Che. Die Biographie [6 ed.] 3-548-60122-7

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Che. Die Biographie [6 ed.]
 3-548-60122-7

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12.95

Das Buch Bekannt ist Ernesto »Che« Guevara als idealistischer Revolutionär, dessen Traum es war, Lateinamerika durch eine bewaffnete Revolution ein für allemal von Elend und Unterdrückung zu befreien. Dieses Buch verfolgt die Spuren des Freiheitskämpfers von der Kindheit bis zu sei­ nem gewaltsamen Tod. Mit Hilfe von Ches Witwe Aleida March, die sich erstmals zu einem Interview bereit erklärte, konnte der Autor auch Ches ganz persönliche Dokumente einsehen - so gelang es, die Kultfigur »Che« wieder zu dem Menschen werden

zu

lassen, der er wirklich war. Der Autor

Der Journalist Jon Lee Anderson arbeitete u. a. für die Magazine Time, Harper's, Life und Nation und trat als Autor des erfolgreichen Buches Guerrillas an die

Öffentlichkeit. Für die Recherchen drei Jahre auf Kuba.

zu

seiner Che-Biographie lebte er mit Familie

Jon Lee Anderson

CHE Die Biographie

Aus dem Amerikanischen von Barbara Steckhan , Gabriele Gockel Christiane Krieger, Sonja Schuhmacher Kollektiv Druck-Reif

List Taschenbuch

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Umwelthinweis:

Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt. List Verlag List ist ein Verlag des Verlagshauses Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG. 6. Auflage 2003 © 2002 für die deutsche Ausgabe by

Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG © 2001 für die deutsche Ausgabe by

Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München © 1997 für die deutsche Ausgabe by Paul List Verlag, München © 1997 by Jan Lee Anderson

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Che Guevara. A Revolutionary Life« bei Grove Press, New York Übersetzung: Barbara Steckhan, Gabriele Gockel, Christiane Krieger, Sonja Schuhmacher Kollektiv Druck-Reif Umschlagkonzept: Büro Meyer & Schmidt, München - ]arge Schmidt Umschlaggestaltung: Init GmbH, Bielefeld Titelabbildung: Rene Burri, Magnum/Agentur Focus Redaktion: Boris Heczko, Kollektiv Druck-Reif Satz: Franzis print & media GmbH, München Druck und Bindearbeiten: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 3-548-60122-7

Für Erica und in Gedenken an meine Mutter Barbara Joy Anderson 1928-1994

INHALT

Vorwort...........................................

9

ERSTER TEIL Unruhige Jugend 1 Eine Mate-Pflanzung in Misiones ...................

2 Das trockene Klima von Alta Gracia .................

24

3 Ein Junge mit vielen Namen . ......................

34

4 Auf eigenen Beinen . .............................

47

5 Flucht in den Norden .......

: ....................

65

6 »Ich bin nicht mehr derselbe wie zuvor« . . . .... . .....

84

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7 »Weder Ruhm noch Schande« . ..................... 109 8 »Mein Proletarierleben« . ... ...................... 134 9 »Die heilige Flamme in mir« ..... ........... ....... 152 ZWEITER TEIL Der Revolutionär 10 Das Desaster der Landung . .......... .. ...... ...... 169 11 Regen und Bomben .............................. 188 12 Magere Zeiten ... ..... .. .... .. ... .. .... .. .... .. 201 .

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13 Überall lauern Feinde . ............................ 220 14 Die Ausweitung des Krieges ........ ... .. 15 Die Schlußoffensive ............ ........

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.. ..... . 254 ..... ... 285

DRITTER TEIL Der neue Mensch 16 Der Chefankläger .. .......... .. ........ .. . . ... 321 .

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17 »Meine historische Pflicht« . ... ..... ............ . 359 .

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18 »Der Individualismus muß verschwinden« . .......... 386 19 Im Schatten der Atomwaffen .... . .... . ........ .. 418 .

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20 Prüfstein Guerilla.. . . .... .. ......... ....... : ... 455 .

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7

21 Der lange Abschied

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22 Die Geschichte eines Scheiterns 23 Es gibt kein Zurück

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24 Ein notwendiges Opfer

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Epilog: Der Fluch und die Träume

589 621 665

ANHANG Ergänzungen Danksagung

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Quellenkommentar

Ausgewählte Bibliographie Bildnachweis Register

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VORWORT

Es war eine eher beiläufige Äußerung, die bei einem langen Ge­ spräch im November 1995 fiel. Im Garten seines Hauses in einem Außenbezirk der bolivianischen Stadt Santa Cruz eröffnete mir der pensionierte General Maria Vargas Salinas, welche Rolle er bei der geheimen Bestattung jenes Mannes spielte, den er vor acht­ undzwanzig Jahren verfolgt hatte. Die Rede war von dem in Ar­ gentinien geborenen Revolutionär Ernesto »Che« Guevara. Damit wurde eines der am längsten gehüteten Geheimnisse La­ teinamerikas gelüftet. Im Oktober 1967 hatte das bolivianische Militär in Gegenwart eines CIA-Agenten Fidel Castros engsten Mitarbeiter gefangengenommen und ermordet, doch niemand wußte, was mit seiner Leiche geschehen war. Nun erzählte mir Vargas Salinas, daß Che - dem man die Hände abgeschnitten hat­ te - und mehrere seiner Genossen in einem Massengrab neben der Landebahn in der Nähe der bolivianischen Gebirgsstadt Valle­ grande begraben worden waren. Die Offiziere, die den berühmte­ sten und charismatischsten Guerillakämpfer der Welt schachmatt gesetzt hatten, verweigerten ihm ein Grab, weil es zur Pilgerstät­ te für seine Anhänger hätte werden können. Mit der Leiche, so hofften sie, würde auch der Mythos Che Guevara verschwinden. Statt dessen aber nahm der Mythos immer gewaltigere Dimen­ sionen an. Millionen trauerten um Ches Tod. Dichter und Philo­ sophen schrieben Elogen auf ihn, er wurde in Liedern besungen, sein Porträt erschien auf unzähligen heroischen Plakaten. Marxi­ stische Guerilleros in Asien, Afrika und Lateinamerika hielten sein Banner hoch, wenn sie in die Schlacht zogen. Und als die Jugend in den Vereinigten Staaten und Westeuropa gegen die etablierte Ord­ nung, den Vietnamkrieg und rassistische Vorurteile auf die Straße ging, wurde das Porträt Ches mit seinem herausfordernden Blick 9

das Symbol ihrer leidenschaftlichen, wenn auch im großen und ganzen vergeblichen Revolte. Ches Leichnam mochte verschwun­ den sein, aber sein Geist lebte weiter; Che existierte nicht mehr und war doch überall gegenwärtig. Wer war dieser Mann, der mit sechsunddreißig Jahren seine Frau und fünf Kinder verließ, auf seine Ehrenbürgerschaft, seinen Ministerposten und seinen Rang als Militärbefehlshaber im revo­ lutionären Kuba verzichtete, weil er hoffte, eine »Revolution auf dem ganzen Kontinent« in Gang zu setzen? Was trieb diesen Sohn einer aristokratischen argentinischen Familie, diesen Doktor der Medizin dazu, die Welt verändern zu wollen? All diese Fragen bewegten mich schon seit längerem. Mein In­ teresse für Che wurde erstmals in den achtziger Jahren geweckt, als ich für ein Buch über die heutigen Guerilla Recherchen anstellte. Dabei fiel mir auf, daß Che auf den Schlachtfeldern Birmas, EI Sal­ vadors, der Westsahara und sogar im islamischen Afghanistan im­ mer noch die Verehrung von Guerillakämpfern verschiedenster Couleur genoß. Seine Schriften über den Guerillakrieg und mehr noch die revolutionären Prinzipien, die er verkörperte - Selbstauf­ opferung, Integrität und leidenschaftliches Engagement für die Sa­ che -, hatten ganz unabhängig von der jeweiligen Ideologie und trotz der langen Zeit, die seit seinem Tod verstrichen war, ihre Gül­ tigkeit nicht verloren und übten auch auf die neue Generation der Kämpfer und Träumer eine große Faszination aus. Ich machte mich auf die Suche nach Literatur über Che Gueva­ ra. Es gab nur wenige Bücher, die noch lieferbar waren, und keine einzige nennenswerte aktuelle Biographie; die meisten waren ent­ weder offizielle kubanische Hagiographien oder nicht minder un­ interessante Verteufelungen aus der Feder seiner ideologischen Gegner. Da viele Einzelheiten im dunkeln lagen, wurde mir bald klar, daß Ches Biographie erst noch geschrieben werden mußte. Diese Lücken in seiner Geschichte aber gaben Rätsel auf, deren Lö­ sung, wie ich mehr und mehr erkannte, ein Licht auf höchst be­ deutsame, aber kaum bekannte Aspekte des Kalten Krieges werfen würde: die Unterstützung der Guerillabewegungen durch das re­ volutionäre Kuba und die zahlreichen Stellvertreterkriege in der Dritten Welt, die von Ost und West geführt wurden. Wie mir schien, war die Antwort auf die meisten Fragen in Ku­ ba zu finden. Als ich 1992 dorthin fuhr, herrschte große Verwir­ rung, denn soeben war die Sowjetunion auseinandergebrochen, die 10

dreißig Jahre lang ihre schützende Hand über Fidel Castro gehal­ ten hatte. Castro geriet ein wenig ins Wanken, doch er beugte sich nicht; unerschütterlich hielt er das Banner des Sozialismus hoch, obwohl das kubanische Staatsschiff unter ihm zu sinken drohte. Bei einem zweiten Besuch im selben Jahr lernte ich Ches Witwe Aleida March kennen, und sie erklärte sich bereit, mich bei meiner Biographie über ihren verstorbenen Ehemann zu unterstützen. Anfang 1993 zog ich mit meiner Familie nach Havanna, wo wir fast drei Jahre bleiben sollten. Ich versuchte, mit Hilfe von Ches Wit­ we - und darüber hinaus durch Recherchereisen nach Argentini­ en, Paraguay, Bolivien, Mexiko, Rußland, Schweden, Spanien und in die Vereinigten Staaten - herauszufinden, wer dieser Che Gue­ vara gewesen war und was sich in seinem Leben abgespielt hatte. Vor allem versuchte ich, etwas über den Menschen in Erfahrung zu bringen, der sich hinter dem Mythos Che verbarg. Das vorlie­ gende Buch ist das Ergebnis meiner fünfjährigen Bemühungen, diesem Ziel näher zu kommen. Der Mythos Che besitzt immer noch Faszination, er gibt Anlaß zu erbitterten Auseinandersetzungen und führt zu politischen Eklats. Die Informationen, die mir General Vargas Salinas anvertraute, leg­ ten eine Spur, die zu einer ganzen Kette neuer Erkenntnisse nicht nur über den Tod Che Guevaras, sondern auch über sein Leben führ­ te. Und sie riefen in Bolivien einen wahren Aufruhr hervor. Auf Drängen der Presse erteilte der bolivianische Präsident dem Militär den Auftrag, die Leichen Che Guevaras und der zwei Dut­ zend Guerilleros, die man mit ihm hatte verschwinden lassen, zu su­ chen und zu exhumieren. Das darauf folgende Spektakel, bei dem ehemalige Guerilleros, Soldaten und Gerichtsexperten unter den Blicken der Schaulustigen und Journalisten am Stadtrand von Val­ legrande den Boden aufgruben, riß in Bolivien viele alte Wunden auf: Die schmutzigen Einzelheiten einer lange als Staatsgeheimnis betrachteten Episode drohten ans Licht zu kommen. Die boliviani­ schen Streitkräfte befolgten zwar den Befehl ihres -zivilen -Präsi­ denten, waren aber verärgert über den »Verrat« von General Var­ gas Salinas, der schließlich unter Hausarrest gestellt wurde. In Vallegrande wurde die Suche fortgesetzt, doch wegen der ungenau­ en Angaben dauerte es mehrere Wochen, bis man endlich die Über­ reste von vier Guerilleros barg. Dann verlor sich die Spur abermals. Im Januar 1997 zumindest hatte man immer noch nicht gefunden, was man eigentlich suchte: das Skelett eines Mannes ohne Hände. 11

ERSTER TEIL

Unruhige Jugend

1

Eine Mate-Pflanzung in Misiones

Das Horoskop sorgte für Verwirrung. Falls der berühmte Gueril­ laführer und Revolutionär Ernesto »Che« Guevara wirklich am 1+ Juni 1928 das Licht der Welt erblickt hatte, wie es in seiner Ge­ burtsurkunde stand, dann war er ein Zwilling - und ein besonders langweiliger noch dazu. Die Astrologin, eine Freundin von Ches Mutter, rechnete mehrmals nach, doch das Ergebnis war immer dasselbe: Laut Horoskop war Che ein farbloser, unselbständiger Mensch, der ein eintöniges Leben führte. Entweder stimmte ihr persönliches Urteil über Che, oder ihre astrologischen Fähigkeiten waren keinen Pfifferling wert. Als man ihr das triste Horoskop zeigte, mußte Ches Mutter la­ chen. Dann vertraute sie ihrer Freundin ein Geheimnis an, das sie seit mehr als drei Jahrzehnten wohl gehütet hatte. In Wirklichkeit war ihr berühmter Sohn einen Monat eher zur Welt gekommen, am 14. Mai. Somit war er also kein Zwilling, sondern ein willens­ starker, entschlossener Stier. Auf dieses T äuschungsmanöver hatte sie zurückgreifen müssen, weil sie am Tag ihrer Hochzeit mit Ches Vater schon im dritten Monat schwanger war. Deshalb zog das Paar auch gleich nach der Hochzeit aus Buenos Aires fort und ließ sich im Dschungel von Misiones nieder. Während Celias Mann eine Mate-Pflanzung aufbaute, trug sie fernab von den neugierigen Blicken der Gesellschaft in Buenos Ai­ res das Kind aus. Als der Geburtstermin näherrückte, fuhr sie in die Stadt Rosario am Rio Parana, wo sie von ihrem Sohn entbun­ den wurde. Und um dem Paar einen Skandal zu ersparen, setzte ein befreundeter Arzt einen um einen Monat späteren Geburtstermin in die Urkunde. Als der Säugling einen Monat alt war, erzählten die beiden El-

tern ihren Angehörigen, sie hätten versucht, nach Buenos Aires zu kommen, doch in Rosario hätten bei Celia vorzeitige Wehen ein­ gesetzt. Ein Sieben-Monats -Kind ist schließlich nicht so selten. So­ fern von den Freunden und Verwandten jemand Zweifel an dem Geburtsdatum hegte, behielt er sie für sich. Wäre das Kind nicht zu dem berühmten Revolutionär »Che« Guevara herangewachsen, hätten die Eltern ihr Geheimnis wahr­ scheinlich mit ins Grab genommen. Jedenfalls gehört Che zu den wenigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, bei denen so­ wohl das Geburts- als auch das Todesdatum gefälscht wurden. Aber irgendwie paßt es ins Bild, daß schon die Geburt des Mannes, der den Großteil seines Lebens mit konspirativen Aktivitäten verbrin­ gen und schließlich einer Verschwörung zum Opfer fallen sollte, von einem Geheimnis umgeben war.

II Als Ernesto Guevara Lynch im Jahre I927 seine zukünftige Frau Celia de la Serna kennenlernte, hatte sie gerade die exklusive ka­ tholische Mädchenschule Sacre-Coeur abgeschlossen. Die auffal­ lend schöne Zwanzigjährige mit der gebogenen Nase, dem lockigen dunklen Haar und den braunen Augen entstammte einer der besten Familien Argentiniens, die ihre Ursprünge direkt auf die spanischen Eroberer zurückführen konnte. Bei Erreichen der Voll­ jährigkeit sollte Celia, seit der Kinderzeit Vollwaise, ein ansehn­ liches Vermögen erben. Der siebenundzwanzigjährige Ernesto Guevara Lynch hingegen war weder besonders groß noch besonders attraktiv. Er hatte ein markantes Kinn und ausgeprägte Backenknochen, und mit seiner Brille - er litt unter Astigmatismus - hätte er eher wie ein durch­ schnittlicher Büroangestellter gewirkt, wenn da nicht sein über­ schwengliches, geselliges Wesen, sein aufbrausendes Temperament und seine blühende Phantasie gewesen wären. Auch er stammte aus einer angesehenen Familie; sein Urgroßvater war einer der reich­ sten Männer Südamerikas gewesen, und zu seinen Vorfahren zähl­ ten sowohl spanische als auch irische Adlige. Allerdings hatte die Familie den Großteil des Vermögens im Laufe der Jahre verloren. Als Ernesto Guevara Lynch neunzehn war, starb sein Vater, und der junge Mann brach sein Architektur- und Ingenieurstudium ab.

Er suchte das Abenteuer, wollte sein Glück machen, und als Start­ kapital diente ihm dazu das bescheidene Erbe seines Vaters. Den Großteil dieses Vermögens investierte er bei einem reichen Verwandten in eine Jachtwerft. Doch obwohl er in der Astillero San Isidro eine Zeitlang als Aufseher tätig war, konnte das Unter­ nehmen sein Interesse nicht auf Dauer fesseln. Und so ließ er sich zu der Zeit, als er Celia kennenlernte, nur zu gern für ein neues Projekt begeistern. Ein Freund erzählte ihm, er könne ein Vermö­ gen machen, wenn er eine Pflanzung mit yerba mate betriebe, je­ nem stimulierenden Tee, den Millionen von Argentiniern liebten. Wenn man von Buenos Aires tausendachthundert Kilometer den Parana flußaufwärts fährt, gelangt man nach Misiones, jener nördlichen Region, wo Argentinien an Paraguay und Brasilien grenzt. In diesem traditionellen Mate -Anbaugebiet war Land bil­ lig. Doch Guevara Lynchs Vermögen steckte noch in der Jacht­ werft. Das Paar war auf Celias Erbe angewiesen, um das Land für die Mate-Pflanzung zu kaufen und in das lukrative Geschäft mit dem »grünen Gold« einzusteigen. Doch Celias gesamte Familie sprach sich gegen eine Heirat mit diesem unliebsamen Bewerber aus. Celia, die noch nicht einund­ zwanzig war, brauchte die Zustimmung ihrer Angehörigen - so­ wohl zur Heirat als auch, um das Erbe überschrieben zu bekom­ men. Trotz all ihrer Bitten wurde ihr das Einverständnis verwehrt. Da sie inzwischen schwanger war, brannte sie mit Ernesto durch, und die Verzweiflungstat des jungen Paares zeitigte den ge­ wünschten Erfolg. Die Familie erklärte sich mit der Heirat einver­ standen; um an ihr Erbe zu gelangen, mußte Celia allerdings ge­ richtliche Schritte einleiten. Ein Richter sprach ihr einen Teil des Vermögens zu: eine Getreide- und Rinder-estancia in der Provinz C6rdoba und einige Obligationen aus ihrem Treuhandfonds. Das reichte aus, um in Misiones eine Mate-Pflanzung zu erwerben. Am 10. November 1927 wurde das Paar im Haus einer verhei­ rateten älteren Schwester Celias getraut. Gleich danach flüchteten sie sich aus Buenos Aires in die Wälder von Misiones. »Wir über­ legten uns gemeinsam, wie unser Leben aussehen sollte«, schreibt Guevara Lynch in einem viele Jahre später veröffentlichten Rück­ blick. »Die Frömmelei, die Prüderie, den engen Kreis von Freunden und Verwandten, die unsere Heirat verhindern wollten, ließen wir hinter uns.«

III Mit Celias Geld kaufte Guevara Lynch zweihundert Hektar Ur­ wald an den Ufern des Rio Parana. Auf einer Anhöhe über den kaf­ feebraunen Fluten und den dichten grünen Wäldern auf der ande­ ren Seite des Flusses, die bereits zu Paraguay gehörte, ließen sie ein geräumiges Holzhaus auf Pfählen errichten. Zwar hatten sie die Annehmlichkeiten von Buenos Aires hinter sich gelassen, doch Guevara Lynch war begeistert. Er betrachtete den Urwald mit dem Auge eines Unternehmers, und seiner Vorstellung nach konnte die Zukunft nur glänzend werden. Vielleicht hoffte er, wie einst seine Vorfahren sein Glück zu ma­ chen und reich zu werden, indem er sich mit einem kühnen Schritt in unerschlossenes Gebiet vorwagte. Für ihn war dies nicht eine der vielen rückständigen Provinzen Argentiniens, sondern ein aufre­ gendes Land mit »wilden Tieren, gefährlichen Aufgaben, Raub und Mord, Wirbelstürmen, endlosem Regen und tropischen Krankhei­ ten«. Ihr Wohnhaus lag in einem Ort namens Puerto Caraguatai -der Name der eingeborenen Guarani für eine schöne rote Blume. Der puerto allerdings war nicht mehr als ein einfacher Holzsteg. Von hier aus gelangte man in zwei Tagen zu dem alten Handelsposten Posadas, der Nachbarort, eine kleine deutsche Siedlung namens Montecarlo, lag knapp acht Kilometer entfernt. Einige Monate lang genossen die Guevaras ihr neues Leben, sie richteten sich ein und erkundeten die Umgebung. Sie angelten, machten Bootsausflüge, ritten oder fuhren auf ihrem von einem Maultier gezogenen Einspänner nach Montecarlo. Doch die Flitterwochen fanden bald ein Ende. Nach ein paar Mo­ naten war Celia hochschwanger, und es wurde Zeit, in die Zivilisa­ tion zurückzukehren, wo sie bei der Geburt mit größerem Komfort und besserer medizinischer Versorgung rechnen konnte. Das Paar fuhr flußabwärts nach Rosario. In dieser 300000 Einwohner zählenden, bedeutenden Hafenstadt am Parana bekam Celia ihren Sohn Ernesto Guevara de la Serna. Während Celia sic;h von »Ernestitos« Geburt erholte, wohnten die Guevaras in einer geräumigen Wohnung in einem Neubau­ komplex nahe dem Zentrum von Rosario, die sie extra zu diesem Zweck angemietet hatten und die auch in der Geburtsurkunde an­ geführt ist. Sie mußten allerdings länger bleiben, als geplant: Kurz

nach der Geburt erkrankte der Säugling an einer Lungenentzün­ dung. Guevara Lynchs Mutter Ana Isabel und seine unverheirate­ te ältere Schwester Ercilia kamen, um bei der Pflege zu helfen. Laut Ches jüngerem Bruder Roberto hat die Mutter ihm erzählt: »Ernesto wurde am 14. Juni 1928 in Rosario in einem Kranken­ haus geboren. Auf der Geburtsurkunde steht die Adresse, wo wir in den ersten Tagen gewohnt haben, nicht der wirkliche Ort seiner Geburt.« Doch wie Celia später Julia Constenla de Giussani mitteilte (eben jener Freundin, die bei einer gemeinsamen Bekannten Ches Geburtshoroskop in Auftrag gegeben hatte), wurde Che in einem Krankenhaus geboren, und zwar am gleichen Tag, zur gleichen Stunde, in dem einer der streikenden Dockarbeiter namens »Dien­ te de Üro« (Goldzahn) an den Folgen einer Schußwunde starb. In den vergilbten Archivexemplaren von Rosarios Tageszeitung La Capital finden wir den Rest der Geschichte. Im Mai war es während eines Aufstandes der Hafenarbeiter von Rosario zu ge­ waltsamen Auseinandersetzungen mit bewaffneten Streikbre­ chern gekommen. Am 13. Mai erlitt einer der Streikenden, ein ge­ wisser Ram6n Romero alias »Diente de Üro«, bei einem Tumult am Hafen San Martin einen Kopfschuß. Am Morgen des darauf­ folgenden Tages, am 14. Mai 1928, erlag er im Krankenhaus Granaderos a Caballo in San Lorenzo, etwa zwanzig Kilometer nördlich von Rosario, seiner Verletzung.

IV Nach einer hektischen Besuchstour bei ihren Angehörigen in Bue­ nos Aires, wo sie ihren Sohn präsentierten, kehrten die Guevaras in ihr Gutshaus in Misiones zurück. Guevara Lynch unternahm nun ernsthafte Anstrengungen, sei­ ne Plantage in Schwung zu bringen. Er stellte einen paraguay­ ischen Vorarbeiter oder capataz namens Curtido ein, der das Roden der Lichtungen und das Pflanzen des ersten Mate beauf­ sichtigen sollte. Als Guevara Lynch Helfer anwerben wollte, sah er sich jedoch mit dem alten System der Zwangsarbeit konfrontiert, das in den abgelegenen Gegenden noch gang und gäbe war. In Misiones stellten die Wald- und Plantagenbesitzer gewöhn­ lich indianische Arbeiter vom Stamm der Guarani ein. Diese soge-

nannten mensu erhielten einen festen Vertrag und einen Vorschuß auf die zukünftigen Leistungen. Der schmale Lohn, der sich nach der Höhe ihres Ertrags richtete, wurde den mensu jedoch nicht in .Bargeld ausgezahlt, sondern in Gutscheinen, mit denen sie sich in den plantageneigenen Läden das lebensnotwendige kaufen konn­ ten. Aufgrund der überhöhten Preise reichte ihr Gehalt allerdings nicht aus, so daß sie Schulden machen mußten. Das System war so angelegt, daß sie diese praktisch nie begleichen konnten. Bewaff­ nete Wächter; genannt capangas, beaufsichtigten die Arbeiter, und nicht selten griffen sie zu Gewehr oder Machete, um ihre Flucht zu verhindern. Wenn ein mensu den capangas doch einmal entkam, wurde er von der Polizei gejagt und zu den patrones zurückge­ bracht. Zwar stellte auch Guevara Lynch mensu ein, doch zu ganz anderen Bedingungen als der Rest der Großgrundbesitzer. Entsetzt über die Geschichten, die er hörte, bezahlte er seine Arbeiter in bar, und noch viele Jahre später sprachen die Einheimischen von ihm als einem »guten Menschen«. Während sich Guevara Lynch seiner Plantage widmete, kam sein kleiner Sohn in das Alter, wo er laufen lernte. Zur Übung gab ihm sein Vater oft einen kleinen Topf Mate und schickte ihn damit zur Köchin, die ihn erhitzen sollte . Ernestito stolperte häufig, doch grimmig rappelte er sich immer wieder auf und setzte seinen Weg fort . Aufgrund der hartnäckigen Insektenplage in Caraguatai bür­ gerte sich ein anderes Ritual ein: Abends, wenn der Sohn in seinem Bettchen schlief, schlichen sich Guevara Lynch und Curtido leise in sein Zimmer; und während der patron die Taschenlampe hielt, entfernte Curtido vorsichtig mit der Glut seiner Zigarette die Pa­ rasiten, die sich im laufe des Tages dem Jungen ins Fleisch gebohrt hatten. Im März 1929 war Celia zum zweitenmal schwanger. Für den noch nicht einjährigen Ernestito wurde ein junges Kindermädchen galicischer Abstammung eingestellt. Carmen Arias war eine echte Bereicherung für den Haushalt; sie arbeitete bei den Guevaras bis zu ihrer Heirat acht Jahre später und blieb der Familie auch danach freundschaftlich verbunden. Doch mittlerweile gerieten Celia und Guevara Lynch aufgrund ihres unterschiedlichen Charakters immer öfter aneinander. Die eher reservierte Celia war eine Einzelgängerin, und Angst war für sie offenbar ein Fremdwort, während ihr gefühlsbetonter Mann ständig Menschen um sich herum brauchte, sich unausgesetzt Sor20

gen machte und sich dank seiner lebhaften Einbildungskraft stets von Gefahren umgeben sah. Aber dies waren nur die ersten Anzeichen ehelicher Unstim­ migkeiten; die Guevaras hatten sich noch nicht auseinandergelebt. Sie unternahmen gemeinsame Ausflüge; sie ritten durch den Dschungel - der kleine Ernesto saß bei seinem Vater im Sattel oder erkundeten den Fluß auf der Kid, einer Barkasse mit vier Ko­ jen, die Guevara Lynch auf der Astillero San lsidro gebaut hatte. Ende 1929 machte sich die Familie erneut auf die lange Reise flußabwärts nach Buenos Aires. Das Land war gerodet, der Mate gepflanzt, doch Celia stand kurz vor der Entbindung, und Gueva­ ra Lynch mußte sich um die Astillero San lsidro kümmern. In sei­ ner Abwesenheit hatten sich die Geschäfte schlecht entwickelt, und einer der Investoren war aus der Firma ausgeschieden. Ei­ gentlich wollten sie nur wenige Monate fortbleiben, doch als Fa­ milie sollten sie nie mehr nach Caraguataf zurückkehren. Die »schwierigen, aber sehr glücklichen Jahre«, wie Ernesto Guevara Lynch sie nennt, waren vorbei.

V Wieder in Buenos Aires, mietete Guevara Lynch für seine Familie einen Bungalow auf dem Grundstück eines großen Prachtbaus aus der Kolonialzeit, der seiner Schwester gehörte. Von dort war es nicht weit zur maroden Bootswerft in dem Vorort San lsidro. Kurz nach ihrem Einzug im Dezember gebar Celia ihr zweites Kind. Sie tauften das kleine Mädchen nach seiner Mutter Celia. In den nächsten Monaten unternahm die Familie vor allem Ausflüge zum Jachtclub von San lsidro, in der Nähe der Stelle, wo der Pa­ rana und der Uruguay-Fluß zusammenfließen und den Rio de la Plata bilden. Bei Guevara Lynchs Ankunft stand die Bootswerft kurz vor dem Konkurs, da sich sein Partner German Frers, ein Vetter zweiten Grades, nicht gerade als geschäftstüchtig erwiesen hatte. Nur we­ nige Monate später, und sein Vermögen wäre verloren gewesen. Doch dann wurde die Werft von einem Feuer zerstört. Boote, Holz und Farben, alles ging in Flammen auf. Wäre die Werft versichert gewesen, hätte man den Brand als glückliche Fügung bezeichnen können. Doch German Frers hatte 21

vergessen, die Versicherung zu bezahlen, und so löste sich Gueva­ ra Lynchs Erbe über Nacht in Rauch auf. Ihm blieb nichts als die Barkasse Kid und eine Zwölf -Meter-Jacht, die ihm Frers als klägli­ che Entschädigung überließ. Noch war nicht alles verloren, denn die Jacht hatte einen gewis­ sen Wert, und die Guevaras besaßen noch die Plantage in Misio­ nes, die in ihrer Abwesenheit von einem alten Freund der Familie verwaltet wurde. Mit etwas Glück würden sie mit den jährlichen Ernteeinkünften über die Runden kommen. Zudem hatten sie die Erträge aus Celias Gut in C6rdoba und zahlreiche Freunde und Verwandte, sie nagten also nicht am Hungertuch. Und so machte sich Guevara Lynch zu Beginn des Jahres 1930 offensichtlich keine großen Sorgen um die Zukunft. Einige Mona­ te genoß die Familie das Leben, man segelte am Wochenende mit Freunden auf der Jacht und veranstaltete auf einer der unzähligen Inseln im Flußdelta Picknicks. Im März 1930 ging Celia mit ihrem zweijährigen Sohn zum Schwimmen in den Jachtclub. In Argentinien war bereits der Herbst angebrochen, der Tag war windig und kalt. Am Abend be­ kam der Junge starken Husten, und der Arzt stellte einen Anfall von Bronchialasthma fest. Obwohl er dem Jungen die üblichen Medikamente verschrieb, dauerte der Anfall mehrere Tage an. Wie die Familie bald feststellen mußte, war ihr Sohn an chronischem Asthma erkrankt, das ihn sein Leben lang begleiten sollte. Die Anfälle, in denen Ernestito keuchend nach Luft rang, kehr­ ten wieder und wurden stärker, und seine Eltern litten Höllenqua­ len. Verzweifelt suchten sie medizinischen Rat, sie probierten jede nur denkbare Behandlungsmethode aus, doch ohne Erfolg. Die At­ mosphäre im Haus war vergiftet. Guevara Lynch machte seiner Frau wegen ihres Leichtsinns an jenem Tag Vorwürfe und gab ihr die Schuld an der Krankheit ihres Sohnes. Doch damit tat er ihr Unrecht. Celia litt selbst unter zahlreichen Allergien, darunter auch Asthma, und wahrscheinlich hatte Erne­ stito die Veranlagung dazu von ihr geerbt. Später zeigten sich auch bei einigen seiner Geschwister Anzeichen von Allergien und Asth­ ma. Daß der Junge dem kalten Wasser und dem Wind ausgesetzt war, hatte vermutlich nur die Symptome ausgelöst, die bereits in ' ihm schlummerten. Wie auch immer, mit Ernestos Asthma war eine Rückkehr in das feuchtwarme Klima von Puerto Caraguataf ausgeschlossen. Selbst 22

in San Isidro, in der Nähe des Rfo de la Plata, war die Luftfeuchtig­ keit zu hoch für den Jungen. Daher zogen die Guevaras 1931 in ei­ ne Mietwohnung in Buenos Aires in der Nähe des Palermo-Parks. Im Mai 1932 gebar Celia ihr drittes Kind, einen Jungen, der Roberta getauft wurde. Die kleine Celia mit ihren eineinhalb Jah­ ren machte ihre ersten Gehversuche, und der vierjährige Ernesto lernte in den Parkanlagen Fahrradfahren. Doch der Umzug brachte nicht die erhoffte Heilung. Guevara Lynch empfand die Krankheit als Fluch: »Schon bald beeinflußte Ernestos Asthma alle unsere Entscheidungen. Mit jedem Tag wur­ de unsere Bewegungsfreiheit weiter eingeschränkt, und mit jedem Tag fühlten wir uns stärker auf Gedeih und Verderb dieser ver­ dammten Krankheit ausgeliefert.« Auf Anraten der Ärzte fuhren die Guevaras in das zentrale Hochland der Provinz C6rdoba, wo ein trockenes Klima herrschte. Mehrere Monate lang pendelten sie zwischen C6rdoba und Bue­ nos Aires hin und her, wohnten in Hotelzimmern und gemieteten Häusern, doch Ernestos Anfälle kamen und gingen ohne jedes er­ kennbare Muster. Guevara Lynch, der nicht in der Lage war, sich um seine Geschäfte zu kümmern oder ein neues Unternehmen zu gründen, wurde immer unzufriedener. Mittlerweile drängte sie ihr Arzt, mindestens vier Monate in C6rdoba zu bleiben, damit Ernesto sich erholen konnte. Auf Anra­ ten einer Freundin entschieden sie sich für Alta Gracia, einen klei­ nen Kurort zu Füßen der Sierra Chicas. Sie ahnten nicht, daß sie die nächsten elf Jahre dort verbringen sollten.

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Das trockene Klima von Alta Gracia

Ernestos Asthma wurde in Alta Gracia zwar besser, doch die An­ fälle kehrten immer wieder. Zu Beginn wohnte die Familie in ei­ nem von Deutschen geführten Kurhotel für lungenkranke in den Hügeln am Ortsrand. Für Celia und die Kinder gestalteten sich die Tage an diesem idyllischen Ort wie nicht enden wollende Ferien. Sie unternahmen Ausflüge zu den Badeseen, erkundeten die Ge­ gend auf Maultieren und schlossen Bekanntschaft mit den Einhei­ mischen. Doch Guevara Lynch ging seine eigenen Wege. Ihr Ver­ mögen schmolz dahin, und es trieb ihn zur Verzweiflung, daß er keine Arbeit finden konnte. Er fühlte sich in den Bergen von der Welt abgeschottet und litt an Schlaflosigkeit. Nächtelang lag er wach in seinem Hotelbett und wurde immer depressiver. Die Sorge um Ernestos Gesundheit hatte die Guevaras nach Al­ ta Gracia gebracht, und sie sollte auch zukünftig in einem be­ trächtlichen Ausmaß ihr Leben bestimmen. Da sich nach einigen Monaten Ernestos Zustand sichtlich besserte, beschlossen sie, auf unbestimmte Zeit in Alta Gracia zu bleiben. Durch das trockene Klima hatte sich sein Zustand »stabilisiert«; die Anfälle, die in Bue­ nos Aires chronisch gewesen waren, wurden seltener. Trotz seiner Krankheit war er mit fünf Jahren ein lebhafter, übermütiger Junge und spielte mit den barras den Banden einheimischer Kinder -

Krieg, Räuber und Gendarm oder sauste mit ihnen auf dem Fahr­ rad durch die Straßen von Alta Gracia. Guevara Lynch mietete für die Familie die einstöckige »Villa Chichita«, von der man zur einen Seite auf die Ausläufer der Sier­ ra und zur anderen auf die weiten sonnenverbrannten Ebenen vor der Stadt C6rdoba blickte. Im Januar 1934 bekam Celia ihr viertes Kind, ein Mädchen, das nach der Großmutter väterlicherseits Ana Marfa getauft wurde. 24

Ernesto, der mit seinen Geschwistern Celia und Roberta häufig in Streit geriet, übernahm bei seiner jüngsten Schwester die Be­ schützerrolle. Er machte mit ihr Spaziergänge, erzählte ihr Ge­ schichten, und wenn sein Atem keuchend ging, lehnte er erschöpft den Kopf an ihre Schulter. Familienfotos zeigen Ernesto als untersetzten Fünfjährigen mit einem breiten, blassen Gesicht und einem wirren dunklen Haar­ schopf. Was er denkt, verrät die Kamera nicht, er wirkt verschlos­ sen und in sich gekehrt. Auf einem Foto zwei Jahre später ist er dünner, das Gesicht wirkt schmal und eingefallen, ohne Zweifel die Folgen eines langanhaltenden Asthmaanfalls. Die Guevaras zogen in Alta Gracia mehrmals um. Am längsten wohnten sie noch in der» Villa Nydia«, wo sie sich auch am ehe­ sten zu Hause fühlten. Doch obwohl sie nicht viel kostete, sah sich Guevara Lynch oft nicht in der Lage, die Miete zu zahlen. Guevara Lynch steckte in einer Zwickmühle. Wegen Ernestos Krankheit konnte die Familie nicht nach Buenos Aires zurückkeh­ ren, doch vor Ort fand er keine Arbeit. Er hatte all seine Hoffnun­ gen in die Plantage in Misiones gesetzt, aber die Marktpreise für Ma­ te waren gefallen, und wegen der anhaltenden Dürre brachte Celias estancia in Südc6rdoba kaum noch etwas ein. Immerhin war das Le­ ben billig in Alta Gracia, und die anderen Kinder waren gesund. An den Lebensumständen der Familie sollte sich auch in den nächsten Jahren nichts ändern. Nach Meinung von Freunden und Verwandten waren es hauptsächlich die Einkünfte aus Celias Wertpapieren, die der Familie in den dreißiger Jahren über die Runden halfen. Trotzdem waren die Guevaras in das gesellschaftliche Leben des Kurhotels fest eingebunden. Sie hatten zwar kein Geld, doch sie gehörten der»richtigen« Gesellschaftsschicht an, sie hatten einen Namen und das entsprechende Auftreten. Rosario Lopez, die Köchin der Guevaras in der Villa Nydia, mußte immer wieder morgens die Kinder versorgen und bis zum Mittag beschäftigen, wenn die Eltern im Kurhotel die Nacht durchgefeiert hatten und erst spät aufstanden. Die Guevaras hatten»Stil«, das konnten alle ihre Bekannten be­ stätigen. Sie schienen mit der scheinbar angeborenen Zuversicht der Reichen gesegnet, daß sich eines Tages alles zum Guten wen­ den wird - und wenn nicht, dann würden ihnen Freunde und Ver­ wandte unter die Arme greifen.

Es sollte eine Weile dauern, bis Guevara Lynch aus seinen neu­ en Beziehungen in Alta Gracia Kapital schlagen und Arbeit finden konnte. 1941 erhielt er den Auftrag, den Golfplatz des Kurhotels zu erweitern und zu modernisieren. Eine Zeitlang war der Lebens­ unterhalt der Familie also gesichert; über weitere bezahlte T ätig­ keiten des Vaters während des langjährigen Aufenthalts in Alta Gracia ist jedoch nichts bekannt.

II Wegen seines Asthmas kam Ernesto erst mit neun Jahren in eine reguläre Schule. Bis dahin hatte Celia ihn zu Hause unterrichtet und ihm Lesen und Schreiben beigebracht. Zweifellos festigte sich in dieser Zeit die enge Beziehung, die zwischen ihnen bestand. Bereits im Alter von fünf Jahren zeigten sich bei Ernesto Züge, die denen seiner Mutter in vielerlei Hinsicht ähnlich waren. Beide liebten sie die Gefahr, sie waren von Natur aus rebellisch und ei­ gensinnig und empfanden tiefes, echtes Mitgefühl für andere. Schon früh entwickelte Ernesto also eine besondere Beziehung zu einem Elternteil, und auch unter den Verwandten hatte er seine »Lieblinge« - seine unverheiratete Tante Beatriz und Ana Isabel, die Großmutter väterlicherseits. Die kinderlose Beatriz hatte Ernesto besonders ins Herz ge­ schlossen und überschüttete ihn mit Geschenken. Einer von Erne­ stos ersten »Briefen« stammt aus dem Jahre 1933. Darin berichtet er seiner Tante Beatriz, sein Asthma sei besser geworden. Unter den offensichtlich von den Eltern geschriebenen Text hatte der Fünfjährige mühsam »Tete« gekritzelt - der Spitzname, den die Tante ihm gegeben hatte und der von der Familie übernommen worden war. Auch als Ernesto zehn Jahre alt war, bereitete sein Asthma den Eltern Sorgen. Um die Ursache für seine Beschwerden herauszu­ finden, führten sie Buch über seine Aktivitäten, sie achteten auf die Luftfeuchtigkeit, hielten fest, was er gegessen hatte und welche Kleidung er trug. Sie besorgten ihm neue Bettwäsche, entfernten Vorhänge und Teppiche aus seinem Zimmer, ließen Kissen und Matratze neu ausstopfen, staubten die Wände ab und verbannten alle Haustiere aus Wohnung und Garten. Nichts half. Guevara Lynch griff sogar auf Wundermittel zurück und ließ seinen Sohn

mit einer Katie im Bett schlafen. Doch am nächsten Morgen war das Asthma immer noch da und die Katze tot, offenbar erdrückt vom schlafenden Jungen. Schließlich mußten die Guevaras einsehen, daß Ernestos Anfäl­ le nicht nach einem erkennbaren Muster auftraten. Sie konnten le­ diglich versuchen, die Krankheit einzudämmen. Da es dem Jungen nach dem Schwimmen offenbar besser ging, traten sie dem Schwimmclub des Kurhotels bei. Aber in anderen Dingen mußte er sich auch einschränken. Bestimmte Nahrungsmittel, die bei ihm Asthma auslösten - wie Fisch -, wurden von seinem Speiseplan verbannt, und in akuten Asthmaphasen mußte er eine strikte Diät einhalten. So gewöhnte sich Ernesto Verhaltensmuster an, denen er sein ganzes Leben treu bleiben sollte. Schon als Kind legte er während einer solchen Diät eine außergewöhnliche Selbstdisziplin an den Tag, doch kaum war der Anfall vorbei, holte er das Ver­ säumte nach. Er stand in dem Ruf, ungeheure Mengen auf einmal verschlingen zu können. Da Ernesto oft tagelang ans Bett gefesselt war, las er viel und spielte Schach, was ihm sein Vater beigebracht hatte. Auch diese Vorlieben sollten ihn sein Leben lang begleiten. In seinen asth­ mafreien Phasen konnte den Jungen jedoch nichts davon abhalten, seine körperliche Leistungsfähigkeit zu erproben und sich mit Gleichaltrigen zu messen. Er spielte Fußball, Golf und zeigte Ge­ schick beim Tennis. Er lernte reiten, übte sich am örtlichen Schieß­ stand als Schütze, schwamm im Becken des Kurhotels oder in den Stauseen der Umgebung, unternahm Bergtouren und beteiligte sich an den Faustkämpfen zwischen den rivalisierenden barras. Trotz der Einwände ihres Mannes ermutigte Celia ihren Sohn zu diesen sportlichen Aktivitäten. Er sollte so normal wie möglich aufwachsen. Doch die Folgen waren manchmal verheerend: Bis­ weilen mußte ein keuchender, erschöpfter Ernesto von seinen Freunden nach Hause gebracht werden. Aber das hielt ihn nicht davon ab, sich beim nächstenmal wieder völlig zu verausgaben. Guevara Lynch besaß nicht die Autorität, um seinen Sohn zu bändigen, und Celia versuchte es erst gar nicht. Infolgedessen wur­ de Ernesto immer ungebärdiger und widerspenstiger. Um sich der Strafe für ein Vergehen zu entziehen, flüchtete er sich in die Wäl­ der und kehrte erst zurück, wenn die Angst der Eltern um den Jun­ gen größer war als ihr Zorn. Doch laut Carlos Figueroa, einem Freund aus jenen Tagen, gab es noch einen anderen Grund für Er-

nestos »Flucht in den Busch«: So entkam er den Streitereien der El­ tern, die Carlos als »entsetzlich« empfand. Ob diese Szenen Ernesto so aufwühlten, daß sich sein Asthma verschlimmerte, weiß man nicht, doch in einem sind sich Freunde und Angehörige der Familie einig: In Alta Gracia kam es zwischen Celia und Guevara Lynch regelmäßig zu lautstarken Auseinander­ setzungen. Beide waren leicht erregbar, und ihre häuslichen Dis­ pute wurden so heftig geführt, daß sie in Alta Gracia bald Stadtge­ spräch waren. Eine Ursache für die ehelichen Zwistigkeiten waren sicherlich die anhaltenden Geldsorgen, zumal Guevara Lynch seiner Frau die Schuld an Ernestos Erkrankung und der mißlichen Lage gab, in die sie dadurch geraten waren. Doch nach Aussage von Celias engeren Freunden war der Hauptgrund wohl in Guevara Lynchs Affären mit anderen Frauen zu suchen, die in einer so kleinen Gemeinde wie Alta Gracia kaum verborgen bleiben konnten. Aber da Schei­ dung in Argentinien noch verboten war - und wahrscheinlich auch um der Kinder willen-, blieben die Eheleute zusammen. Eines Tages erschien ein Beamter der Schulbehörde bei den El­ tern und forderte sie auf, Ernesto zur Schule zu schicken. Damit fand seine Huckleberry-Finn-Phase ein jähes Ende. Ernesto war zu diesem Zeitpunkt fast neun Jahre alt. Zwar konnte er dank des Un­ terrichts seiner Mutter die ersten zwei Schuljahre überspringen, dennoch war er bei seiner Einschulung in der Escuela San Martin im März 1937 ein Jahr älter als seine Klassenkameraden. In seiner Grundschulzeit war Ernesto ein unverbesserlicher Aufschneider. Ob nun aus Übermut oder um das vermeintliche Stigma der Krankheit zu überspielen, entwickelte er sich zu einem Draufgänger, der die Erwachsenen vor den Kopf stieß und seinen Altersgenossen Respekt einflößte. Seine früheren Klassenkamera­ den können eine Unzahl von Streichen aufzählen: er trank Tinte, aß während des Unterrichts Kreide, kletterte auf die Bäume im Pausenhof, ließ sich an den Händen von einer Eisenbahnbrücke herabhängen, die sich über eine Schlucht spannte, erkundete einen einsturzgefährdeten Minenschacht und spielte mit einem reizba­ ren Ziegenbock Torero- Hauptsache, er hatte Publikum. Ernestos Eskapaden waren stadtbekannt, doch die Familie stach noch in anderer Hinsicht aus der Masse hervor. »Bohemiens« Ist das Wort, das zur Beschreibung ihres unkonventionellen Lebens­ stils am häufigsten verwendet wird. Die Nachbarkinder, die die ei-

genen Sprößlinge mittags mit nach Hause brachten, durften zum Essen bleiben, so daß es stets eine Menge Mäuler zu stopfen gab. Ernesto und seine Geschwister ließen sich bei ihren Freundschaf­ ten von keinerlei Vorurteilen leiten: Sie machten keinen Un�er­ schied zwischen dem Sohn eines Golf-Caddies und den Kindern aus dem »unteren« Alta Gracia. Doch es war vor allem Celia madre, die als Freidenkerin von sich reden machte. In der von strengen Normen geprägten Ge­ meinde durchbrach sie viele der Tabus, die für Frauen galten. Sie steuerte selbst einen Wagen, sie trug Hosen, und sie rauchte in der Öffentlichkeit. Wegen ihres gesellschaftlichen Status und ihrer Großzügigkeit ließ man Celia diese Verstöße gegen die Traditionen jedoch durchgehen. Immer wieder chauffierte sie die eigenen Kin­ der und die der Freunde zur Schule, und die Einführung der ko­ stenlosen Schulmilch, die hauptsächlich für die Kinder der Armen wichtig war, kam durch sie zustande - sie bezahlte die Milch näm­ lich aus eigener Tasche. Anders als die meisten der Nachbarn hatten Ernestos Eltern mit der Kirche nichts im Sinn. Guevara Lynchs Mutter war Atheistin und hatte ihren Sohn entsprechend erzogen. Celia, die eine katho­ lische Mädchenschule besucht hatte, äußerte sich hingegen nicht so eindeutig und zeigte ein Leben lang eine Neigung für spirituel­ le Dinge. Doch als Ernesto in die Schule kam, ging Celia schon lan­ ge nicht mehr zur Kirche, und die Guevaras ließen ihre Kinder vorn Religionsunterricht befreien. Laut Roberta wurden die Fußball­ mannschaften der Kinder nach folgendem Prinzip gebildet: In ei­ ne kamen die Jungen, die an Gott glaubten, und in die zweite die Atheisten. Die »Ungläubigen« verloren in der Regel, weil sie zu wenige waren. Obwohl man Ernesto nicht oft lernen sah, bemerkten alle seine rasche Auffassungsgabe. Allerdings lag ihm nicht viel an guten Noten, und seine Leistungen waren eher mittelmäßig. Dieses Phä­ nomen gab seinem Vater einige Rätsel auf. überhaupt scheint Ernesto in diesen prägenden Jahren für Gue­ vara Lynch ein Buch mit sieben Siegeln gewesen zu sein. Er ver­ stand seinen Sohn ebenso wenig wie seine Frau: Celia war für ihn »von Natur aus unbesonnen« und »waghalsig«, und fatalerweise hatte sie diese Eigenschaften an ihren ältesten Sohn weitergege­ ben. Guevara Lynch hingegen, der sich selbst als »übervorsichtig« bezeichnete, war ein Zauderer und machte sich ständig Sorgen

über die Gefahren und Risiken des Lebens. In gewisser Hinsicht spielte er in der Familie den mütterlichen Part, während Celia eher die Vertraute und Komplizin ihres Sohnes war. Doch Guevara Lynch war auch ein Mann von aufbrausendem Temperament, und seine Wutanfälle sind seinen Freunden aus Al­

ta Gracia noch gut im Gedächtnis. Besonders schlimm gestalteten sie sich, wenn er glaubte, daß jemand einem Mitglied seiner Fami­ lie zu nahe getreten war. Diese Neigung zur Unbeherrschtheit hat der Sohn offenbar von ihm geerbt. Nichts konnte Ernesto so in Ra­ serei versetzen wie das Gefühl, zu Unrecht getadelt oder bestraft worden zu sein, schreibt der Vater. Streitereien mit seinen Freun­ den aus der barra wurden regelmäßig mit den Fäusten ausgetra­ gen. Zwar lernte Ernesto mit der Zeit, sich zu beherrschen, und als er auf die höhere Schule kam, traten ätzende, vernichtende Be­ merkungen an die Stelle von körperlicher Gewalt. Doch hin und

wieder kam es auch dann noch vor, daß er die Kontrolle über sich verlor. Obwohl er keineswegs dumm war, trennten Guevara Lynch Welten von seiner Frau und seinem begabten Sohn, die sich in ih­ rer Denkweise sehr viel ähnlicher waren. Zwar las er gern Aben­ teuerbücher und historische Werke - eine Vorliebe, die er an sei­ nen Sohn weitergab -, doch für ernsthafte Studien fehlten ihm

die Geduld und die Disziplin. Celia hingegen war eine begeister­ te Leserin von Romanen, Gedichten und philosophischen Werken, und durch sie bekam auch Ernesto Zugang zu dieser Art von Li­ teratur. All die legendären Charakterzüge des erwachsenen Ernesto »Che« Guevara - seine Furchtlosigkeit, sein Führungsanspruch, seine Hartnäckigkeit, seine Neigung, sich mit anderen zu messen, und seine Selbstdiziplin - zeigten sich bereits in Ansätzen bei dem jungen »Guevarita« aus Alta Gracia.

III Der Spanische Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 war wohl das erste Ereignis, das in Ernesto Guevara so etwas wie politisches Bewußt­ sein wachrief. Als sich das Blatt im Jahre 1938 zugunsten von Fran­ cos Faschisten zu wenden begann, kamen auch nach Alta Gracia Flüchtlinge aus der spanischen Republik. 30

Eine Zeitlang wohnte Celias älteste Schwester Carmen mit ihren zwei Kindern bei den Guevaras. Ihr Mann, der kommunisti­ sche Dichter und Journalist Cayetano »Policho« C6rdova lturburu war nach Spanien gereist und arbeitete als Kriegsberichterstatter für die in Buenos Aires erscheinende Zeitung Critica. Sobald ein Aufsatz oder ein Brief von ihm eintraf, las Carmen ihn der versammelten Familie laut vor. So wurde ihnen das Kriegsgesche­ hen auf sehr viel unmittelbarere Weise nahegebracht, als es ein einfacher Zeitungsbericht vermocht hätte. Bald engagierten sich auch die Guevaras in einer leidenschaft­ lichen Kampagne für die bedrohte Republik. Guevara Lynch un­ terstützte die Gründung eines lokalen Comite de Ayuda a la Repu­ blica, Teil eines landesweiten Netzwerks der Solidarität mit der spanischen Republik, und suchte Kontakt zu neu eingetroffenen spanischen Exilanten. Seine Bewunderung galt besonders dem Kriegshelden General Jurado, der in der Schlacht bei Guadalajara Francos Truppen und ihre italienischen Verbündeten geschlagen hatte und sich jetzt als Versicherungsvertreter über Wasser hielt. Guevara Lynch lud ihn zum Essen ein und lauschte begeistert seinen Erzählungen. Da die Menschen in seiner Umgebung so engagiert für die spanische Republik eintraten, entwickelte auch der zehnjährige Ernesto ein lebhaftes Interesse am Verlauf des Spanischen Bürger.:­ krieges. Er verfolgte seine Entwicklung, indem er die Position der republikanischen und der faschistischen Armee auf der Karte mit Fähnchen absteckte. Unmittelbar nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs sollte ganz Europa zum Kriegsschauplatz werden. Nach der Annexion Österreichs und der Tschechei fiel Hitler im September 1939 in Polen ein, worauf Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg erklärten. Damit hatte der Zweite Weltkrieg be­ gonnen. Guevara Lynch gründete in Alta Gracia eine Ortsgruppe der Ac­ ci6n Argentina, die für die Sache der Westmächte eintrat. Der in­ zwischen elfjährige Ernesto schloß sich der Jugendorganisation der Acci6n Argentina an und erhielt eine eigene Mitgliedskarte, die er laut seinem Vater stolz herumzeigte. Guevara Lynch reiste durch die ganze Region, hielt Reden und verfolgte Hinweise auf »eingeschleuste Nazis«. Denn seine Orga­ nisation befürchtete eine Unterwanderung durch deutsche Faschi31

sten und beobachtete alle verdächtigen Aktivitäten der starken deutschen Gemeinde in C6rdoba. Über den jungen Ernesto sagt sein Vater: »Neben Sport und Schularbeiten widmete er nun jede freie Minute unserer Arbeit.« Argwöhnisch betrachtete man in C6rdoba eine deutsche Sied­ lung im Calamuchita-Tal in der Nähe von Alta Gracia. 1939 war nach einer Seeschlacht mit britischen Kriegsschiffen ein beschä­ digtes deutsches Schlachtschiff, die Admiral Graf Spee, aus dem Atlantik in den Rfo de la Plata abgedrängt worden. Der Kapitän sprengte sein Schiff außerhalb der 3-Meilen-Zone und nahm sich kurz darauf das Leben, nachdem er zuvor die Besatzung hatte von Bord gehen lassen. Die Offiziere und die Mannschaft wurden auf Befehl der argentinischen Behörden in C6rdoba »interniert«. Guevara Lynchs Gruppe observierte die gefangenen Deutschen, wenn sie mit Holzattrappen anstelle von Gewehren exerzierten. Einmal erhielt die Gruppe Hinweise darauf, daß Lastwagen mit Waffen aus Bolivien in das Tal unterwegs waren. Ein von Deut­ schen geführtes Hotel in einem anderen Ort geriet in Verdacht, Nazispionen als Stützpunkt zu dienen. Von dort aus, so glaubten Guevara Lynch und seine Mitstreiter, hielt man per Funk die Verbindung nach Berlin aufrecht. Doch angesichts der strengen Sicherheitsvorkehrungen des Hotels konnten sie hierfür nie den Beweis erbringen. Alarmiert durch diese vermeintlichen Belege für die Existenz eines Nazi-Spionagerings in C6rdoba sandte Guevara Lynch aus­ führliche Berichte an die Zentrale der Acci6n Argentina in Buenos Aires. Eigentlich hatte er erwartet, daß die Führung unter Präsi­ dent Roberta Ortiz mit ihrer Sympathie für die Westmächte auf der Stelle Maßnahmen ergreifen würde. Doch Ortiz war im Jahre 1940 schon so krank, daß die Amtsgeschäfte faktisch von seinem korrupten Vizepräsidenten Ram6n Castillo geführt wurden. Und da Castillos Regierung mit den Achsenmächten liebäugelte, wurde gegen das Nazi-Netzwerk nichts unternommen. Die zweideutige Haltung Argentiniens, das bis kurz vor der deutschen Niederlage offiziell neutral blieb, lag jedoch nicht allein daran, daß ein beträchtlicher Teil des politischen und militärischen Establishments Sympathien für die Achsenmächte hegte. Es hatte auch wirtschaftliche Gründe. Argentinien war schon immer von Europa abhängig gewesen, insbesondere von Großbritannien, sei­ nem wichtigsten Exportmarkt für Rindfleisch, Getreide und ande32

re Agrarprodukte. Die Blockade Europas durch die Alliierten hatte also verheerende Auswirkungen auf das Land. Als Gegenleistung für seine Unterstützung der Blockadepolitik der Alliierten forder­ te Präsident Ortiz von den Vereinigten Staaten, aus denen Argen­ tinien einen Großteil seiner Bedarfsgüter bezog, eine Abnahmega­ rantie für seine Exportüberschüsse. Doch Ortiz gelang es nicht, ein »gerechtes Abkommen« auszuhandeln - ein Umstand, den dann die mit den Achsenmächten sympathisierende Regierung Castillos für sich zu nutzen wußte. Argentiniens Ultranationalisten wieder­ um sahen in dem erstarkenden Deutschen Reich einen vielver­ sprechenden Absatzmarkt für Agrarprodukte und einen mögli­ chen Rüstungslieferanten für die argentinischen Streitkräfte.

IV Während jenseits des Atlantiks der Zweite Weltkrieg tobte und Argentiniens Politik immer unberechenbarer wurde, wuchs Erne­ sto zum Jugendlichen heran. Seine körperliche Entwicklung ver­ zögerte sich - er war klein für sein Alter und schoß erst mit sech­ zehn in die Höhe-, doch ansonsten war er aufgeweckt, wißbegierig und nahm gegenüber den Erwachsenen kein Blatt vor den Mund. Seine Lieblingslektüre allerdings entsprach ganz seinem Alter: Er verschlang in dieser Zeit die Abenteuergeschichten von Emilia Salgari, Jules Verne und Alexandre Dumas. Im März 1942, kurz vor seinem vierzehnten Geburtstag, wech­ selte Ernesto über auf die Oberschule, den bachillerato. Da es in Alta Gracia nur eine Grundschule gab, fuhr er jeden Morgen mit dem Bus in das fünfunddreißig Kilometer entfernte C6rdoba. Dort besuchte er das staatliche Colegio Nacional Dean Funes, das abge­ sehen von den Privatschulen in der Stadt den besten Ruf genoß. Zu Beginn des Jahres 1943 zog die Familie in den Sommerferi­ en nach C6rdoba, wo Guevara Lynch endlich einen Partner gefun­ den und mit ihm eine Baufirma gegründet hatte. Da Ernesto dort bereits zur Schule ging und seine Schwester Celia die städtische Oberschule für Mädchen besuchen wollte, schien dies die prak­ tischste Lösung zu sein.

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Ein junge mit vielen Namen

Mit dem Umzug nach C6rdoba begann für die Guevaras eine kur­ ze Zeit des Wohlstandes, doch zugleich bedeutete er den Anfang vom Ende ihres gemeinsamen Familienlebens. Ein Versöhnungs­ versuch der Eltern führte im Mai 1943 zu der Geburt des fünften und letzten Kindes, Juan Martin. Doch die Spannungen zwischen Celia und Guevara Lynch wurden immer stärker, und als sie vier Jahre später nach Buenos Aires zogen, kam es zum Bruch. Auch dafür waren nach Aussage von Freunden der Familie Gue­ vara Lynchs ständige Affären der Auslöser. »Der Vater führte sich auf wie ein Playboy«, erinnert sich Tatiana Quiroga, eine Freundin der Guevara-Kinder. » ... wenn er gearbeitet und Geld verdient hat­ te, gab er alles aus ... indem er sich mit >jungen Damen< traf, de­ nen er Kleider und irgendwelchen Schnickschnack kaufte.« Dennoch ging es der Familie in C6rdoba etwas besser, denn Gue­ vara Lynch verdiente endlich einmal etwas. Sein Geschäftspartner war ein exzentrischer Architekt, der wegen seiner gewaltigen Kör­ pergröße und seines aristokratischen Auftretens »Marques de Arias« genannt wurde. Der Marques sorgte für die Bauaufträge, und Guevara Lynch beaufsichtigte die Arbeiten als »Bauleiter«. »Wir lebten wie die Götter, und alles Geld wurde ausgegeben.An Rücklagen dachte keiner«, sagte Ernestos Schwester Celia. Bevor sich die Situation wieder zuspitzte, kaufte Ernesto Guevara Lynch ein Landhaus in dem Vorort Villa Allende in den Bergen vor den Toren C6rdobas. In ihrem neuen Heim in der Calle Chile herrsch­ te die gleiche offene, freizügige Atmosphäre, die ihre Freunde von Alta Gracia her kannten. Auf den Möbeln stapelten sich Bücher und Zeitungen, es gab keine festen Mahlzeiten, ein jeder aß, wenn er Hunger hatte. Die Kinder durften mit dem Fahrrad von der Straße in das Wohnzimmer fahren. 34

Aber Dolores Moyano, eine neue Freundin aus einer der reich­ sten Familien C6rdobas, mußte bald feststellen, daß die Gast­ freundschaft bei den Guevaras auch ihren Preis hatte. Entdeckte man bei einem Besucher auch nur die geringste Spur von Hoch­ näsigkeit, Pedanterie oder Angeberei, so wurde er erbarmungslos aufgezogen. Diese Attacken gingen oft von Che aus, und Dolores wurde von ihm mehr als einmal in die Enge getrieben. Doch auch Ernestos Mutter Celia nahm kein Blatt vor den Mund, und wenn sie sich einmal ihr Urteil gebildet hatte, war sie kaum mehr davon abzubringen. Ernesto senior hingegen strahlte Wärme und Vita­ lität aus und war die Liebenswürdigkeit in Person. »Er hatte eine sonore Stimme und war oft ein wenig zerstreut. Manchmal kam es vor, daß er die Kinder zu einem Besorgungsgang fortschickte, und wenn sie zurückkehrten, hatte er schon vergessen, was es war.«

II

Auf seiner neuen Schule in C6rdoba, dem Colegio Nacional Dean Funes, fand Ernesto bald neue Kameraden. Sein bester Freund war Tomas Granado, der jüngste von drei Söhnen eines spanischen Emigranten, der als Schaffner bei der Eisenbahn arbeitete. Ernesto war mit vierzehn noch recht klein für sein Alter und ziemlich schmächtig. Der hochgewachsene, kräftige Tomas hatte sein Haar nach der neuesten Mode mit Pomade zurückgekämmt, während Ernesto sein Haar nach wie vor kurzgeschnitten trug. So kam er zu einem seiner vielen Spitznamen: »EI Pelao« (der Kahlkopf). Zu ihrer Clique stieß auch Tomas' älterer Bruder Alberto, der zu jener Zeit schon an der Universität von C6rdoba Biochemie und Pharmakologie studierte. Er trainierte das Fußballteam der Stu­ denten, und trotz seiner anfänglichen Bedenken, ob Ernesto auf dem Fußballfeld mit den anderen mithalten konnte, gab er ihm ei­ ne Chance. Schon bald hatte sich Guevara einen Ruf als kämpferi­ scher Stürmer erworben. Wegen seines wütenden Kampfrufs »Hier kommt >El Furibuno< Serna! «gab Alberto ihm den Spitzna­ men »Fuser«, wofür sich Ernesto liebevoll mit »Mfal«für »mi Al­ berto« (mein Alberto) revanchierte. Schon bald stellte sich heraus, daß das neue Haus in der Calle Chile einige Nachteile besaß, die Guevara Lynch in seiner anfäng­ lichen Begeisterung übersehen hatte. Das Viertel »Nueva C6rdo35

ba« am Berghang war noch im Bau, und zwischen den bunt zu­ sammengewürfelten Wohnhäusern erstreckten sich unerschlosse­ ne Grundstücke, sogenannte baldios, auf denen sich die Armen ih­ re Unterkünfte errichteten. Eines dieser Elendsviertel lag direkt gegenüber dem Haus der Guevaras und erregte die Faszination der Familie und ihrer Freun­ de. Denn dort wohnten so skurrile Gestalten wie der Mann ohne Beine, der in einem Holzkarren saß und sich von sechs Straßenkö­ tern ziehen ließ. Obwohl sie weitaus besser gestellt waren als ihre armen Nach­ barn, die in ihren notdürftig aus Wellblech und Pappe zurechtge­ zimmerten Hütten hockten, mußten die Guevaras feststellen, daß ihr ei genes Haus auch nicht sehr solide gebaut war. Schon bald zeigten sich in den Wänden lange Risse, und nachts konnte Gue­ vara Lynch durch einen Schlitz im Dach die Sterne sehen. Doch für einen Bauunternehmer begegnete er den Gefahren mit erstaunli­ chem Gleichmut. Als im Kinderzimmer ein neuer Riß auftauchte,

zog er einfach die Betten von der Wand, damit sie nicht die Schla­ fenden unter sich begrub, wenn sie zusammenstürzte. »Wir moch­ ten das Haus und wollten nicht wegziehen, sondern so lange wie möglich ausharren.« Die Umstellung auf das Stadtleben mag für die Guevaras nicht einfach gewesen sein. Andererseits war die Fluktuation vom Land

in die Städte typisch für den gesellschaftlichen Wandel in Argen­ tinien und ganz Lateinamerika. Die wirtschaftlichen Umwälzun­ gen, die große Zahl der Einwanderer und die Industrialisierung führten Ende des neunzehnten Jahrhunderts dazu, daß immer mehr Landarbeiter auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben in die Städte strömten. Viele von ihnen endeten in den Slums oder villas miserias von C6rdoba und den anderen argenti­ nischen Großstädten. Dennoch bewahrte sich C6rdoba in den vierziger Jahren einen gemütlichen, provinziellen Charakter. Argentiniens zweitgrößte Stadt inmitten der weiten, goldenen Pampa, die am Horizont nur durch die blauschimmernde Kette der Sierra begrenzt wurde, blieb unberührt von Industrialisierung und dem Bauboom, der Buenos Aires rasch in eine moderne Metropole verwandelte. Da es die älte­ ste, von Jesuiten gegründete Universität, viele alte Kirchen und zahlreiche Gebäude im Kolonialstil beherbergte, hatte sich C6rdo­ ba einen Ruf als kulturelles Zentrum Argentiniens erworben. Im

C6rdoba ihrer Jugend, erinnert sich Dolores Moyano, »gab es un­ zählige Buchläden, religiöse Prozessionen, Studentendemonstra­ tionen und Militärparaden; eine angenehme Stadt, die träge und fast verschlafen wirkte, doch unter der Oberfläche brodelte es.« Kurz nachdem die Guevaras in die Stadt gezogen waren, entlu­ den sich die Spannungen. Am 4. Juni 1943 wurde Präsident Castil­ lo durch einen Militärputsch gestürzt, und der ultranationalisti­ sche ehemalige Kriegsminister General Pedro Ramfrez ergriff die Macht. Um jegliche Opposition im Keim zu ersticken, setzte er die Wahlen auf unbestimmte Zeit aus, löste das Parlament auf, zen­ sierte die Presse und suspendierte Professoren, die protestiert hat­ ten. In einer zweiten Gesetzeswelle gegen Ende des Jahres verbot er die Parteien, erließ strenge Vorschriften religiösen Inhalts für die Schulen und verschärfte die Pressezensur. In C6rdoba gingen Schüler und Lehrer auf die Straße, um gegen diese Maßnahmen zu protestieren. Bei den darauf folgenden Verhaftungen wurde auch Alberto Granado festgenommen. Seine Brüder un9 »EI Pelao« Guevara besuchten ihn im Gefängnis, um ihn mit Lebensmitteln zu versorgen und auf dem laufenden zu halten. Als Woche um Woche ins Land zog und nichts darauf hindeute­ te, daß die Studenten demnächst vor Gericht gestellt oder freige­ lassen würden, forderte das geheime »Gefangenenkomitee« die Oberschüler auf, auf die Straße zu gehen und für die Freilassung ihrer Kameraden zu demonstrieren. Zu aller Überraschung lehnte der fünfzehnjährige Ernesto jedoch die Teilnahme an dem Protest­ marsch ab. Nur wenn er einen Revolver hätte, sei er dabei, erklär­ te er. Die geplante Demonstration könne nur wenig ausrichten, und man würde die Oberschüler »windelweich« prügeln. Zu Beginn des Jahres 1944 wurde Alberto Granado nach mehr­ monatiger Haft entlassen. Ernestos Weigerung, für ihn zu demon­ strieren, konnte ihrer Freundschaft nichts anhaben. Wenn man sich Ernestos Neigung zu waghalsigen Unternehmungen vor Au­ gen führt, müßte man sich über seine Haltung eigentlich sehr wundern. Ebenso unverständlich erscheint seine Kompromißlo­ sigkeit, vor allem wenn man bedenkt, wie jung er war und wie we­ nig er sich scheinbar für die argentinische Politik interessierte. Aber diese paradoxe Ambivalenz zwischen radikalen Äußerungen und völliger Passivität, wenn es um politische Aktionen ging, blieb auch in den folgenden Jahren seiner Jugend für ihn typisch.

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III Die graue Eminenz, die - von der argentinischen Öffentlichkeit noch unbemerkt - während der politischen Umschwünge jener Jahre hinter den Kulissen die Fäden zog, war Juan Domingo Per6n, damals noch ein völlig unbekannter Oberst des Heeres. Nachdem der leidenschaftliche Bewunderer des Duce von einem militäri­ schen Posten in Italien zurückgekehrt war, arbeitete er sich inner­ halb von drei Jahren zielstrebig an die Spitze hoch. Zuerst wurde er Staatssekretär im Kriegsministerium, dann Amtsleiter des Ar­ beitsministeriums. Dieses funktionierte er in kurzer Zeit in das Ministerium für Arbeit und Soziales um, worauf er nur noch dem Präsidenten gegenüber rechenschaftspflichtig war. Schon bald beschloß Per6ns Büro zahllose Reformen. Seine Maßnahmen zielten darauf ab, die rechtlosen Arbeiter zu mobili­ sieren und die Arbeiterorganisationen der traditionellen Parteien zu spalten. Es dauerte nicht lange, und er hatte das gesamte Arbei­ terheer unter seinen Einfluß gebracht. Der berühmte »Peronis­ mus« war entstanden, ein Phänomen, das bald die gesamte politi­ sche Landschaft Argentiniens verändern sollte. Nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten befand sich die deutsche Wehrmacht Ende 1943 in Europa und Nordafrika auf dem Rückzug. Mussolini war gestürzt worden. Da die USA die argenti­ nische Regierung und insbesondere Per6n kaum verhohlener Sympathien mit dem Dritten Reich verdächtigten, setzten sie alle Druckmittel ein, um Argentinien zur Aufgabe seiner neutralen Haltung im Zweiten Weltkrieg zu bewegen. Viele Argentinier heg­ ten den gleichen Argwohn wie die Vereinigten Staaten. Mit seiner populistischen Anbiederung an die »Unterschicht« und einer Rhe­ torik, die nach Faschismus roch, hatte sich Per6n Argentiniens li­ berales Bürgertum zum Feind gemacht. Die alte Oligarchie, die den Status quo gefährdet sah, hatte ähnliche Vorbehalte, und die mei­ sten Menschen im Umfeld der Guevaras waren glühende »Anti­ peronisten«. Dies konnte jedoch nicht verhindern, daß Per6n im­ mer mehr an Einfluß gewann. Bei einer Regierungsumbildung im März 1944 wurde Per6n Kriegsminister, und im Juni übernahm er auch noch das Amt des Vizepräsidenten. Doch der wichtigste seiner Posten blieb das Amt des Ministers für Arbeit und Soziales. Guevara Lynch war zu dieser Zeit nach wie vor in der Acci6n Ar-

gentina aktiv. Außerdem hatten Celia und er sich dem Solida­ ritätskomitee für De Gaulle angeschlossen, das die Widerstands­ kämpfer der Resistance im von Nazideutschland besetzten Frank­ reich unterstützte. Ernesto hingegen zeigte in seiner Oberschulzeit keinerlei Nei­ gung, sich an politisch militanten Aktionen zu beteiligen. Er und seine Freunde, zu denen auch einige Kinder spanischer Emigran­ ten gehörten, waren wie ihre Eltern »Antifaschisten« und debat­ tierten mit Feuereifer über die Ereignisse in Spanien. Doch was zur selben Zeit in Argentinien geschah, nahmen sie kaum zur Kennt­ nis. Ernestos politische Äußerungen zielten stets darauf ab, seine Eltern oder Altersgenossen zu schockieren. Als in C6rdoba bei­ spielsweise das Gerücht umging, die örtlichen Peronisten wollten den Jockeyclub zu einer Steinschlacht provozieren, meinte er seinen Freunden gegenüber: »Ich hätte gute Lust, selbst ein paar Steine auf den Jockeyclub zu werfen.« Als die Regierung Argentiniens endlich die diplomatischen Be­ ziehungen zu den Achsenmächten abbrach, waren Ernestos Eltern überglücklich. Ernesto jedoch, so berichtet ein Jugendfreund, fuhr sie wütend an. Erst später wurde klar, wogegen sich sein Zorn rich­ tete: Die Entscheidung der argentinischen Regierung war nicht aus Überzeugung, sondern auf Druck der Vereinigten Staaten zustan­ de gekommen. Wie so mancher argentinische Nationalist schämte sich auch Ernesto, daß sein Land vor den US-Amerikanern in die Knie gegangen war. Doch als die Alliierten im September 1944 Paris befreiten, schloß auch er sich der jubelnden Menge auf der Plaza San Martin in C6rdoba an. Später ist oft versucht worden, dem jungen Ernesto Guevara sozialistische Ideale anzudichten, doch praktisch all seine Schulka­ meraden aus C6rdoba beschreiben ihn als politisch desinteressiert. »Wir anderen haben gern über Politik diskutiert«, sagt sein Schul­ freund Jose Maria Roque, »aber ich habe nie erlebt, daß Ernesto sich an diesen Debatten beteiligte.« Ebensowenig ließ sich Ernesto bei der Wahl seiner Freunde vom »Antifaschismus« beeinflussen. Zu seinen Klassenkameraden gehörte der Sohn eines armen italienischen Emigranten. Der Jun­ ge verkaufte während seiner Freizeit Süßigkeiten in den Kinos und ließ in seinem Patriotismus nichts auf Mussolini kommen. Erne­ sto sprach von ihm immer liebevoll als dem tano facio, dem »klei­ nen Faschisten«. 39

Andererseits berichtet Rau! Melivosky, der Sohn eines jüdischen Universitätsprofessors, daß er und Ernesto 1943 für kurze Zeit ei­ ner »Zelle« der FES angehörten. Es war das Jahr, in dem Ange­ hörige der militanten Jugendgruppen der nazifreundlichen Alian­ za Libertadora Nacionalista Studenten einschüchterten, die sich für die Sache der Alliierten aussprachen. Ernesto war der einzige Schüler, der einem Lehrer, der bekanntermaßen offen für den Fa­ schismus eintrat, wegen Verdrehung von Tatsachen angriff. Seit­ her brachte ihm Melivosky großen Respekt entgegen. Die Zellen setzten sich aus jeweils drei Schülern zusammen, von denen einer die Leitung übernahm. Melivosky s Leiter hieß Erne­ sto Guevara. »Doch die Zellen existierten nur dem Namen nach«, erinnert sich Melivosky. »Unsere ganze Leistung bestand darin, uns als Zelle zu bezeichnen.« Als er und andere Schüler eines Nachmittags von Schlägern der Alianza mit Messern bedroht wur­ den, sah er, wie Ernesto seinen Ranzen über den Kopf schwang und sich auf die Faschisten stürzte. »Das war überaus tapfer ... er zeig­ te nicht die geringste Angst.« Viel weiter aber gingen Ernestos politische Aktivitäten nicht. Die Funktion als Leiter einer Zelle schien ihm eher dazu gedient zu haben, seine Abenteuerlust zu befriedigen , als daß sie Ausdruck ei­ ner ernsthaften politischen Überzeugung gewesen wäre. Zwanzig Jahre später bestätigte Guevara diese Einschätzung in einem Brief: » ... in meiner Jugend hatte ich keinerlei gesellschaftliche Interes­ sen, und ich habe in Argentinien nie an Studentendemonstratio­ nen oder politischen Aktionen teilgenommen.«

IV Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Ernesto, nun ein Teen­ ager, nicht nur eine große Liebe zu Büchern entwickelt, sondern auch ein starkes Interesse am anderen Geschlecht. Beides konnte er befriedigen, als er im Hause eines Freundes auf die unzensier­ te Fassung der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht stieß. Doch über diese Reize hinaus blieb für die meisten Jungen aus Er­ nestos Generation sexuelle Erfüllung ein unerreichbares Ziel. Mitte der vierziger Jahre herrschten in der argentinischen Pro­ vinz noch immer die Wertvorstellungen der katholischen Kirche: Frauen hatten kein Wahlrecht, Scheidung war verboten, und ein

»anständiges« Mädchen bewahrte sich seine Jungfräulichkeit bis zur Ehe. So besuchten die Jungen aus Ernestos Gesellschaftsschicht ent­ weder ein Bordell, oder sie eroberten sich - begünstigt durch ihre finanzielle und gesellschaftliche Stellung - ein Mädchen aus den unteren Schichten. Viele sammelten ihre ersten Erfahrungen mit der mucama der Familie, dem Dienstmädchen, gewöhnlich eine Indiofrau oder eine arme mestiza aus den nördlichen Provinzen Argentiniens. Ernesto wurde im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren in die Sexualität eingeführt, und zwar mit Hilfe von Calica Ferrer, der ihn und die mucama seiner Familie, einer Frau namens »La Negra« Cabrera, in ihr Haus einlud. Einige seiner Freunde beobachteten Ernestos »Initiation« durchs Schlüsselloch der Schlafzimmertür. Er hatte seinen Asthmainhalator mitgenommen, und während er tapfer auf ihr turnte, unterbrach er den Liebesakt immer wieder, um einen Zug aus dem Inhalator zu nehmen. Derartige Besuche im Hause der Ferrers wurden für Ernesto rasch zur Gewohnheit. Diese Praxis illustriert die Kluft, die zu jener Zeit in Ernestos Gesellschaftsschicht zwischen den männlichen und den weiblichen Jugendlichen herrschte. Die Mädchen, unberührt und unschuldig, berauschten sich an romantischen Gedichten und sparten sich auf für die wahre Liebe und die Ehe, wohingegen Jungen wie Ernesto ihre sexuelle Befriedigung suchten, wo immer sie sie fanden, in schlüpfrigen Versen, in einem Bordell oder bei der unglücklichen mucama der Familie. In den Sommerferien der Jahre 1945 und 1946 kam Ernestos hübsche Cousine Carmen C6rdova lturburu de la Serna, »La Ne­ grita«, nach C6rdoba zu Besuch. Rasch fand sie Gefallen an ihrem drei Jahre älteren rebellischen Vetter. Ihr Vater, der Dichter Ca­ yetano C6rdova lturburu, brachte stets einen Koffer neuer Bücher aus Buenos Aires mit, den sie gemeinsam mit Ernesto nach Ge­ dichtbänden durchstöberte. Ernesto teilte ihre Liebe zur Lyrik, und er zitierte ihr ganze Passagen aus Pablo Nerudas Band Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung, den er gerade erst entdeckt hatte. »Ernestito und ich waren in der Blüte unserer Jugend ein wenig mehr als nur Freunde«, sagt Carmen Jahre später. Zwischen ihnen entwickelte sich eine Romanze, und die beiden trafen sich auch noch, als die Guevaras nach Buenos Aires gezogen waren. Carmen 41

kam oft in das Haus der Familie, und sie erinnert sich an zärtliche Momente mit Ernesto, wenn sie auf der Treppe saßen, über Litera­ tur sprachen » ... und über die Liebe, denn wie es so oft zwischen Cousine und Cousin passiert, hatten au'ch wir unsere Romanze. Er­ nesto war so anziehend.« Tatsächlich war Ernesto mit siebzehn ein äußerst attraktiver junger Mann, schlank und breitschultrig, mit dunklem braunen Haar, wachen braunen Augen, heller Haut und einem gesunden Selbstbewußtsein, das ihn für Mädchen unwiderstehlich machte. Während sich Jungen in diesem Alter alle Mühe gaben, den Mädchen zu gefallen, legte er ein provozierendes Desinteresse an seinem Äußeren an den Tag. Eines Abends erschien Ernesto mit ei­ nem Mädchen aus der oberen Gesellschaftsschicht in der Cine Opera, wo sein Freund Rigatusso, der »kleine Faschist«, Süßigkei­ ten verkaufte. Wie immer trug Ernesto einen viel zu großen Trenchcoat, dessen Taschen sich beulten, weil er etwas zu essen und eine T hermosflasche mit Mate dabeihatte. Als er Rigatusso ent­ deckte, ließ er seine Begleiterin demonstrativ stehen, um mit sei­ nem Freund, der eigentlich »unter seinem Niveau« hätte sein sol­ len, ein Schwätzchen zu halten. Ernesto entwickelte sich in dieser Zeit zu einer Persönlichkeit, die bei seinen Freunden in C6rdoba einen bleibenden Eindruck hinterließ. Seine Verwegenheit, seine Verachtung jeglicher Kon­ ventionen, sein Widerspruchsgeist waren Verhaltensweisen, die in den kommenden Jahren nur noch stärker zutage treten sollten. Selbst sein Humor, meist nicht ohne einen Schuß Selbstironie, zielte darauf ab, zu provozieren und die allgemein anerkannten ge­ sellschaftlichen Regeln in Frage zu stellen. Sein Freund Alberto Granado sollte Ernestos Neigung, andere vor den Kopf zu stoßen, mit der Zeit gut kennenlernen. »Er hatte verschiedene Spitznamen. Einer davon war >EI Loco< (der verrück­ te) Guevara. Er spielte gern den Ungezogenen ... Er brüstete sich beispielsweise damit, wie selten er sich wusch, und so nannte man ihn auch >EI Chancho< (das Schwein). Er sagte Dinge wie: >Dieses Trikot ist seit fünfundzwanzig Wochen nicht mehr gewaschen worden.«< Auch auf dem Colegio Nacional Dean Funes rhachte er währ�nd seiner fünfjährigen Schulzeit seinem Ruf als Draufgänger alle Eh­ re. Er zündete sich wortlos während des Unterrichts seine durch­ dringend riechenden Anti-Asthma-Zigaretten an, diskutierte mit 42

seinen Mathematik- oder Literaturkundelehrern ungeniert über Fehler, bei denen er sie ertappt hatte, oder er organisierte mit den Freunden Ausflüge nach Alta Gracia und in die Sierra, wo er sich wieder in jene waghalsigen Unternehmungen stürzte, mit denen er seine Eltern schon als Kind zur Verzweiflung gebracht hatte. So liebte er es, auf den Rohren einer Pipeline eine Schlucht zu über­ queren, von Felsklippen ins Wasser zu springen oder auf Eisen­ bahnschienen radzufahren. Seine Leistungen in der Schule wurden insgesamt als »gut« ein­ gestuft. Seine Lieblingsfächer waren Mathematik, Naturkunde, Geographie und Geschichte, doch zu Hause las er alles, was ihm unter die Finger kam. »Er las wie ein Besessener und plünderte förmlich die Bibliothek seiner Eltern«, stellt sein Freund Pepe Aguilar fest. »Freud, Jack London, dazu Pablo Neruda, Horacio Quiroga, Anatole France und sogar eine gekürzte Fassung von Das Kapital, in das er in winziger Schrift Notizen machte.« Für Ernesto blieb dieses kompakte Werk jedoch ein Buch mit sie­ ben Siegeln; später, als er schon Comandante Ernesto Che Gueva­ ra in Kuba war, gestand er seiner Frau, daß er bei seiner ersten Lek­ türe von Marx und Engels »kein Wort verstanden hatte«.

V Im Jahre 1945 kam eine ernsthaftere Seite von Ernestos Persön­ lichkeit zum Vorschein.Angeregt durch den Philosophieunterricht in der Schule legte er das erste seiner »philosophischen Notiz­ bücher« an. Das hundertfünfundsechzig Seiten lange Manuskript mit detailliertem Stichwortverzeichnis enthält in alphabetischer Reihenfolge Kurzbiographien bekannter Denker, ein breites Spek­ trum von Originalzitaten und Anmerkungen zu den klassischen philosophischen Themen. Offenbar zog Ernesto dazu jede Quelle heran, die ihm in die Hände fiel. Seine Zitate zum Marxismus stammen aus Mein Kampf; mit ihnen begründete Hitler seine Wahnvorstellung von einer jüdisch-marxistischen Weltverschwörung. Für den Abriß über Buddha und Aristoteles benutzte er H. G. Wells' Die Weltge­ schichte, und seine Einträge zu Liebe, Patriotismus und Sexual­ moral waren inspiriert von Bertrand Russells Ehe und Moral. Sigmund Freuds Theorien faszinierten Ernesto offensichtlich 43

besonders, denn aus Ich und das Es führte er alles auf, von der Traumdeutung über Libido und Narzißmus bis zum Ödipuskom­ plex. Er zitiert Jack Londons Ansichten zum T hema Gesellschaft, Nietzsches Betrachtungen über den Tod, und zu den Begriffen Re­ visionismus und Reformismus zieht er Definitionen aus dem Buch seines Onkels Cayetano C6rdova Iturburu heran. Dieses Notizbuch war das erste von sieben, die Ernesto Guevara im Laufe der nächsten zehn Jahre erstellen sollte. In der Literatur wandte sich sein Interesse allmählich Werken mit eher gesell­ schaftspolitischem Inhalt zu. Nach Meinung seines Freundes Os­ valdo Bidinost Payer »begann für Ernesto Guevara alles mit der Li­ teratur«. In dieser Zeit las er Faulkner, Kafka, Camus und Sartre, darüber hinaus die Lyriker der spanischen Republik wie Garcia Lorca, Machado und Alberto und die spanischen Übersetzungen der Werke von Walt Whitman und Robert Frost. Doch sein Lieb­ lingsdichter war und blieb Pablo Neruda. Außerdem vertiefte sich Ernesto in die Werke lateinamerikani­ scher Autoren wie Ciro Alegrfa, Jorge Icaza, Ruben Dario und Mi­ guel Angel Asturias. Das Neue an ihren Romanen und Gedichten war, daß sie sich mit lateinamerikanischen T hemen auseinander­ setzten - auch mit den erniedrigenden Lebensbedingungen der In­ dios und mestizos. Bidinost glaubte, daß Ernesto hier zum ersten­ mal einen Einblick in die Gesellschaft erhielt, in der er lebte, ohne sie wirklich zu kennen. Darüber hinaus aber hatte seine Mutter Celia einen prägenden Einfluß auf Ernestos Entwicklung. Wie schon die Freunde in Alta Gracia war Bidinost von der toleranten und ungezwungenen Atmo­ sphäre im Haus der Guevaras und insbesondere von Celia madre selbst fasziniert. Laut seinem Urteil zählte bei den Guevaras vor al­ lem die Kreativität. Hier, so erinnert er sich, eröffnete sich ihm »die Welt, durch den Lieferanteneingang gesehen«. Ungeachtet ihres ge­ sellschaftlichen Status scharte Celia in ihrem Haus alle möglichen schillernden Gestalten um sich: Maler auf Wanderschaft, die sich ihr Geld als Schuhputzer verdienten, ecuadorianische Dichter oder Pro­ fessoren, die auf der Durchreise waren. Ob sie nur eine Woche oder gar einen Monat blieben, hing davon ab, wie hungrig sie waren. Während Celia in ihrem allzeit geöffneten Salon hofhielt, sah man ihren Mann nur selten. Zwar schliefen Celia und Guevara Lynch im gleichen Haus, doch sie hatten sich entfremdet und leb­ ten immer mehr ihr eigenes Leben. 44

Es erscheint wenig erstaunlich, daß es für Ernesto zwischen all den Kindern, Reisenden, Gästen immer schwieriger wurde, un­ gestört zu lesen oder zu lernen. Oft schloß er sich stundenlang im Badezimmer ein, eine Angewohnheit, die er sein Leben lang bei­ behalten sollte. Eines Tages begegnete ihm unvermutet Enrique Martin, ein alter Freund aus Kindertagen, auf einer Straße in Alta Gracia. Es war ein Wochentag, und eigentlich hätte Ernesto in der Schule sein müssen. Nachdem er seinen Freund zum Stillschweigen verpflich­ tet hatte, verriet er ihm, daß er in einem Hotel am Busbahnhof ein kleines Hinterzimmer gemietet hatte. »Ich will ungestört sein von den anderen«, sagte er. Enrique Martin fragte nicht nach, wozu Ernesto diese Unge­ störtheit brauchte, doch er wahrte das Geheimnis seines Freundes viele Jahre lang. Ob Ernesto lesen oder lernen wollte, oder ob er sich mit einer mucama traf, bleibt im dunkeln. Doch dieser ju­ gendliche, der die Einsamkeit suchte, war sicher nicht der Drauf­ gänger »Loco«, »Chancho« oder »Pelao«, als den ihn seine Mit­ schüler aus Alta Gracia kannten.

VI

Zu Anfang des Jahres 1946 kam Per6n an die Macht. Eine kurze Amtsenthebung durch rivalisierende Militärs und die Verban­ nung auf die Insel Martin Garcfa hatte er ünbeschadet überstan­ den. Nachdem die Massen auf einer gigantischen Demonstration seine Freilassung gefordert hatten, kehrte er im Triumph nach Buenos Aires zurück und gewann im Februar die Präsident­ schaftswahlen. Zehn Tage nach Per6ns Amtsantritt feierte Ernesto seinen acht­ zehnten Geburtstag. Es war sein letzten Jahr auf der Oberschule. Gleichzeitig trat er seine erste bezahlte Stellung bei einer städti­ schen Behörde an, die Straßenbauarbeiten in der Provinz beauf­ sichtigte. Sein Freund Tomas Granado war mit von der Partie. Da die beiden eine Begabung für Mathematik und Naturwissenschaften besaßen und zudem durch ihre neue Arbeit schon praktische Er­ fahrungen sammeln konnten, erwogen sie, im darauffolgenden Jahr ein Ingenieurstudium zu beginnen. 45

Nach Beendigung der Schule blieben sie in einer Ganztagsstel­ lung bei der Behörde und erhielten Arbeitsplätze in der Provinz. In dieser Zeit, im März 1947, zog Ernestos Familie nach fünfzehn Jah­ ren Abwesenheit zurück nach Buenos Aires. Doch eine triumpha­ le Rückkehr war das nicht: Die Eltern hatten beschlossen, sich zu trennen, und um die Finanzen der Familie stand es wieder einmal äußerst schlecht. Guevara Lynchs Bauunternehmen mit dem »Marques« war pleite, und sie hatten das Haus in der Villa Allen­ de verkaufen müssen. Da die Plantage in Misiones kaum noch et­ was einbrachte und man für mehrere Jahre die Grundsteuer schul­ dig geblieben war, sollte das Anwesen gleichfalls zum Verkauf ausgeschrieben werden. So zog die Familie in Buenos Aires erst einmal in die Eigen­ tumswohnung von Ana Isabel, Guevara Lynchs Mutter. Anfang Mai erlitt die Neunzigjährige jedoch einen Schlaganfall. Als Erne­ sto durch ein Telegramm erfuhr, wie schlecht es um sie stand, gab er unverzüglich seine Stellung auf und kehrte nach Buenos Aires zurück. In den folgenden siebzehn Tagen wich er kaum mehr von ihrer Seite. »Wir wußten, daß ihr Ende gekommen war«, schreibt Guevara Lynch . »Ernesto ... blieb bei ihr, bis sie von uns ging.«

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Auf eigenen Beinen

Nach dem Tod seiner Großmutter teilte Ernesto seinen Eltern mit, er wolle nicht Ingenieur werden, sondern Arzt. Noch im gleichen Monat schrieb er sich an der medizinischen Fakultät der Univer­ sität von Buenos Aires ein. Warum er sich für den Beruf des Mediziners entschied, hat Gue­ vara nie erklärt. Später sagte er nur, der Wunsch nach »persönli­ chem Erfolg« habe ihn zu diesem Entschluß veranlaßt. »Ich träum­ te davon, ein berühmter Forscher zu werden ... eine bahnbrechende Entdeckung zu machen, die dem Wohle der Menschheit dient.« Da Ernestos größte Begabungen auf dem Gebiet der Natur­ wissenschaften lagen, wäre der Beruf des Ingenieurs eigentlich naheliegend gewesen. Doch als Arzt glaubte er, etwas wirklich Nützliches leisten zu können. Seiner Familie zufolge war seine Entscheidung wohl darauf zurückzuführen, daß auch die moderne Medizin die Schmerzen seiner Großmutter vor ihrem Tode nicht zu lindern vermocht hatte und er entschlossen war, etwas gegen die Leiden der Menschheit zu tun. Der Schock über den Tod seiner Großmutter mag zwar zu seinem Gesinnungswandel beigetragen haben, doch die Wahl seiner Spezialgebiete läßt annehmen, daß es ihm auch um eine Heilung seines Asthmas ging. Neben seinem Studium arbeitete Ernesto in verschiedenen Teil­ zeitjobs, doch am intensivsten widmete er sich seiner Stelle in der Clinica Pisani - einem Krankenhaus, das auf die Behandlung von Allergien spezialisiert war. Ernesto hatte Dr. Salvador Pisani zunächst als Patient kennengelernt, aber dann zeigte er ein solches Interesse für dieses Fachgebiet, daß ihm der Arzt schon bald eine unbezahlte Assistentenstelle anbot - für einen jungen Medizin­ studenten eine unschätzbare Gelegenheit, sich in einem neuen Forschungsbereich zu profilieren. 47

Pisanis Behandlungsmethode bestand darin, daß er Allergikern halb verdaute Nahrungsstoffe injizierte, und auch bei Guevara hat­ te diese Behandlung gewisse Erfolge gezeitigt. Ernesto war von den positiven Ergebnissen und von seiner Arbeit im Labor begeistert, und Dr. Pisani betrachtete ihn immer mehr als seinen Schützling, der eines Tages in seine Fußstapfen treten würde. Aber hinter dieser äußeren Geschäftigkeit verbarg Ernesto, wel­ cher Aufruhr in ihm tobte. Einige Monate zuvor, am 17. Januar 1947, noch in der Villa Maria, hatte er seine Gefühle in Worte ge­ faßt. Ein freies Gedicht gibt uns einen Einblick in die Gefühle und Gedanken, die ihn in einem entscheidenden Augenblick seines Le­ bens bewegten:

Ich weiß es! Ich weiß! Wenn ich mich hinauswage, verschlingen mich die Fluten ... Mein Schicksal will es: Heute muß ich sterben! Doch nein; Willenskraft überwindet alle Hürden Hindernisse gibt es, das ist gewiß Ich will nicht hinaus. Wenn ich schon sterben muß, dann in dieser Höhle. Die Kugeln; was können sie mir anhaben, da mir vom Schicksal doch bestimmt ist zu ertrinken. Doch ich werde das Schicksal überwinden. Dein Schicksal änderst du durch Willenskraft. Sterben, ja, aber durchlöchert von Kugeln, durchstochen von Bajonetten, anders, nein. Ertrinken, nein ... Und im Gedächtnis bleibt, wenn mein Name vergessen, daß ich kämpfte, kämpfend starb. Willenskraft, Schicksal und die Entscheidung zwischen einem »si­ cheren« oder »gefährlichen« Leben - und die Angst, in den Fluten zu ertrinken, vielleicht eine Anspielung auf sein Asthma, das ihm große Einschränkungen auferlegte-, das sind die Fragen, mit de­ nen sich Ernesto in diesen Zeilen auseinandersetzt. Man wird die­ ses Gedicht wohl als den melodramatischen Erguß eines aufge­ wühlten, egozentrischen Achtzehnjährigen verstehen müssen.

Ernesto hatte in diesen Wochen viel einstecken müssen. Der Bruch zwischen seinen Eltern, der finanzielle Zusammenbruch, der unfreiwillige Umzug nach Buenos Aires und dann noch der Tod seiner geliebten Großmutter hatten bei ihm das Gefühl fami­ liärer Geborgenheit erschüttert. Als ältester Sohn fühlte ·er sich für seine Angehörigen verantwortlich, und die Zakunft muß ihm plötzlich voller Verpflichtungen erschienen sein. Zwar lebten die Guevaras jetzt in Buenos Aires, doch sie hatten kein Geld. Ein Jahr blieben sie in der Wohnung der verstorbenen Ana Isabel. Dann konnte Guevar.a Lynch die Plantage in Misiones verkaufen; und von dem Erlös erwarb Celia ein Haus für die Fa­ milie. Es war ein altes, häßliches Haus in der Calle Araoz 2180, und die älteren Kinder mußten Jobs suchen, um Geld zu verdienen. Die El­ tern, offiziell zwar noch verheiratet, hatten sich getrennt; Ernesto Lynch schlief auf der Wohnzimmercouch. Durch die neuen Umstände veränderte sich das Verhältnis zwi­ schen Ernesto und seinem Vater. »Wir scherzten miteinander, als wären wir im gleichen Alter«, schreibt Guevara Lynch. »Immer neckte er mich ... er verwickelte mich in politische Debatten ... der damals zwanzigjährige Ernesto war mir auf diesem Gebiet weit voraus, und wir diskutierten ständig. Jemand, der uns hörte, dach­ te wahrscheinlich, wir würden streiten. Weit gefehlt. Tief im In­ nern herrschte zwischen uns eine echte Freundschaft.«

II In seinem ersten Jahr an der Universität erhielt Ernesto seine Ein­ berufung zum Militärdienst. Als man bei der Musterung sein Asthma entdeckte, wurde er wegen »eingeschränkter körperlicher Fähigkeiten« freigestellt. So blieb ihm ein Jahr in den Militärka­ sernen erspart, und Ernesto war außer sich vor Freude. »Endlich haben mir diese beschissenen Lungen mal genützt«, scherzte er gegenüber seinen Freunden. An der medizinischen Fakultät besuchte er derweilen die übli­ chen Seminare und Vorlesungen in Anatomie und Physiologie. Seine beste Freundin war die Kommilitonin Berta Gilda lnfante oder »Tita«. Die Tochter eines verstorbenen Anwalts und Politi­ kers aus C6rdoba, deren Familie erst kürzlich in die Hauptstadt 49

übersiedelt war, fühlte sich auf Anhieb zu dem »schönen und leb­ haften Mann« hingezogen. Ein etwas makabres Foto des Studienjahrgangs 1948 zeigt einen Seziertisch, auf dem eine nackte männliche Leiche liegt. Tita ist ei­ nes der drei Mädchen der Gruppe. Während die anderen weißge­ kleideten Studenten ein ernstes Gesicht machen oder höchstens schüchtern grinsen, lacht Ernesto als einziger direkt in die Kame­ ra. In dem Anatomieseminar entwickelte sich zwischen Tita und Ernesto eine tiefe Freundschaft, die aber platonisch blieb. Ihr ge­ genüber konnte sich Ernesto in diesen für ihn so turbulenten Zei­ ten rückhaltlos öffnen. Was sie verband, war wohl das Bedürfnis nach einer tiefen, vertrauensvollen Freundschaft. Beide waren einsam, sehnten sich nach Zuwendung, bei beiden war die Familie nicht mehr intakt Titas Vater war drei Jahre zuvor verstorben -, und beide waren noch relativ neu in der brodelnden Hauptstadt mit ihren fünf Mil­ lionen Einwohnern. Sie blieben lange Jahre in Kontakt; nachdem Ernesto Argentinien verlassen hatte, führten sie einen lebhaften Briefwechsel. Da Celias Haus stets voller Menschen war, flüchtete sich Erne­ sto oft zu seiner Tante. In seinen Kindertagen hatte sie ihn ver­ wöhnt, ihm Bücher und Geschenke geschickt, ihm zum Lesen er­ muntert, sich um ihn Sorgen gemacht - sie hatte all das getan, was er von seiner Mutter nicht kannte. Und auch jetzt war sie immer für ihn da.

III Wie nicht anders zu erwarten, wurden Ernestos Kommilitonen nicht so recht klug aus ihm. Sie hatten den Eindruck, als befände er sich ständig in großer Eile. Kein Wunder, denn neben seiner Arbeit und dem Studium widmete er sich seiner neuen Leidenschaft: dem Reisen. Buenos Aires war für ihn eigentlich nur noch eine Art Stützpunkt für seine Ausflüge. Zunächst fuhr Ernesto lediglich über das Wochenende oder in den Ferien nach C6rdoba oder auf d(e estancia Santa Ana de Irino Portelo seiner verstorbenen Großmut­ ter, doch mit der Zeit reiste er immer häufiger und immer weiter. Trotz aller Umbrüche aber blieben einige Dinge in Ernestos Le-

ben unverändert. Er litt immer noch an Asthma, spielte Fußball und Schach - nun eine seiner liebsten Beschäftigungen -, ver­ schlang Bücher, arbeitete an seinen philosophischen Notizbüchern und schrieb außerdem Gedichte. Immer mehr Zeit verwendete er auf seine privaten Studien und Betrachtungen. Mit der gleichen Akribie listete Ernesto die Werke auf, die er gelesen hatte - mo­ derne Romane, europäische, amerikanische und argentinische Klassiker, medizinische Abhandlungen, Ly rik, Biographien und Philosophie, aber auch Abenteuergeschichten. Besonders liebte er die Romane von Jules Verne. Von ihm besaß er eine dreibändige, ledergebundene Werkausgabe, die er wie seinen Augapfel hütete und sich später, als er schon Revolutionär und Comandante war, nach Kuba nachschicken ließ. Darüber hinaus beschäftigte er sich auch weiterhin gründlich mit Fragen der Sexualität und des Sozialverhaltens und las dazu Freud und Bertrand Russell. Außerdem zeigte er ein wachsendes Interesse für gesellschaftsphilosophische Fragen; hier erstreckte sich seine Lektüre von den alten Griechen bis zu Aldous Huxley. Immer deutlicher trat seine Faszination für die Konzepte und Ur­ sprünge des Sozialismus hervor. Ernesto befaßte sich mit Benito Mussolinis Gedanken zum Faschismus, Josef Stalins Darstellung des Marxismus und der Frage der Gerechtigkeit bei Alfredo Pala­ cios, dem schillernden Gründer der sozialistischen Partei Argenti­ niens. Bei Zola interessierte ihn eine äußerst kritische Definition des Christentums und bei Jack London die marxistische Einteilung in die sozialen Klassen. Er las eine französische Biographie über Lenin, das Kommunistische Manifest und vertiefte sich erneut in Das Kapital. Sein drittes Notizbuch enthält eine ausführliche Stu­ die, in der er sich mit Leben und Werk des deutschen Philosophen Karl Marx auseinandersetzt. (Die Persönlichkeit von Karl Marx sollte ihn später beschäftigen. Während seines geheimen Aufent­ haltes in Afrika fand er die Zeit, das Konzept für eine Marx-Bio­ graphie zu entwerfen, die er schreiben wollte.) Für eine Charakteristik Lenins notierte sich Ernesto eine ganze Passage einer Lenin-Biographie von R. P. Ducatillon. Darin wird Lenin als eine einzigartige Persönlichkeit von historischer Bedeu­ tung geschildert, die »mit jedem Atemzug, in jeder Lebensäuße­ rung, ja sogar im Schlaf von der Revolution besessen war, so daß alles andere hinter dieser Sache zurückstehen mußte«. Diese Pas­ sage ist insofern bemerkenswert, als sie sich weitgehend mit der 51

Beschreibung des Revolutionärs Ernesto »Che« Guevara durch seine späteren Kampfgenossen deckt. Trotz seines Interesses am Sozialismus machte Ernesto auch weiterhin keine Anstalten, sich einer linken Gruppierung anzu­ schließen. In seinen Jahren an der Universität blieb er Beobachter, hörte zu, nahm gelegentlich auch an Debatten teil, wich jedoch je­ der aktiven Teilnahme am politischen Geschehen aus. Im Jahre 1950 hatte sich Per6n in Argentinien mit der populi­ stisch-nationalistischen Bewegung, die als peronismo bekannt werden sollte, fest etabliert. Per6n, der oberste »Führer«, und sei­ ne juwelengeschmückte junge Frau Evita, der messianische Ra­ cheengel, hatten sich eine sozialphilosophische Legitimation - of­ fiziell justacialismo genannt - gegeben, indem sie sich der Aufgabe verschrieben, eine »organisierte Gemeinschaft« in Harmonie le­ bender Menschen zu schaffen. Ungeachtet dieser hehren Vorstellungen ging Per6n mit aller Härte gegen seine Widersacher vor. Politische Gegner wurden ein­ geschüchtert; dank der verschärften Gesetze gegen desacato (Mißachtung der Behörden) drohten ihnen lange Haftstrafen. Die durch die Propaganda glorifizierten descamisados (Hemdlosen) wurden durch Vergünstigungen und die von Evita geförderten Ar­ beitsbeschaffungsmaßnahmen bestochen. Ernesto nahm offenbar weder für Per6n noch für dessen Gegner Partei: Denn die etablierten Parteien Argentiniens hatten kaum Lösungskonzepte für die sozialen Fragen anzubieten und wußten Per6n nur wenig entgegenzusetzen. Die Kommunistische Partei war zwar nicht verboten, doch Per6n hatte ihre Machtbasis in den Gewerkschaften und bei der Arbeitervereinigung Central General de Trabajadores ausgehöhlt, indem er Argentiniens Arbeiterschaft in neuen Organisationen zusammenfaßte. Daraufhin schlossen die Kommunisten ein Bündnis mit der radikalen Zentrumspartei und anderen linken Splittergruppen. Doch die Aktivitäten dieser Op­ positionsparteien erschöpften sich in ideologischen Auseinander­ setzungen. Außerdem verfügten sie über keine charismatische Führungspersönlichkeit und keinen Rückhalt bei den Massen. An den Universitäten engagierte sich die Federaci6n Juvenil Co­ munista, die Kommunistische Jugend, und Ernesto kannte einige ihrer Mitglieder persönlich. Zu ihnen zählte auch Ricardo Campos, der sich an »heftige und schwierige« politische Diskussionen mit Ernesto erinnert. Einmal konnte er ihn überreden, ein Treffen der 52

»Fede« zu besuchen, doch Ernesto stieß die Anwesenden vor den Kopf, indem er die Versammlung demonstrativ verließ. Für Tita Infantes Bruder, ebenfalls Kommunist, war Ernesto ein »progressiver Liberaler«, der sich hauptsächlich für Medizin und Literatur interessierte. Einmal sprachen sie über die Werke des ar­ gentinischen Schriftstellers Anibal Ponce, eines Marxisten. Doch als sie auf die Kommunistische Partei zu sprechen kamen, kriti­ sierte Ernesto ihr politisches Sektierertum und äußerte sich ziem­ lich skeptisch über ihre Rolle in der argentinischen Politik. Ernestos sich abzeichnendes Weltbild äußerte sich also weniger in politischen Aktionen als in persönlichen Gesprächen. Doch kei­ ner der Freunde und Verwandten hätte ihn in jenen Tagen als Mar­ xisten bezeichnet - er selbst sich im übrigen auch nicht. Sein un­ verhülltes Eintreten für unpopuläre Standpunkte schrieb man seiner Erziehung durch» Bohemiens« und seinem rebellischen Cha­ rakter zu, der sich ja auch in seiner Mißachtung der Kleiderordnung und seiner Vorliebe für das Vagabundieren und Reisen zeigte. Die meisten nahmen an, daß sich das alles mit der Zeit legen würde. In jenen Jahren hegten breite Teile der argentinischen Öffent­ lichkeit großen Argwohn gegen ausländische Investoren. Der Grund dafür waren die verheerenden wirtschaftlichen Auswir­ kungen der Depression während der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre und der beiden Weltkriege. Damals waren die Weltmarktpreise für argentinische Agrarexporte wiederholt gefal­ len. Gleichzeitig war die heimische Industrie trotz steigender Importpreise unfähig gewesen, die inländische Produktion zu stei­ gern. In dem 1933 geschlossenen und 1936 erneuerten Roca­ Runciman-Pakt hatte sich Großbritannien verpflichtet, Weizen, Wolle und Rindfleisch aus Argentinien zu kaufen - doch im Ge­ genzug mußte Argentinien britische Produkte importieren und britischen Investoren Vergünstigungen gewähren. Investitionen aus dem Ausland waren in Argentinien daher immer mehr zum Synonym für eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten geworden, ein Punkt, der im Lande nationalistische Gefühle schür­ te. Und so äußerten auch viele Argentinier ihre Ablehnung, als sich die US-amerikanische Regierung unter Präsident Truman für ei­ nen Verteidigungspakt zwischen den Vereinigten Staaten und sei­ nen lateinamerikanischen Nachbarn aussprach. Dieser Vorstoß Washingtons stand im Zusammenhang mit der kurz zuvor ver53

kündeten Truman-Doktrin und zielte darauf ab, mit aller Gewalt ein Ausbreiten des Sowjetkommunismus zu verhindern. t948 fand die Konferenz von Rio de Janeiro statt, auf der die Regierungs­ politiker der Region das neue Konzept des Panamerikanismus feierten und einen Vertrag unterzeichneten, der dem Geist der Tru­ man-Doktrin entsprach. Lateinamerikanische Kommunisten ver­ urteilten die von den USA propagierte »Brüderlichkeit« als Neu­ auflage der alten Monroe-Doktrin, durch die der Kontinent den kolonialistischen Interessen der Wall Street und der »kapitalisti­ schen Monopolgesellschaften« ausgeliefert würde. Tatsächlich gab der Vertrag von Rio Washington das Recht zu militärischer Inter­ vention in den Nachbarstaaten, »um ein freies Volk zu schützen, das sich gegen die Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder den Druck von außen wehrt«. Ernesto verfolgte die Konferenz von Rio aufmerksam und notierte sich unter dem Stichwort pan­ americanismo eine religiös angehauchte Definition des Begriffs,

die von einem der Konferenzteilnehmer stammte. Wie Dolores Moyano meint, wurden Ernestos politische An­ sichten während der fünfziger Jahre in erster Linie von einer tie­ fen Feindseligkeit gegenüber den Vereinigten Staaten geprägt. »In seinen Augen gab es zwei Übel, unter denen Lateinamerika litt: die heimische Oligarchie und die Vereinigten Staaten. Das einzige, was ihm an jenem Land gefiel, waren seine Dichter und Romanciers, ansonsten habe ich ihn nie etwas Gutes darüber sagen hören.« Im Lateinamerika der Nachkriegszeit gab es allerdings auch vie­ les, was solch eine Haltung fördern konnte. Ernesto wuchs in einer Zeit auf, als sich die Vereinigten Staaten in der Region als impe­ rialistische Großmacht gebärdeten, die ohne Rücksicht auf latein­ amerikanische Forderungen nach sozialen oder politischen Re­ formen ihre eigenen Interessen verfolgte. In der durch den Antikommunismus aufgeheizten Atmosphäre des Kalten Krieges beriefen sich die USA auf die nationale Sicherheit, wenn sie rech­ te Militärdiktaturen stützten - Anastasio Somoza in Nicaragua, Rafael Trujillo in der Dominikanischen Republik, Manuel Odrfa in Peru und Marcos Perez Jimenez in Venezuela. Gleichzeitig wurden offen nationalistische oder linke Regime bekämpft. Während sich Washingtons Hauptaugenmerk auf den Machtzu­ wachs der Sowjetunion im Europa der Nachkriegszeit richtete, ver­ lieh die Central Intelligence Agency (CIA) Ende der fünfziger Jah­ re zum erstenmal ihrer Sorge Ausdruck, der Kommunismus könne 54

sich auch in Lateinamerika ausbreiten. In der geheimen Studie So­ viet Capabilities and Intentions in Latin America (Ziele und Mög­ lichkeiten der Sowjets in Lateinamerika) heißt es: »In bezug auf Lateinamerika müssen wir annehmen, daß die UdSSR das Ziel ver­ folgt, den Einfluß der USA soweit als möglich zurückzudrängen, bis eine Sowjetisierung der Region möglich wird und ihre Res­ sourcen zur Stärkung der Macht der Sowjetunion verwendet wer­ den.« Ernesto war in seinem vierten Studienjahr, als auch Per6n unter Vorwand der angeblichen Bedrohung durch den Kommunismus gegen die Linken vorging. Bei einer Massenverhaftung wurde ei­ ner von Ernestos Freunden aus C6rdoba, sein Altersgenosse Fer­ nando Barral, wegen »kommunistischer Agitation« festgenom­ men. Barral war aus der sparyischen Republik nach Argentinien emigriert, nachdem sein Vater, ein berühmter Bildhauer, bei der Verteidigung Madrids gefallen war. Nach sieben Monaten Haft sollte Fernando in das Spanien Francos abgeschoben werden. Doch die Kommunistische Partei Argentiniens konnte erreichen, daß er nach Ungarn ausreisen durfte, wo ihm politisches Asyl gewährt wurde. Seit dem Umzug der Guevaras nach Buenos Aires hatten Erne­ sto und Barral nur noch wenig Kontakt. Barral hatte sich in Erne­ stos Cousine C6rdova Iturburu verliebt, die seine Gefühle zwar nicht erwiderte, aber eng mit ihm befreundet war. Vielleicht sah Ernesto in Barral einen Rivalen um die Gunst seiner Cousine, viel­ leicht konnte er sich auch einfach nicht mit dessen »Dogmatis­ mus« anfreunden, wie Barral später selbst vermutete. Jedenfalls schien die siebenmonatige Haft des jungen Spaniers Ernesto nicht zu berühren; weder besuchte er ihn im Gefängnis, noch unter­ stützte er die Bemühungen, ihn in Sicherheit zu bringen.

IV Mit Anfang Zwanzig galt Ernesto als faszinierender Außenseiter, der sich nur schwer einordnen ließ. Sein Aufzug war exzentrisch, das Gespött der Leute kümmerte ihn nicht. Während sich die Ju­ gendlichen seiner Gesellschaftsschicht normalerweise mit Schlips und Kragen, Hosen mit Bügelfalte und blankgewienerten Schuhen herausputzten, um ja nicht für Söhne armer Einwanderer aus der 55

Arbeiterklasse gehalten zu werden, trug er schmuddelige Regen­ mäntel und ausgetretene altmodische Schuhe, die er beim Trödler erstand. Ernesto war hoffnungslos unmusikalisch und lernte erst tanzen, als ihm seine Freunde die Grundschritte beibraEhten. Zu Beginn ei­ ner Melodie erkundigte er sich bei ihnen nach dem Rhythmus Tango, Walzer oder Mambo. Dann forderte er ein Mädchen auf und zählte im Geiste den Takt mit, während er seine Partnerin unbe­ holfen über die Tanzfläche schob. »Das Tanzen interessierte ihn nicht im geringsten«, erinnert sich sein Freund Carlos Figueroa. Er war ein »schamloser caradua«, ein ungenierter und unersättlicher Schürzenjäger, und tanzte nur, um sich an seine Beute heranzupirschen. Wenn eine Frau »ZU haben war«, griff er ohne Skrupel zu; das Aussehen oder ein eventueller Altersunterschied fielen für ihn dabei nicht ins Gewicht. Mit seinen Eltern pflegte er einen lockeren Umgangston, nann­ te sie vieja und viejo, doch wenn es um ihn selbst ging, war er eben­ so unkompliziert. Besonders amüsierte ihn sein neuer Spitzname »EI Chancho« (das Schwein), nicht zuletzt deshalb, weil sich sein Vater darüber heftig empörte. Als Guevara Lynch herausfand, daß der Name von Carlos Figueroa stammte, ging er wutentbrannt auf den jungen Mann los, der seiner Ansicht nach die Ehre der Familie angegriffen hatte. Während Ernesto mit seinem Vater oft stritt, wurde sein Ver­ hältnis zu seiner Mutter immer liebevoller. Der Grund war ihre Krankheit. I946 hatte man bei ihr Brustkrebs diagnostiziert; sie hatte sich einer Mastektomie unterziehen müssen, und Ernesto machte sich Sorgen, die Krankheit könnte wiederkehren. Die In­ nigkeit ihrer Beziehung fiel allen Freunden der Familie auf; einige meinten sogar, ihre Verbindung sei so eng gewesen, daß sich die an­ deren Kinder ausgeschlossen fühlen mußten. Da im Haus der Guevaras ständig Geldnot herrschte, versuchte sich Ernesto in einer Reihe einfallsreicher, aber wenig ergiebiger Geschäfte. Mit von der Partie war gewöhnlich sein alter Freund Carlos Figueroa, der inzwischen in Buenos Aires Jura studierte und stets nach Möglichkeiten suchte, etwas Geld zu verdienen. Bei ihrem ersten Projekt- einer Idee von Ernesto- ging es um ein Mit­ tel gegen Heuschrecken namens Gamexane, das sich vorzüglich zur Bekämpfung von Küchenschaben im Haushalt eignete. Nach­ dem sie es in der Nachbarschaft mit gutem Erfolg getestet hatten,

beschlossen sie, in die Massenproduktion einzusteigen. Gemein­ sam mit Figueroa und einem Patienten aus Dr. Pisanis Klinik füll­ ten sie das Pulver, gemischt mit Talkumpuder, in der Garage von Ernestos Elternhaus in kleine Packungen. Ernestos Familie machte gute Miene zum bösen Spiel, doch das Insektizid verbreitete einen unerträglichen, penetranten Gestank. Als dann erst seinen Helfern und später auch Ernesto bei der Ar­ beit übel wurde, gab man das Projekt auf. Daneben führte Ernesto in jener Zeit zu Hause medizinische Forschungsexperimente durch. Eine Zeitlang hielt er auf dem Bal­ kon vor seinem Schlafzimmer in Käfigen Kaninchen und Meer­ schweinchen, denen er kanzerogene Stoffe injizierte. Weniger töd­ liche Substanzen testete er auch an seinen Freunden. Carlos Figueroa stellte sich eines Tages völlig arglos als Versuchsperson zur Verfügung, und als bei ihm nach der Injektion deutliche Schwellungen auftraten, rief Ernesto glücklich aus: »Genau die Reaktion, die ich erwartet habe.« Anschließend verabreichte er ihm eine weitere Injektion, die die Symptome zum Verschwinden brachte. Ein Kommilitone erinnert sich daran, wie Ernesto und er einen amputierten Fuß in der U-Bahn von Buenos Aires transportierten. Sie hatten ihn den Assistenten der Pathologie abgeschwatzt, um zu Hause »daran zu üben«, und ihn für die Fahrt in Zeitungspapier gewickelt. Schon bald merkten sie an den entsetzten Blicken der Mitreisenden, daß diese erkannt hatten, was sich in dem schlecht eingeschlagenen Paket verbarg. Ernesto ergötzte sich an ihrer Re­ aktion, und als sie zu Hause ankamen, bog er sich vor Lachen. Doch die größte Freiheit fand er im Reisen. Auf vielen der Aus­ flüge per Anhalter, die zumeist nach C6rdoba führten, begleitete ihn Carlos Figueroa. Für die normalerweise zehnstündige Fahrt benötigten sie auf den Ladeflächen der Laster oft über siebzig Stunden, und manchmal mußten sie sich den Fahrpreis auch ver­ dienen, indem sie beim Abladen halfen. Ernesto fand an seinen Ausflügen großen Gefallen, und am lieb­ sten hätte er seine Reisen noch weiter ausgedehnt. Ihn lockte die Ferne. Am 1. Januar 1950, als sein drittes Studienjahr zu Ende ging, brach er auf einem mit einem kleinen italienischen Cucchiolo-Mo­ tor ausgestattetem Fahrrad zu seiner ersten richtigen Reise in das Innere Argentiniens auf. Sein ersters Ziel war C6rdoba. Von dort wollte er hundertfünf57

zig Kilometer Richtung Norden nach Francisco de! Chanar fahren, wo Alberto Granado in einem Leprakrankenhaus arbeitete.

V Auf dieser Reise entdeckte Guevara eine weitere Vorliebe, die ihn sein Leben lang begleiten sollte: Er begann Tagebuch zu führen. Mit seinen einundzwanzig Jahren fühlte er zum erstenmal den Drang, seine täglichen Erlebnisse schriftlich festzuhalten." Am zweiten Abend seiner Fahrt erreichte er seinen Geburtsort Rosario, und in der nächsten Nacht, nach »einundvierzig Stunden und siebzehn Minuten« fuhr er am Haus der Familie Granado in C6rdoba vor. Dort blieb er einige Tage und besuchte Freunde, bevor er mit Al­ bertos Brüdern Tomas und Gregorio einen Campingausflug zu ei­ nem Wasserfall nördlich der Stadt unternahm. Einmal mehr übten sie sich in jugendlicher Ausgelassenheit: Sie kletterten auf Felsen, sprangen aus großer Höhe in einen See, und um ein Haar wären sie von einer Springflut mitgerissen worden. Gregorio und Tomas kehrten nach Hause zurück, während Er­ nesto seine Reise fortsetzte. Seine nächste Station war das Le­ prosarium Jose J. Puente am Rande der Stadt San Francisco de! Chanar, wo Alberto arbeitete. Da Alberto die Anfälligkeit des Im­ munsystems bei Lepra kranken untersuchte und Ernesto sich in der Clinica Pisani mit Allergologie beschäftigte, hatten sie mittlerwei­ le mehr gemeinsame Interessen als Bücher und Fußball. Die Welt der medizinischen Forschung war laut Alberto »für uns beide so ei­ ne Art Leitfaden, der uns in die Zukunft zu führen schien«. Voller Interesse für Albertos Arbeit begleitete Ernesto ihn auf seinen Visiten bei den Leprakranken. Doch schon bald kam es zu einem Streit. Der Anlaß war Albertos Verhalten gegenüber einer Patientin, einem hübschen jungen Mädchen namens Yolanda, bei der die gefürchteten Leprasymptome - große Flecken abgestorbe­ nen Fleisches - bisher nur am Rücken aufgetreten waren. Grana­ do wußte, daß sich das Mädchen bei jedem neuen Arzt darüber be-



Nach Ches Tod fiel das Tagebuch seinem Vater in die Hände. Er schrieb es ab und füg­

te es in sein Buch Mi Hijo el Che (Mein Sohn Che) ein. Abgesehen von einigen unent­ zifferbaren Stellen will sich Guevara Lynch genau an das Original gehalten haben.

klagte, sie sei ohne Grund hier eingesperrt. »Ernesto war da keine Ausnahme, und da ihn offensichtlich ihre Schönheit und die an­ rührende Darlegung ihres Falls beeindruckten, kam er zu mir. Und schon waren wir am Streiten.« Ernesto meinte, man müsse bei der Entscheidung, ob ein Kran­ ker eingewiesen und isoliert werde, mehr Sorgfalt walten lassen. Dagegen wies Granado darauf hin, daß das Mädchen keine Hei­ lungschancen habe und ihre Erkrankung höchst ansteckend sei. Zum Beweis stach er der Patientin eine lange Subkutannadel ins abgestorbene Fleisch. Das Mädchen spürte nichts. »Ich sah Ernesto triumphierend an, doch sein Blick ließ mein Lächeln gefrieren. Der zukünftige >Che< befahl mir barsch: >Mfal, sag ihr, sie soll gehen!< Und als die Patientin das Zimmer verließ, merkte ich, daß mein Freund seine Wut kaum noch zügeln konnte ... So hatte ich ihn noch nie erlebt, und ich mußte einen Schwall von Vorwürfen über mich ergehen lassen. >Petisoich verstehe nicht, wie du so unsensibel sein kannst. Du hast das junge Mädchen benutzt, um mit deinem Wissen anzugeben.«< Nachdem Granado seinen Standpunkt erklärt hatte, versöhnten sich die Freunde wieder, doch vergessen wurde der Vorfall nie. Nach einigen Tagen im Leprakrankenhaus brannte Ernesto dar­ auf, seine Reise fortzusetzen. Er durchquerte ohne Zwischenfälle die Wüste Salinas Grande und erreichte schließlich Loreto. In der örtlichen Polizeistation erhielt er ein Bett für die Nacht.Als die Po­ lizisten hörten, daß er Arzt war, drängten sie ihn zu bleiben, weil es im Ort keine medizinische Versorgung gab. Nichts lag Ernesto ferner, und am nächsten Tag war er wieder unterwegs. In Santiago del Estern, einer Provinzhauptstadt, ging Ernesto zum Krankenhaus, stellte sich als Medizinstudent vor und bat um einen Schlafplatz. Nachdem man ihm den Sitz eines Lastwagens zugewiesen hatte, schlief er »wie ein König«, bis ihn am nächsten Morgen in aller Frühe der Fahrer aufweckte. Auch in Jujuy stellte er »die Gastfreundschaft der Provinz auf die Probe«. Wieder wies er auf sein Medizinstudium hin, als er im örtlichen Krankenhaus um ein Bett für die Nacht bat. Das bekam er auch, aber erst, nach­ dem er als Gegenleistung einem zeternden kleinen lndianerjungen den Kopf entlaust hatte. Jujuy war der nördlichste Punkt seiner Reise. Eigentlich hatte er bis an die Grenze nach Bolivien fahren wollen, aber wie er seinem Vater schrieb, machten ihm »mehrere über die Ufer getretene 59

Flüsse und ein aktiver Vulkan« einen Strich durch die Rechnung. Außerdem waren die Semesterferien in wenigen Wochen zu Ende. Zum erstenmal in seinem Leben hatte Ernesto die. krassen so­ zialen Unterschiede in seinem lande kennengelernt; er hatte der europäisch geprägten Kultur der Einwanderer den Rücken gekehrt und war in die ihm unbekannte Welt der Eingeborenen im Hinter­ land eingetaucht. Für Ernesto war die vielbeschworene moderne argentinische Nation ein künstliches Gebilde, eine »prächtige Fas­ sade«, hinter der sich die wahre »Seele« des Landes verbarg - und diese Seele war verdorben und krank. Während seiner Reise hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie erbärmlich die Lebensbedingungen der sozialen Randgruppen der Wanderarbeiter, Leprapatienten, Häftlinge, Kranken - waren. Die wenigen Städte der dünnbesiedelten Nordprovinzen Argenti­ niens wurden noch immer von einer Handvoll Großgrundbesitzer beherrscht, die unvorstellbar reich waren und ungeheure Privile­ gien genossen . Die von den spanischen Eroberern geschaffenen ko­ lonialen Strukturen, die die Herrschaft über die deklassierte »fremde« Mehrheit der Eingeborenen zementierten, waren seit Jahrhunderten unangetastet geblieben. Doch mittlerweile strömten die gemeinhin als coyas bezeichne­ ten argentinischen Indianer und die Mischlinge, die cabezitas ne­ gras (die kleinen Schwarzköpfe), in immer größerer Zahl in die Städte und ließen sich in Slums wie jenen vor dem Haus der Gue­ varas in C6rdoba nieder. Aus ihren Reihen stammten die Haus­ mädchen wie »La Negra« Cabrera und die billigen Arbeitskräfte für die neuen Industriezweige und die öffentlichen Bauvorhaben. Sie bildeten jene verachtete Klasse, von der Per6n sprach, als er die Nation aufforderte, die descamisados in ihre Reihen aufzunehmen - mochte sich die weiße Elite in ihrer einst exklusiven städtischen Idylle von ihrer Grobheit und ihrem Lärm auch noch so gestört fühlen. Bisher hatte Ernesto nur eine abstrakte Vorstellung von diesen Leuten gehabt, und bestenfalls hatte er sie als Dienstboten erlebt . Doch durch seine Reise wurden sie für ihn zu Menschen aus Fleisch und Blut. Rechtzeitig zum Semesterbeginn war Ernesto wieder in Buenos Aires. In den sechs Wochen seiner Reise hatte er zwölf Provinzen durchquert und viertausend Kilometer zurückgelegt.

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VI In seinem vierten Jahr an der medizinischen Fakultät legte Erne­ sto fünf Prüfungen ab, die er für seinen Abschluß brauchte, und setzte die Arbeit in der Clinica Pisani fort. Doch der Drang, die Welt zu erkunden, ließ sich nicht unterdrücken, und angesichts des Erfolgs seines »Streifzugs« durch Argentinien schmiedete er be­ reits neue Reisepläne. Aber Anfang Oktober, kurz vor Semester­ ende, widerfuhr ihm etwas völlig Neues: Ernesto hatte sich zum erstenmal verliebt. Die Familie Guevara war zu einer Hochzeit nach C6rdoba ein­ geladen. Auf dem Fest lernte Ernesto die sechzehnjährige Marfa del Carmen »Chichina« Ferreyra kennen, die aus einer der ältesten und wohlhabendsten Familien C6rdobas stammte. Sie waren sich zwar schon früher begegnet, doch damals war Chichina noch ein kleines Mädchen gewesen. Nun war sie trotz ihrer sechzehn Jahre bereits eine äußerst begehrenswerte junge Frau, eine Brünette mit zarter heller Haut und vollen Lippen. Als Ernesto sie sah, war es, als habe »ihn der Blitz getroffen«, berichtet Pepe Aguilar. Chichina ging es nicht anders. Sie war fasziniert von »seiner außergewöhnlichen Erscheinung« und seiner spielerischen, un­ konventionellen Art. »Seinen nachlässigen Aufzug fanden wir ko­ misch, doch zugleich auch ein wenig peinlich ... Wir waren so ein­ gebildet, daß wir Ernestos Auftreten fast schon als Affront auffaßten. Er ließ unsere Scherze ungerührt über sich ergehen.« Zumindest für Ernesto war die Romanze, die sich entwickelte, etwas Ernstes. Doch allen Berichten nach handelte es sich auch bei Chichina nicht nur um weibliche Koketterie; dazu war sie trotz ih­ rer Jugend viel zu intelligent und sensibel. Offensichtlich kam Er­ nesto zu der Überzeugung, sie sei die Frau seines Lebens. Während die Guevaras zu den verarmten »guten Familien« zählten, gehörte Chichina zum echten »Adel« C6rdobas. Sie war Erbin des Familienimperiums der Ferreyras, eines Kalksteinbruchs und einer Fabrik, zwei der wenigen Industriebetriebe jener Regi­ on. Vor den Toren der Stadt lag ihre riesige estancia Malaguei'io, wo die Ferreyras gewöhnlich den Sommer verbrachten. Die beiden Familien kannten sich bereits flüchtig aus der Zeit, als die Guevaras noch in C6rdoba wohnten. Guevara Lynch hatte mit ihnen geschäftlich zu tun gehabt, und die Kinder waren be­ freundet gewesen. Was auch immer Chichinas Eltern von Ernesto

als möglichem Bewerber um die Hand ihrer Tochter halten moch­ ten, sie lehnten ihn jedenfalls nicht von Anfang an ab. Vielleicht lag es daran, daß sie selbst einem Kreis kultivierter, weltoffener und einfühlsamer Menschen angehörten und sich damit von der an­ sonsten so konservativen Gesellschaft der Provinz deutlich unter­ schieden. Für Ernesto muß die Atmosphäre bei den Ferreyras äußerst an­ regend gewesen sein - und eine Herausforderung. Schon bald fuhr er regelmäßig von Buenos Aires nach C6rdoba, und im Jahre 1951 war er ständiger Gast in der Stadtwohnung und im Landhaus der Familie. Doch dann - viel zu früh - versuchte Ernesto, Chichina zur Hei­ rat zu überreden.Auf ihrer Hochzeitsreise wollte er mit ihr in einer casa rodante (einem Wohnmobil) durch Südamerika fahren. »Da­

mit fingen die Schwierigkeiten an«, erinnert sieh Pepe Aguilar. »Chi­ china mit ihren sechzehn Jahren konnte sich nicht entscheiden, und die Eltern nahmen den Antrag nicht sehr wohlwollend auf.« Danach war Ernesto im Kreise der Ferreyras nicht mehr gern ge­ sehen. Den Höhepunkt erreichten die Spannungen bei einem Abendessen im Landhaus, an dem sowohl Pepe Aguilar als auch Dolores Moyano teilnahmen. Man kam auf Winston Churchill zu sprechen, dessen Name im Haus der äußerst anglophilen Ferrey­ ras nur mit Ehrfurcht ausgesprochen wurde. Wie Dolores berich­ tet, lauschte Ernesto mit unverhohlenem Spott den Anekdoten, die die älteren Familienmitglieder über Churchill erzählten. Schließlich konnte Ernesto nicht länger an sich halten. Er sprang auf und beschimpfte den Verehrten rundheraus als »politische Rat­ te«. Pepe Aguilar kann sich an den Eklat noch gut erinnern. »Chi­ chinas Vater Horacio sagte: >Das ist zuviel< und verließ den Tisch. Als ich Ernesto ansah, dachte ich, eigentlich müßten wir ja gehen, doch er grinste nur unverfroren und biß in eine Zitrone, mit Scha­ le und allem Drum und Dran.« Und Chichina traf sich weiterhin mit Ernesto, wenn auch nur noch heimlich. Doch im Dezember 1950, als das Studienjahr zu Ende ging, kam Ernesto nicht nach C6rdoba. Statt dessen machte er beim staatli­ chen Gesundheitsdienst eine Ausbildung als Pfleger und bewarb sich bei der Schiffahrtslinie einer Ölgesellschaft als »Schiffsarzt«. Am 9. Februar 1951 brach er an Bord des Tankers Anna G. nach Brasilien auf. Die Reise dauerte sechs Wochen. Bis zum Juni war er insgesamt viermal unterwegs, verbrachte mehr Zeit auf See als an 62

Land und lernte sowohl die Hafenstädte im äußersten Süden Ar­ gentiniens wie auch die britischen Kolonien Trinidad und Tobago, Cura\ao, Britisch-Guyana, Venezuela und die brasilianischen Hä­ fen im Norden kennen. In Gedanken war er jedoch oft bei Chichina. Sobald das Schiff im Hafen anlegte, rief er seine Schwester Celia an und fragte nach Briefen. Seine Freunde und Geschwister hatten den Eindruck, daß Ernesto auf See ein äußerst romantisches Leben führte. Er brach­ te ihnen ausgefallene kleine Geschenke aus den fremden Hafen­ städten mit, und wenn er mit ihnen zusammen war, spann er See­ mannsgarn. Carlos Figueroa erzählte er von einem Kampf mit einem amerikanischen Matrosen in Brasilien (bei seiner Schwester Celia war es ein Engländer in Trinidad), und Osvaldo Bidinost mußte sich anhören, wie er auf hoher See einen Matrosen mit dem Küchenmesser am Blinddarm operierte. In Wirklichkeit war sein Leben als Seemann eher ernüchternd. Die Öltanker, auf denen er angeheuert hatte, lagen nur kurze Zeit in den Häfen, so daß er sich kaum etwas ansehen konnte. Bei sei­ ner Rückkehr zu Semesterbeginn war dieses Kapitel für ihn abge­ schlossen. Offensichtlich hatte er während dieser Fahrten viel gelesen und nachgedacht, denn er überreichte Guevara Lynch bei der Rückkehr ein ungewöhnliches Geschenk - ein Heft mit einem autobiografi­ schen Essay, der dem Vater gewidmet war: »Angustia (Eso Es Cier­ to)« - Leid (Das ist gewiß). Der metaphernreiche, introspektive Text beschäftigte sich mit Charakter und Ursache der Depressio­ nen, die Ernesto offenbar auf hoher See überkommen hatten. »Ich sinke auf die Knie und suche nach einer Lösung, der Wahr­ heit, einem Ziel. Wahrlich, ich bin zum Lieben geboren und nicht, um ständig an einem Schreibtisch zu sitzen und mich mit der Fra­ ge zu beschäftigen, ob der Mensch gut ist. Seit ich ihm auf dem lande, in der Fabrik, im Waldarbeiterlager, in der Mühle, in der Stadt nahegekommen bin, weiß ich, der Mensch ist gut. Wenn man bedenkt, daß ein gesunder junger Mensch, der zur Zusammenar­ beit bereit und kräftig ist wie ein Ziegenbock, von dem Leben völ­ lig ausgeschlossen ist: Das ist Leid. Ein nutzloses Opfer zu bringen, das in nichts dazu beiträgt, ein anderes Leben zu ermöglichen: Das ist Leid.«

VII

Ende Juni ging Ernesto wieder auf die Universität. Er war jetzt dreiundzwanzig Jahre und hatte noch zwei Studienjahre vor sich, ehe er seinen Abschluß machen konnte. Allerdings hatten die Se­ minare und Prüfungen ihren Reiz verloren, denn ein neues Leiden hatte ihn ergriffen: Liebessehnsucht und Rastlosigkeit. Die Fahrt durch Argentinien und die Monate auf See hatten in ihm die Rei­ selust geweckt, doch andererseits wollte er nach wie vor Chichina heiraten und mit ihr fortgehen. Chichina mit ihren knapp siebzehn Jahren stand jedoch noch im­ mer unter dem Einfluß ihrer Familie. Der Widerstand ihrer Eltern und ihre eigene Unentschlossenheit ließen die Beziehung zu Erne­ sto in einem quälenden Schwebezustand erstarren. Und daß sie in verschiedenen Städten lebten, machte die Dinge nicht gerade ein­ facher. Die Rettung nahte in Gestalt von Alberto Granado, der seit kur­ zem den. verwegenen Plan hegte, ein Jahr lang kreuz und quer durch Südamerika zu reisen, und noch einen Begleiter suchte. Wer, wenn nicht »EI Pelao« würde alles stehen- und liegenlassen, wenn sich ihm die Aussicht auf ein solches Abenteuer bot? Ernesto, der vom Medizinstudium die Nase voll hatte, sagte auf der Stelle zu. Am 4. Januar 1952 brachen sie zu dem Badeort Miramar an der Atlantikküste auf, wo Chichina mit einer älteren Tante und ein paar Freunden Urlaub machte. Ernesto wollte ihr auf Wiedersehen sagen, und unter dem Arm trug er ein Geschenk: einen Welpen, den er auf den englischen Namen »Come-back« getauft hatte.

5

Flucht in den Norden

Nun trennte die beiden Freunde nur noch eine Hürde von der wei­ ten Welt: Miramar, wo sich Chichina aufhielt. Ernesto liebte sie nach wie vor, und ihn quälte die Frage, ob er sie wirklich zurück­

lassen sollte. Hatte er die richtige Entscheidung getroffen? Würde sie auf ihn warten? Er hoffte, daß sie es ihm versprechen würde. Der j unge Hund namens »Come-back« sollte als Symbol ihrer Verbundenheit gelten, als ein Zeichen, daß Ernesto zurückkehren sollte. Auch Alberto hatte seine Zweifel; er fragte sich, ob ihre Reise zu

Ende war, noch ehe sie begonnen hatte. Ernesto, der das wußte, schreibt in seinem Tagebuch:* »Alberto hatte die Gefahr erkannt

und sah sich schon allein auf Amerikas Straßen, sagte aber kein Wort. Der Kampf wurde allein zwischen ihr und mir ausgetragen.«

Aus den geplanten zwei Tagen in Miramar wurden acht, doch schließlich entschied sich Ernesto zum Aufbruch. Zwar hatte ihm Chichina weder ihren Segen noch das Pfand gegeben, das er für die Reise verlangt hatte, doch »Come-back« hatte sie angenommen, obwohl ihre Freundinnen die Nase »über die häßliche Promenade­

mischung« rümpften - offensichtlich kein reinrassiger Schäfer­ hund, wie Ernesto behauptet hatte. Chichina gab ihm fünfzehn

Dollar, für die er ihr in den Vereinigten Staaten einen Schal kau­ fen sollte - nicht unbedingt ein Symbol für unverbrüchliche Lie­ be und Treue. Und so dürften Ernesto dunkle Ahnungen geplagt haben, als er am 14. Januar auf Albertos Motorrad, genannt »La Poderosa«, »die Kräftige«, stieg.



ln den Notas de Viaje faßte Ernesto nach seiner Reise seine Tagebucheintragungen

zusammen. Ches Witwe Aleida March übertrug die Texte und veröffentlichte sie nach seinem Tode in einer offensichtlich authentischen und ungekürzten Fassung.

II Den großen Reisen stand nun nichts mehr im Wege. Bis zur Grenze brauchten sie jedoch zwei Wochen. Noch bevor sie die Hälfte der dünnbesiedelten Pampa westlich von Bahfa Blanca überquert hatten, bekam Ernesto Fieber und mußte für einige Ta­ ge ins Krankenhaus. Als sie in dem malerischen Seengebiet zwischen den bewaldeten Ausläufern der Kordilleren an der chilenischen Grenze eintrafen, waren ihre mageren Ersparnisse nahezu aufgebraucht. Wie Erne­ sto trocken bemerkt, entwickelten sie sich zu routinierten man­ gueros motorizados (motorisierten Schnorrern), die bei der Suche

nach Mahlzeit und Schlafstätten auf das Wohlwollen ihrer Mit­ menschen angewiesen waren. Alberto und Ernesto wetteiferten miteinander, wer den anderen beim Ergattern des lebensnotwen­ digen übertreffen konnte. Wenn sie, was immer wieder geschah, abgewiesen wurden, mußten sie ihr Zelt aufschlagen. Häufiger jedoch hatten sie Glück und bekamen für ihre Schlafsäcke ein Fleckchen in einer Garage, Küche oder Scheune zugewiesen, oder aber sie teilten sich auf dem örtlichen Polizeirevier Zelle und Ration mit den unterschiedlich­ sten Gesetzesbrechern. Im Seengebiet gingen sie wandern, bestiegen einen Berggipfel wobei sie beinahe abgestürzt wären - und schossen sich mit Gue­ vara Lynchs Revolver eine Wildente. An einem besonders schönen Fleckchen malten sie sich aus, wie sie hier später einmal ihr medi­ zinisches Forschungszentrum errichten würden. Als sie nach ei­ nem dieser Ausflüge zu ihrem Stützpunkt, einem Polizeirevier, ka­ men, lag dort für Ernesto ein Brief von Chichina. Sie teilte ihm mit, daß sie nicht auf ihn warten werde. »Ich las dieses unglaubliche Schreiben immer wieder durch. Alle meine Träume zerbrachen plötzlich ... einfach so ... Mit einemmal hatte ich Angst um mich und begann einen flehenden Brief zu schreiben, doch es ging nicht, der Versuch war zwecklos.« In einem Kapitel seiner Notas de Viaje mit der Überschrift »Der letzte Faden reißt « versucht Ernesto den Eindruck zu erwecken, er habe die Trennung gut verkraftet. »In der Dämmerung, die uns umgab, drehten sich schattenhafte Gestalten im Kreis, doch >sie< wollte nicht zu mir kommen ... Ich sollte um sie kämpfen; sie war mein, sie war mein, sie war m ... Ich schlief.« 66

Noch heute fragt sich Alberto, ob er eine Mitschuld an der Tren­ nung trägt. Einmal hatte er mit einer der mucamas aus dem Hau­ se Ferreyra »angebandelt«, sie mit einem Badeanzug von Chi­ chinas Tante ausgestattet und war mit ihr an den Strand gefahren. Vor den Augen von Chichina und ihren Freunden hatte er sich dann mit ihr in einem Zelt vergnügt, das er dort aufgeschlagen hatte, und damit gegen das ungeschriebene Gesetz verstoßen, das intime Kontakte mit Angehörigen der Dienstbotenschicht verbot. »Chichina gefiel das nicht besonders«, sagt Alberto. »Ich glaube, sie mochte mich nicht, und ich war für sie derjenige, der ihr Erne­ sto fortgenommen hat .« Aber Ernesto gab sich nach außen hin ungerührt, fest ent­ schlossen, sich den Spaß an der Reise nicht verderben zu lassen.Al­ so fuhren sie weiter. In Chile verdienten sie sich die Fahrt über den Esmeraldasee, indem sie Wasser aus einem leckgeschlagenen Last­ kahn pumpten, den die Fähre im Schlepptau führte. Auf der glei­ chen Überfahrt machten sie die Bekanntschaft einiger chilenischer Ärzte, denen sie sich als »Leprologen« vorstellten. Daraufhin er­ zählten die Chilenen den beiden Argentiniern von Rapa Nui, einer der Osterinseln, die nicht nur Chiles einzige Leprakolonie beher­ bergte, sondern angeblich auch ganze Horden äußerst sinnlicher, unerfüllter Frauen. Auf der Stelle schwatzten Ernesto und Alber­ to ihren neuen Bekannten zwei Empfehlungsschreiben für die »Gesellschaft der Freunde der Osterinseln« in Valparaiso ab, von denen sie sich eine kostenlose Überfahrt zu der Insel im Pazifik versprachen. Als sie am anderen Ufer des Esmeraldasees von Bord gingen, waren sie beide fest entschlossen, dieses exotische Reise­ ziel in ihre Route einzugliedern. Dann stiegen sie wieder auf die Poderosa. Aber sie hatten kein Auge mehr für die Landschaft: Die Osterinseln riefen, und sie konnten es kaum erwarten, dorthin zu gelangen. Doch je weiter sie nach Norden kamen, desto unzuverlässiger wurde ihr anfangs so treues Motorrad. Sobald die Poderosa an eine Steigung kam, be­ gann sie zu stottern, und schließlich gab sie an einem steilen Hang den Geist ganz auf. Von nun an waren die beiden Schnorrer nicht mehr motorisiert. Ein LKW-Fahrer nahm sie und die nicht mehr fahrtüchtige Po­ derosa mit in die nächste Stadt. Dort überredeten sie die drei T öch­ ter des örtlichen Feuerwehrhauptmanns, ihnen im Spritzenhaus Unterkunft zu gewähren. Später zollte Ernesto den Mädchen sei-

nen Respekt. Sie waren »voller Anmut, typisch für die chilenischen Frauen«, schreibt er, »die, ob nun hübsch oder häßlich, das gewis­ se frische und spontane Etwas haben, das einen auf der Stelle in seinen Bann schlägt .« Alberto wurde da deutlicher. »Nach dem Abendessen gingen wir mit den Mädchen aus. Wieder einmal mußte ich feststellen, wie sehr sich die chilenischen Frauen von unseren unterscheiden ... Müde und schweigsam, ein jeder in Erinnerungen schwelgend, kehrten wir ins Spritzenhaus zurück. Als Fuser sein Lager auf­ schlug, war er aufgewühlt, ob von dem Erlebnis mit dem Mädchen oder seinem Asthma, weiß ich nicht.« Am nächsten Tag fanden die beiden Freunde einen Lastwagen, der nach Santiago fuhr. Die Poderosa nahmen sie mit wie den Leichnam eines gefallenen Kameraden. Aber die Hauptstadt Chi­ les beeindruckte sich nicht sonderlich. Nachdem sie eine Werkstatt gefunden hatten, in der sie das Motorrad lassen konnten, machten sie sich auf den Weg in die benachbarte Hafenstadt Valparaiso, wo sie sich ein Schiff suchen wollten, das sie kostenlos auf die Oster­ inseln mitnehmen würde.

III

Zunächst einmal fanden sie Unterkunft in der Bar La Gioconda, de­ ren Besitzer sie aufnahm und umsonst verköstigte. Doch im Hafen mußten sie erfahren, daß das nächste Schiff zu den Osterinseln erst in sechs Monaten ablegen würde. Noch gaben sie sich nicht ge­ schlagen und beschlossen, sich an die Gesellschaft der Freunde der Osterinseln zu wenden. Da Ernesto stets lautstark auf seinen »Doktortitel« pochte, wurde er eines Tages in der Bar gebeten, sich um eine Kranke zu kümmern. Es handelte sich um eine alte Bedienstete, die an chro­ nischem Asthma und Herzschwäche litt. Das Zimmer, in dem sie sich befand, stank »stark nach Schweiß und ungewaschenen Füßen«. Um die Kranke standen ihre verbittert wirkenden An­ gehörigen, die sie offenbar als eine Last empfanden. Die alte Frau lag im Sterben, und Ernesto konnte nur noch wenig für sie tun. Nachdem er ihr eine bestimmte Diät verordnet hatte, gab er ihr den Rest seiner eigenen Dramamin-Tabletten und andere Medi­ kamente. Dann verabschiedete er sich »unter den Segenswün68

sehen der alten Dame und den gleichgültigen Blicken ihrer An­ gehörigen«. Diese Begegnung berührte ihn stark, denn sie führte ihm vor Augen, wie grausam die Armut war. »Hier, in den letzten Minuten jener Menschen, deren Horizont nicht über das Morgen hinaus­ reicht, zeigt sich die Tragödie, die das Leben des Proletariats auf der ganzen Welt bestimmt; in den sterbenden Augen eine unterwürfi­ ge Abbitte und auch immer wieder ein verzweifeltes Flehen um Trost, das in der Leere ebenso untergeht, wie ihre Körper schon bald in dem unermeßlichen Elend um uns herum untergehen wer­ den. Wie lange diese Ordnung der Dinge, die sich auf ein absurdes Kastensystem stützt, noch bestehen kann, weiß ich nicht zu sagen, doch es ist an der Zeit, daß jene, die regieren, nicht mehr nur laut­ stark ihr Mitgefühl proklamieren, sondern Geld, viel Geld, für ge­ sellschaftlich sinnvolle Vorhaben aufwenden.« Einige Tage später wurde ihnen von der Gesellschaft der Freun­ de der Osterinseln bestätigt, daß sie wirklich ein paar Monate auf ein Schiff dorthin warten müssen, und Ernesto und Alberto be­ sannen sich widerstrebend auf ihre ursprünglichen Reisepläne. Sie gingen zum Hafen und fragten auf verschiedenen Schiffen nach Arbeit, jedoch ohne Erfolg. Und so beschlossen sie, als blinde Pas­ sagiere weiterzureisen. Mit Hilfe eirtes freundlichen Matrosen stahlen sie sich bei Morgengrauen an Bord der San Antonio, eines Frachters, der nach Antofagasta im nördlichen Chile fahren sollte, und versteckten sich in einer Latrine. Als das Schiff abgelegt hat­ te, mußte Alberto sich übergeben, doch sie harrten in der furcht­ bar stinkenden Latrine aus, solange sie konnten. »Um fünf Uhr nachmittags, als der Hunger uns trieb und die Küste außer Sicht war, stellten wir uns dem Kapitän.« Dieser erwies sich als ausgesprochen anständig. Nachdem er ih­ nen im Beisein seiner jüngeren Offiziere eine ordentliche Stand­ pauke gehalten hatte, befahl er, daß man ihnen zu essen gab und ihnen Arbeit zuteilte, mit denen sie sich die Fahrt verdienen soll­ ten. »Zufrieden verspeisten wir unsere Mahlzeit«, erinnert sich Ernesto. »Doch als ich hörte, daß ich die besagte Latrine sauber­ machen sollte, kam mir das Essen auf der Stelle wieder hoch. Un­ ter Albertos spöttischen Blicken - er sollte Kartoffeln schälen ging ich leise protestierend hinunter. Wie ich zugeben muß, fühl­ te ich mich versucht, alles zu vergessen, was je über wahre Freund­ schaft geschrieben wurde, und zu verlangen, daß wir tauschten. Es

war einfach ungerecht! Er hatte nicht wenig zu der dort angesam­ melten Scheiße beigetragen, und ich mußte alles saubermachen!« Ihr zweiter Versuch, als blinde Passagiere nach Norden zu kom­ men, scheiterte, weil man sie entdeckte, noch bevor das Schiff ab­ gelegt hatte. Auf dem Seeweg kamen sie also nicht weiter, und so wandten sie sich per Autostop ins Landesinnere. Bevor sie nach Pe­ ru, ihrem nächsten Etappenziel fuhren, wollten sie sich die Kup­ fermine von Chuquicamata ansehen. Sie war der größte Tagebau der Welt und Chiles wichtigste Einnahmequelle. An Chuquicamata wurde besonders deutlich, wie stark die Wirt­ schaft Chiles vom Ausland dominiert war. Entsprechend heftig wurde im Land darüber debattiert. Wie die anderen chilenischen Kupferminen befand sie sich unter der Kontrolle von US-amerika­ nischen Bergwerksmonopolen wie Anaconda und Kennecott. Während diese Firmen ungeheure Profite abschöpften, war die chi­ lenische Wirtschaft letztlich abhängig von den Beträgen, die die Unternehmen ausschütteten - und die richteten sich nach den schwankenden Weltmarktpreisen. In Anbetracht der Bedingungen dieser ungleichen Partnerschaft sprachen sich viele Chilenen, be­ sonders jene aus dem linken Spektrum, für eine Verstaatlichung der Minen aus. Die Vereinigten Staaten wiederum setzten die je­ weilige Regierung Chiles unter Druck, die Gewerkschaften der Mi­ nenarbeiter zu zerschlagen und die Kommunistische Partei mund­ tot zu machen. Als Alberto und Ernesto auf halbem Weg nach Chuquicamata in einsamer Berglandschaft auf ein Auto warteten, das sie mitnehmen würde, stieß ein reisendes Ehepaar zu ihnen. Während allmählich die bitterkalte Andennacht hereinbrach, kamen sie ins Gespräch. Der Mann war Minenarbeiter, gerade aus dem Gefängnis entlassen, wo er wegen eines Streiks inhaftiert gewesen war. Er habe noch Glück gehabt, erzählte er ihnen. Von anderen Kollegen hätte man nach ihrer Festnahme nichts mehr gehört; vermutlich waren sie ermordet worden. Als Mitglied der verbotenen Kommunistischen Partei Chiles fand er keine Arbeit mehr. So hatte er seine Kinder bei freundlichen Nachbarn zurückgelassen und sich mit seiner Frau auf den Weg zu den Schwefelminen in den Bergen gemacht. Dort waren die Arbeitsbedingungen so schrecklich, erklärte er, daß nie­ mand nach seiner politischen Gesinnung fragen würde. Später berichtet Ernesto von dieser Begegnung ausführlich: »Das Licht der einen Kerze, die uns leuchtete, ... verlieh den ein-

gefallenen Zügen des Mannes eine geheimnisvolle, tragische Au­ ra .. . Dieses in der Kälte zitternde Paar, das sich umschlungen hielt, war die lebendige Verkörperung des Proletariats dieser Welt. Sie besaßen nicht mal eine erbärmliche Decke, um sich zu wärmen, und so gaben wir ihnen eine von unseren, und in die andere hüll­ ten Alberto und ich uns so gut es ging ein. Ich habe kaum jemals so gefroren, doch zugleich habe ich mich kaum jemals wieder so verbunden gefühlt mit diesen mir fremden Menschen.« Am nächsten Morgen kam ein Laster vorbei, der nach Chuqui­ camata fuhr. Ernesto und Alberto überließen das Paar einer unge­ wissen Zukunft und stiegen ein. Doch unter dem Eindruck dieser Begegnung wurde die Besichtigung der Kupfermine für Ernesto eine politische Erfahrung. Voller Verachtung beschreibt er die amerikanischen Verwalter als»blonde, tüchtige und arrogante Ge­ bieter«, die ihnen widerstrebend einen raschen Blick auf die Mine gestatteten unter der Bedingung, daß sie anschließend gleich wei­ terfuhren, denn Chuquicamata sei keine»Touristenattraktion«. Ernesto widmet dem Besuch der Mine in seinem Tagebuch ein ganzes Kapitel, erläutert mit großer Akribie die Produktionspro­ zesse und beschreibt ihre politische Bedeutung für Chile. Er ver­ gleicht auch die erzreichen Hügel in der Umgebung Chuquimatas mit dem ausgebeuteten Proletariat. »Die Berge mit ihren grauen Buckeln sind im Kampf gegen die Elemente vorzeitig gealtert und haben Falten, die ihrem geologischen Alter nicht entsprechen. Wie viele Nachbarn des berühmten Bruders (Chuquicamata) bergen in ihrem schweren Schoß ähnliche Reichtümer wie er, harren der gie­ rigen Arme der Schaufelbagger, die sich ihre Innereien, gewürzt mit den obligatorischen Menschenleben, einverleiben?« Ernesto schließt mit einer Empfehlung an dieses»potentiell rei­ che« lateinamerikanische Land und wagt eine Prognose:»Es sollte die größten Anstrengungen unternehmen, um die unbequemen Yankees von seinem Rücken abzuschütteln. Doch angesichts der Dollars, die sie investiert haben, und angesichts der Leichtigkeit, mit der sie wirksamen ökonomischen Druck ausüben können, so­ bald sie ihre Interessen bedroht glauben, ist diese Aufgabe, zu­ mindest im Augenblick, die eines Zyklopen.« Von Chuquicamata ging die Reise weiter nach Peru, und einige Tage später überquerten die beiden Freunde die Grenze. Auf den Ladepritschen von Lastwagen, umgeben von schweigsamen Ay­ mara-Indios, stießen sie ins Landesinnere zu dem in fünftausend 71

Meter Höhe gelegenen Titicacasee vor. Als Ernesto das Panorama vor sich erblickte - die alten, von den Inkas in die steilen Berghän­ ge getriebenen Kanäle mit dem kristallklaren, glitzernden Wasser und darüber die schneebedeckten Gipfel der Anden -, brach er in Jubel aus: »Da wären wir, in dem sagenumwobenen Tal, das seit Jahrhunderten von der Evolution verschont geblieben ist und sich heute wie einst vor uns glücklichen Sterblichen ausbreitet, damit wir es betrachten können.«

IV

Doch Ernestos Freude sollte nicht lange dauern. Als sie in der in­ dianischen Stadt Tarata Station machten, galt sein besonderes Au­ genmerk den sichtbaren Folgen der spanischen Eroberung, und die sollte er rasch finden: »Eine besiegte Rasse starrt uns nach, als wir durch die Straßen der Stadt gehen. Ihre Blicke sind gezähmt, fast schon furchtsam und vollkommen gleichgültig gegenüber der Welt. Einige erwecken den Eindruck, als würden sie nur noch deshalb le­ ben, weil es eine Gewohnheit ist, die sie nicht abschütteln können.« Der ständige Kontakt mit der »besiegten Rasse« auf ihrer Fahrt durch die Anden hinterließ bei Ernesto in den darauffolgenden Wochen einen nachhaltigen Eindruck, denn die grausame Realität, die vier Jahrhunderte weißer Oberherrschaft geschaffen hatte, war nicht zu übersehen. Während die lateinamerikanischen Ureinwoh­ ner in seinem Heimatland nahezu ausgerottet, im Schmelztiegel des modernen Argentiniens mit seinen Millionen von europäi­ schen Einwanderern aufgegangen waren, bildeten sie im peruani­ schen Hochland die Mehrheit mit einer zwar intakten, aber aufs Erbärmlichste unterdrückten Kultur. Die Lastwagenfahrer luden Alberto und Ernesto gewöhnlich ein, vorne in der Fahrerkabine Platz zu nehmen, während die cholos oder Indios mit ihren schmutzigen Ponchos, den Läusen und dem strengen Körpergeruch meist mit der offenen Ladefläche vorlieb­ nehmen mußten. Wiederholt erkundigten sich die peruanischen Indios bei den beiden Argentiniern nach dem »wunderbaren Land Per6ns, wo die Armen die gleichen Rechte haben wie die Reichen«. Ernesto und Alberto wußten zwar, daß das nicht stimmte, doch wie' ein Arzt, der einem unheilbar Kranken die Wahrheit verschweigt, erzählten sie den Indios, was sie hören wollten. 72

Die aufregende Stadt Cuzco, die in der Kolonialzeit auf den Rui­ nen der alten Hauptstadt der Inka erbaut wurde, regte Ernesto zu ausführlichen und lyrischen Beschreibungen ihrer Architektur, der Tempel- und Befestigungsanlagen und ihrer Geschichte an. Er und Alberto verbrachten Stunden im Museum und in der Büche­ rei der Stadt, wo sie sich genauere Kenntnisse über die rätselhafte Vergangenheit der Inka aneigneten. Das Glück war den beiden Landstreichern auch weiterhin hold. Ein einheimischer Arzt, den Alberto früher bei einem medizini­ schen Kongreß kennengelernt hatte und dem er nun einen Besuch abstattete, stellte ihnen einen Land-Rover samt Fahrer zur Verfü­ gung und schenkte ihnen zwei Zugfahrkarten zu dem Tempel von Machu Picchu. Nachdem sie dort stundenlang die Ruinen erkun­ det hatten, lud sie der Besitzer eine Touristenhotels ein, kostenlos bei ihm zu übernachten. Doch nach zwei Tagen mußten sie wieder ihre Sachen packen, weil eine Busladung amerikanischer Touristen erwartet wurde. Die Rückfahrt nach Cuzco legten sie gemeinsam mit den Indios in den für sie reservierten, schmutzigen Dritte­ Klasse-Wagen einer Schmalspurbahn zurück. Ernesto fühlte sich an die Waggons erinnert, mit denen man in Argentinien das Vieh transportierte. Wenn er diesen Anblick mit dem der amerikanischen Touristen an den alten Kultstätten der Inkas verglich, fiel es ihm schwer, sei­ ne Antipathie zu bezähmen. In dem Kapitel »Das Land der Inka« bezeichnet er die »blonden, in Sporthemden gekleideten Korre­ spondenten aus einer anderen Welt mit ihren stets schußbereiten Kameras« als störende Eindringlinge. »Die Amerikaner haben kein Gespür für die moralische Distanz, die sie von diesem entehrten Volk trennt, denn nur der Geist eines Südamerikaners, der selbst ein halber Eingeborener ist, kann diese subtilen Unterschiede wahrnehmen.« Neue Gedanken stürmten auf Ernesto ein. Er fühlte brüderliche Verbundenheit mit den eingeborenen »besiegten Völkern«, durch deren Land er fuhr, deren Ruinen er besichtigte, gegen deren Vor­ fahren seine Ahnen das Schwert geführt hatten. Das Zusammen­ treffen der beiden Rassen, der indianischen und der europäischen, hatte unter großem Blutvergießen stattgefunden, und noch immer trennten sie Jahrhunderte der Intoleranz und Ungerechtigkeit. Doch diese Geschichte war es auch, was sie verband. Denn aus die­ ser unheiligen Allianz war eine neue Rasse geboren worden, der 73

Mestize, vielleicht der echteste Lateinamerikaner von allen. Insge­ samt standen sie - die Kreolen mit ihrem europäischen Blut, die Mestizen und die Indios - einander näher, als es ihnen die Angel­ sachsen aus dem Norden je sein würden, die wie »Wesen von ei­ nem anderen Stern« durch die Ruinen von Cuzco und Machu Picchu krabbelten. Sie hatten eine gemeinsame Sprache, eine ge­ meinsame Geschichte und die gleichen Probleme. Mit dem Geist des medizinischen Forschers, der er einmal wer­ den wollte, suchte Ernesto nach der Ursache, sobald er mit einem Problem konfrontiert wurde. Und wenn er die Ursache zu kennen meinte, suchte er nach dem Heilmittel. Die sterbende alte Frau in Valparaiso und das verfolgte Minenarbeiter-Paar auf der Straße nach Chuquicamata waren für ihn lebende Beispiele des Weltpro­ letariats, die aufgrund einer ungerechten Gesellschaftsordnung im Elend lebten und deren Leben sich nicht ändern würde, wenn nicht eine aufgeklärte Regierung diese Zustände änderte. Hinter den lo­ kalen Regimen, die den Status quo aufrechterhielten und die Un­ gerechtigkeit zementierten, standen die US-Amerikaner mit ihrer alles erdrückenden wirtschaftlichen Macht. Im Falle von Chile sah Ernesto das einzige Gegenmittel darin, »den unbequemen Yankee abzuschütteln«, doch im gleichen Atemzug warnte er vor den Schwierigkeiten und den Gefahren der Enteignung. Ernesto kann­ te kein Heilmittel für all diese Übel, doch er befand sich auf der Su­ che. Vielleicht war die Antwort ja in der»roten Flamme« zu suchen, »die über der Welt schien«, doch ganz sicher war er sich dessen noch nicht:

V Nach zwei Wochen im Reich der Inka fuhren Ernesto und Alberto in die Andenstadt Abancay. Nachdem sie sich so oft als Lepra­ experten ausgegeben hatten, wollten sie ihrem Anspruch nun auch einmal gerecht werden. Als Gegenleistung für Quartier und Ver­ pflegung im örtlichen Krankenhaus hielten sie ein paar»Vorträge« über Lepra und Asthma; außerdem flirteten sie mit den Kranken­ schwestern. Doch zum erstenmal seit Beginn der Reise bekam Er­ nesto wieder einen Asthmaanfall, der so schwer war, daß Alberto ihm dreimal Adrenalin spritzen mußte. Dann fuhren sie weiter Richtung Huambo. In dem Dörfchen 74

Huancarama, wo sie noch einige Meilen bewaldeten Berglands von der Leprakolonie trennten, ging es Ernesto wegen seines Asthmas so schlecht, daß er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Sie baten den »Regierungsleutnant« des Ortes, ein paar Pferde für sie aufzutreiben. Kurze Zeit später erschien ein chechuasprechen­ der Indio mit zwei mageren Mähren. Als sie schon mehrere Stunden unterwegs waren, merkten Er­ nesto und Alberto, daß ihnen eine Indiofrau und ein Junge zu Fuß folgten. Die Pferde gehörten ihnen, erfuhren die beiden Argenti­ nier. Der Regierungsbeamte von Huancarama hatte sie einfach be­ schlagnahmt, um den »argentinischen Ärzten« zu helfen. Ernesto und Alberto entschuldigten sich zerknirscht, gaben die Pferde zurück und setzten ihren Weg zu Fuß fort. Das Leprosarium von Huambo bestand aus einer Ansammlung von Lehmhütten auf einer von Moskitos wimmelnden Dschun­ gellichtung und wurde mit bescheidenen Mitteln von einer klei­ nen, aber engagierten Mannschaft geführt. In einem Gespräch mit dem verantwortlichen Arzt erfuhren sie, daß der Gründer der Ein­ richtung Dr. Hugo Pesce war, jener Mann, der das Lepraprogramm Perus leitete und zugleich ein bekannter Kommunist war. Sie be­ schlossen, ihn aufzusuchen, sobald sie nach Lima kamen. Unterkunft und Verpflegung gewährte ihnen ein reicher hacen­ dado aus der Nachbarschaft, der ihnen auch gleich erklärte, wie er seinen riesigen Besitz unkultivierten Landes urbar machte. Er lud arme colonos oder Siedler ein, die ein Stück des Urwalds rodeten und bepflanzten. Wenn dann die erste Ernte eingebracht war, muß­ ten sie auf seinen Befehl hin zu einem weniger fruchtbaren, höher in den Bergen gelegenen Stück Land weiterziehen. Auf diese Wei­ se erledigten sie die Rodung, ohne daß es ihn das geringste ko­ stete. Alberto und Ernesto blieben mehrere Tage in Huambo, doch als schwere Regenfälle einsetzten und Ernestos Asthma immer schlimmer wurde, sahen sie ein, daß er sich in einem Krankenhaus behandeln lassen mußte. Der hacendado gab ihnen für den Weg ei­ nen seiner Bediensteten mit. Die beiden Argentinier ritten auf zwei Pferden, während ihnen der cholo mit dem Gepäck zu Fuß folgte. »In der Denkweise der Reichen jener Gegend«, bemerkt Er­ nesto, »ist es die natürlichste Sache der Welt, daß der Diener, ob­ wohl er zu Fuß geht, das gesamte Gepäck und die ganze Last trägt.« Sobald der Grundbesitzer sie nicht mehr sehen konnte, nahmen 75

Alberto und er dem Indio ihre Taschen ab. Doch wenn sie Dank­ barkeit erwartet hatten, wurden sie enttäuscht; das Gesicht des cholo blieb völlig unbewegt. Nachdem Ernesto zwei Tage im Krankenhaus von Andahuaylas verbracht hatte, schlugen sie sich mit knurrendem Magen durch die Anden in Richtung Lima, der an der Pazifikküste gelegenen Haupt­ stadt Perus. Mittlerweile hatten sie ihre Methode, sich Essen zu er­ schnorren, verfeinert. Laut Ernesto kam es darauf an, die Neugier ihrer »Kandidaten« zu wecken, indem sie mit »einem übertriebe­ nen argentinischen Akzent« sprachen. So kam man rasch ins Ge­ spräch, in dessen Verlauf einer der beiden Landstreicher leise be­ merkte, in welchen Schwierigkeiten sie steckten und daß seit ihrem Aufbruch von zu Hause auf den Tag genau ein Jahr vergangen sei. Mit einem Seufzer meinte dann Alberto, daß sie diesen Anlaß nicht einmal gebührend feiern konnten . Spätestens dann lud man sie zu einem Gläschen ein, worauf irgendwann unweigerlich - unter lautstarken Protesten der Argentinier - eine Mahlzeit folgte.

VI Am

i.

Mai trafen sie nach viermonatiger Reise »ohne einen Peso

in der Tasche, aber zufrieden« in Lima ein. Die einst so begeistert gepriesene schöne »Stadt der Vizekönige« hatte mit schweren so­ zialen Problemen zu kämpfen. Für Ernesto »hat Peru das Feudal­ system der Kolonialzeit noch nicht abgelegt, es wartet noch auf das Blut einer Revolution, die wahre Freiheit bringt«. Nachdem sich die beiden in einer Polizeikaserne eine Mahlzeit aus Reis erbettelt hatten, suchten sie den leprologen Dr. Hugo Pes­ ce auf, der sie herzlich empfing und für sie im leprakrankenhaus Gufa ein Bett besorgte. Seine warmherzige Assistentin nahm sie unter ihre Fittiche und verwöhnte sie, indem sie für sie kochte und ihre Wäsche wusch. In den folgenden Wochen ruhten sie sich aus, schrieben Briefe und erkundeten die Stadt. Vor allem aber erhielten sie von ihren Familien Geld geschickt . So hatten sie die Muße, sich Dr. Pesces Vorträge im Krankenhaus anzuhören und sich, wenn sie bei ihm eingeladen wa­ ren, ausführlich über die verschiedensten Themen -von Lepra über Physiologie bis hin zu Philosophie und Politik-zu unterhalten. Alberto merkte bald, daß sich zwischen Ernesto und dem Mann,

den er respektvoll »El Maestro« nannte, eine besondere Beziehung entwickelte. Aber es gab auch vieles, was ein junger Mensch an ihm bewundern konnte. Nachdem Pesce in Italien sein Medizin­ studium abgeschlossen hatte, war er nach Peru zurückgekehrt . Dort wurde er Schüler des marxistischen Philosophen Jose Carlos Mariategui, der sich in seinen Schriften insbesondere mit dem re­ volutionären Potential bei den entrechteten Indios und Kleinbau­ ern Lateinamerikas auseinandersetzte und damit für Länder wie Peru einen neuen Weg zum Sozialismus aufzeigte. Pesce war seit den dreißiger Jahren ein prominentes Mitglied der Kommunistischen Partei Perus. Zugleich hatte er sich einen Ruf als Leprologe erworben, arbeitete als Universitätsdozent und in der medizinischen Forschung; mehrere Entdeckungen im Be­ reich der Malariaforschung gingen auf ihn zurück. Wegen seiner politischen Einstellung wurde er von Präsident Odrfa eine Zeitlang in die Anden verbannt, durfte dann jedoch zurückkehren und wie­ der Vorlesungen an der Universität halten. Pesce war für Ernesto der erste Mediziner, der sich voll und ganz der Aufgabe verschrieben hatte, »Gutes zu tun« - ein peruanischer Albert Schweitzer oder Gandhi, jemand, der hohe Grundsätze hat­ te und danach lebte, so wie es Ernesto für seine Zukunft auch immer vorschwebte. Pesce tauchte gerade in dem Augenblick in seinem Leben auf, als er auf der Suche nach einer Gesellschafts­ philosophie war, an der er sich orientieren konnte. In Pesce mit sei­ ner festen Überzeugung und seinem persönlichen Beispiel hatte er ein Vorbild gefunden. Zu diesem Zeitpunkt faßte Ernesto den Entschluß, etwas Ähn­ liches für sich selbst zu suchen. Pesce schien zu spüren, wie begie­ rig der junge Mann war, seihen Platz in der Welt zu finden, und widmete ihm viel Zeit und Aufmerksamkeit. Zehn Jahre später er­ kannte Ernesto den prägenden Einfluß an, den Dr. Pesce auf ihn ge­ habt hatte, denn er schickte ihm eine Ausgabe seines ersten Buchs Der Partisanenkrieg und schrieb folgende Widmung hinein: »Für Dr. Hugo Pesce, der - vielleicht ohne es zu wissen - bewirkte, daß sich meine Einstellung gegenüber dem Leben und der Gesellschaft änderte, so daß ich meine Ziele zwar mit dem gleichen abenteuer­ lustigen Geist wie immer verfolgte, aber nun in größerem Ein­ klang mit den Bedürfnissen Amerikas.« Nachdem sich Ernesto von seinem Asthmaanfall erholt hatte und die beiden wieder zu ein wenig Geld gekommen waren, be77

schlossen sie, ihre Reise fortzusetzen. Inzwischen hatte sich ihr Ziel geändert: Sie wollten nicht mehr, wie ursprünglich geplant, in die Vereinigten Staaten fahren, sondern nach Venezuela. Zunächst aber galt es, die Leprakolonie San Pablo im Amazonasgebiet zu be­ suchen, die größte der drei von Dr. Pesce gegründeten Einrichtun­ gen. Eine Woche später trafen sie nach einer Busfahrt quer über die Anden verschmutzt und staubig am Rio Ucayali ein. Dort ging es erster Klasse auf dem Flußdampfer La Cenepa weiter. Ihr Ziel war Iquitos, eine Stadt im Amazonasgebiet, die vom Kautschuk lebte. Auf der siebentägigen Fahrt unterhielten sie sich mit ihren Mitrei­ senden- Abenteurern, Geschäftsleuten, ein paar Touristen, Non­ nen und einer verführerischen Prostituierten -, spielten Karten, schlugen Moskitos tot oder starrten einfach nur auf das lehmige Wasser und den vorbeiziehenden Dschungel. Und sie flirteten mit der Prostituierten, deren laszives Verhalten die Nonnen entsetzte und unter den Männern an Bord große Erregung hervorrief. »Fuser und ich sind da keine Ausnahme«, bekannte Alberto spä­ ter. »Ich am allerwenigsten, denn ich war schon immer sehr emp­ fänglich für tropische Schönheiten. Und Ernesto hatte trotz eines Asthmaanfalls nichts gegen ein kleines Techtelmechtel an Bord einzuwenden.« Da sich die beiden Argentinier von Geldmangel noch nie hatten bremsen lassen, fanden sie auch einen Weg zum Herzen der Dame. »Die Tage vergehen einer wie der andere«, schreibt Alberto kurze Zeit später. »Das Mädchen teilt seine Gunst auf zwischen Leuten, die gut reden können- wie wir-, und Leu­ ten, die gut zahlen, wie der Mann, der bei den Kartenspielen die Bank verwaltet.« Doch in Ernesto rief das Abenteuer wehmütige Gefühle wach. »Die achtlose Liebkosung einer kleinen Hure, die mich wegen mei­ ner Krankheit bedauerte, fuhr wie ein Speer in meine schlum­ mernden Erinnerungen an die Zeit vor unserem Abenteuer. Als ich nachts wegen der Moskitos nicht schlafen konnte, dachte ich an Chichina, die inzwischen einem fernen Traum gleicht, einem schö­ nen Traum . . . « Unter dem nächtlichen Sternenhimmel fragte sich Ernesto aufs neue, ob seine jetzigen Erlebnisse es wert gewesen waren, Chichina aufzugeben. Und irgend etwas in der Tiefe der Nacht antwortete ihm, ja, das war es. Nach ihrer Ankunft in Iquitos am 1. Juni wandten sich Alberto und Ernesto mit ihrem Empfehlungsschreiben von Dr. Pesce an die

Beamten des örtlichen Gesundheitsdienstes. Weil es derzeit kein Boot gab, das den Amazonas flußabwärts zum Leprosarium San Pablo fuhr, ließen sie sich in dem regionalen Gelbfieberzentrum unterbringen und im Krankenhaus von lquitos mit Nahrungsmit­ teln versorgen. Allerdings litt Ernesto in den sechs Tagen Warte­ zeit unter schwerem Asthma und mußte sich immer wieder Ad­ renalin spritzen. Am 6. Juni konnten sie endlich die zweitägige Flußfahrt nach San Pablo antreten, das im Grenzdreieck zwischen Peru, Kolumbi­ en und Brasilien lag. Das Dorf mit den sechshundert Patienten des Leprosariums, die getrennt von der Verwaltung und vom medizi­ nischen Personal untergebracht waren, sollte für zwei Wochen ihr Wohnort sein. Wie schon im Krankenhaus von Gufa gewannen Ernesto und Alberto bald Freunde, indem sie sich den Ärzten auf der Visite an­ schlossen und Fußball spielten und zu den Leprakranken ein herz­ liches Verhältnis aufbauten. Alberto verbrachte zudem Stunden am Mikroskop im Labor der Einrichtung, während Ernesto Ge­ dichte las, mit den Ärzten Schach spielte oder Angeln ging. Am 1+ Juni, Ernestos vierundzwanzigstem Geburtstag, gab das Pflegepersonal für ihn eine Party, auf der reichlich pisco, ein pe­ ruanischer Schnaps, getrunken wurde. Ernesto bedankte sich mit einer Rede, die er in seinem Tagebuch unter dem »Tag des heiligen Guevara« festhält. »Wir glauben, und nach dieser Reise glauben wir es mehr denn je, daß (Latein-) Amerikas Aufspaltung in künstliche Nationalstaaten nichts als Fiktion ist. Stellen wir fest, daß es einzig die Rasse des mestizo gibt, eine Rasse, die von Mexi­ ko bis zur Magellanstraße die gleichen ethnischen Züge aufweist. In dem Versuch, mich von jeglichem erbärmlichen Provinzialis­ mus zu befreien, erhebe ich mein Glas auf Peru und ein vereintes Amerika.« Als sich Alberto und Ernesto zur Weiterfahrt rüsteten, bauten ihnen die Kranken und Betreuer ein Floß, das sie Mambo-Tango nannten, und schenkten ihnen Kleider, Pampelmusen, Angelhaken und zwei lebende Hühner. Am Abend vor ihrer Abreise kam das Patientenorchester in Kanus zur Anlegestelle des Pflegepersonals und gab ihnen ein Ständchen. Am nächsten Tag stießen Ernesto und Alberto das Floß in die Strömung des Amazonas. Als sie sich so flußabwärts treiben ließen, fühlten sie sich wie Forscher und spielten mit dem Gedan79

ken, bis nach Manaos weiter im Landesinneren von Brasilien zu fahren. Sie hatten nämlich gehört, daß man von dort aus quasi durch die Hintertür nach Venezuela gelangen konnte. Drei Tage später stellten sie fest, daß sie an dem kleinen kolum­ bianischen Hafen Leticia vorbeigetrieben waren, und da sie ihre Angelhaken und auch ihr zweites Huhn verloren hatten, gaben sie ihren ehrgeizigen Plan wieder auf. Sie überredeten einen colono am Flußufer, sie im Tausch gegen ihre Vorräte und das Floß zurück nach Leticia zu rudern, von wo zweimal in der Woche eine kleine Maschine zur kolumbianischen Hauptstadt Bogota flog. Als Schnorrer, die sie nun wieder waren, erbettelten sie sich freie Verpflegung und Unterkunft bei der Polizei und den halben Preis für den Flug mit der nächsten Maschine. Dafür stellten sie der Fuß­ ballmannschaft von Leticia ihre Dienste als Trainer zur Verfügung, wobei ihnen Argentiniens Ruf, die besten Fußballer Lateinameri­ kas hervorzubringen, natürlich sehr zustatten kam. Die örtliche Mannschaft stand vor einer Reihe von Rückspielen, und um diese gewinnen zu können, brauchten sie die Hilfe von »Experten« wie Alberto und Ernesto. Mit den neuesten Dribbeltechniken aus Bue­ nos Aires verbesserte die Mannschaft ihre Ergebnisse tatsächlich. Zwar konnte das Team von Leticia den Wettbewerb nicht gewin­ nen, erreichte aber immerhin einen respektablen zweiten Platz. Am 2. Juli machten es sich Ernesto und Alberto zwischen Ballen von Rohgummi, Militäruniformen und Postsäcken im Laderaum einer zweimotorigen Catalina bequem, und diese Maschine, in der sie durchgeschüttelt wurden wie in einem Cocktail-Shaker, brach­ te sie nach Bogota.

VII Da auf dem Lande ein blutiger Bürgerkrieg tobte, herrschten in Bo­ gota, der auf einem grünen Hochplateau gelegenen Hauptstadt Ko­ lumbiens, Verhältnisse wie in einem Polizeistaat. Die Atmosphäre war ungemütlich und unfreundlich. Mit Hilfe eines Schreibens von Dr. Pesce kamen Ernesto und Alberto in einem Krankenhaus unter und konnten ihre Mahlzeiten in der Mensa der Universität einnehmen, wo sie rasch Freunde fanden. Doch seiner Mutter schreibt Ernesto: »Von allen Ländern, die wir bereist haben, sind die Rechte des 80

einzelnen hier am meisten beschnitten. Die Polizisten patrouillie­ ren mit geschultertem Gewehr in den Straßen, und ständig fragen sie einen nach dem Reisepaß . .. Es herrscht eine angespannte Ru­ he, die darauf schließen läßt, daß es bald zu einem Aufstand kommt. In den Ebenen tobt der offene Aufruhr, und die Armee ist nicht in der Lage, ihn zu unterdrücken; bei den Konservativen kämpft jeder gegen jeden, sie sind sich in nichts einig; und die Er­ innerung an den 9. April 1948 lastet wie Blei auf den Menschen.« Ernesto bezieht sich auf den Mord an Jorge Eliciecer Gaitan, dem populären Führer der liberalen Partei. Diese Tat war der Auslöser für den Zusammenbruch des politischen Systems in Kolumbien gewesen. Da Gaitans Anhänger vermuteten, die amtierende Re­ gierung der Konservativen stecke hinter dem Attentat, kam es in den folgenden drei Tagen zu blutigen Straßenkämpfen, die unter dem Namen »El Bogotazo« bekannt wurden. Zur gleichen Zeit fand in Kolumbien ein Gipfeltreffen der Außenminister des Kontinents statt, die unter der Schirmherr­ schaft der USA die Charta der Organisation Amerikanischer Staa­ ten (OAS) unterzeichnen wollten. Parallel dazu hatten sich neben Kolumbiens Studentenführern »antiimperialistische« Studenten aus ganz Lateinamerika zu einer Konferenz eingefunden, um ge­ gen diesen Gipfel zu protestieren. Einer von ihnen war der Kuba­ ner Fidel Castro Ruz, ein einundzwanzigjähriger Jurastudent. Auch er griff nach dem Attentat an Gaitan zur Waffe, entging je­ doch einer Festnahme, indem er in die kubanische Botschaft flüch­ tete. Unbehelligt konnte er in seine Heimat zurückkehren. Noch vor ihrem Aufbruch bekamen auch Ernesto und Alberto Ärger mit der Polizei. Auf dem Weg zur argentinischen Botschaft, wo sie Briefe von zu Hause abholen wollten, wurden sie von einem argwöhnischen Polizisten angehalten, verhört und durchsucht. Der Beamte konfiszierte ein Messer, die Nachbildung eines Goucho-Dolches, die Roberto seinem Bruder Ernesto zum Ab­ schied geschenkt hatte. Als der Polizist seine Asthmamedikamen­ te entdeckte, konnte sich Ernesto eine dumme Bemerkung nicht verkneifen: »Vorsicht! Ein gefährliches Gift.« Prompt nahm man sie fest, schleppte sie auf mehrere Polizeireviere und stellte sie schließlich wegen »Verunglimpfung der Staatsgewalt« vor Ge­ richt. Nachdem man ihre Identität festgestellt hatte, ließ man die Klage allerdings wieder fallen. Aber damit gab sich Ernesto nicht zufrieden. Es war für ihn ei-

ne Frage der Ehre, das Messer zurückzuerhalten, denn der Polizist hatte es bei ihrer Festnahme in die eigene Tasche gesteckt. Nach mehrmaligen Besuchen auf den verschiedenen Polizeirevieren be­ kam er es zwar wieder, doch nun hatten sich die beiden Abenteu­ rer die Polizisten zum Feind gemacht. Die Studenten, mit denen sie sich angefreundet hatten, drängten Ernesto und Alberto, Kolum­ bien so schnell wie möglich zu verlassen, denn es bestand die Ge­ fahr, daß die Beamten sich rächen würden. Um ihnen zu helfen, sammelten sie sogar Geld. Ohne Bedauern brachen Ernesto und Alberto mit dem Bus zur Grenze nach Venezuela auf. Kaum hatten sie tropische Gebiete er­ reicht, bekam Ernesto seinen ersten Asthmaanfall seit ihrem Auf­ enthalt in Iquitos. Alberto verabreichte ihm so viele Adrenalin­ spritzen, daß er schon fürchtete, das Herz seines Freundes könne Schaden nehmen. Als Caracas nur noch eine Tagesreise entfernt war, beratschlag­ ten sie, wie es weitergehen solle. Sie wären am liebsten noch nach Mittelamerika und Mexiko gefahren, doch sie hatten kein Geld mehr. Schließlich trafen sie eine Übereinkunft. In Caracas hatte ein Partner von Ernestos Onkel Marcello, ein Pferdezüchter, sei­ nen Geschäftssitz. Wenn dieser Mann Ernesto in dem Flugzeug, mit dem er seine Pferde nach Buenos Aires transportierte, einen Platz überließ, würde Ernesto heimkehren und seirt Studium fort­ setzen. Alberto sollte derweilen in Venezuela bleiben und entweder in einem Leprosarium arbeiten oder sich eine Stelle an der Uni­ versität suchen. Schließlich konnte er einige Empfehlungsschrei­ ben vorweisen. Falls aus alledem nichts wurde, wollten sie versu­ chen, sich nach Mexiko durchzuschlagen. Am 17. Juli trafen sie in Caracas ein, einer hektischen Stadt, die durch das Öl reich geworden war und wegen der vielen Zuwande­ rer aus allen Nähten platzte. Zunächst mieteten sich die beiden in einer heruntergekommenen Pension ein, doch dann setzte sich Er­ nesto mit der Tante eines Freundes in Verbindung, und sie ver­ schaffte ihnen Unterkunft in einem katholischen Jugendhotel. Dank Dr. Pesces Empfehlungsschreiben bekam Alberto eine gut­ bezahlte Stellung in einem Leprosarium bei Caracas. Ernesto wie­ derum erhielt einen Platz im nächsten Flugzeug, das Onkel Mar­ cellos Rennpferde von Buenos Aires nach Miami brachte. Er sollte zunächst mit nach Miami und dann von dort aus weiter nach Hau­ se fliegen. 82

Am 26. Juli war es soweit. Nach der Landung in Miami stellte der Pilot jedoch einen Motorschaden fest, der umgehend repariert werden mußte. Da es offensichtlich einige Tage dauern würde, nahm Ernesto Kontakt zu Chichinas Cousin Jaime »Jimmy« Roca auf, der in Miami sein Architekturstudium abschließen sollte. Ro­ ca war zwar genauso pleite wie Ernesto, hatte jedoch mit einem spanischen Restaurant vereinbart, daß er auf Kredit essen durfte, bis er sein Studium beendet hatte und sein Auto verkaufen würde. Ernestos Mahlzeiten wurden bei der Rechnung einfach hinzuad­ diert. Die Reparaturarbeiten verzögerten sich; aus Tagen wurden Wo­ chen, und die beiden jungen Männer genossen das Leben, soweit dies ohne Geld möglich war. Tag für Tag gingen sie an den Strand oder durchstreiften die Stadt. Ein netter argentinischer Kellner in dem spanischen Lokal schob ihnen Mahlzeiten zu, und in einer Bar verschaffte ihnen ein Freund von Roca kostenlos Bier und Drinks. Als Roca hörte, daß Ernesto noch immer die fünfzehn Dollar bei sich trug, die ihm Chichina für den Schal gegeben hatte, bestürm­ te er ihn, das Geld auszugeben. Doch Ernesto blieb eisern. Chichi­ na hatte sich zwar von ihm getrennt, aber er wollte sein Verspre­ chen halten. Trotz Rocas Drängen zog er los und kaufte ihr den Schal." Jetzt war Ernesto also in den Vereinigten Staaten, jenem »Land im Norden«, das für die Ausbeutung verantwortlich war, deren Spuren ihm auf seiner Reise durch Lateinamerika so oft begegnet waren. Was er hier erlebte, trug offensichtlich dazu bei, seine ne­ gative Haltung zu verstärken, denn später erzählte er Freunden in Buenos Aires, er habe mit eigenen Augen rassistische Übergriffe von Weißen auf Schwarze beobachtet und sei von Polizisten über seine politische Gesinnung verhört worden. Roca erinnert sich je­ doch nur, daß Ernesto von der Notwendigkeit sprach, für die Ar­ men Lateinamerikas Sozialwohnungen zu bauen. Über Politik ha­ be man nicht diskutiert, sagt er, sondern nur versucht, sich ein schönes Leben zu machen.



Pepe Aguilar berichtet, daß Ernesto bei seiner Rückkehr keinen Versuch unternahm,

Chichina persönlich

zu

sprechen, sondern ihr den Schal zuschickte.

6

»Ich bin nicht mehr derselbe wze zuvor«

Bei seiner Rückkehr mußte Ernesto feststellen, daß Argentinien sich verändert hatte. Fünf Tage zuvor war die dreiunddreißigj ähri­ ge Evita Per6n an Krebs gestorben. Bei der offiziellen Gedenkfeier kam es zu öffentlichen Trauer­ bekundungen, wie man sie noch nie zuvor erlebt hatte. Evitas Leichnam wurde zwei Wochen lang aufgebahrt, bevor man ihn ein­ balsamierte. Man plante für sie ein Denkmal, das größer als die Freiheitsstatue sein sollte - was einer Frau, die nach Meinung ih­ rer Anhänger vom Papst heiliggesprochen werden sollte, durchaus angemessen erschien. Doch Ernesto hatte seine eigenen Probleme. In j enen Tagen mußte man für den Abschluß des Medizinstudiums in dreißig Fächern eine Prüfung ablegen. Sechzehn hatte Ernesto bereits be­ standen, als er mit Granado losfuhr; es blieben also noch vierzehn, wenn er sein Studium in diesem Jahr beenden wollte. Da die erste Prüfungsrunde für November angesetzt war, hatte er nicht mehr viel Zeit. Und so büffelte er, daß ihm der Kopf rauchte, vertiefte sich in der Wohnung seiner Tante Beatriz oder manchmal im Appartement seines Vaters in der Calle Paraguay in seine Bücher, und kam nur zum Essen nach Hause. Zu Dr. Pisanis Freude fand er dennoch die Zeit, wieder in der Allergieklinik zu arbeiten. Außerdem schrieb er auf der Grundlage seines Reisetagebuchs die Notas de Viaje. Die Fahrt hatte ihn verändert. »Der, der diese Zeilen schrieb, starb, als er wieder argentinischen Boden betrat ... >kh< bin nicht ich, zumindest nicht derselbe wie zuvor. Das Her­ umstreifen durch unser >Amerika< hat mich mehr verändert, als ich gedacht hatte.« Im November 1952 begann die erste Serie seiner Prüfungen . Doch mittendrin wurde Ernesto krank; diesmal war es kein Asth-

ma, sondern eine Entzündung, die er sich durch �en Kontakt mit infiziertem menschlichen Gewebe zugezogen hatte. Er war zu un­ geduldig gewesen und hatte sich keine Schutzkleidung angezogen, als er das Gewebe aus der medizinischen Fakultät mit einem neu­ en Gerät untersuchte, das Dr. Pisani angeschafft hatte. So traf ihn sein Vater mit hohem Fieber im Bett an. Zum Glück erkannte Gue­ vara Lynch, wie ernst die Erkrankung war, und holte sofort Dr. Pi­ sani. Der Arzt, der eine Krankenschwester mitgebracht hatte, be­ handelte Ernesto mehrere Stunden lang. Dann verordnete er ihm Medikamente und vollständige Ruhe. Die Familie mußte die ganze Nacht um Ernesto bangen - wieder einmal wegen seiner »Unver­ nunft«, wie sein Vater es nannte. Trotz seiner Erkrankung stand Ernesto am nächsten Morgen auf und legte im November drei Prüfungen ab und im Dezember zehn. Damit blieb nur noch eine letzte im April des folgenden Jahres, be­ vor er sein Examen bestanden hatte und wieder nach Venezuela zurückkehren konnte. In der Zwischenzeit widmete er sich seinen Forschungen mit Patienten in der Klinik von Dr. Pisani und ver­ suchte, die Ursachen ihrer Allergien zu isolieren und im Labor ein Gegenmittel zu entwickeln. Dr. Pisani ermutigte ihn in j eder Hinsicht und erwähnte ihn so­ gar in seinen Veröffentlichungen. In einem Forschungsbericht, der 1951 in der Zeitschrift Alergia erschien, wird auch Ernestos Name aufgeführt. Am 11. April 1952 trat Ernesto zu seiner letzten Prüfung an. Sein Vater beschreibt den Tag wie folgt: »Ich war in meinem Ap­ partement, als das Telefon klingelte. Auf der Stelle erkannte ich die Stimme. Sie sagte: >Hier spricht Dr. Ernesto Guevara de la Serna.< Die Betonung lag auf dem Wort >DoktorCalica< Ferrer be­ gleiten.« Seit Ernesto ihm versprochen hatte, ihn auf seine nächste Fahrt mitzunehmen, wartete Calica, der sein Medizinstudium abgebro­ chen hatte, bereits ungeduldig darauf, daß es endlich losgehen würde. Nun konnten sie mit den Vorbereitungen beginnen. »Wir stellten eine Liste unserer Bekannten auf«, erinnert sich Calica. »Dann beschlossen wir, durch Bolivien zu fahren, weil sich Erne-

sto dort die Inka-Ruinen ansehen wollte, über die er bereits viel ge­ lesen hatte. Anschließend sollte es nach Machu Picchu gehen.« Später wollte Ernesto nach Indien fahren, während Calica, eher an den angenehmen Dingen des Lebens interessiert, sich in Paris sah, nobel gekleidet, auf einer Cocktailparty, mit einer hübschen Dame am Arm. »Soweit ich mich erinnere«, sagt er, »war unser Ziel Venezuela. Dort wollten wir arbeiten, wenn es sich nicht vermei­ den ließ, um dann nach Europa zu fahren.« Als Ernesto Dr. Pisani von seinen Reiseplänen berichtete, ver­ suchte der Arzt, ihn zum Bleiben zu bewegen. Er bot ihm eine be­ zahlte Stelle an, eine Wohnung und eine Zukunft an seiner Seite in der Allergieforschung. Doch Ernesto ließ sich nicht umstimmen. Er wollte nicht »stagnieren« wie Pisani. Im Juni bekam Ernesto seine Zulassung als Arzt, und wenige Ta­ ge später feierte er seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag. Nun brauchten Calica und er nur noch ihre Visa und das nötige Reise­ kapital. Wieder einmal war Schnorren angesagt. Zuerst fragten sie alle ihre Tanten, dann die Großmütter und zum Schluß j eden, von dem sie glaubten, er könne etwas beisteuern. Bald hatten sie auf diese Weise umgerechnet etwa fünfhundert Mark beisammen. Bei den Visa, die sie benötigten, fehlte ihnen nur noch das von Venezuela, das keine neuen Einreisebewilligungen mehr erteilte, seit durch den Ölboom Massen von arbeitssuchen­ den Ausländern ins Land geströmt waren. Calica wurde zum Wirtschafter der Reise ernannt - das heißt, er bewahrte das Geld auf. Seine Mutter nähte ihm dafür eine Geldta­ sche, die er unter der Wäsche tragen sollte und die Ernesto bald als seinen »Keuschheitsgürtel« bezeichnete. Dann kauften sie sich für den 7. Juli Fahrkarten nach Bolivien. Zu ihrem Abschied versammelte sich auf dem Bahnhof Belgrano eine beträchtliche Menschenmenge. Während die beiden sich zwi­ schen Indios und ihren Gepäckstücken in einem Zweite-Klasse-Ab­ teil niederließen, steckten ihre Angehörigen ihnen noch Geschen­ ke und Reiseproviant zu. Doch Celia ergriff plötzlich die Hand von Robertas zukünftiger Frau Matilde und bemerkte wehmütig: »Mein Sohn geht fort! Ich werde ihn nicht mehr wiedersehen.« Als der Zug langsam anfuhr, löste sich eine einzelne Gestalt aus dem Menschenpulk und rannte winkend vor Ernestos und Calicas Fen­ ster neben dem Zug her- Celia. Sie lief mit bis zum Ende des Bahn­ steigs und sah zu, wie der Zug in der Ferne entschwand. 86

II

Ernesto Guevara, Doktor der Medizin und Veteran der Straße, war also wieder unterwegs. »Diesmal«, schreibt er in sein neues Reise­ tagebuch Otra Vez" (Noch einmal), »heißt mein Kumpel nicht Alberto, sondern Calica, doch die Art der Reise ist die gleiche: zwei eigenständige Persönlichkeiten, die durch Amerika streifen, ohne genau zu wissen, was sie suchen oder wie es nach Norden geht.« Nachdem sich Ernesto und Calica in der staubigen Grenzstadt La Quiaca drei Tage lang von der ersten Reiseetappe erholt hatten, fuhren sie mit dem Zug weiter nach Bolivien - nun allerdings er­ ster Klasse, was Calica durchgesetzt hatte. Zwei Tage später trug sie der Zug von der bitterkalten braungrauen Hochebene hinunter in den natürlichen Krater, wo sich die Stadt La Paz wie eine Mond­ siedlung inmitten der sonnenbeschienenen baumlosen Bergland­ schaft ausbreitet. Ernesto war begeistert. »La Paz ist das Shanghai Amerikas«, schreibt er in sein Tagebuch. »Eine unermeßliche Vielzahl von Abenteurern aller Nationalitäten bevölkert diese bunte Mestizen­ stadt.« Die beiden Freunde machten sich sogleich daran, die Stadt zu erkunden. Nachdem sie sich in einem schmuddeligen Hotel ein Zimmer genommen hatten, streiften sie durch die engen Kopf­ steinstraßen, auf denen ihnen farbenprächtig gekleidete Indios und Gruppen der bewaffneten Bürgermiliz begegneten. Endlich waren sie im revolutionären Bolivien, dem indianischsten und zu­ gleich ärmsten Land Lateinamerikas, in dem die Ausbeutung mit besonderer Grausamkeit und Härte betrieben worden war. Seit Jahrhunderten hatte die Mehrheit der eingeborenen Bevölkerung einigen wenigen Familien wie Leibeigene gedient, während die Herrschenden durch die Kontrolle über die Zinnminen - Boliviens Haupteinnahmequelle - und das fruchtbare Land immer größeren Reichtum anhäuften.



Das Tagebuch, das die kommenden drei Jahre in Guevaras Leben beschreibt, wurde

nach seinem Tode von seiner Witwe Aleida gefunden und übertragen. Abgesehen von einigen Auszügen ist es bisher nicht veröffentlicht worden. Der Autor hatte jedoch Ein­ blick in den vollständigen Text. Bis auf einige sexuell eindeutige Passagen, die seine Witwe gestrichen hat, um den Ruf ihres verstorbenen Gatten zu bewahren, scheint es keine Kürzungen gegeben zu haben.

Doch nun schien diese alte Ordnung beseitigt. Ein Jahr zuvor hat­ te der Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR) nach einem Volksaufstand die Macht ergriffen , das Militär aufgelöst und die Bergwerke verstaatlicht. In wenigen yYochen sollte nun die heiß dis­ kutierte Bodenreform durchgeführt werden. Da viele politische Gruppierungen in die Opposition gegangen waren und das neue Re­ gime bedrohten, gab es auch weiterhin Unruhen. Auf dem Lande verliehen die Bauern ihrer Forderung nach einer Agrarreform Nachdruck, indem sie private haciendas besetzten. Die Bergarbeiter formierten sich unter Führung der neuen unabhängigen Gewerk­ schaft Central Obrera Boliviana (COB) zu machtvollen Aufmär­ schen, um die Regierung zu weiteren Zugeständnissen zu zwingen. Als Calica und Ernesto durch die Stadt schlenderten, trafen sie einen jungen Argentinier wieder, den sie während der Zugfahrt kennengelernt hatten. Er besuchte seinen Vater Isafas Nogues, den ehemaligen Besitzer einer Zuckermühle und prominenten Politi­ ker aus der argentinischen Provinz Tucaman, der das Land wegen seines Widerstands gegen Per6n hatte verlassen müssen. Da er ih-. re beiden Familien kannte, lud Nogues Ernesto und Calica zum Abendessen in das Haus seines Vaters ein. Dort lernten sie zahlreiche andere Mitglieder aus der argentini­ schen Exilantengemeinde in La Paz kennen. Der Bruder ihres Gast­ gebers, ein Playboy mit dem Spitznamen »Gobo«, fand Gefallen an den beiden Reisenden und zeigte ihnen die Bars und Restaurants der Stadt, darunter auch das »Gallo de Oro«, das einem Argenti­ nier gehörte und bald zu ihrem Stammlokal wurde. Hier trafen sich Politiker, Exilanten, Abenteurer und die Neureichen von La Paz, ein anderes Bolivien als in dem bunten Treiben auf den Straßen. Einmal kehrte Ernesto von der Toilette zurück und er­ zählte Calica entsetzt, er habe dort zwei Männer Kokain schnup­ fen sehen. Eines Tages entdeckte Calica auf der Straße zwei junge Mäd­ chen, die ihm gefielen, und ging ihnen nach, um sie anzusprechen. Sie wurden begleitet von einem älteren Herrn, einem gewissen Ge­ neral Ramfrez aus Venezuela, wie sich herausstellte, der von sei­ nem Land als Militärattache hierher abgeschoben worden war. Un­ beeindruckt von Calicas eindeutigen Absichten lud ihn der General ' zu einem Drink ein, und nach kurzer Zeit hatte ihm Calica das Versprechen abgeschwatzt, für Ernesto und ihn die zuvor abgelehnten Visa für Venezuela zu besorgen. 88

Ernestos Sehnsucht nach weiblicher Begleitung hingegen fand zunächst nur Ausdruck in seinem Tagebuch: »La Paz, die Offen­ herzige, unverdorben wie ein Mädchen vom Lande, zeigt stolz ih­ re Wunder.« Einige Tage später lernte er jedoch eine vielverspre­ chende Dame aus Fleisch und Blut kennen, Marta Pinilla, die Tochter einer aristokratischen Gutsbesitzerfamilie. Und auf No­ gues' Vermittlung konnten Ernesto und Calica als zahlende Gäste in das Haus einer wohlhabenden argentinischen Familie umziehen und verkehrten nun in den besten Kreisen von La Paz. Es war ein schizophrenes Leben, wie sie so zwischen den armen und reichen Vierteln der Stadt hin- und herpendelten. Ernesto wollte mehr von der bolivianischen Revolution erfahren, obwohl sie durch ihre Bekannten eher Kontakt zur Elite von La Paz er­ hielten, einer Elite, die den sich nun abzeichnenden Veränderun-· gen naturgemäß feindlich gegenüberstand. Wie Calica sich erin­ nert, mußte auch Marta Pinillas reiche Familie mit der Enteignung ihres Grundbesitzes rechnen. Während sich Calica eher mit ihren wohlhabenden Freunden identifizierte und im großen und ganzen ihre Ansichten unkritisch übernahm, machte sich Ernesto über die Ereignisse seine eigenen Gedanken. »Die sogenannten besseren Leute, die Leute mit Bil­ dung, staunen über die Vorgänge und schimpfen, daß dem Indio und dem cholo so viel Bedeutung beigemessen wird. Doch in je­ dem, so scheint mir, flackert bei der einen oder anderen Maßnah­ me der Regierung ein Funken nationaler Begeisterung auf ... Nie­ mand streitet ab, daß der gegenwärtige Zustand, wie er sich in der Macht der drei Zinnbergwerks-Hierarchien symbolisiert, beendet werden muß, und die jungen Leute glauben, daß es im Kampf um eine gerechtere Verteilung des Besitzes und die Gleichstellung der Menschen einen Fortschritt bedeutet.« Der Aufenthalt in La Paz, für den Ernesto eine Woche vorgese­ hen hatte, zog sich in die Länge. Gleichzeitig schmolz die Reise­ kasse der beiden dahin. »Ich finde es schade, daß wir nicht länger bleiben können «, schreibt Ernesto seinem Vater am 22. Juli, »denn es ist ein interessantes Land, das gerade eine äußerst turbulente Zeit erlebt. Am zweiten August wird die Agrarreform durchge­ führt, und man erwartet Aufruhr und Kämpfe im ganzen Land. Wir haben unglaubliche Aufmärsche von Menschen gesehen, die mit Mausergewehren und >piripiris< (Tommy-Gewehren) bewaff­ net waren, mit denen sie aus reinem Jux Salven in den Himmel

feuerten. Jeden Tag hört man Schüsse, und es gibt Verletzte und Tote. Die Regierung scheint fast unfähig, die Massen von Bauern und Minenarbeitern in Schranken zu halten oder zu lenken, obwohl sie bis zu einem gewissen Grad auf die Obrigkeit hören. Und es be­ steht kein Zweifel, daß sie im Falle einer bewaffneten Revolte der Falange, der Oppositionspartei, an der Seite der MNR stehen wer­ den. Ein Menschenleben zählt hier nicht viel, und es wird ohne viel Aufhebens gegeben und genommen. Für den neutralen Beobach­ ter eine äußerst interessante Situation.« Ernesto sprach zwar von Abreise, doch im Grunde war er fest entschlossen zu bleiben. Er wollte Zeuge eines historischen und möglicherweise stürmischen Ereignisses sein. Doch erst einmal ließen sich Calica und er so oft wie möglich von Nogues zum Abendessen einladen, um sich den Bauch vollzuschlagen. Gobo be­ obachtete immer wieder amüsiert, welche Mengen Ernesto in sich hineinstopfte, und versprach, die ganze Gruppe in Lima, der näch­ sten Station ihrer Reise, in ein Lokal zu führen, wo man umsonst speisen durfte, wenn man nur genug aß. Bei einer dieser Einladungen der Familie Nogues lernten sie den argentinischen Rechtsanwalt Ricardo Rojo kennen. Der große, kräftige Mann mit Stirnglatze und Schnauzbart war mit seinen neunundzwanzig Jahren bereits ein erfahrener politischer Aktivist. Als Mitglied der Union Civica Radical, einer politischen Gruppie­ rung, die in Opposition zu Per6n stand, war er unter dem Vorwurf des Terrorismus in Buenos Aires inhaftiert worden, hatte jedoch aus dem Polizeigewahrsam fliehen können. Er suchte Schutz in der guatemaltekischen Botschaft und schlug sich über Chile bis nach La Paz durch. Wie andere Argentinier kam er auch irgendwann in das Haus der Nogues. Von Bolivien wollte er erst nach Peru, dann nach Guatemala und schließlich in die Ver­ einigten Staaten reisen. Das erste, was Rojo an Ernesto Guevara auffiel, waren dessen grobe Manieren beim Essen, und mit Erstaunen nahm er zur Kenntnis, daß der andere Arzt war, obwohl er zumeist über Ar­ chäologie sprach. Rojo, der über eine scharfe Zunge und einen gna­ denlosen Witz verfügte, diskutierte ebenso gern wie Ernesto, und wie er schreibt, »wurden wir Freunde, obwohl wir in Wirklichkeit nur gemeinsam hatten, daß wir beide junge Akademiker waren und keinen Pfennig Geld in der Tasche hatten. Ich interessierte

mich nicht für Archäologie und er sich nicht für Politik, oder we­ nigstens nicht in dem Sinne, wie ihn die Politik damals für mich hatte und für ihn später haben sollte.« Die beiden trafen sich häufiger, und Rojo sollte zu den Men­ schen gehören, die im laufe der kommenden zehn Jahre immer wieder in Ernestos Leben traten.* Angesichts der Gerüchte von einer drohenden Konterrevolution brannte Ernesto darauf, den zweiten August in La Paz zu verbrin­ gen. Auf der anderen Seite wollte er mit eigenen Augen die berüchtigten bolivianischen Bergwerke sehen. Und so fuhren Ca­ lica und er Anfang August zu der in über 5000 Meter Höhe gele­ genen Wolframmine Bolsa Negra in der Nähe von La Paz. Die Ingenieure zeigten den Besuchern die Stelle, wo die Wachen ge­ standen hatten, die vor der Revolution während eines Streiks mit Maschinengewehren auf die Arbeiter und ihre Familien feuerten. Inzwischen hatten die Arbeiter jedoch gesiegt; die Mine gehörte dem Staat. Als sich Ernesto und Calica am darauffolgenden Morgen zur Rückfahrt nach La Paz rüsteten, kamen ihnen aus der Hauptstadt Lastwagen mit Bergleuten entgegen. Die Arbeiter hatten dort für die Durchsetzung der Agrarreform demonstriert und schossen noch immer mit ihren Gewehren in die Luft. Mit »ihren ent­ schlossenen Gesichtern und ihren roten Plastikhelmen« wirkten sie auf Ernesto »wie die Streitmacht aus einer anderen Welt«. Die Arbeiter berichteten, daß der Tag in der Hauptstadt letztlich ohne größere Unruhen verlaufen war. Für Ernesto hatte sich der Besuch in der Mine gelohnt. Wieder einmal war ihm klargeworden, wie stark Lateinamerika von den Vereinigten Staaten abhängig war. »Heute ist sie das einzige, was Bolivien in Gang hält«, schreibt er über die Mine von Bolsa Negra. »Und weil die (US-)Amerikaner das Erz kaufen, hat die Regierung angeordnet, die Produktionsrate zu erhöhen.« Für Ernesto war das die Bestätigung der Prognose, die er bereits früher für Chile und dessen Verstaatlichungsprogramm gestellt hatte: Solange die USA den Exportmarkt für Mineralien kontrollierten, konnte es keine wahre Unabhängigkeit geben. Boliviens Revolutionsregierung war sich dessen nur allzu be­ wußt. Präsident Eisenhower übte bereits Druck aus, bei den ge•Weitere Ausführungen siehe Anhang unter Ergänzungen.

planten Reformen kein zu rasches Tempo anzuschlagen, und die­ ser Rat war nicht ungehört verhallt - der siegreiche MNR hatte nur die Minen der drei größten Zinnbarone verstaatlicht. Denn was den Preis und die Menge betraf, war Bolivien nach wie vor von seinem wichtigsten Kunden abhängig, den Vereinigten Staaten. Während des Zweiten Weltkriegs, als die Zinnpreise in den Keller sanken, hatten die USA große Vorräte dieses Erzes angelegt, und so waren sie jetzt in der Lage, durch den Verkauf großer Mengen den Preis auf dem Weltmarkt zu diktieren. Doch Boliviens Revolution stand nicht nur wirtschaftlich unter Druck. Eisenhower vertrat seit seinem Amtsantritt eine aggressive Politik zur Eindämmung des »sowjetkommunistischen Expansio­ nismus«. Trotz Stalins Tod im März des Jahres befand man sich nach wie vor im Kalten Krieg. Die Sowjets, die im Bereich der stra­ tegischen Waffen mit den Vereinigten Staaten gleichziehen woll­ ten, legten letzte Hand an die neue Wasserstoffbombe, die am 12. August gezündet wurde. Und am 27. Juli endete der dreijährige Koreakrieg mit einem Waffenstillstand. Die Halbinsel blieb zer­ stört und geteilt zurück; Ost und West standen sich an einer neu­ en Grenze und damit einem neuen Krisenherd in der ohnehin schon zweigeteilten Welt gegenüber. In Kuba, einer von Washington als »sicher« angesehenen Regi­ on, kam es derweilen zu Ereignissen, die Ernesto Guevaras Leben noch entscheidend beeinflussen sollten. Am 26. Juli überfiel eine Gruppe junger bewaffneter Widerstandskämpfer die Moncada-Ka­ serne im Osten der kubanischen Stadt Santiago. Eigentlich hatten sie gehofft, mit ihrer Tat einen Aufstand gegen den Militärdiktator Fulgencio Batista auszulösen, doch ihr Plan war vorher bekanntge­ worden, und die Aktion endete in einem Blutbad. Acht Wider­ standskämpfer und neunzehn Regierungssoldaten wurden getötet. Batista versuchte, die »Kommunisten« für den Aufstand verant­ wortlich zu machen, doch die Kommunistische Partei Kubas verur­ teilte ihn als »bürgerlichen« Putsch und leugnete jede Beteiligung daran. Nach ihrer Festnahme wurden neunundsechzig der jungen Widerstandskämpfer zu Tode gefoltert oder hingerichtet. Als die Kirche intervenierte, begnügte man sich damit, die überlebenden darunter den sechsundzwanzigjährigen Studentenführer Fidel Ca­ stro und seinen jüngeren Bruder Rau! - zu langen Haftstrafen z� verurteilen.

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III Nach ihrer Rückkehr ins revolutionäre La Paz besuchten Ernesto und Calica das neugegründete Landwirtschaftsministerium und seinen Leiter Nuflo Chavez, dessen Aufgabe es war, die angekün­ digte Bodenreform umzusetzen. Ernesto beschreibt das Ministeri­ um als »einen seltsamen Ort, voller Indios aus den verschieden­ sten Bergregionen, die auf eine Audienz warteten. Jede Gruppe trug ihre typische Tracht und wurde von einem caudillo oder ei­ nem Führer begleitet, der mit ihnen in ihrer Stammessprache sprach. Die Angestellten bestäubten sie mit DDT.« Dieses Vorgehen erregte Ernestos Zorn, denn es zeigte deutlich die kulturelle Kluft, die zwischen den Revolutionsführern und dem gemeinen Volk herrschte, das sie eigentlich vertreten sollten. Calica fand das Besprühen mit DDT verständlich, denn die Indios waren »schmutzig; die Läuse krabbelten auf ihnen herum, und die Vorhänge und Teppiche des Ministeriums mußten vor dem Unge­ ziefer geschützt werden«. Wenn sie später in den Straßen auf ei­ nen Indio mit weißgepudertem Haar stießen, sagten sie sich: »Sieh mal, der war auch bei Nuflo Chavez.« Inzwischen hielten sich Ernesto und Calica seit fast einem Mo­ nat in La Paz auf. Sie hatten die Hälfte ihrer Reisekasse aufge­ braucht und ihre Visa für Venezuela in den Händen - Zeit, weiter­ zuziehen, obwohl es ihnen schwerfiel, von La Paz Abschied zu nehmen. Als sie ihren Entschluß gefaßt hatten, schreibt Ernesto: »Ein jeder von uns ließ eine Liebesaffäre zurück. Doch mein Ab­ schied fand eher auf intellektueller Ebene statt, ohne Wehmut, ob­ wohl ich glaube, daß da etwas ist zwischen ihr und mir.« Nach einem kurzen Abstecher zum Titicacasee fuhren Ernesto und Calica zur peruanischen Grenze. An der Zollstation in der Grenzstadt Puno kam es zu einem Zwischenfall wegen der Bücher, die Ernesto bei sich trug. »Sie beschlagnahmten zwei«, berichtet er, »Der Mensch in der Sowjetunion und eine Veröffentlichung des Landwirtschaftsministeriums, das sie lautstark als rotes Zeug ver­ unglimpften.« Doch nach einem heftigen Wortgefecht ließ man sie einreisen. Die Zöllner wollten die Bücher nach Lima schicken, wo Ernesto sie sich wiedergeben lassen sollte. Von Puno fuhren die beiden Argentinier nach Cuzco. Ernesto freute sich außerordentlich, die Ruinen wiederzusehen, doch auf Calica machten die historischen Stätten keinen großen Eindruck. 93

Nach einigen Tagen gingen Ernesto Calicas ständige Klagen über den Schmutz und die Unbequemlichkeit auf die Nerven. In einem Brief an Celia vom 22. August macht er seinem Ärger Luft. »Al­ berto hat sich damals ins Gras fallen lassen, weil er Inka-Prinzes­ sinnen heiraten und [verlorene] Königreiche zurückerobern woll­ te. Calica schimpft über den Schmutz ... und anstelle des Himmels und der Umrisse des Tempels in der Feme sieht er nur, daß seine Schuhe dreckig sind ... Da es ihm hier so wenig gefällt, haben wir beschlossen, rasch wieder aufzubrechen.« Nach einem Abstecher nach Machu Picchu, das Ernesto aufs neue begeisterte, obwohl es dort wieder von US-amerikanischen Touristen wimmelte, machten sie sich auf die dreitägige anstren­ gende Busreise nach Lima. An einer Haltestelle kletterten Calica und Ernesto einen Abhang hinunter, um ein erfrischendes Bad im Rio Abancay zu nehmen . Ernesto machte sich einen Spaß daraus, unter den Blicken der entsetzten weiblichen Mitreisenden, die oben auf der Straße standen, splitterfasernackt umherzuhüpfen. Als sie erschöpft und müde in Lima eintrafen, suchten sie sich ein Hotel und schliefen wie die Murmeltiere. In Lima war Calica endlich wieder in seinem Element. »Hier ge­ fällt's mir, es ist modern, sauber, mit allen Annehmlichkeiten einer Großstadt«, schreibt er seiner Mutter. Ernestos Freunde vom Le­ prosarium Gufa und Dr. Pesce brachten sie in einer Pension unter und sorgten dafür, daß sie in der Mensa der Universität essen konnten. Außerdem setzten sich die beiden Argentinier mit Gobo Nogues in Verbindung. Ernesto traf sich ein paarmal mit Dr. Pesce, und wieder führten die beiden »eine lange Diskussion über ein breites Feld von T he­ men«. Kurz darauf wurden Calica und er festgenommen und ver­ hört, während peruanische Polizeibeamte, die sie offenbar für zwei »gesuchte Kidnapper« hielten, ihr Pensionszimmer durchsuchten. Zwar wurde die Sache aufgeklärt, aber da Ernesto befürchtete, daß Dr. Pesce überwacht wurde, beschloß er, keine Verbindung mehr zu dem Arzt aufzunehmen. Er wollte vermeiden, daß einer von ihnen in Schwierigkeiten geriet. Ernesto bezweifelte nicht ohne Grund, daß ihre Festnahme auf einer Verwechslung beruhte. Schließlich hatte es bereits an der Grenze Probleme mit seiner »roten« Literatur gegeben, und wo-' möglich hatte man Calica und ihn als verdächtige Personen regi­ striert. Da Perus Diktator Manuel Odrfa zweifellos befürchtete, die 94

Revolution von Bolivien könnte »sein Land infizieren«, wie Erne­ sto es gegenüber Calica ausdrückte, wollte Ernesto vermeiden, daß aus dem Kontakt zwischen ihm und dem Kommunisten Dr. Pesce falsche Schlüsse gezogen wurden. Um den Besuch in Lima eini­ germaßen genießen zu können, verzichtete er auch darauf, die be­ schlagnahmten Bücher zurückzufordern. Am 17. September erhielt Ernesto einen Brief von seiner Mut­ ter. Sie hatte arrangiert, daß die beiden bei ihrer Ankunft in Ecua­ dor »eine Audienz« beim Staatspräsidenten erhielten. Etwa zur glejchen Zeit lief ihnen ihr alter Bekannter, der argentinische Emi­ grant Ricardo Rojo, in die Arme. Er befand sich auf dem Weg nach Guyaquil, von wo aus er mit dem Schiff nach Panama fahren woll­ te. Da auch Ernesto und Calica dasselbe Ziel hatten, gab er ihnen die Adresse der Pension, in der er absteigen wollte.

IV Obwohl Ernesto wieder unter einem Asthmaanfall litt, brachen sie mit dem Bus zur peruanischen Küste auf. Am 28. September über­ querten sie bei Huaquillas die Grenze nach Ecuador und fuhren mit dem Schiff flußabwärts zum Golf von Guayaquil. Am Anlege­ steg erwartete sie Ricardo Rojo. Begleitet wurde er von drei Freun­ den, die wie er an der argentinischen Universidad de la Plata Jura studiert hatten - Eduardo »Gualo« Garcfa, Oscar»Valdo« Valdovi­ nos und Andro »Petiso« Herrero. Ihre Pension befand sich in ei­ nem schäbigen Gebäude aus der Kolonialzeit, das von einer gutherzigen Frau namens Maria Luisa geführt wurde. Bald stellte sich heraus, daß Ernesto und Calica gar nicht nach Quito fahren mußten, um dem ecuadorianischen Präsidenten ihre Aufwartung zu machen, denn der Präsident kam nach Guayaquil. Ernesto schildert seiner Mutter die Begegnung mit dessen Pri­ vatsekretär in einem Brief vom 21. Oktober: »Er verkündete mir, ich könne Velasco Ibarra nicht sehen. Die verheerende materielle Situation, von der ich ihm berichtet hätte, sei einer der Tiefpunk­ te des Lebens. Philosophisch fügte er hinzu: >Das Leben hat seine Höhen und Tiefen; Sie stecken gerade in einem Tief, doch haben Sie Mut, haben Sie Mut!«< Tatsächlich waren Ernesto und Calica wieder einmal völlig ab­ gebrannt, und ihren Freunden ging es nicht anders. Mit jedem Tag 95

wuchsen ihre Schulden bei Marfa Luisa. Auf Ernestos Drängen hin warfen sie ihr Geld zusammen und führten eine strikte Ausgaben­ kontrolle ein, denn mittlerweile hatte sich herausgestellt, daß Er­ nesto der bessere Wirtschafter als Calica war. Mitte Oktober brachen Ricardo Rojo und Oscar Valdovinos mit einem Frachter der United Fruit Company nach Panama auf. Die anderen vier blieben zurück, wollten jedoch mit dem nächsten Schiff, das sie auftreiben konnten, nachfolgen.

V Eigentlich gab es nichts, was Ernesto noch in Guayaquil hielt. Für ihn war es ein Ort, »der vorgibt, eine Stadt zu sein, fast ohne eige­ nes Leben, wo sich alles nur um die Schiffe dreht, die an- und ab­ legen«. Aber er fuhr nicht fort . Er blieb, wo er war, zählte seine Groschen und lebte wie seine neuen Bekannten in Armut. Andro Herrero vertraute er an, er habe noch nie solch eine bedingungslose Kame­ radschaft erlebt, wo man vorbehaltlos alle Probleme gemeinsam angehen und zugleich über jedes nur erdenkliche Thema diskutie­ ren könne. Sein bester Freund, sagte er, sei Alberto; Calica sei zwar ein »guter Junge«, den er seit seiner Kindheit kannte, doch sie hät­ ten nur wenig gemeinsam. Wahre Freundschaft habe er - auch in seiner Familie - bisher nicht gekannt, obwohl er sich immer danach gesehnt habe. Ernesto sprach oft von seiner Mutter. Zwar wurde deutlich, daß er sehr an ihr hing, doch er beklagte sich auch, sie sei stets von Dichtern und oberflächlichen Schöngeistern - Frauen, die vielleicht »Lesbierin­ nen« waren - umgeben gewesen. Andro, der ein paar Jahre älter war als Ernesto, erkannte, daß sein Freund ein einsamer Mensch war, der sich nach Zuneigung sehnte. Ernestos schwere Asthmaanfälle erschütterten seine Freunde, und sie halfen ihm nach besten Kräften. »kh weiß noch, wie ich ei­ nes Nachts aufwachte, als Ernesto gerade versuchte, an sein Medi­ kament zu gelangen«, berichtet Andro, »doch er war zu schwach. Einer von uns mußte es für ihn holen.« Ernesto, der das Dasein im Kreis seiner Freunde genoß, war sich unschlüssig, was er als nächstes tun sollte. Eine Möglichkeit bot sich ihm bereits an: Vor seinem Aufbruch aus Buenos Aires hatte

er einen Brief von Alberto Granado erhalten, in dem dieser schrieb, Ernesto könne in seinem Leprosarium eine Stelle bekommen. Das Geld für die Reise würde Alberto ihm notfalls leihen. Und tatsäch­ lich gab es einiges, was Ernesto dorthin zog. Zu Andro sagte er, er wolle viel Geld verdienen, damit er seine Mutter zu einem Krebs­ spezialisten nach Paris schicken könnte, denn er fürchtete einen neuen Ausbruch der Krankheit. Doch als Gualo Garcia beiläufig vorschlug, Ernesto und Andro sollten ihn in Guatemala besuchen, war die Sache entschieden. Im Heimatland des Freundes erwartete sie etwas ganz Neues: eine lin­ ke Revolution, die für die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten eine Herausforderung darstellte und deren Erfolg womöglich so­ gar entscheidend für die Zukunft ganz Lateinamerikas war. Ohne lange zu überlegen, gab Ernesto seine ursprünglichen Pläne auf; die guten Vorsätze waren vergessen. Doch die Fahrt tatsächlich in die Wege zu leiten war leichter ge­ sagt als getan. Die erste Hürde bestand für die jungen Männer dar­ in, daß sie Guayaquil nicht verlassen konnten. Sie brauchten ein Visum für Panama, und um das zu erhalten, mußten sie eine Schiffspassage vorweisen können. Da sie kein Geld hatten, mußten sie also einen Schiffskapitän finden, der für sie bei den panamesischen Behörden bürgte und sie kostenlos mitnahm. Das war viel verlangt, und ohne große Zuver­ sicht begannen sie im Hafen die Runde zu machen. So gingen die Tage ins Land. Calica, der nicht länger warten wollte, beschloß, auf eigene Faust zu der im Landesinneren gele­ genen Hauptstadt Quito zu fahren. Ernesto wollte noch einige Ta­ ge weitersuchen, doch wenn sich keine Änderung abzeichnete, würde er Calica in einem Telegramm bitten, auf ihn zu warten. Ge­ meinsam würden sie dann nach Caracas fahren. Doch einige Tage später fanden sie, was sie gesucht hatten: Der Kapitän der Guayos gab ihnen ein gefälschtes Schreiben, in dem er bestätigte, daß sie bei ihm eine Passage gebucht hätten, und prompt bekamen sie ih­ re Visa. Aber kaum hatte Ernesto Calica in einem Telegramm be­ nachrichtigt, daß er nicht zu warten brauche, hieß es, die Abreise der Guayos verzögere sich auf »unbestimmte Zeit«. Ernesto bekam einen Asthmaanfall und litt darüber hinaus an Übelkeit und Durchfall- eine Nebenwirkung seiner Medikamen­ te. Außerdem hatten seine Freunde und er in der Pension von Maria Luisa eine riesige Rechnung offen, die mit jedem Tag höher 97

wurde. Am 22. Oktober schrieb Ernesto an seine Mutter, daß er nach Guatemala fahren werde. Den neuen Anzug, den sie ihm zum Abschied geschenkt hatte, habe er verkauft. »Die Perle deiner Träu­ me endete heldenhaft bei einem Trödler, und allen entbehrlichen Gegenständen meiner Ausrüstung widerfuhr das gleiche Schick­ sal.« Schließlich fand Andro eine Lösung. Er würde als Bürge zurück­ bleiben; die anderen sollten sich auf den Weg machen und ihm Geld schicken, so daß er ihre Schulden bezahlen und nachkommen könne. Ernesto wandte ein, da er der Neuling sei, müsse er zurück­ bleiben. Doch Andro ließ sich nicht umstimmen, und als einer sei­ ner Bekannten, der Einkäufer des eleganten Humboldt-Hotels er­ klärte, er würde ihre Schulden begleichen, wenn Andro für ihn arbeitete, war die Angelegenheit geregelt. Letztlich sollte Andro nie Gelegenheit haben, seinen Freunden nachzureisen. Er arbeitete in Guayaquil monatelang in den ver­ schiedensten Gelegenheitsjobs, unter anderem als »lebende Kano­ nenkugel« beim Zirkus. Calica setzte sich in Caracas mit Alberto in Verbindung, fand eine Arbeit und blieb fast zehn Jahre in Venezu­ ela. Weder er noch Andro sahen Ernesto jemals wieder. Nun waren sie also nur noch zu zweit. Nach einiger Ver­ zögerung machte sich die Guayos zum Ablegen fertig. Ernesto tauschte seinen Seesack mit dem zusammenklappbaren Holzrah­ men gegen Andros größeren Koffer ein, um darin seine vielen Bücher zu verstauen. Am 31. Oktober brachte Andro die beiden ans Schiff. Während Ernesto schreibt, daß er im Augenblick des Ab­ schieds nicht in der Lage war, tiefere Gefühle zu zeigen, berichtet Andro, daß der gewöhnlich so reservierte Ernesto »weinte wie ein kleines Kind«. Andro war so bewegt, daß er fortging, noch ehe das Schiff ablegte.

VI Als Ernesto auf dem Dampfer Richtung Norden nach Mittelameri­ ka fuhr, war ihm bewußt, daß er Länder betreten würde, die »keine Nationen waren, sondern Privatland, estancias im Besitz des jewei­ ligen Diktators«.1953 waren die rückständigen Länder Mittelame­ rikas bis auf Guatemala nicht mehr als von den USA dominierte »Bananenrepubliken«. Das auf der Landenge zwischen Nord- und

Südamerika gelegene Panama beispielsweise konnte auch fünfzig Jahre nach seiner Gründung durch Theodore Roosevelt-der sich da­ mit die Kontrolle über den neugebauten Panamakanal sichern woll­ te - kaum als eigenständiger Staat bezeichnet werden. Ungeachtet des wachsenden Nationalgefühls der Panamesen übten die USA in der Zone nördlich und südlich des Kanals, in der sie militärische Stützpunkte unterhielten, die Rechtsprechung aus und spielten in Politik und Wirtschaft eine dominierende Rolle. Nicaragua wurde seit den dreißiger Jahren von dem korrupten General Anastasio »Tacho« Somoza Garcfa regiert. Somoza hatte sich das Amt durch Verrat gesichert, denn als er nach Jahren des Bürgerkriegs mit dem nationalistischen Guerillaführer Augusto Cesar Sandino in Verhandlung trat, veranlaßte er parallel dazu dessen Ermordung. Wiederholt hatte er zur »Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung« US-amerikanische Marineeinheiten zu Hilfe rufen müssen. Als unerschütterlicher Antikommunist besaß Somoza in Washington viele Freunde, und auf sein Drängen hin sollte die CIA gegen Guatemalas fortschrittliche Revolution aktiv werden. Das winzige EI Salvador war fest in den Händen einer Oligar­ chie von Kaffeeplantagenbesitzern. Nachdem zwanzig Jahre zuvor eine kommunistisch beeinflußte Bauernrevolte blutig niederge­ schlagen worden war - dreißigtausend Menschen kamen dabei ums Leben -, war das Land von verschiedenen Militärdiktatoren regiert worden, und die Bauern blieben im alten feudalen Abhän­ gigkeitsverhältnis gefangen. Sein Nachbarstaat, das dünnbesiedel­ te, unterentwickelte Honduras, besaß praktisch keine Infrastruk­ tur, und seine Regierung war Handlanger der United Fruit Company, der im Lande riesige Plantagen und die meisten der Hä­ fen und Eisenbahnlinien gehörten. Costa Rica bildete die einzige Ausnahme. Auch hier besaß die United Fruit Company große Ländereien, doch seit der von Jose »Pepe« Figueres angeführten fortschrittlichen Revolution des Jah­ res 1948 hatte es sich bessere Handelsbedingungen gesichert. Da die Regierung den ausländischen Besitz unangetastet ließ, be­ wahrte sie sich das Wohlwollen Washingtons, und in dem gemein­ hin als die »Schweiz Lateinamerikas« bezeichneten Land herrsch­ te ein Klima politischer Toleranz. Auf den nahegelegenen Karibikinseln mit ihrer Plantagenwirt­ schaft und der armen, von afrikanischen Sklaven abstammenden 99

schwarzen Bevölkerung regierte ein buntes Konglomerat von Gouverneuren aus London, Paris oder Den Haag. Die europäischen Kolonialmächte besaßen darüber hinaus auch Kolonien auf dem Festland: Britisch-Honduras auf der Halbinsel Yucatan und das zwischen Holländern, Franzosen und Briten aufgeteilte Guayana auf der Nordspitze Südamerikas. Mit der faktischen Annexion Pu­

erto Ricos hatten sich die Vereinigten Staaten in die Gruppe der imperialistischen Mächte eingereiht-1952 erklärten sie das Land, das sie ein halbes Jahrhundert zuvor von den Spaniern erobert hat­ ten, zum ersten »Commonwealth-Mitglied« der Vereinigten Staa­

ten. Nur Haiti, die Dominikanische Republik und Kuba waren ei­ genständige Republiken, doch ihre Regierungen waren instabil oder korrupt oder beides. Seit 1930 wurde die Dominikanische Re­ publik von dem ruchlosen General Rafael Trujillo regiert und aus­

geplündert, und es sollte nur noch ein Jahr vergehen, bis das poli­ tisch labile Haiti unter die Schreckensherrschaft von Dr. Fran�ois »Papa Doc« Duvalier geriet. In Kuba hatte General Fulgencio Bati­ sta nach einem Staatsstreich im Vorjahr eine Willkürherrschaft er­ richtet.

VII Nachdem die Guayos in Panama angelegt hatte, begaben sich Er­ nesto und Gualo zu einer billigen Pension, wo sie für einen Dollar die Nacht im Flur schlafen durften. Auf dem argentinischen Kon­ sulat erfuhren sie, daß Rojo und Valdovinos bereits nach Guate­ mala weitergereist waren, jedoch einen Brief für sie hinterlassen hatten, in dem sie ihnen Namen von befreundeten Universitäts­ studenten nannten. Ernesto und Gualo wollten so rasch wie möglich weiterreisen.

Hilfe erhielten sie sowohl vom argentinischen Konsulat als auch von den Studenten, mit denen sie sich anfreundeten. Sie halfen ih­

nen bei der Begleichung der Pensionsrechnung und stellten Erne­ sto verschiedenen Herausgebern von Zeitschriften vor, für die er

Reiseberichte schreiben konnte. Außerdem brachten sie ihn an die medizinische Fakultät, wo er einen Vortrag über Allergien hielt.

Mittlerweile hatte es sich Ernesto zur Gewohnheit gemacht, Menschen, die er kennenlernte, in seinem Tagebuch zu beschrei­ ben. Er analysierte ihre charakterlichen Qualitäten und immer öf100

ter auch ihre politische Einstellung. Beispielsweise erwähnt er ei­ nen Dr. Carlos Moreno von der Universität Panama, der »mich als brillanter Demagoge beeindruckte, sich sehr gut in der Massen­ psychologie auskannte, über die Dialektik der Geschichte jedoch weniger Bescheid wußte ... Um die Massen nicht in Aufruhr zu bringen, würde er bei einer Revolution nicht weiter gehen als un­ bedingt nötig.« Worauf Ernesto in seiner Beurteilung den Schwerpunkt legte, waren Dr. Morenos Kenntnisse des Marxismus und sein potentiel­ ler Wert als Revolutionär. Und so gewinnt man in seinen Notizen den Eindruck, daß er seine Mitmenschen danach einschätzte, ob sie sich an einer zukünftigen, die nationalen Grenzen überschreiten­ den Revolution beteiligen würden - als würde er bereits ahnen, was die Zukunft für ihn bereithielt. Ende November war Ernesto und Gualo wieder einmal das Geld ausgegangen. Die Abfahrt des Schiffes, das sie nach Guatemala bringen sollte, hatte sich verzögert. Sie beschlossen, den Landweg zu nehmen, doch damit standen sie vor dem Problem, sich neue Vi­ sa beschaffen zu müssen. »Unsere Lage ist schlecht«, schreibt Er­ nesto in sein Tagebuch. »Der Konsul von Costa Rica ist ein Stur­ kopf und verweigert uns die Visa ... der Kampf wird hart ...« Als sie endlich die erforderlichen Papiere beisammen hatten, brachen sie auf. Doch bald begegneten sie neuen Schwierigkeiten. Im Norden Panamas hatte der Laster, der sie mitnahm, erst einen Motorschaden und dann einen Unfall. Nach einer zweitägigen Rei­ se in Bummelzügen oder zu Fuß erreichten sie die hübsche Hafen­ stadt Golfito am Pazifik, eine Hochburg der United Fruit Company, die diese für ihre zehntausend Angestellten vor Ort gebaut hatte. Ernesto stellt fest, daß sie »säuberlich in Zonen aufgeteilt war, mit Wächtern, die den Zugang kontrollieren, und natürlich gehörte der bessere Teil den gringos«. Nach einem Besuch im Krankenhaus der United Fruit Company notiert er kritisch: »Ein angenehmes Haus, in dem man eine gute medizinische Versorgung erhalten kann. Doch inwieweit man in ihren Genuß kommt, hängt von der Klas­ senzugehörigkeit des Mitarbeiters der Gesellschaft ab. Wie immer zeigt sich auch hier das Klassendenken der gringos.« Am folgenden Tag brachen Ernesto und Gualo an Bord eines Frachters der United Fruit Company auf. In Puntarenas verließen sie das Schiff und fuhren von dort ins Landesinnere in die Haupt­ stadt Costa Ricas, San Jose. 101

Die kleine, inmitten sanfter grüner Hügel gelegene Stadt, deren rote Ziegeldächer sich vom strahlend blauen Himmel abhoben, war das neue Zentrum der Karibischen Liga. Ursprünglich hatte das prodemokratische Bündnis unter der Schirmherrschaft des früheren kubanischen Präsidenten Carlos Prfo Socarnis in Havan­ na getagt, doch nach Batistas Staatsstreich trafen sich die führen­ den Exilpolitiker aus Venezuela, der Dominikanischen Republik und Nicaragua - Länder, die von Diktatoren regiert wurden - in San Jose. Costa Ricas Präsident Pepe Figueres war eine Ausnahme in La­ teinamerika. Da er bei den politischen Reformen einen Mittelweg eingeschlagen hatte, genoß er in Washington bei konservativen wie liberalen Politikern großes Ansehen. Er hatte einerseits die kommunistische Partei des Landes verboten, andererseits Wa­ shington dazu bewegen können, die demokratischen Reformen zu unterstützen, statt in gewohnter Manier auf einen Diktator zu set­ zen. Abgesehen von Figueres gab es noch andere demokratische Hoffnungsträger in Lateinamerika: Victor Raul de Ja Torre aus Pe­ ru und R6mulu Betancourt aus Venezuela. Letzterer hatte eine li­ berale Koalitionsregierung angeführt, bis Marcos Perez Jimenez durch einen Militärputsch an die Macht kam. Betancourt vertrat eine moderat sozialdemokratische, wenn auch streng anitkommu­ nistische Politik, die zugleich Sozialreformen wie auch ausländi­ sche Investitionen förderte. Am weitesten links stand die Exilpar­ tei des Dominikaners Juan Bosch, obwohl auch sie keine strikte kommunistische Linie verfolgte. Sowohl Bosch als auch Betancourt genossen in Costa Rica poli­ tisches Asyl, und Ernesto war begierig, ihre politischen Vorstel­ lungen genauer kennenzulernen. Besonders interessierte ihn ihre Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten, denn dieses Thema war für ihn mittlerweile zum Richtwert für die Glaubwürdigkeit eines Politikers geworden. Einen Tag lang unterhielten sich Ernesto und Gualo mit Juan Bosch und Manuel Mora Valverde, dem Kommunistenführer aus Costa Rica. Am Tag darauf lernte Ernesto endlich R6mulo Be­ tancourt kennen. Von allen dreien beeindruckte ihn Valverde am meisten. Ernesto notierte sich dessen Analyse der Geschichte Costa Ricas und der von Figueres betriebenen proamerikanischen Politik: »Wenn Figueres von seinem Glauben an das Mitgefühl des US102

amerikanischen Außenministeriums geheilt ist«, hält er zusam­ menfassend fest, »stehen wir vor der incognita: Wird er kämpfen oder sich fügen?« Juan Bosch beschreibt Ernesto als »einen belesenen Mann mit klaren Vorstellungen und linken Anschauungen. Wir sprechen nur über die Politik, nicht über die Literatur. Er bezeichnete Batista als Gangster, der sich mit Gangstern umgeben hat.« Ernestos Urteil über R6mulo Betancourt fällt kritischer aus.»Zwar erweckt er den Eindruck eines Politikers mit einigen festen Vorstellungen, doch alles andere ist Schmeichelei und Opportunismus. Im Prinzip steht er auf der Seite der Vereinigten Staaten. Er unterstützt den Pakt von Rio (das 1948 geschlossene interamerikanische Verteidungs­ abkommen) und verbreitet Schreckensnachrichten über die Kom­ munisten.« Kurze Zeit später brachen Ernesto und Gualo per Autostop in das Land auf, das sie»Tachos (Somozas) estancia« nannten - nach Nicaragua. Jenseits der Grenze stand während eines sintflutartigen Regenschauers plötzlich Ricardo Rojo vor ihnen. Er war mit zwei argentinischen Brüdern unterwegs, die ihr Auto nach Südamerika bringen wollten. Da er in den langen Wochen in Guatemala nichts mit sich hatte anfangen können, hatte Rojo sich den beiden ange­ schlossen. Die Straßen nach Costa Rica waren mittlerweile unpas­ sierbar geworden, und so fuhren Rojo und seine Begleiter zur Kü­ ste, wo sie eine Fähre nach Süden nehmen wollten, während Ernesto und Gualo mit dem Bus in die nicaraguanische Hauptstadt Managua aufbrachen. Ernesto fand in dem glühendheißen Managua wenig, was ihn fesselte. Die meiste Zeit verbrachte er mit Visaanträgen auf»Kon­ sulaten mit der sie umgebenden Blödheit«. Im honduranischen Konsulat erschienen plötzlich Ricardo Rojo und seine beiden Be­ gleiter, die keine Fähre hatten finden können. Sie beschlossen, sich aufzuteilen: Rojo und einer der Brüder würden ein Flugzeug nach San Jose nehmen, und Ernesto und Gualo sollten mit dem anderen Bruder zurück nach Guatemala fahren, wo sie das Auto wieder ver­ kaufen wollten. Mit zwanzig Dollar in der Tasche brachen die drei jungen Män­ ner auf, und als sie am 24. Dezember in Guatemala-Stadt eintra­ fen, besaßen sie gerade noch drei.

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VIII Guatemala-Stadt war in den fünfziger Jahren eine provinzielle, konservative, kleine Stadt mit einer überwiegend aus Weißen und Mestizen zusammengesetzten Bevölkerung. Umgeben von bewal­ deten Vulkanen, Kaffeeplantagen und vereinzelten Indiosiedlun­ gen lag es in einem Hochland von erstaunlicher Schönheit. Doch die Postkartenidylle mit farbenprächtig gekleideten Indi­ os, die in Glück und Zufriedenheit ihr Dasein fristeten, täuschte. Trotz der seither vergangenen Zeit waren die Wunden der spani­ schen Eroberung frisch geblieben. Seit Jahrhunderten herrschte eine weiße und kreolische Oberschicht über die Mehrheit der Ein­ geborenen, die entweder in den riesigen Plantagen der Oligarchie oder der United Fruit Company arbeiteten. Dies jedenfalls war der Stand der Dinge, als der rücksichtslose Diktator Ubico in den vierziger Jahren von der fortschrittlichen Revolution des Juan Jose Arevalo gestürzt wurde. Arevalo, der nicht in der Lage war, die versprochenen demokratischen Refor­ men durchzuführen, wurde von dem linken guatemaltekischen Oberst Jacobo Arbenz Guzman abgelöst, der sich mit weitaus größerer Konsequenz an die Arbeit machte. Am umstrittensten war das 1952 unterzeichnete Gesetz zur Bodenreform, durch das das System der Latifundien beendet und der Besitz der United Fruit Company an den Staat überführt werden sollte. Damit zog sich Arbenz unweigerlich die Feindschaft von Guate­ malas konservativer Oberschicht und der United Fruit Company zu, deren Vertreter ungewöhnlich enge Kontakte zur Regierung Eisenhower pflegten - unter anderem zu den Brüdern Dulles, dem US-Außenminister und dem Direktor der CIA. Beide verfügten seit ihrer früheren T ätigkeit für eine Anwaltsfirma über gute Kon­ takte zur United Fruit Company. Außerdem besaß die Familie von Eisenhowers Minister für in­ teramerikanische Angelegenheiten, John Moore Cabot, große An­ teile an United Fruit Company, und Eisenhowers Privatsekretärin war mit dem Pressechef des Unternehmens verheiratet. Angesichts solch illustrer Freunde konnte die Gesellschaft mit einigen Pfun­ den wuchern. Um ihren Einfluß zu verstärken, stellte sie den ziel­ strebigen Spruille Braden, Trumans früheren Sonderbeauftragten für Lateinamerika, als Berater ein. Im März 1953 hielt Braden am College Dartmouth eine flammende Rede, in der er die Eisenho104

wer-Regierung aufforderte, militärische Mittel gegen die »Kom­ munisten« in Guatemala einzusetzen. Kurz darauf wurde deutlich, wie weit die United Fruit Company zu gehen bereit war: Sie orga­ nisierte in der Provinzhauptstadt Salama einen Aufstand. In den folgenden Prozessen gegen die Aufwiegler wurde zwar die Beteili­ gung der US-Firma aufgedeckt, doch etwas anderes blieb im dun­ keln: daß auch die CIA beteiligt war und mit dem Unternehmen Pläne schmiedete, Guatemalas Regierung zu stür?en. Zudem fürchteten Guatemalas mittelamerikanische Nachbarn, insbesondere Somoza, die Revolution könne auf ihr Land über­ greifen. Gleichzeitig strömten Hunderte von lateinamerikanischen Exilanten und andere junge Linke wie Ernesto nach Guatemala, um sich das »sozialistische« Experiment mit eigenen Augen anzu­ sehen. Ihre Anwesenheit in dem Hexenkessel Guatemala sorgte für zusätzlichen Zündstoff, und die Spannungen zwischen Arbenz und Washington wurden von Tag zu Tag stärker. Obwohl er es nach außen hin verbarg, hatte sich Ernestos poli­ tische Einstellung zu dem Zeitpunkt seiner Ankunft in Guatemala verändert. Zwar sollte es noch einige Zeit dauern, bis er seine neu­ en Überzeugungen in die Tat umsetzte, doch bietet sein Gesin­ nungswandel eine Erklärung dafür, daß es ihn so drängte, nach Gu­ atemala zu fahren. Eine Schlüsselstelle findet sich in einer Passage seiner Notas de Viaje, die er in Buenos Aires verfaßt und treffend mit »Notizen am Rande« betitelt hatte, da sie sich vom Rest seines Reiseberichts deutlich unterscheiden. Ohne zu erwähnen, wo seine »Offenbarung« stattgefunden hat, beschreibt Ernesto eine »sternenklare, bitterkalte Nacht in einem Dorf in den Bergen«. Ein Mann war bei ihm. »Ich weiß nicht, ob es an der Persönlichkeit meines Gegenübers oder an der Stimmung der Nacht lag, daß ich für die Offenbarung bereit war, doch ich hat­ te die Argumente schon viele Male von vielen verschiedenen Men­ schen gehört, und nie hatten sie mich beeindruckt. Der Sprecher hatte eine interessante Vergangenheit; er war als junger Mann aus einem gewissen Land in Europa geflohen, um den Klingen des Dogmatismus zu entkommen; er kannte das Gefühl der Angst (das einem das Leben um so teuerer macht) und hatte sich später, nach einer Odyssee durch viele Länder und nach unzähligen Abenteu­ ern in dieser abgelegenen Gegend zur Ruhe gesetzt, wo er gedul­ dig auf das große Ereignis wartete. . . . Wir wollten schon Abschied nehmen, als er mit dem für ihn

typischen jungenhaften Grinsen erklärte: >Die Zukunft gehört dem Volke, und es wird entweder nach und nach oder auf einen Schlag die Macht ergreifen, hier und auf der ganzen Welt. Leider aber muß es noch zivilisiert werden, und dies kann nur geschehen, nachdem es die Macht ergriffen hat, nicht vorher. Zivilisiert wird es erst, wenn es den Preis seiner Fehler kennt, der schweren Feh­ ler, die viele Unschuldige das Leben kosten werden. Aber vielleicht sind sie ja auch gar nicht unschuldig, vielleicht haben sie die größ­ te Sünde contra natura begangen, die darin besteht, sich nicht an­ passen zu können. Sie alle - die, die sich nicht anpassen können, du und ich zum Beispiel - werden im Sterben die Mächte verfluchen, die wir unter größten Opfern zu entfesseln geholfen haben ... Auf einer abstrakten Ebene nimmt uns die Revolution das Leben und macht sich für die Jugend, die nach uns kommt, sogar das zunutze, was sie beispielhaft an unseren Taten empfindet . Meine Sünde ist größer, denn da ich mehr Erfahrung habe oder genauer nachfor­ sche - nenne es, wie du willst -, werde ich in der Stunde meines Todes wissen, daß mein Opfer nur auf Eigensinn beruht, einem Eigensinn, wie er typisch ist für die verfaulte Zivilisation, die zusammenbricht . «< Der rätselhafte Sprecher, der sich als ein vor Stalins Pogromen geflüchteter Marxist zu erkennen gibt, wendet seine Aufmerk­ samkeit nun Ernesto zu. »Du wirst mit geballter Faust und zusammengebissenen Zähnen .

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sterben als Ausdruck deines Hasses und deines Kampfes, denn du bist kein Symbol (etwas Unbelebtes, das man als Beispiel anführt), sondern ein authentisches Mitglied der Gesellschaft, die zerfällt ... Du bist ebenso nützlich wie ich, doch du kennst nicht den Nutzen deiner Hilfe für die Gesellschaft, die dich opfert.« Nachdem er vor den Konsequenzen gewarnt wurde, die mit dem revolutionären Weg verbunden sind, erlebte Ernesto eine »Offen­ barung «:» ... trotz seiner Worte wußte ich nun ... ich werde an der Seite des Volkes stehen, und das weiß ich, denn eingemeißelt in die Nacht sehe ich mich, den eklektischen Analytiker von Doktrinen und psychoanalytischen Deuter von Dogmen, heulend wie ein Be­ sessener die Barrikaden oder Schützengräben erstürmen, meine Waffen in Blut baden und wild vor Wut jedem Feind, der mir in die ' Hände fällt, die Kehle durchschneiden. Und während eine uner­ meßliche Müdigkeit meine gegenwärtige Euphorie fortwischt, se­ he ich, wie ich den Opfertod sterbe.« 106

In diesem leidenschaftlichen - und melodramatischen - Passus sieht der fünfundzwanzigjährige Ernesto Guevara mit einer unge­ heuren Klarheit seinen Tod voraus. Er erkennt aber auch, daß sein Vermächtnis eines Tages durch viele der selbsternannten Revolu­ tionäre ausgeschlachtet werden wird. Er gibt Einblick in die Ge­ fühle, die er sich bisher nicht eingestanden hatte, die jedoch bald in seinen Taten Ausdruck finden sollten.*

IX

Rojo, der mittlerweile wieder nach Guatemala zurückgekehrt war, machte Ernesto mit einem Menschen bekannt, der in seinem Le­ ben eine wichtige Rolle spielen würde: Es war eine kleine unter­ setzte Frau von Ende Zwanzig mit chinesisch-indianischen Ge­ sichtszügen namens Hilda Gadea. Sie stammte aus Peru, war eine der führenden Aktivisten der Jugendorganisation der APRA-Be­ wegung in Peru gewesen, lebte in Guatemala im Exil und arbeite­ te nun für die Regierung Arbenz. »Bei unserer ersten Begegnung hatte ich einen negativen Ein­ druck von Guevara«, schreibt sie später. »Für einen intelligenten Menschen schien er mir zu oberflächlich, zu selbstgefällig und zu eitel.« Trotz dieses Eindrucks - der, wie Hilda zugibt, auf ihr tiefver­ wurzeltes Mißtrauen gegenüber Argentiniern zurückzuführen war, die in den Nachbarländern als arrogant und eingebildet galten - hatte sich Hilda bald in Ernesto verliebt. Der hatte gegenwärtig jedoch anderes im Sinn: Er befand sich auf Arbeitssuche und er­ wähnte Hilda in seinen Tagebüchern nur am Rande. Rein äußerlich schien Guatemalas Hauptstadt von allen Verän­ derungen unberührt geblieben zu sein - in dem kleinen Stadtzen­ trum blinkten die Leuchtreklamen und tummelten sich die Straßenhändler, während sich die Wohlhabenden in den Vororten hinter den mit Bougainvilleas bewachsenen Mauern ihrer Anwe­ sen verschanzten. Und wenn Ernesto zunächst auch von der Revo­ lution enttäuscht schien, so traf er hier doch politische Flüchtlinge aus den unterschiedlichsten Ländern Lateinamerikas: apristas aus Peru, nicaraguanische Kommunisten, antiperonistas aus Argenti•Weitere Ausführungen siehe Anhang unter Ergänzungen.

nien, Sozialdemokraten.aus Venezuela und kubanische antibatisti­ 1 anos. Außerdem hatte er noch nicht die ländlichen Gebiete be­ sucht, wo inzwischen die Bodenreform durchgeführt worden war. In einem am 10. Dezember in San Jose abgefaßten Brief berich­ tete er seiner Tante Beatriz von den letzten Reiseetappen. Erstmals geht er in seiner Korrespondenz auf seine politische Überzeugung ein. »Mein Leben hatte aus einem Meer von festen Entschlüssen bestanden, bis ich voller Mut den Ballast abschüttelte und mich, den Rucksack auf dem Rücken, mit el compailero Garcfa wieder auf den verschlungenen Pfad begab, der uns schließlich hierherführte. Unterwegs hatte ich Gelegenheit, das Reich der United Fruit Com­ pany zu durchqueren, was mich erneut überzeugte, wie schrecklich diese kapitalistischen Kraken sind. Vor einem Bild des alten und be­ trauerten Genossen Stalin habe ich geschworen, daß ich nicht eher ruhen werde, bis diese kapitalistischen Kraken beseitigt sind. In Guatemala will ich mich vervollkommnen und mir die Fähigkeiten aneignen, die ein echter Revolutionär braucht.« Nach dieser für seine Tante sicher recht befremdlichen Eröff­ nung schließt Ernesto mit den Worten: »Von Deinen Neffen mit der eisernen Konstitution, dem leeren Magen und dem Glauben an eine leuchtende sozialistische Zukunft.« In Managua hatte Ernesto auf dem argentinischen Konsulat ein »dummes« Telegramm von seinem Vater bekommen, der auf Nachricht von ihm wartete und anbot, telegrafisch Geld zu schicken. Am 28. Dezember verfaßte Ernesto ein wütendes Ant­ wortschreiben.»Vielleicht hast Du inzwischen verstanden, daß ich Dich nicht einmal dann um Geld bitte, wenn ich verhungere, und wenn Du keinen Brief von mir bekommst, obwohl Du damit rech­ nest, dann fasse Dich in Geduld und warte. Manchmal kann ich mir nicht mal Briefmarken leisten, doch ich komme bestens zurecht und immer irgendwie über die Runden. Wenn Du Dir Sorgen machst, dann spar Dir das Geld für das Telegramm und gehe einen trinken oder so was. Doch von nun an bekommst Du auf ein Tele­ gramm dieser Art keine Antwort mehr.« Es scheint, als wollte Ernesto mit seinem brüsken Ton eine Trennlinie zwischen sich und seiner Familie ziehen. Aus sicherer Entfernung, wo ihn ihre Überredungskünste weder aufhalten no!=h vom Wege abbringen konnten, erklärte er ihnen: »So bin ich nun mal, das bin ich wirklich, ihr könnt es nicht ändern, also macht euch besser mit der Vorstellung vertraut.« 108

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»Weder Ruhm noch Schande«

In der Revolution von Guatemala hatte Ernesto zum erstenmal in seinem Leben etwas gefunden, mit dem er sich politisch voll und ganz identifizieren konnte. Trotz seiner Mängel, schreibt er seiner Familie, sei Guatemala eines der wenigen Länder Lateinamerikas, in dem man die »Luft der Freiheit atme«. Doch nun stand er vor dem Problem, eine nützliche Betätigung für sich zu finden, was ihm paradoxerweise nicht gelingen sollte. Zwar sammelte er während seines Aufenthalts in Guatemala unschätzbare Erfahrungen in an­ gewandter Politologie, doch seine Suche nach einer Arbeit, in der er der Revolution von Nutzen sein konnte, brachte eine Enttäuschung nach der anderen -die Tage, in denen er »weder Ruhm noch Schan­ de« erntete, »wiederholten sich in alarmierender Eintönigkeit«. Immerhin lernte er viele Leute kennen. Hilda Gadea, die ihm bei der Suche nach einer Anstellung im medizinischen Bereich half, stellte ihm eine Reihe von Bekannten aus der Regierung vor. Da­ zu gehörten der adlige Wirtschaftsminister Alfonso Bauer Pafz und Jaime Dfaz Rozzoto, der bei Präsident Arbenz als Sekretär ar­ beitete. Während dieser Begegnungen versuchte Ernesto, so viel wie möglich über die Revolution in Guatemala zu erfahren. Außerdem lernte er durch Hilda den nicaraguanischen Emi­ granten Professor Edelberto Torres kennen. Dessen Tochter Myr­ na hatte ein Jahr in Kalifornien Anglistik studiert und arbeitete nun mit Hilda im lnstituto de Fomento a la Producci6n, einer von Arbenz eingerichteten Regierungsbehörde, die den Bauern Kredi­ te vermittelte. Myrnas Bruder Edelberto Torres jr., der Generalse­ kretär der Juventud Democratica, der Jugendorganisation von Guatemalas kommunistischer Partei, war gerade von einer China­ reise zurückgekehrt. Das Haus der Torres war ein Treffpunkt für politische Flüchtlinge aus aller Herren Länder, und gleich an sei-

nem ersten Abend traf Ernesto dort mehrere Exilkubaner, die sich seit einigen Monaten in Guatemala aufhielten. Die lebhaften, offenherzigen, unkonventionellen Kubaner wa­ ren die einzigen Emigranten, die bisher an einem bewaffneten Auf­ stand gegen einen Diktator teilgenommen hatten. Ihr Versuch war zwar fehlgeschlagen, doch aufgrund ihrer Entschlossenheit und ih­ res Muts brachte man ihnen allgemein Bewunderung entgegen. Zudem hatte ihr Anliegen, Batista zu stürzen, durch die Aktion große Publizität gewonnen. Die jungen Männer, unter ihnen An­ tonio »Nico« L6pez, hatten sechs Monate zuvor unter der Führung des Rechtsanwalts Fidel Castro Ruz versucht, die Moncada- und die Bayamo-Kaserne zu stürmen. Nachdem die Aktion gescheitert war, hatten sich einige von ihnen in die guatemaltekische Botschaft in Havanna geflüchtet. Nun genossen die moncadistas, wie sie ge­ nannt wurden, in Guatemala Asyl und warteten - wenn sie nicht gerade als Ehrengäste eine Dinnerparty der Emigrantengemeinde besuchten - auf neue Instruktionen ihrer Organisation. Im Augenblick stand es allerdings nicht sonderlich gut um ihre Sache. Ihr Anführer Fidel Castro war in Kuba zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt worden und saß seine Strafe in einer Einzelzelle im Gefängnis auf der Isla de! Pinos ab. Dennoch blickten die Kubaner in Guatemala voller Zuversicht in die Zukunft und gingen davon aus, daß sie ihr Exilland bald wieder würden verlassen können. Ernesto war von den Männern beeindruckt und schloß mit dem warmherzigen, lebhaften Nico bald Freundschaft. Um sich ein we­ nig Geld zu verdienen, taten sich Nico und seine Kameraden mit Ernesto zusammen und arbeiteten als Vertreter auf Kommissions­ basis. Nico nannte Ernesto »EI Che Argentino« - weil sein Freund in argentinischer Manier praktisch in jedem Satz das Guarani­ Wort Che verwendete, das so viel bedeutet wie: »Heh, du!« Und durch Nico hörte Ernesto auch zum erstenmal von dem politischen Kampf in Kuba und seinem Anführer Fidel Castro. Doch im Moment galt Ernestos Interesse nicht Kuba, sondern Guatemala. Als man ihm mitteilte, daß er noch ein Jahr auf die Me­ dizinische Hochschule gehen müsse, damit man in Guatemala sein argentinisches Examen anerkennen könne; gab er seine Bemühun­ gen um eine Stelle beim Gesundheitsministerium auf. Er bezeic�­ nete den guatemaltekischen Berufsstand der Mediziner als »rigi­ den Kreis von Oligarchen«, zu dem er keinen Zugang finden würde, und beschloß, andere Wege zu gehen. 110

Obwohl Ernesto seine finanziellen Nöte gewöhnlich herunter­ spielte, machte sich seine Familie, inbesondere Tante Beatriz, Sor­ gen um ihn. Sie schickte ihm einen Brief mit Geld - der nie bei ihm eintraf - und einen zweiten, um zu fragen, ob der erste angekom­ men sei. In seiner Antwort vom I2. Februar bemerkt Ernesto sar­ kastisch: » ... ein demokratisch gesinnter Postbeamter hat wohl dafür gesorgt, daß die Mittel gerecht verteilt werden. Schick mir kein Geld mehr, denn Du kannst es Dir nicht leisten, und hier lie­ gen die Dollars praktisch auf der Straße. Dir kann ich es ja anver­ trauen: Ich habe schon einen Hexenschuß, weil ich mich ständig danach bücken muß.«

II Myrna Torres und ihre Freundinnen hatten bald ein Auge auf Er­ nesto und Gualo geworfen. Doch Myrna mußte rasch einsehen, daß sich Ernesto mehr für die ältere und nicht unbedingt hübsche Hilda Gadea interessierte. »Nach und nach begriffen meine Freun­ dinnen, daß die Argentinier, besonders Ernesto, lieber mit Hilda redeten, weil man mit ihr über Politik debattieren konnte. Hilda lud uns zu manchen Zusammenkünften gar nicht erst ein. Anfangs hat es mich gestört, aber mir wurde klar, daß die beiden mehr über die Revolution in Guatemala wissen wollten und daß Hilda sie mit ihren Anführern bekannt machen konnte. Sie kamen zu unseren kleinen Partys, doch sie tanzten nicht; lieber diskutierten sie mit meinem Vater und meinem Bruder.« Hilda war belesen, politisch gebildet, hatte viel Zeit, einen großen Bekanntenkreis und Geld. Und sie trat zu einem Zeitpunkt in Ernestos Leben, als er all das brauchte. Wie sie später berichte­ te, machte sie Ernesto mit den Schriften Maos und Walt Whitmans bekannt, während er ihr von Sartre, Freud, Adler und Jung erzähl­ te, deren Theorien sein Denken geprägt hatten. Allerdings konnte Hilda mit diesen Gedankengebäuden wenig anfangen - Sartres Existentialismus war ihr zu eng, und Freud stellte ihrer Ansicht nach die Sexualität zu stark in den Mittelpunkt. Auch bei Ernesto traten diese Vorstellungen mit der Zeit in den Hintergrund und wichen einer zunehmend marxistisch geprägten Weltanschauung . Hilda tendierte eher zur Sozialdemokratie als zum Marxismus, was häufig zu Auseinandersetzungen zwischen ihr und Ernesto III

führte. Ernesto hielt ihr vor, daß sie Mitglied der APRA-Partei war, die ihre Anhänger größtenteils aus der städtischen Mittelklasse rekrutierte, obwohl sie eigentlich »marxistisch« dachte. In Ge­ sprächen mit anderen apristas sei ihm aufgefallen, daß der APRA­ Ideologie letztlich ein tiefverwurzelter Antikommunismus zu­ grunde liege. Er verachtete die Partei und ihren Führer Victor Rau! Hay a de la Torre, dem er vorwarf, er habe die antiimperialistische Plattform - die zum Kampf gegen die Yankees und zur Verstaatli­ chung des Panamakanals aufrief - wieder verlassen. Hilda erwi­ derte, daß die Partei nach wie vor gegen Oligarchie und Imperia­ lismus sei und nur aus taktischen Gründen eingelenkt habe; sobald sie an die Macht gekommen sei, werde sie eine soziale Neuordnung herbeiführen. Doch Ernesto hielt ihr entgegen, angesichts der politischen Ver­ hältnisse in Lateinamerika könne keine Partei, die sich an Wahlen beteilige, ihren revolutionären Charakter bewahren. Über kurz oder lang werde sie gezwungen sein, mit der Rechten Kompro­ misse zu schließen und eine Verständigung mit den Vereinigten Staaten zu suchen. Für den Erfolg einer Revolution sei es jedoch unerläßlich, daß man es auf eine Konfrontation mit dem »Yankee­ Imperialismus« ankommen lasse. Ernesto übte allerdings auch Kri­ tik an den kommunistischen Parteien. Seiner Meinung nach hat­ ten sie sich von den »arbeitenden Massen entfernt«, da sie um einer Beteiligung an der Macht willen taktische Bündnisse mit der Rechten eingegangen waren. Während Ernesto mit seinen Freunden in Guatemala über poli­ tische Strategien debattierte, arbeitete die Central Intelligence Agency an Plänen, die darauf abzielten, dem guatemaltekischen Experiment ein vorzeitiges Ende zu setzen. Im Januar 1954 hatte die verdeckte CIA-Operation auch schon einen Namen: »Opera­ tion Success« (Operation Erfolg). Die mit den USA verbündeten Diktatoren der Region - Trujillo, Somoza, Perez Jimenez - und die Präsidenten der guatemaltekischen Nachbarländer Honduras und EI Salvador waren in die Pläne einbezogen. Der frühere Oberst und Möbelhändler Castillo Armas sollte die »Befreiungsarmee« gegen Arbenz anführen, und seine paramilitärischen Truppen wurden in Nicaragua bereits mit Waffen ausgerüstet und ausgebildet. , Die US-Diplomaten in den Botschaften von Costa Rica, Nicara­ gua und Honduras wurden durch Männer ersetzt, die im Dienst der CIA standen. John Puerifoy, der neue US-Botschafter in Gua112

temala, verfügte über die richtigen Qualifikationen, um die »Ope­ ration Success« zu koordinieren und den Machtwechsel in Guate­ mala zu steuern. Ende Januar wurden Einzelheiten aus dem Briefwechsel zwi­ schen Castillo Armas, Trujillo und Somoza bekannt. Besonders auffällig war ein Passus, in dem von Vorbereitungen in Zusam­ menarbeit mit »einer Regierung im Norden« die Rede war. Arbenz verlangte von »der Regierung im Norden« eine Erklärung. Das US-Außenministerium leugnete jede Kenntnis von Geheimplä­ nen, lehnte weitere Stellungnahmen jedoch ab. Unterdessen setz­ te die CIA ihre geheimen Vorbereitungen ungerührt fort. Ihre Agenten bewegten sich in aller Öffentlichkeit in Guatemala und seinen Nachbarländern. Mit ihrer Unverfrorenheit, über die man heute nur den Kopf schütteln könnte, verfolgten sie aber einen bestimmten Zweck: Die CIA wollte ein Klima der Unsicherheit erzeugen, um das Militär zu spalten, Arbenz' Widerstand zu schwächen und letztlich einen Staatsstreich zu provozieren. In dieser spannungsgeladenen Atmosphäre wuchs Ernestos oh­ nehin nicht geringer Argwohn gegenüber den Vereinigten Staa­ ten. Doch weder Hilda noch Rojo teilten seine Befürchtungen. Al­ lerdings konnten sie ihm auch nicht das Gegenteil beweisen, und so mußten sie einräumen, daß er womöglich recht hatte. Auch un­ ter den anderen Exilanten fand Ernesto kaum jemanden, der bereit war, notfalls mit der Waffe in der Hand die guatemaltekische Re­ volution zu verteidigen - zumal die meisten ja auch nicht gegen den Imperialismus in ihrem Heimatland vorgegangen waren. Doch Ernesto übte auch Kritik an Arbenz und seiner Regierung, die seiner Meinung nach in ihrer Selbstgefälligkeit die drohende Gefahr verkannten. Gegenüber Edelberto Torres äußerte sich Er­ nesto besorgt über die Rivalitäten und den Mangel an echten Ge­ meinsamkeiten zwischen den Koalitionspartnern der Regierung. Ernesto befürchtete eine von den Vereinigten Staaten organisierte Invasion und bezweifelte, daß Guatemala in der Lage war, sich zu verteidigen. »Er war der Meinung, man müsse eine defensa popu­ lar (eine bewaffnete Volksarmee) aufstellen und auf das Schlimm­ ste vorbereitet sein.« Ernesto, der später in seinen Artikeln dazu neigte, der Wahrheit ein wenig nachzuhelfen, ärgerte sich über die uneingeschränkte Pressefreiheit in Guatemala. Am 5. Januar erklärt Ernesto in einem Brief an seine Tante Beatriz: »Dies ist ein Land, in dem man mit ei113

nem tiefen Atemzug die Luft der Freiheit einatmen kann. Hier gibt es Tageszeitungen, die sich im Besitz von United Fruit befinden, und ich an Arbenz' Stelle hätte sie in fünf Minuten verboten. Denn es ist eine Schande, daß sie schreiben dürfen, was sie wollen, und zu dem Klima beitragen, das die Nordamerikaner brauchen, indem sie dies hier als ein Nest von Dieben, Verrätern und Kommunisten darstellen.« Als sich am Horizont drohende Wolken zusammenbrauten, ver­ ließen viele Exilanten, darunter auch ein Großteil von Hildas Ge­ nossen aus der venezolanischen aprista-Bewegung, die Stadt. Er­ nesto hingegen bekundete seine Absicht zu bleiben, komme was da wolle.

III Inzwischen las Ernesto, der immer noch keine Stelle gefunden hat­ te, neu erschienene Artikel aus seinen bevorzugten medizinischen Fachbereichen,

behandelte gelegentlich

einen

Patienten und

sprang als Aushilfe ein, wenn der venezolanische Malariaspezialist Dr. Penalver ihn im Labor brauchte. Ernesto befaßte sich nun mit einem Projekt, das seine beiden Hauptinteressengebiete, die Medizin und die Politik, vereinte. In einem Brief vom 15. Februar schreibt er an Tante Beatriz; »Anhand meiner noch recht bescheidenen Erfahrungen plane ich ein sehr ehrgeiziges Buch über eine soziale Medizin, das wohl zwei Jahre Arbeit beanspruchen wird. Sein Titel lautet Die Rolle des Arztes in Lateinamerika, und (bisher) habe ich lediglich das Konzept und die ersten zwei Kapitel verfaßt. Doch ich denke, mit Geduld und Fleiß kann ich etwas Gutes daraus machen.« Sobald er ein paar Seiten geschrieben hatte, zeigte er sie Hilda. »Es beschäftigte sich mit der mangelnden Gesundheitsfürsorge durch den Staat und der Geldknappheit, mit der sich die Ärzteschaft auseinandersetzen mußte, außerdem mit den ungeheuren hygieni­ schen Problemen in unseren Ländern«, erinnert sie sich. »Er bat mich, ihm zu helfen und Statistiken aus dem Gesundheitsbereich für die einzelnen lateinamerikanischen Länder zusammenzutza­ gen, was ich ihm versprach, denn ich hielt es für eine sinnvolle Ar­ beit. Darüber hinaus sah ich darin das Werk eines wachen und rast­ losen Menschen, der empfänglich für die sozialen Probleme war.« 114

Nach einer Zusammenfassung der Geschichte der Medizin in Lateinamerika von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart und der Schilderung der Gesundheitsprobleme und der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren beschäftigte er sich mit einer Ana­ lyse des Gesundheitswesens und Vorschlägen zur Lösung seiner Probleme. Seiner Meinung nach konnte nur eine soziale Medizin mit einem ganzen Bündel vorbeugender Maßnahmen die Miß­ stände beseitigen, die durch die Unterentwicklung entstanden wa­ ren - und auf politischer Ebene als logische Konsequenz eine sozialistische Regierung. Bei der Aufgabe, eine revolutionäre Ent­ wicklung zum Sozialismus herbeizuführen, komme dem Arzt eine konkrete Rolle zu, schreibt er in dem Kapitel »Ärzte und Umfeld«. Die damaligen politischen Zustände in Lateinamerika bezeichnet er als Kolonialismus, der sich auf folgende Komponenten stützt: Vorherrschaft der Großgrundbesitzer, volksferne, repressive Re­ gierungen, zu großer Einfluß des Klerus, ein Fehlen wirksamer Gesetze und die dominierende Rolle ausländischer Kapitalgesell­ schaften im wirtschaftlichen Leben. Die Rolle des revolutionären Arztes besteht darin, die offene Konfrontation mit den etablieren Autoritäten zu suchen und Sor­ ge zu tragen, daß die Menschen eine angemessene medizinische Versorgung erhalten. Diese Übergangsphase zwischen »bewaffne­ ter Neutralität« und »offenem Kampf« betrachtet Ernesto als Vor­ bereitungszeit, in der der Arzt die ihm anvertrauten Menschen und ihre Gesundheit kennenlernt, ihnen hilft, ihr Klassenbewußt­ sein zu schärfen, und sie auf die Bedeutung einer guten Gesund­ heit für das tägliche Leben hinweist. Letztendlich sei es die Pflicht des medico revolucionario, soziale und andere Schmarotzer zu bekämpfen, denn die »einzige Macht«, der er verpflichtet sei, sei das Volk. Im Rahmen dieser Arbeit erweiterte Ernesto seine Kenntnisse des Marxismus und las weitere Werke von Marx, Engels, Lenin und dem Peruaner Jose Carlos Mariategui. Mit Hilda, die an sei­ nem Lesemarathon teilnahm, diskutierte er stundenlang über die aufgeworfenen Fragen. Hilda war es auch, die ihm eine Ausgabe von Maos Werken lieh. »Es war das erste Buch über die große Revolution, das er las. Anschließend sprach er voller Bewunderung darüber, wie lange das chinesische Volk in seinem Kampf durchgehalten hatte, bis es mit Unterstützung der Sowjetunion die Macht ergreifen konnte. 115

Ihm war klar, daß sein Weg zum Sozialismus ein anderer gewesen war als der der Sowjetunion und daß die Ausgangsbedingungen in China eher an die Lebenssituation unserer Indios und Bauern er­ innern.«

IV Ende Februar reisten Guale Garcfa und Ricardo Rojo weiter, und abgesehen von seiner guten Freundin Hilda war Ernesto nun al­ lein. Ihre gemeinsamen Bekannten neckten sie bereits wegen ihrer, wie sie meinten, aufkeimenden Romanze, doch bisher war zwi­ schen ihnen nichts passiert. Abgesehen von ihrer intellektuellen Affinität und der körperli­ chen Anziehung, die Ernesto auf Hilda ausübte, schien Hilda in erster Linie mütterliche Gefühle für ihn zu empfinden. Kurz nach­ dem sie sich kennengelernt hatten, erzählte ihr Ernesto von seinem Asthma. »Von da an«, erinnert sie sich, »verspürte ich wegen seiner Krankheit immer eine gewisse Sorge um ihn.« Ernesto hin­ gegen war sich seiner Wirkung auf Hilda nur allzu bewußt. Er nutzte ihre Gefühle aus, ohne sich auf eine ernsthafte Beziehung einzulassen. Zwei Tage nach Gualos und Ricardos Abreise besuchte sie ihn in seiner Pension und fand ihn in der Eingangshalle, wo er, gebeutelt von einem Asthmaanfall, auf sie wartete. »Es war das erstemal, daß ich ihn oder überhaupt irgend jemand an den akuten Symptomen von Asthma leiden sah, und die furchtbare Atemnot, das schwere Keuchen, das aus seiner Brust kam, waren ein Schock für mich ... Um zu verbergen, wie sehr es mich berührte, sprach ich über die­ ses und jenes. Gleichzeitig dachte ich , welche Schande es war, daß sich ein wertvoller Mensch wie er, der so viel für die Gesellschaft tun konnte, mit dieser Krankheit herumschlagen mußte; ich an sei­ ner Stelle hätte mich erschossen. In diesem Moment beschloß ich, ihm immer beizustehen, natürlich ohne mich gefühlsmäßig auf ihn einzulassen.« Zu diesem Zeitpunkt mochte Hilda noch Bedenken hegen, doch , n wenige Wochen später wurden ihre Gefühle zu stark. In ihre Erinnerungen schreibt sie, die Initiative sei von Ernesto ausge­ gangen; wenn man Ernestos Tagebuchaufzeichnungen Glauben schenkt, war es umgekehrt gewesen. Ende Februar hält er fest: 116

»Wegen des Asthmas habe ich mich nicht von der Stelle gerührt, obwohl es scheint, als hätte ich mit dem Erbrechen gestern nacht das Schlimmste hinter mir . .. Hilda Gadea macht sich nach wie vor große Sorgen um mich; sie kommt ständig vorbei und bringt mir etwas mit.« Dabei war Hilda im Februar und März nicht die einzige Frau, die sich für Ernesto interessierte. Die Krankenschwester Julia Mejfa organisierte ein Haus an einem See, wo Ernesto die Wochenenden verbringen konnte, und half ihm bei der Arbeitssuche. Bald hatten sie eine kleine Affäre. Hilda, die nichts davon wußte, ließ unterdessen all ihre Bezie­ hungen spielen, um Ernesto zu einer Stelle zu verhelfen. Unter an­ derem sprach sie mit Herbert Zeissig, einem Mitglied der Jugend­ organisation der Partido Guatemalteco de los Trabajadores (PGT), der Kommunistischen Partei Guatemalas. Zeissig fand zwar eine Stelle, doch um sie zu bekommen, hätte Ernesto erst Parteimitglied werden müssen. Als Ernesto dies erfuhr, war er außer sich vor Wut. Wenn er der Partei beitrete, erklärte er Hilda, dann »auf seinen ei­ genen Entschluß hin«. Sein Ethos verbiete es ihm, diesen Schritt aus Berechnung zu tun, um eine Stelle zu bekommen. Angesichts dieser Prinzipientreue bewunderte in Hilda nur noch mehr. Im März hatte sich an seiner Lage nicht viel geändert. Hilda be­ zahlte einen Teil seiner Schulden in der Pension, und Julia Mejfa arrangierte für ihn ein Vorstellungsgespräch, bei dem es um eine Arztstelle im Norden der Dschungelregion Peten ging. Da dies ge­ nau die Arbeit war, die Ernesto suchte, hob sich seine Stimmung kurzzeitig. Doch um diese Stelle konnte er sich nur bewerben, wenn er im Land als Arzt zugelassen war. Ernesto beschloß, beim Präsidenten der Ärztekammer vorzusprechen. Nach der Unterredung faßte er das Ergebnis bissig zusammen: »Ein Mann, der hofft, seinen Po­ sten behalten zu können, offenbar ein Antikommunist und Intri­ gant. Aber anscheinend will er mir helfen.« Als Hilda von der Stelle in Peten hörte, machte sie Ernesto eine Szene und verlangte ein klares Wort zu ihrer Beziehung. Einige Tage später schreibt er: »Hilda erzählte mir von einem Traum, in dem ich die Hauptrolle spielte und ihre sexuellen Wünsche un­ mißverständlich zurückwies. Ich hatte nicht geträumt, sondern ei­ nen Asthmaanfall gehabt. Mich interessiert wirklich, inwieweit das Asthma eine Flucht ist. Doch seltsamerweise führt mich mei-

ne Selbstanalyse - soweit ich es beurteilen kann - zu der ehren­ werten Feststellung, daß es nichts gibt, vor dem ich fortlaufen müßte. Und dennoch ... Hilda und ich sind Diener des gleichen Herrn, und beide leugnen wir es durch unser Verhalten. Ich bin vielleicht hartnäckiger, doch tief im Innern ist es das gleiche.« Diese Passage ist äußerst aufschlußreich. Trotz der verschlüssel­ ten Sprache wird deutlich, daß Ernesto bei sich selbst ein Zaudern feststellte, das sich nicht nur auf die private Ebene beschränkte, sondern auch den politischen Bereich betraf, denn er fährt fort: »Als ich die Kubaner voller Selbstverständlichkeit großartige Ver­ sprechungen machen hörte, kam ich mir klein vor. Ich kann eine zehnmal objektivere Rede halten ... ich kann sie besser vortragen und mein Publikum überzeugen, daß ich etwas Richtiges sage, doch ich überzeuge nicht mich selbst. Die Kubaner aber tun das. Nico legte sein ganzes Herz in seine Ansprache, und aus diesem Grun­ de riß er selbst einen Zweifler wie mich mit. Peten konfrontiert mich mit dem Problem meines Asthmas und mit mir selbst, und dies ist jetzt wohl nötig. Ich muß ohne Hilfe siegen, und ich glau­ be, daß ich das schaffen kann, doch mir scheint auch, daß dieser Sieg eher das Werk meiner natürlichen Anlagen sein wird - die größer sind als meine unbewußten Vorstellungen-, in die ich aber anscheinend kein Vertrauen habe.« Offensichtlich will Ernesto damit ausdrücken, daß Hilda und er tief in ihren Herzen Revolutionäre waren, sich jedoch beide noch nicht voll und ganz der Sache verschrieben hatten. Es genügte nicht, sich mit der Revolution in Guatemala zu identifizieren, so­ viel hatte Ernesto begriffen. Hilda war noch immer Mitglied der APRA, und Ernesto hatte sich in einem entscheidenden Augen­ blick nicht entschließen können, der PGT beizutreten. So ehrbar seine Motive auch gewesen sein mochten, fest stand, er zögerte noch immer, war der skeptische Außenseiter, betrachtete die Din­ ge aus der Entfernung. Ganz anders hingegen Nico L6pez, der mit einer Zuversicht von seinem Kampf sprach, die Ernesto nicht tei­ len konnte, weil er bisher nicht wirklich am politischen Kampf teil­ genommen hatte.Aber vielleicht nutzte er sein Asthma auch wirk­ lich dazu, jedem echten Engagement auszuweichen. Zweifellos wäre die Stelle im schwülen Regenwald von Peten fijr seine Gesundheit eine schwere Belastung gewesen, andererseits bot sie gute Möglichkeiten, seine Vorstellung vom »revolutionären Arzt « in die Praxis umzusetzen. Ernesto wollte sich beweisen, daß 118

er gemäß seinem Glauben handeln und zugleich sein Asthma be­ siegen konnte. Die Krankheit war für ihn zum Symbol für die Fes­ seln des Körpers geworden, die es jetzt zu sprengen galt. Er wollte eine neue Identität finden, sich selbst zum Revolutionär erziehen und ein für allemal die Einschränkungen, die ihm durch Geburt auferlegt worden waren, überwinden. Obwohl ihm die Selbstanalyse half, einiges zu klären, hielt sein Asthma unvermindert an. Einige Tage später, als er krank in seiner Pension lag, »bekundete mir Hilda ihre Liebe in praktischer und Briefform. Wenn mein Asthma nicht so heftig gewesen wäre, hät­ te ich wohl mit ihr geschlafen. Ich warnte sie, daß ich ihr nichts an­ deres als eine offene Beziehung, also nichts Festes, anbieten könn­ te. Sie wirkte sehr verlegen. Der kleine Brief, den sie mir beim Abschied gab, ist ausgezeichnet, zu schade, daß sie so häßlich ist. Sie ist siebenundzwanzig.« Der Druck auf Guatemala wurde immer stärker. Im März jenes Jahres fand in Caracas die zehnte interamerikanische Konferenz der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) statt. John Foster Dulles sorgte dafür, daß die Mehrheit am 26. März eine Resolution unterzeichnete. In ihr wurde den unterzeichnenden Staaten das Recht auf eine bewaffnete Intervention eingeräumt, sobald eines der Mitgliedsländer »vom Kommunismus dominiert wurde« und somit »für die Hemisphäre eine Bedrohung« darstellte. Mexiko und Argentinien enthielten sich der Stimme; Guatemala, gegen das sich der Beschluß richtete, lehnte als einziger Teilnehmer der Konferenz die Resolution ab. Die Karten waren gemischt, und nach diesem diplomatischen Sieg wußte die Eisenhower-Regierung ihren Vorteil auszunutzen. Zusätzlich zu den guatemaltekischen Exilanten, die in Nicaragua ausgebildet wurden, stellte die CIA ein Söldnerheer auf und schmuggelte Flugzeuge nach Nicaragua, Honduras und in die Kanalzone Panamas, die bei dem geplanten Angriff eingesetzt wer­ den sollten. Zur psychologischen Kriegführung bereitete man Tonbänder mit Propagandamaterial und tendenziösen Rundfunk­ ansprachen vor, druckte Flugblätter, die aus Flugzeugen abgewor­ fen werden konnten, und erwarb russische Waffen, die im geeig­ neten Moment in Guatemala deponiert werden sollten als Beweis dafür, daß Arbenz von der Sowjetunion unterstützt wurde. Im April fehlte Ernesto für die Stelle in Peten nur noch eine gül­ tige guatemaltekische Aufenthaltsgenehmigung. Mittlerweile gab

er sich einem gewissen Fatalismus hin. »Die Tage verstreichen, doch es macht mir nichts aus.« Aber Ende des Monats riß er sich schließlich aus seiner Passivität und traf eine »heroische und un­ widerrufliche Entscheidung«: Falls er nicht innerhalb der nächsten zwei Wochen eine Aufenthaltsbewilligung erhielt, wollte er Gua­ temala verlassen. Er informierte die Besitzer der Pension von sei­ nem Entschluß und überlegte bereits, wo er seine Besitztümer un­ terbringen konnte. Aber dann erhielt er einen Brief, in dem er aufgefordert wurde, sich auf einem Polizeirevier zu melden - der erste Schritt zur Auf­ enthaltsgenehmigung. Ein Durchbruch, den er im Tagebuch trocken mit dem Sieg der Soldaten Ho Chi Minhs über die Fran­ zosen bei Dien Bien Phu vergleicht. Am 15. Mai erfuhr er von of­ fizieller Seite, daß er das Land verlassen und sein Visum erneuern müsse, damit man ihm die gewünschte Bescheinigung ausstellen könne. Washington setzte unterdessen seine Destabilisierungskampa­ gne fort. Am 9. April veröffentlichte die katholische Kirche Guate­ malas einen Hirtenbrief, in dem sie die Guatemalteken aufrief, sich gegen die Kommunisten im Lande zu erheben. Ein jeder verstand, was mit diesen euphemistischen Worten gemeint war. Hingegen wußten nur wenige, daß dieser Brief auf eine Initiative der CIA zurückging, deren Mitarbeiter sich mit Mariano Rossello Arellano, dem Erzbischof Guatemalas, in Verbindung gesetzt hatten. Die Priester verlasen den Brief landesweit im Gottesdienst; in ländli­ chen Gebieten wurde er auf Tausenden von Flugblättern verbrei­ tet, die die CIA hatte drucken lassen. Als nächstes wurde Botschafter Puerifoy zu Konsultationen nach Washington beordert. Gezielt ließ man durchsickern, daß man nach Unterzeichnung der Resolution von Caracas besprechen wolle, welche Maßnahmen gegen Arbenz ergriffen werden sollten. Am 26. April hielt Eisenhower eine aggressive Rede vor dem Kon­ greß und behauptete, »die Roten«, die in Guatemala die Macht übernommen hätten, wollten ihre»Tentakeln« jetzt nach EI Salva­ dor und anderen Nachbarländern ausstrecken. Dann kam es zu einem Zwischenfall, der Arbenz und seiner Re­ gierung einen entscheidenden Schlag versetzte. Im guatemalteki­ schen Atlantikhafen Puerto Barrios legte der schwedische Frachter Alfhem an, der einen Monat zuvor mit einer Ladung tschechoslo­ wakischer Waffen an Bord in Polen aufgebrochen war. Auf einen 120

Hinweis aus Polen hin hatte die CIA das Schiff überwacht, denn man kannte weder Ladung noch Ziel des Frachters, und während der Fahrt über den Atlantik hatte es verdächtigerweise mehrfach seinen Kurs geändert. Im Hafen von Puerto Barrios gewann man bald Klarheit über die Art seiner Ladung - mehr als zwei Tonnen Kriegsmaterial für die Regierung Arbenz - und ging in die Offen­ sive. Dies war der von der US-Regierung so dringend benötigte Beweis, daß Guatemala enge Kontakte zum Ostblock pflegte. Un­ verzüglich setzte sich CIA-Direktor Allen Dulles mit dem Be­ raterausschuß für Auslandsnachrichten und dem Nationalen Si­ cherheitsrat zusammen und bekam von ihnen grünes Licht, das Datum der geplanten Invasion für den kommenden Monat festzu­ setzen. Guatemala war nicht zu beneiden. Nach der Enthüllung über die geheimen Waffenlieferungen hatte es den Anschein, als habe Ar­ benz etwas zu verbergen. Gegenüber der Presse erklärten Eisen­ hower und Außenminister Dulles in den folgenden Tagen, das ge­ lieferte Material sei über den Bedarf der guatemaltekischen Streitkräfte weit hinausgegangen, und deutete damit an, daß Gu­ atemala möglicherweise beabsichtigte, in die Nachbarländer ein­ zufallen, um dort ein kommunistisches Regime zu errichten - j a, vielleicht plane es sogar einen Angriff auf die von den USA kon­ trollierte Panamazone. Unter dem Einfluß dieser massiven Propa­ gandakampagne erinnerte sich kaum noch ein Journalist daran, daß Washington Guatemalas Bemühungen, sein Kriegsmaterial zu erneuern, wiederholt vereitelt, konkrete Bitten an die USA um Mi­ litärhilfe immer wieder abgeschlagen und Waffenverkäufe anderer westlicher Länder an Guatemala verhindert hatte. Wenige Wochen nachdem die Alfhem in Guatemala angelegt hatte, unterzeichnete Außenminister Dulles mit der Regierung von Honduras einen »gegenseitigen Beistandspakt«. Mit Nicara­ guas Diktator Somoza hatte Dulles bereits ein ähnliches Abkom­ men geschlossen. Ostentativ sandte man Frachtflugzeuge mit Waffenlieferungen der USA in die beiden Länder. Diese Waffen, die angeblich zu Verteidigungszwecken gedacht waren, wurden umgehend an Castillo Armas' »Befreiungsarmee« weitergeleitet, die auf ihren Marschbefehl zur guatemaltekischen Grenze warte­ te. Vor dem Hintergrund dieser dramatischen Ereignisse machte 121

sich Ernesto auf die Reise. Zwar war er in seiner Pension noch für drei Monate die Miete schuldig, doch die Besitzer gaben sich mit einem Schuldschein zufrieden und ließen ihn ziehen. Gemeinsam mit Hilda fuhr er in das Dörfchen San Juan Sacatepequez, wo sie ihre erste gemeinsame Nacht verbrachten. Einige Tage später rei­ ste Ernesto mit zwanzig geliehenen Dollar in der Tasche nach EI Salvador.

V Für jemanden, der in diesem Konflikt eine eindeutige Position ver­ trat, war Ernesto erstaunlich gleichmütig, als er Guatemala auf dem Höhepunkt der Krise verließ. Zudem hätte er angesichts des Wirbels um die Alfhem keinen ungünstigeren Zeitpunkt wählen können, um in Guatemalas Nachbarländer zu reisen. An der Gren­ ze nach EI Salvador beschlagnahmte man »verdächtige Literatur«, die er bei sich trug, ließ ihn jedoch einreisen, nachdem er ein Schmiergeld gezahlt hatte. In der Provinzstadt Santa Ana besorgte er sich ein neues Visum für Guatemala. Von dort fuhr er weiter in die Hauptstadt San Sal­ vador. Weil er die Maya-Ruinen von Copan besuchen und außer­ dem am Fortgang des Streiks interessiert wa�, beantragte er in San Salvador ein Visum für Honduras. Der Antrag wurde abgelehnt offenbar weil er aus Guatemala kam, was in der aufgeheizten At­ mosphäre jener Tage schon fast einem Verbrechen gleichkam. Da Honduras nun ausschied, reiste Ernesto nach Chalchuapa im We­ sten von EI Salvador, um sich die präkolumbianischen Pyramiden der Pipil-Indianer von Tazumal anzusehen. Anschließend kehrte er zurück nach Guatemala, wo er nach ei­ nigen Tagen in der inzwischen berühmten Hafenstadt Puerto Bar­ rios eintraf. Die Zugfahrkarte dorthin hatte sein letztes Geld ver­ schlungen, doch die Investition machte sich bezahlt: Er fand sofort Arbeit im Straßenbau, wo er des nachts Teerfässer abladen mußte: »Man arbeitet zwölf Stunden ohne Pause, von sechs Uhr abends bis sechs Uhr morgens, und es geht einem in die Knochen, selbst de­ nen, die besser trainiert sind als ich. Um 5.30 Uhr ist man nur noch ein Roboter oder >bolo>das Volk nicht bewaffnet« hatte, um das Land zu verteidi­ gen. Ernesto war verständlicherweise verbittert. Denn in den letzten Junitagen war er einer bewaffneten, von der kommunistischen Ju­ gendorganisation aufgestellten Miliz beigetreten. Die »Augusto­ Cesar-Sandino-Brigade« stand unter dem Kommando des nicara­ guanischen freiwilligen Rodolfo Romero. Nach seiner Aufnahme verbrachte Ernesto mehrere Tage im Hauptquartier der Brigade und wartete begierig darauf, daß man ihn an die Front schickte, um zu kämpfen. Doch statt dessen erschien der Gesundheitsminister und beordertete Ernesto in ein Krankenhaus, wo er weitere An­ weisungen abwarten sollte. Ernesto und Romero verloren ein­ ander aus den Augen, doch zweieinhalb Jahre später sollten sie sich wiedersehen - als Romero auf Einladung des Comandante Che Guevara in die Hauptstadt des gerade erst befreiten Kuba flog und um Unterstützung für den nicaraguanischen Guerillakampf gegen Somoza bat. Laut Hilda hatte Ernesto in den spannungsgeladenen Tagen vor Arbenz' Sturz verzweifelt versucht, den Zusammenbruch zu ver­ hindern, und jeden angesprochen, der seinen Ratschlag womöglich an Arbenz weiterleiten konnte. Er wollte den Präsidenten über­ zeugen, seinen Militärberatern kein Gehör zu schenken, das Volk zu bewaffnen und es in die Berge zu führen, um von dort aus ei­ nen Guerillakrieg zu führen. Zwar hatte Arbenz zwei Tage vor sei­ nem Sturz versucht, Milizen aufzustellen und mit Waffen aus­ zurüsten, war jedoch vom Militär daran gehindert worden. Noch vor Castillo Armas' Ankunft setzten die Repressionen ein, und 127

nach der Ausrufung des Kriegsrechts und dem Verbot der Kom­ munistischen Partei strömten verängstigte Asylsuchende in die ausländischen Botschaften. Ernesto stellte die Prognose auf, daß er als »Roter« bald schon seinen Posten im Krankenhaus verlieren würde, und Hilda bereitete sich für alle Fälle auf einen Umzug vor. Als Castillo Armas mit seiner Armee in die Stadt einzog, muß­ te Ernesto feststellen, daß »die Leute ihm wirklich zujubelten«. Seine paramilitärischen Truppen fühlten sich als »Befreier« und stolzierten großspurig durch die Straßen. Edelberto Torres jr. wur­ de als Kommunist verhaftet, und Ernesto machte sich Sorgen um das Schicksal seines Vaters. Er selbst wurde, wie er vermutet hatte, bald darauf von den Krankenhausbehörden gefeuert und fand Un­ terschlupf in der Wohnung zweier Frauen aus El Salvador, die be­ reits um Asyl ersucht hatten. Ab Mitte Juni machte das neue Regime Ernst mit der Hexenjagd auf politisch Andersdenkende, Man verhaftete jeden, der mit der Regierung Arbenz in Zusammenhang gebracht oder kommunisti­ scher Anschauungen verdächtigt wurde. Wer noch nicht geflohen war, verließ nun das Land. Die beiden Frauen, bei denen Ernesto untergekommen war, gaben ihre Wohnung auf, und er mußte sich ein neues Versteck suchen. In diesen Tagen ging er in der argentinischen Botschaft ein und aus. Laut Hilda nutzte er die Verwirrung in der Stadt und die Tat­ sache, daß er als Argentinier freien Zugang zur Botschaft hatte, um »Botengänge für die Asylsuchenden auszuführen, Waffen zusam­ menzutragen und Menschen, die sich in einer schwierigen Lage be­ fanden oder das Land verlassen wollten, bei ihren Bemühungen um die Gewährung von Asyl zu helfen«. Einige Tage konnte er diesen Aktivitäten ungehindert nachge­ hen, doch dann wurde Hilda festgenommen. Von ihren Nachbarn erfuhr Ernesto, daß sich die Polizei bei dem Verhör vor Hildas Abtransport auch nach ihm erkundigt hatte. Diese Warnung konn­ te er nicht auf die leichte Schulter nehmen, und so war es an der Zeit, daß er selbst in der argentinischen Botschaft um Asyl er­ suchte.

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IX Ernesto gesellte sich zur großen Menschenmenge, die sich auf dem von einer Mauer umgebenen Botschaftsgelände bereits häuslich eingerichtet hatte, doch schon bald wurde er nervös und gereizt. »Ich würde das Asyl nicht unbedingt langweilig nennen, wohl aber unproduktiv, denn wegen all der Leute hier kann man nicht tun, was man will.« Sein Asthma verschlimmerte sich. Aus einem Zeitungsartikel erfuhr er, daß Hilda in Hungerstreik getreten und deshalb bald wieder entlassen worden war. Er rätselte, warum sie ihn bisher nicht aufgesucht hatte; ob es daran lag, »daß sie nicht wußte, wo ich war, oder niemand sie informiert hatte, daß sie mich besuchen durfte«. Zum erstenmal wußte Ernesto genau, wohin er als nächstes rei­ sen wollte. Arbenz und die meisten seiner Mitarbeiter - sowie vie­ le der lateinamerikanischen Exilanten aus Guatemala - weilten mittlerweile in der Hauptstadt Mexikos. Seit der »antiimperialisti­ schen« Revolution vor vier Jahrzehnten war die Metropole be­ rühmt für ihre liberale Atmosphäre und lebendige Kultur. Tausen­ de politischer Flüchtlinge hatten in Mexiko-Stadt Zuflucht gefunden, unter ihnen eine große Zahl europäischer Juden und Bürger der spanischen Republik, die sich in den dreißiger und vier­ ziger Jahren vor dem Faschismus in Sicherheit bringen mußten. In Guatemala warteten die in den Botschaften zusammenge­ pferchten Menschen unterdessen auf die Entscheidung, ob Castil­ lo Armas ihnen freie Ausreise gewähren würde. Viele waren sich nicht bewußt, wie kritisch ihre Lage war. Die CIA war bestrebt, ihren Sieg über den »Kommunismus« in dieser ersten größeren Schlacht des Kalten Krieges im »Hinterhof« der USA durch eine Propagandakampagne abzusichern. Daher schickte sie Agenten nach Guatemala, um Beweise dafür zu sammeln - und in einigen Fällen auch unterzuschieben - daß Arbenz' frühere Regierung ei­ ne prosowjetische Politik verfolgt hatte. Die Brüder Dulles ver­ langten darüber hinaus, daß sämtliche Kommunisten und ver­ meintliche Sympathisanten, die sich noch im Lande befanden, festgenommen wurden . In Castillo Armas hatten sie bei dieser Kampagne einen willigen Helfer. Zur Sicherung seiner Macht hatte er bereits repressive Maßnahmen ergriffen und sämtliche während der Revolution 129

durchgeführten Reformen rückgängig gemacht. Am 19. Juli berief EI Libertador eine »Nationale Kommission zur Verteidigung gegen den Kommunismus« ein; kurz darauf wurde ein neues Strafgesetz nachgeschoben, das für ein breites Spektrum von Vergehen, dar­ unter die sogenannte »politische Sabotage«, die Todesstrafe vor­ sah. Die Kommission hatte bei der Verfolgung und Festnahme der des Kommunismus verdächtigen Personen weitgehend freie Hand. Weiterhin wurde ein Dekret erlassen, das den Analphabeten im Lande das Wahlrecht entzog, wodurch die Mehrheit der guatemal­ tekischen Bevölkerung mit einem Schlag politisch entmündigt war. Die Bodenreform wurde aufgehoben; alle politischen Parteien, Arbeitergewerkschaften und Bauernverbände wurden aufgelöst. Man beschlagnahmte und verbrannte als »subversiv« eingestufte Bücher; auf der schwarzen Liste standen auch die Romane von Do­ stojewski und Victor Hugo sowie des namhaften guatemalteki­ schen Schriftstellers Miguel Asturias, dem man darüber hinaus noch die Staatsbürgerschaft entzog. Doch damit war Außenminister Dulles noch nicht zufrieden. Er bestand darauf, daß Castillo Annas auch die geschätzten sieben­ hundert politischen Flüchtlinge in den Botschaften verfolgte. »Dul­ les fürchtete, sie könnten sich irgendwo auf dem Kontinent >neu for­ mierenaktives Mitglied des Institutio lntercambio Cultural Ru­ so-Mexicano< identifiziert.« Unter einem Gruppenfoto der gefan-

genen Rebellen heißt es, Che sei neben Fidel als der Mann hervor­ getreten, dessen »enge Verbindungen zum Kommunismus den Verdacht geweckt haben, daß die Bewegung gegen Fulgencio Bati­ sta von roten Organisationen mitfinanziert wurde«. Während die Medien noch voll und ganz mit diesem Ereignis beschäftigt waren, bemühten sich Fidels Leute nach Kräften um die Freilassung der Inhaftierten. Castros Rechtsanwalt Juan Ma­ nuel Marquez kam mit dem Flugzeug aus den Vereinigten Staaten und engagierte zwei Verteidiger. Am 2. Juli verfügte ein Richter, der ihrer Sache Sympathien entgegenbrachte, die Freilassung Fi­ dels, doch das mexikanische Innenministerium blockierte diese richterliche Entscheidung. Trotz dieses Rückschlags erreichte der Richter, daß die Auslieferung an Havanna ausgesetzt wurde. Be­ richten zufolge erteilte Fidel nun Universo Sanchez die Vollmacht, einen hochrangigen Regierungsbeamten zu bestechen, um die Freilassung aller Rebellen zu erwirken, doch der Versuch scheiter­ te. Daraufhin traten die Gefangenen in Hungerstreik, und am 9. Juli wurden einundzwanzig Kubaner freigelassen, wenige Tage später folgten weitere. Fidel, Che und Calixto Garcia blieben jedoch hinter Gittern. Am 6. Juli informiert Che seine Eltern in einem Brief über sei­ ne Haft und weiht sie endlich in seine Pläne für die nächste Zu­ kunft ein. »Vor einiger Zeit ... lud mich ein junger kubanischer Führer ein, mich seiner Bewegung anzuschließen, einer Bewegung zur Befreiung seines Landes mit Waffengewalt, und ich willigte natürlich ein.« Obwohl die wahren Gründe ihrer Verhaftung an die Öffent­ lichkeit durchgesickert waren und die mexikanische Presse aus­ führlich darüber berichtete, hieß es offiziell noch, die Rebellen hät­ ten gegen die mexikanischen Einwanderungsgesetze verstoßen. Hinter den Kulissen aber debattierten mexikanische und kubani­ sche Regierungsvertreter darüber, was mit ihnen geschehen sollte. Unterdessen stellte die Polizei weitere Ermittlungen über Erne­ sto Guevara an. In der ersten Juliwoche wurde er mindestens noch zweimal verhört, und unerklärlicherweise nahm er diesmal kein Blatt vor den Mund. Die Polizeiprotokolle wurden nie veröffent­ licht, doch der Historiker des kubanischen Staatsrats erhielt eine zensierte Fassung dieser Verhöre. Diese sorgfältig gehüteten Do­ kumente zeigen, daß Ernesto Guevara sich damals offen zum Kommunismus bekannte und erklärte, er glaube an die Notwen159

digkeit des bewaffneten revolutionären Kampfes nicht nur in Ku­ ba, sondern in ganz Lateinamerika. Fidel hat in späteren Jahren Ches Aussage bei der mexikanischen Polizei gelegentlich erwähnt und milde darauf hingewiesen, daß sein verstorbener Genosse wohl »übertrieben ehrlich« gewesen sei. Da­ mals jedoch war Fidel verständlicherweise wütend. Während Che über seine marxistischen Überzeugungen schwadronierte, setzte er alles daran, sich als patriotischer Reformer in bester nationalisti­ scher und demokratischer westlicher Tradition darzustellen. Wenn es etwas gab, was die Regierung Eisenhower zu noch größerer Un­ terstützung für Batista veranlassen würde, dann war das die kom­ munistische Gefahr.Der geringste Hinweis, daß Fidel oder seine An­ hänger Kuba in einen kommunistischen Staat umwandeln wollten, würde deshalb das Aus für Fidels Revolution bedeuten, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Vor diesem Hintergrund waren Ches Äußerungen ausgesprochen unvorsichtig, lieferten sie doch Castros Feinden genau die Munition, die sie brauchten. Am 15. Juli antwortete Che auf einen Brief seiner Mutter. Sei­ nem trotzigen Ton nach zu urteilen, hatte sie gefragt, warum er sich auf Fidel Castro eingelassen habe und warum er nicht mit den anderen nach dem Hungerstreik entlassen worden sei. Nun er­ klärte er ihr, er werde wahrscheinlich-wie Calixto-auch nach Fi­ dels Freilassung noch im Gefängnis bleiben, weil seine Einreisepa­ piere nicht in Ordnung seien. Sobald er wieder frei sei, werde er Mexiko verlassen und in ein benachbartes Land gehen, um auf Fi­ dels Anweisungen zu warten und »bereit zu sein, wann immer man mich braucht«. »Ich bin weder Christ noch Philanthrop, alte Dame, ich bin das Gegenteil eines Christen ... Ich kämpfe mit allen mir zur Verfü­ gung stehenden Waffen für die Dinge, an die ich glaube, und ver­ suche, den anderen zur Strecke zu bringen, damit ich nicht ans Kreuz oder sonstwohin genagelt werde ... Was mich wirklich er­ schreckt, ist Dein Mangel an Verständnis und Deine Ratschläge über Mäßigung, Egoismus usw .... das heißt, all die abscheulichen Eigenschaften, die ein Individuum besitzen kann ... wenn ich spü­ re, daß die heilige Flamme in mir einem zaghaften Votivlicht weicht, werde ich nur noch kotzen können ...« Fidels Anwälte statteten Lizaro Cardenas, dem mexikanischen Ex-Präsidenten und Architekten der Bodenreform, einen Besuch ab. Cardenas zeigte Verständnis und erklärte sich bereit, seinen 160

Einfluß zu nutzen und bei Präsident Adolfo Ruiz Cortines ein gu­ tes Wort für Fidel einzulegen. Offenbar hatte sein Wort durchaus Gewicht, denn Fidel wurde am 24. Juli unter der Bedingung frei­ gelassen, daß er das Land innerhalb von zwei Wochen verließ. Wie Che vorausgesagt hatte, saßen nun also nur noch er und Calixto Garcfa im Gefängnis, und zwar mit der offiziellen Begrün­ dung, ihr Einreisestatus sei noch nicht geklärt. Was Che betraf, so spielten zweifellos seine kommunistischen Ansichten eine große Rolle, während Garcfa wohl tatsächlich deshalb in Haft blieb, weil er sich bereits seit März 1954 illegal in Mexiko aufhielt. Doch obgleich beiden weiterhin die Auslieferung drohte, lehnte Che das Angebot von Alfonso Bauer Paiz- einem Freund aus Gua­ temala - und Ulfses Petit de Murat ab, auf diplomatischer Ebene aktiv zu werden, um ihm zu helfen. Auch Hildas Vorschlag, über den argentinischen Botschafter in Havanna, einen Onkel Ches, die Freilassung zu erwirken, wies er zurück. »Fidel hatte bereits ein­ gewilligt«, schreibt Hilda, »doch als wir Ernesto den Gedanken bei­ bringen wollten, sagte er: Auf keinen Fall! Ich will genauso be­ handelt werden wie die Kubaner.« Unterdessen geriet Fidel zunehmend unter Druck. Er mußte aus Mexiko verschwinden, denn hier war er nicht mehr sicher; schließ­ lich mußte er nicht nur die mexikanische Polizei fürchten, sondern auch Batistas Agenten. Als Vorsichtsmaßnahme hatte er seine Leute an verschiedene Orte fernab von Mexiko-Stadt verteilt und sie angewiesen, die Entwicklungen abzuwarten. Che wußte natür­ lich, wie eilig es Fidel hatte, und teilte ihm mit, er solle keine Rück­ sicht auf ihn nehmen. Doch Fidel schwor, er werde ihn nicht im Stich lassen - eine edelmütige Geste, die Che nie vergessen sollte. »Wertvolle Zeit und viel Geld wurden geopfert, um uns aus dem mexikanischen Gefängnis zu holen«, schreibt er. »Diese persönli­ che Haltung Fidels den Menschen gegenüber, die er schätzt, ist der Grund für die bedingungslose Ergebenheit, die ihm andere entge­ genbringen.«

IV Mitte August wurden Che und Calixto nach siebenundfünfzig Tagen Haft freigelassen - offenbar, nachdem Fidel Schmiergelder bezahlt hatte. Jedenfalls deutete Che dies Hilda gegenüber an, und

später schreibt er, Fidel habe »einiges um der Freundschaft willen getan, was, wie man fast sagen muß, seiner revolutionären Ein­ stellung zuwiderlief...« Wie ihre Genossen wurden auch Che und Calixto angewiesen, Mexiko innerhalb weniger Tage zu verlassen. Und wie die anderen tauchten auch sie zunächst einmal unter.Che fuhr als erstes nach Hause, um ein paar Dinge zu regeln und seine kleine Tochter zu se­ hen. In diesen drei Tagen saß er oft an Hilditas Kinderbettchen, las ihr Gedichte vor oder beobachtete sie schweigend. Doch dann war er schon wieder fort. Auf Anweisung Fidels fuhren er undCalixto zum Ferienort lxta­ pan de la Sal in der Nähe der Hauptstadt und mieteten dort unter falschen Namen ein Hotelzimmer. Während dieser dreimonatigen Phase im Untergrund fuhr Er­ nesto ein paarmal heimlich nach Mexiko-Stadt, aber meist kam Hilda am Wochenende zu ihm. Doch inzwischen wurde sein Leben völlig von den beiden Themen Marxismus und Revolution be­ herrscht. Selbst bei seinen Besuchen zu Hause hielt er Hilda lange Reden über »revolutionäre Disziplin« oder vertiefte sich in wirt­ schaftstheoretische Bücher. Nicht einmal die kleine Hildita blieb von seinen ideologischen Belehrungen verschont. Einmal sah Hilda, wie Ernesto seine Tochter hochhob und mit ernster Stimme zu ihr sagte: »Meine liebe kleine Tochter, mein kleiner Mao, du weißt ja gar nicht, wie kompliziert die Welt ist, in der du einmal le­ ben wirst. Wenn du groß bist, wird dieser ganze Kontinent, viel­ leicht sogar die ganze Welt gegen den großen Feind, den Yankee­ Imperialismus, kämpfen. Auch du wirst kämpfen müssen. Vielleicht bin ich dann nicht mehr da, aber der Kampf wird sich über den ganzen Kontinent ausbreiten.« Als Che wieder einmal unter einem Asthmaanfall litt, zogen Calixto und er Anfang September von lxtapan de la Sal nach Tolu­ ca um, wo ein trockeneres Klima herrschte. Dann schickte Fidel sie nach Veracruz, wo sie an einer Zusammenkunft der Rebellen teil­ nehmen sollten. Che traf dort Genossen wieder, die er seit Mona­ ten nicht mehr gesehen hatte. Von Veracruz kehrtenChe undCalixto in die Hauptstadt zurück und zogen dort in eines der neuen casacampamentos. Mehrere Wochen wohnten sie in der Casa de Cuco, die im nördlichen Vor� ort Linda Vista lag. Inzwischen wußten die beiden, daß die Zeit des Aufbruchs näherrückte, denn Fidel traf hektisch Vorbereitungen,

und die Männer wurden aufgefordert, für den Fall ihres Todes ih­ re nächsten Angehörigen zu nennen. Für Che und seine Genossen war dies, wie er sich später erinnerte, ein erhabener Augenblick, da ihnen klar vor Augen geführt wurde, was sie vorhatten und daß sie möglicherweise bald sterben würden. Seit seiner Entlassung aus dem mexikanischen Gefängnis verlor Fidel keine Zeit. Es gab viel zu tun: Er mußte sich mit politischen Problemen auseinandersetzen, Sicherheitsvorkehrungen treffen, Geld beschaffen, sich um die Logistik kümmern und dafür sorgen, daß seine Leute ständig den Aufenthaltsort wechselten, um der Verfolgung zu entgehen. Auß · erdem bemühte sich Fidel um ein Bündnis mit dem Directorio Revolucionario, das sich mehr und mehr zum Rivalen entwickelte. Dessen Führer Jose Antonio Eche­ verrfa kam Ende August nach Mexiko, um sich mit ihm zu treffen. Nach einem zweitägigen Gesprächsmarathon unterzeichneten sie die sogenannte Carta de Mexico, in der sich die beiden Organisa­ tionen zum Kampf gegen Batista verpflichteten, aber man kam überein, sich gegenseitig zu Rate zu ziehen, bevor man in Aktion trat. Außerdem wollte man die Maßnahmen beider Gruppen ko­ ordinieren, sobald Castro und seine Rebellen in Kuba gelandet wa­ ren. Im September unternahm Fidel heimlich eine Reise nach Texas, wo er sich mit seinem einstigen Feind, dem ehemaligen Präsiden­ ten Carlos Prfo Soccanis, traf. Seit seinem Sturz war Prfo mit meh­ reren gegen Batista gerichteten Verschwörungen in Zusammen­ hang gebracht worden, und nach jüngsten Berichten wollte er mit Unterstützung von Trujillo, dem Diktator der Dominikanischen Republik, eine Invasion in Kuba durchführen. Nun aber erklärte er sich bereit, Fidel finanziell zu unterstützen. Vielleicht wollte er dem jungen Emporkömmling nur die schwere Aufgabe der Krieg­ führung überlassen und dann anschließend selbst wieder die Macht übernehmen, oder er sah in Fidel nur eine nützliche Schachfigur, die von seinen eigenen Aktivitäten gegen Batista ab­ lenkte. Welche Motive Prfo auch bewegt haben mögen, jedenfalls erhielt Fidel laut Aussage der Personen, die das Treffen arrangier­ ten, mindestens fünfzigtausend Dollar - und die Zusicherung für weitere Gelder. Für Fidel bedeutete es ein gewissen politisches Risiko, von dem Mann, den er während seiner Amtszeit als Präsident der Korrup­ tion bezichtigt hatte, Geld anzunehmen, aber zu diesem Zeitpunkt

blieb ihm kaum eine andere Wahl. Laut Juri Paporow, dem KGB­ Mitarbeiter, der zu dieser Zeit für die finanzielle Unterstützung des Instituto Cultural Ruso-Mexicano verantwortlich war, kam das Geld, das Fidel erhielt, gar nicht von Prfo, sondern von der CIA. Pa­ porow nannte keine Quellen für diese Behauptung, doch wenn sie den Tatsachen entspricht, bestätigt sie Berichte, wonach der US­ amerikanische Geheimdienst anfangs versuchte, Castro auf seine Seite zu ziehen - für den Fall, daß er den Krieg gegen Batista ge­ wann. Laut Tad Szulc, der eine Biographie über Castro verfaßt hat, stellte die CIA der Bewegung 26. Juli tatsächlich Geld zur Verfü­ gung, aber erst später, in der Zeit zwischen 1957 und 1958, und außerdem über einen Agenten, der beim amerikanischen Konsulat in Santiago arbeitete. Zwar verfügte Fidel nun über Geld, doch noch immer hatte er kein Schiff für die Überfahrt nach Kuba. Schließlich fand er Ende September die Granma, eine heruntergekommene, knapp zwölf Meter lange Motorjacht, die dem Amerikaner Robert Erickson gehörte. Der Eigentümer war bereit, sein Schiff zu verkaufen, so­ fern Fidel auch sein Haus in der Hafenstadt Tuxpan am Golf von Mexiko erwarb. Man einigte sich auf eine Gesamtsumme von vier­ zigtausend Dollar, obwohl das Schiff weder seetüchtig noch groß genug für Fidels Vorhaben war. Nachdem er eine Anzahlung gelei­ stet hatte, beauftragte Fidel ein paar seiner Leute, in das Haus zu ziehen und die Überholung der Granma zu überwachen. Doch in letzter Minute taten sich noch etliche Hürden auf. In den vergangenen Wochen hatten sowohl Freunde als auch Gegner Fidel zu überreden versucht, die Invasion zu verschieben. Frank Pafs, sein Koordinator in Oriente, der dafür sorgen sollte, daß es zum Zeitpunkt der Landung der Granma im Osten Kubas zu be­ waffneten Aufständen kam, suchte Fidel im August und im Okto­ ber auf, um ihm klarzumachen, daß seine Leute für ein derartiges Vorhaben noch nicht genügend vorbereitet seien. Doch Fidel be­ stand auf seinem Plan, und Pafs erklärte sich bereit, alles zu tun, was in seiner Macht stand. Fidel erklärte ihm, er werde ihm kurz vor der Abreise aus Mexiko in verschlüsselter Form den Zeitpunkt der Landung mitteilen. Im Oktober trafen sich Abgesandte der Kommunistischen Par­ tei Kubas (PSP) mit Fidel. Sie hielten ihm vor, daß die Bedingun­ gen für einen bewaffneten Kampf in Kuba nicht gegeben seien. Fidel solle lieber eine Kampagne des zivilen Widerstands unter-

stützen. Falls sich daraus ein bewaffneter Aufstand entwickelte, würde auch die PSP daran teilnehmen. Fidel wies den Vorschlag zurück und erklärte, er werde seinen Plan weiterverfolgen, doch er hoffe, die Partei werde ihn weiterhin unterstützen und bei der An­ kunft seiner Rebellenarmee in Kuba Aufstände organisieren. Zu diesem Zeitpunkt waren die Beziehungen zwischen Fidel und der PSP äußerst gespannt. Doch obwohl Fidel es in seinen öf­ fentlichen Äußerungen stets abstritt, besaß er immer noch enge Freunde in der Partei. Zudem gehörten Raul und Che, die ebenfalls Marxisten waren, zu seinen engsten Mitarbeitern. Insgeheim blieb Fidel mit der PSP im Gespräch, wahrte jedoch kritische Distanz um dem eigenen Bild in der Öffentlichkeit nicht zu schaden, aber auch, um keine politischen Kompromisse eingehen zu müssen, be­ vor er seine Position gefestigt hatte. Inzwischen hatte sich für die sowjetische Botschaft eine peinli­ che Situation ergeben, denn die Kontakte zwischen Mitgliedern von Castros Gruppe und dem Instituto Cultural Ruso-Mexicano waren bekanntgeworden. Anfang November wurde Nikolaj Leo­ now nach Moskau zurückgerufen - »zur Strafe«, wie er sagt, weil er zu den kubanischen Revolutionären Verbindung aufgenommen hatte, ohne vorher die Genehmigung des Kreml einzuholen. Die Kommunisten waren jedoch nicht die einzigen, die ver­ suchten, auf den Zug der kubanischen Revolution aufzuspringen. Während Fidel Vorbereitungen für den Aufbruch nach Kuba traf, begann das Directorio Revolucionario ein gefährliches Spiel, um sich in der kommenden Revolution eine führende Rolle zu si­ chern. Obwohl Jose Antonio Echeverrfa sich im August schriftlich zur brüderlichen Zusammenarbeit mit Fidel verpflichtet hatte, verübte das Directorio weiterhin ohne Absprache bewaffnete An­ schläge. Kurz nach einem zweiten Treffen zwischen Fidel und Echeverrfa im Oktober ermordeten Mitglieder des Directorio Oberst Manuel Blanco Rico, der Batistas militärischen Geheim­ dienst SIM leitete. Am 23. November war endlich der Augenblick gekommen, auf den Che sich schon so lange vorbereitet hatte. Fidel forderte die Rebellen in Mexiko-Stadt, Veracruz und Tamaulipas auf, sich am nächsten Tag in Pozo Rico, einer Stadt südlich von Tuxpan, einzu­ finden. Che wurde ohne Vorankündigung von den Kubanern ab­ geholt und zur Golfküste gebracht. Noch in derselben Nacht, am 24. November, sollten sie die Fahrt auf der Granma antreten.

Trotz des konspirativen Charakters dieser Vorbereitungen war Fidel Castros Plan, in Kuba einzufallen, inzwischen allgemein be­ kannt. In Kuba wußte jeder, was er vorhatte; die Frage war nur, wo und wann er mit seiner Rebellenarmee landen würde. Wenige Ta­ ge zuvor hatte Batistas Generalstabschef in Havanna eine Presse­ konferenz abgehalten, um die Pläne des Revolutionsführers und deren Erfolgschancen zu erörtern und sich darüber lustig zu ma­ chen. Gleichzeitig wurden die Militärpatrouillen entlang der Kari­ bikküste zu Wasser und zu Land verstärkt. Fidel aber vertraute ganz auf die Unterstützung der von Frank Pafs geleiteten Gruppe des 26. Juli in Oriente und hielt zudem Zeit­ punkt und Ort der Landung bis zum letzten Augenblick geheim. Er schätzte, daß die Reise nach Kuba fünf Tage dauern würde, und teil­ te Pafs kurz vor der Abreise aus Mexiko-Stadt in einer verschlüs­ selten Nachricht mit, die Granma werde am 30. November an der Playa las Coloradas, einem einsamen Strand in Oriente, landen. Am 25. November, kurz vor Anbruch der Morgendämmerung, ging Che an Bord des Schiffes, das mit zweiundachtzig Mann und einer Unmenge von Gewehren und sonstigen Ausrüstungsgegen­ ständen völlig überladen war. Dann legte die Granma vom Ufer in Tuxpan ab und glitt flußabwärts zum Golf von Mexiko. Vor der Abfahrt schickte Ernesto einen Brief an seine Mutter. Darin heißt es: »Und jetzt kommt der schwierige Teil, alte Dame; der Teil, vor dem ich mich nie gedrückt habe und der mir immer gefallen hat. Weder hat sich der Himmel verfinstert noch haben die Planeten ihre Bahn verlassen, und es hat auch keine Flut oder übermäßig unverschämte Wirbelstürme gegeben; die Zeichen sind gut. Sie stehen auf Sieg. Sollte ich sie falsch deuten - schließlich machen selbst die Götter einmal Fehler-, dann kann ich, glaube ich, wie ein Dir unbekannter Dichter sagen: >Ich nehme in mein Grab/ nur die Schwermut eines unvollendeten Liedes mit.< Ich küsse Dich noch einmal mit all der Liebe des Abschieds, der hoffentlich kein end­ gültiger ist. Dein Sohn.«

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ZWEITER TEIL

Der Revolutionär

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Das Desaster der Landung

Ernestos letzter Brief nach Hause mag melodramatisch klingen, doch was die bevorstehenden Gefahren betraf, so sollten sich sei­ ne Vorahnungen bewahrheiten. Hinsichtlich seiner eigenen Reak­ tionen täuschte er sich jedoch. Denn als die Lage wenige Tage nach der Landung der Granma brenzlig wurde und die Guerilleros in ei­ nen Hinterhalt der Armee gerieten, sollte sich eines zeigen: Das letzte, worüber Ernesto sich Gedanken machte, war seine Uner­ fahrenheit mit der Feldmedizin. In dem hektischen Gefecht, bei dem etliche ums Leben kamen und viele die Flucht ergriffen, überlegte Ernesto für den Bruchteil einer Sekunde, ob er einen Verbandskasten oder eine Kiste mit Munition retten solle. Er entschied sich für die Munition. Wenn es in Ernestos Guevaras Leben je einen Scheidepunkt gegeben hat, dann diesen. Er hatte zwar in Humanmedizin promoviert, doch in seinem Herzen war er ein Kämpfer. Als ihn wenige Augenblicke später ein Querschläger in den Hals traf und er sich tödlich verwundet glaubte, fiel er in einen Schock. Er gab mit seinem Gewehr einen letzten Schuß ins Ge­ büsch ab. Dann lag er ganz still und begann in seinem Dämmer­ zustand darüber zu meditieren, »Wie man richtig stirbt«. Dabei kam ihm eine Szene aus Das Feuer im Schnee von Jack London in den Sinn: Ein Mann in Alaska, dem der Erfrierungstod droht, da es ihm nicht gelingt, ein Feuer zu entfachen, beschließt, »in Wür­ de« zu sterben. In seinem Wunschbildern hatte sich Ernesto victoria o muer­ te rufend- bis zum letzten Moment erbittert kämpfen sehen . Doch unter dem Schock des Angriffs aus dem Hinterhalt und der eige­ nen Verwundung gab er für einen Augenblick jede Hoffnung auf. Im Gegensatz zu vielen seiner Kameraden, die entweder völlig die -

Nerven verloren oder wie echte Soldaten reagierten und zurück­ schossen, während sie Deckung suchten, lag Ernesto einfach nur da und dachte an den nahenden Tod. Wie der Griff nach der Munitionskiste statt nach dem Ver­ bandszeug offenbart auch Ernestos Reaktion auf seine Verwun­ dung etwas Grundlegendes: seinen Fatalismus angesichts des To­ des. In den folgenden beiden Kriegsjahren sollte sich diese Haltung noch verstärken: Ernesto entwickelte sich zu einem erfahrenen Guerillero mit ausgeprägtem Kampfgeist und notorischem Desin­ teresse an der eigenen Sicherheit. Im Krieg hatte Celias rastloser Sohn endlich seine wahre Bestimmung gefunden.

II Die Überfahrt der Granma war ein einziges Fiasko. Anders, als er­ wartet, dauerte die Reise nicht fünf, sondern sieben Tage. Nach ei­ ner unruhigen Fahrt durch den Golf von Mexiko landeten die von Seekrankheit geschwächten Rebellen schließlich auch noch an der falschen Stelle der kubanischen Karibikküste. Ihre Ankunft hätte mit dem von Frank Pafs geleiteten Aufstand in Santiago zusam­ menfallen sollen, und am Leuchtturm von Cabo Cruz wartete ein Begrüßungskommando mit Lastwagen und etwa hundert Mann auf sie. Wäre alles nach Plan verlaufen, hätten sie gemeinsam den nahegelegenen Ort Niquero und dann Manzanilla angegriffen und anschließend in der Sierra Maestra Zuflucht gesucht. Doch die Re­ volte in Santiago hatte bereits stattgefunden, und damit war das Überraschungsmoment, auf das Fidel Castro gesetzt hatte, unwi­ derruflich verloren. Die Armee, die den Aufstand in Santiago be­ reits niedergeschlagen hatte, war in Alarmbereitschaft. Batista hat­ te für militärische Verstärkung gesorgt und weitere Truppen sowie Luft- und Marineeinheiten in die Provinz Oriente entsandt, die sich Fidels Landungstrupp in den Weg stellen sollten. Am Morgen des 2. Dezember näherte sich die Granma kurz vor Tagesanbruch der Südostküste Kubas. Während die Männer ange­ strengt nach dem Leuchtturm von Cabo Cruz Ausschau hielten, ging der Steuermann über Bord. Kostbare Minuten verstrichen die letzten Augenblicke der schützenden Dunkelheit-, bis sie end­ lich seine Hilferufe vernahmen und ihn retten konnten. Auf Anweisung Fidels steuerte der Navigator den nächstgelegenen

Küstenpunkt an, doch die Granma lief auf eine Sandbank auf, so daß die Ankunft auf Kuba eher einem Schiffbruch glich. Als die Rebellen schließlich am hellichten Tage an Land wate­ ten, mußten sie einen Großteil ihrer Munition, ihres Proviants und ihrer Medikamente zurücklassen. Sie ahnten nicht, daß ein Patrouillenboot sie gesichtet hatte und die Streitkräfte bereits alarmiert worden waren. Darüber hinaus hatten sie den geplanten Treffpunkt um etwa zwei Kilometer verfehlt, und zwischen ihnen und dem Festland lag ein sumpfiger Mangrovenwald. Ihre Ver­ bündeten hatten sich in der Vornacht zurückgezogen, nachdem sie zwei Tage vergeblich auf sie gewartet hatten. Sie waren ganz auf sich gestellt. Als sie endlich festen Boden unter den Füßen hatten, teilten sich die erschöpften Rebellen in zwei Gruppen auf. Sie ließen weiteres Ausrüstungsmaterial zurück und kämpften sich durch den Busch. Sie hatten, so beschrieb es Che später, »die Orientierung verloren und irrten im Kreis, wie eine Armee der Schatten, der Geister, die sich, wie von einem rätselhaften psychischen Impuls getrieben, vorwärtsbewegten«. Über ihren Köpfen kreisten pausenlos Flug­ zeuge der Regierung, die nach· ihnen Ausschau hielten und den Busch mit Maschinengewehrsalven durchsiebten. Zwei Tage dau­ erte es, bis die beiden Rebellentrupps aufeinandertrafen und unter der Führung eines einheimischen Bauern zur östlich im Landesin­ neren gelegenen Gebirgskette der Sierra Maestra aufbrechen konnten. Am Morgen des 5. Dezember, kurz nach Mitternacht, machten die Rebellen in einem Zuckerrohrfeld Rast. Die hungrigen Gueril­ leros machten sich über die Zuckerrohrstangen her und hinter­ ließen leichtsinnig Spuren. Dann setzten sie ihren Marsch fort, bis sie kurz vor Tagesanbruch einen Ort namens Alegrfa de Pfo er­ reichten. An diesem Punkt verließ sie ihr einheimischer Führer, um sie sogleich an den nächsten Soldatentrupp zu verraten. Den Tag über kampierten die Rebellen auf einer Lichtung am Rande ei­ nes Zuckerrohrfeldes. Sie ahnten nicht, was ihnen bevorstand . Um 16.JO Uhr wurden sie von der Armee angegriffen. Die völ­ lig überrumpelten Rebellen gerieten in Panik und irrten im Hagel der Geschosse ziellos umher. Fidel und seine engsten Vertrauten retteten sich in den nali.egelegenen Wald und befahlen den ande­ ren, ihnen zu folgen. Dabei ließen einige ihre Ausrüstung zurück, andere, von Angst oder Schock gelähmt, rührten sich nicht von der

Stelle. Dies war der Augenblick, da Che versuchte, die Munitions­ kiste zu retten: Der Mann neben ihm wurde in die Brust getroffen, er selbst in den Hals. »Die Kugel traf zuerst die Kiste, dann riß sie mich zu Boden«, vermerkt Che etwas kryptisch in seinem Feldta­ gebuch. »Für ein paar Minuten verlor ich jede Hoffnung.«" Inmitten der verwundeten und verängstigten Kameraden verfiel Che im Angesicht seines vermeintlich bevorstehenden Todes in ei­ nen apathischen Zustand. Er wurde jedoch von Juan Almeida wachgerüttelt. Gemeinsam mit drei weiteren Männern rannten sie, die lodernden Flammen des brennenden Zuckerrohrfeldes hin­ ter sich lassend, in den Urwald. Che hatte Glück, seine Halswunde war nur ein Kratzer. Zwar kamen einige Kameraden mit dem Leben davon, doch die meisten, die Batistas Truppen gefangengenommen hatten, wurden in den fol­ genden Tagen standrechtlich erschossen, darunter die Verwundeten und sogar einige, die sich freiwillig ergeben hatten. Für die im Busch verstreuten überlebenden galt es nun, in den Bergen Schutz zu suchen und einander wiederzufinden. Von den zweiundachtzig Männern, die von Bord der Granma gegangen waren, sollten sich in der Sierra Maestra nur zweiundzwanzig neu sammeln."" Zunächst aber irrten Che und seine Kameraden weiter durch den Busch, bis sie am 8. Dezember auf eine Hütte stießen, in der sie drei weitere Kameraden von der Granma fanden. Sie waren jetzt zu acht, hatten aber nicht die leiseste Ahnung, wer außer ihnen noch überlebt hatte. Nur eines war klar: Wenn sie noch andere finden sollten, dann weiter im Osten, in der Sierra Maestra. Die folgenden Tage waren ein einziger Überlebenskampf. Sie suchten verzweifelt nach Nahrung und Wasser und mußten sich unentwegt vor den Armeeflugzeugen und den Spähtrupps verberChes Diario de un Combatiente diente als Grundlage für sein Buch Pasajes de Ja Guerra Revolucionaria (Episoden aus dem Revolutionskrieg), das erstmals 1963 in Ha­ •

vanna erschien. Die kubanische Regierung veröffentlichte eine sorgfältig zensierte Ver­ sion der ersten drei im Tagebuch festgehaltenen Monate. Der Originaltext, der dem Au­ tor von Ches Witwe Aleida March zur Verfügung gestellt wurde, ist jedoch bisher unveröffentlicht geblieben. Er verschafft dem Leser einen groben, aber aufschlußrei­ chen Einblick in das Leben Guevaras während des Guerillakrieges. (Siehe Anhang) " Es gibt keine Angaben über die genaue Zahl der überlebenden der Granma. Offizi­ ell wurde die Zahl der überlebenden, die den Kern der Rebellenarmee bildeten, stets mit zwölf angegeben. Die unverhohlen an die Apostelgeschichte gemahnende Symbolik die­ ser Zahl wurde durch das Buch Los Ooce (Die Zwölf) des kubanischen Journalisten Car­ los Franqui noch unterstrichen. Wie zahlreiche andere frühe Anhänger sollte Franqui später als Gegner Castros ins Exil gehen.

gen, die den Busch absuchten. Einmal versteckten sie sich in einer Höhle, von der man eine Bucht überblickte, und beobachteten, wie ein Regierungstrupp an der Küste landete, um nach versprengten Rebellen zu suchen. Unter den gegebenen Umständen war es nicht möglich, den Marsch fortzusetzen, und Che und seine Kameraden tranken das wenige Wasser, das ihnen blieb, aus dem Okular ihres Fernglases. Erst nach Einbruch der Dunkelheit setzten sie sich wie­ der in Bewegung, da sie um nichts in der Welt an diesem Ort blei­ ben wollten, an dem sie wie »Ratten in einer Falle« saßen. Am 12. Dezember gelangten sie an eine Bauernhütte. Sie hör­ ten Musik und waren im Begriff einzutreten, als sie von drinnen einen Trinkspruch vernahmen: »Auf meine Waffengefährten«. Da sie die Stimme für die eines Soldaten hielten, machten sie sich ei­ lig davon. Bis gegen Mitternacht folgten sie einem Bachbett, dann waren sie zu erschöpft, um weiterzuziehen. Nachdem sie sich den Tag über ohne Wasser und ohne Nahrung versteckt gehalten hatten, brachen sie abends erneut auf. Doch die Moral der Männer war auf dem T iefpunkt angelangt. Viele sträub­ ten sich und wollten keinen Schritt mehr weiter. Als sie dann spät in der Nacht an ein Bauernhaus kamen, schlug die Stimmung schlagartig um. Sie klopften - trotz Ches Bedenken - an und wur­ den herzlich empfangen. Wie sich herausstellte, war ihr Gastgeber ein Adventistenpfarrer und Mitglied des in dieser Region gerade erst entstandenen Bauernnetzes der Bewegung 26. Juli. Am folgenden Tag pilgerte ein endloser Strom neugieriger Ad­ ventisten aus der Gemeinde zu ihnen. Die Nachricht von der Lan­ dung der Rebellen hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Che und seine Kameraden erfuhren, daß sechzehn Männer der Granma­ Expedition sicher tot waren. Unmittelbar nachdem sie sich ergeben hatten, waren sie exekutiert worden. Fünf Männer, so hieß es, wa­ ren lebend gefangengenommen worden, und einer nicht näher be­ kannten Zahl Rebellen war - wie ihnen - die Flucht in die Berge geglückt. Ob Fidel überlebt hatte, wußte jedoch niemand. Sicherheitshalber beschlossen sie, sich auf verschiedene Häuser in der Gegend zu verteilen und ihre Uniformen mit der typischen Tracht der guajiros, der Bauern von Oriente, zu vertauschen. Ihre Waffen und ihre Munition versteckten sie bei einem Bauern. Le­ diglich Che und Almeida, die inoffiziellen Anführer der Gruppe, behielten eine Pistole. Einer der Männer war nicht in der Verfas­ sung weiterzumarschieren und wurde deshalb zurückgelassen. 173

Unterwegs erfuhren die Guerilleros jedoch, daß die Armee ihre Spur aufgenommen hatte: Nur wenige Stunden nach ihrem Auf­ bruch hatten Soldaten die Häuser gestürmt, in denen sie die letz­ ten Tage Unterschlupf gefunden hatten. Sie hatten ihr Waffenver­ steck entdeckt und ihren kranken Gefährten gefangengenommen. Demnach waren sie von einem chivato an die Armee verraten wor­ den, und die Soldaten waren ihnen dicht auf den Fersen. Glücklicherweise nahte Hilfe - und zwar in Gestalt von Guiller­ mo Garcfa, einem der Führer des Bauernnetzes der Bewegung 26. Juli. Von ihm erfuhren die Rebellen, daß Fidel - oder vielmehr »Alejandro«", wie sein Deckname lautete - noch am Leben war. Gemeinsam mit zwei Gefährten hatte er zu Mitgliedern der Bewe­ gung Kontakt aufgenommen und Garcfa ausgesandt, um nach überlebenden Ausschau zu halten. Noch trennten sie mehrere Tage Fußmarsch von Fidels tiefer in den Bergen gelegenem Versteck, doch dank Garcfa wurden Che und seine Kameraden nun von sympathisierenden Bauern unter­ stützt. Am 21. Dezember erreichten sie schließlich bei Tagesan­ bruch die Kaffeeplantage, in der sie Fidel erwartete. Auch Raul Castro hatte überlebt. Er traf - ebenfalls nach einer langen, zer­ mürbenden Odyssee - mit vier weiteren Kameraden ein. Trotz des verheerenden Rückschlags organisierte Fidel bereits den weiteren Verlauf der Expedition. Einige Bauern hatten sich freiwillig gemeldet, um bei der Suche nach den noch verschollenen überlebenden der Granma zu helfen. Nach Santiago und Manza­ nilla war ein Kurier entsandt worden; er sollte Frank Pais und Ce­ lia Sanchez, die das guajiro-Netz 26. Juli in der Sierra Maestra auf die Beine gestellt hatte, um Unterstützung bitten. Noch sah die Zu­ kunft düster aus. Lediglich fünfzehn Männer der Granma hatten wieder zusammengefunden; insgesamt besaßen sie neun Waffen. Inzwischen waren fast drei Wochen vergangen, und mit jedem Tag sank die Wahrscheinlichkeit, daß weitere Verschollene zu ihnen stoßen würden. Bei Ches Ankunft erfuhren die Rebellen, daß Jesus Montane gefangengenommen worden war und Fidels Freund Juan Manuel Marquez sowie zwei weitere Gefährten tot waren. In den folgenden Tagen trafen fünf weitere Kameraden ein, darunter auch Ches ehemaliger Zellengenosse Calixto Garcfa. Doch Fidels »Re­ bellenarmee« war nur noch ein kümmerlicher Haufen. Wenn sie •

Castros vollständiger Name lautet Fidel Alejandro Castro Ruz. 174

wieder militärische Stärke erreichen wollten, dann waren sie auf die einheimischen Bauern angewiesen. Das Wiedersehen mit Fidel war für Che und seine Genossen im übrigen nicht eitel Freude gewesen. Fidel war außer sich, als er er­ fuhr, daß sie ihre Waffen zurückgelassen hatten. »Ihr habt den Preis für euren Fehler nicht bezahlt«, herrschte er sie an, »denn wer unter solchen Umständen seine Waffen zurückläßt, setzt sein Leben aufs Spiel. Wenn ihr auf die Armee gestoßen wärt, hättet ihr nur mit euren Waffen eine Überlebenschance gehabt. Sie zurück­ zulassen war dumm, ja kriminell.« In dieser Nacht hatte Che einen Asthmaanfall. Der Auslöser war wohl die Erregung über Fidels Strafpredigt. Am Tag nach Ches Ankunft trafen auch neue Feuerwaffen ein, darunter einige Karabiner und vier Maschinenpistolen. Ches Asthmaanfall war wieder abgeklungen, doch die Waffenlieferung war für ihn nur ein schwacher Trost, denn die Art, wie Fidel die Waffen verteilte, war mehr als symbolisch. Fidel nahm Che seine Pistole ab - ein Zeichen seines Status - und gab sie dem Anführer des Bauernnetzes. Statt dessen erhielt Che, wie er bitter notiert, »eine miese Knarre«. Dies ist ein gutes Beispiel für Fidels Geschick, die Gefühle sei­ ner Mitmenschen zu manipulieren, indem er ihnen von einer Mi­ nute auf die andere seine Gunst erwies und wieder entzog. Seine Rolle als einer von Fidels engsten Vertrauten bedeutete Che sehr viel; daher muß es ihn tief getroffen haben, als er derart in Un­ gnade fiel. Vielleicht war sich Fidel bewußt, wie sehr er Ches Gefühle ver­ letzt hatte, denn am nächsten Tag gab er ihm Gelegenheit, die Scharte auszuwetzen: Als Fidel überraschend beschloß, die Kampf­ bereitschaft seiner Männer auf die Probe zu stellen, war es Che, der den Befehl an die Männer weitergeben sollte. In seinem Feldtage­ buch schreibt Che: »Ich rannte los, um die Nachricht zu verbrei­ ten. Die Männer zeigten Kampfgeist.« Am selben Tag brachten Celias Kuriere aus Manzanilla weitere Waffen, dreihundert Gewehrkugeln, fünfundvierzig Patronen für die einzige Thompson-Maschinenpistole und neun Stangen Dyna­ mit. Che war überglücklich, als ihm Faustino Perez - der zweite Arzt der Expedition, der in Havanna als Fidels Mittelsmann fungie­ ren sollte - sein brandneues Gewehr mit Zielfernrohr schenkte ein »Juwel«, wie Che begeistert in seinem Tagebuch vermerkt. 175

Alles war wieder im Lot. Fidels Zorn verrauchte, während er sich den Vorbereitungen zum Kampf widmete, und Che war wahr­ scheinlich sehr erleichtert . Doch Fidels Zurechtweisung hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Fidel hatte zwar bei der Flucht sei­ ne eigene Waffe in Sicherheit gebracht, aber immerhin hatten sie das ganze Desaster - angefangen bei der mißlungenen Landung der Granma seinen Fehleinschätzungen zu verdanken. Und da sie -

auf unvorhergesehene Dinge nicht vorbereitet waren, blieb ihnen nach dem Hinterhalt von Alegrfa de Pfo nichts anderes übrig, als nach der Devise salva se quien puede (Rette sich, wer kann) zu ver­ fahren. Che und seine Kameraden hatten alles Menschenmögliche getan, und sie hatten überlebt. Ob Che Fidel wegen seines Ausbruchs noch böse war, geht aus seinem Tagebuch nicht hervor. Doch in den Aufzeichnungen der folgenden Tage läßt sich eine gewisse Unzufriedenheit mit Fidels Führungsstil erkennen. Am 22. Dezember schreibt Che, dies sei »praktisch ein Tag völ­ liger Untätigkeit« gewesen. Und in seiner Beschreibung des Heili­ gen Abends schwingt feine Ironie mit: »Nach einem üppigen Fest­ schmaus mit Schweinefleisch brachen wir endlich nach Los Negros auf. Zunächst kamen wir nur langsam voran, und wir rissen ein paar Zäune nieder - wir hätten genausogut unsere Visitenkarte hinterlassen können. Bei einer Übung stürmten wir ein Haus, doch mittendrin tauchte Hermes, der Besitzer, auf. Das anschließende Geplauder bei Kaffee kostete uns zwei Stunden. Schließlich konn­ ten wir uns doch losreißen, und kamen ein Stück voran. Dabei machten wir aber so viel Lärm, daß man es praktisch in allen um­ liegenden Hütten mitbekam, und davon gibt es nicht wenige. Un­ ser Ziel erreichten wir gegen Tagesanbruch.« Che wünschte sich ein organisierteres, disziplinierteres, energi­ scheres Vorgehen. Er wollte endlich den Kampf aufnehmen. Das einzige, was ihn in dieser Zeit erheiterte, war ein Bericht in einer kubanischen Zeitung über einen verabscheuungswürdigen Kum­ pan in Fidels Truppe, »ein argentinischer Kommunist mit einer fin­ steren Vergangenheit, der aus seinem eigenen Land verbannt wur­ de ... « Ches Kommentar: »Sein Name: natürlich Guevara.«

III Die Gebirgskette der Sierra Maestra, die sich mehr als hunderfünf­ zig Kilometer weit an der amboßförmigen Südostspitze Kubas hinzieht, erhebt sich hoch über der Kontinentalplatte und bildet ei­ ne rauhe natürliche Grenze zwischen diesem und den fruchtbaren Niederungen, die sich auf der anderen Seite fünfzig Kilometer weit ins Landesinnere erstrecken. Im Schutze des Pico Turquino, mit 1994 Metern Kubas höchste Erhebung, stellte die Sierra Maestra in den späten fünfziger Jahren eines der letzten unberührten Gebiete der Insel dar, wo sich auf den für Rodungsarbeiten un­ zugänglichen Hängen sogar letzte Bestände des heimischen Regenwalds behaupten konnten. Mit einigen wenigen kleinen Städten und Dörfern war die Sier­ ra ein dünnbesiedeltes Gebiet. Die Bevölkerung, insgesamt etwa sechzigtausend Menschen, bestand vorwiegend aus armen Bauern, den guajiros, die, ob Schwarze, Weiße oder Mulatten, weder lesen noch schreiben konnten. Mit ihren verbeulten Hüten, den bloßen Füßen und ihrem unverständlichen, vokallosen und unglaublich schnell gesprochenen spanischen Dialekt waren sie eine willkom­ mene Zielscheibe für das Gespött der Mittelschicht in Kubas Groß­ städten: Guajiro war gleichbedeutend mit Dummheit und Hinter­ wäldlertum. Einige dieser guajiros waren Pächter. Die meisten, die precaristas, hatten sich jedoch illegal angesiedelt. Sie schliefen in selbstgebauten Hütten auf der bloßen Erde und fristeten ihr Da­ sein als Köhler oder bebauten ein eigenhändig gerodetes Stück Land und sammelten Honig. Bares Geld verdienten sie sich wie al­ le kubanischen Bauern im Llano, in der Ebene, wo sie während der zafra, der Erntezeit, als Zuckerrohrschneider arbeiteten oder sich als gauchos auf den Rinderfarmen verdingten. Das entbehrungsreiche Dasein der guajiros in der Sierra Mae­ stra stand im krassen Gegensatz zu dem Leben der Landbesitzer und des Großteils der Bevölkerung in Santiago, Manzanillo, Baya­ mo und Holgufn, den Städten der Provinz Oriente. Die besten Bö­ den in der Sierra und weiter unten im Llano waren in privater Hand. Da die Eigentümer häufig fernab in den kubanischen Groß­ städten lebten, ließen sie ihr Land von bewaffneten Aufsehern ver­ walten. Die Aufgabe dieser rücksichtslosen, zum Teil grausamen

mayorales bestand in erster Linie darin, das Land von den immer wiederkehrenden precaristas zu säubern. Sie hatten in der Gegend

großen Einfluß und wirkten neben der schlecht ausgebildeten und unterbezahlten guardia rural, die über die gesamte Region verteilt ihre Außenposten und Garnisonen hatte, als eine Art zweite Poli­ zei. Die guardia nutzte die Armut und die Angst der guajiros vor den Behörden aus und hielt sich chivatos, Spitzel, um auf dem laufenden zu bleiben und sich die Aufklärung von Verbrechen zu erleichtern. Bei der Jagd auf Fidel und seine Männer in den Tagen unmittelbar nach der Landung der Granma hatte sich dieses chivato-Netz bereits in verheerender Weise bewährt. Zwischen precaristas und mayorales kam es, wie man sich den­ ken kann, häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. »Steck­ ten die mayorales precarista-Häuser in Brand, antworteten diese mit Mord«, schreibt der Historiker Hugh Thomas. »Bei'de Seiten hatten ihre jeweils bekannten Anführer und ganze Banden von Gefolgsleuten.« Einer von ihnen war Crescencio Perez, der als Lastwagenfahrer für den Zuckermagnaten Julio Lobo arbeitete. Gleichzeitig war er einer der precarista-Bosse, von dem es hieß, er habe bereits einige Menschen getötet und in der Sierra insgesamt »an die So Kinder« gezeugt. Demzufolge war seine Familie groß, er besaß zahlreiche Kontakte und hatte eine nicht unbeträchtliche Zahl an Männern hinter sich, die ihm blind ergeben waren. An ihn hatte sich Celia Sanchez gewandt, als sie unter den Bewohnern der Sierra ein Netz zur Unterstützung der Rebellen aufbaute. Perez, der für die Obrigkeit nichts übrig hatte, hatte sich Fidel mit seiner Familie, seinem Neffen Guillermo Garcfa sowie einigen seiner Ar­ beiter zur Verfügung gestellt. Falls Fidel Bedenken hegte, mit diesem Mann zusammenzuar­ beiten, so ließ er es sich nicht anmerken. Als er nach Weihnachten 1956 seinen »Generalstab« neu organisierte, nahm er Crescencio Perez und einen seiner Söhne in den neuen, fünf Mann zählenden estado mayor auf. Diesem gehörten auch Che und Fidels Leib­ wächter Universo Sanchez an. Fidel selbst übernahm als Coman­ dante die Führung. Seinem Bruder Rau! und Juan Almeida, die sich als Führer ihrer Trupps beim Rückzug aus Alegrfa de Pio bewährt hatten, wurden jeweils fünf Mann unterstellt. Ramiro Valdes, ein »Veteran« von Moncada und einer der ersten Anhänger Fidels, Calixto Morales, der erst kurz zuvor wieder zu ihnen gestoßen war, und Armando Rodriguez wurden zu Kundschaftern ernannt. Fidel verhielt sich, als wäre er bereits Kubas Oberbefehlshaber. Durch die »Neuordnung« hatte er seine Armee, die er an die Macht

führen wollte, innerhalb kürzester Zeit einer strengen Hierarchie unterworfen. Die autokratische Art, für die er später berühmt wer­ den sollte, zeichnete sich bereits in den Botschaften ab, die er von der Sierra ins Flachland schickte, um bei den hart bedrängten Un­ tergrundkämpfern in den Städten Waffen und Ausrüstung einzu­ fordern. Gleichzeitig setzte er alles daran, die Sierra und ihre Be­ völkerung unter seinen Einfluß zu bringen.

IV Am Neujahrstag erfuhren die Rebellen weitere Einzelheiten über die Pläne des Feindes. Vierhundert Soldaten waren auf dem Weg in die Berge. Alle Garnisonen vor Ort hatten Verstärkung bekom­ men. Währenddessen setzten die Rebellen ihren beschwerlichen Zug unter der Führung eines einheimischen guajiro fort. Die Nacht des 2. Januar war eine einzige Tortur; Che beschreibt sie als einen »langsamen und mühseligen Marsch durch den Schlamm, bei dem viele unter Durchfall litten«. Am 5. Januar schließlich kam der 1300 Meter hohe Pico Cara­ cas in Sicht, der den Anfang der mit Regenwald bedeckten inner­ sten Bergkette der Sierra Maestra bildet. Mit Freude vermerkte Che: »Unsere Aussichten sind gut, denn der Weg von hier nach La Plata ist steil und führt durch den Wald - ideal für Verteidigungs­ zwecke.« Als sie zwei Tage später im Mulato-Tal am Fuße des Pico Cara­ cas kampierten, erhielten sie Verstärkung in Gestalt von neun Frei­ willigen aus Manzanilla. Sie beschlossen aber, Informationen über die Bewegungen der Armee abzuwarten. Die Nachrichten von den guajiro-Kurieren waren widersprüchlich. Während es einerseits hieß, es befänden sich keine Soldaten in der Nähe, waren sie einer anderen Meldung zufolge von einem chivato an eine Küstengar­ nison in der Nähe verraten worden. Am 9. Januar beschlossen die Rebellen weiterzuziehen. Von ihrem neuen Lager aus, das ihnen einen guten Überblick über die Umgebung bot, konnten sie im laufe des folgenden Nachmittags beobachten, daß die Meldung über den chivato richtig gewesen war„Auf der Straße, die von der Garnison Macias herführte, er­ spähten sie achtzehn Marinesoldaten. Doch die Rebellen griffen nicht an. Fidel wollte für die Gefechte mit dem Feind gut vorberei179

tet sein. Aber Che schrieb enttäuscht in sein Tagebuch: »Es wäre eine leichte Beute gewesen .« Doch der Tag des ersten Gefechts rückte näher. Um Behaup­ tungen der Regierung über ihre angebliche Niederlage entgegen­ zuwirken und die Zivilbevölkerung von ihrer militärischen Schlagkraft zu überzeugen - und nicht zuletzt, um ihren eigenen Kampfgeist zu stärken-, mußten die Rebellen beweisen, daß sie eine ernst zu nehmende Streitmacht darstellten. Aus diesem Grund planten sie einen Angriff auf eine möglichst abgelegene und schlecht befestigte Garnison, bei dem ihnen das Überraschungs­ moment zugute kam. La Plata, eine Küstenkaserne mit einer klei­ nen Garnison, schien für Fidels Pläne ideal. Che machte sich Gedanken darüber, auf wen sie im Falle eines Kampfes würden zählen können. »Neben dem vorübergehenden Verlust von Ramiro [Valdes, der sich bei einem Sturz das Knie ver­ letzt hatte], fallen unter den manzanilleros ein bis zwei Mann weg.« Einer von ihnen behauptete, er habe Tuberkulose, was Che bezweifelte, doch sie hatten ihm bereits zugesichert, er könne gehen. Einige andere wirkten unentschlossen. Che war aber auch wegen möglicher chivatos beunruhigt und gelobte in seinem Ta­ gebuch, dieser Gefahr entgegenzutreten: »Es muß ein Exempel sta­ tuiert werden.« Daß sich bereits ein Verräter in ihre Reihen einge­ schlichen hatte und er dazu schon bald Gelegenheit haben würde, konnte er nicht wissen. Wie Che befürchtet hatte, entschieden sich am nächsten Tag fünf der manzanilleros, die Truppe zu verlassen. Dennoch beschloß Fi­ del weiterzumarschieren, da er vermutete, daß sie bald entdeckt werden würden. Als erstes wollten sie drei mayorales liquidieren, die laut Che »die Bauern terrorisierten«. Die drei Plantagenver­ walter arbeiteten für das Zucker- und Holzunternehmen Nunez­ Beattie und waren unter den guajiros für ihre Grausamkeit be­ kannt. Mit einem Schlag gegen diese Despoten würden Fidels Rebellen das Vertrauen der Einheimischen gewinnen. Am 15. Januar gelangten die Rebellen an einen Punkt, wo sie, nur wenige Kilometer von dem Militärlager entfernt, die Mün­ dung des Rio de La Plata überblicken konnten. Durch ihre Ziel­ fernrohre konnten sie auf einer Lichtung zwischen Flußufer und Strand bereits die behelfsmäßige Kaserne sowie eine Gruppe von Männern sehen, die - halb in Uniform - mit Haushaltsarbeit be­ schäftigt waren. Direkt unterhalb von ihnen befand sich das Haus 180

eines der mayorales, die zu töten sie sich geschworen hatten. Doch sie verharrten auf ihrem Beobachtungsposten und sahen bei Ein­ bruch der Dunkelheit, wie sich ein Patrouillenboot voller Soldaten näherte, welche den Männern am Strand offenbar Signale gaben. Da sie nicht wußten, was sie von diesen Manövern halten sollten, beschlossen die Rebellen, in ihrem Versteck zu bleiben und den Angriff auf den nächsten Tag zu verschieben. Kurz vor Sonnenaufgang wurden Wachen aufgestellt, die die Kaserne beobachten sollten. Das Patrouillenboot war verschwun­ den, weit und breit war kein Soldat zu sehen. Die Rebellen waren beunruhigt, doch am frühen Nachmittag beschlossen sie anzu­ greifen. Der Trupp durchquerte den Fluß und ging längs des Pfades zur Kaserne in Stellung. Einige Minuten später erschienen zwei Männer und zwei Jungen, die von den Rebellen aufgegriffen wur­ den. Einer von ihnen war ein mutmaßlicher chivato, der, wie Che beschönigend in seinem Tagebuch vermerkt, »ein wenig ausge­ quetscht wurde«. Er verriet ihnen, daß sich in der Kaserne fünf­ zehn Soldaten befanden und Chicho Osorio, der gefürchtetste der drei mayorales, auf dem Weg hierher war und jeden Augenblick auftauchen konnte. Tatsächlich ers.chien wenig später Osorio. Er ritt auf einem Maulesel, neben ihm ging ein schwarzer Junge. Die Rebellen ent­ schieden sich für ein T äuschungsmanöver und riefen: _>>Halt, guar­ dia rural!« - »Mosquito!« antwortete Osorio prompt, und nach dem vereinbarten Lösungswort nannte er seinen Namen. Die Re­ bellen nahmen Osorios Pistole und das Messer des Jungen an sich. Dann führten sie die beiden Fidel vor. Was folgte, gehört heute zum Standardrepertoire der kubani­ schen Revolutionsfolklore. In einem später von Che verfaßten Be­ richt heißt es: »Fidel machte ihm weis, er sei Oberst der guardia rural und führe Ermittlungen wegen gewisser Ungereimtheiten. Woraufhin der völlig betrunkene Osorio sämtliche Regimegegner aufzählte, denen man, so wörtlich >die Eier abschneiden< solle. Da­ mit wurde uns bestätigt, wer unsere Freunde waren und wer nicht.« Um den besoffenen mayoral zu weiteren Enthüllungen zu ermutigen, schimpfte Castro, daß man diesen »Fidel« umbringen müsse, wenn man ihn zu fassen bekäme. Osorio stimmte begei­ stert. zu und prahlte damit, wieviel Männer er getötet oder mißhandelt habe. Damit hatte Chicho Osorio, ohne es zu wissen, sein eigenes Todesurteil unterzeichnet.

Osorio war so besoffen oder naiv, daß er Fidel tatsächlich für ei­ nen Polizeioffizier hielt, und wollte sich bei ihm lieb Kind machen. Daher war er bereit, ihnen die Schwachstellen im Verteidigungs­ system der Kaserne zu verraten, und plauderte aus, wo die Wach­ posten standen und die Schlafräume der Soldaten lagen. Der Kund­ schafter, der zur Überprüfung dieser Informationen vorgeschickt wurde, konnte Osorios Angaben bestätigen, und die Rebellen be­ reiteten den Angriff vor. Osorio ließen sie in der Obhut zweier Ge­ fährten zurück. »Sie hatten Befehl, ihn zu töten, sobald die ersten Schüsse fielen«, schreibt Che lakonisch, »und diesen Befehl führ­ ten sie wortgetreu aus.« Um 2-40 Uhr schwärmten die Rebellen in drei Gruppen aus. Als sie nur noch etwa vierzig Meter von der Kaserne entfernt waren, gab Fidel zwei Maschinengewehrsalven in die Luft ab, dann eröff­ neten auch die anderen das Feuer. Als sie die Soldaten aufforder­ ten, sich zu ergeben, antworteten diese mit einem Kugelhagel. Fi­ del befahl, das Haus des Aufsehers in Brand zu stecken. Die ersten beiden Versuc;he wurden abgewehrt, doch beim dritten waren Che und Crespo erfolgreich - obwohl nun nicht das Haus des Aufsehers brannte, sondern das angrenzende Lagerhaus voller Kokosnüsse. Sie hatten es geschafft: Die Soldaten fürchteten, in der Kaserne bei lebendigem Leib geröstet zu werden, und ergriffen die Flucht. Ein paar Minuten lang wurde noch geschossen, dann verebbte das Feuer allmählich. Die Soldaten in der Kaserne ergaben sich, im Haus des Aufsehers wurden zahlreiche Verwundete gefunden. Der Kampf war vorüber, und Che zog in seinem Tagebuch folgende Bi­ lanz: »Der Kampf brachte uns acht Springfields, ein Maschinenge­ wehr und etwa tausend Schuß ein. Wir hatten etwa 500 [Schuß] abgegeben. Außerdem [erbeuteten wir] Patronengürtel, Helme, Lebensmitteldosen, Messer, Kleider und sogar Rum ...« Wieder in den Bergen, ließen die Rebellen ihre Gefangenen und Geiseln laufen, allerdings nicht ohne dem mutmaßlichen chivato eine ernste Warnung mit auf den Weg gegeben zu haben. Ches Ein­ wänden zum Trotz überließ Fidel den Soldaten all ihre Medika­ mente, damit sie die in der Lichtung zurückgebliebenen Verwun­ deten verarzten konnten. Um 4.30 Uhr flüchteten die Rebellen im Schutz der Dunkelheit nach Palma Mocha, einer kleinen Landgemeinde, die nach dem drei Kilometer entfernt ins Meer mündenden Fluß benannt war. Die Einwohner waren benachrichtigt worden, daß die Luftwaffe das

gesamte Gebiet bombardieren würde, und die Rebellen kamen ge­

rade rechtzeitig, um das - wie Che es beschreibt- »traurige Schau­ spiel« der mit Hab und Gut flüchtenden Familien mitzuerleben. »Der Zweck dieses Manövers lag auf der Hand«, bemerkt Che in

. seinem Tagebuch. »Die Bauern wurden vertrieben, damit die [Nufiez-Beattie-] Gesellschaft anschließend das verlassene Land beschlagnahmen konnte.« Nachdem sie mit eigenen Augen diese Folgen ihrer Aktion be­ obachtet hatten, beschlossen die Rebellen, weiterzumarschieren und den Soldaten, die ihnen sicher nachsetzen würden, einen Hin­

terhalt zu legen. Aber die Männer waren nervös und erschöpft. Während einer Rast ließ Fidel seine Männer ihre Munition über­ prüfen. Jeder sollte vierzig Schuß besitzen. Als man feststellte, daß

Sergio Acufia, einer der neuen guajiros, hundert Schuß hatte, kam es zu einem Streit. Fidel verlangte, daß Acufia die überzählige Mu­ nition aushändigte, doch dieser weigerte sich. Als Fidel befahl, ihn festzunehmen, hob Acufia nur drohend sein Gewehr. Schließlich konnten Rau! und Crescencio ihn zur Aushändigung seiner Waffe und seiner Munition überreden, indem sie ihm versprachen, die­ sen Zwischenfall zu vergessen, sofern er »förmlich beantrage«, bei den Rebellen bleiben zu dürfen. Che war mit dieser Lösung nicht

zufrieden. In seinem Tagebuch heißt es: »Fidel stimmte zu und schuf damit einen Präzedenzfall, der Folgen haben würde, denn sie hatten Acufias Widersetzlichkeit einfach durchgehen lassen.«

Nach diesem Vorfall kamen die Rebellen zu einer Lichtung mit einem Bauernhaus, das nach drei Seiten hin durch bewaldete Hän­ ge geschützt war und in der Nähe eines Baches lag, den Che sofort »Arroyo del lnfierno« (Höllenbach) taufte. Dieser Platz, der so­ wohl Wasser als auch einen Fluchtweg bot, war für einen Hinter­ halt wie geschaffen. Bei ihrer Ankunft traf der Eigentümer gerade letzte Vorbereitungen, um sich dem Strom der an die Küste Flüch­ tenden anzuschließen. Dann waren die Rebellen allein. In den fol­ genden Tagen richteten sie sich ein. Sie suchten im Wald nach ei­ nem geeigneten Platz für den Hinterhalt, von dem aus sie sowohl das Haus als auch die Straße gut überblicken konnten.

Ein paar Tage lang blieb alles ruhig. Fidel besorgte bei den we­ nigen Bauern, die in der Gegend geblieben waren, Proviant. Einern Bauern, der wegen eines vermißten Schweins vorsprach, zahlte er eine Entschädigung: Das Schwein hatte Fidel am ersten Tag in ihrem neuen Lager geschossen. Allmählich drangen Gerüchte zu

ihnen durch, daß die Armee sich für den Angriff auf La Plata mit Repressalien gegen die Landbevölkerung rächte. Am 22. Januar, noch vor Sonnenaufgang, signalisierten· ihnen Schüsse das Nahen der Armee. Die Rebellen bereiteten sich auf den Kampf vor, doch der Vormittag verging, ohne daß ein einziger Sol­ dat auftauchte. Dann, gegen Mittag, erschien auf der Lichtung eine einsame Gestalt. Calixto Garcfa, der neben Che hockte, sah sie als erster. Durch das Zielfernrohr konnten sie erkennen, daß es sich um einen Soldaten handelte. Nach und nach kamen neun Gestalten in Sicht, die sich um die Hütten auf der Lichtung versammelten. Dann fielen die ersten Schüsse. In seinem Feldtagebuch notiert Che Gue­ vara: »Fidel eröffnete das Feuer, und der Mann fiel mit dem Schrei >Ay mi madreNicht schießen! Nicht schießen! Che sagt, es werden keine Gefangenen getötet!< 231

Als der Kampf vorüber war, transportierten wir ihn zum Sägewerk, wo wir ihm erste Hilfe zukommen ließen.«*

IV Bei ihrem Marsch durch die Berge in jener ersten Septemberwo­ che erfuhren die Guerilleros, daß der landesweite Aufstand endlich stattgefunden hatte. Am 5. September hatten Rebellen die Mari­ nebasis und das Polizeihauptquartier in Cienfuegos attackiert. Ne­ ben den Aufständischen aus den Reihen der Marine und einigen Vertretern anderer Gruppierungen, darunter Autenticos, waren daran auch zahlreiche Kämpfer der Bewegung 26. Juli beteiligt. Doch die Dinge verliefen nicht nach Plan. In letzter Minute hatten die Verschwörer in Havanna und Santiago ihre Aktionen abgebla­ sen, und so war es nur in Cienfuegos zum Aufstand gekommen. Die Rebellen konnten die Stadt den Morgen über halten, doch am Nachmittag trafen aus der großen Garnison in Santa Clara Panzer ein, und die Regierung hatte US-Flugzeuge vom Typ B-26 losgeschickt, um die Guerilleros zu bombardieren. Doch statt sich in die nahegelegenen Escambray-Berge zu retten, harrten die Re­ bellen in der Stadt aus. Sie wurden regelrecht abgeschlachtet: Drei­ hundert der geschätzten vierhundert Kämpfer aus verschiedenen Gruppierungen kamen ums Leben; viele von ihnen wurden er­ schossen, nachdem sie sich ergeben hatten. Die Vergeltungsmaß­ nahmen gegen die Aufständischen waren barbarisch. Verwundete wurden, so heißt es, bei lebendigem Leib begraben, und der An­ führer der Verschwörung, der ehemalige Marineleutnant Dionisio San Roman, wurde monatelang gefoltert, bevor man ihn schließ­ lich umbrachte. Diese bisher größte und blutigste Auseinandersetzung im kuba­ nischen Bürgerkrieg sollte nicht ohne Folgen bleiben. Justo Carril-

Der erste Teil von Che Guevaras Feldtagebuch, der dem Autor zur Verfügung stand, beginnt mit dem 2. Dezember 1956 und endet mit dem 12. August 1957. Der mittlere *

Teil (1J. August 1957 bis 17. April 1958) ist verlorengegangen. Der zweite Teil, der dem

Autor ebenfalls vorlag, beschre.ibt die Zeitspanne vom 18. April 1958 bis zum J· De­ zember 1959, also bis einen Monat vor Kriegsende. Bezüglich der Ereignisse in den »feh-' !enden« Monaten stützte sich der Autor auf persönliche Gespräche und auf andere Ver­ öffentlichungen, darunter Guevaras eigene Schriften zum entsprechenden Zeitab­ schnitt. Siehe Episoden aus dem Revolutionskrieg, Frankfurt, Röderberg Verlag, 1979.

232

lo, ein ehemaliger Minister des Kabinetts Prfo und Wortführer der Anti-Batista-Gruppe »Montecristi«, die sich mit Aufständischen aus dem Militär verbündet hatte, beschuldigte Fidel des Verrats. Zuvor hatte Carrillo die Bewegung 26. Juli finanziell unterstützt, und zur Zeit des Sierra-Paktes hatte er mit einem Bündnisangebot Fidels geliebäugelt, es aber dann doch ausgeschlagen. Nun be­ schuldigte er Fidel, den Aufständischen in Cienfuegos grünes Licht gegeben zu haben, wohl wissend, daß die Revolte zum Scheitern verurteilt war und dabei zahlreiche Militärs umkommen würden, die er als Rivalen im Kampf um die Macht betrachte. Als indirek­ te Antwort auf diesen Vorwurf schreibt Che: »Die Bewegung 26. Juli, die als unbewaffneter Verbündeter an dem Aufstand be­ teiligt war, hätte den Verlauf der Dinge auch dann nicht ändern können, wenn ihre Anführer das Ergebnis vorausgesehen hätten, was nicht der Fall war. Die Lehre für die Zukunft: Wer die Macht hat, diktiert auch die Strategie.« Doch auch für Batista blieb der Aufstand in Cienfuegos nicht ohne Folgen. In den Augen des US-Außenministeriums war der Einsatz von US-Waffen zur Niederschlagung der Revolte ein ekla­ tanter Verstoß gegen das Verteidigungsabkommen zwischen den Vereinigten Staaten und Kuba. Die Panzer und B-26-Bomber wa­ ren Kuba zur nationalen Verteidigung überlassen worden, nicht zur Bekämpfung von Unruhen im Landesinneren. Washington forderte eine Erklärung seitens der kubanischen Streitkräfte, und als diese ausblieb, erwog man ernsthaft eine Einstellung künftiger Waffenlieferungen an Kuba. In der Sierra Maestra rückten Fidel und Che indessen immer weiter auf ihr nächstes militärisches Angriffsziel vor. Am 10. Sep­ tember erreichten die beiden Kolonnen Pino del Agua. Fidel sorg­ te dafür, daß ihr Ziel unter den Einheimischen bekanntwurde, im Vertrauen darauf, daß diese Information auch zur Armee durch­ sickern würde. Dann setzte er sich mit seiner Kolonne in Bewe­ gung. In der Nacht ließ Che seine Männer längs der Wege in Stel­ lung gehen, auf denen sie die feindlichen Truppen erwarteten. Sie hofften, einen Militärkonvoy aufhalten und einige Lastwagen be­ schlagnahmen zu können.Nachdem sie eine Woche lang auf einem Felsen im Wald auf der Lauer gelegen hatten, von dem aus man die Hauptstraße überblicken konnte, vernahmen Che und seine Ein­ heiten schließlich die Motorengeräusche nahender Lastwagen. Der Feind hatte angebissen. 233

Fidels Männer hatten leichtes Spiel. Zwei Lastwagen voller Sol­ daten konnten aus dem unerwarteten Kampf entkommen, doch die drei verbleibenden Wagen mit wertvollen neuen Waffen und Mu­ nition fielen in die Hände der Rebellen. Die Rebellen töteten drei Soldaten und nahmen einen Unteroffizier gefangen, der später die Seiten wechselte und als Koch für sie arbeitete. Leider hatten sie j e­ doch auch den Verlust von »Crucito« zu beklagen, einem guajiro­ Dichter, der sich zur Erbauung der Kämpfer lyrische Duelle mit Calixto Morales geliefert hatte. Crucito hatte sich selbst »die Nach­ tigall der Sierra Maestra« genannt, seinen Rivalen taufte er »den Kuckuck der Ebene«.

V

Für die Rebellen war es nun an der Zeit, den Einwohnern der Sier­ ra gegenüber Autorität zu demonstrieren und so gut es ging für Recht und Ordnung zu sorgen. In der Sierra Maestra wimmelte es von bewaffneten Männern, und es herrschten geradezu anarchi­ sche Zustände, da Deserteure, Verbrecherbanden und auch einige der Rebellen Vergewaltigung, Raub und Totschlag begingen. Der neue, strenge Verhaltenskodex für die Rebellen stieß mittlerweile immer mehr auf Unmut, insbesondere in Ches Kolonne, wo der Ei­ fer seiner neuernannten »Kommission für Disziplin« für starke Spannungen sorgte, die bald einen blutigen Höhepunkt erreichten. Ein paar Tage nachdem seine Kolonne in Peladero eingetroffen war, begab sich Che zu einer Unterredung mit Fidel, der in der Nähe sein Lager aufgeschlagen hatte. Doch mitten im Gespräch wurden sie von Ramiro Valdes unterbrochen. Etwas Schreckliches war geschehen. »Lalo Sardiiias hatte in einer spontanen Bestra­ fungsaktion einem Kameraden, der Ungehorsam gezeigt hatte, die Pistole an den Kopf gehalten, als wolle er ihn erschießen«, schrieb Che später. »Die Pistole ging versehentlich los, und der Mann war sofort tot. Unter den Soldaten herrschte Aufruhr.« Als Che in sein Lager zurückkehrte, war eine regelrechte Meu­ terei ausgebrochen. Viele der Guerilleros forderten ein Standge­ richt und Lalos Hinrichtung. Die einen behaupteten, Lalo habe den, Kame'raden vorsätzlich getötet, andere wiederum meinten, es sei ein Unfall gewesen. Dann erschien Fidel, und ein Verfahren wurde eröffnet, um über Lalos Schicksal zu entscheiden . Da Lalo nicht nur 234

Offizier, sondern auch ein erfahrener und mutiger Kämpfer war, wollten Fidel und Che nicht, daß er hingerichtet wurde. Anderer­ seits mußten auch die Guerilleros gehört werden, und die meisten von ihnen sprachen sich für die Todesstrafe aus. Dann hatte Che das Wort. »Ich versuchte ihnen klarzumachen, daß der Tod des Ka­ meraden den Bedingungen unseres Befreiungskampfes zuzu­ schreiben war«, schrieb er später, »dem Umstand, daß wir uns im Krieg befanden und daß letzten Endes der Diktator Batista der Schuldige war. Doch meine Worte konnten diese feindselige Zuhö­ rerschaft nicht überzeugen.« Laut Ches Bericht sprach als nächster Fidel, der Laloin einem wort­ reichen Plädoyer verteidigte. »Er erklärte, daß dieser bedauerliche Akt letztlich zur Wahrung von Zucht und Ordnung erfolgt war und wir diesen Umstand nicht außer acht lassen dürften.« Viele gerieten dank Fidels »ungeheurer Überzeugungskraft«, wie es Che nennt, ins Schwanken; doch immer noch waren viele anderer Meinung. Schließlich wurde darüber abgestimmt, ob Lalo zum Tode verurteilt oder lediglich degradiert werden sollte. Che führte in seinem Notiz­ buch eine Strichliste. Von den 146 Kämpfern sprachen sich siebzig für die Hinrichtung und sechundsiebzig für eine Degradierung aus. Lalo war mit dem Leben davongekommen, aber er mußte sich seine Ehr e als einfacher Soldat neu erkämpfen. Doch damit war die Angelegenheit nicht abgeschlossen. Ein großer Teil der Guerilleros war mit dieser Lösung unzufrieden, legte am folgenden Tag die Waffen nieder und verlangte, gehen zu dürfen. Interessanterweise befanden sich darunter der Leiter sowie einige Mitglieder der Kommission für Disziplin. Und wie so oft betonte Che rück­ blickend, daß einige der Entlassenen die Revolution später verrie­ ten. »Diese Männer, die sich nicht der Mehrheit beugen wollten und den Kampf aufgaben, liefen anschließend zum Feind über, und wenn sie zurückkehrten, um auf unserem Terrain zu kämpfen, dann als Verräter.« Trotz Ches Bemühungen, die abtrünnigen Guerilleros als Ver­ räter hinzustellen, läßt sich aus diesem Zwischenfall keine über­ zeugende Lehre für die Revolution ziehen. Vielmehr offenbart er eine für diese Zeit charakteristische Verhärtung von Ches Persön­ lichkeit. Ches Pfad durch die Sierra Maestra war übersät mit den Leichen von chivatos, Deserteuren und Delinquenten, von Men­ schen, deren Hinrichtung er befohlen und teils auch vollstreckt hatte. Der Drill, den er in und außerhalb der immer größer wer235

denden Schar seiner Kämpfer ausübte, schuf eine Atmosphäre, die Handlungen wie die Lalos geradezu herausforderte. Ches Unter­ gebene folgten lediglich auf ihre eigene plumpe Weise dem Beispiel ihres Anführers. Nach der Meuterei schickte Fidel Männer aus seinen eigenen Reihen als Ersatz für die Entlassenen; als Nachfolger für Lalo be­ stimmte er Camilo Cienfuegos. Der gutaussehende, Ex-Baseball­ spieler wurde nun Hauptmann von Ches Vorhut. Dies war ein ge­ schickter Schachzug, denn der verwegene und offenherzige Camilo war ein gutes Gegengewicht zu dem strengen Che. Die beiden Männer hegten große Achtung voreinander. Che brachte Camilo mehr Vertrauen entgegen, als jedem anderen, und die Gespräche der beiden verliefen nie ohne Neckereien und kleine, freund­ schaftliche Spitzen. Inzwischen war es Zeit weiterzuziehen, und Fidel erteilte Che neue Befehle. »Unsere Aufgabe war es, eine Gruppe von Banditen außer Gefecht zu setzen, die, sich auf die Revolution berufend, in dem Gebiet, in dem unser Kampf begonnen hatte, sowie in der Nähe des Pico Caracas und der Gegend von EI Lom6n ihr Unwesen trieben. Camilos erste Aufgabe in unserer Kolonne war es, rasch vorzurücken und all diese [kriminellen] Elemente aufzugreifen, denen dann der Prozeß gemacht werden sollte.« Che und Camilo setzten sich in Richtung Pico Caracas in Bewe­ gung, um auf eine bewaffnete Bande Jagd zu machen, die von dem Sinokubaner »China Chang« angeführt wurde. Chang stand in ei­ nem losen Bündnis mit den Rebellen, hatte jedoch in der Umge­ bung mehrere Bauern überfallen und getötet . Camilo hatte bereits einen Teil der Missetäter gefangengenommen, die nun ihres Ver­ fahrens vor einem Revolutionstribunal harrten. Erstmals stand den Rebellen dabei ein gelernter Jurist zur Seite: Humberto Sori­ Marin, ein bekannter Rechtsanwalt und Mitglied des 26. Juli aus Havanna. Nachdem auch China Chang gefaßt war, begann der Prozeß. Die meisten Mitglieder der Bande wurden freigesprochen, doch Chang und ein Bauer, der ein Mädchen vergewaltigt hatte, wurden zum Tode verurteilt. Wieder einmal hielt Che in seinem Tagebuch sorg­ sam fest, mit welcher Haltung sie starben. »Zuerst exekutierten wir China Chang, dann den Vergewaltiger. Sie wurden an einen Baum im Wald gebunden, beide wirkten ruhig. Der Bauer starb oh­ ne Augenbinde, den Blick auf die Gewehrläufe gerichtet; seine letz-

ten Worte waren >Lang lebe die Revolution!< Chang sah dem Tod mit völliger Gelassenheit entgegen, bat jedoch darum, daß ihm Pa­ ter Sardinas die letzte Ölung erteilte.* Da sich der Pater zu diesem Zeitpunkt jedoch weitab von unserem Lager befand, konnten wir Chang seinen Wunsch nicht erfüllen, und so bat er uns, seine letz­ te Bitte publik zu machen, als würde ihm dieses öffentliche Zeug­ nis im Jenseits mildernde Umstände eintragen.« Drei Halbwüchsigen aus Changs Gang wollten die Rebellen ei­ ne Lehre erteilen, indem sie eine Scheinhinrichtung inszenierten. Die drei Jugendlichen wurden zum Tode verurteilt, mußten zuse­ hen, wie Chang und der Vergewaltiger hingerichtet wurden und erwarteten dann den eigenen Tod. Laut Ches Bericht waren sie »nicht unerheblich an Changs Machenschaften beteiligt gewesen, doch Fidel war der Meinung, man müsse ihnen noch einmal eine Chance geben. Wir verbanden ihnen die Augen und setzten sie der Pein einer Scheinhinrichtung aus. Nachdem ein paar Schüsse in die Luft abgegeben worden waren, merkten die Burschen, daß sie noch sehr lebendig waren. Einer von ihnen warf sich mir um den Hals und gab mir in einer spontanen Geste der Freude und der Dankbarkeit einen herzhaften Kuß, als wäre ich sein Vater.« Wie Che später feststellt, sollte es sich als weiser Entschluß erweisen, daß sie ihnen das Leben geschenkt hatten. Alle drei blieben in der Rebellenarmee, einer davon in Ches Kolonne, und erwiesen sich als »Zuverlässige Kämpfer für die Revolution«. Einige Tage später wurden weitere Missetäter gefaßt. Unter ih­ nen befand sich auch Dionisio Oliva, ein Bauer, der an der Auf­ deckung von Eutimio Guerras Verrat maßgeblich beteiligt gewe­ sen war. In den seither vergangenen Monaten hatten er und sein Schwager Lebensmittel, die den Rebellen zugedacht waren, ge­ stohlen und als Viehdiebe ihr Unwesen getrieben. Dionisio hatte darüber hinaus zwei Häuser beschlagnahmt, in denen er sich zwei Geliebte hielt. Unter den Gefangenen befand sich außerdem ein junger Bursche namens Echeverria. Mehrere Brüder Echeverrias gehörten zu den Rebellen, einer von ihnen war sogar an Bord der Granma gewesen. Dieser Junge hatte sich dagegen einer Bande be­ waffneter Gauner angeschlossen. Dennoch mußte Che einräumen, daß sein Fall »vertrackt« war. Echeverria flehte darum, im Kampf



Pater Guillermo Sardinas, ein Priester aus Santiago, war im Juni zu den Rebellen ge­

stoßen.

237

sterben zu dürfen - er wollte seiner Familie die Schande des Todes durch ein Exekutionskommando der Revolution ersparen-, doch das Tribunal hatte sein Urteil gefällt. Vor seiner Erschießung schrieb Echeverrfa einen Brief an seine Mutter, in dem er, so Che, »die Korrektheit des Urteils bestätigte und sie bat, der Revolution stets treu zu bleiben«.

VI Nach dieser Welle der Hinrichtungen machten sich Che und seine Männer auf den Rückweg in das Tal EI Hombrito. Es war bereits Ende Oktober des Jahres 1957, und Che hatte vor, eine industriel­ le Infrastruktur zu schaffen, die eine ständige Präsenz von Gueril­ latruppen vor Ort ermöglichen sollte. Dieser ehrgeizige Plan er­ hielt mit dem Eintreffen ehemaliger Studenten der Universität Havanna Auftrieb, die alsbald mit der Errichtung eines Dammes zur Stromerzeugung am Rio Hombrito beauftragt wurden. Zudem sollten sie bei der Gründung einer Guerillazeitung mit dem Titel EI Cubano Libre (Der freie Kubaner) helfen. Anfang November er­ schien die erste Ausgabe, die auf einem eigens für diesen Zweck in die Berge verfrachteten Mimeographen aus dem Jahre 1903 ver­ vielfältigt wurde. Auch Che hatte zur Feder gegriffen und unter seinem alten Pseudonym »El Francotirador« (der Heckenschütze) den ersten einer ganzen Serie von Beiträgen verfaßt. Die Zeitung war nur ein Anfang. Che wollte im Tal El Hombri­ to eine umfassende soziale Infrastruktur aufbauen; er errichtete ei­ ne bescheidene Krankenstation und plante eine weitere. Zu dem Brotofen gesellten sich schon bald eine winzige Schweine- und Ge­ flügelfarm sowie eine Schusterei und eine Sattlerwerkstatt. Auch Ches »Waffenfabrik« lief auf vollen Touren. Hier wurden primiti­ ve Landminen und Gewehrgranaten produziert, die die Rebellen zu Ehren der neuen sowjetischen Satelliten »Sputniks« tauften, und sobald sie über das entsprechende Material verfügten, wollten sie auch Mörser selbst herstellen. Als symbolische Krönung dieser Errungenschaften gab Che eine riesige Standarte der Bewegung 26. Juli mit der Aufschrift »Feliz Aii.o 1958 ! « -in Auftrag, die auf dem Gipfel des Berges El Hombrito gehißt werden sollte. Che war zwar stolz darauf, daß er in dieser Gegend mittlerweile »echte Au­ torität« besaß. Dennoch ließ er zum Schutz gegen die marodieren-

den Truppen Hauptmann Sanchez Mosqueras entlang der Wege, die zu ihrer kleinen Siedlung führten, Luftschutzräume und Ver­ teidigungswälle errichten. »Wir haben vor, hier auszuharren«, schreibt er am 24. November an Fidel, »und dieses Gebiet um nichts in der Welt preiszugeben.« Doch dann trafen Meldungen ein, wonach die Truppen von Hauptmann Sanchez Mosquera zum nahegelegenen Tal von Mar Verde zogen und auf ihrem Weg Bauernhäuser niederbrannten. Che schickte Camilo Cienfuegos voraus, der den Truppen einen Hinterhalt legen sollte. Er selbst wollte mit seinen Kämpfern dann die feindlichen Truppen von hinten angreifen. Während die Soldaten weiter in das Tal von Mar Verde vorrück­ ten, versuchten Che und seine Männer im Schutz der bewaldeten Berghänge unbemerkt auf gleiche Höhe mit ihnen zu gelangen. Ihnen war jedoch ihr neues Maskottchen, ein junger Welpe, ge­ folgt. Che befahl Felix, dem Guerillero, der sich um das Hündchen kümmerte, das Tier zum Umkehren zu bewegen, doch der kleine Hund trottete treu hinter ihnen her. Sie kamen an einen Bach, wo sie rasteten, und aus unerklärlichen Gründen begann das Hünd­ chen zu jaulen. Die Männer versuchten, den Welpen mit trösten­ den Worten zu beruhigen, doch er hörte nicht auf. Che befahl, das Hündchen zu töten. »Felix sah mich mit ausdruckslosem Blick an«, schreibt Che später, »dann holte er langsam ein Stück Schnur her­ vor, legte es dem Tier um den Hals und erdrosselte es. Nach einer letzten nervösen Zuckung hörte das Hündchen auf, sich zu bewe­ gen. Da lag es ausgestreckt auf dem Boden, den Kopf auf Zweige gebettet.« Schweigend zog der Trupp weiter. Der Feind war inzwischen weit voraus. Gewehrschüsse in der Ferne signalisierten ihnen, daß Camilos Überraschungsangriff begonnen hatte, doch die Kund­ schafter, die Che vorausschickte, meldeten, daß sowohl die feindli­ chen Truppen als auch Camilos Kommando fort waren. Enttäuscht darüber, daß sie die Kampfhandlung verpaßt hatten, marschierten sie zurück ins Tal. Erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichten sie das Dörfchen Mar Verde. Alle Einwohner waren geflüchtet, ihre Habseligkeiten hatten sie zurückgelassen. Die Rebellen brieten sich ein Schwein und aßen etwas Maniok dazu. Einer der Männer begann zum Klang einer Gitarre zu singen. »kh weiß nicht, ob es die traurige Melodie war oder die Dun­ kelheit oder einfach nur Erschöpfung«, schreibt Che, »aber Felix 239

hatte sich zum Essen auf den Boden gehockt, und als er einen Kno­ chen wegwarf, kam in geduckter Haltung ein Hofhund und schnappte ihn sich. Felix tätschelte dem Hund den Kopf, und der Hund sah ihn an. Felix schaute zuerst den Hund an, dann trafen sich unsere schuldbewußten Blicke. Plötzlich wurde es sehr still. Eine unmerkliche Unruhe kam über uns, denn der demütige und doch verschlagene Blick des Hundes schien eine Art Vorwurf zu enthalten. Hier, vor unseren Augen, war das ermordete Hündchen, wenn es uns auch mit den Augen eines anderen Hundes ansah.« Noch in Mar Verde erreichte sie am nächsten Tag die Nachricht, daß kaum zwei Kilometer entfernt die Truppen von Sanchez Mos­ quera ihr Lager aufgeschlagen hatten. Camilos Guerilleros waren in der Nähe des Feindes in Stellung gegangen und warteten auf Ches Kolonne, um dann gemeinsam anzugreifen. Also führte Che seine Männer rasch dorthin. Am Morgen des 29. November lagen die Guerilleros schon vor Tagesanbruch entlang dem Rio Turquino in Stellung, um Sanchez Mosquera den Fluchtweg abzuschneiden. Che und zwei oder drei andere verbargen sich hinter Bäumen, als direkt vor ihnen eine kleine Gruppe Soldaten vorbeimarschier­ te. Che, der nur mit einer Luger bewaffnet und nervös war, gab den ersten Schuß zu hastig ab und verfehlte sein Ziel. Der Kampf begann, und in dem Durcheinander konnten die Soldaten ins Dickicht flüchten. Gleichzeitig eröffneten die anderen Einheiten das Feuer auf das Bauernhaus, in dem die Mehrheit der feindlichen Soldaten in Stellung lag. Mosqueras Truppen hatten sich gut ver­ schanzt und erwiderten das Feuer, so daß ein Sturmangriff auf die feindliche Stellung äußerst gefährlich gewesen wäre. Als Verstär­ kung für die Armee nahte, schickte Che Patrouillen los, die sie auf­ halten sollten, während er Sanchez Mosquera in Schach hielt. Dann wurde Ches Freund Ciro Redondo, ein Granma- Veteran, bei seinem Versuch vorzurücken durch einen Kopfschuß getötet. Am späten Nachmittag war der Kampf vorüber. Die feindlichen Verstärkungstruppen hatten die Linie der im Hinterhalt liegenden Rebellen durchbrochen, und schließlich gab Che den Rückzugsbe­ fehl. Es war ein blutiger Tag gewesen. Außer Ciro hatten sie noch einen weiteren Kämpfer verloren, der gefangengenommen und dann getötet worden war. Fünf Guerilleros, darunter Joel Iglesias, waren verwundet. Da sie befürchteten, von der Armee verfolgt zu werden, zogen sie sich nach EI Hombrito zurück, wo sie sich auf die nächste Kraftprobe vorbereiteten.

Nachdem sie ein paar Tage in fieberhafter Arbeit ihre Ver­ teidigungsanlagen verstärkt hatten, wurde Alarm geschlagen: Sanchez Mosqueras Streitmacht war auf dem Weg in das Tal. Che hatte die Verwundeten und den Nachschub in ihr neues Rück­ zugslager in La Mesa bringen lassen. Um ein Vorrücken des Fein­ des bis nach EI Hombrito zu verhindern, hatte Che entlang der Zufahrtsstraße die in seiner »Waffenfabrik« hergestellten Land­ minen verlegen lassen, von denen er sich viel versprach. Doch als die Soldaten eintrafen, versagten die Minen, und Ches vordere Einheiten mußten sich rasch aus ihrem Hinterhalt zurückziehen, so daß der Feind freie Bahn nach EI Hombrito hatte. Da keine Zeit zu verlieren war, verließen Che und seine Männer das Tal über eine kleine Straße, die auf den »Los Altos de Conrado« führte einen Berg, den sie nach einem kommunistischen Bauern be­ nannt hatten, der hier lebte und ihnen geholfen hatte. Der Auf­ stieg bis zu seinem inzwischen verlassenen Haus war steil, doch Che hielt dies für den geeignetetsten Ort, um dem Feind aufzu­ lauern. Ein Felsblock, von dem aus man die Straße überblicken konnte, bot die ideale Stellung für einen Hinterhalt. Drei Tage mußten sie hier warten. Diesmal war Ches Plan einfach, aber riskant. Camilo Cienfue­ gos, der sich hinter einem dicken Baum verbarg, sollte den ersten Soldaten, der auftauchte, aus nächster Nähe erschießen. Entlang der Straße postierte Scharfschützen würden dann das Feuer eröff­ nen, während andere gleichzeitig frontal angriffen. Che und ein paar Männer befanden sich in einer zwanzig Meter entfernten Auffangstellung; allerdings war Che nur teilweise durch einen Baum verdeckt, und die Kämpfer um ihn herum waren ebenfalls sehr exponiert. Niemand durfte aus seinem Versteck spähen - das Auftauchen der Soldaten würde ihnen der erste Schuß verraten-, doch Che setzte sich über seine eigene Anweisung hinweg und ris­ kierte einen Blick. »In diesem Moment konnte ich die Spannung des bevorstehen­ den Kampfes spüren«, schrieb er später. »Ich erblickte den ersten Soldaten. Er sah sich vorsichtig um und bewegte sich nur langsam vorwärts.« Der Wald hallte wider, als die Gegner einander aus nächster Nähe unter Beschuß nahmen. Die Armee setzte hastig Granatwerfer ein, doch die Geschosse landeten weit hinter den Re­ bellen. Dann wurde Che verletzt. »Plötzlich spürte ich einen un­ angenehmen Schmerz, etwa wie bei einer Verbrennung oder wie

ein leichtes Taubheitsgefühl. Ich war in den rechten Fuß getroffen worden, der nicht durch den Baum verdeckt gewesen war.« Che hörte, wie ein paar Männer sich durch das Dickicht auf ihn zu bewegten, und mit einem Mal wurde ihm klar, wie hilflos er war. Er hatte seinen Ladestreifen leergeschossen und keine Zeit mehr gehabt nachzuladen. Seine Pistole war zu Boden gefallen und lag unter seinem Körper, doch er konnte sich nicht aufrichten, da ihn sonst der Feind erblickt hätte. Verzweifelt rollte er sich auf die Sei­ te, und es gelang ihm, seine Pistole in die Hand zu bekommen. Im selben Moment rannte einer seiner eigenen Männer auf ihn zu: Cantinflas, der ihm mitteilte, daß sein Maschinengewehr Lade­ hemmung habe und er sich deshalb zurückziehen müsse. Che riß ihm das Gewehr aus der Hand, legte den Ladestreifen richtig ein und schickte den jungen Burschen fluchend wieder in den Kampf. Cantinflas trat mutig aus dem Schutz der Bäume hervor, um den Feind unter Beschuß zu nehmen. Doch im selben Augenblick wur­ de er in den linken Arm getroffen, wobei die Kugel am Schulter­ blatt wieder austrat. Che und Cantinflas, nunmehr beide verwundet, hatten keine Ahnung, wo sich ihre Kameraden befanden. Am Boden kriechend bewegten sie sich zurück, um sich außer Schußweite zu bringen. Schließlich fanden sie Hilfe und machten sich auf den Weg zum Haus eines befreundeten Bauern in einigen Kilometern Entfer­ nung. Cantinflas wurde auf einer Bahre - einer umfunktionierten Hängematte - transportiert. Doch Che, der noch immer sehr erregt war, schaffte den ersten Teil des Weges auf eigenen Beinen, bis ihn schließlich die Schmerzen überwältigten und er auf ein Pferd ge­ hievt werden mußte. Da Che einen weiteren Vormarsch der Armee befürchtete, ließ er seine Männer in La Mesa erneut Stellungen im Hinterhalt be­ ziehen und informierte Fidel in einer Depesche über die jüngsten Ereignisse: »Rasche Hilfe durch 30-06 und 45er Automatikwaffen äußerst willkommen«. Anschließend stellte Che fest, daß ihre La­ ge längst nicht so übel war, wie er befürchtet hatte. Statt ihren Vor­ teil zu nutzen, hatten sich die feindlichen Gruppen vollständig aus dem Gebiet zurückgezogen. In ihrem neuen Versteck wurde Che von einem der Ärzte versorgt, die in den letzten Monaten zu den Rebellen gestoßen waren. Mit Hilfe einer Rasierklinge entfernte er eine M-1-Kugel aus Ches Bein, so daß dieser bald wieder laufen konnte.

Als sie jedoch nach EI Hombrito zurückkehrten, bot sich ihnen ein Bild der Verwüstung. »Unser Backofen war mit gewissenhaf­ ter Gründlichkeit zerstört worden; zwischen den rauchenden Trümmern waren nur noch ein paar Katzen und ein Schwein zu finden; doch sie waren der Zerstörungswut des Feindes nur ent­ gangen, um dann in unseren Mägen zu enden.« Sie mußten wie­ der ganz von vorne anfangen, jedoch nicht in El Hornbrito. Am En­ de seines ersten Kriegsjahres, Anfang 1958, machte sich Che daran, in La Mesa ein neues Basislager aufzubauen.

VII In einem Brief an Fidel vom 9. Dezember sprach Che ein Problem an, das über das militärische Dilemma weit hinausging. Es betraf den immer heftigeren Streit mit dem Directorio Nacional des 26. Juli. Che hatte für die Llano-Leute nie viel übrig gehabt - was offensichtlich auf Gegenseitigkeit beruhte-, doch jetzt machte sich unverhohlener Haß breit. Der unmittelbare Anlaß waren Meinungsverschiedenheiten wegen des Nachschubs. Seit seiner Ernennung zum comandante hatte sich Che stets über Daniel, den Nachfolger von Frank Pafs als Koordinator der Rebellenarmee in Oriente, hinweggesetzt und Abkommen mit Nachschublieferanten getroffen, die nicht vom Directorio Nacional beauftragt waren. Doch dies war nicht das ei­ gentliche Problem. Che war inzwischen in den Reihen des Direc­ torio Nacional als »radikaler« Marxist verschrien. Zur wachsenden Besorgnis von Armando Hart und Daniel - beide erklärte Anti­ kommunisten - stand der Argentinier als mehr oder minder auto­ nomer comandante an der Spitze einer eigenen Kolonne. Und während sich die Beziehungen zwischen dem Llano und Fidel zu­ sehends verschlechterten, hatte Che offenkundig großen Einfluß auf Castro. Durch seine Weigerung, mit Daniel oder dessen Orga­ nisation in Santiago zusammenzuarbeiten, untergrub Che die Au­ torität des Llano. Nun wollte die Llano-Führung die Oberhand über ihn gewinnen, indem sie ihn zwang, die »richtigen« Kanäle zu verwenden. Ende Oktober machten sich Daniel und Celia Sanchez auf den Weg in die Sierra Maestra, um sich mit Fidel zu treffen und den immer heftiger werdenden Streit beizulegen. Etwa zur selben Zeit 243

wurden außerhalb der Sierra neue politische Weichen gestellt. Ar­ mando Hart, der Anführer der »allgemeinen Organisation« des 26. Juli im Llano, berichtete von außerordentlich begrüßenswerten Bestrebungen der Oppositionsparteien, eine revolutionäre Exilre­ gierung zu bilden, in der dem 26. Juli und den Autenticos unter Prio eine vorherrschende Rolle zukommen sollte. Gleichzeitig, so schrieb er Fidel im Oktober, pflegten sie weiterhin »freundschaft­ liche Beziehungen zu gewissen diplomatischen Kreisen«, und er habe gehört, daß Personen, »die der [US-]Botschaft nahestünden«, in ihrem Auftrag mit dem Botschafter gesprochen hätten. »Ich glaube, dies ist die beste Taktik«, fuhr Hart fort, »denn so bleiben wir auf dem laufenden, und andererseits ist die Bewegung nicht selbst beteiligt.« Nach dem gescheiterten Aufstand von Cienfuegos, den die CIA insgeheim unterstützt hatte, wollten die Vereinigten Staaten ver­ mutlich auf Nummer Sicher gehen und suchten nach einer geeig­ neten Alternative, um Batista zu vertreiben. Eine breite Koalition der »tragbaren« politischen Gruppierungen Kubas - darunter die Bewegung 26. Juli, sofern sie sich im Zaum halten ließ- schien die ideale Lösung zu sein. Der Konflikt in Kuba lief Gefahr, außer Kon­ trolle zu geraten. Nachdem sich die Armee als unfähig erwiesen hatte, den Rebellen einen entscheidenden Schlag zu versetzen, hat­ te Batista seine Bluthunde von der Leine gelassen. Tagtäglich wur­ den vermeintliche Rebellen von der Polizei ermordet, und in Ori­ ente sorgten die Massaker der Armee unter den Bauern für eine Atmosphäre zunehmender Anarchie. Oberst Alberto de! Rfo Cha­ viano, der bei den Foltermorden an den Moncada-Rebellen maß­ geblich beteiligt gewesen war, hatte die Antiguerillakampagne in der Sierra Maestra übernommen, und auf Castros Kopf war eine Belohnung von hunderttausend Dollar ausgesetzt worden. Auch Batistas Feinde gingen mit verstärkter Gewalt vor. Im Ok­ tober und November verfolgte der 26. Juli Spione und Verräter in den Städten und brachte schließlich auch den Verräter EI Gallego Moriin um, der zum militärischen Nachrichtendienst übergewech­ selt war und der Bewegung großen Schaden zugefügt hatte. Auch der für seine Grausamkeit bekannte Befehlshaber von Holguin, Oberst Fermin Cowley, der für das Massaker an der Besatzung der Corynthia und zahlreiche weitere Morde verantwortlich war, wur­ de von Aktivisten des 26. Juli liquidiert. Zudem verstärkten die Re­ bellen ihre Sabotageakte gegen Wirtschaftseinrichtungen. Einhei244

ten aus der Sierra sorgten dafür, daß eine wachsende Zahl von Zuckerrohrfeldern niedergebrannt wurde. Fidel wollte auf diese Weise den Krieg von der Sierra Maestra auf das ganze Land aus­ weiten. Als Beweis, wie ernst es ihm damit war, versprach er, die nicht unbedeutenden Zuckerrohrfelder seiner Familie in Bircin niederzubrennen. Paradoxerweise erlebte Kuba trotz der anhaltenden Konflikte einen Wirtschaftsboom, der auf die steigenden Zuckerpreise und zunehmende Investitionen aus dem Ausland, insbesondere den Vereinigten Staaten, zurückzuführen war. Die US-eigenen Nickel­ werke in Oriente hatten erst kürzlich Pläne zur Erweiterung ihres Unternehmens veröffentlicht, und in Havanna wurde der Hafen ausgebaut, um dem zunehmenden Handel auf dem Seeweg gerecht zu werden. Nach wie vor strömten Touristen nach Havanna, zu de­ ren Beherbergung neue Luxushotels errichtet wurden. Die letzte Zuckerernte hatte zu den bisher ertragreichsten in Kuba gehört und dem Staat Überschüsse von mehreren hundert Millionen Dollar eingebracht. Doch da sich die US-Regierung nicht sicher war, ob Batista die Dinge im Griff behalten würde, kamen aus Washington auch wei­ terhin widersprüchliche Signale. Während das US-Außenministe­ rium und die CIA Batista zunehmend als Störfaktor betrachteten, war das US-Militär dem kubanischen Diktator nach wie vor sehr gewogen. Wenige Monate nach seinem Amtsantritt hörte der US­ Botschafter Earl Smith erneut von »kommunistischen Tendenzen« unter den Rebellen, worauf er Fidel Castros Aktivitäten mit wach­ sendem Argwohn verfolgte und dem CIA-Direktor Allen Dulles in einem Telegramm sogar den Vorschlag unterbreitete, einen Spion in die Sierra Maestra einzuschleusen, um »das Ausmaß des kom­ munistischen Einflusses« innerhalb der Bewegung zu sondieren. In der Zwischenzeit vollbrachte Fidel einen schwierigen Draht­ seilakt, um als Anführer der politischen Opposition in Kuba aner­ kannt zu werden. Zu diesem Zweck mußte er durch Ausweitung des Krieges militärische Stärke gewinnen, gleichzeitig war er aber auf eine breitere politische und wirtschaftliche Unterstützung an­ gewiesen. Und dazu wiederum mußte er sich eine einigermaßen moderate Fassade geben. Nachdem er durch Armando Harts Brief von dem geplanten Bündnis erfahren hatte, sandte Fidel eiligst einen Brief an seinen US-Kontaktmann und bat ihn, an der Spitze einer Delegation an 245

dem für den 1. November geplanten Treffen teilzunehmen. Gleich­ zeitig schickte er ihm eine Liste der Kandidaten, die sich seiner Meinung nach am besten für die Schlüsselpositionen innerhalb des Bündnisses eigneten. Anschließend widmete sich Fidel, der offen­ sichtlich fest davon ausging, daß man seinen Wünschen Folge lei­ sten würde, wieder seinen Aufgaben im Guerillakrieg. Nach mehreren Unterredungen mit Fidel kehrte ein offenbar geläuterter Daniel nach Santiago zurück. Er machte sich sofort dar­ an, Fidel die Munition und anderes von ihm benötigtes Material zu senden. Celia Sanchez dagegen blieb in der Sierra. Fidel hatte ihr zu verstehen gegeben, daß er sie für einige Zeit an seiner Seite brauche, und sie hatte eingewilligt. Sie blieb bis zum Ende des Krie­ ges bei ihm. Am

1.

November bildete sich in Miami eine »Kubanische

Befreiungsjunta«. Zu den Unterzeichnern des Paktes gehörten Ver­ treter der wichtigsten Oppositionsgruppen. Während die Kommu­ nisten ausgeschlossen worden waren, dominierte im Nationalen Komitee der neu gebildeten Junta die Bewegung 26. Juli. Felipe Pazos hatte ohne Fidels Zustimmung als offizieller Repräsentant der Bewegung fungiert, was Fidel als Versuch wertete, ihn in den Hintergrund zu drängen. Und abgesehen von den Forderungen nach einem Rücktritt Batistas, freien Wahlen und einer Rückkehr zur Verfassung war das Manifest des Bündnisses eineAnbiederung an Washington. Die Ablehnung ausländischer Interventionen oder einer Militärjunta als Nachfolge Batistas - eine Möglichkeit, die Fidel große Sorge bereitete - wurde mit keinem Wort erwähnt. Dagegen sah der Pakt nach dem Sieg eine Einbindung von Fidels Guerillatruppen in die kubanischen Streitkräfte vor, womit die künftige Auflösung der Rebellenarmee besiegelt werden sollte. Auch das T hema der sozialen Ungerechtigkeit war, abgesehen von einem lauen Paragraphen, in dem mehr Arbeitsplätze und eine Anhebung des Lebensstandards versprochen wurden, mehr oder weniger übergangen worden. Alles in allem diente das politische Manifest in erster Linie dazu, die Gunst Washingtons zu gewinnen. Die Sierra erfuhr von diesen Verhandlungen nach und nach in Briefen von Daniel undArmando Hart, die beteuerten, auch sie sei­ en über die einzelnen Bedingungen verärgert, könnten »mit dem Pakt aber leben«. Rau! machte aus seinem Zorn keinen Hehl; er be­ zichtigte Felipe Pazos des Verrats und forderte seine Erschießung. Auch Fidel ließ seinen Unmut erkennen, bezog aber vorerst nicht

öffentlich Stellung. Auch als sich die Funktionäre des Llano krampfhaft bemühten, ihren Standpunkt zu erläutern, verharrte er in rätselhaftem Schweigen. Che, der ganz mit dem Krieg be­ schäftigt war, hielt sich heraus, fieberte aber dem Augenblick ent­ gegen, da Fidel Klartext reden würde. Am 1. Dezember -nach dem Gefecht in Mar Verde - hatte Che Fidel vorsichtig gedrängt, eine Stellungnahme abzugeben, die man in EI Cubano Libre drucken konnte. Dann kamen jedoch Ches Rückzug aus EI Hombrito und seine Verletzung in Los Altos de Conrado dazwischen. In seinem Brief vom 9. Dezember aus La Mesa suchte Che dann schließlich die offene Konfrontation. Er legte Fidel sein Mißtrauen gegenüber dem Directorio Nacional dar, das er beschuldigte, ihn bewußt zu sa­ botieren, und verlangte, nicht näher erläuterte »strikte Maßnah­ men« in dieser Angelegenheit ergreifen zu dürfen. Andernfalls werde er den Dienst quittieren. Obwohl Che diesen Brief durchaus diplomatisch formulierte, war dies ein klares Ultimatum an den je­ fe. *Von der Antwort hing nicht nur das künftige Verhältnis zwi­ schen Che und Fidel Castro ab, sondern auch der politische Kurs des kubanischen Befreiungskampfes. Nach vier Tagen erhielt Che eine Antwort. Der Inhalt dieses Briefes wurde nie bekannt, in jedem Fall aber stellte er Ches Ver­ trauen in Castro wieder her. Am I5. Dezember schrieb er an Fidel: »Soeben ist hier ein Kurier mit Deiner Nachricht vom IJ. einge­ troffen. Ich gestehe, daß sich danach ... Erleichterung und Freude in mir breitmachten. Und zwar nicht so sehr aus persönlichen Gründen als wegen der tiefreichenden Bedeutung für die Revolu­ tion. Du weißt ja, daß ich den Leuten aus dem Directorio Nacional noch nie vertraute -weder als Anführern noch als Revolutionären. Doch ich hätte niemals gedacht, daß sie es so weit treiben würden, Dich offen zu hintergehen.« Des weiteren erklärte Che Fidel, daß sein anhaltendes Schwei­ gen »unklug« sei, daß die Amerikaner offensichtlich »die heimli-



In dem Abschiedsbrief, den Che Fidel 1965 vor seinem Aufbruch in den Kongo

schrieb, bekennt er seine damaligen Zweifel an Castro, bei denen diese Episode eine ent­ scheidende Rolle spielte. »Wenn ich mein Leben im Rückblick betrachte, dann kann ich, glaube ich, sagen, daß ich durch ein Mindestmaß an Integrität und Engagement meinen Teil zur Konsolidierung der Revolution beigetragen habe. Das einzige, was ich mir vor­ werfen kann, ist, daß ich nicht vom ersten Augenblick in der Sierra Maestra an mehr

Vertrauen in Dich gehabt habe und Deine Qualitäten als Führer und Revolutionär nicht eher erkannt habe.«

247

chen Drahtzieher« wären und es an der Zeit sei, Nägel mit Köpfen zu machen. »Wir müssen uns Uncle Sam wohl oder übel stellen, auch wenn die Zeit noch nicht reif ist.« Und Fidel brach das Schweigen. Unmittelbar nach seinem Ant­ wortschreiben an Che verfaßte er eine Stellungnahme, in der er den Pakt von Miami verurteilte. Er sandte sie an Che, das Directo­ rio Nacional und alle Unterzeichner des Manifestes, die er eines »lauwarmen Patriotismus und der Feigheit« bezichtigte. Um die­ sem Versuch Felipe Pazos', sich das Amt des Präsidenten in der künftigen Übergangsregierung zu sichern, entgegenzuwirken, no­ minierte Fidel einen eigenen Kandidaten für diesen Posten: den et­ was betagteren Juristen Manuel Urrutia aus Santiago. Sein Rund­ umschlag endete mit folgender Erklärung: »Dies sind unsere Bedingungen . . . Wenn sie abgelehnt werden, werden wir wie bis­ her allein weiterkämpfen . .. Man braucht keine Gesellschaft, um in Würde zu sterben.« Es war eine eindrucksvolle Anklage, die ihre Wirkung nicht ver­ fehlte und die gerade erst gegründete Junta vernichtete. Die Orto­ doxos distanzierten sich von dem Pakt; Pazos zog sich aus der Be­ wegung 26. Juli zurück, und Faure Chom6n, der neue Führer des Directorio Nacional, verurteilte Fidels Standpunkt und plante ei­ nen eigenständigen bewaffneten Kampf in Kuba. Doch die eigent­ liche Kraftprobe mit der Führungsriege des Llano stand Fidel noch bevor - sie erfolgte einige Monate später. In der Zwischenzeit lie­ fertern sich Che und Daniel in einem Briefwechsel heftige Wort­ gefechte. Che, der nun voller Entschiedenheit seine marxistische Überzeugung und sein neues Vertrauen in Fidel »als einem glaub­ würdigen Führer des linken Bürgertums« betonte, machte Daniel und den »rechten« Vertretern des Llano schwere Vorwürfe, weil sie zugelassen hatten, daß die Rebellenbewegung in Miami »ver­ arscht« wurde. Daniel wies Ches Vorwürfe vehement zurück und warf ihm seinerseits vor, er glaube wohl, Kuba werde es unter ei­ ner künftigen »sowjetischen Vorherrschaft« besser gehen. Auch er und seine Llano-Kameraden hätten Vorbehalte gegen den Pakt von Miami, betonte Daniel, doch vor einem Bruch mit der Junta sollte die Bewegung 26. Juli »ein für allemal« ihren Standpunkt und ihre Ziele klarstellen."



Weitere Ausführungen siehe Anhang unter Ergänzungen.

VIII Fidel war sich immer darüber bewußt gewesen, daß es früher oder später zu einer Konfrontation mit den USA kommen würde. Er hatte jedoch gehofft, daß dies erst nach seiner Machtübernahme geschehen würde. Die USA hatten einen zu großen Einfluß in sei­ nem Land, als daß er sich mit Halbheiten würde begnügen können, und wenn er tatsächlich wie geplant die Regierung übernehmen und eine echte Befreiung Kubas herbeiführen wollte, dann durfte er vor einem Bruch mit Washington nicht zurückschrecken . Für Che hieß dies, eine sozialistische Revolution durchzuführen, doch Fidel vermied es tunlichst, das verpönte Wort in der Öffentlichkeit zu gebrauchen. Bis jetzt hatte Fidel die PSP, die Kommunistische Partei Kubas, auf Distanz gehalten . Um erst einmal Boden zu gewinnen, um ein möglichst breitangelegtes politisches Spektrum anzusprechen und die Amerikaner nicht vor den Kopf zu stoßen, hatte er seine poli­ tische Botschaft zunächst moderat gehalten. Doch der unverkenn­ bare US-amerikanische Einfluß auf den Wortlaut des Paktes von Miami sowie auf einige Llano-Mitglieder hatte Fidel vor Augen geführt, daß seine Hinhaltetaktik nicht mehr länger angebracht war. An diesem Punkt traten die Kommunisten auf den Plan. Un­ mittelbar vor dem Aufbruch der Granma hatte die PSP Fidel si­ gnalisiert, daß sie seine Absicht, Batista zu stürzen, unterstütze, seine Strategie jedoch ablehne. Mit der Zeit war die PSP jedoch gezwungen, ein stärkeres En­ gagement im bewaffneten Kampf in Erwägung zu ziehen. Obwohl sie sich mit Fidels Kriegstaktik nicht anfreunden konnte, begriff die Partei, daß sie sich in irgendeiner Weise mit Fidel einigen muß­ te, wenn sie bei der Gestaltung der politischen Zukunft des Landes mitreden wollte. Außerdem hatte sie nicht viel zu verlieren. Unter dem Druck der USA hatte Batista mit einer erbarmungslosen Ver­ folgung der Parteimitglieder begonnen, die er zum Sündenbock für die politischen Gewaltakte machte. Zudem hatte der Krieg auch unmittelbaren Einfluß auf das Leben vieler Parteimitglieder. An­ gesichts seiner politischen Affinitäten und seiner engen Freund­ schaft mit Fidel war Che für die Partei der ideale Ansprechpartner, um eine engere Verbindung zu Castro aufzubauen. Die ersten Annäherungen erfolgten bereits in einem frühen Stadium des . 249

Kampfes. Auf Anweisung der Partei schloß sich Ches Kolonne im Sommer 1957 ein junger Kommunist aus Havanna an. Pablo Ribalta, ein schwarzer Kubaner, hatte im Rahmen der In­ ternationalen Studentenvereinigung in Prag studiert und die Eli­ teschule der Kommunistischen Partei für politische Kader absol­ viert. Zum Zeitpunkt seiner Reise in die Sierra war Ribalta Mitglied des Sekretariats der Kommunistischen Jugend. Ribalta bestätigte, daß er von der Partei Mitte 1957 in die Sierra Maestra geschickt wurde, um die Rebellentruppen zu indoktrinieren. »Che hatte um eine Person mit meinen Qualifikationen gebeten: einen Lehrer mit einem hohen Grad an politischer Bildung und einiger . Erfahrung in der politischen Arbeit.« Ribalta gelangte über Bayamo in die Sierra und traf zu einem Zeitpunkt in La Mesa ein, als Che eine Expedition durchführte. In seiner Abwesenheit organisierte Ribalta die Eingliederung einhei­ mischer Kommunisten in die Guerillaarmee und stellte den Un­ terricht für politische Bildung auf die Beine. Als Che zurückkam, knöpfte er sich Ribalta vor und überprüfte sein Wissen. Offenbar zufriedengestellt, befahl er Ribalta, sich eine Zeitlang der Ausbil­ dung im Guerillakampf zu unterziehen. Einige Monate später schickte ihn Che nach Minas del Frfo, wo er einen festen Stütz­ punkt mit einer Schule für Rekruten, einem Gefängnis und ande­ ren Einrichtungen aufgebaut hatte. Als Lehrer hatte Ribalta die Aufgabe, den Kämpfern umfassendes Wissen zu vermitteln. »Ich hatte strikte Anweisung, meine Mitgliedschaft in der PSP nicht zu erwähnen «, sagt Ribalta, »obwohl einige Führungskräfte, dar­ unter Fidel, davon Kenntnis hatten; doch damals hätte es zu einer Spaltung kommen können, und so hielt ich mich strikt an meine Maßgaben ... « Die Partei pflegte zudem diskreten Kontakt zu Fidel und ande­ ren Funktionären der Bewegung. Im Oktober 1957 kam es schließ­ lich zu einem Treffen zwischen Fidel und Ursino Rojas, dem PSP-Funktionär und ehemaligen Gewerkschaftsführer der Zuckerarbeiter. Laut Rojas berieten sie über die Möglichkeiten ei­ nes Bündnisses zwischen ihren Organisationen und die Haupthin­ dernisse, die es dabei zu überwinden galt: den ausgeprägten Anti­ kommunismus mancher Anführer des Llano und innerhalb des FON (Frente Obrero Nacional), der neuen Arbeiterfront des 26. Ju­ li. Aus Fidels Sicht gab es einige praktische Erwägungen, die für ein Bündnis mit den Kommunisten sprachen. Zwar gab es einige Dif-

ferenzen, aber die PSP verfügte unter den verschiedenen politi­ schen Gruppierungen des Landes über die beste Organisation; sie war eng mit der traditionellen Arbeiterbewegung verbunden, und ohne ihre Teilnahme war eine Durchführung des geplanten Gene­ ralstreiks undenkbar. Doch ehe Fidel nicht die gesamte Bewegung 26. Juli unter sein Kommando gebracht hatte, konnte eine engere Zusammenarbeit mit der PSP nur allmählich und auf sehr diskre­ te Weise stattfinden. Che, der jetzt größeres Zutrauen zu dem politischen Kurs der Revolution hegte und seine Zweifel an Fidel begraben hatte, brach­ te seine marxistische Überzeugung jetzt offener zum Ausdruck. Er unternahm sogar erste Versuche, seine Mitkämpfer zu bekehren, von denen die meisten nicht nur politisch ungebildet, sondern nicht anders als ihre amerikanischen Nachbarn in dieser Zeit des Kalten Krieges - eingefleischte Antikommunisten waren. Der Kommunismus wurde weitgehend als »die rote Gefahr« gesehen, eine Art exotische ansteckende Krankheit, die es zu fürchten und zu bekämpfen galt. Enrique Acevedo erinnert sich an eine Auseinandersetzung zwi­ schen mehreren Rebellen, die in Ches Abwesenheit darüber strit­ ten, ob ihr jefe nun Kommunist sei oder nicht. Ein Guerillero, der darauf beharrte, daß Che ein iiangaro sei - ein Roter-, fragte die anderen provozierend: »Habt ihr denn nicht bemerkt, daß im Hauptquartier ein Riesengeheimnis um Ches Bücher gemacht wird und sie sie nachts im geheimen Zirkel lesen? Das ist seine Methode: Erst impft er die, die ihm am nächsten stehen, und die schleusen ihr Wissen dann in den Rest der Truppe ein.« Acevedo hatte zu große Achtung vor Che, als daß er ihn direkt auf dieses Thema angesprochen hätte. Doch nach und nach kamen er und die anderen Kämpfer in Ches Kolonne zu dem Schluß, daß ihr comandante an den Sozialismus glaubte. Die ersten, die es wußten, waren die Rebellen, die seinem Generalstab angehörten. Zu diesen zählte auch Ram6n »Guile« Pardo, ein Jugendlicher, der dem Beispiel seines älteren Bruders Israel gefolgt war und sich im August 1957 den Rebellen angeschlossen hatte. Schon nach weni­ gen Monaten gehörte er jener Gruppe blind ergebener Anhänger an, die - meist Halbwüchsige wie Ram6n - Che als Boten und Leibwache dienten. »Als wir in El Hombrito waren«, erinnert sich Pardo, »bekam ich mit, daß einige Bauern der PSP angehörten ... Che besuchte sie auf 251

unseren Expeditionen, und ich merkte, daß ihn etwas mit ihnen verband. Er sprach auch viel über Politik mit Pater [Guillermo] Sardifias, der sich eine Zeitlang in unserer Kolonne aufhielt. Che hatte ein blaues Buch, es war ein Band mit ausgewählten Werken Lenins, und er las viel darin. Ich war neugierig und wollte wissen, wer Lenin war, also fragte ich ihn. Er erklärte mir: >Du hast doch von Jose Martf, von Antonio Maceo und von Maximo G6mez gehört.* Lenin war wie sie. Er hat für sein Volk gekämpft.< Es war das erstemal, daß mir jemand von Lenin erzählte.« Die jungen Kämpfer besaßen keinerlei Kenntnisse, und Che hin­ terließ bei ihnen einen bleibenden Eindruck. Er brachte Israel Par­ do und Joel Iglesias höchstpersönlich Lesen und Schreiben bei. Und für Guile und ein paar andere, die etwas mehr Bildung besaßen, veranstaltete er täglichen Unterricht. Die Themen umfaßten neben kubanischer Geschichte und Theorie der Kriegführung mehr und mehr auch Politik und Marxismus. Als Joel schließlich Lesen ge­ lernt hatte, gab ihm Che als Lektüre eine Biographie Lenins. Ebenso vage, wie er seine eigene politische Rolle während des Krieges beschrieb, äußerte sich Che in seinen später veröffentlich­ ten Schriften über die frühen Verbindungen zwischen PSP und 26. Juli. Er wollte die Revolution als ein Gebilde darstellen, das sich auf ganz natürlichem Wege zum Sozialismus entwickelte, eine Art organisches Produkt der Erfahrungen, die die Rebellen bei den ver­ nachlässigten Bauern der Sierra Maestra gesammelt hatten. »Die Guerilleros und die Bauern begannen zu einer Masse zu verschmelzen, ohne daß man hätte sagen können, wann genau dies auf dem langen Weg der Revolution geschehen war, wann die Theorie zur greifbaren Wirklichkeit wurde und wir zu einem Teil der Bauernschaft.« In seiner Beschreibung der allmählichen Anerkennung der Re­ volution durch die Bauern greift Che zu religiöser Symbolik. Die Mühsal der Bauern wird zu einer Art Opfergang; das Individuum findet im Opfer Erlösung und erfährt Erleuchtung, indem es für das Wohl der Gemeinschaft zu leben lernt. »Es ist eines der Wun­ der der Revolution, daß sich - angesichts der Notwendigkeit des Krieges - nun auch die hartnäckigen Individualisten, die zuvor ei­ fersüchtig ihr Eigentum und ihre Rechte verteidigten, der gro�en



Alle drei waren Helden des kubanischen Unabhängigkeitskrieges Ende des 19. Jahr­

hunderts.

gemeinsamen Aufgabe des Kampfes verschrieben haben. Doch ein noch größeres Wunder ist es, daß der kubanische Bauer in den be­ freiten Gebieten das eigene Glück wiedergefunden hat. Wer je das ängstliche Geflüster miterlebt hat, mit dem unsere Streitmacht an­ fangs in Bauernhäusern empfangen wurde, den wird der unbe­ schwerte Jubel und das fröhliche Lachen der neuen Bewohner der Sierra mit Stolz erfüllen. Es ist ein Zeichen des Selbstvertrauens, das den Einwohnern in den befreiten Gebieten aus dem Bewußt­ sein ihrer eigenen Stärke erwachsen ist.« Diesen Artikel verfaßte Che nur sieben Monate nach dem Ende des Krieges. Ob er das Leben in der Sierra bewußt idealisiert oder nicht - diese Beschwörung eines durch den bewaffneten Krieg er­ zwungenen ländlichen Utopia war ein Modell, das er später im in­ ternationalen Maßstab zu verwirklichen versuchte. Am bedeut­ samsten erscheint jedoch die Tatsache, daß er den Krieg als die ideale Bedingung zur Schaffung eines sozialistischen Bewußtseins sah. Für ihn war der Sozialismus im wesentlichen eine natürliche Gesellschaftsform des Menschen und der Guerillakrieg der Kokon, aus dem sie sich entpuppen würde.

14

Die Ausweitung des Krieges

Um den Krieg über die Sierra Maestra hinauszutragen, wagten sich Rebellenkommandos weit in den Llano vor, um im Rahmen einer Zermürbungstaktik Angriffe auf Garnisonen durchzuführen oder mit Zuckerrohr beladene Lastwagen und Personenbusse zu ver­ brennen. Mit dieser Strategie konnten sie gleichzeitig den Feind davon ablenken, daß das eroberte Gelände in der Sierra Maestra mittlerweile fest in ihrer Hand war. Bis Neujahr herrschte eine Phase der Unsicherheit, in der weder die Armee weiter vordrang noch die Rebellen großangelegte Angriffe durchführten. In dieser verhältnismäßig ruhigen Zeit baute Che Guevara sei­ ne neue Operationszentrale in La Mesa auf, wo eine Metzgerei, eine Lederwerkstatt und sogar eine Zigarrenfabrik entstanden. Che war inzwischen dem kubanischen Tabak verfallen, und wie Fi­ del rauchte er Zigarren, wann immer er konnte. Große Bedeutung maß er den Medienprojekten der Rebellenarmee bei, da die Regie­ rung die Zensur verhängt hatte und die Armee Falschmeldungen verbreitete. Neben ihrer Zeitung EI Cubano Libre, die inzwischen auf einem neuen Mimeographen gedruckt wurde, planten sie einen kleinen Rundfunksender, Radio Rebelde, der im Februar erstmals auf Sendung ging. Die neu errichtete Waffenwerkstatt sollte nicht nur größere Stückzahlen, sondern auch eine bessere Qualität produzieren. Be­ sondere Hoffnung setzte Che hierbei in die neuen M-26-Bomben. Der Prototyp dieser »Sputniks« war eine kleine Bombe, die mit der Gummilitze einer Harpune abgeschossen wurde. Später sollte die Bombe verbessert und von Gewehren abgeschossen werden, docr zu Beginn war sie nur eine Art Handgranate. Das in leere Kon­ densmilchdosen gefüllte Schießpulver machte einen Höllenlärm, besaß aber keine große Zerstörungskraft. Zu ihrer Abwehr genüg254

te es, daß der Feind rund um seine Lager »Antisputniknetze«

aus

Maschendraht errichtete. Anfang 1958 waren die Sputniks jedoch noch nicht im Kampf erprobt worden, und Che versprach sich viel von ihrer Wirkung. Unterdessen hatte Fidel unerwartet angekündigt, daß er der Durchführung von Wahlen unter internationaler Aufsicht zu­ stimmen würde, sofern Batista bereit sei, seine Truppen aus Ori­ ente· abzuziehen. Fidels Vorschlag sollte in dieser Zeit, da die Sa­ botageakte der Guerilleros und die Greueltaten der Polizei in den Städten für Aufruhr sorgten, vor allem den Eindruck vermitteln, daß· die Guerilleros Frieden wollten. Das Angebot wurde in Ha­ vanna vehement zurückgewiesen. Etwa zur selben Zeit begann die internationale Presse, sich für die Rebellen zu interessieren. In der New York Times erschienen regelmäßig Leitartikel über Kuba, für die Chicago Tribune berich­ tete der Lateinamerikakorrespondent Jean Dubais. Im Januar und Februar reisten die Reporter in Scharen in die Sierra Maestra, dar­ unter Korrespondenten der New York Times, von Paris Match und zahlreichen lateinamerikanischen Tageszeitungen. Im Januar erlitt die Bewegung mit der Verhaftung von Ar­ mando Hart und zwei weiteren Mitgliedern des 26. Juli einen empfindlichen Rückschlag. Bei seiner Festnahme nach einem Treffen mit Fidel trug Hart unglücklicherweise einen Brief bei sich, in dem nicht nur von Ches und Rauls marxistischer Welt­ anschauung die Rede war, sondern auch von dem Streit zwischen Llano und Sierra. Damit war Batista wertvolles Propagandamate­ rial in die Hände gefallen, das er gegen die Guerilleros verwen­ den konnte. Als Beweis für die kommunistischen Tendenzen in­ nerhalb der Rebellenorganisation wurde der Brief nur wenige Tage nach Harts Verhaftung von Rafael Dfaz-Balart, dem ehema­ ligen Schwager Fidels, der ihn zutiefst verachtete, im Rundfunk verlesen. Diese Kampagne zeigte jedoch wenig Wirkung. Denn ei­ nige Tage später verfrachtete die Armee dreiundzwanzig Insassen des Gefängnisses in Santiago, die man der Rebellion verdächtig­ te, an den Fuß der Sierra Maestra und metzelte sie nieder. An­ schließend hieß es, die dreiundzwanzig Männer seien bei einem Kampf ums Leben gekommen, auf seiten der Armee habe es kei­ ne Verluste gegeben. In seiner Kolumne in EI Cubano Libre rea­ gierte Che mit einem beißenden Kommentar, in dem er zu Revo­ lutionskriegen im allgemeinen anmerkte:

Alle haben folgendes gemeinsam: 1. Die Streitkräfte der Re­ gierung >können unter den Rebellen zahlreiche Opfer verbu­ chennach einem erbitter­ ten Kampf< ... Alle Zeugen werden beseitigt, es gibt keine Ge­ fangenen. Auf Regierungsseite gibt es nie Verluste - was manchmal durchaus zutrifft, denn wehrlose Menschen zu tö­ ten ist nicht besonders gefährlich. Doch manchmal - und die Sierra Maestra ist unser Zeuge - ist es auch schlichtweg gelo­ gen. Und schließlich der ach so bequeme Sündenbock: >die Kom­ munistenBelagerungs- und Vernichtungsoffensive< von Batistas Armee einsetzte, mit nicht viel mehr als zweihundert einsatzfähigen Gewehren verteidigt werden.«

VI Als die Regenzeit über das Land hereinbrach, verbreitete sich in der Sierra Maestra eine Krisenstimmung, die durch tägliche Mel­ dungen über das Vorrücken der feindlichen Truppen noch ver­ stärkt wurde. Am 6. Mai besetzte die Armee zwei Reisfarmen am Rande der Sierra und nahm einen Rebellen gefangen. Am 10. Mai wurde La Plata aus der Luft und von der See aus bombardiert. Che war ständig unterwegs, um die Stellungen der Guerilleros den neuesten Meldungen entsprechend zu verrücken oder zu verstär­ ken. •

Weitere Ausführungen siehe Anhang unter Ergänzungen.

Neben diesen Aufgaben mußte Che die Durchführung der Agrarrefor� vorantreiben und bei den sich sträubenden Land- und Plantagenbesitzern Steuern einfordern. Mit Rekruten aus der Schule in Minas del Frfo, die jetzt unter der Leitung des Kommu­ nisten Pablo Ribalta als politischem Kommissar die gewünschten Erfolge erzielte, gründete Che die 8. Kolonne, die er nach seinem verstorbenen Kameraden »Ciro Redondo« nannte. Fidel machte sich unterdessen ernsthafte Sorgen, ob seine Streitmacht der Offensive der Regierungstruppen standhalten würde, und entwarf Pläne für den Ernstfall, die apokalyptische Züge annahmen. Am 26. April erklärte er Celia: »Ich brauche Zyanid. Weißt Du, wie man an größere Mengen herankommen könnte? Wir brauchen aber auch Strychnin - so viel wie möglich. Und wir müssen unauffällig an das Gift herankommen, denn wenn das bekannt würde, wäre es wertlos. Ich habe für den Zeit­ punkt der Offensive einige Überraschungen parat.« Ob Fidel das Gift bekommen hat und was er damit vorhatte, ist nie bekannt­ geworden. Vermutlich hätte er, wenn sie vom Feind bezwungen worden wären, die Trinkwasserversorgung des Lagers damit ver­ seucht. Gemäß dieser Bunkermentalität sandte er Che, der die Verteidigungsanlagen der Front inspizierte, eine Depesche, in der er ihm befahl, ins Hauptquartier zurückzukehren. Che nahm Os­ car »Oscarito« Fernandez Mell mit, einen fünfundzwanzigjähri­ gen Arzt aus Havanna, der sich den Rebellen erst kürzlich ange­ schlossen hatte. Zwischen dem 15. und dem 18. Mai waren zahlreiche Vertreter politischer Gruppierungen bei Che zu Gast. Seine Tagebucheintra­ gungen sind wenig aufschlußreich, deuten jedoch darauf hin, daß er verschiedene Angebote sondierte, darunter eines der Kommuni­ stischen Partei. Das wichtigste Bündnisangebot kam von einer Per­ son, die Che knapp als »Rafael, einen alten Bekannten« beschreibt, und einem PSP-Mann namens Lino: Es betraf eine gemeinsame Front der revolutionären Kräfte. Bis zum 19. Mai waren außer den PSP-Männern, die Fidels Rückkehr von einer Inspektion der Kü­ stenfront abwarten wollten, alle Besucher abgereist. Dann traf un­ erwartet der Journalist Jorge Ricardo Masetti ein, der ein weiteres Interview mit Fidel führen wollte. Damit mußte ein Treffen zwi� sehen Fidel und den Kommunisten erneut vertagt werden: Che meinte, »es wäre nicht wünschenswert, wenn er [Masetti] etwas mitbekäme«.

Am 22. Mai war schließlich auch Masetti abgereist, und die Ge­ spräche zwischen Fidel und den Kommunisten konnten beginnen. »Rafael und Lino«, schreibt Che, »schlugen uns ein Bündnis sämt­ licher revolutionärer Kräfte vor. Fidel war im Prinzip einverstan­ den, äußerte aber, ohne die Diskussion damit zu beenden, Beden­ ken über die zu wählende Form.« Im Augenblick war es Fidels Hauptsorge, die bevorstehende Armeeoffensive abzuwehren. Ein Bündnis der Kräfte im Llano er­ schien ihm zwar als �ünschenswert, aber im Moment nicht vor­ rangig. Er wollte eine langwierige und blutige Auseinanderset­ zung mit der Armee vermeiden, und dazu mußte er hier in der Sierra Maestra ihren Kampfgeist brechen. Anschließend konnte er mühelos in den Llano vordringen und nach Gutdünken politische Bündnisse schließen. Da er nach wie vor eine US-Intervention zu­ gunsten Batistas befürchten mußte, behielt er seine behutsame Linie gegenüber den Kommunisten bei. Seine Sorge war sicher nicht unberechtigt. Das US-Außenmini­ sterium hatte zwar vorerst die Waffenlieferungen an Batista ein­ gestellt, doch die kubanische Luftwaffe erhielt auf Anweisung des US-Verteidigungsministeriums dreihundert Raketen aus den Be­ ständen der US-Marinebasis in Guantanamo. Und Anfang Mai traf ein Schiff aus Nicaragua ein, das dem Diktator dreißig Panzer brachte. Damit bestätigten sich Fidels Vermutungen, daß anstelle der USA nun Trujillo und Somoza Waffen an Batista liefern wür­ den. Die Bedenken der US-Amerikaner hinsichtlich Fidels wahrer Gesinnung waren in den vergangenen Monaten noch gewachsen. Im Mai führte Jules Dubois, der Korrespondent der Chicago Tri­ bune, in Caracas ein Interview mit Fidel, das über den Rundfunk­ sender der Rebellen übertragen wurde. Seine Fragen konzentrier­ ten sich im wesentlichen auf den Vorwurf, der Anführer der Rebellen stehe dem Kommunismus nahe. Fidel antwortete, dieses Gerücht habe Batista in die Welt gesetzt, um an US-amerikanische Waffen heranzukommen, und erklärte, er habe keineswegs vor, die Industrie oder den privaten Wirtschaftssektor zu verstaatlichen. Er selbst erhebe keinerlei Anspruch auf die Präsidentschaft, doch die Bewegung 26. Juli werde nach der Revolution den Status einer po­ litischen Partei anstreben und sich in dem von Gesetz und Verfas­ sung festgelegten Rahmen am Kampf um die politische Macht be­ teiligen.

Kurzfristig verfolgte Fidel die Strategie, wichtige Offiziere für seine Sache zu gewinnen - darunter auch General Eulogio Cantil­ lo, den Befehlshaber im Hauptquartier der Armee in Havanna. Gleichzeitig begann er eine psychologische Offensive gegen die in der Sierra Maestra zusammengezogenen Armeetruppen. »Den Streitkräften steht nun eine schwierige Aufgabe bevor«, schreibt er in einer Erklärung für die venezolanische Presse. »Jeder Zugang in die Sierra Maestra gleicht nun den Thermopylen. Jeder Engpaß wird zur Todesfalle. Der kubanischen Armee ist unlängst klarge­ worden, daß sie sich in einem echten Krieg befindet, einem absur­ den und sinnlosen Krieg, der Tausende Menschenleben fordern könnte. Ein Krieg, der sie nichts angeht, denn schließlich führen wir nicht gegen die Streitkräfte Krieg, sondern gegen die Diktatur. Unter solchen Umständen ist es bisher noch immer zu einem Auf­ stand des Militärs gekommen.« Fidels Alltag wurde immer stärker von organisatorischen Auf­ gaben und Schreibtischarbeit bestimmt. Als Oberbefehlshaber der Rebellenarmee war er gezwungen, in der Nähe des Hauptquartiers und seiner neuen Nachrichtenzentrale zu bleiben. In endlosen Briefen und Telefongesprächen bemühte er sich unermüdlich um finanzielle Unterstützung und Waffennachschub. Seine Truppen­ führer im Feld wies er immer wieder an, mit Munition so sparsam wie möglich umzugehen und sich genau an seine Instruktionen zu halten. Celia gegenüber beklagte er sich bitter darüber, daß er so­ viel Verantwortung selbst übernehmen mußte. »Ich habe es satt, den Aufseher zu spielen, mich um so viele unwichtige Einzelhei­ ten kümmern zu müssen, nur weil immer irgendwer irgend etwas übersehen hat. Ich sehne mich nach den ersten Tagen zurück, als ich noch wirklich Soldat war.« Es gab unter Fidels Gefolgsleuten praktisch niemanden, dem er ein gesundes Urteilsvermögen und Entscheidungskraft zugetraut hätte. Die einzige Ausnahme war Che, sein wichtigster Vertrauter und der eigentliche Generalstabschef. Wenn sie getrennt waren, hielt er die Verbindung über Nachrichten aufrecht, in denen er Che pausenlos über militärische, finanzielle und politische Angelegen­ heiten informierte und mit nahezu kindlicher Begeisterung die neuesten Experimente aus der Waffenwerkstatt beschrieb. In der dritten Maiwoche drangen die Regierungstruppen erst­ mals in das Rebellengebiet ein. Neben Einheiten der Luftwaffe und der Artillerie verfügte General Cantillo für seinen Angriff auf die 272

Sierra Maestra über insgesamt vierzehn Bataillone. Cantillo plan­ te, die Guerilleros von verschiedenen Punkten aus in die Zange zu nehmen und schrittweise zurückzudrängen, bis er Fidel in seiner comandancia in La Plata angreifen und vernichten konnte. Im Süden waren die Küstengarnisonen verstärkt und Marine­ fregatten bereitgestellt worden, die die Artillerie versorgen und den Guerilleros dort den Fluchtweg abschneiden sollten. Im Nor­ den hatte Cantillo entlang der westlichen und östlichen Grenzen des Rebellengebietes zwei Armee-Einheiten mit je zwei Bataillo­ nen postiert. Einige Kilometer nördlich der in Las Mercedes sta­ tionierten Kolonne Crescencios war im Zuckerrohrzentrum Estra­ da Palma eine Armeeabteilung in Stellung gegangen, die von Major Rau! Corzo Izaguirre geführt wurde. In Bueycito im Osten lag eine von Sanchez Mosquera - mittlerweile Oberstleutnant geführte Kompanie bereit, die Bergregion zu stürmen, die von der Ramiro Valdes unterstellten Kolonne Ches gehalten wurde. Der einzige Schwachpunkt in Cantillos Streitmacht war deren Kampf­ geist: Lediglich ein Drittel der über zehntausend Soldaten besaß Kampferfahrung. Der Rest war erst kürzlich für diese Offensive eingezogen worden. Dennoch, wenn alles nach Plan verlief, wür­ den sie die Rebellen einkreisen und den Ring immer enger ziehen. Auf den ersten Blick schien dies auch nicht weiter schwer, denn die Festungsanlagen der Rebellen in La Plata, Las Vegas de Jibacoa, Mompie und Minas de! Frio beschränkten sich auf ein nur wenige Quadratkilometer großes Gebiet. Fidels comandancia lag etwa zwölf Kilometer von der nördlichen Front in Las Mercedes ent­ fernt. Die Rekrutenschule in Minas de! Frio befand sich auf hal­ bem Weg dorthin. Von der Küste im Süden zum Hauptquartier der Guerilleros waren es nur acht Kilometer. Und zur Verteidigung seiner Bergfeste standen Fidel nur etwa zweihundertachtzig be­ waffnete Kämpfer mit je fünfzig Schuß Munition zur Verfügung. Nach einem Versuch, die Guerilleros durch eine Luftblockade mürbe zu machen, marschierte Corzo Izaguirre am 19. Mai mit seinen Truppen auf Las Mercedes zu. Doch Crescencios Einheit konnte ihre Stellung vor den Toren der Stadt halten:. Die Frontli­ nie war gezogen, die Gegner lagen sich in einer Entfernung von ungefähr vierhundert Metern gegenüber. Fidel fand anerkennen­ de Worte für die, die dem Feind tapfer Widerstand geleistet hatten, hegte aber Zweifel an Crescencios Führungsqualitäten. Wenige Ta­ ge später bat er Che, das Kommando selbst zu übernehmen. 273

Ches Teilnahme an einer Versammlung, die kurz vor seinem Auf­ bruch nach Las Mercedes von Sorf-Marin einberufen worden war, um mit den Bauern vor Ort über die Kaffee-Ernte zu sprechen, hat­ te etwas Surreales. Immerhin erschienen dreihundertfünfzig Bau­ ern. Und obwohl die Versammlung von der Außenwelt unbemerkt blieb, war sie ein entscheidendes Ereignis. Dies war die erste Ab­ sprache zwischen der Zivilbevölkerung und den Guerilleros, die von nun an über das Schicksal der Kubaner entscheiden würden.Außer­ dem war es der erste konkrete Schritt zur Agrarreform. »Vom leitenden Komitee, dem auch Fidel angehörte, wurden die folgenden Vorschläge zur Abstimmung vorgelegt: die Schaffung einer für die Sierra gültigen Währung, in der die Arbeiter ausbe­ zahlt würden, das Heranschaffen von Säcken und Stroh für Ver­ packungszwecke, die Schaffung einer Arbeiter- und Verbraucher­ kooperative, einer Kommission zur Überwachung der Ernte und die Bereitstellung von Truppen, die beim Pflücken der Kaffeeboh­ nen helfen sollten. Alle Vorschläge wurden angenommen, doch als Fidel zum Abschluß eine Rede halten wollte, begannen Militär­ flugzeuge das Gebiet um Las Mercedes zu beschießen, und die Ver­ sammlung löste sich auf.« Es war der 25. Mai, und die Offensive hatte nun wirklich begonnen. Che eilte nach Las Mercedes, wo er in den folgenden drei Mona­ ten einer überwältigenden feindlichen übermacht zu trotzen such­ te. Er erhielt Nachricht, daß Faustino Perez sich weigerte, seinen Posten in Havanna abzugeben. Che fürchtete, daß es zu einem of­ fenen Bruch mit der verärgerten Llano-Führung kommen könne. Doch angesichts der nun einsetzenden Offensive blieb ihm keine Zeit, etwas zu unternehmen. Er mußte neu eintreffende Waffen verteilen und in Minas del Frfo Freiwillige für die Front auswählen. Diejenigen, die sich nicht dafür eigneten, schickte er nach Las Mer­ cedes, wo sie Schützengräben ausheben sollten. Zudem galt es, ständige Schwierigkeiten mit jungen Rekruten zu bewältigen, die sich der immer strafferen Disziplin zu entziehen versuchten. Während eines Besuchs von Fidel wurde ein entflohener Rekrut aufgegriffen. »Fidel wollte ihn sofort erschießen lassen«, schreibt Che in seinem Tagebuch, »doch ich war dagegen, und schließlich setzte sich der Vorschlag durch, ihn auf unbestimmte Zeit in [deJTI Rebellengefängnis von] Puerto Malanga unter Arrest zu halten. Ein anderer Rekrut, den ich zu zehn Tagen ohne Essen verurteilt hatte, bat Fidel um Straferlaß. Fidel stellte ihn vor die Wahl, das Fa274

sten aufzugeben und nach Puerto Malanga zu gehen oder die ur­ sprüngliche Strafe zu verbüßen. Da der Rekrut sich nicht ent­ scheiden konnte, wurde beschlossen, ihn für einen Monat nach Puerto Malanga zu schicken.« Daß Fidel wenige Tage später einen weiteren gefaßten Deserteur freisprach, verdeutlicht seine Willkür im Umgang mit der revolutionären Justiz. Auch über die hoffnungslose zahlenmäßige Unterlegenheit und die moralische Verfassung der Guerilleros gibt Ches Tagebuch Auf­ schluß. »Fidel brach früh zu seinen Quartieren auf«, schreibt er am 4. Juni, »und innerhalb einer Stunde suchten uns zwei Jagdbomber heim, die sechs Raketen auf uns abwarfen und ihre Maschinenge­ wehre abfeuerten. Die Reaktion unter den Schülern war ernüch­ ternd, zehn von ihnen baten darum, entlassen zu werden.« Später an diesem Tag sprang einer der beiden freiwilligen Granatenwerfer Ches ab, und er mußte sich nach Ersatz umsehen. Als er am näch­ sten Tag zur Schule zurückkehrte, war diese erneut bombardiert worden, was acht weitere Schüler zur Flucht veranlaßt hatte. Als an der Küste feindliche Truppen landeten, übernahm Fidel die Verteidigung von Las Vegas. Che sollte in Crescencio Perez' Kommando Ordnung schaffen, da sich dort einer der Offiziere wiederholt Übergriffe gegen seine Untergebenen erlaubt hatte. Bevor er sich auf den Weg machte, verurteilte Che in einem Schnellverfahren einen anderen, des Mordes beschuldigten Rebel­ lenoffizier zum Tode. Seinen dreißigsten Geburtstag verbrachte er dann mit der Gerichtsverhandlung gegen Crescencios Offizier, dem er sein Kommando entzog. Als Che an die Front zurückkehrte, fand er auch hier Chaos vor. Die Truppen der Armee rückten auf allen Seiten vor. Fidel war nach Mompie weitergezogen. Las Vegas war überrannt worden. Und nun war auch Minas de! Frio in Gefahr. Che verbrachte mehrere Tage damit, Fidels Front mit seinen eigenen Leuten zu verstärken und neue Verteidigungslinien aufzubauen. Dabei mußte er einem weiteren Offizier die Befehlsgewalt entziehen und andere wegen Befehlsverweigerung entwaffnen. Am 26. Juni traf er in Mompie erneut mit Fidel zusammen, der ihn anwies, eine Weile bei ihm zu bleiben. Die Lage sah düster aus, überall waren die Guerilleros auf dem Rückzug. Fidel hatte Cami­ lo und Almeida befohlen, ihnen mit ihren Kolonnen in der Sierra Maestra zur Hilfe zu kommen, doch in den Reihen der Rebellen machte sich allmählich eine defätistische Haltung breit. 275

»In der Nacht gab es drei Fluchtversuche«, vermerkte Che am folgenden Tag, » ... Rosobal, der wegen Verrats zum Tode verurteilt worden war, Pedro Guerra aus der Schwadron Soris und zwei Ge­ fangene aus der Armee. Pedro Guerra wurde gefaßt; er hatte für die Flucht einen Revolver gestohlen. Er wurde sofort hingerichtet.« Ende Juni konnten die Guerilleros ihren ersten klaren Sieg ver­ buchen. Sie hatten eine Sanchez Mosquera unterstellte Kompanie zurückgedrängt und dabei zweiundzwanzig Soldaten gefangenge­ nommen und viele Waffen erbeutet. Doch die Armee war auf dem Vormarsch. Die zweite Phase der Offensive hatte begonnen. Am Morgen des 3. Juli eilte Che nach Altos de Merino, um ei­ nen Angriff der Regierungstruppen abzuwehren. »Als ich eintraf, war die Vorhut bereits im Anmarsch. Es kam zu einem kleinen Ge­ fecht, bei dem wir uns rasch zurückzogen. Unsere Stellung war mi­ serabel, und sie kreisten uns ein, doch wir leisteten kaum Wider­ stand. Mich überkam ein mir völlig neues Gefühl: Ich wollte überleben. Das muß ich bei der nächsten Gelegenheit korrigieren.« Es gibt sicher nicht viele Menschen, die in einer solchen Situati­ on zu einer derart selbstkritischen Haltung fähig sind. Doch dies war die Lebenshaltung Ernesto Guevaras in seiner neuen Identität als Che. Und damit unterschied er sich deutlich von der überwie­ genden Mehrheit seiner Kameraden, die auch im Kampf noch zu überleben hofften. Und bei den meisten Schwierigkeiten, mit de­ nen sich Che tagtäglich konfrontiert sah, kam dieser fundamenta­ le Unterschied zwischen ihm und seinen Männern zum Ausdruck. Nervosität, mangelnder Kampfgeist, Desertion, Kämpfer, die sich nicht auf dem vorgesehenen Posten befanden - diese in Ches Ta­ gebuch immer wiederkehrenden Klagen liefen im Grunde nur auf eines hinaus: Die Rebellen wollten überleben.

VII Mitten in der Offensive erreichte Che ein Brief von seiner Mutter aus Buenos Aires. Er hatte sie am Vorabend der Kämpfe über die neue Funkverbindung von der Sierra Maestra aus angerufen, und nun gratulierte sie ihm zu seinem dreißigsten Geburtstag. »Liebe( Tete«, schrieb sie, »ich war so glücklich, nach so langer Zeit Deine Stimme zu hören. Ich habe sie gar nicht erkannt - Du schienst ein anderer zu sein. Vielleicht war die Verbindung schlecht, oder Du

hast Dich verändert. Erst als Du >alte Dame< zu mir sagtest, hörte es sich nach der Stimme von damals an. Was für wundervolle Neu­ igkeiten Du mir mitgeteilt hast! Und wie schade, daß die Verbin­ dung abbrach, bevor ich Dir von hier berichten konnte.« Man fragt sich, wie Che wohl auf diesen liebevollen Brief rea­ giert haben mag. Ob er diese Zeilen mit emotionaler Distanz las oder ob ihn für einen Augenblick die Sehnsucht nach einem ganz normalen Leben überkam, nach seinen Brüdern und Schwestern, die fern von ihm heranwuchsen, heirateten und Kinder bekamen, und nach seinen Eltern, die allmählich älter wurden. Was war mit seiner eigenen Familie, seiner Frau und seiner Tochter? Nicht nur Tetes Stimme hatte sich verändert. Sein Engagement für die Revolution ging mit der bewußten Entscheidung einher, sich von seinem »äußeren Leben« loszulösen. Er schrieb Hilda und seinen Eltern nur selten, obwohl er die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Ende April teilte ihm Fidel mit, daß jemand - wahrschein­ lich Hilda - versucht hatte, ihn von Peru aus über Funk zu errei­ chen. Doch offenbar hat er sie nicht zurückgerufen, denn in ihren Memoiren erwähnt sie nichts dergleichen. Auffallend ist auch, daß sich in Ches Tagebucheintragungen aus dieser Zeit praktisch kei­ ne Äußerungen zu persönlichen Dingen und Gefühlen finden. Dies erscheint um so verblüffender, wenn man bedenkt, wie sehr Ernesto sich nur wenige Jahre zuvor, in seiner Boheme-Zeit, noch mit sich selbst beschäftigt hatte.

VIII Bei ihren bombastischen Plänen, die Rebellen einzukreisen, scheint die kubanische Armee die topographischen Bedingungen des Kampfgeländes nicht ausreichend berücksichtigt zu haben. Im Dickicht des Regenwaldes und in den tiefen Schluchten blieben die angreifenden Armee-Einheiten häufig stecken oder wurden abge­ schnitten. Die Guerilleros wichen- wenn nötig- zurück, um dann einzelne Einheiten ihrerseits einzukreisen, so daß es bald den An­ schein hatte, als wären die Rebellen selbst in der Offensive. Che und Fidel beschlossen, ihre Einheiten wieder zu teilen, um ihren Vorteil besser nutzen zu können. Fidel brach auf, um die Ar­ meetruppen in Jigüe anzugreifen. Che blieb zurück, um Mompie zu verteidigen und den Widerstand in Minas de! Frio zu steuern.

Als Che am 11. Juli in Mompie eintraf, flog die Luftwaffe einen er­ barmungslosen Angriff, bei dem sie Napalmbomben abwarf. Dann traf eine beunruhigende Meldung ein: Fidels Bruder Raul, der die Rebellen in der Sierra Cristal anführte, hatte neunundvierzig Nordamerikaner als Geiseln genommen. Darauf hatte Raul, wie Che schreibt, ein Manifest verfaßt, mit dem er an die Weltöffent­ lichkeit appellierte. »Es war zu drastisch formuliert, und in Ver­ bindung mit der Gefangennahme von neunundvierzig Amerika­ nern erweckte es den Eindruck eines gefährlichen >ExtremismusBeto, du darfst nicht sterben.< Sie versorgten ihn sofort. Aber der comandante sagte: >Zoila, er ist tot.Wenn du das mit Ab­ sicht gemacht hast, um unseren Angriff zu sabotieren, dann wirst du dafür teuer bezahlen. Pack deine Fuhre Schlampen und ver­ schwinde - sofort!Nun seid ihr also hier. Ihr habt euch bereit erklärt mitzumachen. Nun müssen wir uns vorbereiten, doch betrachtet euch ab sofort als tot. Der Tod ist bei dieser Sache das einzige, was gewiß ist. Einige von euch wer­ den vielleicht überleben, doch ihr alle solltet die Zeit, die euch zum Leben bleibt, als geborgt betrachten.«
Ihr geht. Ich möchte euch hier raushaben.«< Sie mußten die konspirative Wohnung so herrichten, wie sie sie vorgefunden hatten, und alle Spuren beseitigen. Federico Mendez wurde zu einem Funkerkurs geschickt, und Bustos nahm an einer einwöchigen Ausbildung teil, bei dem er die Kunst des Verschlüs­ selns von Nachrichten erlernte. »Es war wie bei James Bond«, er­ innert sich Bustos. »Nachdem wir die Codes benutzt hatten, ver­ brannten wir sämtliche Papiere.« Dann trafen Piii.eiros »Paßexperten« ein, und jeder erhielt eine andere Nationalität: Bustos' »Geburtsland« war nun Uruguay. Inzwischen wußten die Männer, daß sie ihre Ausbildung fort­ setzen mußten, bis der kubanische Nachrichtendienst für sie einen sicheren Operationsstützpunkt im Süden Boliviens an der Grenze zu Argentinien aufgebaut hatte. Weitere Einzelheiten waren ihnen nicht bekannt, nur, daß die Kubaner mit »bolivianischen Freun­ den« Vereinbarungen zur Unterstützung getroffen hatten. Außer­ dem wußten sie, daß sie sich Ejercito Guerrillero del Pueblo, EGP, (Guerillaarmee des Volkes) nennen würden. Jeder erhielt einen Decknamen: Bustos war ab jetzt »Laureano«, Masetti »Coman­ dante Segundo«. Der comandante primero war natürlich Che, der sie vorerst nur mit unsichtbarer Hand leiten würde. Die Operati­ on selbst hieß Operaci6n Sombra (Schatten). In Prag wurde die fünfköpfige Gruppe von Major Jorge »Papito« (Kleiner Papa) Serguera empfangen, den sie bei ihrer Ausbildung in Havanna bereits kennengelernt hatten und der nun von der ku­ banischen Botschaft in Prag aus agierte. Er fuhr sie zum etwa eine Autostunde von der Stadt entfernten Slapie-See, wo man in einem exklusiven Hotel Zimmer für sie gebucht hatte. Es war tiefster Winter, und deshalb waren sie die einzigen Gäste. Ein- oder zweimal besuchte sie Papito Serguera, ansonsten w;i­ ren die fünf zukünftigen Guerilleros auf sich gestellt. Als die Wo­ chen verstrichen, ohne daß etwas geschah, beschwerten sie sich bei Serguera in der Prager Botschaft. Doch es hieß, sie müßten Geduld 470

haben. Bis jetzt sei der Bauernhof in Bolivien, der ihr Stützpunkt werden sollte, noch nicht gekauft worden, und außerdem wären noch verschiedene andere Einzelheiten zu klären, bevor sie abrei­ sen konnten. Masetti und seine Leute verbrachten noch einen weiteren Mo­ nat von der Außenwelt isoliert am Slapie-See, bevor Serguera sie endlich nach Prag rief. Inzwischen war es Dezember, und die Tschechen zeigten sich zunehmend verärgert über den langen Aufenthalt der Kubaner. Masetti erklärte, er werde nach Algerien fliegen, um dafür zu sorgen, daß die Gruppe ihre Ausbildung dort fortsetzen könne; die algerischen Revolutionäre würden ihm gern diesen Gefallen tun, da sie in seiner Schuld standen. Im Juli war bei den Friedensverhandlungen mit de Gaulle das Ende der Kolonial­ herrschaft Frankreichs über Algerien besiegelt worden, und der Front de Liberation National stellte nun die Regierung des unab­ hängigen Algeriens. Ben Bella, der neue algerische Staatschef, war am Vorabend der Raketenkrise in Havanna gewesen, hatte sich mit Che und Fidel getroffen und vor seiner Abreise eine Erklärung un­ terzeichnet, in der sich beide Seiten brüderliche Solidarität im Gei­ ste der Revolution zusicherten. »Masetti flog nach Algier und kam zwei Tage später wieder zurück«, berichtete Bustos.» Er erklärte uns, Ben Bella und [Houa­ ri] Boumedienne [der algerische Verteidigungsminister] hätten ihn am Flughafen empfangen und sich bereit erklärt, uns zu hel­ fen . Wir reisten umgehend ab.« Um nach Algier zu gelangen, mußte die Gruppe allerdings mehrere Tage in Paris Zwischensta­ tion machen. Am Neujahrstag 1963 trafen sie in Paris ein und wohnten anschließend drei bis vier Tage in einem alten Hotel über dem Bahnhof Orsay. Da ihre Mission absolut geheim bleiben mußte, wurde Bustos die Verantwortung für die Sicherheit der Gruppe übertragen, und immer wenn strittige Fragen zu ihrem Verhalten auftauchten, hatte er das letzte Wort. Um keinen Verdacht zu er­ regen, bestimmte er, daß sie wie Touristen auftreten sollten. »Wir besuchten den Louvre«, erinnert er sich, »und wir gingen viel zu Fuß.« Am 4. Januar trafen sie mit dem Flugzeug in Algier, der weißen Stadt am Mittelmeer, ein. Die Algerier, die nun lernen mußten, ein Land zu regieren, anstatt gegen die Kolonialherren zu kämpfen, vollzogen gerade den gleichen »Säuberungsprozeß« wie das revo471

lutionäre Kuba vier Jahre zuvor, als es gegen chivatos und Kriegs­ verbrecher vorgegangen war. In einer wahren Hysterie durchfor­ steten Bewaffnete des FLN die Stadt nach Kollaborateuren und Profiteuren der Kolonialherrschaft, und die mißtrauischen arabi­ schen Bürger begegneten Europäern und sonstigen Ausländern mit offener Feindseligkeit. Da sie wußten, welchen Risiken Ches Guerillakämpfer in diesem Klima der Unsicherheit ausgesetzt wa­ ren, schickten die algerischen Revolutionsführer zwei Generäle und eine ganze Sicherheitsmannschaft zum Flughafen, um sie ab­ zuholen. Von dort wurden sie in eine abgeschottete Stadtrandvilla am Meer gebracht. Bewaffnete Sicherheitskräfte sorgten für ihren Schutz. Nach einiger Zeit mußten sie in eine Villa mit ummauertem Garten in Algier selbst umziehen, aber wegen der Gefahr, für Fran­ zosen gehalten zu werden, verließen sie das Haus nur selten. Da­ bei wurden sie stets von einer Eskorte bewaffneter Sicherheits­ kräfte begleiteL ln den nun folgenden Monaten übte sich das argentinische Team - unter den wachsamen Augen algerischer Revolutionsveteranen im Schießen, betrieb Gymnastik und erhielt Unterricht in den je­ weiligen Spezialgebieten. Die Algerier zeigten ihnen ihre ehemali­ gen Frontlinien, die früheren französischen Kampfstellungen und das raffinierte Höhlen- undTunnelsystem, in dem sie während des Krieges ihre Kämpfer versteckt und Waffen gelagert hatten. Bald traf auch Papito Serguera ein, der praktischerweise zum neuen ku­ banischen Botschafter ernannt worden war und als Verbindungs­ glied für die Kommunikation mit Che fungierte. Bustos, der seine Rolle als »Sicherheitsmann« beibehielt, war der einzige, der das konspirative Haus verlassen durfte, um in der Botschaft Nachrich­ ten abzuholen. Aber die Zeit verging, und Masetti, der aufTaten drängte, erhielt von Pepito Serguera auf seine unaufhörlichen Anfragen »merk­ würdige und widersprüchliche« Botschaften aus Havanna, die, wie er vermutete, von Che stammten. Deshalb flog »Furry« nach Ku­ ba, um sich an Ort und Stelle zu erkundigen, was los war. Er kehr­ te mit beunruhigenden Nachrichten zurück: Bei der gemeinsamen Durchsicht der Nachrichten, die die Gruppe erreicht hatten, waren Che einige aufgefallen, die nicht aus seiner Feder stammten. Da die gesamte Kommunikation über Barba Roja Pineiro, genannt »EI Colorado« (Der Rote), lief, vermuteten sie, daß es ein »Leck« in 472

seinem Sicherheitsapparat gab. Bustos und andere befürchteten je­ doch Schlimmeres - vielleicht handelte es sich sogar um eine ge­ zielte Sabotage der Pläne Ches. Aber das Ganze sollte ein Rätsel bleiben, das zumindest Bustos niemals lüften konnte.* Auch Ches Leibwächter Alberto Castellanos und Harry Villegas warteten in Kuba auf den Marschbefehl von ihrem comandante, aber viele Monate vergingen, ohne daß Che sich bei ihnen melde­ te. Castellanos hatte seine Verwaltungskurse abgeschlossen und war wieder in die Armee eingetreten, wo er eine militärische Aus­ bildung absolvierte. Als er Ende Februar 1963 zu einem Wochen­ endurlaub nach Havanna zurückkehrte, bestellte ihn sein jefe plötzlich zu sich. Der unbekümmerte Castellanos nahm an, daß ihn eine Strafpredigt erwartete. »Wenn Che einen zu sich beor­ derte, dann immer deshalb, weil er einem wegen irgendeiner Sa­ che die Ohren langziehen wollte.« Doch als Castellanos an diesem Tag Ches Büro betrat, warf ihm sein comandante einen bedeu­ tungsvollen Blick zu und fragte ihn, ob er sich noch erinnern kön­ ne. »Was«, erwiderte Castellanos, »heißt das, es geht los? Wann reisen wir ab?« Che aber meinte, er solle erst zuhören, was er ihm zu sagen habe. Dann fragte er ihn, ob er auch an seine Frau gedacht habe, und warnte ihn, die Sache nicht auf die leichte Schulter zu nehmen: »Diese Mission bedeutet entweder zwanzig Jahre Kampf, oder man kommt überhaupt nicht zurück.« Che ermahnte ihn, ernsthaft darüber nachzudenken, bevor er sich entscheide. Castellanos'stand da und überlegte einen Moment. »Wann fahre ich los?« fragte er dann erneut. »Okay«, meinte Che. »Aber verkleide dich nicht wie ein Indianer, du bist nämlich kei­ ner.« Konkreter wurde Che nicht; er deutete nur noch an, daß Castel­ lanos an seinem Bestimmungsort Leute treffen würde, die er per­ sönlich kannte. Dann fügte er noch hinzu: »Du wirst mit einer Gruppe von mir ausgesuchter Genossen auf mich warten; bis ich eintreffe, bist du der Chef.« Er werde Ende des Jahres zu ihnen stoßen.



Piiieiro, der auf einige der gegen ihn erhobenen Vorwürfe gar nicht erst einging, be­

stritt Bustos' Version der Ereignisse. Er wies darauf hin, jeder Schritt Masettis sei mit Havanna abgestimmt gewesen. »Wenn Masetti tatsächlich nach Algerien gefahren ist, dann nur mit Ches vorheriger Zustimmung. Und wenn dies nicht der Fall gewesen wä­ re, hätte Ben Bella um unsere Zustimmung gebeten.«

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IV Um dieselbe Zeit begann die junge Deutsch-Argentinierin Tamara Bunke in Piiieiros Abteilung mit ihrer Ausbildung in Theorie und Praxis der Spionage. Zuvor war sie, wie es in offiziellen kubani­ schen Biographien heißt, »monatelang einer Sicherheitsprüfung« unterzogen worden. »Sie kam auf uns zu und bat uns, sie für eine Mission in Erwä­ gung zu ziehen«, berichtete Piiieiros Stellvertreter Arie! und füg­ te hinzu, Kubas Geheimdienst hätte sie überprüft und ihre Ausbil­ dung genehmigt. Laut Ariel galt sie zu dieser Zeit als bevorzugte Kandidatin für zukünftige Spionageaktivitäten in Argentinien, »auf die man bei Bedarf zurückgreifen konnte«. Diese Erwähnung der Sicherheitsüberprüfung ist insofern be­ merkenswert, als »Tania«, wie sie später genannt wurde, stets von einem Geheimnis umgeben schien. Laut den Akten der DDR­ Staatssicherheit war Tamara Bunke eine »IM« (informelle Mitar­ beiterin), bevor sie 1961 nach Kuba ging. Damals wurde sie auch als Geheimagentin für die Auslandsspionage der HVA (Hauptab­ teilung VA) in Betracht gezogen und sollte zuerst in Argentinien und vielleicht auch in den USA eingesetzt werden. In Anbetracht des durchorganisierten Überwachungssystems innerhalb der DDR und Tamaras marxistisch-leninistischer Erzie­ hung erscheint es kaum verwunderlich, daß sie eine Informantin des ostdeutschen Geheimdienstes war. Dem kommunistischen Staat, an den sie zutiefst glaubte, Informationen über ihre Mitbür­ ger und Besucher aus dem Ausland weiterzugeben, war eine pa­ triotische Pflicht, der sie ohne Bedenken nachgekommen wäre und offensichtlich auch nachkam. Doch für wen arbeitete Tania während ihrer Zeit in Kuba: für die Kubaner, den ostdeutschen Ge­ heimdienst oder für beide? Tanias Freund Orlando Borrego, der noch heute in Kuba lebt, räumt ein, »daß sie für den deutschen Ge­ heimdienst gearbeitet haben könnte«, doch selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, so zweifle er nicht an ihrer Loyalität gegenüber. der kubanischen Revolution. Der altgediente KGB-Offizier Alex­ ander Alexejew, in einem völlig veränderten Moskau dreißig Jahre nach Tanias Tod auf diese Frage angesprochen, deutete an, sie sei eine ostdeutsche Agentin gewesen und zu den Kubanern geschickt worden, die sie für ihre eigenen Zwecke hätten einsetzen sollen. »Die Deutschen wollten helfen«, erklärte er. »Sie strebten freund474

schaftliche Beziehungen zum revolutionären Kuba an, wie wir sie bereits hatten . .. « Auf hartnäckige Fragen nach weiteren Einzelheiten gab Alexe­ jew zu verstehen, daß der ostdeutsche und der sowjetische Ge­ heimdienst eine Vereinbarung getroffen hätten, »sich die Arbeit zu teilen«, als es darum ging, Che bei seinen revolutionären Projek­ ten im Ausland zu unterstützen. »Die Deutschen hielten sich für die energischeren Revolutionäre. Sie waren jünger, und wir als die Älteren hatten mehr Erfahrung und Reife. Und wenn wir [der KGB] uns beteiligt hätten, wäre die Gefahr des Scheiterns größer gewesen. Unser Geheimdienst hatte eine riesige Bürokratie, und die Deutschen waren technisch [besser ausgerüstet], wobei der Fall Tania wohl von allergrößter Bedeutung war.« Wie Borrego, so war auch Alexejew der Meinung, daß Tanias Loyalität zweifellos »den Kubanern, Fidel und Che« galt. Er ver­ mutete, Che habe sie mit seinen Vorstellungen »für ihn einge­ nommen; er war ein ausgesprochen überzeugender und attraktiver Mann«. Wie aus den kürzlich zur Einsicht freigegebenen Stasi-Akten hervorgeht, war Tamara Bunke von einem Günther Männe) als In­ formantin angeworben worden. Männe] war Offizier des ostdeut­ schen Spionageabwehrdienstes und leitete die USA-Abteilung der HVA. Im Jahre 1961, einen Monat nach Tamaras Abreise nach Kuba, setzte sich Männe! nach Westberlin ab und lief kurz darauf zur CIA über. Er verriet die Namen einiger seiner Agenten im Westen, die daraufhin festgenommen wurden. Möglicherweise informier­ te er die CIA auch über die junge, begabte und engagierte kom­ munistische Agentin Tamara. Jedenfalls ging die HVA offenbar von dieser Annahme aus. Laut einem internen HVA-Bericht vom 23. Juli schickte man Tamara Bunke einen Brief und machte sie auf die Gefahr aufmerksam. Sie solle nicht versuchen, nach Süd- oder Nordamerika zu gehen, und sich in jedem Fall vorher mit der HVA beraten. Von da ab gab es dem Bericht zufolge keine weiteren Kontakte mehr zwischen dem ostdeutschen Geheimdienst und Tamara Bun­ ke. Doch es war bekannt, daß Tamara in Kuba mit einer Reihe von Regierungsstellen zusammenarbeitete und ständig darauf dräng­ te, sich bei Besuchen von DDR-Delegationen als Übersetzerin zu betätigen. Abschließend heißt es in dem Bericht, sie habe offenbar 475

ihren Entschluß aufgegeben, nach Argentinien zu gehen, und wol­ le anscheinend in Kuba bleiben und die kubanische Staatsbürger­ schaft annehmen. Sie unterhalte auch enge Verbindungen zum kubanischen Geheimdienst. Die Stasi-Akten legen nahe, daß der ostdeutsche Spionageab­ wehrdienst eine Vereinbarung mit Tamara Bunke getroffen hatte, Tamara jedoch nach ihrer Ankunft in Kuba den Kontakt zu dem Geheimdienst der DDR abbrach. Allerdings werfen die Akten an­ dere Fragen auf. Hat Tamara ihre Führungsoffiziere beim kubani­ schen Geheimdienst über ihre vorherigen Verbindungen zum ost­ deutschen Geheimdienst und die Tatsache, daß Männe! einen Monat nach ihrer Ankunft in Kuba übergelaufen war, unterrich­ tet? Wenn ja, warum wollte Kuba sie dann in derselben Region Bolivien und Argentinien - operieren lassen, wo auch die HVA sie ursprünglich einsetzen wollte? Der kubanische Geheimdienst hät­ te davon ausgehen müssen, daß Tamaras Identität und ihre ge­ plante zukünftige Aufgabe als Spionin der CIA und ihren verbün­ deten Geheimdiensten bekannt waren. Barba Raja Piiieiro meint zu diesen Fragen: »Ich war direkt für Tamara zuständig und fragte sie, ob sie vom ostdeutschen Ge­ heimdienst rekrutiert worden sei. Sie sagte >neinWie Sie wissen, bin ich ein bißchen älter als Sieaber ich mag Sie, vor allem Ihr Aussehen gefällt mir< ... und ich gestand ihm meine Liebe, weil er ein sehr attraktiver jun­ ger Mann war ... ich kannte seine Schwächen aus den vielen Un­ terlagen, den Informationen, aber als ich mit ihm sprach, als wir miteinander zu tun hatten, machten wir Witze, lachten und rede­ ten über Dinge, die alles andere als ernst waren, und ich vergaß sei­ ne Schwächen ... ich fühlte mich von ihm angezogen, verstehen Sie? ... Er hatte sehr schöne Augen. Wunderbare Augen, ein so tie­ fer, so hochherziger, so ehrlicher Blick, daß man gar nichts anderes empfinden konnte ... und er sprach sehr gut, er war innerlich er­ regt, und so war auch seine Redeweise, schwungvoll, als ob er ei­ nen mit seinen Worten an sich drückte.« Dann verscheuchte Metuzow seine schwärmerischen Erinne­ rungen und meinte, während Che sprach, habe er erkannt, daß er es aufrichtig meinte. »[Er erklärte mir], entsprechend seiner ideo­ logischen und theoretischen Überzeugungen als Marxist stünde er uns näher als den Chinesen ... und er bat mich, dies nicht zu ver­ gessen, [meine Genossen] darüber aufzuklären, daß er ein aufrich­ tiger Freund der Sowjetunion und der Partei Lenins sei.« Dennoch hinterließ diese Unterhaltung einen zwiespältigen Eindruck bei Metuzow: »Äußerlich betrachtet, konnte man sagen, ja, Che Guevara war vom Maoismus infiziert, weil er an die mao­ istische Losung >Die Macht kommt aus den Gewehrläufen< glaub­ te. Und gewiß konnte man ihn als Trotzkisten bezeichnen, weil er nach Lateinamerika ging, um die revolutionäre Bewegung zu för­ dern ... dennoch glaube ich, dies waren äußerliche Merkmale, oberflächlich. Ganz tief innen aber war das, was ihm am meisten am Herzen lag: sein Bestreben, dem Menschen auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus zu helfen.« Das »Besondere « an Che, so Metuzow, sei sein persönliches En­ gagement für die Sache der Revolution gewesen. »Ihm war klar, daß sein Spitzname >Che< Ausdruck seiner besonderen Persönlich­ keit war. Ich hatte das Gefühl, er wußte, daß sein Porträt bereits im Pantheon der Geschichte hing, der Geschichte der nationalen Be­ freiungsbewegung. Und er war intelligent genug, dies ohne Hochmut als gegeben anzunehmen und ein normaler Mensch zu bleiben, der gemeinsam mit seinen Genossen nach Mitteln und Wegen suchte, in Kuba den Sozialismus aufzubauen und diesem historischen Porträt so mehr Gewicht und Dauer zu verleihen.«

Daß Che den »bewaffneten Kampf« unterstützte, mochte laut Metuzow einigen seiner Genossen im Zentralkomitee Kopfzerbre­ chen bereiten, nicht jedoch der Kremlführung oder Chruschtschow persönlich. »War die Sowjetunion an der Entwicklung der welt­ weiten revolutionären Bewegung interessiert? Ja. Was also war falsch daran, wenn Kuba sich beteiligte und seinen Beitrag zur Un­ terstützung leistete? Es ging doch alles in dasselbe Sparschwein.« Unterdessen bereitete sich Fidel auf einen weiteren Besuch in der Sowjetunion vor. Am 2. Januar 1964, am fünften Jahrestag der Revolution und am Vorabend seiner Reise, hielt er eine lange Re­ de an das kubanische Volk. Offenbar erwartete er sich viel von seiner Mission und plante bereits, die neutrale Haltung Kubas im chinesisch-sowjetischen Konflikt aufzugeben und sich offen zu Moskaus Außenpolitik zu bekennen. Mit großem Enthusiasmus sprach er von der Zukunft der kubanischen Wirtschaft und pries die Partnerschaft mit der Sowjetunion. Er wiederholte, Kuba werde die Politik der friedli­ chen Koexistenz mittragen, und gab erneut dem Wunsch Aus­ druck, mit allen Ländern in Frieden zu leben, auch mit den Verei­ nigten Staaten. Die Rede war eindeutig auch an die Adresse der US-Amerikaner gerichtet. Erst zwei Monate zuvor hatten er und Kennedy kurz vor einer Derente gestanden. Sie hatten hinter den Kulissen Botschaf­ ten ausgetauscht, um die Möglichkeiten für eine Normalisierung der Beziehungen zu sondieren. Doch dann wurde Kennedy in Dal­ las ermordet.* Fidel gab mit seiner Rede an die Nation Washing­ ton ein klares Signal, er hoffe, der neue Präsident Lyndon Johnson werde die abrupt beendete Initiative wieder aufgreifen. Fidel kehrte aus Moskau mit einer großzügigen Vereinbarung über die Lieferung von 24 Millionen Tonnen Zucker in sechs Jah­ ren sowie einem sowjetisch-kubanischen Kommunique zurück. Diesmal war er nicht auf halbem Wege stehengeblieben: Kuba und die Sowjetunion wiesen »Spaltung und Sektierertum« in der kom­ munistischen Weltbewegung zurück, Kuba unterstützte Moskaus •

Offenbar zählte Che bei fast jedem internationalen Verbrechen zu den Verdächtigen,

denn sein Name tauchte in einigen Berichten auf, die die Warren-Kommission bei ihren Untersuchungen des Mordes an John F. Kennedy zu den Akten nahm. Dazu gehörten auch die recht bizarren Berichte von J. Edgar Hoovers FBI-Agenten. In einem dieser Be­ richte wurde behauptet, Che Guevara und Jack Ruby, der Mörder von Lee Harvey Os­ wald, seien zusammen in Panama gesehen worden.

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Forderung nach Einheit und erklärte sich »bereit, alles Notwendi­ ge dazu beizutragen, um gutnachbarliche Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika auf der Grundlage der Prinzipi­ en der friedlichen Koexistenz herzustellen«. Nach Ansicht von Maurice Halperin, einem US-amerikanischen Politologen und Wirtschaftswissenschaftler, der zu dieser Zeit auf Ches Einladung in Kuba lehrte, war das von Fidel in Moskau un­ terzeichnete Dokument einzigartig. »Die sowjetische >Linie< ge­ genüber China wurde durch Fidels Unterschrift unter ein Doku­ ment, das den Charakter eines gemeinsamen Kommuniques hatte, enorm gestärkt .« Gleichzeitig »war die Botschaft an die Vereinig­ ten Staaten - und auch Lateinamerika - eindeutig: Castro bot Wa­ shington Verhandlungen über ein Abkommen an, und Chru­ schtschow billigte dies. Daraus ergab sich für Lateinamerika die unvermeidliche Schlußfolgerung, daß Castro bereit war, die la­ teinamerikanische Revolution zugunsten eines Abkommens auf­ zugeben.« Natürlich war dies, wie die meisten emphatisch proklamierten »Standpunkte« Fidels, eine Erklärung für die Öffentlichkeit, die in den folgenden Jahren mehrere Korrekturen erfuhr. Seine Versi­ cherung, zur »friedlichen Koexistenz« beizutragen, war im großen und ganzen eine Absichtserklärung, gedacht als sein Beitrag in den erhofften Verhandlungen mit Washington. Just zu diesem Zeit­ punkt war kubanisches Militär mit kubanischen Waffen bei einer Reihe von Konflikten in Lateinamerika und mindestens einem Konflikt in Afrika im Einsatz. Während Fidel seine Rede hielt, durchstreiften Masettis Leute die Wälder bei Orcin, Hector Bejars ELN versuchte, wieder nach Peru einzudringen, und erst zwei Mo­ nate zuvor hatten die venezolanischen Behörden eine Ladung mit dreihundert Tonnen Waffen beschlagnahmt, die Kuba an die dor­ tigen Guerillatruppen geschickt hatte. Der ehemalige Polizeichef des revolutionären Kuba, Efigenio Ameijeiras, unterstützte ge­ meinsam mit weiteren kubanischen Militärs Algerien in einem Grenzkrieg mit Marokko. Che war der Begriff der friedlichen Koexistenz verhaßt, für ihn war er gleichbedeutend mit Duldung des imperialistischen Sy­ stems. Er sprach dies vorerst nicht offen aus, aber es bestand kein Zweifel mehr, daß sich Ches und Fidels Wege allmählich trennten. Fidels Ziel war es, den wirtschaftlichen Wohlstand Kubas und sein eigenes politisches überleben zu sichern, und dafür war er bereit, 511

Kompromisse zu schließen. Che hingegen fühlte sich berufen, die sozialistische Revolution zu verbreiten. Und so war sein Abschied von Kuba nur noch eine Frage der Zeit. Die Gelegenheit dazu wür­ de ihm, so hoffte er, Jorge Ricardo Masetti geben.

X

Als der kubanische Guerillakämpfer Alberto Castellanos im Fe­ bruar in das »Kriegsgebiet« zurückkehrte, erfuhr er, daß Masetti beschlossen hatte, mit der EGP aktiv zu werden. Am 18. März, pünktlich zum zweiten Jahrestag des Militärputsches gegen Fron­ dizi, sollte die Guerillatruppe losschlagen. Doch über all die Monate in den Wäldern von Oran hatten Ma­ settis autoritärer Stil und seine Paranoia hinsichtlich potentieller Deserteure erschfeckende Züge angenommen. Er sah nur noch Feinde um sich und war emotional unberechenbar geworden. Ge­ rade noch in Hochstimmung, versank er im nächsten Augenblick in tiefste Depression, die tagelang anhalten konnte. Inzwischen war Pirincho mit einem Sonderauftrag unterwegs. Seit er seinen Kameraden hatte erschießen müssen, war er nicht mehr derselbe wie zuvor, aber es gelang ihm, seine Angst zu ver­ bergen und Masettis Vertrauen zu gewinnen. So konnte er seinen Kommandanten überreden, ihn nach Buenos Aires zurückkehren zu lassen. Pirincho sollte sich mit einem kubanischen Agenten tref­ fen, der mit einer Ladung Waffen in Uruguay eintreffen, und die Waffen auf der Jacht seiner Eltern über den Rio de la Plata bringen würde. Masetti brauchte die Waffen für seinen neuen Aktionsplan. Die CGT, die riesige, von Peronisten beherrschte argentinische Ge­ werkschaft, plante einen Generalstreik, da die Regierung Illia der organisierten Arbeiterschaft die kalte Schulter gezeigt hatte. Ma­ settis Idee war nun, die Trotzkisten unter Bengochea mit Waffen zu versorgen und eine Reihe von Überraschungsangriffen auf mic litärische Ziele im Grenzgebiet zwischen den beiden Provinzen Salta und Tucuman zu führen. Da diese Angriffe parallel zum Streik der CGT stattfinden sollten, konnte der EGP auf sich auf­ merksam machen und gleichzeitig zeigen, daß er hinter den ar­ gentinischen Arbeitern stand. Die Guerillakämpfer würden sich anschließend über die Anden zu einem neuen Stützpunkt etwa 512

zweihundert Kilometer weiter südlich zurückziehen; Masetti hat­ te bereits begonnen, entsprechende Rückzugsrouten durch die Berge zu erkunden. Das rasche Verschwinden der Guerillatruppe würde die Sicherheitskräfte in die Irre führen und den Eindruck erwecken, sie stelle eine viel größere Kampftruppe dar, als sie in Wirklichkeit war. Masetti wollte sich also der Taktik bedienen, die Fidel und Che in der ersten Zeit des Krieges in der Sierra bereits erfolgreich angewandt hatten. Tm Februar bat er Bustos, in der Stadt Kontakt mit Pirincho auf­ zunehmen und zu prüfen, wie weit die Vorbereitungen für den Waffentransfer gediehen waren. Doch Pirincho tauchte zu dem vereinbarten Treffen in Buenos Aires nicht auf. Auch zu der zwei­ ten Verabredung erschien er nicht. Schließlich erklärte er sich be­ reit, Bustos im Bahnhof Belgrano zu treffen. Doch er hatte, offen­ bar aus Angst, gegen ihn sei die »Höchststrafe« verhängt worden, Vorsichtsmaßnahmen ergriffen: Er hatte nicht nur einen öffentli­ chen Ort für das Treffen ausgewählt, sondern auch Freunde an al­ len Ausgängen postiert, die die beiden nicht aus den Augen ließen. »Pirincho sagte zu mir, er habe dem Treffen nur deshalb zuge­ stimmt, weil er mir - und nicht Masetti - erklären wollte, warum er nicht zurückgekommen sei. Er wüßte, ich würde ihn verstehen«, erinnert sich Bustos. »Dann erzählte er mir alles, von seinem Zu­ sammenbruch, daß er wegen des Mordes [an seinem Genossen] den Glauben verloren hätte, daß er sich sicher sei, die Sache [mit der Guerilla] sei Segundo über den Kopf gewachsen, daß er ihr aber trotzdem treu bleiben würde. >Ich möchte hier rauslch gehe nach Europa ... ich gebe dir mein Wort, daß ich niemandem etwas erzähle.«< Als Bustos zurückkehrte und von Pirinchos Desertion berichte­ te, war Masetti fassungslos. Er konnte nicht glauben, daß sein Schützling ihn im Stich gelassen hatte. Bustos mußte ihn mißver­ standen haben und erhielt den Auftrag, nach Buenos Aires zurück­ zukehren und Pirincho zurückzubringen. Aber es war bereits zu spät. Nicht nur, was Pirincho betraf, der wie versprochen nach Europa aufgebrochen war, sondern auch für den Ejercito Guerrillero del Pueblo. Wenige Tage nachdem Bustos erneut in die Stadt gefahren war, trafen fünf neue Freiwillige aus einer Zelle von Dissidenten der Kommunistischen Partei in Bue­ nos Aires ein. Zwei von ihnen waren Undercover-Agenten der ar­ gentinischen Geheimpolizei DIPA, die den EGP infiltrieren, seinen 513

Stützpunkt ausfindig machen und dann zurückkehren sollten. Zur gleichen Zeit entdeckte die gendarmeria ein paar Guerillakämpfer in einem kleinen Versorgungslager, wo der Nachschub aufbewahrt wurde, bevor man ihn zur Hauptgruppe in den Bergen brachte. Sie behaupteten, sie seien Jäger und suchten im Busch nach »wilden Truthähnen«. Niemand glaubte ihnen. Auch die beiden DIPA­ Agenten wurden gefangengenommen, gaben sich aber bald zu er­ kennen und berichteten, was sie in Erfahrung gebracht hatten. Daraufhin wurden weitere Patrouillen losgeschickt - die Zerschla­ gung des EPG hatte begonnen. Am 18. April war Ches Vorhut ausgelöscht. Hermes wurde von einer Patrouille aus dem Hinterhalt getötet. Die Guerilla spaltete sich auf. Ein Teil unter Masettis Führung versuchte, über die Ber­ ge zu entkommen, doch die Guerilleros irrten ohne Lebensmittel durch den dichten Nebel, der jegliche Sicht unmöglich machte. Ei­ nige stürzten über die Klippen in den Tod, andere verhungerten. Schon nach wenigen Tagen wurde der dezimierte Rest der Truppe gefangengenommen. Die Mitglieder des städtischen Untergrunds in Jujuy, Oran und Buenos Aires wurden inhaftiert. Bustos und die Leute aus dem Untergrund in C6rdoba tauchten unter und flohen nach Uruguay. Furry entkam unerkannt nach Kuba. Nur Masetti war spurlos verschwunden. Ende April befanden sich achtzehn Männer seiner Truppe im Gefängnis von Oran, auch Castellanos. Alle wahrten absolutes Stillschweigen. Sie bekannten sich zwar zu ihren revolutionären Zielen, verrieten aber nichts über ihre Verbindungen zu Kuba und konnten sogar die wahre Identität von Ches Leibwächter Alberto Castellanos geheimhalten. Doch die Verbindung zu Kuba wurde trotzdem rasch aufgedeckt. Aus bestimmten umgangssprachlichen Ausdrücken im Tagebuch des toten Hermes Pena konnte die argentinische Polizei schließen, daß der Tote Kubaner gewesen sein mußte. Die argentinischen Si­ cherheitskräfte fanden heraus, daß die beschlagnahmten belgi­ schen FAL-Maschinengewehre aus einer Ladung stammten, die Fabrique Nationale an Kuba verkauft hatte. Auch die Herkunft eic niger Dollarnoten, die bei den Guerillakämpfern entdeckt wurden, konnte bis nach Kuba zurückverfolgt werden. Und was die sowje­ tischen Waffen betraf, so war Kuba das einzige Land des Konti­ nents, aus dem sie stammen konnten. In der Presse wurde darüber spekuliert, ob Che Guevara die treibende Kraft hinter dem EGP gewesen sei. Nachdem bekannt-

wurde, daß Hermes Peii.a zu seinen Leibwächtern gehört hatte, war es ein leichtes, eine derartige Verbindung herzustellen. Und als sich schließlich herausstellte, daß der vermißte Comandante Segundo Jorge Ricardo Masetti war und Che ihn öffentlich als »Hel­ den der Revolution« würdigte, war die Frage endgültig geklärt. Doch weder Che noch sonst jemand, der in das argentinische Abenteuer verwickelt war, gab jemals mehr darüber preis. Die Ge­ schichte der »Guerilleros von Salta« blieb ein Rätsel, eine unbe­ deutende Episode, die bald von wichtigeren, dramatischeren Ereig­ nissen überschattet wurde. Nur eine Handvoll Leute wußte, welche Bedeutung dieses Unternehmen für Che gehabt hatte und daß Masettis Scheitern sein Leben und den Lauf der Geschichte verändern sollte. Masetti wurde nie gefunden. Was sein weiteres Schicksal betraf, so gab es laut seinen überlebenden Kameraden drei Möglichkeiten: Er beging Selbstmord, als er erkannte, daß er gescheitert war; er verhungerte; oder aber die Gendarmen fanden ihn, nahmen ihm die zwanzigtausend Dollar ab, die er bei sich hatte, und ermorde­ ten ihn, um ihren Raub zu vertuschen. Kurze Zeit später wurden die festgenommenen Guerilleros vor Gericht gestellt. Trotz ihrer guten Anwälte - darunter Ricardo Ro­ jo und Gustavo Roca - erhielten sie Gefängnisstrafen zwischen vier und vierzehn Jahren. Sie legten zwar Berufung ein, doch vor­ erst konnte man nichts für sie tun.* Che war entsetzt, als er von dem alptraumhaften Zusammen­ bruch des foco hörte. Er befand sich auf einer Europareise und hat­ te Ende März in Genf auf der Gründungsversammlung der UNC­ TAD, der UNO-Konferenz für Handel und Entwicklung, eine Rede gehalten. Danach traf er Gustavo Roca in Paris, der ihn über das Desaster informierte. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Algier und Prag kehrte Che am 18. April, dem Tag, an dem Her­ mes starb, nach Kuba zurück. Da Masetti auch nach Wochen nicht gefunden war, nahm Che an, daß er nicht mehr lebte - eine per-



Gustavo Roca war Marxist, das

enfant terrible einer namhaften konservativen Fami­

lie C6rdobas, Cousin von Ches Jugendliebe Chichina Ferreyra und seit seiner Jugend mit Che befreundet. In den folgenden Monaten und Jahren setzte Roca alles daran, »die Menschenrechtsverletzungen« und Unregelmäßigkeiten bei den Urteilen gegen die Guerilleros anzuprangern, aber seine wichtigste Funktion war die des persönlichen Ku­ riers zwischen Che, den Gefangenen und dem verbliebenen Guerillanetz in Argentini­ en.

sönliche Tragödie, aber auch ein großer Rückschlag für seine sorg­ fältig durchdachten Pläne, den bewaffneten Kampf in Argentinien zu beginnen. Nur wenige Leute erkannten, wie sehr sich Che nach seiner Hei­ mat sehnte. Die argentinische Journalistin Rosa Maria Oliver meinte, einen Eindruck von seinen Gefühlen bekommen zu haben, als sie im Februar 1963 ein Gespräch mit ihm führte. Während sie zusammen Matetee tranken und nostalgisch von ihrem Land schwärmten, schlug sich Che plötzlich aufs Knie und rief fast schon flehend: »Genug: Reden wir nicht mehr von Argentinien.« »Warum nicht, wenn Sie es doch so lieben?« fragte Oliver. »Eben deshalb ... « Kurz nach dem Bekanntwerden von Masettis Verschwinden suchte Alberto Granado Che in seinem Büro auf. Da Che nieder­ geschlagen wirkte, versuchte Granado ihn aufzumuntern: »Che, was ist los, du siehst aus wie ein toter Hund.« Che antwortete: »Pe­ tiso, ich sitze hier hinter einem Schreibtisch, verdammt, während meine Leute bei den Einsätzen umkommen, zu denen ich sie ge­ schickt habe.« Dann fragte er sich laut, warum Hermes, ein erfahrener Gueril­ lakämpfer, nicht seinen Anweisungen gefolgt war, ständig in Bewegung zu bleiben. Die Gruppe habe den Fehler begangen, zu lange an einem Ort zu verharren, so daß die argentinische Polizei sie finden konnte. Ständige Bewegung se� eine Grundregel des Guerillakampfes, und wenn schon nicht Masetti, so hätte zumin­ dest Hermes dies wissen müssen. Das Scheitern der Guerilleros von Salta bedeutete eine ent­ scheidende Wende in Ches Leben. Wieder einmal war es guten, aber unerfahrenen Männern nicht gelungen, seine T heorie des Guerillakrieges mit Erfolg auf die Praxis anzuwenden. Nun muß­ te er selbst beweisen, daß seine Ideen keine Hirngespinste waren. So wie in der kubanischen Revolution nur Fidel die verschiedenen revolutionären Kräfte um sich hatte scharen und zu einer schlag­ kräftigen Kampftruppe hatte vereinen können, hing auch der Er­ folg einer kontinentweiten Revolution von der physischen Präsenz eines anerkannten Führers ab, und der hieß nun einmal Che.

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Der lange Abschied

Im Sommer 1964 war Che entschlossen, Kuba zu verlassen und auf das Schlachtfeld der Revolution zurückzukehren. Die Frage aber war, wo? Wo würde er die geeigneten Bedingungen vorfin­ den? Von nun widmete sich Che dieser Frage mit großer Leiden­ schaft. In Kuba war er nicht mehr unentbehrlich. Der Revolution drohten keine akuten Gefahren. Obwohl die CIA immer noch zahlreiche konterrevolutionäre Aktivitäten im Land finanzierte und weiterhin U-2-Aufklärer über kubanischem Luftraum flogen, schien eine US-Invasion in absehbarer Zeit unwahrscheinlich- als Gegenleistung für den Abzug der sowjetischen Atomraketen hat­ te Kennedy versprochen, auf eine Invasion zu verzichten. Und sein Nachfolger Lyndon Johnson hatte alle Hände voll zu tun mit der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen im eigenen Land, der bevorstehenden Präsidentschaftswahl und dem eskalierenden Konflikt in Vietnam, wo amerikanische Truppen das marode süd­ vietnamesische Regime gegen den kommunistischen Norden un­ terstützten. Chruschtschow rühmte Kuba inzwischen als »Tochter« der UdSSR, und in Havanna sang auf den Straßen niemand mehr Ni­ kita mariquita. Sowjetische Hilfe floß großzügiger denn je auf die Insel, doch die wachsende Abhängigkeit Kubas von Moskau miß­ fiel Che, während Fidel, zumindest im Augenblick, weniger von Bedenken geplagt wurde - zumal ihm auch keine wirklichen Al­ ternativen offenstanden. Che war nach wie vor der Überzeugung, daß Kubas Unabhän­ gigkeit langfristig gesehen nicht durch die Unterstützung der Sowjets gesichert werden konnte, sondern nur durch eine erfolg­ reiche Revolution auf dem ganzen lateinamerikanischen Konti-

nent. Eine brüderliche Gemeinschaft revolutionärer lateinameri­ kanischer Staaten, so seine Auffassung, konnte durch die kollekti­ ve Ausschöpfung aller Ressourcen die traditionelle Abhängigkeit der Länder von anderen Mächten - auch von Moskau - verringern und eine neue, sozialistische Ära einläuten. Aber es gab auch noch andere Faktoren, die Che in seinem Ent­ schluß bestärkten, Kuba zu verlassen. Diese Faktoren hatten sich schon 1962 abgezeichnet, als sich der foco von Salta noch in der Planungsphase befand, doch nun, im Jahre 1964, traten sie immer deutlicher hervor: In Kuba entwickelte sich ein klaustrophobisches politisches Klima, und die Liste der Gegner Ches im In- und Aus­ land wuchs zusehends. Die großen kommunistischen Parteien Lateinamerikas waren erbost darüber, daß Che den bewaffneten Kampf in ihre Länder ex­ portierte. Die Salta-Episode hatte Victorio Codovilla, den altge­ dienten Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Argentiniens, in Rage versetzt, seine Partei hatte Masettis foco scharf verurteilt und betont, die daran beteiligten Kommunisten seien Radikale, die man aus der Partei ausgeschlossen habe. überflüssig zu sagen, daß die Kommunistische Partei Perus sowie Monje und seine bolivia­ nischen Genossen Codovillas Meinung teilten und Moskau ge­ genüber keinen Hehl daraus machten. Trotz Ches gegenteiligen Beteuerungen war man sich im Kreml nach wie vor darüber einig, daß er Maoist, ein gefährlicher Extre­ mist und Trotzkist sei. Den Chinesen war dies nicht verborgen ge­ blieben, und sie beobachteten Che aufmerksam. Während der UNO-Konferenz für Handel und Entwicklung in Genf folgten ihm chinesische Agenten auf Schritt und Tritt, überwachten die Ein­ gangshalle seines Hotels und stellten fest, wer mit dem Aufzug in sein Stockwerk fuhr oder von dort kam. Der Großteil der sowjetischen Führung hielt Ches Unschulds­ bekundungen für eine arglistige T äuschung. Und unter seinen Mitarbeitern in Kuba war bekannt, daß ihm die Selbstlosigkeit, mit der die Chinesen revolutionäre Solidarität demonstrierten, mehr imponierte. Orlando Borrego wies darauf hin, daß die einzigen chi­ nesischen Techniker in Kuba Mögen wir lernen, das, was wir in der Stunde der tödlichen Gefahr waren, auch in der Produktion zu sein; mögen wir lernen, Arbeiter für Vaterland oder Tod zu sein!«< Die Realität stimmte jedoch keineswegs mit Ches Philosophie überein. Das kommunistische Bewußtsein, das er persönlich erlangt hatte, war für viele Menschen immer noch ein schwer faßbarer, ab­ strakter und auch nicht wünschenswerter Daseinszustand, selbst für jene, die sich für Sozialisten hielten und freudig in seinen Aus­ ruf »Vaterland oder Tod« einstimmten. Che selbst mochte willens sein, materiellen Komfort und sogar das eigene Leben für die Sache zu opfern, doch die meisten Menschen teilten diese Bereitschaft nicht - und sie verspürten wahrscheinlich auch kaum das Bedürf­ nis, sich eine derartige Einstellung anzueignen. Und schließlich war die weltweite sozialistische Gemeinschaft, die er beschwor, in Wirk­ lichkeit von Zerwürfnissen und Spaltungen geprägt. Seit Fidel sich Moskau angenähert hatte, bestand zwar offiziell kein Anlaß mehr für Groll gegen die Säuberungsaktionen zur Be­ seitigung des Sektierertums, aber dieser Groll war immer noch vorhanden. Anfbal Escalante saß in seinem Moskauer Exil auf dem trockenen, doch einige seiner Genossen hatten nach wie vor Ein­ fluß auf Fidel. Erst im vergangenen März, als sich Che in Genf auf­ hielt, hatte ein grotesker Prozeß gegen Marcos Rodrfguez, ein ehe­ maliges Mitglied der PSP, stattgefunden. Er wurde von Faure Chom6n, der der Führungsspitze des Directorio Revolucionario angehört hatte, beschuldigt, nach dem Anschlag auf den Präsiden­ tenpalast im Jahre 1957 Genossen an Batistas Polizei verraten zu haben. Wegen Rodrfguez' Verbindungen zu wichtigen Altkommu­ nisten hatte es zuerst den Anschein, es handle sich um ein Verfah­ ren im Sinne der Säuberung. Doch dann intervenierte Fidel - of­ fenbar um zu verhindern, daß noch mehr schmutzige Wäsche gewaschen wurde. Bei einem neuen Prozeß wurde die Ehre der Kommunisten wiederhergestellt und Marcos Rodrfguez - der nun als fehlgeleiteter und reumütiger Einzeltäter dargestellt wurde von einem Erschießungskommando exekutiert. Aufgrund seiner Abwesenheit kam Che nicht in den Verdacht,

er habe irgend etwas mit diesen widerwärtigen Verfahren zu tun. Sein Abscheu gegenüber dem Sektierertum der Kommunistischen Partei war allgemein bekannt; mit der Ernennung von Jose Man­ resa, einem ehemaligen Feldwebel der Batista-Armee, zu seinem persönlichen Sekretär hatte er einen Präzedenzfall geschaffen, und in der Folge bot sein Industrieministerium Asyl für Opfer sowohl der dogmatischen Altkommunisten als auch der Säuberungsaktio­ nen Fidels. Zu ihnen gehörten Enrique Oltuski, sein alter Rivale in der Be­ wegung 26. Juli, der 1961 unter dem Druck der Kommunisten aus seinem Amt als Informationsminister entlassen worden war; Jor­ ge Masetti, den Che unter seine Fittiche nahm, nachdem er sich den Zorn der PSP-Fraktion bei Prensa Latina zugezogen hatte; und Alberto Mora, dessen Vater beim Anschlag des Directorio Revolu­ cionario auf den Präsidentenpalast umgekommen war. Als Fidel ihn Mitte 1964 als Außenhandelsminister entließ, ernannte ihn Che zum Berater im Industrieministerium, obwohl er zu den hef­ tigsten Kritikern seiner Wirtschaftspolitik gehörte. Ein weiterer Fall war der Dichter und Schriftsteller Heberto Padilla, ein alter Freund Alberto Moras, dessen Werke Che sehr bewunderte. Nach einem Gespräch, das Mora arrangiert hatte, meinte Che, Mora solle Padilla unbedingt eine Stelle im Außen­ handelsministerium geben, und so wurde Padilla Generaldirektor einer Abteilung, die für kulturelle Angelegenheiten zuständig war. Als Mora dann entlassen wurde und mit einem Stipendium poli­ tische Ökonomie in Frankreich studierte, gelang es auch Padilla, das Land zu verlassen, und zwar als Emissär des Ministeriums mit Wohnsitz in Prag. Bevor die beiden abreisten, trafen sie sich ein letztes Mal mit Che. Mora konnte seine Trauer nicht verbergen: »Che ging lang­ sam auf Alberto zu«, erinnert sich Padilla, »legte ihm die Hände auf die Schultern, schüttelte ihn und sah ihm in die Augen: >Ich fühle mich zerrissen, vierundzwanzig Stunden am Tag vollkom­ men zerrissen, und ich habe niemanden, mit dem ich darüber spre­ chen kann. Und selbst wenn, würde mir niemand glauben.«Sie stellt den kubanischen Standpunkt dar.«< In Anbetracht der jüngsten Äuße­ rung Fidels und seiner »wachsenden Verärgerung über die sowje­ tischen Methoden bei den Handelsabkommen« hielt Halperin dies für durchaus wahrscheinlich. Und so gelangte er schließlich zu der Ansicht, daß Fidel persönlich am Flughafen erschienen sei, weil er Ches Haltung billigte und dies ihm gegenüber zum Ausdruck brin­ gen wollte. Tatsächlich wurde Ches Rede in Algier später in Politi­ ca lnternacional, der offiziellen Vierteljahresschrift der Regierung, abgedruckt, womit jegliche Zweifel an Fidels eigener Position aus­ geräumt waren. Vieles deutet darauf hin, daß Che und Fidel zusammenarbeite­ ten und auch ihre Äußerungen in der Öffentlichkeit aufeinander abstimmten. In seiner Rede zum sechsten Jahrestag der Revolution am 2. Januar hatte Fidel - wenn auch indirekt- harte Kritik am so­ wjetischen Modell geübt und zum erstenmal vor dem kubanischen Volk von »Problemen« in der sozialistischen Völkergemeinschaft gesprochen. Die Menschen auf Kuba hätten ein Recht darauf, mit eigener Stimme zu sprechen und die Gedanken von Marx, Engels und Lenin entsprechend den eigenen Bedingungen zu interpretie­ ren . Aber sie müßten auch damit rechnen, selbst zurechtzukom­ men, falls die Hilfe, die sie gegenwärtig aus dem Ausland bekämen, plötzlich versiegte. Die Botschaft an Moskau war unzweideutig: Fi­ del wandte sich gegen jeglichen Versuch der Sowjets, ihr politisches Modell in Kuba durchzusetzen. Erst am 13. März, also zwei Tage vor Ches Rückkehr nach Ha­ vanna, hatte Fidel eine weitere Rede gehalten und China und der UdSSR indirekt vorgeworfen, sie würden in demagogischer Weise von der Unterstützung des »Befreiungskampfes der Menschen« sprechen, obwohl sie nichts unternahmen, um dem vietnamesi­ schen Volk angesichts des zunehmenden militärischen Engage­ ments der USA beizustehen. »Wir sind der Meinung, Vietnam

[sollte] alle Hilfe zuteil werden, die notwendig ist! Hilfe in Form von Waffen und Soldaten! Unsere Position ist, daß das sozialisti­ sche Lager jedes notwendige Risiko eingehen muß!« Doch wie immer war Che in Algier weitergegangen als Fidel und hatte seinen Gefühlen und Überzeugungen ohne Rücksicht auf die möglichen Folgen Ausdruck verliehen. Es war eine Kampfansage gewesen, und es gab kein Zurück mehr. Jetzt würde er persönlich demonstrieren, wie der »proletarische Internationalismus« funk­ tionierte, und die Führung übernehmen. Doch solche Äußerungen machten es für Fidel schwerer denn je, seinen »maoistischen« Freund gegenüber den Sowjets zu verteidigen. Die Folge war, daß Fidel Che »nahelegte«, Kuba sofort zu verlassen und nach Afrika zurückzukehren, um das kubanische Guerillakontingent anzu­ führen, das bereits für den Kampf im Kongo ausgebildet wurde. Ches Herz schlug zwar für Südamerika, aber dort waren die Be­ dingungen für den Guerillakampf noch nicht gegeben, während in Afrika alle Zeichen auf Revolution zu deuten schienen. Er war zum Aufbruch bereit. Laut Juan Carreterro (»Arie!«), einem Mitarbeiter des kubani­ schen Geheimdienstes, hatten er, sein Chef Piii.eiro und Fidel selbst Che »gedrängt«, die Mission zu übernehmen. Es sei ja nur für ein paar Jahre, und in der Zwischenzeit würden Piii.eiros Leute in La­ teinamerika die Voraussetzungen für einen Guerillakampf schaf­ fen. Aber laut Piii.eiro ließ sich Che leicht überreden. Von da an ging alles sehr schnell. Am 22. März hielt Che eine Rede im Industrieministerium, informierte seine Mitarbeiter über seine Afrikareise, erwähnte jedoch mit keinem Wort seinen bevor­ stehenden Abschied. Eine Woche später stattete er den guajiro- Ve­ teranen aus seiner alten Sierra-Kolonne, die auf der Versuchsfarm Ciro Redondo in Matanzas arbeiteten, einen Besuch ab und er­ klärte ihnen, er werde eine Zeitlang zum »Zuckerrohrschneiden« gehen. Wieder in Havanna, versammelte er seine engsten Genossen um sich und erzählte ihnen dasselbe.Nur sehr wenige Menschen wuß­ ten, daß Che sich darauf vorbereitete, Kuba für immer Lebewohl zu sagen, aber das war Absicht. In den verbleibenden fünfzehn Ta­ gen, die Che noch in Havanna weilte, zog er sich mehr und mehr zurück, mied jeden öffentlichen Auftritt und nahm Abschied von einer auserwählten kleinen Schar, von der er sicher sein konnte, daß sie sein Geheimnis wahrte. Das kubanische Volk hatte Che bei 549

seiner Ankunft auf dem Flughafen Rancho Boyeros jedenfalls zum letztenmal gesehen. Es war auch das letzte Mal, daß seine Kinder ihren Vater sahen, und der Jüngste würde sich überhaupt nicht an ihn erinnern kön­ nen. Auch diesmal war Che bei der Geburt seines Kindes nicht an­ wesend gewesen. Am 24. Februar, als er von Kairo nach Algier flog, hatte Aleida ihr letztes und viertes Kind aus der Verbindung mit Che zur Welt gebracht - einen Jungen, den sie Ernesto taufte. Aleida war außer sich. Sie bat Che zu bleiben, aber sein Ent­ schluß war endgültig. Er versprach ihr, sie könne nachkommen, so­ bald sich die Revolution in »einem fortgeschritteneren Stadium« befände. Kurz vor seiner Abreise fragte Che das Kindermädchen Sofia beim Mittagessen, was mit den Witwen jener Kubaner geschehen sei, die während der Revolution umgekommen waren. Hätten sie wieder geheiratet? Ja, erwiderte Sofia, viele von ihnen. Daraufhin wandte sich Che an Aleida, deutete auf seine Kaffeetasse und mein­ te: »Wenn das so ist, dann kannst du die Tasse Kaffee, die du mir gereicht hast, einem anderen reichen.« Sofia sollte diesen Augen­ blick nie vergessen. Sie begriff, daß Che für den Fall, daß er ster­ ben sollte, Aleida seinen Segen für eine Wiederheirat gab. Am 1. April bei Tagesanbruch verließ er das Haus, in dem er acht Jahre lang gewohnt hatte - allerdings nicht als Che Guevara, son­ dern als ein gesetzter, glattrasierter Mann mit Brille namens Ram6n Benftez.

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Die Geschichte eines Scheiterns

»Eines schönen Tages tauchte ich in Dar-es-Salaam auf«, schrieb Che. »Niemand wußte, wer ich war; nicht einmal der Botschafter [Pablo Ribalta], ein alter Waffengefährte ... erkannte mich bei meiner Ankunft.« Es war der 19. April. Nach einer Rundreise über Moskau und Kairo war Che, noch immer in seiner Verkleidung, in der Haupt­ stadt Tansanias eingetroffen. Papi Tamayo, sein Guerillamittels­ mann, und Victor Dreke, der schwarze kubanische Offizier, der zum offiziellen Befehlshaber der Brigade kubanischer lnternatio­ nalisten ernannt worden war, begleiteten ihn. Che war voller Erwartungen, als er erneut den Kontinent betrat, den er schon am Ende seiner zehnjährigen Weltreise hatte besu­ chen wollen: »Afrika um des Abenteuers willen, dann habe ich die ganze Welt in der Tasche«, hatte er viele Jahre zuvor seiner Mut­ ter geschrieben. Zwar hatte Che mittlerweile mehr von der Welt gesehen, als er sich in seinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte, jedoch immer nur in seiner Funktion als kubanischer Minister, die ihm enge Grenzen setzte. Jetzt hingegen begann ein neues Kapitel in Ches Leben, und er konnte wieder er selbst sein - wenn auch nicht ohne wehmütige Erinnerungen an das Leben, das nun hinter ihm lag, und an seine Angehörigen. Später heißt es in seinen »Pa­ sajes« aus dem Kongo: »Ich hatte nahezu elf Jahre Arbeit für die kubanische Revolution an der Seite Fidels hinter mir gelassen, ein glückliches Heim - so­ fern man das Haus eines Revolutionärs, der sich ganz seiner Arbeit verschrieben hat, so nennen kann - und eine Schar von Kindern, die kaum ahnten, wie sehr ich sie liebte. Ein Kreis hatte sich ge­ schlossen.« Ein Lebensabschnitt hatte begonnen, als Ernesto seiner Familie 551

und seiner Heimat Argentinien den Rücken kehrte, um Revolu­ tionär zu werden, und war zu Ende gegangen, als er Hilda und sei­ ne gerade erst geborene Tochter verließ und »Che« wurde. Mit Kuba aber ließ er weit mehr zurück - seine Frau Aleida, ihre ge­ meinsamen Kinder, die kubanische Staatsbürgerschaft, seinen Rang als comandante und seinen Ministerposten, ganz zu schwei­ gen von Freunden und Genossen, mit denen er ein Jahrzehnt lang ein intensives Leben geteilt hatte.

II

Bis zur Ankunft der kubanischen Brigade, die in kleineren Grup­ pen auf verschiedenen Wegen ins Land geschleust wurde, brach­ te Ribalta Che und seine beiden Genossen auf einem kleinen Bauernhof unter, den er am Stadtrand von Dar-es-Salaam gemie­ tet hatte. Mit Hilfe eines Swahili-Wörterbuchs bestimmte Che die neuen Namen für sich selbst und seine Begleiter: »Moja« (Eins) für Dreke, »Mbili« (Zwei) für Papi und » Tato« (Drei) für sich. Da Laurent Kabila und die anderen Rebellenführer sich wider Erwarten nicht in der Stadt aufhielten - sie waren zu einem Gip­ feltreffen von Revolutionsführern nach Kairo gereist -, nahmen die drei Kubaner Kontakt mit Godefroi Chamaleso auf, einem jun­ gen kongolesischen Politiker der mittleren Ebene in Dar-es­ Salaam. Sie teilten ihm aber lediglich mit, daß sie die Vorhut der versprochenen Kubaner seien. Daß zwei von ihnen Weiße wa­ ren, begründeten sie mit dem Hinweis auf Tatos und Mbilis um­ fassende Erfahrung im Guerillakampf; überdies sei Tato Arzt und verfüge über Französischkenntnisse. »Kein Kongolese wußte von meinem Entschluß, hier zu kämp­ fen«, schreibt Che später. »Bei meinem ersten Gespräch mit Kabi­ la konnte ich ihm keinen reinen Wein einschenken, weil damals noch nichts entschieden war. Und nachdem der Plan [von Fidel] ge­ billigt worden war, wäre es gefährlich gewesen, wenn mein Vorha­ ben vor meiner Ankunft bekanntgeworden wäre; schließlich muß­ te ich durch viele feindliche Länder reisen . Daher beschloß ich, die Afrikaner vor vollendete Tatsachen zu stellen und mein weiteres Verhalten von ihrer Reaktion ... abhängig zu machen. Mir war durchaus bewußt, daß meine Lage nicht gerade angenehm sein 552

würde, wenn diese Reaktion negativ ausfiel, denn zurück konnte ich ja nicht. Doch ich rechnete damit, daß sie sich schwertun wür­ den, mir eine Abfuhr zu erteilen. [EigentlichJ erpreßte ich sie durch meine physische Gegenwart.« Der Grund, warum Che nicht nach Kuba zurückkehren konnte, war nicht etwa ein Zerwürfnis zwischen ihm und Fidel. Vielmehr hatte Che selbst eine unwiderrufliche Entscheidung getroffen. Er hatte immer in dem Ruf gestanden, sich gewissenhaft an die eige­ nen Worte zu halten, und daran sollte sich auch jetzt nichts ändern. Schließlich hatte er denselben Schwur geleistet, den er auch Ma­ setti und seiner Gruppe vor ihrer Abreise nach Argentinien abver­ langt hatte. Er hatte sie aufgefordert, sich ab sofort als tot zu be­ trachten, und falls sie überlebten - was bei den meisten von ihnen eher fraglich war-, die nächsten zehn bis zwanzig Jahre ihres Le­ bens im Kampf zu verbringen. Che hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen. Dies geht auch aus dem Brief an Fidel hervor, den sein jefe im geeigneten Augen­ blick veröffentlichen sollte. Es war ein Resümee ihres gemeinsa­ men Lebens, ein Abschiedsbrief, ein Dokument, in dem er die ku­ banische Regierung jeder Verantwortung für seine zukünftigen Handlungen enthob, und gleichzeitig sein Testament: »Fidel, in diesem Augenblick erinnere ich mich an viele Dinge: an un­ ser Treffen in Maria Antonias Haus, an Deinen Vorschlag, mit Dir zu kommen, an alle Spannungen, die mit den Vorberei­ tungen für den Aufbruch verbunden waren. Eines Tages fragten sie uns, wer im Falle unseres Todes be­ nachrichtigt werden sollte, und uns berührte tief, daß unser Tod eine reale Möglichkeit war. Später erkannten wir, daß es wahr ist: In einer Revolution siegt oder stirbt man (wenn es eine richtige Revolution ist) ... Heute ist alles weniger dramatisch, weil wir reifer sind. Aber die Tatsache wiederholt sich. Ich fühle, daß ich einen Teil mei­ ner Pflicht erfüllt habe, der mich an die kubanische Regierung und ihr Land band. Und so sage ich Dir, den Genossen und Freunden, Deinem Volk, das stets das meine sein wird, Euch allen Lebewohl. Ich verzichte hiermit formell auf meine Positionen in der Parteiführung, auf meine Stelle als Minister, auf meinen 553

Rang als Kommandant und meine kubanische Staatsbürger­ schaft. Kein Gesetz bindet mich mehr an Kuba ... Wenn ich der Jahre hier gedenke, meine ich, daß ich mit genü­ gend Ehrenhaftigkeit und Hingabe gearbeitet habe, um den Triumph der Revolution dauerhaft zu machen. Mein einziger Fehler war, daß ich Dir von den ersten Momenten in der Sierra Maestra an nicht noch mehr vertraut und daß ich Deine Qua­ litäten als Führer und Revolutionär nicht schnell genug ver­ standen habe.* Ich habe großartige Tage erlebt, und ich fühlte - an Deiner Seite - den Stolz, gerade in den großen, wenn auch traurigen Tagen der karibischen Krise zu diesem Volk zu gehören. Sel­ ten ist ein Staatsmann größer gewesen als Du in jener Zeit ... Andere V ölker der Welt verlangen nach meinen bescheidenen Bemühungen. Ich kann das tun, was Dir verwehrt ist, weil Du als Führer der Revolution in Kuba Verantwortung trägst. So ist denn die Zeit gekommen, da wir uns trennen müssen. Ihr solltet aber wissen, daß ich es mit Gefühlen tue, in de­ nen Freude und Sorge sich mischen: Ich lasse hier meine reinsten Hoffnungen als Erbauer einer Gesellschaft zurück, und ich verlasse die Menschen, die ich am meisten liebe. Und ich lasse hier ein Volk zurück, das mich als Sohn aufgenom­ men hat. Das schmerzt mich tief. Ich nehme zu den neuen Fronten den Glauben mit, den Du mich lehrtest, den revolu­ tionären Geist meines Volkes, das Gefühl, daß ich die heilig­ ste aller Pflichten erfülle: gegen den Imperialismus zu kämp­ fen, wo immer es sein mag. Und das stillt den tiefsten Schmerz. Ich sage noch einmal ausdrücklich, daß ich Kuba von jeder Verantwortung freispreche außer von der, die sich aus seinem Beispiel ergibt. Wenn meine letzte Stunde mich anderswo trifft, soll mein letzter Gedanke diesem Volk und besonders Dir gelten ... Ich trauere nicht, daß ich meine Kinder und mei­ ne Frau ohne materielle Güter zurücklasse. Ich bin glücklich, daß es so ist. Ich fordere nichts für sie, da ich weiß, daß der Staat genug für ihr Leben und für ihre Erziehung bereitstel­ len wird „.

Che bezieht sich hier offenbar auf die Zeit nach dem Miami-Pakt, als er vorüber­ gehend das Vertrauen in Fidel verlor. •

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Hasta la victoria siernpre! Patria o rnuerte! Ich umarme Dich mit meiner ganzen revolutionären Inbrunst. Che. Che hatte auch einen Brief für seine Eltern hinterlassen: Liebe viejos, wieder einmal fühle ich unter meinen Fersen die Rippen Rosinantes. Ich kehre auf den Weg zurück, meinen Schild un­ ter dem Arm ... Im wesentlichen hat sich nichts geändert, außer daß ich viel bewußter bin, daß mein Marxismus tiefer verwurzelt und reiner ist. Ich glaube an den bewaffneten Kampf als einzige Lösung für die Völker, die um ihre Freiheit kämpfen, und ich bin konsequent in meinen Überzeugungen. Viele werden mich einen Abenteurer nennen, und ich bin auch einer; nur von einem anderen Typ, einer von denen, die ihre Haut hinhalten, um ihre Wahrheit zu beweisen. Mag sein, daß dies mein letzter Brief ist. Nicht daß ich mir das wünsche, aber es erscheint als logische Konsequenz. Wenn es so ist, umarme ich Euch ein letztes Mal. Ich habe Euch immer sehr geliebt, nur habe ich nicht gewußt, wie ich meine Liebe zeigen sollte. Ich bin äußerst kompro­ mißlos in meinen Handlungen, und ich glaube, daß Ihr mich manchmal nicht verstanden habt. Aber es war auch nicht leicht, mich zu verstehen ... Nun wird der starke Wille, den ich mit dem Vergnügen eines Künstlers geschliffen habe, mei­ ne schwachen Beine und meine müden Lungen weitertragen. Ich werde es schaffen. Denkt bisweilen an diesen kleinen condottiere des zwanzig­ sten Jahrhunderts ... Eine große Umarmung von einem ver­ lorenen, in Euren Augen so widerspenstigen Sohn. Ernesto. Für Aleida hinterließ er ein Tonband, auf das er seine liebsten Lie­ besgedichte gesprochen hatte, darunter auch mehrere von Neruda. Und in einem Brief an seine fünf Kinder, der ihnen erst nach sei­ nem Tod vorgelesen werden sollte, schrieb er: Solltet Ihr einmal diesen Brieflesen müssen, dann deshalb, weil ich nicht mehr unter Euch bin. Ihr werdet Euch kaum noch an mich erinnern, und die Kleinen werden sich gar nicht erinnern. 555

Euer Vater war ein Mann, der so handelte, wie er dachte, und gewiß einer, der seinen Überzeugungen treu geblieben ist. Werdet gute Revolutionäre. Lernt viel, um die Technik zu be­ herrschen, die es erlaubt, Natur zu beherrschen . Denkt immer daran, daß die Revolution das ist, was zählt, und daß jeder von uns allein nichts wert ist. Seid immer fähig, bis ins tiefste jede Ungerechtigkeit zu emp­ finden, die irgendwo auf der Welt irgend jemandem angetan wird. Das ist die schönste Eigenschaft eines Revolutionärs. Auf immer, Kinderchen. Ich hoffe noch, Euch wiederzusehen. Einen dicken Kuß und eine Umarmung von Papa" Der Kontakt zu Hilda madre war in den letzten Jahren eher förmli­ cher Natur gewesen, meist hatte Che nur seine Tochter besucht. Im November 1964, am Vorabend seiner Reise zur Vollversammlung der UNO, hatte Hilda zum letztenmal p·ersönlich mit ihm gespro­ chen. Damals war er gekommen, um sich von ihr und Hildita zu ver­ abschieden. Als Hilda ihm einen Brief von seinem Vater zeigte, in dem es hieß, er wolle bald nach Havanna kommen, schien Che über­ rascht und betroffen. Hilda zufolge platzte er heraus:» Warum ist er nicht eher gekommen ...! Wie schade! Jetzt bleibt keine Zeit mehr.« Erst später begriff sie, daß Che zu diesem Zeitpunkt bereits da­ ran dachte, nach Afrika zu gehen. Als er Monate danach aus Algier zurückkehrte, war auch Hildita am Flughafen, um ihn zu be­ grüßen. Che brachte sie nach Hause, fuhr aber gleich mit Fidel nach Havanna weiter. Für ein Gespräch mit Hilda blieb keine Zeit, aber seiner Tochter hatte er versprochen, er werde später zurückkom­ men. »Zwei oder drei Tage danach rief er an und sagte, er wolle mit mir reden«, schreibt Hilda, »aber in letzter Minute rief er mich noch mal an und sagte, er müsse aufs Land fahren, um Zuckerrohr zu schneiden. Wenn er von dem freiwilligen Arbeitseinsatz zurück wäre, würde er mich besuchen.« Hilda und Hildita sahen ihn nie mehr wieder."" •

••

Weitere Ausführungen siehe Anhang unter Ergänzungen. Che hatte guten Grund, Hilda nichts von seinen Geheimplänen zu verraten. Laut

einem seiner engsten Freunde, den er eingeweiht hatte, war Hilda zu einer Art Sicher­ heitsrisiko geworden, da sie dazu neigte, für j eden lateinamerikanischen Guerillero, der in Havanna auftauchte, die »gute Fee« zu spielen. Einige von diesen Freiheitskämpfern waren echt, andere Möchtegern-Guerilleros, und mindestens einer - ein Mexikaner -

Vorerst blieben Ches Abschiedsbriefe geheim. Doch abgesehen von seiner Rede in Algier - seinem letzten Auftritt vor der Weltöf­ fentlichkeit - hinterließ er ein letztes Manifest, quasi ein Ver­ mächtnis. Es war ein langer Aufsatz, den er während seiner drei­ monatigen Reise durch Afrika geschrieben und in Form eines Briefes an den Herausgeber der uruguayischen Wochenzeitung Marcha geschickt hatte. Socialismo y EI Hombre Nuevo en Cuba (Mensch und Sozialismus auf Kuba) war im März erschienen und hatte bereits vor Ches Verschwinden in linken Kreisen auf dem ganzen Kontinent für Wirbel gesorgt. In Kuba wurde der Aufsatz am 11. April in Verde Olivo veröffentlicht, als Che sich auf dem Rückweg nach Tansania befand. »Mensch und Sozialismus auf Kuba« ist eine Zusammenfas­ sung der Lehren Ches und zugleich ein äußerst aufschlußreiches Selbstporträt. Er betont darin das Recht Kubas, die »Vorreiterrol­ le« bei der Revolution in Lateinamerika zu spielen, und analysjert scharfsichtig die Unterwerfung der sozialistischen Bruderländer unter die sowjetischen Dogmen. In seiner Kritik am sowjetischen Modell betont er noch einmal, daß den moralischen gegenüber den materiellen Anreizen Vorrang eingeräumt werden müsse. Che leugnet, daß beim Aufbau des Sozialismus das Individuum geopfert werde. Vielmehr sei das Individuum der grundlegende Faktor der Revolution: Der kubanische Aufstand sei ohne jene In­ dividuen nicht denkbar gewesen, die im Kampf ihr Leben aufs Spiel setzten. Doch im Sturm dieses Kampfes sei eine neue Vor­ stellung vom einzelnen entstanden - die »heroische Phase« sei er­ reicht worden, als diese Individuen um die Aufgaben »wetteifer­ ten, die die größte Verantwortung und die größten Gefahren mit sich brachten. Und das tat man oft, ohne eine andere Belohnung zu erwarten als die innere, die aus der Befriedigung über die erfüllte Pflicht erwächst ... In der Haltung unserer Kämpfer konnten wir bereits den zukünftigen Menschen erahnen.« Beim Lesen dieser Zeilen kann man sich des Eindrucks nicht er­ wehren, daß Che hier seine persönliche Wahrheit darlegt und vor allem seine eigene Wandlung zum Revolutionär schildert. Dies war in der Tat die Quintessenz seiner Philosophie: Als er die Über­ zeugung gewann, sein früheres Selbst, das Individuum in sich, wurde später festgenommen

und vom kubanischen Sicherheitsdienst als CIA-Agent

enttarnt.

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überwunden zu haben, erreichte er ein Stadium, in dem er sich be­ wußt für die Gesellschaft und ihre Ideale opfern konnte. Und wenn er dies konnte, konnten andere es auch. Am Ende schreibt Che: Es soll ganz offen gesagt werden: In einer wirklichen Revolu­ tion, für die man alles· gibt und von der man keine materielle Entlohnung erwartet, ist die Aufgabe des Revolutionärs beängstigend und großartig zugleich. Selbst wenn ich lächerlich erscheinen sollte, muß ich sagen, daß der wahre Revolutionär von einem starken Gefühl der Liebe geleitet wird. Es ist fast unmöglich, sich ihn ohne diese Eigenschaft vorzustellen. Vielleicht liegt hier das große Dra­ ma des führenden Mannes: Er muß mit einem leidenschaftli­ chen Temperament eine kühle Intelligenz verbinden. Und er muß schmerzhafte Entscheidungen fällen, ohne mit einer Wimper zu zucken. Er muß die Liebe zu den Völkern und die geheiligten Ziele bis zur Vollkommenheit entwickeln und zu einer unteilbaren Ganzheit machen. Er kann sein tägliches Gefühlsleben nicht auf dem gleichen Niveau wie die anderen Menschen verwirklichen. Die Führer der Revolution haben Kinder, die bei ihren ersten Sprechversuchen die Namen ihrer Väter nicht kennen, und Frauen, deren Liebe dem Sieg der Revolution geopfert werden muß. Der Kreis der Freunde entspricht genau dem der Mit­ streiter der Revolution. Außerhalb der Revolution gibt es kein Leben. Unter diesen Umständen muß man viel Menschlichkeit, großen Wahrheits- und Gerechtigkeitssinn besitzen, um nicht in einem extremen Dogmatismus, in eine kalte Scholastik zu verfallen und sich dadurch von den Massen zu isolieren. Täg­ lich muß man kämpfen, damit diese Liebe zur Menschheit sich in konkreten Taten manifestiert, die als Vorbild dienen und mobilisierende Funktion haben ... Wir entrichten alle regelmäßig unseren Tribut an Opfern in dem Bewußtsein, durch die Genugtuung über die erfüllte Pflicht belohnt zu werden und gemeinsam dem neuen Men­ schen näher zu kommen, den man am Horizont gewahrt ...

III In Kuba kursierten bereits Gerüchte, Che sei etwas »zugestoßen«, als Fidel am 20. April sein Schweigen brach und - ein wenig rät­ selhaft - erklärte, Che gehe es gut, er befinde sich dort, wo er »von größtem Nutzen für die Revolution« sei. Am selben Tag erhielt Hildita einen von Che unterzeichneten Brief, in dem er schrieb, er habe ihren Geburtstag nicht vergessen, sei aber »weit weg«, um gegen die Feinde zu kämpfen. Außerdem ermahnte er sie, sich um ihre Geschwister zu kümmern und dar­ auf zu achten, daß sie fleißig lernten. Etwa zur gleichen Zeit traf bei seinem Vater eine Postkarte ein, auf der nur stand: » Viejo: von der saharischen Sonne in Eure [argentinischen J Ne­ bel. Ernesto fängt wieder von vorne an und geht in die dritte Run­ de. Eine Umarmung von Deinem Sohn.« Trotz Fidels Versicherungen nahmen die Gerüchte über Ches Schicksal kein Ende. Zunächst hieß es, er befinde sich in der be­ nachbarten Dominikanischen Republik, wo soeben ein Aufstand linksgerichteter Militärs stattgefunden hatte. Mitarbeitern des ku­ banischen Geheimdienstes zufolgte stammte dieses Gerücht mög­ licherweise aus Regierungskreisen in Havanna, die befürchteten, Che könne auf seinem Weg in den Kongo entdeckt und festge­ nommen werden. Doch je mehr Zeit verstrich, um so exotischer wurden die Orte, an denen sich Che angeblich aufhielt. Bei einigen Meldungen handelte es sich um gezielte Desinformationen des ku­ banischen Geheimdienstes, andere wurden vermutlich von der CIA lanciert, um das Vertrauen in die Castro-Regierung zu unter­ graben. Eher unheimlich war dagegen ein angeblich geheimes Me­ morandum, das möglicherweise aus der Sowjetunion stammte. Che, so hieß es darin, habe einen Nervenzusammenbruch erlitten und sei in eine Nervenklinik eingeliefert worden, wo er Trotzki le­ se und permanent Briefe an Fidel schreibe, um seine Vorstellungen von der »permanenten Revolution« darzulegen. Sergo Mikojan erinnert sich, daß in den ersten Berichten, die in Moskau die Runde machten, von einer Konfrontation zwischen Fidel und Che die Rede war. Es habe Gerüchte gegeben, Che sei ins Exil geschickt oder bestraft worden. »Im großen und ganzen herrschte bei den Apparatschiks die Meinung, zwischen Fidel und Che habe ein Konflikt stattgefunden. Zumindest habe Fidel nicht 559

gewollt, daß Che noch länger in Kuba bleibe - da er der einzige Führer sein wolle und Che ihm diese Rolle streitig gemacht habe ... Unsere Leute dachten dabei an Stalin und Trotzki, dann Chru­ schtschow und Breschnew, die einander immer bekämpft hatten und sie meinten, [in Kuba] habe sich das gleiche abgespielt.« Der sowjetische Botschafter Alexander Alexejew aber wußte es inzwischen besser. Im März hatte Fidel ihn nach Camagüey einge­ laden, wo der Staatschef sich an einem freiwilligen Arbeitseinsatz der Revolutionsführer bei der Zuckerrohrernte beteiligte. Dort nahm Fidel ihn einmal zur Seite und sagte zu ihm: »Alejandro, Sie haben Ches Abwesenheit wahrscheinlich schon bemerkt. Er ist in Afrika. Er will dort bleiben, um eine [revolutionäre] Bewegung zu organisieren. Aber das sage ich nur Ihnen. Sie dürfen das auf kei­ nen Fall telegraphisch weiterleiten.« Alexejew verstand Fidels Äußerung so, daß er diese Information nirgendwo schriftlich niederlegen sollte, damit kein Unbefugter da­ von erfuhr oder etwas nach außen durchsickerte. Alexejew fühlte sich aber verpflichtet, seine Regierung von der Neuigkeit in Kennt­ nis zu setzen, und so berichtete er bei seinem nächsten Besuch in Moskau Leonid Breschnew persönlich von dem Gespräch mit Fidel.* Angesichts der jüngsten Verschlechterung der Beziehungen zwischen Havanna und Moskau war Fidels vertrauliche Mitteilung an Alexejew ein diskreter Hinweis an die Sowjets, daß der kubani­ sche Revolutionsführer trotz seiner öffentlichen Angriffe weiter­ hin loyal bleiben würde; auch wenn Che das Land verlassen hatte, um einer vorwiegend von China unterstützten Revolutionsbewe­ gung im Kongo beizustehen, sollte dies die Beziehungen zwischen dem Kreml und Kuba nicht beeinträchtigen. Womöglich ver­ knüpfte er damit sogar eine Hoffnung: Indem er die Sowjets vor vollendete Tatsachen stellte und gleichzeitig ins Vertrauen zog, konnte er das neue Politbüro vielleicht zu einer direkten Unter­ stützung des kubanischen Guerillaprogramms in Afrika bewegen, zumal es den kongolesischen Rebellen bereits Hilfe zukommen ließ. Etwa zu derselben Zeit, als Fidel mit Alexejew sprach, bereite­ te sich im Kongo die erste Kolonne unter Ches Führung auf den Kampf vor. •

Alexejew meinte, Breschnew habe wenig Interesse gezeigt. Die Angelegenheit habe

jedoch die sowjetischen Beziehungen zu Kuba kaum beeinträchtigen können: »[Bre­ schnew] stand auf Fidels Seite; er wollte von Fidels Freundschaft mit Chruschtschow profitieren und dieselbe Art von Beziehung zu ihm aufbauen.«

IV Bei Tagesanbruch des 24. April erreichten Che und dreizehn Kubaner das kongolesische Ufer des Tanganjikasees. Hinter ihnen lagen fünfzig Kilometer Wasser, das sie vom sicheren Tansania und der weiten, bis zum Indischen Ozean reichenden Savanne trennte. Vor ihnen erstreckte sich das »befreite« Territorium, das sich in der Hand der Rebellen befand. Dessen nördliche Frontlinie begann hundertsiebzig Kilometer entfernt bei der Stadt Uvira am Nordufer des Tanganjikasees, das an Burundi grenzt. Uvira war der Stütz­ punkt der Rebellen, seit sie die Stadt Bukavu weiter oben im Rift Valley- im Dreiländereck zwischen Kongo, Ruanda und Burundi hatten aufgeben müssen. Von dort reichte das Rebellengebiet hun­ dert Kilometer weit nach Süden bis zu dem am Seeufer gelegenen Dorf Kibamba, wo Che und seine Männer nun standen. Landein­ wärts erstreckten sich vor ihnen zweihundert Kilometer Urwald, der sich bis nach Kasongo am Lualaba-Fluß am nördlichen Rand der Provinz Katanga ausdehnte. Das Gebiet, das laut dem Söldner Mi­ ke Hoare so groß wie Wales war, bestand aus offenen Ebenen und dschungelbewachsenen Bergen und war durchzogen von r eißenden Flüssen. Hier streiften immer noch Elefantenherden durch die Wäl­ der, und die Menschen -ein buntes Gemisch verschiedenster Stäm­ me-lebten als Kleinbauern und Jäger und Sammler. Es gab nur we­ nige Straßen und Städte, und die Handvoll Punkte auf der Landkarte waren Eingeborenendörfer, abgelegene ehemalige Gar­ nisonen der Belgier, Missionsstationen und Handelsposten. Inzwischen war Godefroi Chamaleso, der Politkommissar aus Dar-es-Salaam, zu den Kubanern gestoßen, um ihnen den Weg zu ebnen - bisher Ches einziger offizieller Kontakt zu den kongolesi­ schen Revolutionären. Kabila hielt sich immer noch in Kairo auf und hatte Che mitgeteilt, er werde in zwei Wochen zurückkehren. Bis dahin war Che gezwungen, »inkognito« zu bleiben. So mußte er mit einer Gruppe von »Feldkommandeuren« vor­ liebnehmen, die die verschiedenen, in der Rebellenzone stationier­ ten »Armeebrigaden« befehligten. Da einige von ihnen Franzö­ sisch sprachen, erkannte Che rasch, daß es zwischen ihnen schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten gab. Bei ihrem er­ sten Treffen mit den Rebellenführern versuchte Chamaleso voller Enthusiasmus, ein gutes Verhältnis zwischen seinen Landsleuten und den Neuankömmlingen herzustellen, und schlug vor, Victor

Dreke und ein anderer Kubaner seiner Wahl sollten den Zusam­ menkünften und Planungen des Generalstabs beiwohnen.Aber die kongolesischen Offiziere gaben wortreich zu verstehen, daß sie sich nicht darauf festlegen wollten. »Ich beobachtete die Gesichter der Teilnehmer«, schreibt Che nüchtern, »und was ich sah, war kei­ ne Billigung dieses Vorschlags; anscheinend genoß [Chamaleso] nicht die Sympathien der Anführer.« Die Abneigung der Kommandeure gegen Chamaleso war darauf zurückzuführen, daß er die Front nur sporadisch besuchte und die Soldaten sich vom Hauptquartier vernachlässigt fühlten. Außer­ dem gab es Spannungen zwischen jenen Kommandeuren, die an der Front blieben, und jenen, die sich ständig in Kigoma und sei­ nen Vergnügungsvierteln herumtrieben. Die gewöhnlichen Solda­ ten waren in der Mehrzahl einfache Bauern, die nur ihre eigene Stammessprache oder bestenfalls Swahili beherrschten und bei Che den Eindruck erweckten, als lebten sie in einer ganz anderen Welt als ihre Offiziere. Eine weitere wenig erfreuliche Entdeckung war, daß die meisten Rebellen an Zauberei glaubten und dawa tranken, ein magisches Getränk, das sie vor Unheil schützen sollte. Che erfuhr dies gleich beim ersten Treffen mit dem kongolesischen Führungsstab von ei­ nem freundlich wirkenden Offizier, der sich als »Oberstleutnant Lambert« vorstellte. Che schreibt: »Mit feierlicher Miene erklärte mir Lambert, daß die [feindlichen] Flugzeuge keine große Bedeu­ tung hätten, weil sie im Besitz von >DAWA< seien, einem Zauber­ mittel, das gegen Gewehrkugeln unverwundbar macht.« Lambert versicherte Che, er sei mehrmals von Kugeln getroffen worden, aber wegen des dawa seien sie von ihm abgeprallt und hät­ ten ihm keinen Schaden zugefügt. »Er sagte das mit einem Lä­ cheln«, schreibt Che, »und ich fühlte mich verpflichtet, auf den Scherz einzugehen .. . Nach einer Weile merkte ich, daß er es ernst meinte und der magische Schutz eine der großen Erfolgswaffen der kongolesischen Armee war.« Offenbar ging Che über Lamberts Enthüllung mit diplomatischem Aplomb hinweg, aber schon bald entpuppte sich dawa als eines der vertracktesten Hindernisse bei seiner Mission, in Afrika den Neuen Menschen zu schaffen. Nachdem das erste Gespräch mit den Kommandeuren ohne Er­ gebnis geblieben war, nahm Che Chamaleso beiseite und gab seine wahre Identität preis. »Seine Reaktion war niederschmetternd.Im­ mer wieder sprach er von einem >internationalen Skandal< und

sagte: >Das darf niemand erfahren, bitte, niemand darf das erfah­ ren.< Es kam für ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel, und ich hatte Angst wegen der Folgen, aber meine Identität konnte nicht länger verborgen bleiben, wenn wir den Einfluß nutzen wollten, den meine Tätigkeit hier haben konnte.« Als Chamaleso erschüttert nach Dar-es-Salaam zurückgekehrt und von dort nach Kairo weitergeflogen war, um Kabila von Ches Anwesenheit zu unterrichten, wollte Tato mit seinem Schulungs­ programm beginnen. Er schlug den Kongolesen vor, auf dem Berg Lualaborg fünf Kilometer weiter nördlich ein festes Lager zu er­ richten, aber die Rebellenführer erklärten, der Befehlshaber des Basislagers sei in Kigoma, und man müsse erst seine Rückkehr ab­ warten. Che könne ja inzwischen mit einem improvisierten Trai­ ning im Hauptquartier von Kabimba beginnen. Daraufhin schlug Che vor, eine hundertköpfige Kolonne in Gruppen von jeweils zwanzig Mann einzuteilen, die über einen Zeitraum von fünf oder sechs Wochen ausgebildet werden könnten. Diese sollten dann mit Mbili (Papi) aufbrechen, um militärische Operationen durchzu­ führen; während ihrer Abwesenheit könne er eine zweite Kolonne schulen, die in Aktion treten würde, sobald die erste zurückgekehrt sei. Nach diesen Expeditionen könne er dann jeweils die für eine schlagkräftige Guerillastreitmacht geeigneten Kader auswählen. Doch auch dieser Vorschlag wurde mit Ausflüchten abgetan. Die Zeit verging, Rebellen, die Urlaub hatten, wurden über den. See nach Kigoma gebracht oder kehrten von.dort zurück, doch der Kommandeur des Lagers ließ sich nicht blicken. Da Che nichts Besseres zu tun hatte, half er im Lazarett aus, wo einer der Kuba­ ner, den sie »Kumi« getauft hatten, bereits als Arzt arbeitete. Che war entsetzt über die vielen Fälle von Geschlechtskrankheiten bei den Rebellen, die er auf ihre Besuche in Kigoma zurückführte. Die wenigen Verletzten, die von den verschiedenen Fronten kamen, hatten sich ihre Wunden nicht im Gefecht, sondern durch Unfälle zugezogen. »Fast niemand hatte auch nur die geringste Ahnung von Feuerwaffen«, berichtet Che. »Sie verletzten sich durch Un­ achtsamkeit oder indem sie damit spielten.« Außerdem tranken die Rebellen pombe, ein Gebräu aus Getreide und Yucca, und der täg­ liche Anblick torkelnder Soldaten, die miteinander rauften und Be­ fehle mißachteten, bedrückte Che. Nachdem die Bauern der Umgebung erfahren hatten, daß sich »Ärzte« in der Gegend aufhielten, kamen sie scharenweise in die

Lazarettapotheke, so daß die Vorräte an Medikamenten bald zur Neige ging. Schließlich traf jedoch eine Ladung sowjetischer Arz­ neimittel ein, die ohne viel Aufhebens zusammen mit Kisten vol­ ler Munition und Waffen am Ufer abgeladen wurden. Als Che um die Genehmigung bat, die Organisation des Depots zu überneh­ men, stieß er damit ebenfalls auf taube Ohren. Inzwischen sah das Seeufer wie ein »Zigeunermarkt« aus, wo Kommandeure der Re­ bellen auftauchten und jeweils »für eine abenteuerliche Anzahl von Soldaten« Medikamente verlangten. Ein Offizier behauptete, viertausend Mann zu befehligen, ein anderer nannte zweitausend, und so weiter, aber »die Zahlen waren alle erfunden«. Anfang Mai erfuhr Che, daß das Gipfeltreffen der Rebellen in Kairo erfolgreich verlaufen sei, doch Kabila müsse sich einer Ope­ ration unterziehen, und daher würde es noch ein paar Wochen dau­ ern, bis er zurückkehrte. Als Che die ersten Zeichen von Mißmut unter· seinen Leuten bemerkte, weil sie nichts zu tun hatten, be­ gann er, täglichen Unterricht in Französisch, Swahili und »Allge­ meinbildung« zu erteilen. »Unsere Moral war immer noch gut«, erinnert sich Che, »aber die Genossen murrten bereits, weil die Tage fruchtlos verstrichen.« Hinzu kam noch, daß sie mit Malaria und anderen tropischen Infektionskrankheiten zu kämpfen hatten. Che verteilte zwar re­ gelmäßig Malariatabletten, mußte aber bald feststellen, daß sie un­ angenehme Nebenwirkungen hatten und Schwäche, Apathie und Appetitlosigkeit hervorriefen. Später machte er das Medikament auch für die zunehmende Niedergeschlagenheit bei seinen Leuten und - obwohl er das nicht gerne zugab - auch bei sich selbst ver­ antwortlich. Unterdessen erfuhr er in mehreren Gesprächen mit einem In­ formanten namens Kiwe Näheres über die Rebellenbewegung und deren Führung. So sei »General« Nicholas Olenga, der »Befreier« von Stanleyville, nur ein einfacher Soldat gewesen, der sich immer, wenn er eine Stadt eroberte, selbst »befördert« habe. Christophe Gbenye, der Präsident des Nationalen Befreiungsrates, sei ein ge­ fährlicher, unmoralischer Mensch und vermutlich der Drahtzieher bei dem Attentat auf Laurent Mitoudidi, den gegenwärtigen Ge­ neralstabschef des Befreiungsrates. Und Antoine Gizenga, einer der Revolutionäre der ersten Stunde nach dem Tod Lumumbas, sei ein linker Opportunist, der nur die Gründung einer eigenen poli­ tischen Partei im Sinn habe. Wie Che später schreibt, waren die

Plaudereien mit Kiwe sehr erhellend und vermittelten ihm einen Eindruck von den internen Rivalitäten im gar nicht so revolu­ tionären kongolesischen Befreiungsrat. Am 8. Mai traf endlich Laurent Mitoudidi ein. Er brachte acht� zehn weitere Kubaner mit und übermittelte eine Botschaft von Ka­ bila , laut der Ches Identität vorerst geheimgehalten werden sollte. Mitoudidi reiste zwar gleich wieder ab, aber zum erstenmal seit seiner Begegnung mit Kabila war Che von einem kongolesischen Offizier beeindruckt: Er sei »selbstsicher, ernsthaft und besitzt Or­ ganisationstalent«. Und was noch wichtiger war, Mitoudidi billig­ te die Verlegung von Ches Truppe zum »oberen Lager« auf dem Berg Lualaborg. In einem vierstündigen , beschwerlichen Marsch erklommen sie den steilen Hang zu dem grasbewachsenen , feuchtkalten Plateau , das siebenhundert Meter über dem Meeresspiegel lag. Aber als Che den Blick über die weite Landschaft mit den Rinderherden und den kleinen Weilern der Tutsi-Hirten schweifen ließ , schöpfte er neuen Mut. Als echter Argentinier empfand er die Aussicht auf »wunderbares Rindfleisch beinahe als Heilmittel gegen das Heim­ weh«. Che ließ sofort Hütten für seine Kämpfer und die etwa zwanzig unzufriedenen Kongolesen bauen. Wieder erteilte er Unterricht , um die wachsende Lethargie und Gleichgültigkeit zu verscheu­ chen, doch schon bald wurde ihm klar, daß dies nicht das einzige Problem war. Außer den Hirten lebten in diesem Gebiet mehrere Tausend bewaffnete Tutsi , die sich mit den kongolesischen Rebel­ len verbündet hatten. Sie waren wenige Jahre zuvor, nachdem Ruanda von Frankreich in die Unabhängigkeit entlassen worden war, vor den Massakern ihrer alten Gegner, der Hutu, aus ihrer Heimat geflohen. Nun wollten sie den Kongolesen zum Sieg ver­ helfen und anschließend die Revolution auch nach Ruanda tragen. Doch trotz dieses Zweckbündnisses gab es zwischen Tutsi und Kongolesen ständig Reibereien , was in den folgenden Monaten zu schweren Problemen führen sollte. Nur wenige Tage später bekam Che einen Fieberanfall , der so hef­ tig war, daß er sogar zu phantasieren begann . Es dauerte einen ganzen Monat, bis er sich wieder erholt hatte.Außer ihm litten zehn der dreißig Kubaner an verschiedenen Krankheiten. »Im ersten Monat mußte mindestens ein Dutzend Genossen das Betreten des feindlichen Gebietes mit diesen heftigen Fieberanfällen bezahlen.«

Als Che wieder gesund war, stattete Laurent Mitoudidi dem La­ ger einen weiteren Besuch ab . Er hatte den Befehl, mit zwei Rebel­ lentrupps den feindlichen Stützpunkt in Albertville zu stürmen. »Der Befehl ist unsinnig«, schreibt Che. »Wir sind nur 30, von de­ nen 10 krank oder im Genesen sind.« Doch trotz seiner starken Be­ denken wollte Che sich nicht gleich zu Anfang unbeliebt machen und erteilte seinen Männern den Befehl, sich auf den Kampf vor­ zubereiten. Am 22. Mai traf ein kongolesischer Bote im Lager ein und mel­ dete aufgeregt, »ein kubanischer Minister« sei gekommen. Che war verblüfft, als Osmany Cienfuegos an der Spitze einer Truppe von siebzehn neu eingetroffenen Kubanern erschien.Weitere sieb­ zehn Mann warteten noch in Kigoma auf die Überfahrt. Damit standen insgesamt über sechzig kubanische Guerilleros für den Kampf zur Verfügung. »Insgesamt brachte Osmany gute Nachrichten«, schreibt Che später. »Aber ich persönlich erhielt die traurigste Botschaft wäh­ rend des Krieges: In einem Telefongespräch mit Buenos Aires hat­ ten sie erfahren, daß meine Mutter sehr krank war, und es klang ganz danach, als wollten sie mich auf das Schlimmste vorbereiten . .. ich blieb noch einen ganzen Monat in der bedrückenden Unge­ wißheit ... immer in der Hoffnung, daß der Bericht auf einem Irr­ tum beruhte, bis schließlich die Bestätigung kam, daß meine Mut­ ter gestorben war ... Der Abschiedsbrief, den ich für meine Eltern in Havanna hinterlassen hatte, hat sie nicht mehr erreicht.«" Dieses Ereignis traf Che sehr tief, und der Ausdruck »be­ drückende Ungewißheit« war eine Untertreibung. Zu Ches per­ sönlichen Besitztümern, die Aleida später übergeben wurden, gehörten drei Texte, die in der düsteren Symbolik, welche bereits die schriftstellerischen Versuche seiner Jugendzeit geprägt hatte, die Trauer über den Verlust von Celia madre zum Ausdruck brach­ ten."" Celia starb am 19. Mai, also drei Tage vor Osmanys Ankunft in Ches Lager, im Alter von achtundfünfzig Jahren an Krebs. Am Ende wohnte sie allein in einer kleinen Wohnung neben ihrer Tochter Celia, traf sich während der Woche mit den wenigen en•

Che vermerkte, er habe den Brief an seine Eltern erst im Oktober 1965 abgeschickt,

als Fidel sein Schweigen brach und Ches Abschiedsbrief an ihn öffentlich verlas. **

Die wiederholten Bitten des Autors, diese Texte lesen zu dürfen, wies Aleida mit der

Begründung zurück, sie seien »zu intim«.

gen Freunden und besuchte am Wochenende ihre Kinder und En­ kel. Kaum jemand in ihrer Umgebung wußte, daß sie krank war, und laut ihrer Schwiegertochter Maria Elena Duarte bewahrte sie darüber bis zuletzt Stillschweigen. Celias letzter Brief an Erenesto wurde drei Jahre später von Ro­ jo in seinem Buch Che Guevara: Leben und Tod eines Freundes veröffentlicht. Darin brachte sie die Sorge um das Schicksal ihres Sohnes zum Ausdruck. Offensichtlich ging sie davon aus, daß an den Gerüchten von einem Zerwürfnis zwischen Che und Fidel doch etwas Wahres war. Mein Lieber, Klingen meine Briefe fremd für Dich? Ich weiß nicht, ob wir die Natürlichkeit verloren haben, mit der wir miteinander sprachen, oder aber, ob wir sie nie besaßen und stets in jenem leicht ironischen Ton redeten, der an den Ufern des [Rio de la] Plata üblich ist, nur noch etwas gesteigert durch unseren pri­ vaten Familiencode ... Seit wir diesen diplomatischen Ton in unserem Briefwechsel anschlagen, forsche ich zwischen den Zeilen nach einer ver­ steckten Bedeutung und versuche, sie zu deuten. Deinen letz­ ten Brief habe ich gelesen, wie ich die Nachrichten lese ... habe die wahre Bedeutung jedes Satzes und alles, was dahin­ tersteckt, entschlüsselt - oder es zumindest versucht. Was da­ bei herauskam, war ein Meer der Verwirrung, noch größere Angst und Furcht. Diesmal werde ich keine diplomatische Sprache sprechen. Ich komme gleich zur Sache. Es scheint mir barer Unsinn, daß, wenn es so wenige für die Organisation befähigte Köpfe in Kuba gibt, sie alle für einen Monat zum Zuckerrohrschneiden gehen ... wo es doch so viele und gute mocheros in der Be­ völkerung gibt ... Ein Monat ist eine lange Zeit. Es muß dafür Gründe geben, die ich nicht kenne ... Ich spreche hier nicht als Mutter. Ich spreche als alte Frau, die noch zu erleben hofft, daß sich die ganze Welt zum Sozialis­ mus bekehrt. Ich glaube, daß Du, wenn Du tust, was Du sagst, der Sache des Weltsozialismus nicht den besten Dienst er­ weist. Wenn aus irgendeinem Grund die Wege in Kuba für Dich ver­ sperrt sind, so lebt in Algerien ein Herr Ben Bella, der Dir dan-

ken würde, wenn Du ihm seine Wirtschaft aufbauen würdest; oder in Ghana ein Herr Nkrumah, der ebenfalls eine solche Hilfe begrüßen würde. Ja, Du wirst immer ein Fremder sein. Anscheinend ist das Dein ewiges Schicksal ...

V Während Che noch die Nachricht von der Erkrankung seiner Mut­ ter bewältigen mußte, setzte er sich mit Laurent Mitoudidi zu­ sammen, um mit ihm das militärische Vorgehen zu besprechen. Er konnte ihn davon überzeugen, daß ein Angriff auf Albertville ver­ früht war und sie erst die Lage an den verschiedenen Frontab­ schnitten erkunden mußten. Weder er noch der Generalstab hat­ ten ein genaues Bild, da ihnen nur die Berichte der einzelnen, oft weit entfernt operierenden Kommandeure zur Verfügung standen, die, wie Che erfuhr, häufig nicht besonders zuverlässig waren. Schließlich stimmte Mitoudidi Ches Vorschlag zu, vier Guerilla­ trupps an die einzelnen Frontlinien zu schicken. Che entsandte sofort ein paar Männer aus seinem Lager und er­ hielt schon nach wenigen Tagen die ersten Berichte. An einigen Fronten waren die Rebellen offenbar gut bewaffnet und zum Kampf gerüstet, doch alle verharrten in Untätigkeit, und überall herrschte Chaos. Häufig betranken sich die Kommandeure, bis sie vor den Augen ihrer Soldaten bewußtlos umfielen. Die Rebellen kontrollierten zwar die Straßen, fuhren aber in ihren Jeeps nur ziellos hin und her. Sie blieben untätig auf ihren Posten, machten keine Übungen, unternahmen keine Patrouillengänge und ver­ suchten nicht, sich über die Lage zu informieren. Dafür zwangen sie die eingeschüchterten Bauern, sie mit Nahrungsmitteln zu ver­ sorgen. »Diese Volksbefreiungsarmee«, befand Che, »war vor al­ lem eine Parasitenarmee.« Außerdem fand Che, die Kongolesen seien faul . Bei ihren Mär­ schen trugen sie nur ihre eigenen Waffen, Patronen und Decken, und wenn sie aufgefordert wurden, zusätzlich etwas mitzuneh­ men, weigerten sie sich und meinten nur: Mimi hapana Motocar (»Ich bin kein Lastwagen«). Nach einiger Zeit hieß es bezeichnen­ derweise: Mimi hapana Cuban (»Ich bin. kein Kubaner«). Die Mehrzahl der Kubaner hatte bald eine ausgesprochen geringe Mei­ nung von ihren kongolesischen Genossen.

Unterdessen bemühte sich Mitoudidi auf dem Berg Lualaborg, seine Leute auf Vordermann zu bringen, bestrafte die pombe-Trin­ ker, indem er sie bis zum Hals eingraben ließ, setzte die Ausga­ be von Waffen aus und erteilte ihnen strenge Instruktionen. Als Che seine Verständigungsschwierigkeiten mit den afrikanischen Kämpfern beklagte, stellte ihm Mitoudidi einen seiner eigenen Helfer, einen jungen Mann namens Ernesto Ilanga, zur Verfügung, der ihm täglich Swahili-Unterricht gab. Anfang Juni empfand Che wachsenden Überdruß und schrieb, der ewig gleiche Blick auf ein kleines Stück See, eingerahmt von zwei Berggipfeln, sei ihm »verhaßt«. Er schickte weitere Erkun­ dungstrupps aus, doch ohne Weisung von Mitoudidis Oberbe­ fehlshaber Laurent Kabila konnten sie nicht in Aktion treten. Und Kabila ließ weiterhin auf sich warten. »Ständig trafen Boote mit ei­ ner beträchtlichen Anzahl technisch hochwertiger Waffen ein«, schreibt Che. »Es war wirklich erbärmlich mitanzusehen, wie sie mit den Lieferungen befreundeter Länder, im wesentlichen Chinas und der Sowjetunion, den Hilfeleistungen Tansanias und dem Le­ ben einiger Kämpfer und Zivilisten Schindluder trieben .. .« Am 7. Juni sah Che Mitoudidi in Kibamba zum letztenmal. Das Lager des Generalstabs sollte an eine Stelle weiter unten am See­ ufer verlegt werden, und Mitoudidi wollte den Ort inspizieren. Beim Abschied fragte Che ihn, was der Grund für Kabilas Abwe­ senheit sei, und Mitoudidi erklärte ihm, der chinesische Premier Tschou En-lai komme nach Dar-es-Salaam, und Kabila müsse mit ihm über erbetene Hilfssendungen sprechen. Che eilte den Berg hinauf in sein Lager zurück, doch noch bevor er das Plateau erreicht hatte, holte ihn ein Bote ein und berichtete ihm, Mitoudidi sei ertrunken. Es war ein schwerer Schlag für Che, denn inzwischen war er überzeugt, daß er ohne Mitoudidis Hilfe kaum etwas erreichen konnte. Laut den Aussagen einiger Kubaner, die Mitoudidi begleiteten, war es auf dem See sehr stürmisch gewesen, und Mitoudidi war of­ fenbar »versehentlich« ins Wasser gestürzt. Doch was Che dann er­ fuhr, weckte seinen Argwohn. »Anschließend geschah eine Reihe merkwürdiger Dinge, bei denen ich nicht weiß, ob sie auf Dumm­ heit zurückzuführen sind, auf den außergewöhnlich großen Aber­ glauben-oder auf etwas Ernsteres.« Mitoudidi hatte sich noch zehn bis fünfzehn Minuten lang über Wasser halten können und um Hil­ fe geschrien, aber zwei Männer, die in den See gesprungen waren,

um ihn zu retten, waren ebenfalls ertrunken. Die anderen Männer im Boot hatten den Motor abgestellt, und als sie ihn wieder anwar­ fen, »schien eine magische Kraft sie daran zu hindern, zu der Stel­ le zu gelangen, an der sich Mitoudidi befand. Am Ende - er rief im­ mer noch um Hilfe - wurde das Boot zum Ufer gelenkt, und die Genossen sahen, wie er kurze Zeit später versank.« So tragisch der Tod Mitoudidis auch war, der Rückschlag mußte überwunden werden. Ende Juni, nachdem sie zwei Monate »nicht das geringste« getan hatten, begann endlich der Krieg der Kubaner im Kongo. Mudandi, ein von den Chinesen ausgebildeter Rebel­ lenführer aus den Reihen der ruandischen Tutsi, traf mit einem Be­ fehl Kabilas aus Dar-es-Salaam ein: Statt Albertville sollten nun . die Garnison und das Kraftwerk von Fort Bendera angegriffen wer­ den, und zwar in einer Woche. Die ruandischen und kubanischen Kämpfer sollten bei dem Überfall die Führung übernehmen. Che war nicht gerade begeistert von dem Vorhaben. Er hatte erfahren, daß die Garnison gut befestigt war und dreihundert Soldaten und hundert weiße Söldner zu ihrer Verteidigung bereitstanden. Für ein derartiges Angriffsziel waren seine Kubaner schlecht ausgerü­ stet, ganz zu schweigen von den Kongolesen. Schließlich stimmte er Kabilas Plan aber doch zu, da er ihm immer noch besser erschien, als in Untätigkeit zu verharren. Wiederholt bat er Kabila um die Erlaubnis, die Angreifer als »politischer Führungsoffizier« zu be­ gleiten, erhielt aber keine Antwort. So war Che gezwungen zu­ rückzubleiben. Ende Juni brach die Kolonne aus vierzig Kubanern und hundertsechzig Kongolesen und ruandischen Tutsi nach Fort Bendera auf. Der Angriff am 29. Juni war ein kompletter Fehlschlag. Wie der Befehlshaber Victor Dreke berichtete, warfen gleich zu Beginn des Angriffs etliche Tutsi ihre Waffen fort und flohen, während viele Kongolesen sich schlichtweg weigerten, überhaupt zu kämpfen. Mehr als dreißig desertierten, bevor die Schlacht begann. Schlim­ mer noch, vier Kubaner fielen, und das Tagebuch eines Genossen geriet in feindliche Hände. Damit war klar, daß die Söldner und die amerikanische CIA - die Exilkubaner geschickt hatte, um für die Regierungstruppen Bomben- und Aufklärungsflüge zu fliegen von der direkten Beteiligung der Kubaner an den Operationen der Rebellen wußten. Wie der Söldnerführer Mike Hoare später schrieb, hatte er dies wegen der ungewöhnlichen Kühnheit des An­ griffs bereits vermutet, und das erbeutete Tagebuch (in dem unter

anderem die Reiseroute Havanna-Prag-Peking erwähnt wurde) war der erste Beweis dafür. Als Che die Gründe des Fiaskos analysierte, wurden ihm die schädlichen Auswirkungen des dawa-Kultes in aller Schärfe be­ wußt. Die Afrikaner schrieben ihre Niederlage einem »schlechten dawa« zu und behaupteten, ihr Medizinmann, der muganga, der es den Kämpfern vorher verabreicht hätte, sei »dafür ungeeignet« gewesen. Che schreibt dazu: »(Der Medizinmann] rechtfertigte sich, indem er den Frauen und der Angst die Schuld gab, aber es waren gar keine Frauen da ... Es sah nicht gut aus für den Medi­ zinmann, und er wurde abgesetzt.« Nach dem Bendera-Debakel fühlten sich die Kongolesen ge­ demütigt und demoralisiert, die Kubaner aber waren wütend: Wenn die Kongolesen nicht selbst kämpfen wollten, warum soll­ ten sie es dann tun? Che hatte sich dem »proletarischen Interna­ tionalismus« aus tiefster persönlicher Überzeugung verschrieben, doch angesichts dieser Umstände wurde deutlich, daß sich seine kubanischen Genossen nicht unbedingt mit derselben Leiden­ schaft dafür einsetzten. Viele von ihnen wollten einfach nur noch nach Hause. Während die Verwundeten aus dem Kampfgebiet in das Lager von Kibamba gebracht wurden, traf eine vierte kubanische Grup­ pe ein. Unter den neununddreißig Männern befand sich auch Harry Villegas, Ches junger ehemaliger Leibwächter, der seit den Tagen der Sierra Maestra an seiner Seite gewesen war und sich als Schwarzer nicht an Masettis Mission hatte beteiligen dürfen. Fidel hatte Villegas geschickt, um für Ches persönlichen Schutz zu sor­ gen. Villegas hatte erst kürzlich geheiratet, seine Frau und seinen kleinen Sohn aber zurückgelassen, um bei seinem jefe und Lehrer sein zu können. Harry wurde in »Pombo« umgetauft und sollte unter diesem Decknamen berühmt werden. Che nahm die Ankunft der Kubaner zum Anlaß, um ein paar aufmunternde und zugleich warnende Worte an seine Landsleute zu richten. Er appellierte an ihren Kampfgeist und forderte sie auf, die zunehmenden Differenzen auszuräumen. »Ich betonte die Notwendigkeit, strenge Disziplin zu wahren«, schreibt er. Außer­ dem kritisierte er offen einen Kubaner für seine »defätistischen Bemerkungen«. » Ich verheimlichte ihnen nicht, was uns bevor­ stand; nicht nur Hunger, Kugeln, Leiden aller Art, sondern auch die Möglichkeit, durch unsere eigenen [afrikanischen] Genossen um571

zukommen, die nicht die geringste Ahnung hatten, wie man rich­ tig schießt ... « Unterdessen mehrten sich die schlechten Nachrichten. Am 19. Juni war Ches Freund, der algerische Präsident Ben Bella, durch

einen Putsch gestürzt worden, den kein Geringerer als Ben Bellas Verteidigungsminister Houari Boumedienne angezettelt hatte. Das verhieß nichts Gutes für die kubanischen Aktivitäten in Afri­ ka. Algerien war ein wichtiger Bündnispartner in den multilatera­ len Bemühungen, die kongolesischen Rebellen im Kampf gegen das vom Westen unterstützte Regime in Leopoldville zu unter­ stützen. Fidel reagierte wütend und verurteilte den Putsch und die neue Führung. Das hart erkämpfte Bündnis zwischen den beiden revo­ lutionären Staaten schien mit einem Schlag bedroht. Noch bevor Che die Gelegenheit hatte, eine schlagkräftige Streit­ macht aufzubauen, schien alles zusammenzubrechen. Nach Mitou­ didis Tod war er gezwungen, mit Leuten zu verhandeln, die kaum politische Kenntnisse oder Ziele besaßen, geschweige denn Kampf­ geist. In den drei Monaten seit Ches Ankunft in Afrika hatte sich Kabila nicht einmal bei ihm blicken lassen. Erst kürzlich hatte er Che ermahnt, nicht den Kopf hängen zu lassen. Er solle »Mut und Geduld« haben, denn schließlich sei er doch »ein Revolutionär und müsse mit solchen Schwierigkeiten fertig werden«. Und selbstver­ ständlich hatte er wie immer versprochen, bald zu kommen. Obwohl Che darüber sicher wütend war, reagierte er ausgespro­ chen diplomatisch und beteuerte in seinen Antwortschreiben sei­ ne Loyalität gegenüber Kabila als »seinem« Kommandanten. Er betonte lediglich, er müsse mit ihm sprechen, und entschuldigte sich, daß er sich nicht gleich zu erkennen gegeben habe. Offen­ sichtlich versuchte er damit zu beschwichtigen, da er vermutete, daß Kabila seine Präsenz im Kongo nicht billigte. Die von südafrikanischen Söldnern befehligten Regierungs­ truppen waren unterdessen tiefer in das Territorium der Rebellen eingedrungen, schickten Aufklärungsflugzeuge über den See und griffen im Tiefflug die Boote und die Rebellenbasis in Kibamba an. Durch diese Attacken aufgeschreckt, bat der Generalstab im Hauptquartier Che um Hilfe. Zähneknirschend schickte er ihnen einige seiner Leute, um die schweren Flakgeschütze zu bedienen. »Ich war äußerst pessimistisch in jenen Tagen«, räumt Che ein, »aber als ich am 7. Juli hörte, daß Kabila eingetroffen war, stieg ich 572

mit einem gewissen Glücksgefühl hinunter. Zumindest war min der Anführer im Operationsgebiet!« Kabila war tatsächlich gekommen. Und er hatte Ildefonse Masengo mitgebracht, der Mitoudidi als Kommandeur ersetzen sollte. Doch es gab weitere Anzeichen dafür, daß bei der Rebellen­ führung einiges im argen lag: Kabila berichtete diesmal noch Schlimmeres über Gaston Soumaliot und beschimpfte ihn un­ ter anderem als Demagogen. Doch schon nach fünf Tagen kehrte er mit der Begründung nach Tansania zurück, er müsse sich unbe­ dingt mit Soumaliot treffen, um ihre Differenzen auszuräumen. Für einige wenigeTage versetzte Kabilas Anwesenheit dieTruppen in Hochstimmung, und die Kongolesen machten sich mit Feuerei­ fer daran, Luftschutzgräben auszuheben und ein neues Lazarett zu bauen. Doch kaum war er wieder fort - die Kubaner hatten Wet­ ten abgeschlossen, wie lange er bleiben würde-, legten die Kongol­ esen ihre Schaufeln nieder und weigerten sich zu arbeiten. In derTat tobte zwischen den politischen Führern im Nationalen Befreiungsrat ein Machtkampf. Sie alle gingen mit den verschie­ denen regionalen Guerillakommandeuren wechselnde Bündnisse ein, um sich so eine Machtbasis zu schaffen. Und diese Männer waren die offiziellen Vertreter der kongolesischen Aufstandsbe­ wegung, hielten Gipfeltreffen ab, trafen mit Staatsführern wie Nasser, Nyerere und Tschou-En-lai zusammen - und kamen in den Genuß riesiger Summen Auslandshilfe. Noch immer waren es vor allem die Chinesen, die die Rebellen mit Waffen belieferten und sogar militärische Berater in einige Gebiete schickten; aber auch die Sowjets und Bulgaren schleusten Hilfsgüter ein - zum Beispiel jene Medikamente, die am Seeufer abgeladen worden waren. Alle drei Länder führten militärische und politische Schu­ lungen für Kämpfer aus dem Kongo durch. An der Front tauchten ebenfalls neue Probleme auf, da die Be­ ziehungen zwischen den ruandischen Tutsi und den Kongolesen einen Tiefstand erreichten. Tutsi-Kommandeur Mudandi, der in Ches Augen die Verantwortung für das Scheitern des Angriffs auf Fort Bendera trug, erklärte, seine Leute hätten deshalb nicht gekämpft, weil die Kongolesen versagt hätten. Schließlich sei es ihr Land und ihr Krieg. In den folgenden Wochen verwandelte sich Mudandis Groll gegenüber Kabila und der Führung des Nationa­ len Befreiungsrates in offene Feindseligkeit, und er warf ihnen vor, sie würden die Soldaten an der Front im Stich lassen. 573

Aber es sollte noch schlimmer kommen. Bald traf die Nachricht ein, Mudandi habe seinen eigenen Stellvertreter erschossen, of­ fenbar, weil er ihm die Schuld an dem »schlechten dawa« beim An­ griff auf Fort Bendera gab. Ein kongolesischer Rebellenoffizier, der Mudandis Lager aufsuchte, um der Sache nachzugehen, wurde da­ vongejagt und drohte nun, das Land zu verlassen, wenn Mudandi nicht erschossen würde. Mudandi wiederum ließ verlauten, er füh­ le sich nicht an Anweisungen von Kabila und dem Befreiungsrat gebunden. Seine Leute würden keine Waffe mehr anrühren, so­ lange die Kongolesen nicht kämpften. Verschärfend kam hinzu, daß Tutsi und Kongolesen nicht nur einander und die Bauern mißhandelten, sondern auch eine extre­ me Grausamkeit gegenüber ihren Gefangenen an den Tag legten. So erfuhr Che, daß ein französischer Söldner zu einem Rebellen­ lager gebracht und dort bis zum Hals eingegraben worden war. Als Che den Gefangenen verhören wollte, reagierte der Lagerkom­ mandant mit Ausflüchten. Einen Tag später erfuhren sie, daß der Söldner gestorben war. Unter den Kubanern kam es nun immer öfter zu Meinungsver­ schiedenheiten, und Che mußte eine Massendesertion der eigenen Genossen befürchten. »Die Realität sieht so aus, daß mehrere Genossen beim ersten größeren Rückschlag den Mut verloren und beschlossen, sich aus dem Kampf zurückzuziehen, zu dem sie her­ gekommen waren und für den sie notfalls auch sterben wollten, und zwar freiwillig; mit dem Nimbus des mutigen Kämpfers, mit Opfergeist und Enthusiasmus kurz im Gefühl der Unbesieg­ barkeit. Was bedeutet >notfalls auch bis in den Tod