wetensch. Lett, en Schone Künsten van Belgie, K. der Lett. 41, Nr 91]) und J.-L. CHARLET (La création poétique dans le Cathemerinon de Prudence, Paris 1982) zum Cathemerinon, von A.-M. PALMER (Prudentius on the Martyrs, Oxford 1989) und M. ROBERTS (Poetry and the Cult of the Martyrs. The Liber Peristephanon of Prudentius, Ann Arbor 1993) zum Peristephanon, den Kommentaren von J. STAM (Prudentius, Hamartigenia, with Introduction, Translation and Commentary, Amsterdam 1940) und R. PALLA (Prudenzio, Hamartigenia. Introduzione, traduzione e commento, Pisa 1981) zur Hamartigenia sowie den Monographien von C. GNILKA (Studien zur Psychomachie des Prudentius, Wiesbaden 1963 [Klassisch-Philologische Studien 27]) und M. SMITH (Prudentius' Psychomachia. A Reexamination, Princeton, Ν. J. 1976) zur Psychomachia. 2 M. LAVARENNE, Étude sur la langue du poète Prudence, Paris 1933, 568-596. 3 E. PARATORE, Prudenzio fra antico e nuovo, in: Convegno Internazionale Passaggio dal mondo antico al medio evo. Da Teodosio a San Gregorio Magno (Roma, 25-28 maggio 1977), Roma 1980,51-86. 4 S. M. HANLEY, Classical Sources of Prudentius, Diss. Cornell University 1959 (Mikrofilm).

1.2. Grundzüge der bisherigen Forschung

15

nommene Wendungen auf und kommentiert diese knapp, geht jedoch gelegentlich auch auf strukturelle Ähnlichkeiten ein. Obwohl die Studie zahlreiche wertvolle Beobachtungen enthält, krankt sie an der stillschweigenden Voraussetzung, daß sich die Klassikerrezeption des Prudentius innerhalb der durch die Gattung vorgegebenen Grenzen bewegen müsse so sucht HANLEY Z. B. nur im lyrischen Cathemerinon eingehend nach horazischen Einflüssen. Auch ihr Ergebnis (Vergil stehe unter den Vorbildern an erster Stelle, gefolgt mit deutlichem Abstand von Lukrez, Horaz und Ovid; geringer sei der Einfluß Juvenals, und noch weniger Spuren hätten die übrigen von ihr untersuchten Autoren hinterlassen) bleibt ein wenig an der Oberfläche; man hat den Eindruck, daß sich die Rangfolge hauptsächlich an der absoluten Zahl der von den jeweiligen Dichtern übernommenen Wendungen orientiert. WITKE 5 analysiert ausgewählte Abschnitte aus dem Werk des Prudentius im Hinblick auf dessen Verhältnis zur lateinischen Dichtungstradition. Am ausführlichsten behandelt er die Praefatio, wobei er die Imitation einzelner Wendungen in den Mittelpunkt stellt. WITKE interpretiert sie allerdings sehr differenziert und befaßt sich auch eingehend mit der Frage nach der inhaltlichen Beziehung zwischen altem und neuem Kontext.6 Über die Auflistung oberflächlicher Ähnlichkeiten hinaus geht auch die Behandlung der Klassikerrezeption im ersten Teil von SALVATORES »Studi Prudenziani«. 7 Er bespricht in vier Kapiteln zunächst allgemeine Charakteristika der prudentianischen imitatio (1.), dann die Rezeption des Ovid (2.) und Horaz (3.) und schließlich den Einfluß der vergilischen und horazischen Arkadienmotivik auf Paradiesschilderungen des Prudentius (4.). SALVATORES Gesamteinschätzung der Klassikerrezeption hält sich frei von Klischees wie dem des »christlichen Humanismus« und der vergröbernden Formel »christlicher Inhalt - antike Form«. Er spürt klassischen Einflüssen auch dort nach, wo sie sich nicht in klar erkennbaren verbalen Imitationen niederschlagen, geht aber in seiner Interpretation gelegentlich ein wenig zu weit. 8 Über diese Studien mit umfassendem Anspruch hinaus gibt es zahlreiche Untersuchungen, die die Rezeption einzelner klassischer Schriftsteller im Werk des Prudentius zum Gegenstand haben, wobei neben anderen 5 C. WITKE, Numen litterarum. The Old and the New in Latin Poetry from Constantine to Gregory the Great, Leiden 1971 (Mittellateinische Studien und Texte 5), 102-144. 6 Vgl. allerdings die Kritik an einzelnen seiner Beobachtungen bei C. MAGAZZÙ, Rassegna di studi prudenziani (1967-1976), BStudLat 7 (1977), 105-134, hier llOf. 7 A. SALVATORE, Studi Prudenziani, Napoli 1958 (Collana di studi latini 1). Vorarbeiten dazu bereits in einem Aufsatz: Qua ratione Prudentius, aliqua Cathemerinon libri carmina conscribens, Horatium Vergiliumque imitatus sit, AFLN 6 (1956), 119-140. 8 Vgl. die Kritik an SALVATORE Ζ. Β. bei R. HERZOG, Die allegorische Dichtkunst des Prudentius, München 1966 (Zetemata 42), 68 Anm. 53, und VAN ASSENDELFT 126f.

16

1. Einführung

Autoren 9 auch in der Vergangenheit besonders die Vergil- und Horazreminiszenzen Beachtung gefunden haben. Mit der Vergilimitation befassen sich die Dissertationen von DEXEL, MAHONEY und SCHWEN sowie Aufs ä t z e v o n RICHARD, MAGAZZÜ, GNILKA u n d DÖPP. COURCELLE e r w ä h n t in

seinem umfangreichen Buch über die Rezeption der Aeneis von der römischen Kaiserzeit bis ins frühe Mittelalter10 zahlreiche Entlehnungen des Prudentius und geht auch in einem Aufsatz zur christlichen Interpretation der 4. Ekloge auf den spanischen Dichter ein." DEXEL12 gliedert seine Arbeit, die größtenteils eine Sammlung verbaler Imitationen darstellt, nach der Position des übernommenen Materials im Vers und verzeichnet bei Prudentius insgesamt etwa 340 Vergilimitatio9 Zu Lukrez: ζ. B. E. RAPISARDA, Studi Prudenziani, Catania 1969,15-82; ders., Influssi lucreziani in Prudenzio. Un suo poema lucreziano e antiepicureo, VChr 4 (1950), 46-60; C. FABIAN, Dogma und Dichtung. Untersuchungen zu Prudentius' Apotheosis, Bern/Frankfurt a. M. 1988 (Europäische Hochschulschriften R. 15, 42), 249-275. Zu Catull: L. RLVERO GARCÍA, ECOS catulianos en los poemas de Prudencio, Anuario de Estudios Filológicos 19 (1996), 443-455. Zu Ovid: ζ. Β. F. ALEXANDER, Beziehungen des Prudentius zu Ovid, WS 54 (1936), 166-173; M. L. EWALD, Ovid in the »Contra Orationem Symmachi« of Prudentius, Washington 1942 (The Catholic University of America Patristic Studies 66); A. SALVATORE, Echi ovidiani nella poesia di Prudenzio, in: Atti del convegno internazionale ovidiano, Sulmona, maggio 1958. Vol. II, Roma 1959,257-272; W. EVENEPOEL, La présence d'Ovide dans l'œuvre de Prudence, in: Colloque Présence d'Ovide, éd. par R. CHEVALLIER, Paris 1982 (Caesarodunum 17bis), 165-176; M. KAMPTNER, Die »Metamorphose« des hl. Cyprian bei Prudentius (Peristephanon 13), WS 108 (1995), 533-540. Zu Seneca und Lucan: ζ. Β. G. SiXT, Des Prudentius Abhängigkeit von Seneca und Lucan, Philologue 51 (1892), 501-506; V. J. HERRERO LLORENTE, Lucano en la literatura hispanolatina, Emerita 27 (1959), 19-52; R. HENKE, Die Nutzung von Senecas (Ps.-Senecas) Tragödien im Romanus-Hymnus des Prudentius, WJA 11 (1985), 135-150. Zu Juvenal: ζ. Β. S. Stella Marie [HANLEY], Prudentius and Juvenal, Phoenix 16 (1962), 41-52; C. GNILKA, Satura tragica: zu Juvenal und Prudentius, WS 103 (1990), 145-177. Einzelne Arbeiten befassen sich auch mit dem Einfluß zeitgenössischer Dichter: z. B. J.-L. CHARLET, L'influence d'Ausone sur la poésie de Prudence, Aix-en-Provence 1980; L. MONDIN, I sogni di Ausonio: nota al testo deWEphemeris, Prometheus 17 (1991), 34-54; W. FAUTH, Der Morgenhymnus Aeterne rerum conditor des Ambrosius und Prudentius Cath. 1 (Ad galli cantum). Eine synkritische Betrachtung mit dem Blick auf vergleichbare Passagen der frühchristlichen Hymnodie, JbAC 27-28 (1984-1985), 97-115; Al. CAMERON, Claudian. Poetry and Propaganda at the Court of Honorius, Oxford 1970 (Appendix B, 469-473 zum Verhältnis Claudian Prudentius); S. COSTANZA, Le concezioni poetiche di Prudenzio e il carme XVIII di Paolino di Nola, SicGymn 29 (1976), 123-149; ders., Il catalogo dei pellegrini. Confronto di due tecniche narrative (Prud. Per. XI189-213; Paolino di Nola Carm. XIV 44-85), BStudLat 7 (1977), 316-326. 10 COURCELLE, Lecteurs. Zu Rezeption von Buch 6 vgl. bereits den Aufsatz Les pères de l'église devant les enfers virgiliens, Archives d'histoire doctrinale et littéraire du Moyen Age 30 (1955), 5-74. 11 P. COURCELLE, Les exégèses chrétiennes de la 4e églogue, REA 59 (1957), 294-319. 12 F. DEXEL, Des Prudentius Verhältnis zu Vergil, Diss. Erlangen 1907. Ebenfalls mit der Vergilrezeption christlicher Dichter im allgemeinen befaßt sich ein Aufsatz von A. HUDSON-WILLIAMS (Virgil and the Christian Latin Poets, PVS 6 [1966/67], 11-21), der ausgewählte Beispiele erwähnt und auch knappe Hinweise zu ihrer Interpretation gibt.

1.2. Grundzüge der bisherigen Forschung

17

nen. MAHONEY13 hat zunächst die Vergilreminiszenzen in den hexametrischen, dann die in den lyrischen Gedichten zusammengestellt. Einige längere Anlehnungen werden knapp kommentiert, die kürzeren lediglich nach der Wahrscheinlichkeit der Übernahme (»Vergilian - Probable - Possible«) sowie nach ihrer Stellung im Vers geordnet. Ähnlich verfährt SCHWEN14, dessen Untersuchung wie diejenige MAHONEYS auf den Ergebnissen DEXELS aufbaut und diese bedeutend erweitert: Er untersucht in einem ersten Abschnitt die Vergilreminiszenzen größeren Umfangs - hierzu werden vor allem die Kampfszenen der Psychomachia und die Mythoskritik sowie die Verherrlichung des christlichen Rom in den Büchern Contra Symmachum gezählt - , der zweite Teil enthält eine unkommentierte Zusammenstellung kleinerer Anlehnungen. Auch SCHWEN dient dabei als Ordnungskriterium die Wahrscheinlichkeit der Übernahme (»Sicher Vergilisches - nicht sicher Entscheidbares - sicher nicht Vergilisches«). Die Analyse im ersten Teil gelangt oft nicht über die Ebene der Beschreibung hinaus, wenn auch gelegentlich Hinweise zur Beziehung zwischen altem und neuem Kontext einer Reminiszenz gegeben werden. RICHARD, die in ihrem Aufsatz15 von der (nicht ganz zutreffenden) Voraussetzung ausgeht, daß »l'apport de Virgile à Prudence était bien essentiellement épique«16, macht knappe Anmerkungen zu Elementen der epischen Sprache sowie typisch »epischen« Szenen in den Märtyrerhymnen und betont besonders die Heroisierung der Märtyrer durch Bezüge zu Vergils Aeneis. MAGAZZÙ17 zeigt am Beispiel einiger Szenen aus der Psychomachia die große Bedeutung vergilischen Materials für dieses Werk, wobei er Prudentius gegen den Vorwurf mangelnder Originalität in Schutz nimmt. Er stellt besonders die für die Psychomachia charakteristische gegenseitige Durchdringung von Allegorischem und Epischem in den Vordergrund. Auch GNILKA geht in seiner Untersuchung zur Vergilrezeption von der Psychomachia aus.18 Er entwickelt zunächst seine Theorie einer christlichen »Nutzung« der antiken Literatur19 und erläutert diese dann an vier Beispielen aus dem allegorischen Epos, die gewissermaßen eine aufsteigende Hierarchie der Vergilnutzung darstellen. Der Einfluß Vergils 13 A. MAHONEY, Vergil in the Works of Prudentius, Washington 1934 (The Catholic University of America Patristic Studies 39). 14 C. SCHWEN, Vergil bei Prudentius, Diss. Leipzig 1937. 15 G. RICHARD, L'apport de Virgile à la création épique de Prudence dans le Peristephanon Liber, Caesarodunum 3 (1969), 187-193. 16 A. a. 0 . 1 8 7 . 17 C. MAGAZZÙ, L'utilizzazione allegorica di Virgilio nella Psychomachia di Prudenzio, BStudLat 5 (1975), 13-23. 18 C. GNILKA, Interpretation frühchristlicher Literatur. Dargestellt am Beispiel des Prudentius, in: Impulse für die lateinische Lektüre, hg. von H. KREFELD, Frankfurt a. M. 1979,138-180. 19 Dazu s. u. S. 21f.

18

1. Einführung

wird 1. innerhalb eines Einzel verses, 2. in einer Szene, 3. in einem - das ganze Gedicht prägenden - darstellerischen Zug und 4. in seiner Bedeutung für die Konzeption des Gedichts aufgezeigt. Die Vorgehensweise von DÖPP 2 0 ist eine ähnliche: Er nennt einige Beispiele für Vergilimitationen in den Büchern Contra Symmachum und schreitet dabei von der Ebene der Sprache über die Erzähltechnik zur argumentativen Auseinandersetzung des Prudentius mit der Geschichtsauffassung Vergils fort. DÖPP und GNILKA behandeln zwar nur eine begrenzte Zahl von Reminiszenzen, setzen aber gerade durch diese Beschränkung Maßstäbe für eine differenzierte Interpretation. Zur Horazimitation des Prudentius liegen die Dissertationen von BREIDT und VAN KOTEN sowie kürzere Arbeiten von STRZELECKI, OPELT, COSTANZA, PUCCI, GIANNANGELI, PALLA, VAN ASSENDELFT/PALMER

und

vor. BREIDT21 versucht, einzelne Horazreminiszenzen im Werk des Prudentius für textkritische Fragen nutzbar zu machen und bietet darüber hinaus eine Zusammenstellung »sicherer« und »möglicher« Anspielungen. Viele der von ihm angeführten Parallelen sind freilich eher als zufällige Ähnlichkeiten zu betrachten; außerdem verzichtet er völlig auf eine Interpretation der einzelnen loci similes. Das gleiche gilt auch für den größten Teil der Dissertation VAN KOTENS22, der ebenfalls die Wahrscheinlichkeit der Imitation als Gliederungskriterium verwendet. Allerdings versieht er etliche Parallelen mit einem knappen Kommentar und interpretiert drei besonders interessante Passagen ausführlich. Seine wenig textnahe und daher selten hilfreiche Deutung ist von der übrigen Forschung kaum zur Kenntnis genommen worden. CRISTÓBAL

Während diese beiden Untersuchungen sich im wesentlichen auf die Behandlung übereinstimmender Formulierungen beschränken, widmet sich STRZELECKI in seinem Aufsatz 23 ausschließlich dem Aspekt der Metrik. Seinen Beobachtungen zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Verwendung bestimmter lyrischer Versmaße durch Horaz und Prudentius ist nur wenig hinzuzufügen. Einen sehr knapp gehaltenen Überblick über verschiedene Aspekte der Beziehung Prudentius - Horaz gibt OPELT24; sie weist allerdings auch auf gravierende Unterschiede im Grund-

20 S. DÖPP, Vergilische Elemente in Prudentius' Contra Symmachum, Hermes 116 (1988), 337-342. 21 H. BREIDT, De Aurelio Prudentio d e m e n t e Horatii imitatore, Diss. Heidelberg 1887. 22 Β. VAN KOTEN, Prudentius und Horaz, Diss. Freiburg 1953. 23 L. STRZELECKI, De Horatio rei metricae Prudentianae auctore, in: Commentationes Horatianae I, Krakow 1935, 36-49. 24 I. OPELT, Prudentius und Horaz, in: Forschungen zur römischen Literatur. Festschrift für K. BÜCHNER, hg. von W. WLMMEL, Wiesbaden 1970, 206-213. ND in: I. OPELT,

1.2. Grundzüge der bisherigen Forschung

19

sätzlichen hin, die die beiden Dichter voneinander trennen. Vergleichbar in Umfang und Anlage ist der Aufsatz von VAN ASSENDELFT und PALMER25:

Nach einem Blick auf die Klassikerrezeption des Prudentius im allgemeinen werden zunächst Aussagen des Prudentius zitiert, in denen dieser sich von der durch Horaz repräsentierten klassischen Lyrik abgrenzt, die grundlegenden Unterschiede im dichterischen Selbstverständnis werden angedeutet; schließlich führen die Autorinnen einige Beispiele für übernommene Junkturen und Versmaße an und behandeln exemplarisch für die Auseinandersetzung des Prudentius mit horazischem Gedankengut die Bezüge zwischen cath. 5 und carm. 4,5. COSTANZA26 vergleicht die Selbstdarstellung der beiden Dichter anhand der Parallele zwischen der Wertepriamel cath. 2,37-56 und Horazens carm. 1,1 und gibt eine sehr detaillierte Analyse dieser Imitation einer längeren Horazpassage von programmatischer Bedeutung. Die Arbeiten von Pucci27 und PALLA28 stellen dagegen wieder verbale Entlehnungen in den Mittelpunkt; im Unterschied zu den älteren Abhandlungen wolle die beiden aber eine ausführliche Interpretation ausgewählter Abschnitte geben. Pucci beschränkt sich auf drei Stellen aus der Praefatio und zwei aus dem Cathemerinon, PALLA fragt anhand von fünf Beispielen aus dem Cathemerinon bzw. der Apotheosis nach den Veränderungen, die Prudentius vornimmt, um eine horazische Formulierung an den neuen Kontext anzupassen. Wenig hilfreich im Vergleich zu diesen beiden Untersuchungen ist die Stellensammlung von GIANNANGELI29, die lediglich das einschlägige Material aus den Indices imitationum der Kirchenväterausgaben zusammengestellt und nach der Reihenfolge des Horaztextes geordnet hat; für Prudentius wurde die Ausgabe von BERGMAN benutzt. Der neue Aufsatz von CRISTÓBAL30 schließlich konzentriert sich vorwiegend auf gedankliche Parallelen und Unterschiede zwischen beiden Dichtern. Er enthält etliche wertvolle und z. T. neue Beobachtungen, setzt jedoch gelegentlich auch

Paradeigmata poetica Christiana. Untersuchungen zur christlichen lateinischen Dichtung, Düsseldorf 1988 (Kultur und Erkenntnis 3), 130-137 [danach hier zitiert], 25 M. M. VAN ASSENDELFT / A.-M. PALMER, Prudentius, de >christelijke HoratiusCui dono lepidum nouum libellum?< / Veronensis ait poeta quondam ... (eel. praef. If.). 15 H. F. PLETT, Sprachliche Konstituenten einer intertextuellen Poetik, in: BROICH/PFISTER, 78-98, hier 84. 16 Vgl. dazu BROICH, Einzeltextreferenz 50.

1.3. Zur Theorie der literarischen Reminiszenz

27

den sie einen weitgehend homogenen Bezugsrahmen, oder ist eine Spannung zwischen ihnen erkennbar?17 Denkbar ist ferner der Fall, daß mehrere Prätexte sozusagen diachronisch hintereinandergeschaltet sind.18 Mit einem rhetorischen Begriff läßt sich das Verhältnis einer Reminiszenz zu ihrem ursprünglichen Kontext als eine Art pars pro fofo-Relation beschreiben: In der neuen Umgebung repräsentiert sie gewissermaßen den Text, dem sie entnommen ist.19 Dabei ist der Charakter der Synekdoche um so ausgeprägter, je spezifischer der intertextuelle Bezug ist, also etwa bei einem wörtlich übernommenen Vers höher als bei der Nachahmung einer bestimmten Figurenkonstellation. Betrachtet man die Reminiszenz dagegen zusammen mit dem alten und dem neuen Kontext, ist ihre Funktionsweise der der Metapher verwandt. Beide sind »uneigentliche« Sprechweisen: Ein Ausdruck, der sich eigentlich auf einen bestimmten Sachverhalt bezieht, wird auf einen anderen, ähnlichen Sachverhalt übertragen. Durch die Diskrepanz zwischen Sach- und Bildebene (bzw. zwischen Originalkontext und neuem Kontext) entsteht eine Spannung, beide Realitäten sind gleichzeitig gegenwärtig und werden zu einer neuen, komplexeren Realität.20 Die Parallele zur Metapher leuchtet für Reminiszenzen kleineren Umfangs (einzelne Formulierungen, Motive) sofort ein, sie gilt aber ebenso für Reminiszenzen im Makro-Bereich. Auch die Wahl eines bestimmten Metrums oder einer bestimmten Erzählperspektive kann ζ. B. ein Vorbild evozieren, so daß sich beim Leser die Erinnerung an dieses Vorbild mit der Wahrnehmung des neuen Textes »überlagert«. Dieses rhetorische Mittel bewirkt eine »semantische Explosion«21, indem es der Sprache zusätzlich zu ihrer rein denotativen Funktion eine weitere Dimension erschließt.22 17 Bei Prudentius ist hier besonders die gleichzeitige Bezugnahme auf eine oder mehrere klassische Vorlagen und einen biblischen Text von Interesse, die sich recht häufig beobachten läßt. Auch die Frage, inwieweit der Dichter neben der Verarbeitung literarischer Prätexte auf ältere oder zeitgenössische theologische Texte Bezug nimmt, wird im Einzelfall zu klären sein. 18 Zum Problem der gegenseitigen Perspektivierung der Prätexte vgl. v. a. M. LINDNER, Integrationsformen der Intertextualität, in: BROICH/PFISTER, 116-135, hier 124-126. Sie hat dabei wohl in erster Linie Parallelen größeren Umfangs bzw. ganze Werke vor Augen. Im Kleinen läßt sich Vergleichbares aber auch bei Prudentius nachweisen: So übernimmt der christliche Dichter ζ. B. gelegentlich, wenn er sich eng an Laktanz anlehnt, auch die von diesem zitierten Vergilpassagen; vgl. ScHWEN 122. 19 Vgl. ζ. B. PLETT, Intertextualities 9; ähnlich auch HEBEL 139. 2 0 Vgl. CONTE bes. 52-56 sowie BONANNO 12 und 26.

21 R. LACHMANN, Ebenen des Intertextualitätsbegriffs, in: Das Gespräch, hg. von K. STIERLE und R. WARNING, München 1984 (Poetik und Hermeneutik 11), 133-138, hier 134. 22 Voraussetzung für das Funktionieren dieses literarischen Kunstmittels ist grundsätzlich eine hinreichende Kompetenz des Lesers. Um die Technik des Dichters würdigen zu können, muß er die Reminiszenz erkennen, sich an das Original erinnern, dessen Kontext und Bedeutung in Betracht ziehen, mit dem neuen Kontext vergleichen und so Rück-

28

1. Einführung

Mit der Analogie zur Metapher ist das Verhältnis zwischen altem und neuem Kontext einer Reminiszenz im Grundsätzlichen charakterisiert, es kann jedoch noch näher bestimmt werden. Folgende prinzipielle Möglichkeiten einer inhaltlichen Beziehung zwischen altem und neuem Kontext sind denkbar:23 Der Inhalt des Originals kann für den neuen Kontext von untergeordneter Bedeutung sein. Die Beziehung ist dann gewissermaßen eine neutrale, BONANNO spricht von »ripresa«.24 Die Aussage der Vorlage kann aber auch eine mehr oder weniger wichtige Rolle für die der »Bearbeitung« spielen. Das Sinnpotential des neuen Textes wird dann in signifikanter Weise erweitert; umgekehrt enthält der neue Text auch eine implizite Beurteilung des Prätextes.25 Möglich ist zum einen, daß die inhaltliche Ausrichtung des Originals übernommen wird. Diese affirmative Beziehung bezeichnet BONANNO als »allusione«.26 Der Vorlage kommt in diesem Fall der Status einer Autorität zu; durch die Bezugnahme auf sie wird die Aussage des neuen Textes vertieft. Zum anderen kann die Aussage des Prätextes der des neuen Textes aber auch zuwiderlaufen. Die Beziehung ist dann eine kritische; BONANNO verwendet den Ausdruck »parodia«,27 der andeuten soll, daß die Aussage des Prätextes im neuen Kontext in ihr Gegenteil verkehrt und so eine komische Wirkung erzielt wird.28

schlüsse auf die Bedeutung im neuen Zusammenhang ziehen. GRIMM 67 weist darauf hin, daß das Ideal nicht bloß in einer identischen Kompetenz von Autor und Leser besteht: »Unter dem Aspekt optimaler Textdeutung müßte der Horizont des idealen Lesers den Horizont des Autors übersteigen, seine Kompetenz die des Autors in sich schließen. Ein solcher kompetenter Leser wird also alle im Text potentiell enthaltenen (nicht lediglich vom Autor intendierten) Signale und Verweise >entschlüsseln1 can use you for any purpose whatever.épyllion«< bezeichnet worden ist.186 Die Schilderung nimmt ihren Ausgang von der Feuersäule, die den Israeliten auf ihrem Weg durch die Wüste vorangeht:

40

hunc ignem populus sanguinis inclyti, maiorum meritis tutus et inpotens, suetus sub dominis uiuere barbaris, iam Uber sequitur longa per auia. qua gressum tulerant castraque caerulae noctis per medium concita mouerant, plebem peruigilem fulgure praeuio ducebat radius sole micantior. (cath. 5,37-44)

Eine epische Färbung erhält die Erzählung z. B. durch die Verwendung der aus der militärischen Sphäre stammenden Formulierung castra mouere.m Ein spezieller Vergilbezug liegt in der Wendung sequitur ... per auia (V. 40) vor, wo - wenn auch mit Änderung der Konstruktion - die Worte des Aeneas anklingen, der berichtet, wie er auf der Flucht aus dem zerstörten Troja seine Gattin Creusa verlor:188

740

... namque auia cursu dum sequor et nota excedo regione uiarum, heu misero coniunxfatene erepta Creusa substitit, errauitne uia s eu lapsa resedit,

incertum ... (Aen. 2,736-740)

Der Versanfang qua gressum tulerant (cath. 5,41) stammt aus der unmittelbaren Fortsetzung von Aeneas' Erzählung:

185 Die Frage, inwieweit die durch die »epische« Erzählung im »lyrischen« Gedicht gegebene Mischung der Gattungen auf einen charakteristischen Zug bestimmter horazischer Oden zurückgeführt werden kann, soll im Rahmen der Untersuchung der Horazreminiszenzen geklärt werden; s. u. Kap. 3.2.3. S. 203-207. 186 CHARLET, Cathemerinon 170. CHARLET möchte den Ausdruck »epyllion« allerdings nur auf die Verse 45-80 anwenden; in den einleitenden Strophen sieht er »un bref récit de style épique, mais non ... une petite épopée« (ebd.). 187 Die Wendung erscheint in der Dichtung fast ausschließlich im Epos; vgl. z. B. Aen. 3,519; 11,446; Lucan. 10,399f.; Sil. 7,4; Stat. Theb. 12,550f.; Claud. 26,558f. 188 Reminiszenz festgestellt von SALVATORE, Horaz und Vergil 130.

92

2. Prudentius und Vergil principio muros obscuraque limina portae, qua gressum extuleram, repeto et uestigia retro obseruata sequor per noctem et lumitie lustro ... (Aen.

2,752-754)

Für sich genommen wäre diese Parallele allenfalls als eine metrische Reminiszenz anzusehen,189 zumal die Junktur gressum ferre keineswegs ungewöhnlich ist.190 In Kombination mit einer zweiten Reminiszenz aus demselben Umfeld liegt jedoch die Deutung nahe, daß durch die intertextuellen Bezüge der Auszug aus Ägypten in die Nähe von Aeneas' Flucht aus Troja gerückt wird. Die Erzählung vom Weg der Israeliten ins Gelobte Land wird überlagert von der in jedem Römer lebendigen Erinnerung an die Irrfahrten des Nationalhelden Aeneas und erhält so die Konnotation des Heroischen.191 Diese Interpretation wird m. E. durch eine weitere Vergilreminiszenz gestützt, die allerdings nicht mehr im Rahmen der Bibelepisode, sondern im Zusammenhang mit deren allegorischer Deutung auftritt: Wie Gott das Volk Israel durch das Rote Meer nach Kanaan geführt hat, so lenkt er die Seele durch die Gefahren der Welt ins himmlische Vaterland: 110

fessos ilie uocat per fréta saeculi discissis populum turbinibus regens iactatasque animas mille laboribus iustorum inpatriam scandere praecipit. (cath. 5,109-112)

Das Bild der »umhergetriebenen Seelen«192 erinnert an die Worte, mit denen Dido die bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen ihrem eigenen Schicksal und dem des Aeneas feststellt:193

630

me quoque per multos similis fortuna labores iactatam hac demum uoluit consistere terra; non ignara mali miseris succurrere disco. (Aen. 1,628-630)

Die Zahl der labores erscheint bei Prudentius gegenüber dem vergilischen Prätext noch gesteigert - die Zahl mille steht bei ihm für »unzählige«.194 1 8 9 Festgestellt v o n BERGMAN, LAVARENNE, CUNNINGHAM u n d RLVERO GARCÍA Ζ. St.;

außerdem von ΜΑΗΟΝΕΥ 136; SCHWEN 103; SALVATORE, Horaz und Vergil 130; VAN AsSENDELFTZ. St.; CHARLET, C a t h e m e r i n o n 1 7 0 A n m . 60.

190 Vgl. etwa Ov. epist. 16,335; met. 6,275; Sen. Here. O. 717; Lucan. 6,829; Sil. 16,488. 191 Mit der erstaunlichen Parallele zwischen Exodus und Aeneis befaßt sich die Dissertation von R. BOHN, Untersuchungen über das Motiv des gelobten Landes in Vergils Aeneis und im Alten Testament, Freiburg 1965 (Übersicht über vergleichbare Motive bes. 1-8). Die wichtigsten Motivähnlichkeiten faßt R. RIEKS, Vergil und die römische Geschichte, in: ANRW II 31.2 (1981), 728-868, hier 828, zusammen. 192 Zum Topos »die Stürme des Lebens« vgl. W. EVENEPOEL, Die fünfte Hymne des Liber Cathemerinon des Aurelius Prudentius Clemens, WS N. F. 12 (1978), 232-248, hier 243 mit Anm. 37. 1 9 3 Notiert v o n BERGMAN und LAVARENNE Z. St. s o w i e v o n ΜΑΗΟΝΕΥ 136, SCHWEN 72, VAN ASSENDELFT z. St. u n d CHARLET, C a t h e m e r i n o n 1 7 8 A n m . 100.

194 Vgl. ThLL Vili, 980f. s. v. mille (caput alterum) I Β.

2.2. Epische Elemente

93

Daß es an der zuletzt zitierten Vergilstelle nicht Aeneas, sondern Dido ist, die als iactata bezeichnet wird, ist für die Deutung der Reminiszenz nicht entscheidend. Ihr bisheriger Lebensweg erscheint im ersten Buch der Aeneis als ein Spiegelbild zu dem des Aeneas,' 95 und eben diese Parallelität wird ja in den zitierten Versen auch thematisiert. Aeneas ist der iactatus par excellence; 196 sein Schicksal wird deshalb auch durch die Bezugnahme auf Aen. l,628f. vorrangig evoziert. 197 Der implizite Vergleich der Irrfahrten der Aeneaden mit dem Zug der Israeliten wird durch seine Wiederaufnahme innerhalb der allegorischen Deutung der Exodus-Episode noch einmal bestätigt. Deutlich epischen Charakter trägt auch die Passage, in der die Rüstungen der Ägypter beschrieben werden: 50

55

sumunt arma uiri seque minacibus accingunt gladiis, triste canit tuba; hicfidit iaculis, ille uolantia praefigit calamis spicula Gnosiis. densetur cunéis turba pedestribus, currus pars et equos et uolucres rotas conscendunt celeres signaque bellica praetendunt tumidis clara draconibus. (cath. 5,49-56)

Bereits die Wortfolge arma uiri (V. 49) erinnert entfernt an das arma uirumque cano des Aeneis-Proömiums und bestimmt so die Tonart des Folgenden. 198 In der Beschreibung des Trompetensignals (V. 50) klingt vielleicht Sil. 15,460 (murmur triste tubae) an;199 die Formulierung, mit der in V. 51f. die unterschiedlichen Arten der Bewaffnung einander gegenübergestellt

195 Vgl. etwa F. KLINGNER, Virgil. Bucolica, Geórgica, Aeneis, Zürich/Stuttgart 1967, 397 und 401-403.

196 In der Aeneis wird das Partizip siebenmal verwendet - dreimal für Aeneas (Aen. 1,3; 4,14; 6,693), zweimal für die Trojaner im allgemeinen (1,29. 182) und zweimal für Dido und die Karthager (1,442. 629). Zum Vergleich: In Ovids Metamorphosen, einem Epos also, für das gerade die große Zahl der darin verarbeiteten Mythen charakteristisch ist, wird das Verb iactare insgesamt siebenmal für das »Hin- und Herwerfen« von Schiffen oder Menschen gebraucht; davon dreimal mit Bezug zum Aeneas-Mythos (met. 13,709; 14,560; 15,772). 197 Unter Umständen klingt neben l,628f. auch eine auf Aeneas selbst bezogene Passage an: die Begrüßung des Aeneas durch Anchises in der Unterwelt (Aen. 6,692f.: quas ego te terras et quanta per aequora uectum / accipio! quantis iactatum, nate, periclis!); vgl. KAH 339f. mit Anm. 321. 198 Vgl. z. B. VAN ASSENDELFT z. St.; CHARLET, Cathemerinon 172 A n m . 71. Natürlich

tritt die Wortverbindung überaus häufig auf (vgl. etwa Ov. met. 11,382; Val. Fl. 3,714; Sil. 1,132), doch spricht der von keinem anderen Werk erreichte Bekanntheitsgrad der Aeneis entschieden dafür, daß deren Anfangsvers hier vorrangig assoziiert wurde. Die Anfangsworte als Chiffre für tie gesamte Aeneis z. B. auch Ov. trist. 2,533; Mart. 8,55,19. Bei Prudentius s. bes. perist. 3,35 (s. dazu u. S. 103f.). 199 Vgl. auch Val. Fl. 1,351 (soluerat amplexus tristi tuba tertia signo).

94

2. Prudentius und Vergil

werden, stammt aus dem Entscheidungskampf zwischen Turnus und Aeneas (Aen. 12,789: hic gladio fidens, hic acer et arduus hasta).200 Selbst die deutliche Horazreminiszenz in V. 52 trägt zur epischen Wirkung des Ganzen bei, da das evozierte Gedicht carm. 1,15 eine unverkennbar epische Thematik, nämlich den Trojanischen Krieg, behandelt. 201 Zu V. 53 läßt sich Aen. 7,793f. vergleichen (insequitur nimbus peditum clipeataque toil's / agmina densentur campis ... ); 202 die Streitwagen in V. 54 erinnern an den Wagen des Mars, der in der Schmiede der Kyklopen hergestellt wird (Aen. 8,433: currumque rotasque uolucris).203 Die tumidi dracones (V. 56) können nur als die in Rom seit dem 3. Jh. n. Chr. üblichen Standarten in Schlangenform gedeutet werden (vgl. Claud. 7,138f.; 8,545). 204 Durch dieses anachronistische Detail spielt der Dichter jedoch zugleich auf den biblischen Symbolgehalt der Schlange als Verkörperung des Bösen an. 205 Insgesamt läßt die gedrängte Schilderung der Bewaffnung, die den Eindruck fieberhafter Aktivität vermittelt, an die dem großen Truppenkatalog unmittelbar vorangehende Passage Aen. 7,623-640 denken. 206 Hier gibt Vergil ein Gesamtbild der Rüstungen der Italiker, bevor er dann im Rahmen des Katalogs die einzelnen Gruppen getrennt in den Blick nimmt. 207 Folgende Motive finden sich bei beiden Dichtern: das Greifen nach den Waffen (cath. 5,49; Aen. 7,625); das Gürten mit dem Schwert (cath. 5,49f.; Aen. 7,640); das Signal durch die tuba (cath. 5,50; Aen. 7,628) 208 ; die Feldzei-

200 Festgestellt von MAHONEY 137 und SCHWEN 52. Vgl. auch Iuvenc. 4,513 (pars stricte gladiis pars fidens pondere clauae). 201 So richtig CHARLET, Cathemerinon 172 Anm. 71. Zu dieser Reminiszenz (carm. 1,15,17: calami spicula Cnosii) s. u. S. 190. 2 0 2 F e s t g e s t e l l t v o n SCHWEN 52; VAN ASSENDELFT z. St.; CHARLET, C a t h e m e r i n o n 1 7 2

Anm. 71. Vgl. auch Aen. 12,457f.; Lucan. 7,497; Sil. 14,539f.; Prud. harn. 409 (und dazu oben S. 85). 2 0 3 F e s t g e s t e l l t v o n BERGMAN, LAVARENNE u n d RTVERO GARCÍA ζ. St.; a u ß e r d e m v o n MAHONEY 136; SCHWEN 5 2 ; VAN ASSENDELFT z. St.; CHARLET, C a t h e m e r i n o n 1 7 1 A n m . 6 8 .

204 Dazu vgl. J. KROMAYER / G. VEITH, Heerwesen und Kriegführung der Griechen und Römer, München 1928 (HAW IV 3.2), 585. Abb. 109 zeigt ein solches Feldzeichen (nach einem Relief des Konstantinsbogens). 2 0 5 V g l . VAN ASSENDELFT z. St.

206 Vgl. SCHWEN 51 f. (dort auch die meisten der im folgenden genannten Einzelbeobachtungen); CHARLET, Cathemerinon 170f. 207 Unzutreffend scheint mir CHARLETS Klassifizierung der Prudentiuspassage als »une vicissitude chrétienne, >miniaturisée< à l'alexandrine, du sous-genre épique attesté au chant II de l'Iliade par le catalogue des vaisseaux< grecs« (CHARLET, Cathemerinon 171 mit Anm. 64 bis). Bei den beiden Strophen handelt es sich gerade nicht um einen Katalog, weil in ihnen - wie in der vergilischen Vorlage - nicht die einzelnen Elemente jeweils für sich betrachtet werden, sondern zu größeren Einheiten zusammengefaßt sind. Vgl. die Definition von M. ASPER, Art. Katalog, in: HWRh IV (1998), 915-922, hier 915, nach der der poetische Katalog aus »einer ausgedehnten offenen Liste gleichwertiger Begriffe« besteht. 208 Das classicum als Signalinstrument wird in cath. 5,48 und Aen. 7,637 genannt.

2.2. Epische Elemente

95

chen (cath. 5,55f.; Aen. 7,628). In beiden Passagen werden einander sowohl verschiedene Waffenarten (cath. 5,51f.; Aen. 7,626f. 632-640) gegenübergestellt209 als auch der Kampf zu Fuß und der zu Pferde (cath. 5,53-55; Aen. 7,624f.); anders als Prudentius erwähnt Vergil allerdings keine Streitwagen. Diese Aufgliederung der Gesamtmenge geschieht teils durch pars ... pars (cath. 5,53-55 210 ; Aen. 7,624-627), teils durch hic ... ille (cath. 5,51; Aen. 7,638). Der epische Ton der Erzählung setzt sich auch in den folgenden Strophen fort.211 Dies gilt besonders für die Schilderung des Durchzugs durch das Schilfmeer, die deutliche Bezüge zu einer Passage aus dem AristaeusEpyllion im vierten Buch der Geórgica aufweist: Moses porro suis in mare praeçipit constans intrepidis tendere gressibus. 65

praebent rupta locum stagna uiantïbus, riparum in faciem pernia sistitur circumstans uitreis unda liquoribus, dum plebs sub bifido permeai aequore. (cath. 5,63-68)

Ganz ähnlich teilen sich für Aristaeus, der seiner Mutter gegenüber den Verlust der Bienen beklagt, die Fluten des Peneus, und er erhält Zutritt zu ihrer unterirdischen Behausung: 360

... [sc. Cyrene] simul alta iubet discedere late flumina, qua iuuenis gressus inferret. at ilium curuata in montis faciem circumstetit unda accepitque sinu uasto misitque sub amnem. (georg. 4,359-362)

An beiden Stellen türmen sich die Wassermassen rings um die betroffenen Personen auf (cath. 5,67: circumstans ... unda; georg. 4,361: circumstetit unda) - bei Vergil »wie ein Berg« (in montis faciem), bei Prudentius »wie Ufer« (riparum in faciem) - , so daß diese trockenen Fußes ihren Weg fortsetzen können. 212 Aristaeus zieht allerdings nicht wie die Israeliten unterhalb der »Wogenberge« (cath. 5,68: sub ... aequore) durch das Gewässer hindurch, sondern begibt sich in die Tiefe, aus der der Fluß entspringt (georg. 4,362: 209 Dabei erwähnen beide Dichter spicula (cath. 5,52; Aen. 7,626). 210 Bei Prudentius ist pars allerdings nur einmal gesetzt. 211 Vgl. etwa cath. 5,61 (hostis dims adest) mit Aen. 9,38; Ov. met. 12,66; Sil. 6,559 u. a. Festgestellt u. a. von VAN ASSENDELFT z. St. und CHARLET, Cathemerinon 173 Anm. 75, die beide auch weitere Reminiszenzen notieren. 212 Festgestellt von VAN ASSENDELFT und RIVERO GARCÍA Ζ. St.; außerdem von SALVATORE, Horaz und Vergil 128f.; CHARLET, Cathemerinon 173f. VAN ASSENDELFT weist darauf hin, daß bereits Lact. inst. 4,10,7 die Vergilpassage in demselben Zusammenhang zitiert: transiecit enim populum medio mari rubro praecedente angelo et scindente aquam, ut populus per siccum gradi posset, quem uerius, ut ait poeta, >curuata in montis faciem circumstetit undaOmnigenumque,< ait, >deum monstra et latrator Anubis< - quasi non et illa sint monstra quae laudat -, >contra Neptunum et Venerem contraque MineruamDaphni, quid antiguos signorum suspicis ortus? ecce Dionaei processit Caesaris astrum, astrum quo segetes gauderent frugibus et quo duceret apricis in collibus uua colorem ...< (ecl. 9,46-49)

Die Verwendung der Wortfolge antiques signorum an derselben Versposition muß als eine signifikante Reminiszenz angesehen werden, auch wenn der syntaktische Zusammenhang verschieden ist:75 In der Ekloge wie in der Apotheosis werden die Bahnen der alten Gestirne dem neuen Stern hier dem sidus Iulium, dort dem Stern von Bethlehem - gegenübergestellt. Verstärkt wird die Gemeinsamkeit zwischen beiden Texten noch dadurch, daß überraschenderweise auch bei Prudentius der Stern als mit dem göttlichen puer identisch vorgestellt wird (vgl. bes. V. 615), während er in der biblischen Vorlage nur ein Zeichen für die Geburt des Messias ist.76 Daß Prudentius ausgerechnet in diesem Teil der Apotheosis durch Vergilreminiszenzen die Verstirnung von Herrschern evoziert, ist wohl kein Zufall: Die hier bekämpfte ebionitische Irrlehre vertrat eine Christologie, die davon ausging, daß der Mensch Jesus erst nach seiner Auferstehung zum Gottessohn geworden sei, und die damit der heidnischen Vorstellung der Apotheose verwandt war.77 Die Lehre von der nachträglichen Vergöttlichung versucht der Dichter zu widerlegen, indem er Motive aus dem Bereich der Herrscherapotheose schon im Zusammenhang mit der Geburt Christi aufgreift: Die wunderbaren Himmelserscheinungen, die die Heiden erst nach dem Tod eines Kaisers als Folge seiner Vergöttlichung beob72 Die spätantiken Vergilkommentare weisen dagegen auf den Zusammenhang hin, vgl. Serv. georg. 1,33. 73 Die Sprecherverteilung ist strittig, vgl. A Commentary on Virgil, Eclogues, by W. CLAUSEN, Oxford 1994, zu V. 39-50. 74 Suet. lui. 88. Zu Caesars καταστερισμός vgl. auch WEINSTOCK 370-373. 75 Festgestellt von LAVARENNE z. St. sowie von ΜΑΗΟΝΕΥ 11, SCHWEN 113 und SMOLAK, Katastrophe 200 Anm. 39. 76 SMOLAK, Katastrophe 200, erklärt die Personifizierung des Sterns überzeugend damit, daß dieser nur so als Widerpart der im weiteren Verlauf genannten menschen- bzw. tiergestaltigen Sternbilder eingesetzt werden kann, und verweist (203 mit Anm. 53) auf die Parallele Ambr. in Luc. 2,45 (... ipse enim est stella splendida et matutina, sua igitur ipse luce se signât). 77 Vgl. GRILLMEIER 165.

2.4. Religiöse Sprache

141

a c h t e n z u k ö n n e n meinten, z e i g e n sich bei J e s u s bereits a m B e g i n n seines i r d i s c h e n Lebens. 7 8 Die Ü b e r l e g e n h e i t Christi ü b e r s o l c h e z u G ö t t e r n erklärten M e n s c h e n w i r d w e i t e r h i n d a d u r c h h e r v o r g e h o b e n , d a ß bei P r u d e n t i u s d e r n e u e Stern i m Vergleich z u m Geórgica-Proömium

wesentlich

g r ö ß e r e V e r ä n d e r u n g e n a m H i m m e l auslöst: Bei Vergil r ü c k t ein einzelnes Sternbild z u r Seite, s o d a ß sich d a s kaiserliche Gestirn in d e n Tierkreis eing l i e d e r n k a n n ; bei P r u d e n t i u s d a g e g e n v e r s e t z t d e r Stern v o n B e t h l e h e m d e n g e s a m t e n S t e r n e n h i m m e l u n d s o g a r die S o n n e in Schrecken. 7 9 S o e r w e i s e n sich die b e i d e n V e r g i l r e m i n i s z e n z e n in apoth. 6 1 6 u n d 6 1 9 als K o n t r a s t i m i t a t i o n e n , die m i t d e m offenen A n g r i f f a u f d e n ebionitischen I r r g l a u b e n einen v e r s t e c k t e n auf die h e i d n i s c h e H e r r s c h e r a p o t h e o s e v e r binden.80 M i t d e n b e i d e n in ecl. 9 , 4 6 - 4 9 b z w . georg.

1,24-42 geschilderten A p o -

t h e o s e n h a t die d e s Daphnis, die M e n a l c a s ecl. 5 , 5 6 - 8 0 z u m G e g e n s t a n d

78 In cath. 9 wird allerdings die Verfinsterung der Sonne beim Tod Jesu in Anlehnung an die Prodigien beim Tod Caesars dargestellt, ohne daß die Überlegenheit Christi angedeutet wird: sol refugit et lugubri sordidus ferrugine / igneum reliquit axem seque maerens abdidit; / fertur horruisse mundus noctis aeternae chaos (cath. 9,79-81); vgl. georg. 1,466-468: ille [sc. sol] etiam exstincto miseratus Caesare Romam, / cum caput obscura nitidum ferrugine texit / impiaque aeternam timuerunt saeçula noctem (festgestellt von BERGMAN und LAVARENNE Z. St.; a u ß e r d e m v o n MAHONEY 142; SCHWEN 5 3 ; EVENEPOEL, C a t h e m e r i n o n 5 7 ; CHARLET,

Cathemerinon 119). Zu noctis aeternae chaos vgl. neben dem vergilischen Prätext Sen. Here, f. 6 1 0 und Med. 9. 79 Vgl. insbesondere auch die Fortsetzung des zitierten Abschnitts apoth. 622-627: labitur hinc pulsus puer hydrius, inde sagittae, / palantes geminas fuga separat, inproba uirgo / prodit amatores tácitos in fornice mundi, / quique alii horrificis pendent in nubibus ignes / luciferum timuere nouum, rota lurida solis / haeret et excidiutn sentit iam iamquefuturum ... Daß die zuerst genannten Sternbilder Schlange und Löwe symbolisch für die durch Christus besiegten bösen Mächte dieser Welt stehen, liegt nahe; doch auch die übrigen Sternzeichen werden ähnlich negativ charakterisiert, so daß auch hier von einer übertragenen Bedeutung auszugehen ist; vgl. HERZOG 85f. Anm. 116 und SMOLAK, Katastrophe 196-198. In der Verfinsterung der Sonne ist wohl eine Anspielung auf die Ereignisse bei Jesu Tod zu sehen (Mt 27,45; vgl. FABIAN 124f. und SMOLAK, Katastrophe 199). 80 Offene Kritik an der Herrschervergöttlichung übt Prudentius in c. Symm. 1,245-277. M. E. hat die Tatsache, daß Prudentius mit Hilfe der Reminiszenzen die Übertragung der heidnischen Vorstellung der Apotheose auf Christus entschieden zurückweist, auch Konsequenzen für das Verständnis des Gedichttitels Apotheosis. Die christologische Deutung (schon Gennad. vir. ill. 13 paraphrasiert den Titel als de diuinitate; so noch M. BROZEK, De librorum Prudentii inscriptionibus Graecis, Eos 71 [1983], 191-197, hier 197) verliert an Plausibilität: Wenn die Gottheit Christi, wie in der gegen die Ebioniten gerichteten Passage angedeutet, eine so gänzlich andere Qualität hat als diejenige »vergöttlichter« Menschen, dann dürfte der Autor kaum einen Titel gewählt haben, der leicht als Zeichen einer adoptianistischen Christologie mißverstanden werden konnte. Weitere Argumente gegen eine Beziehung des Titels auf Christus nennt FABIAN 179-182. Der Titel Apotheosis bezeichnet vielmehr die »Vergöttlichung des Menschen« als Konsequenz der Menschwerdung Gottes (vgl. Ambr. virg. 1,3,11: uerbum caro factum est, ut caro fieret deus; ausführlicherer Nachweis bei FABIAN 181-197).

142

2. Prudentius und Vergil

seines Liedes macht, einiges gemeinsam,81 so daß nicht wenige antike Erklärer in ihr eine allegorische Verkleidung der Vergöttlichung Caesars sahen.82 Der Höhepunkt von Menalcas' Lied ist der Jubel über die Apotheose, in den die gesamte Natur einstimmt: ipsi laetitia uoces ad sidera iactant intonsi montes; ipsae iam carmina rupes, ipsa sonant arbusto: >deus. deus ille, Menalca!< (eel. 5 , 6 2 - 6 4 )

Diesen Ausruf, der durch die geminatio besonders emphatisch wirkt,83 greift Prudentius zu Beginn des vorletzten Teils der Apotheosis auf, der sich gegen die Auffassung richtet, die menschliche Seele sei selbst göttlich. Die Seele ist von Gott nur geschaffen, nicht gezeugt: ... non tarnen ipsa deus, [quoniam generatio non est, sed factura dei est;]84 solus de corde parentis filius emicuit, uerus, uerus deus ille. (apoth. 7 9 1 - 7 9 3 )

Der Dichter weist die Lehre von der Göttlichkeit der Seele durch den Vergleich mit Christus zurück, der allein tatsächlich wesensgleich mit Gott ist. Er bedient sich dabei zum Teil der Sprache des nizänischen Glaubensbekenntnisses: Nur den Sohn kann man mit Recht als deum de deo, lumen de lumine, deum uerum de deo uero, natum non factum85 bezeichnen. Der Schluß von V. 793 knüpft erkennbar an Vergils deus, deus ille an:86 Es entsprechen einander die Ellipse der Kopula, die Schlußstellung des Pronomens ille und die geminatio am Beginn der Wortgruppe. Prudentius verdoppelt allerdings nicht das Wort deus, sondern das von ihm hinzugefügte Attribut uerus.87 Durch diese signifikant veränderte Vergilreminiszenz wird m. E. nicht nur die uneingeschränkte Göttlichkeit Christi der begrenzten

81 Besonders die wunderbare Harmonie der Natur: ecl. 9,48f.; georg. 1,26-28; ecl. 5,5864. 82 Vgl. Serv. auet. ecl. 5,56; Serv. ecl. 5,65. Kritik an dieser einseitig politischen Deutung allerdings z. B. bei V. PÖSCHL, Virgil und Augustus, in: ANRW II 31.2 (1981), 709727, hier 720f.: Daphnis sei vielmehr »der göttliche Dichter, der im Einklang mit der Natur seinen Mitmenschen Lebenskraft, Trost und Heil bringt«. 83 Vgl. NORDEN ZU Aen. 6,46; außerdem LAUSBERG 311 (§ 612). 84 Ich folge hier C. GNILKA (Unechtes in der Apotheosis, in: ders., Prudentiana I: Critica, München 2000, 459-647, hier 581f.), der mit überzeugenden Argumenten für die Tilgung von 791b und 792a eintritt. 85 Conciliorum Oecumenicorum Decreta, curantibus J. ALBERIGO, J.A. DosSETn, P.P. JOANNOU, C. LEONARDI, P. PRODI, consultante H. JEDIN, Bologna 1973, 5. Zur Klausel »wahrer Gott vom wahren Gott« s. KELLY 235. Die Gegenüberstellung »gezeugt - geschaffen« findet sich denn auch im vermutlich interpolierten Gegensatzpaar generatio factura; vgl. V. 796 über Christus: necfactus sed natus habet quodeumque paternum est. 86 Reminiszenz festgestellt von MAHONEY 20 und GNILKA, Apotheosis 583. Vgl. auch Lucr. 5,8. 87 Zur Gegenüberstellung der »falschen« heidnischen und des »wahren« christlichen Gottes s. o. S. 131 f. mit Anm. 43.

2.4. Religiöse Sprache

143

Gottähnlichkeit d e r Seele gegenübergestellt, s o n d e r n es w i r d a u c h implizit die Ü b e r l e g e n h e i t d e s w a h r e n G o t t e s s o h n e s ü b e r angeblich vergöttlichte Sterbliche w i e D a p h n i s b e h a u p t e t . D a m i t ist a u c h diese R e m i n i s z e n z als K o n t r a s t i m i t a t i o n einzustufen. 8 8 2.4.3.

Tod und Auferstehung

P r u d e n t i u s thematisiert in seinen W e r k e n m e h r f a c h die p o s t m o r t a l e Exis t e n z d e s M e n s c h e n . Z u n e n n e n sind hier b e s o n d e r s die Schlußpartien d e r d o g m a t i s c h e n L e h r g e d i c h t e Apotheosis

u n d Hamartigenia;

a u ß e r d e m spielt

d e r G e d a n k e d e r A u f e r s t e h u n g eine zentrale Rolle in d e m B e g r ä b n i s h y m n u s cath. 1 0 u n d p r ä g t d e n Schluß d e s D a n k l i e d e s cath. 3. A u s d i e s e n P a s s a g e n u n d w e i t e r e n v e r s t r e u t e n E i n z e l a u s s a g e n läßt sich eine E s c h a t o l o g i e rekonstruieren, die t r o t z m a n c h e r unterschiedlicher A k z e n t u i e r u n g e n i m E i n z e l n e n in sich w e i t g e h e n d konsistent ist u n d die i m Einklang m i t d e r L e h r e zeitgenössischer T h e o l o g e n - i n s b e s o n d e r e d e s A m b r o s i u s - steht. 8 9

88 Die Apotheose des Daphnis hat allerdings an einer anderen Stelle auf die Darstellung des Prudentius eingewirkt, ohne daß eine implizite Kritik am Prätext zu erkennen ist. In perist. 14 schildert er, wie die Seele der enthaupteten Märtyrerin Agnes in den Himmel auffährt: miratur orbem sub pedibus situm, / spectat tenebras ardua subditas / ridetque, solis quod rota circuit... (V. 94-96). Ebenso staunt der vergöttlichte Daphnis ecl. 5,56f.: Candidus insuetum miratur limen Olympi / sub pedibusque uidet nubes et sidera Daphnis; vgl. AREVALO u n d RIVERO GARCÍA Ζ. St. u n d d a n e b e n MAHONEY 180 u n d SCHWEN 78. H i e r ist

zugleich ein Bezug zu Lucan. 9,11-14 zu erkennen, wo die Seele des verstorbenen Pompeius ebenfalls staunt und lacht über das Treiben der Welt. Freilich steht bei dieser Übernahme nicht die Apotheose des Verstorbenen, sondern das Bild der Himmelfahrt im Mittelpunkt; es spricht also nicht gegen die Annahme einer Kontrastimitation bei der Verarbeitung derselben Episode in apoth., daß hier ein Detail inhaltlich analog aufgegriffen wird. Zu dieser und ähnlichen Reminiszenzen vgl. J. FONTAINE, Images virgiliennes de l'ascension céleste dans la poésie latine chrétienne, in: Jenseitsvorstellungen in Antike und Christentum. Gedenkschrift für Α. STOIBER, Münster 1982 (JbAC Erg.-Bd. 9), 55-67, hier 62f. mit Anm. 51. 89 Allgemein zur Eschatologie des Prudentius s. STAM 36-40; B. DALEY, The Hope of the Early Church. A Handbook of Patristic Eschatology, Cambridge etc. 1991, 156-158. Nach Κ. THRAEDE, »Auferstehung der Toten« im Hymnus ante cibum des Prudentius (cath. 3,186/205), in: Jenseitsvorstellungen in Antike und Christentum. Gedenkschrift für A. STOIBER, Münster 1982 (JbAC Erg.-Bd. 9), 68-78, bleibt Prudentius zumindest in cath. 3,186-195 »auf dem Niveau philosophischer« Seelenlehre« (73) bzw. »im Dual Seele-Leib ausgesprochen bibelfern« (78). Im Vergleich zur biblischen Rede von der Auferstehung der Toten mag dieses Urteil zutreffen; doch muß berücksichtigt werden, daß der anthropologische Dualismus seit der Zeit der Apologeten auch in der christlichen Theologie an Einfluß gewonnen hatte; vgl. G. GRESHAKE / J. KREMER, Resurrectio mortuorum. Zum theologischen Verständnis der leiblichen Auferstehung, Darmstadt 1986, 216. So weist V. BUCHHEIT, Resurrectio carnis bei Prudentius, VChr 40 (1986), 261-285, gegen THRAEDE nach, daß die eschatologischen Aussagen des Prudentius in zentralen Aspekten mit der von Tertullian und Methodios von Olympos in Auseinandersetzung mit der Gnosis bzw. Orígenes entwickelten Lehre von der »Auferstehung des Fleisches« übereinstimmen: »Niemand hätte sich mehr gewundert als Prudentius selbst, wären ihm wegen der bi-

144

2. Prudentius und Vergil

N a c h Prudentius besteht der Mensch aus den zwei Elementen (cath. 10,2-4) Leib und Seele, wobei die Seele sowohl Trägerin des vegetativen Lebens als auch der geistigen Tätigkeit ist (c. Symm. 2,379-392). Die enge Verbundenheit zwischen Leib und Seele wird mehrfach betont (cath. 10,36. 38; apoth. 827-829; 927-931); sie können jedoch auch in Gegensatz zueinander geraten. Nicht selten bemüht Prudentius den philosophischen Topos v o m Körper als »Gefängnis der Seele« (cath. 10,22; harn. 847-851; 918f.; psych. 903-905; perist. 6,70-72; 13,63f.), und aus psych. 904-907 geht unmißverständlich hervor, daß der »Krieg« der Tugenden und Laster in der Psychomachia als Kampf zwischen Seele und Körper aufzufassen ist. 90 W ä h rend der Leib sterben muß, ist die aus d e m A t e m Gottes geschaffene Seele unsterblich:

190

oris opus, uigor igneolus non moritur, quia fiante deo conpositus superoque fluens de solio patris artificis uim liquidae rationis habet, (cath. 3,186-190)

Daß Prudentius in dieser Strophe die berühmte Rede evoziert, in der Anchises im sechsten Buch der Aeneis das Prinzip der Seelenwanderung darstellt, ist unstrittig: 91 730

igneus est ollis uigor et caelestis origo seminibus, quantum non noxia corpora tardant terrenique hebetant artus moribundaque membra. (Aen. 6,730-732)

Vergil schildert hier in Anlehnung an stoische Vorstellungen das Hervorgehen der Einzelseelen aus der anima mundi, die als Feuer gedacht wird. 9 2

blisch-christlichen Fundierung seines Glaubens an die Auferstehung Defizite angelastet worden« (274). 90 Zum Verhältnis Leib - Seele s. bes. GNILKA, Studien 1-8, der darauf hinweist, daß die der Psychomachia zugrundeliegende Vorstellung vom bellum intestinum nicht im Sinne eines radikalen Dualismus mißverstanden werden sollte: »Der Körper kann als Gegner der Seele auftreten und doch zugleich umstrittener Gegenstand des Kampfes sein, da das Fleisch nicht das schlechthinnige Prinzip des Bösen darstellt; die Seele muß es zwar bekämpfen, vermag es aber auch zu befreien« (8). Stärker als GNILKA betont den Dualismus in der Anthropologie des Prudentius KAH 253-272. 91 R e m i n i s z e n z n o t i e r t v o n AREVALO, BERGMAN, CUNNINGHAM u n d RTVERO GARCÍA ζ. St.; a u ß e r d e m v o n MAHONEY 133; SCHWEN 84; HANLEY 91; SALVATORE, H o r a z u n d

Vergil 138f.; EVENEPOEL, Cathemerinon 53; ders., Een stukje oudchristelijke poezie: P r u d e n t i u s ' Hymnus

ante cibum

(II), K l e i o 8 (1978), 18; COURCELLE, P è r e s 4 2 A n m . 3;

THRAEDE, Auferstehung 71f.; BUCHHEIT, Resurrectio carnis 273f. 92 Vgl. ΑυβΉΝ zu Aen. 6,726 und 730; BAILEY 275f. Zu den verschiedenen philosophischen Traditionen in der von Anchises verkündeten Seelenlehre vgl. auch F. SOLMSEN, The World of the Dead in Book 6 of the Aeneid, CPh 67 (1972), 31-41, hier 37-39. Dieselbe Vergilstelle, auf die übrigens u. a. auch Ambr. in Luc. 7,113 anspielt, wird von Prudentius wohl auch cath. 6,34 verarbeitet (MAHONEY 139).

2.4. Religiöse Sprache

145

Wenn Prudentius die besondere Qualität der menschlichen Seele durch die von Vergil übernommene Wendung uigor igneolus charakterisiert, knüpft er damit einerseits an die für die Anchisesrede zentrale Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele an, andererseits signalisiert er durch die sonst nicht belegte Deminutivform igneolus aber, daß nach christlichem Verständnis die Seele gerade nicht als Teil der Gottheit angesehen werden darf, sondern qualitativ von ihr verschieden ist (vgl. apoth. 782-951). Während Gott wiederholt als »Feuer« bezeichnet wird (cath. 10,1; apoth. 72. 74; perist. 2,393), sind die menschlichen Seelen nur igniculi (cath. 5,12) - Geschöpfe Gottes, aber nicht wesensgleich mit ihm.93 Die Vergilreminiszenz in cath. 3,186 geht also von einer Analogie heidnischer und christlicher Uberzeugungen aus, verweist jedoch durch eine signifikante Veränderung auch auf die beträchtlichen Unterschiede zur vergilischen Seelenlehre. Zugleich bereitet sie auf die in den letzten Strophen des Hymnus folgende Behandlung der leiblichen Auferstehung vor, die in deutlicher Abgrenzung von den Jenseitsvorstellungen der Aeneis entwickelt wird:94 Mit der Seelenlehre der Anchisesrede evoziert V. 186 auch die dort angedeutete Abwertung der Leiblichkeit (ζ. B. Aen. 6,731: noxia corpora; 737: corporeae ... pestes). Erst vor diesem Hintergrund kann die Verheißung der »Auferstehung des Fleisches« ihre volle Wirkung entfalten.95 Im Tod trennt sich nach Prudentius die Seele vom Leib (cath. 10,9-16). Dieser ruht im Grab bis zur Auferstehung melioribus annis (cath. 10,94) d. h. wohl am Jüngsten Tag - , während die Seele diesen Zeitraum in einer Art Zwischenzustand überdauert, der jedoch die zukünftige Seligkeit bzw. Bestrafung bereits vorwegzunehmen scheint.96 Die Seelen der Gerechten werden sofort nach dem Tod ins Paradies aufgenommen und ruhen dort

93 Nach THRAEDE, Auferstehung 72, hat die Form igneolus vor allem eine individualisierende Funktion: »die Menschenseelen sind ... lauter individuelle Feuerchen, nicht etwa Funken oder Widerschein des Weltalls oder Elemente einer kosmischen Psyche.« Daß die sprachliche Veränderung auch in dieser Hinsicht eine Distanzierung vom Prätext signalisiert, ist zwar nicht ausgeschlossen, entscheidend scheint mir jedoch die auch von BUCHHEIT, Resurrectio camis 274 mit Anm. 130, in den Vordergrund gestellte klare wesensmäßige Unterscheidung der Seele von Gott zu sein. Das impliziert auch, daß die Unsterblichkeit der menschlichen Seele nicht von Natur aus zukommt, sondern ihr von Gott geschenkt wird (vgl. zu diesem wesentlichen Unterschied zwischen christlicher und philosophischer Unsterblichkeitshoffnung GRESHAKE/KREMER 282f.). 94 Dazu s. u. S. 148f. 95 Vgl. auch Aug. civ. 14,3, der Aen. 6,730-734 als schönklingende Wiedergabe der platonischen Lehre zitiert und mit der knappen Bemerkung zurückweist: tarnen aliter se habet fides nostra. 96 An einen solchen Interimszustand glaubten z. B. auch Ambrosius und Augustinus; vgl. Ambr. bon. mort. 10,46-11,48 und dazu DALEY lOOf.; Aug. in euang. loh. 49,9f.; civ. 13,8. Zu Augustins nicht völlig kohärenten Aussagen über den postmortalen Zustand der Seele vgl. GRESHAKE/KREMER 210f.; DALEY 137-142.

146

2. Prudentius und Vergil

in Abrahams Schoß (cath. 5,Ulf.; 10,153f.; ham. 845. 852f.). 97 Ihr Weg in den Himmel 98 wird von Prudentius nicht selten mit Wendungen beschrieben, die an Bilder des »Aufstiegs zu den Sternen« aus heidnischer Dichtung erinnern. 99 Die Seelen der Sünder müssen dagegen für ihre Vergehen büßen (ham. 824-838; c. Symm. 2,184-190). Es ist nicht ganz klar, ob Prudentius dabei wie ζ. B. Ambrosius und Augustinus zwischen zeitlichen Strafen, die eine spätere Rettung der Seele nicht ausschließen, und den ewigen Qualen der unverbesserlichen Sünder differenziert:100 Die Unterscheidung scheint bei ihm auf den ersten Blick eher die Härte als die Dauer der Strafe zu betreffen. Das Schlußgebet der Hamartigenia, in dem der Dichter Gott bittet, ihm trotz seiner großen Schuld von allzu harten Strafen zu verschonen, knüpft wiederum an die von Anchises verkündete Seelenlehre an:

965

esto, cauernoso, quia sic pro labe necesse est corporea, tristis me sorbeat ignis Auerno, saltern mitificos incendia lenta uapores exhalent aestuque calor languente tepescat; lux inmensa alios et tempora uincta coronis glorificent, me poena leuis clementer adurat (ham. 961-966)

Die Verse 961f. enthalten mehrere Schlüsselwörter aus der Passage Aeri. 6,735-751, in der Anchises den Läuterungsprozeß schildert, dem sich die

97 Die aus Offb 6,9f. abgeleitete Vorstellung, daß die Märtyrer nach ihrem Tod sofort die Seligkeit erlangen, war schon früh verbreitet (vgl. z. B. Tert. anim. 55,4); seit Cyprian (z. B. Fort. 13) wird diese Vorstellung allmählich auf alle Gerechten ausgedehnt. Vgl. dazu GRESHAKE/KREMER 209. 98 Zwischen »Paradies« und »Himmel« wird bei Prudentius wie bei vielen anderen christlichen Autoren nicht konsequent unterschieden; vgl. A. LOUTH, Art. Paradies IV (Theologiegeschichtlich), in: TRE 25 (1995), 714-719, hier 715, und J. DELUMEAU, Une histoire du paradis. Vol. I: Le jardin des délices, Paris 1992,45f. 99 Vgl. z. B. cath. 10,90-92 (... per cruciamina leti / uia panditur ardua iustis / et ad astra doloribus itur) mit Aen. 9,641 (macte noua uirtute, puer, sic itur ad astra ...; festgestellt von BERGMAN u n d

LAVARENNE Ζ. St.; a u ß e r d e m

von

MAHONEY 1 4 3 ,

SCHWEN 7 7

und

CHARLET, Cathemerinon 132); perist. 3,161-3 (emicat inde columba repens / martyris os niue candidior / uisa relinquere et astra sequi) mit Aen. 12,892f. (opta ardua pennis / astra sequi; festgestellt von MAHONEY 160 und SCHWEN 76). Zu dieser Gruppe von Bezügen gehört auch die oben S. 143 Anm. 88 erwähnte Reminiszenz an die Apotheose des Daphnis in perist. 14,94-96; vgl. FONTAINE, Images de l'ascension 61-63. 100 Für AREVALO, der diese Frage in seinen Prolegomena ausführlich diskutiert (Sp. 702-706), liegt eine solche Unterscheidung nahe. Auch die Kommentare von STAM und PALLA sprechen sich für eine Abgrenzung der poena leuis (harn. 966), die der Dichter für sich selbst erhofft, von den perpetuae poenae der Hölle (harn. 828) in diesem Sinne aus (STAM 37f.; PALLA 3 1 2 ) ; ä h n l i c h DALEY 158. RODRIGUEZ HERRERA 7 4 s p r i c h t s o g a r a u s -

drücklich vom »Fegfeuer« (anders dagegen z. B. C. BROCKHAUS, Aurelius Prudentius Clemens in seiner Bedeutung für die Kirche seiner Zeit, Leipzig 1872, 196f. mit Anm. 1). Vgl. Ambr. in psalm. 36,26,2f.; Aug. civ. 21,13 p. 516,17-19: non autem omnes ueniunt in sempiternas poenas, quae post illud iudicium sunt futurae, qui post mortem sustinent temporales.

2.4. Religiöse Sprache

147

Seelen in der Unterwelt unterziehen müssen, bevor sie dauerhaft in die »seligen Gefilde« eingehen bzw. bereit für die Wiedergeburt sind:101 735

740

745

quin et supremo cum lumine uita reliquit, non tarnen omne malum miseris nec funditus omnes corporeae excedunt pestes, penitusque necesse est multa diu concreta modi's inolescere miris. ergo exercentur poenis ueterumque malorum supplicia expendunt: aliae panduntur inanes suspensae ad uentos, aliis sub gurgite uasto infectum eluitur scelus aut exuritur igni: quisque suos patimur manis. exinde per amplum mittimur Elysium et pauci laeta arua tenemus, donec longa dies perfecto temporis orbe concretam exemit labem. purumque relinquit aetherium sensum atque aurai simplicis ignem. (Aen. 6,735-747)

Für sich genommen handelt es sich bei den übernommenen Wörtern zwar nicht um besonders seltene oder auffällige Begriffe, doch aufgrund der großen inhaltlichen Nähe kann die Reminiszenz als sicher gelten:102 In beiden Passagen wird das Schicksal der Seelen nach dem Tod behandelt. Weil sie durch die lange Verbindung mit dem Leib befleckt sind (ham. 961f.: labe ... corporea; Aen. 6,737: corporeae ... pestes; 6,746: concretam ... labem), bedürfen sie {harn. 961; Aen. 6,737: necesse est) der Strafe (harn. 966: poena; Aen. 6,739: poenis). Diese ist nach Vergil für einen Teil der Seelen, nach Prudentius generell als Feuer (harn. 962: ignis; Aen. 6,742: igni) vorzustellen. Über diesen Gemeinsamkeiten darf freilich nicht der wichtige Unterschied übersehen werden, daß bei Vergil die Strafen der Vorbereitung auf die Wiedergeburt dienen, während Prudentius als Christ die Vorstellung der Metempsychose ablehnen mußte.' 03 In jedem Fall ist in den Schlußversen der Hamartigenia aufgrund der Vergilreminiszenz der Gedanke der Reinigung präsent, auch wenn diese Funktion der erhofften poena leuis nicht ausdrücklich genannt wird. 104 Diese Beobachtung spricht m. E. dafür, daß hier tatsächlich die vorübergehenden Strafen für läßliche Sünden den immerwährenden Höllenqualen, wie sie in harn. 824-838 geschildert werden, gegenübergestellt werden sollen.105

101 Wie die Alternative in V. 743-751 genau zu verstehen ist, ist unklar; vgl. z. B. AUSTIN zu 743ff. und T. N. HABINEK, Science and Tradition in Aeneid 6, HSPh 92 (1989), 223-255, hier bes. 228 und 238. 102 Festgestellt von MAHONEY 43. 103 Dazu siehe auch unten S. 153-155. 104 V. 964 legt freilich die Deutung nahe, daß das strafende Feuer irgendwann verlöschen wird. - Generell zum Einfluß von Aen. 6,735ff. auf christliche Vorstellungen vom Purgatorium vgl. HAGENDAHL, Latin Fathers 392-395. 105 Ob MALAMUDS Vorschlag, die letzten vier Wörter der Hamartigenia (POENA LEVIS CLEMENTER

ADVRAT)

als A n a g r a m m für AVRELIO

PRVDENTE

SE CLAMANTE

z u lesen

148

2. Prudentius und Vergil

Das eigentlich Neue an der eschatologischen Hoffnung der Christen ist ihr Glaube an die leibliche Auferstehung der Menschen am Ende der Zeiten. Kein anderer Gedanke hat bei den Heiden so viel Spott und Unverständnis hervorgerufen wie dieser,106 der für die christliche Theologie im Zuge der Auseinandersetzungen mit gnostischen Vorstellungen immer mehr an Bedeutung gewann. Auch Prudentius verkündet in seinen Werken die Auferstehung des Leibes (cath. 3,191-205; 10,37-44. 137-148; apoth. 1062-1084; c. Symm. 2,191-211) und bedient sich dabei nicht selten eines aus den Schriften der Apologeten bekannten Argumentationsmusters: Die Unsterblichkeit der Seele kann vorausgesetzt werden - an sie glauben auch die Heiden - , doch die Hoffnung der Christen geht noch weiter, denn sie schließt die Erlösung des Leibes ein.107 Garant dieser Hoffnung ist der auferstandene Christus, »der Erste der Entschlafenen« (1 Kor 15,20):

200

credo equidem - neque nana fides corpora uiuere more animae; nam modo corporeum memini de Flegetonte gradu facili ad superos remeasje deum. (cath. 3,196-200)

Diese Strophe stellt den Zusammenhang zwischen der Auferstehung Christi und der zukünftigen Auferstehung des Menschen klar heraus - in deutlicher Anknüpfung an Vergil. Der erste Vers ist beinahe wörtlich den bewundernden Worten entnommen, die Dido zu Beginn des vierten Buchs der Aeneis über ihren Gast Aeneas äußert: credo equidem, nec uana fides, ge-

(MALAMUD 2 7 8 - 2 8 0 ; z u s t i m m e n d r e f e r i e r t v o n RTVERO GARCÍA Ζ. S t . , k r i t i s c h d a g e g e n v o n

A. A. R. BASTIAENSEN, Prudentius in Recent Literary Criticism, in: Early Christian Poetry, ed. by J. DEN BOEFT and A. HLLHORST, Leiden u. a. 1993 [VChr Supplements 22], 101-134, hier 125 Aran. 107) und damit als ein verstecktes Auftrumpfen des Dichters innerhalb der abschließenden Demutstopik zu sehen, zu einer angemessenen Interpretation der Passage beiträgt, ist m. E. mehr als zweifelhaft. Die Deutung des »entschlüsselten« letzten Verses (279: >let them glorify me: Aurelius the Prudent proclaiming himselfganze< noch der wirklich >neue< Mensch kommt ins Blickfeld«), noch die von KAH 284f., die sich im Werk des Prudentius umgekehrt mit »einer derartigen Vergeistigung und Spiritualisierung des auferstandenen Fleisches« konfrontiert sieht, »daß die zu Beginn beobachtete Leibfeindlichkeit im Glauben an die Auferstehung nicht überwunden wird«.

2.4. Religiöse Sprache

151

Zustand des Leichnams vor der Auferweckung zu charakterisieren. Besonders auffällig ist der Kontrast zwischen der gegenwärtigen Verwesung des Leibes und seiner zukünftigen Schönheit in der Strophe cath. 10,97100:

100

haec, quae modo pallida tabo color albidus infidi, ora tunc flore uenustior omni sanguis cute tinguet amoena.

Der Gegensatz ist vor allem einer der Farben: hier Leichenblässe, dort rosige Wangen. Jeweils zwei Verse dienen zur Schilderung des Verfalls und der künftigen Anmut; die Identität zwischen irdischem und Auferstehungsleib wird durch den Relativsatz deutlich gemacht. Die Beschreibung des Leichnams erinnert an das grausige Bild der am Eingang der Höhle des Cacus aufgehängten Menschenköpfe: ... foribusque adfixa superbis ora uirum tristi pendebant pallida tabo. (Aen. 8,196f.)

Zugleich mit der vergilischen Wendung klingt Hör. epod. 7,15 an (tacent et albus ora pallor inficit) an, wo allerdings von der Blässe des Erschreckens, nicht von der Blässe des Todes die Rede ist." 7 Die beiden klassischen Reminiszenzen zusammen schaffen in den ersten Versen der Prudentiusstrophe eine Atmosphäre der Angst und der Hoffnungslosigkeit, der dann die christliche Auferstehungshoffnung wirkungsvoll gegenübergestellt werden kann. Ein gewisser Gegensatz zwischen altem und neuem Kontext ist unübersehbar, er erreicht jedoch keine so große Prägnanz, daß von einer Kontrastimitation gesprochen werden könnte.118 Am eindrücklichsten hat Prudentius die Hoffnung auf leibliche Auferstehung in dem als persönliches Credo formulierten Schlußteil der Apotheosis (V. 1062-1084) zusammengefaßt.119 Zu Beginn dieses Abschnitts findet sich wiederum ein kontrastierender Vergilbezug: nosco meum in Christo corpus consurgere: quid me disperare iubes? ueniam, quibus ille reuenit, calcata de morte uiis ... (apoth. 1062-1064)

117 Die Vergilreminiszenz festgestellt von BERGMAN, LAVARENNE und RLVERO GARCÍA Ζ. St. sowie von MAHONEY 144, SCHWEN 70 und HANLEY 19, die Horazreminiszenz neben BERGMAN, LAVARENNE und RIVERO GARCÍA Ζ. St. von BREIDT 34, VAN KOTEN 3 3 und HANLEY 19. 118 Ähnlich wohl auch cath. 10,37F. (uement cito saecula, cum iam / socius calor ossa reuiSat), w o z. B. Aen. 9,475 (at subitus miserae calor ossa reliquit) anklingt; notiert von BERGMAN, LAVARENNE, und RIVERO GARCÍA Ζ. St.; außerdem von MAHONEY 143, SCHWEN 73 und EVENEPOEL, Cathemerinon 57. 119 Z u r peroratio der Apotheosis vgl. FABIAN 158-161.

152

2. Prudentius und Vergil

Prudentius nimmt hier in pointierter Umkehrung die Frage auf, die der verzweifelte Aristaeus nach dem Verlust der Bienen an seine Mutter Cyrene richtet (georg. 4,325): quid me caelum sperare iubebas?120 Für seine Verdienste um die Landwirtschaft hat sich Aristaeus die Unsterblichkeit erhofft und sieht sich in dieser Erwartung nun getäuscht. Prudentius dagegen weiß sicher (V. 1062: nosco), daß Gott, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch ihm die Auferstehung gewähren wird. Im Gegensatz zu Aristaeus, der keinen Anlaß zur Hoffnung mehr zu haben glaubt, verkündet Prudentius enthusiastisch, daß es für ihn keinen Grund zur Verzweiflung mehr gibt. In seiner rhetorischen Frage, deren Duktus an das paulinische »Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?« (1 Kor 15,55) erinnert, stellt Prudentius seine christliche Auferstehungshoffnung ein weiteres Mal im indirekten Gegensatz zur heidnischen Vorstellungswelt Vergils dar. Während Prudentius also die Unsterblichkeit der Seele gelegentlich in vorsichtiger Anlehnung an Vergil formuliert und auf die vergilische Idee einer »reinigenden« Bestrafung der Seelen zurückgreift, um einer Vorstellung Ausdruck zu verleihen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der späteren Lehre vom Fegefeuer hat, bedient er sich im Zusammenhang mit der leiblichen Auferstehung auffallend häufig des Mittels der Kontrastimitation. Bezüglich der Unvergänglichkeit der Seele bestand eine weitgehende Übereinstimmung zwischen dem Denken der Kirchenväter und der Lehre heidnischer Philosophen; der Gedanke einer »Auferstehung des Fleisches« mußte dagegen aus heidnischer Perspektive absurd erscheinen. Darin, daß Gott den Menschen eben diese in Aussicht gestellt und ihnen in der Auferweckung Christi bereits ein Unterpfand dieser Hoffnung gegeben hat, zeigt sich für die Christen dessen überlegene Macht. Es ist nur konsequent, daß der christliche Dichter Prudentius gerade diesen Aspekt des christlichen Glaubens in pointierter Abgrenzung gegen heidnische Vorstellungen darstellt. 2.4.4. Paradies- und Höllenvorstellungen Die Belohnungen bzw. Strafen, die den Menschen nach dem Tode erwarten, malt Prudentius in leuchtenden Farben aus. Dabei steht die unmittelbar mit dem Tod beginnende Vergeltung im Zentrum seiner Aufmerksamkeit, weniger die endgültige Seligkeit bzw. Verdammnis nach dem

120 Reminiszenz festgestellt von MAHONEY 20 und HANLEY 14. Welches Gegenüber in der rhetorischen Frage angeredet werden soll, ist bei Prudentius nicht ganz klar; es bietet sich jedoch der in der letzten Refutation (V. 952-1061) widerlegte Manicheus an. (HANLEYS Deutung, daß Prudentius hier in vergilischen Worten die lukrezische Lehre von der Endgültigkeit des Todes widerlege, ist demgegenüber weniger plausibel.)

2.4. Religiöse Sprache

153

Gericht.121 Für die H Ö L L E entlehnt er häufig Begriffe aus der heidnischen Mythologie; ζ. B. verwendet er neben der in christlicher Literatur auch sonst gängigen122 Bezeichnung Tartarus (ζ. B. cath. 1,70; 5,133; 11,112; apoth. 638; psych. 521) als erster - und ζ. T. einziger - christlicher Dichter die Namen der Unterweltsflüsse Styx (cath. 5,126; apoth. 228; ham. 128; psych. 520), Phlegethon {cath. 3,199; ham. 827) und Acheron (cath. 5,128) sowie der Eingangsorte zum Totenreich Auernus (harn. 128. 826. 962; psych. 92) und Taenara (apoth. 749). Dieser Sprachgebrauch weckt ganz allgemein Assoziationen zwischen der christlichen Hölle und der heidnischen Unterwelt, wie sie für die lateinische Literatur geradezu kanonisch im sechsten Buch der Aeneis beschrieben wurde.123 Eine Reminiszenz, die über diese allgemeine Nähe hinausgeht, liegt allerdings nur in der Höllenbeschreibung gegen Ende der Hamartigenia vor: praescius 825

incendit

inde pater liuentia tartara liquido piceasque

infernalis

aquaefuruo

et Flegetonteo perpetuis

subfodit

sub gurgite

scelerum

plumbo

bitumine

fossas

Auerno

sanxit edace s

poenis inolescere

uermes.

norat enim flatu ex proprio uegetamen 830

corporibus

nostris animamque

formatant pollutam

non posse mori, non posse uitiis rursum

mersandam

penitus

inesse

ex ore

uicissim

ad conuexa

putep feruentis

perenni reuerti

abyssi. (ham.

824-833)

Etliche Schlüsselwörter dieser Passage stammen aus der bereits zitierten124 Rede des Anchises über die Seelenwanderung: ... penitusque multa diu concreta ergo exercentur 740

supplicia suspensae infectum

necesse

modis inolescere

poenis ueterumque

expendunt:

aliae panduntur

ad uentos, aliis sub gurgite eluitur

scelus aut exuritur

est

miris. malorum inanes uasto igni. (Aen.

6,737-742)

Beide Dichter erwähnen Strafen (poenis: ham. 828; Aen. 6,739) für Verbrechen (scelerum : ham. 828; scelus: Aen. 6,742),125 die die unsterbliche Seele erleiden muß. Bei beiden ist von einer Bestrafung sub gurgite die Rede 121 Vgl. DALEY 157 und s. o. S. 145f. Eine Ausnahme ist nur c. Symm. 2,182-211, w o zunächst (V. 182-190) die Bestrafung der Seele des Sünders und danach (V. 191-211) die seines auferweckten Leibes geschildert wird. 122 Vgl. z. B. Paul. Noi. epist. 13,16-20 (mehrfach); carm. 6,246; Aug. epist. 157,3 p. 468,16; in psalm. 48, enarr. 2,11; trin. 4,13,18; Hier, in Is. 6,14,19,1. 44; in Matth. 5,13 1. 492f.; epist. 39,3,2. 123 Zur kanonischen Geltung der Darstellung Vergile vgl. P. HABERMEHL, Art. Jenseits Β V (Rom), RAC XVI (1996), 289-301, hier 297f. 124 S. o. S. 147. 125 Vgl. auch Aen. 8,668 scelerum poenas (von den Strafen des Tartarus).

154

2. Prudentius und Vergil

(ham. 827; Aen. 6,741); allerdings handelt es sich beim »Strudel« Vergils um Wasser, bei dem des Prudentius dagegen um das brennende Pech des Feuerstroms. Ferner benutzen beide das in der Dichtung eher seltene Verb inolescere;i26 freilich in unterschiedlichem Zusammenhang: Vergil verwendet das Wort für die tiefe Verwurzelung der corporeae pestes, Prudentius für das Sich-Einnisten der Würmer in den Seelen, also für ein Detail der Strafe.127 Auch penitus (Aen. 6,737; harn. 833) wird von Prudentius aus dem Zusammenhang des scelus in den Bereich der poena verschoben.128 Wurden bisher lediglich parallele Einzelwörter notiert, von denen die meisten keineswegs besonders selten (penitus) und z. T. praktisch durch den Gegenstand vorgegeben sind (scelus, poena), so zerstreut der Bezug am Schluß der Prudentiuspassage vollends alle Zweifel am Vorliegen einer Vergilreminiszenz. Am Ende seiner Ausführungen über das Schicksal der Seelen nach dem Tode erklärt Anchises, daß diese, nachdem sie die reinigenden Strafen durchlaufen haben, wieder in neue Körper eingehen und auf die Erde zurückkehren: has omnis, Lethaeum 750

ubi mille rotarti uoluere adfluuium

per

annos,

deus euocat agmine

scilicet immemores

supera

rursus.

in corpora uelle reuerti.

et incipiant

ut conuexa

magno,

reuisant (Aen.

6,748-751)

Prudentius sieht die Seele zwar ähnlich wie Vergil als »befleckt« von Lastern (harn. 832: pollutam uitiis; Vergil spricht Aen. 6,746 von labes, d. h. einem »Makel«), doch lehnt er an dieser Stelle den Gedanken einer »Reinigung« der Seele durch die Strafen der Hölle ausdrücklich ab und begibt sich damit in Gegensatz zu Vergil. Dieser Kontrast wird durch die sprachliche Nähe wirkungsvoll hervorgehoben:129 In beiden Texten ist die Rede von einer erneuten (rursum: harn. 832; rursus : Aen. 6,751) Rückkehr (reuerti: harn. 832; Aen. 6,751) zum Himmelsgewölbe (conuexa: harn. 832; Aen. 6,751),130 doch wird diese Möglichkeit bei Prudentius negiert (ham. 831).131

126 Vgl. T h L L VII 1, 1738f. s. v. inolesco: der Großteil der Belege findet sich in christlicher Prosa. 127 W ä h r e n d die Bestrafung durch Feuer sowohl in der heidnischen als auch in der christlichen Tradition über die Unterwelt belegt ist, finden sich die uermes nur in der christlichen Überlieferung (Z. B. Jes 66,24; Mk 9,48); vgl. PALLA, Kommentar zur H a m a r tigenia 290. 128 Reminiszenz festgestellt v o n MAHONEY 31f.; STAM Z. St.; COURCELLE, Pères 56 mit A n m . 4; THRAEDE, Epos 1035; SMITH 277-279; KAH 44. Skeptisch ist dagegen PALLA, K o m mentar zur Hamartigenia 291 (»vocaboli comunissimi e scontati in un contesto del genere«). 129 Nicht nachvollziehbar ist es für mich, daß PALLA (ebd.) auch für diesen kontrastierenden Vergilbezug die Aussagekraft der Reminiszenz in Zweifel zieht. 130 Allerdings mit d e m Unterschied, daß bei Vergil die Rückkehr auf die Erde gemeint ist, von der aus der Himmel zu sehen ist, während bei Prudentius v o n der Rückkehr

2.4. Religiöse Sprache

155

Die Wiedergeburt ist eine Fiktion, die Strafen der Hölle dauern ewig (ham. 828).132 Erwartungsgemäß weisen auch die Paradiesschilderungen des Prudentius Bezüge zum sechsten Buch der Aeneis auf - in Verbindung mit Anklängen an Beschreibungen des Goldenen Zeitalters und an den Topos des locus amoenus. Dies gilt für das Paradies der Genesis ebenso wie für das verheißene Paradies, den Aufenthaltsort der Seelen der Gerechten.133 Die Erzählung vom GARTEN EDEN ist das biblische »Zentrum« von cath. 3, wo sie sich aus dem Lobpreis der Gaben der Natur entwickelt. Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen und ihn ins Paradies gesetzt: der Seele in den Himmel gesprochen wird (»Rückkehr« insofern, als die Seele göttlichen Ursprungs ist; vgl. z. B. cath. 6,34 und s. o. S. 144f.). 131 In dieser Zurückweisung des Metempsychosegedankens liegt die Kritik am vergilischen Prätext, weniger in der Höllenbeschreibung des Prudentius an sich, wie ich gegen THRAEDE (Epos 1035) behaupten möchte. Zwar trifft es zu, daß Prudentius seine Hölle in düstereren Farben malt als die vergilische Unterwelt: Obwohl die vergilischen Schlüsselwörter aus einer Passage entnommen sind, die sich auf die im Elysium befindlichen Seelen bezieht, erinnert die Schilderung der Höllenstrafen in ihrer Drastik eher an den Aen. 6,548-627 beschriebenen Tartarus, während die Darstellung des Paradieses in harn. 839-862 nicht die Züge des vergilischen Elysiums übernimmt (sie enthält in V. 857f. allenfalls eine Reminiszenz an Aen. 1,402-404; vgl. MAHONEY 43). Diese selektive Rezeption allein spricht jedoch m. E. nicht für eine polemische Ausrichtung gegenüber dem Prätext, zumal Prudentius in anderen Paradiesdarstellungen durchaus an das Elysium der Aeneis anknüpft (s. dazu u. S. 156 und 161f.). 132 Daß Prudentius sich hier deutlich von der vergilischen Konzeption einer »reinigenden« Strafe distanziert und ausdrücklich die ewige Dauer der Höllenstrafen hervorhebt, bildet einen gewissen Widerspruch zu der Bitte um eine milde Bestrafung im Schlußgebet der Hamartigenia, wo - unter Rückgriff auf dieselbe Vergilpassage - an eine zeitliche Begrenzung der Züchtigung gedacht zu sein scheint (s. o. S. 146 mit Anm. 100). Dieser läßt sich allerdings auflösen, indem man annimmt, daß Prudentius zwischen ewigen Strafen für schwere Sünden und zeitlichen Strafen für läßliche Sünden unterscheiden wollte. So kann die Bitte nec fiamma gehennae / deuoret hanc animam mersam fornacibus imis (ham. 959f.) als pointierter Gegensatz zu V. 833 (mersandam penitus puteo feruentis abyssi) aufgefaßt werden; und daß der Dichter in V. 961 den vergilischen Ausdruck labes (Aen. 6,746) übernimmt, während die Befleckung in V. 832 durch das Adjektiv pollutam bezeichnet wird, könnte darauf hindeuten, daß die im Schlußgebet erhoffte Behandlung der vergilischen Vorstellung einer reinigenden Strafe nähersteht als die in V. 824-838 beschriebene Bestrafung. Problematisch bleibt jedoch an dieser Erklärung, daß die Existenz einer Alternative zur ewigen Bestrafung der Sünder in der Höllenbeschreibung ham. 824838 an keiner Stelle angedeutet wird. 133 Irdisches und verheißenes Paradies sind miteinander identisch gedacht, wie aus cath. 10,161-164 hervorgeht. Die Gleichsetzung beider Orte war durchaus üblich (vgl. DELUMEAU I 46f.; HERZOG 77); man stellte sich entweder vor, daß der Garten Eden an einem unzugänglichen Ort der Erde weiterexistiere, oder daß er nach der Vertreibung der Menschen in den Himmel versetzt worden sei (DELUMEAU I 37). Von letzterer Vorstellung ist wohl für Prudentius auszugehen; vgl. A. J. SCHROEDER, Del Eliseo de Virgilio al Paraíso de Prudencio, in: Actas del VII Simposio nacional de estudios clásicos (Buenos Aires, 1982), Buenos Aires 1986, 401-416, hier 414 (trotz des Titels ist dieser Aufsatz ansonsten für die Interpretation der Paradiesschilderungen des Prudentius wenig hilfreich).

156

105

2. Prudentius und Vergil

tunc per amoena uirecta iubet frondicomis habitare locis. uer ubi perpetuum redolet prataque multicolora latex quadrifluo celer amne rigat. (cath. 3,101-105)

J. FONTAINE, der diese und andere Paradiesbeschreibungen des Prudentius mit feinem Gespür für ihren symbolischen Gehalt und die Durchdringung klassischer und biblischer Einflüsse analysiert hat, charakterisiert die Strophe als »une description minuscule et brillante, réduite aux dimensions d'une épigramme«. 134 Daß diese »Miniatur« sich dennoch auch durch eine epische Färbung auszeichnet, liegt zum einen an den für die epische Sprache typischen zusammengesetzten Adjektiven wie frondicomus und multicolorus, zum anderen aber auch an der Vergilreminiszenz der ersten Verse, die von praktisch allen Interpreten des Hymnus bemerkt worden ist.135 Sie knüpft an die Szene an, in der Aeneas mit der Sibylle die Gefilde der Seligen betritt: ... deuenere locos laetos et amoena uirecta fortunatorum nemorum sedesque beatas. (Aen. 6,638f.) Dieser deutliche Anklang, der die Nachdichtung der alttestamentarischen Paradieserzählung mit Assoziationen an das selige Jenseits verknüpft, betont die enge Verbindung zwischen dem Garten Eden der Genesis und dem eschatologischen Paradies. 136 Die übrigen Details der Paradiesbeschreibung in cath. 3,101-105 weisen keine spezifischen Bezüge zu Vergil auf, sie enthalten jedoch alle wesentlichen Merkmale eines locus amoenus.

134 J. FONTAINE, Trois variations de Prudence sur le thème du paradis, in: Forschungen zur römischen Literatur. Festschrift für K. BÜCHNER, hg. von W. WLMMEL, Wiesbaden 1 9 7 0 , 9 6 - 1 1 5 , hier 101. 1 3 5 Vgl. e t w a AREVALO, BERGMAN, LAVARENNE, CUNNINGHAM u n d RIVERO GARCÍA Ζ. St.; a u ß e r d e m MAHONEY 132; SCHWEN 110; HANLEY 107f. A n m . 64; SALVATORE ( H o r a z

und Vergil 139; Studi 95-97); COURCELLE, Pères 33 mit Anm. 3; FONTAINE, Paradis 100; EVENEPOEL, Cathemerinon 58; ders., Hymnus ante cibum II 15; CHARLET, Cathemerinon 164 Anm. 30; KAH 337f. Interessanterweise wird die Wendung amoena uirecta, die auch auf andere christliche Schriftsteller stark gewirkt hat (vgl. COURCELLE, Pères 33f.), von Prudentius noch ein zweites Mal aufgegriffen: in ham. 795Í. im Zusammenhang mit dem in heidnischer wie christlicher Literatur verbreiteten Motiv der »zwei Wege« (... at laeuum nemus umbriferum

per amoena uirecta / ditibus ornaret pomis ...·, vgl. a u c h Aen.

6,473);

vgl. BERGMAN, LAVARENNE u n d RIVERO GARCÍA Ζ. St. s o w i e MAHONEY 29; SCHWEN 6 2 ;

PALLA Ζ. St.; COURCELLE, Pères 24 mit Anm. 4; HANLEY 145 Anm. 51. Dort ist es jedoch gerade der angenehme und liebliche Weg, der ins Verderben führt; eine kritische Ausrichtung gegenüber dem vergilischen Prätext ist daher für diese Stelle nicht ganz auszuschließen. 136 So auch FONTAINE, Paradis 100 Anm. 13, und KAH 338.

2.4. Religiöse Sprache

157

In dieser Ideallandschaft herrscht ewiger Frühling;137 es gibt schattenspendende Bäume, eine Wiese mit bunten Blumen und kühles Wasser.138 Auch der angenehme Duft der Pflanzen wird erwähnt - ein nicht unbedingt notwendiger Bestandteil des locus amoenus, der bei Prudentius vielleicht auch auf die Gegenwart Gottes in der geschilderten Landschaft hindeuten könnte.139 Das einzige Element, das sich nicht ohne weiteres in den Topos einordnen läßt, ist die Vierzahl der Flußarme: Sie geht klar auf den biblischen Schöpfungsbericht zurück (vgl. Gen 2,10).140 Nach dem Sündenfall müssen die Menschen den Garten Eden verlassen; statt paradiesischer Fülle bestimmen nun Mühsal und Schmerz ihr Leben. »So ist verflucht der Ackerboden um deinetwillen ... Dornen und Disteln läßt er dir wachsen«, verkündet Gott Adam in Gen 3,17f. Diese Verschlechterung der natürlichen Bedingungen infolge der Sünde der ersten Menschen schildert Prudentius in ham. 216-246. Er beginnt mit den Pflanzen aus Gen 3,18: tunc lolium lappasque leues per adultera culta ferre malignus ager glaebis male pinguibus ausus triticeam uaçuis segetem uiolauit auenis ... (ham. 216-218)

Die Einzelheiten der Ausbreitung des Unkrauts - insbesondere die Tatsache, daß nicht nur »Dornen und Disteln«, sondern auch andere schädliche Pflanzen erwähnt werden - erinnern an eine Passage aus den Geórgica, der eine vergleichbare Situation zugrunde liegt: Juppiter beendet den Zustand des Goldenen Zeitalters, in dem die Natur alles, was die Menschen zum Überleben brauchten, von selbst in Fülle hervorbrachte, weil er will, daß das Leben zur Bewährungsprobe für den menschlichen Erfindungsgeist wird (georg. 1,118-154). 137 Der ewige Frühling, der die Ideallandschaft auszeichnet (vgl. z. B. georg. 2,149 und Ov. met. 5,391 und siehe dazu unten S. 234) ist darüber hinaus auch ein Merkmal des Goldenen Zeitalters: vgl. etwa Ov. met. 1,107: lier erat aeternum ... 138 Zu diesem Topos vgl. CURTOJS 191-206, bes. 202 zur »Minimalausstattung« des locus amoenus. Freilich sind auch die elysischen Gefilde Vergils als locus amoenus gezeichnet (Aen.

6,673-675·.

...

lucís habitamus

opacis, /

riparumque

toros et prata recentia

riuis /

incoli-

mus). Ob allerdings diese Tatsache zusammen mit einigen über gut 50 Vergilverse verteilten verbalen Übereinstimmungen ausreicht, um die gesamte Paradiesidylle des Prudentius speziell auf Vergil zurückzuführen (so SALVATORE, Horaz und Vergil 139; ders., Studi 96f.), ist recht zweifelhaft; vgl. CHARLET, Cathemerinon 164 Anm. 30. 139 Vgl. etwa VAN ASSENDELFT zu cath. 5,15f. und allgemein E. LOHMEYER, Vom göttlichen Wohlgeruch, Heidelberg 1919 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1919, phil.-hist. Kl., Abhandlung 9), bes. 36-45. 140 FONTAINE, Paradis 101, verweist mit Recht auf die reiche christliche Symbolik des »lebendigen Wassers«, die im vergleichsweise ausführlichen Verweilen des Dichters beim Bild des Paradiesstromes angedeutet wird. KAH 338 verengt diesen Symbolgehalt jedoch auf unzulässige Weise, wenn sie in der Verwendung des Wortes latex in V. 104 einen Bezug zu perist. 8,16 erkennen will, wo der Ausdruck das Wasser bezeichnet, das aus der Seite Christi geflossen ist.

158 150

2. Prudentius und Vergil mgx et frumentis labor additus, ut mala culmos es set robigo segnisque horreret in aruis Carduus; intereunt segetes. subit aspera silua lappaeque tribolique, interque nitentia culta infelix lolium et steriles, dominantur auenae. (georg. 1,150-154)

Beide Dichter erwähnen Kletten (lappae: ham. 216; georg. 1,153), Lolch (lolium:

ham. 2 1 6 ; georg.

1 , 1 5 4 ) u n d t a u b e n H a f e r (uacuis ... auenis:

ham.

218; steriles ... auenae: georg. 1,154), die sich auf Kosten des Getreides (segetem:

ham. 2 1 8 ; segetes:

georg.

1 , 1 5 2 ) in d e n P f l a n z u n g e n (culta: ham.

216;

georg. 1,153) ausbreiten.141 Die Personifizierung der Pflanzen, die bei Prudentius in den Adjektiven adultera und malignus, aber auch in den Verben ausus und uiolauit zum Ausdruck kommt, setzt eine - allerdings weniger ausgeprägte - Tendenz des Prätextes fort (V. 151: segnis; V. 154: dominantur).U2 Im Anschluß an die Aufzählung der verschiedenen Arten von Unkraut schildert Prudentius u. a., wie als weitere Folgen des Sündenfalls Löwen und Wölfe zu Raubtieren werden (ham. 219-225) und Naturkatastrophen entstehen (ham. 236-243). Auch hierfür gibt es im Umkreis der zitierten Vergilpassage Anknüpfungspunkte (vgl. georg. 1,130: praedarique lupos iussit pontumque moueri),143 nicht jedoch in der biblischen Vorlage. Indem Prudentius die Verschlechterung der menschlichen Lebensumstände nach der Vertreibung aus dem Paradies mit derjenigen nach dem Ende des Goldenen Zeitalters in Verbindung bringt, impliziert er eine Analogie zwischen der christlichen Vorstellung vom Paradies und der heidnischen von der Goldenen Zeit. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß bei Vergil die Veränderungen in der Natur einem Plan Juppiters folgen und letztlich auf den Vorteil der Sterblichen zielen, während sie für Prudentius einzig auf die Sündhaftigkeit des zum Herrn über die

1 4 1 R e m i n i s z e n z festgestellt v o n LAVARENNE u n d RIVERO GARCÍA Ζ. St.; a u ß e r d e m v o n MAHONEY 26f.; SCHWEN 58f.; STAM Z. St.; HANLEY 199; PALLA, K o m m e n t a r z u r H a -

martigenia 182f. Interesanterweise übernimmt Prudentius von Vergil nicht die Disteln (triboli), obwohl sie auch in Gen 3,18 erwähnt werden. 142 Über die Anklänge an georg. 1,150-154 hinaus dürften auch die Junktur male pinguis (ham. 217) und die Verwendung von malignus im Sinne von »unfruchtbar« auf die Geórgica zurückgehen (vgl. 1,105 bzw. 2,179; von den Belegen ThLL VIII, 183f. s. v. malignus IΒ ist sonst wohl nur noch Plin. epist. 2,17,15 vergleichbar). 143 Sprachlich ist die Fortsetzung der Passage aus der Hamartigenia dagegen mit anderen Vergilstellen verbunden, die bei PALLA, Kommentar zur Hamartigenia 182f., aufgeführt sind. PALLA erwähnt allerdings nicht, daß für ham. 241-243 (parte alia uiolentus aquis torrentibus

amnis / transilit obiectas praescripta repagula ripas / et uagus euersis late domi-

natur in agris) neben dem Gleichnis Aen. 2,496-499 auch ein horazischer Prätext von Bed e u t u n g ist: uidimus flauum Tiberim retortis / litore Etrusco uiolenter

numenta

regis / templaque

Vestae, / Iliae dum se nimium

stra / labitur ripa loue non probante

undis / ire deiectum

mo-

querenti / iactat ultorem, uagus et sini-

u- / xorius amnis (carm. 1 , 2 , 1 3 - 1 6 ; festgestellt v o n BERG-

MAN und BREIDT 46). Diese Parallele hat auch eine gewisse inhaltliche Relevanz: Auch in dem Horazgedicht ist die Naturkatastrophe eine Strafe für menschliche Hybris.

2.4. Religiöse Sprache

159

Schöpfung eingesetzten Menschen zurückzuführen sind und für diesen keinerlei positive Auswirkungen haben. Möglicherweise muß ham. 244f. (nec tarnen his tantam rabiem nascentibus ipse / conditor instituit...) sogar in direktem Kontrast zu georg. l,121f. (pater ipse colendi / haudfacilem esse uiam uoluit ...) gelesen werden. Dann wäre die Passage ham. 216ff. hinsichtlich der Einbindung der Vergilreminiszenzen mit der oben S. 152-155 behandelten Höllenbeschreibung in harn. 824-833 vergleichbar: Auf eine Reihe inhaltlich analoger Reminiszenzen folgt die ausdrückliche Zurückweisung eines zentralen Aspekts der vergilischen Vorlage. 144 Das VERHEISSENE PARADIES der Seelen der Gerechten wird am ausführlichsten gegen Ende von cath. 5 geschildert.145 Die biblische Erzählung vom Auszug der Israeliten aus Ägypten wird allegorisch als Weg der Seelen ins »himmlische Vaterland« interpretiert: illic purpureis teda rosariis omnis fraglat humus caltaque pinguia 115 et molles uiolas et tenues crocos funditfpnticulis udafugacibus.

120

illic et gracili balsama surculo desudata fluunt raraque cinnama spirant et folium, fonte quod abdito praelambens fluuius portât in exitum. felices animae prata pea herbida concentu pariles suaue sonantibus hymnorum modulis dulce canunt melos, calçant et pedibus lilia candidis. (cath. 5,113-124)

Das Schwergewicht dieser Paradiesschilderung (zwei von drei Strophen) liegt auf der Beschreibung der Landschaft; erst in der dritten Strophe werden die sie bewohnenden Seelen in den Blick genommen. Strophe 1 erinnert ein wenig an den locus amoenus aus cath. 3,101-105. Sie entwirft das farbenfrohe Bild eines üppig blühenden Gartens - rote Rosen, gelber Safran, gelbe Ringelblumen, violette Veilchen - , der angenehm duftet und von munteren Quellen bewässert wird.146 Vergilisch ist hier die Verbindung molles uiolas (V. 115; vgl. ecl. 5,38; Aen. 11,69);147 vor allem aber evo-

144 Dieser kontrastierende Bezug wurde, soweit ich sehe, bisher noch nicht bemerkt. 145 Eingehend behandelt von FONTAINE, Paradis 102-110. 146 Zur Bedeutung des Duftes hier und in der folgenden Strophe s. oben S. 157 mit Anm. 139; zur Bedeutung des Wassers s. ebd. Anm. 140. 1 4 7 R e m i n i s z e n z notiert v o n LAVARENNE Z. St., MAHONEY 137f. u n d SCHWEN 9 1 ;

außerdem von VAN ASSENDELFT z. St. und FONTAINE, Paradis 104 Anm. 24; vgl. allerdings auch Petron. 131 vers. 8. Der ungewöhnliche Ausdruck calta ... pinguia (V. 114) könnte eine Abwandlung der bei Vergil recht häufigen Verbindung pinguia culta sein (georg. 4,372; Aen. 8,63; 10,141; allerdings auch Aus. Mos. 460); vgl. FONTAINE, Paradis 104 Anm.

160

2. Prudentius und Vergil

ziert die Passage Stellen aus d e m vierten Buch der Geórgica, w o die geeignete U m g e b u n g für die Bienenzucht idyllisch ausgemalt wird. Wichtig sind auch hier rasch fließende Quellen: at liquidi fontes et stagna uirentia musco adsint et tenuis fugiens per gramina riuus ... (georg. 4,18f.) Ein Paradies der Bienen ist der Garten des korykischen Greises, den Vergil in georg. 4,116-148 beschreibt. Die Einleitung dieses Abschnitts klingt in der Paradiesschilderung des Prudentius ebenfalls an: ... forsitan et pinguis hortos quae cura colendi ornaret canerem biferique rosaría Paesti... (georg. 4,118f.) N u r einzelne Wörter sind es, die aus den Geórgica übernommen werden, doch sie reichen aus, u m der Gartenlandschaft der ersten Strophe einen deutlich vergilischen Z u g zu verleihen. 148 Die zweite Strophe führt den Leser dagegen in eine ganz andere Umgebung: » C o m m e dans un jardin botanique, nous passons d'un carré de fleurs de champs à un parterre de plantes exotiques.« 1 4 9 Hier wachsen der Balsambaum, der Zimt und das Malabathron (folium);150 der Eindruck des Geheimnisvollen, den diese Zusammenstellung duftender orientalischer Pflanzen erweckt, wird noch verstärkt durch die Personifizierungen desudata, spirant und praelambens.151

25. Die Junktur tenues crocos (V. 115) ist bei Vergil nicht belegt; sie könnte aus Ov. fast. 4,442 stammen (die Wiese, auf der Proserpina geraubt wird; vgl. dazu HANLEY 191). 1 4 8 V g l . v. a. FONTAINE, P a r a d i s 104f.; VAN ASSENDELFT zu V . 114f.

149 FONTAINE, Paradis 105. 150 VAN ASSENDELFT Z. St. versteht unter folium das Blatt der Narde; wahrscheinlicher dürfte es sich aber um die oft mit dieser verwechselte Malabathronpflanze handeln; vgl. H. BEIKIRCHER, Spezereien aus dem Paradies (zu Prud., cath. 5,120, und Ale. Avit., carm. I,292f.), WS 20 (1986), 261-266, hier 261. Zur Verwechslungsmöglichkeit der beiden Pflanzen aufgrund des ähnlichen Aromas der aus ihnen gewonnenen Öle vgl. A. STEIER, Art. Malabathron, in: RE XIV 1 (1928), 818-823, hier 820f. 151 Eine symbolische Deutung der auf dem (Paradies-)Fluß treibenden Malabathronblätter gibt FONTAINE, Paradis 105-107. Er verknüpft den Strom mit seiner verborgenen Quelle mit dem »lebendigen Wasser« der Taufe (zugleich aber auch mit dem »Wasser des Lebens« aus Offb 22,1), die auf diesem treibenden Blätter symbolisieren für ihn ähnlich wie in II. 6,146 und Aen. 6,309f. die Kürze des menschlichen Lebens. Das Wort exitus deute hier, wie meistens bei Prudentius, auf den Tod des Menschen hin, der jedoch zugleich das Tor zum »himmlischen Vaterland« darstelle: »Le double mystère du baptême et de la mort du chrétien, l'un et l'autre envisagés comme >dies natales« et accès à l'eau vive de Dieu, se trouve ainsi chiffré par ce beau paysage énigmatique« (107). Zweifel an dieser übertragenen Interpretation äußert allerdings BEDARCHER. Er spricht sich unter Hinweis auf die patristische Tradition für eine irdische Lokalisierung der Paradiesflüsse und damit für ein konkretes Verständnis von exitus in V. 120 aus (aus dem verborgenen Paradies fließt der Fluß hinaus in die sichtbare Welt), das eine gleichzeitige übertragene Auffassung als Ende des menschlichen Lebens und damit Eingang ins Paradies unmöglich mache. Problematisch ist an seiner Widerlegung jedoch, daß sich bei Prudentius sonst keine Hinweise auf die Vorstellung finden, daß das Paradies verborgen auf Erden weiterexi-

2.4. Religiöse Sprache

161

Zu der Ausschmückung des Paradieses durch exotische Pflanzen könnte Prudentius durch Hld 4,13f. angeregt worden sein: emissiones tuae paradisus malorum punicorum cum pomorum fructibus cypri cum nardo / nardus et crocus fistula et cinnamomum cum universis lignis Libarti.152 Darin, daß der Balsam von den Zweigen des Baumes »ausgeschwitzt« wird, liegt möglicherweise ein Bezug zu georg. 2,118f., wo im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Erträgen verschiedener Böden von den odorato ... sudantia Ugno / balsama des Orients die Rede ist.153 Die letzte Strophe der Paradiesbeschreibung verweist dann wieder deutlicher auf Vergil. Schon durch die ersten Worte Felkes animae ... (V. 121) wird unmißverständlich der Bezug zur Schilderung der elysischen Gefilde hergestellt, die bereits in cath. 3,101 angeklungen ist. In Aen. 6,669f. leitet die Sibylle ihre Erkundigung nach dem Aufenthaltsort des Anchises mit den Worten ein: 670

>dicite, felices animae. tuque, optime uates, quae regio Anchisen, quis habet locus ? ...
Gegenwart< - d. h. der ekklesiologischen Phase der Heilsgeschichte - den stets in der Ekklesia anwesenden Gott in allen Einzelheiten der Schrift typologisch zu erkennen.« 58 Von der Regel, daß die biblische Erzählung in den Hymnen des Cathemerinon meist in einer allegorischen Beziehung zur Gedichtsituation steht, gibt es freilich auch Ausnahmen: Die biblischen Beispiele für prophetische Träume in cath. 6 sind ebenso wie die Reihe biblischer Faster in cath. 7 reine exempla - so daß besonders die übermäßig lange Erzählung von Jona (cath. 7,81-175) unpassend wirkt; vgl. EVENEPOEL, Cathemerinon 138. Cath. 9, das nur aus der rühmenden Erzählung der gesta Christi besteht, ist fast frei von allegorischen Bezügen.

3.2. Übernahme von Elementen der horazischen Lyrik

207

Gattungsgrenzen der Lyrik, indem sie längeren Passagen eines Gedichts ein episches Kolorit verleihen.59 Während Horaz das »epische« Material meist durch ironische Brechung oder durch das ostentative Zurückweisen der Gegenstände und des Stils »hoher« Dichtung in seine Lyrik einpaßt,60 wird bei Prudentius die Integration längerer erzählender Passagen oft weniger auf der Ebene des Stils als durch die Vielzahl allegorischer Bezüge zwischen der biblischen Erzählung und der Wirklichkeit geleistet. Von einer christlichen Aneignung des horazischen Umgangs mit dem Mythos und damit von einer Horazreminiszenz auf der Ebene der Gattung kann man hier wohl kaum sprechen; die Ähnlichkeit ist eher als eine Art Nebenprodukt von Prudentius' Nutzbarmachung der typologisch-allegorischen Schriftdeutung für die Hymnendichtung anzusehen.

59 Vgl. FONTAINE, Mélange 764; EVENEPOEL, Cathemerinon 137f.; BROZEK, Pindarus Latinus 146. Einzelne epische Züge einer biblischen Erzählung wurden im Zusammenhang mit der Vergilrezeption am Beispiel von cath. 5 aufgezeigt; s. o. S. 91-96. 60 S. hierzu HARRISON, der u. a. auch die Gattungsmischung in der Europa-Ode carm. 3,27 untersucht (148-154). Allgemein zur Technik des »generic disavowal«, wie sie z. B. in carm. 3,3,69-72 praktiziert wird, vgl. HARRISON 135 und G. DAVIS, Polyhymnia. The Rhetoric of Horatian Lyric Discourse, Berkeley etc. 1991,11.

208

3. Prudentius und H o r a z

3.3. Polemik gegen das Heidentum Zur Formulierung von Kritik an der heidnischen Götterwelt werden Horazreminiszenzen wesentlich seltener genutzt als Vergilreminiszenzen, und das für die Vergilrezeption in diesem Zusammenhang typische Phänomen, daß ganze Verse bzw. Versgruppen nahezu wörtlich übernommen werden, fehlt völlig. In der Tat bietet sich der Lyriker und Satiriker Horaz als Quelle für christliche Mythoskritik weniger an als der Epiker Vergil, weil die meisten seiner Gedichte persönlichen Charakter haben und Mythologisches in der Regel nur in paradigmatischer Funktion Aufnahme findet.1 Dennoch läßt sich für Prudentius in einigen Fällen auch eine Horazrezeption im Zusammenhang mit Polemik gegen heidnische Mythologie und Kulte nachweisen. 3.3.1. Spott über heidnische Gottheiten Das erste Beispiel, das hier behandelt werden soll, stammt aus dem Laurentiushymnus {perist. 2). Dort fordert der Märtyrer, während er auf dem glühenden Rost zu Tode gequält wird, den Präfekten mit grimmigem Humor auf, ihn auf die andere Seite zu drehen: >conuerte partem corporis satis crematam iugiter et fac periclum, quid tuus Vulcanus ardens egerit.< (perist. 2,401-404) Mit der Erwähnung des Feuergottes Vulcanus knüpft der Märtyrer an eine Äußerung des Präfekten an, der ihn - seinerseits die scharfe Verurteilung des Götzenkults durch Laurentius (V. 261-264) aufgreifend - höhnisch aufgefordert hat, er könne ja, wenn er wolle, auf dem Rost versuchen, die Macht des Vulcanus zu bestreiten. 2 Hier wird mit zwei verschiedenen Verwendungsweisen des Namens Vulcanus gespielt, der zum einen den Gott selbst, zum anderen metonymisch dessen Funktionsbereich, das Feuer, bezeichnen kann. 3 In der Antwort des Laurentius scheint sich durch das At1 V g l . OKSALA 1 8 8 .

2 V. 353-356: >conscende constratum rogum, / decumbe digno lectulo, / tune, si libebit, disputa / nil esse Vulcanum meumU 3 Von Quint, inst. 8,6,24 wird das Paar Vulcan - Feuer sogar als Beispiel für die Metonymie gebraucht; vgl. z. B. Verg. Aen. 7,77; Ov. met. 7,104; ähnlich bereits II. 2,426. A u c h in der allegorischen Mythenauslegung der Stoa wird Hephaistos als das Feuer gedeutet (vgl. etwa Chrysipp. frg. 1076) - Prudentius geißelt den Unverstand der Heiden, die Naturgewalten wie Wasser u n d Feuer zu Göttern erklären, ausdrücklich in Contra Symmachum (1,304-308): ipse ignis, nostrum factus qui serait ad usum, / Vulcanus perhibetur et in uirtute superna / fingitur ac délabra deus et nomine et ore / adsimulatus habet nec non regnare caminis/fertur et Aeoliae summusfaber esse uel Aethnae.

3.3. Polemik gegen das Heidentum

209

tribut ardens die Bedeutung ein wenig stärker zur Metonymie hin zu verschieben. Die Junktur Vulcanus ardens insgesamt evoziert jedoch ein Frühlingsgedicht des Horaz, in dem Venus mit Nymphen und Grazien den Reigen tanzt, ... dum grauis Cyclopum Vulcanus ardens uisit4 officinas. (carm. l,4,7f.)

Daran, daß bei Prudentius eine Reminiszenz vorliegt, ist, besonders angesichts der metrischen Position am Anfang eines iambischen Verses, nicht zu zweifeln.5 Bei Horaz tritt der Gott allerdings leibhaftig in Erscheinung; das Attribut ardens überrascht hier weit mehr als in der parallelen Prudentiuspassage.6 Die Horazreminiszenz in perist. 2,404 läßt sich m. E. trotz ihrer Kürze den zitatartigen Vergilbezügen in den Büchern Contra Symmachum an die Seite stellen.7 Laurentius verspottet den heidnischen Götterglauben des Präfekten, indem er diesem gewissermaßen die Worte des heidnischen Dichters Horaz in den Mund legt - fast möchte man die übernommene Wendung in Anführungszeichen setzen. Die ironische Nennung des Feuergottes muß sicherlich in Beziehung zu der Reflexion über den ignis uerus gesetzt werden, die sich unmittelbar vor der die Rede des Märtyrers einleitenden Strophe findet und die ihrerseits auf die Erwähnung Vulcans durch den Präfekten in V. 356 antwortet:

395

sic ignis aeternus deus, nam Christus ignis uerus est; is ipse conplet lumine iustos et urit noxios. (perist. 2,393-396)

Nicht der heidnische Gott Vulcanus ist also das Feuer; in einem spirituellen Sinne ist dies vielmehr Christus, der die Gerechten erleuchtet und die Sünder verbrennt.8 Er bewirkt damit eine paradoxe Umkehrung des 4 WADES von SHACKLETON BAILEY in den Text gesetzte Konjektur uersat ist m. E. überflüssig; vgl. die Rezensionen seiner Ausgabe von R. G. M. NLSBET, CR 100 (1986), 227-234, hier 230, und J. DELZ, Gnomon 60 (1988), 495-501, hier 498. 5 N o t i e r t v o n BERGMAN, LAVARENNE u n d RIVERO GARCÍA Ζ. S t . ; e b e n f a l l s v o n BREIDT

22; VAN KOTEN 36; NISBET/HUBBARD zu carm. 1,7,8. Als ardens wird der Gott auch von Statius (Theb. 10,100) und Claudian (carm. min. 46,3) bezeichnet, allerdings ohne Nennung des Namens Vulcanus. Vgl. außerdem Hier, epist. 40,2,2: claudum cupio suis ignibus ardere Vulcanum. 6 Vgl. ROMANO Z. St. Nicht sehr überzeugend ist dagegen der Versuch von E. L. WILL, Ambiguity in Horace Odes 14, CPh 77 (1982), 240-245, in dem Gedicht eine zweite Bedeutungsebene mit Anspielungen auf das berufliche Umfeld des Adressaten Sestius nachzuweisen und auf dieser Ebene von einer metonymischen Bedeutung des Vulcanus ardens auszugehen. 7 S. dazu oben S. 113-115 und 118-120. 8 Assoziationen mit der stoischen Idee des göttlichen Urfeuers sind hier sicher fernzuhalten. Auch die Einordnung der Stelle im ThLL (Bd. VII 1, 296 s. v. ignis III Β 2: de fer-

210

3. Prudentius u n d H o r a z

äußerlichen Geschehens: Die Augen der Heiden (V. 377: inpiorum caecitas) sehen nur, wie der Märtyrer durch das Feuer den Tod findet, doch in Wahrheit ist dieser im Sterben bereits vom himmlischen Licht umstrahlt (V. 362: fulgorque circumfusus est), während Ungläubigen und Sündern ewige Feuerqualen bevorstehen. Das Feuer, das Laurentius verbrennt, wird so zum Symbol für dessen Sieg über seinen Peiniger;9 die Gleichsetzung des Feuers mit einer heidnischen Gottheit, die zunächst vom Präfekten selbst eingeführt, dann aber vom Märtyrer aufgegriffen und durch die Horazreminiszenz wirkungsvoll hervorgehoben wird, wird vollends der Lächerlichkeit preisgegeben. Eine zweite Horazreminiszenz, die dem Bereich »Kritik am heidnischen Pantheon« zugeordnet werden kann, bezieht sich auf die bereits im Zusammenhang mit der Vergilrezeption berührte Erzählung vom Raub des Ganymed durch Juppiter, die zum festen Repertoire apologetischer Götterkritik gehörte.10 Sie fehlt auch nicht in dem langen Angriff des Märtyrers Romanus gegen das Heidentum (perist. 10,176-310):

235

quid uult sigillum semper adfixum Ioui auis ministrile? nempe uelox armiger leno, exoletum qui tyranno pertulit. (perist. 10,233-235)

Der Adler, dessen häufige Anwesenheit auf Darstellungen Juppiters der Märtyrer boshaft mit seiner Rolle bei dem homosexuellen Abenteuer des Göttervaters erklärt, wird in einer Periphrase als dessen »helfender Vogel« bezeichnet. Ganz ähnlich umschreibt auch Horaz den Vogel in dem weitausgreifenden Vergleich zu Beginn von carm. 4,4: qualem ministrum fulminis alitem, cui rex deorum regnum in auis uagas

vore, ímpetu ingenii, vi virtutum) erscheint wenig glücklich. Von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Stelle ist die biblische Symbolik des Feuers, das sich besonders im Alten Testament auch als Gottesbezeichnung findet (z. B. Jes 10,17: »Israels Licht wird z u m Feuer, sein Heiliger wird zur Flamme. Sie brennt u n d verzehrt die Dornen und Disteln von Assur / an einem einzigen Tag). Vgl. dazu F. LANG, Art. πυρ, in: T h W N T 6 (1959), 927-948, hier 936: Die Bezeichnung Gottes als Feuer dürfe keinesfalls als personifiziertes Element oder als Ursubstanz mißverstanden werden, sondern »meint im A T vielm e h r das majestätische, Gericht u n d Gnade umschließende Wesen u n d das richterliche Verhalten Jahwes.« 9 Die Paradoxie, die darin liegt, daß der äußerlich Unterlegene der eigentliche Sieger ist, liegt vielen Passagen im liber Peristephanon zugrunde, ist aber in perist. 2 besonders ausgeprägt: Der w a h r e Triumph R o m s besteht in der Abkehr v o n den alten Staatsgöttern (V. 1-16), die wahren Schätze der Kirche sind die A r m e n u n d Kranken (ζ. Β. V. 203-208), w ä h r e n d die Sünder die eigentlich Kranken sind (V. 233-264; s. auch unten S. 236f.); vgl. auch zugespitzte Formulierungen wie mors illa sancti martyris / mors uera templorum fuit... (V. 509f.). 10 Vgl. etwa Min. Fei. 23,7; Arnob. nat. 4,26; Firm. err. 12,2; A u g . civ. 18,13 p. 272,31273,2; s. dazu auch oben S. 109 mit Aran. 21.

3.3. Polemik gegen das Heidentum

permisit expertus fidelem luppiter in Ganymede flauo ... (carm.

211

4,4,1-4)

Hier ist der Adler der »geflügelte Helfer« beim Blitzeschleudern; wie bei Prudentius geht es um seine Dienste bei der Entführung Ganymeds.11 Die Reminiszenz dürfte Prudentius durch Cyprian vermittelt worden sein, der Juppiter ad Donat. 8 vorwirft, nunc in plumas oloris albescere, nunc aureo imbre defluere, nunc in puerorum pubescentium raptus ministris auibus prosilire, und der damit Prudentius sprachlich noch näher steht als Horaz. Kontrastiert schon Cyprians verallgemeinernder Plural pueri pubescentes merklich mit dem hohen, an Pindar erinnernden Ton des Horazgedichts,12 so zieht Prudentius die Ganymed-Episode gänzlich auf ein niedriges, ja geradezu vulgäres Stilniveau herab: Der Adler wird zum Kuppler (leno), der trojanische Prinz zum Lustknaben (exoletus). Ein schärferer Gegensatz zu dem erhabenen Stil der Ode läßt sich kaum denken. Ähnlich wie in der Passage über die von Saturn gezeugten neuen Götter im ersten Buch Contra Symmachumn wird hier durch die Verknüpfung eines Anklangs an »hohe« mythologische Dichtung mit vulgären Elementen eine komische Wirkung erzielt. Schließlich könnte eine Verbindung zu Horaz auch für Prudentius' Darstellung des Priapus eine Rolle spielen. Dieser, so die euhemeristische Erklärung in c. Symm. 1,102-110, war ursprünglich ein reicher griechischer Bauer, der für seine übergroße Lüsternheit bekannt war; inzwischen aber wird er selbst in Italien als Gott verehrt:

115

... sinum lactis et haec uotorum liba quotannis accipit ac ruris seruat uineta Sabini, turpiter adfixo pudeat quem uisere ramo. (c. Symm.

1,113-115)

Warum wird der Gott hier gerade als Wächter eines »sabinischen Landguts« vorgestellt? Der Gedanke an Horazens in so vielen Gedichten besungenes Sabinum liegt nahe, zumal von einer besonderen Affinität des Gottes Priapus zum sabinischen Gebiet sonst nichts bekannt ist.14 Die Vermu-

11 Reminiszenz notiert von MAHONEY 171. 12 Zur Funktion der »affektischen (meist schmähenden) Verallgemeinerung« s. HOFM A N N / S Z A N T Y R 1 6 . Z u m » p i n d a r i s c h e n « T o n v o n carm. 4 , 4 v g l . z. B . SYNDIKUS II 3 1 9 - 3 2 3 .

13 Vgl. oben S. 107f. 14 So auch AREVALO und LAVARENNE z. St.; vgl. auch H. HERTER, De Priapo, Gießen 1932 (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 23), 245. Bezeichnenderweise findet sich der neben der Prudentiusstelle einzige mir bekannte Beleg für die Verbindung rus Sabinum in der Horazvita des Sueton (p. 47,15: uixit plurimum in secessu ruris sui Sabini aut Tiburtini); der Dichter selbst spricht von Sabini (carm. 2,18,14) bzw. ager Sabinus (sat. 2,7,118). Zum Landgut des Horaz und den darauf bezogenen Gedichten vgl. insbesondere E. A. SCHMIDT, Sabinum. Horaz und sein Landgut im Licenzatal, Heidelberg 1997 (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1,1997).

212

3. Prudentius und H o r a z

tung, daß eine Anspielung auf Horaz vorliegt, wird zudem auch dadurch gestützt, daß dieser ausgerechnet eine Priap-Statue als Sprecher der Satire 1,8 auftreten läßt,15 deren überlegene Ironie gegenüber dem hölzernen Gott bereits Laktanz dazu bewogen hat, die ersten Verse des Gedichts als Zeugnis für die Machtlosigkeit der von Menschen gemachten Götterbilder zu zitieren.16 Zwar befindet sich das Standbild, wie sich im weiteren Verlauf des Gedichts herausstellt, gar nicht auf dem Landgut des Dichters, sondern in den Gärten des Maecenas auf dem Esquilin (vgl. V. 8-16), doch erscheint es ohne weiteres denkbar, daß Prudentius vor allem den für Kritik am heidnischen Götzenkult nutzbaren Anfang der Satire - vielleicht sogar vermittelt durch Laktanz17 - rezipiert und so die Statue irrtümlich auf dem Sabinum lokalisiert hat.18 Trifft diese Interpretation zu, dann handelt es sich hier um einen in dieser Form bisher noch nicht belegten Typus der Reminiszenz: Durch die knappe Anspielung auf das für das horazische Gesamtwerk so wichtige Landgut wird in allgemeinster Form auf den Augusteer verwiesen; ein zentrales Motiv steht hier gewissermaßen als Chiffre für dessen gesamte Dichtung. Diese unbestimmte Verbindung mit Horaz bewirkt dann die Identifikation des Priapus aus c. Symm. 1,102115 mit dem der horazischen Satire. 3.3.2. Behandlung religiöser Bräuche Dreimal spielt Prudentius mit an Horaz anknüpfenden Formulierungen auf heidnische religiöse Bräuche an, wobei zwei der zugrundeliegenden horazischen Wendungen aus carm. 3,23 stammen. In diesem Gedicht wird das bescheidene Opfer der Bäuerin Phidyle der Prachtentfaltung im Kult der Hauptstadt gegenübergestellt und versichert, daß ihre von schlichten Gaben begleiteten Gebete ebenso sicher Erhörung finden werden wie auf15 Eine prominente Rolle spielt der Gott auch in Tib. 1,4. Dort tritt seine Rolle als H ü ter der Gärten jedoch gegenüber der eines Lehrers der Knabenliebe völlig zurück; als Prätext für die Prudentiuspassage kann das Gedicht daher wohl ausgeschlossen werden. 16 H ö r s at. 1,8,1-4: olim truncus eram ficulnus, inutile lignum, / cum faber, incertus scamnum faceretne Priapum, / maluit esse deum. deus inde ego, furum auiumque / maxima formido; v o n L a k t a n z zitiert inst. 2,4,1. Von den Zeitgenossen des Prudentius zitiert die Verse Hier, in Is. 12,44,6/20 1. 103-106. Daß Prudentius die horazische Satire ebenfalls präsent war, läßt sich auch aufgrund von apoth. 293 vermuten, w o der Verehrer heidnischer Götter als ficulni stipitis unctor bezeichnet wird; vgl. HANLEY 154. Das W o r t ficulnus ist in der Dichtung außer an diesen beiden Stellen nur noch bei C o m m . instr. 2,14,10 und bei Cypr. Gall. gen. 9 0 belegt; vgl. T h L L VI 1, 650 s. v. ficulnus. 17 Z u einer parallelen Beobachtung für die Vergilrezeption s. oben S.112 mit A n m . 3 1 . 18 Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß Prudentius Horazens Priap-Gedicht g e r a d e nicht - wie Laktanz - inhaltlich analog nutzt, sondern nur in ganz allgemeiner Weise darauf Bezug nimmt. Dadurch erscheint der Besitzer des rus Sabinum nicht mehr als aufgeklärter Kritiker der heidnischen Religion, sondern als ein Verehrer des Gottes u n d tritt damit an die Seite des durch die Reminiszenz in V. 113f. präsenten Vergil (s. o. S. 120 A r m . 62).

3.3. Polemik gegen das Heidentum

213

wendige Hekatomben. Die Verbindung pontificum securis (carm. 3,23,12), die der Schilderung des staatlichen Opfers entnommen ist, dient in der Erzählung vom gestörten Opfer des Julianus Apostata (apoth. 460-502) dazu, den Prunk der Zeremonie anzudeuten.19 Die Beschreibung von Phidyles Opfergaben (carm. 3,23,3f.: ... si ture placaris et horna / fruge Lares auidaque porca ...) wird in der satirischen Rede des Romanus aufgegriffen:20 fuliginosi ture placantur lares et respuuntur consecrata holuscula?

(perist.

10,261f.)

In der Passage, aus der die beiden zitierten Verse entnommen sind (V. 251-265), weist der Märtyrer nach, daß die Verehrer der traditionellen römischen Gottheiten sich nicht weniger lächerlich machen als die von den Römern oft verspotteten Ägypter, die angeblich Tieren und Pflanzen göttliche Ehren erwiesen.21 In der rhetorischen Frage V. 261f. verleiht er seinem Argument dadurch besondere Schärfe, daß er den spöttisch als holuscula (»Grünzeug«) bezeichneten »Pflanzengottheiten« ausgerechnet die Laren an die Seite stellt, deren Verehrung bereits in augusteischer Zeit als ein Zeichen schlichter altrömischer Frömmigkeit galt.22 Durch die Reminiszenz an das Horazgedicht, in dem das Opfer der Bäuerin in einem liebevoll-nostalgischen Licht erscheint, wird dieser Kontrast noch verstärkt. Das römische Auguralwesen verspottet Prudentius in c. Symm. 2,566577. Er antwortet dort auf das Argument des Symmachus, nur der gewissenhaften Einhaltung der Kultvorschriften hätten die Römer ihre militärischen Erfolge zu verdanken.23 Wenn die Götter tatsächlich die pietas der Römer belohnen wollten, warum haben sie dann bevorstehende Niederlagen nicht durch negative Vorzeichen zu verhindern gewußt? In diesem Zusammenhang erwähnt Prudentius die Schlachten von Cannae und Carrhae sowie den Kampf gegen die Einwohner Veiis an der Cremerà 477 19 Apoth. 461f.: ... pontificum festis ferienda securibus illic / agmina uaccarum steterant ... (Reminiszenz notiert von BERGMAN und LAVARENNE Z. St. sowie von BREIDT 12 und VAN KOTEN 3 3 ) . 2 0 R e m i n i s z e n z n o t i e r t v o n LAVARENNE u n d RLVERO GARCÍA ζ. S t . s o w i e v o n BREIDT

22 und VAN KOTEN 33. Die Junktur ture placare ist häufiger belegt (vgl. z. B. Hör. carm. l,36,lf.; Mart. 9,1,6; 10,92,14; Macr. Sat. 1,7,15), jedoch nur hier in Verbindung mit Lares-, am ehesten vergleichbar ist noch luv. 12,89f. (hie nostrum placabo louuem Laribusque paternis / tura dabo ...). 21 Gedanklich und sprachlich hat diese Passage viele Gemeinsamkeiten mit c. Symm. 2,865-872; vgl. dazu oben S. 116f. mit Anm. 51. Die Einwohner Pelusiums enthielten sich des Verzehrs von Zwiebeln und Knoblauch (vgl. Plutarch bei Gell. 20,8,7), was von griechischen und römischen Autoren gelegentlich so gedeutet wurde, daß sie diese Pflanzen als Götter verehrten (luv. 15,9-11; Lukian. lupp. trag. 42). Vgl. E. COURTNEY, A Commentary on the Satires of Juvenal, London 1980, zu luv. 15,9, SMEUK/HEMELRIJK 1959 und allgemein Η. KEES, Der Götterglaube im alten Ägypten, Berlin 2 1956,92. 22 Vgl. SYNDIKUS II 202 (zu carm. 3,23) mit Parallelstellen. 23 Vgl. die Worte der Roma in Symm. rei. 3,9 (zitiert oben S. 113 Anm. 37).

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3. Prudentius und Horaz

v. Chr., in dem nach Livius (2,50) über dreihundert Angehörige der gens Fabia getötet wurden; nur ein Knabe überlebte die Katastrophe. cur Cremerae in campis çomiçe uel oscine parra nemo deum monuit perituros Marte sinistro tercentum Fabios uix stirpe superstite in uno? (c. Symm.

2,571-573)

Die recht ungewöhnliche Wortwahl - oseen wird in der Dichtung äußerst selten, parra fast nie gebraucht - verweist hier auf einen horazischen Prätext.24 In dem Propemptikon carm. 3,27 wünscht der Sprecher, der sich in den ersten Strophen des Gedichts als prouidus auspex (V. 8) gibt, nur den Frevlern für ihre Reise ein parrae recinentis omen (V. 1), für die Geliebte Galatea dagegen und diejenigen, denen er wohlgesonnen ist, 10

... antequam stantis repetat paludes imbrium_diuinaauis_ imminentum, oscinem coruum prece suscitabo solis ab ortu. (carm. 3,27,9-12)

Mit der parra (einem Eulenvogel?) entnimmt Prudentius der Ode einen Vogel, der mit seinem Geschrei als sprichwörtlicher Unglücksbringer galt.25 Die parallel dazu genannte Krähe (comix) erscheint bei Horaz ebenfalls, u n d zwar in der Umschreibung als imbrium diuina auis.26 In dem Propemptikon warnt ihr Flug ins Sumpfgebiet jedoch lediglich vor schlechtem Wetter, 27 während Prudentius sie als Vorbotin von Unheil im allgemeinen verstanden zu haben scheint - ob als oseen oder als ales, ist dem Text nicht zu entnehmen. 28 Inhaltlich ist die Bedeutung dieser Reminiszenz eher gering; Prudentius nutzt Horaz als Quelle sprachlichen Materials zur Beschreibung eines heidnischen Ritus. Die hinter dem »mit ernster Miene vorgetragenen auguralen Hokuspokus« 29 spürbare sanfte Ironie spielt dagegen für die Rezeption wohl keine Rolle.

24 Vgl. ThLL IX 2, llOOf. s. v. oseen (außer Prud. und Hör. nur noch zwei Dichtungsbelege in poetischen Spielereien des Ausonius); ThLL X 1, 438f. s. v. parra (außer Prud. und Hör. nur noch Plaut. Asin. 260). Die Horazreminiszenz wird notiert von AREVALO u n d BERGMAN Ζ. St. s o w i e v o n BREIDT 2 3 u n d VAN KOTEN 33.

25 Vgl. den sprichwörtlichen Gebrauch bei Petron. 43,4 und dazu A. OTTO, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, Leipzig 1890 (ND Hildesheim 1962), 266. 26 Vgl. Porph. z. St.: Cornix antequam repetat paludem; quam imbrium inminentum diuinam ait, quia pluuiam futuram significare soleat, quod etiam Vergilius ostendit: Tum cornix plena pluuiam uocat inproba uoce [georg. 1,388], 27 Die Krähe als Vorbotin schlechten Wetters: vgl. z. B. Plin. 18,363 sowie allgemein F. CAPPONI, Ornithologie Latina, Genova 1979 (Pubblicazioni dell'istituto di filologia classica e medievale 58), 190f. 28 Zur cornix als Weissagevogel vgl. CAPPONI 195: In den meisten Fällen warnt sie als oseen vor Unheil, jedoch wird sie gelegentlich auch als glückverheißendes Vorzeichen angesehen. 2 9 KIESSLDMG/HEINZE ZU carm. 3,27,7.

3.3. Polemik gegen das Heidentum

215

3.3.3. H o r a z als religiöser Aufklärer? Interessanter - und ohne Parallele bei der Vergilrezeption - ist es, daß Prudentius für seine Kritik an Heidnischem gelegentlich auf Passagen zurückgreift, in denen bereits H o r a z selbst eine kritische Haltung gegenüber überkommenen religiösen Vorstellungen eingenommen hat. 3 0 Ein Beispiel für diesen Typ der Reminiszenz findet sich in cath. 11. Das K o m m e n des Erlösers erscheint dort als in einen göttlichen Heilsplan eingebettet: Christus läßt nicht zu, daß die sündige Menschheit auf Dauer in der Macht des Teufels verharrt, sondern nimmt selbst menschliche Gestalt an, u m sie zu Gott zurückzuführen. 3 1 Die Abkehr der Menschen v o m wahren Gott geht einher mit einer Hinwendung z u m heidnischen Götzenkult:

35

nam caeca HIS mortalium uetierans inanes nenias uel aera uel saxa algida uel ligna credebat deum. (cath. 11,33-36)

Deutlich klingt in den inanes neniae die Vision im Schlußgedicht des zweiten Odenbuches an, dessen hohes Selbstbewußtsein bereits das non omnis moriar aus carm. 3,30,6 vorwegzunehmen scheint. Horaz, der für sich Unsterblichkeit und Verwandlung in einen Schwan voraussieht, verbittet sich für sein Leichenbegängnis übertriebene Trauerbekundungen: absint inani funere neniae luctusque turpes et querimoniae; compesce clamorem ac sepulcri mitte superuacuos honores, (carm. 2,20,21-24) In seinem Werk wird der Dichter weiterleben; demgegenüber ist die Bestattung mit den dazugehörigen Riten, insbesondere den Totenklagen (ne30 Zu diesen Bezügen läßt sich vielleicht - mit gewissen Einschränkungen - auch eine Reminiszenz zählen, mit der ein Motiv aus der horazischen Literaturkritik in den Dienst der antipaganen Polemik gestellt wird. Zu Beginn von c. Symm. 2 antworten die Söhne des Theodosius auf den Antrag des Symmachus, die Victoriastatue im Senat wieder aufstellen zu lassen, und kritisieren dabei u. a. die geflügelte Gestalt dieser Göttin als lächerlich: desine terga hominis plumis obducere: frustra / fertur auis mulier magnusque eadem dea uultur (V. 59f.). Hier klingt zweifellos der Spott des Horaz über das groteske Fabelwesen am Anfang der Ars poetica an (vgl. bes. V. 2f.: ... et uarias inducere plumas / undique collatis membris ...); vgl. z. B. HANLEY 142 und C. O. BRINK, Horace on Poetry II: The >Ars poetica«, Cambridge 1971, zu ars 2. Die Nähe zum Beginn der Ars ist bereits durch das Nebeneinander von pictores und poetae in dem den zitierten Versen vorangehenden Abschnitt gegeben (c. Symm. 2,39-56; vgl. bes. V. 39f. und 48 mit Hör. ars 9f.). Allerdings werfen die beiden zitierten Verse gewisse sprachliche und inhaltliche Probleme auf, aufgrund derer C. GNILKA (Antike Götter beim echten und beim unechten Prudentius, Frühmittelalterliche Studien 30 [1996], 103-149. ND in: ders., Prudentiana I: Critica, München 2000,228-290, hier 281-290), für eine Tilgung eintritt. 31 Zahlreiche christliche Parallelen zu diesem Gedanken hat gesammelt V. BUCHHEIT, Göttlicher Heilsplan bei Prudentius (cath. 11,25-48), VChr 44 (1990), 222-241, bes. 222-225.

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3. Prudentius und Horaz

niae), bedeutungslos (inanis). Sein Grab wird gewissermaßen ein Kenotaph sein. Weitaus problematischer ist die Interpretation der Verarbeitung von V. 21 durch Prudentius.32 Die Übersetzungen geben inanes neniae ausnahmslos mit »leeres Geschwätz« wieder;33 dagegen schlägt BUCHHEIT eine Deutung vor, die der Junktur ein wesentlich größeres Gewicht geben würde: Er verweist auf die Göttin Nenia, die einen Tempel vor der porta Viminalis hatte (Fest. p. 161), und übersetzt »nichtige Todesgötter«.34 Tatsächlich läge es nahe, die Wendung mit heidnischen Gottheiten in Verbindung zu bringen, da in den beiden folgenden Versen unzweideutig davon gesprochen wird, daß die Menschen der Idololatrie verfallen. Problematisch ist an dieser Interpretation allerdings, daß die Göttin Nenia in der Uberlieferung außer von Festus nur noch je einmal von Arnobius (nat. 4,7) und Augustinus (civ. 6,9 p. 266,13) erwähnt wird und daß insbesondere der Plural von nenia sonst nie mit Bezug auf die Göttin gebraucht wird, während er gerade in der Spätantike in der Bedeutung »Geschwätz, dummes Zeug« überaus häufig belegt ist.35 Man wird BUCHHEITS Deutung also eher nicht folgen, sondern bei der Übersetzung »leeres Gerede« bleiben. Richtig ist jedoch, daß die Wendung aufgrund der von der Horazreminiszenz geweckten Assoziationen eine besondere atmosphärische Färbung erhält: Zum einen wird mit inanes neniae die Vorstellung des hohlen Rituals evoziert, zu dessen Ablehnung durch Horaz die Prudentiuspassage in einem Verhältnis inhaltlicher Analogie steht; zum anderen verbindet sich mit der Reminiszenz auch der Gedanke an den Tod. Durch ihren Abfall vom Glauben an den einen Gott haben die Menschen ihr Leben verwirkt (vgl. die Fortsetzung cath. ll,39f.: ... et mancipatam fumido / uitam baratro inmerserant), und es bedarf der Erlösungstat Christi, um sie aus der Macht des Todes zu befreien:

32 Reminiszenz notiert von BERGMAN ζ. St.; außerdem von BREIDT 10, BUCHHEIT, Heilsplan 228f. und A Commentary on Horace, Odes by R. G. M. NLSBET and M. HUBBARD. Vol. II: Book II, Oxford 1978, zu carm. 2,20,21. 33 Ζ. B. LAVARENNE (»vaines sornettes«; vgl. LAVARENNE, Étude 496), THOMSON (»vain babblings«) und RIVERO GARCÍA (»vanas murmuraciones«). 34 BUCHHEIT, Heilsplan 228f. 35 Dies ergaben Suchen auf BTL-1, PHI #5.3, POESIS und CLCLT-3. Die Bedeutung »dummes Zeug« scheint erstmals bei Petron (46,4 und 47,10) vorzuliegen; als abwertenden Ausdruck für seine Fabeln benutzt das Wort bereits Phaedrus (3 prol. 10; 4,2,3); vgl. OLD s. v. nenia 5. Bei späteren Autoren überwiegt die Bedeutung »dummes Zeug« dann bei weitem (z. B. Tert. adv. Val. 29,4; Ambr. in psalm. 118 serm. 11,19; Paul. Noi. epist. 32,9; Hier, in 1er. 4,1,4; c. Vigil. 6; Hist. Aug. Alb. 12,12); die Bedeutung »Totenklage, Trauergesang« bleibt jedoch erhalten (z. B. Amm. 19,1,10). Wenn Ausonius in den Sammlungen Parentalia und Professores gelegentlich die nenia anredet (z. B. par. praef. 5; prof. 10,45), so ist hierbei sicherlich nicht an die Göttin zu denken; vielmehr dürfte es sich um eine Personifikation der Totenklage handeln.

3.3. Polemik gegen das Heidentum 45

... mortale corpus induit, ut excitato corpore mortis catenam frangerei hominemque portaret patri. (cath.

217

11,45-48)

Eine ä h n l i c h kritische H a l t u n g g e g e n ü b e r traditionellen V o r s t e l l u n g e n i m Z u s a m m e n h a n g m i t d e m T o d w i e in carm. 2 , 2 0 scheint H o r a z in carm. 1,4 e i n z u n e h m e n , w o sich in einer für ihn t y p i s c h e n W e i s e d e r G e d a n k e a n d e n F r ü h l i n g u n d seine F r e u d e n m i t d e m M o t i v d e s b e v o r s t e h e n d e n Tod e s verbindet. D e r A d r e s s a t Sestius w i r d aufgefordert, die s c h ö n e J a h r e s zeit g e b ü h r e n d z u genießen, d a d a s L e b e n s c h o n bald z u E n d e sein k a n n : 15

... uitae summa breuis spem nos uetat inchoare longam; iam te premet nox fabulaeque Manes et domus exilis Plutonia ... (carm. 1 , 4 , 1 5 - 1 7 )

Die g e n a u e B e d e u t u n g v o n fabulae

... Manes

a n dieser Stelle gibt Rätsel

auf: Ist fabulae Genetivattribut o d e r A p p o s i t i o n i m N o m i n a t i v ? 3 6 B e z e i c h n e t die J u n k t u r » t h e s h a d e s f a m e d in legend« 3 7 o d e r »die M a n e n , die m a n n u r v o m H ö r e n s a g e n kennt« 3 8 b z w . »die u n w i r k l i c h e n M a n e n « 3 9 ? Deutlich ist in j e d e m Fall, d a ß die E x i s t e n z i m Schattenreich als g e g e n ü b e r d e m H i e r u n d Jetzt w e r t l o s dargestellt w e r d e n soll - die domus exilis Plutonia erscheint g r a u u n d kahl i m Vergleich z u d e r heiteren F r ü h l i n g s l a n d s c h a f t . 4 0 Eine n e u t r a l e o d e r g a r positiv k o n n o t i e r t e Ü b e r s e t z u n g für fabulae nes

...

( e t w a »die b e r ü h m t e n M a n e n « ) d ü r f t e d a h e r a u s z u s c h l i e ß e n

Masein;

w a h r s c h e i n l i c h e r w i r d m i t d e m A u s d r u c k a n g e d e u t e t , d a ß die E x i s t e n z

36 Die Entscheidung in dieser schwierigen Frage legt den Interpreten noch nicht auf eine bestimmte inhaltliche Deutung fest; beide Varianten lassen eine neutrale Übersetzung wie »die Manen, von denen man spricht« ebenso zu wie eine eher negativ konnotierte (z. B. »die Manen der Ammenmärchen«), Mir scheint die Auffassung von fabulae als Apposition als die kühnere Ausdrucksweise den Vorzug zu verdienen, zumal dies auch von den Parallelen Pers. 5,152 (cinis et manes et fabula fies) und CE 1504,10 (fabulas Manes ubi rex coercet) nahegelegt wird. 37 So N I S B E T / H U B B A R D Z. St., die die Entscheidung, ob fabulae als Nominativ oder als Genetiv aufzufassen ist, bewußt offenlassen. 3 8 So K I E S S L I N G / H E I N Z E Z. St.: »fabula ist... das, wovon man >nur< spricht, ohne Sicheres darüber zu wissen.« 39 So die Übersetzung von B. K Y T Z L E R , Stuttgart 1978 (ND 1990). Ähnlich auch R O M A N O z. St.: fabula habe vermutlich »il significato negativo di >invenzioneArs poeticaHamartigenieVergilrezeption